Joan Garner
Im Visier des Mörders Irrlicht Band 418
Jetzt hatte der Hai mich gesehen. Er stieß zu mir herab, riß das...
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Joan Garner
Im Visier des Mörders Irrlicht Band 418
Jetzt hatte der Hai mich gesehen. Er stieß zu mir herab, riß das Maul auf und wollte zuschnappen. Aber in diesem Augenblick hatte ich das Messer endlich in der Hand. Ich stieß mich vom Untergrund ab und schnellte zur Seite weg. Das Maul des Hais verfehlte mich nur um Haaresbreite. Ich wollte mit dem Messer nachsetzen. Aber die Schwanzflosse erwischte mich und wirbelte mich durchs Wasser. Für einen Augenblick wußte ich nicht mehr, wo oben und unten war. Das Messer hatte ich bei dem Schlag verloren. Ich ruderte verzweifelt mit den Armen, um mich wieder in eine stabile Lage zu bringen. Rasch orientierte ich mich. Aber viel Zeit blieb mir nicht, denn der Hai setzte zum nächsten Angriff an. Plötzlich war er vor mir. Ein weißgraues Ungetüm, das sein schreckliches Maul zum todbringenden Biß aufgesperrt hatte. Panisch ruderte ich mit den Beinen. Aber es hatte keinen Sinn. Mit meinen unkontrollierten Bewegungen stachelte ich den Hai nur noch mehr an. Das Maul schoß auf mich zu. In Erwartung des schmerzhaften und tödlichen Bisses schloß ich die Augen…
Ich lag auf dem Deck unserer kleinen Segeljacht und genoß die Sonne. Nur mit einem Bikini bekleidet, spürte ich, wie die wohltuende Wärme der Maisonne meinen Körper durchdrang. Das leise Plätschern der Wellen, die gegen den Rumpf der Jacht schlugen, hatten zusätzlich eine beruhigende Wirkung auf mich. Und das sanfte Schaukeln machte die Entspannung erst perfekt. Selten in meinem Leben hatte ich mich so wohl gefühlt wie in den letzten Wochen. Und das lag nicht nur allein daran, daß ich seit drei Wochen auf einer kleinen und gemütlichen Segeljacht die spanische und französische Mittelmeerküste bereiste. Der wahre Grund meines Glücks saß in diesem Moment auf dem Dach des Kajütenaufbaus unter einem Sonnensegel und hieß Erik Henderson. Auf seinen Knien lag ein Stapel weißes Papier, das momentan seine ungeteilte Aufmerksamkeit genoß. Mit einem Bleistift machte er dann und wann Eintragungen oder strich etwas durch. Jetzt griff er nach einem Glas und nippte von dem Orangensaft, den er immer während seiner Arbeit trank. Erik schrieb an einem neuen Drehbuch für seinen zweiten Film. Sein erster Film sollte in einer Woche bei den Filmfestspielen in Cannes vorgeführt werden. Erik erhoffte sich, daß sein Werk dadurch internationale Anerkennung fand. Für schwedische Filmemacher war dies nicht immer ganz einfach. Aber Erik war mit Herz und Seele in seine Arbeit verliebt. Was für mich allerdings kein Grund zur Eifersucht war. Denn noch mehr als seine Arbeit liebte er mich. Vor drei Wochen hatten Erik und ich in Stockholm geheiratet. Gleich am darauffolgenden Tag setzten wir uns in ein Flugzeug und flogen bis nach Valencia. In der spanischen Hafenstadt wartete eine kleine Segeljacht auf uns – ein Hochzeitsgeschenk von Eriks Vater. Sie trug den Namen KATTEGAT, so wie auch das kleine Binnenmeer zwischen
Jütland und Schweden genannt wurde. Es war ein schönes kleines Boot. Nicht zu vergleichen mit den aufgemotzten Jachten, die die meiste Zeit über in irgendwelchen Häfen lagen und von den Besitzern außer zu Vorzeigezwecken wenig genutzt wurden. Die KATTEGAT war ein unscheinbares Boot. Der hellblaue Anstrich ließ es auf dem schimmernden Wasser kaum auffallen – was wiederum für meine Arbeit sehr von Bedeutung war. Ich studierte Meeresbiologie. Und ähnlich wie Erik, so wollte auch ich unsere Hochzeitsreise mit meinen beruflichen Interessen verbinden. Und ein Boot, das die Meeresbewohner allein durch seine schreienden Farben verscheuchte, war für mich von geringem Nutzen. Die KATTEGAT verfügte über einen Mast und eine kleine, aber gemütliche Kajüte, in der Erik und ich bereits sehr romantische Nächte verlebt hatten. Vielleicht mußte Erik in diesem Moment auch an diese Nächte denken, denn plötzlich sah er von seinem Manuskript auf und schaute mich verliebt an. »Du scheinst nicht recht zum Arbeiten aufgelegt zu sein«, bemerkte er schmunzelnd. »Die Meeresbewohner werden noch einen Tag auf meine Anwesenheit verzichten müssen«, erwiderte ich und erhob mich langsam. »Ich möchte kein Fisch sein«, sagte Erik. »Denn ich könnte keinen Tag auf deine Anwesenheit verzichten.« Er musterte mich fröhlich mit seinen wachen, aufmerksamen Augen. Sie strahlten in einem Blau, das selbst dem wolkenlosen Himmel Konkurrenz machen konnte. Ich trat auf Erik zu und legte ihm lächelnd die Hand um den Nacken. »Einen Fisch hätte ich auch nicht geheiratet«, erwiderte ich und näherte mich ganz langsam seinen Lippen.
»Ein rein wissenschaftliches Interesse hätte nur einen dürftigen Grund für eine Hochzeit abgegeben«, fügte ich hinzu. Erik entzog sich mir in gespielter Zurückhaltung. Aber ich ließ ihn nicht los. »Aus welchem Grund hast du mich sonst geheiratet?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Aus reinem Selbsterhaltungstrieb«, sagte ich. Und flüsternd fuhr ich fort: »Auch ich kann keinen Tag auf deine Anwesenheit verzichten. Denn ich liebe dich. Und ohne dich wäre ich bloß ein Fisch ohne Wasser.« Erik zog mich zu sich und gab mir einen leidenschaftlichen Kuß…
Eine Stunde später stand ich mit einem Fernglas an der Reling und betrachtete das Meer und die Küste. Erik hatte sich unterdessen in die Kajüte zurückgezogen und bereitete dort eine kleine Mahlzeit für uns zu. Schon gestern hatten wir zwanzig Kilometer östlich von Toulon die Segel eingeholt und Anker geworfen. Dieser Küstenabschnitt der Côte d’Azur war für eine Meeresbiologin von besonderem Interesse. Der Küste vorgelagert befanden sich drei Inseln. Die mittlere und kleinste von ihnen hieß Ile de Port Cros und war schon vor langer Zeit zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Ihr galt mein spezielles Interesse. Denn der Status des Naturschutzgebietes beschränkte sich nicht nur auf die Insel, sondern wurde auch auf eine Zone von sechshundert Metern um die Insel herum ausgedehnt. Aufgrund dieser Besonderheit hatten sich viele seltene Fischarten bei der Insel angesiedelt. Auf der Insel selbst war Tourismus nur zu bestimmten Tageszeiten zugelassen. Die etwa zwanzig ständigen Bewohner der Insel mußten strenge Auflagen erfüllen. Ich hatte hier also Gelegenheit, Meerestiere zu beobachten, die anderswo schon
lange ausgestorben waren – für eine junge Meeresbiologin fast eine kleine Sensation. Aber heute wollte ich mich erst darauf beschränken, das Gebiet mit dem Fernglas zu beobachten. Zwar hatte ich von der französischen Regierung eine Erlaubnis bekommen, in dem Naturschutzgebiet zu tauchen, aber zuvor wollte ich mir von der allgemeinen Lage ein Bild machen. Ich wurde in meinen Bemühungen auch bald belohnt. Denn plötzlich bemerkte ich, wie sich die Wasseroberfläche an einer Stelle sonderbar kräuselte. Ich wußte natürlich, was dieses Phänomen zu bedeuten hatte. Trotzdem schlug mein Herz schneller, als ich den Schwarm fliegender Fische sah, der plötzlich aus dem Wasser brach und über die seichten Wellen dahinglitt. Ich stellte das Fernglas schärfer und verfolgte den glitzernden Fischschwarm eine Weile. Ganz deutlich konnte ich erkennen, wie die Fische ihre zu Flügeln ausgewachsenen Brustflossen ausgebreitet hatten und mit der Schwanzflosse das Wasser peitschten und sich so einige Sekunden über Wasser halten konnten. Fliegende Fische gehörten zwar nicht zu den seltenen Fischarten, aber da sie sehr scheu waren, bekam man sie nicht oft zu sehen. Dann sanken die Fische plötzlich ins Wasser zurück und waren verschwunden. Ein Küstenabschnitt der Insel Port Cros erschien plötzlich in meinem Fernglas. Die fliegenden Fische waren der kleinen Insel so nahe gekommen, daß ich die steinige Küste plötzlich im Visier hatte. Oben auf der Klippe befand sich eine weiße Villa. Eins jener Häuser, die die wenigen Bewohner der Insel beherbergten. Bei dieser Villa mußte es sich jedoch um das Haus eines sehr reichen Mannes handeln. Es war im mauretanischen Stil erbaut worden und verfügte über mehrere terrassenförmig angelegte Stockwerke. Dachgärten mit üppiger Vegetation fügten sich in
das Bild ebenso ein wie die großen Panoramafenster, die zum Meer hinauswiesen. Ich war von diesem märchenhaften Anblick so fasziniert, daß ich mit dem Fernglas eine Weile auf dem prunkvollen Bauwerk verweilte. Ich entdeckte sogar einen Park, der sich an das Haus anschloß und wo langbeinige Flamingos eine Rast eingelegt hatten. Ich überlegte, wie schön es wäre, wenn dieses Modell von Naturschutz, wo Mensch und Natur so harmonisch nebeneinander existieren konnten, Schule machen würde. Doch in diesem Augenblick bemerkte ich eine Bewegung hinter einem der Fenster. Da bei diesem Fenster die Vorhänge beiseitegezogen waren, konnte ich die beiden Gestalten in dem Haus deutlich erkennen. Ich wollte das Fernglas schon in eine andere Richtung lenken, da ich nicht vorhatte, ungefragt in die Intimsphäre anderer Menschen einzudringen. Doch plötzlich stutzte ich. Die beiden Gestalten schienen miteinander zu ringen. Erschrocken drehte ich an der Einstellung des Fernglases und konnte die Personen schließlich genauer erkennen. Es handelte sich um einen Mann und eine Frau. Der Mann hatte seine Hände um den Hals der Frau gelegt. Die Frau jedoch trommelte mit ihren Fäusten gegen die Brust des Mannes, ohne dabei etwas auszurichten. Schließlich wurde ihr Widerstand schwächer. Die Arme sanken erschlafft herunter und baumelten an den Seiten herab. Der Mann aber drückte immer erbarmungsloser zu. Die Knie der Frau gaben nach. Ihr Kreuz bog sich auf unnatürliche Art durch. Schlaff wie eine Marionette hing sie in den Händen des Mannes, der ihren Hals immer noch umklammert hielt. Doch schließlich ließ er die Frau los, und sie fiel zu Boden, wo sie regungslos liegenblieb. Ich atmete heftig, als hätte der Mann auch mir die Luft abgedrückt – so verängstigt war ich. Mein Herz schlug wie
wild, und der Pulsschlag rauschte mir in den Ohren. Ich war unfähig, das Fernglas aus der Hand zu legen. Wie gebannt starrte ich den Mörder durch das Fernglas an. Der Mann blieb einen Augenblick neben der Toten stehen. Dann wandte er sich plötzlich um und trat an das Fenster. Ich erschrak zu Tode. Denn der Mann schaute genau in meine Richtung. Natürlich konnte er mich mit dem bloßen Auge nicht sehen. Dafür war ich zu weit von ihm entfernt. Sogar mir war es nicht möglich, mit Hilfe des Fernglases sein Gesicht zu erkennen. Aber wenn er genau hinschaute, konnte er die KATTEGAT auf dem Meer sehen. Der Mann legte plötzlich eine Hand über die Augen, um sie gegen das Sonnenlicht abzuschirmen. Er späht genau in meine Richtung, dachte ich und fühlte, wie mir das Blut in den Adern zu Eis erstarrte. Aber es kam noch viel schlimmer. Für einen Augenblick verschwand der Mann. Aber nur, um kurz darauf ebenfalls mit einem Fernglas bewaffnet wieder zu erscheinen. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als ich beobachtete, wie er das Fernglas genau auf mich richtete. Erschrocken riß ich das Fernglas von den Augen. In diesem Augenblick erschien Erik und streckte seinen Kopf aus dem Kajütenaufgang. Besorgt schaute er mich an. »Hast du gerade eine Monsterkrake gesehen?« fragte er. »Du siehst ja kreidebleich im Gesicht aus. Und was hatte der Schrei zu bedeuten?« Ich sah Erik einen Moment lang sprachlos an. Ich wollte etwas sagen. Aber meine Lippen zitterten, und ich war unfähig, auch nur einen Laut hervorzubringen. Sofort war Erik bei mir. Er schloß mich in die Arme und strich mir beruhigend übers Haar. »Was ist los mit dir?« fragte er mit ernster Stimme und sah mich mit wachen blauen Augen forschend an.
»Ich… ich habe gerade gesehen, wie ein Mann eine Frau ermordete«, brachte ich endlich hervor. Die Tränen schossen mir in die Augen. Ich konnte es nicht mehr verhindern. Laut schluchzend warf ich mich an Eriks Brust. »Beruhige dich«, flüsterte Erik und streichelte mir über den Rücken. »Wo hat sich der Mord denn abgespielt?« Ich hob meinen zitternden Arm und gab Erik das Fernglas. »Auf Port Cros steht eine mauretanische Villa«, erklärte ich mit zittriger Stimme. »Ich hatte gerade fliegende Fische beobachtet, als ich zufällig Zeuge des Mordes wurde.« Erik ergriff das Fernglas und setzte es mit einer Hand an die Augen. Der andere Arm lag noch um meine Schultern. Ich fühlte, wie etwas von Eriks Kraft und Ruhe auf mich überströmte und beruhigte mich wieder. Schließlich gab ich Erik genaue Anweisungen, wo genau sich die Villa befand. Schließlich hatte er sie gefunden. »Ich kann nichts sehen«, sagte er mit angespannter Stimme. »Überall sind die Vorhänge zugezogen.« »Aber eben waren sie noch offen«, beharrte ich und nahm ihm das Fernglas wieder aus der Hand. Ich setzte es an meine Augen und suchte die Villa ab. Aber ich mußte feststellen, daß Erik recht hatte. Es gab kein Fenster, in das man hätte hineinsehen können. Überall hingen Vorhänge vor. »Er muß die Vorhänge zugezogen haben«, sagte ich nachdenklich. »Vorhin waren sie jedenfalls noch offen. Denn nachdem der Mann die Frau erwürgt hatte, trat er ans Fenster. Ich bin mir sicher, daß der Mörder uns bemerkt hat. Er hat sogar selbst ein Fernglas geholt und ganz eindeutig in unsere Richtung gesehen.«
Erik sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Und du bist dir hundertprozentig sicher?« fragte er. »Du hast wirklich gesehen, wie der Kerl die Frau getötet hat?« Ich nickte eifrig. »Ja«, stieß ich hervor. »Es war schrecklich. Was sollen wir denn jetzt tun?« »Wir werden natürlich die Küstenwache verständigen«, entschied Erik. »Wenn sich in dem Haus wirklich ein Mörder aufhält, muß er sofort gestellt werden.« Mit diesen Worten wandte sich Erik von mir ab und verschwand wieder in der Kajüte. Ich hörte, wie er sich an dem kleinen Funkgerät zu schaffen machte. Und während Erik mit der Küstenwache sprach, suchte ich mit dem Fernglas noch einmal die Villa ab. Aber nichts Verdächtiges regte sich dort. Unschuldig und verträumt lag der weiße Gebäudekomplex da. Die Flamingos erhoben sich in diesem Augenblick aus dem Park, ließen sich mit ausgebreiteten Schwingen zum Meer hinabgleiten und steuerten das Festland an, wo bei den ausgedienten Salzsalinen bei Hyeres eine ganze Kolonie von diesen wunderschönen Vögeln lebte. Bei dem Anblick der dahinschwebenden Vögel mußte ich unwillkürlich an die Frau denken, die vor wenigen Minuten ihr Leben lassen mußte. Tränen sammelten sich in meinen Augen und machten die Sicht durch das Fernglas verschwommen.
Wieder eine Stunde später erreichte uns das Motorboot der Küstenwache. Erik hatte unsere Position durchgegeben und versichert, daß wir dort für Fragen zur Verfügung stehen würden. Das Motorboot legte längsseits der KATTEGAT an. Zwei Polizeibeamte vertäuten die beiden Boote miteinander. Schließlich wurden wir zum Polizeiboot hinübergebeten. Erik
half mir dabei, weil ich immer noch ein unsicheres Gefühl in den Knien spürte. In der Kajüte erwartete uns ein beleibter Herr, den ich auf Ende Fünfzig schätzte. Er saß an einem einfachen Holztisch und las einen Bericht. Als wir eintraten, schaute er kurz auf und deutete mit einem Kopfnicken auf zwei Stühle, die ihm gegenüber standen. Ich fühlte, wie mich eine eigenartige Erregung ergriff. Mich drängte es zu wissen, ob der Mörder gefaßt und die Frau vielleicht noch gerettet werden konnte. Aber der dickleibige Polizist hatte offenbar vor, mich auf die Folter zu spannen. Ich betrachtete sein gelichtetes, dunkles Haar und seine braunen unsteten Augen, die den Bericht überflogen. Ich hielt das Schweigen schließlich nicht mehr länger aus. »Haben Sie den Mörder fassen können?« platzte es aus mir heraus. Der Polizist blickte auf und sah mich ruhig und überlegend an. »Es gibt keine Tote«, sagte er seelenruhig. »Es gibt auch keinen Mörder. Die Villa ist leer. Ihr Besitzer hält sich zur Zeit in Cannes auf, wo er die Filmfestspiele mit vorbereitet.« Seine Worte trafen mich wie eine kalte, nasse Woge. Ich schnappte nach Luft und wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Aber Erik legte mir die Hand auf den Arm und bedeutete mir, ich solle ihm das Reden überlassen. Da ich immer noch unter Schock stand, ließ ich ihn gewähren. »Soll das heißen, daß Sie in der Villa keine Anzeichen entdeckt haben, daß dort ein Mord stattgefunden haben könnte?« fragte Erik vorsichtig. Der Polizist nickte bedächtig. »Kein einziges.« Dann erhob er sich, vergrub seine Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Hose und sah Erik und mich streng an.
»Eigentlich müßte ich Sie wegen Irreführung der Polizei anklagen«, sagte er mit gleichbleibend ruhiger Stimme. »Aufgrund Ihrer Anschuldigungen sind meine Leute in die Villa eingedrungen. Sie konnten jedoch nichts Verdächtiges feststellen. Nicht einmal eine Spur, die auf Einbruch oder dergleichen schließen lassen könnte. Monsieur und Madame Tyras, denen die Villa gehört, befinden sich in Cannes. Sie kommen also weder als Täter noch als Opfer in Frage. Einen Einbruch hat es auch nicht gegeben. So daß auszuschließen ist, daß ein Fremder den Mord in der Villa beging.« Der Polizist stemmte nun seine Fäuste auf die Tischplatte, beugte sich zu mir herab und sah mich mit seinen braunen Augen lauernd an. »Sie müssen sich also geirrt haben, als Sie glaubten, einen Mord beobachtet zu haben.« Entrüstet erhob ich mich. »Ich habe mich nicht geirrt«, entgegnete ich und schüttelte Eriks Hand ab, der schon wieder versuchte, mich zu beruhigen. »Ich habe den Mord mit eigenen Augen gesehen. Und der Mörder hat dies sogar bemerkt. Wahrscheinlich hat er schnell alle Spuren beseitigt.« Der Polizist ließ sich von mir nicht aus der Ruhe bringen. »Meine Leute haben die ganze Villa auf den Kopf gestellt. Sie können mir glauben, daß wir solche Meldungen nicht auf die leichte Schulter nehmen.« »Sie glauben mir also nicht«, stellte ich resigniert fest und mußte wieder mit den Tränen kämpfen. Mein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern. »Ich glaube nur das, was sich beweisen läßt«, erklärte er in seiner ruhigen Art. »Und nun zeigen Sie mir einmal, wie Sie den Mord beobachtet haben.« Etwas umständlich folgte uns der beleibte Polizist in unser Boot. »Ich vergaß ganz, mich vorzustellen«, sagte er, während seine beiden Untergebenen ihm dabei halfen, über die Reling zu klettern. »Ich bin Inspektor Grimoud von der Französischen
Mordkommission. Ich habe schon viele Mordfälle untersucht. Aber einer, der vom Meer aus beobachtet wurde, ist mir während meiner ganzen Laufbahn noch nicht untergekommen.« Ich zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. Schließlich hatte ich es mir nicht ausgesucht, Zeugin eines Mordes zu werden. Und nun wurde dieser Mord auch noch in Zweifel gezogen. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, dem Inspektor der Mordkommission bis ins kleinste Detail zu schildern, wie ich den Mord beobachtet und wie er sich abgespielt hatte. Sogar die fliegenden Fische und die Flamingos durfte ich dabei nicht auslassen. Als ich Grimoud jedoch das genaue Aussehen von Opfer und Täter beschreiben sollte, mußte ich eingestehen, daß ich dazu nicht in der Lage war. Zwar konnte ich durch das Fernglas erkennen, daß es sich um Mann und Frau handelte. Aber die Entfernung war doch zu groß gewesen, um das Gesicht oder andere Körpermerkmale genau beschreiben zu können. Grimoud wirkte daher sehr unzufrieden, als er unser Boot wieder verließ. »Ihre Beschreibung könnte auf fast jeden Menschen zutreffen, der relativ groß und von weißer Hautfarbe ist«, sagte er zum Abschluß, ehe er wieder in seiner Kajüte verschwand. Und diesmal klang seine Stimme das erstemal mürrisch und unzufrieden. Erik war sehr einfühlsam und verständnisvoll. Den Rest des Tages widmete er ganz allein mir. Er hatte zauberhaft gekocht und noch irgendwo eine Flasche Rotwein ausgegraben. Als wir gemeinsam auf Deck saßen, wo Erik für uns den lisch gedeckt hatte, schickte sich die Sonne gerade an, rotglühend im Meer zu versinken.
Ich hatte mich unterdessen von dem Schrecken erholt. Trotzdem ließen mir die Worte von Inspektor Grimoud keine Ruhe. Ständig mußte ich daran denken, daß es keinen einzigen Anhaltspunkt für einen Mord gegeben hatte. Habe ich die Vorgänge in der Villa vielleicht nur falsch gedeutet? fragte ich mich. Aber ich mußte diese Frage verneinen. Was ich gesehen hatte, war eindeutig ein Mord gewesen. Nur daß es eben kein Anzeichen dafür gab, daß sich überhaupt jemand zur fraglichen Zeit in der Villa aufgehalten hatte. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Hatte ich mir den ganzen Vorfall nur eingebildet? Hatte mich eine Spiegelung auf dem Fensterglas genarrt und mir einen Kampf um Leben und Tod vorgegaukelt? Plötzlich spürte ich Eriks Hand auf der meinen. Ich blinzelte verwirrt und wischte meine Gedanken fort. Unsicher lächelte ich meinen jungen Gemahl an. »Ich glaube dir«, sagte Erik einfühlsam und zeigte einmal mehr, daß er meine Gefühle und Gedanken recht gut durchschaute. »Grimoud wird sicherlich noch einen Hinweis entdecken. Er machte nicht den Eindruck, als würde er deine Anschuldigungen auf die leichte Schulter nehmen. Wenn in der Villa ein Mord stattgefunden hat, wird Grimoud den Mörder finden. Davon bin ich fest überzeugt.« Ich lächelte meinen Mann dankbar an. Es tat gut zu wissen, daß ich mit meinen Gedanken und Gefühlen nicht allein dastand. Schließlich versuchte ich mich auf das wunderbare Essen zu konzentrieren. Und Erik gelang es mit seinem Charme, daß ich das schreckliche Erlebnis für einige Stunden vergaß.
Am nächsten Morgen holte ich meine Taucherausrüstung aus dem Gepäck und bereitete alles für einen Tauchgang vor. Erik assistierte mir dabei. Half mir, in den engen Taucheranzug zu steigen und die schweren Sauerstoffflaschen auf den Rücken zu schnallen. Er bestand darauf, daß ich ein Messer mitnahm, und überprüfte die wasserdichte Kamera, mit der ich die seltenen Fische fotografieren wollte. Bevor ich die Taucherbrille aufsetzte, drückte er mir noch einen Kuß auf die Lippen und wünschte mir viel Erfolg. Dann ließ ich mich ins Wasser fallen. Die See war ruhig, und es herrschten günstige Wetterbedingungen. Daher war das Wasser sehr klar und erlaubte eine weite Sicht. Ich kam schnell voran und hatte die unterseeischen Ausläufer der Insel rasch erreicht. Zwischen den Felsen tummelte sich ein buntes und vielfältiges Leben, wie es nur an wenigen europäischen Küsten noch anzutreffen war. Ich entdeckte unzählige Hummer und Langusten, die sich zwischen den Spalten des Felsgesteins versteckt hielten. Sie zu jagen, war streng verboten und wäre mir auch nicht in den Sinn gekommen. Seeigel, Seegurken und Seesterne lagen friedlich auf dem Meeresgrund. Und stellenweise war das Gestein von Wasserpflanzen und Korallen überwuchert. Ich löste die Unterwasserkamera von meinem Gürtel und schoß ein paar Aufnahmen. Es gelang mir sogar, ein paar seltene Fische vor das Objektiv zu bekommen. Sie nisteten in Höhlen und Spalten und jagten Plankton und Algen hinterher. Die paradiesischen Zustände dieses einmaligen Naturschutzgebietes unter Wasser faszinierten mich so sehr, daß ich ganz die Gefahren vergaß, die im Meer auf einen arglosen Taucher lauern konnten. Natürlich war ich als Meeresbiologin über diese Gefahren informiert. Und es gab einfache Verhaltensmaßregeln, die ein Risiko von vornherein ausschlossen.
Als ich den weißschillernden Hai bemerkte, der sich mir von der Insel kommend näherte, war es fast schon zu spät. Immer wieder hatte ich mich umgeschaut, um keine unliebsame Überraschung zu erleben, wenn sich mir ein gefährliches Tier vom offenen Meer näherte. Dieser Hai aber mußte sich irgendwo in der Nähe der Insel aufgehalten haben – für ein Raubtier, das das flache Wasser und die Nähe von Menschen scheute, ein ungewöhnliches Verhalten. Aber dieser Hai, der in schlängelnden, kraftvollen Bewegungen direkt auf mich zukam, bildete offenbar eine Ausnahme. Mein erster Impuls war, so schnell wie möglich zum Boot zurückzuschwimmen und mein Heil in der Flucht zu suchen. Aber eine Flucht war genau das Falscheste, was ich jetzt tun konnte. Der Hai würde erst recht auf mich aufmerksam werden und mir nachsetzen. Also verhielt ich mich ruhig und ließ den Menschenhai auf mich zukommen. Ich wußte, daß der Ruf des sogenannten weißen Hais schlechter war, als es sich in der Realität wirklich verhielt. Haie griffen Menschen nicht so ohne weiteres an. Auf dieses Wissen vertraute ich, als ich reglos im Wasser schwebend der mächtigen Gestalt des Fisches entgegenblickte. Seine Schwanzflosse ruderte durchs Wasser. Die gefährlich wirkende Rückenflosse war aufgestellt. Das Maul halb geöffnet, so daß ich die nadelspitzen Zähne deutlich sehen konnte. Ein Schwarm Mondfische, die ich gerade fotografieren wollte, ergriff die Flucht und suchte in einer Felsspalte Zuflucht vor dem Mörder. Aber der Hai schien sich für die Fische nicht zu interessieren. Ohne sich ablenken zu lassen, schoß er geradewegs auf mich zu. Plötzlich riß er sein Maul weit auf und entblößte seine spitzen Zähne.
In diesem Moment begriff ich, daß der Hai wirklich eine Gefahr für mich darstellte. Ich konnte mir sein Verhalten nicht erklären. Aber offenbar hatte er es auf mich abgesehen. Im nächsten Augenblick hatte der Hai mich erreicht. Instinktiv duckte ich mich und riß die Kamera schützend in die Höhe. Ich spürte die Strömung, als der Hai knapp über mich hinwegfegte. Sein Maul schnappte nach der Kamera und riß sie mir aus der Hand. Entsetzt wandte ich mich um und beobachtete, wie der Hai sich hin und her warf, als wollte er das Opfer zerreißen, das er in seinem Maul trug. Rasch sah ich mich nach einem Versteck um. Ich mußte mich in Sicherheit bringen, ehe der Hai bemerkte, daß es nichts Lebendes war, was er da zwischen den Zähnen hatte. Ich tauchte in die Tiefe und erreichte eine Fläche aus hohem Seegras. Ich preßte meinen Körper auf den rauhen Felsgrund und hielt den Atem an, damit die aufsteigenden Luftblasen mich nicht verrieten. Das Seegras war lang, und die Strömung trieb die Halme über meinen Körper, die mich halb verdeckten. Der Hai hatte inzwischen seinen Irrtum bemerkt. Er hatte die Kamera ausgespuckt, die jetzt nur noch ein Klumpen verformten Metalls war. Langsam und sich seiner Beute gewiß, wandte er sich um und schwamm den Grund ab. Haie verfügen über einen ausgezeichneten Geruchssinn. Ich durfte nicht darauf hoffen, daß ich in meinem Versteck sicher war. Zumal ich nicht ewig die Luft anhalten konnte. Irgendwann würden die aufsteigenden Blasen meiner Atemluft mich verraten. Aber der Hai hatte offenbar schon Witterung aufgenommen. Plötzlich schnellte er herum und hielt direkt auf mich zu. Voller Panik griff ich nach dem Tauchermesser, das sich oberhalb meines Fußknöchels befand. Aber die Angst machte
meine Bewegungen fahrig. Verzweifelt versuchte ich die Sicherung zu lösen, die verhindern sollte, daß das Messer während des Tauchens aus dem Futteral glitt. Jetzt hatte der Hai mich gesehen. Er stieß zu mir herab, riß das Maul auf und wollte zuschnappen. Aber in diesem Augenblick hatte ich das Messer endlich in der Hand. Ich stieß mich vom Untergrund ab und schnellte zur Seite weg. Das Maul des Hais verfehlte mich nur um Haaresbreite. Ich wollte mit dem Messer nachsetzen. Aber die Schwanzflosse erwischte mich und wirbelte mich durchs Wasser. Für einen Augenblick wußte ich nicht mehr, wo oben und unten war. Das Messer hatte ich bei dem Schlag verloren. Ich ruderte verzweifelt mit den Armen, um mich wieder in eine stabile Lage zu bringen. Rasch orientierte ich mich. Aber viel Zeit blieb mir nicht, denn der Hai setzte zum nächsten Angriff an. Plötzlich war er vor mir. Ein weißgraues Ungetüm, das sein schreckliches Maul zum todbringenden Biß aufgesperrt hatte. Panisch ruderte ich mit den Beinen. Aber es hatte keinen Sinn. Mit meinen unkontrollierten Bewegungen stachelte ich den Hai nur noch mehr an. Das Maul schoß auf mich zu. Und in Erwartung des schmerzhaften und tödlichen Bisses schloß ich die Augen. Aber der Schmerz blieb aus. Irritiert öffnete ich die Augen wieder. Über mir befand sich der Hai, der sich mit wildpeitschender Schwanzflosse wütend hin und her warf. Dann sah ich den hauchdünnen Blutfaden, der sich von seiner Brustflosse wie ein Nebelstreifen absonderte. Ein Harpunenpfeil hatte die Flosse durchbohrt! Ich schaute nach oben. Im gleißenden Sonnenlicht, das von der Wasseroberfläche reflektiert wurde, erkannte ich eine dunkle Gestalt. Ein Mann ohne Taucheranzug und Taucherflossen, der im blendenden Sonnenlicht wie ein
Scherenschnitt wirkte. In den Händen hielt er eine Harpune. Und war gerade damit beschäftigt, einen neuen Pfeil einzulegen. Erik! durchfuhr es mich, als ich den Mann erkannte. Doch im nächsten Augenblick schoß der Hai auch schon auf Erik zu. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte in dieser Sekunde laut aufgeschrien. Aber das Mundstück zwischen meinen Lippen hinderte mich daran. Hilflos mußte ich mit ansehen, wie der Hai wütend auf meinen Geliebten zustrebte. Er hatte Erik fast erreicht. Aber da war es Erik endlich gelungen, den zweiten Pfeil einzuspannen. Er legte an und drückte ab. Erik war kein besonders guter Schütze. Wahrscheinlich stand er unter demselben Druck wie ich. Auf jeden Fall verfehlte der Pfeil den Hai nur knapp. Aber Erik hatte Glück im Unglück. Denn der Pfeil hatte den Kopf des Hais gestreift und ihn am linken Auge verletzt. Das Her bäumte sich auf, schnellte orientierungslos durchs Wasser. Schließlich schoß es auf den Meeresgrund zu und bewegte sich sichtlich angeschlagen die unterseeischen Ausläufer der Insel hinauf. Nur eine Sekunde wunderte ich mich über das sonderbare Verhalten des Hais, der, anstatt sein Heil im offenen Meer zu suchen, wieder auf die Insel zuschwamm. Aber dann wurden diese Überlegungen ausgelöscht. Erik! war der einzige Gedanke, der in meinem Bewußtsein noch Raum hatte. Wir mußten uns in Sicherheit bringen, ehe der Hai zurückkehrte. Rasch setzte ich mich in Bewegung und hielt auf Erik zu. Gemeinsam erreichten wir die Wasseroberfläche. In der Nähe trieb das kleine Ruderboot, das immer mit dem Kiel nach oben auf dem Deck der KATTEGAT geruht hatte. Erik hatte es zu Wasser gelassen, und es stellte nun unsere letzte Rettung dar.
Ich ergriff Eriks Arm und schwamm mit Hilfe der Schwimmflossen so schnell ich konnte zum Ruderboot. Dabei saß mir die Angst im Nacken und spornte mich dazu an, die letzten Kraftreserven aus meinem Körper herauszuholen. Dann hatten wir es geschafft. Erik zog sich als erster über den Bootsrand. Dann ergriffen seine starken Arme meinen Körper und zogen mich in die Höhe. Keine Sekunde zu früh. Denn schon näherte sich die bedrohlich wirkende Rückenflosse, die spitz aus dem Wasser herausragte und eine Kette von Bläschen und Schaum hinter sich herzog. Der Hai war zurückgekehrt! Gebannt hielt ich den Atem an. Rechnete jeden Augenblick damit, daß der Hai das kleine Boot kenterte. Aber Erik drosch mit dem Ruder wie verrückt auf das Wasser ein und schlug den Hai damit erneut in die Flucht. Dann machte sich Erik daran, uns mit kräftigen Ruderzügen zur KATTEGAT zurückzubringen. Mir kam es fast wie eine Ewigkeit vor, bis wir die Segeljacht endlich erreicht hatten. Aber der Hai griff uns nicht noch einmal an. Offenbar hatte er die Nase voll und es vorgezogen, sich zurückzuziehen. Als wir endlich an Deck standen, sahen Erik und ich uns ganz außer Atem in die Augen. Wir wußten beide, daß wir nur knapp dem Tod entronnen waren. »Als ich die Rückenflosse des Hais an der Wasseroberfläche sah, habe ich sofort reagiert«, erklärte Erik, als er wieder zu Atem gekommen war. »Ich ließ das Beiboot zu Wasser und ruderte wie verrückt. Und als ich sah, wie sich das Wasser wegen eures Kampfes aufwühlte, fürchtete ich schon, ich würde zu spät kommen…«
Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Es ist ja noch einmal gutgegangen«, sagte ich sanft. »Du hast mir das Leben gerettet!« Schließlich fielen wir uns in die Arme und klammerten uns wie Ertrinkende fest aneinander…
Am darauffolgenden Tag lichteten wir die Anker und setzten die Segel. Bis nach Cannes, unserem nächsten Reiseziel, waren es noch sechzig Kilometer. Ich hatte auf der Abreise bestanden, obwohl Erik Einwände dagegen erhoben hatte. Er befürchtete, daß ich meinen Entschluß zu voreilig traf und ihn hinterher bereuen würde. Schließlich hatte ich mich schon seit geraumer Zeit auf die Tauchgänge in dem Naturschutzgebiet gefreut. Aber der Mord und der Angriff des Haifisches hatten mir den Aufenthalt bei Port Cros gründlich verdorben. Ich versicherte Erik mehrmals, daß es mir mit der Abreise ernst sei. »Außerdem ist die Insel Port Cros nicht die einzige Sehenswürdigkeit, die sich einer angehenden Meeresbiologin an der Côte d’Azur anbietet«, erklärte ich. »Wir können später immer noch zu den Inseln zurückkehren. Aber im Moment ist mir der Aufenthalt in diesem kleinen Paradies mehr als verleidet.« Schließlich hatte Erik eingesehen, daß mich nichts in dieser Gegend halten würde. Er gab zu, daß er es selbst für sehr bedenklich hielt, in Anbetracht des gefräßigen Haifisches, der in diesen Gewässern sein Unwesen trieb, mich zu weiteren Tauchgängen zu ermutigen. Also stachen wir wieder in See. Der Wind war nur mäßig, und so benötigten wir fast zwei Tage, bis wir endlich den Hafen von Cannes erreichten.
Es war nicht einfach, in dem überfüllten Hafen noch einen Liegeplatz für die KATTEGAT zu finden. Die bevorstehenden Filmfestspiele hatten schon viele Neugierige angelockt. Große Motorjachten und teuer anmutende Segeljachten lagen hier dicht bei dicht. Aber schließlich gelang es uns doch noch, einen Liegeplatz zu ergattern. Zwar mußten wir einen stolzen Preis dafür bezahlen, aber wir hatten genügend Geld von Eriks Eltern erhalten, so daß uns die Kosten nicht in die Knie zwangen. Eriks Vater hatte darauf bestanden, daß wir unsere Flitterwochen in einem der besten und bekanntesten Hotels von Cannes verbrachten. Zu diesem Zweck hatte er uns im Negress ein Zimmer mit Doppelbett vorbestellen lassen. Im Negress verkehrten angesehene Regisseure und Schauspieler, Filmproduzenten und Autoren. Und Eriks Vater hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um seinem Sohn und seiner jungen Braut dort ein Zimmer zu besorgen. Erik sah sich ein wenig unbehaglich in dem Foyer des luxuriösen Hotels um. Die Rezeption bestand aus goldgeädertem Marmor. Von der hohen Decke hingen schwere Kronleuchter. Die Sitzgarnituren, die um die niedrigen Mahagonitische gruppiert waren, waren mit feinem, handschuhweichem Leder bezogen. Der Herr an der Rezeption war ein wenig verwirrt, weil wir zwei Tage eher angereist waren, als es die Buchung vorgab. Aber es stellte sich heraus, daß unser Zimmer nicht belegt war und wir es jetzt schon beziehen konnten. »Ich glaube, mein Vater hat es mal wieder gut mit uns gemeint«, kommentierte Erik. »Ein einfacheres, schlichtes Hotel hätte es auch getan. Noch bin ich nicht der berühmte Regisseur und Drehbuchautor, als den mein Vater mich gerne sehen würde. Und es ist überhaupt die Frage, ob ich je so bekannt werde wie Chabrol oder Steven Spielberg.«
Ich hakte mich bei ihm unter und lächelte ihn aufmunternd an. »Man fährt eben nur einmal in die Flitterwochen«, dämpfte ich seine Bedenken. »Sicherlich hat dein Vater uns auch unter diesem Aspekt dieses prunkvolle Hotel ausgesucht. Und daß du nicht so berühmt bist wie die beiden Männer, die du eben aufgezählt hast, darüber bin ich recht froh. Ich glaube kaum, daß du noch Zeit für mich hättest, wenn du ständig an irgendwelchen Drehorten wärst.« Erik schaute zu mir herab und lächelte. »Wahrscheinlich hast du recht. Laß uns diesen Aufenthalt in Cannes genießen. Das nächste Mal, wenn wir hier sind, um einen Film von mir vorzustellen, müssen wir vielleicht am Strand schlafen, weil wir uns kein Hotel leisten können.« Bei diesem Gedanken mußte ich unwillkürlich lächeln. Ich hatte Vertrauen in Erik und seine Arbeit als Filmemacher. Sicher würde er es nicht zu solchem Ruhm wie einige seiner amerikanischen Kollegen bringen. Aber am Hungertuch brauchte er trotzdem nicht zu nagen. Außerdem hatte eine Meeresbiologin auch kein schlechtes Einkommen. Während wir uns über dieses Thema noch länger unterhielten, führte uns ein livrierter Hotelpage zu unserem Zimmer im dritten Stock. Staunend hielt ich den Atem an, als der Page die Tür zu unserem Zimmer öffnete und sich ein großer, pompöser Raum dahinter auftat. Ein rundes, großes Bett mit Seidenüberzug befand sich in der Mitte des Raumes. Eine Wandseite wurde ganz von einem verspiegelten Schrank ausgefüllt. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Tür, die in das mit Marmor ausgelegte Badezimmer führte. Daneben befand sich eine kleine Zimmerbar. Am schönsten aber war der Ausblick, der sich aus den hohen, bogenförmigen Fenstern darbot. Von hier aus konnten wir den
Hafen und das Meer sehen. Ein kleiner, halbrunder Balkon lud dazu ein, aus sicherer Entfernung das rege Straßenleben von Cannes zu betrachten. »Wunderschön«, gab ich meiner Begeisterung Ausdruck. Erik gab dem Pagen ein Trinkgeld und wies ihn an, unsere Koffer vor den verspiegelten Schrank abzustellen. Als der Page gegangen war, trat Erik von hinten an mich heran und umarmte mich. Gemeinsam sahen wir still aus dem Fenster und genossen die Nähe des anderen. »Ich habe Hunger«, gestand ich nach einer Weile. »Dann laß uns in das Restaurant des Hotels gehen«, schlug Erik vor. »Dann können wir uns auch gleich ein Bild davon machen, mit wem wir alles unter einem Dach wohnen.« An dem Glitzern in seinen blauen Augen konnte ich ablesen, daß er sich die ganze Zeit schon auf diesen Augenblick gefreut hatte. Ich löste mich von Erik und verschwand im Badezimmer, um mich für den Auftritt im Restaurant zurechtzumachen. Cannes verwandelte sich zur Zeit der Filmfestspiele in einen überdimensionalen Laufsteg. Dementsprechend fiel auch die Wahl meiner Garderobe aus, als ich in Stockholm meine Koffer für die Flitterwochen packte.
»Du siehst einfach umwerfend aus«, lobte mich Erik, als ich fertig war. Ich hatte ein langes schwarzes Kleid angezogen, dessen Oberteil mit Straßsteinen reich verziert war. Meine blonden Haare, die ich elegant hochgesteckt hatte, wurden durch den schwarzen Stoff und die glitzernden Steine noch zusätzlich hervorgehoben. Stolz auf seine schöne Frau, umschlang Erik meine Hüfte und trat mit mir hinaus auf den Flur. Erik trug einen grauen luftigen Anzug aus Leinen. Wir waren beide sehr glücklich.
Aber kaum hatten wir den Flur betreten, da wurde die Zimmertür schräg gegenüber geöffnet, und ein älteres Paar trat heraus. Als ich den Mann und die Frau sah, setzte mein Herzschlag für einen Augenblick aus. Ich hielt plötzlich in meiner Bewegung inne und starrte die Fremden an. Die beiden hatten eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem Paar, das ich in der mauretanischen Villa auf Port Cros gesehen hatte. Nur daß der gesetzt wirkende Mann mit dem graumelierten Haar seine schlanke, hochgewachsene Begleiterin untergehakt hatte und ungezwungen mit ihr sprach. Diese Frau hätte eigentlich tot sein müssen. Erwürgt von dem Mann, an dessen Seite sie sich nun befand. Erik, der spürte, daß irgend etwas mit mir nicht stimmte, sah mich besorgt an. Auch dem älteren Paar schien aufgefallen zu sein, daß ich sie aus weit aufgerissenen Augen angestarrt hatte. Der Mann sah mich stirnrunzelnd an. Blickte dann auf die Nummer unseres Zimmers und nickte kaum merklich. Er löste sich von seiner Partnerin und ging auf uns zu. »Madame und Monsieur Henderson, wenn ich mich nicht täusche«, sagte er ohne erkennbare Regung. Erik sah den Mann verwundert an. »Das ist richtig«, bestätigte er. »Kennen wir uns?« »Wohl kaum«, ließ sich der Mann abschätzig vernehmen. »Die Polizei hat mich heute aufgesucht. Ich muß zugeben, es war schwer für die Beamten, mich zu finden. Die Vorbereitungen für die Filmfestspiele sind sehr zeitraubend. Die verschiedenen Kinos müssen ihr Programm erstellen. Ich bin also viel unterwegs. Aber die Herren von der Polizei konnten mich schließlich doch noch ausfindig machen. Sie erzählten mir, jemand habe beobachtet, wie in meiner Villa ein Mord geschehen sei. Ich war natürlich schockiert. Aber es hat sich wohl herausgestellt, daß die Zeugin«, und hierbei sah er
mich durchdringend an, »sich offenbar geirrt hatte. Es wurde weder eine Leiche noch der Mörder gefunden.« »Dann sind Sie Monsieur Tyras«, bemerkte Erik, der die Zusammenhänge langsamer begriff als ich. »Etienne Tyras«, stellte der Mann sich vor. Und während er auf die Frau im Hintergrund deutete, sagte er: »Und das ist meine Frau Mona. Von der Polizei erfuhren wir, daß Sie ebenfalls in diesem Hotel wohnen werden. Ich brannte daher schon darauf, diejenigen kennenzulernen, die glauben, in meiner Villa gingen Mörder ein und aus.« Ich hätte in diesem Augenblick vor Scham im Boden versinken mögen. Aber trotzdem hielt ich meinen Kopf aufrecht und sah mein Gegenüber fest an. Ich hatte den Mord wirklich gesehen. Und für einen Augenblick hatte ich sogar geglaubt, in dem Ehepaar Tyras Opfer und Täter vor mir zu sehen. »Sie müssen entschuldigen«, sagte Erik in diesem Augenblick. »Es lag gewiß nicht in unserer Absicht, Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Aber meine Frau ist sich sicher, daß sie diesen Mord wirklich gesehen hat. Sie an meiner Stelle hätten genauso gehandelt. Es war einfach meine Pflicht, die Polizei zu verständigen.« Etienne Tyras sah Erik aus zusammengekniffenen Augen an. Aber dann entspannten sich seine Gesichtszüge, und ein Lächeln huschte über seine schmalen Lippen. »Da muß ich Ihnen natürlich zustimmen«, sagte er, wobei kein Vorwurf mehr in seiner Stimme mitschwang. »Frauen können sehr eigenwillig sein. Ich selbst kann davon auch ein Lied singen.« Verstohlen blickte er dabei zu seiner Frau, die immer noch im Hintergrund stand und sich uninteressiert von uns abgewandt hatte.
»Es ist manchmal besser, sich dem Willen der Frau zu beugen. Und besonders dann, wenn sie glauben, etwas gesehen zu haben, was ihre leicht erregbaren Gemüter erhitzt.« Erik an meiner Seite wurde unruhig. Ich spürte, daß er weder mir noch Etienne Tyras zu nahe treten wollte und es daher vorzog zu schweigen. Mir allerdings war die Art, wie Tyras über Frauen sprach, sehr zuwider. Aber bevor ich einen Einwand erheben konnte, wandte sich Tyras direkt an mich. »Wie wäre es, wenn wir diesen kleinen Vorfall, der uns notgedrungen miteinander bekannt gemacht hat, vergessen. Ich lade Sie zu einer Party auf meiner Jacht ein.« Tyras wandte sich wieder an Erik. »Ich habe gehört, Sie sind Filmemacher aus Schweden und werden in Cannes Ihr Debüt vorführen. Auf der Party werden auch einige Größen der Filmindustrie anwesend sein. Es dürfte für Sie nicht von Schaden sein, sich bei ihnen bekannt zu machen.« »Sie sind sehr zuvorkommend«, sagte Erik zurückhaltend. Etienne Tyras zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Junge Talente müssen gefördert werden«, behauptete er. »Mein Schiff heißt NACHTPERLE. Um zwanzig Uhr beginnt die Party.« Mit diesen Worten wandte er sich um und kehrte zu seiner Frau zurück. Erik und ich blieben noch eine Weile stehen. Die Einladung kam für uns sehr überraschend. Mit gemischten Gefühlen sah ich dem Ehepaar Tyras nach. In meinen Augen waren die beiden sehr undurchsichtige Gestalten. »Sonderbarer Mensch«, flüsterte Erik, als die beiden um eine Korridorbiegung verschwunden waren. Aber dann schüttelte er seine Beklemmungen ab und lächelte mich fröhlich an. »Besser hätte unser Einstieg in Cannes gar nicht laufen können«, sagte er schmunzelnd. »Jetzt haben wir sogar schon eine Einladung zu einer Party, auf der wichtige Leute vertreten sind. Wenn das kein glücklicher Zufall ist.«
Ich war froh, daß Erik der ganzen Sache nur eine positive Seite abgewinnen konnte. Ich konnte ein gewisses mulmiges Gefühl jedoch nicht abschütteln. Die Ähnlichkeit des Ehepaars Tyras mit den beiden Menschen, die ich in der Villa beobachtet hatte, verwirrte mich. Ich konnte mir die Vorfälle einfach nicht erklären. Aber schließlich folgte ich Erik in den pompösen Speisesaal. Und in Anbetracht all des Glamours vergaß ich den kleinen Zwischenfall rasch wieder.
Um acht Uhr abends begaben wir uns zum Hafen. Die Stadt leuchtete in bunten Farben. Die Straßen waren geschmückt, und überall hingen Vorankündigungen auf die Programme der verschiedenen Kinos. Jeder Winkel der Stadt schien von hektischer Aktivität erfüllt. Cannes bereitete sich auf das große Filmfestspiel vor! Mit einem kleinen Motorboottaxi ließen wir uns zur NACHTPERLE übersetzen, die einen Kilometer vom Hafen entfernt Anker gelichtet hatte. Schon als wir uns der großen Jacht näherten, waren die Geräusche eines ausgelassenen Festes zu vernehmen. Bunte Girlanden, Leuchtketten und Lametta glänzten im Licht der Deckbeleuchtung. Männer in schwarzen Anzügen und Frauen in Galakostümen waren zu sehen. Erik und ich sahen uns einen Augenblick stumm an. »Dann wollen wir uns mal in das Getümmel stürzen«, sagte Erik, der eigentlich nicht viel für solche Veranstaltungen übrig hatte. Aber diese Partys gehörten zum Filmgeschäft nun einmal dazu. Das Taxiboot legte längsseits an, und wir erklommen die NACHTPERLE über eine Metalltreppe, die extra für diesen Zweck angebracht worden war.
Kaum hatten wir das Deck erreicht, da wurden wir auch schon überschwenglich von Etienne Tyras begrüßt. Er trug einen weißen leichten Anzug, der seine Leibesfülle nur ungenügend verdeckte. »Schön, daß Sie gekommen sind«, sprudelte er hervor und hakte sich ungefragt bei mir unter. »Sie sehen bezaubernd aus«, flüsterte er mir zu und blinzelte Erik verstohlen zu. Etienne Tyras führte uns zu einer Gruppe schwarzbefrackter Männer. Wir wurden einander vorgestellt. Bei den Herren handelte es sich um Filmproduzenten und Agenten großer Filmverleihketten. Erik wurde sofort in ein Gespräch verwickelt. Da ich nicht viel vom Geschäft verstand, trennte ich mich bald von der Gruppe und ging meine eigenen Wege. »Darf ich Ihnen einen Drink reichen?« sprach mich plötzlich ein Mann von der Seite an. Neugierig wandte ich mich um und nahm das Glas in Empfang, das der junge Mann mir reichte. Er hatte dichtes schwarzes Haar, das wegen der vielen Locken aufgebauscht wie ein Turban wirkte. Auch seine Augenbrauen waren buschig, und die braunen Augen musterten mich interessiert. »Ich habe Sie in der Filmszene noch nie gesehen«, bemerkte er. Ich lächelte mild. »Kein Wunder«, entgegnete ich. »Ich habe es auch mehr einem unglücklichen Zufall zu verdanken, daß ich und mein Mann zu diesem Fest eingeladen wurden.« Der junge Mann zog verwundert eine Augenbraue in die Höhe, was wegen ihrer Buschigkeit recht imposant aussah. »Haben Sie mit dem Filmgeschäft denn nichts zu tun?« fragte er mißtrauisch. »Mein Mann ist Filmemacher. Wir kommen aus Schweden«, erklärte ich.
Offenbar hatte ich das Interesse des Mannes geweckt. »Verzeihen Sie, wenn Ihnen meine Fragen aufdringlich erscheinen. Ich bin Engländer und arbeite als Reporter für die Londoner Boulevardzeitung ›Sun‹. Ich verbreite den neuesten Klatsch der Filmwelt, wenn Sie so wollen.« Er lächelte gewinnbringend. »Mein Name ist Peter Lamb. Wahrscheinlich haben auch Sie noch nie von mir gehört.« Ich zuckte mit den Schultern und reichte ihm die Hand. »Mein Name ist Gina Henderson. Erik, mein Mann, zeigt in Cannes sein Filmdebüt. Einen Liebesfilm übrigens.« Der Reporter sah mich überrascht an und musterte mich von oben bis unten, als würde er mich erst jetzt richtig bemerken. »Sie sind also Gina Henderson«, stieß er lächelnd hervor. »Jene Gina Henderson, die in Etienne Tyras’ Villa einen Mord gesehen haben will!« Jetzt war die Überraschung auf meiner Seite. Diese kleine Episode hatte sich rasch herumgesprochen. Ich nahm mir vor, in Zukunft vorsichtiger mit meinen Äußerungen zu sein. Denn wie es aussah, gab es in Cannes keine Geheimnisse. Und ich konnte mir vorstellen, daß Reporter wie Peter Lamb sich auf alles stürzten, was auch nur einigermaßen nach einer vielversprechenden Story roch. Ich nickte daher nur schwach und überlegte, wie ich das Gespräch auf ein anderes Thema lenken konnte. Aber der Reporter ließ mir keine Chance. »Im Vertrauen«, sagte Peter Lamb und trat näher an mich heran. Dann senkte er verschwörerisch seine Stimme. »Mich würde es nicht wundern, wenn es in der Villa der Tyras’ wirklich zu einem Mord kommen sollte«, erklärte er. »Etienne und Mona sind ein sehr streitsüchtiges Paar. Es geht dabei um viel Geld. Mona hat ihr gesamtes Vermögen mit in die Ehe gebracht. Etienne war vorher nur ein mittelmäßiger Filmproduzent. Aber mit dem Kapital seiner Frau hat er eine
beachtliche Verleihfirma gegründet. Ihm ist es gelungen, viele gute Filme einzukaufen. Cannes ist in dieser Beziehung ein heißumkämpfter Markt. Aber seit geraumer Zeit munkelt man in gewissen Kreisen, daß Mona ihrem Mann die finanziellen Mittel streichen will. Es war sogar von Scheidung die Rede. Zur Zeit ist Mona wieder einmal verschwunden. Das macht sie öfter, wenn sie sich streiten. Das ärgert Etienne immer maßlos, der seine attraktive Frau zu Repräsentationszwecken natürlich gern an seiner Seite gehabt hätte.« »Sie meinen, Mona hat sich von Etienne vorläufig getrennt?« fragte ich verwundert. Ich erinnerte mich, daß ich die beiden noch vor ein paar Stunden zusammen im Hotel gesehen hatte. »Soweit ich informiert bin, seit drei Tagen«, bestätigte der Reporter. Ich zuckte wieder mit den Schultern. Denn ich verspürte nur wenig Lust, mich an dem Klatsch von Cannes zu beteiligen. Darum verschwieg ich Peter Lamb auch, daß ich Etienne und Mona heute in stiller Eintracht gesehen hatte. Ich entschuldigte mich bei dem Reporter und entfernte mich. Kurz hielt ich nach Erik Ausschau. Aber er war immer noch in ein Gespräch mit den Herren im schwarzen Frack vertieft. Ich wollte ihn nicht stören und schlenderte gelangweilt über das Deck.
Die NACHTPERLE war ein sehr weitläufiges Schiff. Die Party wurde auf dem großen Hauptdeck abgehalten, wo es auch einen kleinen Swimmingpool gab. Wie überflüssig, dachte ich, wo doch das Meer nur einen Sprung über die Reling entfernt war. Ich ließ meinen Blick über das dunkle Wasser gleiten, auf dem sich die grellen, bunten Lichter der NACHTPERLE spiegelten. Langsam schlenderte ich an den
Kajütenaufbauten vorbei und erreichte schließlich den Bug der Jacht. Die Gäste waren nun nicht mehr zu sehen. Auch die bunten Lichter wurden durch die Kajütenaufbauten gedämpft. Ich schaute in die Nacht hinaus und betrachtete den sternenklaren Himmel. Ich dachte an den Haifisch und daran, woran es wohl gelegen haben könnte, daß er mich angriff. Es gab genug einschlägige Filme, die über menschenfressende Haie berichteten und die ein völlig falsches Bild von den Haien vermittelten. Aber nun war ich selbst von einem Killerhai angegriffen worden. Ich konnte mir darauf einfach keinen Reim machen. Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. In meinem Rücken hörte ich das Knarren einer Tür. Langsam wandte ich mich um. Ich erwartete, einen der Diener zu sehen, die mit silbernen Tabletts beladen den Gästen die Getränke oder einen Imbiß reichten. Aber hinter der niedrigen Tür, die wie durch Geisterhand knarrend aufschwang, blieb es dunkel. Ich runzelte die Stirn, als ich in der Dunkelheit hinter der Tür eine kaum merkliche Bewegung registrierte. »Ist da jemand?« fragte ich verunsichert und kniff die Augen zusammen. Mir wurde ein wenig unbehaglich zumute, und ich hoffte, daß ich nicht das Opfer irgendeines makabren Scherzes der Filmleute wurde. In diesem Moment trat eine Gestalt aus der Tür. Eine Frau in einem weißen fließenden Gewand. Einen Moment lang verharrte sie aufrecht – nur ein paar Schritte von mir entfernt. Ganz deutlich konnte ich ihr Gesicht erkennen. Es war leichenblaß. Die Augen waren rot gerändert, die Lippen blau angelaufen. »Mona Tyras!« stieß ich hervor, als ich die Frau erkannte. »Ist Ihnen nicht gut?«
Die Frau torkelte einen Schritt auf mich zu. Sie wollte etwas sagen. Aber über ihre, bläulichen Lippen drang nur ein ersticktes Röcheln. Nun bemerkte ich auch die schrecklichen Würgemale an ihrem schlanken, grazilen Hals. Entsetzt wich ich einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Reling. Wieder öffnete Mona Tyras den Mund. Anklagend sah sie mich an. Streckte einen Arm hilfesuchend nach mir aus. Aber diesmal drang nicht einmal mehr ein Röcheln aus ihrer Kehle. Statt dessen sickerte ein Blutfaden aus dem Mund. Blut tropfte auf das Kleid und hinterließ häßliche rote Flecken auf dem makellosen Weiß. Ein schriller Schrei gellte über das Meer. Es dauerte eine Sekunde, ehe ich begriff, daß ich es war, die den Schrei ausgestoßen hatte. Ich preßte die Faust vor den Mund, um den Schrei zu ersticken. Mona Tyras wollte noch einen Schritt auf mich zukommen. Aber sie verlor plötzlich das Gleichgewicht, strauchelte und torkelte auf den Bootsrand zu. Sie prallte gegen die Reling, wollte sich an den Chromstangen festhalten, kippte aber plötzlich vornüber. Bevor ich es verhindern konnte, war Mona Tyras haltlos über Bord gestürzt. Ich hörte noch, wie ihr Körper auf dem Wasser aufschlug. Dann erst fiel die Schreckensstarre von mir ab. Ich rannte zu der Stelle, wo Mona ins Meer gestürzt war. Das Wasser schäumte, und dicke Blasen stiegen an die Oberfläche. Von Mona Tyras fehlte jedoch jede Spur. Eilige Schritte waren hinter mir zu hören. Mein unmenschlicher Schrei hatte die Partygäste aufgeschreckt. Die Männer in ihren schwarzen Fracks eilten mit besorgten Mienen auf mich zu. Unter ihnen befanden sich auch Erik und Etienne.
»Was ist geschehen?« fragte Erik bestürzt, als er mich erreicht hatte. Instinktiv schloß er mich in die Arme. »Mona… Tyras«, stammelte ich. »Sie… Sie ist über Bord gefallen. Und ihr weißes Kleid war blutbefleckt.« »Aber meine Frau befand sich doch gar nicht an Bord«, gab Etienne zu bedenken. Einer der Männer hatte die Geistesgegenwart besessen und einen Rettungsring geholt. »Wo genau ist die Frau denn über Bord gegangen?« wollte er wissen. Ich deutete auf die Stelle. Aber das Meer hatte sich unterdessen geglättet. Weder Luftblasen noch Turbulenzen wiesen darauf hin, daß hier ein Mensch zu ertrinken drohte. Der Mann mit dem Rettungsring sah mich skeptisch an. Trotzdem warf er den Ring ins Wasser und band die Leine an der Reling fest. »Wenn es Mona nicht gewesen sein kann«, fragte er, »wer könnte es denn sonst gewesen sein, der über Bord gegangen ist?« Eine allgemeine Unruhe hatte die Gäste ergriffen. Schnell vergewisserte man sich davon, daß keiner der weiblichen Gäste fehlte. Auch das Personal, das sich an Bord befand, war vollzählig. »Sie müssen sich getäuscht haben«, sagte Etienne kopfschüttelnd. »Es wird niemand an Bord vermißt.« »Aber ich habe Mona doch ganz deutlich vor mir gesehen«, beharrte ich. Ich war immer noch ganz durcheinander. Am wenigsten begriff ich, warum mir niemand glauben wollte. Hilfesuchend sah ich Erik an. »Hat sich Ihre Frau vielleicht ohne Ihr Wissen an Bord befunden?« fragte er Etienne vorsichtig. Der Filmagent schnaufte nur verächtlich. »Das ist so gut wie ausgeschlossen«, sagte er. »Ich kenne meine Frau zu gut. Es ist ja kein Geheimnis mehr, daß wir uns gestritten haben.« Dabei
warf er einen Seitenblick auf Peter Lamb, den Reporter. »Mona wird erst in ein paar Tagen wieder aufkreuzen, wenn sich ihre Wut auf mich gelegt hat. Und so lange wird sie meine Gegenwart meiden wie die Pest.« Einige der Männer stießen ein unterdrücktes Lachen aus. Nur Erik und der Mann, der den Rettungsring über Bord geworfen hatte, blieben ernst. »Ich werde trotzdem auf Nummer Sicher gehen«, verkündete der Mann, der den Rettungsring geworfen hatte. Hastig begann er sich auszuziehen. Nur mit Unterzeug bekleidet sprang er schließlich ins Meer. Mittlerweile hatte sich die ganze Party auf den Bug der Jacht verlegt. Die Gäste standen an der Reling und starrten ins Wasser hinab. Jemand hatte einen Scheinwerfer auf die Stelle gerichtet, wo Mona meinen Angaben zufolge versunken sein sollte. Nach fünf Tauchversuchen gab der Mann im Wasser seine Bemühungen auf. »Es ist nichts zu sehen!« rief er zu uns herauf. »Das Meer ist hier nicht sehr tief. Und eine Strömung so gut wie nicht vorhanden. Wenn jemand über Bord gefallen wäre, müßte er sich noch in der Nähe der Jacht befinden. Aber außer Fischen ist hier nichts zu sehen.« Er schwamm zur Metalltreppe und kehrte zurück an Deck, wo ihn einer der Bediensteten mit einem Handtuch erwartete. »Habe ich es nicht gesagt«, ließ Etienne Tyras sich wieder vernehmen. »Wahrscheinlich hat Gina Henderson wieder halluziniert.« Die Gäste warfen mir schräge Blicke zu. Ich war mir sicher, daß jeder von ihnen die Geschichte mit dem Mord, den ich angeblich beobachtet haben wollte, wußte. Gedemütigt schlug ich die Augen nieder. Erik streichelte mir beruhigend über die Schulter. »Vielleicht ist es besser, wenn
wir uns jetzt verabschieden«, sagte er zu mir. »Du siehst sehr mitgenommen aus.« Ich lächelte Erik dankbar an. Ich hatte ihm den Abend verdorben und mich mit meinem Verhalten unmöglich gemacht. Aber ich hatte Mona doch wirklich gesehen. Genauso, wie ich den Mord in der Villa auf Port Cros gesehen hatte. Nur daß mir niemand Glauben schenkte. Und ich befürchtete, daß Erik nun auch zu denen zählte, die mir nicht glaubten. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Sollte ich wirklich an Halluzinationen leiden, so wie Etienne es behauptete? Wie es aussah, deutete alles darauf hin. Ich ließ mich von Erik übers Deck führen. Jemand hatte ein Taxiboot für uns bestellt. Und als wir die Metalltreppe zum Motorboot hinabstiegen, spürte ich förmlich die Blicke der Gäste, die sich in meinen Rücken bohrten. Ich war froh, als die Lichter von Cannes immer näher rückten und wir kurz darauf den Hafen erreichten. Ich klammerte mich an Eriks Arm, als wir die belebten Straßen der Filmstadt durchquerten. Ich hatte das Gefühl, als würden die Leute hinter meinem Rücken mit den Fingern auf mich zeigen und sagen: »Sieh mal, das ist die Verrückte, die überall Tote sieht…«
Als ich aus dem Badezimmer kam, saß Erik immer noch wach im Bett. Er hatte nur wenig gesprochen, seit wir die Party auf der NACHTPERLE verlassen hatten. Und auch jetzt, als ich mein dünnes Nachthemd überstreifte, ruhte sein Blick nachdenklich auf mir. »Ich mache mir Sorgen«, sagte er schließlich. Sanft sah er mich dabei an. »Vielleicht ist die Reise zu anstrengend für dich.«
»Unsinn«, begehrte ich auf und trat an das Bett heran. »Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie in den letzten Wochen. Ich bin glücklich!« Erik lächelte mich schwach an. »Ich weiß«, sagte er. »Auch ich bin glücklich. Aber irgend etwas scheint dich zu belasten. Wie sonst erklärst du dir diese Zwischenfälle mit Mona Tyras?« Ich schlüpfte zu Erik unter die Bettdecke und kuschelte mich an ihn. »Ich kann dir nur immer wieder sagen, daß ich mir diese Mordfälle nicht nur eingebildet habe«, sagte ich fest. Aber im Innersten war ich mir dieser Sache gar nicht mehr so sicher. »Aber beide Male wurde dein Verdacht widerlegt«, wandte Erik hartnäckig ein. »Mona Tyras erfreut sich wahrscheinlich bester Gesundheit und ist in irgendeinem Hotel untergekommen, wo sie in Ruhe über sich und ihren Mann nachdenken kann.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht mehr über dieses Thema reden. Aber Erik ließ nicht locker. »Vielleicht hast du den Tod deiner Mutter doch noch nicht überwunden«, sagte er plötzlich. »Du mußtest mit eigenen Augen ansehen, wie sie starb. Vielleicht ist in dir ein Trauma zurückgeblieben, das sich jetzt erst bemerkbar macht.« Erstaunt richtete ich mich im Bett auf und sah Erik scharf in die Augen. Aber Erik hielt meinem Blick stand. Er meinte seine Sache ernst. »Der Tod meiner Mutter liegt acht Jahre zurück«, sagte ich empört. »Warum sollte mir dieser Umstand ausgerechnet jetzt zu schaffen machen?« »Weil deine Mutter nicht eines natürlichen Todes gestorben ist«, erklärte Erik, und ich wünschte, er würde aufhören zu
reden. Aber er fuhr fort: »Sie ist einem Attentat zum Opfer gefallen. Und dazu noch direkt vor deinen Augen.« Ich ließ mich auf das Kissen zurücksinken und starrte an die Decke. Eriks Worte hatten eine Erinnerung in mir wachgerufen, die seit Jahren tief in meinem Inneren schlummerte. Meine Mutter hatte als Dolmetscherin für die schwedische Regierung gearbeitet. Sie war eine sehr schöne und intelligente Frau. Ihre Arbeit wurde in Regierungskreisen hoch geschätzt. Daher wurden ihre Dienste oft und gerne bei wichtigen Anlässen in Anspruch genommen. An jenem verhängnisvollen Tag sollte ein Gipfeltreffen vorbereitet werden und meine Mutter dabei als Dolmetscherin fungieren. Als die Vertreter der verschiedenen Regierungen in ihren schwarzen Limousinen zum Regierungssitz fuhren, hatte sich eine Menge Schaulustiger angesammelt, um diese Prozedur zu beobachten. Mein Vater und ich befanden uns ebenfalls unter den Schaulustigen. Wir aber waren nicht wegen der hohen Beamten gekommen, sondern weil meine Mutter in einer der schwarzen Limousinen saß. Als ich meine Mutter hinter dem Seitenfenster einer Limousine entdeckte, winkte und rief ich. Meine Mutter, die mich bemerkt hatte, erwiderte meinen Gruß. Und dann geschah das Schreckliche. Die Bombe unter dem Abwasserdeckel war eigentlich für einen anderen Wagen bestimmt gewesen – so jedenfalls sagten es die Attentäter aus, die später von der Polizei gefangengenommen werden konnten. Aber wegen eines technischen Fehlers explodierte die Bombe ein paar Sekunden zu früh. Nämlich genau zu dem
Zeitpunkt, als die Limousine, in der meine Mutter und einige Sicherheitsbeamte saßen, den Kanaldeckel passierte. Es gab eine heftige Explosion. Und obwohl die Limousine gepanzert war, wurde sie von dem Sprengstoff förmlich in zwei Stücke gerissen. Alle Insassen starben. Darunter auch meine Mutter. Es hatte Jahre gedauert, bis ich über diesen Schock hinweggekommen war. Mein Vater dagegen hatte diesen Verlust nie überwunden. Er hatte meine Mutter sehr geliebt. Und ihr Tod bedeutete für ihn den schrecklichsten Verlust seines Lebens. Ich wuchs bei meiner Tante auf und sah meinen Vater nur am Wochenende. Er hatte versucht, in seiner Arbeit Vergessen zu finden. Und da ich ihn immer schmerzlich an seine geliebte Frau erinnerte, mied er meine Gegenwart, so gut er konnte. Daran hatte sich bis heute nicht viel geändert. Aber immerhin hatte er sich dazu überreden lassen, zu meiner Hochzeit zu erscheinen. Bisher hatte ich immer angenommen, das traumatische Erlebnis verarbeitet zu haben. Aber die neuesten Ereignisse ließen plötzlich Zweifel daran aufkommen. Zweifel, die Erik offenbar auch teilte. Erik beugte sich zu mir herüber und küßte mir die Tränen fort. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß ich angefangen hatte zu weinen. Verlegen lächelte ich meinen Mann an. »Wir werden die Sache schon wieder in den Griff bekommen«, sprach er mir Mut zu. »Aber vielleicht sollten wir den Aufenthalt in Cannes besser abbrechen.« Entrüstet sah ich Erik an. »Das werde ich niemals zulassen«, sagte ich. »Schon so lange freust du dich auf die Filmfestspiele und darauf, deinen ersten Film hier vorstellen zu können.« »Das stimmt«, gab Erik zu. »Aber ich werde nicht mit ansehen, wie du in den Abgrund gerätst. So wertvoll ist mein
Film nun auch nicht, daß ich meine Frau für ihn opfern würde.« Unwillkürlich mußte ich lächeln. Zärtlich strich ich Erik durchs Haar. »Ich verspreche dir, daß ich dir keine Unannehmlichkeiten mehr machen werde«, sagte ich. »Das nächste Mal, wenn ich eine tote Frau sehe, werde ich genauer hinschauen. Vielleicht verflüchtigt sich die Erscheinung ja, wenn ich ihr mit festem Willen gegenübertrete.« Erik wirkte nicht sehr überzeugt. Aber meine Worte schienen seine Zweifel vorerst beseitigt zu haben. »Ich glaube auch, daß du diese Halluzinationen, wie Etienne Tyras es nannte, überwinden wirst«, sagte er schon etwas zuversichtlicher. »Du bist eine starke Frau. Genau wie deine Mutter.« Dann schloß er mich in seine Arme, und wir versanken in einem Meer aus Liebe und Leidenschaft…
Nach einem ausgiebigen Frühstück, das wir an diesem Morgen in unserem Bett einnahmen, erklärte Erik, er müsse wegen der Erstaufführung seines Films noch ein paar organisatorische Dinge erledigen. Er hätte es gerne gesehen, wenn ich ihn begleitet hätte. Aber ich hatte andere Pläne. Das hektische Treiben in Cannes reizte mich nicht. Mir würde noch genügend Zeit bleiben, mich während der Filmfestspiele dem Trubel und Spektakel auszusetzen. Momentan befand sich noch alles in der Vorbereitungsphase. Ich hatte daher beschlossen, Monaco einen kurzen Besuch abzustatten. Dort befand sich das berühmte Ozeanographische Museum, das schon seit längerer Zeit von dem bekannten Meeresforscher Jaques-Yves Cousteau geleitet wurde. Für eine junge Meeresbiologin stellte der Besuch dieses Museums also ein Muß dar.
Diesen kleinen Ausflug ließ ich mir auch von Erik nicht ausreden. Er machte sich Sorgen und wollte mich nicht allein lassen. Aber ich versicherte ihm, daß mir ein kleiner Ausflug sicherlich guttun würde. Schließlich machte sich Erik nach unserem romantischen Frühstück allein auf den Weg. Er gab mir noch einen leidenschaftlichen Kuß und wünschte mir alles Gute. Als auch ich mich eine Stunde später auf den Weg machte, war ich guter Dinge. Draußen empfing mich ein blauer strahlender Himmel. Die milde Mailuft duftete nach salzigem Wasser und Fischen. Plötzlich erschienen mir meine Probleme fern und unbedeutend. Ich war fest davon überzeugt, daß mich die Halluzinationen kein weiteres Mal heimsuchen würden. Ein Bus brachte mich von Cannes nach Monaco. Die ganze Fahrt über ging es die malerische Küstenstraße entlang. Ich schaute aus dem Fenster und hing meinen Gedanken nach. Die herrliche Landschaft der Côte d’Azur hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Der Bus passierte Nizza. Und zwanzig Minuten später erreichte er Monaco. Das Ozeanographische Museum befand sich ziemlich genau an der Spitze einer gebogenen Landzunge. Das imposante dreistöckige Gebäude war auf der steinigen Küste errichtet worden, wobei der untere Trakt fast das Meer berührte. Am heutigen Tag hielten sich in dem Museum nur wenige Besucher auf. Ich war daher ungestört und konnte die Ausstellungen, die über den Fischfang und die Meeresindustrie informierten, in Ruhe anschauen. Von besonderem Interesse waren für mich allerdings die Exponate, die sich mit dem Leben in den Meeren beschäftigten. Die Ausstellungshallen im Erdgeschoß hatte ich mir bis zuletzt aufgespart. Denn hier befanden sich die großen Aquarien, in denen die Fischvielfalt der ganzen Erde zu sehen war. Die große Halle war erfüllt von dem grünlichen
schillernden Licht, das von den Aquarien reflektiert wurde. Die Atmosphäre hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Die stummen Fische hinter den dicken Scheiben huschten lautlos durchs Wasser oder ließen sich träge treiben. Erleichtert stellte ich fest, daß ich auch hier die einzige Besucherin war. Ich hatte die ganze Halle für mich allein. In den Aquarien befanden sich bunte, exotische Fischarten. Langsam schritt ich die Reihen der Aquarien ab. Versuchte, mir die lateinischen Bezeichnungen für die Fische einzuprägen, und war ganz in meine Betrachtungen vertieft. Gerade wandte ich mich von einem Aquarium ab, in dem ein Pärchen blauer Papageienfische lebte, und wollte mich dem nächsten zuwenden. Laut Anzeigetafel sollten sich darin Anemonenfische befinden. Aber ich suchte die feuerroten Fische, die gerne in der Nähe von Seeanemonen lebten, vergeblich. Sie hatten sich versteckt. Irgend etwas mußte sie erschreckt haben. Und dann sah ich sie. Sie trieb mit dem Gesicht nach unten dicht unter der Wasseroberfläche. Ihr weißes Kleid umwallte sie wie ein nebeliger Schleier. Das rote lange Haar hatte sich fächerförmig ausgebreitet; wogte seicht hin und her. Das Gesicht der Frau war totenbleich. Die Augen waren weit aufgerissen und starrten ausdruckslos auf den Grund des Aquariums. Mit einem entsetzten Aufschrei wich ich zurück, schlug die Hände vor die Augen und ließ mich auf den kalten, gekachelten Boden sinken. Ich war zu keinem klaren Gedanken fähig. In mir schien sich alles zu drehen. Ein Strudel hatte mich ergriffen. Ein Strudel, der alles mit sich riß: die Gedanken, die Gefühle. Bis ich nur noch eine leere, ausgebrannte Hülle war.
Ein trockenes Schluchzen drang aus meiner Kehle. Ich zitterte am ganzen Körper. Und als mich eine Hand an der Schulter berührte, fuhr ich schreiend auf. »Ist Ihnen nicht gut?« drang die besorgte Stimme einer Frau in mein Bewußtsein. Ich starrte in das Gesicht einer schwarzhaarigen Frau. Ich erkannte sie wieder, es handelte sich um eine Angestellte des Museums. Ihr Gesicht drückte Besorgnis, aber auch Beunruhigung aus. Langsam kam ich wieder zu mir und ließ mir von der Museumsangestellten auf die Beine helfen. Dabei warf ich einen verstohlenen Blick auf das Aquarium, in dem sich die tote Frau befunden hatte. Von der Frau fehlte jedoch jede Spur. Friedlich schwammen die feuerroten Anemonenfische durchs Wasser und glotzten mich mit ihren schwarzen Augen durch das Glas an. Sie allein hätten mir sagen können, ob sich die Tote wirklich in dem Aquarium befunden hatte oder ob mich wieder nur eine meiner Halluzinationen heimgesucht hatte. Aber leider waren die Fische stumm. Und so mußte ich die Last der Ungewißheit allein tragen. Bin ich auf dem Weg, verrückt zu werden? fragte ich mich unwillkürlich. Und wie es aussah, konnte ich diese Frage nur mit einem Ja beantworten. Ich hielt es für besser, der Museumsangestellten nichts von der toten Frau im Aquarium zu erzählen. Ich wäre bei ihr nur auf Unverständnis gestoßen und hätte mich unangenehmen Fragen aussetzen müssen. Also erfand ich einen Vorwand, mit dem ich meine kurze Ohnmacht rechtfertigen konnte, erzählte irgend etwas von Kreislaufschwäche und Klimaveränderung. Die Frau schien mir nur begrenzt Glauben zu schenken. Jedenfalls sah sie mich die ganze Zeit über mißtrauisch an.
Aber ich achtete nicht weiter auf sie, entschuldigte mich für die Unannehmlichkeiten, die ich ihr bereitet hatte, und verließ das Ozeanographische Museum, so schnell ich konnte. Draußen angekommen, lief ich ziellos durch die engen Straßen von Monaco. In meinem Kopf jagten die Gedanken. Werde ich verrückt? fragte ich mich wieder. Kann ich keinen Tag mehr verleben, ohne daß mich das schreckliche Bild einer toten Frau quält? Einer toten Frau, die nur ich sehe! Ich hätte vor Verzweiflung laut aufschreien mögen. Vielleicht hatte Erik doch recht mit seiner Behauptung, daß ich das traumatische Erlebnis, den Tod der eigenen Mutter mit ansehen zu müssen, noch nicht verarbeitet hatte. Aber warum mußten mich diese „ schrecklichen Bilder gerade jetzt heimsuchen. Ich war gerade im Begriff, die schönsten Wochen meines Lebens zu erleben. An der Seite meines geliebten Mannes. Die Halluzinationen zerstörten alles. Plötzlich bekam ich Angst, ich könnte alles verlieren, was mir im Leben etwas bedeutete. Erik, meinen Beruf und meine Liebe zum Meer und seinen Bewohnern. Ich hatte plötzlich das starke Verlangen, in Eriks Nähe zu sein. Er würde mir Kraft und Vertrauen schenken – da war ich mir ganz sicher. Und an seiner Seite würden auch die furchtbaren Bilder nicht wiederkehren. Ich ging zurück zur Bushaltestation und wartete auf den Bus, der mich zu Erik und somit auch in Sicherheit bringen würde. Aber in Sicherheit wovor? fragte ich mich unwillkürlich. Denn vor mir selbst und meinen Wahnvorstellungen könnte selbst Erik mich nicht schützen. Gegen Abend kehrte ich nach Cannes zurück. Erik war noch nicht wieder im Hotel erschienen. Also machte ich mich auf die Suche nach ihm. Der Portier des Hotels hatte mir eine Adresse genannt, wo ich Erik finden konnte. Es war eins jener zahlreichen Kinos, die
ihren Betrieb hauptsächlich während der Filmfestspiele aufnahmen. Ich traf Erik bei einer Besprechung mit dem Vorführer an. Als Erik mich bemerkte, huschte augenblicklich ein Schatten über sein Gesicht. Er beendete das Gespräch sofort und eilte mir mit besorgter Miene entgegen. »Gina, was ist geschehen?« fragte er, als er mir gegenüberstand. Er ergriff meine Schultern und sah mir forschend in die Augen. »Es ist nichts«, log ich. »Ich bin nur ein wenig überanstrengt.« Ich hatte mir vorgenommen, Erik nicht weiter zu beunruhigen. Für ihn und seine Laufbahn als junger Filmemacher war der Aufenthalt in Cannes von entscheidender Wichtigkeit. Und ich hatte nicht vor, ihm diese Chance zu verderben. »Du verheimlichst mir doch etwas«, drang Erik weiter in mich. Ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Aber mein Lächeln mußte sehr schwach ausgefallen sein, denn Erik war keinesfalls beruhigt. »Ich habe mich nur nach dir gesehnt, das ist alles«, bekräftigte ich noch einmal. »Ich bin hier jetzt fertig«, sagte Erik, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Wenn du willst, können wir gemeinsam essen gehen.« Ich willigte ein. Eriks Berührung und der vertraute Ton seiner Stimme zeigten ihre erste Wirkung. Ich spürte, wie ich innerlich ruhiger und besonnener wurde. Gemeinsam suchten wir ein Restaurant in der Nähe des Hafens auf. Erik fragte mich aus, wie es mir in Monaco ergangen war. Ich erzählte von dem Ozeanographischen Museum, vermied es jedoch, näher auf die Aquarien einzugehen. Dann fragte ich Erik, was er erreicht hatte.
Erik berichtete, wie es ihm gelungen war, einen bekannten Filmvorführer dazu zu bringen, seinen Film in das Festspielprogramm seines Kinos aufzunehmen. Ich hörte ihm interessiert zu und freute mich über das Leuchten in seinen Augen. Er hatte den ersten Schritt zur erfolgreichen Vermarktung seines Films getan. Und ich würde alles unterlassen, was ihm diesen Erfolg wieder zerstören könnte. Irgendwann, wenn dies alles vorbei war, würde ich ihm die Wahrheit erzählen. Aber so lange mußte ich das schreckliche Geheimnis noch mit mir herumtragen. Und die Ungewißheit, ob ich nun verrückt war oder nicht. Daß es für mich und für Erik besser gewesen wäre, ich hätte ihm sofort und ohne Umschweife von meinem Erlebnis im Museum erzählt, daran verschwendete ich an jenem Abend in dem gemütlichen Restaurant keinen Gedanken.
Die folgenden Tage wich ich nicht von Eriks Seite. Gemeinsam besuchten wir verschiedene Galaveranstaltungen, die im Vorfeld der Festspiele abgehalten wurden. Erik lernte während dieser Zeit viele Kollegen aus den verschiedensten Ländern kennen. Er war stolz darauf, daß seine schöne Frau ihn auf diesen Veranstaltungen begleitete. Er kannte mich genau und hatte eigentlich nicht damit gerechnet, daß ich die Rolle der attraktiven, aber passiven Frau an der Seite des begabten Künstlers spielen würde. Schon vor unserer Hochzeitsreise hätten wir vereinbart, daß jeder seinen eigenen Neigungen nachgehen solle. Um so erstaunter war Erik, daß ich ihn jetzt überallhin begleitete. Daß ich für dieses Verhalten meine Gründe hatte, verschwieg ich Erik gegenüber. Und auch sonst ließ ich nie wieder ein Wort über Mona Tyras fallen, obwohl der Reporter Peter
Lamb, den wir auf einer Party wieder trafen, mich dazu überreden wollte. Die Tage waren für mich sehr anstrengend. Ich lächelte viel und hörte mir Komplimente über meine gute Figur, mein blondes Haar und meine grünen Augen an. Ein Regisseur verfiel sogar auf die Idee, mich für eine Nebenrolle in einem seiner Spielfilme einzusetzen. Aber ich trieb ihm diese verrückte Idee wieder aus, indem ich behauptete, schauspielerisch völlig unbegabt zu sein und außerdem eine gewisse Scheu vor laufenden Kameras zu haben. Erik, der ebenfalls schon versucht hatte, mich als Schauspielerin in seinem ersten Film unterzubringen, konnte diese Behauptung unter dem Gelächter der anderen Gäste nur bestätigen. Schließlich fand ich an den Gesellschaften und Partys sogar Gefallen. Sie halfen mir, mich von meinen quälenden Gedanken abzulenken. Am Abend des dritten Tages – es war der Vorabend zur Eröffnung der Filmfestspiele – fühlte ich mich zu müde, um Erik noch auf ein Fest begleiten zu können. Da die Halluzinationen nicht wiedergekehrt waren, hielt ich es für bedenkenlos, einen Abend allein im Hotel zu verbringen. Erik zeigte Verständnis für meine Unlust und begleitete mich noch bis zum Foyer unseres Hotels. »Erhol dich gut«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ich bin dir sehr dankbar, daß du soviel Zeit mit mir verbracht hast. Ich hoffe, ich kann mich beizeiten dafür revanchieren.« Ich drückte Erik einen Kuß auf den Mund. »Ich brauche deine Nähe mehr, als du denkst«, sagte ich zweideutig. Erik winkte mir zu und war kurz darauf in dem Getümmel der Straße verschwunden.
Auf dem Weg in mein Zimmer kam ich an der Hotelbar vorbei.
Nur ein einziger Gast hielt sich dort auf. Ich erkannte ihn sofort. Es war Etienne Tyras. Vor ihm stand ein Glas mit Whisky gefüllt. Er sah mir entgegen, und ich nickte ihm grüßend zu. »Leisten Sie mir doch ein wenig Gesellschaft!« rief der füllige Mann, der eine Vorliebe für weiße Anzüge zu haben schien, mir zu. Unsicher trat ich an die Bar heran. Ich war müde, und mir stand nicht der Sinn nach oberflächlichen Gesprächen. »Heute mal nicht an der Seite Ihres Mannes«, bemerkte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich erklärte, daß ich müde sei und heute zeitig ins Bett wolle. Aber Etienne Tyras schien diesen Wink nicht verstanden zu haben. Er redete einfach weiter auf mich ein. »Wenn man Sie beide so sieht, kann man ja richtig neidisch werden«, meinte er. »Sie geben wirklich ein sehr hübsches Paar ab.« »Danke«, murmelte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Ich hatte bei der Wahl meiner Lebensgefährtin leider nicht so viel Glück«, fuhr Tyras unbeirrt fort. »Mona ist ein sehr schwieriger Mensch. Stellen Sie sich vor. Sie hat sich nach unserer kleinen Auseinandersetzung immer noch nicht zurückgemeldet. Und dabei weiß ich nicht einmal, wo sie ist. Sie liebt es, mich in Sorge um sie zu stürzen. Das ist ihre Art von Rache.« Unwillkürlich drängte sich mir wieder die Szene auf, die ich mit meinem Fernglas von der KATTEGAT aus beobachtet hatte. Etienne Tyras, der seine Frau Mona erwürgte. Natürlich hatte ich die beiden durch das Fernglas nicht wirklich erkannt. Aber die Statur der beiden war der der beiden Menschen in der Villa zum Verwechseln ähnlich. Traurig schüttelte ich die Gedanken ab. Was ich glaubte, in der Villa beobachtet zu haben, war eine Halluzination gewesen und entbehrte jeden Bezug zur Realität.
»Mona wird sicherlich wieder zurückkehren«, sagte ich daher ohne viel Anteilnahme. »So hat sie es bisher doch immer gemacht.« Etienne Tyras nickte nur und starrte in sein Glas. »Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen«, sagte er tonlos. »In der heutigen Zeit lauern überall Gefahren.« Wieder drängte sich mir das Bild der Villa auf. Und vor meinem geistigen Auge sah ich den Mörder, wie er am Fenster stand und mit einem Fernglas die KATTEGAT beobachtete. »Ich bin müde«, entschuldigte ich mich. »Und ich glaube auch kaum, daß ich die richtige Gesprächspartnerin für dieses Thema bin.« Ich wollte mich abwenden. Aber Etienne Tyras hielt mich am Arm zurück. »Haben Sie wieder eine Ihrer Visionen gehabt?« fragte er. »Bei Ihnen scheint so etwas öfter vorzukommen. Ich hoffe, Sie haben diese Tatsache nicht vor der Polizei verschwiegen, als Sie mich des Mordes bezichtigten.« »Ich habe den Mörder in Ihrer Villa nicht genau erkannt«, sagte ich mit aufkeimendem Unbehagen. »Demzufolge kann ich auch niemanden des Mordes beschuldigen. Außerdem hat die Polizei überhaupt keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß ein Mord stattgefunden hat.« »Wie sollte sie auch«, entgegnete der Mann in dem weißen Anzug sarkastisch. »Schließlich war ja alles nur eine Halluzination.« Ich riß mich von dem Mann los und wandte mich ab. Wütend stapfte ich auf die Treppe zu. »Sie sollten sich vielleicht in psychiatrische Behandlung begeben!« rief der Filmagent mir höhnisch hinterher. Ich hielt mir die Ohren zu und begann zu laufen. Als ich unser Hotelzimmer erreicht hatte, warf ich die Tür hinter mir zu. Ich lehnte mich ermüdet mit dem Rücken gegen das Türblatt und atmete einmal tief durch.
Etienne Tyras war ein sehr ungemütlicher Zeitgenosse. Ich konnte es seiner Frau in diesem Moment nicht verdenken, daß sie sich von ihm trennen wollte. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, zog ich mich aus und stellte mich unter die warme Dusche. Eine halbe Stunde später lag ich in dem großen runden Bett und war bald darauf eingeschlafen. Ich schlief unruhig und träumte wirres Zeug. Ich sehnte mich nach Erik und seine beruhigende Nähe. Und als ich dann durch ein Geräusch geweckt wurde, galt mein erster Gedanke meinem Mann. »Erik, bist du das?« fragte ich in die Dunkelheit des Zimmers hinein. Aber ich erhielt keine Antwort. Unwillkürlich tastete ich nach dem Schalter der Nachttischlampe. Aber die Glühbirne mußte kaputtgegangen sein, denn das Licht flammte nicht auf. Da die Vorhänge zugezogen waren, drang kein Licht von der Straße in das Hotelzimmer. Die Fenster bestanden aus dreifacher Verglasung, so daß von den Geräuschen der Stadt kein Laut hereindrang. Ich empfand die Stille und die Dunkelheit plötzlich als bedrohlich. Mir kam es so vor, als wäre ich von der Außenwelt abgeschnitten. Plötzlich vernahm ich wieder ein Geräusch. Es hatte seinen Ursprung irgendwo mitten im Raum. Ein sonderbares Rascheln und Scharren war zu hören. »Ist da jemand?« fragte ich verängstigt und richtete mich mit einem unguten Gefühl im Bett auf. In diesem Augenblick erschien eine leuchtende Gestalt mitten im Zimmer. Von einer Sekunde auf die andere stand sie plötzlich da. Ein fahler Schein umgab die hochgewachsene Frauengestalt. Ihren Kopf umhüllte eine leuchtende Aura. Die langen blonden Haare, das schmale feingeschnittene Gesicht und die grünen
Augen: all das wirkte auf eine unheimliche Art verklärt und entrückt. Und was das Unheimlichste war: Ich kannte diese Frau! »Mama!« stieß ich erschrocken hervor. Wie lange hatte ich dieses Wort nicht mehr ausgesprochen. Aber jetzt, da es über meine Lippen kam, klang es unheimlich und erschreckend. Meine Mutter war seit Jahren tot! Es war unmöglich, daß sie jetzt in einem französischen Hotel vor meinem Bett stand. Und doch war es so. Das Bild meiner Mutter hatte sich unvergeßlich in mir eingeprägt. Und das Geisterwesen, das dort vor mir stand, war meine Mutter – so unwahrscheinlich es auch klingen mochte. Ich spürte, wie mir eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken kroch. Ich zog die Knie an meinen Körper und musterte die schimmernde Gestalt mit verängstigt aufgerissenen Augen. »Meine Tochter… Komm zu mir«, wisperte die Geistererscheinung plötzlich. Ihre Stimme schien den ganzen Raum zu erfüllen, obwohl der Geist meiner Mutter nur geflüstert hatte. Ihre grazilen Arme bewegten sich dabei wie beschwörend. »Komm zu mir ins Reich der Toten. Schon viele Zeichen habe ich dir gegeben. Aber nie wolltest du sie verstehen. Wir müssen endlich wieder vereint sein. Komm zu mir.« Ich spürte, wie die geflüsterten Worte und die geheimnisvollen Gesten des Geistes an meinem Willen zerrten und ihn schließlich unterdrückten. Wie hypnotisiert starrte ich auf die Gestalt. Ich brauchte nicht lange zu überlegen, was ihre Worte zu bedeuten hatten. Die toten Frauen, die ich geglaubt hatte zu sehen, waren in Wirklichkeit nur Botschaften meiner toten Mutter gewesen. Botschaften, die mir sagen sollten, daß ich meiner Mutter folgen sollte. Ins Grab! »Du liebst mich doch, mein Kind«, fuhr die Erscheinung fort.
Eifrig nickte ich. Ja, Mama, wollte ich sagen. Aber kein Laut drang über meine ausgetrockneten Lippen. »Dann mußt du mir jetzt folgen. Du darfst keinen Augenblick mehr zögern. Zu lange waren wir voneinander getrennt. Und nun endlich ist die Zeit der Vereinigung gekommen.« Die Geistererscheinung schwebte auf mich zu. Umrundete das Bett und streckte mir auffordernd die Hand entgegen. Als ich nach der Hand meiner geliebten Mutter greifen wollte, entzog sie sich mir. »Bevor wir wieder zueinander kommen können, mußt du den unabwendbaren Schritt vollziehen«, sagte sie eindringlich. Sie bedeutete mir, daß ich mich erheben sollte. Meine Gedanken waren wie ausgelöscht. Als ich die Bettdecke zurückschlug und aufstand, war ich nicht mehr als eine willenlose Puppe. Der Geist war mittlerweile zum Fenster geschwebt und zog den Vorhang der Balkontür beiseite. »Öffne die Tür. Dann kletterst du auf die Balkonbrüstung und springst in die Tiefe«, wisperte die Stimme fordernd. »Du wirst nichts merken, das verspreche ich dir. Aber wenn du die Tat vollbracht hast, werden wir uns endlich wieder in die Arme schließen können…« Die Geistererscheinung verweilte hinter den Vorhängen und beobachtete jede meiner Bewegungen. Wie unter fremdem Zwang öffnete ich die Balkontür und trat hinaus. Die milde, nach Meer und Pinien duftende Nachtluft schlug mir entgegen. Die allgegenwärtigen Geräusche von Cannes drangen zu mir herauf. Für einen Augenblick blieb ich wie benommen stehen. Aber da sprach die Geistererscheinung mir wieder Mut zu. »Du mußt vollenden, was du begonnen hast«, mahnte sie. »Nur so finden wir endlich wieder zueinander.« Ohne zu überlegen, kletterte ich auf die Balkonbrüstung. Daß ich nur mit einem langen weißen Nachthemd bekleidet war,
störte mich dabei gar nicht. Geschickt brachte ich es fertig, die Brüstung zu erklimmen. Ich spürte den kühlen Marmor unter meinen nackten Füßen und hörte die drängende Stimme des Geistes in meinem Rücken. »Spring!« forderte sie mich auf. »Du mußt nur springen. Unten werde ich dich erwarten!« Ich breitete meine Arme aus, um mich für den Sprung bereitzumachen. Gleich würde ich endlich mit meiner Mutter wieder vereint sein…
»Gina!« Der Schrei traf mich wie eine Welle kalten Wassers. »Gina, nein!« Ich blinzelte benommen. Schwankte auf der Brüstung hin und her. Erst jetzt nahm ich die Straße unter mir wahr. Die ganze Zeit über hatte ich nur in den sternenklaren Himmel und auf das Meer geblickt. Aber in dem Moment, wo ich meinen Namen vernahm, richtete ich meinen Blick nach unten. Augenblicklich wurde mir schwindelig. Unser Zimmer befand sich im dritten Stock des Gebäudes. Unten auf der Straße hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die zu mir heraufstarrte. Die erschrockenen Gesichter wirkten klein und das Geraune weit entfernt. »Gina, bleib, wo du bist!« hörte ich die rufende Stimme wieder. Sie kam aus der Menschenmenge und erschien mir angenehm vertraut. Erik! dachte ich. Und dann sah ich ihn, wie er sich verzweifelt einen Weg durch die Schaulustigen bahnte und auf den Eingang des Hotels zurannte. »Was mache ich hier?« fragte ich mich verwundert. Und im selben Augenblick fiel es mir wieder ein.
Meine Mutter war mir als Geist erschienen! Und sie hatte von mir verlangt, ich solle mich vom Balkon stürzen. Unbehaglich wandte ich mich auf der Brüstung um und starrte in das dunkle Zimmer hinter mir. Aber ich konnte nichts erkennen. Keinen Geist und kein geheimnisvolles Schimmern. In diesem Moment begriff ich, daß ich wieder eine Vision hatte. Eine Vision, die mich fast das Leben gekostet hätte. Im nächsten Moment wurde die Zimmertür aufgerissen, und Erik stürzte herein. Hastend durchquerte er den Raum und hatte kurz darauf den Balkon erreicht. »Gina, was machst du da?« fragte er verstört und reichte mir vorsichtig die Hand. »Wolltest du dir etwa etwas antun?« »Erik, es war schrecklich«, murmelte ich schuldbewußt. Ich ergriff seine Hand und ließ mir von ihm beim Abstieg helfen. Als ich die Plattform des Balkons erreicht hatte, ließ ich mich in Eriks Arme fallen und weinte hemmungslos. »Jetzt ist ja alles wieder gut«, flüsterte Erik und nahm mich wie ein kleines Kind auf den Arm. Dann trug er mich ins Zimmer zurück, legte mich sanft in das große runde Bett und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Schließlich schloß er die Balkontür, und das Gemurmel und Geraune der Menschenmenge unten auf der Straße verstummte. Immer noch verängstigt und verstört sah ich mich in dem Zimmer um. Aber von dem Geist fehlte jede Spur. Erik trat an meine Seite und setzte sich auf die Bettkante. Und indem er meine Hand ergriff, sagte er: »Und nun erzähl mir genau, was vorgefallen ist. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir offen über alles reden. Denn daß du mir etwas verschweigst, das spüre ich schon seit Tagen.« Überrascht sah ich Erik an. Und wenn ich mich nicht so elend gefühlt hätte, hätte ich jetzt über seine Worte gelacht und ihn in meine Arme geschlossen. Aber so setzte ich mich nur in dem Bett zurecht und begann zu erzählen.
Bei der sonderbaren Begegnung im Ozeanographischen Museum fing ich an. »Wer immer dir heute nacht erschienen ist«, sagte Erik, nachdem ich meine Erzählung beendet hatte, »es war auf keinen Fall der Geist deiner Mutter. Mal ganz abgesehen davon, daß ich nicht an Geister glaube, hätte deine Mutter selbst als Geistererscheinung dich niemals in den Freitod getrieben. Von dem, was du mir bisher über sie erzählt hast, habe ich eher den Eindruck gewonnen, daß sie eine Frau war, die das Leben liebte. Eine Mutter treibt das eigene Kind nicht in den Tod.« »Natürlich hast du recht«, stimmte ich Erik zu. »Aber diese Vision war so real und die Forderungen der Erscheinung so hypnotisch, daß ich keine Sekunde fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen.« Erik sah mich besorgt an. »Vielleicht sollten wir doch einen Arzt zu Rate ziehen«, schlug er vor. »Deine Halluzinationen nehmen allmählich bedrohliche Formen an.« »Wenn du in meiner Nähe bist, fühle ich mich sicher«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Seit jenem Tag vor der Insel Port Cros ist die Welt wie verhext.« Erik nahm mich in seine Arme. »Wir werden morgen früh abreisen«, bestimmte er. Ich fuhr hoch und sah ihn streng an. »Niemals!« entgegnete ich bestimmend. »Jetzt, wo du kurz vor der Premiere stehst, werde ich nicht zulassen, daß du sie nur wegen mir wieder absagen läßt.« »Der Film kann auch ohne meine Anwesenheit vorgeführt werden«, gab Erik zu bedenken. Aber an seiner Stimme hörte ich, daß es ihn sehr unglücklich machen würde, wenn er bei der Erstaufführung seines Films in Cannes nicht anwesend sein würde.
»Ich werde Cannes jedenfalls nicht verlassen«, sagte ich entschieden. »Ich könnte es nicht ertragen, zu wissen, daß ich dich an deinem Erfolg hindere. Lieber weiche ich nicht mehr von deiner Seite und lasse den Filmrummel über mich ergehen, als daß ich dies zulassen würde.« Erik lächelte mich sanft an. »Du bist wirklich eine mutige Frau«, sagte er anerkennend.
Am folgenden Morgen suchte ich auf Eriks Drängen einen Arzt auf. Erik hatte diesen Arztbesuch zur Bedingung gemacht. Sonst würde er mit der KATTEGAT sofort in See stechen und die Rückreise antreten. Der Arzt, ein älterer, gesetzter Herr, hörte sich meine Geschichte geduldig an und unterzog meinen Körper einer eingehenden Untersuchung. Nach einer Stunde bat er Erik ins Behandlungszimmer und verkündete seine Diagnose. »Ihre Frau ist kerngesund«, erklärte er. »Sie wirkt ein wenig übermüdet. Aber sonst fehlt ihr rein gar nichts. Was die Geschichten angeht, die sie mir erzählte, kann ich nur sagen, daß Sie Ihre Frau gut im Auge behalten sollten. Vielleicht handelt es sich bei diesen Visionen nur um ein zeitlich begrenztes Phänomen. Dies kann schon mal vorkommen. Wenn sich diese Visionen in der nächsten Zeit aber öfter wiederholen sollten, rate ich Ihnen, einen Spezialisten aufzusuchen.« Er schaute uns beide eine Weile vergnügt und aufmunternd an. »Ich bin mir aber sicher, daß sich die Sache wieder legen wird«, sagte er abschließend. »Ein neuer Lebensabschnitt liegt vor Ihnen. Da kann es schon mal sein, daß einen plötzlich die Vergangenheit wieder einholt und mehr oder weniger kraß vor Augen geführt wird.«
Mit diesen Worten reichte er uns die Hand und verabschiedete sich. »Ich werde dich also nicht mehr aus den Augen lassen«, scherzte Erik, als wir durch die überfüllten Straßen von Cannes schlenderten. Die Erleichterung über die Prognose des Arztes war ihm deutlich anzumerken. Er mußte sich sehr viel Sorgen um meinen Zustand gemacht haben. Kein Wunder, wenn man bedachte, daß seine Frau, nur mit einem Nachthemd bekleidet, auf der Brüstung des Hotelbalkons gestanden hatte und im Begriff gewesen war, sich in den Tod zu stürzen. Kaum auszudenken, was geschehen wäre, wenn Erik nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt ins Hotel zurückgekehrt wäre. Vielleicht würde ich jetzt in einem Leichenschauhaus liegen. Mir fröstelte bei diesem Gedanken, und ich drängte mich noch näher an Erik heran. Die Filmfestspiele hatten mit dem heutigen Tag begonnen. Die Straßen waren erfüllt von Leben. Menschenmassen drängelten sich vor den Kinos. In den Restaurants bekam man kaum noch einen Platz. Und in den Straßen staute sich der Strom von Limousinen und chromblitzenden Luxusmodellen. Bei einem Zeitungsjungen kaufte Erik eine lokale Zeitung. Ich hatte das sonderbare Gefühl, daß mich einige der Passanten mit neugierigen Blicken bedachten. Aber ich redete mir ein, daß ich mir dies nur einbilden würde. Erik gelang es wenig später, für uns einen Platz in einem Restaurant am Strand zu ergattern. Das Lokal war sehr gut besucht. Die entnervten Kellner balancierten die gefüllten Tabletts über den Köpfen der Gäste. Während wir auf das Essen warteten, blätterte Erik in der Zeitung. Aber kaum hatte er sie aufgeschlagen, als er plötzlich einen überraschten Laut von sich gab. »Was hast du?« fragte ich neugierig.
Erik sah mich über den Rand der Zeitung hinweg sonderbar an. Dann wendete er das Blatt, so daß ich die zweite Seite der Zeitung sehen konnte. Als ich das groß aufgemachte Foto sah, war ich zuerst verärgert. Es zeigte eine schlanke Frau, die mit weitausgebreiteten Armen oben auf einer Balkonbrüstung stand. Sie war nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, und ihr Blick war wie in weite Ferne entrückt. »Das bin ja ich!« stieß ich empört hervor. Unter den Schaulustigen mußte sich auch ein Reporter befunden haben, der die Geistesgegenwart besessen hatte, die Frau auf der Balkonbrüstung zu fotografieren. »Im Showbusineß ist alles erlaubt«, sagte Erik, den der Artikel in der Zeitung eher zu belustigen schien. »Der Kerl, der den Artikel geschrieben hat, hat sich offenbar umgehört. Auf jeden Fall hat er herausgefunden, daß du die Frau eines noch unbekannten schwedischen Filmemachers bist. Und er schreibt, wenn ich meine Filme genauso gut in Szene gesetzt habe wie du den Selbstmordversuch, dann räumt er mir alle Chancen ein, eines Tages in Hollywood zu landen.« Nach diesen Worten konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Ich brach in schallendes Gelächter aus, in das Erik augenblicklich mit einstimmte. Die ganze Anspannung, die sich bei uns in den letzten Tagen gesammelt hatte, löste sich in diesem befreienden Lachen. Wir fingen uns aber rasch wieder, da wir bemerkten, daß wir mit unserem Verhalten nur die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregten. Für meinen Geschmack hatte ich schon mehr als genug für Aufsehen gesorgt. Die sonderbaren Blicke, die man mir auf der Straße zuwarf, hatte ich mir also nicht bloß eingebildet. Das Gesicht auf dem Foto war recht gut zu erkennen. Ich nahm mir daher vor, mein Aussehen ein wenig zu verändern, um mich vor lästigen Blicken zu schützen.
Nach dem Essen flanierten wir am Strand von Cannes entlang. Zur Zeit der Filmfestspiele stellte der Strand einen beliebten und berüchtigten Treffpunkt für Starlets und Fotografen dar. Die Starlets posierten in mehr als knappen Bikinis vor den zahllosen Objektiven, die auf sie gerichtet waren. Viele der jungen Frauen erhofften sich, auf diese Weise von einem Filmproduzenten oder Regisseur für den Film entdeckt zu werden und eine attraktive Rolle zu bekommen. Natürlich gingen diese Hoffnungen nur selten in Erfüllung. Aber das hinderte die Starlets nicht daran, jedes Jahr erneut am Strand für die Fotografen ihren Körper in aufreizenden Posen vorzuführen. Erik und ich schlenderten eine Zeitlang Arm in Arm und beobachteten das lustige Treiben. Doch da fiel mein Blick plötzlich auf einen Pulk von Fotografen, die eine schlanke, hochgewachsene Frau umringten und fotografierten. Die Frau trug einen roten Bikini und drehte sich lächelnd um die eigene Achse, damit sie auch von jeder Seite abgelichtet werden konnte. Ihr langes rötliches Haar glänzte dabei in der Sonne. Ich hielt plötzlich im Gehen inne, runzelte die Stirn und starrte unentwegt auf die schöne Frau. »Was hast du?« fragte Erik sogleich, den jede verdächtige Regung gleich argwöhnisch machte. »Diese Frau dort«, sagte ich nachdenklich. »Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Sie wird irgendein Starlet sein«, meinte Erik abschätzend. Aber in diesem Moment stoppte die Frau in ihrer Drehung. Ihr Gesicht war nun direkt auf mich gerichtet. Unsere Blicke trafen sich.
Ich glaubte plötzlich, das Blut müsse mir in den Adern gefrieren. Ich hatte plötzlich wieder das Bild der toten Frau im Aquarium vor Augen. Und diese Frau dort zwischen den Fotografen war genau identisch mit der Toten im Ozeanographischen Museum von Monaco! Die Frau mit den rötlichen Haaren ergriff plötzlich ihren Bademantel und streifte ihn eilig über. Um den Protest der Fotografen kümmerte sie sich gar nicht. »Warten Sie!« rief ich der Frau zu und setzte mich in Bewegung. Erik folgte mir. Aber die Frau wandte sich rasch um und bahnte sich einen Weg durch die Fotograten. Und als diese nicht schnell genug zur Seite weichen wollten, stieß sie sie einfach weg. »Wo willst du hin?« fragte Erik hinter mir. »Ich muß diese Frau unbedingt sprechen!« stieß ich hervor und begann zu rennen. »Warte!« rief Erik. Aber ich hörte nicht auf ihn. Unter den Fotografen war es zu einem Tumult gekommen. Ich verlor die Frau aus den Augen und mußte mir nun ebenfalls einen Weg durch die aufgebrachten Fotografen suchen. Als ich mich endlich freigekämpft hatte, sah ich gerade noch, wie die Frau mit den rötlichen Haaren in einem Taxi verschwand. Ich stampfte wütend mit dem Fuß auf. Ich war fest davon überzeugt, daß die Frau irgend etwas vor mir zu verheimlichen hatte. Denn als sie mich erkannte, hatte sie augenblicklich die Flucht ergriffen. Ich schaute mich nach Erik um, konnte ihn aber nirgendwo sehen.
Wahrscheinlich befand er sich irgendwo zwischen den Fotografen, die sich gegenseitig beschimpften und für den Zwischenfall mit dem Starlet verantwortlich machten. »Überall, wo es Aufregung gibt, sind Sie auch anzutreffen«, hörte ich plötzlich eine Stimme neben mir. Überrascht sah ich mich um und sah in das Gesicht von Peter Lamb. Unsicher lächelnd sah ich ihn an. Doch dann kam mir eine Idee. »Die Frau in dem Bademantel, die eben mit dem Taxi davonfuhr, haben Sie sie gesehen?« Der Reporter mit dem dichten schwarzen Haar nickte nur. »Kennen Sie ihren Namen? Ich würde gern wissen, wer sie ist.« Der Reporter sah mich stirnrunzelnd an. »Sicher kenne ich sie«, sagte er selbstgefällig. »Es gehört zu meinem Beruf, daß ich jeden kenne, der in Cannes etwas hergibt.« Dabei sah er mich sonderbar an. »Wenn ich gewußt hätte, daß auch Sie für eine aufregende Story sorgen würden, wäre ich die ganze Zeit in Ihrer Nähe geblieben.« Ich wußte, daß er damit auf meinen angeblichen Selbstmordversuch im Hotel anspielte. Aber ich hatte keine Lust, mich über dieses Thema auszulassen. Es gab da etwas anderes, das mich weitaus mehr interessierte. »Wie heißt diese Frau, und wer ist sie?« stellte ich die Frage, die mir auf der Zunge brannte, seit ich die rothaarige Frau bemerkt hatte. »Sie ist nur ein unbedeutendes Starlet«, antwortete Peter Lamb großspurig. »Sie heißt Rachel Penvenue und hat schon in mehreren Filmen mitgewirkt. Sie erhält aber immer nur schlecht bezahlte Nebenrollen, weil ihre schauspielerischen Fähigkeiten nicht den Ansprüchen genügen. Aber sie nimmt jede Rolle dankbar an und schreckt auch nicht vor geschmacklosen Drehbüchern zurück. Soviel ich weiß, leidet sie unter einer krankhaften Spielsucht. Die meiste Zeit über
hält sie sich in den Spielsalons von Monte Carlo auf, wo sie den Gerüchten zufolge schon ein halbes Vermögen losgeworden ist.« In diesem Moment trat Erik an uns heran. »Gina, kannst du mir bitte erklären, was das alles zu bedeuten hat?« fragte er aufgebracht. Er war sichtlich verärgert über mein Verhalten, und ich konnte es ihm nicht verdenken. »Ich erkläre es dir später«, sagte ich mit einem Seitenblick auf den Reporter. Erik verstand und hielt sich mit seinen Fragen zurück. Auch er legte keinen besonderen Wert darauf, daß noch mehr über mich und ihn in der Presse berichtet wurde. Peter Lamb zwinkerte Erik vertraulich zu und legte ihm freundschaftlich einen Arm um die Schulter. »Ganz im Vertrauen«, sagte er und lächelte gewinnbringend. »Der Auftritt Ihrer Frau gestern nacht. Haben Sie ihn nur inszeniert, damit Ihr Film in Cannes mehr Beachtung findet?« Erik sah den Reporter fassungslos an. Mit angewidertem Gesichtsausdruck schob er dessen Arm von seiner Schulter. Dann wandte er sich wortlos an mich, ergriff meine Hand und zog mich zum nächsten Taxi. »Hotel Negress«, schnaufte er wütend, als wir in dem Taxi Platz genommen hatten. Peter Lamb sah uns lächelnd und kopfschüttelnd nach. »Es tut mir wirklich leid«, sagte ich zum wiederholten Mal und betrachtete Erik dabei mitleidig, Erik brach seine rastlose Wanderung durchs Zimmer plötzlich ab. »Wir hatten vereinbart, daß du nicht mehr von meiner Seite weichst«, sagte er und schaute mich streng an. »Aber dieses Starlet. Rachel Penvenue. Sie sah der Toten im Museum so ähnlich. Und ich war mir sicher, daß sie vor mir geflohen ist.«
Erik schüttelte mit zusammengekniffenem Mund den Kopf. Dann atmete er einmal tief durch und trat auf mich zu. »Gina«, sagte er eindringlich. »Du solltest diese Geschichten auf sich beruhen lassen. Es hat doch keinen Sinn, wenn du jetzt versuchst, deine Visionen und Halluzinationen auch noch mit lebenden Menschen in Beziehung zu bringen. Das verkompliziert die ganze Sache doch nur.« Erik tat mir plötzlich leid. Und ich ahnte, daß er die sonderbaren und beängstigenden Ereignisse noch viel weniger verstand als ich. Er liebte mich. Und nun hatte er Angst, er könnte mich verlieren. Verlieren, weil ich auf dem besten Weg war, verrückt zu werden. »Du hast recht«, sagte ich daher. »Reden wir nicht mehr darüber. Vielleicht sollten wir lieber ins Kino gehen und uns einen der zahllosen Filme ansehen, die in Cannes gezeigt werden.« Eriks Miene hellte sich bei diesem Vorschlag wieder ein wenig auf. Ich hauchte ihm einen Kuß auf den Mund und begab mich ins Badezimmer, um mich für den Kinobesuch zurechtzumachen. Es war schon sehr spät in der Nacht, als wir das Kino wieder verließen. Erik und ich schlenderten Arm in Arm durch die Gassen von Cannes und unterhielten uns über den Film, den wir gerade gesehen hatten. Es hielten sich noch viele andere Passanten auf den Straßen auf. Die meisten Kinos hatten die ganze Nacht über geöffnet. Das Angebot an Filmen war so reichhaltig und umfangreich, daß man schnell den Überblick verlor, wenn man nicht wußte, was man wollte. Die großen Kinos, in denen auch die berühmten Filmstars auftraten, waren schon Wochen vor Beginn der Festspiele ausverkauft. Aber es gab noch viele kleine Kinos, die die weniger bekannten Filme zeigten. In
einem dieser Kinos würde morgen Eriks Film vorgeführt werden. Wir sprachen gerade über die bevorstehende Filmvorführung. Erik war ein bißchen aufgeregt, und ich mußte ihm versprechen, in der ersten Reihe zu sitzen, weil meine Gegenwart ihm Kraft und Vertrauen schenkte. Wir bogen um eine Häuserecke und betraten eine kleine Seitenstraße. Wir stutzten, denn auf der Fahrbahn hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. »Wahrscheinlich flaniert irgendeine Filmpersönlichkeit durch die Straßen und wird von der Menge begafft«, bemerkte Erik, während wir uns der Stelle näherten. Aber er hatte sich geirrt. Erst jetzt bemerkten wir das Blaulicht, das sich an den Häuserfassaden brach. Erik und ich bahnten uns einen Weg durch die Schaulustigen, stießen aber schon bald auf ein Absperrband der Polizei. Mehrere Einsatzfahrzeuge standen auf der Straße. Polizeibeamte eilten hin und her. Fotos wurden geschossen. Sanitäter trugen eine leere Bahre. »Sieh mal«, sagte Erik erstaunt. »Inspektor Grimoud ist auch unter den Beamten.« In diesem Moment sah ich den untersetzten Mann auch. Er kauerte über einer Gestalt, die am Boden lag. Die Sanitäter stellten die Bahre neben ihm auf. Grimoud erhob sich, und die Sanitäter hoben die am Boden liegende Gestalt auf die Bahre und deckten sie mit einem weißen Leinentuch zu. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Wenn Grimoud zur Stelle war, bedeutete dies nichts Gutes. Er war Inspektor der Mordkommission. Sollten die Filmfestspiele etwa von einem Mord überschattet werden? fragte ich mich entsetzt. In diesem Moment hoben die Sanitäter die Bahre auf und trugen sie zu ihrem Kastenwagen. Dabei mußten sie
unweigerlich an der Absperrung und an den Schaulustigen vorbei. Unter den Schaulustigen befanden sich auch einige Reporter. Unter ihnen konnte ich auch Peter Lamb ausmachen. Als die mit einem weißen Leinentuch zugedeckte Gestalt an uns vorbeigetragen wurde, ergriff ein Pressefotograf kurzerhand einen Zipfel des Tuches und schlug es zurück, so daß das Gesicht des Toten sichtbar wurde. Sofort gleißten unzählige Blitzlichter auf. Auf der Bahre lag eine Frau. Das grelle Licht der Blitzlichter ließ ihr Gesicht bleich und wächsern erscheinen. Wie hypnotisiert starrte ich dieses Gesicht an. Es war ein schönes, schmales Gesicht. Umrahmt von schulterlangen rötlichen Haaren. Der schlanke Hals wies bläuliche Würgemale auf. Ich kannte dieses Gesicht. Schon zweimal hatte ich es gesehen. Einmal im Ozeanographischen Museum und das zweite Mal am Strand von Cannes. Und die Frau, der dieses Gesicht gehörte, hieß Rachel Penvenue! Ein spitzer Schrei gellte durch die Straße und übertönte das Gemurmel der Schaulustigen. Ich preßte meine Hand vor den Mund, als ich begriff, daß ich es war, die den Schrei ausgestoßen hatte. »Was hast du?« fragte Erik besorgt und wollte mich von der Absperrung fortführen. Ich zitterte am ganzen Körper und war unfähig, mich zu bewegen. Die sonderbaren Blicke, die die Passanten mir zuwarfen, bemerkte ich gar nicht. »Gina Henderson, wenn ich mich recht erinnere«, hörte ich plötzlich eine ruhige, tiefe Männerstimme. Erik ließ von dem Vorhaben ab, mich von dem Tatort wegzuführen. Inspektor Grimoud hatte sich auf der anderen Seite der Absperrung aufgebaut. Die Sanitäter hatten das Tuch wieder ordentlich über der Leiche ausgebreitet und entfernten sich.
Ich sah zu dem untersetzten Mann mit den braunen unsteten Augen auf und nickte nur. »Kannten Sie das Opfer?« fragte er und gab einem der Beamten mit einem Handzeichen zu verstehen, er sollte mich und Erik die Absperrung passieren lassen.
Als wir die Absperrung überwunden hatten, führte Grimoud uns von den Schaulustigen fort. »Zur Zeit der Filmfestspiele hat hier sogar der Wind Ohren«, bemerkte er und spielte dabei auf die unzähligen Reporter an, die nur darauf lauerten, eine ertragsreiche Story aufzutreiben. »Wie sieht es nun aus? Was können Sie mir über das Opfer sagen?« »Nicht viel«, wich ich aus. »Die Frau heißt Rachel Penvenue. Sie war Starlet.« Grimoud zündete sich eine Zigarette an und bot auch uns eine an, die wir aber ablehnten. »Wann haben Sie die Frau zuletzt gesehen?« fragte Grimoud. »Heute mittag am Strand. Sie posierte für die Fotografen.« »Vermutlich haben Sie die Würgemale beim Opfer vorhin bemerkt«, sagte Grimoud und stieß dabei den Rauch der Zigarette aus. »Das erste Mal, als wir miteinander zu tun hatten, ging es auch um einen Mord. Sie hatten damals behauptet, gesehen zu haben, wie ein Mann eine Frau erwürgte.« Überrascht sah ich den Inspektor der Mordkommission an. Die gedankliche Brücke, die er schlug, war wirklich überraschend. »Hören Sie«, schaltete sich Erik in diesem Augenblick ein. »Sie sollten Gina mit Ihren Fragen in Ruhe lassen. Die Visionen, die sie hat, lassen sich doch mit diesem Mordfall nicht in Beziehung bringen.«
Grimoud horchte auf. »Visionen?« hakte er nach. »Soll das heißen, daß Sie seit unserem letzten Treffen noch mehr solcher Visionen gehabt haben?« Unschlüssig blickte ich auf den Boden. Sollte ich Grimoud nun von meinen Beobachtungen, die Rachel Penvenue betrafen, erzählen oder nicht. Ich fürchtete, daß er mich ebenfalls für verrückt halten würde, wenn ich ihm von dem Erlebnis im Museum erzählte. »Sie sollten mir lieber nichts verschweigen«, drängte Grimoud. »Es ist ein Mord geschehen. Und diesmal haben wir das Opfer. Sie haben es selbst gesehen. Der kleinste Hinweis kann für mich von Bedeutung sein.« Ich sah Grimoud fest in seine braunen Augen. Ich hatte einen Entschluß gefaßt. »Also gut«, sagte ich. »Ich werde Ihnen alles erzählen. Aber beschweren Sie sich hinterher nicht, daß sich alles verrückt anhört und Sie es für Ihre Ermittlungen nicht verwenden können.« Grimoud zuckte nur mit den Schultern. »Schießen Sie los«, sagte er lakonisch. »Ich wäre froh, wenn ich während meiner letzten Dienstjahre noch einmal eine Geschichte hören könnte, die mich überrascht.«
Grimoud war ein geduldiger Zuhörer. Ich erzählte ihm alles. Sogar von der Geistererscheinung meiner Mutter, die mich fast dazu gezwungen hätte, vom Balkon zu springen. Der Inspektor der Mordkommission ließ sich mit keiner Miene anmerken, was er von meinem Bericht hielt. Und als ich geendet hatte, bedankte er sich für meine Kooperation und ließ mich und Erik gehen. Erik zeigte sich ein wenig verwundert über den Polizeibeamten. Er fand Grimouds Vorgehensweise äußerst fragwürdig. Ich aber war froh, meine Geschichte erzählt zu
haben. Irgendwie fühlte ich mich jetzt mit meinem Problem nicht mehr so allein. Im Hotel angekommen, begaben wir uns sofort ins Bett und schliefen bis zum Mittag. Als ich erwachte, war Erik schon lange aufgestanden. Das Frühstück stand für mich schon bereit. »In drei Stunden beginnt die Premiere meines Films«, verkündete er stolz. »Ich will zeitig aufbrechen, weil ich noch ein paar Vorbereitungen treffen will.« Ich beeilte mich mit meiner Toilette. Erik rannte nervös durch das Zimmer und gebärdete sich wie ein kleiner Junge. Meine Gedanken kehrten jedoch immer wieder zu dem Mordfall zurück. Warum hatte Rachel Penvenue sterben müssen? fragte ich mich immer wieder. Steht ihr Mord in irgendeiner Beziehung zu der Tatsache, daß sie am Strand förmlich vor mir floh? Ich konnte mir auf diese Fragen keine Antwort geben und versuchte sie zu verdrängen. Erik und seine Premiere waren jetzt wichtiger. Als wir das kleine Kino erreichten, hatten sich schon viele Gäste eingefunden. Erik zeigte sich überrascht. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, daß die Vorstellung so gut besucht sein würde. Es waren auch zahlreiche Journalisten erschienen. Unter ihnen auch Peter Lamb, Reporter der englischen Boulevardzeitung. Aber das wunderte mich schon nicht mehr. Aber Eriks kühnste Träume sollten noch übertroffen werden. Denn kurz vor Beginn der Vorführung war der Raum bis auf den letzten Platz besetzt. Und da immer noch Neugierige an der Kasse standen und Karten für Eriks Film erwerben wollten, entschied der Kinobesitzer kurzerhand, den Film im großen Vorführraum zu zeigen und nicht in dem kleinen, wo er eigentlich geplant war.
Ich argwöhnte, daß viele Zuschauer aufgrund des Zeitungsberichts gekommen waren, der am Tag zuvor über meinen angeblichen Selbstmordversuch veröffentlicht wurde. Das Foto, das mich mit weit ausgebreiteten Armen und nur mit einem wallenden Nachthemd bekleidet zeigte, wie ich auf der Balkonbrüstung stand, zum Sprung in die Hefe bereit. Dieses Foto war heute sogar noch in anderen Zeitungen erschienen. Nun waren viele gekommen, um den Filmemacher zu sehen, für den seine Frau sich so in Szene gesetzt hatte. »Ihre spektakuläre Aktion auf dem Balkon war ein durchschlagender Erfolg«, bemerkte Peter Lamb, der in der ersten Reihe neben Erik und mir Platz nahm. Erik bedachte ihn mit einem verärgerten Blick, verkniff sich aber eine Bemerkung. Dann erlosch das Licht, und die Vorführung begann…
Am Schluß des Films brandete Applaus auf. Das Publikum war sichtlich begeistert. Erik hatte mit der Liebesgeschichte, die er in seinem Film erzählte, das Publikum erreicht und gerührt. Die schönen Landschaftsaufnahmen der schwedischen Fjorde und der blauen Seen hatten den Zuschauern ebenso gefallen wie die Fähigkeiten der unbekannten Schauspieler. Als Erik vor die Leinwand trat, brandete der Applaus noch lauter auf. Als sich das Publikum wieder beruhigt hatte, wurden Erik Fragen zu seinem Film und seiner Arbeit gestellt. Über seine Frau und ihre spektakuläre Aktion, wie Peter Lamb es genannt hatte, verlor niemand mehr ein Wort. Eriks Film hatte das reißerische Foto aus ihren Köpfen verdrängt. Niemand bereute, daß er gekommen war. Nach einer halben Stunde wurde das Publikum von dem Kinobesitzer genötigt, den Vorführraum zu verlassen. Ein
anderer Film stand nun auf dem Programm. Das Festival von Cannes ging weiter. Als wir an diesem Abend in unser Hotelzimmer zurückkehrten, waren wir müde und abgekämpft. Den ganzen Tag war Erik in irgendwelche Diskussionen und Gespräche verstrickt gewesen. Wir wurden zum Essen und zu einem Empfang beim Komitee für den alternativen Filmpreis von Cannes geladen. Dieser Filmpreis wurde für unbekannte Filme verliehen. Und Eriks Erstlingswerk wurde von der Jury in die engere Auswahl genommen. Überall stieß Erik auf lobende Kritik und ermunternde Worte. Mein Mann strahlte über das ganze Gesicht, als er sich erschöpft und zufrieden aufs Bett fallen ließ. »Ich hätte nie damit gerechnet, daß mein Film so viel Anklang finden würde«, sagte er und sah mich glücklich dabei an. »Du bist eben ein begabter Filmemacher«, erwiderte ich schmunzelnd und wollte mich gerade neben ihn aufs Bett legen. Doch plötzlich klopfte es an unserer Tür. Erik sah mich stirnrunzelnd an. »Wer kann das sein?« fragte er seufzend. »Vielleicht eine Verehrerin von dir, die gerne ein Autogramm möchte«, spöttelte ich und ging zur Tür. Als ich die Zimmertür öffnete, stand mir Etienne Tyras gegenüber. Sein dunkles dünnes Haar war zurückgekämmt, und sein weißer Anzug wirkte makellos wie immer. Er lächelte mich an und sagte großspurig: »Herzlichen Glückwunsch zu der wundervollen Premiere. Ich habe den Film Ihres Mannes gesehen. Er war einfach großartig. Ich möchte den Film in das Sortiment meiner Filmverleihfirma aufnehmen.« Überrascht sah ich mein Gegenüber an. Etienne Tyras war mir unter den Zuschauern gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hatte er sich im Hintergrund gehalten, um Spekulationen der Presse vorzubeugen.
Erik hatte sich inzwischen vom Bett erhoben und war an die Tür herangetreten. »Sie wollen die Verleihrechte für meinen Film erwerben?« fragte er ungläubig. »Jawohl!« stieß Etienne Tyras gutgelaunt hervor. »Aber wie ich sehe, sind Sie sehr erschöpft und müde. Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen abend in meiner Villa auf Port Cros treffen. Wir können uns Ihren Film noch einmal in Ruhe ansehen und die Einzelheiten des Vertrages aushandeln.« Eriks hellblaue Augen leuchteten erwartungsvoll. »Sehr gerne«, stimmte er zu, ehe ich einen Einwand einbringen konnte. »Wo meine Villa liegt, brauche ich Ihnen ja nicht mehr zu beschreiben«, fuhr Etienne Tyras fort. Er blickte sich verschwörerisch um: »Und lassen Sie vorerst niemandem gegenüber etwas von unserer Vereinbarung verlauten. Ich möchte nicht, daß die Presse von der Sache Wind bekommt und uns diese schöne Überraschung verdirbt.« Erik nickte nur und versicherte, niemandem etwas zu verraten. Dann verabschiedete sich Etienne Tyras überschwenglich und kehrte in sein Hotelzimmer zurück. »Sonderbarer Mensch«, sagte ich nachdenklich. »Irgend etwas gefällt mir an der Sache nicht.« »Unsinn«, erwiderte Erik. »Im Filmgeschäft laufen die Sachen nun einmal anders als im normalen Leben. Und wenn mir eine Verleihfirma einen Vertrag anbietet, darf ich nicht zögern zuzugreifen. Wenn das Interesse an meinem Film erst einmal wieder abgekühlt ist, wird es viel schwieriger, ihn irgendwo unterzubringen. Du darfst nicht vergessen, wie viele Filme in Cannes vorgeführt werden. Heute mag mein Film noch in aller Munde sein. Aber morgen ist es schon ein anderer. Und dann sind die Voraussetzungen für die Verhandlungen nicht mehr so günstig.«
Ich zuckte mit den Schultern und seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht«, lenkte ich ein. »Ich bin Etienne Tyras gegenüber immer noch mißtrauisch. Die Szene, die ich in seiner Villa beobachtet habe, geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.« »Fang nicht schon wieder damit an«, sagte Erik und schloß mich in seine Arme. »Was du gesehen hast, ist nie geschehen. Damit solltest du dich allmählich abfinden.« Ich schmiegte mich in seine Arme. Aber eines unbehaglichen Gefühls konnte ich mich trotzdem nicht erwehren. Mit dem Bus fuhren wir am anderen Tag die Côte d’Azur Richtung Westen entlang. Wir waren eine Stunde unterwegs, bis wir den kleinen Ort Cavalaire erreichten. Hier bestiegen wir eine Fähre, die uns auf die Naturschutzinsel Port Cros hinüberbrachte. Die Insel glich einem kleinen Paradies. Erik und ich ließen uns auf dem Weg zur Villa viel Zeit und genossen die schöne, unberührte Landschaft. Der Wanderpfad war mit Schildern versehen, die den Besucher über die Lebensgewohnheiten der Tiere aufklärte. Eine Vielzahl seltener Seevögel nistete an der Küste. Auch seltene Pflanzen hatten sich in dieser Region wieder angesiedelt. »Etienne und Mona Tyras sind zu beneiden, daß sie in diesem Paradies leben dürfen«, seufzte ich. »Mir wäre es hier entschieden zu einsam«, entgegnete Erik. In seinem leichten Reisegepäck befand sich eine Videokopie seines Films, die er Etienne Tyras vorspielen wollte. Er behandelte diese Tasche, als befände sich ein kostbarer Schatz darin. Was im erweiterten Sinne ja auch zutraf. Eine Weile gingen wir schweigsam nebeneinander her. Dann kam der flache, verschachtelte Bau endlich in Sicht. Die Villa der Tyras’ schmiegte sich harmonisch an die Küste und wirkte
auf den ersten Blick wie eine Formation weißer Kreidefelsen, die sich bis fast zum Meer hinab erstreckte. Nur ein kleines Hinweisschild deutete an, daß es sich hier um ein Privatgrundstück handelte. Es gab keinen Zaun und auch sonst keine sichtbare Begrenzung. Erik und ich schritten durch den Garten. Wir kamen an der Stelle vorbei, wo ich die Flamingos durch das Fernglas gesehen hatte. Aber leider hielt sich zur Zeit keiner dieser schönen Vögel auf dem Grundstück auf. »Dort vorn ist der Eingang«, bemerkte Erik und deutete auf das Eingangsportal der Villa. Daneben parkte ein kleines, elektronisch betriebenes Fahrzeug. Etienne Tyras hatte uns wohl schon kommen gesehen. Denn bevor Erik die Klingel betätigen konnte, wurde die Tür geöffnet. »Ich freue mich, daß Sie diesen beschwerlichen Weg auf sich genommen haben«, begrüßte er uns. »Aber bisher hat noch niemand bereut, dieser herrlichen Insel einen Besuch abgestattet zu haben.« Wir traten ein und kamen in einen geräumigen Vorraum. Etienne Tyras nahm uns die Jacken ab und hängte sie an die Garderobe. »Meine Frau ist immer noch nicht zu mir zurückgekehrt«, entschuldigte er sich. »Bedienstete haben wir auch nicht. Dies ließe sich auf dieser Insel schlecht realisieren. Sie müssen sich also leider mit mir als Gastgeber begnügen.« Etienne Tyras führte uns in einen großen Raum, von dem aus sich ein herrlicher Ausblick aufs offene Meer darbot. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und ich fragte mich mit einigem Unbehagen, ob dies das Zimmer war, in dem der Mord stattgefunden hatte. Aber ich schüttelte die Gedanken wieder ab. Es hatte ja gar keinen Mord gegeben, redete ich mir ein und sah mich in dem großen Zimmer um.
Erik hatte auf einer Sitzgarnitur Platz genommen und unterhielt sich mit unserem Gastgeber. Der große helle Raum war nur spärlich eingerichtet. Außer der Sitzgarnitur befanden sich nur eine alte, aber guterhaltene Kommode und ein großer, moderner Fernseher im Raum. Auf der Kommode bemerkte ich ein gerahmtes Foto. Es zeigte Etienne an der Seite seiner Frau Mona. Ich stutzte einen Augenblick. Mona sah auf diesem Foto etwas kleiner aus, als sie mir im Hotel, wo ich sie im Flur nur kurz gesehen hatte, erschienen war. »Ich kann Ihnen auch noch den Rest der Villa zeigen, wenn Sie sich dafür interessieren«, bot Etienne Tyras mir in diesem Augenblick an. »Vielleicht sollten wir gleich zum geschäftlichen Teil unseres Treffens kommen«, sagte Erik, der seinem Gastgeber keine unnötigen Umstände bereiten wollte. Aber Tyras winkte ab. »Die Zeit drängt nicht«, behauptete er und erhob sich. »Kommen Sie. Die Villa ist wirklich sehenswert.«
»Haben Sie sich an unsere Abmachung gehalten?« fragte Etienne Tyras beiläufig, als er uns durch ein Zimmer führte, in dessen Mitte ein runder, offener Kamin stand. Die Wände waren mit Tierfotografien geschmückt, die entweder Mona oder Etienne selbst geschossen hatten. »Wir haben nichts über unser Treffen verlauten lassen«, versicherte Erik. »Wir müssen heute abend aber zeitig zurück sein, weil wir noch zu einer Galaveranstaltung eingeladen sind. Dort wird mein Film noch einmal einem erlesenen Publikum vorgeführt.« »Ihr Film wird bestimmt auch in den Kinos ein Erfolg«, sagte Etienne Tyras ohne viel Leidenschaft in der Stimme.
Wir gingen eine breite Treppe hinab, die uns in einen weiteren Anbau führte. Aber Etienne Tyras hielt mitten auf der Treppe an und machte sich an einem antiken Armleuchter zu schaffen. Kurz darauf glitt zu unserem Erstaunen ein Teil der Wand beiseite. Eine steinerne Treppe war zu sehen, die wie in den Fels hineingehauen wirkte. »Und nun zeige ich Ihnen etwas, was nur wenige meiner Gäste zu sehen bekommen. Sie dürfen sich etwas darauf einbilden.« Mit diesen Worten wies Etienne Tyras mit einladender Geste auf die steinernen Stufen. Erik und ich sahen uns einen Augenblick ratlos an, doch dann setzte Erik sich in Bewegung. Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Die schweren Schritte des Filmagenten, die kurz darauf hinter mir erklangen, flößten mir auf unheilvolle Weise Furcht ein. Was wollte Etienne Tyras uns in diesem gewölbeartigen Unterbau zeigen? Die steinerne Treppe wand sich bis tief in den Fels hinein. Mein ungutes Gefühl wurde immer stärker. Die kahlen Neonröhren an der rohen Felswand tauchten den Gang und die Treppe in ein kaltes, ungastliches Licht. Die Stufen schimmerten feucht, und an den Wänden liefen Rinnsale hinab. Etienne Tyras blieb die ganze Zeit über stumm. Da der Treppengang sehr schmal war, mußten wir hintereinander gehen. Doch endlich fand der Gang ein Ende. Eine große Grotte tat sich vor uns auf. Vom Ausgang des Ganges, der einige Meter über dem Grottenboden lag, führte eine Metalltreppe in die Tiefe. Erik war auf der Plattform der Metallkonstruktion stehengeblieben und schaute überrascht in die Tiefe. Ich trat neben ihn und folgte seinem Blick. Unten befand sich ein großes, natürliches Wasserbecken. Daneben verlief ein schmaler Streifen aus roh behauenem Felsen. Ein paar
Gerätschaften und ein großer Gefrierschrank waren darauf abgestellt. Kabel waren an den Wänden verlegt. Die Metalltreppe führte zu dem schmalen Felsstreifen hinab. Auch hier hatte man Neonröhren an der Felsdecke angebracht. Das Wasserbecken schien sehr tief zu sein, denn ich konnte seinen Boden nicht erkennen. Dafür bemerkte ich aber einen dunklen, langen Schatten, der sich irgendwo tief im Wasser bewegte. »Beeindruckend, nicht wahr?« ertönte in diesem Moment die Stimme von Etienne Tyras hinter uns. »Diese Grotte entdeckten wir erst, als unsere Villa schon fertiggestellt war. Mona und ich ließen einen Gang von unserer Villa bis in die Grotte schlagen. Wir haben diesen Ort immer geheimgehalten. Der See, den Sie dort unten sehen, ist mit Meerwasser gefüllt. Er hat einen direkten Zugang zum Meer, der jedoch einige Meter unter dem Meeresspiegel liegt und dort in einer Höhle mündet. Wir haben den Ausgang mit einem Gitter versehen, das sich nach Belieben öffnen und schließen läßt. Es besteht also keine Gefahr, daß diese Grotte je entdeckt würde.« Erik wandte sich zu unserem Gastgeber um. »Dies alles könnte eine gute Kulisse für einen Agentenfilm abgeben«, bemerkte er. »Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie gerade uns in dieses Geheimnis einweihen?« »Weil Sie nie Gelegenheit haben werden, über dieses Geheimnis zu reden«, entgegnete Etienne Tyras eiskalt. »Wie soll ich das verstehen?« fragte Erik verstört. Auch ich wandte mich nun um. Und als ich den entschlossenen und harten Gesichtsausdruck des Filmagenten bemerkte, lief es mir kalt den Rücken herunter. »Das werden Sie schnell begreifen«, sagte unser unheimlicher Gastgeber und zog einen blitzenden Revolver unter seiner weißen Jacke hervor. Mit überlegenem Grinsen richtete er die Waffe auf uns.
Ängstlich schmiegte ich mich an Erik, der sich schützend vor mich stellte. »Hören Sie sofort mit dem Unsinn auf«, forderte Erik, der den Ernst der Lage noch nicht begriffen hatte. »Ich verlange sofort, daß Sie die Waffe wieder einstecken und uns gehen lassen.« »Sind Sie wirklich so naiv?« spottete Tyras. »Sie werden diese Grotte nie wieder verlassen. Es sei denn im Bauch meines speziellen Freundes.« Mit diesen Worten deutete er mit einem Kopfnicken in die Grotte. Erik und ich sahen uns unbehaglich um. Der düstere Schatten, den ich im Wasser bemerkt hatte, war vom Grund des Beckens aufgetaucht. Seine charakteristische Rückenflosse durchschnitt die Wasseroberfläche. »Ein Hai«, schrie ich entsetzt auf. »Er heißt Sharky«, erklärte Etienne Tyras mit maliziösem Lächeln. »Sie haben seine Bekanntschaft bereits gemacht, aber Sie sind Sharky in schlechter Erinnerung geblieben. Seine Brustflosse ist durchbohrt, und er hat ein Auge verloren. Er wäre bestimmt froh, wenn er Sie zwischen seine Zähne bekommen würde.« Erik wirbelte herum. »Soll das heißen, daß Sie damals Ihren Sharky auf uns gehetzt haben?« Etienne Tyras machte eine unschuldige Miene. »Mir blieb doch nichts anderes übrig, nachdem Ihre reizende Frau beobachtet hatte, wie ich Mona umgebracht habe.« Erik und ich sahen den Mann sprachlos an. »Da staunen Sie, nicht wahr?« sagte Etienne Tyras. Er winkte mit dem Revolver und bedeutete uns, daß wir die Treppe hinabsteigen sollten. Nur widerwillig kamen wir dieser Aufforderung nach. »Mona hat einen großen Fehler gemacht«, erklärte er, während wir die eisernen Stufen hinabstiegen. »Sie wollte sich
tatsächlich von mir scheiden lassen. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. Eine Scheidung hätte meinen finanziellen Ruin bedeutet. Alles, was ich mir im Leben aufgebaut habe, hätte Mona durch eine Scheidung zerstört. Ich muß zugeben, daß ich unüberlegt gehandelt habe, als ich Mona mit bloßen Händen erwürgte. Aber ich war außer mir vor Wut und Verzweiflung. Außerdem hatten wir uns heftig gestritten. Da ist es eben über mich gekommen. Heute denke ich, daß ich den Mord viel raffinierter hätte planen müssen. Aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen. Und zu allem Überfluß bin ich bei meiner Tat auch noch beobachtet worden…« Etienne Tyras hielt in seinem Monolog inne, als wir das Ende der Treppe erreicht hatten. Mit der Waffe in der Hand dirigierte er uns zum Beckenrand. Erik und ich wechselten einen kurzen Blick. Und als ich in Eriks blaue Augen sah, erkannte ich dort seine Entschlossenheit, uns aus dieser Situation zu retten. »Aber wir haben Sie und Ihre Frau doch im Hotel getroffen. Wie kann das angehen, wenn Mona zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen ist?« Ich begriff, daß Erik mit dieser Frage nur Zeit gewinnen wollte. Er wollte den Filmagenten beschäftigen und abwarten, bis sich uns eine Gelegenheit zur Flucht bot. Etienne Tyras ging auf Eriks Spiel ein. Offenbar bereitete es ihm große Genugtuung, seine Opfer vor ihrem Tod noch über alle Sachverhalte aufzuklären. »Die Frau, die Sie an meiner Seite gesehen haben, war die Schauspielerin Rachel Penvenue. Sie schuldete mir noch einen großen Gefallen. Sie hat auch die Rolle der toten Frauen übernommen, die Gina in den letzten Tagen erschienen sind. Es hat Rachel großen Spaß gemacht, das können Sie mir glauben. Besonders, als sie in die Rolle Ihrer toten Mutter geschlüpft ist. Ich hatte ein paar Erkundigungen über Ginas
Vergangenheit eingezogen, um ihre Schwachpunkte zu kennen. Schließlich mußte ich ja die Polizei und die Presse davon überzeugen, daß Ginas Beobachtungen in meiner Villa nicht ernst genommen werden können. Denn wer glaubt schon einer Verrückten, die überall tote Frauen sieht?« Erik konnte sich nicht mehr zurückhalten. Das Wissen, daß er von Etienne Tyras die ganze Zeit über in die Irre geführt worden war und daß er ihn dazu gebracht hatte, an den Worten seiner eigenen Frau zu zweifeln – das machte ihn rasend vor Wut. Erik wollte sich auf den Filmagenten stürzen. Aber Etienne Tyras hielt ihm den kaltblitzenden Lauf des Revolvers entgegen. »Ich werde keine Sekunde zögern, Sie niederzuschießen«, zischte er. »Ich würde es sehr bedauern, wenn ich diese Arbeit meinem lieben Sharky abnehmen müßte.« Erik hielt in seiner Bewegung inne. »Sie sind verrückt«, stieß er aufgebracht hervor. Ich berührte Erik an der Schulter, um ihn von unüberlegten Aktionen abzuhalten. »Dann sind Sie bestimmt auch für den Tod von Rachel Penvenue verantwortlich?« fragte ich und setzte damit Eriks Hinhaltetaktik fort. »Sie wußte zuviel«, sagte Etienne Tyras leichthin. »Und außerdem wollte sie mich mit ihrem Wissen erpressen. Sie ließ mir keine andere Möglichkeit, als sie zu töten. Genauso, wie Sie mir keine andere Wahl gelassen haben.« »Aber was ist mit meinem Film?« gab Erik zu bedenken. »Manche Leute werden sich doch denken können, daß wir bei Ihnen sind.« »Da irren Sie sich«, entgegnete Etienne Tyras kalt. »Ich habe Ihren Film gar nicht gesehen und ihn nur dazu benutzt, Sie in meine Villa zu locken. Und da Sie sich ja an unsere Abmachung gehalten haben und niemandem von unserem
Treffen erzählten, besteht auch nicht die Gefahr, daß irgend jemand vermutet, Sie könnten sich in meiner Villa aufhalten.« Er trat einen Schritt zurück und richtete die Waffe mit ausgestreckten Armen auf uns. »Jetzt haben wir genug geplaudert«, sagte er mit gefährlichem Unterton in der Stimme. »Ich will Sharky nicht noch länger auf sein Futter warten lassen. Ich lasse ihn seit Tagen hungern. Denn dann ist er erst so richtig wild. Und ein zweites Mal werden Sie ihm nicht entkommen.« »Sie sollten sich der Polizei stellen«, unternahm Erik noch einen Versuch. »Wenn Ihr geistiger Zustand berücksichtigt wird, können Sie bestimmt mit einem milderen Urteil rechnen.« Etienne Tyras stieß ein trockenes, humorloses Lachen aus. »Sparen Sie sich Ihre Puste für Ihre Begegnung mit Sharky«, stieß er hervor. »Denn Sie werden der erste sein, der mit seinen nadelspitzen Zähnen Bekanntschaft machen wird. Los, springen Sie!« Erik machte keine Anstalten, sich zu regen. Da drückte der Filmagent den Abzugsfinger durch. Ein Schuß peitschte auf, und die Kugel schlug dicht neben Eriks Füßen ein. »Beim nächsten Mal werde ich genauer zielen«, drohte der Mann in dem weißen Anzug, in dessen Augen nun ein unheilvolles Feuer glühte. »Springen Sie endlich. Sharky wird schon unruhig.« Erik traten die Schweißperlen auf die Stirn. Stück für Stück näherte er sich dem Beckenrand. Der Hai, der seine Gegenwart witterte, wurde zunehmend unruhiger. Mein Herz raste wie verrückt, und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Werden wir jetzt sterben müssen? fragte ich mich voller Panik.
»Ich zähle bis drei. Wenn Sie dann nicht gesprungen sind, verpasse ich Ihnen eine Kugel«, kreischte Etienne Tyras auf. Wir werden sterben, dachte ich und spürte, wie die Tränen über meine Wangen strömten. »Eins.« Mit einem sehnsüchtigen Blick schaute ich Erik an. Vielleicht das letzte Mal in meinem Leben. »Zwei. Und drei.«
Ein weiterer Schuß peitschte durch die Grotte. Meine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Ich glaubte, Erik müsse nun jeden Augenblick getroffen in das tödliche Becken stürzen. Aber Erik blieb wie ein Felsen stehen. Statt dessen schrie Etienne Tyras plötzlich gequält auf. Er wirbelte herum. Sein Revolver entglitt seinen erschlafften Fingern und rutschte in das Becken, wo er lautlos versank. Dann faßte er sich an seine Schulter und starrte ungläubig auf das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorsickerte. Von der Treppe her waren polternde Schritte zu hören. Unsere Köpfe ruckten in die Höhe. Ein Dutzend Polizisten stürmten mit gezogenen Waffen die Metalltreppe hinunter. Oben auf der Plattform aber stand die imposante Gestalt von Inspektor Grimoud. Erik eilte auf mich zu und nahm mich schützend in die Arme. Etienne Tyras starrte den herbeistürmenden Polizisten ungläubig entgegen. Er schien nicht begreifen zu können, daß ihn jemand bei der Vollendung seines Plans hinderte. Schritt für Schritt wich er zum Beckenrand zurück. Und ehe einer der Polizisten es verhindern konnte, ließ Etienne Tyras sich einfach rücklings ins Wasser fallen.
Sofort stürzte sich der Hai auf sein Opfer. Die blutende Wunde ließ den hungrigen Hai noch erbarmungsloser werden. Er packte sein Opfer und zerrte es mit sich in die Tiefe. Entsetzt wandte ich mich von der Szene ab und verbarg mein Gesicht an Eriks Schulter.
Erik und ich hatten auf der Sitzgarnitur in dem großen, hellen Raum in Etienne Tyras’ Villa Platz genommen. Eriks Tasche mit der Videokopie seines Films lag noch immer an seinem Platz. Dort, wo er sie abgelegt hatte, bevor der wahnsinnige Filmagent uns in seine Todesgrotte geführt hatte. Inspektor Grimoud stand uns gegenüber und reichte uns einen Drink, den wir nach dem Schrecken gut gebrauchen konnten. »Sie haben es allein Mona Tyras zu verdanken, daß wir noch rechtzeitig erschienen sind«, erklärte der Inspektor mit seiner ruhigen, besonnenen Stimme. »Mona mußte geahnt haben, daß ihr Mann sie eines Tages umbringen würde. Denn bei ihrem Notar hatte sie eine Mappe hinterlegt, die er der Polizei aushändigen sollte, wenn Mona sich länger als eine Woche bei ihm nicht meldete. Jede Woche rief sie bei ihrem Notar zu einer fest vereinbarten Zeit an. Als sie sich nun über eine Woche lang nicht meldete, hat der Notar seinen Auftrag ausgeführt und uns die Mappe zukommen lassen. In der Mappe befanden sich die Pläne für die Grotte und den Geheimgang.« Grimoud legte eine Pause ein und trat an das große Panoramafenster und blickte aufs Meer hinaus. »Aufgrund Ihres Berichtes, Madame Henderson, habe ich mich entschlossen, sofort zu handeln. Sie haben einen Mord in der Villa beobachtet. Und nun gab es plötzlich ein Versteck, das wir noch nicht untersucht hatten.«
Der Inspektor der Mordkommission wandte sich wieder zu uns um. »Meine Männer haben die Grotte durchsucht und sind fündig geworden. Die Leiche von Mona Tyras befand sich in dem Gefrierschrank. Sie weist eindeutig Würgemale am Hals auf. Dieselben übrigens, die auch bei Rachel Penvenue gefunden wurden.« Grimoud trat nun dicht an mich heran und sah mich bewundernd an. »Die ganze Zeit über haben Sie als einzige gewußt, daß Etienne Tyras ein Mörder ist. Aber niemand hat Ihnen geglaubt. Etienne Tyras und Rachel Penvenue haben es vortrefflich verstanden, Sie vor allen Menschen als verrückt hinzustellen. Aber Sie haben sich nicht unterkriegen lassen. Sie sind eine sehr starke Frau. Ihren Mann kann man nur beneiden.« Verlegen schaute ich auf meine Hände herab. Aber in diesem Augenblick nahm Erik mich in seine Arme. »Ich werde nie wieder an deinen Worten zweifeln«, sagte er schuldbewußt. »Dann laß uns so schnell wie möglich nach Cannes zurückfahren«, sagte ich versöhnlich. »Schließlich befinden wir uns noch in den Flitterwochen. Und es gibt noch eine Menge, was wir nachholen müssen…«