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B. B. ist das Pseudonym von Denys Watkins-Pitchford, eines Autors, der in vielen Büchern das »Wildlife« schildert. Zwei Titel dieser »Wildlife«-Themen: ›Manka The Sky Gypsy‹ und ›Wild Lone‹. Für Kinder schrieb D. Watkins-Pitchford eine Serie von phantastischen Geschichten, die in dem »Magischen Wald von Boland« spielen. D. Watkins-Pitchford wurde 1905 in Northamptonshire geboren und am Royal College of Art in London erzogen. Später arbeitete er als Assistent eines Kunstdozenten an der bekannten Rugby Schule in Warwickshire. 1947 gab er seinen Lehrberuf auf, um sich ganz seinen Büchern und Illustrationen widmen zu können. 1943 wurde B. B. für seine Titel ›The Little Grey Men‹ mit der Carnegie Medal ausgezeichnet. Der vorliegende in England so erfolgreiche Jugendroman ›Brendon Chase‹ wurde zur Grundlage einer 13teiligen, beliebten englischen Fernsehserie, die nun bereits zum zweitenmal von der ARD gesendet wird.
B. B.
Im Schatten der Eule Aus dem Englischen von Annemarie Böll
Deutscher Taschenbuch Verlag
dt v
Titel der Originalausgabe: Brendon Chase Englische Ausgabe bei Methuen Children's Books Ltd., London Aus dem Englischen von Annemarie Böll Standfotos (Umschlagfoto und die Innenfotos) aus dem Fernsehfilm ›Im Schatten der Eule‹ von Tony Nutley mit freundlicher Genehmigung von RM Productions
Deutsche Erstausgabe Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © Denys Watkins-Pitchford Esq. Umschlaggestaltung: Celestino Piatti unter Verwendung eines Fotos von Tony Nutley • Gesetzt aus der: Aldus 10/11 Gesamtherstellung: Kösel, Kempten Printed in Germany • ISBN 3-423-07458-2 eBook:
m 2004
Das Lied der Vogelfreien Bedenke, wenn du mit mir gehst, Und hättest Lust zu speisen, Dort gibt es weder Fleisch noch Brot, Noch Bier noch kühle Weine. Kein Tuch aus Linnen für die Nacht, Kein Dach als Laub und Äste. Solch wildes Leben, süßes Herz, Ließ blaß und krank dich werden. Drum laß im grünen Walde mich Allein – geächtet, vogelfrei.
KAPITEL 1
Ein Plan wird gefaßt Das Ende der Osterferien näherte sich bedrohlich. Nur noch zwei Tage, dann würden etwa fünfhundert Jungen zwischen zwölf und neunzehn ihre Alltagskleidung ablegen, die schwarzen Fräcke und die sorgfältig gebügelten Hosen anziehen und ihre gesprenkelten Strohhüte aufsetzen – seit undenklichen Zeiten die Uniform der Schüler von Banchester. Man würde Abschied nehmen, manchmal ergeben, manchmal traurig, manchmal auch fröhlich; Taschentücher würden manchen langen Bahnsteig entlang flattern, dichtgedrängt würden Köpfe aus Abteilfenstern schauen, während die unerbittlich puffende Lokomotive die Jungen hinweg zog von ihren Familien, ihren Freunden und ihrer vertrauten Umgebung. Aber auf drei Jungen, die jetzt zusammenhockten und voller Abscheu an das neue Schuljahr dachten, traf das nicht zu. Ihre Eltern waren in die überseeischen Kolonien gegangen, als Harold, der jüngste der Brüder, erst drei Jahre alt war, und hatten sie der Fürsorge einer unverheirateten Tante anvertraut, die nichts von Kindern verstand und besonders Jungen verabscheute. Zwar entschädigte ihr Zuhause sie für manches. DowerHouse, ehemals der Witwensitz eines alten Adelsgeschlechts, lag mit seinem altmodischen Garten behaglich in einer waldigen Landschaft mit zahlreichen Bächen und Flüßchen. Wenn immer möglich, entwischten sie in die Wiesen und Wälder, suchten Vogelnester, fischten und jagten mit Schleuder und Luftgewehr und vergnügten sich mit allem, was Jungen Freude macht. Und obgleich die Atmosphäre in Dower House angespannt war, boten doch das alte Haus und der Garten, die bewaldete Umgebung und das angrenzende offene Hügelland viel Interessantes, und sie hatten das alles lieben gelernt. 9
Doch in achtundvierzig Stunden waren die Ferien zu Ende. Auf einem dämmrigen Dachboden saßen die drei Jungen mit untergeschlagenen Beinen zwischen Zwiebelschalen. Ihr Konferenzsaal war geräumig, wenn man auch nur in seiner Mitte aufrecht stehen konnte, denn zu beiden Seiten senkten sich die Dachbalken, mit Spinnweben verhangen und durchsetzt von schmalen Lichtstreifen, dort, wo die Dachziegel nicht ganz dicht lagen. In einer Ecke waren Zwiebeln zum Trocknen ausgebreitet, der besondere Stolz des alten Gärtners Rumbold, des einzigen männlichen Mitglieds des Haushalts. Robin hockte auf einem umgedrehten Blumentopf, dem kleinen Fenster gegenüber. Von dort aus konnte er sehen, wie die Efeublätter draußen erzitterten, wenn die Spatzen tschilpend darin herumhüpften. Manchmal flog einer von ihnen quer über das gelbe Lichtviereck. Robin konnte auch den oberen Teil des Fliederbusches sehen, dessen tiefpurpurne Blütenmassen in den schrägen Strahlen der Abendsonne aufleuchteten. Es war ein ideales Versteck. Rumbold stieg nur selten die wackligen Holzstufen hinauf. Er hielt die Tür unten sorgfältig verschlossen, aber die Jungen hatten das Versteck des Schlüssels unter einem Blumentopf auf dem obersten Wandbrett des Gewächshauses entdeckt. Kein Wunder, daß Rumbold die Tür zu seinem Dachboden sorgfältig verschlossen hielt, denn auf halber Höhe der Stiegen hing sein Kleinkalibergewehr. Es war mit einem Schalldämpfer ausgestattet, eine herrliche Schußwaffe, mit der er den Wildtauben zu Leibe rückte, wenn sie bei Schneewetter über sein Wintergemüse herfielen. Natürlich verbot ein Erlaß der Tante den Gebrauch von Schußwaffen jeder Art. Sogar Schleudern waren untersagt. Trotzdem besaß John eine sehr gute, in deren Gebrauch er äußerst geschickt war. Auf der Stiege fand sich auch die Munition für Rumbolds Flinte, volle hundert Schuß in einer schweren, mit einem roten Schildchen versehenen Schachtel. 10
Der Dachboden diente den Jungen nicht nur als Sitzungssaal, in dem alle wichtigen Pläne beraten wurden, er diente auch als Zuflucht vor der fremden grauen Welt der Erwachsenen, diesen armen blinden Wesen, die offenbar keine Freude am Leben im Freien hatten und deren Träume schon längst erstickt und versunken waren. Wenn Tanten und Erzieherinnen allzu lästig wurden oder »Besuch« drohte, nahmen die Jungen Zuflucht zu diesem Dachboden. Erst wenn ihre Kundschafter verkündeten, daß die Gefahr vorüber war, kamen sie ängstlich und vorsichtig wie Kaninchen wieder zum Vorschein. Hier versteckten sie sich auch, wenn die Bramshotts auftauchten. Die Bramshotts, das war die zahlreiche Familie eines benachbarten adligen Grundbesitzers, die von Zeit zu Zeit unerwartet und ungebeten – wenigstens was die Jungen betraf – hereinschneite. Sie kamen in einer offenen Kutsche, es war noch nicht die Zeit des allgegenwärtigen Autos, die von einem alten verhutzelten Familienkutscher gelenkt wurde. Diese Kutsche erinnerte Robin stets an einen komischen Sketch, den er einmal auf der Bühne gesehen hatte, wo, begleitet von den kreischenden Lachsalven des entzückten Publikums, ein nicht enden wollender Strom seltsam aufgeputzter Leute einem wackligen Einspänner entquoll. Robin, der Älteste, war fünfzehn, John dreizehn und Harold zwölf. Während sie jetzt dahockten, entwickelte Robin einen Plan, so kühn und aufregend, daß er ihnen wie ein plötzlicher Schmerz heiß in die Magengrube fuhr: »Wir sollten weglaufen und uns im Forst von Brendon verstecken.« »Weglaufen!« rief John, »und am Donnerstag nicht in die Schule zurückkehren?« »Genau. Warum sollten wir nicht wie Robin Hood und seine Leute im Wald leben können?« Einen Augenblick lang herrschte tödliches Schweigen. Die Kühnheit dieser Idee traf sie wie ein Schlag. 11
»Aber wie sollen wir uns genug zu essen besorgen?« fragte Harold nach einer atemlosen Pause. »Du gieriges kleines Schwein, du denkst immer nur ans Essen«, sagte Robin voller Verachtung. »Natürlich werden wir genug zu essen haben. Wir gehen auf die Jagd.« »Aber wenn wir keine Waffen haben, um zu jagen«, sagte John zweifelnd. »Ich habe meine Schleuder, aber die genügt doch nicht.« Wortlos stand Robin auf und stieg die Stufen hinunter. Die andern wußten schon, was er vorhatte. Als er zurückkam, hielt er Rumbolds Gewehr in der Hand. »Und was ist hiermit?« Das Gewehr! Damit konnten sie alles schießen, was sie wollten. »Eigentlich sollten wir natürlich mit Pfeil und Bogen jagen«, sagte Robin. »Aber die können wir uns erst machen, wenn wir im Wald sind. Bis dahin nehmen wir das Gewehr, es wird uns mit Fleisch und Pelzen versorgen.« »Pelze?« wunderte sich Harold. »Felle, du Dummkopf. Wir werden nicht nur wegen des Fleisches jagen, sondern auch wegen der Felle. Das tun alle Vogelfreien!« »Aber wenn wir im Wald herumschießen, dann wird uns doch jemand hören, ein Wildhüter oder so, und wir werden geschnappt und können uns auf was gefaßt machen.« »Quatsch! Siehst du nicht, daß ein Schalldämpfer an dem Gewehr ist? Ich hab gesehen, wie Rumbold eine Amsel damit schoß und es war nicht lauter als so« – dabei klatschte er in die Hände. Plötzlich hörten sie Stimmen. Mit einem warnenden Zischen waren alle drei im Nu ans Fensterchen gekrochen. Weit hinten im Gemüsegarten stand Tante Ellen mit zwei Besucherinnen, unverheirateten Damen aus dem Dorf. Sie gingen auf dem Aschenweg an der Lavendelhecke vorbei, und Tante Ellen zeigte auf die Stachelbeerbüsche. »Es sind nur die Tante und die beiden Möpse Weston«, 12
flüsterte Robin, der für jeden im Dorf einen Spitznamen hatte. »Sie bestaunen die Obstbäume.« Die Jungen sahen ihre Tante, den Kneifer auf der Nase, den Gartenhut – den sie abscheulich fanden – fest auf das eisengraue Haar gedrückt, wie sie ernsthaft auf die ältere Miß Weston einredete und dabei mit dem Zeigefinger vor deren Nase herumfuchtelte. Robin drehte sich angewidert vom Fenster weg. »Keine Aufregung, vor denen brauchen wir keine Angst zu haben. Weiber, Weiber, Weiber – wenn ich die schon sehe! Das Weiberregiment hängt mir zum Hals heraus. Ich habe die Nase voll davon, und wenn ihr nicht mitkommen wollt – ich jedenfalls gehe, und keiner wird mich kriegen. Wenn Vater und Mutter hier wären, wäre alles anders. Vater hat mir einmal erzählt, daß seine Leute ihn in den Ferien immer mit einem Gewehr und dem Zelt losziehen ließen, daß er an der ganzen schottischen Küste entlanggewandert ist und von dem lebte, was er schoß und fischte. Aber Tante Ellen fällt schon in Ohnmacht, wenn wir nur nasse Füße kriegen, und wir dürfen nicht mal das Pony reiten, das Vater uns geschenkt hat, weil sie Angst hat, wir könnten runterfallen. Ich hab's satt. Und du, John, kommst du mit?« »Natürlich komme ich mit. Hab ich je was anderes gesagt.« »Und ich auch«, sagte Harold. Die anderen betrachteten ihn zweifelnd. »Ich weiß nicht, ob das geht«, sagte Robin, »du könntest krank werden oder sonst was, und dann müßten wir dich zurückbringen.« In Harolds Gesicht arbeitete es. Er hatte alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »O bitte, nimm mich mit, Robin. Ich tue alles, was du willst, ich mache die ganze Arbeit im Lager. Ich wasche das Geschirr, und du und John könnt auf die Jagd gehen. Laßt mich bloß nicht hier. Ich schwöre dir, daß ich nicht krank werde oder euch sonst zur Last falle, wirklich nicht.« Die älteren Brüder betrachteten ihn zweifelnd, und sein Geschick hing an einem seidenen Faden. 13
»Also gut, du brauchst nicht zu heulen, wir nehmen dich mit«, sagte Robin gnädig. »Aber wenn du lästig wirst, mußt du zurück, und dann darfst du kein Sterbenswörtchen davon sagen, wo wir waren.« »Es gibt noch eine Möglichkeit, wie wir uns Nahrung beschaffen können«, sagte John, »wir können Kaninchen und andere Tiere in Schlingen fangen. Bill Bobmans Sohn hat mir gezeigt, wie man Schlingen legt, es ist ganz leicht. (Bill Bobman war der Wilderer des Dorfes.) Man braucht nur ein bißchen Kupferdraht, einen Stock und etwas Kordel. Draht ist in Rumbolds Werkzeugkasten in der Remise, ich hab ihn gestern noch gesehen.« »Das ist eine gute Idee, John, wir nehmen etwas Draht mit. Alle richtigen Vogelfreien legen Schlingen und stellen Fallen.« »Und wir können Baumfallen aus Holzklötzen bauen«, sagte John begeistert, »du weißt doch, man stützt einen Holzklotz auf einen Stock, an dem man einen Köder bindet, dann kommt der Wolf oder der Biber oder das Stinktier und zerrt daran, und der Klotz fällt herunter!« »Wie die Spatzenfallen, die Bill Bobman aus Ziegelsteinen baut?« »Ja, genau so, nur größer.« »Und wir brauchen auch Salz und Mehl, um Brot zu backen, nicht wahr?« fragte John. »Ja«, sagte Robin, »wir können kein Brot mitnehmen, das nimmt zuviel Platz weg, und dann würde es auch steinhart werden. Wir dürfen nur so wenig wie möglich mitnehmen.« »Laßt uns doch statt Mehl Haferflocken mitnehmen, dann gibt es Haferbrei«, schlug Harold vor, »schönen steifen Haferbrei, so steif, daß der Löffel drin steht, nicht das dünne, klumpige Zeug, das die Köchin macht.« »Das ist gar keine schlechte Idee, Harold«, sagte Robin, »gar nicht schlecht – für dich«, fügte er hinzu. »Wir werden ohne Gabeln auskommen, schneiden können wir mit unseren Jagdmessern.« 14
»Und was ist mit Tellern?« »Ja, einen Teller für jeden, die Blechteller aus dem Picknickkorb werden's tun. Wir borgen uns auch einen Topf und eine Pfanne, sie gehören ja sowieso Vater. Und wir nehmen auch den Kompaß mit, Vaters alten Armeekompaß.« »Und einen Wasserkessel?« fragte John. »Nein, einen Wasserkessel können wir nicht auch noch tragen. Übrigens, Tee werden wir nicht trinken, wenigstens nicht, wenn wir richtige Vogelfreie sein wollen. Wir nehmen jeder eine Decke von unseren Betten. Mehr brauchen wir nicht. Sogar das wird noch zuviel sein, wenn wir fliehen müssen. Auch Streichhölzer nehmen wir mit.« »Ich dachte, Vogelfreie machen Feuer, indem sie zwei Stöckchen gegeneinanderreiben«, warf Harold ein. Robin seufzte ein wenig gereizt. »Das weiß ich auch, aber es klappt nicht, es klappt immer nur in Büchern. Ich hab's schon oft versucht. Bei den Picknicksachen ist ein wasserdichter Streichholzbehälter, den nehmen wir mit.« »Wir müssen aber auch Grünzeug essen, sonst bekommen wir Skorbut«, sagte John. »Dann werden wir eben wilde Kräuter kochen, wie alle Vogelfreien. Du glaubst doch nicht, daß die Kohl und sowas gegessen haben?« fragte Robin voller Verachtung. »Es gibt Sauerampfer und Nesseln und eine Menge Zeug, das man essen kann. Das steht in dem Pfadfinderkalender, den Miß Holcome mir zum Geburtstag geschenkt hat, darin steht auch, wie man den Weg mit Hilfe der Sterne findet und alles mögliche.« »Wir haben kein Zelt«, sagte Harold. »Nein, und wenn wir eins hätten, würden wir es nicht mitnehmen. Wir bauen uns eine Hütte aus Zweigen, wir werden im Wald schon eine geeignete Stelle finden«, sagte Robin zuversichtlich. »Und wir müssen auch richtige Namen haben. Ich bin Robin Hood, John kann der Große John, und du, Harold, kannst der Kleine John sein.« 15
Vom Garten her hörten sie plötzlich ihre Namen rufen: »Robin, John – Ha – rold!« »Kein Wort«, zischte Robin und schlich ans Fenster. »Der Pfarrer ist da«, stöhnte er. »Wahrscheinlich will Tante Ellen, daß wir uns von ihm verabschieden.« Mit Pfarrer Whiting, den sie heimlich den Weißfisch nannten, waren die Jungen gut Freund. Er war ein eifriger Insektenkundler, und in den Sommerferien gingen sie oft mit ihm auf Schmetterlingsjagd. Er lud sie auch zu bemerkenswert üppigen Nachmittagstees, die seine gemütliche alte Haushälterin auftischte, in sein weinumranktes Pfarrhaus ein. Die Haushälterin hatte einen Kropf, der die Jungen enorm interessierte und mit einem unbestimmten Schrecken erfüllte, weil Tante Ellen einmal behauptet hatte, er sei ansteckend. Zur Erdbeerzeit bog sich der Tisch des Weißfisches fast unter den Schüsseln, auf denen die Erdbeeren zu schimmernden Bergen aufgehäuft waren, reich verziert mit köstlicher Sahne und soviel Zucker, wie man nur wünschte. Tante Ellen hatte Erdbeeren von ihrem Speiseplan verbannt, weil sie behauptete, man bekäme davon Blinddarmentzündung und Ausschlag. »Der alte Weißfisch ist gar nicht so übel, und wenn wir hingehen und ihm auf Wiedersehn sagen, kriegen wir vielleicht was«, sagte John. »Gewöhnlich läßt er eine halbe Krone springen, wenn wir in die Schule zurückmüssen.« Aber nicht einmal die Aussicht auf Geld konnte Robin verlocken, der von seinen Träumen wie besessen war. »Laßt uns morgen abend hingehen und uns verabschieden. Dann ist Tante Ellen nicht dabei, und wir können uns die Weißen Admirale ansehen, die er im vorigen Jahr im Hochwald gefangen hat. Jetzt fällt mir ein«, fügte er hinzu, »im Forst bekommen wir wahrscheinlich haufenweise seltene Schmetterlinge zu sehen. Als ich in den letzten Ferien mit dem Weißfisch in seinem alten Auto hingefahren bin, erzählte er mir, er hatte einmal einen alten Mann namens Smokie Joe getroffen, der mitten im Wald lebt. Er ist ein Köhler oder sowas. Er schien eine Menge über Käfer 16
und solche Sachen zu wissen und erzählte dem Weißfisch, er hätte in einem bestimmten Teil des Waldes einen großen Schillerfalter gesehen, aber er sagte ihm nicht, wo. Der Weißfisch versuchte, es herauszukriegen und bot ihm sogar einen halben Sovereign an, aber der Alte wollte es nicht sagen. Smokie erzählte ihm allerhand über Tiere und Vögel, er hatte Hühnerhabichte und Wespenbussarde gesehen und andere seltene Vögel. Er lebt schon viele, viele Jahre dort.« »Wird er nicht herausfinden, daß wir auch im Wald leben?« fragte Harold. »Kaum. Er hat genug mit seiner Holzkohle zu tun, und er sieht auch nicht mehr gut. Wenigstens hat der Weißfisch das gesagt.« »Gibt es dort keine Wildhüter oder Aufseher?« »Früher gab es welche, aber heute nicht mehr. Der Weißfisch hat mir erzählt, daß es ein Privatrevier ist, das bedeutet, ein Jagdgebiet, das einem Privatmann gehört.« »Schade, daß es keine Wölfe und Bären mehr dort gibt«, seufzte John. »Oder Hirsche«, warf Harold ein und ließ dabei eine Zwiebel aus einer Hand in die andere fallen. »Hirsche gibt es vielleicht noch«, sagte Robin, »wenn ich auch nie einen gesehen habe, und der Weißfisch auch nicht. Aber der alte Smokie Joe sagt, er hätte welche gesehen, und ich wette, er hat auch welche geschossen.« »Wem gehört denn der Forst?« fragte Harold. »Der größte Teil gehört vermutlich dem Herzog«, erwiderte Robin. »Die ganze Gegend hier scheint ihm zu gehören. Rumbold sagte mir, daß ihm sogar Cherry Walden gehört. Aber ein Teil gehört auch dem Staat, und ich vermute, daß es dort Wildhüter gibt, aber wir brauchen ja nicht auf diese Seite zu gehen.« »Der Weißfisch hat mir erzählt, daß der Herzog ein alter Mann ist und nie in den Wald geht. Früher hat er sich einmal für Schmetterlinge interessiert und sich auf den Hochsitzen der Förster herumgedrückt und auf die großen Schillerfalter gelauert.« 17
»Der wird uns also nicht stören«, sagte Harold. Auf dem dämmrigen Dachboden wurde es still. Das Licht vor dem kleinen Fenster verblaßte, und der Fliederbusch hob sich dunkel vom Himmel ab. Spatzen raschelten im Efeu und hüpften rastlos zwischen den Blättern des Flieders herum. Sie dachten schon ans Schlafengehen und waren ebenso unruhig wie Hühner, bevor sie sich zum Schlafen auf die Stange setzen. Dann hörten die Jungen das Kratzen von Pfoten unten an der Gewächshaustür und unterdrücktes Jaulen. »Da ist Tilly«, rief Robin, und sie kletterten alle drei die knarrenden Stufen vom Dachboden hinunter und wurden unten von einem fetten Spaniel mit freudigem Gekläff und wilden Sprüngen empfangen. An diesem Abend sprachen Robin und John im Bett noch einmal über ihre Pläne. »Ich mache mir große Sorgen wegen Harold«, sagte Robin. »Ich bin sicher, daß er es nicht durchhält. Er ist noch zu klein für so ein wildes Leben, er wird uns nur stören und Heimweh bekommen, und wir werden endlose Scherereien mit ihm haben. Ich fand, er sah heute abend nicht besonders gut aus, so komisch rot, und er hatte glänzende Augen.« Harold hatte wirklich irgendwie verändert gewirkt, so daß seine scharfsichtige Tante ihn im Ankleidezimmer neben ihrem Schlafzimmer zu Bett gebracht hatte. Sie hatte einen Bazillenkomplex und ständig Angst, daß eine ganz gewöhnliche Erkältung sich zu etwas Schlimmem auswachsen könnte. Jedesmal, wenn sie auf der Straße einen unangenehmen Geruch bemerkte oder auch den recht gesunden auf einem Bauernhof, sagte sie: »Spuckt aus, Kinder«, als wäre die Luft voller Pestbazillen. »Ich glaube, es war einfach die Aufregung«, sagte John. »Jedenfalls werden wir ihn jetzt mitnehmen müssen, sonst vergeht er vor Kummer.« Weder Robin noch John hatten Angst, er könnte ihren Plan verraten, selbst wenn sie entschieden hätten, daß er 18
zu jung wäre, um sie zu begleiten. Dazu kannten sie ihn zu gut. Es dauerte lange, bis die Jungen einschlafen konnten – und dann hatten sie schreckliche Träume von vergeblichen Versuchen, Tante Ellen zu entkommen und von weiten grünen Wäldern, in denen sie von feuerspeienden Ungeheuern verfolgt wurden. Am nächsten Morgen kam ein Brief, der die Jungen ziemlich durcheinanderbrachte. Er war von ihren Eltern und kam aus Indien. Der Umschlag trug den Poststempel Simla. Sie wünschten ihnen ein erfolgreiches Sommersemester in Banchester, und wenn sie besonders fleißig wären, würden die Eltern Anfang nächsten Jahres vielleicht kommen, denn man hatte dem Vater einen Heimaturlaub versprochen. John konnte an Robins Gesicht ablesen, daß sie ihre herrlichen Pläne aufgeben mußten. »Es hat keinen Sinn, John, wir können uns jetzt nicht davonmachen, es geht einfach nicht. Wir müssen das Sommersemester durchstehen, vielleicht können wir's dann in den Sommerferien machen. Ich glaube, Vater hätte nichts dagegen, wenn wir in den Ferien ein bißchen im Wald verschwinden. Da bin ich ganz sicher. Er wird es verstehen, und auch Mutter, auch wenn sie sich schreckliche Sorgen machen wird. Aber es wäre ihnen nicht recht, wenn wir die Schule schwänzen.« John mußte das zugeben, wenn auch schweren Herzens. Wie schade, daß ihnen der Plan nicht früher eingefallen war, zum Beispiel im vergangenen Jahr, als sie sich den ganzen August und einen guten Teil des September in Cherry Walden herumdrücken mußten. Harold, der beim Frühstück wieder ganz der alte schien, wurde bald von den veränderten Plänen unterrichtet. Robin kam es so vor, als husche eine gewisse Erleichterung über das Gesicht seines Bruders, auch wenn er so tat, als sei er sehr enttäuscht. 19
Der letzte Tag war also gekommen, und trotz all ihrer kühnen Pläne würden die Jungen sich morgen auf der Fahrt ins Internat befinden. Sie lagen unter der Zeder im Gras und hörten durch das offene Fenster des Salons die Stimme von Tante Ellen, die zusammen mit Miß Holcome, ihrer ehemaligen Erzieherin, die die Tante jetzt als Hausdame unterstützte, die Liste ihrer Schulsachen durchging. »Robin – drei Hosen« – und Miß Holcomes Stimme kam wie die Antwort in einer Litanei: »Robin – drei Hosen«. »Harold – ein Pullover«. »Harold – ein Pullover.« Nach dem Essen wurden die Jungen nach oben gerufen, um beim Packen ihrer Koffer zu helfen. Und dann – griff das Schicksal ein. Harold, der am Morgen noch ganz wohl ausgesehen hatte, begann wieder zu klagen, ihm sei schlecht. Als John an der offenen Tür des Schulzimmers vorbeikam, sah er Harold auf einem Stuhl sitzen, ein Fieberthermometer wie eine Zigarre im Mund; er sah Tante Ellen und Miß Holcome über ein furchterregendes medizinisches Buch gebeugt, in dem auf Farbtafeln die verschiedenen Kinderkrankheiten abgebildet waren. Und als später am Tag der Wagen des Doktors die Auffahrt heraufkam, wurde ihnen klar, daß es ernst war. Robin und John, die gerade ihre letzte Runde durch den Garten machten, wurden von Tante Ellen nach drinnen gerufen. Sie war sichtlich besorgt, blaß und wortkarg. »Harold hat die Masern«, sagte sie, »ihr könnt morgen nicht nach Banchester zurück – ich habe Mr. Rencombe schon ein Telegramm geschickt. Vielleicht habt ihr euch schon angesteckt, denn ihr wart mit ihm zusammen – vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls wäre es der Schule gegenüber unverantwortlich, euch fahren zu lassen.« »Wir dürfen also hierbleiben?« fragte John, der seinen Ohren kaum traute. »Wir brauchen nicht zurück?« »Ja, ihr werdet hierbleiben, aber ihr dürft auf keinen Fall in Harolds Nähe kommen. Aber wenn auch eure Rückkehr zur Schule aufgeschoben ist, so habe ich doch mit dem 20
Pfarrer vereinbart, daß er euch jeden Tag unterrichtet. Ihr werdet von elf bis eins und von halb drei bis halb fünf arbeiten. Samstags habt ihr den Nachmittag frei.« »Aber Tante«, begann Robin. »Kein Aber, Robin. Ich habe es so angeordnet, und ihr fangt morgen an. Es ist ein großes Entgegenkommen von Seiten unseres Herrn Pfarrers. Er ist ein ausgezeichneter Lehrer. Bevor er in den Dienst der Kirche trat, hat er unterrichtet, und er hat sich in Cambridge ausgezeichnet. Geht jetzt und stört mich nicht länger. Ihr müßt jetzt so rücksichtsvoll und folgsam wie möglich sein, denn ich habe viel zu tun.« »Der alte Drachen«, grollte John, sobald sie außer Hörweite waren. »Das sieht Tante Ellen ähnlich. Sie kann es nicht ertragen, daß wir noch länger Ferien haben.« Robin überlegte. »Wie lange dauert es denn, bis die Masern zum Vorschein kommen?« »Oh, ich glaube, Wochen. Wahrscheinlich gehen wir in diesem Semester überhaupt nicht mehr zurück. Es würde sich nicht lohnen. Warum?« »Vielleicht könnten wir jetzt doch weglaufen.« »Meinst du heute abend, so wie wir es geplant hatten?« »Warum nicht?« »Aber wenn sich dann herausstellt, daß wir uns angesteckt haben?« »Wir haben uns nicht angesteckt«, sagte Robin, »Vogelfreie kriegen keine Masern. Sie sind hart, braungebrannt und mager und werden nie krank, sie kriegen nicht mal einen Schnupfen. Und wenn wir uns wirklich eines Tages schlecht fühlen, dann können wir ja immer noch zurückkommen, oder nicht?« »Tante Ellen hat nicht gesagt, wie lange wir noch zu Hause bleiben sollen. Wenn sich Harold nun schnell erholt, dann müssen wir doch noch zur Schule.« »Quatsch. Er wird noch wochenlang isoliert liegen müssen. Ich will mich jedenfalls nicht noch länger in Cherry Walden herumlangweilen. Es ist schön hier, es gefällt mir 21
auch, das Haus, der Garten und all das, aber Tante Ellen ertrage ich keinen Tag länger. Ich haue heute abend ab. Kommst du mit?« »Worauf du dich verlassen kannst«, sagte John mit stillem Entzücken. Nach dem Tee versteckten die Jungen einen Teil der Sachen, die sie mitnehmen wollten, im Garten. In der Nußhecke gab es einen alten, efeubewachsenen Baumstumpf, unter dem sie einmal einen Igel im Winterschlaf gefunden hatten. In diese Höhlung versteckten sie den Topf, die Pfanne und zwei Blechteller aus dem Picknickkorb, dazu eine Packung Streichhölzer und die wasserdichte Streichholzhülle. Auch die beiden Jagdmesser versteckten sie hier, die sie heimlich von ihrem Weihnachtsgeld gekauft hatten, dazu fünf Pakete Haferflocken aus dem Laden der Posthalterin und eine große Dose Salz. Die Decken und das Gewehr würden sie erst im letzten Augenblick holen. Tilly, die instinktiv ahnte, daß ihre Abgötter sie verlassen wollten, heftete sich wie eine Klette an ihre Fersen. Wohin sie auch gingen, Tilly folgte ihnen, das stupsnäsige Gesicht fragend erhoben. Es war ein wunderschöner, milder Abend. Die Vorbereitungen waren beendet, und die Jungen schlenderten durch den Garten. Morgen abend um diese Zeit würden sie weit weg sein, sie würden tief im uralten Forst ein neues Leben beginnen, sich vielleicht für die nächtliche Jagd bereit machen. Ihre Herzen wurden warm bei diesem Gedanken. Gefolgt von Tilly sprangen sie über den Zaun der Pferdekoppel, liefen über das schimmernde Gras, weiter, immer weiter, unter dem kupfernen Laub der Buchen hindurch, bis sie an den stillen Spiegel des von Weidenbüschen umsäumten Weihers kamen. Die Forellen sprangen und erinnerten die Jungen an ihre Angelleinen und Schlingen. Sie hatten sie vergessen, ein schwerer Fehler; sie würden ihn gutmachen, wenn sie wieder ins Haus kamen. 22
An den Ufern des Weihers wuchsen Rhododendren bis ans Wasser heran. Hier scheuchte Tilly ein Kaninchen auf und jagte keuchend und japsend hinter dem auf- und abhüpfenden Schwänzchen her, das schnell Abstand gewann. Robin blickte zurück zum alten Witwensitz unter seinen Zedern und Linden. In Harolds Zimmer brannte schon Licht, und Robin konnte sehen, wie Miß Holcome vorsichtig die Vorhänge zuzog. »Harold tut mir leid. Ich fürchte, ihm ist jetzt gar nicht nach Davonlaufen, nicht nach grünem, grünem Wald.« »Es ist die Hand der Vorsehung«, sagte John mit ungewohnter Frömmigkeit. »Du weißt doch, wir hätten ihn auf keinen Fall mitnehmen können.« Tante Ellen, die alles so sorgfältig geplant hatte und den Patienten sicher im Bett wußte, ging zwischen den Rosenstöcken hin und her – sie war eine eifrige, aber erfolglose Gärtnerin. »Die arme alte Tante«, sagte John. »Eigentlich ist sie gar nicht so übel. Ich glaube, sie sorgt für uns so gut sie eben kann.« »Ja, wir sollten ihr einen Brief oder sowas hinterlassen«, sagte Robin. »Wenn wir einfach verschwinden, denkt sie vielleicht, wir wären ermordet worden.« Also entwarfen sie im Schatten der Rhododendren folgenden Brief: Liebe Tante, John und ich finden, daß es besser ist, wir halten uns fern, solange Harold so krank ist. Wir könnten uns anstecken. Wir kommen schon wieder zurück, mach dir keine Sorgen, und bitte, erklär es dem Pfarrer. Versuch nicht, uns zu finden, denn es wird dir nicht gelingen. Gezeichnet Robin (Hood) John (der Große) 23
»So«, sagte Robin, nachdem er den Brief noch einmal durchgelesen und ihn zusammengefaltet hatte, »wenn wir heute nacht abhauen, legen wir ihn in der Halle auf das Tablett. Dann findet sie ihn morgen früh.« Zufrieden gingen sie zum Haus zurück, wo die Fledermäuse schon um die Giebel jagten. In der Halle standen noch ihre verschnürten und mit Schildchen versehenen Koffer.
KAPITEL 2
Die Flucht Ein Haus, selbst wenn es noch so freundlich und vertraut ist, hat in der Stille der Nacht etwas Unheimliches. Eine wundersame Veränderung scheint stattzufinden, wenn das letzte Licht erloschen ist, als sei ein Zauberwort ausgesprochen worden, das jedes Leben erstarren läßt. Vertraute Flure und Zimmer, die bei Tageslicht voller Gelächter und Geschäftigkeit waren, sind jetzt schrecklich still, so still wie ein Grabgewölbe, voller unbestimmter Schatten. Als die Jungen nun mit klopfenden Herzen auf Zehenspitzen in den Flur hinaustraten, spürten sie diese Verwandlung und waren einen Augenblick lang wie benommen. Sie spürten die seltsame Feindseligkeit ihrer Umgebung, blieben stehen und horchten. Aber in dem alten schlafenden Haus war kein Laut zu hören außer dem leisen Ticktack der Standuhr im Treppenhaus. »Los«, flüsterte Robin, und ganz leise glitten sie zur Vordertreppe. Tante Ellens Schuhe standen vor ihrer Tür, bereit für das Dienstmädchen, das sie morgen früh zum Putzen holen würde. In Harolds Krankenstube brannte noch gedämpftes Licht, ein schmaler heller Streifen zeigte sich zwischen dem 24
unteren Rand der Tür und dem flockigen schwarzen Teppich vor der Schwelle. Aber der Patient schien zu schlafen, vielleicht war auch er in seinen Fieberträumen auf der Flucht. Er konnte nicht wissen, was seine Brüder planten. Vielleicht hatte er aber erraten, daß sie nun, wo er krank war, ihre ursprüngliche Absicht ausführen würden. Es war leicht, sich vorzustellen, wie er am nächsten Tag vorsichtig und mit Unschuldsmiene versuchen würde, herauszubekommen, was seine Brüder machten. Da sie Tante Ellen und Miß Holcome kannten, waren John und Robin sicher, daß man Harold nichts von ihrem Verschwinden sagen würde aus Angst, sein Fieber könnte steigen. Robin hob das Bein über das glatte Treppengeländer aus Eichenholz, und im nächsten Augenblick war er in der dunklen Eingangshalle verschwunden ohne mehr Lärm zu machen als eine Schlange, die wegschlüpft. John folgte und landete leise auf dem Hallenteppich. Einen Augenblick lang zögerten sie und horchten, aber es war nichts zu hören, als das leise Ticktack der alten Uhr. »John!« flüsterte Robin. »Ja?« »Wir haben die Decken vergessen!« »O Gott!« »Einer von uns muß zurück. Wir brauchen sie. Schleich zurück und hol sie, es dauert keine Minute.« Gehorsam, aber mit klopfendem Herzen machte sich John daran, die Treppe hinaufzusteigen, aber beim ersten vorsichtigen Versuch knarrte die Stufe ganz erschreckend, und die beiden Jungen wichen gegen die Vorhänge der Hallenfenster zurück. »Es hat keinen Zweck, wir lassen die Decken da. Wir werden schon nicht frieren. Sie wären auch sehr lästig zu tragen«, sagte John unsicher. »Schon gut. Laß sie. Komm jetzt.« Sie schlichen auf Zehenspitzen über die Steinplatten des Flurs, der zur Küchentür führte. Ganz langsam drehte Robin den Messingknauf der Tür. Das Schloß klickte laut. 25
Wieder warteten sie ganz still. Im Schweigen des schlafenden Hauses klang jedes Geräusch erschreckend laut. »Ting«, machte die Standuhr hinten im Treppenhaus, und die Jungen fuhren zusammen. Ein Uhr morgens – und sie mußten den Forst vor Tagesanbruch erreicht haben. In der Küche war es stockfinster. John tastete sich auf den weißgeschrubbten Tisch zu, stieß an ein Stuhlbein, und der Stuhl fiel mit einem Getöse um, das man im ganzen Haus hören mußte. »Idiot«, zischte Robin, »paß doch auf, wo du hintrittst!« »Bei der Dunkelheit...«, grollte John. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. »Pst!« Die beiden waren wie erstarrt! Von oben hörte man Harolds Tür. Ihr Quietschen kannten die Jungen gut. »O Gott«, stöhnte Robin, »jetzt hat man uns gehört. Wenn jemand die Haupttreppe herunterkommt, müssen wir rennen. Paß auf!« Aber sie beruhigten sich, als sie jetzt kühne Schritte aufs Badezimmer zugehen hörten. Es war Miß Holcome, vielleicht auch die Tante, die eine Wasserkanne füllen wollte. Sie hörten Wasser laufen und Schritte, die über den Flur zurückgingen. Dann wurde Harolds Tür leise geschlossen. Vielleicht hatte der fiebernde Patient Durst gehabt. Sie holten tief Atem, schoben leise die Riegel der Hintertür zurück, und einen Augenblick später waren sie draußen im Garten. Die Sterne schienen klar und hell, und über dem Stalldach saß ein wenig schräg die feine Sichel des Mondes in seinem ersten Viertel. Es war das Werk eines Augenblicks, die Tür des Geräteschuppens zu öffnen und das Gewehr und die Munition zu holen. Dabei scheuchten sie eine riesige Ratte auf, die auf der untersten Stufe gesessen hatte. Dann holten sie aus der Nußhecke ihren Reiseproviant und die Ausrüstung, Topf und Pfanne und Teller, die Streichhölzer und die wasserdichte Streichholzhülle, Haferflocken und Salz. John vergewisserte sich, daß er die Angelschnüre und den Schlingendraht in der Tasche hatte, 26
tastete noch einmal das Wurzelloch ab, ob nichts liegengeblieben war; dann sprangen sie über die eingestürzte, efeubewachsene Gartenmauer und liefen über die Wiesen. Sie kamen am Kirchhof mit seinen dicht stehenden weißen Grabsteinen vorbei und wandten die Augen ab, um ja nichts Unheimliches zu sehen; der efeubewachsene, massige alte Kirchturm hob sich scharf gegen den lichterfüllten Himmel ab. Von Baldricks Hof her bellte sie ein Hund an, und sein Gekläff weckte alle Dorfköter in Hörweite. Und was noch schlimmer war, vom Witwensitz her hörten die Jungen Tillys klägliches Heulen. »Der verdammte Hund, er weckt noch das ganze Haus«, schimpfte Robin, während sie im Schatten einer Dornenhecke weiterliefen. »Ich glaube, er weiß, daß wir es sind, die einen Mitternachtsausflug machen.« »Er bellt, als wollte er die Stalltür einrennen«, sagte John. »Je eher wir das Dorf hinter uns haben, desto besser.« »Daran ist nur Baldricks gräßlicher Köter schuld.« Das Bellen hinter ihnen wurde immer schwächer, bis sie es kaum noch hören konnten. Sie kamen an Kühen vorbei, die in den Butterblumen schliefen, sie rochen ihren milden Grasatem und hörten, wie sie sich im Schatten leise regten. Die Landschaft, die ihnen im Tageslicht so vertraut war – wo sie meilenweit im Umkreis von Cherry Walden jeden Baum und jeden Busch kannten – schien völlig verändert und fremd. Die hohen Kastanien zum Beispiel, die die Landstraße säumten, wirkten jetzt riesengroß und feindselig wie geduckte Ungeheuer. Im Hellen waren es freundliche Bäume voller Schätze in Form von Kastanien und Eulennestern. Verborgenes wildes Leben machte sich bemerkbar, während sie schweigend dahinschritten: wie ein mattes Lichtchen hüpfte und flackerte ein Karnickelschwänzchen über das Gras, vom Pferdeteich her hörte man ein Glucksen und Platschen. Dort fischte Harold in glücklicheren Tagen nach 27
Kaulquappen und namenlosen ekelhaften Würmern, die er Pferdeegel nannte. Sie kamen sich vor wie Diebe oder Wilderer, als sie jetzt hastig die Landstraße nach Brendon überquerten und in den tiefen Schatten der Weißdornhecke tauchten. Rechts und links erstreckte sich das hellere Band der Straße leer und unheimlich ins Weite. Anfang Mai kommt die Morgendämmerung früh, und es dauerte nicht lange, bis die Jungen den Himmel im Osten hell werden sahen und Bäume und Sträucher deutlicher zu unterscheiden waren. Bald hörten sie die erste Lerche über dem Hügelland aufsteigen, die ferne, fadengleiche kalte Melodie begleitete das silbrige Licht. Sie trugen abwechselnd die Kochutensilien und das Gewehr. Sie hatten nicht daran gedacht, an dem Gewehr einen Tragriemen anzubringen. In den schweren Blütenkissen des Weißdorns begann eine Amsel zu schlagen, und bald ertönte von allen Seiten Vogelgesang, der Gesang von Amseln und Drosseln, von Buchfinken und Zaunkönigen. Während die Jungen einen Augenblick unter dem dichten Weißdorn verschnauften, hörten sie, wie sich der Vogelgesang immer reicher entfaltete; bald stimmte auch ein Kuckuck in den Chor ein und übertönte das volle Flöten der Amsel. Es war seltsam, sich vorzustellen, daß Cherry Walden noch in tiefem Schlaf lag. Tante Ellens Schuhe warteten immer noch geduldig vor ihrer Tür, alle im Haus und im Dorf lagen noch in tiefem Schlummer. Aber in einer oder zwei Stunden würde man ihr Verschwinden bemerken, und die Aufregung würde losgehen. Es dauerte nicht mehr lange, bis die Jungen den Forst erblickten. Er zog sich am ganzen Horizont entlang, ein dichtes dunkles Band vor dem dämmrigen Horizont. Und als die Sonne schließlich über den Hügeln aufstieg, überquerten die Jungen die letzte Weide, wo ein paar Kühe sich um einen Salzleckstein versammelt hatten, und tauchten in den Schutz der Bäume. Obgleich es erst kurz 28
nach vier Uhr morgens war – sie waren seit ein Uhr ohne Pause gewandert – erreichten sie den Waldrand keine Minute zu früh, denn es wurde jetzt schnell heller. Als sie zurückblickten, bemerkten sie die ersten Lebenszeichen: Ein Landarbeiter mit einer Binsenkiepe auf dem Rücken radelte auf einem entfernten Weg zur Arbeit. Robin wandte sich im Schatten der Büsche um und sah seinen Bruder mit einem seltsamen Ausdruck an, einem Ausdruck von Triumph und Erregung. »Wir haben es geschafft«, rief er, »wir haben's geschafft, Großer John!« Dann brachen sie in einen wilden Tanz aus, Robin schwenkte die Flinte über seinem Kopf wie ein Indianer, der einen Sieg feiert, und während sie tanzten, brach es aus ihnen heraus: »Keine Tante Ellen mehr! Kein Unterricht mehr, keine Schule!« In ihrem Übermut schworen sie sogar, sie würden nie mehr nach Cherry Walden zurückkehren, für alle, alle Zeiten wollten sie als Vogelfreie im Wald leben, fischen und jagen. Die Vögel sangen fröhlich, der Duft von Farnkraut und Laub ließ sie vor Freude fast den Kopf verlieren. Sie wälzten sich im Adlerfarn und gruben ihre Gesichter in das feuchte Gras, sie bewarfen einander mit Stöcken und schlugen Purzelbäume. Sie waren trunken vor Lebensfreude, die glücklichsten Geschöpfe der Welt! Inzwischen verkündeten die Hähne von Cherry Walden der übrigen Menschheit, daß es Zeit sei, aufzustehen und sich an die Arbeit zu machen. Zuerst standen die Landarbeiter auf. Sie frühstückten herzhaft und machten sich dann, ihr Tabakspfeifchen paffend, auf den Weg, einige zu Fuß, andere auf Fahrrädern. Ein wenig später erhoben sich die Dienstboten des Dorfes, um die Feuer in den Häusern anzuzünden, und bald stiegen blaue Rauchspiralen aus den Schornsteinen des Witwensitzes, des Pfarrhauses und des Herrschaftshofes, und es sah so aus, als erwachten auch diese Gebäude, und in gewissem Sinn war es auch so. 29
Hannah, das Dienstmädchen, kam mit schwerem Schritt die Hintertreppe herab. Hannahs erste Arbeit bestand darin, durchs ganze Haus zu gehen und die schweren weißen Fensterläden zu öffnen; zuerst in der Küche, dann im Speisezimmer, im Wohnzimmer, im Salon und zuletzt in der Halle. In diesem Augenblick sah sie auf dem Tablett, das auf dem antiken Tischchen stand, ein Stück weißes Papier schimmern. Da Hannah neugierig war, griff sie sofort danach, las hastig, was darauf stand, las dann langsamer, vier- oder fünfmal. Und als Emma, das Zimmermädchen, in ihrem steifen, raschelnden Kattunkleid diskret an Tante Ellens Tür klopfte, lag auf dem Tablett mit dem Tee ein weißes Stück Papier. »Hannah hat das in der Halle aufm Tablett gefunden, Gnä'Fräuln. Es muß von den jungen Herrn sein.« Tante Ellen, die erst halb wach war, schob den Zettel zur Seite, bis sie ihre Tasse geleert hatte. »Wahrscheinlich irgend so ein Blödsinn, Emma«. Aber als sie das Briefchen zweimal gelesen hatte, zog sie ihren Morgenrock über und segelte den Flur entlang zum Zimmer der Jungen. Das hatte etwas seltsam Verlassenes und Leeres, und die zerwühlten Laken gaben ein stummes Zeugnis des mitternächtlichen Auszugs. Tante Ellen, das muß man sagen, verlor die Fassung nicht. Sie ging ins Bett zurück, goß sich eine zweite Tasse Tee ein und überlegte, was zu tun sei. Sie glaubte keinen Augenblick lang, daß die Jungen wirklich weggelaufen seien, sie wollten ihr nur einen Streich spielen, was im Augenblick, wo Harold mit Masern zu Bett lag und sie so vieles regeln mußte, recht unangebracht war. Sie mußte sich eine passende Strafe ausdenken. Zusätzlicher Unterricht beim Pfarrer und keinen freien Nachmittag in dieser Woche, das würde das Richtige sein. Die Jungen mußten endlich lernen, die Autorität zu respektieren. Pfarrer Whiting war überrascht, als es kurz nach neun an 30
seiner Haustür klingelte. Wie viele Junggesellen stand er spät auf. Er hatte sich angewöhnt, bis tief in die Nacht zu lesen und erst zu Bett zu gehen, wenn es vom efeuumsponnenen Turm der nahen Kirche längst Mitternacht geschlagen hatte. Er stand selten vor zehn Uhr morgens auf und frühstückte, wenn andere Leute sich schon fragten, was es zum Mittagessen geben würde. Um die Wahrheit zu sagen: daß er die Jungen unterrichten sollte, war ihm ziemlich lästig – er würde in den kommenden Wochen seine Gewohnheiten ändern müssen... und das war höchst unangenehm. Als Tante Ellen von der Haushälterin des Pfarrers erfuhr, daß dieser noch gar nicht heruntergekommen war, war sie sichtlich verärgert. »Sagen Sie dem Pfarrer, daß ich ihn sofort sprechen muß, es ist sehr wichtig. Sagen Sie ihm, daß ich warte.« Sie wurde in das gemütliche Studierzimmer geführt, wo es nach Tabak roch, wo Briefe und Papiere auf dem Kaminsims lagen, weitere Papiere und Bücher auf Tische und Stühle gehäuft waren und – Tante Ellen zog verächtlich die Nase kraus – neben den letzten Nummern des Kirchenblattes auf seinem Schreibtisch ein Glas, eine halbleere Whiskyflasche und ein Siphon standen. In was für einem Durcheinander die Männer leben, wenn sie keine Frau haben, die sich um sie kümmert, dachte Tante Ellen ... dazu der Whisky ... abscheulich. Wenn sie mit dem Pfarrer verheiratet wäre, würde sich das bald ändern. Sie ging hin und her, zu unruhig, um sich zu setzen. Sie ließ ihren Blick über die Bücherreihen gleiten. Da standen die üblichen dicken theologischen Wälzer und viele naturkundliche Bände: über Schmetterlinge und Vögel, und oben auf dem Bücherschrank stand ein ausgestopfter Brachvogel und starrte Tante Ellen mit glasigem, mißbilligenden Blick an. Die Minuten vergingen, und Pfarrer Whiting erschien immer noch nicht. Ein Poltern und Stampfen über ihrem Kopf ließ sie ahnen, daß er verzweifelt versuchte, mit dem Ankleiden fertig zu werden. Sie ging 31
hin und her, zur Tür, dann wieder zurück zum Fenster. Ohne etwas zu sehen, starrte sie in den sonnigen Garten, wo ein gefleckter Fliegenschnäpper auf einem Krockettor unter der Zeder saß, und eine schwarze Katze den Kiesweg entlangschlich. Endlich hörte sie Schritte die Treppe hinunterkommen, und Pfarrer Whiting erschien, eine rote Schramme am Kinn, die er mit einem blutbefleckten Taschentuch betupfte. »Verzeihen Sie, daß ich Sie so früh störe, Herr Pfarrer, aber, um die Wahrheit zu sagen – ich bin in Schwierigkeiten.« »O Gott o Gott«, sagte der Weißfisch und betupfte sein Kinn, »hoffentlich nichts mit Harold? Er ist doch nicht ernsthaft krank?« »Nein, nicht Harold – Robin und John. Sie sind weggelaufen. In der Nacht.« »Weggelaufen? Weggelaufen? O mein Gott!« Der Pfarrer war so überrascht, daß er vergaß, sein Kinn zu betupfen, und plötzlich tropfte Blut auf seinen weißen Klerikerkragen. »Ts, ts, ich hab mich beim Rasieren geschnitten«, murmelte er entschuldigend und tupfte wieder mit dem Taschentuch. »Ja, weggelaufen«, wiederholte Tante Ellen streng. »Und ich bin zu Ihnen gekommen, um mir Rat zu holen. Sie haben eine Nachricht hinterlassen, daß sie ›irgendwann‹ zurückkämen. Natürlich«, fügte sie hinzu, »zweifle ich nicht daran, daß sie in ein paar Stunden wieder da sein werden, wenn die Sache ihnen langweilig wird, und sie Hunger bekommen. Aber dann müssen sie bestraft werden. Ihre Eltern sind in Indien, und natürlich fühle ich mich verantwortlich.« »Ich weiß, meine Teure, das muß sehr aufregend für Sie sein, aber soweit ich die Jungen kenne, werden sie vor dem Abend wieder zu Hause sein. Ich vermute, daß sie sich im Park verstecken oder vielleicht sogar im Haus, oder in den Nebengebäuden. Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Als Strafe würde ich zusätzliche Arbeit empfehlen, 32
das heißt, Hausarbeit wollte ich sagen«, fügte er hastig hinzu. Er sah schon kommen, daß er in gewissem Sinn auch bestraft werden würde, wenn Tante Ellen darauf bestand, die Unterrichtsstunden bei ihm zu verlängern. Und obgleich ihm das zusätzliche Geld, das er für den Privatunterricht bekam, sehr willkommen war, so schätzte er doch seine Freiheit ebenso wie jeder Junge. In Wirklichkeit war er tatsächlich so etwas wie ein altgewordener Junge. Vielleicht hegte er heimlich Sympathie für Robin und John und überlegte, daß er wahrscheinlich auch abgehauen wäre, hätte er einen solchen alten Drachen als Bewachung gehabt. Er beruhigte Tante Ellen, so gut er konnte, und sie kehrte in weit besserer Gemütsverfassung nach Hause zurück. Sie wäre sogar nicht überrascht gewesen, hätte sie die Übeltäter mit reuigen Gesichtern am Frühstückstisch vorgefunden. Miß Holcome und Hannah, die ihr in der Halle entgegenkamen, erinnerten sie an zwei aufgescheuchte Hühner. »O, Gnä'Fräuln, Rumbold ist gerade dagewesen und sagt, seine Flinte ist weg. Er glaubt, die jungen Herren hätten sie mitgenommen, er sagt, sie müssen rausgefunden haben, wo er sie versteckt hatte.« Hannah schien die ganze Sache richtig zu genießen. Hätte Tante Ellen etwas mehr von Jungen verstanden, so hätte diese letzte Information sie beunruhigen müssen. Aber sie glaubte immer noch, die beiden würden im Laufe des Tages wieder auftauchen. Sie ging zu Harold hinauf, der, wie Miß Holcome berichtete, eine unruhige Nacht verbracht hatte. Sie entschloß sich, das Verschwinden seiner Brüder nicht zu erwähnen. Wenn er etwas wußte, würde er es sicher sagen. Aber Harold, der unglückliche Harold, fühlte sich zu elend um zu sprechen, und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß er seine Medizin genommen hatte und die Vorhänge zugezogen waren, machte sie sich im Haus zu schaffen. Es wurde Mittag, und nach einem unruhigen Nachmittag, während sie ein paarmal Garten und Park durchstreift und mißtrauisch jeden Busch betrachtet hatte, kehrte sie 33
zum Tee ins Haus zurück. Ihre Unruhe wuchs mit jedem Augenblick. Rumbold, den sie beim Aufbinden der Himbeerranken fand, bedrückte sie noch mehr durch seine düsteren Voraussagen. »Wenn Sie mich fragen, Gnä'Fräuln, die werden wir nicht wiedersehn, bevor sie nichts mehr zu essen haben. Sie haben mir in der Post erzählt, daß Herr Robin Haferflocken gekauft hat – fünf Pakete! Die scheinen was Richtiges vorzuhaben. Wenn ich Sie wäre, Gnä'Fräuln, ich würd's der Polizei melden. Wer weiß, was denen noch einfällt mit meinem Gewehr, das ist ne gefährliche Waffe.« Die Polizei! Tante Ellen erbebte bei diesem Gedanken. Das ganze Dorf würde bald über die Jungen Bescheid wissen. Welche Schande! Wie würde sie vor den Leuten dastehen! Sie hatte sogar die Vision von Bluthunden und Scotland Yard, von Schlagzeilen in den Zeitungen ... »Zwei Jungen aus dem Witwensitz von Cherry Walden verschwunden ...« Zum erstenmal in ihrem Leben hätte Tante Ellen Lust gehabt, sich tüchtig auszuweinen.
KAPITEL 3
Das Versteck Die Strahlen der späten Nachmittagssonne erleuchteten die Wipfel der Eichen. Alle Waldwege, alle Kaninchenwechsel lagen in kühlem Schatten, kaum ein Hauch regte sich in den vielen Millionen Blättern. Im Herzen des herrlichen Forstes, der ein Gebiet von elftausend Morgen welligen Landes bedeckte, wuchs in einer kleinen Lichtung, die eingefriedet war von Farnkraut und Salweidengestrüpp, eine dicke alte Eiche. Sie war nicht sehr hoch, sogar wesentlich niedriger als viele andere Eichen rund herum, denn schon vor Jahrhunderten war die Spitze abgestorben, 34
aber der dicke, rauhe Stamm hatte überlebt. Dichtes, gesundes Laub wuchs aus der knorrigen, verkrüppelten Krone, und diese neuen Zweige bildeten einen riesigen, viele Meter breiten dunkelgrünen Schirm. Der rauhe Stamm war mit Auswüchsen und Knoten bedeckt, sein Umfang mußte fast acht Meter betragen. Auf der Westseite befand sich am Grund des Stammes eine kleine Öffnung, etwa einen halben Meter breit und einen hoch, wie der Eingang zu einer kleinen schwarzen Höhle, wie eine Geheimtür. In der abendlichen Stille sangen die Nachtigallen, aus den Tiefen der Hasel- und Salweidenbüsche erklang die fröhliche, perlende Waldmusik der Grasmücken. Von Zeit zu Zeit flog hoch im Sonnenlicht eine Waldtaube vorüber, die Brust beleuchtet von den schrägen Strahlen der sinkenden Sonne. Eine der Tauben, die unter sich auf der Lichtung die dichte Krone der Eiche erspähte, legte die Flügel an, machte eine Drehung und kam mit lautem Geflatter zwischen den grünen Blättern zur Ruhe. Es war erstaunlich, daß ein so großer Vogel so schnell landen konnte. Er schien das dichte Laubwerk mit Leichtigkeit zu durchstoßen, fast wie ein Pfeil. Nachdem der Vogel sich ein Weilchen umgesehen hatte, plusterte er die Brust auf und begann: »Kuu, Kuu, Kuukuu, Kuu, Kuu. KuuKuu, Kuu, Kuu, Kuukuu, Ku!« Ein reizender, beruhigender Laut, der den Frieden des Waldes atmete und dann plötzlich mit einer halben Note endete, so als habe der Vogel etwas gehört und halte inne, um zu lauschen. Von den umliegenden Bäumen antworteten andere Wildtauben, ohne Zweifel gab es in den Haselbüschen viele Nester. Kaum hatte der Vogel sein Lied beendet, als Robins Gesicht in der Öffnung am Fuß des Baumes auftauchte. Seine Augen waren nach oben gerichtet, so daß das Weiße sichtbar war. Er suchte die dicke grüne Decke aus Eichblättern über seinem Kopf mit dem Blick ab. Der Vogel, der sich schon, bevor er sich auf dem Baum 35
niederließ, vergewissert hatte, daß da unten kein Feind lauerte – Vögel schauen immer direkt unter sich, bevor sie sich setzen – fing wieder an zu gurren. Vorsichtig wie ein Fuchs schob Robin sich weiter vor. Der Vogel saß gleich über ihm in den Zweigen, aber er konnte ihn nicht sehen. Er ließ den Blick umherwandern, indem er nur langsam den Kopf bewegte. Plötzlich erstarrte er, wartete, dann zog er sich leise in den schwarzen Schatten des Bauminneren zurück. Gleich darauf kam der Lauf einer Flinte zum Vorschein. Er schwankte kurz, kam dann zur Ruhe. Ein Augenblick Stille, dann kam ein gedämpfter Knall, ein verzweifeltes Flattern im Eichenlaub. Dann brach ein runder, blaugrauer Körper durch die Äste und fiel mit einem dumpfen Laut auf das kurze, von den Kaninchen abgefressene Gras. »Ich hab sie! Ich hab sie«, schrie Robin triumphierend. »Gut gemacht, Robin! Die erste Beute geht an dich – ein prima Schuß, wirklich!« Robin Hood und der Große John stürzten aus der Eiche wie Hühner aus einem Hühnerstall. »Was für ein schönes Tier! Nein, was für ein schönes Tier!« »Und ganz fett!« »Sollen wir sie braten oder kochen?« »Kochen, zum Braten haben wir kein Fett.« Sie hoben die Taube auf, befühlten ihre Brust und erklärten sie für einen wohlgemästeten Vogel, über den sich jeder Jäger freuen würde. Bald waren sie eifrig bei der Arbeit. Robin schnappte sich den Topf und verschwand damit im Haselgesträuch. In zwanzig Metern Entfernung stieß er auf einen schmalen Pfad, der sich durch das Farnkraut wand. Nachdem er diesem Pfad ein Weilchen gefolgt war, kam er an einen kleinen Bach, der zwischen niedrigen Ufern versteckt durch dichtes Farnkraut floß. Sie hatten diesen Bach erst vor kurzem ganz zufällig entdeckt. Das Wasser war klar und frisch. 36
Der Große John machte inzwischen Feuer. Er suchte zwischen den Büschen trockenes Gras und kleine Zweige und legte das Feuer ein paar Schritte vor dem Eingang zu ihrer Höhle an. Zuerst rollte er das trockene, spröde Gras zu einem losen Ball zusammen. Drum herum baute er die Reiser in der Form eines Indianerzeltes auf. Dann hielt er ein Streichholz daran. Das Gras fing sofort Feuer, und wenig später brannten auch die Zweige. Als Robin mit dem Topf voll Wasser durch die Büsche kam, brannte ein helles Feuer. Robin packte eifrig die fette Taube, bald lösten sich die blaugrauen Federn in dichten Mengen und wurden sorgfältig verbrannt. Die Jungen hatten offenbar Übung im Geflügelrupfen. Der Große John bekam die Aufgabe zugewiesen, den Vogel auszunehmen, eine unangenehme Arbeit, die aber getan werden mußte. Vogelfreie können sich nicht erlauben, zimperlich zu sein. John hatte oft zugesehen, wie die Köchin ein Huhn vorbereitete, und hatte sich gemerkt, wie man es macht. Er löste seine Aufgabe so fachmännisch, daß sogar Robin beeindruckt war. Dann wurde die Taube mit einem Löffel Salz in den Topf getan, und das Wasser begann bald fröhlich zu brodeln. Robin hatte inzwischen noch mehr Holz gesammelt. Es lag so viel umher, daß er nicht weit zu gehen brauchte. Bald hatte er einen ordentlichen Stapel beisammen, den er im Innern des Baumes verstaute. Sie verwahrten es hier, damit es trocken blieb, denn obgleich das Wetter schön war, konnte doch ein Gewitterregen in der Nacht oder der Morgentau das Holz feucht machen. Feuchtes Holz aber bedeutet Rauch, und Rauch würde ihre Anwesenheit verraten, und das war keinesfalls zu wünschen. Später waren sie in dieser Hinsicht nicht mehr so vorsichtig. Die Tür ins Lager der Vogelfreien, die Öffnung in der Eiche, war recht klein. Im Baum selbst aber war genug Raum, um zwölf erwachsene, aufrecht stehende Männer zu fassen. Die Decke bildete eine Masse von halbverfaultem Holz, und in der Mitte dieser Wölbung war ein dunkles 37
Loch, das ohne Zweifel wie ein Kamin bis in die Krone des Baumes führte. Es drang jedoch von oben kein Licht herein, und die Jungen hatten bisher keine Zeit gehabt, ihre wunderbare natürliche Höhle zu erforschen. Nur ganz zufällig hatten sie sie gefunden. Um die Wahrheit zu gestehen: Die Stunden vorher waren recht sorgenvoll gewesen. Seit dem Freudentanz, den die Vogelfreien im Morgengrauen im Farnkraut aufgeführt hatten, war viel geschehen. Der Übermut war bald verflogen und fast in Mutlosigkeit umgeschlagen. Das war gewiß auf den Mangel an Schlaf zurückzuführen, denn sie waren die ganze Nacht hindurch gewandert. Aber nach einem kurzen Schlaf erwachten sie erfrischt und hungrig, und nachdem sie sich mit ein paar Handvoll roher Haferflocken gestärkt hatten – kein besonders sättigendes und schmackhaftes Mahl für hungrige Jungen – waren sie ohne Zögern weiter in den Forst vorgestoßen. Zwei Dinge mußten sie finden: Wasser und einen geeigneten Lagerplatz. Robin hatte den Weißfisch von einem Teich oder Weiher im Wald erzählen hören, der der Blinde Teich genannt wurde. Den wollten sie suchen. Aber der Forst war so groß, daß das sehr schwierig werden konnte. Sie waren daher erleichtert, als Robin am Spätnachmittag auf den Bach stieß. Er war vorgegangen, um den Weg durch Farnkraut und Gebüsch zu bahnen. Sie waren so durstig, daß sie in tiefen Zügen tranken – Tante Ellen wäre entsetzt gewesen! Als sie dann ihren Durst gestillt hatten, sahen sie sich nach einem geeigneten Lagerplatz um. Robin hatte den vagen Plan, eine Hütte aus Zweigen zu bauen, und als sie geeignetes Holz suchten, stießen sie auf den Eichbaum. Es gehörte nicht viel Vorstellungskraft dazu, um zu erkennen, daß die Natur selbst hier einen geschützten Lagerplatz anbot. Schnell hatten sie das Innere des alten Baumes erforscht und einen in jeder Weise idealen Aufenthaltsort vorgefunden. Es war drinnen trocken wie in einem Backofen, aber sie mußten einen Haufen Laub und verfaultes Holz hinausräumen. Dabei fand der Große John viele 38
Insektenflügel. Außer den Flügeln fanden sie seltsame längliche Kügelchen, ähnlich den Wurmpillen, die sie von Zeit zu Zeit Tilly eingeben mußten; später entdeckten sie, daß es der Kot von Eulen war. Drinnen war Platz genug, um ihre wenigen Habseligkeiten unterzubringen, den Topf und die Pfanne, das Gewehr und die mageren Vorräte. Sie holten sich ganze Arme voll grüner Farnwedel, die herrlich federnde Matratzen abgaben. Bald hatten sie ihre Behausung in Ordnung gebracht, und ihr Abendessen war ihnen wie gerufen vor die Tür geflattert. Soweit war der Tag glücklich verlaufen. »Na, das riecht aber gut!« sagte der Große John, als er den Deckel vom Topf hob. Er war von einer duftenden Wolke umgeben, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. »Ich wünschte, wir hätten ein paar Kartoffeln dazu.« Robin reichte ihm die Tüte mit Haferflocken. »Hier, rühr ein wenig davon hinein, das wird die Soße dicken.« Die Haferflocken wurden also eingerührt, und nach einer Weile verkündete der Große John – der an der Reihe war zu kochen – daß das Abendessen fertig sei. Er teilte die Taube – argwöhnisch von Robin beobachtet – in zwei gleiche Hälften, und in bemerkenswert kurzer Zeit war der unglückliche Vogel verspeist. Danach vergruben sie die Knochen unter dem Farn, wuschen den Topf und die Teller ab und verstauten sie im Innern des Baumes. Sie waren immer noch hungrig und außerdem unzufrieden, weil es zum Frühstück außer Haferbrei nichts geben würde. Aber sie verdrängten die wehmütigen Gedanken an den Speck und die Würstchen daheim tapfer. Robin schob den gutgeölten Bolzen des Gewehrs zurück und legte eine Patrone ein. »Du bist jetzt mit dem Schießen dran. Wir müssen uns beeilen, es wird bald dunkel.« »Was machen wir mit dem Feuer?« »Tritt es aus. Wir können es nicht brennen lassen.« »Und wir dürfen auch nicht zu weit weggehen, sonst finden wir das Lager nicht wieder.« 39
»Pah«, sagte Robin Hood verächtlich. »Hast du schon mal gehört, daß ein Vogelfreier sich verirrt? Wir müssen eine Spur legen, während wir gehen.« Der Große John nahm ehrfürchtig die Flinte entgegen, zum ersten Mal würde er Gelegenheit haben, sie abzufeuern. »Schimpf nicht, wenn ich daneben treffe, Robin. Ich tue, was ich kann.« Sie machten sich auf den Weg durch die Büsche; noch einmal schauten sie zurück, um zu sehen, ob auch kein Funken mehr in der Asche ihres Feuers glühte. Dunkle Schatten sammelten sich, denn die Sonne war untergegangen, und der ganze Forst lag in einem duftenden Dämmerlicht. Während die Jungen durch die Haselbüsche und über die schmalen moosigen Pfade schlichen, brachen sie hier einen Zweig, knickten dort einen Halm, um ihren Weg zu bezeichnen. Sie überquerten den Bach und befanden sich bald am Rand einer breiten Schneise. Der Große John hielt plötzlich den Atem an und fuhr zurück: »Mein Gott, sieh dir das an!« Robin, der dicht hinter ihm ging, blieb regungslos stehen. »Was ist los? Ist da jemand?« »Nein, aber Kaninchen, Millionen!« Soweit man sehen konnte, war alles von Kaninchen wie gesprenkelt: der Rand der Schneise, der Untergrund der Büsche, die Schneise selbst. Einige grasten, andere putzten sich wie Katzen oder jagten im Kreis hintereinander her. Die Jungen hatten noch nie so viele Kaninchen gesehen. Keine dreißig Meter entfernt richtete sich ein halberwachsenes Tier auf und beäugte sie. »Ruhig!« flüsterte Robin, während der Gewehrlauf sich hob. Bums! Obwohl die Waffe mit einem Schalldämpfer ausgestattet war, knallte der Schuß erschreckend laut durch den stillen Forst – denn die Bäume warfen den Schall 40
zurück. Die Kaninchen in ihrer Nähe flitzten in Deckung, die weiter entfernten richteten sich auf wie kleine Fragezeichen. Die Kugel des Großen John hatte ihr Ziel getroffen. Es kam ihm jetzt zustatten, daß er oft mit dem Luftgewehr auf dem Speicher in Cherry Walden geübt hatte. Das Kaninchen sprang hoch und fiel dann ausgestreckt in den Farn. »Rühr dich nicht«, flüsterte Robin und legte die Hand auf Johns Arm, der, trunken vor Freude über seinen Erfolg, losstürzen wollte, um seine Beute zu holen. »Gib mir das Gewehr.« Die anderen Kaninchen, vierzig Meter und weiter entfernt, saßen immer noch still und horchten. Sie hatten den Knall gehört, wußten aber nicht, woher er gekommen war, und als Robin jetzt die Flinte hob, senkten einige schon wieder den Kopf und begannen zu grasen. Robin suchte sich ein besonders großes Tier aus, das in etwa vierzig Metern Entfernung am Rand der Schneise saß. Im schwindenden Tageslicht sah er seine Beute im Zielfernrohr nur als undeutlichen Schatten und mußte auf gut Glück zielen. Er richtete den Schnittpunkt des Fadenkreuzes auf die Stelle, wo er die Schulter des Kaninchens vermutete, hielt den Atem an und drückte ab. Sofort nach dem Knall hörte man den dumpfen Aufschlag der Kugel, die ihr Ziel getroffen hatte. Die Rückkehr ins Lager glich einem Triumphzug, sie hatten zwei fette Kaninchen für die Vorratskammer. Trotz der Spur, die sie gelegt hatten, war der Weg zurück nicht leicht zu finden. Schließlich brachen sie durch die Büsche in die Lichtung und sahen den alten Baum. Als Robin die Kaninchen versorgte, indem er bei beiden je ein Hinterbein hinter der gelösten Sehne des anderen durchzog und die Tiere an einem Zweig aufhängte, hörten sie ein leises Rascheln in der Krone der Eiche, und eine riesige Eule strich über ihre Köpfe davon. Gleich darauf 41
hörten sie ihr melancholisches »Hu – huu« durch den dunklen Forst ziehen. Sie machten wieder Feuer und bereiteten bei seinem Schein die Kaninchen für das Frühstück vor. Kaninchenleber und -herz schmecken sehr gut, viel besser als Würstchen und Speck! Nachdem sie Felle und Abfälle unter den Büschen vergraben hatten, hängten sie die abgezogenen Kaninchen wieder auf. Die gründlich gewaschenen Herzen und Lebern wurden auf einem Teller im Baum versteckt, wo sie kein räuberisches Tier in der Nacht finden konnte. Es wurde schnell dunkel. Über ihren Köpfen strahlten still die Sterne, und in den tintenschwarzen Bäumen schrieen nah und fern die Eulen. Ihre traurigen Rufe erinnerten Robin an ein Buch, das er kürzlich gelesen hatte: Thoreaus ›Leben in den Wäldern‹ – Er hatte einige der schönsten Stellen auswendig gelernt. Wie war das noch? ... »Ich liebe es, ihr Klagen zu hören, ihre Antworten voller Trauer ... es sind die Geister, die Trauer und die melancholischen Prophezeiungen gefallener Seelen, die einst in menschlicher Gestalt nächtlich die Welt durchstreiften und Taten der Finsternis taten... ›Oh–O–O–O– daß ich nie geboren worden wäre‹ seufzt einer auf diesem Ufer des Weihers und kreist mit der Ruhelosigkeit der Verzweiflung, bis er sich von neuem in den grauen Eichen niederläßt – ›daß ich nie geboren worden wäre!‹ wiederholt ein anderer auf dem fernen Ufer mit bebender Eindringlichkeit, und ›geboren‹, tönt es schwach tief in den Wäldern von Lincoln ...« Der Weiher von Walden! Ja, vielleicht war der Blinde Teich auch so ein Weiher von Walden, ein klares, tiefes Gefäß voll durchscheinenden Wassers tief im Herzen eines englischen Forstes... Das Feuer war zu einer mattroten Glut zusammengesunken, keine Flamme flackerte, kein Rauch stieg auf, die Blätter über ihrem Kopf schimmerten zauberhaft in dem matten Licht. Die Jungen lagen ausgestreckt auf dem 42
Rücken, die Köpfe nah am ersterbenden Feuer, und betrachteten das stille Laub der Eiche, das dunkel gegen den Sternenhimmel stand. »Was mag Tante Ellen wohl jetzt machen?« murmelte der Große John schläfrig. »Ich wette, das ganze Dorf ist in Aufruhr.« »Ich würd' mich nicht wundern, wenn jetzt alle mit Laternen nach uns suchten.« »Keine Sorge, hier finden sie uns nie. Wahrscheinlich können wir für immer hier bleiben – oder doch so lange, bis uns die Patronen ausgehen.« »Es würde auch im Winter Spaß machen«, sagte der Große John, »stell dir den Wald im Schnee vor, und die Bäume ganz ohne Blätter. Wir hätten es in der alten Eiche so gemütlich wie die Dachse!« »Wir würden Fallen stellen, um Pelze zu erbeuten. Wir würden ganze Reihen von Fallen aufstellen.« »Worauf du dich verlassen kannst.« »Ich bin dafür, daß wir überhaupt nicht mehr zurückgehen«, sagte Robin, »wir werden unser ganzes Leben hier verbringen, wie dieser Kerl in dem Buch von Thoreau.« »Der hat es aber doch nur zwei Jahre ausgehalten.« »Das stimmt ... aber er lebte auch allein; ganz allein wäre es mir auch ein bißchen unheimlich, wenn man niemanden hat, mit dem man reden kann, nicht einmal einen Hund.« »Schade, daß wir Tilly nicht mitgenommen haben«, sagte der Große John, »das hätte ihr Spaß gemacht. All die Kaninchen...« »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht wäre sie auch lästig. Sie würde versuchen, nach Hause zu laufen oder sich verirren.« »Hoo, Hoo, Hoohoo!« Ein großer schwarzer Schatten streifte über sie hin. Es war die Eule. »Ich glaube, sie hat ihr Nest oben in der Eiche«, sagte Robin und richtete sich auf die Ellbogen auf. »Wir werden morgen mal nachschauen. Vielleicht finden wir ein Junges und zähmen es. Heiho! Ich geh ins Bett.« 43
»Ich auch«, erwiderte der Große John. Sie traten die Glutreste aus und krochen in den Baum. Während sie sich auf ihrem Lager aus Farnkraut zurechtlegten, sahen sie draußen den Wald undeutlich und geisterhaft. »Gute Nacht, Robin Hood!« »Gut' Nacht, Großer John, schlaf gut. Vergiß nicht, morgen bin ich dran, Frühstück zu machen.«
KAPITEL 4
Die Jagd beginnt Die Vogelfreien lagen gemütlich in ihrem Waldversteck; die Sterne schienen freundlich auf die breite Krone der Eiche; die kleine grüne Lichtung mit dem schwarzen Fleck, dort wo das Lagerfeuer gebrannt hatte, war jetzt feucht vom nächtlichen Tau. Weit entfernt in Dower House rückte mit jedem Ticken der Uhr unweigerlich die Polizei näher. Nach dem Abendessen konnte Tante Ellen die Spannung nicht länger ertragen; sie ging noch einmal zum Pfarrhaus. Der geduldige Weißfisch trat ihr in der Halle mit erhobenen Augenbrauen entgegen: »Etwas Neues von den Bengels?« »Nicht das geringste, und ich komme noch einmal zu Ihnen und bitte um Ihren Rat. Ich komme mir vor wie Hiob, Herr Pfarrer, alles Unglück ist über mich gekommen.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen und seufzte verzweifelt. »Sehen Sie«, fuhr sie fort, »wer weiß, wo sie sind und was sie machen. Wenn sie nun die Masern kriegen ... also, ich will sagen, das ist doch wahrscheinlich, nicht wahr? Sie waren mit Harold zusammen, bis ich ihn ins Bett gesteckt habe, und keiner von beiden hat sie schon gehabt.« »Nun, diese Sorge ist jedenfalls verfrüht, meine Teure. 44
Vor allen Dingen müssen wir herausbekommen, wo sie sich verstecken.« »Ja, aber wie denn?« platzte Tante Ellen heraus. »Und wovon wollen sie leben? Sie haben kein Geld bei sich. Das wenigstens habe ich feststellen können, ihr Taschengeld ist unangetastet. Sie können doch nicht von Luft leben.« »Ich fürchte, es bleibt nichts übrig, als die Polizei zu verständigen«, sagte der Pfarrer und wiegte sorgenvoll sein rundes Gesicht. »Allein können wir sie nicht suchen. Wissen Sie, das ist eine Aufgabe für die Polizei, die werden sie bestimmt im Handumdrehen aufstöbern.« »O mein Gott, müssen wir wirklich die Polizei verständigen? Es wird in allen Zeitungen stehen, das ganze Dorf wird es erfahren.« »Was das anbetrifft, sie wissen es längst«, sagte der Pfarrer mit einem leisen Lächeln. »Alle wissen es. Als mein Dienstmädchen zur Post ging, wurde sie gefragt, ob man die Jungen gefunden habe. Und wenn das Dorf es weiß, weiß es auch der Wachtmeister. Ich fürchte, wir müssen uns an die Obrigkeit wenden.« Wachtmeister Bunting war ein Koloß von einem Mann, mit einem dreifachen Kinn. Die Enden seines gewichsten Schnurrbarts stachen wie zwei scharfe Nadeln zu beiden Seiten des Gesichts heraus. Er nahm den Helm ab und legte ihn vorsichtig auf den Tisch in der Halle. »Kommen Sie herein, Herr Wachtmeister, kommen Sie herein.« Tante Ellen flatterte in der Tür der Bibliothek. »Vielen Dank, Gnä'Fräuln.« Er stand da und hielt ein Notizbuch und einen Bleistift in den Fingern. »Sie haben wohl schon von meinen beiden Neffen gehört, Herr Wachtmeister.« »Ja, ich hab da was gehört.« Der Wachtmeister hatte eine sehr tiefe Stimme, die wie eine Orgel grollte, eine Stimme, die ganz zu seiner majestätischen Statur paßte. »Die Lage ist folgende, Wachtmeister Bunting. Meine 45
beiden ältesten Neffen sind ausgerissen. Sie haben eine Nachricht hinterlassen, daß sie für einige Zeit wegbleiben würden, denn sie hätten Angst, von meinem dritten Neffen, Harold, der jetzt oben im Bett liegt, die Masern zu bekommen. Eine schamlose Ausrede!« »Haben Sie diesen Brief, Gnä'Fräuln?« »Ja. Hier ist er.« Tante Ellen zog den inzwischen recht zerknitterten Zettel aus ihrer Handtasche und übergab ihn mit zitternder Hand. Wachtmeister Bunting las ihn langsam, halblaut, und die Enden seines Schnurrbarts bewegten sich ganz leicht, wie die Fühler eines Insekts. »Liebe Tante«, brummelte er vor sich hin, »John und ich finden, daß es besser ist, wir halten uns fern, solange Harold so krank ist wir könnten uns anstecken wir kommen schon wieder zurück mach dir keine Sorgen und bitte erklär es dem Pfarrer.« »Damit meinen sie«, unterbrach Tante Ellen eifrig, »sie wünschten, daß ich dem Pfarrer sage, daß sie nicht zum Unterricht kommen. Ich hatte mit ihm abgemacht, daß er ihnen Nachhilfestunden gibt.« »Schulunterricht, wie?« sagte der Wachtmeister und blickte auf. »Ja – hm – Schulunterricht.« »Ich verstehe, Gnä'Fräuln. Versuch nicht, uns zu finden, denn es wird dir nicht gelingen gezeichnet Robin (Hood) John (der Große). Die spielen Banditen, wie?« »Wie bitte?« »Ich sagte, Banditen, Gnä'Fräuln. Sieht so aus, als spielten sie Robin Hood oder so.« »Ja, ja, irgend so ein Unsinn... Sehen Sie, Herr Wachtmeister, ich bin verantwortlich für die Jungen, für alle drei. Man muß sie finden. Sie könnten krank werden oder sonst was; ich bin verantwortlich.« »Ich verstehe, Gnä'Fräuln«, grollte der Wachtmeister, »Sie sind sozusagen der gesetzliche Vormund. Nun, wir wollen sehen, was sich tun läßt. Sie haben ein Gewehr mitgenommen, wie ich gehört habe, ein Kleinkaliberge46
wehr, das Ihrem Gärtner gehört?« Wachtmeister Bunting schien mit den Fakten bestens vertraut. »Ja, ich glaube, zum mindesten fehlt das Gewehr, und wir vermuten, daß die Jungen es genommen haben«, antwortete Tante Ellen und schnüffelte. »Aber Sie haben keinen Beweis, daß sie es genommen haben?« Tante Ellen verlor die Fassung. Es klang beinahe, als beschuldigte der Wachtmeister sie, das Gewehr gestohlen zu haben. »Ich glaube, Sie sprechen am besten selber mit Rumbold, Wachtmeister Bunting. Ich werde ihn holen lassen. »Tut mir leid, daß ich ihnen Mühe mache, Gnä'Fräuln, aber wir müssen alle Fakten klären.« »Natürlich, natürlich.« Tante Ellen drückte die Klingel. Als Rumbold schließlich auftauchte, sehr rot im Gesicht und mit Schweißtropfen auf der. Stirn, war seine Miene schuldbewußt und trotzig. Der Grund war der, daß der unglückselige Mann keinen Waffenschein besaß. Aber Wachtmeister Bunting war ein weitherziger Mensch. »Sie wissen, Sie sollten 'nen Waffenschein haben, wenn Sie so 'ne Flinte benutzen, Mr. Rumbold«, sagte er vorwurfsvoll. »Sie haben Recht, Wachtmeister, ich weiß, aber ich hab sie unter Verschluß gehalten und nicht oft benutzt.« »Das ist ganz egal, es ist gegen das Gesetz, mit einem solchen Gewehr zu schießen ohne Waffenschein. Kaliber 22, nicht wahr?« »Ja.« »Können wir das nicht ein andermal besprechen, Wachtmeister Bunting. Schließlich ist die andere Sache viel wichtiger«, sagte Tante Ellen ungeduldig. »Schon gut, Gnä'Fräuln, aber trotzdem, er muß sich einen Waffenschein besorgen, wenn er schießen will«, fügte er hinzu. »Nun, Mr. Rumbold, was bringt Sie auf den Gedanken, daß die Jungen Ihr Gewehr genommen haben?« 47
»Nun, ich weiß nur, daß es heute morgen, als ich in meinen Schuppen kam, weg war – einfach weg.« »War auch Munition dabei?« »Ja, ein bißchen in einer Schachtel.« »Wieviel Schuß würden Sie sagen?« – der Wachtmeister machte sich Notizen in sein Buch. »Weiß nicht genau – vielleicht hundert.« »Hundert Schuß Kaliber 22«, brummelte der Wachtmeister und schrieb eifrig. »Und sie haben alles mitgenommen?« »Ja.« »Nun, Mr. Rumbold, ich denke, das wäre alles.« Der Gärtner ging erleichtert nach draußen. »Sie haben wohl keine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnten, Gnä'Fräuln? Und Ihr Neffe Harold weiß auch nichts?« »Ich habe absolut keine Ahnung, und der Kleine oben ist zu krank, um etwas zu sagen.« »Hm... Nun, also – ich werde tun, was ich kann. Und machen Sie sich bloß keine Sorgen. Wie ich die jungen Herren kenne, können die sich ganz gut helfen.« »Und Sie werden es mich wissen lassen, sobald Sie etwas erfahren, Wachtmeister Bunting?« »Aber gewiß, Gnä'Fräuln, sofort, Gnä'Fräuln.« Der Wachtmeister stampfte durch die Halle und nahm seinen Helm vom Tisch. Er setzte ihn auf und schob den Kinnriemen unter sein erstes Kinn. »Gute Nacht, Gnä' Fräuln.« »Gute Nacht, Herr Wachtmeister.« Er ging die Auffahrt hinunter, und Tante Ellen blieb in der Tür stehen und beobachtete, wie die weiche Sommerdämmerung den schweren breiten Rücken verschluckte. Wie dunkel es war, wenn man aus der erleuchteten Bibliothek herauskam! Wo mochten die Jungen jetzt sein? Vielleicht schliefen sie wie die Landstreicher in einem Heuhaufen. Warum hatte sie sich jemals einverstanden erklärt, für anderer Leute Kinder die Verantwortung zu 48
übernehmen? Mit einem Seufzer kehrte sie in die Bibliothek zurück. Die Sache war ihr jetzt aus den Händen genommen. Sie hatte getan, was in ihrer Macht stand, die Dinge würden ihren Lauf nehmen, und sie mußte abwarten. Inzwischen konnte es allerdings nicht schaden, Harold vorsichtig auszufragen. Es ging ihm schon besser, und der Doktor hatte bestätigt, daß keine Gefahr für Komplikationen bestand. Aber Harold war auf der Hut. Er fragte sie ganz naiv, ob seine Brüder zur Schule gefahren seien, und als sie verneinte, fragte er, was sie denn täten, und wann sie ihn besuchen dürften. Tante Ellen stellte bald fest, daß sie es war, die ins Kreuzverhör genommen wurde, er versuchte offenbar, vorsichtig etwas aus ihr herauszukriegen. Aber er war dabei so geschickt, daß sie sich nicht klar darüber wurde, ob er etwas wußte. Sie betrachtete ihn mißtrauisch durch ihren Kneifer, aber seine Miene war undurchdringlich. Er fragte zum Beispiel, ob seine Brüder lernen müßten. Tante Ellen konterte: »Ich habe mit dem Pfarrer abgemacht, daß er sie unterrichtet.« »Wann fangen sie denn an?« fragte er. »Ich weiß noch nicht genau«, sagte Tante Ellen gereizt. »Ich muß an so vieles denken.« Sie war sich nicht klar darüber, ob es klug wäre, ihm reinen Wein einzuschenken. Aber Harold fand andere Mittel und Wege, die Wahrheit herauszufinden. Hannah – die schon Masern gehabt hatte – durfte ihm seine Mahlzeiten bringen. Als sie ihm am anderen Morgen das Frühstück servierte, fragte er sie geradeheraus, wo seine Brüder seien. Hannah, der strikt verboten worden war, ihm irgend etwas zu sagen, zuckte zurück. Sie war ein einfaches Gemüt, ungeübt in Verstellung. Sie machte ein verwirrtes Gesicht, stotterte etwas und sagte dann, er solle sein Frühstück essen und nicht so neugierig sein. Damit hatte sie alles verraten, er wußte jetzt, daß sie sich wirklich davongemacht hatten. Ganz ohne 49
Zweifel waren sie weg, und er fühlte sich tief getroffen, weil sein Pech ihn daran hinderte, jetzt bei ihnen im Wald zu sein. Aber, andererseits: hätte er keine Masern bekommen, säßen sie jetzt alle in der Schule. Immer war das Schicksal gegen ihn, immer war er ausgeschlossen, wenn es lustig wurde. Hannah erzählte Tante Ellen von Harolds Fragen und bat um Weisung. Tante Ellen mußte sich entscheiden, ob sie Harold einweihen wollte oder nicht. Sie dachte angestrengt nach, beriet sich mit Miß Holcome und schließlich mit dem Pfarrer, und man kam schließlich zu dem Entschluß, daß man Harold nichts sagen sollte. Als Harold daher seine Tante wieder fragte, wann seine Brüder Ihn besuchen dürften, stürzte Tante Ellen sich Hals über Kopf in eine Lüge. Robin und John seien weggefahren, bis es ihm wieder besser ginge. Sie wollte nicht, daß sie sich ansteckten. Wenn die Inkubationszeit vorüber sei, würden sie wieder zur Schule gehen. Inzwischen sollte er mit der Fragerei aufhören, sie habe Sorgen genug. Harold merkte sofort, daß seine Tante schwindelte. Die Tage vergingen. Dem armen Harold, der immer noch in seinem Zimmer bleiben mußte, kam die Außenwelt ganz besonders verlockend vor. Die Sonne schien strahlend und warm, die Bäume und Büsche des Gartens standen in vollem Laub. Im Haus war es seltsam still, die Erwachsenen waren sorgenvoll und wortkarg. Das herrliche Frühsommerwetter schien von allen Seiten gegen den Witwensitz anzubranden, und Harold quälte sich in seiner Gefangenschaft. Er durfte jetzt, in eine Decke gewickelt, in einem alten Kinderstuhl am Fenster sitzen. Von diesem Beobachtungsposten aus konnte er die sommerliche Welt draußen betrachten. Eine Woche nach dem Verschwinden seiner Brüder saß er wieder einmal am Fenster. Die Überreste seines Nachmit50
tagstees, eine Tasse mit ein paar Teeblättern, ein Teller voller Krümel, standen auf einem Tablett neben ihm, sein Lieblingsbuch ›Tom Sawyer‹, lag mit den geöffneten Seiten nach unten auf dem Boden. Der Abend war zu schön zum Lesen; er wäre so gern draußen im sonnigen Garten gewesen, wo die Schatten der Bäume schon über den Rasen fielen. Hausschwalben mit ihren weißen Westchen stürzten mit fröhlichem Gezwitscher, stiegen wieder auf und kreisten, als schwämmen sie auf den Wellen einer unsichtbaren See, und durch das offene Fenster drang schwach der Ruf eines Kuckucks. Seine Tante saß unten im Salon und schrieb Briefe, Miß Holcome war spazierengegangen, und Harold langweilte sich schrecklich. Er konnte nichts tun, als in den Garten zu starren und sich nach draußen zu wünschen. Er wußte, daß seine Brüder nicht zurückgekommen waren; ihr Verschwinden machte seine Lage nur noch schlimmer. Wie glücklich mußten sie sein weit hinter den abendlichen Hügeln, tief in den grünen Wäldern, wo sie ein Leben führten wie Tom Sawyer, ungehindert von Tanten und pedantischen Weibsleuten! Warum mußte das Schicksal gerade ihn strafen? Er hatte immer solches Pech. Wenn er nur schnell wieder gesund würde, könnte er ihnen nachlaufen. Einen Augenblick wurde ihm kalt vor Angst. Würde er das wirklich tun? Würde er den Mut haben, sich mitten in der Nacht davonzustehlen und sich ganz allein auf den Weg zu machen, wie seine Brüder es bestimmt getan hatten? Und wie sollte er sie finden. Dann beobachtete er Tilly, die Spanielhündin. Sie kam traurig unter den Bäumen hervor, ließ sich müde in der Sonne zu Boden fallen und streckte sich aus. Die Hündin War seit dem Verschwinden der Jungen verstört. Sie lag jetzt da und horchte auf alle Geräusche um sie herum. Harold konnte erkennen, daß Tilly so tat, als schliefe sie. Von Zeit zu Zeit schnappte sie nach einer Fliege oder tat so, als suchte sie einen Floh. Aber die ganze Zeit horchte sie; sie horchte 51
auf das Klappern der Töpfe, das gleichmäßige Geschwätz der Dienstboten in der Küche, sie horchte auf das Quietschen der Pumpe im Gemüsegarten, wo Rumbold eine Gießkanne füllte. Sie war ein geselliger Hund, ohne menschliche Gesellschaft reizte es sie nicht einmal, in den Rhododendronbüschen unten am Weidenteich nach Kaninchen zu jagen. Sie lag also in der Sonne und lauschte. Harold stieß den Pfiff aus, mit dem sie den Hund immer riefen. Tilly, die gerade so tat, als hätte sie über ihrem Schwanz einen Floh gefunden – die Nase war hochgestülpt, kleine, zischende Laute kamen aus der Schnauze – hörte auf zu beißen. Sie hatte die Nase immer noch gekraust, aber sie hielt den Atem an und horchte. Harold mußte lachen und pfiff noch einmal. Tilly saß plötzlich aufrecht da, die langen Hängeohren wie Fächer ausgebreitet, und schaute zum Haus hin. Harold winkte, aber sie hob den Blick nicht zum Fenster. Schließlich fing sie wieder an, Flöhe zu suchen. Harold nahm ›Tom Sawyer‹ wieder auf und las weiter: »Nach dem Mittagessen brachen sie auf, um auf der Sandbank nach Schildkröteneiern zu suchen. Sie liefen umher, stießen mit einem Stock in den Sand, und wenn sie eine weiche Stelle fanden, gingen sie in die Knie und gruben mit den Händen.« Es hatte keinen Sinn, das Lesen machte ihn nur noch trauriger. Hallo, was war das? Tilly bellte! Er schaute auf. Der Spaniel lief auf seinen kurzen dicken Beinen über den Rasen auf das Eingangstor zu, Flöhe und Langeweile waren vergessen. Er bellte aus vollem Hals. Ein Mann kam zum Tor herein, ein junger Mann in grauen Flanellhosen und Tweedjacke, ohne Hut und mit einer Ledertasche an einem Riemen über der Schulter. Wer konnte das sein? Was wollte er? Harold sah, wie der Mann das Tor sorgfältig hinter sich schloß, dann stehenblieb und auf Tilly einredete. Tilly beruhigte sich, folgte ihm aber dicht auf den Fersen die Auffahrt hinauf und schnüffelte an seinen Hosenbeinen. 52
War er ein Vertreter, einer der Männer, die von Zeit zu Zeit im schläfrigen Cherry Walden auftauchten, Wesen aus einer anderen Welt mit seltsamen und manchmal faszinierenden Waren? Er kam die kiesbestreute Auffahrt hinauf, aber anders als die gewöhnlichen Hausierer – Harold fand, daß er auch nicht wie einer aussah – nahm er nicht die Abzweigung, die Zur Rückseite des Hauses führte, sondern kam ganz kühn zum Vordereingang, der unter Harolds Fenster lag. Das graue Gewirr der Glyzinienzweige verbarg ihn jetzt vor Harolds Blick. Einen gespannten Augenblick lang war es still. Harold stellte sich vor, daß der Besucher jetzt den glänzenden Messingknauf der Türglocke zog. Es war, als warte man auf eine Explosion. Sie kam – die vollen, erschreckend lauten Töne hallten zwischen den getäfelten Wanden des Hauses wider. Es war kein zaghaftes Klingeln, sondern ein kühnes, hallendes; es duldete kein Zögern, es war ein dringender Befehl an schwatzende Dienstmädchen. Harold hörte Emmas Schritt auf den Steinfliesen des Küchenflurs: »Stapf, stapf, stapf« – dann Stille, während Emma den Teppich in der Halle überquerte, dann wieder »stapf, stapf, stapf« in der Halle. Nach einer Pause hörte er die Vordertür zuschlagen. Er beugte sich aus dem Fenster, aber niemand kam zum Vorschein. Der Fremde war eingelassen worden. War er ein Detektiv? Hatte er etwas mit Robin Hood und dem Großen John zu tun? Tilly trottete auf die Mitte des Rasens zurück. – Tante Ellen duldete keine Hunde im Haus – und dort blieb sie mit gespitzten Ohren sitzen und beobachtete das Fenster des Salons. Wer konnte das sein? Was wollte er?
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KAPITEL 5
Unter des Laubdachs Hut Unter des Laubdachs Hut Wer gern hier mit mir ruht, Und stimmt der Kehle Klang Zu luft'ger Vögel Sang: Komm geschwinde! geschwinde! geschwinde! Hier nagt und sticht Kein Feind ihn nicht, Als Wetter, Regen und Winde. Wer Ehrgeiz sich hält fern, Lebt in der Sonne gern, Selbst sucht, was ihn ernährt, Und was er kriegt, verzehrt: Komm geschwinde! geschwinde! geschwinde! Hier nagt und sticht Kein Feind ihn nicht, Als Wetter, Regen und Winde. Robin öffnete die Augen und streckte sich. Wie ein fauler Schäfer lag er da und sammelte seine Gedanken, die zwischen Traumwelt und Wirklichkeit hin und her schweiften. Er sah die dunklen Ränder aus faulem Holz, die die Eingangsöffnung umrahmten, und draußen eine silbrig, grüne Landschaft wie einen gemalten Bühnenhintergrund. Er konnte die Spuren ihres erloschenen Feuers im kurzen Gras erkennen, die kräftigen neuen Schößlinge des Farnkrautes – die wie winzige Palmbäumchen aussahen – die regungslosen Blätter an den Büschen und weiter entfernten Eichen. Auf der anderen Seite einer Wurzel lag der Große John noch in tiefem Schlaf. Er hatte sich zusammengerollt, die Knie angezogen, der Kopf lag auf dem abgebeugten 54
rechten Arm; so schlief er immer. Er atmete tief und regelmäßig. Robin drehte sich auf die rechte Seite und schauerte ein wenig. Es war überraschend kühl. Der Tau mußte durch die Öffnung hereingedrungen sein, seine Kleider und der Farn waren ganz feucht. Er wurde sich einer seltsamen Niedergeschlagenheit bewußt, die er sich nicht erklären konnte. Während er dalag, versuchte er, dieses unbestimmte Gefühl des Unbehagens zu ergründen. Plötzlich wußte er es. Er sah im Geist das weiße Tischtuch auf dem langen Frühstückstisch, den silbernen, gewölbten Deckel der Speckschüssel, die mit geschlossenem Deckel aussah wie ein großes silbernes Osterei. Er sah im Geist die krossen Speckschnitten, die Spiegeleier, die aussahen wie Aprikosenhälften, umgeben vom auseinandergeflossenen Eiweiß mit seinen unregelmäßigen Rändern, die stellenweise ein wenig kroß und braun waren. Er sah den dampfenden Haferbrei auf den Tellern, die mit einem blauen Lavendelzweig bemalt waren, den braunen Zucker und die sahnige Milch, er roch den Kaffee, spürte die Frühstücksstimmung im Speisezimmer in Cherry Walden. Ein ganzes Aufgebot an knusprigem, braunem noch heißem Toast in Reihen in einem silbernen Ständer mit Griffen aus Elfenbein – goldene Orangenmarmelade, aufgehäuft in einer runden Glasschüssel und verzerrt durch die gläsernen Wände. Und er hörte Rumbold, der in der Küche den Wassertank vollpumpte. Das »Zunk-tunk« der Pumpe in der Spülküche war eines der morgendlichen Geräusche im Witwensitz ... Alle diese Dinge traten nacheinander vor sein inneres Auge, und die Unruhe in ihm wurde immer stärker. Er stellte fest, daß er beinahe Sehnsucht nach Cherry Walden hatte. Eine Woche war vergangen, seit sie den Forst betreten hatten. Es kam ihm vor wie Jahre. Sie hatten noch mehr Kaninchen geschossen, dazu ein paar Tauben, sie hatten zweimal ohne Erfolg versucht, den »Verborgenen Weiher« zu finden, und während dieser Zeit waren sie auf keine 55
menschliche Spur gestoßen; ihre einzige Gesellschaft waren Vögel und Kaninchen gewesen. Sie hatten nicht einmal einen Fuchs oder ein Reh gesehen, und beide Jungen hatten Heimweh. Mit Heimweh hatten sie nicht gerechnet; körperlich waren sie an das veränderte Leben noch nicht ganz angepaßt, und das Abenteuer hatte den Reiz der Neuheit verloren. Keiner von beiden ließ sich jedoch etwas von seinem Heimweh anmerken. Wären sie nicht zu zweien gewesen, so wären sie bestimmt zurückgegangen, zurück in die Sicherheit und Behaglichkeit des Witwensitzes, sie hätten den Verlust der Freiheit in Kauf genommen, Tante Ellens unbekannte Strafen und die Unterrichtsstunden beim Weißfisch. Und bis jetzt war das Leben im Wald ein wenig zahm gewesen, ohne besondere Abenteuer, vielleicht, weil sie nicht den Mut gehabt hatten, es zu suchen. Robin erhob sich und kroch durch den Eingang. Er streckte seine verkrampften Glieder. Dann machte er sich daran, ein Feuer anzulegen. Zum Frühstück gab es gekochte Kaninchenbeine, Leber und ein wenig Haferbrei. Das gleiche hatten sie seit sieben Tagen zum Frühstück gegessen, und obgleich Robin hungrig war, litt er allmählich unter der Eintönigkeit ihrer Kost. Vor allem sehnten sich die Jungen nach etwas Süßem und nach Brot. Robin hätte einen ganzen Laib auf einmal essen können. Diese Sehnsüchte zeigten sich in ihren Gesprächen. Wenn sie abends am Lagerfeuer saßen, sprachen sie von nichts anderem als von den Süßigkeiten, die man in der Post kaufen konnte: die Pfefferminzbonbons wie kleine gestreifte Kissen, die schokoladeüberzogenen Würfel aus türkischem Honig – sie sprachen vom Geruch des Bäckerladens in der Hauptstraße. Kaninchen zum Frühstück, Kaninchen zum Abendessen, manchmal eine Taube oder eine Wachtel: Fleisch, Fleisch – immer nur Fleisch. Es gab noch keine Wildfrüchte im Wald, die man hätte sammeln können, es war noch zu früh für Brombeeren. Später würde es sie haufenweise geben, 56
denn überall wuchsen Brombeerbüsche. Aber sie blühten noch nicht einmal. Am dritten Tag hatte der Große John einen glänzenden Einfall: Taubeneier waren eßbar, auch die Eier verschiedener Singvögel, Amsel-, Drossel- und sogar Elsterneier. Die Jungen kochten sie und fanden sie köstlich. Das Weiße der Singvogeleier gerann allerdings beim Kochen zu einer wenig appetitlichen geleeartigen Masse, aber das Gelbe war so gut wie bei Hühnereiern. Noch etwas fehlte ihnen: Fett. Die Tauben waren manchmal fett. Das Fett saß bei ihnen in gelben Wülsten gleich unter der Haut – aber es war nicht genug. Sie mußten daher alles Fleisch kochen. Hätte diese Situation noch viel länger angedauert, so wären sie vielleicht gezwungen gewesen, in die Zivilisation und zu Tante Ellen zurückzukehren. Der menschliche Magen hat eben einen mächtigen Einfluß auf den Geist. Aber dann nahm ihr Leben auf eine wunderbare Weise einen wirklich abenteuerlichen Charakter an. Nachdem Robin das Feuer entzündet und Wasser für den Haferbrei aufgesetzt hatte, ging er zu den Haselbüschen, unter denen sie immer Knochen und Eingeweide und anderen Abfall aus dem Lager vergruben. Wie er erwartet hatte, stellte er fest, daß irgendein Tier während der Nacht die Abfälle ausgegraben hatte. Schon während der letzten drei Nächte hatte dieser geheimnisvolle Aasfresser ihnen seinen Besuch abgestattet. Jeden Morgen fanden sie jetzt seine Spuren. Der Boden war aufgekratzt, große Löcher waren unter den Büschen ausgegraben, und die Abfälle verschwunden. Sie hatten den nächtlichen Besucher noch nie zu Gesicht bekommen. Der Große John war einmal mitten in der Nacht aufgewacht und hatte von den Haselbüschen her seltsame Laute vernommen, gedämpftes Grunzen, Scharren und lautes Schmatzen. Aber zu sehen war nichts. Er hatte Robin geweckt, zusammen waren sie zum Eingang der Höhle 57
gekrochen, hatten gehorcht und in die Nacht gespäht, aber der Himmel war verhangen, und das Mondlicht konnte nicht durchdringen. Die Laute waren recht unheimlich, so daß die Jungen den Eingang der Höhle bei Einbruch der Nacht mit einem schweren Ast verbarrikadierten. Das seltsame war, daß das Tier – oder die Tiere – sich nicht vorsichtig bewegte, sondern einen beträchtlichen Lärm machte und mit vielem Grunzen und Schmatzen genußvoll fraß. Als der Große John endlich auch am flackernden Feuer erschien, sagte Robin: »dieses Tier ist heute nacht schon wieder dagewesen. Was kann es nur sein?« »Vermutlich ein Dachs«, sagte der Große John. »Dachse grunzen wie nur irgendwas und sind große Tiere.« »Es könnte natürlich ein Fuchs sein«, sagte Robin und rührte den Haferbrei um. »Aber für einen Fuchs macht es auch wieder zuviel Lärm. Vielleicht ist es ein Reh oder ein Hund.« »Hier gibt es keine Hunde.« »Ich weiß nicht, dieser alte Köhler, der hier irgendwo im Forst lebt, könnte einen haben. Ich wünschte, wir würden den alten Kerl kennenlernen, der könnte uns 'ne Menge helfen.« »Der nicht«, sagte Robin mit Nachdruck. »Wenn der uns hier fände, wären gleich alle hinter uns her, und man würde uns nach Cherry Walden zurückschleppen.« »Wie war's, wenn wir uns heute abend mit dem Gewehr auf die Lauer legten? Der Mond nimmt zu, vielleicht könnten wir das Tier treffen.« »Gut. Das machen wir. Ich würde gern mal einen Dachs schießen. Wir könnten ihm die Haut abziehen und hätten einen herrlichen Pelz. Ein paar Felle wären nicht schlecht, meine Hose ist schon ziemlich zerrissen.« Der Große John streckte sein rechtes Bein vor. Die schäbige alte Flanellhose, die er getragen hatte, als sie in den Wald kamen, war vom Knie abwärts völlig zerfetzt. Er war zu oft in den Dornen hängengeblieben. »Wenn wir noch 58
lange hier sind, werden wir nichts mehr auf dem Leib haben.« »Wirklich! Das wäre prima!« rief Robin. »Wir können auch alle Kaninchenfelle aufheben und später zusammennähen.« »Wie denn?« Robin war einen Augenblick ratlos. »Ich weiß«, rief er dann. »Wir haben etwas Bindfaden von den Haferflockenpaketen. Er ist ziemlich dick, wir können ihn auffasern, dann bekommen wir starke Fäden.« »Also, wenn ich den Dachs schnappe, mach ich mir eine Jacke aus dem Fell«, sagte der Große John. »Ich werde ihn schießen«, sagte Robin in herrischem Ton. »Ich bin der Häuptling. Es ist meine Aufgabe.« »Aber ich bin mit Schießen an der Reihe«, sagte der Große John gekränkt. »Du hast den letzten Schuß gehabt.« »Wir wollen losen.« »Na gut.« Robin zog einen Penny heraus, sein einziges weltliches Gut. »Was wählst du?« »Kopf!« Robin warf die Münze in die Luft. »Es ist Kopf«, sagte er ziemlich verdrießlich. »Also gut, Großer John, du schießt, aber wenn du danebentriffst, bin ich zweimal hintereinander dran.« Nach dem Abendessen – Taubeneier und Eichhörnchen, das überraschend gut schmeckte, zart und weiß wie Hühnerfleisch – legten sie sich früh nieder. Der Mond ging über den Waldbäumen auf, und während das Glühen der Sonne im Westen erstarb, fiel schon sein bleicher Schein auf die Lichtung. Eulen schrieen, und in der Ferne hörte man einen Fuchs bellen. Der Große John lag im Eingang der Höhle, die Mündung des Gewehrs auf die etwa zehn Meter entfernten Haselbüsche gerichtet. Sie hatten das Gewehr bei Tageslicht eingestellt und es in dieser Lage 59
mit Holzklötzen festgerammt. Selbst wenn die Sicht schlecht war, würden sie das Tier so vielleicht treffen, denn sie hatten die Abfälle sorgfältig unter den Büschen aufgehäuft und das Gewehr darauf eingestellt. Sie hatten sogar einen Versuch gemacht: hinter den Haufen ein Stück Holz in den Boden gerammt. Die Kugel hatte es in der Mitte durchschlagen. Sie konnten inzwischen nicht mehr feststellen, wie spät es war; Robins Uhr war stehengeblieben – er hatte eines Abends vergessen, sie aufzuziehen. Sie mußten nun nach dem Stand der Sonne die Zeit erraten. Als sie jetzt dahockten und warteten, kamen sie sich vor wie Löwenjäger auf dem Anstand. Der Mond hatte schon seinen Zenit überstiegen und angefangen, sich hinter die Bäume zu senken. Bald würde es vollständig dunkel sein, denn der Himmel war bedeckt. Ein leichter Wind raschelte unheimlich in den Büschen. Als sie schon glaubten, ihr geheimnisvoller Besucher werde gar nicht kommen, faßte Robin den Großen John leise am Arm. Der war beinahe schon eingeschlafen. Er fuhr hoch und hätte fast das Gewehr umgestoßen. »Pst. Es kommt.« Das Herz des Großen John begann, wild zu schlagen. Es pochte in seinem Hinterkopf, bum, bum, bum. Sein Mund wurde ganz trocken. In einiger Entfernung hörten sie Reisig knacken. Ein schwerer Körper bahnte sich seinen Weg durch die Büsche. Dann konnte er sehen, daß sich im Dunkel der Haselbüsche etwas bewegte. Es war ein großes Tier, und es grunzte. »Da ist es«, flüsterte Robin dem Großen John ins Ohr. »Warte, bis du besser siehst. Nimm dir Zeit.« »Was ist es nur?« »Ich weiß nicht. Es ist größer als ein Dachs.« In diesem Augenblick trat der Mond hinter eine Wolke, und als er wieder auftauchte, war er hinter die Krone einer entfernten Eiche getreten. »Ich kann überhaupt nichts sehen«, flüsterte der Große 60
John. Er erstickte beinahe vor Aufregung. »Aber es ist da. Es frißt das Zeug. Soll ich schießen?« »Ja, schieß!« Ganz vorsichtig drückte der Große John den Abzug. Er hörte den dumpfen Knall und den kurzen harten Aufprall der Kugel auf einen schweren Gegenstand. Im gleichen Augenblick ertönte ein Schrei, so grauenhaft, wie die Jungen ihn noch nie gehört hatten. Es klang wie ein menschlicher Aufschrei, aber viel lauter, es war ein Kreischen, ein Grunzen und Quieken, alles zugleich. Dann folgte ein schreckliches Krachen und Wühlen in den Büschen, und dann stürzte etwas gleich vor der Eiche über die Lichtung. Es war so schnell, daß es aussah wie ein riesiger Hund, aber ein Hund mit ganz kurzen Beinen. Als das Ding vorbeikam, schoß der Große John noch einmal, aber sie hörten die Kugel wie eine wütende Hornisse zwischen die Bäume surren. Eine erschreckte Eule schrie, man hörte weiter entfernt ein Krachen und Knacken von Ästen, dann war nichts mehr zu hören als das Klagen der Eule, die mit durchdringender Stimme ihr »Kiwie-wit! Kiwie-wit« schrie. »Ich hab's getroffen«, sagte der Große John atemlos. »Ich hab's wirklich getroffen. Aber es ist weg.« »Geschieht ihm recht. Es wird nicht wiederkommen.« »Aber es ist nicht tot. Wir werden nie erfahren, was es war.« Gemeinsam gingen sie vorsichtig auf die Büsche zu, Robin entzündete ein Streichholz und untersuchte den Boden. Die Abfälle waren verschwunden. Aber keine Spur von tierischen Haaren war zu sehen. »Ich glaube, du hast es nicht getroffen«, murmelte Robin und versuchte, die flackernde Flamme des Streichholz mit der Jacke zu schützen. »Ich sehe keine Haare und kein Blut.« »Ich habe getroffen. Ich schwör's. Ich hab die Kugel einschlagen hören. Ich wette, es kommt nicht weit.« »Nun, es hat keinen Sinn, jetzt danach zu suchen. Der Mond geht unter. Wir müssen bis morgen warten.« 61
Sie krochen wieder in den Baum und legten sich auf ihr Farnkrautlager. Noch lange Zeit sprachen und stritten sie miteinander. Robin sagte, es wäre ein Hund. Der Große John bestand darauf, daß es ein Dachs gewesen sei, der Großvater aller Dachse. Am nächsten Morgen waren die Vogelfreien beim ersten Tageslicht auf den Beinen und durchkämmten das Farnkraut. Die Spur: hier ein zerstampfter Farnwedel, dort ein geknickter Stock, führte sie ein Stück ins Unterholz hinein, dann fanden sie nichts mehr. Die Spur hatte sich völlig verloren, und sie liefen hin und her wie verdutzte Jagdhunde. »Wenn wir jetzt nur Tilly bei uns hätten. Sie würde es finden«, sagte Robin. Robin, der auf allen Vieren das Farnkraut untersuchte, schrie plötzlich auf. »Hier! Komm her! Hier ist Blut!« Tatsächlich fand sich am Stengel eines Farns ein Blutflekken und ein wenig daneben ein anderer. »Ich habe also getroffen«, sagte der Große John triumphierend. »Ich hab's dir doch gesagt. Gleich werden wir es finden.« Und tatsächlich fanden sie ihre Beute keine vierzig Meter von der Lichtung entfernt. Dort war ein tiefer Graben, ganz mit Brombeeren und Farn zugewachsen, sicher war es einmal ein Wassergraben gewesen, denn der Wald war stellenweise sehr feucht. Und dort bot sich ihnen unter dem Gestrüpp ein völlig überraschender Anblick. Es war ein mittelgroßes Schwein, ein ganz gewöhnliches Schwein, so, wie es beim letzten Dorffest von Cherry Walden verlost worden war. Die Jungen hatten auch Lose gekauft, aber zu ihrer Enttäuschung hatte der Gärtner des Pfarrers es gewonnen. »Aber.« Der Große John war sprachlos. Sie packten das Tier an seinem geringelten Schwanz und zogen es heraus, ein wunderschönes Schwein! Es brauchte nicht abgestochen zu werden, diese unangenehme Arbeit hatte die Kugel für sie erledigt. Das Blei hatte dem Tier die Kehle aufgerissen. 62
»Es muß ein Wildschwein sein«, sagte Robin nach einer Weile, »es kann gar nicht anders sein. Es gibt hier meilenweit im Umkreis keinen Bauern; im Wald gibt es kein Haus außer dem Haus des Köhlers.« »Dann muß es ihm gehören«, sagte der Große John und betrachtete sein Opfer fast mit Bedauern. Das Schwein lag auf der Seite und schien höhnisch zu grinsen. »Nun, dafür können wir nichts. Es sollte nicht frei herumlaufen und stehlen; geschieht ihm nur recht.« »Was machen wir denn nun? Begraben wir es?« Robin betrachtete seinen Bruder mit abgrundtiefer Verachtung. »Es vergraben? Wer hat schon mal gehört, daß Vogelfreie ein Wildschwein vergraben? Hast du denn ganz den Verstand verloren? Kapierst du denn nicht, daß es jetzt Speck zum Frühstück gibt? Jetzt haben wir Fett, wir haben Schinken, wir werden leben wie Gott in Frankreich! Ein solches Glück haben wir nicht gehabt, seit wir hergekommen sind. Denk doch nach, Großer John. Wir kamen her und fanden ein fertiges Lager vor, eine Taube fliegt liebenswürdigerweise genau auf den Baum, unter dem wir lagern und versorgt uns mit einem Abendessen, und jetzt – ein Spanferkel, ein richtiges schönes Ferkel kommt und versorgt uns mit Speck! Hier! Faß mal an, wir ziehen es ins Lager.« Robin packte den Schwanz, der Große John faßte ein Bein, und gemeinsam zogen sie das Schwein auf die Lichtung. Nach dem Frühstück hatten die Vogelfreien Muße, ihre Beute in Ruhe zu betrachten. Es ist wahr, sie fühlten sich nicht ganz wohl, kamen sich beinahe ein wenig wie Mörder vor. Schweine sind so gutmütige, fröhliche Wesen, genau wie Hausenten. Sie machen gern Spaß, gehören zu der anderen, der zivilisierten Welt draußen vor dem Wald. Aber, wie Robin dann erklärte, sind sie eigentlich auch Waldtiere, Nachkommen der Wildschweine, die früher einmal alle größeren Wälder Englands bewohnten. 63
Aber an diesem Schwein hier war gar nichts Wildes, es lag im grünen Gras auf der Seite, als schlafe es friedlich. Trotzdem mußten Robin und der Große John an die Silberschüssel mit dem gewölbten Deckel denken und an den köstlichen Duft, der ihr immer zur Frühstückszeit entströmte. »Wahrlich, Meister Robin, was ist nun mit diesem Schwein?« fragte der Große John, während er dastand und auf sein Opfer herabblickte. Sie hatten das Frühstücksgeschirr gewaschen und ihre Jacken ausgezogen. »Also, mich mußt du nicht fragen. Ich hab das arme Ferkel nicht erschossen.« »Ich weiß nicht, wie man ein Schwein häutet«, sagte der Große John. »Ein Schwein wird doch gehäutet, oder nicht?« »Wie soll ich das wissen. Wart mal...« Robin dachte angestrengt nach. »Erinnerst du dich nicht an das Schwein bei Rumbold – das war in den Weihnachtsferien. Er wollte, daß wir beim Schlachten zusehen sollten, aber wir wollten nicht. Weißt du noch, wie wir mit den Rädern wegfuhren, weil es so schrecklich quiekte? Und wir konnten nicht begreifen, wie er so biestig sein konnte, es zu schlachten, nachdem er es das ganze Jahr versorgt, ihm den Rücken gekrault und es gefüttert hatte.« »Natürlich ... und als es dann geschlachtet war, wurde es gebrüht, damit die Haare abgingen, und Rumbold schrubbte es auf dem Tisch in dem alten Waschhaus! Da haben wir doch zugesehen.« »Ja, und was kam dann? Er salzte es ein, nicht wahr?« »Ja, er rieb es überall mit Salpeter und Salz ein.« »Aber wir haben kein Salpeter und nur sehr wenig Salz.« »O Mann, was machen wir dann?« sagte der Große John düster. »Wir werden nicht viel von dem Speck haben; das Schwein wird schnell schlecht, besonders, wenn es richtig warm wird, und pfui, wird das stinken!« »Dann müssen wir das Tier vergraben. Wir schneiden soviel ab, wie wir essen können, und den Rest vergraben wir.« 64
»Was für eine schreckliche Verschwendung«, sagte der Große John. »Wir hätten es nicht geschossen, wenn wir gewußt hätten, daß es ein Schwein ist. Übrigens gehört es ja jemand – es muß jemand gehören. Wenn man rauskriegt, daß wir es getötet haben, können wir uns auf was gefaßt machen. Vielleicht werden wir wegen Diebstahl angeklagt und kommen ins Gefängnis.« »Wart mal«, rief Robin plötzlich, »erinnerst du dich noch? Als wir über die letzte Weide kamen, direkt am Wald, da haben wir doch Vieh um einen Salzleckstein gesehen.« »Ja, und was soll das?« »Nun, da haben wir unser Salz! Es lagen da mehrere Klumpen herum. Wenn wir einen nehmen, wird der Bauer es gar nicht merken. Wir können ihn zerstampfen und damit unser Schwein einsalzen, genau wie Rumbold es gemacht hat.« »Aber wir brauchen ein Gefäß, worin wir es einsalzen, nicht wahr?« »Das ist ganz einfach. Wir suchen einen hohlen Baumstamm oder höhlen einen aus.« »Du bist wirklich ein schlauer Bursche«, sagte Robin anerkennend, »daran hätte ich nicht gedacht. Heute nacht holen wir das Salz. Es ist ein weiter Weg, aber wir werden die Weide schon finden.« »Und inzwischen wollen wir uns nach unserem Pökeltrog umsehen«, sagte Robin. Die Jungen brauchten nicht lange, um genau das Richtige zu finden. Einen alten, halb verfaulten Eschenstumpf, der nicht weit von der Lichtung auf der Seite lag. Sie höhlten die Oberseite mit ihren Jagdmessern aus. Dann machten sie sich daran, das Schwein in Stücke zu schneiden. Robin, der schon ganz gut einen Braten zerlegen konnte, hatte das Tier bald zerteilt. Die fetten Schinken sahen sehr appetitlich aus. Glücklicherweise hatte die Kugel das Ausbluten für sie erledigt, sonst wäre das Fleisch vor dem Einsalzen verdorben. Sobald es dämmrig geworden war, gingen sie auf 65
demselben Weg, den sie gekommen waren, an den Waldrand zurück. Bald hatten sie die Salzklumpen entdeckt. Es war ein komisches rotes Zeug, und es war eine harte Arbeit, es zu zerstampfen. Dann holten sie Wasser aus dem Bach und füllten ihren Trog bis oben hin. Nachdem sie darauf von den einzelnen Stücken die Haare abgesengt hatten, legten sie sie in die Salzlösung und bedeckten das Ganze mit Zweigen, um es vor räuberischen Tieren zu schützen. Sie ließen das Fleisch sieben Tage im Salz liegen, dann holten sie es heraus. Es roch so frisch wie am ersten Tag. Jetzt hatte Robin einen neuen Einfall. Geräuchertes Schweinefleisch! »Hör mal, Großer John, wir haben das Schwein gepökelt, jetzt sollten wir es räuchern. Dann würde es noch viel besser schmecken.« »Ist das nicht ein bißchen riskant«, fragte der Große John, »jemand könnte doch den Rauch sehen.« »Ja, wir können nicht tagsüber räuchern. Wir tun es nach Dunkelwerden. Wir machen ein großes rauchiges Feuer und lassen das Schwein die ganze Nacht darin hängen. Dann sieht niemand den Rauch.« Am Abend entzündeten sie also ein Feuer aus verfaultem Eichenholz und errichteten darüber einen Dreifuß aus groben Ästen, an die sie die Schinken und die anderen Fleischstücke hängten. Der dicke, blaugrüne Qualm stieg in einer Säule in die stille Luft, zum sternklaren Himmel, und niemand außer den Vogelfreien sah oder roch ihn. Sie räucherten das Schweinefleisch eine Woche lang, es hatte eine goldbraune Farbe angenommen. Schließlich war alles fertig zum Verzehr. Jetzt würde es jeden Tag Speck zum Frühstück geben. Sie hatten auch eine ganze Menge Fett eingeschmolzen. Es würde ihnen viele Wochen reichen. Gebratene Taubeneier mit Speck war ein Frühstück, das den anspruchsvollstem Gaumen zufriedengestellt hätte, und die Jungen fanden, daß es besser schmeckte als zu Hause bei der Tante. 66
So begannen Robin und der Große John mit viel Glück und Unternehmungsgeist ihre dritte Woche im Forst. Niemand hatte sie gestört, sie hatten keine Menschenseele gesehen und sich an das Leben im Freien gewöhnt. Das Salzen und Räuchern des Schweins und die anderen Arbeiten im Lager hatten fast ihre ganze Zeit in Anspruch genommen. Aber jetzt, da das Schwein versorgt war, würden sie Zeit haben, die weitere Umgebung zu erkunden. Es gab so vieles, das noch zu entdecken war: zum Beispiel die Hütte von Smokie Joe, Smokie Joe selbst – sie hatten beschlossen, ihn nur von weitem zu beobachten – man konnte Schmetterlinge jagen – hatte nicht der Weißfisch das magische Wort Großer Schillerfalter gemurmelt? – Der Verborgene Weiher war noch zu entdecken, dort konnte man vielleicht fischen. Es gab Vogelnester und hundert andere Herrlichkeiten, nach denen zu suchen sie bis jetzt keine Zeit gefunden hatten. Acht Meilen entfernt lag Cherry Walden, und in Cherry Walden gab es Tante Ellen und den Wachtmeister Bunting! Aber die Vogelfreien dachten nicht an sie, sie standen weiter am Morgen mit den Vögeln auf und gingen in den grünen Wald um zu jagen oder Vogelnester auszunehmen, soviel sie wollten, ihr neues freies Leben im Farnkraut unter den mächtigen Eichen zu leben.
KAPITEL 6
Harold »Verzeihung, Gnä'Fräuln, da ist ein Herr, der Sie sprechen will.« Tante Ellen schrieb gerade einen langen Brief an die Eltern der Jungen in Indien. »Wer ist es, Emma? Hat er seinen Namen genannt?« 67
»Er hat keinen Namen genannt, Gnä'Fräuln, aber er sagt, er käme wegen Robin und John.« »Führ ihn herein, Emma.« Tante Ellen fühlte plötzlich Hoffnung in sich aufsteigen. Vielleicht waren die Jungen gefunden worden. Ein netter junger Mann trat ein und stellte sich vor. »Mein Name ist Hurling, und ich vertrete den ›Morning Star‹, Gnädige Frau. Meine Zeitung hat mich hergeschickt, um Tatsachen über das Verschwinden Ihrer beiden Neffen zu sammeln.« »O Gott«, stöhnte Tante Ellen und sank in den Schreibtischsessel zurück, »ein Reporter? Nein, nein – ich kann nicht... ich kann Ihnen keine Informationen geben. Ich will nicht, daß etwas darüber in den Zeitungen erscheint, es wissen schon viel zu viele Leute davon.« »Aber Gnädige Frau«, begann der Reporter in besänftigendem Ton. Aber Tante Ellen unterbrach ihn: »Tut mir leid, junger Mann, ich habe zu dieser Sache nichts zu sagen. Außerdem ist sie völlig unwichtig.« »Aber ich versichere Ihnen, Gnädige Frau...« Wieder fiel Tante Ellen ihm ins Wort. »Also bitte, verschonen Sie mich mit Ihren Fragen. Ich habe Aufregung genug. Ich bitte Sie dringend, die Sache nicht zu erwähnen ... ich ... ich ... ich könnte es nicht ertragen ... die Öffentlichkeit.« Tante Ellen schauderte. Rumbold goß gerade den Salat im Gemüsegarten, als er hinter sich eine Stimme hörte: »Guten Abend.« Er wandte sich um. Auf dem Schlackenweg stand ein junger Mann; von seiner Schulter hing ein braunledernes Kameraetui. »'n Tag«, sagte Rumbold nach einer Weile, streckte sich und betrachtete den Besucher voller Mißtrauen. »Sind Sie der Gärtner hier im Haus?« »Das bin ich.« »Also, ich komme vom ›Morning Star‹. Meine Zeitung 68
hat mich hergeschickt. Ich soll über das Verschwinden der beiden Jungen berichten.« »Aha?« Rumbold machte ein interessiertes Gesicht und begann, sich wichtig vorzukommen. »Sie sind also der Mann vom ›Morning Star‹, so, so. Den lese ich auch, den hab ich abonniert.« »Wunderbar. Also, Mr....« »Rumbold ist mein Name.« »Mr. Rumbold, könnten Sie meiner Zeitung irgend etwas über die Sache mitteilen?« »Aber sicher, sicher. Ich sag Ihnen was. Ich geh jetzt heim für 'ne Tasse Tee. Wollen Sie mitkommen? Dann erzähl ich Ihnen alles über die jungen Teufel. Denn Teufel sind es, alle hier machen sie mit ihren Streichen verrückt. Und die alte Dame ... die ist schon beinahe übergeschnappt.« Er führte den Fremden aus dem Gemüsegarten über den verunkrauteten Hof vor den Ställen zu seinem Häuschen. Am nächsten Morgen platzte Hannah in die Küche, den ›Morning Star‹ in der Hand, den Rumbold ihr mit der strikten Anweisung gegeben hatte, ihn vor Tante Ellen verborgen zu halten. »Hier, es steht alles in der Zeitung, und da ist auch ein Bild von Rumbold, in voller Größe, und Mrs. Rumbold, und Dower House und alles. Die Gnädige wird 'nen Schlag kriegen!« Die Zeitung wurde auf dem Küchentisch ausgebreitet, und sogar die vornehm gestärkte Emma stürzte herbei. Da war tatsächlich, wie Hannah gesagt hatte, das Photo des Witwensitzes mit Tilly mitten auf dem Rasen, daneben ein kleineres Bild von Mr. und Mrs. Rumbold, der erstere in Hemdsärmeln auf seinen Spaten gestützt. Die Köchin las laut vor: »ZWEI JUNGEN VERSCHWUNDEN von unserem Sonderkorrespondenten« »Die beiden älteren Söhne von Oberst Hensman und seiner Frau, die bei ihrer Tante in Dower House, Cherry Walden in Tiltshire wohnen, verschwanden am vergange69
nen Montagabend, dem 7. Mai. Sie hinterließen eine Nachricht, daß sie wiederkommen würden, aber seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört; es gibt keine Spur von den vermißten Jungen. Sie sollten am Dienstag nach Banchester zurückfahren, aber da ihr jüngster Bruder die Masern bekam, wurde ihre Rückkehr in die Schule verschoben. Im Dorf macht man sich große Sorgen über ihren Verbleib ...« Hierauf folgte eine Beschreibung der Jungen und dann eine lange Verlautbarung von Rumbold »dem Gärtner von Dower House, einem alten Familiendienstboten, der seit zweiunddreißig Jahren im Dienst von Miß Hensman steht.« – »Wenn die Gnädige das sieht«, sagte die Köchin, »dann hat seine Stunde geschlagen.« Dann kamen sie zum letzten Abschnitt. »Die Polizei ist verständigt, die Umgebung wird abgesucht. Bis jetzt ohne Erfolg. Im Dorf glaubt man, daß die beiden Jungen, die als abenteuerlustig bekannt sind, in den Wäldern untergetaucht sind, und sich versteckt halten. Wenn das der Fall sein sollte, ist die Suche schwierig, denn Cherry Walden liegt in einer waldreichen Gegend, und viele große Waldgebiete befinden sich in nächster Nähe, zum Beispiel der ›Hochwald‹, das berühmte Wildrevier, das Sir William Bary gehört. Weiter nach Westen liegt der Forst von Brendon, ein elftausend Morgen großes Waldgebiet, das teilweise der Krone gehört. Es ist zu befürchten, daß den Ausreißern ein Unglück zugestoßen ist, da man nichts mehr von ihnen gehört hat. Soweit man weiß, hatten sie kein Geld bei sich und keine Lebensmittel außer ein paar Paketen Haferflocken, die sie im Dorfladen gekauft haben. Suchmannschaften und Waldhüter haben die Gegend durchkämmt. Man nimmt allgemein an, daß sie sich im Hochwald verbergen oder dort in Schwierigkeiten geraten sind, da dieser ausgedehnte Wald nur fünf Kilometer von Cherry Walden entfernt liegt und bekannt ist, daß die Jungen häufig dorthin gingen, um Vögel und Schmetterlinge zu jagen. 70
Man hält es für sehr unwahrscheinlich, daß sie den Forst von Brendon erreicht haben könnten, denn die Entfernung dorthin beträgt achtzehneinhalb Kilometer, aber man sucht auch in dieser Richtung.« Nun folgte der Bericht über ein Interview mit Pfarrer Whiting, »dem Privatlehrer der Jungen«. »Der Pfarrer, der die Jungen genau kennt, sagte unserem Reporter: ›Es sind wackere Burschen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ihnen etwas zugestoßen ist. Die beiden sind sehr selbständig und wohl in der Lage, für sich selbst zu sorgen.‹« »Nein sowas«, japste die Köchin, »das ist doch die Höhe. Stell dir vor, das alles in der Zeitung. Was wird bloß die Gnädige sagen?« »Wird sie schön aus dem Häuschen bringen«, sagte Hannah mit sichtlicher Genugtuung. »Ich möcht nicht an Rumbolds Stelle ...« da ging plötzlich die Küchentür auf und Tante Ellen stand auf der Schwelle. Dann fiel ihr Blick auf die Zeitung. Die Mädchen waren erschrocken zurückgewichen. »O, Gnä' Fräuln, es ist alles in der Zeitung.« »Was ist in der Zeitung?« »Sie schauen besser selbst nach, Gnä' Fräuln.« Tante Ellen schaute. »Ich wußte es, ich wußte es, ich hab das alles kommen sehen ... ich hab's dem Pfarrer am ersten Tag gesagt...« Sie nahm die Zeitung in die Hand, zerknüllte sie dann plötzlich und schleuderte sie zu Boden. Ihr Kneifer zitterte vor Wut. Er fiel ihr von der Nase, und sie mußte ihn aufheben. »Diese Unverschämtheit... die Unverschämtheit dieses Mannes. Schickt mir Rumbold sofort in den Salon. Sofort, sage ich«, kreischte sie. »Steht nicht rum wie eine Herde Schafe!« Sie rauschte aus der Küche. Die Köchin seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »Du meine Güte, das bringt sie noch um. Rumbold wird's ordentlich kriegen. Die setzt ihn glatt auf die Straße.« In den Wochen, die auf das Verschwinden der Jungen folgten, konnte man auf den Waldwegen um Cherry Walden oft die stämmige Gestalt des Wachtmeisters Bunting sehen. 71
Am häufigsten wurde er in der Nähe des Hochwaldes beobachtet, besonders in der Abenddämmerung und frühmorgens. Dieser und einige andere Wälder wurden mehrmals gründlich durchkämmt, was sowohl die Besitzer wie die Forstaufseher sehr ärgerte, denn der Lärm und das Getümmel störten die Fasane. Sir William Bary schimpfte zornig: »Bei all diesem Getrampele durch meine Wälder jetzt während der Brutzeit werden wir später keinen Vogel zu schießen und keinen Fuchs zu jagen haben.« Es gab verschiedene Gründe, warum man sich auf den Hochwald konzentrierte. Am Tag nach dem Verschwinden der Jungen war Tilly weggelaufen, was sie sehr selten tat. Sie suchte tatsächlich nach den Jungen, denn sie hatte sie in der Nacht weggehen hören. Man fand sie auf den Weiden beim Hochwald, wo ein Jagdhüter sah, wie sie einen Hasen aufscheuchte. Als der Wachtmeister das hörte, zählte er – so dachte er wenigstens – zwei und zwei zusammen und glaubte, Tilly hätte die Spur der Jungen verfolgt. Und er hatte den Pfarrer ausgiebig verhört. »Was unsere jungen Herrchen angeht, Herr Pfarrer, sind Sie jemals mit ihnen in den Hochwald gegangen, wegen Schmetterlingen und so?« »Aber natürlich, Wachtmeister, wir sind oft hingegangen, und ich weiß, daß sie auch oft allein dort waren. Ich würde sagen, sie kennen den Wald in- und auswendig.« »Und sind Sie noch in einem anderen Wald gewesen, wo sie hingegangen sein könnten?« »Nun, lassen Sie mich überlegen – Ja, wir waren in einigen kleineren Wäldern hier in der Nähe, und im vergangenen August bin ich mit dem ältesten Jungen, Robin, im Forst von Brendon gewesen. Wir sind mit dem Auto hingefahren.« »Hm«, machte der Wachtmeister nachdenklich. »Ich persönlich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß sie so weit laufen würden«, sagte der Weißfisch, »aber möglich ist es natürlich. Ich glaube, wenn sie in den Forst 72
von Brendon gegangen wären, hätten sie die Fahrräder genommen.« »Tscha«, brummelte Bunting, »aber wenn wir sie nicht im Hochwald finden, müssen wir auch den Forst von Brendon durchsuchen. Ich hab die Polizei dort benachrichtigt, damit sie die Augen aufhalten, und wenn sie eine Spur finden, geben sie mir Bescheid. Es ist 'ne furchtbare Sache für Miß Hensman, finden Sie nicht auch, Herr Pfarrer. Es nimmt sie schrecklich mit.« »Ja, ja, wirklich, die Arme, sie macht sich arge Sorgen.« »Wir haben gestern abend den Weiher bei den Weiden mit dem Schleppnetz abgesucht«, sagte Wachtmeister Bunting düster, »aber wir haben nichts drin gefunden, nur einen Hecht, so lang wie mein Arm. Ein prima Abendessen.« Nach dem Reporter vom ›Morning Star‹ kamen andere, das Dorf war voll davon – in Cherry Walden hatte es nichts so Aufregendes gegeben, seit Mr. Baldricks Knecht sich in der Scheune erhängt hatte. Da man die Wahrheit nicht länger vor Harold verbergen konnte, sagte man ihm alles, und er wurde von Tante Ellen einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen. Es folgten Miß Holcome, der Pfarrer und schließlich Wachtmeister Bunting. Aber Harold verriet nichts. Als er gefragt wurde, ob er von dem Plan gewußt habe, wollte er nicht direkt lügen und schwieg ganz. Seine hartnäckige Haltung war nicht zu erweichen, weder die Tränen von Tante Ellen noch Wachtmeister Buntings Drohungen schienen ihn zu rühren. Er war so unglücklich, daß er beschloß, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auch auszureißen, aber im Augenblick war er noch nicht ganz gesund und mußte sein Kreuz allein tragen. Das Gespräch im Schankraum des »Jägerhauses« kam immer auf das gleiche Thema. »Irgendwas Neues über die Jungens?« »Sind im Hochwald tot gefunden worden – verhungert«, sagte ein Gerüchteschmied. 73
»Sind zur See ausgerissen«, lautete eine andere Version. Sir William Barys Förster fand sich zum erstenmal in seinem Leben im Mittelpunkt des Interesses; sogar der Wirt spendierte ihm ein Bier in der Hoffnung, etwas Neues aus ihm herauszubekommen. Rumbold überlebte Tante Ellens Zorn, aber nur mit knapper Not. In der Hitze des Gefechts hatte er gekündigt, aber zu seiner Erleichterung nahm Tante Ellen die Kündigung nicht an. Einen so guten, zuverlässigen Mann wie Rumbold zu verlieren, wäre eine Katastrophe gewesen. Aber sie verbot ihm, im Dorf über das Verschwinden der Jungen zu sprechen. Dieser Befehl machte ihm keine Schwierigkeiten, denn er war ein Einzelgänger und trank nicht. Aber der flinken Zunge seiner Frau konnte er nicht Einhalt gebieten. Harolds Zustand besserte sich schnell. Er durfte jetzt in den Garten gehen, aber immer ging entweder Tante Ellen oder Miß Holcome mit wie ein wachsamer Schatten. Tante Ellen hatte eine entsetzliche Angst, er könnte auch verschwinden. Am liebsten hätte sie ihn an die Leine gelegt. Es war ganz sicher, daß er viel mehr wußte, als er sagte, und sein hartnäckiges Schweigen war für sie ein Beweis seiner Schuld. Sie ging sogar soweit, nachts, wenn sie glaubte, daß er schliefe, seine Schlafzimmertür von außen abzuschließen. Sie wollte kein Risiko eingehen. Aber natürlich konnte es so nicht ewig weitergehen. Je früher er in die Schule zurückging, desto besser. Auch der Doktor fand, daß er sich soweit erholt hätte, daß es besser wäre, ihn hier aus dem Weg zu haben, und daß die strenge Disziplin in der Schule ihm gut tun würde. Der Weißfisch bekam die undankbare Aufgabe, Harold zu eröffnen, daß er am folgenden Tag nach Banchester zurückkehren sollte. Tante Ellen hielt es für besser, wenn der Pfarrer es ihm sagte, denn sie wollte eine »Szene« vermeiden. Sie bat den Pfarrer zum Mittagessen, und hinterher, als 74
Harold mit ihm durch den Garten schlenderte, platzte die Bombe. »Harold, ich muß dir sagen, daß du morgen in die Schule fährst. Der Doktor findet, daß du gesund genug bist, und deine Tante hat viel Sorgen und ist sehr nervös. Ich hatte vorgeschlagen, daß du noch ein bißchen hierbleiben und bei mir Unterricht nehmen solltest, aber sie meint, daß es besser ist, du gehst so bald wie möglich nach Banchester zurück, damit ihr die Verantwortung für dich abgenommen wird.« Harold, der neben dem Weißfisch herging, wurde das Herz schwer. Zurück nach Banchester, ohne die Brüder! Das war undenkbar! Er beschloß, in der gleichen Nacht einen Ausbruchversuch zu wagen. Er würde versuchen, vor dem Morgengrauen den Forst von Brendon zu erreichen; irgendwie würde er seine Brüder schon finden. Er hatte eine vage Vorstellung von dem Weg, den er einschlagen mußte, denn er hatte stundenlang über der Landkarte gebrütet. Aber er wußte nicht, wo in dem großen Forst er seine Brüder suchen sollte; er wollte einfach seinem Glück vertrauen. Er blickte auf und sah, daß der Weißfisch ihn gespannt beobachtete, sicher wollte er wissen, wie Harold die Nachricht aufnahm. »Nun, wenn Tante Ellen es sagt, dann muß ich wohl«, sagte er ganz zahm. »Ich wäre viel lieber hiergeblieben und hätte bei Ihnen Stunden bekommen.« Harold tat so, als sei er nicht allzu betrübt. »Ich zweifle nicht daran«, fuhr der Weißfisch fort, »daß deine Brüder in ein paar Tagen nachkommen werden.« Hierauf gab Harold keine Antwort. Er sah den Schwalben zu, die den Giebel des Hauses umkreisten. Sie hatten schon begonnen, unter der Dachtraufe ihre Nester zu bauen, diese geschickt geformten kleinen Lehmburgen, die aussahen, als Wären sie ein Teil des Mauerwerks. Harold und der Weißfisch beobachteten die Schwalben eine Weile, dann gingen sie langsam weiter. »Und versuch doch, ein paar Bläulinge für mich zu fangen«, fuhr der Pfarrer fort. »Wahrscheinlich findest du sie in den Dünen. Ich hoffe, 75
jetzt im Juni einmal nach draußen zu kommen; im Hochwald müßte es schon Weiße Admirale geben.« Der Weißfisch beobachtete seinen Begleiter aus dem Augenwinkel, aber er konnte in Harolds Miene nichts Verdächtiges bemerken. Die Sonne war im Westen untergegangen, der Spiegel des Weidenteichs glänzte wie eine Silberschüssel zwischen den Rotbuchen auf der Koppel. Harold lag wach in seinem Zimmer, sah zu, wie das Tageslicht erstarb und die großen Linden vor dem Fenster schwarz wie Ebenholz wurden. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel war wolkenlos. Er konnte über der dunklen Mähne der Zeder die Milchstraße sehen, und durch das offene Fenster drangen die süßen Düfte der Sommernacht. Er hatte keine Vorbereitungen für seine Flucht getroffen; es wäre zu gefährlich gewesen. So, wie er war, wollte er losziehen. Die Nacht war warm, er würde nicht frieren, aber der Zweifel, ob er im Dunkeln den Weg finden würde, quälte ihn sehr. Er hatte sich die Strecke eingeprägt: die Landstraße von Cherry Walden überqueren, über die Wiesen, und dann parallel zur Bahnstrecke Market Harrowby-Brendon. Immer noch gingen im Haus Leute hin und her. Er hörte Miß Holcome zu ihrem Zimmer heraufkommen, er hörte, wie die Mädchen die Hintertreppe hinauf zu Bett gingen, und schließlich stieg auch Tante Ellen die Vordertreppe hoch. Seine Tür knarrte leise. Sie kam herein. Er lag ganz still und atmete tief. Er merkte, wie sie lauschte, und tat einen extra tiefen Schnarcher, so, als wälzte er sich auf die Seite. Tante Ellen sollte merken, daß er noch da war. Dann schloß sich die Tür wieder leise. Er hörte ein schwaches Knirschen und Klicken. Hatte Tante Ellen den Schlüssel umgedreht? Er mochte ihr eine solche Voraussicht kaum zutrauen. 76
Nachdem er sich einige Minuten ganz still verhalten hatte, schlich er auf Zehenspitzen zur Tür und drückte die Klinke. Sein Verdacht war richtig gewesen ... die Tür war von außen abgesperrt. Er versuchte, durch das Schlüsselloch zu spähen, aber alles war dunkel; sie hatte den Schlüssel Steckenlassen. So mußte es sein, denn unter der Tür her drang ein matter Lichtschein, die Lampe auf der Eichentruhe im Flur brannte also noch. Jetzt war alles zu Ende! Eingesperrt wie ein gemeiner Übeltäter! Er ging zum Fenster hinüber. Im Sommer blieben die großen schweren Läden vor seinem Fenster immer geöffnet. Auch das zweiteilige Schiebefenster stand am oberen Rand offen. Als er versuchte, die untere Scheibe hochzudrücken, gab es einen solchen Lärm, daß er mit klopfendem Herzen zurück ins Bett flüchtete. Tante Ellen hatte die Lampe im Flur gelöscht und war zu Bett gegangen. Das Haus war still wie ein Grab. Quietsch! Endlich war die Scheibe hochgedrückt, und Harold schaute nach draußen. Es war schrecklich tief bis zum Kiesweg und dem Staudenbeet. Er konnte es nicht wagen. Er saß in der Falle. Am nächsten Morgen würde man ihn gebunden ins feindliche Lager ausliefern. Die Jungen in Banchester würden alles über die Flucht seiner Brüder wissen, sie hatten bestimmt in der Zeitung darüber gelesen. Sie würden ihm keine Ruhe lassen. Er mußte einfach weg. Aber wie? Sollte er die Bettücher aneinanderknoten? Das war eine gewagte Sache; sie konnten reißen – wenn auch ein gebrochenes Bein immer noch besser war, als morgen ohne die Brüder nach Banchester zu müssen. Aber das Fenster lag zu hoch. Er wagte es einfach nicht. Wie friedlich die Nacht war! Eine vollkommene Juninacht. Unter sich sah er die blassen Wolken eines blühenden Baumes neben der Garage und die frischgeschnittene Taxushecke. Draußen auf der Koppel weideten Schafe; in der Stille der Nacht konnte er sie hören. Eins hustete wie ein alter Mann – Motten flogen vorbei, eine kam herein und 77
umschwirrte seinen Kopf. Die Turmuhr von Cherry Walden schlug Mitternacht. Müde und mutlos kletterte er ins Bett zurück. Schließlich schlief er ein. Als er plötzlich wieder wach wurde, kam es Harold so vor, als sei er eben erst eingeschlafen. Irgendein Geräusch hatte ihn geweckt. Ganz still und ängstlich lag er da und lauschte. Eine Motte klopfte gegen das Fenster, und in der Zeder schrie eine Eule. Aber es war etwas anderes, das ihn aus seinem tiefen Schlaf geweckt hatte. Knirsch! Der Schlüssel drehte sich im Schloß! Es war Tante Ellen, die sich überzeugen wollte, ob er immer noch im Bett lag. Er machte die Augen fest zu und öffnete sie dann einen Spalt, weil er erwartete, den schwachen Schein ihrer Taschenlampe zu sehen. Statt dessen blieb alles dunkel. Aber die Tür öffnete sich, leise, ganz leise. War es ein Alptraum? Wandelte Tante Ellen im Schlaf? Weiter, noch weiter, dann sah der entsetzte Junge die Umrisse einer Gestalt, etwas Formloses, Dunkles, und einen weißen Schimmer, dort, wo das Gesicht war. Mit einem Laut zwischen Keuchen und Rülpsen vergrub Harold den Kopf unter der Decke. Dies war ein schrecklicher Traum. Die Gestalt in der Tür war nicht Tante Ellen, es war nicht Miß Holcome ... es war ein Gespenst!
KAPITEL 7
Horrido! Harold, der sich tief in seinem Bettzeug vergraben hatte, spürte, wie jemand ihn an der Schulter rüttelte. Er war nahe daran, aus dem Bett zu springen und um Hilfe zu schreien, da sagte eine vertraute Stimme ganz leise: »Kleiner John, Kleiner John, wach auf. Robin, Robin Hood 78
aus dem wilden grünen Wald kommt, um dich zu befreien, mein treuer Geselle!« »Robin«, keuchte Harold, der aus den zerwühlten Decken auftauchte und in das Gesicht des Bruders spähte, das nur undeutlich zu erkennen war, »wieso ... was in aller Welt!...« »Mach nicht so'nen Krach«, flüsterte Robin, »Wie geht's dir, Kleiner, geht's dir besser?« »Mir geht's gut«, keuchte Harold, »sie wollen mich morgen in die Schule zurückschicken. Ich wollte weglaufen und zu euch kommen, aber Tante Ellen hat mich eingeschlossen.« »Ja, ich weiß. Also, wir müssen uns schnell entscheiden. Wir sind nur hier, um Vorräte zu holen«, flüsterte Robin hastig. »Wir haben kein Salz mehr, und wir haben schon lange nichts Süßes gegessen. Wir haben uns aus der Küche drei Pfund Zucker und ein paar Gläser Marmelade geklaut. Wir sind seit dem Dunkelwerden unterwegs, aber wir müssen weg sein, bevor es hell wird. Wir kommen nicht mehr bis zum Forst, deshalb wollen wir uns bis morgen im Hochwald verstecken ... das heißt bis heute abend – es ist schon drei durch, wir müssen also weg, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Harold brauchte nicht weiter gedrängt zu werden. Er zog sich, so schnell er das in der Dunkelheit konnte, an, während Robin auf dem Bett saß und flüsternd erzählte. »Tilly hat uns ins Haus kommen hören«, sagte er, »sie hat schrecklich gebellt. Ich wundere mich, daß du sie nicht gehört hast.« »Nein, ich habe erst etwas gehört, als du die Tür aufgeschlossen hast. Ich dachte, du wärst ein Gespenst. Wo ist John ... ich meine, der Große John.« »Oh, der packt in der Küche das Zeug zusammen.« »Wie war es denn im Wald?« flüsterte Harold, während er in aller Eile die Schuhe zuschnürte. »Oh, phantastisch! Absolut phantastisch! Wir haben ein wildes Schwein erlegt und es geräuchert und jede Menge 79
Vögel und Kaninchen geschossen, und wir haben einen alten hohlen Baum, in dem wir wohnen. Es wird dir gefallen. Bist du sicher, daß du gesund genug bist?« »Ja«, keuchte Harold, »ganz bestimmt.« »Und keine Bazillen mehr?« »Nein.« »Der Große John und ich wollen nämlich nicht die Masern kriegen, das würde den ganzen Spaß verderben«, sagte Robin. Harold stand auf. »Ich bin fertig.« »Gut. Komm hinter mir her.« Sie schlichen aus dem Zimmer. Vorher hatte der schlaue Robin eine Decke zusammengerollt und sie an Harolds Platz zwischen die Kissen geschoben. Er dachte auch daran, die Tür hinter sich wieder abzuschließen. Das würde ihnen ein Rätsel aufgeben! Sie fanden den Großen John in der Küche, wo er zwei große Kartons mit Zucker, Salz, Tee, Mehl und Kartoffeln gefüllt hatte – es waren neue Kartoffeln, Rumbolds ganzer Stolz. Es war ein ziemliches Gewicht, aber mit vereinten Kräften würde es gehen. Robin stieg als erster in den Keller hinunter und leuchtete den anderen mit Streichhölzern. In einer Außenwand des Kellers befand sich eine Kohlenschütte, die außen von Sträuchern verdeckt war. Diese Kohlenschütte hatten die Jungen vor langer Zeit entdeckt, als sie ein zahmes Kaninchen suchten, das ihnen weggelaufen war. Sie war gerade groß genug für einen Jungen zum Durchkriechen. Draußen legten sie das Eisengitter wieder vor, das glücklicherweise nur lose auflag – und bald hatten sie die Koppel überquert und waren auf dem Weg zum Hochwald. Wie gesagt, war dieses große Waldgebiet nur fünf Kilometer vom Witwensitz entfernt. Es würde den Flüchtigen einen sicheren Unterschlupf bieten. Sie brauchten bloß 80
die Nacht abzuwarten und hatten dann Zeit genug, den Forst von Brendon zu erreichen. Ihr Weg führte am Weidenteich vorüber. Sie hörten Zwischen den Wasserpflanzen einen großen Fisch springen, und eine aufgeschreckte Moorhenne gackerte aufgeregt. Als sie den Hochwald erreichten, begannen die ersten Vögel zu singen. Sie waren keiner Menschenseele begegnet. Sie fanden ein tiefes Dickicht von Salweiden, in das sie hineinkrochen, und im ersten Tageslicht konnte Harold seine Brüder zum erstenmal deutlich sehen. Sie waren braun wie richtige Indianer – sein eigenes käsiges Gesicht sah daneben richtig gespenstisch aus – und der Große John trug um seine Hüften ein seltsames Kleidungsstück, eine Art Fellrock. Er erklärte, daß die Dornen seine graue Flanellhose völlig zerfetzt hätten, und daß er sich dieses komische Ding aus Kaninchenfellen genäht habe. Er hatte den tapferen Versuch gemacht, sich eine Hose zu schneidern, aber es hatte sich als zu schwierig erwiesen. Es regnete an diesem Tag, und im Gebüsch zu liegen, war eine ziemlich ungemütliche Sache. Die Vogelfreien vertrieben sich die langen Stunden damit, daß sie Harold alle Neuigkeiten erzählten, und Harold seinerseits erzählte, was im Witwensitz vor sich gegangen war, daß die Polizei hinter ihnen her war, und daß Bunting geschworen hatte, er werde sie finden. »Ich wette, in Dower House schwirrt es jetzt wie in einem Wespennest«, sagte Robin voller Genugtuung, während er an einem Blattstengel kaute. »Tante Ellen ist vielleicht schon in einer Gummizelle, und Bunting ruft nach BlutHunden.« »O Gott, Bluthunde!« Diese Idee war ihnen bis dahin nicht gekommen. »Bestimmt, sie werden Hunde einsetzen«, sagte Robin. »Wahrscheinlich werden wir sie bald bellen hören.« »Was machen wir dann?« »Wir streuen Pfeffer auf unsere Spur, das ist das 81
Richtige. Die Hunde bekommen den Pfeffer in die Nase, müssen niesen, und das mögen sie gar nicht.« »Das wäre ein Spaß. Ich hoffe, sie versuchen es!« Während des Nachmittags hörten sie einmal Stimmen und Schritte durch das Buschwerk kommen. Und einmal glaubten sie, irgendwo einen Terrier kläffen zu hören. Aber niemand kam in die Nähe ihres Verstecks. Die Stunden schleppten sich hin. Gegen Abend hörte der Regen auf, und die Büsche zitterten von fallenden Tropfen. Nach einer Weile begannen die Amseln zu tschilpen, ein sicheres Zeichen, daß die Nacht nahe war, und die Jungen krochen schließlich steif und mit verkrampften Gliedern aus ihrem Versteck. Der Himmel war noch hell. Der Westen flammte rot und golden, denn die niedrigen Regenwolken hingen immer noch über der untergehenden Sonne. Sie schlichen vorsichtig durch den Hochwald, bis sie an den schmalen Weg kamen, der an seiner Westseite entlanglief. In der Ferne sahen sie den Kirchturm von Cherry Walden, und hie und da leuchtete ein vereinzeltes Licht auf. Das feuchte Laub duftete köstlich nach dem Regen. Die Luft schien rein, niemand war zu sehen. Robin, der die Vorhut bildete, überzeugte sich, daß alles in Ordnung war. Wenn sie den Weg erst überquert hatten, konnten sie sich hinter den Hecken der Weiden halten, bis sie den Forst von Brendon erreichten. Sie hörten im Tal den Zehn-Uhr-vierzig-Schnellzug entlangbrausen und sahen die leuchtende Kette der Abteilfenster vorbeifliegen. »Kommt«, flüsterte Robin, »alles klar.« Sie traten auf die Straße. In diesem Augenblick entdeckte Robins scharfes Auge etwas im gegenüberliegenden Graben, etwas, das im Dämmer matt glänzte. Es war eine Fahrradklingel – und die Fahrradklingel saß an einem Fahrrad! Er blieb ganz still stehen und hob warnend die Hand, und gleichzeitig stürzte zwanzig Meter vor ihm die blaugekleidete Gestalt von Wachtmeister Bunting aus den Büschen. 82
»Hei!« brüllte er, »ho, kommt her ihr Jungens!« »Zurück in den Wald«, rief Robin, so laut er konnte, »sie sind hinter uns her!« Wachtmeister Bunting kam, seine Würde in den Wind schlagend, über die Straße gerannt. Andere Gestalten stürzten aus dem Schutz der Bäume, alles schrie wie wild. Der Wachtmeister brüllte: »Laßt sie nicht entkommen!« Aber die Jungen waren schon im dichten Unterholz des Hochwaldes untergetaucht. Erschreckte Fasane flogen auf, Eulen schrien wie außer sich; das Brüllen und das Knacken des Holzes hinter ihnen erstarb. Wachtmeister Bunting war wie ein verdutzter Bulle, der sich mit den Hörnern in einem Dickicht verfangen hat. Er zog seine Trillerpfeife und blies mit purpurnem Gesicht. Sein Helm war ihm vom Kopf gefallen und in die Sträucher gerollt, und er konnte ihn nicht finden. Er hatte seine Taschenlampe verloren, seine Hände und sein Gesicht waren zerkratzt und verschrammt. Nach einer Weile kamen keuchende Gestalten auf ihn zu. »Sie haben uns abgehängt, die kleinen Teufel, in dieser Dunkelheit ist es hoffnungslos.« Es war Sir William Barys Förster, der sprach. Andere Männer kamen, keuchend und stöhnend, Stallknechte und Gärtner, Landarbeiter und sogar der Briefträger von Cherry Walden. Alle trockneten sich die schweißnassen Stirnen, während sie sich um den ebenfalls schwitzenden Bunting sammelten. »Macht euch nichts draus, Leute«, sagte er, »morgen früh kriegen wir sie. Wir kämmen den Wald durch. Bei Tageslicht können sie nicht entkommen.« »Hab immer gesagt, daß wir sie hier finden«, sagte der Briefträger und grinste. »Wie spät ist's«, Wachtmeister?« Wachtmeister Bunting schaute auf seine Uhr. »Halb elf.« »Zu spät, einen trinken zu gehen«, sagte der Briefträger mürrisch, »ich könnte einen brauchen, nach all der Rennerei.« 83
»Alle drei waren da«, sagte ein Knecht, »der Kleine und alles, was sie mitgenommen haben.« »Wartet nur«, sagte Bunting, »morgen kriegen wir sie.« Mittlerweile hatten die drei Vogelfreien, immer noch im Besitz ihrer kostbaren Vorräte, den ganzen Hochwald durchquert und waren wie verbrühte Katzen auf der anderen Seite herausgekommen. Im ersten Morgengrauen des folgenden Tages verwandelte sich der Hochwald in einen aufgeregten Bienenstock. Aus jeder Richtung des Kompasses sah man Gestalten kommen, die sich den Weg in das düstere Versteck hineinbahnten. Bald nach Hellwerden war auch Sir William Bary zur Stelle. Er wollte bei der Jagd dabei sein. »Ich habe jeden Mann vom Gut herausgeschickt«, sagte der Baron, »wir werden die Lümmel endlich zu fassen kriegen. Die brauchen eine ordentliche Tracht Prügel, und genau das haben sie nie gekriegt. Wenn ihr Vater hier wäre, wäre das alles nicht passiert, diese ... diese jungen Hunde.« Er fuhr zusammen, als ein Fasan, aufgescheucht durch die herankommenden Männer, gackernd aus dem Wald hinausflog. »Keinen Vogel werd ich mehr behalten, keinen einzigen Vogel in dieser Saison, wenn weiter so in meinem Gebüsch herumgetrampelt wird.« Mit zunehmendem Tageslicht sammelten sich immer mehr Menschen. Ein paar Zeitungsreporter tauchten auf – einschließlich des Manns vom ›Morning Star‹ – der Briefträger war da und der Lehrer, Waldhüter und Pferdeknechte, Kleinknechte und Gärtner, Gärtnergehilfen, Landarbeiter und Schäfer; jeder Mann in der Gemeinde, der noch gesunde Glieder hatte, tauchte auf. Bevor sie den Forst »durchkämmten«, hielt der Gutsbesitzer eine Ansprache. »Wer als erster einen der Lümmel am Schlafittchen hat, kriegt ein Pfund«, schrie er. »Wenn ich ins Horn stoße, wißt ihr, daß ich sie entdeckt habe.« »Der Alte ist ganz schön wild«, sagte Bill Bobman, der manchen Fasan im Hochwald gewildert hatte, und sich 84
vielleicht vor Ende des Tages noch einen schnappen würde. »Wenn er die Jungens kriegt, können sie einem leid tun.« »Ja«, sagte ein Stalljunge, »ich wette, der wird ihnen ganz schön den Hintern versohlen.« Was für ein Tag für Cherry Walden! Auch Wachtmeister Bunting war zur Stelle und mit ihm drei weitere Polizisten. Der Wachtmeister machte ein beleidigtes Gesicht, denn der Förster hatte das Kommando über das Kesseltreiben übernommen, weil er den Wald am besten kannte. Sobald es ganz hell war, blies Sir William einen langen Ton auf seinem Jagdhorn, und das Treiben begann. Der Baron eilte zum anderen Ende des Waldes, um dort jeden Flüchtigen aufzuhalten. Jedesmal, wenn über seinem Kopf ein Fasan aufflog, stieß er einen Fluch aus. Am Ziel angekommen, ging er auf und ab und schlug dabei mit seiner Reitpeitsche gegen seine Stiefelschäfte. Mehrere seiner Leute waren beritten, aber sein Arzt hatte ihm, seit er im Frühjahr einen bösen Sturz getan hatte, das Reiten verboten, und dieses Verbot galt noch für mindestens sechs Monate. Diese Tatsache trug natürlich nicht dazu bei, seine Laune zu bessern. »Wenn ich mein Pferd hätte, würd ich sie über den Haufen reiten, bei Gott, ich würd sie über den Haufen reiten«, schwor er. Wieder flog ein Fasan auf, und aus dem Gebüsch klang das erschrockene »Tschiep, tschiep« der Fasanenküken. »Hier, Herr Pfarrer«, schrie der Gutsbesitzer dem Weißfisch zu, der hinter einem Busch auftauchte. »Gehen Sie zum anderen Ende der Schneise, vielleicht versuchen die Lümmel da durchzubrechen. Und denken Sie daran, wenn ich ins Horn blase, habe ich sie gesehen.« In diesem Augenblick flog ein Fasan, der sich erschrocken unter Farnkraut geduckt hatte, mit großem Geflatter und lautem Gegacker auf, und genau über ihren Köpfen ließ der Vogel etwas fallen, das auf Sir Williams Mütze landete. Der Anblick war zuviel für den Weißfisch, fast erstickt von unterdrücktem Lachen und krebsrot im Gesicht wandte er sich, um den ihm angewiesenen Platz einzunehmen. Als er 85
zurückschaute, sah er, wie der unglückliche Baron versuchte, seine Mütze mit einem Grasbüschel zu reinigen. Die Minuten vergingen. Der Lärm, den die Treiber machten, kam näher, und die Sonne, die bis dahin hinter Wolken versteckt war, trat in vollem Glanz hervor. Und wie auf ein Zauberwort hin begannen Schmetterlinge in der Schneise aufzutauchen. Mehrere Perlmutterfalter flogen vorbei, wie goldene glänzende Blätter flatterten sie herum, Libellen schwirrten über seinem Kopf, Bienen und Wespen summten zwischen den Bäumen. Der Weißfisch nahm die Mütze ab und trocknete sich die Stirn, dann holte er ein Paket Butterbrote heraus, das seine besorgte Haushälterin ihm im letzten Augenblick in die Tasche gesteckt hatte, und er begann mit sichtlichem Vergnügen zu essen. Seit Jahren hatte er keinen solchen Ausflug mehr gemacht. Was den unglücklichen Baron anbetrifft: der hatte keine Butterbrote und war doch sehr hungrig. Keiner seiner vielen Dienstboten hatte daran gedacht, den Herrn mit irgendwelchem Proviant zu versorgen. Er hockte auf seinem Jagdstock und betrachtete mit wütenden Blicken die rundliche Gestalt des Weißfischs, der sich in vierzig Metern Entfernung offensichtlich für nichts interessierte, was um ihn vorging, sondern ganz in die Beschäftigung mit einem dicken Schinkenbrot versunken war. Der verdammte Kerl hatte ihm nicht einmal eins angeboten. »Halten Sie die Augen offen, Pfarrer«, schrie er gereizt. Er konnte den Anblick nicht länger ertragen. Er setzte sich wieder auf seinem Jagdstock zurecht und wandte den Blick ab. Plötzlich ließ ihn ein leises Geräusch auffahren. Er sah, wie der Weißfisch sein Butterbrot mit einem lauten, unartikulierten Schrei von sich warf und sich in die Büsche stürzte. Die Mütze schwenkte er dabei über seinem Kopf. Er mußte die Jungen gesehen haben! Sir William war ein Mann der Tat. Schon hatte er das Jagdhorn hochgerissen und ein lautes, langes Signal geblasen. Am Ende der Lichtung sah er den Pfarrer zwischen den Büschen hin und her springen, er mußte den Flüchtigen auf den Fersen sein! 86
Die Töne des Horns waren kaum verklungen, als zwei Reitknechte um eine Wegbiegung gelaufen kamen, stehenblieben und um sich schauten. »Hierher, Perkins«, rief ihr Herr, »hierlang, Shoebottom, der Pfarrer hat sie gesehen; ein Pfund für den, der als erster einen Jungen schnappt!« Trotz seiner Jagdverletzung eilte der Baron hinter den laufenden Männern her. Andere Treiber brachen durch die Büsche und gingen, mit ihren Knüppeln schlagend, an ihm vorbei, angefeuert durch weitere wilde Töne aus dem Jagdhorn. Sir William folgte den Männern eilig, die inzwischen ein gutes Stück der Schneise hinter sich gebracht hatten. Dann sah er ein Knäuel von Menschen um den Weißfisch versammelt. Alle schauten auf den Boden, wo er etwas festhielt. »Der alte Whiting hat einen von ihnen am Wickel«, sagte sich der Baron, »verdammt, ich bitte ihn heute abend zum Essen; er soll von meinem besten Whisky haben!« Aber als er die Gruppe erreichte, schien sie sich auf geheimnisvolle Weise zu verflüchtigen. Pferdeknechte und Stalljungen verdrückten sich in die Büsche. Nur der Weißfisch blieb da und machte sich an einem Döschen, das er mit seiner Mütze schützte, zu schaffen. »Wo sind sie hin?« brüllte der Baron, »was ist passiert?« Der Weißfisch blickte auf und sah in das zornrote Gesicht. »Tut mir leid, tut mir leid, Sir William, ich fürchte, ich habe falsche Hoffnungen erweckt.« »Was soll das heißen, mein Herr, Hoffnungen erweckt? Sie haben sich wohl einen Scherz mit mir erlaubt, mein Herr?« Sir Williams Augen glitzerten gefährlich. »Nein, aber nein, Sir William ... ich ... ich habe den ersten Waldweißling gefangen, den ich je im Hochwald gesehen habe. Sehen Sie selbst, ein vollkommenes Exemplar, ein vollkommenes Exemplar.« Der Weißfisch streckte Sir William eine kleine Schachtel, eine Art Pillenschachtel mit einem Glasdeckel entgegen. Sir William schaute nicht einmal hinein. Eine quälende Pause entstand, dann brach der Sturm los. 87
»Sie machen Ihrem Priestergewand Schande, mein Herr, Schande, sage ich. Ein Mann Ihres Alters jagt hinter Schmetterlinge her wie ein ... wie ein ... Zweijähriger. Sie haben es mit Absicht getan ... ich ... ich...« »Aber Sir William«, unterbrach ihn der Weißfisch mit sanfter Stimme, »ich versichere Ihnen ...« »Genug«, brüllte der Baron, »Sie und Ihre... Schmetterlinge! Pah!« Mit einer wütenden Geste drehte er sich um und stampfte die Schneise hinunter. Um Mittag war der ganze Wald durchkämmt – ohne Erfolg. Nebenbei bemerkt: Bill Bobman hatte sich schon bald mit gebauschten Taschen davongemacht! Der unglückselige Zwischenfall mit dem Waldweißling wurde zum Hauptspaß des Tages, und am Abend wackelten die Wände der »Jagdklause« vom schallenden Gelächter der müden, aber vergnügten Gesellschaft. Aber die Tatsache war nicht zu leugnen: Die Jungen waren irgendwie davongekommen. Waren sie wie Silberfischchen durch die Maschen des Netzes geschlüpft? Tatsächlich waren sie zur Zeit der Treibjagd gar nicht mehr im Hochwald. Nachdem Bunting sie entdeckt hatte, waren sie quer durch den Wald gelaufen und hatten sich sofort zum Forst von Brendon aufgemacht. Als der arme Sir William voller Hoffnung im Herzen so kraftvoll in sein Horn stieß, war die Beute schon an einem weit entfernten Ort in Deckung gegangen, in dem alten Eichbaum in der Mitte einer Lichtung im Forst von Brendon, mehr als achtzehn Kilometer entfernt.
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KAPITEL 8
Das Nest des Wespenbussards Der Entschluß, den Witwensitz zu überfallen, um sich frischen Proviant zu holen, war sehr klug gewesen. Der Große John und Robin hatten immer öfter einen wahren Heißhunger auf etwas Süßes verspürt, sogar so gewöhnliche Nahrungsmittel wie Brot und Kartoffeln waren ihnen wie eine Speise für Götter vorgekommen. Außerdem hatte besonders Robin seine Bücher vermißt. Er war eine richtige Leseratte. Bis jetzt hatten sie im Wald genug zu tun gehabt, aber nun, da sich ihre Versorgungslage so gebessert hatte, brauchten sie nicht mehr täglich auf die Jagd zu gehen und würden Zeit zum Lesen haben. Robin hatte sein geliebtes ›Das Leben in den Wäldern‹ von Thoreau mitgebracht, dazu ›Der Wilddieb aus Leidenschaft‹ von Richard Jefferies, und ›Das Dschungelbuch‹ von Rudyard Kipling. Der Große John hatte sich für ›Huckleberry Finn‹ entschieden, und der Kleine John für ›Tom Sawyer‹. Aus dieser Liste kann man ersehen, welche Art von Literatur sie bevorzugten, und man versteht, daß es wohl nicht nur die Abneigung gegen das Regiment der Tante gewesen war, die in ihnen den Wunsch hatte keimen lassen, ein freies Leben im Walde zu versuchen. Nahrung für den Geist und Nahrung für den Leib, für diese Bedürfnisse war nun gesorgt, und die Jungen begannen ihre vierte Woche in Freiheit mit neuem Eifer. Die Geschichte im Hochwald hatte eine falsche Spur entstehen lassen, und für den Augenblick konnten sie sich im Forst von Brendon frei und unbesorgt bewegen. Selbst der Rauch ihres Lagerfeuers war noch niemandem aufgefallen; niemand vermutete sie im Forst von Brendon. Wenn dort Rauch aufstieg, war dies kein ungewöhnlicher Anblick, denn der alte Köhler verbrannte oft Abfälle neben 89
seiner Hütte, und wenn die Meiler frisch entzündet wurden, rauchten sie eine Zeitlang. Es war erstaunlich, wie Harold sich an das neue Leben gewöhnte. Die Flucht aus dem Hochwald hatte seine Kräfte bis aufs äußerste gefordert, und für einige Tage mußte er sich schonen. Aber bei der guten und reichlichen Nahrung erholte er sich schnell und konnte bald seinen Anteil an der täglichen Arbeit im Lager übernehmen. Das Wetter, das regnerisch und bedeckt gewesen war, besserte sich, es wurde sonnig und trocken. Tatsächlich war nicht der ganze Forst von Brendon Eigentum der Krone, ein großer Teil, viele hundert Morgen, gehörten dem Herzog von Brendon, und auf seinem Besitz hielten sich die Jungen verborgen. Hier waren die Bäume älter und schöner, aber das Unterholz war vernachlässigt, und seit der alte Herzog gestorben war, kümmerte sich niemand um den Wald. Wäre er Eigentum der Krone gewesen, wären die Jungen bestimmt viel früher von einem Wildhüter entdeckt worden. Als sie nach dem ereignisreichen Morgen ihrer Flucht aus dem Hochwald ins Lager zurückkamen, fanden sie alles in Ordnung. Aus Sicherheitsgründen hatten sie das Gewehr und die Munition oben in der hohlen Eiche versteckt, auch das geräucherte Schweinefleisch war dort verborgen. Die Spuren ihres Feuers hatten sie sorgfältig mit verdorrtem Farn und Grassoden bedeckt. Es hätte eines scharfen Auges bedurft, um festzustellen, daß jemand hier gewesen war, geschweige denn, daß er drei Wochen auf dieser Lichtung gelebt hatte. Robin klappte sein Buch zu, wälzte sich auf den Bauch und begann, einige Scheiben von dem geräucherten Schinken abzuschneiden, um sie über dem Feuer zu braten. »Wie wär's, ihr wackeren Gesellen, sollen wir morgen den Verborgenen Weiher suchen gehen? Er muß hier in der Nähe sein, und ich würde gern ein bißchen fischen.« 90
Der Kleine John fand die Idee gut. Er war jetzt zu jedem Abenteuer bereit und ebenso kräftig wie seine Brüder. »Ich glaube, wenn wir dem Bachlauf folgen, müßten wir den Weiher finden«, sagte der Große John. »Die Schwierigist nur, daß wir nicht wissen, ob der Bach in den Weiher mündet oder aus ihm geflossen kommt.« »Dann teilen wir uns einfach«, sagte Robin. »Du und der Kleine John geht stromauf – und ich gehe stromabwärts. Dann finden wir den Verborgenen Weiher bestimmt, falls er wirklich mit dem Bach in Verbindung steht. Nach der Karte ist der Wald dreieinhalb Kilometer breit. Es wird also gar nicht so leicht sein, den Weiher zu finden.« »Wie blöde«, rief der Große John aus, »ich habe vergessen, die Karte mitzunehmen. Sie lag immer in der Schublade in der Halle.« »Das macht nichts«, sagte Robin, »ich finde, ohne Karte macht es noch mehr Spaß. Ich tue gern so, als hätte ich mich verlaufen.« »Ich würde mich hier im Wald nicht gern verirren«, sagte der Kleine John, »die ganze Nacht ohne Essen herumzulaufen. Ich wüßte auch gar nicht, in welche Richtung ich gehen sollte, und würde vielleicht dem alten Köhler oder einem Förster in die Arme laufen.« »Sind die Kartoffeln fertig?« fragte Robin. Der Große John nickte. »Hier, ich habe sie in dünne Scheiben geschnitten. So ist es doch richtig, oder nicht?« Der Große John hielt ihm den Teller hin, auf dem fingerdicke Kartoffelscheiben aufgehäuft waren. »So wird es gehen. Wir stellen sie vor dem Schinken aufs Feuer, sie brauchen länger.« Er ließ einen Klumpen Schweinefett in die Mitte der Pfanne fallen, wo er zur Seite rutschte und sich mit einem leise zischenden Laut auflöste. Dann reichte der Große John ihm den Teller, und bald verschwand der Boden der Pfanne unter einem Mosaik von Kartoffelscheiben. »Es gibt einen Trick, sie schön knusprig zu bekommen«, sagte Robin. »Man darf nur wenig Fett hineintun. Bei zuviel Fett werden sie nicht braun.« 91
Von Zeit zu Zeit wendete er die einzelnen Scheiben mit seinem Jagdmesser, und bald hatten sie die goldene Farbe von reifem Korn. Nachdem die Kartoffeln zu seiner Zufriedenheit gebräunt waren, wurden sie auf einen Teller getan. Nun folgten die Schinkenscheiben, dicke Scheiben mit einem schmalen Fettrand an einer Seite. Sie glitten zischend und brutzelnd in der Pfanne herum und verbreiteten einen köstlichen Duft. Das Schwein war für die Vogelfreien ein Geschenk des Himmels gewesen, und sein Schinken schmeckte besser als aller Frühstücksspeck, den sie je zu Hause gegessen hatten. Als das Essen fertig war, langten alle kräftig zu. Mit heißem, süßen Tee hinuntergespült war es ein Festmahl, wie man es sich köstlicher nicht wünschen konnte. »Uff«, sagte der Kleine John, als er den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte, »so gut hat's mir noch nie im Leben geschmeckt!« »Wart nur, Bürschchen«, sagte Robin. »Wir werden auch noch Wildbret essen. Ich bin sicher, daß es im Forst von Brendon Rehe gibt, denn der Weißfisch hat gesagt, er hätte mal eins gesehen. Wenn wir mit dem Gewehr ein Schwein schießen können, können wir auch ein Reh schießen. Ich finde, wir verlassen uns bis jetzt zu sehr auf Nachschub aus der Außenwelt. Wenn der Zucker zu Ende geht und die Marmelade aufgegessen ist, werde ich nicht noch einmal zum Witwensitz zurückgehen. Das ist nicht meine Vorstellung vom Leben in der Wildnis. Wir müssen mit dem auskommen, was wir jagen und fischen.« »Ich glaube, ich würde die Kartoffeln am meisten vermissen«, sagte der Große John. »Zum Nachtisch können wir bald Beeren suchen.« »Wie lange werden wir denn hierbleiben?« fragte der Kleine John, nachdem er einige Zeit geschwiegen hatte. »Wie? Du hast es schon satt?« fragte Robin Hood. »Nein. Sei doch kein Esel! Natürlich nicht! Ich möchte nie wieder nach Cherry Walden zurückgehen. Mein ganzes 92
Leben möchte ich im Wald verbringen. Ich hab mir nur ausgedacht, wie schön das sein wird, im Herbst und im Winter, wenn die Blätter fallen und der Schnee kommt.« »Na«, sagte Robin, »bis dahin gibt es noch viel zu tun. Wir müssen den Verborgenen Weiher finden und den Köhler ... und wer weiß was noch. Ich bin dafür, daß wir erst zurückgehen, wenn wir wirklich keine Lust mehr haben, oder wenn Vater und Mutter kommen ... jedenfalls mach ich mir darüber noch keine Sorgen. Ich würde am liebsten nie mehr unter einem Dach schlafen. Es ginge mir wie Mowgli im ›Dschungelbuch‹, als sie ihn zwingen wollten, in einer Hütte zu schlafen.« Der Große John mußte lachen. »Ich glaube, unsere Leute werden uns gar nicht mehr erkennen, wenn wir nach Cherry Walden zurückkommen. Die werden uns verscheuchen wollen, in die Luft schießen und auf Blechbüchsen trommeln, genau wie im ›Dschungelbuch‹.« Die Nacht war klar und still. Am Rande der Lichtung konnten sie die ersten Heckenrosen wie kleine weiße Schatten auf einer grünen Wand sehen; selbst in der Dunkelheit waren sie noch zu erkennen. Die süßen frischen Düfte des Waldes in der warmen Nacht waren unbeschreiblich. Im ganzen Wald wuchs viel Geißblatt, und bei Anbrach der Nacht war sein starker Duft fast überwältigend. »Was für ein Leben!« rief der Kleine John aus, ließ sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, auf den Rücken fallen und starrte in den Himmel, bis er das Gefühl hatte, wie ein Distelflaum zwischen den Sternen zu schweben. Das sanfte, rosige Glühen des Feuers erleuchtete die Eichenblätter und die dicken, knorrigen Äste; dunkle Schatten wogten geheimnisvoll in den Höhlen, die das Laub bildete. »Ich wünschte, wir könnten immer so leben. Mir wäre es gleich, wenn ich nie mehr ein Haus sähe.« Er schloß die Augen, fühlte den warmen Atem des Feuers und roch den Duft des Holzrauches. Dann öffnete er die Augen wieder und ließ sich zwischen den Sternen treiben. 93
Einige waren größer als die anderen und sahen ihn feierlich an, andere zitterten und blinkten, ein kleiner orangefarbener Stern schien auf und ab zu hüpfen. Wenn das Schicksal nicht diese Wendung genommen hätte, läge er jetzt im Schlafsaal von Banchester zwischen einem Dutzend anderer Jungen, die um ihn herum wie die Schweine schnarchten. Und morgen früh, wenn er noch auf seinem Lager aus Farnkraut lag und die Vögel im ersten Morgengrauen singen hörte, wenn der Tau noch auf dem Gras lag und die Füchse und Dachse sich in ihre Höhlen schlichen, dann versuchten diese Unglücklichen in dem langen dunklen Schlafsaal noch ihre letzte Stunde Schlaf zu genießen. Vor ihm aber lag das Leben wie ein einziges langes Panorama der Freude; er würde seine Lektionen in einer anderen Schule lernen, in der Schule des Waldes. Er würde lernen, Fallen zu stellen, und Robin würde ihn schießen lehren. Bis jetzt hatte er noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Robin, der sich auch neben dem ersterbenden Feuer ausgestreckt hatte, folgte ähnlichen Gedanken. Er fragte sich, wie der Verborgene Weiher wohl aussah; war er ähnlich wie der Teich in Cherry Walden? Eine Motte flog in das Licht der Glut, wirbelte mit unglaublicher Schnelligkeit um sich selbst. Dann fiel sie in die Asche. Von der anderen Seite des Feuers verkündete ein schwerer Atem, daß der Große John eingeschlafen war. Es war Zeit, in den Baum zu kriechen. Gleich nach dem Frühstück machten sie sich auf, den Verborgenen Weiher zu suchen. Robin, als der Anführer, verlangte für sich das Gewehr, der Große John und der Kleine John mußten sich mit der Schleuder begnügen. Wie Robin vorgeschlagen hatte, trennten sie sich, sobald sie den Bach erreicht hatten, und nachdem sie sich gegenseitig Glück gewünscht hatten, wandte sich Robin stromaufwärts, und die anderen gingen in der entgegengesetzten Richtung. 94
Wie die des Großen John war auch Robins Hose inzwischen völlig zerfetzt. Er hatte sich einen Kilt aus Fellen mit der haarigen Seite nach innen gemacht. Er wurde von einem Gürtel aus Schweinehaut gehalten. Während er sich entlang dem Bachlauf seinen Weg bahnte, hielt er das Gewehr in der Hand; es war jedoch nicht entsichert, da ein Zweig sich hätte im Abzug verfangen können. Nach einer Weile, als die Sonne fast senkrecht über dem Wald stand, wurde es sehr heiß. Manchmal versperrte ein dichtes Gestrüpp Robin den Weg. Der Wald war sehr vernachlässigt; für die Gesundheit der Bäume wäre es gewiß besser gewesen, wenn das Unterholz ausgedünnt worden wäre, aber Robin gefielen diese verfilzten Massen von Büschen und Dorngestrüpp. Oft mußte er wie ein Tier auf allen Vieren kriechen; dabei folgte er den kleinen Pfaden, die die Waldtiere sich gebahnt hatten. So fand er Dutzende von Nestern, die er sonst übersehen hätte. Wenn er nämlich in das grüne Gewirr der Blätter über seinem Kopf schaute, hinter dem die Sonne stand, erkannte er sofort jede Verdichtung, jedes Nest. Die meisten gehörten Grasmücken und Dorngrasmücken. Am Ende des Morgens hatte er sechs Grasmückennester gefunden, alle mit Eiern darin. Auch Dompfaffen gab es häufig im Forst von Brendon. Immer wieder entdeckte er ein brütendes Weibchen, das ihn über den Rand des Nestes hinweg mit seinen runden Beerenaugen ansah und den Kopf mit dem hübschen schwarzen Käppchen hin und her wandte. Manchmal konnte man auch von unten die Eier erkennen. Der Dompfaff baut ein sehr schütteres Nest aus Würzelchen und feinen Ästchen und polstert es mit Pferdehaar, und man kann von unten die Eier durchscheinen sehen. Im dichten Farn und Gestrüpp des Bachufers stieß er auf ein Fasanennest. Die Henne flog mit lautem Geknatter vor seinen Füßen auf und erschreckte ihn fast zu Tode. Wenn er den Hahn hätte schießen können, würde er es wohl getan haben, obwohl Brutzeit war, denn die Vogelfreien waren 95
zwar im Wald schon auf einige Fasane gestoßen, es war ihnen aber nie gelungen, einen zu erlegen. Die großen blassen Eier waren schon bebrütet, und Robin rührte das Nest nicht an. Während er sich so durch das Unterholz kämpfte, wurde ihm sehr heiß, Schweiß lief ihm in die Augen, sein Haar war naß und verklebt. Aber er bewegte sich vorsichtig, paßte wie ein richtiger Jäger auf, wohin er den Fuß setzte. Er hatte keine Möglichkeit, abzuschätzen, wie weit er gegangen war. Der Bach schlängelte sich durch Farnkraut und Sträucher, so daß es schwer war, Entfernungen zu schätzen. Ein paarmal stieß er zwischen den Bäumen auf eine Lichtung. An einer Stelle waren Eschenstämmchen geschlagen und ordentlich neben einem Pfad aufgestapelt worden. Selbst in einem trockenen Sommer bleiben diese Waldpfade feucht, weil die Sonne sie nicht erreicht, und das Moos wächst weich und grün. Robin entdeckte die Spuren genagelter Stiefel, sie sahen ganz frisch aus. Jemand mußte am Tag zuvor hier entlanggegangen sein. Diese Spuren ermahnten ihn zu äußerster Vorsicht. Es wäre lehrreich gewesen, ihn zu beobachten, denn er war ein geborener Jäger und Waldläufer. Wenn er wollte, konnte er sich so vorsichtig und lautlos bewegen wie ein Fuchs. Er war auch ein sicherer Schütze, und die Waffe unter seinem Arm erfüllte ihn mit Stolz. Wäre es nur seine eigene gewesen! Eines Tages würde er sich genau so ein Gewehr kaufen. Für Rumbold war es viel zu schade. Er ließ es im Schrank im Gewächshaus verkommen, monatelang schaute er es nicht einmal an. Robin hatte es geputzt und geölt und das Zielfernrohr adjustiert. Die Waffe schoß jetzt mit großer Treffsicherheit. Von Zeit zu Zeit kreuzte ein Kaninchen seinen Pfad, aber er schoß nicht. Die Fußspuren im Moos hatten ihn unsicher gemacht. Vielleicht war er in der Nähe der Köhlerhütte. Hin und wieder bildete er sich ein; den eigenartig duftenden Rauch der Meiler zu riechen. Im Laufe dieses Morgens stieß er auf mehrere Igel. Einer 96
war ein noch ganz junges Tier, keine zwanzig Zentimeter lang mit kleinen weichen Stacheln. Er wollte ihn mit nach Hause nehmen, wurde aber bald müde, ihn zu tragen und ließ ihn wieder laufen. Sie waren in der Dämmerung auf ihrer Lichtung schon auf manchen Igel gestoßen und hätten gern einmal einen Igelbraten versucht, aber sie konnten es nie übers Herz bringen, die drolligen kleinen Gnome zu töten. Es sah so komisch aus, wie sie sich bewegten; ihre Äuglein waren so voller Intelligenz. Sie wirkten so freundlich und liebenswert. Während Robin sich weiterschlich, traf er auf eine kleine Lichtung, die von Birken umgeben war. Es waren die ersten Birken, die er im Forst von Brendon sah, und zwischen den Bäumen flatterte ein schöner weißer Admiral. Dieser Schmetterling war im Wald sehr selten. Die Jungen hatten bis jetzt ein einziges Exemplar im Hochwald gesehen. Sie waren im vergangenen Sommer mit dem Weißfisch dort gewesen, und die Aufregung war groß, als Harold den schönen gescheckten Falter auf einer Brombeerblüte entdeckte. Robin hatte jetzt kein Netz bei sich; er wünschte, er hätte eins gehabt. Er hatte auch keine Mütze auf, so blieb ihm nichts übrig, als zu beobachten, wie der Falter umherflatterte, sich der warmen Sonne erfreute, sich hin und wieder auf einem der oberen Birkenzweige niederließ, dort saß und die Flügel öffnete und wieder schloß. Die Suche hatte Robin entsetzlich durstig gemacht, und er trank sich am Bach satt. Wie gern hätte er ein Bad genommen. Wenn er nur den Verborgenen Weiher finden könnte! Schließlich kam er an eine offene Stelle im Wald, Wo das Farnkraut ihm bis zu den Schultern reichte. Die Luft war vollkommen windstill und schwer von sommerlichen Düften. An dieser Stelle hatte sich der Bach ein ziemlich großes Becken von etwa zehn Metern Länge ausgewaschen. Es sah ziemlich tief aus. Da, wo dichte Haselsträucher ein Dach bildeten, konnte er auf dem Grund die gefleckten Kiesel erkennen und wußte, daß das Wasser höchstens einen 97
halben Meter tief war. Winzige Fische flitzten hin und her. Es waren Stichlinge. Robin lag auf dem Bauch und zog sich bis zum Rand des Beckens heran. Sein Gesicht war im üppigen duftenden Adlerfarn verborgen. Die rosa Blüten des wilden Teppichs fielen auf ihn nieder, sein Rücken lag im sonnenfleckigen Halbschatten, den das Laub über ihn warf. Was für ein lieblicher Fleck! Konnte etwas dem Paradies näher kommen? In den Bäumen über seinem Kopf gurrten die Wildtauben, es war, als murmelte der Wald mit ihren schläfrigen Stimmen. Robin war ein seltsamer Junge, wenigstens würde das manchen Leuten so scheinen. Er war am liebsten allein im Wald, jagte und streifte für sich den ganzen Tag unter den Bäumen umher, an einsamen Stellen, wo er niemandem begegnete. Das war seine Vorstellung vom Himmel. Wenn er wie jetzt auf etwas stieß, das seine Einbildungskraft gefangennahm, vergaß er die Zeit, verlor sich in einer Art seliger Versunkenheit. Als er nun dalag und in das kleine Becken hinunterschaute, nahmen seine scharfen Augen jede Einzelheit wahr, sogar die winzigen Schatten der Stichlinge. Jeder Fisch warf einen Schatten auf den sandigen Boden. Da er sich ganz still verhielt, wurden sie bald wieder kühn, kamen aus dem Schatten unter den Haselblättern hervor und tummelten sich in ihrem wäßrigen Reich. Er konnte ihre winzigen Flossen zittern sehen, und was für vollkommene Flossen! Diese winzigen Fische waren wirklich bezaubernd. Der Schöpfer muß Augen haben wie ein Uhrmacher, dachte Robin lächelnd, daß er so zarte Fische gemacht hat. Die männlichen Fische waren besonders hübsch mit ihrem leuchtend blauen Rücken und der roten Kehle. Sie glitten nicht im Wasser entlang, sie bewegten sich ruckartig. Manchmal jagte ein Männchen ein anderes davon, dann bewegte es sich schnell wie ein Pfeil, blieb dann plötzlich ganz still stehen, öffnete und schloß das Maul, blähte die Lippen auf. 98
Auf diesem Becken gab es auch Wasserspinnen. Als Robin an das Ufer getreten war, waren diese Insekten alle in den Schutz des Grases und der Kräuter am Rande geflüchtet, aber als er still liegenblieb, kamen sie wieder zum Vorschein und begannen, auf der Wasseroberfläche hin und her zu gleiten. Er sah die winzigen Dellen, die ihre Füße auf dem Wasser machten. Sie schienen so leicht darauf zu laufen, als wären sie auf festem Grund. Nach einer Weile fiel eine Florfliege von den Haselblättern. Sie fiel nahe am Rande, aber in einer Sekunde war ein halbes Dutzend Wasserspinnen zur Stelle. Die größte hatte die Fliege ergriffen und trug sie in ihren Kiefern davon, während die anderen danach sprangen. Dann hörte Robin es an seinem Ohr summen. Es war eine wilde Biene. Robin schlug mit der Hand nach ihr, und auch die Biene fiel ins Wasser, drehte sich surrend, und um sie herum bildete sich ein kreisförmiger Fächer winziger Wellen. Sofort kamen mehrere Wasserspinnen herangeglitten. Zuerst schienen sie Angst vor der Biene zu haben, aber eine, die kühner zu sein schien, stürzte sich ganz plötzlich auf sie. Die Biene wehrte sich immer schwächer, und schließlich glitt die Angreiferin davon, die Biene zwischen die Kiefer geklemmt. Robin hatte nicht gewußt, daß diese Insekten so wild sind; sie erinnerten ihn an ein Rudel Jagdhunde. Die Biene versuchte vergeblich, ihre Angreiferin zu stechen, die sie fest in den Fängen hielt. Während Robin die wilden kleinen Geschöpfe beobachtete, sah er, daß einige miteinander kämpften. Manchmal fiel eins um und zeigte seine silbrige Unterseite. Sie hüpften umeinander wie Grillen. Es war köstlich, im kühlen Farn zu liegen, aber das Wasser lockte noch mehr. Robin streifte sein Hemd und den Fellrock ab und ließ sich über den Rand rollen. Als er ausgestreckt auf dem Sandboden lag, bedeckte das Wasser eben seinen Körper; es war wie eine natürliche Badewanne. Im vollen Sonnenschein war das Wasser warm, aber als er 99
unter die Haselblätter rutschte, wurde es recht kühl. Dann legte er sich auf den Bauch, mit dem Gesicht gegen die Strömung und beobachtete die kleinen Wellen, die um eine Biegung herum auf ihn zu eilten. Er streckte den Arm aus, sie sahen unter Wasser blau aus – er hob die Finger, so daß Ströme silberner Bläschen ihm an Ohren und Nase vorbeistrichen. Er wühlte in den Steinen des Bachbetts und das Wasser trübte sich für einen Augenblick, aber bald strömte es wieder so klar, daß er seine Finger bläulich weiß zwischen den gesprenkelten Steinen und dem silbernen Sand sehen konnte. Über seinem Kopf flitzte eine Libelle hin und her, eine leuchtend blaue Libelle mit dunklen Flecken am Ende der Flügel, so wie er sie schon am Weidenteich in Cherry Walden gesehen hatte. Sie ließ sich auf einem Schilfrohr in der prallen Sonne nieder, die Schwingen hoch über dem Rücken zusammengelegt. Auch Eintagsfliegen tanzten über dem Wasser, die langen Hinterteile anmutig hochgestellt. Als Robin noch kleiner gewesen war, hatte er Angst vor ihnen gehabt, er hatte geglaubt, diese langen, fadendünnen Schwänze wären Stacheln. Es war in diesem winzigen Sommerparadies so traumhaft und kühl, daß Robin für immer hier hätte bleiben mögen. Aber schließlich stieg er doch aus dem Wasser und ließ sich in der warmen Sonne trocknen. Nach der kühlen Umarmung des klaren Wassers fühlten sich die grünen Farnwedel ganz heiß an. Als er sich wieder angezogen hatte, spürte er plötzlich, wie hungrig er war. Und er hatte nichts zu essen mitgenommen. Die Jungen aßen immer nur zwei Mahlzeiten am Tag, morgens und abends. Das genügte ihnen, aber zu jeder Mahlzeit waren sie sehr hungrig. Robin machte sich wieder auf den Weg stromaufwärts. Seine Haut prickelte noch angenehm nach dem Bad. Er hatte natürlich nicht richtig schwimmen können. Er wäre so gern in tieferes Wasser vorgestoßen, hätte sich wie ein 100
fetter Karpfen zwischen grünen Wasserpflanzen durchgeschlängelt. Vielleicht konnte er das noch, wenn er auf den Blinden Weiher stieß – falls es den überhaupt gab. Dann wurden, wie durch ein Wunder, die Bäume dünner, und er sah sich seinem Ziel gegenüber. Es war ein langgestreckter, schmaler Waldsee, dunkel und sehr still. An den Ufern wuchsen Felder von Wasserrosen. Hohe Eichen umgaben den See von drei Seiten, an der vierten standen große, düstere Kiefern, auf deren Gipfeln die späte Nachmittagssonne lag, so daß die rotbraunen Zweige fast wie künstlich bemalt oder blutbefleckt schienen. Vor dem Hintergrund der düsteren Bäume, am entgegengesetzten Ende des Weihers, stand ein Reiher, den Kopf in die Schultern gezogen. Er stand auf einem bemoosten Baumstumpf, der aus dem Wasser herausragte. Das Wasser war so ruhig, daß es ein getreues Spiegelbild des Vogels zeigte, vollkommen in jeder Einzelheit. Robin kroch durch den Farn bis an den Rand des Wassers und starrte in die Tiefen hinunter. Es war so tief, daß er den Boden nicht sehen konnte, und das Wasser war von einem ganz tiefen Grün. Als er lange und genau hinsah, konnte er das steil abfallende Ufer erkennen, das sich im Dunkel verlor. Er erblickte sein eigenes Spiegelbild, seltsam verdunkelt, so daß seine Augen fast nicht zu sehen waren, und hinter seinem Kopf stand ein indigoblauer Himmel, so wie man ihn auf alten umbrischen Gemälden sieht, und über diesen dunklen Himmel zogen ein paar weiße Wolken, gedämpft und undeutlich gespiegelt. Es war, als betrachte man ein farbiges Bild durch ein rußiges Glas. Während er, verborgen von Farn und Schilf, dort lag und nach unten in die grünen Tiefen starrte, erregte eine undeutliche Bewegung dort unten seine Aufmerksamkeit; eine feierliche Prozession dicker bronzefarbener Fische zog in etwa zwei Metern Tiefe still vorüber. Sie waren größer und schwerer als irgendwelche Süßwasserfische, die er bis dahin gesehen hatte – ausgenommen Hechte. Es waren Schleien. 101
Robin war begeistert! Dieser Ort war noch zauberhafter als das kleine Wasserbecken, das er unterwegs entdeckt hatte. Er hob den Blick und sah, daß Leben in den Reiher gekommen war. Er stakte ziemlich ungeschickt den schrägen bemoosten Baumstamm hinunter, indem er sich mit seinen langen grünen Klauen festkrallte und den Kopf auf und ab wiegte. Der Vogel hatte ihn nicht gesehen, so gut lag er im Schilf versteckt. Mehrere Moorhühner, die unter den Wildvögeln die schärfsten Augen haben, weideten ihm gegenüber auf dem schmalen Grasufer. Sie pickten herum wie Hühner und stellten ihre weißen Schwanzfedern zur Schau. Moorhühner geben einen guten Braten ab, und Robin hatte an diesem Tag noch nichts zum Essen geschossen. Er hob sein Gewehr und nahm den ihm nächsten Vogel ruhig ins Visier. Zu treffen würde nicht leicht sein, denn die Henne bewegte sich langsam pickend vorwärts. Aber Robin nahm sich Zeit, und im richtigen Augenblick gehorchte der Finger dem Gehirn, und dem Knall folgte der willkommene Aufschlag der Kugel im Ziel. Der Vogel fiel zur Seite, schlug ein- oder zweimal mit den Flügeln und lag still. Obwohl der Knall gedämpft war, sprang der Reiher senkrecht in die Luft und landete wieder auf dem Stamm. Einen Augenblick zuvor hatte er den Kopf zwischen die Schultern gezogen, jetzt sah der Vogel aus wie ein langes, schlankes, graues Rohr, und selbst aus der Entfernung konnte Robin erkennen, wie er mit runden Augen um sich starrte, was sehr komisch aussah. Der Vogel hatte den gedämpften Knall gehört, wußte aber nicht, aus welcher Richtung er gekommen war. Dann hob er sich in die Luft und schwebte auf breiten, gewölbten Schwingen davon. Eben noch war er ein grauer Vogel vor einer Wand von dunklem Laub gewesen, im nächsten Augenblick stieg er ins Sonnenlicht empor und verschwand über den Wipfeln der Eichen. Als Robin geschossen hatte, waren alle anderen Moorhühner in Deckung gegangen, der Weiher lag verlassen da, 102
nichts rührte sich außer den Ringen im Wasser, da, wo eine Moorhenne getaucht war. Die Kreise verbreiterten sich auf ihn zu, zerstörten das Spiegelbild der grünen Schatten. Robin holte seine Beute nicht sofort. Er lag immer noch verborgen zwischen dem dichten Schilf, schaute und horchte. Auf dem grünen Ufer konnte er die tote Henne wie einen dunklen rußigen Fleck erkennen. Sie würde einen köstlichen Braten abgeben. Robin war so hungrig, daß er sie roh hätte verspeisen mögen. Nach einer Weile bemerkte er, wie sich am entfernten Ufer in der Nähe des versunkenen Stammes, auf dem der Reiher gesessen hatte, ein anderer Vogel bewegte. Robin konnte nicht erkennen, was für eine Art Vogel es war, und versuchte, ihn ins Zielfernrohr zu bekommen. Schließlich stellte er fest, daß es eine Stockente war. Dicht hinter ihr her schwamm eine Schar gestreifter, piepsender Küken. Sie bahnte sich ihren Weg zwischen den Schilfwänden. Was für ein himmlischer Ort! Wie würde es den beiden andern hier gefallen! Am Vormittag mußte die Sonne voll auf dem Weiher gestanden haben, denn als Robin die Hand ins Wasser tauchte, war es ganz warm. Sie mußten bald zum Fischen und Schwimmen herkommen. Ach, Robin Hoods Tag war fast zu Ende. Warum ging die Sonne so früh unter? Er hatte noch einen weiten Weg zurück ins Lager. Er mußte aufbrechen. Aber je mehr die Sonne hinter den Bäumen versank, desto mächtiger hielt ihn der Zauber des Ortes fest. Dies hier war gewiß viel schöner als der Weiher, von dem Thoreau so oft sprach. Hier war etwas Geheimnisvolles, fast Düsteres. Warum war dies Wasser so verborgen im Herzen des uralten Forstes? Vielleicht kamen hierher die Rehe zum Trinken und all die Waldtiere, die Füchse, Dachse, die Wiesel und auch die Fasane und all die wilden Waldvögel. Als Robin den Blick noch einmal in den Zauberspiegel senkte, sah er keine weißen Wolken segeln; er sah einen Himmel von kostbarem Aquamarin, und vor diesem Hintergrund schwebte ein Vogel in sein Blickfeld, ein Vogel mit weiten Schwingen, der fort und fort seine Kreise zog. 103
Robin schaute zum Himmel auf und sah die ganze Szene, nur deutlicher und klarer und in lebhafteren Farben. Der Vogel kreiste wie ein Bussard, das Sonnenlicht lag auf den gespreizten Schwungfedern der weitgebreiteten, unbewegten Flügel. Konnte es ein Wespenbussard sein? Vielleicht hatte er sein Nest hier im Wald. Schließlich schwang sich der Vogel aus seinem Blickfeld und war hinter den Wipfeln der Eichen verschwunden. Robin machte sich auf den Rückweg, die Moorhenne sicher in der Tasche verstaut. Er warf einen letzten Blick auf den Verborgenen Weiher. Er war das Schönste, was er bis jetzt im Wald entdeckt hatte, und dieserTag war der schönste gewesen, den er bisher erlebt hatte. Er wußte damals nicht, daß er sich noch Jahre später an dieses Bild erinnern würde: den dunklen See zwischen den Bäumen, so still, so friedlich, geschmückt mit den wächsernen Wasserrosen, den grauen Reihern auf dem halbversunkenen Stamm. Der Anblick des kreisenden Wespenbussards, gespiegelt im Wasser des Verborgenen Weihers, hatte sich in Robins Gedanken festgesetzt. Vielleicht gehörte er zu einem Paar, und der Partner brütete irgendwo im Wald. Aber elftausend Morgen sind eine weite Fläche, und der Nistbaum darin wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Robin wußte, daß Wespenbussarde spät brüten, meist erst im Juni. Er wußte auch, daß sie gern alte Nester anderer Arten benutzen, zum Beispiel die von Krähen oder Sperbern, denn er hatte viel über Raubvögel gelesen; sie waren seine Lieblingstiere. Es lag etwas Faszinierendes in ihrem wilden, stolzen Blick, ihrer königlichen Haltung; sogar die zierlichen roten Turmfalken, die im Wind über dem Hügelland schwebten, waren schöne Vögel, ihre rötlich braunen Federn hatten eine besonders schöne Färbung. Es dauerte einige Tage, bis sie den Wespenbussard wieder zu Gesicht bekamen. Diesmal kam der Große John mit der Nachricht, er habe einen großen gestreiften Falken mit 104
abgerundeten Flügeln gesehen, der in die Krone der einen großen Kiefer am Verborgenen Weiher geflogen sei. Er war in die Krone des Baumes geschwebt und hatte dabei ein Geräusch gemacht wie eine fauchende Katze. Bei der nächsten Gelegenheit statteten alle drei Jungen den Kiefern am See einen Besuch ab, aber Robin, der die Geschichte des Großen John nicht ganz glaubte, wollte den Baum nicht erklettern. Er war unheimlich hoch. Wenn man unten an dem rauhen roten Stamm stand, schienen die obersten Zweige unerreichbar weit entfernt. Aber es war ein Nest dort oben, das erkannte Robin bald, ein Gewirr schwarzer Stöcke in der Krone des Baumes. »Pah, das ist ein Tauben- oder ein Krähennest«, sagte er. »Ich klettere nicht da hinauf, auch wenn es möglicherweise ein Bussardnest ist. Alle schottischen Kiefern haben Taubennester.« Robin hatte recht, fast keiner dieser Bäume ist ohne Taubennest. »Wenn ich nur den Vogel darin sehen könnte, dann würde ich versuchen, raufzukommen. Wir wollen Stöcke schmeißen und versuchen, das Weibchen aufzuscheuchen.« Sie sammelten also Stöcke und Steine und bombardierten den Baum. Aber das Nest war so hoch, daß nicht einmal Robin mit seinen Würfen nahe genug kam, und törichterweise hatte der Große John seine Schleuder im Lager gelassen. Aber es dauerte nicht lange, bis sie einen Beweis erhielten. Robin, der am Tag darauf im Verborgenen Weiher fischte, sah den Vogel wieder. Es war ein schöner, milder Abend. Am Himmel stand keine Wolke, die untergehende Sonne erleuchtete die roten Kiefernstämme, so daß sie sich im stillen Wasser spiegelten. Während er fischte, hörte er plötzlich etwas wie ein Miauen, und als er aufblickte, sah er zwei Wespenbussarde über den Kronen der Eichen in seinem Rücken auftauchen. Einer von ihnen trug einen grünen Zweig im Schnabel; obgleich sie ziemlich hoch flogen, konnten Robins scharfe Augen dies sofort erkennen. 105
Der Vogel mit dem Zweig flog geradewegs in die Krone der Kiefer, und sein Gefährte folgte ihm. Der Anblick dieser schönen gestreiften Bussarde, die oben vor dem blassen Himmel schwebten, war atemberaubend. Der Große John hatte recht gehabt, sie hatten ein Nest in der Kiefer. Robin war so aufgeregt, daß er am liebsten gleich hinaufgeklettert wäre, aber es wurde schon dämmrig, und er mußte seine Ungeduld zügeln. In der Nacht konnte er vor Aufregung kaum schlafen, und sobald sie am folgenden Morgen gefrühstückt hatten, machten sich alle drei auf den Weg. Der Baum war schwer zu erklettern, denn bis zu einer Höhe von drei oder vier Metern gab es keine Zweige, und ihre Steigeisen befanden sich natürlich in Cherry Walden. Robin war so versessen hinaufzuklettern, daß er überlegte, ob man die Steigeisen nicht in der Nacht holen sollte. Er wußte genau, wo sie waren: in dem weißen Schrank im Flur des obersten Stockwerks neben dem Schulzimmer. Es war eine Tantalusqual, hier unten zu stehen und zu wissen, daß dort oben im Nest eine Handvoll hübscher Eier in einem Polster von Buchenblättern lag. Wespenbussarde polstern ihr Nest fast immer mit Buchenlaub aus. Robin ließ den Großen John sich an den Stamm stellen, den Kopf dagegengelehnt, die Arme darumgeschlungen. Er sollte Robin als Steigleiter dienen. Als dieser sich aber schließlich, die Füße auf den Schultern des Großen John, aufrichtete, fand er nichts, woran er sich hätte festhalten können, die untersten Zweige waren immer noch außerhalb seiner Reichweite. Er versuchte, den Stamm zu umklammern und sich hochzuziehen, aber der Stamm war zu dick, er rutschte ab und zerkratzte sich Arme und Beine. »Es hat keinen Zweck«, sagte er, »so kommen wir nie hinauf. Wir müssen die Steigeisen holen.« »Wir könnten es mit einem schräggestellten Ast versuchen, der dir über das erste Stück hilft«, sagte der Große John. »Wenn wir einen dürren Baum oder so etwas finden, ginge es vielleicht damit.« 106
Sie suchten das Unterholz ab, und schließlich fand der Kleine John einen Kiefernast, der unter Brombeersträuchern am Seeufer lag. Er war so lang und schwer, daß es aller Kräfte bedurfte, um ihn herauszuzerren. Nach langem Kampf schafften sie es schließlich, sie richteten ihn auf und lehnten ihn gegen die rauhe Rinde der Kiefer. Der Ast bot nur einen unsicheren Halt, aber mit einiger Mühe gelang es Robin, die oberen Verästelungen zu erreichen, und als er dort mit den Füßen Halt gefunden hatte und sich streckte, konnte er eben den untersten Ast des Baumes ergreifen. Mit aller Kraft zog er sich hoch, und dann fing er an zu klettern. Robin war nicht schwindelfrei. Nach etwa fünf Metern mußte er sich ausruhen. Es war jetzt ziemlich einfach, wenn er sich konzentrierte. Es gab genug Äste; fast wie die Sprossen einer Leiter, führten sie über seinem Kopf nach oben. Er nahm sich fest vor, nicht nach unten zu schauen. Er sagte sich vor: »Ich werde nicht hinunterschauen! Ich werde nicht hinunterschauen!« Schließlich erreichte er erschöpft einen dicken Ast, auf dem er sich ausruhen wollte. Unwillkürlich fiel sein Blick nach unten. Sofort fühlte er eine schreckliche Woge der Übelkeit in sich aufsteigen. Weit unten sah er seine beiden Brüder, ihre Gesichter waren lächerlich zwergenhaft und weiß; sie starrten zu ihm hinauf, und hinter ihnen lag der Verborgene Weiher – der Verborgene Weiher aus der Vogelperspektive, eingefriedet von den Kronen der Weiden und den grünen Schilfbeeten. Robin hielt den Atem an und kniff die Augen fest zu. Dann schaute er nach oben. Mehr als die Hälfte des Aufstiegs lag noch vor ihm. Er würde es nie schaffen! »Was ist los?« schrie der Große John. »Warum hörst du auf?« Robin konnte nicht antworten. Er hielt immer noch die Augen fest geschlossen, die Wange fest an die rauhe, rote Rinde des Baumes gepreßt. Diese feste, breite Masse Holz zu spüren, gab ihm Trost. Eine leichte Brise regte sich zwischen den Nadelquasten, 107
er spürte, wie der Stamm ganz leise schwankte. Schließlich gelang es ihm herauszupressen: »Alles in Ordnung. Ich bin nur ein bißchen außer Atem.« »Du bist bald da«, rief der Kleine John, um ihn zu trösten. »Bald da«, dachte Robin; er war nicht einmal zur Hälfte oben. Ganze fünf Minuten lang saß er unbeweglich da und starrte das Nest über seinem Kopf an. Es schien danach tatsächlich näher. Er konnte die einzelnen Stöcke im Nestboden sehen und die ineinanderverflochtenen roten Zweige darunter. Nein, er würde es nicht schaffen, er wußte, er konnte es nicht. Aber wenn er jetzt hinunterstieg, wußten die anderen, daß er ein Feigling war. Er würde ihnen nie mehr ins Gesicht blicken können. Er biß die Zähne zusammen und begann wieder zu steigen und schwor sich dabei, daß er nicht mehr nach unten schauen würde. Aber während er immer höher stieg, ließ es sich nicht vermeiden, daß sein Blick seitwärts auf den Wald unten fiel. O Schrecken! Er schaute jetzt auf die Kronen der kleineren Eichen hinunter, und da, nach allen Seiten erstreckte sich ungebrochen die Oberfläche des Waldes. Sie erstreckte sich endlos in die Weite, und hinter den äußersten verschwommenen Rändern konnte er offene Weiden unterscheiden, und ja, dort im Süden, das mußte Brendon sein, ein Klumpen roter Dächer und Fabrikschornsteine, und da drüben, das war Cheshunt Toller. Er konnte den Kirchturm erkennen. Der Wind wehte hier oben stärker, er konnte ihn im Gipfel der Kiefer seufzen hören. Er ruhte noch einmal aus, den Blick fest auf das Nest über sich gerichtet. Weiße Wolken zogen über den blauen Himmel, die Kiefernnadeln wippten und schaukelten. Er würde es nicht schaffen! Die Stimme des Großen John klang herauf: »Wie kommst du voran?« »Ganz gut«, schrie Robin, ohne nach unten zu gucken. Aber es war nicht gut. Seine Arme, die den Stamm umspannten, zitterten, sein ganzer Körper bebte wie im Schüttelfrost, seine Zähne klapperten. 108
Das Nest war jetzt etwa fünf Meter über ihm. Es sah viel näher aus. Er konnte jetzt Einzelheiten erkennen. Aber Robin war völlig erschöpft. Er konnte keinen Meter mehr steigen. Es schwamm ihm vor den Augen, und sein Mund fühlte sich an wie ein alter Schuh. Fast zehn Minuten saß er da, ohne sich zu bewegen und ohne sich um die Rufe seiner Brüder unten zu kümmern. Dann schwang er ein Bein über einen Ast. Er würde hinuntersteigen. Es hatte keinen Sinn, er konnte einfach nicht mehr. In diesem Augenblick verließ das Bussard-Weibchen das Nest. Er hörte ein unbeschreibliches Geräusch, eine Art von plötzlichem Rauschen, dann sah er den großen gestreiften Vogel vom Nest abheben und davonfliegen. »Da fliegt er«, brüllte der Große John aufgeregt, »da fliegt er!« Robin, die Augen voller Borkenstaub, Hände und Gesicht verkratzt und verschrammt, fühlte plötzlich wieder einen Stoß von Begeisterung. Aber sie verschwand so schnell, wie sie aufgeflammt war. Er kam sich vor wie ein Neuling auf einem hohen Berg. Es war ihm ganz gleich, ob Eier im Nest waren oder nicht, er wollte nur wieder auf die Erde zurück, festen Grund unter den Füßen spüren und weiche Farnwedel um die bloßen Knie. »Mach weiter«, rief der Große John wieder, »du bist bald da.« Robin biß die Zähne zusammen. Er streckte sich und faßte den nächsten Ast über seinem Kopf. Die nächsten fünf Minuten kletterte er verbissen und gleichmäßig, zitterte aber so heftig, daß er sich kaum festhalten konnte. Das große Nest kam immer näher. Er konnte es durch die halbgeschlossenen Lider erkennen. Schließlich berührte Robins schmutzige Hand den Rand. Selbst jetzt wünschte er noch, unten zu sein, unten auf der guten festen Erde. Er gab sich einen weiteren Ruck, und die Hand faßte über den Rand hinweg. Die Finger fühlten kalte, trockene Blätter, und dann trafen sie auf etwas Hartes, Rundes und Warmes. »EIER!« schrie er. 109
»Gut gemacht!« rief der Große John hinauf. »Wie viele?« »Weiß nicht«, keuchte Robin. Er konnte die zitternden Finger nicht still halten. Nur zwei! Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es ihm, eins zu nehmen; ohne es anzusehen, steckte er es in die Tasche. »Mach sie nicht kaputt«, rief der Große John. »Nimm sie in den Mund.« »Der Esel«, dachte Robin, »glaubt er, das wären Rotkehlcheneier?« Er blickte nach unten, und dieser einzige Blick hätte fast genügt, ihn abstürzen zu lassen. Die Brüder standen zwergenhaft klein am Fuß des Baumes, ihre Gesichter wie weiße Papierfetzen. Winzige Borkenstückchen, die sich unter seinen Füßen gelöst hatten, schwebten nach unten, der Verborgene Weiher sah nicht größer aus als ein Entenpfuhl. Robin hielt den Atem an, ihm war schwindlig. Wie eine riesige grüne Schüssel erstreckte sich nach allen Seiten der Forst von Brendon, jenseits sah er wellige Wiesen und das sonnenbestrahlte Hügelland. Die kleinen Bauernhöfe sahen wie Spielzeug aus. Er konnte den Park von Brendon erkennen und das große rote Herrenhaus zwischen seinen Terrassen und an einer Seite den See. Uff! Es war schrecklich! Er schloß wieder die Augen und begann abzusteigen, wobei er versuchte, nicht mit der Tasche an einen Ast zu stoßen. Einen hohen Baum hinunterzuklettern ist schlimmer, als ihn zu ersteigen, denn man muß nach unten schauen, um zu sehen, wohin man den Fuß stellt. Dieser Abstieg war wie ein Alptraum, tatsächlich tauchte diese Kletterpartie noch viele Jahre später in Robins Träumen auf und quälte ihn. Aber schließlich war das Schlimmste vorbei, Bäume und Büsche nahmen wieder ihr normales Aussehen an, er fühlte sich nicht mehr wie ein winziges Insekt am Rande eines Abgrunds. Immer tiefer ging es, und schließlich stand er auf dem 110
untersten Ast. Seine Füße tasteten nach dem dürren Kiefernstamm, und im nächsten Augenblick landete er mit gestreckten Füßen im weichen Farn. Was für ein Anblick! Seine Arme und Knie waren rot und wund, seine Augen voller Borkenstaub, das Gesicht kohlschwarz. »Zeig uns das Ei«, sagte der Große John eifrig, »zeig es her.« Robin steckte die Hand in die Tasche und zog das runde harte Ding heraus, das ihn soviel Mühe und Mut gekostet hatte. Da lag es in der Wölbung seiner harzverschmierten Hand, ein kostbarer Schatz. Es war beinahe rund, der weiße Untergrund war fast verborgen unter den üppigen rotbraunen Flecken. »Hah!« keuchte der Große John, »wie schön! Warum hast du nicht alle genommen?« »Du Esel«, Robin war empört, »es waren nur zwei, und eigentlich hätte ich auch dies nicht nehmen sollen. Aber ... aber nach diesem Aufstieg mußte ich es einfach.« Er nahm das Ei und drehte es hin und her. War nicht dieses Bussardei der kostbarste Preis, den es geben konnte? »O Gott«, stöhnte Robin unwillkürlich, »dieser schreckliche Aufstieg hat sich doch gelohnt.« »Was für ein schrecklicher Aufstieg?« fragte der Kleine John. »Es war doch ein leichter Baum, oder nicht?« »Ein leichter Baum«, antwortete Robin voller Verachtung. »Ich möchte einen von euch da oben sehen! Ich dachte, ich würde es nie schaffen. Man kann von oben meilenweit sehen, Brendon und die Hügel und den ganzen Forst.« Dann merkte er, daß seine Brüder sich hier unten auf der Erde diesen atemberaubenden Anblick nicht vorstellen konnten, sie konnten nicht ahnen, welche schrecklichen Qualen er da oben im Wipfel der Kiefer ertragen hatte. Aber jetzt spürte er in sich eine Glut, die ihn wärmte wie ein Feuer. Er hatte seine Feigheit und den Schwindel überwunden, sein Mut hatte den Sieg davongetragen. Und dieses kostbare Ei war es wert, es war ein unschätzbares Juwel. »Es fühlt sich ziemlich schwer an«, sagte der Große John, 111
der es gegen das Licht hielt. »Es wird schwierig sein, es auszublasen.« Robin nahm das Ei. »Gib es mir, du wirst es zerbrechen.« Über sich hörten sie wieder den Katzenschrei und sahen beide Vögel über den Eichen ihre Kreise ziehen. Sie bewegten die auffällig gestreiften und gefleckten Schwingen kaum. Robin beobachtete sie und kam sich plötzlich gemein vor. Schade, daß nur zwei Eier im Nest gewesen waren! Aber Bussarde legen allerhöchstens drei Eier. Vielleicht waren die Vögel darum so selten. Er betrachtete das Ei in seiner Hand. Es war eine Schande, es zu nehmen, eine elende Schande. Oben im Gipfel der Kiefer war ihm die wirkliche Bedeutung seiner Handlung nicht bewußt geworden. Es war ein so schönes Ei, und diese Tortur noch einmal durchzumachen, war undenkbar. Er hielt das Ei gegen das Licht, wie John es getan hatte. Wenn das Ei frisch ist, ist es durchscheinend. Aber durch dieses konnte man nicht hindurchsehen, es war wolkig und fleckig. Es fühlte sich auch komisch an. Dann schüttelte er es an seinem Ohr. Plötzlich wußte er, daß alles in Ordnung war. Er brauchte nicht daran zu denken, seinen Schatz zurückzubringen. Das Ei war faul. Wenn er es schüttelte, hörte er drinnen die Flüssigkeit platschen, das war ein sicheres Zeichen. Er atmete tief, es war ein zufriedener und erleichterter Seufzer. Es war, als sei er von einer freundlichen Vorsehung für seinen Mut belohnt worden. Er brauchte sich keine Gewissensbisse zu machen, weil er diese kreisenden Vögel, deren Existenz so gefährdet war, beraubt hatte. Als sie ins Lager zurückgekehrt waren, bliesen sie ihr kostbares Ei aus. Der Gestank war entsetzlich. Robin hatte später dieses Ei immer noch in seiner Sammlung, und immer wenn er es betrachtete, erinnerte er sich wieder an seine große Prüfung.
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Eine Woche nach Robin Hoods großem Abenteuer kam der Große John eines Morgens atemlos vor Aufregung ins Lager gerannt. Er hatte in der Nähe der Lichtung Brennholz gesammelt, da hatte er, so erzählte er, ein lautes Summen gehört, und als er aufblickte, hatte er eine dunkle Wolke von Bienen gesehen, die das Ende eines alten Eichenstumpfs umschwärmten. »Es sind Millionen«, keuchte der Große John, »sie schwärmen genau wie Rumbolds Bienen. Können wir den Schwarm nicht einfangen?« Die anderen sprangen auf und liefen hinter ihm her. Im strahlenden Sonnenschein, der eine der vielen kleinen Waldlichtungen überflutete, wies der Große John auf den Rest eines Eichenstammes. Er war offensichtlich hohl, und um seine Krone verdunkelten Bienen den Himmel wie ein kleiner Sandsturm. »In dem Baum ist bestimmt Honig«, sagte der Große John. »Wenn wir ihn nur herausholen könnten. Honig hält sich jahrelang, wenn die Waben nicht zerstört werden. Das wäre doch prima, wenn wir Honig hätten.« »Da fliegt der Schwarm«, rief der Kleine John aufgeregt. »Die alte Königin ist weggeflogen und hat ihren Anhang mitgenommen. Laßt uns hinterherlaufen.« »Das ist hoffnungslos«, sagte Robin, »sie können meilenweit durch den Wald fliegen, bevor sie sich sammeln.« Aber die Bienen flogen nicht weit. Mit einem tiefen Summen, das erschreckend klang, flogen sie über die Lichtung und ließen sich alle auf einem Weidenzweig nieder. Bald begann sich der Zweig unter der Last des großen braunen, ziemlich widerlich aussehenden Klumpens aus glitzernden Insekten zu senken. Schließlich sah es aus, als hinge da ein prall gefüllter Einkaufsbeutel. »Wenn wir nur einen Korb hätten, um den Schwarm aufzufangen«, rief der Kleine John. »Können wir keinen machen?« Robin saß in Gedanken versunken da und beobachtete den Schwarm, der jetzt regungslos dahing. »Ich hab's. Wir flechten einen aus Stroh wie den, den 113
Rumbold hat. Es geht ganz leicht. Ich hab einmal zugesehen, wie er es machte.« »Aber wir haben kein Stroh.« »Nein, aber wir können langes, trockenes Gras nehmen. Davon gibt es genug auf den Schneisen. Los, kommt!« Sie fanden genug dürres Gras und rissen ganze Arme voll davon aus. Robin begann, dicke Seile daraus zu drehen, so, wie er es bei Rumbold gesehen hatte. Bald hatten sie ein langes festes Seil. Nun wickelten sie daraus, während sie den Strang die ganze Zeit weiterdrehten, eine Art kegelförmigen Hut. Sie banden die einzelnen Runden mit Brombeerranken zusammen, und in erstaunlich kurzer Zeit hatten sie einen ganz fachmännisch aussehenden Bienenkorb hergestellt. »So, jetzt haben wir das Ding«, bemerkte Robin. »Ich wette, wenn wir auf die Lichtung kommen, sind die Bienen weg.« Aber sie waren nicht weg. Der große glitzernde Beutel hing immer noch an dem Weidenzweig, keine zwei Meter über dem Boden. »Es ist alles in Ordnung«, sagte Robin, der allerhand über die Lebensweise dieses geheimnisvollen Völkchens wußte, das so schwer arbeitet und in so geordneten Gemeinschaften lebt. »Ich glaube nicht, daß sie jetzt noch wegfliegen. Wir warten noch ein wenig, bis die Sonne untergeht, dann holen wir den Schwarm. Aber zuerst müssen wir überlegen, wohin wir ihn bringen. Wir dürfen ihn nicht zu nahe an unserem Baum haben. Wir verstecken den Korb irgendwo auf einer offenen Stelle in der Nähe, wo wir ihn vom Lager aus leicht erreichen.« Nach kurzem Suchen hatten sie die Stelle gefunden, sie war in zehn Minuten von der Eiche aus zu erreichen, und dort befand sich, als sei er eigens dort hingestellt, ein Eschenstumpf, der einen natürlichen Tisch bildete. Der Stumpf war etwas über einen Meter hoch, oben ziemlich eben, und darauf wollten sie den Korb stellen, nachdem sie den Schwarm eingefangen hatten. Robin löste ein wenig von ihrem kostbaren Zucker in 114
Wasser und bespritzte damit die Innenseite des Heukorbes. »Sie sollen sich zu Hause fühlen«, sagte Robin, »sie haben es gern, wenn der neue Korb innen süß riecht.« Jetzt mußten sie noch die Bienen einfangen, und es erforderte einigen Mut, sich dem glitzernden, krabbelnden Beutel zu nähern. Diese kleinen Wesen hatten genug Gift in sich, um die Jungen mehr als einmal zu töten. Aber sie hatten oft zugesehen, wie Rumbold einen Schwarm einfing, und hatten sogar dabei geholfen. Nie waren sie gefährlich gestochen worden. Als die Sonne fast untergegangen war, breiteten sie die Jacke des Kleinen John flach auf dem Boden aus und stellten den Korb darauf. Beides hoben sie dann auf einen flachen Lehmhügel. Am unteren Rand des Korbes ließen sie einen kleinen Eingang. Vor dieses Loch legten sie ein flaches Stück Holz, das sie mit einem weißen Taschentuch bedeckt hatten. Das Holz lag ein wenig schräg, so daß es eine kleine Leiter bildete, die zum Eingang führte. Dann schnitt Robin den Zweig oberhalb des Schwarms ganz vorsichtig durch. Er bewegte sich dabei ganz langsam und vorsichtig, so, wie er es bei Rumbold gesehen hatte, und ganz sanft senkte sich der Schwarm auf die ausgebreitete Jacke vor der »Leiter« zum Bienenkorb. Die Bienen fanden bald die kleine Brücke. Zuerst ging die Königin, und hinter ihr der ganze Zug. Es dauerte einige Zeit, bis alle Bienen hineingekrochen waren, aber sie taten so, als wüßten sie, daß hier ein neues Haus für sie bereitet war. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie nicht wieder wegfliegen«, sagte der Kleine John, »ich finde, sie sind wirklich äußerst zuvorkommend.« Als es endlich dunkel war, hatten sich alle Bienen zu Bett begeben, und die Jungen trugen den Korb, in dem es ärgerlich brummte – zu der kleinen Lichtung und stellten ihn auf den Baumstumpf. Robin befestigte vor dem Eingang ein Brettchen, das als Landestelle dienen sollte. Sie zogen ganz vorsichtig die Jacke unter dem Korb weg, aber die meisten Bienen hatten sich, wie Robin vorhergesehen hatte, oben in der Wölbung niedergelassen. 115
Als sie die Stelle am nächsten Morgen besuchten, hatten sich die Bienen schon in ihrem neuen Heim eingerichtet und mit der Arbeit begonnen; sie flogen ein und aus, genau wie Rumbolds Bienen im Obstgarten daheim. »Wann werden wir denn Honig bekommen?« fragte der Kleine John. »Wie lang müssen wir noch warten?« »Nun, vielleicht bis August. Die Königin ist alt und wird eine Menge Eier legen.« »Was ist denn mit der jungen Königin?« fragte der Kleine John, der offensichtlich noch nicht viel über die Lebensweise der Bienen wußte. »Oh, die ist noch in dem alten Baum. Und dabei fällt mir ein, Jungs, wir müssen uns das alte Nest ansehen. Wenn wir nur in den Baum hineinkommen könnten, wir würden bestimmt pfundweise Honig finden.« Als sie den Eichenstumpf genau untersuchten, bemerkten sie, daß er, wie das meist bei Bäumen ist, in denen Bienen nisten, hohl war. Ein Mensch konnte aufrecht in der Höhlung stehen, und über dem Kopf konnte man das Summen des Bienenstocks hören. Das Holz schien faul zu sein, und sie hackten und stocherten so lange darin herum, bis sich ein Stück modriges Holz löste und ein paar Bienen aus dem Nest darüber herunterfielen. Eine landete auf Robins Hals und stach ihn prompt. Wenn sie den Honig nehmen wollten, mußten sie schnell handeln, denn die Bienen oben begannen, mißtrauisch zu werden. Die Jungen entzündeten in der Baumhöhle schnell ein Feuer und legten vermodertes Laub und Moos darauf, so daß ein dicker weißer Qualm entstand. Dieser kam bald oben aus dem Stumpf in einer dicken gelb-bläulichen Spirale herausgequollen, und die Bienen, die den erstickenden Gestank nicht ertragen konnten, begannen, das Nest zu verlassen und auf die umgebenden Bäume zu fliegen. Viele fielen halb betäubt innerhalb der Höhle zu Boden, und der Große John wurde dreimal in den Kopf und den Hals gestochen. Als aus dem oberen Loch keine Bienen mehr herauska116
men, machte sich Robin noch einmal an das faule Holz über seinem Kopf. Plötzlich gab es nach, fiel in Brocken herunter, und da waren die Waben, eine über der anderen, in vollkommen symmetrischen Lagen an der inneren Rinde des Eichenstumpfes festgeklebt. Die oberen Waben hatten eine tiefbraune, fast mahagonibraune Färbung. »Das sind die alten Waben«, sagte Robin, der jetzt die goldenen Schätze löste und seinen Brüdern herunterreichte. »Die oberen sind immer so dunkel. Die Bienen müssen jahrelang hier gewohnt haben. Mein Gott. Es muß fast ein halber Zentner Honig hier drin sein.« Und so war es auch. Der alte Honig schmeckte so gut wie der neue, obwohl er wohl zehn Jahre, vielleicht noch länger hier gelegen hatte. Mit Bienenstichen bedeckt und honigverklebt kamen die Vogelfreien mit ihrer Beute auf ihre Lichtung zurück. Sie verstauten die Waben in einer Höhlung ihres Eichbaumes und bedienten sich, sooft es sie danach gelüstete. Jetzt brauchten sie nicht mehr auf Süßigkeiten zu verzichten. Der Wald hatte sie versorgt. Die Bienen in ihrem Korb lebten sich gut ein und hätten den Vogelfreien ganz sicher im Herbst eine zweite goldene Ernte geliefert, hätte nicht irgendein Tier – Robin meinte, es wäre ein Dachs gewesen – eines Nachts den Korb aufgebrochen und sie aller Bienen beraubt.
KAPITEL 9
Bunting Für Tante Ellen und die Polizei war es unbegreiflich, wie Harold aus dem Witwensitz entkommen konnte. Sein Schlafzimmer war von außen abgeschlossen – hatte die Tante es nicht selbst am Morgen aufgeschlossen? Und eingehende Untersuchungen unter dem Fenster hatten 117
keine Spur von Fußabdrücken ergeben. Aber irgendwie war er aus dem Haus entkommen, und, was noch seltsamer war: er hatte verschiedene Sachen aus der Küche mitgenommen. Wachtmeister Bunting kam zu dem Schluß, daß die Brüder ins Haus eingebrochen waren, die Schlafzimmertür aufgeschlossen und die Küchenschränke geplündert hatten. Daraufhin wurden alle Fenster und Türen untersucht, aber es fand sich keine Spur, die verraten hätte, wie die Jungen ins Haus gekommen waren. Die Kohlenschütte wurde seit Jahren nicht mehr benutzt, man hatte sie ganz vergessen. Sie war hinter dem Strauchwerk verborgen und von außen nicht zu sehen. Aber hätte Wachtmeister Bunting sorgfältiger gesucht, wäre er bestimmt darauf gestoßen. Aber so wurde sie nicht gefunden, und für alle Beteiligten blieb die Sache vollkommen rätselhaft. Seitdem man die Jungen im Hochwald entdeckt hatte, wurden dieser und die angrenzenden Wälder natürlich sorgfältig überwacht. Aber die Flüchtlinge blieben auf so rätselhafte Weise verschwunden, wie sie gekommen waren. Tante Ellen hatte inzwischen aufgehört, sich aufzuregen. Sie hatte resigniert und ging mit einer Märtyrermiene umher. Seit der Treibjagd im Hochwald war die ganze Sache natürlich in die Schlagzeilen geraten, nicht nur in der örtlichen Presse, sondern auch in Londoner Zeitungen. In Leserbriefen wurden Vorschläge gemacht, wie man der Jungen habhaft werden könnte; manche waren recht originell. Der ›Morning Star‹ bot – auch aus Reklamegründen – eine beachtliche Belohnung für jeden Hinweis an, der zur Entdeckung der Jungen führen würde, und das brachte alle Amateurdetektive nah und fern auf die Beine. Der Wirt »der Jagdklause« klagte über das Ausbleiben der Stammgäste. Viele von ihnen waren draußen und durchsuchten Wiesen und Wälder. Sir William fuhr in seiner Verzweiflung an die Riviera und versuchte, alles zu vergessen. Wachtmeister Bunting aber, der sich gern als Held erweisen wollte, strich nach Einbruch der Dunkelheit um 118
den Witwensitz. Er glaubte, da die Jungen gekommen waren, um sich Lebensmittel zu holen, würden sie auch wiederkommen; man mußte nur aufpassen und abwarten. Er verbrachte manche mühsam durchwachte Nacht in den Büschen oder auf den verschiedenen Dachböden der Ställe in der Gesellschaft von Eulen, Ratten und Mäusen. Die Tage vergingen, keine Nachricht kam von den freiwilligen Helfern, und nach einer Weile begann sich der Schankraum der »Jagdklause« wieder allabendlich zu füllen, und es gab auch anderen Gesprächsstoff als »diese Bengels«. Wachtmeister Buntings Ruf war auf dem Tiefstand. Jedermann sagte, da könne man sehen, wie machtlos die Polizei sei und wie leicht es für Verbrecher sei, davonzukommen. Die Jungen hatten natürlich kein Verbrechen im Sinne des Gesetzes begangen, es sei denn, Rumbold hätte sie wegen Diebstahls anzeigen wollen. Aber das wäre natürlich nicht angebracht gewesen, denn die Jungen hatten die Flinte nicht »gestohlen«, sondern nur »geborgt«, und würden sie sicher in allen Ehren zurückgeben, sobald sie des Lebens im Wald müde waren. Man hätte sie vielleicht wegen Vagabundierens festnehmen können, sogar wegen Herumtreibens ohne ersichtliche Einkünfte zum Lebensunterhalt – falls Tante Ellens Behauptung stimmte: daß sie kein Geld bei sich hatten. Tatsächlich hatte der Kleine John aber fünfzehn Schilling in Silber in seiner Börse, so daß diese Anklage auch nicht standgehalten hätte. Es war alles sehr kompliziert. Tatsächlich war Tante Ellen ein wenig erleichtert, als sie hörte, daß man die Jungen im Hochwald gesehen hatte. Sie lebten also noch und waren gesund. Natürlich war es sehr unrecht von ihnen, einfach davonzulaufen, unrecht war ein viel zu schwacher Ausdruck; trotzdem war sie erleichtert. Der Juni zog sich in brütender Hitze dahin. Es war ein Heujahr wie noch nie. Eine Rekordernte. Die Landarbeiter verzehrten ihr Mittagsmahl an den Grabenrändern unter 119
den Hecken, und dabei bildete das Verschwinden der Jungen immer noch das Hauptgespräch. »Man wird sie im Hochwald fangen, ihr werdet sehen.« »Ich glaub nicht, daß die da sind, die verstecken sich auf irgendeinem Dachboden oben in Dower House.« Niemand dachte an den Forst von Brendon ... niemand außer Wachtmeister Bunting. Der Forst von Brendon lag zwar nicht mehr in Buntings Amtsbereich, aber er rief jeden Abend Wachtmeister Cornes im Gasthaus »Zu den Märtyrern« an, das sieben Kilometer von Cherry Walden entfernt war. Wachtmeister Cornes hatte sich auf Buntings Bitte hin in der Umgebung des Forstes von Brendon umgeschaut. Er hatte Smokie Joe, den Köhler, aufgesucht, aber Smokie hatte nichts bemerkt, er hatte auch keine Schüsse gehört und keine Anzeichen von Feuer gesehen. Das war nicht überraschend. Smokie Joe war nicht mehr der Jüngste, er sah nicht mehr gut und hörte noch schlechter. Eine ganze Horde von Vogelfreien hätte einen Kilometer von ihm entfernt kampieren können, und er hätte nichts gemerkt. Er blieb meist in der Nähe seiner kleinen Blockhütte. Nur samstags stapfte er gelegentlich die sechs Kilometer bis Cheshunt Toller, dem nächsten Dorf, machte dort seine spärlichen Einkäufe – und trotzte dem Spott der Dorfjugend. Er lebte allein mit seinem Hund, einer Mischung aus Spaniel und Terrier – dazu kamen noch ein paar Hühner und Schweine. Wasser holte er aus einem alten Brunnen hinter seiner Hütte und schoß gelegentlich ein Kaninchen oder einen Fasan. In harten Wintern hatte er auch schon einmal ein Reh gewildert, das er an Samuel Snigg, den Metzger in Cheshunt Toller, verkaufte. Smokie war ein verhutzelter, bärtiger kleiner Kerl mit einer häßlichen Geschwulst an der Nase. Zu jeder Jahreszeit trug er ein Lederwams, das von einem breiten Lederriemen zusammengehalten wurde, und einen komischen alten kegelförmigen Filzhut. Kurz gesagt, er war eine recht malerische Erscheinung. Sein ganzes Leben hatte er in Wäldern zugebracht, wie 120
schon seine Vorfahren seit vielen Generationen; Bäume lagen ihm im Blut. Im Dorf erzählte man sich, er sei ein Zauberer und könne Warzen und Kröpfe heilen. Aber seine schreckliche Nase, die ihn wie einen verhutzelten alten Zwerg aussehen ließ, konnte er offenbar nicht heilen. Seinen Hund liebte er wie einen Bruder, er war seine einzige Freude, sein ständiger Gefährte, sein Augapfel. Wenn er während der Sommermonate nicht mit seinen Meilern beschäftigt war, mähte er Gras auf den Schneisen in der Nähe seiner Hütte. Der Forst war für ihn kein Gegenstand der Bewunderung oder des Entzückens, aber seine Kenntnisse im Bereich der Natur waren umfassend, besonders über Vögel und Schmetterlinge wußte er viel. Hätte er das Kohlebrennen aufgeben und in eins der neuen Gemeindehäuser in Cheshunt Toller ziehen sollen – wie man ihm vorgeschlagen hatte – er wäre todunglücklich gewesen. Der Wald war sein Element, wie die See das des Seemanns. Vielleicht glich der Forst von Brendon wirklich manchmal der See. Smokie dachte das oft, wenn er in wilden Winternächten den Sturm in den Bäumen brausen hörte, oder im Sommer, wenn sich die mächtigen Eichen im Weststurm beugten und rauschten. Manche Leute behaupteten, Smokie sei ein reicher Mann und habe einen Schatz in seiner Hütte versteckt. Man rätselte darüber, wo er das Gold wohl verborgen hatte: in der Matratze, einem mit Farnkraut gefüllten Sack, oder irgendwo im Schornstein. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, machte er gründlich sauber. Auf manche Weise war er einem Dachs sehr ähnlich. Er brachte die schmutzigen alten Säcke nach draußen, schüttelte das Farnkraut vom vergangenen Jahr heraus und füllte sie mit frischen getrockneten Wedeln. Sein Gewehr war ein alter Vorderlader, eine wunderliche Waffe mit einer trichterförmigen Mündung und einem Lauf, der mit Messingbändern an dem hölzernen, mit Kerben bedeckten Kolben befestigt war. Man erzählte sich, daß es einmal dem Wächter der Postkutsche London-Bren121
don gehört habe. Wie er dazu gekommen war, wußte niemand. So war der alte Smokie Joe: ein wenig Zauberer – wer sonst konnte ganz allein an einem solchen Ort leben? – ein Sonderling, halb Zigeuner, halb Wilddieb, der sich nichts aus menschlicher Gesellschaft machte, sich außerdem seines entstellenden Gebrechens bewußt war. Aber auch die anderen mieden ihn, Smokie, der ledern war wie eine alte Schildkröte, verhutzelt wie ein alter Affe, hart wie Eisen und, wie manche behaupteten, stark wie ein junger Mann. Niemand wußte, wie alt er war, Smokie selbst wußte es nicht. Die Zeit kümmerte ihn nicht, er ordnete seine Tage nach der Sonne und den Jahreszeiten. Wachtmeister Cornes bekam nichts aus Smokie Joe heraus. Nur sehr wenigen gelang das. Und Smokies Hund hätte den Wachtmeister beinahe ins Bein gebissen. Er lief mit einer von Wachtmeister Cornes Hosenklammern davon, und Cornes bekam sie nie zurück. Er war so wütend, daß er Smokie beinahe nach der Hundemarke gefragt hätte, besann sich aber noch rechtzeitig. Bunting, der Cornes nicht besonders mochte, weil dieser so melancholisch war und selten lachte, beschloß, selber in den Forst von Brendon zu fahren und sich dort umzuschauen. Man konnte nie wissen. Die Jungen waren vielleicht doch da, ohne daß Cornes oder Smokie Joe sie bemerkt hatten. Also holte der Wachtmeister eines Tages Anfang Juli sein Fahrrad heraus und verließ Cherry Walden in Richtung Brendon. Unglücklicherweise hatte er sich einen heißen Tag ausgesucht, es wurde wirklich der heißeste Tag dieses sehr heißen Sommers. Wir sehen ihn also, diese vierschrötige majestätische Gestalt, die Straße nach Brendon dahinstrampeln, korrekt in jeder Einzelheit seiner Uniform, die weißen Handschuhe vorn in den Uniformrock geschoben, die Knöpfe glänzend poliert, die blaue Tuchuniform – am Hosenboden schon ein bißchen glänzend – von Mrs. Bunting sorgfältig gebürstet. 122
Seht nur, wie diese mächtige Festung des Gesetzes unaufhaltsam die schattige Straße entlang unter den Linden vorrückt! Damals waren die Straßen noch nicht asphaltiert wie heute, es gab keine betonierten Autobahnen mit weißen Streifen. Die Straße nach Brendon war nur wenig breiter als ein Feldweg, und sie war weiß von Staub, der hinter Buntings Fahrrad wie eine kleine Rauchfahne hochwirbelte. Die Straße nach Brendon steigt und fällt abwechselnd durch eine freundliche, baumreiche Landschaft. Sie führt durch zwei Dörfer und über vier Kanalbrücken und überquert schließlich, kurz bevor sie das Wirtshaus »Zu den Märtyrern« erreicht, den Blindbach, den gleichen Bach, der seinen Ursprung in dem wunderbaren Blinden Weiher hat. Beim Wirtshaus »Zu den Märtyrern« hat der Bach schon viel von seiner Wildheit verloren, er fließt ruhig und klar in seinem Bett aus Kalkstein, wedelt mit den Mähnen der Wasserpflanzen und spielt in den breiten Schilffeldern, in denen die schneeweißen Dorfenten funkelnde Bahnen ziehen. Hinter der Brücke vor dem Wirtshaus fließt der Bach weiter durch freundliche Wiesen nach Brendon Park, dem Sitz des Herzogs von Brendon. Hier ist sein gezähmter Lauf den Blicken gewöhnlicher Sterblicher entzogen. Als Bunting die Brücke vor den »Märtyrern« erreichte, war es ihm heißer als je zuvor in seinem Leben. Er stieg ab, nahm den Helm ab und trocknete sich die Stirn mit einem sehr weißen Taschentuch. Während er dastand und in die kühlen Wasser des Blindbaches schaute, die in der Sonne funkelten, hörte er ein Fahrzeug herankommen. Er dachte zuerst, es wäre ein Traktor, aber dann ratterte das uralte Auto des Weißfischs um die Biegung. Es kam schüttelnd und stampfend durch die Hitze daher, ratterte in einer Staubwolke an Bunting vorbei und hinterließ diesen, von Kopf bis Fuß mit weißem Kalkstaub bedeckt. Der Pfarrer, der seine ganze Aufmerksamkeit darauf 123
gerichtet hatte, sein erstaunliches Vehikel in der Mitte der engen Brücke zu halten, hatte Bunting nicht einmal gesehen. Dieser beobachtete, wie die stampfende Maschine bei den »Märtyrern« keuchend um die Ecke bog, klopfte sich mit dem Taschentuch den Staub von der Uniform und schwang sich wieder aufs Rad. Es war kurz nach Mittag. Diese Tatsache wurde von der Kirchturmuhr verkündet. Bunting war nicht nur sehr erhitzt, er war auch sehr durstig. Obwohl ein Polizist im Dienst keine alkoholischen Getränke zu sich nehmen darf, waren die Umstände in diesem Fall doch außergewöhnlich. Er würde sich, bevor er in den Wald fuhr, in den »Märtyrern« einen genehmigen. Er lehnte sein Rad unter dem Wirtshausschild, auf dem ein bärtiger Mensch im Nachthemd und von Pfeilen durchbohrt abgebildet war, an die Wand und betrat den kühlen Schankraum, in dem es nach Bier roch. Der Raum war leer, denn es war noch früh. Ausgezeichnet; er konnte also einen trinken. Der Wirt, der zufällig Buntings Schwager war, hieß ihn herzlich willkommen, und als Bunting einen halben Liter bestellt hatte, stieg er in den kleinen kühlen Keller hinter der Theke hinunter, wo an der geweißten Wand nebeneinander drei Fäßchen standen. Das Geräusch des Biers, das langsam in den großen Humpen floß, war himmlische Musik. Bunting zog an seinem gewichsten Schnurrbart und starrte feierlich die ausgestopfte Forelle über dem offenen Kamin an. Im Schankraum herrschte eine seltsame Beleuchtung. Das Sonnenlicht wurde draußen von der grellweißen Kalkstraße reflektiert und fiel schräg von unten durch die Fenster. Fliegen umkreisten träge einen Fliegenfänger, der von der Gaslampe mitten im Raum herunterbaumelte. Bunting hielt den Blick fest auf die Dorfstraße gerichtet, für den Fall, daß jemand sehen sollte, wie er seinen Durst stillte. »Heiß heute, Tom«, sagte der Wirt und stellte den kühlen, schäumenden Krug auf den Tisch und fuhr mit einem Lappen über die Theke. 124
»Stimmt, Ernie.« Bunting ergriff den Humpen und leerte ihn hastig. »Ich hab unter der Brücke da 'ne schöne Forelle gesehn.« »Ja, da gibt's schöne Fische.« Der Wirt schnüffelte und schenkte sich auch einen Viertelliter ein. »Das beste, was man an so einem Tag sein kann«, sagte Bunting: »ein Fisch. So schön im Kühlen herumschwimmen.« »Tja. Na Tom, wie geht's denn?« »Ach, so-so, Ernie. Mabel geht's gut und den Kindern auch. Ich soll dich von ihr grüßen, sie hätte dich schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen.« »Ihr habt wohl nichts mehr von den jungen Herrchen gehört?« fragte der Wirt. »Es steht in allen Zeitungen; aber das weißt du ja.« »Nein, noch nicht«, antwortete Bunting und schüttelte feierlich den Kopf. »Ist aber nur eine Frage der Zeit, nur eine Frage der Zeit, Ernie.« »Würd mich nicht wundern, wenn sie im Forst wären«, sagte der Wirt. »Die Frau sagt, sie vermutet, daß sie da drin sind. Es ist ein großer Wald.« Bunting schüttelte wieder den Kopf. »Cornes hat sich immer wieder da rumgetrieben, hat aber nichts gesehen. Smokie Joe hat sie wohl auch nicht gesehen?« »Smokie Joe!« der Wirt lachte. »Smokie Joe würd nicht mal sehen, wenn 'ne ganze Armee auf seiner Türschwelle säße. Willst du dich mal im Forst umgucken, Tom? Ein heißer Job an so einem Tag!« »Ich weiß noch nicht.« »Ich will ja nicht neugierig sein, Tom«, sagte der Schwager, »aber es könnte sich lohnen, wenn du dich mal umschaust. Unter uns gesagt«, fügte er hinzu und lehnte sich dabei über die Theke, »Cornes ist nicht gerade ein eifriger Beamter, du weißt, was ich meine, nimmt's ein bißchen zu leicht. Ein netter Kerl, o ja, ich hab nichts gegen ihn. Aber er macht's sich entschieden zu leicht. Denk nur an 125
die Heuschober Seiner Gnaden in Yoho, die vor zwei Jahren angezündet wurden – na, ich meine nur ...« Bunting hatte nicht die Absicht, über einen Kollegen zu diskutieren, nicht einmal mit seinem Schwager. »Also Ernie, ich mach mich mal wieder auf die Beine. Vielen Dank, du weißt schon wofür.« Bunting zwinkerte und wies mit dem Kopf auf den Humpen. »Ich schau auf dem Heimweg noch mal vorbei.« »Wiedersehn, Tom. Bis später.« »Tschüß!« Bunting trat aus dem kühlen Schankraum und hatte das Gefühl, in ein Treibhaus zu kommen. Er blies die Backen auf und strich sich verstohlen über den Schnurrbart. Er wünschte, er hätte die Sache auf einen kühleren Tag verschoben. Es war noch ein gutes Stück bis zum Forst. Er bestieg sein Fahrrad von hinten. Er stellte den linken Fuß auf die Hinterradachse, stieß sich mit dem rechten Fuß ab, schwang sich hoch und ließ sich mit eindrucksvoller, fast anmutiger Würde auf den Sattel heruntersinken. Bald war nichts mehr zu hören als das knirschende Schleifen der Räder auf der staubigen Straße. Sein blauer Schatten glitt vor ihm her; er hatte das Gefühl, als bohre sich die Sonne in seinen breiten Rücken. Hinter dem Wirtshaus »Zu den Märtyrern« verläuft die Straße mindestens drei Kilometer ohne Bäume, bis man den Ort erreicht, der sich des eigenartigen Namens Yoho erfreut. Auf dieser Strecke reichen zu beiden Seiten Kornfelder bis an die Straße heran, eingefaßt von niedrigen Mauern aus dem Kalkstein der Gegend. Diese Steinwälle schienen die Hitze zurückzustrahlen, so daß die Straße wirklich einem Backofen glich. Lerchen trillerten in der Höhe, und auf den Gatterpfosten saßen Grauammern und verfolgten Bunting mit ihrem aufreizend monotonen Gezwitscher. Kein Baum! Nur ein zwei Hände breiter Schatten von der linken Mauer, und der lag auf dem staubigen Grasrand. Bunting erreichte den Anfang einer langen Steigung und stieg ab. Jetzt aber! Die Straße streckte sich vor ihm wie ein 126
weißes Band in die Ferne, eingefaßt von ihren Steinwällen, bis sie am Ende auf das harte, unerbittliche Blau des Himmels stieß. Das Weiß des sonnenbestrahlten Kalksteins blendete ihn, ihm war schwindlig. Seine Hose war jetzt grau statt blau, und der Schweiß, der unter seinem Helm hervorrann, bildete auf seinen glattrasierten Wangen häßliche Rinnsale. Aber schließlich war die Kuppe des Hügels erreicht, und unter sich sah er den Flecken Yoho und dahinter zu seiner Linken den Forst von Brendon wie eine lange niedrige Wand von dunklen Bäumen. Bevor er den Ort erreichte – er bestand außer dem Haus des Arztes nur aus sechs Häusern, hatte weder eine Kirche noch einen Laden – kam er an einen Seitenweg, der auf den Wald zuführte. Wenige Augenblicke später hatte er die Ausläufer des Forstes erreicht. Dieser Weg führte in gerader Linie auf einer Länge von zwei Kilometern durch den Wald hindurch und schnitt so eine Ecke ab. Über der weißen Oberfläche schien die Luft zu zittern und zu tanzen, ihm kam es so vor, als schwankten die Bäume auf und ab. Schmetterlinge flogen von einer Seite zur ändern. Weit hinten an einer Seite erblickte er ein zitterndes Bild. War es ein Zigeunerwagen? ein Karren? eine Dampfwalze? Als er näher herankam, sah er, daß es ein Auto war, und ein wenig später, daß es das Auto des Pfarrers war. Wie ärgerlich! Hätte Bunting gewußt, daß der Pfarrer in den Forst fuhr, hätte er ihn bitten können, ihn mitzunehmen, und hätte sich diese schreckliche Radtour erspart. Ohne Zweifel war der Pfarrer hinter Schmetterlingen her. Als er das Auto erreicht hatte, schaute Bunting seitlich durch das Wildgatter. Tatsächlich, da war der Weißfisch. Er lief in ziemlicher Entfernung einen breiten, grasbewachsenen Waldweg entlang und verfolgte ein unsichtbares Insekt. Bunting nahm den Helm ab und trocknete sich den Schädel. Der Pfarrer hätte sich eine bessere Freizeitbeschäftigung aussuchen können, als hinter Schmetterlingen herzurennen ... zum Beispiel Golf, das hätte Bunting verstanden, aber Schmetterlinge und Käfer...! 127
Er hatte keine besondere Lust, dem Pfarrer zu begegnen. Er wollte die Straße entlanggehen, bis er zur nächsten Schneise kam, die, wie Cornes ihm gesagt hatte, auf die Hütte von Smokie Joe zuführte. Bunting war entschlossen, Smokie persönlich aufzusuchen und zu sehen, was er aus ihm herauskriegen konnte. Bunting war nicht ganz sicher, daß diese zweite Schneise die richtige war. Schließlich hatte er sie erreicht, schob sein Fahrrad durch das Wildgatter und lehnte es gegen eine Hecke. Wäre diese Schneise nicht so schmal und uneben gewesen, wäre er mit dem Rad gefahren, aber so schien es ihm besser, zu Fuß zu gehen. Cornes hatte gesagt, zu Smokies Hütte wäre es nicht mehr als ein knapper Kilometer. Bunting hatte geglaubt, es würde im Wald kühler sein, aber das stimmte nicht. Es war nicht nur heiß, bei jedem Schritt, den er tat, scheuchte er einen Schwarm von Fliegen auf, die seinen Kopf umsummten. Sie schienen nur auf ihn gewartet zu haben. Sie kitzelten ihn an den Ohren, an der Nase, verfingen sich in seinem Schnurrbart, krabbelten in dem kurzen Haar in seinem Nacken nach oben. Wenn er den Mund öffnete, um zu schnaufen, kamen sie ihm in den Hals. Er schnitt sich eine Gerte ab, wedelte damit heftig vor seinem Gesicht herum, was ihm einige Erleichterung verschaffte, aber immer noch brach die eine oder andere Fliege zu ihm durch. Ihr wahnwitziges Gesumm machte ihn fast verrückt. Die Schneise wurde immer schmaler und schrumpfte zu einem Pfad, zu einem wenig begangenen Pfad. Dieser teilte sich plötzlich. Bunting nahm die rechte Abzweigung, es gab keinen Hinweis dafür, welcher Weg der richtige war. Dann teilte der Pfad sich noch einmal. Das konnte nicht der Weg zu Smokie Joes Hütte sein. Er mußte zurück. Er drehte sich um und ging den Weg, den er gekommen war, zurück; plötzlich war er nicht mehr sicher, ob er wirklich schon hiergewesen war. Salweiden und Dornengestrüpp begleiteten ihn an beiden Seiten. Er kam 128
an eine Salweide, die quer über den Pfad gestürzt war. Jetzt wußte er: auf diesem Pfad war er vorhin nicht gewesen! Wachtmeister Bunting hatte sich verirrt, verirrt im elftausend Morgen großen Forst von Brendon! Er wußte nicht mehr, in welcher Richtung die Landstraße lag, und nur die Sonne konnte ihm weiterhelfen. Wachtmeister Bunting war wütend. Dieser blöde Idiot Cornes, Cornes hätte mitkommen und ihm den Weg zeigen sollen. Vielleicht traf er auf diesen verrückten Pfarrer. Erschöpft blieb er stehen. Der Himmel mochte wissen, wo er sich befand. Die Luft war erfüllt vom leisen spöttischen Summen der Fliegen, in den Tiefen des Gesträuchs ließ ein melancholisches Rotkehlchen ein paar traurige Töne fallen. Er roch das heiße Laub, das trockene Gras und die glänzenden Kuppeln der Eichen. Ein Eichelhäher kreischte, er sah ihn einen Augenblick zwischen dem Eichenlaub auftauchen. Plötzlich lief ihm der Schweiß unter dem Helm herunter. Wachtmeister Bunting kam sich dumm vor. Ein Polizist in voller Uniform mitten im Forst von Brendon! O Gott, wenn er nur diese Jungen schnappen könnte. Statt daß die Hitze im Laufe des Nachmittags nachließ, wurde sie nur noch drückender. Noch nie in seinem Leben hatte Wachtmeister Bunting eine solche Hitze erlebt. Er hatte hier einen freundlichen Schatten erwartet, einen angenehmen Spaziergang durch den Wald zu Smokie Joes Hütte, ein nützliches Gespräch und eine schöne Heimfahrt in der Kühle des Abends. Er dachte an den Blindbach. Wie er sich nach einem Bad sehnte! Bunting war ein großartiger Schwimmer. Er hatte bei einem Polizeisportfest einmal einen Preis für Wasserpolo gewonnen. Ermattet stapfte er weiter. Irgendwann mußte er doch auf eine Art Straße stoßen. Sein einziger Wunsch war jetzt, aus dem Wald herauszukommen. Er haßte die Bäume, die Büsche und diesen endlosen Farn. Einige Kiefern mit dunklen Mähnen tauchten über den 129
Eichen und Weiden auf. Die hatte er bestimmt noch nicht gesehen! Dann verlief sich der Pfad, dem er folgte, in einem Gewirr von Farnkraut und Brombeersträuchern, und siehe da!... er befand sich am Rand des Verborgenen Weihers. Das war eine Überraschung. Er hatte natürlich von dem Weiher als dem Ursprung des Verborgenen Baches gehört, aber er hatte ihn noch nie gesehen. Und plötzlich lag er hier vor ihm, ein dunkles stilles Gewässer, das unglaublich tief und kühl wirkte mit seinen weißen Seerosen, die sich der Sonne weit öffneten. Moorhühner flitzten ins Schilf, als er aus den Büschen trat, und eine Wildente floh laut quakend zum anderen Ende. Sie konnte nicht richtig fliegen, weil sie sich gerade mauserte. Sie humpelte flatternd mit großem Getöse über die Oberfläche des Wassers und verschwand schließlich in einem Weidengestrüpp. Das aufgewühlte Wasser beruhigte sich wieder. Kein Vogel rührte sich. Bunting hatte das Gefühl, daß viele kleine Wesen ihn beobachteten. Aber ach, das Wasser! Das dunkelgrüne Wasser, über dem die Mücken spielten und tanzten! Hier würde er jedenfalls eine Weile ausruhen, und er wollte schwimmen, ja, schwimmen! Ganz allein und ungesehen würde er, Wachtmeister Bunting, wieder ein Mensch sein. Einen Augenblick später lagen Helm, Jacke und Hose auf dem Boden. Er riß sich das Hemd über den Kopf; Stiefel und Socken, Unterhemd und Unterhose folgten. In der Nähe lag ein bemooster Baumstamm halb im Wasser. Bunting schritt diesen Stamm entlang. Seine Füße waren bloß, riesige schmutzige Füße, staubig vom Staub der vielen Kilometer seit Cherry Walden, befreit jetzt aus ihrem verschwitzten Gefängnis! Das Moos war elastisch, kühl, weich wie Samt. Wachtmeister Bunting stand jetzt hochaufgerichtet am Ende des Baumstamms. Das Wasser unten war tief, ein Schwarm silbriger Fische flitzte erschrocken davon. Jetzt 130
hob er die Arme über den Kopf. Bereit zum Sprung stand er da, nackt, weiß, mit rundem Bauch und ausgestreckten Armen in der heißen Sonne. Dann sprang er, das eisige Wasser schloß sich über seinem Kopf. Einige Meter vom Ufer entfernt kam er hoch, schüttelte sich wie ein fröhlicher Terrier das Wasser aus Nase und Ohren und schwamm los. Wie herrlich! Wie unbeschreiblich herrlich! Die Fahrt, diese lange Fahrt von Cherry Walden hierher hatte sich doch gelohnt. Ja, es hatte sich gelohnt! Seit Jahren war er nicht mehr geschwommen! Bunting kraulte quer durch den Weiher, drehte dann um und schwamm langsam im Bruststil zurück. Das Wasser spielte um seinen Mund. Er durchquerte einen Mückenschwarm, er roch den seltenen, blättrigen Tang der Waldgewässer. Er streifte die Seerosenfelder – spürte ein paarmal die unheimlich schlangengleichen Windungen ihrer Stengel an seinen stoßenden Beinen. Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich wie ein gekentertes, bauchiges Boot treiben und starrte in das sommerliche Blau. Oh, es war himmlisch! einfach himmlisch! Der Schweiß, die staubige Straße, die Gluthitze, die Fliegen, die Dornen–alles lag hinter ihm. Träumerisch ließ er sich treiben, ruderte mit leicht nach innen gebogenen Handflächen wie ein Waldschrat und starrte dabei in den Himmel. Wieder schrie in der Ferne ein Eichelhäher, nur einmal, dann lag wieder eine träumerische Stille über diesem Ort, diesem Paradies. Er ließ sich in den Schatten treiben, wo das Wasser plötzlich kalt wurde, das blendende Licht ausgesperrt war. Weidenzweige hingen über ihm. In der Nähe klagte ein Wasservogel. Oh, diese Erfrischung des stillen Wassers! Oh, diese kühle Umarmung des Verborgenen Weihers, die ihn emporhob!
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KAPITEL 10
Der Weißfisch Als Weißfischs Blechungetüm mit einem letzten japsenden Rülpser zum Stillstand kam, griff er als erstes auf den Rücksitz, um das Schmetterlingsnetz zu holen. Es war ein grünes Netz mit verstärkter Rute, das beste der Firma Watkins & Doncaster. Die zweite Handlung bestand darin, daß er sich seinen Rucksack über die Schulter warf, der folgendes enthielt: eine Flasche helles Bier, ein dickes Paket Schinkenbrote, ein hartgekochtes Ei und Radieschen und als letztes, sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt, einen Hühnerschenkel. Seine »Alte« war doch ein richtiger Schatz. Ohne sie wäre er arm dran. Das hatten ihm schon mehrere Leute, einschließlich Tante Ellen, gesagt. Als ob er das nicht wüßte! Aus den Eingeweiden des Wagens kamen seltsam gurgelnde Laute, so daß der Weißfisch nach vorn ging und den Kühler fast zärtlich betrachtete. Er kochte beinahe, der Arme, und das war an einem solchen Tag kein Wunder. Aber bald, so überlegte er, würden die Eichen Schatten geben, und der alte Wagen würde abkühlen. Er stieg über das Wildgatter und ging nahe an dem seitlichen Gebüsch die Schneise entlang. Seine Augen, sehr scharfe Augen, nahmen jede Einzelheit am Laub und im Geäst wahr. Hier war eine schöne Salweide! Genau das Richtige für einen Großen Schillerfalter. Und doch hatte er in diesem Forst noch nie einen gesehen. Sein großer Ehrgeiz war, ihn eben hier zu finden. Der Große Schillerfalter war einer der wenigen Falter, die er noch nie gesehen hatte. Er untersuchte den Busch genau, bog die Zweige, so daß sich die weichen hellen Unterseiten der Blätter seinem durchdringenden Blick darboten. Aber alles, was er entdeckte, waren Käfer, seltsame hammerköpfige Käfer. Er ging weiter, arbeitete sich langsam vorwärts, beäugte wie ein Vogel das kleinste Blättchen. 132
Immer wieder suchte er mit dem Blick die Kronen der Eichen ab, bis seine Augen schmerzten. Wie dumm, daß er seine Sonnenbrille zu Hause vergessen hatte. Die »Alte« konnte wirklich nicht an alles denken... Wie still und heiß der Wald unter der brennenden Julisonne lag. O, wenn doch ein Schillerfalter auftauchte! Ein rotbrauner Schmetterling kam über das Gebüsch gegaukelt und ließ sich auf einer Brombeerblüte nieder. Es war ein Fleckenfalter – auch nicht zu verachten. Der Weißfisch schlug mit dem Netz nach dem Schmetterling, verpaßte ihn aber. Dann verfolgte er ihn noch eine Zeitlang die Schneise hinunter, bis der Falter schließlich hinter einem Haselgebüsch verschwand. Schade! Es war ein schönes Exemplar gewesen... Er ging weiter, erst diesen Weg, dann einen anderen entlang. Die Augenfalter schlüpften gerade. Überall flatterten sie herum, lauter Augenfalter, langweilige Augenfalter. Sie saßen im warmen Gras und schienen ihn mit ihren frechen Augenflecken an den Spitzen ihrer Flügel anzuschauen... Er kam an die Stelle, wo zwei Hauptschneisen sich kreuzten. Hier waren die Eichen groß und gerade gewachsen, schöne Bäume. Es gab auch Salweiden hier, überall Dickichte von Salweiden. Der richtige Ort für den Großen Schillerfalter! Und dann ... sah er ihn. Ganz plötzlich sah er ihn, das herrliche, königliche Insekt seiner Träume! Es kam ihm den Weg hinunter entgegen und ließ sich für einen Augenblick auf einem Blatt nieder. Dann, als er, zitternd vor Aufregung, näher kam, schwang es sich himmelwärts in die Krone einer Eiche. Da konnte er es sehen, wie es, weit außerhalb seiner Reichweite, um einen der obersten Zweige herumgaukelte, ihn zu verspotten schien, der Unerreichbare, das Juwel, der König der Schmetterlinge! Wahrhaft majestätisch die Form, die Farbe und die Flugfiguren. Die alten Insektenforscher hatten diesen Schmetterling »Kaiserliche Majestät« genannt. Sie hatten recht, die alten Knaben; es war wirklich ein kaiserliches Insekt. Der 133
Weißfisch stand unten und schaute zu dem Schmetterling hinauf wie ein Fuchs, der einen Fasan auf einem Baum beobachtet. Aber das verflixte Insekt kam nicht herunter. Nach einer Weile verschwand es aus seinem Blickfeld, und er sah es nicht wieder. Er seufzte tief. Zum mindesten hatte er es gesehen und konnte den Jungen erzählen – falls er die je wieder sah – daß der »Apatura Iris« tatsächlich im Forst von Brendon vorkam. Wenn er nur ein altes Kaninchen hätte, das er als Köder aufhängen könnte! Das wäre das Richtige. Oder vielleicht stieß er auf eine Pfütze. Schillerfalter lieben Feuchtigkeit... Wenn er früh am Morgen herkäme; hatte er vielleicht eine Chance. Er zog seine Bierflasche und seine Butterbrote heraus und stellte dann fest, daß er den Flaschenöffner vergessen hatte. Also mußte er die Flasche mit dem Messer öffnen – o Gott, sein Gedächtnis! Es wurde immer schlimmer damit, wie seine Haushälterin sagte. Schließlich hatte er seine geruhsame Mahlzeit beendet und machte sich wieder auf die Suche. Er verließ die Hauptschneise und wanderte auf den Verborgenen Weiher zu, von dem er wußte, daß er links von ihm lag. Genau wie Bunting, der sich nicht weit von ihm entfernt durch das Gehölz kämpfte, begann der Weißfisch, schrecklich unter der Hitze zu leiden. Aber er brauchte nicht lange, bis er den schmalen Pfad erreichte, von dem er wußte, daß er zum Verborgenen Weiher führte. Warum sollte der Große Schillerfalter nicht dort sein? Er konnte sich gut vorstellen, wie er wie ein großes schwarz-weißes Blatt durch den heißen Sonnenschein herunterschwebte, um an dem sumpfigen Ufer zu trinken. Als er sich dem Weiher näherte, glaubte er einmal, links vom Pfad im Unterholz eine Bewegung wahrzunehmen. Das Farnkraut zitterte, als bahne sich ein Tier dort seinen Weg, aber gleich darauf war alles wieder still. Vielleicht ein Reh oder ein Kaninchen... Schließlich stieß er durch die Büsche und sah den Weiher vor sich liegen, schweigend und verlassen wie gewöhnlich, obgleich sich viele kleine Wellen 134
kreisförmig ausbreiteten, die unter den Weiden ihren Ursprung zu haben schienen. Wassergeflügel, dachte er, das in Deckung gegangen ist. Aber durch die Sonnenglut schwebte kein Großer Schillerfalter, keiner trank am dunkelgrünen Ufer. Nachdem er eine Zigarette geraucht und einen Zug aus der Bierflasche getan hatte, ging der Weißfisch auf dem Pfad, den er gekommen war, wieder zurück. Die Sonne stand schon im Westen, und als er sein Auto erreichte, waren die meisten Schmetterlinge schon schlafen gegangen. Das alte Auto erwartete ihn am Gatter wie ein geduldiges Pferd und sprang bei der ersten Drehung der Handkurbel an. Es bebte, dröhnte und blies ätzenden blauen Qualm aus seinem Hinterteil. Der Weißfisch warf seinen Rucksack auf den Rücksitz und das Netz hinterher. Der Rucksack fiel vom Sitz auf den Boden, aber der Weißfisch drehte sich nicht danach um. Er legte den Gang ein, und dann ging es in einer Staubwolke die gerade weiße Straße hinunter. Er hatte den Großen Schillerfalter gesehen! Er konnte an nichts anderes denken. Er würde versuchen, während des heißen Wetters wiederzukommen. Er würde ein gut abgehangenes Kaninchen mitbringen und es in einer der Eichen aufhängen. Die schnaubende Karre ratterte dahin, und bald lag der Forst von Brendon weit zurück. Das Wirtshaus »Zu den Märtyrern« flog vorüber, der hemdsärmelige Ernie stand in der Tür; weiter ging es über die Brücke, hügelauf und hügelab durch die abendliche Luft, die jetzt so kühl und weich geworden war. Weiße Enten flatterten, erbost quakend, fast in die Räder hinein, Hühner, Katzen und Hunde flohen nach rechts und nach links, die duftende Abendluft stank noch nach den Auspuffgasen, lange nachdem der Wagen verschwunden war. Schließlich erblickte der Pfarrer den Turm seiner uralten Kirche über den Wipfeln der süßduftenden Linden, und einen Augenblick später fuhr er in den Wirtschaftshof des Pfarrhauses. Es war ein interessanter Tag gewesen, ein 135
sehr interessanter Tag! Nur schade, daß er nicht die Zeit gehabt hatte, Smokie Joe zu besuchen. Die alte Haushälterin kam eifrig heraus, um ihn zu begrüßen. »Na, Herr Pfarrer, da sind Sie ja gesund und munter zurück. Hoffentlich haben Sie einen schönen Tag gehabt und all ihre Sachen wieder mitgebracht.« »Ja, ja, ein interessanter Tag, aber heiß, wissen Sie, schrecklich heiß.« Die Alte öffnete die hintere Tür des Wagens und zog den Rucksack heraus. Dann fielen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf, und der Kropf tanzte auf und ab. »Aber, Herr Pfarrer ... was ... was haben Sie denn da?« »Wie? Wie? Was sagen Sie da?« Der Weißfisch kam eilig an ihre Seite. Auf dem Rücksitz lagen eine blaue Tuchhose, ein Paar Socken, Unterhose und Unterhemd und eine Uniformjacke. Die Uniformjacke eines Polizisten! »Das verstehe ich nicht! Das verstehe ich nicht!« sagte der Weißfisch immer wieder mit schwacher Stimme. »Ich hab's nicht dahin getan. Ich versteh es nicht.« Die Haushälterin zog die Jacke heraus, deren Brusttasche voller Papiere steckte. Eine kurze Prüfung verriet den rechtmäßigen Besitzer. »Wachtmeister Buntings Uniformrock«, stammelte der Weißfisch ungläubig. »Ich hab ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Wie um Himmels willen kommen seine Sachen in mein Auto?« »Das möchte ich auch wissen«, sagte die Haushälterin grimmig. »Ich vermute, das ist wieder Ihre Zerstreutheit, Herr Pfarrer.« Wie seine Sachen in das Auto des Pfarrers kamen, hätte auch Bunting gern gewußt, als er nach Cherry Walden zurückkehrte, bekleidet mit einer geliehenen Hose. Bunting, der unter den Weiden des Verborgenen Weihers auf dem Rücken im Wasser trieb, hörte von jenseits des Weihers das Knacken von Ästen. Er drehte sich wie eine 136
große weiße Schildkröte um und hielt sich an einem Weidenzweig fest. Wasserkäfer kitzelten ihn an den Beinen. Er spähte unter den Blättern hindurch. Lieber Himmel! Da kam jemand durch die Büsche. Dann sah er mit klopfendem Herzen über dem Unterholz ein Schmetterlingsnetz auftauchen, und gleich darauf kam die untersetzte Gestalt des Weißfischs zum Vorschein. Bunting sah, wie er stehenblieb und sich umschaute; er blickte auch einmal in Buntings Richtung, sah ihn aber nicht. Was für ein Glück, denn wäre der Pfarrer nur ein paar Minuten früher aufgetaucht, hätte er ihn, Bunting, wie einen Wal mitten im Weiher in der Sonne treiben sehen. Aber was, wenn der Pfarrer seine Kleider entdeckte? Er hatte sie auf der gegenüberliegenden Seite, nicht weit vom Standort des Pfarrers entfernt, unter den Haselbüschen versteckt. Er sah, wie der Weißfisch sich eine Zigarette ansteckte und sich auf dem farnbewachsenen Ufer niederließ. Und während der ganzen Zeit wagte der unglückliche Bunting nicht, sich zu rühren, denn bei jeder Bewegung breiteten sich Wellenkreise aus, die seine Stellung verrieten. Schließlich stand der Weißfisch auf, warf seinen Zigarettenstummel weg und verschwand zwischen den Bäumen. Er war weg! Gott sei Dank! Bunting seufzte tief vor Erleichterung. Wie außerordentlich peinlich wäre es gewesen, wie hätte er dagestanden, hätte der Weißfisch ihn dabei ertappt, wie er pudelnackt im Verborgenen Weiher schwamm! Bunting war fast eine Stunde im Wasser gewesen und war jetzt froh, herauszukommen. Dieser blöde Pfarrer! Warum mußte er ausgerechnet hier auftauchen. Er stelzte vorsichtig durch das Farnkraut zu der Stelle, wo er seine Kleider gelassen hatte. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Hemd war da, auch seine Stiefel, die Handschuhe und der Helm, aber das war auch alles. Der Rest der Kleider, die blaue Tuchhose, sein Uniformrock, Unterhemd und Unterhose waren weg. Der unglückliche Mann war so verdutzt, daß er sich nicht rühren konnte. Entsetzt schaute er sich um. Vielleicht hatte 137
ein Tier das Zeug verschleppt, vielleicht ... er fühlte, wie eine kalte Hand nach seinem Herzen griff – vielleicht hatte der Weißfisch sie in einem Anfall seiner berüchtigten Zerstreutheit mitgenommen. Aufgeregt ergriff er sein Hemd und zog es an, bevor es weggezaubert wurde. Er zitterte jetzt, nicht vor Kälte, denn das war an einem solchen Tag unmöglich, sondern vor Aufregung. Er zog seine Stiefel an, setzte den Helm auf und begann aufgeregt das Ufer des Weihers abzusuchen, er suchte unter jedem Busch, jedem Baum, hinter jedem Schilfbüschel. Aber er entdeckte keine Spur der fehlenden Kleidungsstükke. Der Pfarrer mußte sie haben. Aber warum? Warum um Himmels willen hätte er sie nehmen sollen? Man hatte ihm einen üblen Streich gespielt. »Was soll ich nur machen?« sagte er sich immer wieder. Es wurde Abend. Schon hatte die Sonne ihre Kraft verloren, Mücken spielten wie zauberhafte Fontänen über dem stillen Wasser, Ringeltauben gurrten zärtlich in den Kronen der Eichen. Bunting wurde immer verzweifelter. Sollte er versuchen, Smokie Joe zu finden und sich von ihm eine Hose und eine Jacke borgen? Nein, dann wüßte es bald das ganze Land. Er kannte den Weg zu Smokies Hütte auch gar nicht. In Yoho wohnte niemand, den er kannte. Und außerdem... welche Schande! Nein, das war unmöglich ... Er setzte sich am Ufer hin und versuchte, ruhig nachzudenken. Er dachte an alles mögliche: einen Schurz aus Blättern oder Gras, einen dicken Zweig, den er sich vorn und hinten vorhalten würde. Schließlich blieb nur eine Möglichkeit. Er mußte versuchen, aus dem Wald herauszukommen, sein Fahrrad zu finden und im Schutz der Dunkelheit zu Ernie in den »Märtyrern« zu fahren. Ernie würde ihm eine Hose leihen. Aber würde Ernie den Mund halten? Wäre es nicht besser, nach Hause zu fahren, so, wie er war, nur mit Hemd, Stiefeln, Helm und Handschuhen bekleidet? Aber der Weg nach Cherry Walden war lang. Nein, später würde der Mond aufgehen. Bei Mondlicht 138
konnte man ihn sehen und erkennen. Nein, er hatte keine Wahl: Ernie oder ewige Schande. Zuerst aber mußte er versuchen, ohne Hose aus dem Forst herauszukommen. Eine schmerzliche Angelegenheit. Kurz nach Mitternacht wurde Ernie, der fest an der Seite seiner Frau schlief, dadurch wach, daß ein Stein gegen sein Fenster klirrte. Er grunzte und drehte sich auf die andere Seite. Jemand verlangte etwas zu trinken. Vielleicht einer der Dorftrunkenbolde. Wieder klirrte die Scheibe. Ernie stand auf. »Wer ist da?« Unten zwischen den Bohnenstangen sah er undeutlich etwas Weißes. »Ernie, bist du das?« kam eine heisere Stimme. »Ich bin's Tom. Komm sofort runter und laß mich rein, es ist was passiert, was Schlimmes.«
KAPITEL 11
Peng Ihr habt gewiß schon erraten, daß der Urheber dieses schändlichen Streiches nicht der arme zerstreute Weißfisch war. Er hatte nicht einmal gewußt, daß Wachtmeister Bunting im Forst war; erst am folgenden Morgen wurde er von diesem persönlich davon unterrichtet. Ich will nicht versuchen, die peinliche Szene zwischen den beiden zu beschreiben. Es mag genügen, daß niemand die Jungen verdächtigte. Eine Einschränkung muß ich allerdings machen: Niemand außer dem Weißfisch verdächtigte die Jungen, aber ganz entfernt verdächtigte er auch sich selbst. Ich will auch nicht versuchen, im einzelnen zu beschreiben, wie die Vogelfreien, die im Verborgenen Weiher schwimmen wollten, schon von weitem das Gurgeln und
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Plantschen irgendeines riesigen Waldtiers hörten, das sich in dem geheiligten Wasser vergnügte, oder wie Robin Hood, der sich wie ein Wiesel heranschlich, mit eigenen Augen das unvergeßliche Schauspiel des Polizeiwachtmeisters wahrnahm, der wie ein aufgeblasenes weißes Walroß zwischen den Wasserrosen auf und ab hüpfte. Es wäre langweilig zu beschreiben, wie die sorgfältig zusammengelegten Kleider auf wahre Indianerweise gestohlen wurden, oder wie der Weißfisch beobachtet und auch sein Auto entdeckt wurde. Das Verstauen der Kleider auf dem Rücksitz war das Werk eines Augenblicks, und sowohl die Abfahrt des Weißfischs wie auch – und das war der größte Spaß – die Flucht Buntings wurden aus dem Schutz des undurchdringlichen Forstes heraus beobachtet. Es wäre unschicklich zu beschreiben, wie diese drei schamlosen Schurken sich im Farnkraut wälzten, um ihre Lachsalven zu ersticken, als der unglückliche Polizist im Dämmerlicht der Sommernacht eilig davonradelte; die Hemdschöße flatterten, die weißbehandschuhten Hände umklammerten die Lenkstange, die nackten, haarigen Beine strampelten wie wild, während er ihren Blicken entschwand. In jenen fernen Tagen gab es nach Einbruch der Nacht nur wenig Verkehr auf den Straßen, aber es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß ein lustwandelndes Liebespaar die Erscheinung vorbeiflitzen sah, während es in zärtlicher Umarmung unter dem Geißblatt verweilte. Es ging das Gerücht, daß im Forst von Brendon der Märtyrer spukte. Ohne Zweifel hätte Wachtmeister Bunting diese ländliche Legende bestätigt, obgleich auch wieder viel Phantasie dazu gehört, sich den Märtyrer auf einem Fahrrad vorzustellen. Der Juli zog sich in dumpfer Hitze dahin. – Die Bäume schienen um Regen zu beten, die kleinen Pferdetümpel außerhalb des Waldes vertrockneten. Die durstigen Kühe, die zum Trinken kamen, fanden bald nur noch geborstene und flockige Vertiefungen vor, wie leere Schüsseln. 140
Es war nur natürlich, daß sich die Vogelfreien viel am Verborgenen Weiher aufhielten. Manchmal verschliefen sie den Tag und gingen in der Nacht zu den zauberhaften Ufern und entdeckten etwas Neues, Gespenstisches über den schlafenden Wassern. Hier sahen sie zum erstenmal unter dem vollen Julimond ein Dachsweibchen mit seinen Jungen. Sie standen dem Tier plötzlich auf einem Waldweg gegenüber, während die Jungen sich mit erschrockenem Gequieke nach allen Seiten in Sicherheit brachten. Am Verborgenen Weiher erblickte Robin auch zum erstenmal einen Schillerfalter, der, kurz bevor die Mittagssonne ihren höchsten Stand erreichte, am Ufer trank. Dort, direkt am Rande des Wassers blieb er mit weit gebreiteten Schwingen sitzen und zeigte die ganze Herrlichkeit seines purpurnen Glanzes. Und in den nahen Salweiden schreckte der Kleine John das Weibchen auf, ein riesiges Insekt wie ein übergroßer Weißer Admiral. Aber das Tier entkam mit schnellem Flug zwischen den Büschen. Eine Tatsache wurde immer beunruhigender. Die Munition ging zu Ende. Es waren noch vierzig Schuß in der abgegriffenen roten Schachtel, die sie in einem Spalt der Eiche versteckt hatten, aber sie waren sich klar darüber, daß die Zeit nicht mehr fern war, wo sie keine Patrone mehr hatten. Und Fleisch brauchten sie. Im Witwensitz gab es keine Munition mehr, und ein Einkaufsbummel nach Brendon war zu gefährlich. Außerdem hatten sie alles in allem nur fünfzehn Schilling. »Nein, Jungens, es hat keinen Zweck«, sagte Robin eines Abends, als sie am Lagerfeuer lagen und über dieses Problem sprachen. »Es kommt die Zeit, wo wir unser Fleisch auf andere Weise beschaffen müssen, durch Fallenstellen oder Schlingenlegen oder sonst was. Früher hatten die Vogelfreien auch keine Gewehre. Sie mußten sich auf Pfeil und Bogen und auf ihre Fallen verlassen. Wir sind faul geworden, wir haben gar nicht versucht, Kaninchen in Schlingen zu fangen, obwohl wir die Schlingen mitgebracht haben. Wir haben 141
auch keine Fallen gestellt. Es ist Zeit, daß wir damit anfangen. Der Himmel weiß, welcher Monat jetzt ist oder welcher Tag. Wir haben keine Möglichkeit, das festzustellen. Wir können uns nur an die Zeichen halten, die wir sehen. Nach dem Aussehen der Bäume zu urteilen, ist der Sommer fortgeschritten. In Banchester gibt es bestimmt schon bald wieder Ferien.« »Morgen wollen wir ein paar Schlingen legen«, sagte der Große John, »das wird auch Spaß machen. Wir stellen auch Fallen mit Holzklötzen. Aber darin kann man keine Kaninchen fangen.« »Warum stellen wir sie dann?« fragte der Kleine John. »Natürlich wegen der Felle. Hier muß es genug Pelztiere geben, Dachse, Füchse, Wiesel und solche Tiere. Hermeline sind ja auch Wiesel.« »Ja, aber es hat noch keinen Sinn, Fallen zu stellen. Im Sommer sind die Pelze schlecht. Sie werden erst im Herbst gut.« »Aber auf alle Fälle sollten wir mit dem Schlingenlegen anfangen«, sagte der Große John, »wir brauchen doch Fleisch.« »Ich könnte auch noch einmal zurückgehen und Zucker und Mehl und solche Sachen holen«, schlug der Kleine John vor. »Nein, mein Junge, das läßt du bleiben«, antwortete Robin, »die bewachen bestimmt jede Tür und jedes Fenster. Ich würde mich nicht wundern, wenn Bunting das Haus Tag und Nacht bewachen läßt. Ich wette, die warten nur darauf, daß wir neue Vorräte holen kommen; sie würden uns auf frischer Tat ertappen. Außerdem hat die Köchin bestimmt den Befehl bekommen, alles einzuschließen. Und im übrigen sollten wir versuchen, von dem zu leben, was die Natur uns bietet. Wir sind schließlich Vogelfreie.« Am nächsten Morgen machten sich die Jungen daran, ernsthaft Schlingen zu legen. Sie holten den Draht hervor, den sie beinahe vergessen hatten, und schnitzten saubere kleine Holzpflöcke. Sie legten die Schlingen auf den kleinen 142
Pfaden aus, die sie für Kaninchenwechsel hielten, hatten aber keinen Erfolg. Danach legten sie die Schlingen vor die Eingänge von Kaninchenhöhlen, aber auch hier fingen sie nichts. Irgend etwas machten sie falsch. Ein- oder zweimal stellten sie fest, daß eine Schlinge losgerissen und verschwunden war, das war aber auch alles. Der Kleine John schlug vor, Bogen und Pfeile anzufertigen. Sie machten eine Bogensehne aus einem Stück Schweinehaut und Bogen aus Schößlingen, aber bald stellten sie fest, daß sie nicht in der Lage waren, eine wirklich brauchbare Waffe herzustellen. Auch waren ihre ungefiederten Pfeile nicht treffsicher. Es gelang ihnen einmal, ein Moorhuhn zu erlegen, aber der arme Vogel starb eher aus Angst als an seiner Verletzung. Und ihr Vorrat an Munition schwand immer mehr dahin. Das geräucherte Schweinefleisch war fast verzehrt – die endlosen Mahlzeiten aus Kaninchen und Tauben wurden eintönig. Sie ernährten sich jetzt hauptsächlich von Fisch. Jeden Abend, wenn es dämmerte, machten sich die drei Vogelfreien auf den Weg zum Verborgenen Weiher. Sie fischten nur mit der Schnur, Angelruten zu tragen war zu lästig. Sie legten sich mit dem Gesicht dicht ans Ufer und ließen die Leine mit Haken und Köder herunter. Wenn die dichten Eichen schwarz und still wurden und die Fledermäuse über den Spiegel des Weihers flitzten, konnten sie die dicken Schleien hören, die sich wie Schweine zwischen den Wasserpflanzen wälzten und saugten, und manchmal kam ein leises Zittern aus den unheimlichen Tiefen, wenn eins der trägen Ungeheuer sich an dem zappelnden Wurm festgebissen hatte. Dann wurde die Schnur mit einem Ruck hochgerissen, und ein großer bronzener Fisch fiel zappelnd ins Farnkraut, schnappte nach Luft und schlug mit dem Schwanz, während das Farnkraut sich an seine Schuppen heftete. Was für herrliche Fische waren diese Schleien aus dem Verborgenen Weiher! Die kühnen stumpfen Linien des Körpers, der muskulöse Rücken, der dicke, kurze Schwanz. 143
In Schweinefett gebraten schmeckten sie himmlisch, und es verging kein Abend, an dem die Jungen nicht mit wenigstens einem halben Dutzend dieser Tiere, die sie auf einem Weidenzweig aufgereiht hatten, zurückkehrten. In einer stillen und zauberhaften Nacht, als der Vollmond schien und sein Spiegelbild wie eine große Laterne im öligen Wasser hing, saß Robin auf dem Baumstumpf des Weihers – demselben Stumpf, von dem aus der unglückliche Bunting getaucht war, und fischte in dem zwei Meter tiefen Wasser. Der Große und der Kleine John waren irgendwo am anderen Ende des Weihers, er war ganz allein. Er hatte schon drei Schleien gefangen, von denen die größte vier Pfund wog. Sie lagen neben ihm im Farn. Er lag jetzt flach auf dem Bauch, die Nase dicht über dem Wasser. Ab und zu stieß eine Motte gegen sein Gesicht, oder eine Ratte schwamm quer durch die Lichtbrücke, die der Mond bildete, und verschwand in ihrem Loch unter den Weiden. Plötzlich ließ ihn etwas aufblicken, und dort, zwanzig Meter von ihm entfernt, stand im Mondlicht ein Reh. Es stand bis zur Brust im Farnkraut und schaute zum anderen Ende des Sees hinüber, wo die beiden anderen Jungen fischten. Robin verhielt sich ganz still, auch das Reh rührte sich nicht. Eine Ewigkeit schien vergangen, als das große Tier still aus dem Farn trat und, halb verborgen von den Weiden, den Kopf zum Wasser neigte und trank. Es trank, ohne ein Geräusch zu machen, aber die Wellenringe verbreiterten sich nach außen, glänzten und leckten an dem Baumstumpf, auf dem er lag. Ein Reh! Es gab also Rehe im Forst von Brendon. Der Weißfisch hatte recht gehabt. Das Gewehr hatten sie im Lager gelassen, aber auch, wenn er es bei sich gehabt hätte, es wäre unrecht gewesen, bei diesem unsicheren Licht zu schießen. Er hätte das Tier vielleicht nur verletzt, und es wäre geflohen und irgendwo qualvoll verendet. Doch Robin war sicher, daß er bei guter Sicht und vom richtigen Standort aus selbst mit seinem Kleinkalibergewehr ein Reh erlegen könnte. 144
Ein gedämpftes Platschen war vom anderen Ende des Weihers zu hören, wo der Große John gerade eine große Schleie gefangen hatte. Das Reh schreckte auf, wandte sich und verschwand wie ein Schatten im Farn. Sie gingen nicht nur bei Nacht zum Verborgenen Weiher, obwohl das Fischen dann leichter war. Wenn die Sonne herniederbrannte, ging auf der Lichtung mit der Eiche kein Lüftchen, die Vogelfreien fanden es erstickend heiß dort. Dann gingen sie zum Schwimmen zum Verborgenen Weiher. Dabei unterließen sie es nie, eine Wache aufzustellen. Das plötzliche Auftauchen von Bunting hatte sie doch erschreckt. Und dann war da noch der geheimnisvolle Smokie Joe, den sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Wenn der sie entdeckte, ging die Jagd von neuem los. Manchmal, wenn der Wind von Süden wehte, glaubten sie, seine Feuer zu riechen, aber das war auch alles. Er blieb ein unsichtbarer möglicher Feind. Wenn die langen Sommernachmittage unerträglich schwül wurden, warfen die Jungen alle Kleider ab und ließen sich in das moorige Wasser gleiten, sie tauchten wie Wasservögel und jagten einander unter Wasser. Manchmal streckte Robin die Beine nach unten, hielt sich die Nase zu und ließ sich immer tiefer aus der oberen warmen Wasserschicht in die eisigen Tiefen sinken. Er tat Blicke in eine seltsame Unterwasserwelt, sah längstversunkene Kiefernstämme, die schwarz und stachelig waren, und den blaßgrünen, schlangelnden Dschungel der Wasserrosenwurzeln, die ihm vorkamen wie die Greifarme von Tintenfischen. In dieser wäßrigen Unterwelt, wo immer ein grünlicher Dämmer herrschte, sah er die fliehenden Gestalten von Fischen, großen und kleinen, die vor ihm in die verfilzten Tangwälder flüchteten. Es war immer wie eine Befreiung, wieder an die Oberfläche zu kommen. Es war, als würde sein Körper von einer unsichtbaren Leine hochgezogen, als wäre auch er ein 145
gefangener Fisch. So ließ er den eisigen Keller unter sich und brach zur Oberfläche durch in die blendende Wärme des sonnigen Nachmittags. Einmal wurde es für den Großen John gefährlich. Törichterweise war er zwischen die Wasserrosen geschwommen, weil er eine der schönen Blumen pflücken wollte und hatte sich in den schlauchartigen, gewundenen Wurzeln verfangen. Je mehr er ruderte und um sich schlug, desto fester wurde ihr schleimiger Griff um seine Knöchel. Klugerweise hielt er sich still und rief um Hilfe. Robin und der Kleine John zogen ihn an Land, aber er blieb lange Zeit völlig erschöpft auf dem Ufer liegen, ganz weiß im Gesicht und mit einer neuen kalten Furcht im Herzen. Der Verborgene Weiher ließ nicht mit sich scherzen und ließ sich seine Schätze nicht stehlen. Robin war entschlossen, mit dem Schlingenlegen fortzufahren. Offenbar machten sie irgend etwas nicht ganz richtig. Eines Nachmittags gegen Ende Juli machte er sich ganz allein mit Schlingendraht in der Tasche auf den Weg und legte die Schlingen in der Nähe einiger Kaninchenbaue aus, die er in einem anderen Teil des Forstes zufällig entdeckt hatte. Die anderen beiden sagten, sie gingen zum Verborgenen Weiher, um Schleien zu fangen, und versprachen, vor Sonnenuntergang zurück zu sein und Feuer zu machen. Robin nahm das Gewehr, und nachdem er den Großen und den Kleinen John ermahnt hatte, vernünftig zu sein, ging er durch den Farn davon. Es war ein düsterer Nachmittag, drückend und still. Ein Gewitter schien im Anzug, und das versprach nichts Gutes für die beiden Fischer, denn bei gewittrigem Wetter beißen die Fische nicht an. Die Fliegen waren eine unerträgliche Plage. Zu Beginn ihres Aufenthalts im Wald hatten die Jungen nicht unter den Fliegen zu leiden gehabt, aber an diesem Tag waren sie kaum zu ertragen. Kaum ein Vogel sang, denn der Sommer war schon vorgeschritten, die Vögel waren erschöpft von 146
der Sorge um den Nachwuchs; vielleicht spürten sie auch schon das Nahen des Herbstes. An den Brombeerbüschen begannen die Blüten zu fallen, hier und da zeigten sich schon Beeren, noch waren sie hart und rot, aber sie versprachen für später eine gute Ernte. Auch die Haselsträucher trugen winzige helle Knoten, die zur gegebenen Zeit Nüsse werden würden. Robin trug sein Gewehr schußbereit, aber an diesem Nachmittag ließ sich nicht einmal ein Kaninchen sehen. Er brauchte fast eine Stunde, um den Kaninchenbau zu erreichen. Da es offenbar keinen Sinn hatte, die Fallen im Bau selbst zu legen, suchte er im Farn in der nächsten Umgebung nach ausgetretenen Laufwegen. Plötzlich ließ ihn ein Geräusch einhalten. Es war das halberstickte Winseln eines Tieres in Not. Erst nach einer Weile stellte er fest, aus welcher Richtung es kam. In der Nähe war ein großer Baum gestürzt, und unter den hochgerissenen Wurzeln sah er mehrere Löcher. Von dort schien das Winseln zu kommen, und nach einigem Suchen hatte er die genaue Stelle gefunden. Irgendein Tier war dort in Not. Er legte sich der Länge nach hin, preßte das Ohr auf den Boden und lauschte. Dann holte er einen abgebrochenen Ast und fing an, mit diesem primitiven Spaten zu graben. Bald hatte er ein tiefes Loch gebuddelt, die Erde warf er dabei wie ein Kaninchen mit den Händen hinter sich. Schließlich sah er das Hinterteil eines Hundes, eines kleinen Hundes, eines richtigen Wildererköters. Eine Wurzel hatte sich in seinem Halsband verfangen, er konnte sich nicht befreien. Robin grub weiter und holte das Tier schließlich heraus. Ein elenderes Geschöpf hatte er noch nie gesehen. Wie lange mochte es in dem Loch gesteckt haben? Alle Rippen waren zu sehen, und das Tier war zu schwach, um auf den Beinen zu stehen. Das rauhe Fell war mit Erde verklebt, die Krallen waren abgewetzt, die Zehenballen wund und blutig. Robin hob das Tierchen vorsichtig hoch. Es lag mit geschlossenen Augen in seinem Arm und zitterte. 147
»Armes Kerlchen«, sagte Robin, »ich bring dich ins Lager, du brauchst was zu fressen.« Das Tier machte einen schwachen Versuch, ihm die Hand zu lecken, und ließ den Kopf erschöpft auf Robins Arm fallen. Wenn er es nicht ins Lager brachte und ihm zu fressen gab, würde es bald tot sein. Als er die Lichtung mit dem Eichbaum endlich erreichte, waren die anderen schon da. Sie hatten nichts gefangen, aber das war nicht verwunderlich, denn in der Ferne grollte schon der Donner. Sie machten Feuer und brieten etwas Kaninchenfleisch, und bald fraß der halbverhungerte Findling gierig. »Der hat bestimmt seit Tagen nichts gekriegt«, rief der Große John, »wenn du ihn nicht gefunden hättest, wäre er morgen früh tot gewesen. Was sollen wir mit ihm machen, Robin?« »Ich denke, wir behalten ihn; er wird uns bei der Kaninchenjagd nützlich sein und uns auch Gesellschaft leisten. An seinem Halsband ist kein Namensschild, wahrscheinlich ist es ein Wildererhund.« »Wie sollen wir ihn nennen?« »Wir wollen ihn wie Bill Bobmans Hund Whisky nennen. Das ist ein schöner Hundename, kurz und zackig.« »Wenn wir ihn mit auf die Jagd nehmen wollen, könnten wir ihn Peng nennen«, schlug der Kleine John vor. Der Hund hob den Kopf und sah den Kleinen John fragend an. »Seht mal, ich glaube, das ist sein richtiger Name. Peng, du Alter!« Aber Peng war zu sehr mit dem Kaninchen beschäftigt. Nachdem er gefressen hatte, legte er sich ans Feuer und versuchte mit matten Bewegungen, den Lehm aus seinem Fell zu lecken. Er leckte sich auch die Pfoten, reinigte eine nach der anderen. »Er scheint sich ganz zu Hause zu fühlen«, sagte der Kleine John. »Wie schön, daß wir jetzt einen Hund haben. Vielleicht gehört er Leuten in Cheshunt Toller, oder möglicherweise auch Smokie Joe.« 148
Smokie Joe. Daran hatten sie nicht gedacht. »Wir wollen ihn die erste Zeit anbinden«, sagte Robin, »sonst läuft er uns wieder weg.« Aber Peng schien im Augenblick ganz gern zu bleiben, wo er war, und nach einer Weile rollte er sich zusammen und schlief vor dem Feuer ein. Es dauerte volle drei Tage, bis Pengs Pfoten geheilt waren. Die Jungen bürsteten ihm den Lehm aus dem Fell, und bald war er ein ganz anderer Hund. Er folgte ihnen überall hin, und sie stellten fest, daß er ein ausgezeichneter Spürhund war. Er witterte die Kaninchen unter dem Farn, schlich sich an wie eine Katze und sprang sie an, während sie noch in ihrem Lager waren. Außerdem konnte er sehr gut apportieren. Wenn Robin eine Taube schoß, und diese in ein Dickicht fiel, fand Peng sie immer. Er liebte das Gewehr, manchmal beobachteten die Jungen ihn dabei, wie er den Kolben leckte und dabei mit dem Schwanz wedelte. Der Große John sagte, Peng sei doppelt so klug wie Tilly, die fette Tilly, die hatte nie in ihrem Leben ein Kaninchen gefangen. Aber der kleine Hund war unglücklich; manchmal, wenn sie am Feuer saßen, stand er auf, wanderte unruhig herum und winselte. Aber sie gaben ihm keine Möglichkeit, wegzulaufen, und wenn sie ihn aus irgendeinem Grund zu Hause lassen mußten, banden sie ihn in der Baumhöhle an. Offenbar war er so dressiert, daß er nicht heulte, wenn er allein gelassen wurde; er gab nie einen Ton von sich. Eine Woche nach seiner Ankunft brachte er ihnen ein Fasanenweibchen. Der Vogel lebte und war unverletzt, offenbar hatte Peng ihn angesprungen, während er auf dem Nest saß. Vielleicht hatte er den Vogel auch unter dem Farn gewittert. Es war ein großes Glück, daß der Hund sich als so nützlich erwies, denn Robin hatte mit seinen Schlingen überhaupt keinen Erfolg. Das einzige, was er fing, war ein ganz junges Kaninchen, das sie in Speck gebraten zum Frühstück verzehrten. 149
Der Fasan wurde gebraten und schmeckte köstlich. Peng bekam auch seinen Teil ab. Offenbar war er darauf abgerichtet, Wild zu beschleichen. Wenn Robin auf der Suche nach Beute durch das Unterholz robbte, kroch Peng fünf Meter hinter ihm auf dem Bauch, und wenn er still liegen sollte, tat er das und kam erst, wenn man ein Zeichen mit der Hand machte. Er brachte ihnen viele Igel, die er ins Maul nahm, ohne sich zu stechen. Die meisten Hunde bellen einen Igel an, aber Peng war immer still. Der einzige Laut, den sie von ihm gehört hatten, war sein Winseln, als er sich in dem Kaninchenbau verfangen hatte. Er schlief mit ihnen im Baum; so wurde ihnen ein lang gehegter Wunsch erfüllt, nämlich nachts einen Hund mit ins Bett nehmen zu dürfen.
KAPITEL 12
Mr. Hawkins »Es hat keinen Zweck mehr«, sagte Robin eines Abends nach dem Essen. »Das Schwein ist fast zu Ende, jedenfalls schmeckt es schon ganz komisch. Wahrscheinlich haben wir nicht genug Salz gehabt. Andere Wildschweine scheinen hier nicht mehr rumzulaufen. Wir haben alle Moorhühner auf dem Verborgenen Weiher geschossen, und für Enten ist es noch zu früh. Unsere Haferflocken reichen noch genau für ein Frühstück, die Streichhölzer werden knapp, wir haben kein Salz mehr. Jungens, wir müssen was unternehmen.« »Und du glaubst, daß es zu riskant ist, nach Cherry Walden zurückzugehen und Dower House zu plündern?« fragte der Große John. »Ja, und selbst, wenn wir ins Haus kämen und fänden, was wir brauchen, ist es nicht meine Vorstellung vom Leben in der Wildnis. Natürlich gibt es noch Schleien im Verborgenen 150
Weiher, wir werden sie weiter fangen, solange das Wetter so heiß ist; und Barsche gibt es bis in den Winter hinein. Wenn die im Weiher auch alle klein zu sein scheinen. Aber wir brauchen auf jeden Fall neue Patronen. Das einzige, was mir einfällt, ist, daß einer von uns nach Cheshunt Toller oder Brendon geht und das Nötigste kauft. Wir haben nur fünfzehn Schillinge, aber dafür könnten wir ziemlich viel Munition bekommen, und dann kaufen wir noch etwas Salz, Zucker und Haferflocken.« »Sieht so aus, als ob wir hier überwintern wollten«, sagte der Große John. »Und warum nicht«, fragte Robin trotzig. »Bis jetzt sind wir gut zurechtgekommen und haben hier wunderbar gelebt. Ich bin dafür, daß wir nicht eher zusammenpacken, bis wir völlig am Ende sind. Vater und Mutter kommen erst nach Weihnachten, dann ergeben wir uns.« »Und nehmen unsere Strafe auf uns?« fragte der Große John grimmig. »Ja, wir nehmen unsere Strafe auf uns«, erwiderte Robin. »Du kannst sagen, was du willst, hier im Freien zu leben wird uns genauso gut getan haben wie das ganze Sommerund Herbstsemester in Banchester zu büffeln.« »Vermutlich wird Vater nicht dieser Ansicht sein«, sagte der Große John. »Wahrscheinlich werden wir von der Schule fliegen, und unsere Laufbahn ist ruiniert.« »Aber Vater wird dich und den Kleinen John sowieso in den Kolonialdienst schicken«, sagte Robin. »Aber nicht, bevor wir unsere verdammten Examen bestanden haben, und zwei Semester zu verpassen, ist eine Menge. Ich hab alles vergessen, was ich jemals gelernt habe.« »Ich bin gespannt, was Vater mit uns macht«, sagte der Große John. »Wir haben die beiden schon so lange nicht mehr gesehen, ich weiß kaum noch, wie sie aussehen.« »Ich weiß noch, wie er mich einmal geohrfeigt hat, weil ich frech zu Mutter war«, sagte Robin heftig. »Ich wette, er ist genauso stark, oder stärker als der alte Batcham.« 151
Batcham war sein Klassenlehrer im Internat. »Also, ich meine, wir lassen es mal auf uns zukommen«. »Ich glaube, es war wirklich unrecht, von Tante Ellen wegzulaufen; natürlich ist es unrecht, wenn man es von ihrem Standpunkt aus betrachtet. Aber wenn unsere Eltern hier wären, hätten wir es nicht getan. Vielleicht haben wir in der Schule viel verpaßt, aber dafür haben wir andere Sachen gelernt. Ich finde, zuerst in die Schule zu gehen und dann einen Beruf zu ergreifen, ist für einen Mann keine natürliche Art zu leben, wenigstens finde ich das. Seht ihr nicht, was die meisten Menschen verpassen? Etwas Schönes und Großartiges. Ich meine, so wie wir im Freien zu leben. Sie entfernen sich immer mehr vom natürlichen Leben, von der Natur und all dem; und sie schaffen sich eine Welt, welche ... oh, ich weiß nicht ... ich krieg's nicht richtig raus ... aber ihr wißt, was ich meine. Was dich betrifft, Großer John, wenn du einmal nach Kanada gehst, dann wird die Zeit hier die allerbeste gewesen sein. Mit Latein und Griechisch kannst du in den Wäldern nicht viel anfangen.« »Wahrscheinlich nicht, Meister Robin, aber was ist mit dir? Du willst doch Arzt werden, oder nicht?« sagte der Große John. »Ja, aber der Himmel weiß, wozu.« »Also, die Zeit hier wird dem Kleinen John und mir sicher nicht schaden, aber bei dir bin ich nicht so sicher, Robin. Ärzte sind doch ziemlich gelehrte Leute.« »Das weiß ich alles«, antwortete Robin, »aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß dies hier die beste Zeit meines Lebens ist. Eine solche Gelegenheit kommt nie wieder. Wenn wir mit der Schule fertig sind, denn wir werden zurückgehen, wenn die Schule uns noch nimmt, dann werde ich wohl nach Cambridge auf die Universität gehen, wo auch Vater studiert hat, und dann heißt es für mich, Städte und Mauern für den Rest meines Lebens. Ziemlich schlimm stell ich mir das vor.« »Dann laß uns nicht dran denken«, sagte der Große John munter. »Sprechen wir lieber von unseren Vorräten. Wir 152
müssen sie auffüllen. Ich weiß nicht, wie ihr darüber denkt, aber ich hätte schreckliche Lust auf einen schönen saftigen Kohlkopf. Und Salz ist auch wichtig. Ich glaube, ohne es kann man nicht leben. Und Kaninchenfleisch kann ich bald nicht mehr sehen. Wir könnten auch eine starke Stopfnadel brauchen. Und dann natürlich Munition, die brauchen wir unbedingt. Wieviel Schuß haben wir denn noch?« Robin kroch in die Eiche und holte die Schachtel. Er schüttelte die kleinen Messingpatronen ins Gras und zählte sie. »Einunddreißig Schuß, das ist alles.« »Das sieht aus, als müßten wir die Reise nach Brendon wagen«, sagte der Große John. »Einer von uns muß gehen. Von den fünfzehn Schilling wird nicht viel übrig bleiben, wenn wir das alles kaufen wollen: Haferflocken, Patronen, Salz, Kohl .. . und all das andere.« »Wir wollen losen«, sagte Robin, »auslosen, wer morgen nach Brendon geht.« Der Große John fing an zu lachen. »Das brauchen wir nicht. Der Kleine John ist der einzige, der noch eine Hose hat. Wir können nicht in unseren Kaninchenfellröcken die Brendoner Hauptstraße entlangmarschieren. Alle Polizisten haben unseren Steckbrief, und nach Dunkelwerden können wir nicht gehen, weil dann die Läden geschlossen sind.« »Dann muß der Kleine John es machen.« »Ich gehe«, sagte der Kleine John sofort. »Also, abgemacht. Am besten gehst du gleich morgen. Schleich dich aus dem Wald, bevor es hell ist und sei auf der Straße, ehe die Leute unterwegs sind. Es sind nur acht Kilometer. Du bist im Dorf, wenn die Läden aufmachen. Auf dem Rückweg kannst du dir Zeit nehmen. Versuch nicht, den Wald zu erreichen, solange es noch hell ist. Versteck dich irgendwo unter Bäumen oder in einer Hecke. So wird es gehen.« »Ich fürchte, er wird geschnappt«, sagte der Große John und betrachtete seinen unglückseligen Bruder. »Er sieht ziemlich dreckig aus, und seine Jacke ist zerrissen.« 153
»Da kann man nichts machen. Er muß es riskieren. Wenn du geschnappt wirst, Kleiner John, dann verrat uns nicht. Wenn du nicht zurückkommst, werden wir wissen, daß es schiefgegangen ist.« Es war noch dunkel, als der Kleine John sich auf den Weg machte. Seine Brüder hatten ihn, so gut es ging, gesäubert und brachten ihn bis zur Straße, die durch den Forst schnitt. Es war dieselbe Stelle, von der aus sie die Abfahrt des Weißfischs und des unglückseligen Bunting beobachtet hatten. Sie beobachteten, wie die kleine Gestalt in der sich lichtenden Dunkelheit verschwand und sahen die ersten Anzeichen der Morgendämmerung im Osten aufsteigen. »Ich hoffe, er kommt wohlbehalten zurück«, sagte Robin. »Ich auch.« »Es wäre schrecklich, wenn sie ihn schnappten.« »Mach dir keine Sorgen, der Kleine John ist gar nicht so dumm.« Es kam dem Kleinen John sehr lang vor, bis er den Wald hinter sich hatte, und dabei wurde es immer heller. Als er draußen war, verließ er die Straße und ging hinter der Hecke über die Wiesen. Männer auf Fahrrädern kamen vorbei und ein paar ratternde Karren. Als er sich Cheshunt Toller näherte, sah er einen Mann, der Vieh vor sich her trieb. Das bedeutete, daß in Brendon Markt war. Dann hatte er einen glänzenden Einfall. Er würde dem Mann helfen, das Vieh ins Städtchen zu treiben, er würde vorlaufen und den Mann im Dorf abfangen. Indem er gebückt hinter der dichten Hecke weiterlief, erreichte er Cheshunt Toller lange vor dem Viehtreiber. Als die muhende braune Herde in Sicht kam, tat er so, als spiele er in der Gosse. »'n Morgen, Mister«, sagte er zu dem Viehtreiber, einem schweren, schwarzbraunen Mann, der ein rotes Halstuch trug. Er sah aus wie ein Zigeuner. Der Viehtreiber gab keine Antwort, schaute den Kleinen John kaum an, denn in diesem Augenblick war eine der Färsen, ein kleines, rotbraunes Tier, ausgebrochen und raste einen 154
Seitenweg hinunter. Der Treiber schickte eine Flut von urwüchsigen Flüchen hinterher. »Schon gut, Mister, ich hol sie Ihnen«, schrie der Kleine John. Er rannte hinter der Färse her und stellte sich dem armen verdutzten Biest entgegen. Es senkte den Kopf, Schaum hing ihm aus dem Maul, dann wandte es sich ungeschickt und fiel dabei auf der glatten Straße auf die Knie. »Gut gemacht, Kleiner, dieses Biest ist ein –«. Der Treiber benutzte ein Wort, das dem Kleinen John neu war. »Es hat schon seit den ›Märtyrern‹ verrückt gespielt.« »Geh'n Sie nach Brendon, Mister?« fragte der Kleine John munter. »Ja, tu ich – leider.« »Kann ich mitkommen und Ihnen treiben helfen?« »Mußt du nicht in die Schule?« »Nein«, sagte der Kleine John. »Ich geb dir drei Pennies, wenn du mir treiben hilfst«, sagte der Mann plötzlich. »Hier – ich mein's ernst – schau.« Er zeigte ihm drei sehr dreckige Pennies. »Drei Pennies, wenn du mir hilfst.« »Gut, Mister, ich komme mit«, sagte der Kleine John und versuchte – sehr schlecht – den Dialekt der Gegend nachzuahmen. Um es realistischer zu machen, spuckte er aus und ging breitbeinig dahin, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Du bist'n guter Junge«, sagte der Treiber, »einer von der richtigen Sorte.« »Das ist meine gute Tat«, sagte der Kleine John artig. »Ich bin bei den Pfadfindern, wissen Sie.« Das stimmte sogar. Harold war in Banchester bei den Wölflingen. »Aha!« Der Kleine John genoß diesen Marsch durch den frühen Morgen bei aufgehender Sonne. Die muhende Herde schaukelte auf der ländlichen Straße vor ihnen her. Er lief wie ein Terrier um die plumpen Tiere herum. »Du bist besser als'n Hund, Kleiner«, sagte der Treiber, 155
zog eine scheußliche Pfeife aus der Tasche und steckte sie an. »Wie heißt du denn?« »Harold Hawkins«, sagte der Kleine John prompt. »Verwandt mit Mr. Hawkins, der in Cheshunt Toller die Bäckerei hat?« »Enkel«, sagte der Kleine John mit scheinheiliger Miene. »Ich kenn deinen Großvater«, rief der Treiber, »ich geh oft rein, wenn ich vorbeikomm und hol mir Brot. Bäckt gutes Brot, dein Großvater, das muß man sagen. Wo wohnst du denn, Junge?« Der Kleine John war für einen Moment sprachlos. »London.« Das schien ihm im Augenblick am ungefährlichsten. »Ah – ich dacht mir schon – du siehst nicht wie'n Junge vom Land aus.« Der Kleine John wußte nicht, ob das ein Kompliment sein sollte. »Ich bin noch nie in London gewesen«, fuhr der Treiber fort. Zur großen Erleichterung des Kleinen John stockte das Gespräch für eine Weile. Sie hatten sich auf dünnem Eis bewegt. »Du hast wohl nichts von den Jungen gesehen, die aus Cherry Walden weggelaufen sind?« »Was für Jungen?« Der Kleine John tat ganz unschuldig, obwohl sein Herz fast still stand. »Wie ... hast du nichts davon gehört ... na, das kann schon sein, wenn du erst seit kurzem hier bist. Aber drei Jungens – feine Pinkel waren das – sind aus Dower House weggelaufen, und die ganze Polizei war hinter ihnen her. Die haben sie aber nicht gekriegt. Ich hab auch die Augen aufgehalten, es gibt fünfzig Pfund für 'ne Information, die zur Festnahme führt.« »Fünfzig Pfund!« Der Kleine John stieß einen Pfiff aus. Das war das erste Mal, daß er davon hörte. »Ja, fünfzig Pfund, 'ne große Zeitung hat sie ausgesetzt. Aber bis jetzt hat niemand Anspruch drauf erhoben. Ich könnt fünfzig Pfund gut gebrauchen, das kann ich dir 156
sagen.« Der Treiber sah den kleinen John plötzlich scharf an. »Fünfzig Pfund is 'ne Menge Geld.« »Die sind wahrscheinlich auf ein Schiff ausgerissen«, sagte der Kleine John. »Das hätt' ich auch immer gern getan.« »Nein, man vermutet, daß sie sich irgendwo in den Wäldern verstecken. Sie sind einmal im Hochwald oben bei Cherry Walden gesehen worden. Das war 'ne komische Treibjagd, nach allem, was so erzählt wird. Hunderte von Polizisten und anderen Leuten hinter ihnen her, aber man hat sie nicht gekriegt. Die sind schlau wie die Füchse. Ihre alte Tante ist ganz fertig, hat man mir erzählt.« Der Treiber zog an seiner Pfeife und versetzte einer Kuh einen fürchterlichen Schlag auf das eckige Hinterteil. »Ho! Ho!« schrie er. »Hüh, hüh, hüh!« Der kleine John hatte noch nie ein solches Gebrüll gehört. »Hüh, Hüh!« schrie er, es machte richtigen Spaß. Die Sonne war inzwischen höher gestiegen, weißer Staub stieg auf, von den Höfen her bellten die Hunde sie an, Bauern ratterten auf zweirädrigen Wägelchen vorbei. Sie erreichten Brendon ohne Zwischenfall, und der Kleine John half dem Treiber, das Vieh den Hügel hinunter, vorbei an der höheren Schule und dem Gasthaus »Zum Prinzen von Wales« zum Viehmarkt am Bahnhof zu treiben. »Hör mal«, sagte der Treiber und zog die versprochenen drei Pennies hervor, »vielleicht hab ich heute nachmittag ein paar Schafe für Mr. Hanro. Wenn du mich hier um zwei Uhr erwartest und mir hilfst, sie zurückzutreiben, geb ich dir noch mal drei Pennies. Was meinst du?« »Gut, Mister, ich werd hier sein.« Der Kleine John war dem Treiber dankbar. Was für ein Glück hatte er gehabt. In seiner Gesellschaft würde ihn keiner verdächtigen, und vielleicht konnte der Mann ihm helfen, seine Einkäufe zu tragen, die würden ziemlich schwer sein. Er ging zuerst zum Büchsenmacher und kaufte hundert Schuß Kleinkalibermunition. Dann kaufte er die 157
Kohlköpfe, Streichhölzer und Salz, ein Pfund Zucker, und beim Sattlermeister kaufte er Zwirn und eine dicke Nadel. Der Mann hinter der Theke, ein älterer Mensch mit einem Walroßbart und einer stahlgefaßten Brille schaute ihn so scharf an, daß er froh war, aus dem Laden zu kommen. Als er seine Einkäufe getätigt hatte, war es fast Mittag, und er war hungrig wie ein Wolf. Er kaufte sich ein wenig Schokolade – noch nie im Leben hatte ihm etwas so geschmeckt. Beladen mit seinen Einkäufen ging er um halb zwei zum Viehmarkt. Ein paar Polizisten machten die Runde, und einer schien den Kleinen John so mißtrauisch zu betrachten, daß dieser sich in eine Seitengasse verdrückte. Als er zum Markt zurückkehrte, war der Polizist weg. Der Markt war ein interessanter Platz voller Lärm, voll von Männern mit lauten Stimmen, fluchenden Treibern, voll vom Geblöke und vom Muhen von Hunderten von Tieren, die in eiserne Pferche gepreßt standen wie Sardinen in einer Dose. Die Sonne brannte herunter, und die Luft war zum Ersticken. Der Kleine John wünschte, der Treiber würde kommen. Schließlich sah er ihn, wie er eine erschrockene Herde von Schafen die Bahnhofstraße herunterzutreiben versuchte. Der Kleine John lief hinterher und schrie. »Ah, das ist brav«, sagte der Mann freundlich, »ich dachte schon, du kämst nicht mehr. Das wird 'ne teuflische Sache, die Biester ohne Hund aus der Stadt rauszubekommen.« Dem Kleinen John kam das auch so vor, besonders, wo er so viele Pakete zu tragen hatte. »Du hast scheint's eingekauft«, sagte der Treiber. »Du siehst aus wie'n Weihnachtsmann. Hier, laß mich das große Paket nehmen«, fügte er gutmütig hinzu. »Hallo, Kohl«, sagte der Mann überrascht, als er ihm die Köpfe abnahm. »Was braucht dein Großvater denn Kohl? Wächst der nicht in seinem Garten?« »Nein ... das heißt, er pflanzt nicht so viele«, sagte der 158
Kleine John hastig. »Jedenfalls hat er mir gesagt, ich soll welchen kaufen, er ißt Kohl sehr gern.« »Scheint so«, sagte der Treiber, »trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, warum er Kohl kauft.« Glücklicherweise brachen an dieser Stelle ein paar Schafe in eine Seitengasse aus, und der Kleine John mußte sie zurücktreiben. Alles ging gut, bis sie mitten in der Stadt die Straße nach Cheshunt Toller erreichten. Hier holte sie ein Planwagen mit einem Pferd ein, und sie mußten die Schafe auf die Seite treiben. Der Kleine John hörte, wie der Treiber den Fahrer des Wagens begrüßte: »Hallo, Mister Hawkins, heut hab ich einen guten Schäferhund bei mir.« »Was hast du?« »Einen guten Schäferhund. Euren Enkel.« Der Kleine John fühlte, wie ihm das Herz in die Hosen sank. Er blickte sich um. Es war der Planwagen des Bäckers aus Cheshunt Toller, an der Seite standen in verschnörkelten goldenen und braunen Buchstaben die Worte: Thos. Hawkins, Bäcker und Konditor, Cheshunt Toller. »Mein was?« schrie der Fahrer, ein bärtiger Mann mit rotem Gesicht und einem Glasauge. »Euer Enkel, Harry. Er hat mir heute morgen geholfen, die Kühe hereinzutreiben, und jetzt hilft er mir, die Schafe nach Cheshunt Toller zurückzubringen. Ihr habt doch nichts dagegen?« sagte der Treiber lächelnd und wandte sich dem Kleinen John zu. »Hier Harry, hier ist Euer Enkel.« Der Kleine John sah seinen »Opa« an, er überlegte fieberhaft. Der Treiber hatte die Kohlköpfe. Er mußte sie ihm abnehmen und sich davonmachen. »Was heißt hier Enkel?« sagte Mr. Hawkins und betrachtete den Kleinen John mißtrauisch. »Nun, er ist doch Euer Enkel, Mr. Hawkins?« In dem roten bärtigen Gesicht schien etwas zu dämmern. Ein breites Lächeln erschien auf Mr. Hawkins Gesicht, aber erst, als er in fünfzig Metern Entfernung den Polizisten an der Straßenkreuzung erblickt hatte. »Doch, doch. Na, 159
Harry, mein Junge, schön, daß ich dich treffe«, sagte Mr. Hawkins. »Steig auf. Steig auf!« Der Kleine John war so verdattert, daß er wie ein Lamm gehorchte. Eine starke – sehr starke – Faust ergriff seinen Arm wie ein Schraubstock und zog den unglücklichen Vogelfreien auf den Kutschbock hinauf. »Tut mir leid, er muß mit nach Haus kommen«, sagte Mr. Hawkins. »Hört mal«, schrie der Treiber. »Kann er nicht bei mir bleiben und mir helfen?« »Tut mir leid«, sagte Mr. Hawkins kurz angebunden, »seine Oma wird sich schon Sorgen machen.« »Na, dann nimm wenigstens deinen Kohl mit«, sagte der Treiber ergeben und reichte die braune Papiertüte hinauf. Der Kleine John, der immer noch benommen war, nahm sie an. »Hüh Hott!« sagte Mr. Hawkins, und das Pferd trabte los. Im Kopf des Kleinen John arbeitete es fieberhaft. Was hatte der Mann vor? »Du wolltest doch sicher nicht weiter mit ihm gehen, Junge«, sagte Mr. Hawkins und schnalzte mit der Zunge, um das Pferd anzutreiben. Dabei beobachtete er den Kleinen John scharf aus dem Augenwinkel. »Das ist ein ekliger grober Kerl. Du kannst mit mir die Straße nach Cheshunt Toller runterfahren.« Der Kleine John sagte nichts, er scharrte nur mit den Füßen. Als sie den Polizisten an der Straßenkreuzung erreicht hatten, bemerkte der Kleine John etwas Seltsames. Mr. Hawkins Hand, die den Zügel hielt, zitterte. »Du hast wohl ein bißchen eingekauft, wie?« sagte Mr. Hawkins freundlich, blickte ihn aber mit seinem gesunden Auge um so schärfer an. Der Kleine John wußte nicht, in welches Auge er schauen sollte und sagte nichts. »Moment mal, mein Jungchen«, sagte er und hielt das Pferd an, »ich hab mit dem Bobby was zu bereden.« Blitzartig hatte der Kleine John erfaßt, was für ein Spiel 160
Mr. Hawkins spielte. Der Mann hatte ihn erkannt, und die zitternde Hand schloß sich in Gedanken schon um die fünfzig Pfundscheine. »Gut, Mr. Hawkins«, sagte der Kleine John ganz zahm. Die Schafe, die hinter dem Wagen herkamen, machten einen solchen Lärm, daß Mr. Hawkins sich von seinem Sitz herunterbeugen mußte, um die Aufmerksamkeit des Polizisten auf sich zu ziehen. Zur gleichen Zeit griff seine linke Hand nach des Kleinen John Rockkragen. Der handelte blitzschnell. Mit aller Macht stieß er seinen Ellbogen Mr. Hawkins in die Seite, so daß der unglückselige Mann den Halt verlor und zur Seite stürzte. Er fiel vom Wagen fast direkt auf den Polizisten, der sich umgedreht hatte und den Bäcker in seinen Armen auffing und ihn festhielt wie einen riesigen Teddybär. Im nächsten Augenblick hatte der Kleine John die Zügel ergriffen, dem erschrockenen Pferd mit der Peitsche eins übergezogen, und schon donnerte er mit Pferd und Wagen die Straße nach Cheshunt Toller entlang. Hinter sich hörte er Schreie, Gekreisch und Getümmel vermischt mit dem Geblöke der Schafe und dem Aufschrei des überraschten Treibers. Als der Kleine John einen schnellen Blick nach hinten warf, sah er, daß alles hinter ihm hergerannt kam, Schafe, Treiber, Polizist und Mr. Hawkins. Der Kleine John peitschte auf das Pferd ein. Sie waren immer noch mitten in der Stadt, aber das Pferd, erschrocken über den Lärm, brauchte keine Peitsche. Der Wagen schwankte, der Kleine John erblickte einen dicken Krämer in weißer Schürze, der heldenhaft aus seiner Ladentür gestürzt kam und die Arme vor dem Pferd ausbreitete. Das Pferd scheute, der Wagen geriet auf den Bürgersteig, und ein hoher Stapel von Weidenkörben mit Frühkartoffeln purzelte und ergoß sich mitten auf die Hauptstraße. Frauen kreischten, Jungen drückten sich mit blassen Gesichtern gegen die Schaufenster, ein dicker Geistlicher auf einem Dreirad stürzte und verstreute dabei Bücher und 161
Pakete über den Bürgersteig, Hunde flohen mit eingekniffenem Schwanz in Seitengassen, aber »Thos. Hawkins, Bäcker und Konditor« flog dahin, schaukelnd wie ein Schiff im Sturm, verlor Mehlsäcke aus der hinteren Ladeklappe und zog eine weiße Spur hinter sich her. Ein Polizist am Ende der Straße sah den flüchtigen Wagen auf sich zugedonnert kommen. Mit großem Mut streckte er die Arme aus, wie ein Mann, der versucht, einen Ball zu fangen. Seine Augen starrten, der Mund war ein grimmiger Strich, während er hin und her sprang. Aber auch er verschwand in einer Wolke von Staub. »Turump, turump, turump«, donnerten die Hufe des Pferdes. Der Kleine John sah vor sich den schweißbedeckten Hals und die fliegende Mähne steigen und fallen wie den Kolben einer Pumpe. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so schnell bewegt, und auch das Pferd nicht. Er stand jetzt da wie einer der alten griechischen Wagenlenker, schrie aus Leibeskräften und peitschte erbarmungslos auf das Pferd ein. Wie Windstöße hörte er die Schreie von Männern. »Haltet sie, haltet sie! Ah, Ah! Zieh am Zügel, Junge, zieh am Zügel...« Nie hatte der Kleine John Leute sich so schnell bewegen sehen. Sie kamen ihm vor wie Puppen, die an Drähten zappeln oder wie in einem zu schnell laufenden Film. Der Wagen donnerte am »Prinz von Wales« vorbei wie eine Flutwelle. Vor ihm war die Straße voll starrender Leute. Wenn er näher kam, wichen sie in Ecken und Ladeneingänge zurück oder duckten sich hinter Laternen. Wenn er vorbei war, stürzten sie wieder auf die Straße und rannten hinter ihm her. Der Lieferwagen eines Eisenwarenhändlers und ein Bauer in seiner Kutsche hatten die Verfolgung aufgenommen, auch diese beiden spornten ihre Pferde mit der Peitsche an. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren Autos noch nicht so häufig wie heutzutage. Am Straßenrand parkten zwei Autos, und gleich hinter dem »Prinz von 162
Wales« stand der herrliche Rolls Royce des Herzogs von Brendon. Unglücklicherweise standen diese Autos in der falschen Richtung, und in diesen frühen Tagen der Motorisierung kostete es viel Zeit, einen Wagen zu wenden. Es dauerte nicht lange, dann hatte der Kleine John den Lärm und das Getümmel hinter sich gelassen und donnerte, immer noch die Peitsche schwingend, die Landstraße nach Cheshunt Toller entlang. Das Pferd kannte seinen Heimweg, und es war ein junges Pferd. Die anderen Wagen hatte er weit hinter sich gelassen, und als er sich hastig umschaute, stellte er fest, daß für den Augenblick keine Verfolger zu sehen waren. Das Pferd schnaubte wie ein Wal, aber es lief immer noch, Funken stoben unter seinen Hufen hoch, und der letzte Sack Mehl purzelte auf die Straße. Der Kleine John hatte mit einem Tritt nachgeholfen. Wie ein Ballonfahrer warf er allen Ballast ab. Der Sack platzte beim Aufprallen, und eine weiße Mehlwolke stieg auf. Er hatte nur noch etwa zwei Kilometer bis Cheshunt Toller, als er hinter sich eine Staubwolke mit einem schwarzen Mittelpunkt um die Kurve biegen sah, die er eben durchfahren hatte. Es war die Limousine des Grafen von Brendon! Eine neue Biegung lag dicht vor ihm. Gleich dahinter brachte der Kleine John das schäumende Pferd zum Stehen, sprang ins Gras am Straßenrand und versetzte dem Pferd einen letzten Schlag mit der Peitsche. Wieder raste der Bäckerwagen los, und im nächsten Augenblick lag der Kleine John, der seine kostbaren Einkäufe immer noch an sich drückte, im Graben. Ein Wirbelwind fegte mit Getöse vorbei. Es war die Limousine. Der elegant uniformierte Chauffeur hing mit angespanntem Gesicht über dem Lenkrad, und neben ihm saß ein Polizist. Auf dem Rücksitz wurde der Herzog von Brendon in wenig würdevoller Manier hin und her geschleudert. Er klammerte sich an eine quastenverzierte Kordel und schrie dem Chauffeur irgend etwas zu. Und dann 163
... trat tiefer Friede ein. Nur in der Ferne hörte man einen Hirten seine Herde zusammenrufen. Er ahnte nicht, welch welterschütternde Ereignisse auf der Straße nach Brendon vor sich gingen. Eine weiße Staubwolke stand in der Luft und ließ sich sanft auf den Schierling nieder, der im Graben wuchs und schon Samen angesetzt hatte. Der Kleine John kroch auf dem Bauch zwischen zwei dicken Weißdornstämmen hindurch, wobei er seine Pakete hinter sich her zog und sich Hände und Gesicht an den Brennesseln verbrannte. Dann blieb er, halb verborgen im hohen Unkraut und Gras liegen und suchte mit den Blicken das Gelände auf der straßenabgewandten Seite der Hecke ab. Gleich vor ihm lag eine tiefe schmale Schlucht, die offenbar als Müllgrube diente, ein Dickicht von blühendem Holunder – der fast betäubend duftete – von Nesseln und Brombeeren, eine herrliche Wildnis, die einem Vogelfreien auf der Flucht reichlich Deckung bot. Die Müllhalde war von einem dichten Lattenzaun umgeben, und dahinter lagen Gemüsegärten, offenbar die Gärten des Dorfes, und dort, nicht weit vom Zaun entfernt, stand ein Mann in Hemdsärmeln und grub fleißig. Der Kleine John wußte, daß seine Verfolger wahrscheinlich zurückkommen würden, sobald sie merkten, daß der Wagen ohne Lenker war. In der Müllhalde würde er ziemlich sicher sein. Noch während er dalag und überlegte, hörte er, wie das Auto langsam auf der Straße zurückgefahren kam. Er mußte handeln. Er kroch aus dem Graben und schnell unter dem Zaun am Rand der Grube hindurch. Im nächsten Augenblick schlitterte er mit seinen Paketen hinunter in das Buschwerk. Einige Minuten lang blieb er ganz still liegen. Über sich hörte er einen Grünfinken singen, er konnte ihn wie einen kleinen grünen Papagei zwischen den Holunderblüten sitzen sehen. »Drisio! Drisio!« sang er, ein eigenartiges, fast tropisches Lied. Die schrägen Strahlen der Sonne fielen auf den Holunderbusch, und in ihrem Schein hoben sich 164
Blätter und Vogel leuchtend grün gegen den blassen Himmel ab. Aber unten in der Schlucht war es ganz schattig. Der scharfe, stechende Geruch der Brennesseln und der nun fast ätzende Duft des Holunders stieg ihm in die Nase. Bald hörte er Stimmen auf der Straße und das Brummen eines Motors. Ganz in seiner Nähe rief ein Mann: »He!« und noch einmal: »He!« Der Grünfink flog mit einem erschrockenen Piepsen auf. Eine zweite Stimme kam aus den Gärten. Die Verfolger waren ihm offenbar auf der Spur. Hatte jemand gesehen, wie er in die Schlucht kletterte? Er spähte durch das dichte Laub und sah die blaue Kuppel eines Polizistenhelms, die sich über dem Zaun auf die Gärten zu bewegte. Eine Zeitlang war alles still, so still, daß ein leises Rascheln unterhalb der Stelle, wo er lag, ihn hinschauen ließ; er sah gerade noch, wie eine große braune Ratte über eine rostige Konservendose hinweghuschte. Dann hörte er, wie das Auto wieder startete und in Richtung Brendon davonfuhr. Der Kleine John konnte wieder atmen. Nach kurzer Zeit hörte er das leise Schleifen von Füßen im hohen Gras, und als er wieder durch den Blättervorhang spähte, sah er den Mann, der in dem Garten gegraben hatte, auf den Zaun zukommen. Er war jetzt nur drei Meter von ihm entfernt, die Abendsonne lag voll auf ihm. Es war ein dicker, rotgesichtiger Landarbeiter mit buschigen weißen Augenbrauen. Er zog heftig an einer kurzen Pfeife, und die blauen Rauchwolken sahen aus wie Stöße von Pulverdampf aus einer lautlosen Kanone. Die Luft war ganz still. Der Mann lehnte die Arme oben auf den Zaun und schaute in die Schlucht hinunter, einmal kam es dem Kleinen John so vor, als schaue er ihn direkt an. Immer noch paffend, neigte er den Kopf vor und spähte hierhin und dorthin. Der Kleine John konnte seinen Knaster riechen. Offenbar hatte der Polizist dem Mann gesagt, ein Flüchtiger, den sie suchten, hielte sich in der Gegend versteckt. Es kam dem Kleinen John so vor, als müsse der Mann ihn 165
zwischen den Büschen kauern sehen, aber er sah ihn nicht. Denn nachdem er mindestens drei Minuten da gestanden hatte, die starken braunen Arme oben auf den Zaun gelehnt, richtete er sich auf und ging langsam in Richtung auf den Garten davon. Der Puls des Kleinen John beruhigte sich – er hatte wie ein Hammer in seinen Schläfen geklopft. Jetzt war wieder alles ruhig. Er warf einen Blick den wüsten Abhang hinunter, er sah ein zerbrochenes Bettgestell, eine alte Zinkwanne, mehrere Fahrradgestelle und Hunderte von Blechbüchsen. Die Einwohner von Cheshunt Toller schienen nur von Konserven zu leben. Von Zeit zu Zeit tauchten Ratten auf, eklige Ungeheuer mit schuppigen Schwänzen, die zwischen den Abfällen wühlten. Da hatte er sich ein recht unappetitliches Versteck ausgesucht. Langsam ging die Sonne unter. Bald würde es Zeit sein, sich auf den Weg zu machen. Alle Geräusche, die auf Verfolgung deuteten, waren verstummt. Dann tauchte der erste Stern auf, noch schwach zuerst, zitternd wie ein winziger Diamant in einer grünblauen See – dann strahlte er immer heller. Die Ratten fingen an, laut und frech zu werden. Blechdosen klapperten, und Tom sah eine Ratte auf dem Kopfende des Bettes entlanglaufen. Ihn schauderte. Wenn er noch länger blieb, würden sie ihn vielleicht angreifen; wüst genug sahen sie aus. Ganz vorsichtig kroch er den Abhang hinauf und spähte zwischen dem Gras hindurch. Die Gärten lagen verlassen da, der Arbeiter war nach Hause gegangen. Zentimeter um Zentimeter schob er sich unter dem Zaun durch. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Irgendwo zur Rechten, hinter den Gärten, lag der Forst von Brendon. Bald würde es ganz dunkel sein, und dann konnte er sich auf den Weg machen. Fledermäuse flatterten vorbei, und hinten in Cheshunt Toller hörte er eine Mundharmonika spielen ... Er sammelte seine Einkäufe, Haferflocken, Salz, Zuckertüten und die lästigen Kohlköpfe. Die waren ihm am 166
meisten hinderlich gewesen. Aber überraschenderweise hatten sie sich nach Kohl gesehnt. Der Sauerampfer und die Brennesseltriebe, die sie im Lager kochten, genügten ihnen als Gemüse nicht. Der Kleine John betrachtete die beiden großen grünen Kugeln; das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er war froh, daß er sie bei der wilden Flucht nicht zurückgelassen hatte. Ein letztes Mal schaute er sich um, dann richtete er sich auf und begann seinen Weg quer über die Wiesen. In demselben Augenblick standen Robin und der Große John an dem Gatter, das auf die Straße durch den Forst führte, und warteten voller Ungeduld. Auf dem matten Band der Straße, das wegen der dichten Wand von Bäumen zu beiden Seiten hier noch undeutlicher zu sehen war, ließ sich niemand blicken, nur Kaninchen hoppelten von einer Seite zur anderen, als wären es aufgedrehte Spielzeuge. »Wie spät mag es sein«, sagte Robin leise, »er hätte längst zurück sein müssen. Es muß schon nach elf sein.« »Wenn wir ganz still sind, hören wir vielleicht die Kirchturmuhr von Cheshunt Toller schlagen«, flüsterte der Große John. »Vielleicht kommt er nicht auf diesem Weg zurück, vielleicht kommt er von der anderen Seite her in den Wald«, meinte Robin. »Den Weg kennt er nicht.« »Da hast du recht. Aber wenn sie hinter ihm her sind, versucht er es auf jede nur mögliche Weise.« »Laß uns zur Eiche zurückgehen. Er wird schon auftauchen«, sagte Robin, aber sein Herz war sorgenschwer. Sie erreichten die Lichtung, und Peng jaulte vor Freude und zerrte an seiner Leine aus Schweinsleder. Sie banden ihn los, und er rannte hin und her durch den Farn, mit gestrecktem Schwanz und flatternden Ohren. »Still Peng, komm und leg dich«, befahl Robin. »Leg dich.« Peng warf sich der Länge nach hin. Er keuchte. Der Große John wühlte die Asche auseinander und fand 167
darunter ein paar glimmende Stücke Glut. Gleich darauf leckten die Flammen hoch und knisterten fröhlich. Sie stellten eine Pfanne mit Fisch aufs Feuer, und Robin wusch ein paar neue Kartoffeln, die sie in einem Feld am Rande des Waldes ausgegraben hatten. Nachdem sie gegessen hatten, legten sie frisches Holz auf, lagen da und lauschten. Peng saß daneben, leckte sich die Lippen und gähnte von Zeit zu Zeit. Er hatte Kaninchenfleisch zum Abendessen bekommen und war zufrieden. Plötzlich sahen die Jungen, wie er die Ohren spitzte und seine Muskeln sich spannten; sie wußten, daß jemand sich näherte. Robin stieß zweimal einen leisen Eulenruf aus – das war ihr Erkennungszeichen, und leise kam die Antwort zurück. »Gut gemacht!« rief Robin, »er ist zurück!« Es raschelte in den Büschen, und der Kleine John humpelte ins Licht des Feuers. Er war mit Paketen beladen, und sein bloßes rechtes Knie war blutverkrustet – »Puh!« Er pfiff durch die Zähne und ließ sich müde neben die Brüder fallen. »Gebt mir was zu essen.« Sie häuften ihm Bratkartoffeln und fetten Fisch auf den Teller und sahen zu, wie er alles ohne ein Wort hinunterschlang. »Na«, sagten die beiden Brüder wie aus einem Mund, als er aufgegessen hatte, »du hast also alles gekriegt!« »Ja, alles: Kohl, Patronen« – der Kleine John warf ihnen die einzelnen Teile zu – »Streichhölzer, Zucker, Haferflokken. Mehl, Salz, Garn – ich glaub, das ist alles, und ich hab noch sechs Schillinge übrig.« »Sieht so aus, als hätt'st du um dein Leben laufen müssen«, sagte Robin und betrachtete das zerschrammte Knie. »Was ist passiert? Hat man dich erkannt?« »Erkannt? Das will ich meinen. Ich bin in einem Bäckerwagen aus Brendon geflohen, die ganze Bevölkerung war hinter mir her mit Fahrrädern, Wagen, Kutschen, Autos und zu Fuß. Das war bestimmt der aufregendste Markttag, den sie je in Brendon erlebt haben. Und ich hab 168
sie doch abgehängt und mich in 'ner Müllkippe vor Cheshunt Toller versteckt.« »Verdammt«, sagte Robin, als er die ganze Geschichte gehört hatte, »ich wußte, daß so etwas passieren würde. Jetzt werden alle hinter uns her sein wie Terrier hinter einer Ratte. Sie werden den Forst von einem Ende zum andern durchkämmen. Sie werden vermuten, daß wir uns hier versteckthalten. Und dazu diese fünfzig Pfund Belohnung – puh, das wird sie noch eifriger machen. Aber sie werden uns nicht kriegen, sie werden uns nicht fangen, vorher müssen sie jeden Baum im Wald umhauen. Wir sind wie Kaninchen in einem Holzstoß. Aber wir dürfen nie mehr nach Brendon oder sonstwohin zum Einkaufen. Wenn wir das hier verbraucht haben, müssen wir auch so zurecht kommen.« Der Kleine John wischte sich vorsichtig die Knie. »Das hab ich mir geholt, als ich vom alten Hawkins seiner Karre gesprungen bin«, sagte er nachdenklich. »Puh«, er knöpfte seine Jacke auf und legte sich zurück. »Ich dachte schon, die hätten mich am Wickel. So ein Pech, daß der alte Hawkins mit seiner Karre daherkommen mußte! Wenn das nicht passiert wäre, hätte niemand was gemerkt.« »Ich dachte, sie hätten dich beim Büchsenmacher geschnappt«, sagte Robin. »Ich hätte gewettet, daß die Polizei denen gesagt hat, sie sollten die Augen aufhalten.« »Da hat mich ein Mädchen bedient«, sagte der Kleine John, »vielleicht wär es sonst brenzlig geworden.« »Da hast du Glück gehabt«, sagte Robin. »Wenn wir vorsichtig mit der Munition umgehen, sollte sie uns jetzt bis zum Schluß reichen. Ich wette, du bist jetzt bettreif, Kleiner John.« »Du sagst es, heute nacht werde ich schlafen wie ein Sack.« »Die nächsten drei Schüsse mit dem Gewehr sind für dich«, sagte Robin. »Du hast es verdient, Bruder!«
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KAPITEL 13
Smokie Joe In den Wochen, die auf das Abenteuer des Kleinen John folgten, waren die Vogelfreien noch wachsamer als sonst. Falls man nach ihnen suchte, so sahen und hörten sie allerdings nichts davon; der Forst von Brendon bedeckte einen weiten Landstrich. Wären sie näher an die Straße herangekommen, hätten sie des Abends müde, zerkratzte Männer nach Hause zurückkehren sehen, und ihr könnt sicher sein, daß die an der Theke des Wirtshauses »Zu den Märtyrern« allerlei seltsame Geschichten zu erzählen hatten. Sogar die Geschichte mit Buntings Hosen hatte sich in einer grotesk entstellten Form verbreitet, obwohl Ernie dem Opfer feierlich Schweigen gelobt hatte. Die Jungen bemerkten etwas Neues im Wald, eine leise Veränderung, die besonders am frühen Morgen und spät abends zu spüren war. Ohne daß sie sich dessen bewußt geworden waren, war der Juli gekommen und vergangen – ein heißer, schwüler Juli – und jetzt war Mitte August. Es war seltsam still geworden, die Blätter schienen müde, außer den Rotkehlchen sang kein Vogel mehr im ganzen weiten Waldgebiet. Ein anderes Zeichen des vergehenden Sommers war das zerzauste Aussehen der silbrigen Perlmutterfalter. Im Juli hatte man diese herrlichen Schmetterlinge auf jedem Waldweg gesehen. Besonders Robin war von ihrer schillernden Schönheit beeindruckt. Sie tanzten über den Waldwegen und den Lichtungen wie lebendige Flämmchen, und einmal sah er einen blütenüberladenen Brombeerstrauch, der ganz von diesen schönen Insekten bedeckt war, die sich am Saft der weißen Blüten ergötzten. Die Weißen Admirale waren verschwunden, und nur noch ein einziges Mal sah Robin einen Großen Schillerfalter denselben Baum am Verborgenen Weiher umkreisen. 170
Die Vogelfreien suchten die Salweiden nach den Larven dieser Falter ab, aber ohne Erfolg. Doch der Große John fand an einem Geißblattzweig die Raupe eines Weißen Admirals. Es war ein seltsames kleines Geschöpf, dessen Grün sich der Farbe des Geißblatts genau anpaßte. Bei seinen Streifzügen fand der Große John auch einmal das Nest eines Ziegenmelkers. Er wäre beinahe auf den Vogel getreten, der aus dem gerippten Farn in einer kleinen Lichtung aufflog. Er sah gar nicht wie ein Vogel aus mit seinen Krötenaugen und dem seltsam gefleckten Gefieder. Die beiden lebhaft marmorierten Eier lagen dicht nebeneinander an seinem rechten Fuß; etwas so Schönes hatte er noch nie gesehen, sie sahen aus wie schön gezeichnete Steine. Er nahm sie mit ins Lager und versuchte sie auszublasen, aber zu seiner Enttäuschung waren sie schon fest. Drei Tage nach dem aufregenden Abenteuer des Kleinen John verkündete Robin, er wolle »im Inneren« des Forstes, jenseits des Blinden Weihers, jagen gehen. Er sagte auch, er wolle allein gehen und Peng mitnehmen. Der Große und der Kleine John wären gern mitgekommen, aber Robin lehnte ab. Er war ein seltsamer Junge; die Natur schien ihm viel mehr Freude zu bereiten, wenn er allein war. Die Entdeckung des Verborgenen Weihers war für ihn ein tiefes Erlebnis gewesen, an das er sich mit Dankbarkeit erinnerte. »Ich nehme das Gewehr mit«, sagte Robin, »und bleibe vielleicht über Nacht. Macht euch also keine Sorgen, wenn ich bei Dunkelwerden nicht zurück bin.« »Warum denn?« fragte der Große John. »Wir sind doch alle Vogelfreie, oder nicht? Wir sollten also auch zusammenbleiben.« »Aber nein. Robin Hood hat auch nicht immer mit der ganzen Bande gejagt. Er ist oft tagelang allein weggegangen.« »Willst du Smokie Joe suchen?« »Vielleicht.« »Gehst du deshalb allein?« fragte der Große John. 171
»Nicht nur. Ich suche überhaupt nichts Besonderes, ich will nur einmal einen langen Ausflug ins Unbekannte machen.« »Ich finde, wir sollten mitkommen«, grollte der Kleine John, »besonders, nachdem ich allein nach Brendon gegangen bin.« »Tut mir leid, Jungens«, sagte Robin kurz angebunden, »aber ihr könnt nicht mitkommen, und damit hat sich's. Peng und ich kommen schon zurecht. Wir sind übermorgen zurück, und wenn ich den alten Smokie Joe finde, vielleicht auch früher.« »Ich weiß nicht, welchen Sinn es haben soll, Smokie Joe zu suchen«, sagte der Kleine John mürrisch, »wenn er uns sieht, wird er uns nur verraten.« »Er wird uns nicht sehen – das heißt, er wird mich nicht sehen – macht euch keine Sorgen«, sagte Robin und grinste, »aber ich muß ihn mir einmal ansehen. Er lebt jetzt schon jahrelang hier im Wald und muß doch allerlei wissen. Der Weißfisch hat mir gesagt, er sei ein herrliches altes Unikum mit einer riesigen Nase, ein richtiger wilder Mann.« »Du mußt etwas zu essen mitnehmen«, sagte der Kleine John. »Es ist noch ein bißchen Schinken da – für eine Mahlzeit reicht es noch. Und wie ist es mit was zu trinken?« »Brauch ich nicht«, sagte Robin. »Ich werde schon einen Bach oder eine Quelle finden. Ich kann mich nicht mit Töpfen und so was belasten. Je weniger ich zu tragen habe, desto besser.« »Wo wirst du schlafen?« »Das macht mir keine Sorge. Ich werde schon eine Stelle finden.« »Was sollen wir machen, wenn du weg bist? Wir haben nicht einmal Peng zur Gesellschaft.« »Versucht noch mehr Schleien im Verborgenen Weiher zu angeln. Je mehr wir jetzt fangen, desto mehr haben wir für den Winter. Wir können sie salzen und räuchern, genau wie das Schwein.« 172
»Trotzdem – ich finde, du könntest uns mitnehmen«, sagte der Kleine John beleidigt. »Man sollte meinen, ich bliebe mindestens eine Woche weg«, sagte Robin, »ich bin übermorgen zurück.« »Wer weiß«, sagte der Große John düster. »Wenn du jetzt geschnappt wirst und nicht zurückkommst – wir würden nicht einmal wissen, was dir passiert ist.« »Ihr würdet sicher geradewegs zurückgehen und euch ergeben«, sagte Robin böse. »Das Schlimme ist, ihr Burschen habt kein Selbstvertrauen.« Die anderen schwiegen gekränkt. Robin machte sich am anderen Morgen früh auf den Weg. In der Tasche hatte er sechs Scheiben selbstgeräucherten Schinken und zwanzig Kleinkaliberpatronen. Der Abschied war ein bißchen kurz, aber die beiden andern wünschten ihm, wenn auch grollend, viel Glück. Er schlug den Weg zum Verborgenen Weiher ein. Als er ihn erreichte, sah er auf dem Wasser kein Zeichen von Leben. Die Moorhühner hatten sie alle erlegt, und die Ente war seit ihrem ersten Besuch nicht wieder aufgetaucht. Bald war er in einem Teil des Forstes, der ihm noch unbekannt war. Hier und da wuchsen dicke Stechpalmen, deren Beeren schon gelb waren. Es waren schöne alte Bäume, sehr hoch und buschig, mit seltsamen schwarzen Knoten und Klumpen wie Warzen an den glatten grünen Stämmen. In diesem Teil des Waldes gab es viele Tauben, vielleicht, weil sie gern in den Stechpalmen nisten und auch die reifen Beeren gern fressen. In Robins Vorstellung hatten Stechpalmen immer mit Weihnachtsferien in Cherry Walden zu tun und mit Spaziergängen mit Miß Holcome auf den matschigen winterlichen Straßen. Unter den Bäumen lagen die vertrockneten und vermoderten Blätter wie ein Teppich. Sie eigneten sich hervorragend zum Feuer machen; auch die dünnen Zweige der Stechpalmen brennen leicht, sogar bei feuchtem Wetter. 173
Robin sah viele Taubennester, obwohl der Sommer schon fortgeschritten war. Er kletterte zu einem der Nester hinauf, während Peng geduldig unten sitzenblieb und mit gespitzten Ohren zu ihm hinaufschaute. Robin fand zwei fast flügge Täubchen im Nest. Er nahm sie beide, denn junge Tauben schmecken besonders gut, und steckte sie in seine Tasche. Robin war froh, weil er so eine Patrone gespart hatte. Es war ein seltsam düsterer Tag. Die Wolken hingen tief, aber es ging kein Wind. Den ganzen Morgen über sah er nichts Besonderes, nur ein paar rote Eichhörnchen und zahllose Eichelhäher, die, wenn sie ihn in den Büschen entdeckten, einen solchen Lärm schlugen, daß er vor Nervosität mit den Zähnen knirschte. Die Eichelhäher sind die Wächter des Waldes. Manchen Wildhüter haben ihre schrillen, verräterischen Schreie auf die Spur eines Wilderers gebracht. Er stieß auf mehrere breite Waldwege. Auf einem fand er Radspuren, der Boden war tief gefurcht. Im Winter mußte es ein richtiger Sumpf sein. Unter einer Stechpalme machte er Rast und aß eine Scheibe Schinken. Dann tat es ihm leid, weil er danach sehr durstig war und kein Wasser finden konnte. Er wünschte jetzt, er hätte etwas zu trinken bei sich, aber sie hatten im Lager keine Wasserflasche, und er hatte nicht daran gedacht, eine aus der Schweineblase zu machen. Nach einer Weile legte sich der Durst wieder, und als er ein paar halbreife Brombeeren fand – die ersten in diesem Jahr – half ihm das sehr. Plötzlich bemerkte er, daß Peng unruhig wurde. Er setzte sich ganz aufrecht hin, spitzte die Ohren und schnupperte in die Luft. Robin horchte angestrengt, aber er hörte nichts als das sanfte Tröpfeln des Regens, denn der Himmel hatte sich immer mehr bezogen. Vielleicht war es dieses leichte ›Tick-tick‹ des Regens auf den Blättern, das den kleinen Hund unruhig machte. In einiger Entfernung lärmten ein paar Amseln, und ein Eichelhäher begann zu kreischen. Vielleicht hatten sie einen Fuchs gesehen oder eine Eule. Robin rief Peng zu sich und 174
zog sich vorsichtshalber in ein Haselgebüsch zurück. Unter der Stechpalme war er zu gut zu sehen gewesen. Und dann, ganz plötzlich, sah er in dreißig Metern Entfernung einen prächtigen roten Fuchs aus dem Farnkraut treten. Er schaute weder rechts noch links, sondern trottete gemächlich über eine kleine Lichtung. Als er den Rand der Lichtung erreicht hatte, schaute er, die eine Pfote erhoben, über die Schulter zurück, ein Bild wilder Anmut. Robin hatte sein Gewehr auf das Tier gerichtet, aber das Fell war schlecht. Fuchsfelle entwickeln erst im Winter ihre ganze Schönheit. Also nahm er den Finger vom Abzug, und einen Augenblick später war der Fuchs im Farnkraut verschwunden. Aber irgendetwas mußte den Fuchs aufgescheucht haben, und Robin blieb ganz still liegen. Im nächsten Augenblick regte sich wieder etwas in den Büschen, und ein Damhirsch trat zwischen zwei Stechpalmen hervor. Wie der Fuchs blieb er bewegungslos stehen. Der Wind mußte gegen Robin stehen, denn das Tier schaute nicht einmal in seine Richtung. Dies war erst der zweite Hirsch, den er im Forst sah, und er dachte daran, daß das Schwein inzwischen verzehrt war. Das Tier stand genau in seiner Schußlinie, er konnte nicht danebenschießen. Ganz vorsichtig hob er die Flinte und zielte ruhig zwei Zentimeter links neben das weit offene Auge, in dem alle Geheimnisse und jeder Schatten des Verborgenen Weihers lagen. Er drückte den Abzug ... und fluchte laut, denn statt des scharfen Knackens gab es nur ein dumpfes Klicken. Die Patrone hatte eine Fehlzündung. Aber der Hirsch hatte den winzigen Laut gehört. Mit einem herrlichen, hohen Sprung war er verschwunden. Nur ein Farnwedel nickte noch. Peng, der die ganze Zeit dicht hinter Robin gelegen hatte, stieß ein unterdrücktes, enttäuschtes Jaulen aus. Offenbar hatte er schon früher Rehwild im Wald gesehen. Zutiefst enttäuscht zog Robin den Bolzen zurück und holte die wertlose Patrone heraus. Es war eine von denen, die der 175
Kleine John in Brendon gekauft hatte. Die Kupferhülse war vom Bolzen eingedellt worden, hatte aber aus irgendeinem Grund das Pulver nicht zur Explosion gebracht. Mit einer ärgerlichen Bewegung warf er das nutzlose Ding weg und legte eine andere Patrone ein, eine die sie ursprünglich aus Cherry Walden mitgebracht hatten. Wenn er daran dachte, wie nötig sie Fleisch brauchten, und dann eine solche Gelegenheit zu verpassen! Dreißig Meter von ihm entfernt hatte genug Wildbret gestanden, um sie bis spät in den Winter hinein zu versorgen. Der sanfte Regen, der seit einiger Zeit gefallen war, hörte auf, und die Sonne versuchte, sich durch die Wolken zu kämpfen. Robin stellte fest, daß der Tag weit vorgeschritten war, er mußte weiter. Nach einiger Zeit kam er zu einem ausgetretenen Weg, der sich durch das Haselgebüsch schlängelte. Der Weg wurde offensichtlich so viel benutzt, und die Fußspuren, Spuren von genagelten Stiefeln, waren so frisch, daß Robin der Gedanke kam, dies müsse der Weg zu Smokie Joes Hütte sein. Peng begann, lästig zu werden, er winselte leise und versuchte, vorzulaufen. Schließlich wurde es so schlimm, daß Robin sich entschloß, ihn an einem Baum festzubinden. Er tat dies weit genug von der Spur entfernt. Er mußte feststellen, wohin dieser Pfad führte. Sehr dichtes Haselgebüsch begleitete den Pfad wie eine Hecke zu beiden Seiten, der Weg war gewunden und hatte viele scharfe Biegungen: ein gefährlicher Ort. Hinter einer dieser scharfen Biegungen konnte er plötzlich jemandem gegenüberstehen, und das Gebüsch war so dicht, daß man nicht hindurchkonnte, ohne Lärm zu machen. Nach kurzer Zeit roch Robin Holzrauch, und bald darauf sah er vor sich eine blaue Rauchspirale über den Bäumen aufsteigen. Er mußte jetzt unbedingt den Pfad verlassen, denn dieser Rauch konnte nur von Smokie Joes Hütte kommen. Das Haselgesträuch war hier nicht so dicht, er konnte durch den Farn dazwischen kriechen und hatte bald eine Lichtung 176
zwischen den Bäumen erreicht. In der Mitte der Lichtung standen drei eigentümliche Haufen wie riesige Maulwurfshügel, die mit Grassoden bedeckt waren. Bei einem reichte die Rasendecke nicht ganz herum, man sah darunter Reisigbündel, etwa dreißig bis vierzig Zentimeter lang, die in Form eines Kegels dicht nebeneinandergepackt waren. Dieser eine Haufen qualmte nicht, aber bei den beiden anderen kam der blaue Qualm aus einem Loch an der Spitze. Diese Meiler waren kürzlich angezündet worden. Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung stand ein wohlgefügtes Holzhäuschen, gebaut wie ein kanadisches Blockhaus, daneben waren Haufen von Reisigbündeln aufgeschichtet. Die Hütte war ziemlich groß, und an einer Seite war ein Bretterschuppen angebaut. Auch aus dem Eisenrohr, das aus dem Dach herausragte, stieg Rauch. Hinter dem Haus war der Farn gerodet und ein ordentlicher kleiner Garten angelegt worden. Der dunkle, fette Boden war umgegraben, und Kohl, Salat und anderes Gemüse stand in ordentlichen Reihen gepflanzt. Am Ende des Gartens war ein bedeckter Brunnen, der von Büschen eingefaßt wurde. Über der Tür hing ein Hirschgeweih. Das war ganz sicher Smokie Joes Anwesen. Robin hätte gern auch den Mann selbst gesehen. Er blieb eine Zeitlang im Farn liegen, wurde dann kühner und robbte sich vor, bis er auf dreißig Meter an die Hütte herangekommen war. Er hätte sich zu gern etwas von dem Kohl oder dem Salat geholt, aber das wäre Diebstahl gewesen. Smokie war offenbar nicht zu Hause. Nur der Rauch, der aus dem Schornstein stieg, zeigte, daß das Haus bewohnt war. Sollte er es wagen, ans Fenster heranzukriechen und hineinzuschauen? Die Versuchung war groß, aber Robin wußte, wie gefährlich das werden konnte. Doch mit jedem Augenblick wuchs die Versuchung. Robin war richtig erschrocken, als eine weiße Henne hinter dem Haus hervorkam, drei weitere Hühner folgten ihr. Sie pickten vor der Tür herum, und eine trank aus einem kleinen Wassernapf. Hinter dem Haus hörte man jetzt auch Schweine 177
grunzen. Smokie hatte hier ein gemütliches kleines Anwesen, wo er über alles Lebensnotwendige verfügte. Verglichen mit ihrem eigenen Lager war dies ein Palast. Robin begann vorsichtig, bis an den Rand des Farnkrauts vorzukriechen. Bis zu dem Holzstapel waren es jetzt nur noch zehn Meter. Wenn er den erreichte, konnte er sich dem Haus von der fensterlosen Seite her nähern. Er stand auf, und das Gewehr hinter sich her schleifend, stürzte er über den freien Raum und war einen Augenblick später hinter dem Holzstapel. Er ruhte einen Moment aus; sein Atem ging schwer. Vor Aufregung klopfte sein Herz beinahe schmerzhaft. Dann kroch er auf Händen und Knien um die Hausecke, bis er unter dem Fenster war. Ganz vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, richtete er sich auf – immer höher ... noch ein Stückchen, und er konnte zum Fenster hineinschauen. Und dann – Robin ging in die Knie, der Atem blieb ihm stehen. Jemand hatte ihn von hinten angesprungen. Eine unheimlich starke und haarige Klaue hatte sein rechtes Handgelenk umklammert, die andere hatte ihn beim Kragen gepackt. Das Unheimliche war, daß er keinen Laut gehört hatte. Er wurde, mit dem Gesicht nach unten, flach auf die Erde gedrückt und fühlte ein knochiges Knie im Rücken. Und auch jetzt, wo der Mensch, der ihn gefangen hatte, ihn am Boden festhielt, hörte er nichts als ein schweres Atmen. Es roch streng nach Birkenrauch. »Ach«, keuchte Robin, »ah, lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!« »Ich hab dich«, sagte eine rauhe Stimme an seinem Ohr. »Ich hab dich, Bürschchen. Gib mir die Flinte, und keinen Unsinn!« Robin ließ das Gewehr los, es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, denn die geschwärzte, knotige Hand hatte seinen kleinen Finger gefaßt und nach hinten gebogen. Es tat entsetzlich weh. »Steh jetzt auf, du«, befahl die Stimme. Robin stand auf; die Hand hielt ihn immer noch am 178
Kragen fest. Dann sah er Smokie zum erstenmal. Er war ein kleiner, verhutzelter Mann, kaum größer als er selbst. Er war mit einer alten Cordhose bekleidet, die unterhalb der Knie in den Strümpfen steckte, einer Lederjacke, die von den Dornen zerrissen und zerkratzt war, einem kragenlosen Hemd und einem alten kegelförmigen Hut, den er nach hinten geschoben hatte. Das Gesicht war faltig und verwittert wie das eines Affen. Zwei graue Augen, scharf wie die eines Falken, schauten ihn unter weißen buschigen Brauen an. Der untere Teil des Gesichts war von einem langen weißen Bart verdeckt, und weißes Haar hing ihm fast bis auf die Schultern. Er war bestimmt seit Jahren nicht mehr bei einem Friseur gewesen. Aber es war Smokies Nase, die die Aufmerksamkeit des unglücklichen Robin auf sich zog. Eine so große Nase hatte er noch nie gesehen, ein riesiger Klumpen von einer Nase, purpurfarben und schrecklich anzusehen – Robin Hood hatte große Angst. »Was soll das?« fragte Smokie wütend, »was soll das, hier um meine Hütte rumzuschleichen und zu spionieren. Ich hab dich aus dem Farn kommen sehen. Ich hab dich hinter meinen Holzstapel schlüpfen sehen. Was soll das heißen? Was willst du hier?« »Nur die Ruhe«, sagte Robin, der immer noch von der unheimlichen Nase fasziniert war. »Sie brauchen mich nicht festzuhalten. Ich laufe nicht weg.« »Nein«, sagte Smokie grimmig, »da laß ich's nicht drauf ankommen. Ist die Flinte da geladen?« »Ja.« Während er Robins Jackenkragen immer noch festhielt, nahm Smokie die Flinte zwischen seine Knie und zog den Bolzen mit seiner freien Hand ein wenig zurück, um zu sehen, ob Robin die Wahrheit sagte. Dann schob er den Bolzen wieder vor, spannte das Gewehr und ließ seinen Gefangenen los. Gleichzeitig richtete er die Gewehrmündung auf Robins Brust. »Kein Unsinn, sonst, sonst hast du ein Loch im Bauch«, 179
grollte Smokie. »Jetzt nach drinnen mit dir.« Er stieß die Tür der Hütte mit dem Fuß auf und wies mit dem Kopf in die Öffnung. »Rein mit dir.« »Stell dich dahin«, sagte Smokie und wies mit dem Kopf zum Ofen in der Ecke, »keine Tricks, sonst hast du'n Loch im Bauch.« »Sie sind Smokie Joe, nicht wahr?« sagte Robin, der seine Fassung ein wenig zurückgewonnen hatte. »Ja, ich bin Smokie. Und wer bist du?« »Ich bin ... ich bin ... Jack Robinson«, sagte Robin hastig. »O nein, das bist du nicht«, sagte Smokie und schwenkte seine riesige Nase. »O nein, das bist du nicht. Du bist einer von den Ausreißern, hinter denen die Polizei her ist. Ich weiß alles über euch. Sie waren gestern noch hier. Sie waren die ganze Woche hier und haben nach euch gesucht. Und du kriegst 'ne Belohnung, Smokie, haben sie gesagt, wenn du die Jungen schnappst oder einen von ihnen. Und ich hab dich, ich hab dich tatsächlich geschnappt.« »Wie wollen Sie denn wissen, daß ich einer von den Jungen bin?« fragte Robin unsicher. Smokies Augen waren auf Robins untere Regionen gerichtet. Der Rock aus Kaninchenfell hatte sich bei dem Kampf gelockert und sah aus, als werde er Robin gleich auf die Füße rutschen. »Wenn du keiner von den Jungen bist, wieso hast du denn das Ding da an?« Robin sah ein, daß es keinen Sinn mehr hatte, zu bluffen. Seine Augen schweiften schnell zur Tür, die noch halb offen stand. Eine neugierige Henne schaute hinein und gackerte kurz und klagend, und Robin sah voller Staunen, daß auf dem Schrank in der Ecke eine weiße Eule saß und ihn betrachtete. Einen Augenblick dachte er, es müßte ein ausgestopfter Vogel sein, bis dieser mehrmals mit dem rechten Auge zwinkerte. Smokie hatte Robins schweifenden Blick bemerkt. »O nein, mein Junge.« Während er immer noch das Gewehr auf seinen Gefangenen gerichtet 180
hielt, bewegte sich Smokie zur Tür, schloß sie, drehte den Schlüssel um und steckte ihn in die Tasche. »Bilde dir nur nicht ein, du könntest mir weglaufen. Du gehst jetzt mit mir nach Cheshunt Toller, und ich geh die ganze Zeit mit dem Gewehr hinter dir her, und eine kleine Bewegung, und es knallt.« »Also gut, Smokie, ich werde nicht versuchen, wegzulaufen«, sagte Robin erschöpft. »Aber nimm um Gottes willen das Gewehr weg.« Und dann gab er jede Hoffnung auf, doch noch zu entkommen, denn als er um sich blickte, sah er durch das Fenster weit hinten auf dem Pfad, der zur Hütte führte, drei Gestalten. Eine davon war unverkennbar Bunting, die anderen beiden schienen Holzfäller zu sein. Robin überlegte schnell. Er wollte versuchen, Zeit zu gewinnen. In einigen Minuten würden die Männer an der Tür der Hütte sein. »Hören Sie, Smokie, ich habe nichts Böses getan, und meine Brüder auch nicht, wir leben im Wald und tun niemand etwas. Wir haben von Ihnen gehört und wollten Sie kennenlernen.« »Du hast Glück gehabt, daß mein Gyp nicht hier war, der hätte dich nie bis an die Hütte herangelassen«, sagte Smokie. »Wenn er mir nicht verlorengegangen wäre, hätt er dich beim Hosenboden gekriegt.« »Ihr Hund?« fragte Robin eifrig. »Sie haben Ihren Hund verloren?« »Ja.« »Ist es ein gesprenkelter Hund mit einem weißen Fleck über dem linken Auge?« sagte Robin schnell. »Ja«, sagte Smokie, »so sah er aus.« »Dann verstecken Sie mich schnell, Smokie, verstecken Sie mich irgendwo, und wenn die Polizei wieder weg ist, bring ich Sie sofort zu ihm. Ich hab ihn unterwegs angebunden zurückgelassen. Wir haben ihn gefunden. Er hatte sich in einem Kaninchenbau verfangen. Wir haben ihn gerettet.« 181
Auf Smokies Gesicht gingen seltsame Veränderungen vor. »Ihr habt meinen Gyp gefunden?« sagte er tonlos. »Ja, ja, verstecken Sie mich, und wenn sie weg sind, bring ich Sie sofort zu ihm.« In diesem Augenblick klopfte es scharf an die Tür. »Bitte Smokie, ich sag die reine Wahrheit, ich schwör's. Sagen Sie ihnen nicht, daß wir hier sind, und Sie bekommen Ihren Hund zurück.« In Smokies Gesicht zuckte es. Er war nicht sicher, ob sein Gefangener die Wahrheit sagte. Noch zweimal klopfte es, dringlicher jetzt, und ein undeutliches Gesicht unter einem Polizistenhelm spähte zum Fenster hinein, Buntings Gesicht. Es war dunkel in der Hütte, denn draußen dämmerte es schon. Der Polizist konnte nichts erkennen. In einer Ecke war so etwas wie ein Bett. »Kriech da drunter«, brummte Smokie kurz. Er brauchte es Robin nicht zweimal zu sagen, der warf sich flach auf den Boden und kroch unter das Bett. Er hörte, wie Smokie das Gewehr in eine Ecke stellte und dann die Tür aufschloß. Schwere Schritte kamen herein. »Na, Smokie? Irgendwelche Zeichen von den Jungen?« »Nein, Wachtmeister, ich hab nichts von ihnen gesehen.« Robin hätte Smokie küssen mögen, trotz seiner Nase. »Wir haben den ganzen Forst durchsucht und können keine Spur finden«, sagte Bunting, »ich vermute, die sind gar nicht hier.« »Der Forst ist groß, Wachtmeister«, sagte Smokie. »Glaubst du, die wären hier irgendwo?« fragte einer der Holzfäller, ein kleiner Mann mit einem Wieselgesicht. »Weiß nicht, vielleicht, das kann man nicht sagen.« »Na gut, Smokie, dann Gute Nacht.« Robin hörte Schritte nach draußen stapfen, und die Tür schloß sich. »Bleib, wo du bist«, brummte Smokie leise. »Ich sag dir, wann du kommen sollst.« »Gut, Smokie. Sie sind prima«, flüsterte Robin erleich182
tert. »Wenn sie weit genug weg sind, gehen wir und holen Ihren Gyp.« »Und keine Tricks, Bürschchen«, gab Smokie zur Antwort. »Wenn er nicht da ist, wo du sagst, gehen wir stracks nach Cheshunt Toller zur Polizei.« »Gut, Smokie, einverstanden.« Im Zimmer wurde es immer dunkler, Robin konnte draußen in den Bäumen um die Hütte die Eulen rufen hören. Unter Smokies Bett war es nicht gerade bequem, und Robin war erleichtert, als er den kurzen Befehl hörte: »Komm raus, du!« Der Gefangene tauchte auf. »Sie sind großartig, Smokie, Sie haben mich nicht verraten.« Robin schaute den verhutzelten Zwerg an, der neben dem Ofen stand und das Gewehr immer noch auf ihn gerichtet hielt. »Du bist ein verwegener Schlingel«, sagte Smokie, »das muß man dir lassen.« »Ich werde Ihnen nie genug danken können, Smokie.« Smokie stieß die Tür mit dem Fuß auf. »Raus. Marsch jetzt! Und vergiß nicht, ich bin dicht hinter dir. Ein Schritt vom Pfad und du bist so tot wie'n abgestochenes Ferkel.« Sie gaben ein komisches Bild ab, wie sie so den dunklen Pfad entlanggingen: Robin voran, die Mündung seines eigenen Gewehrs im Rücken. Er konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie schlimm es wäre, wenn Peng sich losgerissen hätte. Er war sehr erleichtert, als sie schließlich zu dem Baum kamen, wo er den Hund angebunden hatte, und sie ihn aufgeregt hin und her springen und an seiner Leine zerren sahen. »Ist das Ihr Gyp?« fragte Robin, indem er über die Schulter zurückschaute. Aber diese Frage war unnötig. Smokie war vorgestürzt und neben dem springenden Hund auf die Knie gesunken, der jetzt das runzlige kleine Gesicht von oben bis unten leckte, einschließlich der abscheulichen pflaumenfarbenen Nase. Smokie schien Robins Gegenwart vergessen zu haben. Die Flinte hatte er ins Gras geworfen und liebkoste nun 183
seinen Hund, als wäre er der verlorene Sohn. Und Robin sah etwas, was ihn beinahe erschreckte: große Tränen liefen an der gräßlichen Nase entlang in den langen weißen Bart. »Weißt du, du bist der gerissenste Bengel, der mir je untergekommen ist«, rief Smokie. Er saß Robin am Ofen gegenüber, hatte Gyps Kopf auf den Knien liegen und zauste seine Ohren. »Du hast mich rumgekriegt, und dabei hätte mir ein Wort mehr Geld gebracht, als ich in einem Jahr mit meinen Meilern verdienen kann. Weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, so verrückt zu sein.« »Na Smokie, wenn Sie mich ausgeliefert hätten, hätten Sie ja Ihren Hund nicht zurückgekriegt«, antwortete Robin und grinste. Smokie sagte nichts darauf, fuhr aber fort, Gyps Ohren zu zausen. »Weißt du, Gyp und ich, wir sind jetzt zehn Jahre zusammen, er ist für mich wie ein eigenes Kind. Siehst du, er ist die einzige Gesellschaft, die ich hier draußen im Wald habe, der einzige, mit dem ich reden kann, außer meiner alten Eule Ben da oben in der Ecke. Aber die hält sich für sich, ich kann nicht mit ihr reden wie mit Gyp. Ich hab immer 'nen Hund gehabt, aber keiner war so wie der hier. Er ist nicht wie'n Hund, er ist fast wie'n Mensch, so wie er denkt und mit einem redet.« »Wir haben Glück gehabt, daß wir ihn in dem Loch gefunden haben, Smokie, er war fast schon tot.« »Nicht weit vom Verborgenen Weiher, sagst du? Der Schlingel! Er ist früher schon weggelaufen, aber immer wiedergekommen. Ich wußte, etwas mußte ihm zugestoßen sein. Und ihr Bengels seid also die ganze Zeit frei im Forst herumgelaufen?« sagte Smokie ungläubig. »Tüchtige Kerle seid ihr, und mutig, das muß man euch lassen.« »Ja. Wir haben nicht mal gewußt, welcher Monat es ist, wir haben die Tage gar nicht mehr gezählt.« »Kann mir nicht vorstellen, wie ihr überlebt habt«, sagte Smokie, »aber du siehst gar nicht schlecht aus, muß ich zugeben.« 184
»Oh, wir haben viel gejagt, Kaninchen und ein...« Robin unterbrach sich. Er hatte Smokie gerade von dem Schwein erzählen wollen, aber irgend etwas hielt ihn davon ab. »Wir haben im Verborgenen Weiher auch reichlich Fische gefangen.« »Ah, ich kenne den Weiher; als ich jung war, hab ich da auch gefischt.« Smokie öffnete die Ofentür und schob von dem Reisigbündel, das am Boden lag, ein paar Zweige hinein. »Hab mein ganzes Leben im Forst gelebt. Ihr habt euer Lager sicher im Herzogswald, so wird er genannt. Auf der anderen Seite der Schneise dort hinten ist Königlicher Forst, das seht ihr an den Schildern. Wenn ihr da euer Lager hättet, hätte der Jagdpächter euch vielleicht erwischt. Vor fünfzig Jahren hätten die herzoglichen Wildhüter euch gekascht, aber heute kümmert der alte Herr sich nicht mehr um den Forst.« »Erinnern Sie sich an einen Geistlichen, der im vergangenen Sommer hier Schmetterlinge gejagt hat?« fragte Robin, »ein kleiner runder Mann mit einem roten Gesicht.« »Ah, der Pfarrer Whiting aus Cherry Walden?« »Ja, das ist er. Es war Mr. Whiting, der mir von Ihnen erzählt hat.« »Oh, weißt du, ab und zu kommen Leute, die sind hinter Schmetterlingen und Käfern her, ganz feine Pinkel, manche von denen. Der Herzog hat sich früher hier rumgetrieben und nach Großen Schillerfaltern gejagt.« »Ich hab diesen Sommer einen gesehen«, sagte Robin und spitzte die Ohren. »Am Verborgenen Weiher.« »An der großen Eiche an dem einen Ende?« »Ja, das stimmt. Woher wissen Sie das?« »Nun, das ist ein Schillerfalterbaum. Ich hab sie da jahrelang mit 'nem alten Kaninchen gefangen. Der Baum ist ihr Lieblingsplatz. Das hab ich Hochwürden aber nicht gesagt. Ich behalt solche Dinge für mich. Wenn erst bekannt würde, daß es im Forst Schillerfalter gibt, hätten wir bald die halbe Grafschaft hier herumtrampeln. Willst du meine Sammlung sehen?« 185
Smokie erhob sich von seinem wackligen alten Stuhl und ging zum Schrank in der Ecke. Von einem oberen Bord holte er drei Kisten mit Glasdeckeln herunter. »Pfarrer Whiting hat mir die Schachteln geschenkt«, sagte er stolz. Die Schmetterlinge und Nachtfalter waren grob mit dicken Stecknadeln aufgespießt, aber Robin sah drei wundervolle Schillerfalterweibchen und zwei Männchen, eins allerdings ein wenig beschädigt. Weiße Admirale, Waldweißlinge, silbrige Perlmuttfalter und solche mit Perlenrand bildeten den Großteil von Smokies Sammlung. Ein brauner Bär und zwei Goldaugen waren die Prachtstücke. »Ich mache mir nicht viel aus den Nachtfaltern«, sagte Smokie, »wenn auch Mr. Whiting sagt, es gäbe gute hier im Wald.« Dann holte Smokie einige Schnitzereien hervor, die er angefertigt hatte. Sie waren wirklich schön. Er schnitt sie mit seinem Taschenmesser aus weichen Hölzern und glättete sie mit Sandpapier. »Manchmal mach ich sowas«, sagte Smokie, »an Winterabenden, wenn ich sonst nichts zu tun hab. Das hilft, die Zeit vertreiben.« Als Robin die Figürchen lange genug bewundert hatte, warf der alte Mann einen Blick zum Fenster; von dort kam nur noch wenig Licht. »Wir machen wohl besser die Lampe an, mein Junge.« Robin half dem alten Köhler, die Lampe mit Petroleum aus einer zerbeulten Emaillekanne zu füllen. »So«, sagte Smokie, »so ist's besser. Es ist besser, du bleibst die Nacht hier und gehst morgen früh zurück.« »Sie werden uns also nicht verraten?« sagte Robin. Smokie, dessen Gesicht im stillen gelben Lampenlicht noch erschreckender aussah, grinste zum erstenmal. »Nein, Söhnchen, Smokie verrät euch nicht, nicht mal für fünfzig Pfund. Ich hab meinen Gyp zurück, das ist alles, was ich will, das ist besser als fünfzig Pfund.« Robin spürte, daß Smokie die Wahrheit sagte. »Aber paßt auf, daß sie euch nicht kriegen«, fügte der Mann ernst hinzu. »Dieser Bunting hat mich in letzter Zeit verrückt gemacht. Er sagt, 186
er wünschte, sie würden den ganzen Wald abhauen, das gäbe 'ne Menge Geld. 'Ne Menge Geld, sagt er!« Smokie spuckte mit unbeirrbarer Sicherheit in die Ofenglut. »Das ist alles, woran die Leute denken. Horch, wie das bläst!« Smokies Schatten, der vom Lampenlicht an die Wand geworfen wurde, sah aus wie ein groteskes Ungetüm. Draußen hatte sich ein Wind erhoben und trieb prasselnd den Regen gegen die Scheibe. Robin hörte den Sturm heulen, er hörte das dumpfe Brausen, mit dem sich jeder Windstoß an den dichten Bäumen, die die Hütte umstanden, brach. Es war unglaublich gemütlich, dem wilden Tumult draußen zuzuhören. Smokies Eule saß in der Ecke und fraß ein Kaninchen. Sie würgte dabei so große Stücke herunter, daß es aussah, als müßte sie daran ersticken. »Wo haben Sie die Eule her?« fragte Robin. »Oh, aus der alten Eiche auf der anderen Seite der Lichtung. Ich hab sie mir geholt, da war sie nur ein weißes Wollknäuel. Sie leistet mir Gesellschaft, und klug ist sie, das kann man sich kaum vorstellen.« »Ich glaube, in unserer Eiche ist auch ein Nest«, sagte Robin, »wir sehen die alten Vögel hin- und herfliegen. Ich hätte auch gern so eine junge Eule.« »Es gibt was, das ich gern hätte«, sagte Smokie, der gerade Kakao kochte, »das ist so 'ne neumodische Flinte, wie du sie hast.« »Es ist nicht meine«, sagte Robin, »ich wünschte, sie wär's. Sie gehört unserem Gärtner.« »Feine Knarre«, Smokie hielt sie sich an die Schulter. »Könnte man ein Reh damit schießen?« »Vielleicht, da ich ja...« Robin unterbrach sich. Fast hätte er das mit dem Schwein ausgeplappert. »Kaninchen und Vögel kann man prima damit schießen. Warum nicht auch ein Reh? Erwischen Sie manchmal ein Reh, Smokie?« Der alte Mann sah ihn listig an und zwinkerte ihm zu. »Kann schon sein, aber ich hab auch so genug zu essen hier mit meinen Hühnern und Schweinen.« 187
»Sie halten auch Schweine?« fragte Robin mit Unschuldsmiene. »Gibt es denn auch Wildschweine hier im Forst?« »Ja, ich halte Schweine, ich hatte zwei, aber das eine hat sich im Frühjahr aus dem Stall verdrücken können, ein schönes kleines Schweinchen, und nahm gut zu. Aber es ist mir weggelaufen, und ich hab's nie mehr gesehen. Vielleicht ist es immer noch irgendwo im Wald, zu fressen gibt's genug, besonders später, wenn die Eicheln fallen. Mir scheint, Bürschchen«, sagte Smokie, »du hast Glück, daß du heute nacht ein Dach über dem Kopf hast. Hör mal, wie es stürmt, fast wie im Winter. Wie wär's mit was zu essen? Was sagst du zu 'nem Stück Fasan und 'n paar Kartoffeln als Abendessen?« »Und ich hab hier zwei junge Tauben«, sagte Robin und zog die Tiere aus seiner Tasche. »Ah, die geben eine gute Pastete, wenn sie ein bißchen abgehangen sind«, meinte Smokie. Aus dem alten Schrank in der Ecke holte er den kalten Geflügelbraten und stellte ihn auf den Tisch. Die Kartoffeln legte er auf die glühende Herdplatte. »Diese Fasanenhenne«, erzählte Smokie und wies mit der haarigen Klaue auf die fleischige Brust des Vogels, »war eine der törichten Jungfrauen; sie trieb sich eines Morgens an meinem Hühnerstall herum, und da hat die Rülpsende Lisbeth sie erwischt.« Robin hatte die Rülpsende Lisbeth schon gesehen. Er fand, daß diese alte Waffe haargenau zu dem alten Smokie paßte. Als die Kartoffeln gar und zusammen mit dem Fasan verzehrt waren – auch Gyp hatte seinen Teil bekommen und verschlang diesen unter dem Tisch – holte der alte Mann seine Tabakspfeife hervor, die er sich aus Haselholz geschnitzt hatte. »Willst du nicht auch mal ziehen?« fragte Smokie. »Ich hab meine Pfeife im Lager gelassen«, log Robin. Bei dem Kompliment war ihm ganz warm geworden. »Das macht nichts. Ich hab Pfeifen genug, such dir eine 188
aus.« Smokie hielt ihm eine Handvoll verschiedener Haselnußpfeifen hin. »Hab sie voriges Jahr geschnitzt, sie sind gut eingeraucht.« »Ich hab auch keinen Tabak bei mir, Smokie.« »Auch keinen Tabak! – na, dafür hab ich genug. Mach dir 'n gutes Leben, das ist mein Motto.« Er schob einen zerschlissenen Lederbeutel mit einem besonders teerig aussehenden Schnittabak über den Tisch. Robin hatte schon früher versucht zu rauchen, das Ergebnis war wenig ermutigend gewesen. Und er wußte auch nicht, ob er den Tabak zerreiben oder so rauchen sollte, wie er war. Er beobachtete also heimlich, wie Smokie es machte. Der schnitt sich ein Stück von dem Strang ab und hobelte es mit seinem Taschenmesser in feine Streifen. Dann reichte er Robin das Messer. »Ich hoffe, du magst diesen Tabak«, sagte er und blies dabei eine dichte Wolke grünlichen Rauch gegen die Decke. »Er ist stark, der hat's in sich. Heißt ›Bosun's Plug‹, sechs Pennies die Unze.« Robin hatte sich tapfer seine Pfeife gestopft, zündete sie an, und eine Weile rauchten sie schweigend. Smokies Tabak war in der Tat stark, dieses Rauchen war eine viel schlimmere Tortur als die schüchternen Versuche mit »Golden Mild« hinter dem Pavillon in Banchester. Bald fühlte sich sein Adamsapfel ganz komisch an, es war, als hätte er eine glühende Kanonenkugel in der Kehle stecken. Er paffte noch ein wenig weiter, aber dann hatte er plötzlich das Gefühl, sein ganzes Innere käme hoch. Er hustete und spuckte und mußte heftig würgen. »Aha!« Smokie lachte, ließ sich gegen die Stuhllehne fallen und schlug sich auf die Schenkel. »Ich dacht mir schon, daß »Bosun's Plug« dich ein bißchen beduselt machen würde.« Die Tränen strömten dem unglücklichen Vogelfreien übers Gesicht. »Puh – Smokie, ich fürchte, der ist wirklich ein bißchen zu stark für mich.« 189
»Du gewöhnst dich dran. Du darfst den Rauch nicht runterschlucken. Du schluckst den Rauch runter, das ist es.« Aber Robin konnte seine Pfeife nicht zu Ende rauchen. Sie plauderten bis in die frühen Morgenstunden. Robin hörte manche wundervolle Waldgeschichte, auch die Legende über den Märtyrer, der auf der Straße durch den Forst spuken sollte. Das Feuer brannte herunter, und bald begann Smokie einzunicken. Die Pfeife fiel ihm aus der Hand, das merkwürdige alte Geschöpf mit der riesigen Nase war eingeschlafen. Draußen brauste der Wind immer noch in den Bäumen, und die Fensterläden klapperten wie verrückt. Smokies alte Eule in ihrer Ecke saß mit weit offenen Augen da und starrte Robin mit durchdringendem Blick an; manchmal hüpfte sie auf der Stelle und gab seltsam zischende Laute von sich. Da war Robin Hood ohne Zweifel in eine merkwürdige Gesellschaft geraten.
KAPITEL 14
Das Picknick Wir verlassen Robin Hood und Smokie Joe, die zu beiden Seiten des Ofens eingeschlafen sind, während der Wind an das Fenster klopft und Gyp – alias Peng – vor der ersterbenden Glut in tiefem Schlaf liegt, und kehren noch einmal nach Cherry Walden zurück. Wir hatten Tante Ellen und den Weißfisch, Miß Holcome und die ganze Dienerschaft des wohlgeordneten Haushalts beinahe schon vergessen. Seit dem Verschwinden von Harold war Tante Ellen völlig verzweifelt. Sie wurde mit den Jungen einfach nicht mehr fertig und hatte fast schon den Zustand erreicht, wo sie ihr Wiederauftauchen fürchte190
te. Ohne Zweifel würden sie sie noch mehr der Lächerlichkeit preisgeben. Die Episode im Hochwald hatte sie vor Scham erröten lassen. Als der Weißfisch ihr davon berichtete, besonders über den Vorfall mit dem Waldweißling und dem beleidigten Baron, hatte er seine Heiterkeit nicht verbergen können. Tante Ellen hatte ohne ein Wort, steif und mit einer Miene, die deutlich zu erkennen gab, daß sie dies keineswegs amüsant fand, ihre Handschuhe genommen und war aus dem Haus gegangen. Außerdem verzichtete sie am folgenden Sonntag auf den Frühgottesdienst, das war bei ihr noch nie vorgekommen. Und dann, nach einer unheilvollen Stille, folgte die Sensationsmeldung von Harolds Ausflug nach Brendon – die Sache mit Buntings Hose kam ihr leider erst Jahre später zu Ohren. Es gab wieder Schlagzeilen in den Zeitungen, neue Photographien, wieder klingelten Reporter an der Tür, alle diese Qualen mußte sie von neuem durchstehen. Wenn sie daran dachte, daß einer ihrer Neffen, ein Hensman, sich zu einem gewalttätigen Überfall hatte hinreißen lassen, und dazu noch die Flucht mit dem Lieferwagen des armen Mr. Hawkins! Tante Ellen, die die Familienehre in Gefahr sah, mietete die Dorfkutsche – sie hielt keinen eigenen Wagen, obgleich sie es sich hätte leisten können – und stattete dem Bäcker von Cheshunt Toller einen Besuch ab. »Guter Mann, sind Sie wirklich sicher, daß es einer meiner Neffen war?« fragte sie immer wieder, bis der Bäcker, wie Tante Ellen später Miß Holcome berichtete, geradezu grob und ungezogen wurde. Dann machte sie noch den Fehler, ihm Geld als Entschädigung anzubieten – dabei war weder an seiner Person noch an Pferd und Wagen ein Schaden entstanden. Wie konnte man ihn, Thomas Hawkins, so beleidigen! Tante Ellen kam recht niedergeschlagen nach Cherry Walden zurück. Am gleichen Tag, an dem Robin auf so dramatische Weise 191
Bekanntschaft mit Smokie Joe schloß, erhielt Tante Ellen einen Brief von der Frau des Doktors in Yoho. Twelvetrees House Yoho, 25. August Liebe Miß Hensman, wir wollen Angelas morgigen Geburtstag mit einem kleinen Picknick feiern; mehrere ihrer kleinen Freundinnen werden mitkommen. Sie hatte ihre drei Neffen dazu einladen wollen, aber da dies nun nicht möglich ist, wäre ihr sehr daran gelegen, daß Sie mitkommen. Ich bin sicher, es würde Ihnen gut tun; es wird Sie ein wenig von Ihren schrecklichen Sorgen ablenken. Auch der Herr Pfarrer kommt und hat sich freundlicherweise erboten, Sie im Auto mitzunehmen. Er kann so gut mit Kindern umgehen. Kommen Sie doch bitte, wenn eben möglich, und verzeihen Sie, daß die Einladung so kurzfristig kommt. Mit sehr herzlichen Grüßen Ihre Elizabeth Bowers »Es wird Ihnen gut tun, Gnä'Fräuln, ganz bestimmt«, sagte die Köchin, als Tante Ellen ihr davon erzählte. »Es wird Sie von Ihren Sorgen ablenken. Sie sind seit Monaten nicht aus dem Dorf herausgekommen.« »Der Grund dafür ist, um die Wahrheit zu sagen, daß ich mich schäme, mich in der Öffentlichkeit zu zeigen ... die Schande...« »Trotzdem«, versuchte die Köchin zu trösten, »gehen Sie, Gnä'Fräuln, es wird Ihnen mächtig gut tun, besonders, wo das Wetter so schön ist. Lady Bramshott wird sicher auch da sein, und die Kinder. Ein bißchen Gesellschaft wäre doch nett.« »Wahrscheinlich«, sagte Tante Ellen und seufzte, »wahrscheinlich.«
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Am folgenden Morgen regnete es, und Tante Ellen hoffte fast, es würde so bleiben. Aber kurz nach Mittag kam die Sonne heraus, und der Nachmittag versprach, heiß zu werden. Pünktlich um Viertel nach zwei hörte Tante Ellen ein Brummen am Tor, und stinkender Rauch zeigte an, daß das Auto des Pfarrers sie erwartete. Sie wäre viel lieber mit Lady Bramshott gefahren, wollte aber dem Pfarrer gegenüber, der ihr immer bereitwillig Beistand geleistet hatte, nicht unhöflich erscheinen. »Ah, Miß Hensman, da sind Sie ja«, rief der Weißfisch munter, als Tante Ellen in Autoschleier und Umhang erschien, »was für ein herrlicher Tag für ein Picknick!« Der Weißfisch sah recht elegant aus in seinem grauen Flanellanzug und mit einem weißen Panamahut. »Ja, Herr Pfarrer, was für ein Glück, besonders nach dem verregneten Morgen.« »So, meine Teure«, sagte der Weißfisch, als sie sich im Rücksitz niedergelassen hatte, und legte ihr eine nicht ganz saubere Staubdecke über die Knie. Er nahm die Anlasserkurbel und ging um den Wagen herum nach vorn. Das ganze Auto wackelte bei seinen Anstrengungen, den Motor anzuwerfen, und die Kirschen auf Tante Ellens Hut zitterten. Mit einem scheußlichen Aufbrüllen und einem Ruck sprang der Motor plötzlich an, und der Weißfisch kletterte in den Fahrersitz. »Er springt immer so gut an«, sagte er nach hinten, »da gibt es nie Schwierigkeiten.« Tante Ellen dachte über eine passende Antwort nach, als sie nach vorn geschleudert wurde, so daß ihr der Kneifer in den Schleier hineinfiel. Sie schrie leise auf. Auch ihr Gebiß hatte unangenehm geklappert. »Verzeihung«, sagte der Weißfisch und lächelte, »mein Fehler, die Gänge sind etwas hart, ich hab zu wenig Übung; das ist nichts als Mangel an Übung.« »Bitte, fahren Sie nicht zu schnell«, flehte Tante Ellen. »Ich kann hohe Geschwindigkeiten nicht ertragen.« Sie verließen die Auffahrt und fuhren durch das weiße 193
Tor, das Rumbold ihnen aufhielt. Er grinste und hob die Hand an die Mütze. Der Weißfisch hatte festgestellt, daß viele Dorfbewohner lächelten, wenn sie ihn kommen sahen; sie schienen viel freundlicher als früher. Er wußte nicht, daß es die Geschichte mit Buntings Hose war, die dieses Lächeln hervorrief. Während sie in einer wirbelnden Staubwolke dahinratterten, sprach der Weißfisch über die Ernte. Das heiße Wetter hatte das Getreide reifen lassen, der stürmische Regen der vergangenen Nacht war nicht heftig genug gewesen, um Schaden anzurichten. »Wo soll das Picknick denn stattfinden, Herr Pfarrer?« fragte Tante Ellen, der die Sache anfing, Spaß zu machen. »Im Forst von Brendon«, sagte er, »ich hoffe–ach...« Es entstand eine verlegene Pause – »ich hoffe, wir finden die anderen.« Bei den Worten »Forst von Brendon« stieß Tante Ellen ein leises, unbestimmtes Geräusch aus. »O mein Gott, da hat doch die Polizei nach meinen Neffen gesucht... ich ... ich finde, Mrs. Bowers hätte ... hätte einen anderen Ort für das Picknick aussuchen können.« »Oh, aber da ist es ideal«, schwärmte der Weißfisch, »es liegt so bequem für Mrs. Bowers, und die Kinder werden es herrlich finden.« Tante Ellen bemerkte ein grünes Schmetterlingsnetz, das aus der Tasche des Weißfischs herausguckte. »Ehrlich gesagt habe ich Mrs. Bowers den Forst von Brendon vorgeschlagen«, gestand der Weißfisch. »Sie haben wohl nicht an die Mücken gedacht«, sagte Tante Ellen streng. »Ich leide entsetzlich unter Mückenstichen.« Sie erreichten das Gatter, das dem Weißfisch schon bekannt war und fanden dort im Schatten die prächtige Kutsche des Herrenhauses; bei den Pferden stand der Kutscher mit seinem kokardengeschmückten Hut. Ein kreischender Haufen Kinder in Sonntagskleidern wurde von Erwachsenen und Kindermädchen den grünen Waldweg hinaufgetrieben. 194
»Ah, da ist unser guter Hirte«, sagte Mrs. Bowers mit unbeabsichtigter Ironie. »Sie haben uns also gefunden, Herr Pfarrer, wir dachten schon, es wäre Ihnen etwas zugestoßen.« »Wir kommen doch hoffentlich nicht zu spät?« sagte der Weißfisch und lüftete den Panamahut, »wir sind nämlich rechtzeitig abgefahren.« »Nein, nein, wir sind auch gerade erst gekommen«, sagte Mrs. Bowers. »Ist das nicht himmlisch hier für unser Picknick, Herr Pfarrer? Die Kinder werden begeistert sein.« Die schwatzende, lachende Schar folgte dem Pfarrer den Waldweg entlang. Den Abschluß bildete Mrs. Bowers Chauffeur, der einen großen Weidenkorb voll guter Dinge schleppte. Der Weg, den der Weißfisch ausgesucht hatte, um sie zu einer Lichtung zu führen, schien unerträglich lang. Einer der kleinen Bramshotts hatte sich seine dicken rosa Beinchen an den Brennesseln verbrannt, und der Forst hallte wider von seinem Geschrei. Lady Bramshott fächelte sich anmutig mit einem parfümierten Taschentuch; ihr roter Sonnenschirm zitterte. »Ich hoffe, es ist nicht mehr weit, Herr Pfarrer. Die Kleinen ...« »Nur noch ein paar Meter«, sagte der Weißfisch munter und betrachtete beim Gehen prüfend die Wipfel der Bäume zu beiden Seiten. Tante Ellen begann, hinterherzuhinken. Sie fand sich zwischen der Nachhut wieder, den Kindermädchen und den ganz kleinen Kindern. »O Gott, Gnä'Fräuln, ich hoffe, es ist nicht mehr weit«, Keuchte eine dicke Amme in grauer Uniform. »Der kleine Jeremy ist schon so müde und hat sich seine Beinchen so schrecklich verbrannt.« »Buhu!« heulte der kleine Jeremy, »ich will nach Haus, ich will nach Haus!« »Das ist ja Wahnsinn«, platzte Tante Ellen heraus, die inwischen – so hätte Rumbold es ordinärerweise ausgedrückt – vor Schweiß troff. Wie hat nur Mrs. Bowers sich 195
damit einverstanden erklären können, daß der Pfarrer die Sache organisiert! Von Junggesellen kann man nicht erwarten, daß sie Kinder verstehen. »Da ham Sie recht, Gnä'Fräuln, ich fürchte, meine Lady leidet auch unter der Hitze.« Doch dank britischer Standfestigkeit, die, das muß man sagen, Erwachsene und Kinder gleichermaßen bewiesen, erreichte man schließlich einen offenen Hain, und der Pfarrer ließ anhalten. »Ist das aber schön«, sagte die Amme zum Chauffeur. »Es erinnert mich an einen Ort in Burma«, sagte Lady Bramshott mit ziemlich matter Stimme zum Pfarrer. »Ich wußte gar nicht, daß es hier in unserer Nähe ein so reizendes Fleckchen gibt.« »Ja, ja, es ist auch einer meiner Lieblingsplätze, Lady Bramshott, ein richtiges Paradies. Mein Gott«, rief der Weißfisch plötzlich, »wenn das nicht ein C-Falter ist, da drüben auf dem Brombeerstrauch!« »Wie meinen Sie, Herr Pfarrer?« Aber der Weißfisch hatte schon sein Netz hervorgeholt und war auf Verfolgungsjagd, die Kinder hinter ihm her. Lady Bramshott seufzte. »Wie die Kinder ihn lieben«, sagte sie zu Tante Ellen. »Hat er uns nicht einen himmlischen Platz für unser Picknick ausgesucht? Da hat sich dieser ermüdende Spaziergang doch gelohnt, finden Sie nicht?« »Ich fürchte, für Ihren Jüngsten ist es zu viel gewesen«, sagte Tante Ellen, »das arme Lämmchen hat sich die Beine schrecklich zerstochen.« »Oh, Jeremy weint leicht«, sagte Lady Bramshott – die eigentlich recht gutmütig war – »er ist einfach noch zu klein für einen solchen Ausflug. Aber es wird ihm doch gut tun. Er wird wieder ganz munter werden, wenn sie erst anfangen zu spielen. Die Kinder sind noch ein bißchen gehemmt. Wie hübsch Angela aussieht, Mrs. Bowers. Wie alt, sagten Sie noch, ist sie jetzt?« »Sie wird heute dreizehn. Ja, sie ist ein hübsches Kind.« Angela spähte in diesem Augenblick über die Schulter 196
des Weißfischs, der etwas aus seinem Netz herauswickelte. »Sie liebt die Natur, wissen Sie, sie schwärmt für Vögel und Tiere. In diesem Punkt versteht sich der Pfarrer so gut mit Kindern.« Man hörte Schreie: »Was ist es? O bitte, lassen Sie mich schauen!« und»C-Falter, was für ein komischer Name! Warum heißt er nicht A-Falter?« »Ich hoffe, die Kinder gehen nicht zu weit weg und verlaufen sich«, sagte Tante Ellen. »Alle meine Kinder bis auf den Jüngsten können auf sich selbst aufpassen«, sagte Lady Bramshott. »Mein Mann ist dafür, daß sie selbständig sind. Und das ist gut, finden Sie nicht?« »Aber Lady Bramshott ... wenn eins von ihnen sich wirklich verirrte, das wäre doch ein schreckliches Erlebnis für das arme Kind.« Lady Bramshott hatte sich inzwischen von den Strapazen des Marsches erholt und begann, die Kinder zu einem Versteckspiel einzuteilen. Der unglückliche Weißfisch – der viel lieber nach Schmetterlingen gejagt hätte – wurde damit beauftragt, das Spiel zu beaufsichtigen. Mrs. Bowers ließ den Picknickkorb an eine schattige Stelle tragen. Es war noch zu früh zum Essen, und die Brote mit Fischpaste könnten in der Sonne Schaden nehmen. »Wo soll ich ihn hinstellen, Gnä'Frau?« fragte der Chauffeur, der unter der schweren Last taumelte. »Oh, irgendwo in den Schatten, dort unter dem Farn wäre gut, Burton, aber passen Sie auf, daß der kleine Jeremy ihn nicht findet.« Der kleine Jeremy, Lady Bramshotts Jüngster, war ein dickes, verfressenes Kind, immer hungrig wie ein junger Hund. Mrs. Bowers hatte nicht vergessen, daß er bei einem früheren Ausflug entdeckt hatte, wo der Korb stand, und sich heimlich bedient hatte, während die anderen spielten. Man hatte ihn sofort nach Hause bringen müssen, und er hatte sich auf dem ganzen Heimweg nach Cherry Walden in der Kutsche übergeben. 197
Die Erwachsenen ließen sich im Schatten nieder, klatschten und lobten gegenseitig ihre Kinder. Der Chauffeur hatte bald eins der Kindermädchen zur Unterhaltung gefunden. Der Weißfisch verschwand in den Wald, die Kinder liefen hinter ihm her – Lady Bramshott bemerkte, er erinnere sie an den Rattenfänger zu Hameln – jederman schien glücklich und zufrieden außer Tante Ellen, die schon zweimal von einer Mücke in den Hals gestochen worden war. Der Große und der Kleine John verbrachten eine einsame Nacht in der Eiche. Ohne die Gesellschaft von Peng und Robin fühlten sie sich sehr bedrückt. Sie hatten im Verborgenen Weiher keinen Fisch gefangen, und der Regen machte die Sache nicht besser. Als am folgenden Morgen der Himmel immer noch bedeckt war und ein stiller Landregen fiel, wurde ihre Niedergeschlagenheit noch größer. Zum erstenmal langweilten sie sich im Wald und wünschten beinahe, sie könnten zurückgehen; selbst Banchester war besser, als hier zu sitzen und nichts tun zu können. »Wenn etwas Spaß macht, ist immer Robin an der Reihe«, grollte der Große John, scharrte mit den Füßen im Holzstaub und starrte auf die triefenden Bäume draußen. »Er hat das Gewehr mitgenommen, und wenn er heute nicht zurückkommt, haben wir nichts zu essen.« »Ich weiß, und das nächstemal, wenn er wieder allein weggehen will, behalten auf jeden Fall wir die Flinte. Sieh mal, Großer John, ich glaube, es klart auf.« Es hatte aufgehört zu regnen, bald kam die Sonne zum Vorschein, und unter ihren Strahlen dampfte der ganze Wald. »Hurrah, laß uns schwimmen gehen. Wenn Robin zurückkommt, muß er einfach warten.« Es war erstaunlich, wie die Rückkehr der Sonne ihre Laune hob. Bald nach Mittag hatten sie den Verborgenen Weiher erreicht. Sie zogen sich aus und vergnügten sich im Wasser. 198
Dann begannen sie zu fischen. Der Große John ging an das seichte Ende, wo der Bach aus dem See heraussickerte. Nach dem Regen bissen die Barsche gut an, und bald hatte er ein Dutzend schöner Fische mit roten Flossen, der größte wog über ein Pfund. Es machte großen Spaß, zuzusehen wie der Schwimmer langsam wegtrieb und, wenn der Köder den Boden erreicht hatte, fast sofort unterging. Ein Barsch beißt mutig zu und erfreut das Herz des geduldigen Anglers. Eine ausladende Weide bildete einen bequemen Sitz für John, darunter war das Wasser über einen Meter tief. Die Sonnenstrahlen fielen bis auf den Boden, er konnte die welken Blätter unten sehen und die verfaulenden Äste, die in das Laub hineingebettet waren. Er beobachtete, wie der Wurm zu Boden sank, sogar der Barsch war deutlich zu sehen, der unter der Weidenwurzel hervorkam und sich auf seinen Köder stürzte. Gelegentlich glitt ein dunkles Monstrum mit dickem Rücken an den Wurm heran, prüfte ihn und kehrte mit gekränkter Würde in sein Schlupfloch zurück, so als wollte es sagen: »Wofür hältst du mich eigentlich?« Wenn der Wurm den Boden berührte, sah der Große John ihn sich manchmal hin und her winden wie einen kleinen rosa Aal. Dann verschwand er unter einem dunklen Schatten, und der Schwimmer begann, gleichmäßig zu sinken. Die Barsche waren kleiner als die hübschen bronzenen Schleien, und sie schmeckten noch milder. Außerdem hatten sie nicht so viele Gräten. Nach einer Weile bemerkte der Große John, wie sich weit draußen im Weiher etwas im Wasser bewegte. Er dachte zuerst, es wäre der Kopf einer Wasserratte und griff schon nach seinem Katapult. Wasserratten waren gute bewegliche Ziele. Aber bald sah er, daß es eine große Ringelnatter war. Das Tier bewegte sich anmutig weiter, indem es sich hin und her schlängelte; den Kopf hielt es dabei über die Wasseroberfläche. Es kam genau auf die große Weide zugeschwommen; John sah den langen sehnigen Körper wie eine grüne Peitsche das Wasser schlagen. 199
Die Schlange verließ das Wasser und glitt mit einem leisen Rascheln durch das Farnkraut davon. Der Große John, der gern einen Gürtel aus Schlangenhaut gehabt hätte, warf sich wie ein Falke auf das Tier und drückte es hinter dem Kopf fest zu Boden. Der glitschige grüne Körper mit den schwarzen Streifen auf der Unterseite wand sich erschreckend fest in pulsierenden Schlingen um seine Hand, aber er ließ nicht los. Er liebte Ringelnattern. Es waren harmlose Geschöpfe, und die Vogelfreien ließen sie sonst in Frieden. Aber dies war ein besonders schönes Exemplar und es würde einen schönen Gürtel oder sogar eine Scheide für sein Jagdmesser abgeben. Er wollte die Schlange gerade töten, als ihm ein Gedanke kam. Der Kleine John hatte noch nie eine Ringelnatter aus der Nähe gesehen. Er wollte das Tier am Leben halten und dem Bruder zeigen. Er steckte es also in seine Jackentasche, wo es einen unangenehmen Geruch von sich gab. Ringelnattern können sich, wenn sie in Gefahr sind, wie Stinktiere verhalten. Aber Jungen sind nicht so empfindlich wie Erwachsene, die Schlange blieb also in der Tasche. Sie wand sich zuerst heftig hin und her, blieb dann aber still liegen. Es war dunkel in der Tasche, und das beruhigte sie. Der Große John rutschte den Weidenstamm entlang und sprang ins Farnkraut. Er kletterte auf einem Weidenzweig über die Stelle, wo er gesessen hatte, hinweg und ging am Ufer entlang zu seinem Bruder. Dieser war gerade dabei, einen großen Barsch mit roten Flossen zu landen, der bestimmt ein Pfund wog. Aber als er den zappelnden Fisch zur Seite zog, tauchte dieser ganz plötzlich noch einmal, und die Leine wickelte sich um eine Seerosenwurzel. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen nicht, sie frei zu bekommen, und gleich darauf wurde die Leine schlaff. »O verflixt«, rief der Kleine John, »So ein schöner Fisch!« Sie untersuchten wehmütig den verbogenen Haken und waren sich einig darin, daß sie noch nie einen so schönen Barsch an der Angel gehabt hatten. 200
»Laß nur«, seufzte der Große John, »es war ja wirklich ein schöner Fisch, aber ich hab ja auch welche, genug für eine Mahlzeit. Ich hab auch eine Schlange gefangen. Ich zeig sie dir, sobald wir im Lager sind.« Sie suchten ihr Angelzeug zusammen und machten sich auf den Weg durch den Farn zu ihrem Eichbaum. Sie waren schon einige Zeit gegangen, der Große John voran, als sie in einiger Entfernung Geräusche hörten. Sofort blieben sie still stehen. Sie hörten leises Rufen, Kinderstimmen! Kinderstimmen im Forst von Brendon! Ihre erste Reaktion war, sofort ins Gebüsch zu tauchen, aber nachdem sie einige Zeit angespannt wie Waldtiere gelauscht hatten, winkte der Große John seinem Bruder, ihm zu folgen. Ganz vorsichtig begannen sie, sich auf die Geräusche zuzubewegen. Der Nachmittag war so still; viel Zeit schien zu vergehen, bevor sie näher an diese Störenfriede herangekommen waren. Aber schließlich wurde der Lärm so laut, daß die beiden Vogelfreien sich auf Hände und Knie niederließen und sich schließlich flach auf dem Bauch weiterbewegten. Als sie den Rand einer Lichtung erreichten, bot sich ihrem erstaunten Blick ein überraschender und beunruhigender Anblick. Denn hier, unter den Eichen, hatten sich Grüppchen von plaudernden und lachenden Kindern versammelt, einige spielten Bockspringen, eine andere Gruppe Nachlaufen, der Rest scharte sich um niemand anderen als den Weißfisch, der ihnen offenbar die komplizierte Anatomie einer Raupe erklärte. »Ekelhaft«, flüsterte der Große John, als er sich von seinem Schreck und seinem Erstaunen erholt hatte. »Ausgerechnet in unserem Forst müssen sie ihr blödes Picknick veranstalten. Um Gottes willen ... da ist Tante Ellen!« Einen Augenblick lang starrten sie ihre unglückliche Tante an; sie hatten sie schon so lange nicht mehr gesehen. »Sie hat sich herausgeputzt wie ein Pfingstochse«, flüsterte «er Kleine John, »und sie hat ihren Sonntagshut auf, den mit den Kirschen drauf.« »Das ist, weil Lady Bramshott dabei ist«, flüsterte der 201
Große John zurück, »und schau mal, da ist auch das kleine Schweinchen Jeremy mit seiner lächerlichen Tellermütze. Puh, der ganze Haufen!« »Ja, und da sind auch Mrs. Bowers und Angela«, sagte der Kleine John, der die letztere gerade auf der einen Seite der Lichtung entdeckt hatte. »Laß uns zurückgehen, bevor sie uns sehen.« Aber im Gesicht des Großen John regte sich etwas. Eine rote Flut stieg ihm in die Wangen, seine Ohren wurden ganz rosa, diese Ohren, die seit Wochen nicht gewaschen worden waren. Der arme Große John erlitt alle Qualen einer ersten Liebe. Jetzt spürte er plötzlich Heimweh. Wie gern hätte er sich dieser lauten, fröhlichen Gesellschaft angeschlossen, wie gern hätte er mit Angela gesprochen. Wie würde ihr das Lager im Wald gefallen! Wieviel Freude würden ihr die Vogelnester und die Schmetterlinge machen! Sie trug ein weißes Sommerkleid mit Rüschen und ein rotes Band in ihrem blauschwarzen Haar, und nie, nie, nie vorher hatte sie so reizend ausgesehen. Aber all das mußte er für sich behalten. Er wäre lieber gestorben, als diese verborgenen Gefühle preiszugeben. Er konnte sie – ach – nur von ferne anbeten. Außerdem, was für einen Anblick hätte er geboten in seinem Fellrock und den zerrissenen Kleidern. Auch seine Schuhe waren durchgeschlissen. Die Sohle des einen hatte er mit Schnüren aus Schweinsleder am Oberleder befestigt. Er sah aus wie ein richtiger Landstreicher. Er erwachte mit glasigem Blick aus seinem Traum, als der Kleine John ihn grob mit dem Ellbogen in die Rippen stieß. »Schau mal, Großer John, der Picknickkorb.« »Oh, sei still«, zischte der Große John ärgerlich. »Was soll das?« »Siehst du nicht, da drüben unter dem Farn steht er? Sollen wir nicht mal hineinschauen? Ich wette, er ist pickepackevoll mit guten Sachen.« Nun muß gesagt werden, daß der Große John sehr hungrig war. Sie hatten nur ein mageres Frühstück verzehrt und waren danach geschwommen. 202
»Es sind bestimmt Pasteten und Kuchen drin und belegte Brote und was weiß ich noch alles«, sagte der Kleine John. »Ich kriech mal hin.« »He! Wart auf mich«, zischte der Große John. Angelas Zauber war für den Augenblick vergessen. Der Picknickkorb, ein riesiger, rötlich-brauner Weidenkorb, ruhte unter hohem Farnkraut. Sein Wächter, der Chauffeur, schäkerte unter einer nahen Eiche mit dem Kindermädchen. Die Gelegenheit durften sie sich nicht entgehen lassen. Es ging ganz leicht, leichter als das Entwenden von Buntings Hose. Auf dieser Seite der Lichtung war niemand; die Picknickgesellschaft hatte sich entgegenkommenderweise am gegenüberliegenden Waldrand niedergelassen. Man hatte Decken ausgebreitet; Tante Ellen saß auf zwei Decken, weil sie die Feuchtigkeit fürchtete – und alle waren in ihr Geplauder vertieft. Der größere Teil der Kinder hatte sich mit dem Weißfisch entfernt, wenn auch nicht sehr weit, wie man an dem durchdringenden Kreischen und den Lachsalven hörte, die dem Großen und dem Kleinen John wie eine Entweihung ihrer stillen Waldeinsamkeit vorkamen. Hätte jemand dies glückliche Bild und besonders den gemütlichen Picknickkorb in diesem Augenblick betrachtet, so hätte er etwas Seltsames beobachten können. Neben dem Korb bewegte sich der Farn ganz leise, und eine äußerst schmutzige Klaue tauchte daraus auf. Ganz allmählich tastete sie sich auf den Korb vor, die Finger schlossen sich um das Geflecht, und der Korb bewegte sich Zentimeter um Zentimeter, so langsam, daß der Beobachter die Bewegung kaum wahrgenommen hätte. Obwohl der Chauffeur und das Mädchen nur zehn Meter entfernt saßen, hörten sie keinen Laut. Der Große John zog leise den Holzpflock heraus, mit dem der Korb verschlossen war, und ganz langsam hob sich der Deckel. Ein herrlicher Anblick bot sich den Blicken der armen ausgehungerten Vogelfreien. Ein ganzes kaltes Huhn! Stapel von belegten Broten! Drei große Kuchen, 203
einer mit einem rosa Zuckerguß in einer eigenen Schachtel, mindestens ein Dutzend hartgekochte Eier! Schinken! Honig! Gläser mit Marmelade! Und hundert andere Köstlichkeiten, Äpfel, Orangen und Schokolade! In ein paar Augenblicken waren alle Eßwaren verschwunden, dazu die beiden Aluminium-Teekessel. Um Tassen und Teller kümmerten sie sich nicht, aber die Kessel konnten sie gut gebrauchen. »Ich glaube, wir sollten die Kessel nicht nehmen«, zischte der Große John leise. »Ich möchte sie am liebsten zurückgeben. Das ist zu sehr wie richtiger Diebstahl.« »Sei nicht verrückt. Denk an Robin Hood. Er beraubte die Reichen und gab den Armen. Wir sind doch Vogelfreie, du Dummkopf.« Also gingen die Kessel mit. Dann schien es, als täte der Große John irgend etwas in den Korb hinein. Der Kleine John sah nicht, was es war, er sah nur, daß John irgend etwas in den Korb steckte und den Deckel schnell schloß. Dann wurde der Pflock wieder eingeschoben, der Farn nickte wieder ein wenig, und alles war still. »Ach, Herr Pfarrer, Sie müssen ja ganz erschöpft sein, so beschäftigt, wie Sie gewesen sind!« gurrte Mrs. Bowers, als der Weißfisch in einer Schar erhitzter Kinder auftauchte. »Nun, ein bißchen schon, aber wir haben herrlich Verstecken gespielt, nicht wahr, Kinder?« »Ja, ja«, riefen alle im Chor. »Und ihr müßt halbverhungert sein, ihr Armen. Wir werden jetzt gleich Tee trinken, meinen Sie nicht auch, Lady Bramshott?« »Tee, Tee!« schrien die Kinder und tanzten herum. Ein paar schlugen Purzelbäume vor Freude. »Ich denke, ich habe genug zu essen für alle mitgebracht«, sagte Mrs. Bowers und lächelte ihren Gästen zu. »Also Angela, du kümmerst dich um deine kleinen Freunde und hilfst, Kuchen und die anderen Sachen herumzureichen.« 204
»Hurrah«, riefen die Kinder, »Tee, Tee, wo ist der Tee?« »Angela soll den Korb aufmachen«, sagte Mrs. Bowers voll Stolz, »es ist schließlich dein Geburtstag, mein Liebes«, fügte sie hinzu, »und gib deinen Gästen alles, was sie möchten.« »Man fühlt sich, als versteckten sich Robin Hood und seine wackeren Gesellen hier irgendwo im Wald«, sagte Lady Bramshott und schloß ihren Sonnenschirm. »Laßt uns so tun, als wären wir in Sherwood bei einem Jagdbankett. Kommt Kinder, sucht euch einen Platz.« Der Korb wurde in die Mitte des quirligen Kreises gezogen, und alle Augen waren erwartungsvoll darauf gerichtet. »Was für ein fröhliches Picknick«, sagte Tante Ellen, sie hatte ihre Mückenstiche ganz vergessen – »und wie freundlich von Ihnen, liebe Mrs. Bowers, uns alle so großzügig zu bewirten.« »Das Bankett beginnt«, verkündete strahlend der Weißfisch und öffnete den obersten Knopf seiner Weste. Mrs. Bowers beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte eifrig. »Gewiß, gewiß.« »Einen Augenblick, liebe Angela«, sagte ihre Mutter und legte die Hand auf Angelas Arm, »bevor wir mit der Mahlzeit beginnen, wird der Herr Pfarrer ein Tischgebet sprechen.« Das Herumzappeln und das aufgeregte Geflüster erstarb, und die Gesellschaft sammelte sich ehrfürchtig mit geschlossenen Augen. »Für seine Gaben, die wir jetzt empfangen werden, mache der Herr uns wahrhaft dankbar, Amen.« – »Amen«, sagten alle Anwesenden – dann hob Angela den Deckel. Die Szene, die darauf folgte, zu beschreiben, geht über meine Fähigkeiten. Denn als Angela den Korb öffnete, tauchte im gleichen Augenblick der hin und her gleitende Kopf einer Schlange über dem Rand auf. Die dünne schwarze Zunge zitterte böse wie die Fühler eines gefährlichen Insekts. Schreckliche Schreie gellten durch den Wald. Erst folgte ein Augenblick starren Schreckens, dann spritz205
ten die Kinder wie die Kaninchen in alle Richtungen auseinander. Tante Ellen rief: »Oh, oh, eine Schlange!« und fiel ohnmächtig nach hinten, wobei ein recht unziemliches Stück eines schwarzen Wollstrumpfs und Unterwäsche aus Flanell sichtbar wurden. Kindermädchen und Mütter flohen, unzusammenhängendes Geschnatter erscholl zwischen den Bäumen. Vier Personen blieben. Angela, Lady Bramshott, der Pfarrer und der Chauffeur. »Es ist nur eine harmlose Ringelnatter, ich bitte Sie«, rief der Pfarrer. »Diese Panik ist ganz überflüssig.« Lady Bramshott war zwar blaß, schien aber auch amüsiert – aber schließlich war sie von Burma her an Schlangen gewöhnt. Doch Angela, die arme Angela, kniete zusammengesunken vor dem Korb, sie ließ den Kopf hängen, so daß die dunklen Locken nach vorn fielen und ihr gerötetes Gesicht verbargen. Glitzernde Tropfen fielen wie Perlen auf ihre Knie. »Wie kommt nur eine Schlange in den Picknickkorb?« rief der Weißfisch. »Das ist wirklich ein seltsamer Zufall. Kommt Kinder«, sagte er und sah sich nach allen Seiten um, »kommt alle her. Die Schlange tut euch nichts. Es ist keine Viper, sondern eine harmlose Ringelnatter.« »Aber sie hat alles aufgefressen, und mir mein Picknick verdorben«, weinte Angela, von heftigem Schluchzen geschüttelt. Mrs. Bowers, die mit den anderen wie ein erschrecktes Reh aus dem Unterholz auftauchte, war sprachlos. Sie starrte in den geöffneten Korb. Der Chauffeur wollte jetzt der Schlange mit einem Stock zu Leibe rücken, aber der Pfarrer hielt ihn zurück. »Töten Sie sie nicht, Burton. Das Tier ist ganz harmlos.« Das harmlose Reptil wand sich jetzt um den Arm des Weißfischs, der es vorsichtig aus dem Korb gehoben hatte, und gab einen ziemlich scheußlichen Gestank von sich. »Oh, Herr Pfarrer, sie wird Sie bestimmt beißen!« jammerte Tante Ellen. 206
»Sie hat den Tee gefressen«, heulte Jeremy, der jetzt auch zur Stelle war. Die Tatsache, daß es keinen Tee geben würde, war eine viel schlimmere Katastrophe als die Entdeckung der Schlange. »Unsinn, Unsinn«, sagte der Weißfisch, »sie kann die Sachen gar nicht gefressen haben. Ringelnattern leben von Fröschen und ähnlichen Tieren, aber nicht von Kuchen und...« »Ein ganzes Huhn«, Mrs. Bowers schnappte nach Luft, »und Kuchen und belegte Brote, alles. Ich habe das Einpacken selber beaufsichtigt.« »Oh, oh, oh.« Angela fing wieder an zu weinen. »Mein armes Kind«, sagte Lady Bramshott besänftigend, »es ist wirklich eine schreckliche Enttäuschung für dich. Aber beruhige dich. Die Sachen müssen irrtümlicherweise im Wagen geblieben sein.« »Aber die Teekessel sind auch verschwunden!« Mrs. Bowers war sprachlos. »Sind Sie sicher, daß niemand sich am Korb zu schaffen gemacht hat?« wandte sich Lady Bramshott jetzt an den Chauffeur. »Vollkommen sicher, Mylady, ich hab die ganze Zeit daneben gesessen.« »Sehr merkwürdig, eine sehr merkwürdige Sache«, sagte der Pfarrer immer wieder, »es ist unerklärlich, außer ...« er drehte sich um, seine funkelnden Augen suchten den undurchdringlichen Wald ab, der sie umgab, »außer diese Jungen haben was damit zu tun.« Inzwischen bewegten sich »diese Jungen«, die nur eben das Ergebnis ihres Unternehmens abgewartet hatten, schon auf verschlungenen Pfaden schnell und leise auf die Lichtung mit dem Eichbaum zu. Der Große John hatte seine zerschlissene Flanelljacke ausgezogen, sie trugen darin wie in einem Beutel ihre Beute. Sie war sehr schwer, und sie mußten ihre Last mehrmals auf den Boden senken und ausruhen. Aber schließlich erreichten sie ihren Baum und 207
fanden dort Robin, der schon Feuer machte. Er blickte auf, als er sie keuchend auf die Lichtung treten sah. »Hallo, Männer, was um Himmels willen habt ihr denn da?« rief er und starrte seine Brüder fassungslos an. Der Große und der Kleine John sagten kein Wort, sondern senkten nur den Rock vorsichtig zu Boden und fingen an, alles herauszuholen und vor Robin auszubreiten. Dann wandten sie sich an den Bruder, dem fast die Augen aus dem Kopf fielen. »Hier Meister Robin, wir haben eine reiche Beute erjagt. Wir haben die Reichen beraubt. Du siehst hier vor dir den Inhalt eines Picknickkorbs, wie du wohl schon erraten hast.« Robin kniete nieder und öffnete die Pappschachtel, die den mit Zuckerguß verzierten Kuchen enthielt. Ehrfürchtig hob er ihn aus seiner Hülle. Die Reise durch den Forst hatte ihn etwas mitgenommen, und der rosa Zuckerguß war fast geschmolzen, aber man konnte noch sehen, daß mit Zucker ein Name darauf geschrieben war – ANGELA. Auf dem Gesicht des Großen John ging eine plötzliche Veränderung vor sich. Einen Augenblick zuvor hatte es noch in triumphierendem Lächeln gestrahlt, jetzt war es fast das Gesicht eines alten Mannes. »Angela«, schluckte er, »ich – ich wußte doch nicht...« »Wußtest was nicht?« fragte Robin und sah ihn verdutzt an. »Aber ... das muß Angelas Geburtstagskuchen sein, es war ihre Geburtstagsfeier.« »Und was soll das? Was macht das für einen Unterschied?« fragte der ältere Bruder. Ganz plötzlich sprang der Große John auf, riß den Kuchen an sich und stopfte ihn in die Schachtel zurück. Die anderen betrachteten ihn, ohne zu verstehen. Jetzt wandte er sich und lief auf den Pfad zu, auf dem sie eben gekommen waren. »Halt ihn«, schrie der Kleine John, »er will ihn zurückbringen. Er ist übergeschnappt.« Robin stürzte wie ein Panther hinter dem fliehenden 208
Großen John her. Bald hatte er ihn eingeholt, und der Große John, in die Enge getrieben, wandte sich gegen ihn. Immer noch drückte er die Schachtel an sich. »Laß mich in Frieden«, rief er außer sich. Tränen liefen ihm über die Wangen, und Robin blieb fassungslos stehen. »Ich bringe ihn ihr zurück. Es war ihre Party, und wir haben sie ihr verdorben.« »Nun mal ruhig, Großer John. Du weißt, das kannst du gar nicht, du würdest uns verraten. Man wird dich schnappen.« »Das ist mir egal«, sagte der Große John verzweifelt, »ich bringe ihn zurück.« Er wollte weglaufen, aber Robin packte ihn beim Kragen. »Du bist in Angela verknallt«, rief er voller Verachtung. Darauf schlug ihn der Große John mit aller Macht ins Gesicht. Einen Augenblick schwankten beide und knurrten sich an. Dabei fiel die Schachtel zu Boden, und der Kuchen war nur noch eine matschige Masse. Es gab einen wilden Kampf, die beiden wälzten sich am Boden, boxten und traten aufeinander ein, bis sie wie zwei zerzauste Kampfhähne vor lauter Erschöpfung aufhörten. »Was ist denn eigentlich los?« fragte erstaunt der Kleine John, den der Kampflärm herbeigelockt hatte. »Ich weiß nicht«, sagte Robin matt, »ich glaube, er ist verrückt. Hier, nimm den verdammten Kuchen, damit kann jetzt keiner mehr was anfangen.« Der Große John blieb im Farnkraut sitzen. Seine Nase blutete, und der wilde Blick in seinen Augen verblaßte allmählich. Der Große John und Robin hatten eben seltsame, urtümliche Leidenschaften in sich verspürt, die sie beide nicht verstanden. Schließlich stand der Große John langsam auf. Er traf auf Robin zu und lächelte bitter: »Tut mir leid. Ich ... ich ... ich hab mich blöd benommen.« Schweigend gingen die drei Jungen zu ihrem Baum zurück.
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KAPITEL 15
Noch einmal Bunting Die Nachricht von den jüngsten Untaten »der Jungen« erreichten Bunting bald. Im Forst von Brendon ging es nicht mit rechten Dingen zu, es spukte dort, aber es waren andere Geister als der Märtyrer und sein kopfloses Pferd. Bunting erinnerte sich an seine kalte und peinliche Fahrradtour, als er, wie aus dem Irrenhaus entsprungen, in Ernies Garten gestanden und um Einlaß gefleht hatte. Und nun hörte man von weinenden Kindern, die zu Tode erschreckt worden waren, von Schlangen, von geplünderten Körben. Man brauchte kein Sherlock Holmes zu sein, um zu erraten, daß das Lager der Vogelfreien irgendwo im Forst von Brendon sein mußte. Bunting hatte den Pfarrer in Verdacht gehabt, ihm seine Hose weggenommen zu haben. Jetzt sah er ein, daß er ihm unrecht getan hatte. Und in seiner Brust reifte ein Entschluß; er schwor sich bei allem, was ihm heilig war, daß er die Jungen vor den Richter bringen würde. Er organisierte eine ganze Armee von Treibern vom herzoglichen Gut, aber die Jagd blieb völlig ergebnislos. Wenigstens drei der Treiber kamen über die Lichtung, wo sich das Lager der Jungen befand, sie gingen sogar zweimal um die Eiche herum, bemerkten aber weder Reste eines Feuers noch Spuren eines Menschen. Die Vogelfreien, die lange vor Beginn der Treibjagd durch das Kreischen der Eichelhäher gewarnt worden waren, hatten Zuflucht bei Smokie Joe gefunden, der inzwischen ein treuer und geschätzter Verbündeter geworden war. Sie hatten alle Spuren ihrer Gegenwart sorgfältig verwischt, die Reste des Feuers waren mit Laub und Farn bedeckt worden; sie hatten nichts im Baum zurückgelassen, das sie hätte verraten können. Nach dieser erfolglosen Treibjagd kam Bunting immer wieder in den Forst, trieb sich bei Tag und bei Nacht dort herum, aber er sah nur Fledermäuse und Kaninchen und 210
hörte nichts, außer die bebenden Schreie vieler Eulen. Das einzige Ergebnis dieser Waldgänge waren quälende rheumatische Schmerzen und eine böse Erkältung. Wie konnte auch ein beleibter Polizist, ganz unerfahren im Waldleben, der nicht einmal wußte, wie er sich, ohne Lärm zu machen, in seinen riesigen Stiefeln bewegen sollte, wie konnte er hoffen, drei zu allem entschlossene Vogelfreie zu fangen, deren Ohren und Augen so scharf waren wie die der Füchse, bei denen sie hausten, und die sich lautlos wie Schatten durch Farn und Gestrüpp bewegten. Er besuchte Smokie mehrmals – einmal waren alle drei Jungen in den Büschen um den Brunnen hinter dem Haus versteckt – aber Smokie schüttelte seine riesige Nase und blinzelte Bunting an wie eine Dohle, die auf Unheil sinnt. »Nein, nein, Wachtmeister, im Wald sind keine Jungen, sonst hätt ich sie längst gesehen oder gehört. Ich sag Ihnen, die sind nicht hier. Wenn ich etwas finde, sag ich's Ihnen, das hab ich doch schon gesagt.« Und Bunting schritt davon, wobei er trotzige Blicke auf die Büsche ringsum warf, als warne er sie, ihn zum besten zu halten. Leise fluchte er vor sich hin. Er war seinem Ziel noch keinen Schritt näher gekommen, seit Tante Ellen ihn in den Witwensitz gerufen hatte. Er war wie ein Bulle, der drei Feldmäuse fangen will. Aber eines Tages würden die Jungen einen kleinen Fehler begehen, sie würden übermütig werden, und wie Füchse, die sich ans Hühnerstehlen gewöhnt haben, würde die gerechte Strafe sie ereilen. So dachte Bunting, und so dachte mancher andere in den umliegenden Ortschaften, einschließlich Tante Ellen. Aber der August reifte zum September, und schließlich karn das Ende des Septembers, und immer noch gab es kein Zeichen, keine Spur, die verriet, daß die Vogelfreien sich in der Gegend herumtrieben. Und dann sagten sich die guten Leute: »Jetzt sind die Jungen aus dem Witwensitz bestimmt weg, man wird nie wieder von ihnen hören«. Außerdem war der Winter nahe. Oh ja, man spürte ihn schon, und welche Herrlichkeit und welchen Zauber entfaltete der 211
Wald an den kurzen Abenden und in den nebligen Morgenstunden. Schon seit Wochen waren die Bäume schwer beladen mit müdem Laub, alle Vögel außer den Rotkehlchen schwiegen, sogar die Tauben hatten aufgehört zu gurren. Die Luft im Wald hatte manchmal beinahe abgestanden gewirkt, wenn man ein solches Wort überhaupt auf die Natur anwenden kann. Aber jetzt! Welche Herrlichkeit! Welche Farbenpracht brach im Unterholz hervor, wie frisch und belebend wehte die Morgenluft in den überhitzten Wald, wie ein Windstoß in einen muffigen Raum. Menschen, die im Freien leben, sich von der Jagd ernähren, freuen sich auf den Herbst. Neue Lebensfreude regt sich im Blut, Abenteuer winkt in jedem gelben Blatt. Das ist seltsam. Denn der Herbst ist in gewissem Sinn eine Verleugnung des Lebens, eher eine Zeit des Todes, die einen an das Alter denken läßt. Und doch, welcher Funken entzündet sich im Blut des Jägers, des vierfüßigen wie des zweibeinigen. Was die Jungen am meisten erregte, war das Röhren der Damhirsche, die einander zum Kampf herausforderten. Den ganzen Sommer über hatten sie nur zwei Tiere gesehen, das eine, das Robin am Ufer des Verborgenen Weihers erblickt hatte, und das andere, das er an dem ereignisreichen Tag beinahe erlegt hätte, an dem er Smokie Joe zum ersten Mal begegnet war. Aber dem dunklen Brüllen nach zu schließen, das jetzt durch den Wald hallte, lebten weit mehr Damhirsche im Forst von Brendon, als die Jungen geahnt hatten. Der Große John hörte eines Abends einen Hirsch ganz nah bei ihrem Lager röhren, aber er konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen. Sogar die Eulen schienen zu spüren, daß etwas in der Luft lag, falls eine Eule so etwas spüren kann; ihr lautes Huhu klang bei Einbruch der Dunkelheit wie eine heitere Musik an ihrem Lagerfeuer. Sie vermißten Peng schrecklich, so sehr, daß sie an einen neuerlichen Überfall auf den Witwensitz dachten, um Tilly 212
zu holen. Aber Tilly war bei weitem nicht so gut abgerichtet wie Peng, sie würde wahrscheinlich ihre Gegenwart verraten. Sie besuchten Smokie Joe mindestens zweimal in der Woche. Er war ihr treuer Verbündeter. Die Geschichten über seinen Geiz waren ganz unbegründet, wie es Dorfgeschwätz meistens ist. Obgleich eine dicke Belohnung ausgesetzt war – fünfzig Pfund waren zur damaligen Zeit viel Geld für einen armen Mann – kam es ihm nie auch nur für einen Augenblick in den Sinn, daß er sie verraten könnte. Ihm genügte es, daß er Gyp wiederbekommen hatte, er war ein wahrer Freund, solange sie im Forst blieben. Und zum ersten Mal in seinem Leben machte ihm menschliche Gesellschaft Freude. Erwachsenen gegenüber wäre er steif und mürrisch gewesen, aber diese Jungen waren nach seinem Herzen, sie waren offenherzig, und er verstand sie. Sie machten nie spöttische Bemerkungen über seine Nase, obgleich zu Anfang besonders der Kleine John sie ganz offen erschrocken und neugierig zugleich betrachtet hatte, wie Kinder es tun, wenn sie etwas Ungewöhnliches oder Unnormales sehen; aber schon nach kurzer Zeit bemerkten sie die Nase nicht einmal mehr. Hätte Smokie einen Schwanz gehabt, würden die Jungen es als ganz selbstverständlich empfunden haben. Und was für glückliche Stunden verbrachten sie in seiner Hütte! Welche Festmäler verspeisten sie in dem kleinen dämmrigen Raum an dem rotglühenden Ofen. Mancher glücklose Fasan wurde an dem Tisch aus rohen Brettern aufgegessen, viele Geschichten wurden erzählt, und manche Pfeife Tabak rauchten Robin Hood und Smokie nach des Tages Arbeit. Robin Hood erlernte die Kunst des Pfeifenrauchens, aber für seine Brüder war Smokies »Bosun's Plug« denn doch zu stark. Tagsüber mieden die Vogelfreien Smokies Hütte. Es wäre zu gefährlich gewesen. Und seit der Zeit, als Bunting Smokie besucht hatte, und die Jungen sich in den Büschen am Brunnen hatten verstecken müssen, hatte der alte Köhler ihnen verboten zu kommen, solange es Tag war. Sie bedauerten das, denn sie sahen ihm gern bei seiner Arbeit 213
an den Meilern zu. Sie hätten ihm gern geholfen, Holz zu hacken und die Scheite zu konischen Hügeln zu stapeln und mit Grassoden zu bedecken. Aber Smokie hatte recht. Es war zu gefährlich. Aber er lehrte die Vogelfreien, Schlingen zu legen. Er zeigte ihnen, warum ihre Bemühungen bis jetzt erfolglos gewesen waren. Sie hatten mehrere Fehler gemacht. Einmal hatten sie die Schlingen an den verkehrten Stellen ausgelegt. Die Kaninchen hatten im ganzen Wald ihre besonderen Pfade, und die ausgetretenen Stellen im Moos zeigten an, wo die Tiere ausruhten, während sie sich im Zickzack fortbewegten. Das wilde Kaninchen läuft nie ganz geradeaus, auch nicht, wenn es verfolgt wird. Sie legten die Schlingen zwischen diesen kahlen Stellen im Moos und vermieden es sorgsam, den Draht der Schlinge mit den Händen zu berühren. Wenn das lange Gras niedergetrampelt oder Zweige geknickt worden waren, kamen die Kaninchen nicht heran. Smokie erzählte den Jungen auch, daß die Kaninchen sich immer auf kleine Erhebungen setzen, auf Ameisen- oder Maulwurfshaufen; manchmal war so ein Haufen ganz niedergetrampelt, und rundherum lagen die verräterischen »Korinthen«. Baumstümpfe und Holzstücke waren auch beliebte Rastplätze. Als die Jungen es erst heraushatten, fingen sie soviele Kaninchen, wie sie brauchten, und sparten Munition. Smokie schwor, es gäbe auch Wildkatzen im Wald. Aber man muß bezweifeln, daß er recht hatte. Es liefen ohne Zweifel Katzen im Wald herum, aber es waren verwilderte Hauskatzen, die im Laufe der Zeit so groß und wild geworden waren wie richtige Wildkatzen. Seit Beginn des Herbstes hatten die Vogelfreien sich ernsthaft aufs Schlingenlegen und Fallenstellen verlegt. Sie versuchten es mit verschiedenen Arten von Schlingen und Fallen, sogar mit Fallgruben, die sie mit Zweigen bedeckten. Die erwiesen sich allerdings als nutzlos, sie fingen nur einmal einen Igel darin. Es war die Baumfalle, die den Vogelfreien am meisten zusagte. Sie hatte etwas Primitives, 214
diese doppelte Reihe von Pfählen und der schräggestellte Holzklotz, der auf einem dünnen Stock ruhte. In einer solchen Falle fingen sie ihr bestes Pelztier, und die Bearbeitung des Felles sollte noch allerhand Auswirkungen haben. Bis jetzt war Bunting nur im Hintergrund herumgegeistert, ein blauer Schatten im dichten Forst, der darauf lauerte, sich auf sie zu stürzen. Er hatte geschworen, die Vogelfreien zur Rechenschaft zu ziehen, und Bunting war ein Mann, der sein Wort hielt. Von allen Erwachsenen, die durch die Vogelfreien gelitten hatten, hatte Bunting am meisten gelitten, mehr sogar als Tante Ellen. Sein Stolz hatte gelitten, seine Selbstachtung hatte gelitten, kein Wunder, daß er nach Rache schrie. Das Bewußtsein, daß drei junge Grünschnäbel ihn bis jetzt zum besten gehalten hatten, war unerträglich. Nach außen ließ er sich nichts anmerken. Er ging wie gewöhnlich seinem Geschäft nach: in diesem ländlichen Gebiet dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Er prüfte Hundemarken und Waffenscheine, prüfte, ob die Schafe vorschriftsmäßig ins Desinfektionsbad gebracht worden waren und ähnliches. Er erfüllte diese täglichen Aufgaben eines Landpolizisten mit äußerlicher Ruhe und seiner gewohnten Würde, aber insgeheim dachte er nur darüber nach, wie er die Jungen aus dem Witwensitz fangen könnte. Trotz der erfolglosen Versuche ging er immer, wenn sich die Gelegenheit bot, in den Forst von Brendon; zu Zeiten, Wo er sonst in seinem Garten gegraben hätte, schlich er sich davon und suchte die sich bunt färbende Wildnis aus Baum und Farn auf. Was ihm Sorge machte, war die Tatsache, daß er keinen wirklichen Beweis dafür hatte, daß die Jungen sich im Forst aufhielten. Das einzige Mal, wo er sie tatsächlich selbst gesehen hatte, war jener Sommermorgen im Hochwald. Aber daß man den Kleinen John in Brendon gesehen hatte und daß dieser in Richtung auf Cheshunt Toller geflohen war, war ein schwerwiegendes Indiz. 215
Eines Nachmittags Mitte Oktober machte sich Bunting wieder auf den Weg in den Forst. Es sollte das letzte Mal sein, daß er sich allein in diesen Wald wagte. Ohne zu ahnen, was das Schicksal für ihn bereit hielt, bestieg er in korrekter Uniform sein Rad und fuhr die inzwischen schon vertraute Straße entlang. Er hatte das Gefühl, daß seine Anstrengungen diesmal von Erfolg gekrönt sein würden. Es war einer jener Herbsttage, an denen die Sonne mit einem erblassenden Glanz scheint, der die Ferne mit geheimnisvollen Schleiern verhängt. Die Fahrt zum Forst war ein Vergnügen, sehr verschieden von jener Fahrt im Juli, als er sich in einer erbarmungslosen Hitze schwitzend die lange Steigung hinauf gequält hatte. Bunting fühlte sich glücklich, als er so dahinrollte, er pfiff sich sogar eine kleine Melodie. Er hatte irgendwie das Gefühl, daß er heute zum mindesten auf eine handfeste Spur stoßen würde, die zur Ergreifung der Jungen führen mußte, ganz zu schweigen von den fünfzig Pfund Belohnung, die immer noch ausgesetzt waren. Auf der Straße lagen ganze Laubverwehungen, denn die ungewöhnlich frühen Fröste hatten die Eschen vollständig ihrer Blätter beraubt. Die Räder raschelten friedlich hindurch und wirbelten den Geruch feuchter und verfallender Vegetation auf. Nur die Eichen trugen noch das schwere Grün des Sommers. Die Kastanien hinter dem Gasthaus »Zu den Märtyrern« waren Hügel von flammendem Gold. Ihr Glanz wurde noch verstärkt von den Strahlen der Sonne, die von hinten durch sie hindurchsickerten. Auf den leeren Stoppelfeldern saßen glänzendschwarze Krähen und Dohlen; sie schimmerten im blaßgoldenen Licht wie aus Metall gegossen, und auf einer Wiese saß eine einzelne Elster auf dem Rücken eines Schafs und pickte in seiner Wolle nach Zecken. Als Bunting den Forst von Brendon erreichte, fand er ein ganz anderes Bild vor als das, das er in der Hitze des Mittsommers gesehen hatte. Es war überraschend, welch neue Ausblicke sich eröffneten, seit das Laub des Unterhol216
zes sich lichtete. Die Waldwege schienen seltsam verändert, sie waren kaum wiederzuerkennen. Im Wald wuchsen viele Roßkastanien, und während er den taufeuchten Pfad entlangging, der zum Verborgenen Weiher führte – er hatte sein Fahrrad abgeschlossen und unter einem Gebüsch zurückgelassen – plumpsten die großen stacheligen Früchte rings um ihn her zu Boden. Als er am Rand des Weges stehen blieb und den süßen Duft des herbstlichen Waldes einsog, konnte er von allen Seiten den dumpfen Aufprall hören. Einige Kastanien plumpsten ins Unterholz, andere prallten auf dem Grasboden neben ihm auf. Unter einem der Bäume sah er ein kleines rotes Eichhörnchen eine Nuß verspeisen. Es saß aufrecht und hielt die Nuß zwischen den Vorderpfötchen, ein entzückendes Bild des Waldlebens, dessen Reiz aber an Bunting verschwendet war. Als er sich vorsichtig dem Verborgenen Weiher näherte – er kannte den Weg jetzt aus schmerzlicher Erfahrung – lag das Wasser wie gewöhnlich verlassen da, nur drei Wildenten flatterten mit lautem Gequake über die Weiden hinweg. Bunting kannte die Gewohnheiten des Wildes gut genug um zu wissen, daß die Enten den Weiher meiden würden, wenn die Jungen irgendwo in der Nähe wären. Auf die Gefahr hin, sich zu verlaufen, ging er zwischen den Bäumen hindurch in Richtung auf Smokie Joes Hütte. Das Farnkraut wurde schon welk. Nach allen Seiten erstreckte sich ein Meer rotgoldener Wedel, und viele Kaninchen hoppelten davon, während Bunting hindurchstapfte. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, lauschte und versuchte, sich der Richtung zu vergewissern, aber er hörte nichts, als manchmal den dumpfen Aufprall einer Kastanie oder das ferne Krächzen der Krähen. Er sah sie in großer Höhe über dem Wald ihre weiten Kreise ziehen, so wie sie es bei schönem Oktoberwetter gern tun. Von ihrer Höhe aus mußten sie die ganzen elftausend Morgen Waldland wie einen Teppich unter sich ausgebreitet sehen, einen vielfarbigen Teppich, der jeden Tag reichere und buntere Töne annahm. 217
Während Bunting dahinschritt, flogen immer wieder Tauben aus den Eichen auf, einen Augenblick lang waren ihre blaugrauen Körper vor dem Hintergrund der Bäume zu sehen. Sogar zu dieser Jahreszeit flatterten noch ein paar zerzauste Schmetterlinge umher, Admirale und Perlmuttfalter; sie taumelten dahin wie benommen, sicher waren sie auf der Suche nach einem warmen Versteck. Nach langer Wanderung entdeckte Bunting eine Rauchsäule, ging hoffnungsvoll darauf zu und war überrascht, als er bald darauf die Lichtung erreichte, auf der Smokie Joes Hütte stand. Er hatte nicht erwartet, sie so bald schon zu finden. Der alte Mann war damit beschäftigt, mit dem Spaten die Erde rund um seine Meiler festzuklopfen, und er bemerkte Bunting erst, als dieser ihn mit einem fröhlichen »Guten Tag« begrüßte. Gyp kam knurrend und mit gesträubtem Fell hinter dem Schuppen hervor. Smokie richtete sich auf. Zuerst erkannte er den Polizisten nicht, denn die Sonne schien ihm in die Augen. Dann lehnte er sich auf seinen Spaten und spuckte aus. »Ein herrlicher Nachmittag, Wachtmeister«, sagte er schließlich. Bunting fand, daß Smokies Nase noch größer geworden war, viel größer, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Was für ein häßlicher alter Kerl! Aber er wußte etwas über die Jungen und wollte es nicht sagen. »Du hast die fünfzig Pfund noch nicht kassiert, Smokie?« Smokie spuckte noch einmal aus. »Nein, hab ich nicht«, gab er zurück. »Noch nicht«, sagte Bunting, holte eine Zigarette heraus und steckte sie an. Eine Weile standen die beiden da und sahen dem Rauch des Meilers zu, der kerzengerade in die Höhe stieg und hoch über den Bäumen eine blaugraue Säule bildete, die langsam davontrieb. »Ich dachte mir, ich mache einen Spaziergang durch den Wald, es ist ein so herrlicher Tag. Ich wußte gar nicht, daß es im Herbst so schön sein kann.« Bunting wies mit einer weiten Geste auf die sich färbenden Bäume, die sie von allen Seiten einschlossen. 218
»Ah – stimmt schon«, brummte Smokie und fuhr in seiner Arbeit fort. »Man gewöhnt sich dran, wissen Sie, wenn man hier lebt, jahrein, jahraus.« »Vermutlich. Du hast wohl gehört, daß einer der Jungen in Brendon gesehen worden ist und sich mit dem Wagen des Bäckers davongemacht hat?« Smokie lachte. »Nein, hab ich nicht gehört. Und er ist entkommen, wie?« »Ja. Das war 'ne richtige Hetzjagd. Die Jungen sind hier im Wald, Smokie«, sagte der Wachtmeister plötzlich mit Nachdruck. »Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Und wenn es Winter wird, werden sie's nicht mehr lange aushalten.« »Vielleicht nicht, falls sie wirklich hier sind.« »Du hast ja deinen Hund wieder«, sagte Bunting und beäugte Gyp voller Mißtrauen. »Ja. Er ist zurückgekommen, irgendwann im August. Er hat wohl gewildert, der kleine Teufel. Na, ich muß Sie jetzt allein lassen, Wachtmeister; ich muß im Herzogswald Stangen schlagen.« Smokie nickte Bunting zu. Er schulterte den Spaten und pfiff seinem Hund, der immer noch leise knurrte. »Gut, gut«, sagte Bunting. »Dann also, auf Wiedersehn, Smokie, vergiß nicht, die Augen offen zu halten.« Er stand da und sah den alten Kerl zwischen den Bäumen davongehen. Dann setzte er sich auf einen Holzklotz und rauchte seine Zigarette zu Ende. Der Rauch des Meilers hatte sich zu einer blaßblauen Säule verdünnt, ein feiner, beweglicher, durchsichtiger Faden. Bunting hob den Blick und sah über sich Mücken tanzen – wie still es war! Seine Augen schweiften über die Hütte. Eine elende Wohnstatt, nicht einmal als Stall geeignet. Kein Wunder, daß Smokie nicht richtig im Kopf war. Ein Liedchen summend stand Bunting auf und wanderte ziellos um die Hütte herum. Er schaute zum Fenster hinein, aber die Vorhänge verbargen das düstere Innere. Bunting blieb stehen und spähte in die Richtung, in der Smokie ver219
schwunden war. Er hatte das Gefühl, etwas Unanständiges zu tun, aber schließlich war es seine Pflicht. Er trat näher an das Fenster heran und spähte nach drinnen, indem er die Augen mit den Händen abschirmte. Er sah den rotglühenden Ofen und den kleinen Eisenherd an der Wand, den sauber geschrubbten Tisch aus rohem Holz und das zerwühlte Bett in der Ecke. Rechts in der Ecke sah er oben auf einem Schrank etwas Weißes sitzen, das ihn anstarrte. Er erschrak, stellte dann aber fest, daß es Smokies Hauseule war. Bunting pfiff immer noch. Nichts Verdächtiges, überhaupt nichts! Aber dieser alte Kerl wußte etwas, da war Bunting sicher. Der goldene Nachmittag begann abzukühlen. Weit im Westen standen ein paar Zirruswolken, und in der Ferne hörte er den hellen Schlag einer Axt. Smokie war ohne Zweifel im Herzogswald an der Arbeit. Er verließ die Lichtung auf demselben Weg, den er gekommen war, seine großen Füße streiften durch die zahllosen Blätter, die den Waldweg bedeckten. Während er so dahinging, hörte er in einiger Entfernung ein dumpfes Brüllen, als wäre ein wildes Tier aus einer Menagerie entsprungen. Bunting blieb verwundert stehen. Was für ein seltsamer Laut! Wieder ertönte er zwischen den Bäumen links vom Weg. Es war wie ein Husten, ein Bellen und ein Brüllen, alles in einem. Wie äußerst seltsam! Bunting entschloß sich, der Sache nachzugehen. Er zwängte sich durch das vergilbende Haselgesträuch und schüttelte dabei die glänzend braunen Nüsse herunter. Schließlich kam er auf eine offene, grasbewachsene Stelle. Und dort, mitten auf der Lichtung, stand ein prächtiger Damhirsch und stampfte den Boden. Die rollenden Augen ließen das Weiße sehen, und das Geweih wühlte im verfilzten Farn und Moos. Das Tier war keine dreißig Meter entfernt. Bunting blieb eine Weile stehen und beobachtete es, wagte aber nicht, sich zu rühren, weil er es nicht 220
verscheuchen wollte. Dann stieß er einen lauten Pfiff aus. Der Hirsch hob sofort den Kopf und schaute um sich. Bunting lächelte amüsiert. Jetzt wandte sich das Tier ihm seine großen dunklen Augen zu, hob die Nase hoch in die Luft, um ihn zu wittern. Bunting stand ganz still, in der rechten Hand eine Zigarette. Wie seltsam. Er hatte immer geglaubt, Hirsche wären scheu. Dieser war es bestimmt nicht. Im Gegenteil, das Tier machte mehrere Schritte auf Bunting zu, grunzte, brüllte und streckte den Hals. Bunting fand, daß es richtig wild aussähe und fing an, ein bißchen nervös zu werden. Es war Zeit, dem Biest zu zeigen, wer hier der Herr war. So schwenkte er plötzlich die Arme wie eine Windmühle und schrie: »He da!« Und plötzlich setzte der Hirsch zum Angriff an. Er kam so schnell und so unerwartet, daß Bunting völlig überrascht wurde. Er schrie auf und sprang beiseite, während der Hirsch, der ihn fast erreicht hatte, mit dem Geweih nach ihm stieß und ihn nur um Zentimeter verpaßte. O Gott! Wenn er nicht schnell hier herauskam, konnte es ernst werden, denn mit einem dumpfen Bellen hatte der Hirsch sich umgedreht und bereitete einen neuen Angriff vor. Bunting, der zutiefst erschrocken war, sprang auf den nächsten Baum, eine Kastanie, zu. Er schwang sich auf einen der unteren Zweige und saß eben rittlings darauf, als der Hirsch von neuem auf ihn losging. Die Hörner streiften den Zweig, auf dem er saß. Bunting kletterte wie ein erschrockener Vogel auf einen höheren Ast. Unter dem Baum stand der Hirsch, schaute hinauf, grunzte und stampfte mit den Hufen den Boden. Von Zeit zu Zeit schaufelte er mit dem Geweih Moos und Farn in die Höhe. Dann ging er mit schnellen Schritten um den Baum herum Wie eine Schildwache. Er hatte nicht die Absicht, sein Opfer zu verlassen – o nein, ganz offensichtlich nicht! Bunting auf seinem Ast überlegte, was zu tun wäre... Der Hirsch hielt immer noch unten Wache, und es sah so aus, als wolle er bleiben. Bunting gingen viele Dinge durch 221
den Kopf. Sollte er zu Smokie zurückkehren? Nein, Smokie war vielleicht nicht zu Hause. Er würde sicher nicht vor Dunkelwerden zurückkommen. Nein, er mußte dieses teuflische Biest loswerden und irgendwie die Straße erreichen. Die Sonne berührte schon den Horizont, im Wald wurde es kalt. Hier oben in seinem luftigen Sitz fror Bunting und kam sich dumm vor. Und der Hirsch machte immer noch keine Anstalten wegzugehen. Bunting schrie und bellte. Er brach einen verdorrten Zweig ab und schleuderte ihn auf seinen Peiniger – traf ihn aber nicht. Schließlich rief er laut nach Smokie, er möge kommen und ihn erlösen. Er hatte seine ganze Würde in den Wind geschlagen. Es war ihm jetzt gleich, ob man ihn wie eine gejagte Katze im Baum hockend fand, er fühlte, er konnte es nicht mehr lange aushalten. Um sein Elend voll zu machen, kamen ein paar Misteldrosseln und Eichelhäher, die den Lärm gehört hatten, setzten sich auf die Nachbarbäume und beschimpften ihn. Sie dachten bestimmt, er sei eine neue Art von Eule und betrachteten ihn als Störenfried. Bunting hatte sogar den Wunsch, die Jungen möchten kommen und ihn retten. Aber er hörte nur sein eigenes Echo, das ihn verhöhnte. Eulen begannen ihr melancholisches Huhu, im Westen war die Sonne untergegangen und hatte einen gelbgeflammten Himmel hinterlassen, gegen den sich die halb kahlen Bäume des Waldes scharf abhoben. Aber dieses verdammte Biest stand immer noch unten und stampfte und brüllte. Er starrte hinunter auf den stämmigen, walzenförmigen Rumpf mit dem dicken Haar, das so dicht war wie das eines hübschen Teppichs. Was sollte er tun? Sich zu Boden fallen lassen und auf seine Schnelligkeit vertrauen? Unmöglich. Er hätte keine Chance. Warum hatte Smokie ihn nicht gewarnt, daß die Hirsche, die sonst so scheu und furchtsam sind, sich in der Brunst so verändern? Er erinnerte sich jetzt an Berichte von anderen Männern, 222
die von Hirschen auf einen Baum gejagt worden waren. Ein entfernter Verwandter war Wildhüter im Park von Windsor gewesen und war, ähnlich wie er jetzt, von einem brünstigen Bock zur Verzweiflung getrieben worden. Er erinnerte sich jetzt: Der unglückliche Mann hatte viele Stunden lang auf einen Baum gehockt, bis ein anderer Wildhüter das Tier erschoß. In den Büschen ringsum hüpften kleine Vögel umher und piepsten. Sie wollten schlafen gehen, fürchteten sich aber vor dem Ungeheuer in der Kastanie. Die knorrigen Äste des Baumes hoben sich immer schwärzer gegen den Himmel ab, immer dunkler wurde es im Wald. Sollte er versuchen, Smokie zu erreichen? Würde der Hirsch ihn im Dunkeln sehen? Konnte er bei Dunkelheit sehen? All das ging ihm durch den Kopf, während er das stampfende Biest unten beobachtete. Bunting rutschte schließlich auf seinem Ast nach außen. Dieser hing über einem Haselgesträuch. Er konnte sich vielleicht hineinfallen lassen und im Dickicht entkommen. Aber der Hirsch sah die Bewegung und kam grunzend und brüllend heran, sein Atem stand weiß in der kalten Luft. Bunting rutschte vorsichtig zurück. Ein zunehmender Mond tauchte über den Bäumen auf, nichts war mehr deutlich zu erkennen, die Sterne kamen hervor, lautlos flogen Eulen mit breiten Schwingen vorüber und riefen ihr hohles Huhu. Dann hörte Bunting in der Ferne einen anderen Hirsch röhren. Das bedeutete seine Befreiung. Sein Wächter unter dem Baum spitzte die großen Ohren und ging langsam davon. Bunting konnte sein wütendes Grunzen hören, während er durch die Bäume trabte. Endlich war der Wachtmeister frei! Mühsam kletterte er zu Boden. Seine Glieder waren so verkrampft, daß er kaum gehen konnte. Aber er würde wohl den Weg zum Verborgenen Weiher und damit zur Straße finden. Schließlich hatte er sein Fahrrad erreicht und löste mit halberfrorenen Fingern das Schloß. Warum widerfuhren 223
ihm diese Demütigungen? Dieser verdammte Forst war ihm fremd, bedrohte ihn mit Unheil. Und alles wegen dieser verflixten Jungen. Aber es war das letzte Mal, daß er allein in den Forst von Brendon ging.
KAPITEL 16
Der Dachspelz Die Vogelfreien nahmen mit offenen Sinnen die Pracht des herbstlichen Forstes wahr. Sie hätten sich nie geträumt, daß es hier so zauberhaft schön sein könnte. Im Sommer kann ein großer Forst in seinen Formen und Farbtönen fast eintönig wirken. Es gibt kaum farblichen Kontrast. Bäume und Sträucher sind von einem ziemlich ähnlichen Grün. Im größeren Teil des Forstes waren die Bäume auch von gleicher Höhe, nur im Herzogswald, wo die Jungen ihr heimliches Lager hatten, waren die Eichen unterschiedlich groß. Aber mit den ersten Frösten nahm jeder Busch, jeder Baum eine andere Färbung an. Die Brombeersträucher zeigten ein dunkles, flammendes Rosenrot, die Ahornbäume ein klares, strahlendes Gelb, die Lärchen waren bernsteinfarbene Fackeln. Im Herzogswald gab es nur wenige Lärchen, aber im angrenzenden Kronwald waren sie zahlreich. – Die Kastanien standen im Schmuck ihrer glänzenden Früchte. Außer den Roßkastanien gab es auch Eßkastanien und Haselnüsse. Die Vogelfreien aßen sich satt an Nüssen. Mit Nüssen geht es einem wie mit Schokolade: Man ißt immer weiter, bis man sie einfach nicht mehr sehen kann. Sie gruben auch ein Loch und legten sich wie die Eichhörnchen einen großen Nußvorrat an. Buchen waren im Forst von Brendon selten, denn Buchen 224
lieben leichten Boden, und der Boden im Forst war schwer und lehmig. Dies war bemerkenswert, denn nicht weit entfernt lag das Hügelland, das ausschließlich aus Kalkstein bestand. Dort gab es viele Buchen; sogar im Park von Brendon war die Buche der beherrschende Baum. So kam es, daß die wenigen Buchen, die die Vogelfreien im Forst von Brendon sahen, ihr besonderes Interesse fanden. Auf dem Boden unter diesen Bäumen waren immer ganze Schwärme von Finken versammelt, die die Buchekkern aufpickten. Ende Oktober sahen die Jungen dort einige Bergfinken. Sie glaubten, es wären Buchfinken, aber als sie aufflogen, sah man den weißen Rumpf; es waren schöne bunte Vögelchen, so reich gemustert wie die Herbstblätter. Der Forst bot jetzt im Herbst noch mehr Abwechslung. Die Schmetterlinge waren zwar verschwunden und mit ihnen viele Sommervögel, aber an ihrer Stelle trafen andere Zugvögel ein. Einer der schönsten Flecken im ganzen Wald war natürlich der Blinde Weiher. Der Anblick des dichten Teppichs aus goldenen und roten Blättern, der auf dem schwarzen Wasser trieb, war von zauberhafter Schönheit. Robin stahl sich oft davon und ging zum Weiher, nicht um zu fischen oder zu jagen, sondern einfach, um stundenlang die satten Farben zu beobachten, die sich im Wasser spiegelten, die stillen trauernden Bäume. Manchmal, wenn ein Wind ging, erfüllten wirbelnde Blätter die Luft, und sogar an diesem geschützten Ort kräuselte sich das Wasser, und die schwimmenden Blätterflöße wurden zur Seite getrieben. Zu anderen Zeiten war es totenstill, die Blätter schwebten leise zur Erde oder senkten sich wie ein Feenkuß auf den Spiegel des Weihers. Am Verborgenen Weiher sah Robin auch einen der seltensten Vögel, die England aufsuchen. Er hielt sein geladenes Gewehr in den Händen, dachte aber nicht daran zu schießen, obgleich er wußte, daß das Gefieder dieses Vogels sehr viel Geld bringen würde. Eines Abends näherte er sich, allein wie gewöhnlich, dem Weiher. Als er zwischen den vergilbten Farnwedeln ans 225
Ufer herankroch und über die Oberfläche des Wassers spähte, sah er sofort auf der gegenüberliegenden Seite einen plumpen grauen Vogel, der dort auf dem gebleichten Ast eines toten Baumes stand. Er hatte die gleiche Farbe wie ein Reiher, war aber viel kleiner, und der Hals war kurz und dick. Außerdem war der Rücken von einem glänzenden Blauschwarz, die Deckfedern der Schwingen waren aschgrau. Robin wußte viel über Vögel, aber dieser seltsame Gast war ihm ein Rätsel. Zuerst dachte er, es könnte ein noch nicht erwachsener Reiher sein, aber plötzlich fiel es ihm ein: Das mußte ein Nachtreiher sein! Es war eigentlich nicht überraschend, an diesem einsamen Waldsee einen so seltenen Besucher zu sehen, trotzdem konnte Robin seine Erregung kaum unterdrükken. Er wäre am liebsten zurück zur Eiche gestürzt, um die anderen zu holen, damit sie seine Freude teilten, aber er wußte, das würde den Vogel aufscheuchen und wahrscheinlich für immer vertreiben. Eine ganze Stunde lang beobachtete er den Vogel, der da stand, als sei er aus einem schönen grauweißen Marmor oder aus Speckstein geschnitten. Als es dämmerte und die Schatten dichter wurden, schien der Nachtreiher zu erwachen. Er ließ sich von dem toten Baum ins flache Wasser fallen und begann, dort herumzuwaten. Gewiß suchte er nach Fröschen. Bald wurde es so dunkel, daß er den Vogel kaum noch erkennen konnte, nur die Wellenkreise verrieten, wo er stand. Da kroch Robin durch den Farn zurück und lief mit der großen Neuigkeit zum Lager. Vielleicht war der Vogel am nächsten Morgen noch da, vielleicht ließ er sich auch ganz am Verborgenen Weiher nieder. Dieser einsame Ort im Herzen des Forsts von Brendon war wie geschaffen für diesen scheuen Nachtreiher. Aber als sie am nächsten Morgen hinkamen, war nichts von dem Vogel zu sehen, und Robin fragte sich, ob er ihn wirklich beobachtet, oder das ganze nur geträumt hatte. Sie sahen den Vogel nie wieder. 226
Aus der Deckung der vergilbenden Haselsträucher schoß Robin mit großem Geschick ein paar der scheuen Wildenten, die sich jetzt in größerer Zahl dort aufhielten. Er mußte warten, bis die ahnungslosen Vögel ans Ufer geschwommen kamen, bevor er den Abzug drückte. Sein wohlgezielter Schuß drehte dann das Tier auf den Rücken, die orangeroten Schwimmfüße nach oben; so konnte er es mit der glühenden Genugtuung des wahren Jägers an Land ziehen. An manchen Abenden gab es jetzt Entenbraten zum Nachtessen, und zarte, verlockende Düfte trieben über die Lichtung mit der alten Eiche. Die Jungen hatten Glück, daß Bunting es aufgegeben hatte, den Forst unsicher zu machen. Natürlich wußten sie nichts von seinem Abenteuer mit dem Hirsch. Bis jetzt waren alle Versuche, eins dieser großen Tiere zu erlegen, ergebnislos verlaufen. Sie sahen jetzt gelegentlich einen braunen Rücken im rostigen Farn auf- und abhüpfen, aber es war nie möglich gewesen, einen gut plazierten Schuß anzubringen, und das war bei ihrem kleinkalibrigen Gewehr von größter Wichtigkeit. Hätten sie ein richtiges Jagdgewehr gehabt, würden sie bestimmt längst mehrere Tiere erlegt haben, aber darüber nachzudenken war sinnlos. Smokie Joe wilderte zwar gelegentlich Rehe, aber es war auch für ihn riskant. Die Arbeiter auf den Feldern, die an den Wald grenzten, hörten gelegentlich den Knall seines alten Vorderladers, taten aber so, als merkten sie nichts. Auch den Herzog erreichten gelegentlich Gerüchte über Smokies Wilderei, aber er kümmerte sich nicht darum. Die Wildhege interessierte ihn nicht, daher beschäftigte er keine Wildhüter, und das war ein großes Glück für die Vogelfreien. Hätte es Wildhüter im Wald gegeben, die Jungen wären schon nach einigen Tagen entdeckt worden. Als es kalt wurde, hörte die Schleie auf zu fressen, und jetzt noch einen dieser Fische zu fangen, war ein Ereignis. Aber es gab immer noch Barsche und sogar Hechte, die jetzt, wo die Temperatur des Wassers erheblich gesunken war, großen Appetit zeigten. 227
Mit der Hilfe von Smokie Joe stellte Robin eine Hechtangel her. Smokie lieh den Jungen einen großen weißen Schwimmer und besondere Haken, und mit kleinen Barschen, von deren Rücken sie die Stacheln abgeschnitten hatten, als Köder, fingen sie ein paar große Hechte. Die Hechte bissen noch kühner an als die Barsche, der weiße runde Schwimmer verschwand ganz plötzlich in einem Wirbel zwischen den goldenen Laubflößen, und das Zerren des großen Fisches am Ende der Leine sandte einen angenehmen Schauer durch den Körper des Anglers. Sie fischten jetzt mit Ruten – kräftigen Haselruten – und wenn der Fisch am Haken saß, hatten sie manchmal das Gefühl, sich am Boden festgehakt zu haben. Dann wurde das grün-bronzene Ungeheuer, das sich platschend zur Wehr setzte, ans Ufer herangezogen, bis es nah genug war, um an seinem häßlichen schuhförmigen Kopf an Land geholt zu werden. Man kann einen Hecht immer packen, wenn man ihm fest in die Augenhöhlen greift. Der Hecht schmeckte vielleicht nicht so zart wie Schleie und Barsch, aber doch sehr gut, besonders wenn die Jungen sich die Mühe machten, die zahllosen kleinen Gräten zu entfernen. Aber die meiste Zeit waren sie mit Fallenstellen beschäftigt. Sie taten dies der Felle wegen. Sogar Harolds Kleider waren jetzt völlig zerschlissen, und sie machten sich, allerdings mit Hilfe von Smokie Joe, ganz neue Fellanzüge. Smokie Joe hatte große Freude daran, etwas, wie er sagte, »hinzukriegen«. Smokie erlaubte ihnen auch, sich aus seinem Gemüsegarten zu versorgen; sie hatten soviel Kohl und Kartoffeln, wie sie wollten, das bereicherte ihren Speisezettel sehr. Überhaupt, wäre der alte Köhler nicht gewesen, hätten die Jungen wohl nicht so lange im Wald durchhalten können. Als sie eines Abends gegen Ende Oktober um ihr Lagerfeuer saßen, machte Robin seinen Brüdern einen Vorschlag. 228
»Ich habe mir überlegt, ob wir nicht Vater und Mutter schreiben sollen, wie es uns geht. Tante Ellen hat ihnen bestimmt geschrieben und hat ihnen alles mögliche erzählt, und sie werden sich Sorgen machen.« »Aber das würde doch alles verderben«, rief der Große John. »Sie werden zurückschreiben und es Tante Ellen sagen, Tante Ellen wird es der Polizei sagen, und die wird den Wald durchsuchen, bis sie uns gefunden haben.« »Nun, irgendwann müssen wir ja zurückgehen«, widersprach Robin. »Sobald die Eltern aus Indien zurück sind, können wir nicht mehr hier bleiben. Ich dachte mir, daß wir sie vielleicht beruhigen können, Tante Ellen hat die Sache bestimmt so schwarz wie möglich gemalt. Was meinst du, Kleiner John?« »Keine schlechte Idee. Wir teilen ihnen mit, daß wir gesund und munter sind und nicht ermordet oder sonst was.« Robin stand auf, kroch in den Baum und kam mit einem Bleistiftstummel, einem schmuddeligen Blatt Papier und einem Umschlag wieder zum Vorschein. »Als ich gestern Kohl bei Smokie Joe holte, habe ich das Von ihm bekommen. Ich hätte aber nicht geschrieben, ohne vorher mit euch zu sprechen. Also«, sagte er, hockte im Feuerschein nieder und beleckte den Bleistiftstummel, »also, was sollen wir schreiben?« »Schreib, daß wir ausgerissen und in den Wald gegangen sind, und daß Smokie für uns sorgt, bis sie wieder nach England zurückkommen. Schreib ihnen, daß wir schrecklich unglücklich waren und daß Harold die Masern gehabt hat.« »Das scheint mir keine gute Begründung«, sagte Robin nachdenklich, »Tante Ellen ist auf ihre Weise gut zu uns gewesen; sie hat uns zu sich in den Witwensitz genommen und für uns gesorgt.« »Ich weiß, es ist schrecklich schwierig, aber was sollen wir sonst sagen«, sagte der Große John. »Jedenfalls sollten wir ihnen mitteilen, wo wir sind.« 229
Robin richtete sich also auf seine Ellbogen auf und begann, beim Schein des Feuers zu schreiben: Forst von Brendon Oktober Lieber Vater, liebe Mutter, Wahrscheinlich hat Tante Ellen Euch schon gesagt, daß wir aus dem Witwensitz ausgerissen sind und daß Harold die Masern gehabt hat. Er ist jetzt wieder ganz gesund. Er ist bei uns. Wir waren im Witwensitz schrecklich unglücklich, Tante Ellen versteht uns nicht, und wir vermissen Euch beide sehr. Als Harold die Masern bekam und wir im Witwensitz bleiben und Unterricht vom Pfarrer bekommen sollten, haben wir uns daher entschlossen, wegzulaufen. John und ich sind in den Forst von Brendon gegangen, und als es Harold besser ging, haben wir ihn geholt. Wir haben wie Robin Hood gelebt und mit Rumbolds Gewehr – das wir uns geborgt haben – gejagt, was wir brauchten. Und wir haben uns mit einem alten Köhler, der Smokie Joe heißt, angefreundet. Er ist ein guter Freund geworden, weil wir seinen Hund gefunden haben, der in einem Kaninchenbau stecken geblieben war. Es ist wundervoll hier. Wir wohnen in einer großen Eiche mitten im Forst. Wenn Ihr nach Hause kommt, kommen wir natürlich zurück. Wahrscheinlich werdet Ihr böse auf uns sein. Aber wir haben gemeinsam beschlossen, Euch zu schreiben, damit Ihr wißt, daß uns nichts passiert ist und daß wir uns danach sehnen, Euch wiederzusehen. Und wir wollten nicht, daß Ihr Euch unseretwegen Sorgen macht oder auf Tante Ellen hört. Ihr habt geschrieben, daß Ihr im Neuen Jahr kommt. Wir werden dann zurückkommen, und 230
Ihr könnt uns bestrafen, wie Ihr wollt. Wir wissen, daß wir es verdienen, aber wir wollen lieber von Euch bestraft werden als von Tante Ellen. Es ist schwer gewesen, diesen Brief zu schreiben. Eure Euch liebenden Söhne Robin John Harold P.S. Wir haben im Wald ein wildes Schwein geschossen und einen wunderbaren See gefunden, der der Verborgene Weiher heißt. Er ist nicht weit von unserem Versteck. Er ist voll von Fischen. »Wie findet ihr das?« fragte Robin, als der Brief endlich fertig war. Seine Brüder lasen ihn nacheinander. »Ja, mehr können wir nicht sagen«, sagte der Große John. »Jedenfalls wissen sie jetzt, daß wir gesund und in Sicherheit sind.« Robin schrieb die Adresse auf den Umschlag, klebte ihn zu und brachte ihn in den Baum. »Wir geben ihn Smokie Joe, der kann ihn in Cheshunt Toller einwerfen. Er geht morgen hin, um einzukaufen. Der gute alte Smokie! Ich Weiß nicht, was wir ohne ihn täten. Wir müssen ihn einmal zum Abendessen einladen. Er kann auch hier schlafen, wenn er will. Aber ich glaube nicht, daß er seine Meiler so lange allein lassen will. Er hat unser Lager noch nie gesehen.« »Eine gute Idee.« »Und wir werden ihm zu Ehren ein besonderes Essen machen, und auch für Peng – ich meine Gyp«, schlug Robin vor. Der alte Kerl war sichtlich erfreut, als er die Einladung erhielt. 231
»Ja, ich komme, Gyp und ich, es ist Vollmond und ich werde euch leicht finden.« »Oh, wir holen dich ab«, sagte Robin in einem Ton, als böte er an, einen Wagen zu schicken. »Einer von uns wird dir als Führer dienen. Denn allein würdest du uns nie finden.« Und so kam Smokie, natürlich begleitet von Gyp, eines abends zu Besuch. Zuerst war er linkisch und scheu. Smokie, weit weg von seiner Hütte und seinen Meilern, war wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er war so schüchtern, als säße er an einem weiß gedeckten Tisch und ein Diener stünde hinter seinem Stuhl. Aber bald vergaß er seine Schüchternheit. Er bewunderte das Baumhaus und die geschickt gemachte Tür aus Rinde – die jetzt bei dem kalten Wetter nachts immer geschlossen war – und er kicherte, als er im Baum die tiefen Farnkrautlager sah. »Ihr habt's hier so gemütlich wie die Dachse, das muß man euch lassen, kein Wunder, daß sie euch hier nicht gefunden haben.« Zum Abendessen gab es als ersten Gang Frikadellen aus entgrätetem Hecht mit Brunnenkresse, dann ein Ragout aus Eichhörnchen und Tauben mit Pilzen – von den Vogelfreien Jägertopf genannt – es folgte kalte gebratene Ente und in der Asche geröstete Kartoffeln (Smokies Kartoffeln), frischer Grünkohl (auch das aus Smokies Garten), dann junger Barsch auf Toast und als Nachtisch Äpfel (Smokies Äpfel). Wein gab es nicht dazu, nur Wasser aus dem Verborgenen Bach, aber das machte nichts, denn Alkohol trank Smokie nur zu Weihnachten und Neujahr. »Verflixt, das war ein Abendessen, da hat nichts gefehlt«, sagte der alte Mann, als die Mahlzeit beendet war und auch Gyp sein Teil bekommen hatte. »Ihr lebt wie die Maden im Speck, alles was recht ist.« »Die Kartoffeln und die Äpfel waren ja von dir«, sagte Robin, »eigentlich sollten wir sie selber anbauen.« »Das braucht ihr nicht«, sagte Smokie. »Ich habe genug, 232
mehr als ich selber essen kann. Fragt mich nur, wenn ihr was wollt. Die Ente war gut. Wo habt ihr die her?« »Vom Verborgenen Weiher, um diese Zeit kommen oft welche hin.« »Ja, wißt ihr, da ist's schön still. Da stört sie keiner. Enten suchen immer solche Seen, die im Wald versteckt sind. Ich hab manchmal auch Ottern dort gesehen, und einmal hab ich einen Dachs gesehen, groß wie ein Bär, ein schöner Dachs, der kam zum Trinken hin.« »Ein Dachs«, rief der große John. »Weißt du, Smokie, wir haben bis jetzt erst einen gesehen, ein Weibchen, und sie hatte viele Junge bei sich, die rannten davon als sie uns sahen und quiekten wie Schweinchen.« »Ah, natürlich. Es gibt jede Menge von Dachsen im Forst, aber man sieht sie nicht oft. Der Dachs, den ich gesehen habe, der war so lang wie'n Scheunentor.« »Ich würd so gern einen Dachs fangen«, sagte Robin. »Sind sie schwer zu fangen, Smokie?« »Ich hab gelegentlich einen gefangen. In 'ner Baumfalle.« »Wir haben nicht viel Glück mit unseren Fallen«, sagte der Kleine John, »ich weiß nicht, wie das kommt.« »Vielleicht ist euer Köder nicht richtig, oder der Stock, der den Holzklotz hält, ist nicht richtig angebracht. Was nehmt ihr als Köder?« »Oh, alles mögliche. Vögel und junge Kaninchen.« »Ja, ihr solltet sie mit jungen Kaninchen fangen, die fressen sie gern. Hab mal einen Dachs gesehen, dem war der Bauch aufgeschlitzt, und der war voll von jungen Kaninchen, zweiundvierzig Stück, so lang wie mein Finger. Die Biester fressen alles, was sie kriegen können. Auch Eier, Eier suchen sie besonders gern, Eier und Honig.« »Wenn du mal ein Hühnerei hast, das du nicht brauchst, Smokie, dann könnten wir das nehmen.« »Na, ihr könnt eins haben, aber wenn ihr noch was von eurem Honig übrig habt, das wäre noch besser als ein Ei. Würd mir Spaß machen, wenn ihr 'nen Dachs fingt. Sie sind 233
immer noch auf den Beinen. Erst wenn's richtig kalt wird, verkriechen sie sich.« »Wo würde man die Falle am besten aufstellen, Smokie?« fragte der Kleine John. »Oh, irgendwo an einem Wechsel oder an einem Waldweg. Ein Dachs hat einen Jagdpfad genau wie ein Fuchs, der ist richtig ausgetreten.« »Wir haben noch keinen Wechsel gefunden«, sagte der Kleine John. »Vielleicht haben wir deshalb auch noch keinen Dachs gefangen.« »Ich weiß, wo ein Wechsel ist. Wenigstens war da mal einer, ziemlich nah am Verborgenen Weiher.« »Wir gehen morgen hin und suchen ihn«, rief Robin, »und wir stellen da eine Falle auf und nehmen Honig als Köder.« »Dachse sind ziemlich schlau«, sagte Smokie und zauste Gyp sanft an den Ohren. »Ihr müßt vorsichtig mit der Falle umgehen, genau wie mit einer Schlinge. Wenn das Tier nur das geringste riecht, geht es vorbei, das ist mal sicher.« »Smokie«, rief der Große John, »morgen abend fangen wir den Dachs.« Smokie lachte. »Da bin ich gar nicht so sicher, mein Lieber. Wahrscheinlich fangt ihr statt dessen eine Ratte.« Dann erzählte er von vielen wunderbaren Dachsjagden, an denen er als Grünschnabel teilgenommen hatte, Geschichten von Fallen und Terriern, und wie er einmal gesehen hatte, daß ein altes Dachsmännchen einem Jagdhüter vier Finger abgebissen hatte. »Sie beißen schlimmer als Hunde«, sagte Smokie. »Einen anderen Kerl hab ich gesehen, der hielt den Kopf in das Dachsloch, und ein Dachs kam rausgeschossen, hinter dem war ein Terrier her, und der Dachs biß dem Kerl die Nase ab, biß die Spitze rein ab!« Bei dieser Geschichte wandte sich Robins Aufmerksamkeit unwillkürlich Smokies Nase zu. Die Jungen waren jetzt so oft mit dem alten Mann zusammen, daß sie seine Verunstaltung gar nicht mehr bemerkten. Als Robin aber jetzt die Nase im Feuerschein betrachtete, schien sie ihm 234
größer denn je. Smokie mußte seinen Blick bemerkt haben, denn er schien verlegen. Es war nie ein Wort über diesen unnormal großen Auswuchs gefallen. Die Jungen hatten nicht neugierig sein wollen, und Smokie hatte die Sache nie erwähnt. Aber jetzt tat er es. »Ich sehe, daß du das hier anschaust«, Smokie deutete mit dem Finger auf die purpurne Masse, die fast so groß war wie seine Faust. »Ich bin nicht gerade schön, wie? Und besonders, wenn ich ins Dorf gehe, merke ich das. Die größeren Kinder lachen mich aus, und die Kleinen laufen schreiend und heulend zu ihren Müttern. Ihr habt sicher noch nie so eine Nase gesehen?« Nein, so eine Nase hatten sie noch nie gesehen. Sie konnten sich vorstellen, wie Tante Ellen bei Smokies Anblick vor Abscheu ihren Rock um sich raffen würde, sie würde bestimmt glauben, die Nase sei ansteckend. »Ist sie immer so gewesen?« fragte der Große John verlegen. »Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gekommen ist. Vielleicht ist's der Qualm von meinen Öfen oder sowas. Aber ich gäb alles drum, wenn's wieder ein richtiger Zinken wär. Aber sie wird größer. Das weiß ich. Habt ihr gemerkt, daß sie größer wird?« »Nein Smokie, bestimmt nicht«, sagte Robin. »Sie ist so, wie sie immer war.« Und das war eine bewußte Lüge. »Vielleicht kommt's davon, daß man im Wald lebt«, sagte Smokie nachdenklich, »so ganz allein mit dem Rauch und den Bäumen. Aber ich wollte nicht anders leben, nicht, wenn ihr mir hundert Pfund gäbt.« »Ich glaube, ein Doktor könnte es heilen«, sagte der Kleine John. »Doktor Bowers in Yoho ist schrecklich klug.« Der Große John scharrte verlegen mit den Füßen, und Robin trat den Kleinen John gegen das Bein. Angela war noch nicht vergessen, und der Doktor war ihr Vater. seltsamerweise war keiner der Jungen ihm je begegnet. Aus irgendwelchen Gründen konsultierte Tante Ellen Doktor Bowers nicht, vielleicht weil seine Praxis ziemlich weit von 235
Cherry Walden entfernt lag. Aber der wahre Grund war wohl der, daß Dr. Bowers weder eine eindrucksvolle Persönlichkeit, noch sehr wohlhabend war, und seine Patienten waren meist arme Leute. Tante Ellen konnte nicht verstehen, warum er sich in einem so unbedeutenden Ort wie Yoho niedergelassen hatte, in dem sonst keine »besseren« Leute wohnten. Vielleicht lag es daran, daß sein Haus einen wunderschönen Garten hatte, und der Doktor war als leidenschaftlicher Gärtner bekannt. Aber trotz seiner bescheidenen Art und seiner einfachen Kleidung war er einer der besten Ärzte der Gegend, und die Leute liebten ihn. »Ich glaub nicht, daß Doktor Bowers oder sonstwer die Krankheit heilen kann«, sagte Smokie düster. »Ich fürchte, das wird wachsen und wachsen, bis ich nicht mehr sehen und nicht mehr essen kann. Manchmal denk ich, es wird mal abfallen, wie 'ne reife Birne. Aber das wird nie geschehen. Der arme alte Smokie wird nie 'ne richtige Nase haben. Das ist mein Kreuz, und ich muß es tragen.« Robin war betroffen, und um Smokie abzulenken, fing er wieder von den Dachsen an, ob es ihnen wohl gelingen würde, das Monstrum zu fangen, von dem Smokie behauptete, es wäre von der Schnauze bis zum Schwanz so groß wie'n Scheunentor. Schließlich erhob sich der alte Mann, um zu gehen, und sie übergaben ihm den Brief, den er getreulich zur Post zu bringen versprach. Sie baten ihn, die Nacht bei ihnen im Baum zu verbringen, aber mit Gyp dazu wäre es doch zu eng geworden. So gingen sie alle zusammen zu Smokies Hütte zurück, durch den geheimnisvollen, mondhellen Wald, über Pfade, die vom Schatten der Zweige und Äste wie ein Zebrafell gestreift waren. Früh am nächsten Tag machten sich die Vogelfreien auf die Suche nach dem Dachsbau, von dem Smokie ihnen erzählt hatte. Es dauerte einige Zeit, bis sie auf den großen Haufen gelber lehmiger Erde stießen, die unter einer farnbestandenen Böschung herausgekratzt worden war. Die Spuren der 236
Klauen waren im gelben Lehm zu sehen, und ein gut ausgetretener Pfad wand sich ins Haselgebüsch. Es war eine wunderbare Stelle für einen Bau, so gut versteckt wie der Zufluchtsort der Jungen. Sie brauchten den ganzen Morgen, um die Falle aufzubauen, aber schließlich war es getan, und der Honig der wilden Bienen war als Köder ausgelegt. Sie probierten den Fall des schweren Holzklotzes aus und stellten das Stützholz so ein, daß die leiseste Berührung die Falle zuschnappen ließ. Dann gingen sie weg, voller Spannung, ob ihre primitive Vorrichtung zum Erfolg führen würde. »Ich vermute, der Dachs schläft fest unter der Böschung«, sagte Robin. »Der schläft in seinem Farnkrautlager so gemütlich wie wir in unserem alten Baum.« »Bestimmt schnarcht er auch«, sagte der Kleine John. »Und wenn er herauskommt, macht er sich bestimmt über den Honig her, da wett ich meine Stiefel.« »Wir werden sehen«, sagte der etwas weniger optimistische Robin, »vielleicht fangen wir auch nur wieder so einen blöden Igel. Den nächsten Igel, den wir fangen, esse ich auf wie die Zigeuner. Die rollen sie in Lehm ein. Das wär jedenfalls was, wenn wir sagen könnten, wir haben 'nen Igel gegessen. Immer wieder sagen Leute: ›Igel schmecken sehr gut, weißt du, man bäckt sie in Lehm wie die Zigeuner das tun‹, aber wenn man dann fragt, ob sie's schon mal probiert haben, sagen sie: ›Oh nein, aber die Zigeuner sagen, daß es gut schmeckt.‹ Ich hasse diese Sorte Menschen.« Zwei Tage lang blieb die Falle unberührt. Die Jungen gingen abwechselnd hin, um nachzusehen. Robin ging als erster, dann der Kleine John, dann der Große John. Als dieser leise die Böschung heruntergeschlichen kam, sah er sofort, daß die Falle zugeschnappt war, der schwere Holzklotz war ganz richtig zwischen die zwei Reihen von Eichenscheiten gefallen, er lag nicht ganz flach, so daß etwas darunterliegen mußte. Und das war auch so. Der Große Jonn traute kaum seinen Augen: Da lag ein herrlicher, 237
seidenhaariger Dachs, so schwer, daß er ihn kaum heben konnte, und fast so lang wie John selbst. Dachse sind genau wie Maulwürfe leicht durch einen Schlag auf die Nase zu töten, wenn auch manche Leute behaupten, Dachse hätten ein zäheres Leben als Katzen. Der schwere Holzklotz hatte genau zugeschlagen, das Tier mußte sofort tot gewesen sein. Der Große John zog es an den Hinterbeinen heraus und streichelte das dichte Fell. Er bewunderte die starken, nach innen gewendeten Eckzähne, zwischen denen noch ein Stück des Wabenhonigs steckte, und den lebhaft gezeichneten schwarz-weißen Kopf. Was für ein Fell! Pah, was für eine Beute! Ein sehr erschöpfter, aber triumphierender John kehrte ins Lager zurück; das schwere Tier zog er hinter sich her. Sobald es ganz kalt war, legten sie es auf den Rücken, und Robin zog es ab, so wie Smokie es ihm bei einem Reh gezeigt hatte. Er schlitzte das Fell auf der Innenseite der Beine auf und rollte es mit Hilfe seiner Fingerknöchel zurück. Dies gelang ihm, ohne das Fell zu verletzen, und bald lag der schöne, dichte Pelz vor ihnen, auch jedes Fetzchen Fett war von der Innenseite abgeschabt. »Wir werden Smokie bitten, es für uns zu gerben«, sagte Robin. »Der Pelz ist zu schön, um verdorben zu werden. Smokie kann das viel besser als wir. Wir haben auch nicht mehr genug Salz.« Der Kleine John konnte nicht widerstehen. Er nahm das Fell und streichelte es. »Das gäbe einen herrlichen Muff«, sagte er und zog an dem dicken Schwanz. »Vielleicht ein Muff für Mutter?« »Pah, die will nicht so olles Dachsfell«, sagte Robin. »Was meinst du, Großer John?« »Was hast du gesagt«, fragte der Große John, dem plötzlich ein Gedanke gekommen war. »Ich sagte, Mutter wird sich nicht viel aus 'nem Dachsmuff machen, wo sie doch ihren herrlichen Zobel hat.« 238
»Nein, wahrscheinlich nicht«, murmelte der Große John. Er machte einen abwesenden Eindruck. Robin betrachtete seinen Bruder aufmerksam. »Wach auf, Großer John! Woran denkst du?« »Oh nichts«, murmelte der Große John und warf einen Ast ins Feuer. »Du denkst wahrscheinlich, ich wollte das Fell für mich behalten, nicht wahr?« fragte Robin. »Also, da hast du unrecht. Du warst an der Reihe, die Falle nachzusehen, und du hast das Tier ins Lager gebracht. Es gehört also dir. Das ist das Gesetz des Waldes.« Der Große John schien ein wenig erleichtert. »Oh danke, du bist großzügiger als ich dachte. Es gehört also mir, und ich darf damit machen was ich will?« Robin lachte. »Natürlich, du Dummkopf. Ich weiß, was du denkst. Du willst dir eine Weste daraus machen. Ich weiß es, du kannst deine Gedanken vor mir nicht verbergen. Nun, wir haben nichts dagegen, nicht wahr, Kleiner John? Wir werden ja noch mehr Dachse fangen.« »Natürlich, und ob«, sagte der Kleine John. »Und der Große John kann sein dreckiges altes Dachsfell behalten und damit angeben, soviel er will.« Am nächsten Tag brachten sie das Fell zu Smokie und legten es ihm triumphierend auf den Tisch seiner Hütte. Beim Licht der Öllampe prüften sie es. »Teufel noch mal, das ist aber ein feiner Pelz«, sagte Smokie, »der ist ziemlich was wert. Wißt ihr, man macht auch Rasierpinsel aus Dachshaaren.« »Könnte man auch einen Muff daraus machen?« fragte der Große John ein wenig verlegen. »Einen Muff? So ein Ding wie es die Damen an den Händen tragen? Aber natürlich, und schön warm würd er halten, da schwör ich drauf.« »Der Große John will sich eine Jacke draus machen«, sagte Robin. »Für 'ne Jacke ist es nicht groß genug«, sagte Smokie. 239
»Jedenfalls werde ich es für euch gerben, in ein paar Tagen ist es fertig. Sagen wir nächsten Freitag.« »Dann komm ich es holen«, sagte der Große John eifrig. »Nächsten Freitag? Ich hab auch ein paar Eichhörnchenfelle zum Gerben. Ich bring sie dir.« »Ja, aber komm nicht, bevor ich meine Arbeit getan habe und nicht vor Dunkelwerden. Ich traue diesem Bunting nicht. Man kann nie wissen, ob er oder ein anderer Bulle hier rumschnüffeln.« Seit die Vogelfreien sich mit Smokie angefreundet hatten, wußten sie wieder, welcher Tag gerade war, aber für alle Fälle hielten sie in einem Baum einen Stock mit Kerben versteckt, an dem sie Tage und Monate markierten. In den nächsten Tagen schien der Große John in Gedanken mit etwas beschäftigt, sogar der Kleine John, der sonst so leicht nichts merkte, stellte es fest. Die anderen beiden sahen ihn oft versunken ins Feuer starren, aber wenn man ihn darauf ansprach, fuhr er hoch und leugnete es lachend. Schließlich kam der Freitag, an dem er das Fell bei Smokie abholen sollte; es war ein stürmischer Herbsttag, der Tag der Tagundnachtgleiche. Der November war mit Kälte und hartnäckigem Nebel gekommen und ließ den Wald noch geheimnisvoller erscheinen. Nun wütete der Nordwind, zerrte an den letzten Blättern und brachte Wachholderdrosseln, Waldschnepfen und Wildgänse mit. Der Abend, an dem der Große John sich mit den Eichhörnchenfellen auf den Weg machte und seinen Brüdern zum Abschied winkte, war düster und schien voller Gefahr. Es war etwas in der wachsenden Dunkelheit, dem brausenden Wind, das von schrecklichen Dingen zu künden schien. Vielleicht würde er gerade in dieser Nacht dem Märtyrer begegnen, der, auf einem kopflosen Pferd reitend, ihm statt eines Gesichts einen grinsenden Totenschädel zeigte, in der hocherhobenen Knochenhand ein flammendes Kreuz. 240
Die anderen hatten ihn bewegen wollen, an einem so stürmischen Abend nicht wegzugehen. »Wart bis morgen«, hatten sie gesagt, »dann hat sich der Wind gelegt. Geh lieber morgen abend.« Aber nein, er mußte gehen. Er wäre gegangen, hätte es geschmolzenes Blei geregnet. Der Große John hatte einen kühnen Plan gefaßt. Er hatte beschlossen, daß dieser weiche dichte Dachspelz, der ihm so teuer war, den der Wald hervorgebracht hatte, eine weibliche Gestalt schmücken sollte, die schöne Dame seiner Wahl, das Götterbild Angela. Denn der Große John hatte sie weinend über dem leeren Korb gebeugt gesehen, sie hatte nicht einmal auf den züngelnden Schlangenkopf geachtet. Und dies sollte seine Wiedergutmachung sein, ja, und kein Ritter vergangener Zeiten hatte ein hehreres Ziel. Er würde durch diese stürmische Nacht zu ihrem Haus gehen, irgendwie würde seine Gabe in ihre Hände gelangen. Ärzte waren gewohnt, bei Nacht herausgerufen zu werden. Hing nicht ein kleines Messingschild mit der Aufschrift »Nachtglocke« an der Tür des Doktors in Yoho? Irgendjemand würde an die Tür kommen. Er würde ihm das Bündel in die Hände drücken und fliehen. Angelas Name würde darauf stehen, aber der Geber sollte unbekannt bleiben. Sie würde ihm nie danken können, aber seine Ehre wäre gerettet. So hatte er sich alles ausgedacht. Viele Stunden hatte er da gelegen und gegrübelt, wie er den Pelz übergeben sollte. Er hätte Smokie bitten können, ihn in Cheshunt Toller zur Post zu bringen, aber das hätte sie verraten und die Bluthunde auf ihre Spur gesetzt. Übrigens wäre das feige. Ein Geschenk mußte man persönlich übergeben. Man könnte sich über den Großen John lustig machen, diesen schmutzigen zerlumpten, mit Fellen behangenen Kerl mit seinem schwarzen Gesicht und den zerschundenen Gliedern, der in seiner abenteuerlichen Kleidung eher wie ein Zigeunerjunge aussah. Hätte er bei hellem Tageslicht gewagt, sein Geschenk zu überbringen, seine Angebetete 241
würde ihn wahrscheinlich nicht erkennen; man würde ihn mit Hunden davonjagen, und sein schöner Dachspelz würde im nächsten Abfalleimer landen. Zwei Bilder standen vor dem inneren Auge des Großen John. Einmal, wie Angela früher auf einer Party mit ihm getanzt hatte, ihre geraden dunklen Brauen, die sich beinahe berührten, ihre großen grünen Augen mit der dunklen, feuchten und traurigen Iris wie der eines Rehs; das andere Bild: ihre gebeugte Gestalt auf der Waldwiese, als sie still über ihre verdorbene Geburtstagsfeier weinte. Der Große John war ein seltsam romantischer Junge, »gefühlsduselig« wie Robin es einmal genannt hatte. Aber er war nicht gefühlsduselig. Er war tapfer wie ein Löwe, wie manche seiner ungewaschenen Schulkameraden in der Unterstufe von Banchester bezeugen konnten. Es gibt Erwachsene, die machen sich über die Verliebtheit von Jungen nur lustig. Vielleicht ist das so auch am klügsten. Aber für viele Heranwachsende ist es eine sehr wirkliche und fast erschreckende Sache wie so vieles, das mit dem Erwachsenwerden zusammenhängt. Während der Große John die Waldwege entlangeilte, manchmal unter Dorngestrüpp und Farn hindurchkroch, wütete der Sturm in den Eichen. Und wie er wütete! Der ganze Wald schien in einen mächtigen Ringkampf verstrickt. Der Wind fiel in Stößen über den Wald her, brauste in Sturzwellen über die knarrenden Bäume. Die dämmrige Nacht um ihn herum war voll von wirbelnden Blättern, sogar das Unterholz regte sich, als sei es lebendig. Zwei Dinge waren erschreckend, wenn man allein im Wald war. Das Schweigen der Nacht, wenn kein Windhauch sich in den Bäumen regte, die auf etwas zu warten und den Atem anzuhalten schienen, oder eine Nacht wie diese, wenn alle Winde des Himmels losgelassen waren, und jeder Baum an seinen Wurzeln zerrte. Ein wilder Mond hing am Himmel, ein Mond im letzten Viertel, über dessen blasses Gesicht fliehende Wolken 242
jagten, Wollflocken in eiliger, drängender Flucht. Und vor diesem wechselnden Licht schwankten und wogten die gepeitschten Zweige, flogen die ungezählten letzten Blätter. Dem Großen John dröhnte es in den Ohren wie hundert Wasserfälle, die zu lautem Getöse anschwellen und wieder bis zu einem leisen Jammerlaut absterben. Er sah keinen Vogel, kein Tier bei seinem wilden Lauf, kein Kaninchen kreuzte seinen Weg, kein Fuchs schlich sich davon. Selbst die wilden Tiere schienen sich in ihre Höhlen und ihre hohlen Bäume verkrochen zu haben. Er hatte das Gefühl, außer dem Wind in der ganzen Weite des stöhnenden wimmernden Waldes, das einzige Lebewesen zu sein. Der Mond warf sein unheimliches Licht auf eine kleine Lichtung, oder ein windgezauster Busch erschien ihm wie die Mähne eines Rappen, der sich aufbäumt, bevor er sich wieder ins Kampfgetümmel stürzt. Ein Ritter hoch zu Roß hätte plötzlich erscheinen können, das Mondlicht glitzert auf seiner Rüstung, sein schäumendes Roß bläst blaue Flammen aus den Nüstern; dort hastet eine Gruppe gebeugter, grotesker Gestalten dahin, in Mönchskapuzen, mit verhüllten Gesichtern scheinen sie im Dickicht zu verschwinden. Tragen sie eine Leiche, die unrühmlich zu Tode gekommen ist? Und in jedem Augenblick konnte der gefürchtete Märtyrer mit seinem Flammenkreuz erscheinen. Oh, würde er jemals die Hütte erreichen, das sanfte Glimmen von Smokies Meilern erblicken, die den Schatten der Nacht Trotz boten? Oh, wenn er doch das helle Fenster durch die Bäume blinken sähe, das Glühen aus Smokies behaglichem Raum, das ihm winkte, ein freundliches Leuchtfeuer für den Wanderer in der Nacht! Es zeugt vom Mut des Großen John, daß er allein in einer solchen Nacht den Schrecken der bedrohlichen Wildnis trotzte. Niemand durfte ihn je wieder »windelweich« nennen. Schließlich kam er an eine vertraute Biegung des Pfades. 243
Noch ein paar Meter, und er mußte Smokie Joes Licht sehen und den Rauch seiner Meiler riechen. Aber als er schließlich auf die Lichtung trat, lag die Hütte still und silbern im Mondschein da, das einzige Fenster war blind. Ein loses Stück Wellblech an dem verfallenen Schweinestall hinter der Hütte klapperte höhnisch. Eine namenlose Furcht ergriff den Großen John. Smokie war nicht zu Hause. Smokie hatte ihn vergessen und war schlafen gegangen. Smokie war tot! Smokie ist tot! Smokie tot! heulte der Wind, und die Bäume schienen den irren Schrei zu wiederholen. Und dann hörte der Große John einen Laut, der sein Blut erstarren ließ. Es war ein langgezogenes Jaulen, ein klägliches, mitleiderregendes Heulen, voller Schrecken vor dem Unbekannten, eine arme Seele, die ihre Sünden beweint. Der Große John blieb wie angewurzelt stehen. Der Wind fing diesen schrecklichen Laut auf, trug ihn mit gellendem Gelächter davon. Und dann kam es wieder, dieses Heulen, und der Große John wußte, daß es Gyps Stimme war. Gyp, der seinen geliebten Herrn beweinte. Und der Große John sank inmitten der wirbelnden Blätter in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
KAPITEL 17
Doktor Bowers Das klägliche Geheul kam aus der dunklen Hütte, darüber war sich der Große John bald klar. Warum benahm er sich so töricht? Ohne Zweifel war Smokie ausgegangen, vielleicht nach Yoho. Aber die Jungen hatten nie erlebt, daß er anderswo einkaufte als in Cheshunt Toller, und er hatte im Dorf Yoho keine Freunde. Außerdem war Freitag. Smokie war immer samstags einkaufen gegangen. Es hatte keinen Zweck, hier in den Büschen zu hocken. Er 244
mußte nachsehen. Als er sich der Hütte näherte, hörte das Geheul auf. Er hörte von drinnen ein Kratzen – Gyp winselte und schnaubte am Spalt unter der Tür. Der Große John klopfte, hörte aber nur erneut das leise Winseln. Da öffnete er die Tür und trat ein. Gyp sprang bellend um ihn herum. Zuerst konnte der Große John nichts erkennen außer den Vierecken, die das Mondlicht durch das Fenster auf den Boden und auf eine Ecke des Tisches warf, auf der das Dachsfell lag. Der Ofen war beinahe ausgegangen. Er warf einen Blick auf Smokies Bett, etwas Dunkles lag darauf. Es war Smokie, der auf der Seite lag und schlief. »Smokie, Smokie«, rief der Große John. Die Stimme blieb ihm fast in der Kehle stecken, so wild klopfte sein Herz. Keine Antwort! Der Wind pfiff durch das Schlüsselloch. Gyp saß jetzt bewegungslos auf den Hinterbeinen und beobachtete ihn. Der Große John glaubte, ein Tropfen zu hören. Irgendwo tropfte es, und ein kalter Schauer lief ihm das Rückgrat hinunter. Er beugte sich über den alten Mann und streckte die Hand aus, um ihn an der Schulter zu rütteln. Dann zog er sie erschrocken zurück. Etwas knackte und zischte, und Flügel flatterten. Es war die zahme Eule. Sie saß auf Smokies Schulter. Der Große John drehte sich schnell um und tastete nach der Lampe. Mit zitternden Fingern entzündete er sie mit einem Streichholz aus der Schachtel, die immer über dem Ofen lag. Und dann, als er die Lampe hochgedreht hatte, sah er, daß Smokie nicht schlief, denn er hatte die Augen geöffnet. Er lag auf dem Rücken, ein Bein war seltsam verdreht, und der Große John sah zu seinem Schrecken, daß aus dem Knie Blut quoll. »Was ist los, Smokie? Was ist geschehen?« keuchte der Große John. Er war neben dem Bett auf die Knie gesunken und hatte die kalte Hand ergriffen, die sich matt auf der Lederjacke bewegte.
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Aber Smokie antwortete nicht, er schaute durch den Großen John hindurch, als wäre er unsichtbar. Der erste Gedanke, der dem Großen John kam, war folgender: jemand hatte versucht, Smokie zu ermorden. Smokie war noch nicht tot. Smokie mußte gerettet werden. Viele Jungen mit weniger Mut wären überwältigt gewesen vom Anblick des kleinen alten Mannes mit der unförmigen Nase, der so still und schwer verletzt dalag, auf dessen Schulter die weiße Eule hockte. Sie wären in Panik davongelaufen. Aber der Große John tat das nicht. Er beugte sich schnell vor und prüfte die Wunde am Bein. Es war ein tiefer Riß, ein sehr tiefer Riß, und Smokie hatte schon viel Blut verloren, wie man an der Lache auf dem Fußboden sehen konnte. Der Große John hatte bei den Pfadfindern etwas über Erste Hilfe gelernt, und das kam ihm jetzt zu statten. Er schnitt das blutgetränkte Hosenbein mit dem Messer auf und legte die Wunde bloß. Dann machte er aus Smokies Halstuch eine Aderpresse. Sie war natürlich nicht sauber, erfüllte aber ihren Zweck. Dann holte er aus dem Holzstoß neben dem Ofen einen Stock, steckte ihn unter das Tuch und drehte diesen Knebel so fest an, daß das Blut aufhörte zu fließen. Er vergewisserte sich, so gut das möglich war, daß Smokie keine anderen Verletzungen hatte, bedeckte ihn mit einem alten Mantel, den er hinter der Tür fand – einem fadenscheinigen Mantel, der grün vor Alter war – drehte die Lampe herunter und lief in die Nacht hinaus. Wie unwichtig war alles geworden, das ihn noch vor wenigen Minuten so völlig beschäftigt hatte: das Dachsfell, Angela, seine törichten Kinderängste im sturmgepeitschten Wald. Große Ereignisse müssen kommen, um alles an den rechten Platz zu rücken. Smokie war in tödlicher Gefahr. Vielleicht lag er schon im Sterben. Er sah so aus, und er fühlte sich so kalt an. Smokie, ihr treuer Verbündeter und großmütiger Freund! Zweige peitschten dem Großen John ins Gesicht, Dornen zerrten an seiner Jacke und versuchten, 246
ihn festzuhalten. Die Wildnis wußte nichts von seinen Sorgen. Sie scherte sich weder um ihn noch um Smokie. Wenn jetzt ein stürzender Ast ihn hier auf dem Waldweg zu Boden würfe, die Wildnis würde das nicht kümmern. Sie würde ihn liegen lassen ... Er rannte weiter. Eine Ewigkeit schien vergangen, als der Große John die Lichter von Yoho wie ein Häufchen von Sternen vor sich liegen sah. Er rannte die Auffahrt zum Haus des Doktors hinauf und riß an der Glocke. Der Doktor war anscheinend noch nicht zu Bett gegangen, denn in einem Fenster des Erdgeschosses brannte Licht. Er hörte, wie Schritte sich näherten, und dann stand Dr. Bowers vor ihm, im Schlafrock, in der einen Hand die Pfeife, in der anderen ein Buch. Ein großer, glattrasierter Mann mit buschigen Brauen und grauem Haar. »Ja, mein Junge, was ist? Ist jemand krank?« »Sind Sie Doktor Bowers?« »Ja,ja.« »Es ist Smokie Joe, der im Wald wohnt. Er ist schwer verletzt.« »Smokie?« rief der Doktor, »der alte Köhler?« »Ja, und bitte, kommen Sie schnell. Ich glaube, er stirbt.« Mit ein paar schnellen Fragen klärte der Arzt die Einzelheiten. »Wart hier drinnen«, befahl er, schob den Großen John in ein Zimmer und schloß die Tür. »Ich bin gleich da.« Auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe, und im Kamin flackerte ein helles Feuer. Der Große John setzte sich auf eine Stuhlkante. Was für einen Anblick bot er in seinen Fellkleidern, mit dem verfilzten Haar, dem verschmierten, von Dornen verkratzten Gesicht, den zerfetzten Schuhen, deren Sohlen mit Lederriemen festgebunden waren. Eins war gewiß: der Doktor würde erraten, wer er war. Das würde das Ende ihres Aufenthaltes im Forst von Brendon bedeuten, das Ende des großen Abenteuers – aber das war jetzt nicht wichtig. 247
Seine Augen schweiften durch den Raum, über den Bücherschrank mit den Reihen gelehrter medizinischer Nachschlagewerke und Büchern über Gartenbau. ›Wie legt man einen Steingarten an‹, ›Rosenzucht für Amateure‹, ›Rittersporn‹, ›Praktische Chirurgie‹. Seine Augen liefen schnell die Reihen entlang. Es war seltsam, aus dem rauhen kalten Wald in ein wohlgeordnetes Haus zu kommen. Dann entdeckte er auf dem Schreibtisch eine gerahmte Photographie Angelas. Sie mußte aus der letzten Zeit sein. Er sah die geraden schwarzen Brauen, die dicht bewimperten Augen ... was bedeutete Angela ihm in diesem Augenblick? Warum kam der Doktor nicht? Warum kam er nicht? Irgendwo oben im Haus war Angela ... was bedeutete ihm Angela? »Komm«, das war Doktor Bowers Stimme. Er hatte eine Ledertasche in der Hand und trug eine Automütze mit heruntergelassenen Ohrenklappen. Er schien die seltsame Bekleidung des Großen John gar nicht zu bemerken. »Hier lang!« Der Doktor führte ihn um das Haus herum in einen Hof und öffnete das Tor eines Kutschenhauses. Das Auto sprang an, und im nächsten Augenblick brummten sie die enge Straße entlang, die auf den Forst zuführte. Die Azetylenlampen spuckten und zuckten und füllten den Wagen mit ihren Dämpfen. Was für eine Fahrt! Sie flogen die mondhelle Straße entlang, die Blätter wirbelten und jagten über ihren Weg, und der Wind brauste und heulte in den Baumkronen. »Du sprichst nicht wie ein Zigeunerjunge«, sagte der Doktor nach langem Schweigen, »wenn du auch wie einer aussiehst. Ich sah heute am Wald ein paar Wohnwagen. Kommst du von dort?« »Ja«, log der Große John und verfiel dann in Schweigen. »Ich habe noch nie einen Zigeuner getroffen, der so spricht wie du«, sagte der Doktor. »Sagst du mir die Wahrheit?« »Nein.« »Wer bist du dann?« 248
Schweigen. Nur das Klappern der Seitenfenster im Wind und das Pochen des Motors. »Schon gut. Du brauchst es mir nicht zu sagen«, sagte der Doktor. »Es geht mich nichts an. Was mich angeht, ist Smokie, das meinst du doch auch?« »Ja, Herr Doktor.« »Wir wollen also nicht mehr davon reden und keine Fragen stellen, wie?« »Das wäre mir lieber«, antwortete der Große John. Ihm war sehr unbehaglich zu Mute. Der Doktor fragte jetzt nach Smokie, wie er ihn gefunden habe, ob er sehr blutete und vieles andere, und der Große John antwortete so gut er konnte. »Hallo«, sagte der Doktor und zog plötzlich die Handbremse. »Wir können nicht weiter. Hier ist ein Baum gestürzt.« Und wirklich, eine riesige Esche lag quer über der Straße und sperrte sie von einer Hecke zur anderen. Eine halbe Stunde später erreichten sie keuchend und strauchelnd die Lichtung und traten in die Hütte. Der Doktor trat sofort zur Lampe, drehte sie hoch und hielt sie über den liegenden Mann. Der Große John hörte, wie der Doktor den Atem einzog. »Hm, hm, eine schlimme Blutung. Weg hier!« Das galt der Eule, die zischend und schnabelklappernd von Smokies Schulter auf den Schrank in der Ecke flog, wo sie auf und ab hüpfte. »Kannst du mir eine Schüssel Wasser holen? Irgendeine«, sagte der Doktor, nachdem er Smokies Bein kurz untersucht hatte. »Ich fürchte, wir kommen zu spät, mein Junge. Er hat zuviel Blut verloren, und das Bein ist zu lange abgebunden gewesen.« Als er die Wunde gesäubert und neu verbunden und dem alten Mann den Puls gefühlt hatte, wandte sich Doktor Bowers dem Großen John zu, der zitternd dastand und versuchte, die Tränen niederzukämpfen. 249
»Also, das ist alles, was wir tun können, junger Mann. Bei guter Pflege schafft er es vielleicht. Wenn du ihn nicht gefunden hättest, wäre er schon tot. Vielleicht hat ihn deine Aderpresse gerettet. Wo hast du Erste Hilfe gelernt?« »Bei den Pfadfindern in Banchester.« Dann biß der Große John sich auf die Lippen. »Oh, du bist also Pfadfinder?« »Ja.« Der Doktor blieb eine Weile in Gedanken versunken stehen und betrachtete Smokies stille Gestalt auf dem Bett. »Er muß ein bißchen aufgepäppelt werden, er braucht ein paar Tage Pflege, weißt du. So ein alter Bursche kann es sich nicht leisten, viel Blut zu verlieren. Wenn du den Knebel noch fester angezogen hättest, würde er das Bein verloren haben. So konnte die Wunde ein klein wenig weiterbluten, sonst hätte er Wundbrand bekommen. Bleibst du heute nacht bei ihm?« »Ja. Ich bleibe hier.« »Du bist John Hensmann, nicht wahr?« Schweigen. »Ja ... und damit ist jetzt wohl alles für uns vorbei. Jetzt, wo Sie uns gefunden haben, werden Sie uns verraten?« »Wo sind deine Brüder, John?« sagte der Doktor, ohne auf seine Frage einzugehen. »Hier in der Nähe«, sagte der Große John und wies unbestimmt zur Tür hin. »Draußen im Wald. Sie werden sie nie fangen. Sie haben mich gefangen, weil ich jetzt nicht ausreißen kann. Ich muß ja auf Smokie aufpassen. Er ist uns ein guter Freund gewesen. Der beste, den man sich denken kann.« Doktor Bowers lachte still vor sich hin, seine Augen schweiften über die zerlumpte, schmutzige Gestalt auf das Bett. »Du hast mich in Schwierigkeiten gebracht, weißt du«, sagte er nach einer Weile, und seine Augen wurden ernst. »Ich müßte euch verraten. Warum seid ihr so davongelaufen?« »Unsere Eltern sind in Übersee, und unsere Tante 250
versteht uns nicht. Sie ist gut auf ihre Weise, aber wir waren es leid, immer von Frauen herumkommandiert zu werden. Als daher der Kleine John – ich meine Harold – die Masern bekam, und wir nicht in die Schule zurückkonnten, haben wir beschlossen, auszureißen.« »Und wie lange wollt ihr diesen verrückten Plan noch durchhalten?« »Bis Vater und Mutter nach Weihnachten zurückkommen.« »Hm ... ich verstehe ... was werden sie sagen, wenn sie zurückkommen und das alles hören?« »Ich weiß nicht«, sagte der Große John düster, »wahrscheinlich gibt's einen schrecklichen Krach.« Der Doktor steckte sich eine Zigarette an und fing an, Verbandszeug in seine Tasche zu packen. Der Große John saß auf Smokies Bettkante und beobachtete ihn. »Ich komme morgen früh zurück«, sagte Doktor Bowers. »Gib ihm etwas Heißes zu trinken, wenn er es will. Ich lasse dir auch etwas Brandy da. Und mach dir keine Sorgen, daß ich euch verraten könnte. Ich bin wie eine Auster, verstehst du?« Der Große John schluckte und nickte. »Du hast heute nacht deine Sache gut gemacht, John. Ich finde schon allein zurück zur Straße, mach dir keine Sorgen«, sagte der Doktor, als der Große John aufstand. Er ging auf die Tür zu. »Doktor Bowers!« »Ja.« »Ich wollte ... ich wollte Sie etwas fragen ...« »Ja, was denn?« Doktor Bowers betrachtete den zerlumpten Vogelfreien halb neugierig, halb amüsiert. »Würden Sie Angela wohl dieses Dachsfell von mir geben. Ich wollte es ihr sowieso bringen, ich habe es für sie besorgt. Es muß nur noch richtig verarbeitet werden.« Einen Moment lang war der Doktor verdutzt. »Oh, du kennst also meine Angela?« »Ja. Ich habe sie im vorigen Jahr bei einer Party bei Bramshotts getroffen ... und ... und ... also, ich habe ihr 251
im Sommer ihr Picknick verdorben. Wissen Sie, wir hatten ziemlichen Hunger und haben das Essen aus dem Picknickkorb geklaut und ihren Geburtstagskuchen auch. Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewußt hätte, daß es ihre Geburtstagsparty war.« Der Große John schaute zu Boden und wünschte, der würde sich auftun und ihn verschlingen. Doktor Bowers trat auf ihn zu. »Ist schon gut, John ... ja, ich werde ihr den Pelz geben. Soll ich ihr auch etwas ausrichten?« »Nein, geben Sie ihn ihr nur und sagen Sie, daß ich ihn schicke.« »Hm – glaubst du, daß das klug ist, John?« fragte der Doktor nach kurzem Schweigen. »Das würde euch doch verraten. Ich wäre in einer schwierigen Lage, wenn ich gefragt werde, wo ihr seid. Ich müßte es sagen. Soll ich nicht einfach sagen, ein wilder Mann aus dem Wald schickt ihr den Pelz – wie wäre das?« Der Große John nickte. Im nächsten Augenblick hatte sich die Tür leise geschlossen, und er war allein mit Smokie Joe.
KAPITEL18
Die Bäume »Verflucht noch mal, Jungs, da is der alte Smokie eben noch mal davongekommen.« Smokie hielt eine Maus in die Höhe, die er am Morgen hinter dem Ofen gefangen hatte und warf sie der Eule zu. Die fing sie geschickt mit dem Schnabel auf und verkroch sich in die Ecke, um sie zu fressen. »Ich war auf dem Heimweg, kam hinten über die Schneise, als – wumm – ein Ast runter kam, so groß wie'n halber Baum. Der trifft mich am Bein. Warf mich um wie'n Karnickel – wumm – einfach so!« Smokie schlug sich mit der Hand aufs Knie, und seine riesige Nase wackelte. 252
»Hat es weh getan?« fragte Robin. »Nein, ich hab nichts gespürt, bis ich aufstand. Hab nicht mal gewußt, daß ich verletzt war. Dann sah ich das Blut, wie ein Schwein hab ich geblutet, ein alter Kerl wie ich, huh!« Er lachte. »Was hast du dann gemacht, Smokie?« »Versucht's zu verbinden, das ging aber nicht, versucht es mit der Hand zu stillen, das ging aber auch nicht. Dann denk ich mir, Smokie alter Kerl, wenn du nicht bald in die Hütte kommst, dann gehst du vor die Hunde.« Die Jungen lachten. »Ich hab's geschafft. Aber nur knapp. Hab mich aufs Bett gelegt, dann weiß ich nichts mehr, bis ich am anderen Morgen wach wurde mit dem Doktor am Bett und allem anderen. Weiß nicht, wo ich die ganze Zeit gewesen bin. Aber ihr, ihr Jungens habt den alten Smokie gerettet. Smokie wird's euch nicht vergessen, Smokie wird's nicht vergessen!« Der Große John grinste. »Blödsinn, Smokie, wir konnten doch gar nicht anders.« Die Jungen saßen um den Brettertisch in Smokies Hütte. Zwei Wochen waren seit dem Unfall vergangen. Draußen herrschte dichter Nebel, so dicht, daß die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung nicht zu sehen waren; eine weiße, durchscheinende Welt. Doktor Bowers hatte es für besser gehalten, Smokie in ein Krankenhaus zu bringen und hatte ihn zwei Tage nach dem Unfall abgeholt. Für Smokie war die Zeit im Hospitalbett zu einer endlosen Qual geworden. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit war er von Kopf bis Fuß gewaschen worden, und er »hatte sich heftig gegen diese Schande gewehrt. »Ich hab den Schwestern gesagt, sie sollten sich schämen, einen alten Kerl wie mich zu waschen wie 'nen Säugling. Hab's ihnen ins Gesicht gesagt, verdammt noch mal... Sie haben gesagt, sie könnten meine Nase heilen, sie abschneiden oder so, aber ich hab genug von Hospitälern.« »Laß nur, Smokie. Du bist wieder hier. Und wenn wieder 253
so ein Sturm weht, gehst du nicht mehr im Wald herum. Das war eine Lehre.« »Ja, der alte Wald ist schon komisch, sehr komisch«, Smokie schüttelte seine Riesennase, und seine Augen funkelten. »Ich muß was getan haben, was die Bäume nicht mochten, daß sie mich so gestraft haben. Weiß nicht, was es gewesen ist, aber irgendwas hab ich getan. Wenn man mit den Bäumen lebt, lernt man sie kennen, anders als andere Menschen, Bäume sind auch Leute, so denke ich manchmal. Sie können nicht umhergehen und nicht sprechen, aber sie atmen und essen wie Menschen, ja wirklich«. Die Nase nickte auf und ab. »Und auf ihre Weise sprechen sie auch. Nicht wie wir sprechen natürlich, aber sie sprechen miteinander, manchmal leise, nur flüsternd wie verliebte Paare, dann wieder brüllen sie und sind böse, dann brüllen sie Mord und Totschlag und werden ganz rasend wie neulich in der Nacht. Wenn es im Sommer windet oder stürmt, wenn der Wald in vollem Laub steht, dann lärmen sie, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Im Sommer sind die Bäume immer gesprächiger. Sie flüstern nicht, sie brüllen. Und seht sie euch heute abend an«, Smokie betrachtete durchs Fenster eine schlanke kahle Esche, die gebeugt und regungslos im Nebel stand, flach wie eine Silhouette. »Still wie ein Mäuschen, noch stiller. Das ist, wenn die Bäume nachdenken, denn sie denken viel nach, die Bäume.« Smokie machte eine Pause. »Sprich weiter, Smokie«, sagte Robin. »Im Frühjahr kann man sehen, wie sie sich regen und strecken. Ich hab sie seufzen gehört, als wären sie gerade aus einem langen Schlaf aufgewacht. Und wenn man einen Baum fällt, Jungens, dann blutet er, es tropft dick und schnell, genau wie bei mir altem Kerl neulich, nur natürlich nicht rot, sondern klar wie Wasser. Ja, sie bluten sich zu Tode, da bin ich sicher. Aber natürlich gibt es solche und solche Bäume. Manche haben seichte Wurzeln, sind wie ängstliche Frauen. Sieh dir die Lärchen an, ein leichter Stoß, schon fallen sie um, und die meisten Fichten sind auch so. 254
Sie tun so, als wären sie düster und weise, so wie meine alte Eule, aber sie sind durch Schnee und Wind leicht umzuwerfen. Und die Vögel lieben die Fichtenwälder auch nicht, nein Jungens, die Vögel wissen über Bäume Bescheid. Verdammt, die wissen Bescheid. In einem Fichtenwald wollen sie nicht singen. Nur die Tauben gehen dorthin und all die schurkischen Vögel, die nicht gesehen werden wollen, die Falken und Eichelhäher und Elstern und sowas. Auch Füchse sind gern dort. Aber die Eichen, Jungens, das sind die richtigen. Das sind die Bäume, die sprechen. Und ihre Wurzeln reichen tief, tief hinunter, und sie leben länger als wir. Sie werden eure Kinder überleben und deren Kinder auch, viele hundert Jahre lang. Ja, Eichen sehen viel vom Leben, mehr als die meisten erwachsenen Menschen gesehen haben. Seht euch den alten Baum an, in dem ihr euer Lager habt.« »Wie alt mag der sein?« fragte Robin. »Hunderte von Jahren, wahrscheinlich tausend, das weiß man nicht genau, obwohl so ein Oberförster, ein Kerl von der Regierung, wißt ihr, mir einmal gesagt hat, daß man an den Ringen im Stamm sieht, wie alt ein Baum ist. Aber was wir nicht wissen ist, ob eine Eiche nicht einmal fertig mit wachsen ist und keine Ringe mehr ansetzt und nur da an ihrem Platz steht und nachdenkt wie ein alter Elefant. Wir wissen nicht, wie lange sie schon dasteht und denkt. Vielleicht denkt sie, was für hochmütige Kerle wir sind, die wir so tun, als wüßten wir viel mehr als wir nun wirklich wissen. Und dann die Birke, ich nenne sie die Dame. Ich brauche sie oft für meine Meiler. Es sind hübsche Geschöpfe, hübsch wie die Mädchen in ihrem Silber und Schwarz. Aber sie sind nicht wie die Eichen, nein Jungens, sie sind nicht wie die Eichen. Seht ihr, die Bäume sind wie wir. Sie müssen von ganz klein aufwachsen, und dann haben sie ihre Blüte. Eine Eiche hat ihre Blütezeit, wenn sie hundertfünfzig Jahre alt ist. Sie bringen nicht einmal Eicheln hervor, bevor sie siebzig Jahre alt sind – eine schöne große Eiche ist 255
sechshundert Pfund wert, aber was bedeutet Geld schon für einen Baum. Dann, wenn sie so alt werden wie ich, bekommen sie Knoten und Knollen, genau wie meine Nase, nur will die keiner abschneiden, und sie kriegen dicke Bäuche und werden krumm, und dann lassen sie Stücke auf einen runterfallen, genau wie der alte Baum auf der Schneise. Sie werden boshaft, denk ich mir, und reizbar. Oh, ah, verdammt, über Bäume gibt es viel zu lernen.« »Macht es dir etwas aus, wenn du einen Baum fällst, Smokie?« fragte der Kleine John. »Einen Baum fällen... O, ich weiß nicht... hab nie darüber nachgedacht. Ja, vielleicht doch. Ich will euch eine Geschichte erzählen über einen Baum, den ich gekannt hab, eine alte Eiche hier im Forst. Wollt ihr sie hören?« »Erzähl, Smokie«, sagte Robin, der, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die glänzenden Augen auf das Gesicht des alten Mannes geheftet hielt. »Also, als ich ein junger Mann war und das hier – er deutete auf seine Nase – noch nicht hatte, da war ich ein feiner strammer Kerl und der stärkste Förster auf dem Gut des Herzogs. Der Herzog damals, der Vater des jetzigen, hatte den Besitz gerade geerbt und machte sich nicht viel aus Bäumen. Eines Tages kommt er zu mir, als ich im Herzogswald Stangen schlug. ›Joe‹, sagte er, ›Joe, wir werden den ganzen Forst fällen, ich will Fichten anpflanzen, die wachsen schnell und bringen Geld.‹ ›Ja, Euer Gnaden‹, sagte ich, denn ich mußte ja gehorchen. ›Na‹, sagt er, ›was hältst du denn davon, Joe?‹ ›Nun‹, sag ich, ›Euer Gnaden, das sind natürlich Ihre Bäume, aber es wäre schon eine Schande, sie zu fällen‹. ›Aber viele von ihnen sind gar nichts wert‹, sagt er, ›sieh dir den alten Kerl da drüben an, der hat 'nen Bauch wie'n Bürgermeister und Schwären genug für'n...‹ Na, er hat kein sehr feines Wort gebraucht. Seine Gnaden hatte'n loses Maul. 256
›Ich geb zu, Bauholz ist nicht viel dran‹, sag ich ›aber er ist'n Unikum und ist noch voller Kraft.‹ ›Das macht nichts‹, sagt er, ›er muß runter und viele andere auch, und mit dem alten Burschen machen wir den Anfang.‹ Um's kurz zu machen: in der Nacht hör ich die Bäume reden. Und wie sie brausten! Das war ein Hin-und-Hergerede. Ich weiß nicht, was sie sagten, aber sehr fein war es nicht. Und als ich einschlief, waren sie immer noch dran, es war wie das Brüllen von Löwen zur Fütterungszeit. Und dann träumte ich in der Nacht einen Traum, der mir den Schweiß aus allen Poren trieb. Ich träumte, ich stünde unter der alten Eiche, und plötzlich sagt sie zu mir mit einer tiefen Stimme wie eine alte Orgel: ›Sag Seiner Gnaden‹, sagt sie mit dunkler wütender Stimme, ›sag Seiner Gnaden, wenn er uns umhaut, dann hauen wir ihn um.‹ Und ich hatte das Gefühl, daß ihre starken Wurzeln, ihr wißt, wie Schläuche sind die, zucken und zittern wie bei einem Erdbeben. Also, ich wache ganz erschrocken auf und höre sie draußen im Wald immer noch reden, aber ruhiger, fast als murmelten sie. Ihr wißt, was ich meine. Und dann, nach einer Weile, bin ich wieder eingeschlafen, und, verdammt, ich träumte dasselbe noch einmal. Am nächsten Morgen war ich so durcheinander, ich dacht, ich muß ins Herrenhaus und Seine Gnaden warnen. Aber unterwegs traf ich den Oberförster, der fragte mich, wo ich hinwollte. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und machte wohl ein dummes Gesicht, aber dann sagte ich ihm geradeheraus, ich wolle Seine Gnaden bitten, den Herzogswald nicht abholzen Zu lassen. ›Geh an deine Arbeit, mein Junge‹, sagt er, ›sonst kannst du dich nach 'ner anderen Stelle umsehen, und die wird nicht auf diesem Gut sein. Ich will den Forst genau so wenig abgeholzt sehen wie du, aber du vergißt, wo dein Platz ist, mein Junge.‹ So geh ich also wieder an meine Arbeit, und ein bißchen später kommen die Jungens mit dem Werkzeug, und wir machen uns an den großen alten Baum heran, denn 257
so hatte Seine Gnaden es befohlen. Aber bevor er stürzte, kam Seine Gnaden selbst vorbei, um zuzusehen, wie er gefällt wurde. Ich wär jetzt noch zu Seiner Gnaden hingegangen, aber der Oberförster war da und sprach mit ihm. Also der letzte Keil wurde eingeschlagen, da begann der alte Baum zu schreien wie ein Mensch, so wie sie es manchmal tun, bevor sie fallen, und der Herzog lachte und wandte sich an eine Schar von feinen Damen, die auch da standen und sagte: ›Das gefällt dem alten Kerl wohl nicht‹, und sie lachten alle. Und dann, wumm, krach, fällt der Baum. Nun stand der Herzog ziemlich weit weg, vierzig Meter oder mehr, aber ein Stück von einem Ast flog auf ihn zu, gerade als wenn es eine Biene wäre, und ich sehe Seine Gnaden wie ein Häufchen zusammenfallen, und die Damen fielen auch wie die Kegel, aber die waren nur ohnmächtig. Wir alle liefen hin, aber er war schon tot, an der Schläfe getroffen. Ich war vielleicht entsetzt. Seitdem hab ich nie mehr gern einen Baum gefällt. Ich spreche immer leise zu ihnen, bevor ich es tue, und streichele sie und sage ihnen, daß es nicht meine Schuld ist, daß sie fallen müssen. Also Jungens, das ist die Geschichte, und es ist eine wahre Geschichte, so wahr ich Smokie Joe heiße, verdammt noch mal!« Schweigen herrschte in der Hütte, nur der Wasserkessel summte leise auf dem Ofen, und irgendwo zirpte ein Heimchen. »Mir ist ganz unheimlich geworden«, sagte der Große John und schauderte. »Das hättest du uns ein andermal erzählen sollen; wir müssen heute nacht noch zu unserer Eiche zurückgehen.« Smokie lächelte. »Macht euch keine Sorgen, Jungens. Die Bäume werden euch nichts tun. Ich wette, die alte Eiche, unter der ihr wohnt, hat sich die ganze Zeit ins Fäustchen gelacht über eure Streiche, und vielleicht schützt sie euch, weil ihr mir helft. Sie wissen, daß ich ihnen nichts tun will, 258
und ich würd sie auch nicht anrühren, wenn ich nicht hier mein Brot verdienen müßte. Aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, warum sie mir den Schlag aufs Bein versetzt haben, vielleicht wollen sie mir sagen, daß ich euch nicht länger hier im Forst dulden darf.« Smokie begleitete die Jungen zur Tür. Der Nebel war noch dichter geworden, aber die Vogelfreien hätten den Weg zu ihrer Lichtung inzwischen auch mit verbundenen Augen gefunden. »Sie sind so feierlich heute abend, Smokie«, sagte Robin Hood und wies mit dem Arm auf den verhangenen Waldrand. »Ja, still wie die Mäuschen sind sie. Sie denken nach, wie ich schon gesagt habe, oder vielleicht schlafen sie auch bloß.« Gleich darauf hatte sich die Tür der Hütte geschlossen, und Smokie ging zurück an sein Feuer. Er holte sein Taschenmesser heraus und begann, an einem Holzstück zu schnitzen. Die Späne flogen seitwärts auf den Boden, und Gyp saß dabei und spitzte mit seitwärts geneigtem Kopf die Ohren.
KAPITEL 19
Robin Hood geht auf die Jagd Smokies Geschichte von der alten Eiche hatte auf die Vogelfreien großen Eindruck gemacht. Sie hatten jetzt lang genug im Wald gelebt, um zu wissen, daß wirklich etwas Geheimnisvolles an den Bäumen war, nicht eigentlich unheimlich, das wäre ein zu starkes Wort gewesen, aber etwas irgendwie persönliches, als wären es Menschen. Sie hatten jetzt die erste Dezemberwoche, und die 259
meisten Blätter waren gefallen. Aber der Wald war immer noch schön, ja, Robin fand, daß er nie so zauberhaft ausgesehen hatte. Er konnte gut verstehen, daß bei primitiven Völkern Bäume wie göttliche Wesen verehrt wurden, er hatte manchmal das Gefühl, er selbst könnte zu ihnen beten. Aber Robin war in dieser Hinsicht auch besonders empfindsam. Er spürte diese Dinge viel stärker und tiefer als seine Brüder, er war empfänglicher für die Schönheit der Natur. Alle drei Jungen hatten eine starke Einbildungskraft, sonst hätten sie gar nicht so lange in der Wildnis leben können – es gab nur wenige Augenblicke, in denen sie sich langweilten. Sie waren die geborenen Pioniere. Robin wanderte am liebsten allein im Forst umher, das Gewehr unter dem Arm, nicht so sehr, weil er Tiere töten wollte – sie schossen niemals ein Tier oder einen Vogel, wenn sie nicht Fleisch oder Felle brauchten – sondern weil es seine Wanderungen noch spannender machte. Manchmal traf er dabei auf einen besonders schönen Baum, eine Eiche oder eine Birke, er setzte sich dann hin, um sie lange zu betrachten, so wie er auch zum Blinden Weiher ging, um das Wasser und die treibenden Blätter zu beobachten. Die Birken hatten etwas besonders Anziehendes – die weiße Rinde hatte den Schimmer von Ziegenleder und fühlte sich auch so an; manchmal lag ein wundervoller goldener Glanz über den glatten Stämmen. Die nach außen immer dünner werdenden Äste und Zweige waren von einer bezaubernden Zartheit. Robin hatte der Natur gegenüber etwas von der ehrfürchtigen Haltung eines echten Indianers. So konnte er still vor einer mächtigen Eiche sitzen, die noch in ihr totes Laub gekleidet war, dieses reiche Lederbraun, und jede Einzelheit in sich aufnehmen. Oder vielleicht war es eine andere Eiche, die ihn gefangen nahm, eine ganz starre und kahle, die jeden Ast und jeden kleinen Zweig nackt in den Wind reckte. Sein Blick fiel zuerst auf den starken, rauhen Fuß und verweilte dort liebevoll, stieg dann immer höher und höher, bis er den allerhöchsten 260
Zweig erspäht hatte, den Königszweig, wie Smokie es nannte, und dann lauschte er auf das leise Zischen des Winterwindes im kunstvollen Netzwerk der Zweige, die wie Saiten in jedem Windhauch erklangen. Dieses Lied des Windes in einem großen kahlen Baum ließ sein Herz schneller schlagen. Er legte dann das Ohr an den freundlichen grauen Stamm und hörte das wilde Lied viel lauter, der ganze Baum pulsierte, fast als schlüge ein Herz in dem rauhen Körper. Und dann wieder betörte ihn der Geruch des winterlichen Waldes. Manchmal legte er sich hin und preßte die Nase in die toten Blätter. Keine Blume duftet so süß, dachte er, und jetzt, da der Winter gekommen war, gab es im Waldland keine anderen Gerüche. Einmal kehrte er über einen neu entdeckten Weg zum Lager zurück und fand sich plötzlich in einer kleinen Talmulde, wo Eschenstämmchen wuchsen, und deren steile Wände mit dichtem Farn bedeckt waren. Vielleicht war hier einmal ein Steinbruch oder ein Stollen gewesen. Es war ein stürmischer Herbstabend, der Himmel hing tief, und es war vorzeitig dunkel geworden. Laub wirbelte wie verrückt hoch über den Baumkronen, die Eschenstämmchen knarrten und quietschten und schlugen wie Pendel hin und her. Im Farn des Abhangs fiel ihm etwas Rotes auf! Robin ging hin, um nachzusehen, und fand einen toten Fuchs, ein herrliches Tier mit wundervollem Fell und dichtem Schwanz, offenbar ein voll ausgewachsenes Tier. Es lag da, als schliefe es, die blicklosen Augen waren weit offen, aber grau und glanzlos wie trockene Kiesel. Robin hatte noch nie zuvor über den Tod nachgedacht. Als er nun dastand und auf dieses wilde Geschöpf des Waldes herunterschaute, wurde er vom Ernst dieses Geheimnisses ganz ergriffen. Diese Ohren, die so fein gewesen waren, daß sie den leisesten Ton auffingen, waren nun taub wie Holz, die Augen, früher so scharf wie die eines Falken, waren trüb und blind, die Nase, die einmal jeden zarten Duft dem 261
Gehirn gemeldet hatte, war nichts mehr als ein hohler, toter Stengel. Dann schaute er auf die schlanken schwarzen Beine, sehnig, wie die eines Windspiels auf Schnelligkeit gebaut, waren sie jetzt steif und bewegungslos. War es der Tumult der Bäume, der tosende Wind, die wogenden Eschenstämmchen, die fallende Nacht in dieser Wildnis, die ihn so traurig stimmten? War es der Gegensatz zwischen der Bewegtheit der Sträucher und der Wolken und diesem Tier, das so still im Farnkraut lag, das ihm das uralte Geheimnis des Todes nahe brachte? Robin waren solche Gedanken nie gekommen, wenn er ein Kaninchen oder einen Vogel schoß. Warum kamen sie ihm jetzt? An dem Fuchs war kein Zeichen einer Verletzung zu sehen. Vielleicht hatte er in einem Hühnerstall geplündert und war vergiftet worden. Robin ging weiter, stolperte durch den Farn. Noch einmal warf er einen Blick zurück auf diesen traurigen roten Fleck zwischen den immer noch grünen Brombeerblättern, die regenfeucht glänzten. Später am Abend, als er schon im Lager war und bei seinen Brüdern in der Eiche lag, hörte er den Wind im Wald, ein anschwellendes und abschwellendes Brausen, und er dachte an den toten, verlassenen, regungslosen Fuchs in der kleinen Senke, allein im Herzen der heimlichen Welt aus Bäumen und Farn, in der er sein ganzes bewußtes Leben verbracht hatte. Und Robin fürchtete sich. Er hätte beinahe den Entschluß gefaßt, nie mehr mit eigener Hand ein wildes Tier zu töten. Er haßte sich selbst. Aber am nächsten Morgen, als die Sonne wieder schien, Wolken und Wind verschwunden waren, vergaß er den Vorfall und die bedrängenden Gedanken und war wieder der alte Robin Hood, voller Jagdeifer und voller Lust am wilden freien Leben im grünen Wald. Wenn auch der Wald zu jeder Tages- und Nachtzeit schön war, so liebte er doch am meisten die Abende. Als Gyp noch bei ihnen lebte, hatte Robin bemerkt, daß auch der Hund den herannahenden Abend spürte. Er saß dann ganz still, 262
nur sein Kopf ging beim geringsten Knacken eines Zweigs, beim leisesten Rascheln von einer Seite zur andern; er spitzte die Ohren, die Nase schnupperte, die Augen waren weit offen vor Erregung. Wenn die ersten Amseln ihr abendliches »Pink, pink« begannen, fühlte Robin eine heiße Welle in sich aufsteigen, eine seltsame Welle tiefer Erregung, ein Gefühl atemloser Spannung. Oft stand er unter einem Baum oder einem Gesträuch, das er gut kannte, und beobachtete, wie der weiche graue Winterhimmel sich in einem blassen Sonnenuntergang rötete und die knorrigen Kronen der Eichen gegen das sterbende Licht immer zarter wurden. Er sah die Taubenschwärme in ihre Schlafbäume heimkehren. Jetzt im Dezember kehrten sie jede Nacht in Schwärmen von Tausenden von Tieren in den Forst zurück, so daß der Himmel manchmal verdunkelt war. Diese riesigen Schwärme bestanden nicht aus einheimischen Vögeln, sie waren aus den Tannenwäldern Nordeuropas zugewandert. Obgleich es im Herbst viele einheimische Tauben gegeben hatte, schienen sie nach dem November zu verschwinden. Ihren Platz nahmen die kleineren Ausländer ein. Er beobachtete diese Tauben, die sich mit viel Geflatter alle gleichzeitig niederließen. Und dann, wenn sie den Inhalt ihrer dicken Kröpfe verdaut hatten, ließen sie sich eine nach der anderen in die unteren Zweige fallen. Die Eichen, die ihr Laub noch behalten hatten, waren ihre Lieblingsschlafbäume, und nach der Dämmerung konnte Robin unter die Bäume treten und über sich die rundlichen, aufgeplusterten Körper sehen. Sie waren in diesem Zustand fast blind. Ihre gurrenden Stimmen füllten den Forst nicht mehr mit ihrem schläfrigen Klang, sie waren jetzt ganz still. Außer den Tauben kamen auch Schwärme von Krähen und Elstern zum Schlafen in den Wald, aber ihre Gewohnheiten waren ganz anders. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang veranstalteten sie ein großes Getümmel. In Gruppen flatterten und kreisten sie über den Baumwipfeln hin und her, bevor sie sich für die Nacht niederließen. 263
Manchmal versammelten sie sich mit viel Lärm und Geschrei in einem der höheren Bäume des Forstes. Sie wurden erst ganz ruhig, wenn es schon fast dunkel war. Beim ersten Tageslicht flogen sie davon zu den Feldern und Wiesen; sie waren die ersten, die den Wald verließen. Das Farnkraut war inzwischen ganz abgestorben, aber an den feuchten Stellen zeigte es immer noch die braunen, goldenen und roten Töne. Es roch so köstlich wie die würzigen feuchten Blätter, die unter jedem Baum und Strauch lagen. Es war ein tiefes Erlebnis für Robin zu sehen, wie die geheimnisvolle Nacht sich langsam niedersenkte, zu beobachten, wie die Perspektive einer Schneise sich verkürzte, während die Schatten vorrückten und die streng ausgerichteten Bäume sich still und schwarz vor der untergehenden Sonne abhoben. Robin hatte außergewöhnlich scharfe Augen, dies war auch einer der Gründe, warum er ein so sicherer Schütze war. Seine Augen waren nicht nur scharf, sie waren auch empfindlich für Farbe und Farbzusammenklänge. Ein Haufen Herbstlaub unter seinen Füßen ließ ihn manchmal stutzen; wie verzaubert konnte er lange dastehen und die sanften ineinander übergehenden Farben betrachten. Er fand heraus, daß man das reiche Muster des laubbedeckten Bodens am besten durch halbgeschlossene Lider betrachtete, dann mischten sich die rosa, goldenen und roten Töne, gingen ineinander über, jeder Umriß wurde weich, ein wundervolles Mosaik entstand, bezaubernd und kostbar. Gegen Mitte des Monats bemerkten die Vogelfreien, daß viele Waldschnepfen sich im Forst niedergelassen hatten. Sie flatterten unter den dichten, mit roten Beeren behangenen Stechpalmen hoch und schlüpften zwischen den Baumstämmen davon; nicht einmal dem geübten Robin gelang es, welche zu erlegen. Er schoß deshalb nur auf sitzende Tiere. Aber die Ankunft der Waldschnepfen bedeutete etwas: kaltes Wetter. Eines Morgens erwachten die Jungen in 264
einem weißen Wald. Trotz ihrer warmen Felle, mit denen sie sich zudeckten, und ihrem dicken Farnkrautlager hatten sie in der Nacht gefroren. Als Robin – der an der Reihe war, Frühstück zu machen – die Tür der Baumhöhle öffnete, war er ganz geblendet von dem Weiß. Der Wald war völlig verändert. Der Schnee fiel immer noch, leise und hartnäkkig, jeder Zweig und jeder Ast trug einen weißen Pelz. Es war sehr aufregend. Für Robin noch mehr als für die beiden anderen. Er dachte an die vergangenen Weihnachtsferien im Witwensitz, als Tante Ellen ihnen verboten hatte, nach draußen zu gehen, weil es schneite, und sie hätten nasse Füße kriegen können. Er erinnerte sich an die Qual, eingesperrt zu sein, während draußen eine weiße Zauberwelt, ein Feenreich winkte. Nun waren sie so frei wie die Vögel, sie konnten gehen, wohin sie wollten. Robin war glücklich. Die so oft gespürte warme Welle der Erregung stieg in ihm hoch. Er griff sich sofort das Gewehr, um auf Jagd zu gehen, und als die anderen meuterten, sagte er, sie müßten sich einfach damit abfinden und sich etwas anderes zu tun suchen. »Seht die Fallen nach«, schlug er vor, »das wird fast den ganzen Tag in Anspruch nehmen. Ihr habt die große Baumfalle seit zwei Tagen nicht nachgesehen. Vielleicht ist wieder ein Dachs drin. Und wenn das der Fall ist, dann geh nicht wieder hin, Großer John, und schenk das Fell dem Doktor. Warum mußtest du das eigentlich tun?« »Verdammt noch mal«, schrie der Kleine John, »er hat doch Smokie Joes Leben gerettet.« »Das stimmt schon«, sagte Robin widerstrebend, »aber es war das beste Fell, das wir erbeutet haben. So eins kriegen wir nicht noch einmal. Übrigens ist es jetzt auch schon zu spät, die Dachse sind alle schon im Winterschlaf. Da läßt sich nichts machen, Jungens, ihr wißt, daß ich heute mit Schießen dran bin und daß ich gern allein auf die Jagd gehe. Ich bin bei Dunkelwerden zurück. Wenn der Schnee morgen noch liegt, könnt ihr ja zusammen gehen, wenn ihr wollt. Ich finde immer genug zu tun.« 265
Nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg. Als erstes pirschte er sich an den Verborgenen Weiher heran. Da dieser so geschützt lag, war er nur zum Teil zugefroren. Robin saß lange Zeit da und beobachtete, wie die Schneeflocken in das schwarze Wasser fielen, bis er ganz schwindlig war und seine Finger und Zehen taub vor Kälte waren. Die fedrigen Schneeflocken taumelten in das schwarze Wasser und erloschen dort so plötzlich wie Streichholzflammen. Auf dem feuchten Eis glühten sie einen Augenblick, bevor sie erloschen, auf dem trockenen Eis bildeten sie eine flaumige Schicht und schmolzen nicht. Dort, wo am anderen Ende der Bach austrat, badete ein kleiner Schwarm der unempfindlichen Stare. Es waren muntere Kerlchen, bunt gesprenkelt, sehr frech, immer in Bewegung und bereit, andere Vögel nachzuahmen. Einige hüpften in den kahlen Ästen einer Weide umher, in der sie bei Nacht schliefen. Sie schüttelten den Schnee in pudrigen Schauern herunter, klapperten mit den Schnäbeln und ahmten alle Vögel nach, die sie einmal gehört hatten: Eichelhäher, Dohlen, Feldhühner und sogar blökende Schafe. Auf dem Weiher waren keine Enten zu sehen, wie Robin gehofft hatte, aber wie gewöhnlich erhob sich ein einsamer Reiher mit einem lauten Schrei in die Luft und segelte in den Wind hinein, indem er in seiner Angst einen Strahl von weißem Kot hinausspritzte. Robin wandte sich nach links und ging auf den Kronwald zu. Er merkte bald, daß er sich dort befand, denn immer wieder tauchten Schilder mit der Aufschrift »Brandgefahr« auf, darunter waren Reisigbesen zum Ausschlagen des Feuers angebracht. Außerdem war das Kronland vom Herzogswald durch einen kilometerlangen Maschendrahtzaun getrennt, der die Kaninchen abhalten sollte. Dieser Zaun war eine todsichere Stelle für Schlingen; die Jungen fingen hier ihre meisten Kaninchen. Hier und da hatten die Kaninchen Löcher in den Zaun gebissen, und es gab viele gut ausgetretene Wechsel. Manchmal fand ein Holzfäller oder ein Wilddieb die Schlingen und nahm sie mit. 266
Die größte Gefahr für die Vogelfreien lag in der Tatsache, daß die Jagdrechte in diesem Teil des Forstes von Brendon an einen Jagdklub verpachtet waren, das bewiesen die Schüsse, die man oft in der Entfernung hörte, das sah man an den vielen leeren grünen und orangefarbenen Patronenhülsen, die im verwitterten Farnkraut lagen. Jetzt war jede Fährte im Schnee deutlich zu sehen, kleine grüne geschmolzene Stellen, die schwarzen Korinthen, wo Kaninchen sich erleichtert hatten, und zahllose Abdrücke der Pfötchen, die in jeder Richtung kreuz und quer übereinanderliefen. Klugerweise hatten die Vogelfreien es sich zur Regel gemacht, in diesem Teil des Forstes nicht zu schießen. Aber heute war Robin in abenteuerlustiger Stimmung. Es war nicht wahrscheinlich, daß jemand an einem solchen Tag unterwegs war. Bill Bobman hatte ihm einmal gesagt, daß ein richtig rauher Frosttag sich am besten zum Wildern eigne. Er schritt leise durch den Schnee, so verstohlen wie ein Fuchs, und hielt sich dabei dicht hinter den Büschen des Waldrandes. Mitten auf dem Weg wäre seine Spur zu deutlich sichtbar gewesen. Sehr bald traf er die tief eingetretene Spur eines Rehs. Er folgte ihr weit in den Kronwald hinein und war sehr erleichtert, als sich die Fährte zurück in den Herzogswald wandte, denn immer wieder flatterten Fasane unter der Schneedecke des Farnkrauts auf, und viele Eichelhäher schrien. Den ganzen Morgen folgte er der Fährte durch den Schnee. Hier und da fand er eine Stelle, wo das Wild stehengeblieben war, um an einer Baumrinde zu nagen. Dann traf er auf einen Haufen dampfenden Dungs und wußte, daß seine Beute nicht weit sein konnte. Offenbar hatte das Tier auf die fast unheimliche Weise, die diesen Geschöpfen eigen ist, gespürt, daß es verfolgt wurde, denn bald bemerkte Robin, daß es seinen Schritt beschleunigt hatte. Der Schnee war in kleinen Haufen und Bällchen aus den Eindrücken der Hufe hochgeschleudert worden; auch aus dem Abstand der einzelnen Eindrücke 267
konnte er genau sehen, daß das Tier manchmal getrabt war. Voller Erwartung ging er weiter. Er hätte einen schönen Fasan schießen können, der auf einem schneebedeckten Stamm saß, aber Robin war hinter einem größeren Wild her. Er war jetzt wieder im Herzogswald, wenn er auch nicht genau wußte, wo. Der Forst kam ihm unter seinem dicken weißen Mantel fremd vor. Dann hatte er mit leisem Schritt ein Haselgebüsch umrundet – leise knirschte der Schnee unter seinen Fellmokassins – und sah plötzlich in vierzig Meter Entfernung seine Beute vor sich, einen Hirsch, der mit seinen starken Ziegenzähnen an einem Eschenstamm nagte. Das rötliche Fell stand als warmer Farbfleck von fast herbstlichem Ton vor dem blauweißen Schnee. Es war ein schönes Tier mit einem mächtigen Geweih. Robin war so erregt, daß er kaum das Gewehr ruhig halten konnte. Er sank zwischen den nackten Haselruten in die Knie und stützte den bläulichen Lauf auf einen Ast. Es war entscheidend, daß er auf einen ganz günstigen Augenblick wartete. Er hatte Angst, daß das Tier in jedem Fall noch ziemlich weit laufen konnte, bevor es fiel. Sogar nach einem Treffer aus einem großkalibrigen Gewehr, selbst wenn es ein Herzschuß war, läuft das Tier oft noch eine ziemliche Strecke. Endlich hob der Hirsch den Kopf und schaute ruhig in die Bäume. Er hatte ein hüpfendes Kaninchen entdeckt. Robin konnte sehen, daß er zu kauen aufhörte und ganz still stand. Er zielte auf einen pfenniggroßen Fleck gleich hinter dem Auge. Durch das Zielfernrohr sah er ihn ganz deutlich. Robin hielt den Atem an – dann drückte er ab. Mit einem Riesensatz sprang der Hirsch über einen Brombeerbusch, eine Schneewolke stäubte auf. Zweige und Reisig krachten. Er hörte den dumpfen Schlag von Hörnern gegen einen Baum, dann war das Tier verschwunden. Blitzschnell hatte Robin die Lichtung überquert; wie ein Jagdhund verfolgte er die Spur. Er brauchte nicht 268
weit zu gehen, nur etwa hundert Meter. Dann sah er den Hirsch. Er war tot und lag ausgestreckt zwischen zwei Birken. Der Anblick verwirrte den Jungen. Was für ein riesiges Tier. Viel größer als das Schwein. Was sollte er tun? Gleichzeitig fühlte er eine wilde Freude. Am liebsten hätte er einen Kriegstanz aufgeführt. Aus dem dichten Fell konnte man herrliche Jacken machen oder sogar einen Schlafsack; das Geweih war eine wunderbare Jagdtrophäe – Smokie würde ihnen helfen, das Tier zu häuten und den Kopf auszustopfen. Jetzt mußte er daran denken, seine herrliche Beute ins Lager zu bringen. Immer wieder sagte er sich: Ich habe meinen ersten Hirsch geschossen, ich habe meinen ersten Hirsch geschossen. Er dachte an die Geschichte von St. John und vom Riesenhirsch von Benmore. Während er neben seinem Opfer stand, hörte er in der Ferne Axtschläge. Niemand als Smokie Joe benutzte im Herzogswald eine Axt. Er mußte es sein. Er lief auf das Geräusch zu, und wenige Minuten später fand er sich am Rande der Lichtung wieder, auf der Smokies Hütte stand. Smokie hatte den Vogelfreien verboten, sich bei Tageslicht der Hütte zu nähern. Robin hielt sich deshalb im Schutz der schneebeladenen Büsche, bis er dem alten Mann gegenüberstand, der neben seinen Meilern Holz hackte. Robin gab das Zeichen: einen langgezogenen Eulenschrei, und sah, wie Gyp sich umwandte und die Ohren spitzte. Smokie hörte schlecht, aber als Gyp bellend losrannte, wandte er sich um und ging dem Hund nach, um nachzusehen. »Verdammt Junge, ich konnte mir nicht denken, was da los wäre, ich dachte, es wäre der alte Bunting, der da rumschnüffelt. Na, was ist denn?« »Smokie, ich hab einen Hirsch geschossen, ein Riesentier!« »Du Teufelskerl«, Smokie war fassungslos. »Einen Hirsch geschossen! Und mit deinem kleinen Gewehr da?« 269
»Ja, er lief noch etwa hundert Meter, dann fiel er um, mausetot.« »Verdammt! Und jetzt soll ich wohl kommen und dir helfen, ihn zu holen und aufzubrechen. Wo liegt er denn?« »Nicht weit weg – ich zeig's dir.« Sie folgten Robins Fußspuren, bis sie das Tier erreichten. »Puh! Das ist ja ein Mordskerl!« rief der alte Mann, »ein Mordskerl – und genau ins Gehirn getroffen. Du meine Güte – was für eine tolle kleine Flinte! Aber hör mal. Wir können ihn jetzt noch nicht holen, wir müssen warten, bis es dunkel ist. Es könnte jemand kommen. Bis zum Dunkelwerden ist's noch ein paar Stunden, bis dahin lassen wir ihn hier liegen. Scheint, daß wir da einen schönen Weihnachtsbraten haben.« Weihnachten! Robin hatte gar nicht daran gedacht, daß die festliche Zeit so nahe war. »Oh Smokie«, rief er mit glänzenden Augen, »das wird ein Fest! Wildbret zum Weihnachtsschmaus!« »Ja, mein Junge, Wildbret, und ihr müßt alle zu mir nach Haus kommen, und wir feiern hier. Am Weihnachtstag wird uns niemand stören.« Am Rand der verschneiten Lichtung, in die immer noch dicke Flocken fielen, entdeckte Robin eine Stechpalme, ganz bedeckt mit roten Beerenbüscheln. Drosseln und Rotdrosseln hielten hier ihren Schmaus und ließen sich weder von Robin noch von Smokie stören. Was für ein Weihnachtsbild! Weihnachten im tiefen Wald! Wie schön würden sie mit Smokie feiern, mit Gyp und der Eule, in der mit Stechpalmen reich geschmückten Hütte, an einem Feuer, dessen Flammen bis in den Kamin hinauf schlugen. Oh, würde der Schnee doch liegen bleiben, würde es doch noch monatelang schneien, je mehr, desto besser! »Ich hoffe, der Schnee bleibt über Weihnachten liegen, Smokie«, sagte er. »Ja«, sagte Smokie. »Es wird schneien, ich spüre es in den Knochen. Ich hasse den Schnee, er macht mir die Arbeit so schwer, und all meine alten Wehwehchen stellen sich 270
wieder ein. Also mein Junge, komm später zurück, dann werden wir den Hirsch im Handumdrehen gehäutet und ausgenommen haben. Hast du schon mal einen Hirsch geschossen?« Smokie zwinkerte. »Nein Smokie. Das größte Tier, das wir bis jetzt geschossen haben, war ein Schwein. Ich fürchte, es war dein Schwein, Smokie, wir hätten es dir längst gestehen sollen, aber es war kurz nachdem wir in den Wald gekommen waren, und das Schwein schnüffelte immer um unser Lager herum und klaute. Wir wußten auch nicht, was es war, denn es kam nachts, und da haben wir hingeschossen, wo wir es hörten und haben es erschossen. Wenn wir gewußt hätten, daß es dir gehörte, hätten wir das nicht getan.« Smokie starrte Robin mit offenem Mund an. Mit seiner großen blauroten Nase und dem verschneiten komischen Hütchen, mit dem roten Taschentuch um den Hals und dem silbrigen Bart glich er noch mehr als sonst einem Gnom. Jetzt grinste er von einem Ohr zum andern. »Verdammt, ich hab mich schon gewundert, wo das Schwein geblieben ist! Ich hätt mir denken können, daß ihr Gauner es euch geschnappt habt... Verdammt, und es war so ein prächtiges Schweinchen«, fügte er nachdenklich hinzu. »Das stimmt«, sagte Robin mit Nachdruck. »Wir haben es in einem Trog aus einem alten Baumstamm eingesalzen, das Salz haben wir auf einer Wiese draußen vor dem Wald geklaut; da war es für das Vieh ausgelegt worden, und wir haben die Schinken geräuchert. So gut hat mir noch nie was geschmeckt, Smokie.« »Du hast mein geräuchertes Wildfleisch noch nicht probiert, mein Junge«, sagte Smokie und zwinkerte ihm zu. Später am Abend versammelten sich alle drei Vogelfreien in Smokies Hütte und halfen Smokie, den Hirsch zu häuten. Es war eine schwere Arbeit, aber Smokie bewältigte sie in erstaunlich kurzer Zeit. Offenbar machte er diese Arbeit nicht zum ersten Mal. Als das Fell schließlich herunter und der Hirsch zerlegt war, richtete Smokie sich stöhnend auf. 271
»Das ist ein herrliches Fell, Jungens, besser als der Dachspelz, den Dr. Bowers bekommen hat. Er hat mir davon erzählt. Ich werd es für euch gerben, es wird ein schöner Teppich, den könnt ihr mit nach Hause nehmen. Und vergeßt nicht«, sagte der alte Köhler, als sie sich verabschiedeten, »Weihnachten kommt ihr zu mir! Laßt das Wildbret hier.«
KAPITEL 20
Die Glocken von Brendon Die funkelnden Tage voller Schnee, die jetzt im Forst von Brendon Einzug hielten, waren auf ihre Weise ebenso schön wie die schönsten Frühsommertage. Die schneebeladenen Bäume und Sträucher waren noch malerischer. Nach den schweren Schneefällen kam Frost, harter glitzernder Frost, der die Schneeflocken zu winzigen Kristallen verhärtete, die im blassen Wintersonnenschein glitzerten und funkelten. Vor dem sonnenbestrahlten Schnee standen auch die Bäume und Sträucher als glitzernde Gestalten, jeder Zweig und jeder Ast war mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Jeder dieser Tage war vollkommen. Bald nach acht Uhr ging groß und blutrot die Sonne auf, sie wanderte in flachem Bogen über den Wald. Wenn dann der Abend kam, und die Sonne sich wieder rötete, erstrahlte auch der Schnee, den die Sonnenstrahlen trafen, in einem rosigen Licht. Im Schatten wurde er ganz blau. Wenige Menschen wissen, daß blau die Farbe des Schnees ist. Die Dickichte und Gebüsche standen schwarz-violett vor diesem blendenden Hintergrund; das Geheimnis der Bäume war noch tiefer spürbar. Aber die Menschen dachten nicht an diese Schönheit, keine Menschenseele hielt es für der Mühe wert, sich in den 272
kalten schweigenden Forst von Brendon zu wagen. Warum auch? Es gab dort nichts zu sehen, als endlose Eichenalleen, gewundene Wege, knietiefe Schneewehen, die das Vorwärtskommen schwer machten. Richtige Stadtmenschen wären ganz unglücklich im Wald gewesen, ebenso wie die Vogelfreien geglaubt hätten, ersticken zu müssen, hätten sie sich mitten in einer großen Stadt wiedergefunden, umgeben von strahlenden Läden, den Lärm der Räder in den Ohren. Jetzt im Winter waren die Gerüche im Wald noch durchdringender. Sobald Schnee und Frost einsetzten, wurden die alten Gerüche nach verfaulendem Laub und feuchtem Holz durch einen anderen, unbeschreiblichen Duft ersetzt. Dieser Duft des Schnees ... nichts kann ihn beschreiben! Es war ein scharfer Duft, der die Lungen zusammenzog, vor allem war es aber ein Duft äußerster Reinheit. Genau wie die weite Fläche der See ihren eigenen Geruch ausströmt, so hatte auch das ausgedehnte schneebedeckte Waldland seinen ganz eigenen Wohlgeruch. Die Vogelfreien boten jetzt einen wirklich bemitleidenswerten Anblick. Ihre Wäsche hielt kaum noch zusammen. Die Strümpfe hatten sie schon längst wegschmeißen müssen. Die Fersen waren ganz durchgeschlissen, und sie hatten keine geduldige Squaw im Lager, die sie ihnen stopfte. Die Jacken, die sie sich aus Kaninchenfell genäht hatten, waren ganz brauchbar, aber mit den Röcken ging es nicht so gut. Mit großer Mühe und Smokies Hilfe hatten sie sich statt dessen Hosen genäht, die bis an die Knöchel reichten. An Kaninchenfellen war ja kein Mangel. Sie hatten sich auch lederne Gamaschen gemacht, die mit Riemen befestigt wurden. Mit Knöpfen kamen sie nicht zurecht. Smokie hatte sogar angeboten, sie für die Jungen in Cheshunt Toller zu kaufen, aber die Jungen fanden, daß das Annähen an das Leder ihnen zu schwierig war. Es gelang ihnen zwar, sie festzunähen, aber Zweige und Dorngestrüpp rissen sie immer wieder ab. 273
Sie hatten sich Mokassins aus Fuchsfell zugeschnitten, die sich als sehr praktisch erwiesen. Sie hatten dabei das Leder ihrer alten Schuhe verwendet, es gepolstert und zusammengeflickt. Aber die Mokassins waren nicht wasserdicht, und jetzt, wo soviel Schnee lag, litten sie oft Qualen. Aber ihr Leben war so gesund, und sie hatten sich so allmählich abhärten können, daß sie keinen gesundheitlichen Schaden davontrugen. Seit sie in den Forst gekommen waren, hatte sich keiner von ihnen auch nur ein einziges Mal erkältet. Alle Jungen besaßen warme Fausthandschuhe aus Eichhörnchenfell. Alle diese Kleidungsstücke waren mit dem Sattlerzwirn genäht, den der Kleine John aus Brendon mitgebracht hatte. Die Jungen berieten lange, was sie mit dem Hirschfell machen sollten – einen Teppich daraus machen, wie Smokie vorgeschlagen hatte, oder es zerschneiden für Kleidungsstücke. Man entschied sich für das letztere, und als Smokie es gegerbt und weichgeklopft hatte – ich muß leider sagen, daß die Vogelfreien zu faul gewesen waren, es selbst zu gerben – nähten sie Mokassins daraus, die ganz fachmännisch gerieten und viel besser waren als die alten verschlissenen Dinger. Trotz der vielen Pelze, die sie teilweise als Unterlage, teilweise zum Zudecken benutzten, froren sie jetzt bei Nacht. Aber Smokie besorgte ihnen alte mit Stroh gefüllte Säcke, die eine warme Unterlage bildeten. Trotz des herrlichen Schneewetters und der strahlenden Tage bemächtigte sich eine unbestimmte Traurigkeit der Vogelfreien. Sie wußten, daß dieses idyllische Leben nicht ewig dauern konnte. Sie konnten zwar am Feuer auf dem Rücken liegen, die Flammen beobachten, die wie rote und goldene Geweihe in die Höhe leckten, und sagen »hier wollen wir für immer bleiben, wir werden nicht in unser altes Leben zurückkehren«, sie wußten jedoch genau, daß zumindest in England ein solcher Plan völlig undurchführbar war. Ein zivilisiertes Volk war längst über diese Stufe hinaus. Man mußte arbeiten, arbeiten, man durfte kein selbstsüchtiges Leben führen wie sie es taten. Sie wußten, 274
daß ihre Eltern im neuen Jahr zurückkommen würden, und dann hieß es vielleicht für immer, vom freien Waldleben Abschied nehmen. Die Leidenschaft der Jungen fürs Jagen und Fischen, ihre Liebe zur freien Natur, hatte sie überwältigt. Dies galt besonders für Robin. Sie fühlten sich zurückversetzt in eine Zeit, in der alle Menschen so gelebt hatten, wie sie jetzt lebten, jagten und fischten, um sich zu ernähren, in Höhlen und Baumhöhlen wohnten. Es ist dies nicht die schlechteste Art zu leben. Es war den drei Jungen vergönnt gewesen, dies wilde Leben für eine Weile zu führen. Sie hatten diese Gelegenheit ergriffen, hatten nicht nach Recht oder Unrecht, hatten nicht nach den Folgen gefragt. Endlich war auch der Verborgene Weiher zugefroren. Smokie erzählte den Jungen, daß dies, solange er im Forst lebte, noch nie vorgekommen war, und er hatte doch schon ziemlich strenge Winter erlebt. Die Vogelfreien schlugen runde Löcher in das dicke Eis des Weihers, ließen ihre Angelhaken mit den zappelnden Würmern hinunter und fingen manchen rotflossigen munteren Barsch und einen kleinen Grashecht von einem Pfund. Sogar die Wasservögel blieben jetzt, da alle Feuchtigkeit zu Eis erstarrt war, weg. Nur der Blindbach floß unentwegt unter einem Dach aus grünem Eis weiter. Die Vogelfreien brachen sich ein Loch in dieses Dach, um ihr Wasser zu schöpfen. Aus einem Wasserloch, keine fünfzig Meter von ihrem Lager entfernt, zog der Große John eines Morgens sogar eine Schnepfe hoch. An den Spuren im Schnee merkten sie, daß auch Tiere in den stillen Nachtstunden dorthin zum Trinken kamen, Rehe und Füchse, Iltisse und Wiesel und andere Waldtiere. Die Nächte waren jetzt so kalt, daß die Vogelfreien sich gleich nach dem Abendessen in den Baum verkrochen, statt Wie sonst am Feuer liegen zu bleiben. Aber sie unterhielten das Feuer trotzdem, und es machte großen Spaß, in der 275
heißen Asche Kastanien zu rösten und den Widerschein des Feuers auf den verschneiten Bäumen und Sträuchern zu beobachten. Eines Abends, genau eine Woche vor Weihnachten, saßen sie nach dem Abendessen so in ihrem Baum und redeten über das kommende Weihnachtsmahl bei Smokie Joe. »Es hat wohl keinen Sinn, einen Strumpf aufzuhängen«, sagte der Kleine John, »selbst wenn wir Strümpfe zum Aufhängen hätten; es gäbe keine Geschenke.« »Jedenfalls haben wir jede Menge Weihnachtsbäume«, sagte Robin und grinste, »und ich weiß nicht, warum der Weihnachtsmann nicht doch etwas in deinen Strumpf täte, Kleiner John, in deinen Strumpf oder was sonst du aufhängen willst. Wie dumm ist es doch, an einen Weihnachtsmann zu glauben. Als ich erfuhr, daß es ihn gar nicht gibt, hatte ich das Gefühl, daß die Erwachsenen uns einen üblen Streich gespielt hatten.« »Ich möchte Smokie so gern etwas schenken«, sagte der Große John, »können wir uns nicht etwas ausdenken?« »Ich will aber nicht mehr nach Brendon, auf keinen Fall«, sagte der Kleine John. »Ich bin noch nie im Leben so knapp davongekommen. Dabei fällt mir ein: wir sollten eigentlich auch Doktor Bowers etwas schenken, es war sehr anständig von ihm, uns nicht zu verraten. Aber hier im Forst gibt es ja keine Läden.« »Gott sei Dank nicht«, rief der Große John mit Inbrunst. »Ich würde Smokie gern so ein Gewehr schenken wie das von Rumbold. Er würde alles drum geben. Ich habe oft gesehen, wie er es betrachtet. Aber so ist es: wir können dieses Jahr Weihnachten niemandem etwas schenken«, schloß er traurig. »Du willst doch nicht etwa sagen, daß wir nach Cherry Walden zurückgehen sollen, um Weihnachten zu feiern, Großer John?« fragte der ältere Bruder. »Um nichts in der Welt, wofür hältst du mich eigentlich. Man würde uns ja auch nur einsperren, und es gäbe Brot 276
und Wasser statt Wildbret. Ich mache mir wegen Weihnachten keine Sorgen. Wir werden mit Smokie schon unseren Spaß haben.« Niemand sprach weiter. Es war eine vollkommen windstille Nacht, so still, daß man eine Maus auf der anderen Seite der Lichtung hätte rascheln hören. Es fror wieder, und immer noch lag hoher Schnee. Während sie so dalagen, hörten sie aus der Ferne ein klingendes Summen, das kam und ging, und es dauerte einige Zeit, ohne daß sie feststellen konnten, woher es kam. Plötzlich hatte Robin es begriffen. »Meine wackeren Gesellen, das müssen die Glocken von Brendon sein, horcht mal.« Ja, es war der Glöckner, der das Weihnachtsläuten übte. Nie während ihres ganzen Aufenthalts im Forst hatten sie solches Heimweh gehabt wie in diesem Augenblick. Sie dachten an die erleuchteten Fenster von Cherry Walden, das mit soviel Sorgfalt geschmückte Schaufenster des Ladens bei der Post. Die vertrauten Reihen der Glasbehälter mit Süßigkeiten, die Ansichtskarten ›Die Kirche von Cherry Walden‹, ›Das Pfarrhaus‹, ›Teich mit Weiden‹ waren durch buntes Spielzeug ersetzt, gelbe Knallpistolen, Spielzeugsoldaten, Knallbonbons zwischen Stechpalmenzweigen, und vor jeder Scheibe vier von oben nach unten gespannte Bindfäden, an denen kleine Wattebäusche befestigt waren, die Schneeflocken darstellen sollten. Sie dachten an den dampfenden Truthahn, an die Stechpalmenzweige über dem Ritterhelm in der Halle, an den Morgengottesdienst in der Kirche von Cherry Walden, an den Weißfisch, der mit noch röterem Gesicht als gewöhnlich seine Weihnachtspredigt hielt. Und dann fiel dem gefühlsseligen Großen John der wundervolle Tanz bei den Bramshotts ein, die atemberaubende Herrlichkeit des Festes, der riesige Weihnachtsbaum, an dem für jeden ein Geschenk hing, er dachte daran, wie Mr. Bramshott mit dem alten Sir William Bary über seine Fasane geredet hatte. Und dann natürlich – Angela und der Tanz mit ihr. O Gott! 277
Der Kleine John dachte ans Weihnachtsessen: Gerichte aller Art und in solcher Fülle, in überwältigender Fülle: Puter, Plumpudding, Gewürzkuchen, Schinkenpasteten, Würste, Brotsoße – Brotsoße aß er leidenschaftlich gern – und auch er seufzte still. Robin dachte an das Weihnachtsspiel in Brendon. Das war für ihn der Höhepunkt des vergangenen Festes gewesen. »Hört mal, Jungens, erinnert ihr euch noch an ›Hans und die Bohnenstange‹ vom letzten Jahr. Hat mir das einen Spaß gemacht! Wißt ihr noch, der komische alte rotnasige Clown, der wie ein Landstreicher aufgemacht war, der ins Publikum kam und versuchte, sich neben Tante Ellen zu setzen und ihr einen Strang Würstchen zu schenken, und wie alle lachten?« Die Lichtung hallte wider vom fröhlichen Gelächter über den längst vergessenen Vorfall. »Ja, und als er wegging, und Tante dieses ›Spuckt-ausKinder-Gesicht‹ machte«, sagte der Große John und lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Ja, und erinnert ihr euch noch an die dicke Frau, die fliegen konnte; das war die komischste Nummer in der Show!« »Mir gefiel der Riese am besten«, sagte der Kleine John. »Wißt ihr noch, wie er seine Keule schwang und brüllte? Ich fand das prima.« Pause – »Und wenn ich daran denke, daß die Truppe dies Jahr wieder nach Brendon kommt – du meine Güte«, rief er, »sie spielen heute abend, es ist die erste Vorstellung.« »Laßt uns nicht mehr drüber reden«, brummte der Große John, »was hat es für einen Sinn, wir sind arme Verbannte mitten im großen Wald, und in dieser Aufmachung könnten wir sowieso nicht hingehen ; außerdem haben wir kein Geld mehr. Ich habe Smokie, als er neulich nach Cheshunt Toller ging, den letzten Schilling für Brot gegeben. Aber die fünfzehn Schilling haben wahrhaftig lange gereicht.« 278
»Horcht«, sagte Robin. Alle schwiegen. »Die Glocken haben aufgehört.« »Wie still es ist«, flüsterte der Kleine John. »Ich bin froh, daß ich nicht allein hier bin.« »Da oben ist der Große Bär«, sagte Robin und starrte zum Himmel auf. »Und direkt darüber, das ist der Polarstern, und da ist der Orion. Da drüben, das ist der Orionnebel, ich glaube, Großer John, du kannst ihn von da, wo du sitzt, nicht sehen, aber es ist der kleine Haufen von Sternen, die so ganz eng beisammenstehen.« »Wenn ich zu lange hinaufschaue«, sagte der Große John, »bekomme ich Angst. Ich'weiß nicht, wo ich bin, oder wozu ich hier bin oder wie ich hierher gekommen bin und so. Es ist ein ziemlich scheußliches Gefühl. Horch, da bellt ein Fuchs. Hört ihr?« Weit in der Ferne hörten sie das »Och-och« eines alten Fuchses. »Er ist drüben in den Lärchen im Kronwald«, sagte der Kleine John. »Wir suchen morgen seine Spur und holen uns sein Fell.« Robin war wieder in Gedanken versunken. Er dachte nicht mehr an die Sterne, sondern daran, wie der Fuchs einsam durch den verharschten Schnee schnürte auf der Suche nach seinem Abendbrot. »Ich wette, Smokie hat seine Hühner bei diesem Wetter gut verbarrikadiert, die Füchse werden heute nacht unterwegs sein und schnüffeln.« »Ja wirklich«, platzte der Große John heraus. »Letztes Mal, als wir da waren, hat mir Smokie ihre Spuren um seinen Hühnerstall herum gezeigt. Er hat mir erzählt, daß sie ein Huhn sogar bei Tageslicht geholt haben.« »Ich wette, der Alte ist in letzter Zeit mit seiner ›Rülpsenden Lisbeth‹ unterwegs gewesen. Ich glaube, ich habe ihn heute nachmittag gehört. Es würd mich nicht Wundern, wenn er uns Weihnachten als ersten Gang einen Fasan auftischte.« Die anderen lachten. »Ja, und er hat gesagt, daß die Rehe an sein Wintergemüse gegangen sind, sie haben den Zaun 279
umgedrückt. Und natürlich auch die Tauben. Smokie war ganz wütend.« »Also Jungens«, sagte Robin, »es ist zwar schön, so am Feuer zu sitzen, aber ich geh jetzt ins Bett.« Sie traten die Glut aus und löschten sie mit Schnee, und ein paar Augenblicke später war die Tür der Baumhöhle geschlossen. Es war gemütlich drinnen, und die Vogelfreien rollten sich unter ihren Felldecken zusammen. Der Wärme wegen rückten sie dicht aneinander. Und weit weg, hinter dem verschneiten Wald und den kahlen weißen Feldern, hinter den nackten Hügeln und den einsamen Hirtenhütten, weit weg in Cheshunt Toller, drängten sich die Läutejungen des Dorfes unten aus dem alten Kirchturm nach draußen. Ihre Laternen warfen unheimliche Schatten auf die Schneemützen der Grabsteine. »Ah, das ist wieder kalt heute nacht, Tom.« »Ah, schrecklich kalt.«
KAPITEL 21
Das Weihnachtsmahl Am Weihnachtsabend war die Luft so still, daß Smokie und die Jungen die Weihnachtssänger in Yoho hören konnten, die Doktor Bowers ein Ständchen brachten. Sie kamen aus Cheshunt Toller und zogen in der ganzen Gegend herum, sogar bis zum Wirtshaus »Zu den Märtyrern«. Smokie war strikt gegen den Plan gewesen, daß sie – Smokie und die Vogelfreien – selbst herumziehen und Weihnachtslieder an den Türen singen sollten. »Nein, nein, das wäre eine große Dummheit, schlagt euch das aus dem Kopf. Ihr habt anscheinend Bunting und Cornes vergessen. Die Polizei kann abwarten, aber dann schlägt sie zu. Nein, tut das nicht.« Aber dieser Vorschlag war ohnehin eher 280
scherzhaft gemeint, Robin wollte sehen, was der alte Mann dazu sagte. »Nein, nein«, sagte Smokie noch einmal, »unsere Weihnachtssänger sind die Eulen. Horcht mal.« Und als sie lauschten, hörten sie ihr »Huuhu« rund um die Hütte. »Ich hab sie noch nie einen solchen Lärm machen hören«, sagte Smokie. »Irgendetwas muß sie beunruhigen.« »Vielleicht ist es die Kälte«, sagte der große John und kitzelte Ben unter dem Kinn, bis dieser mit den großen Augen zwinkerte. »Antwortet Ben, wenn sie rufen?« »Ja, manchmal weckt er mich auf mit seinem Gekoller. Aber er tut es nie, solange das Licht brennt, nur wenn es dunkel ist.« Der Köhler stand auf und stocherte im Ofen, und ein ganzer Strahl leuchtend goldener Glut ergoß sich auf die Eisenplatte davor. Die kleine Hütte war mit Stechpalmenzweigen geschmückt, die Smokie von den großen Bäumen an der Grenze zum Kronwald geschnitten hatte. Die Holztauben und Amseln hatten viele der roten Beeren abgepickt; bei diesem strengen Frost hatte Smokie Mühe gehabt, genug Zweige mit Beeren zu finden. »Haben wir nicht neulich dein altes Gewehr knallen hören? Hast wohl ein bißchen gewildert, Smokie«, fragte der Große John listig. »Gewildert?« Smokie tat ganz entsetzt. »Wer hat schon mal davon gehört, daß der alte Smokie Joe einen von Seiner Gnaden Fasanen geschossen hätte? Aber Seine Gnaden hat mir'n schönes Weihnachtsgeschenk gemacht.« »Ein Weihnachtsgeschenk, Smokie? Was denn?« Smokie zwinkerte und ging zum Bett. Unter der Matratze zog er eine große Flasche Portwein hervor. »Das schickt er mir immer, Jungens, jedes Weihnachten, und außerdem einen Sovereign.« Er steckte die Hand in die Tasche und zeigte ihnen die Goldmünze. »Wenn ich nach Cheshunt in den Laden gehe, liegt es vor Weihnachten immer da und wartet auf mich.« »Das ist anständig von dem alten Kerl«, sagte Robin. 281
»Mir scheint, wir werden die einzigen sein, die kein Weihnachtsgeschenk kriegen. Du hast Glück.« Smokie lächelte. »Ja, Seine Gnaden vergißt mich nie, wenn ich ihn auch zum letzten Mal – laßt mal sehen – das muß jetzt vier Jahre her sein, daß ich ihn gesehen habe. Ja – muß vier Jahre her sein – so lange.« »Das letzte Mal, wo ich ihn gesehen habe«, sagte der Kleine John, »hing er in seinem Auto und wurde hin- und hergeschüttelt wie eine Erbse im Topf. Das war, als sie mich gejagt haben, als ich im Sommer in Brendon war.« Die anderen lachten. »Ja«, sagte Smokie, »da bist du knapp davongekommen, das muß ich sagen, da hätten sie dich beinahe gehabt, Junge. Das hast du ganz schlau gemacht, wie du da davongekommen bist. Natürlich hab ich alles gehört, als ich in Cheshunt Toller war. Sie haben's mir im Laden erzählt. Das ganze Dorf redet davon. Aber sie haben dich nicht gefunden. Und Doktor Bowers hält den Mund. Er ist der beste Mensch, den man sich denken kann. Und was für ein hübsches Töchterchen. Sie kam ins Krankenhaus, als ich dort war, und hat mir Blumen gebracht. Der Doktor muß ihr ein Dachsfell geschenkt haben, denn sie trug so einen Muff. Sie hatte große Freude dran, denn sie fragte mich, ob ich ihn ihr geschickt hab. Natürlich hab ich nichts verraten, ich hab ›ja‹ gesagt.« Während Smokies Erzählung war dem armen Großen John ganz heiß geworden, und als die anderen ihn ansahen, war er genau so rot wie die Stechpalmenbeeren. »Der Große John wird die Angela heiraten, nicht wahr, Großer John?« neckte Robin. »Und das wäre gar nicht das allerschlechteste, verdammt noch mal«, sagte Smokie mit Begeisterung. »Sie ist also dein Mädchen, John. Nun, dann viel Glück.« »Sie wollen mich nur ärgern, Smokie«, keuchte der unglückliche Große John, nachdem er versucht hatte, Robin zu erwürgen. Gyp war ganz aufgeregt, und die Eule hopste auf und ab und klapperte vor Angst mit dem Schnabel. »Hört mal die Eulen«, rief Smokie, als sich der Lärm 282
gelegt hatte. »Hab noch nie gehört, daß sie so 'nen Krach machen! Ob Bunting wohl unterwegs ist?« Er ging zur Tür und öffnete sie. Die Jungen sahen seine Gestalt vor dem Hintergrund von mondbeschienenem Schnee. Sie sahen die dunkle Wand der kahlen Eichen und nackten Weiden, die sich vor dem Hintergrund des Sternenhimmels abhoben. Ein eisiger Hauch stahl sich in das warme Stübchen. Gyp flitzte mit gespitzten Ohren in den Schnee hinaus, stand da und horchte, sein langer blauer Schatten fiel auf den festgetretenen Schnee, denn das Lampenlicht strömte hinter ihm durch die Tür. »Such, Gyp«, flüsterte Smokie, und der Hund stürzte davon. »Wenn jemand hier herumschnüffelt, wird Gyp ihn am Bein kriegen«, sagte Smokie, »aber wahrscheinlich ist's wieder der alte Fuchs, der hinter meinen Hühnern her ist.« »Neulich haben wir einen nachts im Kronwald bellen hören«, sagte Robin. »Wir müssen ihn schießen. Horch, Gyp hat etwas gefunden.« Die Vogelfreien drängten sich in der Tür und lauschten. Irgendwo zwischen den Bäumen hörten sie ein wütendes Gekläff. »Ich glaube, er hat einen Fuchs gestellt«, sagte Robin. »Nein, das ist kein Fuchs«, sagte Smokie. »Verdammt, was ist da los?« Gyp stieß jetzt ein durchdringendes Geheul aus, gleich darauf kam er mit gesträubtem Fell über den Schnee gesaust. Er stürzte an ihnen vorbei in die Hütte und verkroch sich unter dem Bett. »Verdammt«, sagte Smokie verblüfft, »so hab ich ihn noch nie erlebt.« »Es ist Hysterie«, sagte der Kleine John. »Tilly, unser Spaniel im Witwensitz, hat das auch oft gemacht.« »Hysterie, meine Fresse! Gib mir mein Gewehr«, sagte Smokie entschlossen. »Ich schau nach, was es ist.« Robin reichte ihm seinen alten Vorderlader, und Smokie schob eine Ladung Schrot ein. 283
Der Große John nahm das Gewehr der Jungen, und alle gingen ihm nach. Dann standen sie alle vor der geschlossenen Tür der Hütte und lauschten. Von Norden her zogen dicke Wolken auf und verhüllten den Mond, eine schwache Brise trug ihnen das Weihnachtsläuten der Glocken von Brendon zu. »Kann nichts sehen«, sagte Smokie, »aber Gyp muß da hinten was entdeckt haben. Kommt, Jungens.« Sie stapften durch den gefrorenen Schnee, bis sie die Bäume erreicht hatten. Das Licht reichte nicht aus, um nach Spuren zu suchen, sie konnten keine Abdrücke im Schnee erkennen, und ein Streichholz, das Robin anriß, wurde sofort ausgeblasen. »Es hat keinen Sinn«, sagte Smokie schließlich. »Was immer auch dagewesen ist, es ist weg. Ich kann auch nichts hören, aber meine Ohren sind auch nicht mehr gut.« Sie standen unter den Birken, hörten aber nichts, als das leise Singen des Windes in den kahlen Zweigen und ab und zu einen schwachen Glockenton. Als sie zur Hütte zurückgingen, streifte etwas Weiches Robins Wange. Es war eine Schneeflocke. »Wir bekommen noch mehr Schnee«, sagte Smokie, »ich freß 'nen Besen, wenn's nicht stimmt.« Gyp lag immer noch unter dem Bett und zitterte. Auf Smokies Einladung hin schliefen die Jungen in dieser Nacht in der Hütte, auf Säcken voll Farnkraut, die sie um den Ofen herum auf den Boden legten. Vor dem Einschlafen stupste der Große John Robin in die Rippen. »Ich bin froh, daß wir heute abend nicht zum Lager zurück mußten.« »Warum?« »Ich weiß nicht. Es war ein bißchen unheimlich, wie Gyp sich benommen hat. Er hat irgendwas gesehen.« »Vielleicht hat er den Märtyrer gesehen«, sagte sein Bruder. Der Große John schüttelte sich.
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»Fröhliche Weihnachten, Jungens!« »Fröhliche Weihnachten, Smokie!« »Hier ist ein kleines Weihnachtsgeschenk für euch«, sagte der alte Mann verlegen und hielt ihnen einen Gegenstand hin, der in schmutziges Packpapier gewickelt war. »Oh, Smokie! Und wir haben gar nichts für dich!« rief Robin ganz erschrocken. »Wir haben darüber gesprochen, aber wir haben nichts, das wir dir schenken könnten, und unser ganzes Geld haben wir ausgegeben.« »Aber Jungens, ihr habt dem alten Smokie das Leben gerettet. Ist das nicht das beste Weihnachtsgeschenk, das ihr mir machen konntet.« »Oh«, rief Robin, der das Paket geöffnet hatte, »was für eine schöne Arbeit! Das hast du doch nicht selber gemacht, Smokie?« »Doch, ich hab so in meiner freien Zeit dran gearbeitet«, sagte der alte Mann stolz. Es war eine wunderschöne Schnitzerei aus Walnußholz, ein Fuchs mit einer Ente im Maul. »Aber das ist ein Meisterwerk, Smokie, das schönste, was du je gemacht hast.« »Meint Ihr?« sagte Smokie. »Ich fand es auch ganz gut, ich freu mich, wenn es euch gefällt.« Die Schnitzarbeit wurde auf den Tisch gestellt. Es war wirklich ein Kunstwerk. Smokie hatte den Fuchs in angespannter Haltung dargestellt, in dem Augenblick, wo er die Beute ergreift. »Nun hört mal«, sagte der Große John mit etwas gepreßter Stimme. »Jetzt wollen wir alle fröhlich sein, wir wollen alle zusammen fröhlich sein! Guter alter Smokie, guter alter Robin Hood, guter alter Kleiner John! Wir sind die Vogelfreien, die niemand fangen kann.« »Wie war's mit einem Lied?« schrie Robin Hood, und schwenkte sein Glas über dem Kopf. »Laßt uns ein Weihnachtslied singen.« »Ja, Jungens, wir wollen ein Weihnachtslied singen«, krächzte Smokie, und dann stimmte er an ... 285
»Der gute König Wenzeslaus schaute aus in den hohen kalten Schnee Als er...« Smokies zittrige Stimme brach mitten im Lied ab, verlor sich in einem schrillen Pfeifen, dann ließ er den Kopf in die Hände sinken. »Was ist denn los, Smokie?«, fragte Robin ängstlich. »Ist dir schlecht?« Smokie murmelte: »Hat keinen Sinn, zuviel Portwein, Smokie sieht Gespenster.« Der Große John hatte in diesem Augenblick zufällig zum Fenster geschaut, er wurde sichtlich blaß und sah Smokie entsetzt an. Der Kleine John schluckte und ließ sich unter den Tisch fallen. »Was ist denn los mit euch allen«, rief Robin. »Ihr seht wohl alle Gespenster.« Smokie, der die ganze Zeit zwischen den Fingern hindurch zum Fenster hin gespäht hatte, schüttelte traurig den Kopf. »Es wird vorübergehen, es geht vorüber.« Dann merkte Robin, daß das Zimmer sich verdunkelte, als stünde etwas vor dem Fenster. Er fuhr herum. Da stand ein großer grauer Bär, schaute zu ihnen herein, und sein rauher Atem beschlug das Fenster. Robin war so fassungslos, daß er wie versteinert sitzen blieb. Der Portwein des Herzogs mußte sehr stark sein, um ein so täuschendes Trugbild hervorzurufen. Dann kam Smokies Stimme gedämpft unter seinen Händen hervor. »Siehst du auch, was ich sehe, Junge, was da zum Fenster hereinschaut?« »Es ist ... es ist ein ... BÄR!« keuchte Robin Hood fassungslos. »Dann seh ich's nicht allein!« sagte Smokie und wurde wieder lebendig. Sein Stuhl stürzte mit Krach nach hinten und weckte Gyp, der sich aufsetzte und um sich stierte. Und Gyp, der ganz gewiß nicht unter Alkoholeinfluß stand, bewies ihnen zweifelsfrei, daß das, was sie sahen, 286
kein Hirngespinst war. Sein Fell sträubte sich, und mit verzweifeltem Geheul flüchtete er unters Bett. Smokie sprang in die Ecke, wo seine alte Donnerbüchse stand. Er ergriff sie und schaute um sich. Aber der Bär war vom Fenster verschwunden, man sah nur noch die fallenden Schneeflocken und einen kleinen beschlagenen Fleck auf der Scheibe. Alle schwiegen. Man hörte nur ihr schweres Atmen. Eine zittrige Frage klang unter dem Tisch hervor: »Ist er weg?« »Ja, Junge, er ist weg. Aber Smokie wird dieser Sache auf den Grund gehen, ich kann nicht dulden, daß hier Bären um dies Haus herumstrolchen,« »Aber verdammt noch mal«, stammelte der Große John, »wir sind doch hier im Forst von Brendon und nicht in irgendeinem kanadischen Urwald. In England gibt es doch keine Bären mehr. Jedenfalls keine, die frei im Wald herumlaufen.« »Vorsicht, Smokie, wir wollen doch nicht, daß er hier reinkommt!« rief Robin, als Smokie heftig atmend auf die Tür zuging. Zuerst öffnete er sie nur einen Spalt breit, aber der eisige Wind, der hineinpfiff, trieb ihm das Wasser in die Augen. Dann steckte er vorsichtig seine große Nase nach draußen, dann die eine Schulter, wobei er schnell nach rechts und links schaute. Vom Bären war nichts zu sehen. Aber die Spuren seiner riesigen Tatzen waren im Schnee deutlich sichtbar. »Er ist hintenherum gegangen«, flüsterte Smokie, nickte und zwinkerte. Bei diesem Anblick warf Robin, der immer einen starken Sinn für Humor hatte, sich über den Tisch und lachte Tränen. Smokie, der immer noch eine orangerote Papiermütze auf dem Kopf hatte, Smokie mit seiner riesigen Nase und der alten Donnerbüchse in der Hand, das war ein überwältigender Anblick. Die Komik der ganzen Situation – das konnten keine Worte ausdrücken. Ein richtiger lebendiger Grizzly strolchte draußen um ihre 287
Hütte im Forst von Brendon, und das ausgerechnet am Weihnachtstag.« »Halt die Fresse«, knurrte Smokie, zum ersten Mal, seit er Robin ertappt hatte, wirklich böse, »halt die Fresse, hörst du!« Aber beim Anblick des wütenden Smokie mußte Robin nur noch mehr lachen. Er lachte, bis er Bauchschmerzen hatte und die Tränen ihm übers Gesicht liefen. Ungeduldig vor sich hinknurrend verschwand Smokie nach draußen. Der Große John und der Kleine John schlichen hinter ihm her und ließen den armen Robin hilflos vor Lachen über dem Tisch liegen. Als die Jungen nach draußen kamen, sahen sie Smokie vorsichtig durch den hohen Schnee stelzen, die riesige Donnerbüchse im Anschlag, halb erstaunt, halb ängstlich um sich blickend. Er bewegte sich ganz langsam dicht an der Wand um die Hütte herum. Als er die Ecke erreicht hatte, kniete er nieder. Langsam hob er die Büchse. »Schieß nicht«, zischte der Große John, »du wirst ihn nur aufscheuchen.« Aber in diesem Augenblick flammte schon ein orangeroter Feuerpilz auf, eine dichte Rauchwolke folgte und ein Knall, der den alten Mann auf die Fersen zurückwarf. »Verdammich, er ist hinter dem Hühnerhaus verschwunden, genau als ich abdrückte«, keuchte Smokie und rappelte sich auf die Füße. »Himmel! Versuch nicht, näher an ihn heranzukommen«, sagte Robin, der sich wieder gefaßt hatte und zu ihnen gekommen war. »Wenn du ihn verwundet hast, wird er auf dich losgehen und dich zerfleischen.« Drohendes Gebrumm war hinter dem Hühnerstall zu hören, und während sie noch dastanden, kam der Bär auf allen Vieren zum Vorschein; leicht und schnell lief er zwischen den Bäumen hindurch ohne sich umzuschauen, bis er die Birken auf der anderen Seite der Lichtung erreicht hatte. Dort stellte er sich auf die Hinterbeine, das Maul stand ein wenig offen, die Pfoten hingen über seinem braunen pelzigen Bauch. 288
»Mein Gott«, rief Robin, dessen scharfem Blick nichts entging, »er hat ein breites Halsband um! Er muß irgendwo ausgerissen sein!« »Der arme Kerl«, sagte der Große John. »Ich hoffe, du hast ihn nicht getroffen, Smokie.« »Bestimmt nicht«, brummte der alte Mann, »er ist um die Ecke vom Hühnerstall in dem Augenblick, als ich abdrückte. Wie sollte ich wissen, daß es ein zahmer Bär ist? Jedenfalls hat er hier nichts zu suchen.« »Da geht er«, rief Robin. »Er hat genug von uns.« Sie sahen die schwere braune Gestalt zwischen den Bäumen davontrotten; einen Augenblick später hatten die wirbelnden Schneeflocken ihn ihren Blicken entzogen. Smokie blieb mit offenem Mund stehen, die bunte Papiermütze auf dem Hinterkopf. Aus der Mündung des schweren Gewehrs stieg immer noch ein dünner Rauchfaden. »Los, Smokie, sag was«, kicherte der Große John. »Verdammich«, sagte Smokie.
KAPITEL 22
Aufgestöbert Zu wissen, daß im Forst von Brendon ein Bär frei herumlief, selbst wenn er ein Halsband trug und so aussah, als könnte man ihn streicheln, war ziemlich beunruhigend. Außerdem hatten ihn wahrscheinlich ein paar von Smokies Schrotkügelchen getroffen, und ein angeschossener Bär konnte gereizt, vielleicht sogar rachsüchtig sein. »Ich bin nur froh, daß wir heute abend nicht zu unserem Baum zurückgehen«, sagte der Große John, als endlich die Lampe entzündet und die Tür verbarrikadiert war. »Bei Tageslicht macht es mir nichts aus, zurückzugehen, aber im 289
Dunkeln wäre es mir unheimlich, wo man weiß, daß er sich hier irgendwo herumtreibt.« »Vielleicht kommt er zurück«, sagte Robin, »und versucht noch einmal, das Hühnerhaus aufzubrechen. Wahrscheinlich wollte er da rein, weil es drinnen warm ist, wahrscheinlich wollte er gar nicht die Hühner stehlen. Bären fressen Beeren und sowas und graben im Wald Wurzeln aus und fressen sie.« »Natürlich war er hinter den Hühnern her«, sagte Smokie gekränkt, »es war nicht der Fuchs, der sie geholt hat, die Bärenspuren waren da, und Blut und Federn überall. Das ist doch sonnenklar.« »Ich fand, daß er ganz gemütlich aussah«, sagte der Kleine John. »Vielleicht hätten wir uns mit ihm anfreunden können.« »Vielleicht«, sagte Smokie mit beißender Ironie, »wir hätten ihn natürlich auch für heute abend zur Feier einladen können.« Die anderen lachten. »Armer alter Petz«, sagte Robin. »Wir haben ihm einen warmen Empfang bereitet.« »Und ein warmes Hinterteil, das glaube ich sicher«, sagte Smokie. »Ich wette, der wird sich heute abend nur vorsichtig hinsetzen. Ich hab ihm ein bißchen Schrot verpaßt.« Sobald es am Weihnachtstag hell wurde, waren die Jungen auf den Beinen, um zu sehen, ob das Tier in der Nacht zurückgekommen war. Aber im Schnee waren keine neuen Spuren, unter den Hühnern waren keine neuen Opfer zu beklagen. Nachdem die Vogelfreien ein tüchtiges Frühstück zu sich genommen hatten – geräucherten Schinken und zwei Eier pro Kopf mit knusprig gebratenen Kartoffelscheiben – machten sie sich auf, um die Spur des Bären zu verfolgen. Es hatte in der Nacht wieder geschneit, trotzdem war die Spur an den tieferen Stellen noch sichtbar; aber nachdem sie bis weit in die Fichtenbestände des Kronwaldes gelangt waren, verlor sich die Spur und sie mußten aufgeben. 290
Es dämmerte schon beinahe, als sie zur Hütte zurückkamen, hungrig und müde vom Stapfen durch den tiefen Schnee. Smokie erwartete sie mit einer leckeren Mahlzeit, kaltem Fasanenbraten, Hirschkoteletts und Rosenkohl. Er hatte auch eine überraschende Nachricht. Während des Tages hatte er Besuch bekommen: Wachtmeister Cornes und einen Bärenführer. Es hatte sich herausgestellt, daß der Bär in Brendon entlaufen war, wo er bei dem Weihnachtsspiel mitgewirkt hatte. Das Stück hieß ›Hänsel und Gretel‹. Zwei Tage vor Weihnachten war er aus seinem Käfig hinter dem Saal, in dem die Aufführungen stattfanden, entkommen. Nach einer Verfolgungsjagd, die fast so aufregend gewesen war wie die Verfolgung des Kleinen John, hatte ein Schäfer gesehen, wie der Bär im Forst von Brendon verschwand. »Cornes und der Schausteller sind nicht lange geblieben, denn ich hab ihnen nichts davon gesagt, daß wir den Bär gesehen haben«, sagte Smokie. »Wenn ich was gesagt hätte, hätten wir bald das ganze Dorf hier. Ich hab gesagt, wenn der Bär wirklich im Forst ist, dann ist er in den Lärchenbeständen im Kronwald. Da gibt es auch Fichten, und es ist wärmer als auf dieser Seite.« »Wir haben Glück gehabt, daß wir ihnen nicht in die Arme gelaufen sind, wir waren heute nachmittag im Kronwald«, sagte Robin und tat sich einen großen Löffel Rosenkohl auf den Teller. »Von dem Bär haben wir dort nichts gesehen. Wir sind auch in die Fichten gegangen, haben aber nur einen toten Eichelhäher im Schnee gefunden.« »Ja«, sagte der Große John, »ich hab ihn mitgebracht. Ich will ihn ausstopfen, Smokie, wenn du mir das zeigen kannst.« »Ihr müßt jetzt scharf aufpassen, Jungens«, antwortete Smokie, »morgen werden viele Leute unterwegs sein und nach dem Bären suchen. An eurer Stelle würd ich hierbleiben und die Augen offen halten. Und da ist noch was anderes, woran ihr nicht gedacht habt. Ihr habt gesagt, daß 291
ihr in der Fichtenschonung wart, na, da liegt doch Schnee auf dem Boden.« »Ja, aber warum?« fragte Robin mit vollem Mund. »Nun, ich dachte, wenn Cornes oder andere Leute dort nach dem Bären suchen, könnten sie eure Fußspuren finden, das ist alles.« Robin legte Messer und Gabel hin und pfiff. »Smokie, du hast recht.« »Natürlich hab ich recht«, sagte Smokie. »Drei Paar Fußspuren, kleine, nicht ganz Erwachsenengröße, das könnte manche Leute zum Nachdenken bringen. Bis jetzt hat euch niemand gesehen außer Doktor Bowers und mir – ich meine im Wald – niemand weiß also mit Sicherheit, daß ihr hier seid. Aber wenn Leute wie Bunting da herumlaufen, oder auch Cornes, die werden sich zwei und zwei zusammenzählen, versteht ihr?« »O« sagte der Große John, »es hat keinen Zweck, daß wir uns Sorgen machen. Der Forst ist groß. Außer uns strolchen wahrscheinlich auch noch andere Jungen darin herum, sie werden nicht sicher sein können, daß es unsere Spuren sind.« Aber Smokie schüttelte seine große Nase und machte sich wieder an seine Holzschnitzerei. Als das Abendessen vorüber war, holten die Jungen den Eichelhäher und baten Smokie, ihnen zu zeigen, wie man ihn häutet. Die Eule flog von ihrem Sitz in der Ecke herunter, setzte sich Smokie auf die Schulter, betrachtete blinzelnd den toten Körper des Vogels auf dem Tisch und klapperte mit dem Schnabel. Der gutmütige alte Mann legte seine Schnitzerei beiseite und nahm den Eichelhäher. Es war ein schönes Tier ohne sichtbare Verletzung. Smokie sagte, die strenge Kälte habe es getötet. Er schob ein Stückchen Wolle in den Schnabel und legte den Vogel auf den Rücken. Mit einem scharfen Messer schlitzte er den Bauch auf, schob dabei vorsichtig die Federn zur Seite, damit keine verletzt wurde. Als dies getan war – Smokie hatte sorgsam darauf geachtet, daß er nicht in die 292
Brustmuskeln hineinschnitt – begann er, zu beiden Seiten des kielförmigen Brustbeins vorsichtig die Finger unter die Haut zu schieben. Mit sanftem Ziehen und Drücken löste er die Haut, wobei er mit dem Messer die feinen Bindegewebe durchtrennte. Schließlich hatte er die Haut bis zum Halsansatz zurückgeschoben. Nun trennte er den Hals durch und stäubte Mehl auf die feuchte Haut und auf jeden Blutstropfen, der sichtbar wurde. Nun tastete er nach dem Gelenk, das den Flügel mit dem Körper verbindet und trennte den Knochen durch; das gleiche tat er auf der anderen Seite. Der alte Mann arbeitete aufmerksam und geschickt. »Wo hast du das Abziehen gelernt?« fragte Robin, »es sieht so leicht aus.« »Ich hab mir das meiste selber beigebracht«, sagte Smokie. »Ich habe viele Tiere abgehäutet. Es gab hier einen Forstgehilfen, der Tiere ausstopfen konnte, der hatte alles vom alten Herzog gelernt, der hat mir auch ein bißchen beigebracht. Das Geheimnis ist, sich Zeit zu nehmen und nicht hastig zu arbeiten, sonst zerreißt man die Haut.« »Jetzt haben wir's Jungens«, sagte Smokie, während er die Haut um das zweite Flügelgelenk löste. »Jetzt hängen wir ihn auf.« Er band ein Stück Kordel um das Ende des abgetrennten Halswirbels und befestigte es an einem Fleischerhaken, der von der Decke hing. Die Haut hing vom Hals und von den Flügelgelenken frei nach unten. Smokie löste sie jetzt auch am Rücken. Er ging dabei ganz vorsichtig zu Werke; es schien ganz leicht. Als er an die Schenkelknochen kam, schnitt er auch diese durch, dann hatte er die Schwanzwurzel erreicht und auch diese durchgetrennt. Im nächsten Augenblick hing der saubere bemehlte Körper frei wie ein Pendel, und Smokie hielt die Haut des Eichelhähers in der Hand. Er legte sie auf den Tisch und stülpte am Hals das Innere nach außen, bis die Schädelbasis sichtbar wurde. Ganz allmählich wendete er jetzt die Haut des Halses, wobei er die 293
Sehnen durchschnitt und alles Fleisch vom Knochen löste. Als er an die Augen und das Gehirn kam, kratzte er diese mit der Messerspitze heraus. Schließlich hatte er den Schädel zu seiner Zufriedenheit gesäubert und zog das Fell wieder darüber. Es mußte ganz langsam und vorsichtig geschehen, aber plötzlich zog sich die Kopfhaut wieder fest über den Schädel, und das ganze gesäuberte Fell lag auf dem Tisch. »Eigentlich sollte man es mit Arsen beizen«, sagte Smokie und streichelte die weichen Federn zurecht, »aber wir haben keins, und darum nehmen wir Pfeffer. Pfeffer tut es auch, wenn auch nicht so gut wie Arsen. Und wir brauchen richtige Augen, die haben wir nicht und können das Tier deshalb noch nicht richtig ausstopfen. Aber jetzt wißt ihr, wie man einen Vogel häutet.« »Wunderbar«, sagte der Große John und streichelte die schönen blauen Schwungfedern, die wie gemalt aussahen, wie blaue Wellchen auf einer japanischen Seidenmalerei. »Es sieht so leicht aus.« Smokie lächelte und nahm seine Schnitzarbeit wieder auf. »Nehmt euch einen Star vor und versucht's mal«, sagte er. »Stare haben eine zähe Haut, und hübsch sind sie auch. Eines Tages zeig ich euch, wie man ein Eichhörnchen häutet.« Robin stopfte sich sein Pfeifchen und steckte es sich mit Kennermiene an. In ein paar Wochen, so dachte er, werden solche Genüsse verboten sein, sehr bald schon würden sie dem Forst von Brendon Lebewohl sagen müssen, Lebewohl der Eiche und auch Smokie. Er seufzte ... Ach, es war eine herrliche Zeit gewesen, diese letzten Monate waren herrlich gewesen ... das Schießen und Fallenstellen, das Fischen und Nestersuchen, das freie wilde Leben, und die unvergleichliche Kameradschaft mit Smokie, der all das liebte, was auch sie liebten, der Vögel und andere Tiere ausstopfen und wunderschöne Figuren aus Holz schnitzen konnte. Und dann dieses herrliche Weihnachtswetter, die Freude, die sie zusammen gehabt hatten, und schließlich sogar ein 294
richtiger lebendiger Bär, der sie beinahe zu Tode erschreckt hatte. Er ließ seine Augen zufrieden in der kleinen Hütte umherschweifen. Smokie saß wie ein freundlicher Gnom über seine Schnitzarbeit gebeugt, die Eule hüpfte jetzt auf dem Tisch herum und pickte die Fleischfetzchen von der Haut des Eichelhähers, und der Große und der Kleine John beugten dicht nebeneinander die Köpfe über Smokies Arbeit. Robin hatte das Gefühl, er würde gleich aufwachen und sich bewußt werden, daß dies alles ein Traum gewesen war. So wie er jetzt hier in Smokies gemütlicher Stube saß, hatte er wenig Lust, zu der alten Eiche zurückzugehen. Je mehr er darüber nachdachte, desto unbehaglicher wurde ihm zu Mute. Warum? Waren sie ihres Waldlebens müde? Bald würde in Banchester das Frühlingssemester anfangen. Die Zeit verstrich. Nein, sie mußten nächste Woche nach Hause zurück. Im Neuen Jahr würden Vater und Mutter zurückkommen. Dann mußten sie zurück sein, es wäre schrecklich, wenn die Eltern zurückkämen, und sie wären nicht da ... schrecklich. Ja, diese herrliche Zeit war vorüber, fast vorüber. Aber was auch geschehen würde, welche Strafen sie auch erwarteten, dies herrliche Abenteuer war es wert gewesen, sie würden es niemals vergessen. Wie kommt es, daß die Stimmung in den Tagen unmittelbar nach Weihnachten meist umschlägt? So vieles war geschehen: die Weihnachtsfeier bei Smokie, der herrliche verschneite Winterwald, die aufregende Sache mit dem Bären ... alle drei Jungen hatten das gleiche Gefühl. Diese letzten Tage des alten Jahres verbrachten die Vogelfreien damit, Smokie bei seinen Meilern zu helfen und ihre Fallen nachzusehen. Der starke Frost hielt an, und der Forst war eine schweigende, verlassene Wildnis aus blendendem weißem Schnee, vor dem sich die Bäume und das Unterholz purpurn-schwarz abhoben. Eines Abends kam der Kleine John mit einem reinweißen Wiesel, das er in einer der Fallen 295
gefangen hatte, und Smokie sagte, es sei das erste Hermelin, das er je gesehen hatte. Smokie sagte, das Tierchen hätte bei dem anhaltenden arktischen Wetter die Farbe gewechselt. Mit seiner Hilfe häuteten sie es und stopften es aus. Als Augen nahmen sie Glasknöpfe, die Smokie in Cheshunt Toller besorgte. Von dem Bären fanden sie keine neue Spur, man hörte auch nichts mehr von ihm. Vielleicht hatte er den Wald verlassen. Als sie eines Abends in der Hütte um das Feuer saßen, machte Robin eine Ankündigung: »Morgen gehen wir zur Eiche zurück und holen unsere restlichen Sachen, die Töpfe und Pfannen und so.« »Warum denn?« brummte Smokie, der wie gewöhnlich mit einer Schnitzarbeit beschäftigt war. »Wollt ihr denn nicht mehr dorthin zurück? Hier bei mir ist es euch wohl gemütlicher? Nun, ich hab nichts dagegen, ich hab gern Gesellschaft.« »Es ist so, Smokie«, sagte Robin ein wenig verlegen, »ich finde, wir sollten übermorgen nach Hause zurückgehen, du weißt doch, daß unsere Eltern bald zurückkommen.« »Oh, ihr habt das Waldleben also satt«, sagte Smokie, sah Robin scharf an und spuckte ins Feuer. »Nun, ich kann's verstehen.« »Das ist es nicht, Smokie«, sagte Robin ungeduldig. »Wir lieben dieses Leben, aber wir können nicht für immer hier bleiben, so wie du. Wir müssen in die Schule zurück. Wir werden nie mehr so frei sein wie in den letzten Monaten«, fügte er traurig hinzu. Smokie gab keine Antwort, sondern schnippelte weiter an seinem Holzklotz herum. »Ach, ich hatte eure Schule ganz vergessen, ja, ihr habt recht, Jungens, ihr müßt zusammenpacken, aber ich werd traurig sein, wenn ihr geht, wir haben's schön gehabt hier im Wald.« »Ja, es war schön«, riefen die Vogelfreien begeistert, »und du bist prima gewesen, Smokie; wenn du nicht gewesen wärst ... ich weiß nicht, was wir ohne dich gemacht hätten.« 296
»Vielleicht kommt ihr mich schon mal besuchen«, sagte der alte Mann wehmütig. »Ich werd einsam sein, wenn ihr weg seid, ich werd einsam sein. Ich glaube, Ben und Gyp werden euch auch vermissen.« Am folgenden Tag begann es zu tauen. Als die Vogelfreien aufwachten, war die ganze Welt in Nebel gehüllt; der Schnee knirschte nicht mehr unter ihren Füßen. Von der Türschwelle aus starrte Robin in die dunstige, feuchte Wildnis und fand, daß dieser Wetterwechsel seiner augenblicklichen Stimmung entsprach. Der Schnee war nicht mehr fröhlich und funkelte nicht mehr, das Leben im Wald hatte den Reiz der Neuheit verloren. Bald nach Mittag machte sich ein trauriger kleiner Zug auf den Weg zum letzten Besuch bei der alten Eiche. Ringsum tropfte es von den Büschen. Immer wieder fielen Schneemassen mit einem seltsam raschelnden Geräusch zu Boden, das richtig unheimlich war. In dem dichten Nebel, war es gar nicht leicht, den Weg zu finden. Und als sie endlich die Lichtung erreichten, veranlaßte sie ein seltsames Gefühl, sich ihrem alten Lager mit Vorsicht zu nähern. Robin, der als erster ging, blieb plötzlich stehen. Er sagte nichts, wies nur schweigend in den Schnee. Denn dort waren die Fußstapfen des Bären zu sehen; sie führten geradewegs zum Baum. Die Vogelfreien zögerten, bereit, sofort die Flucht zu ergreifen. »Bestimmt, er ist in den Baum gegangen, was sollen wir tun?« flüsterte Robin aufgeregt. »Nachsehen, ob er drinnen ist«, sagte der Große John. »Das ist deine Aufgabe als Führer«, fügte er in scharfem Ton hinzu. Robin schlich vorsichtig weiter. Die Öffnung in der Eiche gähnte dunkel. Das Rindenstück, das sie als Tür benutzt hatten, lag an der Seite, die Spuren des Bären führten direkt hinein. Schritt für Schritt wagte Robin sich heran, bis er dicht vor der Öffnung stand. Zuerst konnte er nichts erkennen, die Finsternis war undurchdringlich, aber als sich seine Augen 297
an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die formlosen Umrisse eines großen dunklen Körpers erkennen, halb vergraben in dem Farn, den sie als Unterlage benutzten. Es roch streng nach wildem Tier, und er hörte das Geräusch eines schweren Atems. Auf Zehenspitzen ging er zu den andern zurück. »Er ist wirklich drin, so eine Frechheit! Und er schläft fest, glaube ich.« »Das ist wirklich unverschämt«, sagte der Große John, »es sich in unserem Baum gemütlich zu machen.« »Wer hat in meinem Bettchen geschlafen?« flüsterte der Kleine John. »Was sollen wir jetzt machen?« fragte Robin. »Stellt euch vor, ausgerechnet unseren Baum hat er sich ausgesucht, als wenn im Wald nicht Platz genug wäre. Etwas so Sonderbares hab ich noch nie erlebt.« »Am besten sagen wir es Smokie«, sagte der Große John. »Es wäre nicht gut, ihn aufzuscheuchen. Der arme Kerl ist sicher noch beleidigt, weil Smokie ihn neulich bepfeffert hat.« »Wenn wir es Smokie sagen, wird er ihn erschießen wollen«, sagte Robin. »Ich finde, wir sollten überhaupt nichts sagen und ihn friedlich schlafen lassen. Schließlich hat er hier im Wald das gleiche Recht wie wir.« »Ich wette, der schläft durch, bis es wärmer wird«, sagte der Kleine John. »Das tun Bären. Sie legen sich unter einen Reisighaufen oder verkriechen sich sonstwie und halten Winterschlaf genau wie die Igel. Wenigstens hab ich das so in einem Buch gelesen. In Rußland verfolgen die Jäger ihre Spuren bis in ihr Winterquartier, hetzen sie mit Hunden heraus und schießen sie dann.« »Aber was ist mit unseren Töpfen, der Pfanne und den anderen Sachen?« jammerte der Große John. »Nur gut, daß wir das Gewehr mit zu Smokie genommen haben, sonst hätte einer von uns – Bär oder kein Bär – hineingemußt, um es zu holen.« »Na«, sagte Robin, »die Töpfe und die Pfanne müssen wir 298
wohl im Stich lassen, schließlich brauchen wir sie ja auch nicht mehr. Natürlich«, fügte er hinzu, »wenn jemand von euch hineingehen und die Sachen holen möchte, der kann das tun. Sie liegen, glaube ich, in der rechten Ecke unter dem Farn.« Aber weder der Große noch der Kleine John zeigten sich von diesem Vorschlag begeistert, und nach einem letzten Blick auf den Baum, der so lange ihr Heim gewesen war, machten sie sich wieder auf den Weg zu Smokies Hütte. Ihre Fußstapfen bildeten Löcher mit zerfransten Rändern im schmelzenden Schnee, die feuchte Luft war von einer bitteren Kälte, die einen bis ins Mark frieren ließ. Es kam ihnen viel kälter vor als an den strahlenden Frosttagen vor Weihnachten. Es war komisch, sich vorzustellen, daß ihre Eiche nun einen anderen Bewohner hatte, einen gehetzten Vogelfreien wie sie; alle drei Jungen hatten den gleichen Gedanken, während sie so durch den Wald stapften. »Ich wünsche ihm Glück«, sagte Robin, indem er seine Gedanken aussprach, »möge er viele, viele Jahre im Wald leben und nie gefangen werden.« Als sie schließlich die Hütte erreichten, hatte es schon zu dämmern begonnen, das rotgelbe Lampenlicht aus Smokies Fenster grüßte sie mit einer heimeligen Wärme. Kein Wort fiel über das Versteck des Bären, keiner der Jungen machte auch nur die geringste Andeutung, daß sie ihn gefunden hatten. Nach dem Abendessen nahm Smokie seine Schnitzarbeit wieder auf und begann eifrig zu schnitzeln. Gyp lag ausgestreckt vor dem Ofen und grunzte und fiepte im Schlaf – gewiß träumte er vom Bären. Die Eule kam aus ihrer Ecke geflogen und setzte sich Smokie auf die Schulter, wo sie aufmerksam beobachtete, wie die gelben Späne unter dem scharfen Messer beiseite flogen. Traurigkeit lag in der Luft, es wurde wenig gesprochen, und der alte Mann, der sonst so gesprächig war, schien mehr 299
als sonst in seine Arbeit vertieft. Robin, der ihn scharf beobachtete, fragte sich, woran Smokie wohl dachte. Stellte er sich vor, wie einsam er sein würde, wenn sie gegangen waren? Robin dachte an den Tag, an dem er zum ersten Mal zu der Hütte gekommen war, wie Smokie ihn angesprungen hatte, wie er, unter dem Bett in der Ecke versteckt, jede Bewegung von Buntings riesigen, glänzenden Stiefeln, die keine zwei Meter von ihm entfernt waren, beobachtet hatte. Was für eine Zeit! Wie weit weg, wie traumhaft kamen ihm die Tage vor, als sie im Verborgenen Weiher geschwommen hatten, als er das Nest des Wespenbussards erkletterte. Er hatte wieder das Gefühl: dies ist der letzte Abend. »Bald ist Neujahr, Jungens«, sagte Smokie endlich und warf einen Blick auf den zerbeulten Wecker auf dem Kaminsims, der eine Stunde vor Mitternacht zeigte. »Wenn ich dran gedacht hätte, hätt ich was zu trinken hier gehabt, aber um die Wahrheit zu sagen, ich hab's einfach vergessen. Aber wir können ja mit einem Schluck von Seiner Gnaden Portwein anstoßen, das tuts wohl auch.« Robin trat an die Tür und öffnete sie. Das Licht, das aus der Hütte fiel, bildete im Nebel eine seltsame weiße Wand, aber als er aufschaute, konnte er weit oben undeutlich ein paar Sterne erkennen. Er hörte das Tropfen des schmelzenden Schnees vom Schindeldach, überall um ihn her hörte er den leisen hellen Klang fallender Tropfen. Und ganz deutlich summten die Glocken von Brendon, so klar, wie sie sie am Weihnachtsabend gehört hatten. »Mach die Tür zu, hörst du«, rief Smokie. »Wir wollen hier drin keinen Nebel.« Robin schloß die Tür. »Die Glocken läuten, Smokie.« »Ah, ich hab sie gehört, sie läuten das alte Jahr aus.« Wieder war nichts zu hören als das leise Rascheln der fallenden Späne und Gyps gedämpftes Traumbellen. Am Ofen war es so warm, daß Robin eindöste. Sein Kopf fiel nach vorn, bald war er fest eingeschlafen. Im nächsten Augenblick, so kam es ihm vor, fuhr er hellwach in die 300
Höhe; sein Herz klopfte wie verrückt. Gyp bellte, bellte in schrillen abgerissenen Tönen. »Gott steh uns bei«, rief Smokie, »da kommt jemand, entweder ein Mensch oder der Bär!« Dann hörte Robin den unmißverständlichen Klang von knirschenden Schritten draußen. »Schnell unters Bett«, fauchte Smokie, »da kommt jemand, Bunting wahrscheinlich!« Die drei Vogelfreien warfen sich unter das Bett, und Gyp, dessen Nackenhaare wie eine Bürste gesträubt waren, starrte, auf den Zehenspitzen trippelnd, auf die geschlossene Tür. Die Vogelfreien hatten sich kaum versteckt, als es laut zweimal an die Tür klopfte. Gyp bellte wie besessen. Smokie trat an die Tür und hob langsam den Schnappriegel. Draußen standen zwei vermummte Gestalten. Die eine erkannte Smokie sofort als Doktor Bowers, die andere, ein großer Mann mit braunem Gesicht, war ihm fremd. »Nun Smokie –, dürfen wir hereinkommen?« fragte Doktor Bowers, »ich habe Colonel Hensman mitgebracht. Der Name ist Ihnen wohl bekannt«, fügte er mit listigem Lächeln hinzu. Smokie stand eine Weile da und starrte seine Gäste an. »Kommen Sie herein«, sagte er endlich. »Ich denke, ich weiß, warum Sie kommen. Sie sind unter dem Bett, alle drei. Wir dachten, Sie wären Wachtmeister Bunting, darum haben sie sich versteckt.« Doktor Bowers stampfte sich den Schnee von den Füßen, und sein Begleiter schüttelte die Nässe von seiner Tweedmütze. »Aber gehen Sie nicht zu hart mit ihnen um, Sir«, sagte Smokie, indem er sich an Colonel Hensman wandte. »Sie sind sehr gut zu mir gewesen, großartige Burschen sind das.« Smokie schaute zum Bett hinüber. »Kommt raus, Jungens, man hat euch geschnappt. Das Spiel ist aus.« Es regte sich in der Ecke, und erleichtert sah Colonel Hensman einen seiner Söhne nach dem andern zum Vorschein kommen. Zuerst tauchte Robin auf, dann der 301
Große John und zuletzt der Kleine John, alle schmutzig mit zerzaustem Haar, zerschrammten Knien und in Felle gekleidet. Endlich waren die Vogelfreien des Forstes von Brendon zur Strecke gebracht worden, eingefangen von ihrem besorgten Vater, der einen Monat vor Beginn seines Urlaubs nach Hause geeilt war.
Epilog Meine Erzählung ist zu Ende, und was könnte passender sein, als daß sie am letzten Abend des alten Jahres endet. Was weiter mit den Vogelfreien geschah, geht uns nichts mehr an. Ich will die gerechten Strafen und die Bußen nicht beschreiben, die sie auf sich nehmen mußten, bevor ihre Untaten gänzlich gesühnt waren. Es wäre überflüssig, von ihrer Rückkehr in den Witwensitz, ihrem Wiedersehen mit ihrer armen Tante Ellen zu berichten. Selbst die Geschichte, wie Smokie später überredet wurde, sich im Hospital zu Brendon von seiner »Nase« heilen zu lassen, das hat nichts mit dieser Geschichte zu tun. Viel Wasser ist seit jenen Tagen den Verborgenen Bach hinuntergeflossen. Der Große John hat seine Angela geheiratet und hat eine verantwortungsvolle Stellung im Ministerium für Forstwirtschaft, Robin ist ein vielbeschäftigter Landarzt mit einer Praxis, die um ein Vielfaches größer ist, als die von Doktor Bowers. Der Kleine John ist Schafzüchter in Neuseeland und liefert das beste Hammelfleisch, das ihr je gekostet habt. All dies nur so nebenbei. Und was den Bären betrifft: man hat nie mehr etwas von ihm gesehen und gehört. Ich weiß nicht, ob Smokies Schrotladung seinem Leben allmählich ein Ende gemacht hat, oder ob er, wie ich mir lieber vorstelle, immer noch verborgen im Forst von Brendon lebt. Aber die Eiche ist noch da, nur wenig verändert seit den herrlichen Sommertagen, als die Vogelfreien zum erstenmal auf die Lichtung traten. Ihre einzigen Bewohner sind heute die braunen Eulen. Wie ich höre, kann man immer noch die Spuren von Smokies Meilern sehen und die Trümmer seiner Hütte, aber der alte Mann ist längst zu seinen Vätern heimgegangen, und die Rauchsäulen seiner Feuer steigen nicht mehr in die windstille Luft. 303
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22
Ein Plan wird gefaßt. . . . . . . . . . . . . . . Die Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Versteck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Jagd beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . Unter des Laubdachs Hut . . . . . . . . . . . Harold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horrido! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nest des Wespenbussards . . . . . . . Bunting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weißfisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mr. Hawkins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Smokie Joe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Picknick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noch einmal Bunting . . . . . . . . . . . . . . Der Dachspelz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doktor Bowers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robin Hood geht auf die Jagd . . . . . . . . Die Glocken von Brendon . . . . . . . . . . Das Weihnachtsmahl . . . . . . . . . . . . . . Aufgestöbert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 24 34 44 54 67 78 89 117 132 139 150 170 190 210 224 244 252 259 272 280 289 303
Im Schatten der Eule Das Buch zur gleichnamigen Fernsehserie
Drei Jungen– 12, 13 und 15 Jahre altwollen der strengen Obhut ihrer Tante entkommen. Ausgestattet mit Bratpfanne, Haferflocken, Jagdmesser und Streichhölzern fliehen sie in das 15 Meilen entfernte Jagdrevier Brendon Chase und finden im Schutz uralter Wälder in einer hohlen Eiche Unterschlupf. Nun müssen die drei ihre ganzen Kräfte einsetzen, um ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu erhalten. Und allmählich begreifen sie die Gesetze des Waldes und machen sie sich zunutze. Mit selbstgebastelten Werkzeugen jagen und fischen sie und überlisten die Erwachsenen, die eine große Suchaktion starten. Viele Monate bleiben sie unentdeckt...
Deutsche Erstausgabe
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Deutscher Taschenbuch Verlag