Linda Warren
Im Schloß der sieben Rätsel Irrlicht Band 347
Eleanor Spencer betrachtete das Bild der schönen schwarzh...
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Linda Warren
Im Schloß der sieben Rätsel Irrlicht Band 347
Eleanor Spencer betrachtete das Bild der schönen schwarzhaarigen Lady mit den dunklen, traurigen Augen. Von irgendwoher ertönten die Klänge eines Spinetts. Und durch das Gewölbe beim unterirdischen Brunnen klang die Stimme der unglücklichen Herrin von Warwick Castle. »Es grünen die Wiesen am River Dee, doch nicht mehr für Lady Mary. Denn stirbt ihre Liebe, dann stirbt auch sie, weint nicht um Lady Mary.« Ein Aufschrei ertönte, ein Klatschen. Ein letzter Seufzer war aus der gähnenden Hefe des Brunnens zu hören. Langsam erlosch das Licht im Gewölbe. Eleanor spürte, daß außer ihr noch jemand – oder etwas anwesend war…
»So, nach Warwick Castle wollen Sie? Haben Sie sich das auch gut überlegt, junge Lady?« Der Bahnhofsvorsteher des kleinen Ortes Cairbain musterte die junge Frau im Reisekostüm wohlwollend. Sie spürte, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Sie hatte sich an ihn gewendet, weil sie nicht von der Bahnstation abgeholt worden war. Ihr Zug hatte Verspätung gehabt. »Weshalb sollte ich mir das gut überlegen?« erkundigte sich Eleanor Spencer. »Würde etwas dagegen sprechen, in Warwick Castle zu arbeiten? Ich bin die Erzieherin des Kindes von Lord Edward. Stephens Gouvernante, wenn Sie so wollen.« Der Bahnhofsvorsteher, ein älterer Mann mit Backenbart, druckste herum. »Ich will nichts gesagt haben. Aber es sind Gerüchte im Umlauf. Es heißt, es sei nicht geheuer im Schloß. Lady Mary, die Gattin des Lords und die Mutter des kleinen Stephen, hat sich ertränkt.« »Jetzt behaupten Sie nur noch, ihr Geist geht um. Schämen Sie sich denn nicht, solche Märchen zu glauben?« Eleanor lachte melodisch. Sie war 22 Jahre alt und stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Das fliederfarbene Kostüm betonte ihre gute Figur. Schlank und biegsam war sie, von aristokratischer Haltung. Das Gesicht unter dem modischen Hut mit dem Schleier war feingeschnitten, wirkte aber energisch. Tiefblaue Augen funkelten den Bahnhofsvorsteher empört an. Dieser räusperte sich verlegen. »Ich sehe, Sie kommen aus London.« Er hatte einen Gepäckanhänger Eleanors gelesen. »Als Großstadtmensch schätzen Sie manche Dinge anders ein. Ich hätte es wissen müssen.«
»Sie irren sich wieder. Ich bin gebürtige Schottin. Ich habe die Stelle bei Lord Warwick angenommen, um wieder in meiner Heimat leben zu können.« Eleanors Eltern waren weggezogen, als sie dreizehn Jahre alt war. Die Sehnsucht nach dem schottischen Hochland hatte Eleanor jedoch niemals losgelassen. »Miß Spencer?« fragte eine Männerstimme. Weder Eleanor noch der Bahnhofsvorsteher hatten den kräftigen Mann mittleren Alters kommen hören. Als Eleanor nickte, grüßte er und fuhr fort: »Ich bin William Iverson und bei Lord Edwards angestellt. Entschuldigen Sie, daß Sie warten mußten.« Verlegen drehte er seinen Hut in den Händen. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich bin im Roten Ochsen gewesen und habe ein Ale getrunken, weil ich glaubte, der Zug würde erst später eintreffen.« Seine Offenheit gefiel Eleanor. »Jetzt sind Sie ja da, Mr. Iverson. Können wir zum Schloß fahren? Es ist spät, und die Reise war lang.« »Nennen Sie mich doch Will, das tun alle. Das Mister Iverson irritiert mich nur.« Der Mann war nähergetreten und hatte zwei von Eleanors Koffern angepackt. »Es sind Bücher darin«, erklärte Eleanor. »Sie sind bestimmt sehr schwer.« »Na ja. Ich habe zwar nie verstehen können, wie es Menschen Freude bereiten kann, Seiten umzublättern und die vielen gedruckten Worte zu lesen – aber jedem das Seine. Der Wagen steht draußen.« »Dann gehen wir.« Eleanor nahm einen leichteren Koffer. Als sie die Hand auch noch nach der Reisetasche ausstreckte, wehrte der Bahnhofsvorsteher ab. Er trug das restliche Gepäck. Als sie die
Halle verließen, blies ihnen ein kalter, frischer Wind ins Gesicht. Es roch nach Torf und Rauch. Eleanors Herz schlug vor Freude. Das war der Geruch der Heimat! Es dämmerte schon. In den Häusern von Cairbain brannte Licht. Zwei Kinder, das eine mit einer Milchkanne in der Hand, liefen übermütig lachend die Straße entlang. Eleanor lächelte. Zum ersten Mal seit längerer Zeit wich die Bedrückung von ihr, die sie empfunden hatte, nachdem Charles sie verlassen hatte. Charles Wright, der Sproß einer der angesehensten Londoner Familien. Ein angehender Rechtsanwalt, reich, gutaussehend, charmant. Aber ohne Charakter. Er hatte Eleanor kaltlächelnd fallengelassen, als sich ihm eine, wie er glaubte, bessere Partie bot. Danach hatte es Eleanor in London nicht mehr ausgehalten. Ihre Eltern lebten noch in London. Eleanors Brüder waren sechs und acht Jahre jünger als sie. Eleanor hatte erst vor kurzem ihr Examen als Lehrerin bestanden. Da sie keine Anstellung im öffentlichen Schuldienst finden konnte und von London wegwollte, hatte sie sich an eine Agentur gewendet, die sie nach Warwick Castle vermittelte. Nach Schottland. Würde die nie vergessene Heimat ihr gebrochenes Herz heilen? Der Wagen, den Lord Edward geschickt hatte, erwies sich als Rolls Royce älteren Baujahrs. Man lud das Gepäck ein. Der Bahnhofsvorsteher nannte Eleanor seinen Namen – Phil Macpherson – und teilte ihr mit, daß sie sich jederzeit an ihn wenden könne. Er bat sie, ihn und seine Familie einmal zu besuchen. Dahinter steckte gewiß die Neugierde, Näheres über die
Verhältnisse in Warwick Castle zu erfahren, vermutete Eleanor. »Lord Edward lebt mit seinem Sohn sehr zurückgezogen«, erklärte Will Iverson, als sie losfuhren. »Deswegen gibt es allerlei Gemunkel hier im Ort. Zu Lady Marys Zeit war es anders. Sie liebte Geselligkeiten und Feste.« »Woran starb sie denn?« fragte Eleanor harmlos. Iversons Gesicht wurde verschlossen. Er bremste hart, als eine Schafherde die Straße überquerte. »Darüber unterhalten Sie sich am besten mit Lord Edward«, antwortete der Mann kurz angebunden. »Hat Ihnen der alte Macpherson irgendwelche Schauergeschichten erzählt?« »Er erwähnte etwas. Aber er war recht zurückhaltend.« »Das ist auch besser für ihn. Tun Sie Ihre Arbeit ordentlich, Miß Spencer, und kümmern Sie sich nicht um Dinge, die außerhalb Ihres Bereichs liegen. Dann werden Sie in Warwick Castle keinerlei Schwierigkeiten haben. Und geben Sie nichts auf das Geschwätz der Leute. Ein Teil des Dienstpersonals klatscht auch. Lord Edward, der sonst ein ruhiger und umgänglicher Mann ist, wird fuchsteufelswild, wenn er davon erfährt.« Mittlerweile hatte sich ein Gewitter zusammengebraut. Schwer und drohend hingen die Wolken über den Grampian Mountains. Noch bevor der Wagen das Schloß erreichte, brach das Unwetter los. Regen prasselte auf den Wagen nieder. Die Blitze zuckten, es krachte der Donner. Der Chauffeur war auf einen Seitenweg abgebogen, der sich an einem Bach entlang durch das Hügelland schlängelte Eleanor erblickte Warwick Castle zum ersten Mal im grellen Licht eines Blitzes. Das Schloß war im Tudorstil erbaut. Mit mehreren Türmen, Erkern und Giebeln stand es am Berghang. Es war von einem Wassergraben
umgeben. Der Bach, ein Nebenlauf des Dee, speiste ihn. Warwick Castle wirkte düster und bedrückend. »Ein Hundewetter«, brummte Iverson, der kaum noch den Weg vor sich erkennen konnte. »Hoffentlich spült uns der Regen die Zufahrtsstraße zum Schloß nicht wieder fort. Das ist schon einmal passiert.« Eleanor blickte angestrengt zum Schloß. Ihr Herz hämmerte, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie rief sich selber zur Ordnung. Was erwartest du denn zu sehen? fragte sie sich. Den Geist der verblichenen Lady Mary? In diesem Gewitter würde der Buckingham Palace genauso unheimlich wirken. Eine steinerne Brücke führte über den Schloßgraben. In früheren, kriegerischen Zeiten hatte es auch eine Zugbrücke gegeben. Sie war aber schon längst durch eine neue ersetzt worden. Der Wagen hielt endlich im Schloßhof. Iverson spannte den Schirm für Eleanor auf und brachte sie zum Eingang. Nach mehrmaligem Läuten öffnete eine pferdegesichtige ältere Frau das Portal. »Ach, du bist es, Will, mit der Miß aus London. Treten Sie ein, Miß Spencer. Lord Edward erwartet Sie schon.« »Mein Gepäck ist noch draußen«, erinnerte Eleanor. »Dafür sorgen wir schon. Begrüßen Sie Seine Lordschaft, dann können Sie sich erfrischen und am Dinner teilnehmen. Dabei lernen Sie auch gleich Stephen, Ihren Zögling, kennen. Ich bin übrigens Maggie McIntosh, die Beschließerin. Ich habe das weibliche Schloßpersonal unter mir. Sie unterstehen jedoch nur seiner Lordschaft.« Eleanor reichte ihr die Hand. »Folgen Sie mir bitte, Miß Spencer«, forderte Maggie McIntosh sie dann auf. Eleanor kam durch eine hohe Halle mit Ritterrüstungen und altertümlichen Gemälden. Es führte eine Treppe mit schön geschnitztem Geländer in die oberen Etagen. Draußen grollte
der Donner, der Regen rauschte. Aber die dicken Mauern von Warwick Castle trotzten dem Unwetter, das nur gedämpft zu vernehmen war. Der Schloßherr mußte wohlhabend sein und auf Solidität Wert legen, das erkannte Eleanor gleich. Das Schloß hatte bestimmt fünfzig Zimmer und wies einen Dienstbotentrakt und Seitenflügel auf. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich hier auskenne, dachte Eleanor. Mrs. McIntosh blieb im Gang stehen und klopfte an eine Tür. Ein gedämpftes »Herein« ertönte. Die Beschließerin öffnete und ließ Eleanor eintreten. Neugierig sah sie sich um. Die Portieren vor den Fenstern waren geschlossen. Nur das Kaminfeuer und eine Tischlampe beleuchteten das große Arbeitszimmer mit dem schweren Schreibtisch und den Buchregalen an den Wänden. Der Mann hinter dem Schreibtisch erhob sich, als Eleanor auf ihn zukam. »Das ist Miß Spencer aus London«, stellte Maggie McIntosh vor. »Miß Spencer, das ist Lord Edward Warwick.« Der Lord kam auf Eleanor zu. Sein Händedruck war warm und fest. »Herzlich willkommen in Warwick Castle«, begrüßte er sie. Ein besonders lauter Donnerschlag krachte und ließ die Fensterscheiben klirren. Eleanor zuckte unwillkürlich zusammen. »Sie haben kein gutes Wetter mitgebracht, Miß Spencer«, bemerkte der Lord. »Wollen wir hoffen, daß es kein Vorzeichen für Ihren Aufenthalt in Warwick Castle ist.« Es sollte ein Scherz sein, aber er verfehlte seine Wirkung völlig. Mrs. McIntosh schaltete das Deckenlicht ein. Jetzt konnte Eleanor Lord Edward genauer betrachten. Er war groß und stattlich. Sein Alter konnte Eleanor nicht genau
bestimmen. Sein braunes Haar war an den Schläfen ergraut. Das markante Gesicht trug einen schwermütigen Ausdruck. Der Lord hätte gut ausgesehen, wäre da nicht der bittere Zug um seinen Mund gewesen. Seine dunklen Augen verrieten Eleanor eine Qual, wie sie sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Nur einmal hatte Eleanor etwas Ähnliches erblickt: Auf einem Gemälde von Goya, das die Verdammten in der Hölle zeigte. Die Augen eines Mannes, dessen Oberkörper aus dem Feuer ragte, hatten den gleichen Eindruck bei Eleanor hervorgerufen wie die von Lord Edward. Und es hatte eines Künstlers wie Goya bedurft, um ihn auf die Leinwand zu bringen.
*
Eine Dreiviertelstunde später saß Eleanor mit Lord Edward und dem siebenjährigen Stephen im Eßzimmer beim Dinner. Eleanor hatte sich umgezogen und ein langes Kleid mit Bluse gewählt. Sie trug das Haar aufgesteckt, um älter und seriöser zu erscheinen, so wie sie sich eine Gouvernante vorstellte. Ein Dienstmädchen servierte das Essen. Es gab zwei Dienstmädchen im Schloß, Hester und Liza Snort. Sie waren eineiige Zwillinge und für Eleanor nicht auseinanderzuhalten. Eleanor hatte das Personal, es waren sechs Personen, bis auf den Gärtner und Stallburschen, bereits kennengelernt. Mrs. McIntosh, die sich ihr mit dem altertümlichen Titel einer Beschließerin vorgestellt hatte, war außerdem auch die Köchin.
Es gab auch noch einen Hauslehrer für den kleinen Stephen, Bruce Fergusson. Er war zur Zeit in Aberdeen bei Verwandten zu Besuch. Man erwartete ihn bald zurück. Eleanor interessierte sich aber besonders für Stephen. Der Junge saß in seinem blauen Samtanzug unnatürlich artig am Tisch. Er hatte braunes, leicht gelocktes Haar und sah ziemlich blaß aus. Eleanors jüngere Brüder waren in diesem Alter viel lebhafter gewesen. Sie hatten bei Tisch keinen Moment Ruhe gegeben und ihren Vater, den würdigen High School-Rektor, an den Rand der Verzweiflung gebracht. Stephen sprach nur, wenn er gefragt wurde, antwortete höflich und handhabte Messer und Gabel geschickt und lautlos. Eleanor schenkte er keine Aufmerksamkeit. Er hat Angst, dachte Eleanor. Die Atmosphäre im Schloß bedrückt ihn. Er wagt nicht, sich zu regen, der arme kleine Kerl. Mitleid mit dem Kind überkam sie. Für Stephen wäre es besser gewesen, eine öffentliche Schule zu besuchen. Aber das wollte sein Vater anscheinend nicht. Und die Mutter hatte sich das Leben genommen, wenn es stimmte, was der Bahnhofsvorsteher Eleanor erzählt hatte. Nach dem Essen kam Mrs. McIntosh, um Stephen in sein Zimmer zu bringen. Er sollte bald schlafen gehen. Das Gewitter war abgeflaut. Doch es regnete immer noch. In der Ferne grollte der Donner. Eleanor strich Stephen liebevoll über das Haar, als er sich von ihr verabschiedete. Er hielt den Blick gesenkt. »Schlaf gut, Stephen«, meinte Eleanor freundlich. »Wir beide werden uns ab morgen besser kennenlernen und hoffentlich gut verstehen. Möchtest du mir dann das Schloß zeigen? Ich bin sehr gespannt auf dein Zuhause, das jetzt auch das meine ist.« »Mr. McIntosh wird Sie herumführen, Miß Spencer«, warf Lord Edward ein.
John McIntosh, Maggies Mann, war der Butler von Warwick Castle. Bei der Vorstellung war er Eleanor nicht sehr sympathisch erschienen. Er näselte, und seine Augen hatten sie kalt und unfreundlich angesehen. »Stephen schafft das schon«, sagte Eleanor. »Du bist doch so nett, Stephen?« Zum ersten Mal blickte der Junge ihr direkt in die Augen. »Gern, Miß Spencer. Gute Nacht, Papa.« Er verließ das Zimmer, ohne seinem Vater einen Kuß zu geben oder ihn zu umarmen. Lord Edward legte die Serviette weg. Eleanor fragte sich, ob dieser Mann jemals lächelte. Zwei tiefe Falten standen auf seiner Stirn. Er wirkte streng und unnachgiebig. Wie alt mochte er sein? Vierzig? Eher fünfundvierzig, entschied Eleanor, vielleicht sogar fünfzig. Für sie war das schon ein Greisenalter. Charles war sechsundzwanzig gewesen. »Sie haben Stephen jetzt kennengelernt, Miß Spencer«, begann Lord Edward unvermittelt. »Er hat vor vier Jahren unter tragischen Umständen seine Mutter verloren.« Die Erinnerung stimmte ihn sichtlich noch bitterer. »Sie dürfen sie, auch wenn er Sie nach ihr fragen sollte, niemals erwähnen. Darauf lege ich größten Wert. Der Junge ist schon verwirrt genug. Stephen ist ein sehr phantasiebegabtes Kind. Lassen Sie sich daher von ihm nicht irgendwelche Schauermärchen erzählen.« »Schauermärchen welcher Art?« fragte Eleanor, ihren ganzen Mut aufbringend. Lord Edwards Art lud nicht zu Vertraulichkeiten ein. »Keine bestimmten«, antwortete er schroff. »Die Schotten sind ein abergläubisches Volk. Sie müßten das wissen, Miß Spencer, schließlich sind Sie selbst Schottin. Sie sind in der Tradition des schottischen Hochlandes aufgewachsen, haben
Sie in Ihrer Bewerbung erwähnt. Das gefiel mir, denn darauf lege ich bei Stephens Erziehung großen Wert.« Lord Edward zögerte. Offensichtlich redete er sonst nicht soviel zu seinen Untergebenen. »Sie sind noch sehr jung«, fuhr er fort, »für meine Begriffe jedenfalls. Aber Stephen soll eine junge Frau als Erzieherin haben, wenn er schon die Mutter entbehren muß. Miß Spencer, wir führen in Warwick Castle ein einfaches, geregeltes Leben. Falls Sie auf Vergnügungen und Zerstreuungen Wert legen, werden Sie enttäuscht sein. Ich sage Ihnen das gleich, um Mißverständnissen vorzubeugen. In Cairbain sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Dort werden Sie kaum etwas finden, was Sie interessieren dürfte. Die nächste Großstadt ist Aberdeen. Dorthin sind es aber sechzig Kilometer.« Wofür hält er mich? dachte Eleanor. Für ein Mädchen, das jeden Abend in Diskotheken ging und ständig neue Freunde hatte? Steif erwiderte sie: »Ich bin mir über die Besonderheiten und Anforderungen dieser Stellung durchaus im klaren, Lord Edward. Ich habe mir meinen Entschluß reiflich überlegt hierher zu gehen. Jetzt möchte ich mich jedoch zurückziehen, ich bin sehr müde.« »Das kann ich verstehen.« Lord Edwards angespannte Haltung lockerte sich. Zum ersten Mal bemerkte Eleanor so etwas wie Menschlichkeit bei ihm. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Gute Nacht, Miß Spencer. Schlafen Sie gut. Ich hoffe auf eine angenehme Zusammenarbeit. Stephen braucht dringend eine junge Frau, der er sich anvertrauen und die er ins Herz schließen kann.« Seine Stimme klang sehr herzlich. Eine Wiederverheiratung schloß Seine Lordschaft anscheinend aus.
Eleanor wunderte sich darüber, denn der Lord war reich und ein stattlicher Mann. Sie grübelte darüber nach, als sie in ihrem Bett lag und der Regen laut an ihre Fenster prasselte. Schließlich wurde Eleanor aber von Müdigkeit übermannt. In ihrer ersten Nacht im Schloß schlief sie tief und traumlos.
*
Am nächsten Tag begann Eleanor mit ihren Pflichten als Erzieherin. Am Frühstückstisch lernte sie Mr. Fergusson, Stephens Hauslehrer, kennen. Fergusson erwies sich als ein ungelenker, langgliedriger Mann Mitte Zwanzig mit Lederflicken auf den Ellbogen seiner Tweedjacke. Er war Frauen gegenüber sehr schüchtern. Als Eleanor ihn um das Salz bat, lief er vor Verlegenheit rot an. Hester – oder war es Liza? –, die gerade servierte, konnte nur schwer ein Lachen unterdrücken. Lord Edward hatte schon gefrühstückt und hielt sich im Arbeitszimmer auf. Stephen frühstückte mit dem Hauslehrer und Eleanor. Er sprach kaum. Verschlossen und blaß saß er da. Bruce Fergusson unterrichtete ihn bisher allein. Ob Eleanor später weitere Unterrichtsfächer übernehmen würde, mußte sich noch herausstellen. Während des Unterrichts hatte sie frei und schlenderte durchs Schloß. Alles war neu für sie. Es war Sommer, doch, wie in Schottland üblich, ziemlich kühl. Hinter dem Schloß war der Chauffeur damit beschäftigt, den Rolls Royce zu waschen und zu polieren. Der Gärtner sah Iverson bei der Arbeit zu und unterhielt sich mit ihm. Das mußte McCord sein, der im Garten nach dem Rechten sah und Stallbursche war. Seine krummen Beine ragten unter einem Schottenrock vor. Das Gesicht des Mannes wies
zahllose Falten und Runzeln auf. Die beiden hatten Eleanor nicht bemerkt, da sie durch eine Hecke vor ihnen verborgen war. Die junge Frau blieb unvermittelt stehen, als sie einen Teil des Gesprächs der zwei Männer mitbekam. »Hat Lady Mary sich in der letzten Zeit wieder mal bemerkbar gemacht?« fragte Iverson. »Sonst hat man viele Nächte ihr Spinett vernommen.« »Entweder in ihren Räumen im Westflügel oder im Gesellschaftszimmer«, antwortete McCord. »Jetzt war eine Weile Ruhe. Ich hoffe, daß dieser Spuk endlich beendet ist.« Eleanor sollte in Kürze erfahren, daß die Gesellschaftsräume über dem Dienstbotentrakt im Erdgeschoß des Ostflügels lagen. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. »Das Licht im Westturm brennt öfter, erzählten mir Hester und Liza«, bemerkte Iverson. »Sie wollen von dort auch schon Geschrei gehört haben. Eine Kinderstimme. Maggie McIntosh und ihr steifer John dürfen als einzige vom Personal die oberen Räume im Westflügel betreten. Manchmal frage ich mich, was da eigentlich vor sich geht. Lord Edward ist seit Lady Marys Tod wie ausgewechselt. Früher war er ein umgänglicher, lebensfroher Mann. Jetzt vergräbt er sich in seiner Arbeit. Manchmal zeigt sein Gesicht einen Ausdruck, daß einem Angst werden kann.« »Wie würdest du dich wohl benehmen, wenn man deine Frau aus dem Schloßgraben gefischt hätte? Die näheren Umstände von Lady Marys Tod sind leider niemals aufgeklärt worden. Sie war noch so jung und lebenslustig, als Lord Edward sie heiratete. In den ersten Jahren ihrer Ehe gab es oft Feste und Bälle in Warwick Castle. Dann strahlte das Schloß im Lichterglanz, eine ganz andere Atmosphäre herrschte hier. Aber dann muß irgend etwas vorgefallen sein. Lady Mary litt an einem geheimen Kummer. Sie siechte förmlich dahin. Und
Lord Edward unternahm nichts, um ihr zu helfen. Im Gegenteil.« »Ja, die beiden hatten oft Streit«, stimmte Iverson zu. »Auch vor dem Kind.« »Was sollen diese Gespräche?« fragte da die Stimme des Butlers direkt hinter Eleanor. Der steife John hatte sich unbemerkt genähert. »Mr. McCord, gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, sonst muß ich es Seiner Lordschaft melden.« Die beiden Männer erschraken genau wie Eleanor. Der Butler trug, ebenso wie McCord, einen Kilt. Mit blasiertem Gesicht wendete er sich dann an Eleanor. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Miß Spencer? Suchen Sie jemanden oder möchten Sie etwas wissen?« »Ich sehe mich nur ein wenig um«, antwortete Eleanor verlegen. Es war ihr unangenehm, beim Lauschen ertappt worden zu sein. »Ich wollte Mr. Iverson und Mr. McCord nicht stören«, fügte sie erklärend hinzu. »Daher habe ich mich nicht bemerkbar gemacht.« Der Butler nickte gemessen, dann ging er davon. Eleanor grüßte den Chauffeur und den Gärtner, die beide wieder eifrig zu arbeiten begonnen hatten. Sie stellte sich McCord vor, wechselte einige freundliche Worte mit ihm und kehrte bald ins Schloß zurück. Iverson und McCord blickten ihr nachdenklich nach.
*
Nach dem Lunch führte Stephen seine neue Erzieherin durch das Schloß. Sie begannen im Ostflügel, wo im Erdgeschoß die Personalräume und die Küche lagen. Außerdem Stephens Schlafzimmer, das neben dem von John und Maggie McIntosh
lag. Der Hauslehrer Fergusson war in der zweiten Etage untergebracht. In den oberen Stockwerken gab es noch die Gesellschaftsräume und Salons. Die Zimmer und Kammern im Dachgeschoß des Ostflügels und des mittleren Teils des Schlosses wurden nicht mehr benutzt. Im Mittelteil befanden sich die große Halle, die Ahnengalerie und die Bibliothek. Im Erdgeschoß und im ersten Stock des Westflügels wohnte und arbeitete Lord Edward. Stephen hatte dort sein Kinderzimmer und einen Unterrichtsraum. Während er Eleanor das Haus zeigte, wurde der kleine Junge zutraulicher. Als er sogar ihre Hand nahm, um sie zu führen, war Eleanor eigenartig berührt. Das Kind hungerte nach Zärtlichkeit und Zuwendung. Es hatte ein ganzes Schloß mit Personal zur Verfügung und war doch einsam und unglücklich. Vor der Treppe zum zweiten Stock blieb Stephen plötzlich stehen. »Wollen wir nicht hinaufgehen?« fragte Eleanor erstaunt. Stephen deutete auf das Seil, das als Absperrung quer über die breite Treppe gespannt war. »Wir dürfen nicht hinauf«, sagte er leise. »Dort oben lagen die Räume meiner Mutter. Im Westturm hatte sie sich ein Atelier eingerichtet. Mein Vater ließ alles absperren, nachdem… nachdem sie fort war. Niemand darf diesen Teil des Schlosses betreten.« Stephen schluchzte auf. Dann rannte er davon. Eleanor blickte einen Moment die Treppe hinauf und folgte nach kurzem Zögern langsam dem Jungen. Sie fand Stephen in seinem Spielzimmer. Eleanor setzte sich neben ihn und strich ihm leicht über die Haare.
Lord Edward hatte es ihr zwar verboten, trotzdem fragte sie den Jungen: »Erinnerst du dich an deine Mutter? Du bist doch noch sehr klein gewesen, als sie gestorben ist.« »Sie ist nicht tot«, antwortete Stephen leise. »Aber wie kannst du so etwas sagen, Stephen? Ganz gewiß ist sie im Himmel.« »Nein, hier im Schloß«, antwortete der Junge heftig. »Ich weiß es. Manchmal höre ich sie in der Nacht. Dann besucht sie mich in meinem Zimmer, gibt mir einen Kuß auf die Wange und erzählt mir Geschichten.« »Was denn für Geschichten?« fragte sie zweifelnd. »Von Drachen, Prinzessinnen und verwunschenen Prinzen. Von armen, tapferen Jünglingen, Ungeheuern und bösen Zauberern.« Stephen hatte tatsächlich eine blühende Phantasie. »Hast du eigentlich Freunde, Stephen?« fragte sie, um das Kind von dem Thema abzulenken. »Manchmal nimmt Will mich ins Dorf mit, dann spiele ich dort mit den anderen Kindern«, antwortete der Junge. »Ins Schloß kommen die Kinder aus Cairbain selten. Nur wenn wir eine Kinderparty geben.« »Wie heißt denn dein bester Freund?« wollte Eleanor weiter wissen. Es lag ihr viel daran, den Jungen besser kennenzulernen. »Sir Gregory. Das ist ein Ritter aus den Märchen, die meine Mutter mir immer erzählt. Er ist der Tapferste, Edelste und der Stärkste.« Die Worte sprudelten geradezu hervor. »Ich meine, einen lebendigen Freund.« »Will ist mein Freund.« Eleanor bedauerte Stephen tief. Er hatte keine richtigen Spielkameraden und keinen gleichaltrigen Freund. Die beste
Erzieherin und die blendendsten Hauslehrer konnten die Gesellschaft von Kindern nicht ersetzen. Eleanor schwieg eine Weile. Sie wußte mittlerweile, daß Will Iverson, der Chauffeur, ein Häuschen in Cairbain besaß. Dort wohnte er mit seiner Frau, die nicht fest im Schloß angestellt war, aber gelegentlich aushalf. Die Iversons hatten zwei Töchter von fünfzehn und siebzehn Jahren. Die größere ging in Aberdeen in die Lehre. Das restliche Personal, auch die Zwillinge Hester und Liza, wohnten im Schloß. Eleanors Zimmer befand sich im ersten Stock des Ostflügels, am anderen Ende des Korridors, auf dem auch der Hauslehrer Fergusson sein Zimmer hatte. Eleanor wollte Stephen auf andere Gedanken bringen. »Jetzt habe ich das ganze Schloß gesehen, bis auf die Kellerräume«, meinte sie fröhlich. »Wie ist es denn dort unten?« »Gruslig«, antwortete Stephen. »Dort liegen der Wein- und der Vorratskeller. Aber es gibt dort unten auch noch Verliese und eine Folterkammer.« Das interessierte Eleanor brennend. Sie hatte die schottischen Balladen gelesen und die Erzählungen von Sir Walter Scott. Sie war sehr romantisch veranlagt, daher wollte sie sich solche Sehenswürdigkeiten nicht entgehen lassen. »Zeigst du mir auch den Keller?« fragte Eleanor. »Danach gehen wir hinaus in den Park und spielen Ball.« Stephen nickte begeistert. Er besorgte eine Taschenlampe, denn nicht alle Kellergänge waren beleuchtet. Dann machten sie sich auf den Weg. Sie hatten die Treppe zum Kellergewölbe fast erreicht, als sie dem Butler begegneten. Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte er, wo sie hinwollten. Stephen erklärte es ihm. »Finden Sie das geeignet, Miß Spencer? Mit dem Kind in die düsteren Gewölbe hinunterzusteigen?« fragte der Butler.
»Ich möchte das Schloß kennenlernen«, antwortete Eleanor knapp. »Dazu gehören doch auch die Gewölbe. Wir werden uns aber nicht lange dort aufhalten.« Der Zugang zum Kellergewölbe war offen. Der Wein- und der Vorratskeller waren ungewöhnlich groß. Sie waren dazu geschaffen worden, Nahrungsmittel selbst für lange Belagerungszeiten aufzunehmen. Wie Eleanor wußte, hatte vor Warwick Castle hier eine Burg gestanden, die im fünfzehnten Jahrhundert von Feinden erobert und zerstört worden war. Warwick Castle war später auf den alten Fundamenten erbaut worden. Die Gewölbe der alten Burg waren gut erhalten geblieben. Vom Vorratskeller zweigte ein Gang ab, den ein eisernes Fallgitter versperrte. Stephen hatte einen Schlüsselbund mitgenommen, der in einer Nische an der Kellertreppe gehangen hatte. Er schob einen Vierkantschlüssel in die dafür vorgesehene Öffnung in einer Mauerritze. Das Gitter hob sich rasselnd und quietschend. Die Stäbe hatten an ihren unteren Enden lange Spitzen mit Widerhaken, stellte Eleanor schaudernd fest. Langsam ging sie weiter. Die Luft wurde immer muffiger und feuchter. Schließlich hatten sie das Ende des Gangs erreicht. Er teilte sich in zwei Verliese und einen Gang, die durch Fallgitter verschlossen waren. Aus welchen Gründen auch immer, war einmal eine Lichtleitung hierher gelegt worden. Stephen knipste das Licht an. Eine trübe Glühbirne brannte an der Decke. Eleanor sah in die dumpfen Verliese. Rostige Ketten und Ringe waren an den Wänden angebracht worden. Diese Räume hatten noch niemals einen Schimmer Tageslicht gesehen. Es war feucht und unheimlich. Stephen hielt sich dicht hinter Eleanor gedrängt. Er zitterte, und
Eleanor machte sich Vorwürfe, ihn mit an diesen Ort genommen zu haben. »Dort drüben ist die Folterkammer«, flüsterte Stephen ängstlich und wies zu einer Tür, die Eleanor bisher noch nicht bemerkt hatte. Neugierig ging sie darauf zu. Quietschend öffnete sich die schwere mit Metallbändern beschlagene Tür. Eleanor sah neugierig in ein niederes Gewölbe, aus groben Bruchsteinen gemauert, von mehreren nach oben breit ausladenden Säulen gestützt. Erst allmählich wurde ihr der Verwendungszweck der Geräte klar, über die der Lichtkegel der Taschenlampe hinwanderte. Es gab eine Streckbank, eine guterhaltene Eiserne Jungfrau, Ringe, die an Ketten von der Decke baumelten und an die man Unglückliche mit schweren Gewichten an den Füßen gehängt hatte. Eleanor sah Daumenschrauben und Spanische Stiefel, einen Holzbock mit scharfer Kante und manches andere. Sie wendete sich angewidert ab. Wie viele Schmerzensschreie, Seufzer und Tränen mochten die dicken Wände in früheren Jahrhunderten gehört und gesehen haben? Keiner kannte mehr die Namen der Unglücklichen, die hier unten grausame Torturen erlitten hatten, noch die jener, die sie ihnen zugefügt hatten. Eleanor sehnte sich plötzlich nach Licht, Luft und Sonne. Sie wollte weg aus diesen furchtbaren Kammern. Sie ergriff Stephen an der Hand und zog ihn eilig mit sich fort. Doch an der Stelle, wo die beiden Verliese lagen, wurde nochmals ihre Wißbegierde wach. Denn sie entdeckte noch einen Gang, der ebenfalls durch Gitter verschlossen war. Neugierig leuchtete sie in das Dunkel dahinter. Ein schrilles Kreischen erscholl, etwas löste sich von der Decke und flatterte an Eleanor und Stephen vorbei. Eleanor spürte den Luftzug von kleinen Flügeln. Sie fuhr entsetzt zusammen. Stephen schrie vor Schreck auf. Doch dann
lachten beide erleichtert auf. Es war eine Fledermaus gewesen, die mit dem Kopf nach unten an der Decke gehangen hatte. Sie verschwand in einem der anderen Gänge. Eleanor leuchtete abermals durch das Gitter. Gerade wollte sie Stephen fragen, wohin dieser Gang führte, als sie hinter sich Schritte hörte. Es war Lord Edward, der sie unfreundlich ansah. »Was haben Sie hier unten zu suchen, Miß Spencer?« fuhr er Eleanor barsch an. Der Butler mußte seinem Herrn Meldung erstattet haben, vermutete Eleanor. Doch sie ließ sich von Lord Edward nicht einschüchtern. »Ich wollte das Schloß kennenlernen«, erklärte sie so ruhig wie möglich. »Daher hat Stephen mir auch die Kellergewölbe gezeigt. Können Sie mir sagen, Lord Edward, warum dieser Gang verschlossen ist?« »Das Gewölbe dahinter ist vom Einsturz bedroht. Daher wäre es lebensgefährlich, diesen Gang zu betreten. Er führt zu unserem unterirdischen Schloßbrunnen. Die Erbauer der Burg, die vor Schloß Warwick hier stand, hatten für alle Fälle vorgesorgt. Sie mußten auch Wasser haben, falls sie belagert und von der Außenwelt abgeschlossen wurden.« »Ist der Brunnen tief?« erkundigte Eleanor sich neugierig. »Ich glaube schon«, kam die knappe Antwort. »Ich war schon lange nicht mehr dort. Dieser Gang wird nicht mehr benutzt.« »Und wo kommen diese Fußspuren her?« Eleanor leuchtete durch das Gitter. Man sah deutlich im Staub die Spuren von Männerschuhen. Sie waren noch ziemlich frisch. Lord Edward ging jedoch nicht auf ihre Frage ein. »Folgen Sie mir jetzt bitte nach oben, Miß Spencer. Du kommst natürlich auch mit, Stephen. Das ist kein Ort für ein Kind. Miß Spencer, ich muß mich sehr wundern. Ich hätte Sie
für vernünftiger gehalten, als sich mit einem Kind an diesen düsteren Ort zu begeben.« Lord Edward winkte ihnen, ihm zu folgen. »Ich wünsche Sie in meinem Arbeitszimmer zu sprechen, Miß Spencer. In einer Viertelstunde«, meinte er schroff zu Eleanor, nachdem sie wieder das Erdgeschoß erreicht hatten. Dann wendete er sich ab, ohne seinem Sohn ein Wort oder einen Blick zu gönnen.
*
»Sie müssen sich in Warwick Castle einfügen, Miß Spencer«, verlangte Lord Edward. »Dazu gehört, daß Sie meine Anordnungen respektieren, ob sie Ihnen nun sinnvoll erscheinen oder nicht. Leider muß mein Sohn Stephen ohne Mutter aufwachsen. Ich kann es aber nicht ändern. Stephen soll eine möglichst gute Ausbildung haben. Durch eine Erzieherin und einen Hauslehrer halte ich das vorerst für gegeben. Später wird man dann weitersehen.« »Ein Kind braucht vor allem Liebe, Wärme und Geborgenheit«, wandte Eleanor erregt ein. »Die müssen Sie Stephen geben, denn Sie sind sein Vater, Lord Edward. Ein Kind muß eine Bezugsperson haben, zu der es mit allen Sorgen und Nöten kommen kann. Einen Menschen, dem es voll und ganz vertraut und der immer für es da ist.« »Das weiß ich, Miß Spencer«, erklärte er schroff. »Wir wollen jetzt aber durchsprechen, wie ich mir Stephens Erziehung und Ihre Aufgabe in Schloß Warwick vorstelle. Vorab jedoch noch etwas anderes. Sie wissen, daß Sie den Räumen in den oberen Geschossen des Westflügels fernzubleiben haben. Dort hat niemand Zutritt außer mir und
Mr. und Mrs. McIntosh. Falls Sie diesem Verbot zuwiderhandeln, zieht es Ihre sofortige Entlassung nach sich. In den Gewölben unter dem Schloß wünsche ich Sie auch nicht mehr zu sehen. Falls Sie Fragen haben oder etwas Ungewöhnliches bemerken, so wenden Sie sich entweder an Mr. McIntosh oder direkt an mich.« »Wie Sie wünschen, Lord Edward.« Es widerstrebte Eleanor, sich von dem Lord kommandieren zu lassen. Er schien es gewohnt zu sein, seinen Willen durchzusetzen. An der Meinung seiner Angestellten lag ihm anscheinend nichts. Doch in einer so wichtigen Sache wie dem Wohl ihres Zöglings Stephen konnte Eleanor nicht nur blindlings nach Weisungen handeln. Sie begriff immer mehr, daß ihre Aufgabe in Schloß Warwick sehr schwer sein würde. Lord Edward sprach dann mit ihr über ihren Stundenplan. Er befürwortete es, daß Eleanor seinen Sohn in musischen Fächern unterwies. Für das Rechnen, Schreiben und Lesen war Bruce Fergusson verantwortlich. Eleanor sollte Stephens Hausaufgaben überwachen. Bisher war Maggie McIntosh dafür zuständig gewesen. Aber sie hatte selbst keine besondere Schulbildung genossen, und ihr fehlten die Kenntnisse, um den aufgeweckten, intelligenten Stephen zu fördern und zu unterweisen. »Das wäre dann wohl alles«, schloß Lord Edward. »Berichten Sie mir regelmäßig von Ihren Fortschritten und Stephens Entwicklung. Haben Sie im Schloß alles vorgefunden, was Sie brauchen?« »Ich komme zurecht«, antwortete Eleanor kühl. »Vielleicht ist der Zeitpunkt noch zu früh, doch ich möchte trotzdem ein Thema anschneiden, das mir sehr am Herzen liegt, Euer Lordschaft. Für ein empfindsames Kind wie Stephen ist die Atmosphäre in Warwick Castle dumpf und bedrückend. Hier ist er ständig unter Erwachsenen, und seine seltenen Ausflüge
nach Cairbain reichen nicht aus, um einen Kontakt mit Gleichaltrigen herzustellen. Ich zweifle Mr. Fergussons Fähigkeiten nicht an. Aber ich bin der Ansicht, daß Stephen eine öffentliche Schule besuchen sollte.« »Wohl gar die Dorfschule in Cairbain«, bemerkte der Lord spöttisch. »Sie waren nie dort, Miß Spencer. Es gibt dort zwei Klassen, eine für die jüngeren Kinder und eine für die älteren. Zur Zeit der Rübenernte fehlen viele Schüler, weil sie auf dem Acker ihrer Eltern helfen müssen.« Die Einwohner von Cairbain lebten größtenteils von der Landwirtschaft. Industrie gab es nicht, außer einer Tongrube und einer Torfstecherei mit Fabrik. »Dann sollte Stephen ein Internat besuchen«, antwortete Eleanor ohne zu zögern. »Ich weiß, daß dann keine Erzieherin nötig wäre. Aber für Stephen wäre es besser. Er könnte am Wochenende nach Hause kommen.« Lord Edward blickte Eleanor stumm an. Sie erwartete einen Wutanfall. Doch der Lord erhob sich, drehte ihr den Rücken zu und blickte schweigend aus dem Fenster seines Arbeitszimmer zu den Hügeln hinüber. »Es ehrt Sie, daß Sie so sprechen, Miß Spencer«, meinte der Lord freundlicher. »Daran erkenne ich, daß Ihnen das Wohl meines Sohnes tatsächlich am Herzen liegt. Stephen ist aber ein Warwick. Deshalb lege ich Wert darauf, daß er im Schloß seiner Väter aufwächst, zumindest bis er zehn Jahre alt ist. Später kann er vielleicht ein Internat besuchen. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich bin sehr beschäftigt.« Der Lord hatte Eleanor bei diesen Worten nicht angesehen, sondern weiter aus dem Fenster gesehen. Jetzt nahm er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und widmete sich den Geschäftsunterlagen, als wäre Eleanor nicht mehr anwesend. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Raum zu verlassen.
Mrs. McIntosh brachte Stephen nach dem Abendessen zu Bett. Eleanor zog sich auch bald zurück, unter dem Vorwand, müde zu sein. Sie las in ihrem Zimmer in einem Buch, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Gedanken an Charles gingen ihr immer wieder im Kopf herum. Eleanor setzte sich an den Sekretär und versuchte, einen Brief an ihren Ex-Verlobten aufzusetzen, in dem sie sich mit eisiger Höflichkeit endgültig von ihm lossagte. Aber der Brief wollte ihr nicht gelingen. Schließlich gab sie es auf. Zwischen ihr und Charles Wright war alles vorbei, die Tatsachen redeten eine klare Sprache. Wozu sollte sie ihm noch Briefe schreiben? Er mochte mit der anderen glücklich werden oder auch nicht. Es ging sie nichts mehr an. Trotzdem schmerzte Eleanors Herz bei diesem Gedanken. Niemand sah ihre Tränen. Liebe war ein sehr starkes Gefühl. Es konnte das Leben eines Menschen völlig verändern. Nach einer unglücklichen großen Liebe war ein Mensch nicht mehr der gleiche. Und Eleanor hatte Charles sehr geliebt. So sehr, daß sie bis nach Schottland gegangen war, um ihn zu vergessen. In dieser Nacht hörte Eleanor das Spinett im oberen Geschoß zum ersten Mal. Die Melodie war so deutlich zu vernehmen, daß Eleanor aufwachte. Die Leuchtziffern ihres Reiseweckers zeigten kurz nach Mitternacht. Eleanor knipste das Licht an. Sie hörte eine helle Frauenstimme singen: »Es scheint die Sonne am River Dee, so glücklich ist Lady Mary. Es kommt ihr Geliebter, dann lacht ihr das Herz, und es freut sich Lady Mary.« Eleanor sprang aus dem Bett und zog den seidenen Hausmantel über. Sie lief den Korridor entlang und stieg die Treppe hoch, nachdem sie Licht gemacht hatte.
Eleanor ging dem Klang der Stimme nach. Sie kam aus dem Gesellschaftszimmer. Vorsichtig drückte Eleanor die Klinke nieder. Die Tür war abgeschlossen. Sie klopfte. Abrupt endete das Spinettspiel. Eleanor lauschte mit angehaltenem Atem. Sie hörte, wie sich leichte Schritte der Tür näherten. »Wer ist da?« fragte eine zarte Frauenstimme. »Eleanor Spencer. Öffnen Sie bitte«, bat Eleanor mit zitternder Stimme. Ein silberhelles Lachen ertönte. Eleanor rüttelte an der Klinke. Plötzlich erlosch das Licht auf dem Gang. Eleanor versuchte nochmals, die Tür zu öffnen, aber vergeblich. Sie tastete sich im Dunkeln zum Lichtschalter zurück. Als sie ihn drückte, flammten die Lampen im Korridor wieder auf. Seit Eleanor an der Tür geklopft hatte, waren drei bis vier Minuten verstrichen. Sie kehrte zum Gesellschaftszimmer zurück. Diesmal öffnete sich die Tür, als sie die Klinke niederdrückte. Eleanor machte Licht. Das Zimmer war leer. Nichts verriet, daß sich hier noch vor wenigen Minuten jemand aufgehalten hatte. Und es gab nur den einen Zugang. Fassungslos sah Eleanor sich um. Sie war nahe daran, an ihrem Verstand zu zweifeln. Sie klappte das Spinett auf und schlug ein paar Tasten an. Die zarten Klänge hallten durch den Raum. Nachdenklich verließ Eleanor dann das Gesellschaftszimmer, das allem Anschein nach längere Zeit nicht mehr benutzt worden war. Sie klopfte einen Stock tiefer an Bruce Fergussons Tür. Er öffnete in tödlicher Verlegenheit. Fast hätte Eleanor bei seinem Anblick laut aufgelacht, denn Fergusson war im Nachthemd und hatte eine Schlafmütze auf dem Kopf. »Ja, Miß Spencer? Sie wünschen?« stotterte er.
»Haben Sie eben auch das Spinettspiel gehört?« fragte Eleanor aufgeregt. »Und das Lied der Lady Mary?« »Nein, ich schlafe immer mit Wachsstöpseln in den Ohren. Ich bin nämlich sehr geräuschempfindlich. Schon das Ticken einer Uhr genügt, um mich aufzuwecken. Danach gelingt es mir nur schwer, wieder einzuschlafen. Aber wenn ich die Stöpsel in den Ohren habe, höre ich nichts, nicht mal ein Gewitter.« »Interessant. Dann wünsche ich Ihnen weiterhin eine gute Nachtruhe, Mr. Fergusson. Und entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie gestört habe.« »Keine Ursache. Gute Nacht, Miß Spencer.« Eleanor begab sich in ihr Zimmer. Fergusson hatte natürlich gelogen, schließlich hatte er ihr Klopfen deutlich gehört. Anscheinend ignorierte er die unheimlichen, nächtlichen Vorgänge, weil er Angst hatte, Unannehmlichkeiten zu bekommen. Doch Eleanor wollte das Geheimnis von Warwick Castle aufklären. Das nahm sie sich in dieser Nacht fest vor. Sie ahnte nicht, daß sie damit ihr Leben in Gefahr brachte.
*
Am folgenden Tag erzählte Eleanor beim Frühstück, was sie in der Nacht erlebt hatte. Eisiges Schweigen herrschte, nachdem sie geendet hatte. Lord Edward, der diesmal mit seinem Sohn, Eleanor und Bruce Fergusson frühstückte, reagierte ärgerlich. »Das müssen Sie geträumt haben, Miß Spencer«, erklärte er kurz angebunden. »Welchen Stundenplan hat Stephen heute, Mr. Fergusson?« wandte er sich dann an den jungen Mann, ohne Eleanor weiter Beachtung zu schenken.
Der Hauslehrer beeilte sich, Lord Edward zu antworten. Er war gegenüber dem Lord sehr beflissen und schien eine tödliche Furcht zu haben, einen Fehler zu begehen oder unangenehm aufzufallen. »Gut«, sagte Lord Edward schließlich. »Heute nachmittag will ich Stephen zu einem Ausritt mitnehmen. Du möchtest doch mitkommen, Stephen, oder?« Die Frage war nur eine Formsache. Stephen nickte gehorsam und antwortete ohne Begeisterung: »Ja, Papa.« Lord Edward erhob sich. »Ich lasse mein Pferd Ivanhoe und dein Pony satteln. Jetzt will ich an die Arbeit gehen.« Lord Edward führte ein freudloses Leben in seinem Schloß. Von seinem Reichtum hatte er nichts, denn er verbrachte die meisten Stunden des Tages an seinem Schreibtisch. Nach dem Frühstück ging Eleanor in die Küche und fragte Hester und Liza, ob sie das nächtliche Spinettspiel gehört hätten. Beide sahen sie verwundert an und schüttelten die Köpfe. Hester und Liza waren siebzehn Jahre alt und Vollwaisen. Sie waren in einem Heim aufgewachsen und daher froh, in Warwick Castle eine gute Stelle gefunden zu haben. Sie hatten kein Vertrauen zu Eleanor, die noch neu im Schloß war, und wollten sich die Sympathien ihres Arbeitgebers nicht verscherzen. Eleanor gab es schließlich auf, weiter in sie zu dringen. Anscheinend wagte niemand, offen über diese unheimlichen Vorgänge zu reden. Schon nach wenigen Tagen hatte Eleanor sich auf Warwick Castle eingelebt. Stephen hatte sie bereits ins Herz geschlossen. Sein Gesicht strahlte jedesmal auf, wenn sie in seine Nähe kam. Und er war wie ein kleiner Kavalier eifrig um sie bemüht. Eleanor malte
mit ihm – der Junge zeigte Interesse und Begabung dafür – und ging viel mit ihm spazieren und ritt auch mit ihm aus. Lord Edward zeigte sich überraschenderweise freundlich und entgegenkommend, als Eleanor erwähnte, daß sie eine passionierte Reiterin sei. Sie hatte schon als Kind auf dem Landgut ihres Onkels in Cornwall reiten gelernt. Lord Edward stellte ihr eine Stute zur Verfügung. »Moira braucht ohnehin Bewegung«, meinte er. »Reiten Sie sie so oft Sie wollen.« Stephen besaß ein Pony. Sehr viel Spaß am Reiten hatte er allerdings nicht. Er war von Natur aus etwas ängstlich und zurückhaltend. Eleanor merkte, daß sie für den Jungen eine feste Bezugsperson wurde. Mrs. McIntosh hatte wohl den guten Willen gehabt, dem Kind Liebe und Geborgenheit zu vermitteln. Doch sie und ihr Mann hatten nie eigene Kinder gehabt, so daß sie den kleinen Stephen meistens sehr ungeschickt behandelt hatten. Eleanor konnte sich auch nicht vorstellen, daß der steife Butler in der Lage war, herzliche Gefühle zu zeigen. Dagegen war Will Iverson, der Chauffeur, Stephen gegenüber viel aufgeschlossener. Eleanor begleitete den Jungen einmal zu Iversons Häuschen, das am Rand von Cairbain lag. Mrs. Iverson war eine nette Frau, die Eleanor sofort ins Herz schloß. Bei diesen Leuten blühte Stephen förmlich auf. Er durfte dort alles machen, was ihm sonst verboten wurde. Kinder aus dem Dorf kamen und tobten mit ihm im Garten herum. Eleanor sah ihnen beim Spielen zu. Erstaunlich war für sie, daß Stephen den Ton angab. Er spielte den Ritter Gregory, und die Kinder aus dem Dorf waren seine Gefolgsleute.
Wieder einmal wunderte sich Eleanor über die Phantasie des Jungen. Sie kannte ihren Schützling kaum wieder, wenn sie ihn so fröhlich und unbeschwert lachen hörte.
*
»Stephen erwähnt immer wieder seine Mutter«, erzählte Eleanor dem Lord, als sie das nächste Mal in sein Arbeitszimmer gerufen wurde. »Er behauptet, sie würde noch leben, und er hätte Kontakt mit ihr. Ich weiß nicht, wie ich mich in diesem Punkt ihm gegenüber verhalten soll.« »Das ist Unfug!« Lord Edward brauste auf. »Davon will ich nichts hören. Sie müssen Stephen diese Flausen austreiben!« »Es ist falsch, Lady Mary totschweigen zu wollen.« Eleanor, die Lord Edward an seinem Schreibtisch gegenüber saß, merkte, wie angespannt er war. Trotzdem sprach sie weiter. »Vielleicht ist es Ihnen unangenehm, von Ihrer verstorbenen Gattin zu sprechen, Lord Edward. Aber Sie können darum doch nicht so tun, als ob sie nie existiert hätte. Immerhin war sie Stephens Mutter.« Lord Edward preßte seine Hände so fest zusammen, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »Wozu die Vergangenheit ständig wieder heraufbeschwören und alte Wunden neu aufreißen?« fuhr er auf. »Ich weiß, daß ich Fehler begangen habe. Vielleicht wäre es niemals so weit gekommen, wenn ich Mary ein anderer Gatte gewesen wäre. Aber daran läßt sich heute nichts mehr ändern.« »Wie starb denn Ihre Frau?« bohrte Eleanor weiter. »Ich möchte die Wahrheit kennen, Lord Edward. Nicht aus Neugierde, sondern um abschätzen zu können, wie weit man sie Stephen zumuten kann.«
»Meine Gattin hat sich vor vier Jahren im Schloßgraben ertränkt. Sie litt unter Depressionen«, erklärte der Lord bitter. »Entsetzlich. Und Sie konnten Ihren Tod nicht verhindern, Lord Edward?« Eleanor sah ihn mitleidig an. »Sie sind entweder äußerst unwissend oder sehr mutig, mich das zu fragen, Miß Spencer. Vielleicht hätte ich es gekonnt, wäre ich ein anderer Mensch gewesen. Aber keiner kann gegen seine Natur handeln. Mary hat mich betrogen, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich habe versucht, ihr zu verzeihen und mit ihr noch einmal neu zu beginnen, um Stephens und meiner willen. Aber es gelang nicht. Mary nahm sich das Leben. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ich damals gestorben wäre und Marys Wünsche hätten sich statt dessen erfüllt.« Hinter den Hügeln sank blutrot die Sonne. Ihr Widerschein fiel durch die Fenster des Schlosses. Lord Edward trat ans Fenster und sah hinaus. »Dort haben wir sie aus dem Schloßgraben gezogen. Ihr schwarzes Haar schwamm im Wasser, es umfloß sie wie ein Schleier. Ihre Augen standen weit offen, und ihr Gesicht war blaß und kalt. Wie soll ich das Stephen beibringen, Miß Spencer?« brach es verzweifelt aus ihm hervor. Eleanor schwieg eine Weile. »Irgendwann wird er es erfahren, daß seine Mutter sich umgebracht hat. Wenn er es nicht schon weiß und verdrängt hat, was ich für wahrscheinlich halte. Ich würde ihm sagen…« Als Eleanor zögerte, fragte der Lord: »Was?« »Zunächst, daß es ein Unfall war. Sprechen Sie offen mit Stephen darüber, Lord Edward.« Lord Edward krampfte die Hände zusammen. »Das kann ich nicht«, stieß er gepeinigt hervor. »Warum? Hassen Sie Ihre verstorbene Gattin so sehr?«
Lord Edward wendete sich ab, um sein Gesicht vor Eleanor zu verbergen. Sie sah, wie seine Schultern zuckten. Eleanor begriff plötzlich, daß Edward Warwick Lady Mary immer noch liebte. Die Untreue seiner Frau mußte diesen verschlossenen Mann furchtbar getroffen haben. »Wenn Stephen es wieder anspricht, möchte ich mit ihm an das Grab seiner Mutter gehen«, begann Eleanor von neuem. »Ich möchte ihm erklären, daß sie bei einem Unfall im Schloßgraben ertrunken ist. Über die Beziehungen zwischen Ihnen und Lady Mary müßten Sie allerdings selber mit ihm reden.« Lord Edward antwortete nicht. Eleanor wußte, daß Lady Mary auf dem Friedhof hinter dem Schloß begraben lag. Dort stand auch eine kleine Kapelle. Eleanor war schon dort gewesen und hatte Lady Marys Grabstein betrachtet. Siebenundzwanzig Jahre war die Lady nur alt geworden. Als sie Lord Edward geheiratet hatte, war sie grade neunzehn gewesen. Drei Jahre jünger als ich es heute bin, dachte Eleanor. Dann erzählte sie dem Lord von dem nächtlichen Spinettspiel. »Sie müssen sich irren«, erwiderte der Lord schroff. »Die Räume meiner verstorbenen Gattin stehen leer. Ich will es so. Es kann also niemand dort gewesen sein.« So deutlich hatte selten jemand Eleanor eine Lügnerin genannt. »Wie Sie meinen, Euer Lordschaft«, antwortete sie nun und verabschiedete sich dann. Lord Edward stand noch lange am Fenster und blickte in die einbrechende Dämmerung. Er wußte, daß er der jungen Erzieherin Unrecht getan hatte.
*
Am nächsten Morgen bat der Lord Eleanor, nach dem Frühstück mit ihm auszureiten. Nach der ersten Überraschung willigte sie ein. Bei dem Ausritt, dem noch weitere folgen sollten, gab sich der Lord sehr charmant und zuvorkommend. Er wirkte an diesem Tag gelöster als sonst. Eine unsichtbare Last schien von seinen Schultern gefallen zu sein, kaum daß er das Schloß verlassen hatte. Er scherzte mit Eleanor und erzählte ihr über seinen Besitz. Seinen Grund und Boden hatte Lord Edward verpachtet. Die Tongrube und die Tonfabrik bei Cairbain gehörten ihm ebenfalls. Außerdem war er Besitzer der größten Reederei in Aberdeen. In den Hügeln, unter einer knorrigen Eiche, machten Lord Edward und Eleanor schließlich Rast. Die Pferde weideten auf einer Lichtung. Sonnenstrahlen fielen durchs Laubdach, und die Vögel zwitscherten. »Es ist schön und friedlich hier«, bemerkte Lord Edward nachdenklich. »So müßte es immer sein, Eleanor.« Und plötzlich wirkte er wieder niedergeschlagen und bedrückt. In diesem Moment nahm Eleanor sich vor, diesem Mann zu zeigen, was es heißt, sich an seinem Leben zu freuen. Sie wollte dafür sorgen, daß Stephen wieder einen fröhlichen Vater bekam.
*
Als der Lord und Eleanor am nächsten Tag wieder ausritten, fingen die Dienstboten an zu tuscheln. Eleanor bemerkte die vielsagenden Seitenblicke, beachtete sie aber nicht. Nur Mrs. McIntosh sagte laut, was sie dachte. »Gedenken Sie etwa, die neue Schloßherrin von Warwick Castle zu werden, Miß Spencer? Da bemühen Sie sich aber umsonst. Lord Edward wird sich niemals von Ihnen umgarnen lassen«, erklärte sie zynisch. Maggie McIntosh war Eleanor in die Bibliothek gefolgt, wo diese sich ein Buch hatte holen wollen. »Sie denken vielleicht, weil Sie mit der Herrschaft zu Tisch sitzen, sind Sie etwas Besseres«, fuhr die pferdegesichtige Frau aufgebracht fort. »Doch Sie haben nicht die geringsten Chancen. Lady Mary stammte aus einer alten Adelsfamilie. In Lord Edwards Kreisen sieht man nämlich sehr auf die Herkunft. Und wer sind Sie schon?« Eleanor war wie vor den Kopf geschlagen. »Was erlauben Sie sich? Ich habe durchaus nicht die Absicht, mit Seiner Lordschaft ein Verhältnis zu beginnen. Doch selbst wenn es so wäre, würde es Sie überhaupt nichts angehen. Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten!« wehrte sie sich schließlich. »Genau das tue ich! Dieses Schloß hat in den letzten Jahren viel Unglück gesehen. Alle haben darunter gelitten, auch die Dienerschaft, die sich dem Lord und seiner Familie verbunden fühlt. Lady Mary traf es am schwersten. Daher mußte sie sterben.« Maggie McIntosh hatte Lady Mary sehr verehrt. »Sprechen Sie mit Seiner Lordschaft, wenn es Sie stört, daß er mit mir ausreitet«, antwortete Eleanor förmlich. »Vielleicht wird er für Ihre Bedenken eher ein Ohr haben. Aber mich stören Sie jetzt bitte nicht mehr.«
Brüsk wendete sie Mrs. McIntosh den Rücken zu. In der spiegelnden Glasscheibe eines Bücherschranks sah Eleanor, daß die Beschließerin noch einige Augenblicke zögernd hinter ihr stand. Sie hatte den Eindruck, daß Mrs. McIntosh ihr noch etwas sagen wollte. Doch sie tat es nicht, sondern entfernte sich schließlich leise. Eleanor atmete auf. Die Verhältnisse im Schloß und die Atmosphäre bedrückten sie. Eleanor war ein anderes, ein freieres Leben gewohnt. Sie sehnte sich nach London zurück. Eleanor vermißte ihre Familie und die vertraute Umgebung sehr. An diesem Abend begann sie einen längeren Brief an ihre Eltern und die jüngeren Brüder. Aber sie zerriß ihn wieder. Ihre Angehörigen würden sich zu große Sorgen machen, wenn sie wüßten, was auf dem Schloß vor sich ging. Eleanor wußte, daß sie mit ihren Problemen alleine fertig werden mußte. Ihr Vater hatte Eleanor eine strenge Pflichtauffassung beigebracht. Ihre Erziehung und ihre persönliche Einstellung verboten ihr, bei den ersten Schwierigkeiten davonzulaufen. Außerdem brauchte Stephen sie. In dieser Nacht hörte Eleanor wieder das Spinett, und sie sah Licht im Westturm. Obwohl ihr unheimlich war und diese Vorgänge Angst einjagten, wollte Eleanor so bald wie möglich versuchen, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Sie konnte und wollte nicht glauben, daß dort oben Lady Mary ihren Spuk trieb.
*
Lord Edward ritt nicht mehr mit Eleanor aus. Er behandelte sie förmlich wie zu Anfang ihres Aufenthaltes im Schloß.
Verbittert und mürrisch ging er wieder durch das Schloß. Um seinen Sohn kümmerte er sich kaum noch. Eleanor hatte den Eindruck, daß Sorgen ihn drückten, über die er mit niemandem reden konnte. Der Lord schlief in der letzten Zeit anscheinend schlecht. Sein Gesicht war furchtbar blaß, und dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Eleanor fragte sich, wie er in seinem Zustand überhaupt seiner Arbeit nachgehen konnte. Zäh und verbissen widmete der Lord sich seinen Geschäften. Ein düsterer Mann, der jedem Furcht einflößte. Trotzdem glaubte Eleanor, daß der Lord Edward sich nur hinter dieser starren Maske verbarg. Er wollte nicht zeigen, wie sehr er noch unter dem furchtbaren Tod seiner Frau litt. Die weicheren Seiten seines Wesens zu zeigen, hielt er wohl für unmännlich, dachte Eleanor, als sie auf der Stute Moira allein durch den Eichenwald ritt. Sicher hat Mrs. McIntosh, dieser alte Drachen, ihn beeinflußt. Deshalb hat Lord Edward mir gegenüber wieder die eisige Maske aufgesetzt. Der kühle Hochlandsommer ging zu Ende. Schweigen herrschte im Forst, als Eleanor einem anderen Reiter begegnete. Er trabte so plötzlich unter den Bäumen hervor und auf sie zu, daß sie erschrak. Der Fremde saß auf einem stattlichen Braunen und sah blendend aus. Seine Haltung im Sattel war ausgezeichnet. Er mußte um die Dreißig sein und hatte lockiges blondes Haar und einen kleinen Schnurrbart. Seine Reitkleidung war modisch und elegant. Sie saß tadellos. Der Mann zügelte sein Pferd und hielt an, als er Eleanor sah. »Guten Tag, schöne Lady. Oder sind Sie ein Waldgeist? Denn so anziehende Geschöpfe pflegen sich sonst nicht in diese Gegend zu verirren«, meinte er charmant lächelnd. »Mein Name ist Eleanor Spencer.« Eleanor hatte Moira gezügelt. »Ich lebe in Warwick Castle und bin die Erzieherin
des Sohnes von Lord Edward. Mit wem habe ich denn das unerwartete Vergnügen?« »Ich bin Peter Harris und wohne hier in der Nähe in einem Landhaus. Ich bin gerade erst gestern dort eingetroffen. Meistens halte ich mich in London, Paris oder an der Côte d’Azur auf.« »Dann sind wir ja Nachbarn. Kennen Sie Warwick Castle und Seine Lordschaft?« fragte Eleanor erfreut. Der elegante Mr. Harris wirkte für einen Moment entsetzt. Dann hatte er sich aber wieder gefangen und lächelte verbindlich. »Zu Lady Marys Lebzeiten verkehrte ich öfter dort. Das ist lange her. Seit ihrem Tod führt Seine Lordschaft jedoch ein zurückgezogenes Leben, und ich habe das Schloß nicht wieder betreten. Und jetzt hat er also eine Gouvernante für den kleinen Stephen eingestellt. Eine solche Gouvernante würde ich mir auch wünschen.« Peter Harris grinste. Eleanor freute sich, wieder einmal mit einem attraktiven jüngeren Mann zusammenzutreffen. Die Leute in Warwick Castle waren alle recht steif und verschlossen. Daher war sie froh, einmal ein freundliches Gesicht zu sehen. Eleanor und Peter ritten gemeinsam weiter. Peter Harris erzählte lustige Geschichten und Anekdoten, die Eleanor zum Lachen brachten. Sie berichtete ihm von Warwick Castle. Harris kannte sich dort, wie sie heraushörte, sehr gut aus. Die Zeit verging wie im Flug und Eleanor mußte bald nach Warwick Castle zurückkehren. Eine letzte Frage hatte sie noch auf dem Herzen, bevor sie sich trennten. »Wie war Lady Mary eigentlich? Es gibt im ganzen Schloß kein Bild von ihr, zumindest habe ich keines gesehen. Die Stelle in der Ahnengalerie, an der ihr Bildnis hängen sollte, ist leer. Was war sie für ein Mensch?«
Harris vermied Eleanors Blick, als er antwortete. »Sie war eine Schönheit, künstlerisch hochbegabt, dazu charmant und voller Lebensfreude«, meinte er leise. »Eine in jeder Beziehung außergewöhnliche Frau, die in keiner Weise zu Lord Edward, diesem ernsten und verschlossenen Mann, paßte. An seiner Seite ging sie zugrunde. Wenn jemand an ihrem Tod schuld ist, dann er.« Den letzten Satz hatte Harris ungewöhnlich hart herausgeschleudert. Eleanor zügelte ihre Stute. Auch Peter Harris hielt an. Er versuchte ein Lächeln, doch es mißlang. »Miß Spencer, entschuldigen Sie bitte, daß ich derart über Ihren Arbeitgeber gesprochen habe. Aber der Gedanke an Lady Mary wühlte in mir Dinge auf, die ich eigentlich vergessen wollte. Es ist ewig schade um diese junge blühende, bildschöne Frau. Und es empört mich, wenn ich an ihr unglückliches Schicksal und das entsetzliche Ende denke, das sie nehmen mußte.« Harris bat Eleanor dann, ihn am nächsten Tag wieder zu treffen. Er hatte sich gefangen. Jetzt war er wieder der charmante, weltgewandte Plauderer. »Vielleicht reite ich morgen um diese Zeit wieder aus, Mr. Harris«, erklärte Eleanor ausweichend. »Oder übermorgen.« Peter Harris lüftete die Mütze. »Ich werde Sie mit Sehnsucht erwarten, schöne Waldnymphe. Kehren Sie zurück in Ihr düsteres Gemäuer, und vergessen Sie meine Wenigkeit nicht ganz.« Eleanor ritt davon, und Peter Harris blickte ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwand. Er stützte die Hände aufs Sattelhorn. Seine blauen Augen funkelten böse. Eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn. Hart trieb er plötzlich sein Pferd an.
*
Beim nächsten Treffen lud Peter Harris Eleanor zum Wochenende zum Mittsommertanz nach Cairbain ein. Sie sagte zu. Am Freitag, einen Tag vor der Tanzveranstaltung, brachte Harris zu ihrem Treffen einen Strauß weißer Rosen. Entzückt nahm Eleanor sie mit ins Schloß. Am Sonnabendabend holte Peter Harris sie ab. Sie freute sich, eine Abwechslung zu haben und den Abend mit einem charmanten jungen Mann zu verbringen. Und es wurde ein amüsanter Abend. Eleanor und Peter Harris ließen keinen Tanz aus. Auch Will Iverson, seine Frau und die beiden Töchter waren zu dem Fest gekommen, das unter freiem Himmel stattfand. Eleanor wechselte an diesem Abend nur wenige Worte mit ihnen. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß Lord Edwards Chauffeur ihre Anwesenheit mißbilligte. Die Zwillinge Hester und Liza waren natürlich auch dort. Sie wurden von Verehrern umschwärmt, mit denen sie allerlei Schabernack trieben. Ihre Tanzpartner wußten niemals, ob sie nun Hester im Arm hatten oder Liza. Peter Harris absolvierte einige Pflichttänze, aber meistens tanzte er mit Eleanor. In ihrem Ballkleid aus grünem Taft, das bodenlang war und ein gerafftes Oberteil hatte, sah sie wunderschön aus. Die Blicke der Männer folgten ihr, wo sie auftauchte. Phil Macpherson, der Bahnhofsvorsteher, den Eleanor am Tag ihrer Ankunft kennengelernt hatte, war ebenfalls mit seiner Familie zum Mittsommernachtsball erschienen. Auch er bat Eleanor um einen Tanz, den sie ihm gerne bewilligte. Neugierig fragte er sie, ob sie sich in Warwick Castle eingelebt
hätte. Eleanor bestätigte ihm das freundlich aber zurückhaltend. Nach dem Spuk vom Schloß fragte er sie nicht, und Eleanor schwieg darüber. Sie wollte nicht zum Tratsch des Dorfes beitragen. Gegen Mitternacht ließ sie sich von Peter Harris zurückfahren. Die letzte Strecke zum Schloß wollte Eleanor zu Fuß gehen, daher bat sie Peter Harris, vor der letzten Kurve der Zufahrtsstraße nach Warwick Castle zu halten. Kurze Zeit später hatten sie ihr Ziel erreicht. »Du bist wie eine schöne junge Fee, die in einem verwunschenen Schloß lebt«, meinte er zärtlich. »Wie gern würde ich dich daraus erlösen.« Er strich ihr sacht mit dem Zeigefinger über die Wange. »Die Zeit der Märchenprinzen ist vorbei, lieber Peter«, erwiderte Eleanor so forsch wie möglich. Doch sie konnte ein Beben nicht unterdrücken. Seine Gegenwart war zu erregend. »Heute zählen die Persönlichkeit und das, was einer gelernt hat. Außerdem ist es in dem düsteren Gemäuer, wie du es neulich nanntest, gut auszuhalten.« »Trotzdem solltest du gelegentlich einen Ausflug unternehmen, um dich abzulenken. Schottland ist nicht die Côte d’Azur oder London«, versuchte er sie zu überreden. »Aber einen Trip nach Aberdeen übers Wochenende könnten wir uns schon gönnen. Es gibt dort recht nette Plätzchen. Oder sollten wir mal zusammen London unsicher machen? Man lebt nur einmal. Diese Tanzveranstaltung heute abend war doch unter unserem Niveau.« »Ich fand die Leute nett und habe mich gut amüsiert«, widersprach Eleanor. »Es war eine schöne Abwechslung.« »Schon, aber es gibt bessere. Lady Mary hat versucht, ein gesellschaftliches Leben in dieser Gegend einzuführen. Ihre
Bälle sind noch heute unvergessen. Aber wir wollen nicht von Vergangenem reden.« Peter zog Eleanor sacht an sich und küßte sie. »Es war schön heute abend, Peter. Vielen Dank«, flüsterte Eleanor. »Aber jetzt muß ich gehen. Es ist schon sehr spät.« Harris brachte Eleanor bis vor die Brücke über den Schloßgraben. Dann winkte er noch einmal, bevor sie hinter dem Schloßtor verschwand. Peter gefiel Eleanor, aber sie hielt ihn auch für etwas leichtlebig. Die Zeit würde es bringen, ob zwischen ihr und Peter etwas entstand. Eleanor war kein Mädchen, das flüchtige Liebeleien suchte. Lord Edward fragte Eleanor am nächsten Morgen lediglich, ob es ihr bei dem Mittsommernachtsball gefallen habe. Stephen wollte dagegen mehr wissen. Er interessierte sich lebhaft fürs Tanzen und bat Eleanor, ihm im Salon einige Schritte beizubringen. Gerne erfüllte sie ihm nach dem Frühstück diesen Wunsch. »Du wirst mal ein hervorragender Tänzer, Stephen«, lobte sie Stephen, nachdem er sich ungewöhnlich geschickt angestellt hatte. »Jetzt wollen wir malen und dann spielen wir Versteck. Ich bin so froh, daß du da bist, Eleanor.« Stephen umarmte sie stürmisch. Er war seit ihrer Ankunft förmlich aufgeblüht. Er war lebhafter geworden. Eleanor bemühte sich, auf Stephens kindliche Interessen und Spiele einzugehen. Sie bastelte auch oft mit ihm. Doch gleichaltrige Spielkameraden, zu denen er viel zu wenig Kontakt hatte, konnte sie ihm nicht ersetzen. Eleanor nahm sich vor, noch einmal mit Lord Edward darüber zu sprechen. Der Junge brauchte unbedingt Spielkameraden, wenn er sich normal entwickeln sollte.
Am Montagvormittag, während Stephen Unterricht hatte, fand Eleanor wieder Zeit zu dem Ausritt. Sie ritt beinahe jeden Tag, weil es ihr viel Freude machte. Eleanor ritt wieder über die Hügel zu dem Wald, wo sie mit Peter verabredet war. Ihr Herz schlug höher. Sie freute sich auf das Rendezvous mit Peter Harris. Sie fragte sich, ob sie sich in ihn verliebt hatte. Konnte sich darüber aber nicht klar werden. Peter wartete schon ungeduldig auf der Lichtung, an derselben Stelle, wo Eleanor bei ihrem ersten Ausritt mit Lord Edward gesessen hatte. Peters Pferd weidete nicht weit entfernt von ihm. Peter saß auf einem Baumstamm, die langen Beine lässig von sich gestreckt. Er sprang erfreut auf, als Eleanor heranritt. Er trat an ihr Pferd und hob sie schwungvoll aus dem Sattel. Seine kräftigen Hände, die blitzenden Augen und das siegesgewisse Lachen bezauberten Eleanor. Sie sträubte sich nicht, als Peter sie in seine Arme schloß. Sie küßten sich leidenschaftlich. Eleanor fühlte Peters Herzschlag. Der Geruch nach Pferden, Tabak und einem teuren Rasierwasser strömte ihr von ihm entgegen. Ihre Knie wurden schwach, und die Umwelt versank für sie. Dumpfer Hufschlag ließ die beiden plötzlich aufschrecken. Sie drehten sich um. Es war Lord Edward, der auf seinem Rappen Ivanhoe herangaloppierte. Das Gesicht des Mannes war eine Grimasse des Zorns. Seine Augen loderten förmlich. Er zügelte den Rappen so hart, als er die Lichtung erreicht hatte, daß er sich wiehernd auf der Hinterhand aufbäumte. Eleanor trat erschrocken zur Seite. Sie spürte den Haß zwischen den beiden Männern beinahe körperlich. Peter Harris stand gerade aufgerichtet vor Lord Edward. »Du Schuft!« donnerte Lord Edward. »Ich habe dir verboten, dich je wieder in der Nähe von Warwick Castle blicken zu lassen. Was suchst du hier auf meinem Grund und Boden?«
»Ist das eine Art, seine Verwandten zu behandeln, Cousin Edward?« fragte Harris in schneidendem Ton. »Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein, wie du selbst.« »Das hast du verwirkt, du Halunke! Verschwinde, ehe ich mich vergesse!« Der Lord drohte mit der Faust. »Dir werde ich geben, mich einen Halunken zu nennen, du Gattenmörder! Lady Marys Blut klagt dich an!« Lord Edward wurde leichenblaß. Peter Harris sprang vor, um ihn aus dem Sattel zu reißen, aber der Lord trieb sein Pferd an, daß es ihn mit der Brust rammte. Harris fiel zu Boden. Lord Edward ritt auf ihn los. Wie von Sinnen ließ er sein Pferd sich aufbäumen und hob die Peitsche. Harris rollte weg, um den Hufen zu entgehen. Eleanor überwand ihre Erstarrung. Sie lief hinzu und faßte Ivanhoes Zügel. Das erschrockene Pferd wieherte und warf den Kopf hin und her. Eleanor hatte furchtbar Angst, aber sie hielt die Zügel fest. Lord Edward bändigte schließlich sein Roß. Er atmete schwer. Harris war wieder aufgestanden. Er bedeckte seine linke Wange mit der Hand, sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Das sollst du mir büßen, Edward!« knirschte Peter Harris. »So verfährt keiner ungestraft mit Peter Harris!« »Noch ein Wort, und ich reite dich nieder! Verschwinde, laß dich nie wieder blicken! Ich gebe dir zwei Minuten!« Lord Edwards Augen funkelten bedrohlich. »Peter, Lord Edward!« bat Eleanor. »Besinnt euch doch. Ihr seid beide erwachsene Menschen. Man kann über alles reden.« »Nicht mit einem Halunken und Bankrotteur, der keine Ehre im Leib hat!« meinte der Lord aufgebracht. Harris stieg in den Sattel. Als er die Hand wegnahm, sah Eleanor die blutende Wunde auf seiner Wange. Er drohte dem Lord mit der Faust. »Erbschleicher! Mörder!« rief er.
Lord Edward zeigte Anstalten, abermals auf ihn loszureiten, aber Eleanor trat dazwischen und hielt das Pferd des Lords fest. Die beiden Männer blickten auf das schlanke, schöne Mädchen im Reitkostüm, das sie wütend anfunkelte. Sie besannen sich. Peter Harris verhielt noch einen Moment am Platz. »Wir sehen uns wieder, Eleanor«, sagte er, dann ritt er davon. Allmählich wich die Spannung von Lord Edward. Er stieg vom Pferd und berührte Eleanors Schulter. »Ich bedaure, daß Sie diese Szene miterleben mußten, Miß Spencer«, sprach er in ruhigem Ton und mit gewohnter Förmlichkeit. »Sie konnten nicht wissen, wie es zwischen mir und Peter Harris steht. Ich hoffe, Sie sind nicht dem Charme dieses gewissenlosen Verführers erlegen.« »Auf meinen Umgang und meinen guten Ruf kann ich selber achten, Lord Edward. Ich brauche keine Bevormundung. Ich habe Mr. Harris einige Male beim Ausreiten getroffen und war am Sonnabend mit ihm zum Tanz. Genauer kenne ich ihn nicht, aber…« »Ich habe Augen im Kopf, Miß Spencer! Ich hatte den Eindruck, daß Sie mit meinem Cousin sehr vertraut wären«, erklärte er zynisch. Er spielte darauf an, daß Eleanor und Peter sich geküßt hatten, als er zu ihnen stieß. »Das höre ich jetzt zum ersten Mal, daß Sie und Peter Harris Cousins sind, Euer Lordschaft. Auch Peter erwähnte es nicht«, erklärte Eleanor eisig. »Es wundert mich, daß er hierher nach Schottland kommt, wahrscheinlich ist er wieder einmal auf der Flucht vor seinen Gläubigern. Geben Sie sich nicht mit ihm ab, er taugt nichts. Er ist durch und durch schlecht.« Der Lord sah sie eindringlich
an. »Marys Tod war eine Tragödie, zu der er sein gerütteltes Teil beigetragen hat. Mehr als ich und als jeder andere.« Plötzlich begriff Eleanor die ganze furchtbare Wahrheit. Es konnte nur die eine Lösung für den mörderischen Haß zwischen den beiden geben: Peter Harris war Lady Marys Liebhaber gewesen. Was damals zwischen diesen drei Menschen vorgefallen war, wollte Eleanor nicht wissen. Aber eines stand fest: Lady Mary hatte sich deswegen das Leben genommen! Und Lord Edward führte seitdem ein Leben als verbitterter, innerlich versteinerter Mann. Eleanor holte ihr Pferd und ritt mit Lord Edward zum Schloß zurück. Sie sprachen auf dem Rückweg kein Wort. Den Rest des Tages sah Eleanor den Lord nicht mehr. Er hatte sich bei ihrer Rückkehr sofort in sein Arbeitszimmer eingeschlossen. Sie wußte nicht, daß er sie vom Fenster seines Arbeitszimmers aus beobachtete, als sie mit Stephen im Park spielte. Eleanors Haltung und ihr unerschrockenes Eingreifen, als sie sich zwischen ihn und seinen Cousin stellte, hatte den Lord tief beeindruckt. Er beobachtete Eleanors biegsame Gestalt, als sie mit Stephen Fangen spielte und um die Bäume lief. Lord Edward spürte ein Gefühl in seiner Brust, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Spielte etwa Eifersucht dabei mit, daß er Peter Harris wie ein Rasender angegriffen hatte? Oder kam sein Zorn von den Erlebnissen der Vergangenheit? Sie waren allerdings schlimm genug gewesen, viel schlimmer, als Eleanor auch nur ahnen konnte. Lord Edward wußte sehr wohl von dem nächtlichen Spinettspiel und dem Licht in den oberen Räumen des Westflügels. Aber er hatte triftige Gründe, darüber nicht mit Eleanor zu sprechen.
*
Eleanor war an diesem Abend von den Ereignissen des Tages sehr verwirrt. Da sie es gewohnt war, immer etwas zu unternehmen und sich rasch Klarheit zu verschaffen, wandte sie sich an Iverson. Er war schon lange Zeit im Schloß beschäftigt. Vielleicht konnte er ihr Auskunft geben. In der Bibliothek, wo er das Kaminfeuer entzündet hatte – Lord Edward pflegte zu später Stunde gelegentlich hier zu sitzen und zu lesen – sprach Eleanor ihn an. Auf die Frage nach Peter Harris reagierte Iverson verlegen. Er strich sich durchs dünne Haar. »Es stimmt, Harris ist der Cousin seiner Lordschaft«, sagte er. »Lord Sean, Lord Edwards Vater, hatte eine jüngere Schwester, Agatha. Sie heiratete, gegen den Rat der Familie, Alec Harris, einen Schauspieler und Tunichtgut, der sie eines Tages sitzenließ. Er war schon über alle Berge, als Peter geboren wurde. Lady Agatha war zu stolz, um ins Schloß ihrer Väter zurückzukehren. So zog sie Peter in London und im Ausland groß. Das heißt, soweit sie dazu in der Lage war. Lady Agatha wurde nämlich mit dem schwierigen Sprößling bald nicht mehr fertig. Sie war eine sehr empfindsame Natur und zeigte sich in praktischen Dingen rührend hilflos. Daß Alex Harris sie verließ, hat sie niemals verwunden. Lord Sean und später Lord Edward unterstützten sie finanziell. Der kleine Peter blieb oft wechselnden Kindermädchen überlassen. Später besuchte er verschiedene Internate. Nirgends wollte er sich jedoch einfügen. Noch vor dem Abitur verließ er die Schule, um Schauspieler zu werden. Als seine Mutter starb – das war
vor elf Jahren – brachte er sein Erbteil schnell unter die Leute. Was er danach trieb, weiß ich nicht.« »Was ist er denn überhaupt geworden? Ich meine, hat er irgendeinen Beruf erlernt? Wovon lebt er?« fragte Eleanor aufgeregt. »Das dürfen Sie mich nicht fragen, Miß Spencer. Mit seiner Theater- und Filmkarriere ist er jedenfalls nie über Nebenrollen hinausgediehen«, fuhr Iverson fort. »Als er noch in Warwick Castle verkehrte, sprach er von internationalen Geschäften und großen finanziellen Transaktionen, die er angeblich tätigen würde. Das hinderte ihn aber nicht, McCord, unserm Gärtner, dem gutmütigen Trottel, sechzig Pfund aus der Tasche zu ziehen, die er ihm niemals zurückgab. Lord Edward stand dafür ein, wie in vielen anderen Fällen, wenn Peter Harris das Wasser bis zum Hals stand. Er sagte immer, Peter hätte die Lebensuntüchtigkeit seiner Mutter und den Leichtsinn des Vaters geerbt.« »Gegen schlechte Eigenschaften kann man ankämpfen. Will, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Es ist wichtig für meine Stellung in Warwick Castle, daß ich Bescheid weiß. Was wir hier besprechen, bleibt unter uns. Wie stand es zwischen Peter Harris und Lady Mary?« »Nun, Lady Agatha hatte mit ihrem Sohn Warwick Castle natürlich öfter besucht und auch mehrmals ein paar Tage oder Wochen hier verbracht. Anscheinend redete sie ihrem Sohn ein, daß er ebensogut wie Sir Edward der Lord of Warwick werden könne. Lord Edward sah dieses Spiel mit an, solange sein Vater lebte, der eine allzu menschenfreundliche Art hatte und den Besitz um ein Haar ruiniert hätte. Nicht weil er leichtlebig gewesen ist, sondern allzu vertrauensselig. Lord Sean starb, als Edward achtundzwanzig Jahre alt war. Edward übernahm Besitz und Titel. Er mußte sehr hart arbeiten, um Warwick Castle erhalten zu können. Lord Sean hatte Peter
Harris nach dem Tod seiner Mutter großzügige Zusagen gemacht.« »Lord Edwards Mutter war zu dem Zeitpunkt schon tot?« »Sie starb schon vor fünfundzwanzig Jahren, damals war Edward dreizehn. Lord Edward hatte nach dem Tod seines Vaters einen Streit mit seinem Cousin, weil er die Zusagen des verstorbenen Lords nicht in vollem Umfang einhalten konnte. Dazu hätte er nämlich Grund und Boden verkaufen müssen, das wollte er nicht. Peter Harris prozessierte damals sogar, doch er verlor. Harris blieb Warwick Castle jahrelang fern. Er kam erst wieder, als er bis über die Ohren verschuldet war. Lord Edward hatte zu diesem Zeitpunkt bereits geheiratet. Seine junge Frau faßte eine Zuneigung zu Peter Harris, der es von jeher verstand, sich bei Frauen einzuschmeicheln. Lord Edward unterstützte ihn finanziell, weil er glaubte, daß sein Cousin ernsthaft bereit sei, sein Leben zu ändern. Er schenkte ihm das Landhaus, weil Peter erklärte, sich hier niederlassen zu wollen, und räumte ihm das Nutzrecht für einige Hektar Boden ein. Lady Mary dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Sie muß ihren Mann damals zu dieser Großzügigkeit überredet haben. Lord Edward beriet seinen Cousin auch geschäftlich. Damals brachte es Peter Harris zu einem gewissen Wohlstand, was nicht sein Verdienst war.« Iverson mochte Harris offensichtlich nicht. Eleanor überlegte, ob er ihr wohl die Wahrheit gesagt hatte. Oder färbte seine Abneigung gegen Harris auf sein Urteil ab? Es war kein Zufall, daß Lord Edward Eleanor und Peter an diesem Vormittag überrascht hatte. Da war sie vollkommen sicher. Jemand hatte ihm auch mitgeteilt, daß Eleanor mit Peter beim Tanz gewesen war. »Was geschah dann?« fragte sie Iverson. »Peter Harris verkehrte in Warwick Castle. Er verstand sich gut mit der jungen Lady. Ist zwischen ihnen vielleicht mehr als pure
Freundschaft gewesen?« Sie beobachtete jede Bewegung Iversons. »Woher soll ich das wissen?« fragte er unfreundlich. »Sie haben es mir nicht auf die Nase gebunden. Natürlich gab es Klatsch darüber, daß Lady Mary oft mit dem gutaussehenden Cousin ihres Gatten gesehen wurde. Lord Edward wurde von seinen Geschäften in Anspruch genommen. Peter Harris hatte mehr Zeit. Damals war eine glanzvolle Zeit in Warwick Castle. Jeden Monat fanden Festlichkeiten oder gesellschaftliche Ereignisse statt. Bälle, Soireen, Fuchsjagden, die Herbstjagd und noch vieles mehr. Lord Edward vergötterte seine schöne junge Frau und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sie warf mit dem Geld nur so um sich.« Nahtlos fügte sich alles zusammen. Lord Edward hatte schwer gearbeitet, um Geld zu verdienen, und Peter Harris hatte Lady Mary geholfen, es auszugeben. Und irgendwann hatte es deshalb einen großen Krach gegeben. »Und dann wurde Lady Mary schwanger«, erzählte Iverson. »Mit Stephen?« fragte Eleanor. »Das paßt zeitlich aber nicht. Er muß zu dem Zeitpunkt doch schon längst auf der Welt gewesen sein.« »Er war zwei Jahre alt. Nein, es handelte sich um eine andere Schwangerschaft. Als der Lord es erfuhr, kam es zum Streit zwischen Lord Edward, Lady Mary und Peter Harris. Es muß eine schreckliche Szene gegeben haben.« Das glaubte Eleanor, nachdem sie den Lord heute in seiner Wut erlebt hatte. Der sonst so ruhige, verschlossene Mann war starker Leidenschaften fähig. »Peter Harris hat Warwick Castle danach nicht mehr betreten«, fuhr Iverson fort. »Zumindest nicht offiziell.« »Heimlich vielleicht? Und wie verhält es sich mit dem Kind, das Lady Mary unterm Herzen trug?« Eleanor vermied die Frage, wer wohl der Vater dieses Kindes war.
Iverson hatte jetzt schon soviel gesagt, daß er weitergeredet hätte. Aber plötzlich kam ein Geräusch von der Tür. John, der Butler, trat ein. Sein Gesicht war verschlossen. Dennoch hatte Eleanor den Eindruck, daß er an der Tür gelauscht hatte. »William«, meinte der Butler kühl, »Sie werden zu Hause erwartet. Und Sie, Miß Spencer, möchten sich in Stephens Zimmer begeben. Er hat Ohrenschmerzen. Meine Frau hat Sie bereits gesucht.« Eleanor verabschiedete sich von Iverson und eilte zu Stephen. Seine Ohrenschmerzen waren so schlimm, daß noch in der Nacht der Arzt herbeigeholt werden mußte. Wie sich herausstellte, hatte der Junge eine Mittelohrentzündung. Er klammerte sich weinend an Eleanor. »Bitte, Eleanor, bitte, bitte, hilf mir doch! Es tut so weh!« Eleanor tröstete ihn. Als die Tropfen wirkten, hörten die Schmerzen auf. Lord Edward, der hinzugeholt worden war, beobachtete die Szene zwischen Eleanor und seinem Sohn. Eigentlich hatte der Lord Eleanor unter einem Vorwand entlassen wollen. Er konnte es nicht hinnehmen, daß sie vertraulich mit Peter Harris verkehrte. Außerdem wußte er von John McIntosh über Eleanors Gespräch mit Will Iverson in der Bibliothek Bescheid. Aber als Lord Edward sah, wie sein Sohn an Eleanor hing, entschied er sich anders. Sie sollte wegen des Kindes bleiben. Der Lord wollte aber ein ernstes Wort mit Iverson sprechen und ihm unter Androhung sofortiger Entlassung verbieten, Eleanor noch mal vertrauliche Dinge zu erzählen. Man sollte die Dinge ruhen lassen, und alte Wunden nicht wieder aufreißen.
*
Manchmal geschieht tage- oder wochenlang nichts, dann trifft alles zusammen. Als Stephen endlich schlief, begab sich Eleanor spät in der Nacht todmüde zu ihrem Zimmer. Doch kaum hatte sie sich ins Bett gelegt und war nahe daran einzuschlafen, als sie wieder das Spinett hörte. Die klare Sopranstimme war deutlich zu vernehmen. »Zum Meere strömt der River Dee, und trägt die Sehnsucht der Lady Mary. Denn keine liebte so wie sie, doch ihre Liebe erfüllte sich nie, die Liebe der Lady Mary.« Eleanor überlegte, ob sie jemanden herbeiholen sollte. Sie entschied sich dagegen. Im Schloß verschwieg jeder ängstlich diesen nächtlichen Spuk. Aber Eleanor wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen. Sie holte sich eine Taschenlampe für den Fall, daß wieder das Licht erlosch. Außerdem hatte sie sich in ihrer Nachttischschublade schon einen Schlüssel für das Gesellschaftszimmer zurechtgelegt. Sie nahm auch den Schürhaken mit, um sich, wenn es nötig war, verteidigen zu können. Sie eilte die Treppe zum nächsten Stockwerk hinauf. Immer noch spielte jemand auf dem Spinett. Eleanor drückte die Türklinke des Gesellschaftszimmers nieder. Es war abgeschlossen. »Wer ist da drinnen?« fragte Eleanor. »Geben Sie sich doch zu erkennen. Was soll dieser Unsinn?« Das Spinett verstummte. Ein hohes Kichern ertönte nach einem Moment der Stille. »Wer stört Lady Marys Geist?« fragte dann eine Frauenstimme. »Flieh, Unselige, oder du büßt es mit deinem
Leben! Wenn du mir weiter nachspionierst, wirst du im Totenreich enden.« Eleanor klopfte wieder. Das Licht erlosch. Hastig schaltete sie die Taschenlampe ein und schob den Schlüssel ins Schloß. Doch ein anderer Schlüssel steckte von innen. Eleanor probierte ein paar Mal, dann konnte sie ihn aus dem Schloß schieben. Laut hörte sie ihn im Zimmer zu Boden fallen. Rasch schloß sie auf, öffnete die Tür und leuchtete mit der Taschenlampe ins Zimmer. Das Spinett war noch aufgeklappt. Und dann fiel ihr eine Tür auf, die sie bisher noch nicht gesehen hatte. Sie mußte ins Nebenzimmer führen. Plötzlich hörte Eleanor ein Knarren. Phosphoreszierendes Licht lag auf einer Wand. Eleanor zögerte. Ihr Herz hämmerte fast zum Zerspringen. Dann erklang ein hohles, schauriges Stöhnen aus dem Kamin. Es hörte sich so gräßlich an, daß es Eleanor eiskalt über den Rücken lief. Im Nebenzimmer knarrte es wieder, dann war ein dumpfer Laut zu vernehmen. »Gott, stehe mir bei!« flüsterte Eleanor, bekreuzigte sich und eilte ins Nebenzimmer. Das phosphoreszierende Licht war verschwunden. Es war niemand zu sehen. Eleanor kehrte ins Gesellschaftszimmer zurück und schaute sich dort um. Sie leuchtete sogar in den Kamin hinauf. Aber sie konnte nichts feststellen. Da knarrte es wieder. Eleanor erschrak und packte den Schürhaken fester. Aber es war nur die Standuhr. Ihr Schlagwerk hatte das Geräusch verursacht. Die Uhr schlug dreimal. Nachdenklich steckte Eleanor den Schlüssel ein, den sie aus dem Schloß gestoßen hatte. Eleanor glaubte, daß alle Dinge auf dieser Welt eine natürliche Erklärung hatten. Von Spuk und übersinnlichen
Dingen hielt sie nichts. Um sich diesen Glauben zu erhalten, mußte sie herausfinden, was hinter den Vorgängen in Warwick Castle steckte, sonst würde sie für den Rest ihres Lebens keine Ruhe mehr finden. Eleanor ging zurück in ihr Zimmer. Dort angelangt, öffnete Eleanor das Fenster, um frische Luft zu schnappen. Dabei sah sie, was sie stutzig machte. In einem der angeblich leerstehenden Zimmer im Westflügel brannte Licht. Hing das vielleicht mit dem Spuk zusammen? Eleanor wollte jetzt Gewißheit haben. Sie beschloß nachzusehen, wer im Schloß sein Unwesen trieb. Eleanor nahm ihren ganzen Mut zusammen und machte sich auf den Weg zum Westflügel. Eleanor benutzte nur gelegentlich die Taschenlampe, als sie durch die langen Korridore wandelte und die Treppen hochstieg. Sie wollte von niemandem bemerkt werden. Im Obergeschoß war alles dunkel. Es gab mehrere Zimmerfluchten, so daß Eleanor überlegte, wo sich das Zimmer befand, in dem sie Licht gesehen hatte. Sie versuchte mehrere Türen, die jedoch alle verschlossen waren. Bis auf eine. Eleanor öffnete sie leise und betrat den Raum. Im Lichtkegel ihrer Lampe erblickte Eleanor ein Gemälde mit schwarzem Trauerflor. Es zeigte eine bildschöne schwarzhaarige Frau im tiefausgeschnittenen roten Kleid. Ihre dunklen Augen faszinierten Eleanor. Der Maler hatte eine Technik angewendet, die den Betrachter von jedem Standpunkt aus glauben ließ, die Frau auf dem Bild blickte ihn an. Es war, als ob die Frau auf dem Gemälde Eleanor mit den Augen verfolgen würde.
»Lady Mary«, flüsterte Eleanor, und tiefes Mitleid mit dieser ebenso geheimnisvollen wie unglücklichen jungen Frau ergriff sie. Was mochte sie bewogen haben, ins Wasser zu gehen? Plötzlich hörte Eleanor Kindergeschrei aus dem Nebenzimmer. Nicht das Geschrei eines Säuglings, sondern das eines größeren Kindes. Jetzt bemerkte sie auch einen schwachen Lichtschimmer durch das Schlüsselloch. Sie schlich zur Tür, knipste die Taschenlampe aus und lauschte mit angehaltenem Atem. Wieder weinte das Kind. Dann sagte eine Stimme, die Eleanor gut kannte, voller Sorge: »Crane, Crane, mein armer Sohn. Wenn du mich doch nur verstehen könntest. Ich bin dein Vater, ich liebe dich. Solange ich lebe, soll es dir nicht schlecht ergehen.« Eleanor stand wie vom Donner gerührt. Es war die Stimme von Lord Edward Warwick. Das Kind schrie wieder. Seine Stimme klang seltsam rauh. Dann gab es unartikulierte Laute von sich. Es war eine Aneinanderreihung sinnloser Silben. Wieder vernahm Eleanor die zärtliche Stimme des Lords. »Dad-dy, Crane, hörst du, sag Dad-dy. Ich bin dein Daddy.« Eleanor konnte es nicht länger aushalten. Fluchtartig wich sie von der Tür zurück und lief in ihr Zimmer zurück. Sie wollte Lord Edward nicht begegnen. Obwohl Eleanor todmüde war, konnte sie schlecht einschlafen. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Es war schon fast Morgen, als sie endlich Schlaf fand. Als Eleanor am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie zerschlagen. Sie mußte sich zwingen aufzustehen. Nachdem sie sich angezogen hatte, sah sie nach Stephen. Er sollte auf Anweisung des Arztes im Bett bleiben. Das bedeutete, daß sie sich den Tag über mit dem kranken Kind würde beschäftigen müssen. Sie tat es gern.
Das Frühstück nahm Eleanor zusammen mit Lord Edward und Bruce Fergusson ein. Fergusson war noch fahriger als sonst. Wenn er Eleanor anschaute, bekam er einen roten Kopf. Als sie ihn höflich fragte, wie er in der vergangenen Nacht geschlafen habe, verschüttete er einen Teil seines Kaffees und brachte nur eine stotternde Antwort zustande. Kurz darauf entschuldigte sich der Hauslehrer. Er behauptete, schon satt zu sein, und verließ überstürzt das Frühstückszimmer. Lord Edward hatte an diesem Morgen Stephen schon sehr früh besucht und unterhielt sich nun mit Eleanor über dessen Zustand. Der Lord wirkte sehr übernächtigt. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Der bittere Zug um seinen Mund wirkte wie eingemeißelt. Nun wußte Eleanor, daß dieser Mann etwas zu verbergen hatte, das seine Umwelt nicht erfahren durfte. Es gab auf dem Schloß noch ein Kind, das Crane hieß. Eleanor wagte nicht, den Lord nach diesem Jungen zu fragen. Aber sie beschloß, nach Crane zu sehen, wenn der Lord in zwei Tagen nach Aberdeen fuhr. Sie wollte erfahren, warum dieses Kind vor der Welt versteckt wurde. Mittlerweile hielt Eleanor es sogar für möglich, daß Lady Mary noch lebte und sich ebenfalls im Westflügel aufhielt. Eine Gefangene ihres eigenen Mannes, der sie einsperrte und grausam für ihre Untreue bestrafte. Die McIntoshs mußten mit Lord Edward unter einer Decke stecken. Eleanor traute keinem vom Schloß mehr, nicht einmal Iverson. Sie wollte mit jemandem von außerhalb sprechen, denn sie mußte ihr Herz erleichtern und brauchte den Rat und den Zuspruch eines anderen Menschen. Ihre Eltern waren in London, wie sollte sie sie erreichen. Außerdem hätte ihr Vater, der biedere Rektor, ihr nur empfohlen, sofort die Koffer zu packen, Warwick Castle zu verlassen und die Behörden zu informieren.
Doch die Polizei konnte bestimmt nichts ausrichten, schließlich gab es keine Beweise für eine strafbare Handlung. Außerdem war Stephen da, den Eleanor nicht im Stich lassen wollte. Sie wäre sich wie eine Verräterin vorgekommen, hätte sie den Jungen alleine auf Warwick Castle gelassen. Ihr fiel nur ein Mensch ein, an den sie sich wenden konnte. Das war Peter Harris.
*
Am nächsten Tag war Stephens Mittelohrentzündung etwas besser geworden. Der Junge durfte wieder einige Stunden aufstehen, was ihn sehr glücklich machte. Da der Unterricht noch ausfiel, beschäftigte Eleanor sich den ganzen Tag mit dem Kind. Stephen erzählte Eleanor von Sir Gregory, dem Ritter aus seinen Phantasiegeschichten, und von seiner Mutter. »Sie kann durch die Mauern gehen«, behauptete er ernst. »Manchmal schwebt sie im Nebel über dem Schloßgraben. Soll ich dir ein großes Geheimnis verraten, Eleanor? Aber nur, wenn du schwörst, es niemandem weiterzusagen.« Eleanor hob drei Finger der rechten Hand. »Riesengroßes Gouvernantenehrenwort. Die Haare und Zähne sollen mir ausfallen, wenn ich es breche«, schwor sie so ernst wie möglich. Stephen lachte. Dann beugte er sich zu ihr und flüsterte verschwörerisch: »Ich habe ein Brüderchen hier im Schloß. Es heißt Crane und ist im Westflügel. Meine Mutter ist immer bei ihm. Mrs. McIntosh und ihr Mann versorgen es mit Essen. Aber es hat kein Spielzeug, darum weint es oft. Und kein
Fremder darf es sehen, weil es ganz, ganz böse und häßlich ist.« »Rede nicht solchen Unsinn«, meinte Eleanor strafend. »Man darf nicht lügen.« Doch sie wußte, daß ein Teil der Wahrheit entsprach. Ich muß herausfinden, was hier im Schloß passiert, dachte sie. Am Nachmittag ritt Eleanor zu Peter Harris’ Cottage. Das Landhaus lag in den Hügeln an einem Bach. Drei Erlen wuchsen in seiner Nähe. Garten und Haus wirkten ungepflegt. Harris hatte kein Telefon, so daß Eleanor sich nicht vorher hatte anmelden können. Aber sie hatte Glück, Peter Harris war zu Hause. Er kam vor die Tür, als er sie kommen hörte, um sie zu begrüßen. Elegant gekleidet und blendend aussehend, schien Peter nicht in diese Umgebung zu passen. Seine linke Wange war noch geschwollen, und ein Pflaster klebte darauf und verdeckte die Striemen, die der Lord ihm zugefügt hatte. »Was verschafft mir das Vergnügen deines Besuchs, Eleanor?« fragte er lächelnd. »Ich muß mit dir sprechen«, erklärte sie aufgeregt. Zunächst sattelte Peter ihre Stute ab und führte sie in den Stall. Dann brachte er Eleanor ins Haus. Die Einrichtung war eher ärmlich zu nennen. »Du siehst, ich lebe bescheiden«, sagte Peter verlegen. »Bitte, nimm Platz. Kann ich dir etwas anbieten? Ich habe gerade Tee aufgesetzt.« »Ich trinke gern eine Tasse.« Eleanor legte ihre Reitjacke und den Hut ab. Dann nahm sie in einem älteren Ledersessel Platz, während Peter nach nebenan ging, um den Tee zu bereiten. Kurz darauf kam er mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kanne und Tassen standen.
Er setzte sich Eleanor gegenüber. Unbekümmert erzählte er, was er den Tag über gemacht hatte. Doch Peter konnte nicht verbergen, daß er sich wegen der ärmlichen Umgebung schämte. Er hatte ihr von Paris und der Côte d’Azur erzählt, von Safaris in Afrika und dem Skifahren in Gstaad. Eleanor hatte ein luxuriöses Haus erwartet und nicht diese ärmliche Hütte. »Du fragst dich bestimmt, weshalb ich hier so bescheiden lebe«, meinte Peter schließlich. »Ich will es dir verraten. Edward hat mich um mein Erbteil betrogen. Er verfolgt mich seit Jahren mit seinem Haß und hat mich in der Gesellschaft unmöglich gemacht.« »Ich habe etwas anderes gehört«, erwiderte sie ruhig. »Peter, sag mir die Wahrheit. Bist du Lady Marys Liebhaber gewesen? Ich muß es wissen. Es gibt verschiedene Rätsel in Warwick Castle, die ich lösen will.« »Da hast du dir allerhand vorgenommen.« Peter Harris kniete vor Eleanor nieder, ergriff ihre Hände und blickte ihr tief in die Augen. »Eleanor, ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, daß zwischen Mary und mir niemals etwas Ungehöriges vorgefallen ist. Wir waren gute Freunde, mehr nicht. Über einen Händedruck und einen Wangenkuß sind wir nie hinausgekommen.« Er verstummte. Eine Weile hörte man nur das Ticken der Standuhr. »Aber Edward, der seit jeher eine Abneigung gegen mich hatte, entwickelte eine krankhafte Eifersucht«, fuhr Peter dann fort. »Sie ging so weit, daß er Mary mißhandelte und sogar einsperrte. Ich stellte ihn deshalb zur Rede, und er verwies mich aus dem Schloß. Ich blieb jedoch in der Nähe, um Mary beistehen zu können. Ich hatte ihr geraten, ihren Gatten zu verlassen, denn er muß geistig verwirrt sein.
Von meinem Cottage konnte Edward mich nicht vertreiben, da es mir gehört. Das Nutzrecht für etwas Land habe ich auf Lebenszeit. Dieser Grund und Boden ist verpachtet und sichert mir ein geringes Einkommen. Ich hätte damals voraussehen müssen, wie sich alles entwickelte und Mary mit allen Mitteln aus Edwards Machtbereich bringen müssen. Aber das tat ich nicht. Und dann erfuhr ich eines Tages, daß sich Mary ertränkt hatte. Sie hatte die Demütigungen und seelischen Mißhandlungen ihres Gatten nicht mehr ertragen können und flüchtete in den Tod. So ist es gewesen. Edward hat sie umgebracht. Er ist schuld an ihrem Tod.« »Hast du Lady Mary noch einmal wiedergesehen, nachdem dich Edward aus dem Schloß verwies?« fragte Eleanor. »Nur von weitem.« Peter hatte sich wieder erhoben und ging im Zimmer auf und ab. »Das Licht im Westturm war das Zeichen für mich, daß sie an mich dachte. Es brannte jede Nacht. Meine Gedanken waren nur bei ihr. Ich wartete auf ein Zeichen von ihr, um mit ihr weggehen zu können. Daß ich zu lange abgewartet habe, war mein Verbrechen.« »Lady Mary war damals schwanger«, fuhr Eleanor leise fort. »Was weißt du darüber?« »Nichts«, antwortete Peter brüsk. »Mir ist davon nichts bekannt.« Eleanor erwähnte dann das nächtliche Spinettspiel und den Gesang. Peter starrte sie entsetzt an. Er wurde blaß, seine Hände krampften sich zusammen. »Ihr Geist geht um«, flüsterte er. »Sie findet keine Ruhe und spukt ruhelos umher. Oh, Mary, Mary, nicht einmal im Tod findest du deinen Frieden. Was sagtest du, hat die Frau gesungen?« Eleanor wiederholte die beiden Verse, die sich ihr tief eingeprägt hatten.
»Das war unser Lied«, erzählte Peter Harris. »Mary hat es selbst gedichtet. Es gibt keinen Zweifel mehr. Ihr Geist geht im Schloß um.« »Aber Lord Edward muß doch von dem Spuk wissen«, fragte Eleanor sich. Eleanor erwähnte das Kind im Westflügel nicht. Der verschlossene Gang in den Gewölben unter dem Schloß fiel ihr plötzlich wieder ein. Auch dort mußte sie sich einmal umschauen. Sie hätte Peter gerne um Hilfe gebeten. Doch Eleanor wußte nicht, wem sie noch glauben sollte. Sie mochte den Lord nicht derart hintergehen, daß sie seinen Todfeind ins Schloß ließ. Peters Charme verfehlte an diesem Tag bei Eleanore jede Wirkung. Plötzlich kam ihr dieser Mann nicht mehr attraktiv vor – eher verkommen. Daher verabschiedete sie sich bald wieder von ihm. Während des Rückritts überlegte Eleanor, wer wohl die Wahrheit gesprochen hatte – Iverson oder Peter? Eleanor beschloß, sich so bald wie möglich selber Gewißheit zu verschaffen – gleichgültig, welches Risiko sie damit einging. Am nächsten Tag reiste Lord Edward nach Aberdeen. Die Angelegenheiten, die er dort zu erledigen hatte, betrafen hauptsächlich seine Beteiligung an der Reederei. Er beabsichtigte, vierzehn Tage zu bleiben. Stephen winkte seinem Vater nach, als dieser über die Schloßbrücke in seinem Rolls Royce davonfuhr. Als der Wagen nicht mehr zu sehen war, sagte der Junge traurig zu Eleanor: »Jetzt hat mich Daddy alleine gelassen. Ich werde ihn sehr vermissen.« Er liebte seinen Vater über alles. Eleanor merkte es jetzt erst richtig.
»Ich bin ja bei dir, Stephen«, tröstete sie ihn und faßte ihn bei der Hand. »Komm, wir gehen jetzt in den Park, um dort miteinander zu spielen.« An diesem Abend hatte Eleanor beschlossen, die Geheimnisse von Warwick Castle aufzudecken. Nachdem sie Stephen ins Bett gebracht hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und wartete bis Mitternacht. Gleich in der ersten Nacht von Lord Edwards Abwesenheit wollte sie in den Westflügel, um Crane aufzusuchen. Als endlich die Uhr zwölfmal schlug, huschte Eleanor durch die Schloßgänge und die Treppen hinauf. Sie hatte sich den Hauptschlüssel besorgt und eingesteckt. Außerdem nahm sie die Taschenlampe mit. Angst hatte sie keine. Schließlich wollte sie nur ein kleines Kind besuchen. Eleanor weigerte sich, an einen Spuk zu glauben. Schottland war zwar das Land der Geistergeschichten, aber das waren eben nur Geschichten. Eleanor kam zu dem Zimmer, in dem sie das Kind und den Lord beim letzten Mal gehört hatte. Diesmal bemerkte sie keinen Lichtschimmer. Die Tür war verschlossen, doch mit dem Schlüssel konnte Eleanor sie öffnen. Lautlos trat sie ein und knipste die Taschenlampe an. Sie befand sich in einem Kinderzimmer. An der Holztäfelung waren lustige Bilder und Märchenfiguren angeklebt. Einige Spielsachen lagen am Boden verstreut. In der Ecke stand ein kleines Bett mit einem Baldachin und Vorhängen. Eleanor schlich näher an das Bett heran und blickte neugierig hinein. Die Vorhänge waren zur Seite gerafft. Ein Kind lag schlafend im Bett. Es war ein Junge. Eleanor schätzte ihn auf vier oder fünf Jahre. Sein Kopf war zu groß und deformiert, der dünne
Hals saß auf einem mißgestalteten Körper. Crane hatte die Decke weggestrampelt, so daß sie es sehen konnte. Eleanor erschrak zunächst über seine Häßlichkeit. Sie konnte verstehen, daß Lord Edward diesen Sohn vor der Öffentlichkeit verbarg. Doch gleich darauf erfaßte sie tiefes Mitleid mit diesem hilflosen Wesen. Auch dieses Kind wollte geliebt werden und nicht dieses menschenunwürdige Dasein führen. Während Eleanor das Kind anschaute, rollte es sich plötzlich herum und öffnete die Augen, die dunkel und ausdrucksvoll waren. Eleanor zögerte. Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Crane hob seine kurzfingrige Hand und brachte unartikulierte Laute hervor. Vor vier Jahren hatte Lady Mary sich umgebracht. Crane mußte danach knapp fünf Jahre alt sein. Eleanor deckte ihn zu und strich ihm über das Haar. »Schlaf, Kind«, flüsterte sie. »Ich habe nur nach dir sehen wollen. Es ist alles gut. Träum etwas Schönes.« Sie hauchte dem Kind einen Kuß auf die Stirn. Cranes regelmäßige Atemzüge verrieten ihr, daß er wieder eingeschlafen war. Eleanor verließ Cranes Zimmer rasch und schloß von außen wieder ab. Gewiß würden John oder Maggie McIntosh in der Nacht nach ihm sehen. Eleanor wollte von ihnen nicht überrascht werden. Mit widerstrebenden Empfindungen kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Noch im Schlaf verfolgte sie Cranes Anblick, zugleich empfand sie auch die rührende Hilflosigkeit, die dieses Kind ausstrahlte. Jetzt wußte Eleanor, weshalb nachts im Westflügel Licht brannte. Aber das war noch keine Erklärung für das Spinettspiel und den Gesang. Crane brachte beides bestimmt nicht zustande.
Am folgenden Tag war Eleanor in sich gekehrt und mit ihren Gedanken beschäftigt, was Stephen sofort auffiel. »Warum bist du heute so komisch?« fragte er enttäuscht. »Ich habe dich schon dreimal gefragt, wie ich diese Rechenaufgabe lösen soll. Aber du hörst überhaupt nicht zu.« »Entschuldige, ich habe gerade nachgedacht«, erklärte Eleanor hastig. »Aber deine Aufgaben mußt du selber lösen. Überleg mal, Mr. Fergusson hat es dir bestimmt erklärt. Wenn du fünfzehn Äpfel hast, dreizehn weggibst und sieben zurückerhältst, wieviel sind es dann?« »Was soll ich denn mit fünfzehn Äpfeln? Die werden doch faul. Dieser Mr. Fergusson ist albern. Kannst du mich denn nicht unterrichten, Eleanor? Du bist doch auch Lehrerin.« »Mr. Fergusson ist dein Lehrer. Ob du fünfzehn Äpfel essen kannst oder nicht, darum geht es hier überhaupt nicht. Sondern um das Rechnen«, meinte sie fest. »Das kannst du doch. Streng dich mal an, oder willst du dumm bleiben?« »Ich bin nicht dumm, ich bin adlig. Später werde ich mal ein Lord, dann heirate ich dich, Eleanor. Ganz bestimmt.« Eleanor lachte. »Vielleicht überlegst du es dir bis dahin noch. Wir werden sehen. Also, was ist nun mit den Äpfeln?« Stephen rechnete die Aufgabe richtig aus. Wie allen Kindern in seinem Alter fiel es ihm schwer, sich eine Weile zu konzentrieren. Eleanor verglich Stephen mit seinem Brüderchen Crane. Wieder sah sie ihn vor sich. Krank und hilflos.
*
Schon bald darauf beschloß Eleanor, hinter das Geheimnis des Schloßkellers zu kommen. Am nächsten Vormittag schlich sie, als Stephen Unterricht hatte, in den Schloßkeller. Hauptschlüssel und Vierkantschlüssel sowie die Taschenlampe hatte sie dabei. Das Personal war mit seinen Arbeiten im Schloß beschäftigt, so daß Eleanor von niemandem gestört werden würde. Sie folgte dem Weg, den ihr Stephen am ersten Tag gezeigt hatte, und fand die Mauerritze mit dem Mechanismus für das erste Fallgitter. Als sie den Vierkantschlüssel drehte, hob sich das Fallgitter ohne viel Lärm. Der Mechanismus war gut geölt. Eleanor wunderte sich darüber. Neugierig ging sie weiter den Gang entlang und gelangte schließlich zu dem verbreiterten Korridor. Eleanor wendete sich dem Gang zu, der zu dem unterirdischen Brunnen führte und der laut Lord Edward ständig verschlossen sein sollte. Wieder erkannte sie deutliche Fußspuren auf dem Boden hinter dem Gitter. Aufgeregt suchte Eleanor nach dem Schloß. Dazu leuchtete sie in die Mauerfugen. Die schwache Glühbirne an der Decke gab nur ein trübes Licht ab. Endlich, als sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, hatte Eleanor doch noch Erfolg. Das Schloß saß ziemlich hoch, daher hatte sie es nicht sofort gefunden. Sie steckte den Schlüssel hinein. Er paßte. Langsam drehte sie ihn um. Dieses Gitter war nicht so gut geölt wie das andere. Es knarrte und quietschte. Eleanor blickte sich ängstlich um, ob ihr jemand folgte. Doch niemand war zu sehen. Langsam betrat Eleanor den Gang. Das Gemäuer war uralt und feucht. Wasser tropfte von der Decke auf den Boden.
Eleanor schauderte. Dieser Ort war ihr unheimlich. Doch sie gab nicht auf. Sie nahm allen Mut zusammen und ging weiter, bis sie endlich den unterirdischen Raum mit dem Brunnen erreicht hatte. Neugierig sah Eleanor sich um. Sie befand sich in einem Gewölbe mit zwei Nischen. Der Brunnen, der eine eiserne Zugwinde und eine gemauerte Umrundung hatte, befand sich in der Mitte. Auf dem Brunnenrand lag ein frischer Blumenstrauß. Eleanor ging zu dem Brunnen und leuchtete hinein. Der Wasserspiegel lag zehn Meter unter ihr. Das Wasser war grünlich und trüb. Zwischen dem Schloßgraben und dem unterirdischen Brunnen gab es anscheinend keine Verbindung. Sonst hätte das Wasser im Brunner viel höher stehen und sogar überlaufen müssen. Lord Edward hatte einmal von einer unterirdischen Wasserader gesprochen, die den Brunnen speiste. Es wunderte Eleanor, daß frische Blumen hier lagen. Sie leuchtete in die erste Nische. Dort entdeckte sie einen kleinen Altar. Und darauf stand, mit einem Trauerflor versehen, ein Bild der schwarzhaarigen Lady, die Eleanor schon auf dem Gemälde in dem Raum vor Cranes Schlafzimmer gesehen hatte. Davor standen zwei Vasen mit weißen Lilien und ein silberner Kerzenständer sowie ein Kreuz. Das Gemälde zeigte die Lady in strahlender Schönheit. Eleanor überlegte sich, weshalb man gerade in diesem Gewölbe einen Gedenkaltar errichtet hatte. Hatte Lady Mary sich etwa nicht im Schloßgraben sondern in dem unterirdischen Brunnen ertränkt? Darüber nachzudenken blieb Eleanor keine Zeit. Plötzlich ließ sie ein Knarren und Quietschen entsetzt zusammenfahren.
Aufgeregt rannte sie zurück zum Gitter – und sah, daß es sich senkte. Nur zwei Handbreit trennten die spitzen Gitterstäbe noch vom Boden. Eleanor lief darauf zu und versuchte vergebens, es zu öffnen. Doch es ging nicht. Eleanor war in dem unterirdischen Verlies gefangen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sich der Mechanismus von selbst in Bewegung gesetzt hatte. Ein Kichern ertönte. Und eine helle, klare Frauenstimme sprach: »Ich habe dich gewarnt, dennoch spionierst du mir weiter nach. Darum sollst du hier sterben.« »Wer bist du?« fragte Eleanor. »Bitte, laß mich frei, ich habe dir nichts getan.« »Ich bin Lady Mary, die arme Lady Mary vom River Dee. Ich bin in dem Brunnen dort unten ertrunken. Sein Wasser war kalt, so kalt. Edward hat mich hineingestoßen. Es war Mord, hörst du, Mord! Verflucht soll er sein für alle Zeiten.« Abermals erklang das schreckliche Kichern. Eleanor bemerkte flüchtig eine vorbeihuschende weiße Gestalt. Dann erlosch das Deckenlicht im Gewölbe. Eleanors Taschenlampe war die einzige Lichtquelle. Eleanor schluchzte auf vor Entsetzen. Gab es doch Geister? Und hatte die Stimme die Wahrheit gesprochen? War Lady Mary tatsächlich von ihrem Gatten ermordet worden? Doch diese Fragen beantwortete ihr niemand mehr.
*
Das Licht von Eleanors Taschenlampe wurde schwächer. Die Batterie war am Ende. Eleanor fing an zu zittern. Aus dem
Brunnenschacht stiegen Feuchtigkeit und klamme Kälte, die mit unsichtbaren Fingern nach dem Mädchen griffen. Eleanor konnte mit ihrem Schlüssel das Schloß für das Fallgitter nicht erreichen. Mehr als ein Meter an Reichweite fehlte ihr. Es war auch ausgeschlossen, das Gitter zu bewegen. Eleanor rief laut um Hilfe. Sie rüttelte verzweifelt an den Gitterstäben, bis sie die Sinnlosigkeit ihres Bemühens einsah. Niemand konnte sie oben im Schloß hören. Und es würde eine Weile dauern, bis man sie vermißte. Doch würde man sie auch dann bestimmt nicht in den Kellergewölben suchen. Vielleicht am nächsten Tag oder am übernächsten würde man auch hier unten nachsehen. Aber wer garantierte Eleanor, daß ihr bis dahin nichts zustieß? Jemand hatte sie eingesperrt. Wer immer es gewesen war, dieses Wesen oder Unwesen konnte zurückkehren und Eleanor in den Brunnen werfen. Todesangst erfaßte sie bei dem bloßen Gedanken an das eiskalte, faulige Wasser. Sie fürchtete sich und zitterte vor Angst am ganzen Körper. Beruhige dich, Eleanor, redete sie sich selber zu. Du mußt einen kühlen Kopf bewahren. Es gibt immer einen Ausweg. Durch die Gittertür zu gelangen oder diese zu öffnen, war für Eleanor unmöglich. Daher kehrte sie zu dem Brunnen zurück. In dem Gewölbe sah sie sich gründlich um. Doch Eleanor sah keine Möglichkeit, aus diesem unheimlichen Gewölbe zu entkommen. Sie knipste die Lampe aus, um die fast leere Batterie zu schonen, und setzte sich auf den Boden. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken, als sie ein leises Geräusch hörte. Ein Flattern und Kratzen. Das mußte sich um eine Fledermaus handeln, dachte Eleanor entsetzt. Wer immer sie hier unten eingesperrt hatte, trieb ein teuflisches Spiel. Er hoffte, sie würde vor Angst wahnsinnig werden.
Plötzlich hatte Eleanor eine Idee. Sie ließ ihre Taschenlampe wieder aufleuchten und untersuchte die Nische neben dem Altar. Und da fiel ihr etwas Sonderbares auf: Die Seitenfugen waren größer als die in der Nische mit dem Gedächtnisaltar für Lady Mary. Und am Boden waren Erdkrumen und Steinbröckchen zur Seite und an die Wand gefegt. Eleanor leuchtete in die Fugen und sah sie sich genauer an. Sie entdeckte ein Zapfenschloß wie jenes, das die Falltüren geöffnet hatte. Gespannt versuchte sie, ob der Schlüssel auch hier paßte. Und Eleanor hatte Glück. Als sie ihn im Schloß drehte, wich die Rückwand der Nische laut knarrend zur Seite. Ein dunkler Gang lag vor Eleanor. Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller. Das war der Ausweg. Der Geheimgang war ihre Rettung. Eleanor betrat entschlossen den muffig riechenden Gang. Er war sehr eng und stellenweise bröckelte das Mauerwerk. Eleanor mußte über Steinbrocken hinwegsteigen. Fledermäuse flatterten kreischend an ihr vorbei. Lederne Schwingen streiften ihre Wange. Der Gedanke, daß sich eine Fledermaus in ihren Haaren verfangen könnte, erfüllte sie mit Entsetzen. Das Licht der Taschenlampe wurde immer schwächer. Schließlich glimmte die Birne nur noch. Eleanor bekam wieder furchtbare Angst. Im Dunkeln diesen unterirdischen Gang entlanggehen zu müssen, ließ Panik in ihr aufsteigen. Der Gang gabelte sich. Einer sank steil ab, der andere führte nach oben. Eleanor vermutete, daß der abfallende außerhalb des Schlosses an die Oberfläche mündete. Er führte gewiß unter dem Schloßgraben durch. Der andere mußte ins Schloß hinaufführen. Neue Hoffnung erfüllte Eleanor. Sie wollte so schnell wie möglich hinauf. Sie schaltete die Lampe aus in der Hoffnung, daß sich die Batterie wieder etwas aufladen und im Notfall
noch etwas Licht geben würde. Im Dunkeln tastete sie sich voran. Heftige Kopfschmerzen peinigten Eleanor. Sie rührten von der schlechten Luft her. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Eleanor Keuchte. Der Gang wollte kein Ende nehmen. Endlich kam Eleanor an eine Wendeltreppe, die sie langsam hinaufstieg. Die Luft wurde etwas besser. Die Treppe endete in einer Kammer oder einem Treppenabsatz. Eleanor blieb einen Moment stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Da hörte sie ein Geräusch hinter sich. Bevor sie die Lampe anknipsen konnte, packten sie kalte Hände von hinten bei der Kehle und schnürten ihr die Luft ab. Eleanor versuchte vergeblich, sich zu befreien. Der Griff der kalten Finger war stahlhart. »Stirb!« zischte eine Stimme, von der sie nicht wußte, ob sie einem Mann oder einer Frau, einem Menschen oder einem Geist gehörte. Eleanor versuchte noch einmal, dem Würgegriff zu entkommen. Vergeblich. Sie keuchte nach Luft, dann schwanden ihr die Sinne. Es war, als ob sie in einen bodenlosen Schacht stürzen würde. Eleanors Kopf schmerzte, als sie langsam wieder zu sich kam. Sie schlug die Augen auf und sah, zunächst unklar, dann in immer schärferen Konturen, die Gesichter von John und Maggie McIntosh, Iverson, Fergusson und McCord über sich. Eleanor lag im Blauen Salon von Warwick Castle auf der Couch. Helles Tageslicht fiel durch das Fenster. Ihr Hals schmerzte heftig, als sie zu schlucken versuchte. Wieder glaubte Eleanor, die eiskalten Hände an ihrer Kehle zu spüren. Ein Schauer rann über ihren Körper. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Nur mühsam brachte sie die Worte hervor.
»Wie… komme ich hierher?« »Wir haben Sie unten beim Brunnen gefunden, Miß Spencer«, antwortete der Butler. »Stephen vermißte Sie zuerst und drang darauf, Sie in den Gewölben zu suchen, als wir Sie nirgends entdecken konnten.« Eleanor verdankte Stephen ihr Leben. Aus eigener Kraft konnte sie aber nicht in das Brunnengewölbe zurückgelangt sein. Jemand mußte sie dorthin geschafft haben. Bestimmt, um sie zu ertränken, wie vor vier Jahren die Lady Mary ertrunken war. Wer war es gewesen? »Wie spät ist es?« fragte Eleanor mit schwacher Stimme. Es war gerade anderthalb Stunden her, seit sie in den Geheimgang vorgedrungen war. Ihr schienen es Ewigkeiten zu sein. Sie hatte inzwischen auf der Schwelle des Todes gestanden. Eleanor trug noch die schmutzigen Kleider. Ihr von blauen Flecken übersäter Hals schmerzte. »Was hatten Sie da unten zu suchen, Miß Spencer?« fragte der steife John streng. »Und wie konnte das Fallgitter sich hinter Ihnen schließen? Ich verstehe das nicht.« Er hatte das Gitter mit einem Vierkantschlüssel geöffnet. »Jemand hat mich eingeschlossen«, antwortete Eleanor. »Ist Ihnen in dem Brunnengewölbe etwas aufgefallen, Mr. McIntosh? Fußspuren vielleicht?« »Nein, außer Ihren Spuren habe ich keine gesehen, Miß Spencer. Es ist unverantwortlich von Ihnen, sich in die alten Kellergewölbe zu begeben, obwohl Seine Lordschaft es Ihnen streng verboten hat. Wer, um Himmels willen, ist Ihnen da unten begegnet? Sie haben Würgemale am Hals. Wir hielten Sie schon für tot. Sollen wir einen Arzt holen?« Eleanor schüttelte den Kopf. McIntosh und Iverson halfen ihr, aufzustehen. Ihr war zwar noch etwas schwindelig, aber
sonst ging es ihr wieder gut. Dann fragte Eleanor nach Stephen. Mrs. McIntosh holte ihn. Überglücklich rannte er zu Eleanor und schloß sie in seine Arme. »Eleanor, ich hatte solche Angst um dich! Ich bin so froh, daß du noch lebst. Fehlt dir auch nichts?« Ängstlich sah er sie an. »Mir geht es schon wieder gut.« Eleanor küßte den Jungen. »Aber wenn du nicht gewesen wärst, wer weiß, was dann geschehen wäre.« Der Gedanke daran ließ sie erschaudern. Eleanor wußte, daß sie dann vielleicht schon nicht mehr am Leben wäre.
*
Am späten Nachmittag rief Eleanor in Aberdeen bei der Reederei an. Sie wollte selbst mit Lord Edward reden, bevor andere ihm erzählten, was vorgefallen war. Doch in der Reederei war er noch nicht eingetroffen. »Seine Lordschaft ist erst für morgen bei uns angesagt«, erklärte die Sekretärin. »Sind Sie sicher?« fragte Eleanor erstaunt. »Selbstverständlich. Soll ich Seiner Lordschaft etwas bestellen?« »Nein, danke. Ich melde mich wieder.« Eleanor legte auf. Wenn Lord Edward noch nicht in Aberdeen war, obwohl er behauptet hatte, unverzüglich dorthin zu fahren, was hatte das zu bedeuten? War er vielleicht in den Gewölben gewesen? Eleanor war davon überzeugt, daß es in Warwick Castle noch mehr als den einen Geheimgang gab.
Das ganze Schloß erschien ihr plötzlich unheimlich. Jemand hatte sie in den Brunnen stoßen und ertränken wollen. Zur Ausführung dieser Tat war es nur nicht gekommen, weil der Butler gerade im rechten Moment erschienen war. Die Person, die Eleanor gewürgt und zurückgeschleppt hatte, war durch den Geheimgang geflüchtet, um nicht entdeckt zu werden. Aber handelte es sich um ein Wesen von Fleisch und Blut? Eleanor fror, obwohl es noch Sommer war und das Kaminfeuer brannte. Ihre Überzeugung, daß es keine Geister und übernatürlichen Wesen gäbe, war ins Wanken geraten. Am liebsten hätte sie Warwick Castle sofort verlassen. Doch der Gedanke an Stephen hielt sie zurück. Und der Mut, der ein fester Bestandteil ihres Charakters war. »Du wirst nicht weglaufen, Eleanor Spencer«, erklärte sie mit fester Stimme. »Schließlich bist du kein Feigling. Du mußt herausfinden, was liier im Schloß vor sich geht.« Am Abend, nachdem sie Stephen zu Bett gebracht hatte, begab sich Eleanor ins Gesellschaftszimmer im Ostflügel. Dort hatte sie dieses merkwürdige Licht gesehen, als sie Lord Edward in Cranes Zimmer belauscht hatte. Eleanor untersuchte die Wand genauer. Doch Mauerritzen oder Fugen waren keine da. Eleanor untersuchte die Sockelleiste und alle Wandvorsprünge. Schließlich drückte sie gegen eine Ecke des Kaminsimses. Sie ließ sich verschieben. Jetzt ertönte das Knarren, das sie bei ihrem letzten nächtlichen Besuch hier gehört hatte. Ein Teil der Wand klappte zurück. Direkt neben dem Kamin lag der Geheimgang. Eleanor leuchtete vorsichtig hinein. Doch sie wagte nicht, den Gang zu betreten. Das Abenteuer vom Morgen reichte ihr für diesen Tag.
Eleanor schloß die Geheimtür wieder. Der Gedanke, daß vielleicht auch in ihr Zimmer ein solcher Geheimgang führte, machte ihr Angst. Eilig lief sie in ihr Zimmer und untersuchte die Wände genauer. Doch Eleanor konnte keine Geheimtür finden. Aber ganz sicher, daß es keine gab, war sie darum noch nicht. In dieser Nacht schlief Eleanor sehr schlecht. Es mußte schon gegen Morgen sein, als Eleanor von den Klängen des Spinetts erwachte. Und sie hörte den Gesang der Sopranstimme: »Es rauschen die Wellen vom River Dee, für ihren Geliebten und Lady Mary. So grün war das Gras, die Sonne schien, auf ihren Geliebten und Lady Mary.« Eleanor saß starr vor Entsetzen im Bett. Sie brachte es nicht fertig, hinaufzugehen und nachzusehen. Ihre Zähne schlugen wie im Schüttelfrost aufeinander. Es dauerte einige Zeit, bis der Gesang wieder verstummte. Erleichtert atmete Eleanor auf. Sie war so erschöpft von den Ereignissen des Tages, daß sie kurz darauf wieder in einen unruhigen Schlaf fiel. Lady Mary und ihr Gesang ließen sie aber nicht zur Ruhe kommen. Sie geisterten selbst durch ihre Träume.
*
In der folgenden Nacht beschloß Eleanor, wieder nach Crane zu sehen. Sie wollte auch in den Westturm. Vielleicht fand sie dort etwas, was ihr weiterhalf, die Rätsel von Warwick Castle zu lösen. Warum bemühte sie sich eigentlich, hinter das Geheimnis von Warwick Castle zu kommen?
Weshalb begab sie sich in Gefahr, anstatt wegzugehen? Sie wußte es selbst nicht genau. Ihre Zuneigung zu Stephen und ihr Verantwortungsgefühl spielten wohl dabei eine Rolle. Als Eleanor glaubte, daß alle Hausbewohner schliefen, schlich sie sich in den Westflügel hinüber. Hauptschlüssel, die Taschenlampe, natürlich mit einer neuen Batterie, und eine Dose mit Tränengasspray hatte sie mitgenommen. Das Tränengasspray hatte sie sich am Nachmittag bei ihren Einkäufen in Cairbain besorgt. Eleanor hatte bald Cranes Zimmer erreicht, wo der Junge fest schlief. Eleanor strich leicht über Cranes Haar. Manche Menschen waren fürs Unglück geboren, Crane würde niemals glücklich sein können. Eleanor ging dann zum Westturm hinüber. Sie fand nach kurzem Suchen das Zimmer, in dem sie öfter das Licht gesehen hatte. Es war ein Maleratelier. Die Einrichtung des geräumigen Zimmers verriet weiblichen Geschmack. Die Bilder, meistens Stilleben oder Ansichten von Warwick Castle, zeugten vom Talent des Malers. Dann entdeckte Eleanor eine verhüllte Staffelei. Neugierig nahm sie das Tuch fort. Eleanor erschrak, als sie das fast fertige Gemälde erblickte. Es zeigte ein bleiches Gespenst. Es trug unzweifelhaft die Züge der Lady Mary. Unten auf dem Bild stand mit blutroter Farbe geschrieben: Ich kehre zurück! Das Bild mußte nach dem Tod der Lady Mary entstanden sein. Nach einigem Schaudern zwang Eleanor sich, abermals einen Blick darauf zu werfen. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Leinwand – sie war noch feucht.
Entsetzt betrachtete Eleanor den Farbklecks an ihrer Fingerkuppe. Wer hatte dieses Bild gemalt? Lebte die Lady noch, oder ging ihr Geist im Schloß um? Eleanor fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie wußte später nicht mehr zu sagen, wie sie aus dem Atelier gekommen war. Als sie vor Entsetzen zitternd endlich den Korridor erreicht hatte, flammte plötzlich das Licht auf. Ein Angstschrei löste sich aus Eleanors Mund. Doch es waren nur John McIntosh und seine Frau. Sie kamen aus einem Seitenkorridor und blickten Eleanor anklagend an, als sie sie entdeckten. »Ich wußte es, daß Sie hier herumschnüffeln würden, Miß Spencer. Verflucht sei der Tag, an dem sich Lord Edward entschloß, Sie hier im Schloß zu behalten. Sie bringen uns alle in größte Gefahr, Sie nichtswürdige Person.«
*
Am Abend des nächsten Tages wurde Eleanor von Hester angesprochen, die sie in einem unbeobachteten Moment abgepaßt hatte. »Meine Zwillingsschwester und ich mögen Sie«, vertraute sie Eleanor an. »Deshalb wollen wir Sie warnen, Miß Spencer. Die McIntoshs haben Lord Edward von Ihren Erkundungsgängen unterrichtet. Er wird schon morgen zurückkehren. Unternehmen Sie heute nacht bloß nichts mehr, sonst gibt es ein Unheil.« Ängstlich sah sie Eleanor an. »Weshalb schweigt ihr zu den Vorgängen hier im Schloß?« fragte diese verständnislos. »Das kann man doch nicht einfach hinnehmen, man muß etwas tun.«
»Liza und ich sind nicht lebensmüde, uns mit einem Spuk anzulegen«, flüsterte Hester. »Lady Marys Geist geht um, das ist ganz gewiß. Sie hat er schon fast erwürgt, Miß Spencer. Ich bewundere Ihre Tapferkeit. Liza und ich hätten nie so viel Mut.« »Und das Kind, das im Westflügel verborgen gehalten wird?« erkundigte sich Eleanor aufgebracht. »Was ist mit ihm?« »Dieses Kind ist auch ein Geist«, behauptete Hester ernsthaft. Dann sah sie sich nach allen Seiten um, ob sie von jemandem beobachtet wurden. Doch niemand war zu sehen. »Auf diesem Schloß liegt ein Fluch«, flüsterte sie verschwörerisch. Dann hastete sie eilig davon. Der nächste Tag war ein Sonntag, und Eleanor besuchte in Cairbain die Kirche. Bei ihrer Rückkehr sah sie den Rolls Royce des Lords im Schloßhof stehen. »Daddy ist da!« rief Stephen, der Eleanor beim Kirchgang begleitet hatte, voller Freude. Iverson hatte sie im Bentley ins Dorf gefahren und wieder abgeholt. »Hoffentlich hat er mir etwas mitgebracht.« Er rannte los, um schnellstmöglich zu seinem Vater zu gelangen. Eleanor folgte ihm langsam. Sie trug ein Kleid aus fliederfarbener Seide mit Puffärmeln, Spitzenkragen und Ärmelbesatz, dazu Ohrringe. Die Würgemale am Hals hatte Eleanor mit einem Schal verdeckt. In der großen Halle wartete Mrs. McIntosh schon auf Eleanor. »Lord Edward möchte Sie noch vor dem Lunch in seinem Arbeitszimmer sprechen«, verkündete sie mit böser Genugtuung. »Ich bin sicher, daß Sie uns hier die längste Zeit Ungelegenheiten bereitet haben, Miß Spencer.« »Bestellen Sie Lord Edward, daß ich ihn in einer Viertelstunde aufsuche. Ich möchte mich vorher in meinem
Zimmer etwas auffrischen«, erklärte Eleanor kühl. Dann wandte sie Mrs. McIntosh den Rücken zu und ging davon. Niemand merkte ihr an, daß sie sich vor der Unterhaltung mit Lord Edward fürchtete. Lord Edwards Gesicht war streng und ernst, aber auch bleich und zerquält, als er Eleanor eine Viertelstunde später gegenüberstand. »Setzen Sie sich, Miß Spencer.« Er selbst blieb hinter dem Schreibtisch stehen. »Sie waren verbotenerweise in den alten Kellergewölben und in den Räumen im Westflügel. Warum handeln Sie meinen ausdrücklichen Befehlen einfach zuwider? Ich sollte Sie auf der Stelle entlassen.« »Das werden Sie nicht tun, Euer Lordschaft«, erklärte Eleanor fest. »Ich möchte von Ihnen eine Erklärung für das, was sich hier auf dem Schloß abspielt.« Lord Edwards Hände krampften sich vor Wut um die Rückenlehne des Schreibtischsessels. »Habe ich mich vielleicht vor meinem Personal zu rechtfertigen?« »Ich bin Ihre Angestellte, aber kein Dienstpersonal, Euer Lordschaft.« Eleanor knüpfte den Seidenschal auf und zeigte die blauvioletten Würgemale. »Ich wäre in Ihrem Schloß fast umgebracht worden.« »Eleanor, um Gottes willen!« Lord Edward stürzte zu ihr und beugte sich über sie. »McIntosh berichtete mir davon. Aber so schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt. Wie konnten Sie sich nur in derartige Gefahr begeben? Geht es Ihnen gut?« Zum ersten Mal hatte er sie beim Vornamen genannt. Eleanor spürte ein starkes Gefühl hinter seiner Zurückhaltung. Das verlieh ihr Selbstsicherheit. Das Gespräch nahm einen anderen Verlauf, als es sich Lord Edward vorgestellt hatte. »Ja, es ist alles in Ordnung, was meine Gesundheit betrifft«, beantwortete sie seine letzte Frage. »Aber warum sorgen Sie sich so um mich, Lord Edward?«
Er wandte sich ab und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Nun, ich trage Verantwortung für Sie, Miß Spencer.« Eleanor lächelte zärtlich. »Warum nennen Sie mich nicht mehr Eleanor?« Der Lord drehte sich um, und seine Augen sahen sie gepeinigt an. »Sie sind mehr für mich als meine anderen Angestellten, Eleanor«, sagte er. »Schon als ich Ihr Bild bei dem Bewerbungsschreiben sah, gefielen Sie mir. Aber damals machte ich mir noch vor, es sei reine Sympathie. Denn nach dem, was ich erlebt hatte, wollte ich nie mehr eine Frau lieben. Als ich Sie dann jedoch das erste Mal sah, faßte ich vom ersten Moment an eine starke Zuneigung zu Ihnen.« »Warum haben Sie nie etwas davon gesagt?« fragte Eleanor leise. »Ich hielt es für besser, zu schweigen und diese Gefühle in meiner Brust zu verschließen. Meine erste Frau hat mich betrogen und sich umgebracht, weil sie den Konsequenzen ihrer Untreue nicht gewachsen war. Crane, den Sie kennengelernt haben, Eleanor, ist Peter Harris’ Sohn. Eine Blutgruppenuntersuchung hat zweifelsfrei ergeben, daß er nicht von mir abstammt.« »Trotzdem haben Sie Ihrer Frau Ihren Fehltritt verziehen und Crane im Schloß behalten?« »Ja, denn ich liebte Mary«, antwortete er verbittert. »Ich bemühte mich, ihr zu verzeihen. Ein Teil meines Wesens liebt sie immer noch, und selbst wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen, was damals geschah. Aber ich bin nicht mehr an Mary gekettet. Das Leben geht weiter, man kann nicht in der Vergangenheit leben.«
»Lady Mary… ertränkte sich, weil sie ein mißgebildetes, behindertes Kind hatte?« Eleanor sah ihn mitfühlend an. Der Lord nickte. »Cranes Geburt war ein entsetzlicher Schock für sie. Die Wehen setzten zu früh und überraschend ein. John McIntosh und Maggie mußten Mary Geburtshilfe leisten. Ich war nicht zu Hause, als Crane geboren wurde.« Verzweiflung und Trauer lag in der Stimme des Lords. Eleanors Herz wurde in diesem Moment von einem starken Gefühl der Liebe zu ihm durchflutet. »Mary flehte die McIntoshs an, die Geburt geheimzuhalten«, fuhr er fort. »Sie hielt Cranes Mißgestalt für eine Strafe des Himmels. In ihrer Verzweiflung gestand sie mir ihren Ehebruch mit meinem Cousin Peter.« Lord Edwards Stimme klang bitter. »Bis zu diesem Zeitpunkt war ich ahnungslos gewesen.« Es verhielt sich wie üblich. Der betrogene Ehemann erfuhr als letzter von der Tatsache. »Ich stellte Peter zur Rede, als sich Mary soweit von der Geburt erholt hatte – in ihrem Beisein. Es kam zu einer schweren Auseinandersetzung zwischen uns. Ich wies Peter schließlich aus dem Schloß und verbot ihm, sich je wieder in Warwick Castle blicken zu lassen oder meinen Besitz zu betreten. Mary hatte an diesem“ Tag endlich Peters niederträchtigen Charakter erkannt. Weinend bat sie mich um Verzeihung. Natürlich behielten wir Crane. Der alte Dorfarzt von Cairbain untersuchte ihn und stellte fest, daß auch Cranes innere Organe unzureichend ausgebildet sind. Er prophezeite ihm eine Lebensspanne von nur wenigen Monaten und meinte, das sei das beste für dieses unglückliche Kind und alle Beteiligten.« Eleanor hatte sich erhoben. Sie blickte Lord Edward mit warmem Mitgefühl an. »Es muß entsetzlich für euch alle gewesen sein«, flüsterte sie.
»Ja, auch für die McIntoshs. Sie litten mit uns, bewahrten aber vor der Außenwelt Stillschweigen. Dr. Maccaulty hielt seine ärztliche Schweigepflicht strikt ein. Er führte auch die Blutgruppenuntersuchung durch. Um Mary zu schonen, die sich wohl körperlich, aber nicht mehr psychisch von den Ereignissen der Vergangenheit erholte, hielt ich Crane im Verborgenen. Er erhielt alles, was er brauchte, und wurde mit Liebe gepflegt.« »Aber er starb nicht.« »Ja, es ist ein Wunder. Doch das Erwachsenenalter wird er unmöglich erreichen. Jetzt ist er fünf Jahre alt. Doch ich bin sicher, daß er in einem Jahr schon nicht mehr unter uns sein wird.« Seine Stimme schwankte. »Mary wurde mit ihren Schuldgefühlen und der Tatsache, ein Kind wie Crane zu haben, nicht fertig«, fuhr er leise fort. »Sie ertränkte sich in dem unterirdischen Brunnen. Dort endet der Geheimgang, durch den Peter kam, wenn er sie heimlich im Schloß aufsuchte. Es gibt verschiedene Geheimgänge und türen aus alten Zeiten. Nicht einmal ich kenne sie alle.« Vielleicht hätte Lord Edward sich mehr dafür interessieren sollen, dann wäre ihm wahrscheinlich vieles erspart geblieben, dachte Eleanor mitfühlend. »Ich holte Marys Leiche mit Hilfe der McIntoshs und Iversons aus dem Brunnen«, berichtete der Lord. »Wir gaben an, daß wir sie im Schloßgraben gefunden hätten, sonst wäre nämlich durch die Nachforschungen der Polizei manches zur Sprache gekommen. Mary war tot – und Crane lebte. Er blieb in ihren Räumen im Westflügel.« »Hast du ihn nie in ein Krankenhaus bringen lassen, damit Fachärzte ihn untersuchen konnten, Edward?« wollte Eleanor wissen. Lord Edward nickte.
»Er war in Spezialkliniken. Es gibt keine Hoffnung für ihn. Operationen wären mit großem Risiko verbunden und würden keine wesentliche Besserung bringen. Wozu also ihn quälen?« fragte er bitter. »Aber warum versteckst du ihn auch nach Marys Tod noch?« bohrte Eleanor weiter. »Er verläßt die Zimmer im Westflügel nie. Er ist nie im Park an der frischen Luft und in der Sonne.« »Frische Luft ist gefährlich für ihn. Er ist äußerst anfällig und erholt sich nur langsam von Krankheiten. Crane kann nicht laufen, sondern nur kriechen. Und er darf sich nicht anstrengen, weil er einen Herzklappenfehler hat. Die Sauerstoffversorgung seines Blutes funktioniert nicht richtig. Er muß daher im Zimmer bleiben. Geistig steht er auf der Stufe eines Kleinkindes. Darüber wird er auch nicht mehr hinausgelangen.« Er machte eine nachdenkliche Pause. Die Stille des Raumes wurde nur durch das laute Ticken einer Uhr unterbrochen. »Ich sehe ihn als meinen Sohn an«, fuhr Lord Edward nach einer Weile fort, »denn ich habe seine Mutter geliebt, und ich werde für ihn sorgen, bis er die Augen schließt. Er soll nichts entbehren. Auf seine Weise ist er zufrieden, denn er erkennt seine Lage nicht. Für ihn ist es besser so. Sein Tagesablauf ist gestört, er wacht öfter nachts auf und weint. Dann muß jemand zu ihm. Meist bin ich es. Crane macht kleine Fortschritte, auch wenn sie sehr bescheiden sind. Er freut sich, besonders wenn er mich sieht. Ich würde ihn daher niemals in ein Heim geben. Die Zeitspanne, die ihm noch bleibt, soll er unter meiner Obhut verbringen.« Lord Edward und die McIntoshs mußten ein Martyrium mitgemacht haben, denn Crane war eine schwere Belastung. Eleanor bat John und seine Gattin im stillen um Verzeihung. Lord Edward sah ihr voller Liebe in die Augen. Dann, ehe Eleanor es sich versah, lagen sie sich in den Armen. Edward
küßte sie auf den Mund und bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen. »Eleanor«, flüsterte er, »ich habe dich vom ersten Moment an geliebt. Für mich war es unerträglich, dich in den Armen dieses Scheusals zu sehen. Sag mir, daß du nichts für ihn empfindest, daß es nur eine flüchtige Verirrung war.« »Peter Harris ist mir absolut gleichgültig«, antwortete Eleanor, ohne zu überlegen. Ihr Herz sprach. Auch sie hatte sich immer zu dem Lord hingezogen gefühlt, ohne es sich eingestehen zu wollen. So viel Leidenschaft und Gefühl, wie er jetzt zeigte, hätte sie ihm nicht zugetraut. Er war nicht der harte Mann, als der er immer erscheinen wollte. In Wirklichkeit strömte sein Herz über vor Liebe. Nach einer Weile ließen Eleanor und der Lord einander widerwillig los. Sie wirkten jetzt beinahe befangen, als ob sie es bedauerten, daß sie sich zu Gefühlsäußerungen hatten hinreißen lassen. »Du mußt wegen Mary und Crane viel gelitten haben, Edward«, sagte Eleanor schließlich. Der Lord nickte. »Ich verkrafte aber einiges«, erwiderte er lächelnd. »Ich stehe auch das durch. Vielleicht kommen irgendwann wieder freundlichere Zeiten für mich.« Dabei blickte er Eleanor zärtlich an. Eleanor erwähnte dann das nächtliche Spinettspiel und den Gesang. Ein Schatten überflog Lord Edwards Gesicht. »Ich weiß nicht, woher es kommt«, meinte er. In diesem Moment hörten sie ein Geräusch an der Tür. Während Eleanor weitersprach und von dem nächtlichen Spuk berichtete, ging der Lord leise zur Tür und riß sie plötzlich auf.
Mrs. McIntosh stand in gebeugter Haltung draußen. Sie fiel fast vor Schreck ins Zimmer. Lord Edward musterte sie streng. »Sie haben gelauscht, Mrs. McIntosh? Schämen Sie sich nicht, an Türen zu horchen?« Maggie McIntosh faßte sich rasch von ihrer Überraschung. »Ich muß Ihnen etwas Wichtiges sagen. Dazu habe ich vor der Tür gestanden«, erklärte sie. »Ich wollte gerade anklopfen.« »Was wollten Sie mir sagen?« fragte der Lord aufgebracht. Mrs. McIntosh behauptete, daß Crane unruhig sei und vielleicht Dr. Maccaulty geholt werden müsse. Doch es war offensichtlich, daß sie log. »Natürlich weiß sie jetzt, wie es zwischen uns steht«, sagte der Lord zu Eleanor, nachdem er Mrs. McIntosh wieder fortgeschickt hatte. »Ich will aber für alle Fälle gleich nach Crane sehen.« »Darf ich dich begleiten?« bat Eleanor. »Bei der Gelegenheit möchte ich dir auch das Bild im Turmatelier zeigen, das mich so erschreckt hat.« Lord Edward hatte nichts dagegen einzuwenden. Crane spielte in seinem Zimmer mit Bauklötzen. Er war nicht unruhiger als sonst. John war bei ihm. Er behauptete zwar, daß ihm etwas an Cranes Benehmen aufgefallen sei, aber es war ihm sichtlich unangenehm, das angeben zu müssen. Maggie hatte ihren Gatten anscheinend über das Haustelefon verständigt. Eleanor und Lord Edward suchten danach das Turmzimmer auf. Eleanor konnte verstehen, daß sich Lady Mary gerade hier ein Atelier eingerichtet hatte. Es war mit seinen großen Fenstern ein idealer Raum. Die Staffelei war aber leer. Das Bild mit dem Geist, der Lady Marys Züge getragen hatte, fehlte.
*
»Du bist sicher, daß du dich nicht getäuscht hast, Eleanor?« entfuhr es Lord Edward. »Glaubst du, ich phantasiere?« fragte sie empört. »In Warwick Castle gehen Dinge vor, die sich deiner Kontrolle entziehen, Edward. Es wird Zeit, daß du dagegen einschreitest.« »Du hast recht. Bisher habe ich das nächtliche Spinettspiel ignoriert. Ich wollte ihm nicht auf den Grund gehen, weil… weil…« »Weil du fürchtetest, Marys Geist zu begegnen?« Sie sah ihn aufmerksam an. Der Lord senkte den Kopf. »Ja. Hältst du mich jetzt für albern und abergläubisch?« »Nein. Ich bin allerdings der Ansicht, daß es sich bei der Spinettspielerin und Sängerin um einen Menschen aus Fleisch und Blut handelt. Warum sollte sie sich sonst einschließen und den Geheimgang benutzen? Ein Gespenst, das durch Mauern und Wände gehen kann, hat das nicht nötig.« »Wir werden der Sache auf den Grund gehen, Eleanor«, bestimmte der Lord. »Jetzt will ich Gewißheit haben. Glaubst du, daß die Person, die des Nachts Spinett spielt, dich auch im Geheimgang gewürgt und zum Brunnen geschleppt hat?« Um die bewußtlose Eleanor durch den unterirdischen Gang zu tragen, die Wendeltreppe hinab, war Kraft erforderlich gewesen. Eleanor zögerte mit der Antwort. Zu gut waren ihr noch die eiskalten Hände in der Erinnerung. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Du erwähntest, daß Peter durch den Geheimgang ins Schloß und zu Mary gelangte. Glaubst du, daß er diesen
Geheimgang vielleicht auch jetzt noch benutzt? Daß er in der letzten Zeit in Warwick Castle war? Jemand bezweckt etwas mit dem Spuk, da bin ich sicher.« Das Gesicht des Lords verfinsterte sich. »Ich werde mich in der nächsten Zeit in den Geheimgängen umsehen«, sagte er. »Falls ich Peter da unten erwische, was ich für durchaus möglich halte, dann garantiere ich für nichts. Außerdem, weshalb sollte er herkommen, wenn nicht, um mich zu töten?« Eleanor blickte den Lord fragend an. »Stephen ist noch ein Kind und Crane wird niemals Erbe.« Der Lord machte eine nachdenkliche Pause. »Wenn ich sterbe, erhält Peter den Titel, den Besitz und das Vermögen. Dann ist er aus allen seinen Schwierigkeiten heraus und kann Warwick Castle übernehmen. Ich bin davon überzeugt, daß er sich deshalb hier herumtreibt.« Eleanor erschauerte. »Bedenke, daß das nächtliche Spinettspiel auch während der Zeit stattfand, in der Peter Harris nachgewiesenermaßen nicht in der Gegend war«, sagte sie. »Dann muß er einen Verbündeten in Warwick Castle haben«, antwortete der Lord. »Jemand von meinem Dienstpersonal. Wir werden diese Person entlarven und ihr das Handwerk legen.« Gewiß hatte diese Person auch das Bild auf die Staffelei gestellt. Einige Unklarheiten blieben noch. So das phosphoreszierende Licht, das Eleanor in dem Raum neben dem Gesellschaftszimmer gesehen hatte, und die weiße Gestalt, die durch die Gewölbe gehuscht war. Diese Gestalt hatte mit einer Frauenstimme gesprochen und behauptet, Lady Mary zu sein. Aber diese Rätsel konnten gelöst werden, wenn man erst die Person gefaßt hatte, die nachts auf dem Spinett spielte.
Noch an diesem Tag erfuhr Eleanor von Lord Edward einiges über die geheimen Gänge in Warwick Castle. Er zeichnete ihr eine Skizze, soweit er Bescheid wußte. Wie viele Geheimtüren es gab und wo sie sich genau befanden, wußte er nicht. Eleanor wunderte sich über die mangelnden Kenntnisse des Lords. »Ich hatte mich immer um andere Dinge zu kümmern«, antwortete er darauf. »Ich weiß auch nicht genau, wie die Abwasserröhren der hiesigen Kanalisation verlaufen. Warum sollte ich mich auch damit beschäftigen?« Am Abend saßen sie zusammen im Salon bei einem Glas Wein. Eine Vertrautheit war zwischen ihnen, wie Eleanor sie nie bei einem Menschen erlebt hatte. Sie spürte mit jeder Faser ihres Herzens, daß dieser Mann ihre große Liebe war.
*
In der übernächsten Nacht, die dem Tag der ersten Liebeserklärung folgte, lag Eleanor bei Lord Edward im großen Eichenbett in seinem Schlafzimmer. Das flackernde Kaminfeuer zeichnete Muster auf ihren nackten Körper. Edward betrachtete sie andächtig und bewundernd. »Wie schön du bist«, flüsterte er zärtlich. »Ich kann es noch gar nicht glauben, daß du mich wirklich liebst. Für mich hat das Leben einen neuen Sinn gewonnen.« Er küßte sie, seine Hände streichelten sie zärtlich. Eleanor zog ihn an sich, und sie liebten sich leidenschaftlich. Erst im Morgengrauen kehrte Eleanor in ihr Zimmer zurück. Die Dienstboten hatten natürlich etwas gemerkt. In Warwick Castle hatten die Wände Ohren. Mrs. McIntosh machte bei
jeder sich bietenden Gelegenheit gehässige Bemerkungen über standesgemäße Beziehungen. Ihr Mann übersah Eleanor vollständig. Eleanor merkte auch, daß Hester und Liza hinter ihrem Rücken kicherten. Doch sie versuchte, dies zu ignorieren. Sie wollte sich ihre junge Liebe nicht zerstören lassen. Auch Stephen, der aufgeweckt und hellhörig war, bekam mit, was die Dienstboten sich erzählten. Am Nachmittag, als sie im Park spielten, fragte er Eleanor direkt: »Warum schläfst du eigentlich bei meinem Vater? Ist dir dein Bett unbequem?« Eleanor zuckte innerlich zusammen wie unter einem Stromstoß. Betont harmlos sagte sie: »Wie kommst du darauf? Wer behauptet das denn?« »Maggie hat sich in der Küche mit John unterhalten. Sie sagt, das wäre eine Sünde und Schande und du seist eine schamlose Person.« Traurig sah das Kind seine Erzieherin an. Eleanor ging in die Knie und zog den Jungen an sich. »Laß sie reden, achte nicht darauf, Stephen. Mrs. McIntosh meint es auf ihre Art gut.« »Eleanor, werdet ihr heiraten und wirst du dann meine Mutter?« fragte der Junge aufgeregt. »Stephen, es ist viel zu früh, um über so etwas zu reden. Ich weiß es wirklich nicht.« Eleanor war ernsthaft verlegen. Sie zog es vor, Stephen mit einem Spiel abzulenken. Am Abend, als er ihr einen Gutenachtkuß gab, umarmte er Eleanor und sagte: »Ich habe dich so gern. Bitte, heirate Daddy.« Mrs. McIntosh, die es mit anhörte, wurde blaß vor Wut. Sie hatte nach Lady Marys Tod für den Jungen gesorgt und war nun eifersüchtig. Maggie McIntosh hatte ihr Bestes getan und
war zusammen mit ihrem Mann für Lord Edward Warwick eine starke Stütze gewesen. »Wir sollten uns einmal aussprechen, Mrs. McIntosh«, meinte Eleanor, als sie Stephen verlassen hatten. »Zwischen uns gäbe es manches zu klären.« »Von meiner Seite aus nicht«, antwortete Maggie giftig. »Ich kenne meine Position und nutze nicht schamlose Reize aus, um mich ins gemachte Bett zu legen.« »Wie meinen Sie das, Mrs. McIntosh?« fragte Eleanor empört. »Überlegen Sie mal, Miß Spencer. Ich weiß, was ich meiner Stellung schuldig bin. Ich empfehle mich.« Damit rauschte Maggie McIntosh davon. Eleanor schüttelte den Kopf. Diese Frau war voller Neid, Mißgunst und Eifersucht. Mit ihr würde sie sich nie verstehen können. Eleanor und Edward saßen kurze Zeit später am Kamin und hielten sich bei der Hand. Der Lord sah jünger und fröhlicher aus. Die Falten in seinem Gesicht waren wie weggebügelt. Der bittere Zug um seinen Mund hatte sich gemildert. Eleanor sprach mit ihm darüber, was Stephen vom Gerede der Dienstboten aufgeschnappt und gesagt hatte. »Ich mag keine Unklarheiten«, stellte sie fest. »Natürlich müssen wir nichts übereilen. Aber ich möchte, daß du dich früher oder später entweder offen zu mir bekennst – oder dich von mir abwendest. Dann würde ich Warwick Castle sofort verlassen. Für die Dauerrolle einer heimlichen Geliebten eigne ich mich nicht.« »Ich liebe dich, Eleanor«, beschwor er sie. »Doch ein paar Tage wollen wir noch abwarten. Oder belastet dich der Klatsch des Personals derart? Dann werde ich mit meinen Bediensteten reden.«
»Ich kann selbst für mich sprechen«, widersprach Eleanor. »Ich liebe dich, Edward. Aber ich weiß auch, daß Gefühle ein Strohfeuer sein können. Du hast recht, laß uns abwarten.« Fast auf die Minute genau um Mitternacht begann das Spinettspiel. Und die Singstimme ertönte. Lord Edward setzte sich kerzengerade auf. Er war blaß geworden. »Das ist die Stimme meiner Frau«, sagte er mit bebender Stimme. »Es gibt keinen Zweifel. Da singt Lady Mary.«
*
Der Gesang war verstummt, aber das Spinett klimperte noch, als Eleanor die Tür des Gesellschaftszimmers erreichte. Lord Edward hatte einen anderen Weg genommen. Er wollte das Zimmer durch den Geheimgang betreten, der vom Arbeitszimmer ausging. Vorsichtig versuchte sie mit ihrem Schlüssel den von innen steckenden aus dem Schloß zu stoßen. Doch es wollte ihr diesmal nicht gelingen. Das Spinettspiel endete abrupt. Plötzlich wurde der Schlüssel von innen im Schloß gedreht, die Tür schwang weit auf. Eleanor zuckte entsetzt zurück. Vor ihr stand eine phosphoreszierende Gestalt mit einem langen Laken und geisterhaft bleichen Händen. »Du Dirne!« sagte die Gestalt mit heller Frauenstimme. »Du wirst niemals Lady Warwick sein. Was erlaubst du dir, dich in das Bett meines Mannes zu legen? Verlaß Warwick Castle, oder ich bringe dich um!« Das Gespenst schritt auf Eleanor zu. Eine eisige Hand faßte sie bei der Schulter.
Eleanor ließ die Taschenlampe vor Entsetzen fallen. Plötzlich ging das Licht aus. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie. Eleanor griff zu, bekam Stoff zwischen die Finger und riß der Gestalt das phosphoreszierende Laken herunter. Das Gespenst stieß die Taschenlampe zur Seite und packte Eleanor. Sie rangen im Dunkeln. Dann zog Eleanor ihre Fingernägel über das Gesicht vor ihr. Der Kampf ging hin und her, bis das Licht plötzlich wieder aufflammte und Lord Edward erschien. Er war durch den Geheimgang vorgedrungen und hatte die Sicherung für die Elektrizität wieder hineingedreht. Er faßte die Frau, mit der Eleanor kämpfte, bei der Schulter und riß sie zurück. Es war Maggie McIntosh, recht zerzaust und mit wutblitzenden Augen. Sie zitterte am ganzen Körper. Als sie sich entlarvt sah, verwandelte sie sich rasch in ein Häufchen Elend. »Bitte, Euer Lordschaft, entlassen Sie mich nicht!« jammerte sie. »Ich habe nur um Lady Marys Andenken zu wahren, so gehandelt. Ich wollte das Beste für Sie, als ich diese… diese Person angriff, um sie zu verjagen.« »Mrs. McIntosh, was erlauben Sie sich!« wies der Lord sie wütend zurecht. »Was fällt Ihnen ein, einen derartigen Spuk aufzuführen? Ich verlange eine Erklärung von Ihnen. Wir werden uns jetzt gleich darüber in meinem Arbeitszimmer unterhalten. Verständigen Sie auch Ihren Mann, er muß von Ihren nächtlichen Eskapaden gewußt haben. Versuchen Sie nicht, es abzustreiten, Sie haben mich lange genug an der Nase herumgeführt. Und wagen Sie nicht, Eleanor noch einmal eine Person zu nennen!« Man holte John. Und kurz darauf saßen alle vier im Arbeitszimmer des Lords. Auf Lord Edwards Schreibtisch lag als corpus delicti, das mit Leuchtfarbe bestrichene Bettlaken, das sich Maggie bei ihrem Spuk umgehängt hatte.
»Sprechen Sie, Maggie«, verlangte der Lord. »Was hat das zu bedeuten?« Schluchzend legte Mrs. McIntosh ein Geständnis ab. Sie hatte Lady Mary immer grenzenlos bewundert und sehr an ihr gehangen. Obwohl sie Lord Edward treu ergeben war, hatte Mrs. McIntosh ihm doch eine Mitschuld an Lady Marys Tod angelastet. Damit er seine Gattin nicht vergaß, hatte die Beschließerin den nächtlichen Spuk aufgeführt. »Es ist entsetzlich, daß Lady Mary derart unglücklich wurde und auf so gräßliche Weise starb«, stieß Maggie schluchzend hervor. »In diesem schrecklichen unterirdischen Brunnen. Sie hat ihre Fehler gebüßt, weiß Gott!« Für Maggie war Lady Mary eine romantische, unglückliche Heldin. Im Kamin des Gesellschaftszimmers gab es ein Geheimfach. Darin stand ein Tonbandgerät. Mrs. McIntosh hatte ein von Lady Mary zu ihren Lebzeiten besungenes Band abgespielt, um die Tote wieder auferstehen zu lassen. Der Haß gegen Eleanor hatte Mrs. McIntosh dazu getrieben, sie tätlich anzugreifen. Sie wollte mit allen Mitteln verhindern, daß Eleanor Schloßherrin wurde und die Stelle ihrer vergötterten Lady Mary einnahm. »So weit ist es noch lange nicht, wenn es überhaupt je dazu kommt«, äußerte sich Eleanor dazu. »Weshalb benutzten Sie das phosphoreszierende Bettuch, Mrs. McIntosh? Außerdem waren Ihre Hände eiskalt, als Sie mich anfaßten. Wie haben Sie das zustande gebracht?« Mrs. McIntosh hatte ihre Hände einfach zuvor in einen Eimer mit Eiswasser gesteckt. Das Bettuch hatte sie für den Fall mitgenommen, daß sie doch einmal, trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen, überrascht wurde. Der unheimliche Anblick sollte abschrecken. »Fergusson wagte sich tatsächlich zweimal zum Gesellschaftszimmer, wohl um sich die Störung seiner
Nachtruhe zu verbitten. Er klopfte an die Tür und bat um Ruhe«, erzählte sie. »Beim zweiten Mal löschte ich das Licht, hängte mir das Tuch um und öffnete.« »Und?« fragte Lord Edward. »Fergusson bekam den Schreck seines Lebens. Er rannte mit den Armen fuchtelnd den Korridor entlang. Seitdem hat er sich nachts nie wieder ins obere Stockwerk gewagt.« Der Butler hatte gewußt, daß seine Frau hinter dem Spuk im Gesellschaftszimmer steckte. Er hatte ihr deshalb Vorhaltungen gemacht und versucht, sie davon abzubringen. Aber die resolute Maggie hatte sich ihre nächtlichen Unternehmungen nicht ausreden lassen. »Ich dachte, irgendwann gibt sie diese Eskapaden von selbst auf, Euer Lordschaft«, entschuldigte John sich. »Stephen hat von dem Spinettspiel und dem Gesang nichts gehört. Daß er dadurch gestört und erschreckt würde, hätte ich niemals zugelassen.« »John, ich bin menschlich enttäuscht von Ihnen«, erklärte Lord Edward. »Sie hätten zu mir kommen und mich informieren müssen. Ich habe Sie immer für einen integren Mann gehalten. Daß Sie einen solchen Mummenschanz zugelassen und mit Ihrem Schweigen unterstützt haben, ist unerhört!« Der Butler senkte beschämt den Kopf. »Aber das Spinettspiel und der Gesang sind bei weitem nicht das Schlimmste«, fuhr Lord Edward fort. »Sie haben aber Miß Spencer auch noch tätlich angegriffen, Mrs. McIntosh. Sie haben sie im Brunnengewölbe eingesperrt, danach im Geheimgang bis zur Bewußtlosigkeit gewürgt und vermutlich sogar die Absicht gehabt, sie im Brunnen zu ertränken. Von dem Angriff heute nacht ganz abgesehen. Ich werde Sie daher der Polizei übergeben.«
Maggie erschrak. »Euer Lordschaft, ich schwöre bei meinem Augenlicht, daß ich das nicht getan habe. Heute nacht habe ich Miß Spencer angegriffen, um sie von Warwick Castle zu verjagen. Aber an dem, was in den Gewölben vorgefallen ist, bin ich völlig unschuldig. Dort bin ich nur gewesen, wenn ich die Blumen an Lady Marys Gedenkstätte erneuert habe. Das haben Sie mir selbst aufgetragen. Die unteren Geheimgänge habe ich nie benutzt.« »Von wem stammte das Geisterbild auf der Staffelei im Turmzimmer, wenn nicht von Ihnen, Mrs. McIntosh?« fragte Eleanor. »Lügen Sie nicht.« »Was für ein Bild?« Mrs. McIntosh war so erstaunt, daß Eleanor ihr sogar glaubte. Die Beschließerin beteuerte entschieden ihre Unschuld an allem, was über den Spuk im Gesellschaftszimmer hinausging. »Ich bin Euer Lordschaft und dem Haus Warwick treu ergeben«, behauptete sie. »Ich bin keine Mörderin.« Ihr Gatte schaltete sich ein. »Maggie war die ganze Zeit in der Küche, als Miß Spencer sich in den Gewölben befand«, sagte er. »Das kann ich beschwören, und Hester und Liza werden es bestätigen. Maggie hatte keine Gelegenheit, Miß Spencer einzuschließen und zu überfallen.« »Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr«, meinte der Lord verwirrt. »Wer soll es denn sonst gewesen sein?« Der Butler blickte sich um, und er senkte seine Stimme zum Flüsterton. Es schien, als ob er Angst hätte, beobachtet oder belauscht zu werden. »Ich glaube, daß Lady Marys Geist tatsächlich dort unten umgeht«, flüsterte er. »Die unglückliche Selbstmörderin findet keine Ruhe in ihrem Grab. Wir können nur für Lady Mary beten und hoffen, daß ihre Seele endlich Erlösung findet.« Lord Edwards Faust schlug dröhnend auf die Tischplatte.
»Jetzt reicht es mir! Ich bin doch kein Narr! Ich werde selbst nachts hinuntergehen und mich überzeugen. Mrs. McIntosh, Sie sind fristlos entlassen. Was Sie betrifft, John, Sie können mit Ihrer Frau fortgehen, wenn Sie wollen. Ich finde auch einen anderen Butler für Warwick Castle. Ich kann kein Personal gebrauchen, das solch einen Mummenschanz aufführt. Gehen Sie jetzt, alle beide! Ich will Sie nicht mehr sehen.« Die McIntoshs schlichen hinaus. Eleanor versuchte, den Lord zu beschwichtigen. Sie wies auf die langjährigen Dienste hin und auf die Unterstützung, die sie Lord Edward bei Cranes Pflege gewährt hatten. »Ich bin bereit, Mrs. McIntosh zu verzeihen, wenn sie sich bei mir entschuldigt«, erklärte Eleanor. »Überleg es dir noch einmal, Lieber, ob du sie wirklich entlassen willst.« Edward blickte nachdenklich aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Ich werde es mir überlegen«, meinte er nach einer Weile. Er blickte Eleanor ernst an. »Der Gedanke, daß Peter Harris in den Geheimgängen umherschleicht, ist mir äußerst unangenehm. Wenn Maggie es nicht war, hat er dich eingeschlossen und später gewürgt.« Eleanor war traurig und von Zweifeln geplagt. Sie hatte Peter nett gefunden und war flüchtig in ihn verliebt gewesen. Sie erinnerte sich an seine Küsse, an die Art, wie er gescherzt und lustige Bemerkungen gemacht hatte. Konnte er wirklich derart schlecht sein? Eleanor weigerte sich, das zu glauben. »Wir müssen Gewißheit haben«, sagte sie. »Wir werden in den Gewölben auf ihn warten. Aber heute nacht nicht mehr. Das, was in letzter Zeit geschehen ist, hat mich sehr mitgenommen.«
Der Lord kam auf sie zu und zog sie in seine Arme. Als sich ihre Lippen fanden, versank die Welt um sie. Für sie gab es nur noch ihre Liebe. Plötzlich ertönte Cranes Geschrei aus der Sprechanlage in Lord Edwards Arbeitszimmer. Da Crane nachts oft erwachte, hatte man sein Zimmer über eine Sprechanlage mit verschiedenen Räumen verbunden. Lord Edward und Eleanor eilten sofort zu Crane. Er hatte schlecht geträumt und litt unter Schmerzen. Er stöhnte. Eleanor nahm ihn in die Arme und wiegte ihn hin und her. Dabei summte sie ihm ein Wiegenlied ins Ohr. Sein mißgestalteter Körper war viel leichter, als es bei einem Fünfjährigen der Fall hätte sein dürfen. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder. Vor Müdigkeit fielen ihm bald die Augen zu. Eleanor legte Crane wieder ins Bett, drückte ihm den Teddybär in den Arm und deckte ihn zu. »Hast du keinen Abscheu vor ihm?« fragte Edward leise. »Warum sollte ich. Er ist ein liebes Kind«, meinte sie ernst. »Ja, Eleanor«, sagte Lord Edward gerührt und leise. »Mein Sohn ist liebenswert.« In diesem Moment beschloß er, Eleanor zur Frau zu nehmen, wenn sie seinen Antrag annahm. Daß sie nicht adlig war, störte den Lord nicht. Sie war mutig und hatte ein gütiges Herz, das gab für ihn den Ausschlag.
*
»Ich hatte den Eindruck, Crane versuchte uns etwas mitzuteilen«, sagte Eleanor, als der Junge schlief. »Er blickte immer wieder zu der Tür dort. Etwas hat ihn in Angst versetzt.«
Die Tür führte zu dem kurzen Korridor und der Treppe, über die man ins Turmzimmer gelangte. Lord Edward und Eleanor begaben sich dorthin, um nachzusehen, was los war. Das Licht flammte auf im Turmzimmer. Beide sahen sofort, daß wieder ein Bild auf der Staffelei war. Eleanor zog das Tuch weg. Das Gemälde zeigte einen Totenschädel. Mit roter Farbe hatte jemand »Tod« daraufgeschrieben. Lord Edward berührte die Leinwand mit dem Finger. Die Farbe war noch nicht ganz trocken. In diesem Moment wehte ein eiskalter Hauch durch das Turmzimmer. Das Licht verdüsterte sich, und ein langgezogenes Ächzen erscholl. Kühl strich es über Eleanors Wange, eine Stimme wisperte ihr ins Ohr: »Bleibe hier.« Dann war der Spuk vorbei. Die Lampe leuchtete wieder hell wie zuvor. Lord Edward fuhr sich mit der Hand über die Augen und blickte sich verwirrt um. »Was war das?« fragte er. »Welcher Trick steckt dahinter?« Er deutete auf das Bild mit dem Totenschädel. »Das hat gewiß Harris hergebracht, der Schuft!« Ohne auf Eleanor zu warten, eilte der Lord davon. Sie folgte ihm langsamer und sah noch einmal nach Crane. Dann wartete sie in der Halle, bis Lord Edward erschien. Sie mußte recht lange auf ihn warten, was sie in Sorge versetzte. Als er endlich auftauchte, atmete Eleanor erleichtert auf. »Ich war in den Geheimgängen«, erklärte Lord Edward. »In dem Gang, der unterm Schloßgraben hindurch ins Freie führt, habe ich etwas gehört. Aber ich sah niemanden. Er ist mir entkommen.« »Harris?« »Wer sonst?« Die kalte Berührung und das Wispern war bestimmt nicht Harris gewesen. Eleanor hatte das Gefühl, daß etwas
Übernatürliches sie gestreift und zu ihr gesprochen hatte. Hatte Lady Mary sich aus dem Jenseits an sie gewendet? fragte sie sich schaudernd. Was ging hier wirklich vor sich? Mrs. McIntoshs Spuk war nur ein Kinderspiel und ein kleiner Teil dessen gewesen, was im Schloß ablief. Eleanor fröstelte. »Lieber, du darfst dich nicht mehr allein in die Geheimgänge wagen«, bat sie ihn voller Angst. »Falls Harris dir tatsächlich nach dem Leben trachtet, kann er dich dort unten erschlagen, ohne daß es jemand bemerkt.« »Aber was soll ich also tun?« fragte er hilflos. »Die Polizei verständigen? Das würde, selbst wenn man dazu bereit wäre, nichts bringen. Denn Peter erführe es sicher rechtzeitig.« »Vielleicht sollst du dort unten in eine Falle gelockt werden.« Lord Edward lächelte beruhigend. »Ich weiß mir zu helfen. Wer auch immer es auf mich abgesehen hat, er soll sich vorsehen. Ich will jetzt die Wahrheit wissen und diese unselige Geschichte zu einem Abschluß bringen. Mit allen Mitteln.« Eleanor konnte ihn verstehen. »Ich werde mit dir gehen, Lieber«, sagte sie. »Vielleicht kann ich dir beistehen. Du kannst mich nicht davon abbringen.« In der folgenden Nacht setzten Eleanor und Lord Edward ihr Vorhaben in die Tat um. Mit Lampen und den nötigen Schlüsseln ausgerüstet, begaben sie sich in die unheimlichen Kellergewölbe. Als erstes gingen sie zu dem unterirdischen Brunnen. Es war kalt und feucht dort. Eleanor war froh, daß sie sich warm angezogen hatte. »Was ist, wenn Harris eine Pistole bei sich hat?« fragte sie plötzlich ängstlich. »Wenn er den Titel und den Besitz von mir erben will, muß er meinen Tod beweisen können«, antwortete Lord Edward grimmig. »Sonst dauert es nach englischem Recht 25 Jahre, bis
ich für tot erklärt werden kann. Das wäre gewiß nicht in seinem Sinn. Daher muß er mich auf eine Art töten, die wie ein Unfall aussehen wird.« Edwards Argumentation überzeugte Eleanor. Mrs. McIntosh hatte strikt abgestritten, im Einvernehmen mit Peter Harris gehandelt zu haben. Sie haßte ihn, weil er sich Lady Mary gegenüber äußerst gemein verhalten hatte. Daher konnten sie sicher sein, daß Peter nichts von Lord Edwards und Eleanors nächtlichem Vorhaben erfuhr. Lord Edward hatte im Brunnengewölbe und in den Kellergängen davor brennende Fackeln in die Halter an der Wand gesteckt. Der flackernde Schein beleuchtete Lady Marys Bild auf gespenstische Weise. Eleanor schauderte. Ihr war sehr unangenehm an diesem unheimlichen Ort. Wäre der Lord nicht an ihrer Seite gewesen, hätte Panik sie ergriffen. Noch waren die Erinnerungen an das, was sie in diesen düsteren Gewölben erlebt hatte, zu frisch. Nachdenklich betrachteten sie Lady Marys Bild. Eleanor kam es vor, als ob die Augen auf dem Gemälde ihr etwas sagen wollten. »Du sollst in Frieden ruhen«, flüsterte sie. »Ich werde Stephen und Crane eine gute Mutter sein, solange sie mich brauchen.« Plötzlich hörte sie etwas, das ihr das Blut in den Adern stocken ließ. Ein schauerliches Stöhnen hallte durch die unterirdischen Gänge. »Du bleibst hier«, befahl der Lord ihr. »Ich gehe nachsehen, woher es kommt.« Er faßte das Brecheisen fester und ging dann energischen Schrittes in die Richtung, aus der das Stöhnen gekommen war. Entgegen seiner Anweisung folgte Eleanor ihm aber. Sie hatte Angst, alleine zu bleiben.
Wieder erklang das furchterregende Stöhnen, und eine klare Frauenstimme sagte: »Komm zu mir, Geliebter! Ich sehne mich nach dir! Folge mir in mein dunkles, kaltes Grab!« Eleanor schauderte. Angst und Entsetzen ergriffen sie. Mittlerweile war sie dem Lord zu den beiden Verliesen gefolgt, aber es war dort niemand zu sehen. Lord Edward war sehr blaß. Seine Augen blitzten vor Wut. »Das war Harris«, murmelte er unterdrückt. »Er muß durch einen Geheimgang hereingekommen sein, den ich nicht kenne. Aber daß er es war, weiß ich ganz sicher!« Wieder hörten sie die Frauenstimme. Doch sie kam Eleanor fremd vor. »Es grünen die Wiesen am River Dee, doch nicht mehr für Lady Mary. Denn stirbt ihre Liebe, dann stirbt auch sie, weint nicht um Lady Mary.« Gepeinigt schrie Lord Edward auf, als er den Gesang hörte. Laut hallte es von den Gewölbewänden wider. Der Mann stürmte in jene Richtung, aus der der Gesang gekommen war. Unvermittelt brach das Lied ab. Und dann hörte Eleanor ein Geräusch, das ein harter Schlag verursachen mußte. Doch bevor sie Lord Edward zur Hilfe eilen konnte, kam Harris ihr entgegen. Sein Gesicht war bleich und haßverzerrt. Eleanor kannte den Mann nicht mehr wieder. Er schien nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein. Ein wahnsinniges Grinsen lag auf seinem Gesicht, als er nun langsam auf Eleanor zukam. Außer sich vor Angst, wich sie Schritt für Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Nun gab es für Eleanor kein Entrinnen mehr. Sie war diesem Mann hilflos ausgeliefert. »Ich habe Edward niedergeschlagen«, sagte Harris. »Der Narr! Ich brauchte mich nur im Verlies zu verstecken! Er stürmte blindwütig vorbei. Dann…« Er vollführte die Geste des Zuschlagens.
»Du und er«, fuhr er fort, »ihr werdet beide im Brunnen ertrinken – wie Lady Mary.« Er lachte hämisch auf. »Die verrückte McIntosh und ich, wir haben diesen ganzen Spuk aufgeführt. Sie wußte nichts von mir, aber ich habe sie einmal beobachtet.« Er lachte wieder irre auf. »Ich werde die Gewölbe zumauern lassen, wenn ich erst einmal Lord Warwick bin. Nicht weil ich mich fürchtete, sondern weil ich nicht an das erinnert werden will, was hier vorgefallen ist.« »Hast du eben gesungen?« fragte Eleanor, um Zeit zu gewinnen. Ihr Herz hämmerte wie rasend. Sie zermarterte sich den Kopf nach einem Ausweg. Peter Harris nickte. »Ich bin Schauspieler, ein erfolgloser leider, und außerdem Stimmenimitator. Damit verdiente ich mir mein Geld in drittklassigen Nachtklubs, wenn es nötig war. Es ist ein scheußlicher Job. Aber ich habe viel dabei gelernt. Ich kann jede Stimme nachahmen.« Plötzlich sprang er auf Eleanor los. Doch dieser gelang es, ihm auszuweichen. Wie von Furien gehetzt, flüchtete sie zurück in das Brunnengewölbe. Harris folgte ihr. Sie riß eine Fackel aus dem eisernen Halter an der Wand und hob sie drohend gegen ihn. »Halt, keinen Schritt weiter! Verschwinde!« schrie sie ihn an. »Ich bin schon einmal mit dir fertig geworden«, sagte Harris grinsend. »In dem Geheimgang, oben an der Wendeltreppe, erinnerst du dich? Ich war es, der dir dort auflauerte. Du trägst die Würgemale noch an deinem Hals. Diesmal werde ich aber ganze Arbeit leisten.« »Du bist ein Unmensch! Mörder! Mörder!« schrie Eleanor voller Verzweiflung. »Nenn mich, wie du willst, es beeindruckt mich nicht.« Er ließ sie nicht aus den Augen. Jede Bewegung Eleanors registrierte er, um in einem günstigen Moment auf sie
loszuspringen und ihr die Fackel zu entreißen. »Ich habe schlechte Zeiten erlebt. Während ich in London jeden Penny umdrehen mußte und auf der Flucht vor dem Gerichtsvollzieher von einem Loch ins andere zog, lebte mein Cousin luxuriös in seinem Schloß und saß auf einem großen Vermögen. Damals habe ich mir geschworen, es ihm eines Tages heimzuzahlen.« Sein Gesicht verzerrte sich voller Haß und Rachlust. Unvermittelt sprang er vor. Doch Eleanor stieß mit der Fackel nach ihm und verbrannte Peter die Wange. Laut schrie er vor Schmerz auf. Dann entriß er ihr brutal die Fackel und warf sie in den Brunnen, wo sie laut zischend erlosch. Mit hartem Griff hatte Peter ihren Arm umfaßt. Verzweifelt versuchte Eleanor sich loszureißen. Aber es gelang ihr nicht. Der Mann war zu stark. Wütend zerrte er Eleanor zum Brunnen. Ein hämisches, gemeines Grinsen verzerrte sein Gesicht und ließ es zu einer abstoßenden Fratze werden. Eleanor spürte plötzlich einen Stoß. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Brunnenschacht. Das letzte, woran sie sich noch erinnern konnte, war Peters wahnsinniges Lachen. Dann schlug eiskaltes Wasser über ihr zusammen, und eine gnädige Ohnmacht nahm sie gefangen. Nur kurze Zeit später kam Eleanor wieder zu sich. Über sich sah sie den Brunnenschacht, der vom Licht der Fackeln schwach erhellt wurde. Peter Harris war verschwunden. Eleanor fühlte sich so schwach, daß sie sich nur mit Mühe über Wasser halten konnte. Lieber Gott, hilf mir. Bitte, laß mich nicht umkommen! flehte sie.
Sie wußte, daß sie sich nicht mehr lange über Wasser halten konnte und dann elendig ertrinken mußte. Genau wie Lady Mary! Peter Harris wischte sich das schweißverklebte Haar aus der Stirn. Sein Blick flackerte. Er hielt Eleanor bereits für tot. Jetzt wollte er Lord Edward holen. Doch als er sich umdrehte, sah er seinen Cousin vor sich. Der Lord stand, wankend zwar, schon wieder auf den Füßen. Das Brecheisen hielt er in der Hand. Ein dünnes Blutgerinnsel sickerte aus seinen Haaren. »Wo ist Eleanor, Peter?« keuchte er. Harris deutete auf den Brunnen. »Dort. Auch du wirst darin landen.« Er grinste höhnisch. »Schuft! Mörder!« schrie der Lord. Edward hob das Brecheisen und ging auf Harris los. Aber er bewegte sich zu langsam, die Nachwirkungen des Schlages waren noch zu stark. Im Vollbesitz seiner Kräfte wäre er wohl mit seinem Cousin fertiggeworden. So blockte Harris den Schlag ab, entriß Lord Edward die kurze Eisenstange und schickte ihn mit einem Boxhieb zu Boden. Er holte seinerseits mit dem Brecheisen weit aus, um Edward endgültig zu betäuben. Dann wollte er den Wehrlosen in den Brunnen werfen. Lord Edward lag auf dem Rücken. Er versuchte, sich zur Seite zu rollen oder wenigstens den Arm zu seinem Schutz zu erheben. Doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. In diesem Moment ertönten die Klänge eines unsichtbaren Spinetts. Wie Nebel stieg es aus dem Brunnen. Kälte verbreitete sich im Brunnengewölbe, die Fackeln begannen zu flackern. Peter Harris hielt inne. Er starrte in den Nebel über dem Brunnenschacht, als sehe er dort ein Gesicht. Schützend hielt er den Arm vors Gesicht. Auf seinen Cousin achtete er nicht mehr.
»Nein«, schrie er, »nein! Du bist tot, tot, tot, Mary! Fort mit dir, rühr mich nicht an!« Mit dem Ausdruck äußersten Entsetzens im Gesicht stand er mit dem Rücken an der Mauer. Das Brecheisen hatte er fallengelassen. Die Fackeln brannten nur noch mit ganz kleinen Flammen. Düster und kalt war es in dem Gewölbe. Und das Spinett erklang, meisterhaft gespielt. Dazu sang eine Stimme: »Es grünen die Wiesen am River Dee…« Harris preßte die Hände gegen die Ohren. Er schrie gellend auf und eilte zu der Nische mit der Geheimtür. Stammelnd und schluchzend holte er seinen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn mit zitternder Hand in das Schloß. Die Rückwand drehte sich, der Geheimgang stand offen. Harris flüchtete hinein. Er wollte so schnell wie möglich weg von Warwick Castle. Das Spinettspiel endete, die letzte Strophe des Liedes der Lady Mary war vorbei. Lord Edward kroch zur Brunnenumrandung und zog sich mühsam in die Höhe. Er faßte sich an den schmerzenden Kopf. Er hatte entsetzliche Angst um Eleanor. Plötzlich ließ ein dumpfes Grollen ihn erschrocken zusammenfahren. Der Boden bebte. Da sah der Lord, daß der Gang, durch den Peter verschwunden war, eingestürzt war. Verzweifelt rief Lord Edward nach Eleanor. »Ich bin hier«, schallte ihre Stimme dumpf aus dem Brunnen. »Ich bin unverletzt.« »Gott sei Dank!« Lord Edward lachte vor Glück und Erleichterung. Sein Herz wurde leicht, als er die geliebte Stimme hörte. »Dir ist tatsächlich nichts passiert?« Immerhin waren es zehn Meter bis zur Wasseroberfläche. »Soweit ich es feststellen kann, nicht. Aber hol mich bitte bald heraus«, flehte Eleanor.
»Eleanor, Liebste, bitte, halt aus! Ich bin gleich zurück. Ich hole McIntosh und McCord. Wir bringen ein Seil mit! Hab keine Angst, du wirst gleich gerettet.« Dann eilte er davon. Er wußte, es ging um jede Minute. Im Brunnen gab es Gase, die Eleanor benommen werden ließen. Traum und Wirklichkeit vermischten sich für sie, sie verlor jedes Zeitgefühl. Sie glaubte, die schöne schwarzhaarige Lady mit den dunklen traurigen Augen in ihrem Salon am Spinett zu sehen. Sie hörte ihr Spiel und den Gesang. Dann sah Eleanor Lady Mary und Peter Harris auf einer Blumenwiese am Fluß, wo sie sich lachend umarmten. Dann erlebte Eleanor jene Szene im Ahnensaal mit, bei der es zu der schweren Auseinandersetzung zwischen dem Lord und Harris gekommen war. Und schließlich träumte Eleanor von dem Tod der Lady Mary. Wie sie weinend im Gewölbe vor dem tiefen Brunnen stand, sich über den Rand beugte… Ein Aufschrei, ein Klatschen, ein letzter Seufzer. Dann wurde es dunkel in dem Gewölbe. Plötzlich leuchtete eine grelle Lampe zu Eleanor herab, Stimmen klangen dumpf durch den Schacht an ihr Ohr. Ein Seil mit einer Schlinge daran fiel herab. Eleanor schlang die Schlinge um sich. Dann zogen Lord Edward, der Butler und McCord sie aus dem Brunnen. »Sie ist tatsächlich unverletzt«, sagte McIntosh. »Ein Wunder ist geschehen.« Lord Edward schloß Eleanor überglücklich in die Arme. Er hatte furchtbare Angst um die geliebte Frau durchgemacht.
*
Ein großer Teil des unterirdischen Gangs war eingestürzt. Zudem drang Wasser vom Schloßgraben hinein. Es war daher unmöglich nach Peters Leiche zu suchen. Er mußte irgendwo in dem alten Gewölbe verschüttet liegen. Eleanor und Lord Edward heirateten im Sommer. Stephen war überglücklich und hoffte, bald Geschwister zu erhalten. Warwick Castle sollte wieder von Lachen erfüllt sein. Vieles hatte sich geändert, ein anderer Geist war im Schloß eingekehrt, seit Eleanor hierher gekommen war. Mrs. McIntosh hatte ihre Abneigung gegen die neue Schloßherrin überwunden und diente ihr ebenso ergeben wie früher der Lady Mary. Der Brunnen wurde zugeschüttet und die alten Gewölbe vermauert. In Warwick Castle ging nun alles mit natürlichen Dingen zu. Nur einmal ereignete sich noch etwas Unerklärliches: Das war in jener Nacht, als Crane starb. Im Herbst nach der Hochzeit erlosch sein Leben. Ein Spinett erklang, spielte eine zarte Melodie, und Crane setzte sich auf und horchte. Er streckte die Arme sehnsüchtig aus. Seine Augen leuchteten erwartungsvoll. Dann sank er zurück, und die Melodie verklang wieder. Lady Mary hatte ihr Kind zu sich genommen.