Im Zeichen des Adlers von Timothy Stahl
Schon seine Taufe machte ihn zu einem Besonderen seiner Art: Der Mond verbarg ...
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Im Zeichen des Adlers von Timothy Stahl
Schon seine Taufe machte ihn zu einem Besonderen seiner Art: Der Mond verbarg sich im Schatten der Erde, als der Arapaho-Indianer vor Jahrhunderten durch den Trank aus dem Lilienkelch zum Vampir wurde. Durch die Verbundenheit mit seinem Totemtier gelang es Hidden Moon jedoch, den dunklen Trieben zu entsagen. So lebte er in Einklang mit der Natur – bis das Böse nach ihm griff … Seither ist er der gefährlichste aller Vampire. Und er steht erst am Anfang seines Weges in eine Zukunft, wie sie dunkler nicht sein könnte. Denn sein Herr ist der Leibhaftige!
Was bisher geschah … Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle – eine Dimension, die einst durch den Fall des Engels Luzifer entstand – werden die Persönlichkeiten von Lilith Eden und ihrem ärgsten Feind Landru gelöscht; sie wissen nicht einmal mehr, daß sie Vampire sind! Während Lilith in Australien nach Spuren ihrer Herkunft sucht, taucht Gabriel, eine Inkarnation Satans, bei Landru auf. Er schließt einen Pakt mit ihm und gibt ihm die Erinnerung zurück. Von der Werwölfin Nona erfährt Landru, daß der Dunkle Dom, die Heimstatt der Hüter, zerstört ist! Er muß in Erfahrung bringen, was dort geschah – schließlich war er selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten. Zuvor aber kümmert er sich um Lilith; mit ihr hat er besondere Pläne. Derweil erwacht im Dunklen Dom der letzte überlebende Kelchhüter: Anum, der damals auch der erste Hüter war. Landru offenbart Lilith, daß sein Gedächtnis zurückgekehrt ist. Er gibt vor, sich auch an ihre Identität zu erinnern: In Mittelamerika gäbe es eine Stadt, in der ihre gemeinsamen Kinder auf sie warteten. Diese Stadt – Mayab – ist mit Kelchmagie von der Umwelt abgeschirmt. In ihr leben Maya noch so wie vor einem halben Jahrtausend. Doch etwas in Lilith wehrt sich gegen die von ihr verlangten Grausamkeiten, und so zieht sie sich gleichermaßen den Zorn Landrus, den Unmut ihrer »Kinder« … und die Sympathien der Maya zu, für die sie zum Hoffnungsträger wird. Zu lange schon hat Landru sich mit seiner Erzfeindin befaßt; nun bricht er zum Ararat auf. Doch Anum hat den Dom bereits verlassen. Aus der EWIGEN CHRONIK, der Geschichtsschreibung des Bösen, erfuhr er von Landrus Machtgelüsten und Versagen. Nun will er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände nehmen. Um die CHRONIK zu schützen, füllte Anum den Dom mit Säure und ließ einen Wächter zurück. Landru tappt in die Falle, erringt letztendlich
aber das Buch. Er selbst kann die Schrift darin nicht lesen, weiß aber, daß Lilith diese Fähigkeit besitzt. In Mayab spitzt sich die Situation zu. Liliths Einsatz für die Bevölkerung ermutigt die Widerstandsbewegung der Tiefen, einen Schlag gegen die Tyrannen zu führen. Landrus Rückkehr beendet die Rebellion, die nur vier der Tyrannen überleben, auf drastische Weise. Dann zwingt er Lilith unter Hypnose, ihm aus der EWIGEN CHRONIK vorzulesen. Doch seine Frage nach dem Wirken des Satans endet im Fiasko: Plötzlich beginnt Lilith, von einer fremden Macht beseelt, das Buch zu zerstören! Und das ist nicht alles! Der Weltenpfeiler, der das Gewölbe über Mayab stützt, flackert – die Welt ist dem Untergang geweiht! Landru und Nona fliehen aus Mayab; Lilith bleibt mit der CHRONIK zurück. Nun kann sie zwar darin lesen und ihre Herkunft erfahren, doch was nutzt es ihr im Angesicht des sicheren Todes? Da taucht Gabriel bei ihr auf – und bietet auch Lilith einen Pakt an. Sie hat keine Wahl, will sie überleben. So sichert sich die Inkarnation Satans auch ihre Loyalität …
Vor zwölf Monden South Dakota, am oberen Missourilauf Makootemane hatte seinen Tod vorausgeahnt. Nun spürte er ihn ganz nahe – aber der alte Indianer unternahm nichts, um sich seiner zu erwehren. Nur die Hände hob er, matt und müde, doch die Bewegung war kaum mehr als ein Reflex. Beeindrucken ließ sich das schwarzhaarige Weib davon nicht – und auch nicht aufhalten. Mit regloser Miene ergab sich Makootemane in sein Schicksal. Geradezu gleichgültig mußte er jedem anderen erscheinen. Tatsächlich aber nahm der Häuptling auf seine ganz eigene Weise Abschied von diesem Dasein … noch bevor Lilith Eden ihm jene Art des Todes bescherte, die selbst die Unsterblichkeit eines Vampirs beendet. Das morsche Knirschen seiner brechenden Nackenwirbel war das letzte Geräusch, das Makootemane in seinem über dreihundertjährigen Leben vernahm. Im Grunde hörte er es nicht einmal mehr richtig – der Laut drang wie von fern zu ihm, und der Schmerz, der mit dem Genickbruch doch unweigerlich einhergehen mußte, blieb gänzlich aus; als erfahre ein ganz anderer diesen Tod, nicht aber der uralte Arapaho selbst. Makootemane sah, wie sein Fleisch mürbe wurde und sich von den Knochen löste, zu flockigem Staub zerfiel, wie alles Organische des Körpers und letztlich auch die Knochen zu Asche wurden – aber er spürte nichts von alledem. Was sterblich war an ihm, ging den Weg alles Irdischen, jetzt endlich, nachdem es der Natur so lange Zeit widerstanden hatte. Binnen weniger Sekunden forderte sie ein, worum sie über Jahrhunderte betrogen worden war. Das Unsterbliche in Makootemane indes, sein wahres und tiefes
Wesen, blieb unberührt davon. Es löste sich aus dieser Welt und trieb davon, nach oben und zu allen Seiten hin zur gleichen Zeit. Das Dorf seines Stammes verschwand in der Tiefe sowie in der Ferne zugleich. Doch dem Alten war nicht weh darum. Er hatte um seinen Tod gewußt und Zeit gehabt, sich auf den endgültigen Abschied vorzubereiten. Nichts, hatte er unternommen, um das Sterben abzuwenden. Nicht noch einmal hatte er die Pfade des Schicksals umleiten wollen – wie er es damals getan hatte, vor über dreihundert Jahren … … als Landru den Stamm der Arapaho aufgesucht hatte. Zunächst hatte der Hüter des Lilienkelchs damals Makootemane aus dem Kelch zu trinken gegeben, von seinem eigenen schwarzen Blut. Als der Häuptling daran gestorben und dann als Vampir wiedererstanden war, hatte der Hüter des Unheiligtums zwölf Kinder des Stammes auserwählt und sie mit Makootemanes nunmehr ebenfalls geschwärztem Blut getauft. Aber Makootemane, Oberhaupt dieser neugeschaffenen Sippe, hinterging den Hüter: Indem er seinem Adler heimlich vom Kelchblut zu trinken gab, gelang es ihm, sich mit der reinen Seele des Tieres zu verbinden und dadurch das Böse zu überwinden. Seine vampirischen Kinder folgten seinem Beispiel, und so lebten die Arapaho-Vampire fortan in einer Art Symbiose mit den Menschen, denen sie nur soviel Blut abverlangten, wie sie zum Überleben brauchten – und ohne mit ihrem Biß je zu töten.* So waren die Dinge also über drei Jahrhunderte in für Vampire ungewöhnlichen und ruhigen Bahnen verlaufen. Die Arapaho-Sippe hatte ihr geheimes Dasein geführt, unberührt von dem, was jenseits der Grenzen ihrer Jagdgründe vorging – – bis ein todbringender Keim Makootemane infiziert hatte: der Keim jener Seuche, zu deren Träger alle vampirischen Sippenoberhäupter der Welt wurden. Ohne allerdings selbst daran zu sterben. *siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
Doch sie übertrugen den Keim auf ihre Kinder, und die hatten jenem Zorn Gottes nichts entgegenzusetzen, gingen elend daran zugrunde. Makootemane jedoch war diesem Schicksal auf seine ganz eigene Weise begegnet, um seinen Stamm vor dem Niedergang zu bewahren. Auf spiritueller Ebene hatte er sich der Bedrohung gestellt. In der Gestalt seines Totemtieres, des Adlers, hatte er den Kampf gegen den Purpurdrachen, der die Traumgestalt der Seuche gewesen war, gewonnen – – und ihn mit dem Verlust seiner Kräfte bezahlt … So war er letztlich ein leichtes Opfer für Lilith Eden gewesen, die unter dem bösen Einfluß des Seuchenkeims über Makootemane hergefallen war und ihn getötet hatte.* Nun, seinen Körper zumindest. Makootemanes Geist indes entkam dem Tod. Er floh aus dieser Wirklichkeit, als trügen magische Adlerschwingen ihn fort; er ritt auf dem Wind, und schließlich kam es ihm vor, als würde er selbst Teil des Windes – mehr noch: Teil all dessen, was die Natur und ihre Gewalten und Wunder ausmachte. Der Arapaho glaubte sich mit der Welt selbst verschmolzen, eins geworden – – und mußte doch schon im nächsten Moment erkennen, daß dem nicht so war. Ganz und gar nicht! Die Brise, die ihn bis eben noch sanft getragen hatte, gewann unvermittelt an Kraft, wuchs sich zu einem Sturm aus, der mit unsichtbaren Klauen nach Makootemanes körperlosem Wesen schlug, daran zerrte und es zu zerreißen drohte. Im wörtlichen Sinne hin und hergerissen fühlte er sich. Trotzdem ihm Schmerz noch immer fremd war, schrie der Arapaho auf, freilich stumm – und doch wurde der Sturmwind davon noch angefacht! Alles um seinen Geist her schien in irrem Brodeln und Wirbeln zu vergehen, und schließlich fühlte auch er selbst sich davon erfaßt, als *siehe VAMPIRA T12: »Totem des Bösen«
schlürfe ihn eine gestaltlose Monstrosität in ihren Schlund. Makootemane hatte dem Sog nichts entgegenzusetzen außer der Macht seines Geistes. Er dachte an Widerstand, versuchte sich bildlich vorzustellen, wie er gegen die fremden Kräfte ankämpfte. Und tatsächlich gewann er ein klein wenig an Boden. Für einen zeitlosen Moment ließ das Zerren und Ziehen von ihm ab, tobten die Gewalten nur um ihn herum, ohne ihn anzurühren. Und in diesem Moment entdeckte der Alte das Licht. Nicht auf die Art, in der ein Mensch sieht. Dieses Licht zu sehen, dazu bedurfte es keiner Augen. Makootemane erfaßte es, begriff und verstand es. Wußte schlicht, was es verhieß. Erlösung. Ruhe. Ewigen Frieden. Dieses Licht mußte sein Ziel sein. Denn jenseits davon, und auch das wußte er plötzlich mit untrüglicher Gewißheit, lag das Land seiner Ahnen, jenes Reich, in dem alle Geister sich wiederfanden, wenn der Tod sie vom Leib geschieden hatte. Die Legenden seines Volkes berichteten von diesem Land, und Makootemane hatte sie nie vergessen. Auch nach seinem ersten Tod, den er als Vampir überwunden hatte, waren diese Legenden in einem Winkel seiner Erinnerung geblieben. Und er hatte in dreihundert Jahren die Hoffnung nicht verloren, irgendwann Einlaß zu finden in jenes Land, von dem es in den Geschichten der Weißen hieß, die Indianer würden es die Ewigen Jagdgründe nennen. Obwohl es so etwas wie Entfernung für Makootemane nicht mehr gab, nicht hier zumindest, lag das Licht doch unendlich weit weg. Dennoch würde ihm ein Gedanke genügen, es zu erreichen. Er stellte sich vor, wie es sein mußte, darauf zuzutreiben. Gleißend hell war es schon jetzt, ungleich strahlender als die Sonne am heißesten Tag, und vom reinsten Weiß, wie Makootemane es auf Erden nie gesehen hatte; und mit jedem Stück, um das er dem Licht näherkommen würde, mußte seine leuchtende Kraft noch zunehmen. Bis ihn schließlich eine Macht ergreifen und leiten würde,
die ihn in das Licht hineintrug, auf daß er in das Land jenseits davon einging … Aber so geschah es nicht. Wohl fühlte Makootemane sich von einem Sog erfaßt, doch der brachte ihn dem Licht nicht näher, sondern ließ es weiter abrücken. Weil die fremde Kraft von anderswo nach ihm langte, kalt und beißend, und seinen Geist zu sich hinabzerrte – – dorthin, wo das Gegenstück des Lichtes lauerte: etwas wie kochende Finsternis, sturmdurchwühlten Wolken in dunkelster Nacht gleich. Makootemane mühte sich, der Anziehungskraft des lichtlosen Schlundes zu entkommen. Er stellte sich vor, gegen den eisigen Strom zu schwimmen, der diesem Moloch zufloß. Alle Kraft seines Geistes verwandte er darauf. Und wirklich wurde seine Anstrengung mit Erfolg belohnt – wenn auch nur mit geringem: Denn obwohl es ihm gelang, Abstand zu halten zu der brodelnden Finsternis, kam er doch auch dem Licht nicht näher. Der Geist des Arapaho hing wie gebannt dazwischen. War gefangen zwischen … Himmel und Hölle? Der Gedanke schien ihm ebenso banal wie absurd. Und daß er nicht wirklich zutraf, erfuhr er im nächsten Moment. Tatsächlich nämlich gestaltete sich seine Situation um vieles mißlicher, vielfältiger in gewissem Sinne: Denn es gab nicht allein zwei Pole, zwischen denen er sich befand – sondern deren viele. Unzählige! Hatte er sich eben noch von wirbelndem Nichts umgeben geglaubt, vermochte Makootemane nun zu sehen, was sich darin verbarg Welten! Aber – handelte es sich um wirkliche Welten? Die Eindrücke, die der Arapaho auffing, wechselten in so rascher Folge, daß er keinen lange genug festhalten konnte, um ihn auch im Detail zu verarbeiten. Bizarre Szenarien waren es in jedem Fall, viele absolut fremdartig, andere vage vertraut. Makootemane fühlte sich
in ihrem Tanz gefangen, als sei er selbst Teil eines mysteriösen Kaleidoskops, das unentwegt neue Bilder schuf. Eines aber registrierte sein Geist sehr wohl: Nichts von dem, was er empfing, schien ihm wirklich echt. Jeder einzelne Eindruck kam ihm auf schwer in Worte zu fassende Weise unfertig vor. Als handle es sich bei alldem nur um unausgegorene Ideen von Welten, vielleicht um nie vollendete Pläne eines Gottes – oder von Göttern … Makootemane hatte das Gefühl, als sei zumindest dieser letzte Gedanke nicht sein eigener; als habe er ihn nur aufgefangen inmitten des wirbelnden Wahnsinns rings um ihn her. Aber er kam ohnedies nicht dazu, ihn weiterzuverfolgen. Denn plötzlich – – griffen diese tosenden Kräfte wieder nach ihm, mit solcher Macht, daß die Kraft seines Geistes nicht länger genügte, um ihnen zu widerstehen. Das Licht, auf das Makootemane hatte zustreben wollen, verschwand im Wirbel der Welten. Wie hatte ich auch nur hoffen können, Einlaß zu finden ins Land meiner Ahnen? durchfuhr es ihn. Ich bin nicht wie sie – seit dreihundert Jahren nicht mehr! Auf Wesen meiner Art – ganz gleich, wie sie ihr Schicksal auch meisterten – kann einzig ewige Verdammnis warten! Er fühlte sich verloren zwischen den tobenden Eindrücken. Sie zerrieben seinen Geist, als wollten sie alle einen winzigen Teil davon erhaschen. Fast sehnte der Arapaho sich danach, daß der Sog aus jenem finsteren Moloch wieder nach ihm greifen und ihn hinabzerren möge, damit er diesem Irrsinn entginge. Und beinahe wünschte Makootemane sich, Schmerz empfinden zu können – weil Schmerz den puren Wahnsinn, der auf ihn einstürmte, vielleicht gelindert hätte; zumindest aber wäre er etwas wie ein Ventil gewesen, durch das der Alte seinen Geist hätte erleichtern können. So aber war er alldem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und
womöglich würde es nie enden. Wie lange währt eine Ewigkeit? ging es Makootemane durch den schon zerrütteten Sinn. Er erfuhr es nicht. Noch nicht. Denn ihm wurde geholfen …
* Makootemane fühlte sich, als müsse er ertrinken in der Flut kochender Eindrücke seltsamer Welten. Tatsächlich war das Gefühl um vieles schlimmer! Schon weil der Tod ihm keine Aussicht auf Erlösung zu verheißen vermochte. Nicht mehr … Als er unvermittelt aus dem Mahlstrom herausgerissen wurde, schien es dem Arapaho so, als habe eine Hand nach ihm wie nach einem Ertrinkenden gegriffen und ihn im letzten Moment aus dem Wasser gezerrt! Obwohl der Vergleich freilich nicht wirklich zutraf. Die Wirklichkeit war … unbeschreiblich. Aber Makootemane verschwendete ohnedies keinen Gedanken daran, wie sein Entkommen im einzelnen vonstatten gegangen war. Schon weil ihm die Kraft dazu fehlte, und weil seine Gedanken ein wüstes Durcheinander hinter seiner Stirn waren, als wüte der Weltensturm dort weiter – Hinter seiner Stirn? Irritiert hielt Makootemane inne. Wie konnte er den Eindruck haben, etwas geschehe hinter seiner Stirn – wo er doch keinen Körper mehr besaß! Seine rechte Hand fuhr hoch, an seinen Augen vorüber, berührte die Stirn! Mit den Fingern der Linken tastete er über seine Rechte, wie um sich davon zu überzeugen, daß sie wirklich vorhanden und stofflich war. Er spürte kühle, ledrig spröde Haut – die Färbung jedoch … Sie
war rötlich, wie bei seinem Volk üblich, trotzdem schien sie ihm ungewohnt, anders; ihr Ton war nicht exakt derselbe wie – nun, wie zu seinen Lebzeiten eben. Und genauso verhielt es sich mit der Landschaft, in der Makootemane sich unvermittelt wiederfand! Steppengras entsproß dem kargen Boden, dazwischen reckten vereinzelte Sträucher ihr dürres Geäst knöchernen Fingern gleich dem Himmel entgegen. In der Ferne markierten Berge den Horizont. Ein Anblick, wie er Makootemane im Grunde durchaus vertraut war. Zugleich jedoch schien er dem Arapaho bizarr und fremd – seiner Farben wegen! Sie waren nicht eigentlich falsch, aber auch nicht natürlich; nicht so, wie sie es hätten sein müssen, wären sie echt gewesen. Makootemane zog den Vergleich zu einem Gemälde, dessen Maler wohl ein geradezu täuschend ähnliches Abbild einer Landschaft geschaffen und sich nur in der Farbgebung vergriffen hatte: Farben wie diese hier gab es in der Natur nirgendwo. Das Blau des Himmels war zu tief, das Grün des Grases zu kräftig, das Braun des Bodens ebenso … Der Arapaho saß mit untergeschlagenen Beinen da, und seine Hände strichen über die Halme vor ihm, so behutsam, daß seine Handflächen nur deren Spitzen berührten. Trocken und hart waren sie – und … Makootemane spürte es. Roch und schmeckte es. Der Odem des Lebens hatte diese Welt nie berührt. Sie war wie ein Kind, das schon tot dem Schoß seiner Mutter entschlüpft war. »Wo bin ich?« Makootemane fühlte sich unbeschwert, denn im Grunde rührte ihn nichts von der Unwirklichkeit um ihn her, und ebenso leicht kamen ihm die Worte aus dem Munde. Er spürte kaum, daß seine Zunge und Lippen sich bewegten. Und er erschrak nicht einmal, als ihm seine Frage beantwortet
wurde. »Ein Toter in einer Welt ohne Leben bist du.« Makootemane sah auf. Er wußte nicht, ob der andere schon die ganze Zeit über neben ihm gestanden hatte, oder ob er gerade erst an seine Seite getreten war. Obwohl der andere stand, überragte er den sitzenden Indianer nur um wenig mehr als Haupteslänge. Er war nackt, und seine Haut zeigte die Farbe von im Feuer gehärtetem Holz. Das Haar lag ihm wie metallisches Gewölle kappenartig am Schädel an. »Wie komme ich hierher?« wollte Makootemane wissen. Der Fremde streckte die Hand aus, als wolle er einen Unsichtbaren begrüßen. »Ich habe dich geholt«, erwiderte er. »Lebst du allein in dieser Welt?« Dutzende Fragen drängten auf die Zunge des Arapaho, aber er zügelte seinen Wissensdurst. Der andere schüttelte den Kopf. »Dies ist nicht meine Welt.« »Sondern?« »Die deine.« »Was soll ich anfangen mit einer Welt?« fragte Makootemane. Er ließ den Blick schweifen und fand doch überall nur seinen ersten Eindruck bestätigt: Nichts lebte hier – nichts und niemand … »War es nicht das, was du wolltest – Ruhe und Frieden bis in alle Ewigkeit?« entgegnete der Schwarze. »Aber ich hatte gehofft«, setzte der Arapaho an und zögerte kurz, ehe er fortfuhr: »Nun, ich wollte eins sein mit meinen Ahnen –« Der andere lachte freudlos. Der Laut ähnelte eher einem heiseren Husten. »Wie vermessen«, meinte er dann. »Du solltest froh sein, daß du hier sein darfst. Anderen deiner Art wird solches Glück nicht zuteil –« Makootemane nickte lahm. »Ich weiß, wovon du sprichst«, sagte er. Sein Ton klang betroffen, seine Stimme belegt. »Habe ich dir die-
ses Glück zu verdanken?« fragte er nach einer Weile. »In gewisser Weise«, nickte der Fremde. »Wirst du mich führen durch diese – durch meine Welt?« Es war im Grunde keine Frage, die Makootemane stellte, sondern eine Bitte. »Nein, das werde ich nicht. Aber es gibt einen, der es tun könnte.« »Wo finde ich ihn?« fragte Makootemane rasch. »Er wird dich finden«, erklärte der andere, »wenn du ihn nur rufst.« Der Arapaho wagte einen letzten Versuch: »Warum hilfst du mir nicht? Verbindet uns nicht ein gemeinsames Schicksal?« »Gewiß nicht.« Damit wandte der Nackte sich ab und ging. Scheinbar ziellos entfernte er sich, aber Makootemane konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als folge der andere einem Pfad, den nur er allein zu sehen vermochte. »Wer bist du?« rief Makootemane ihm nach, als der Schwarze kaum mehr zu sehen war, obgleich er doch erst wenig mehr als zwanzig, allerhöchstens dreißig Schritte gegangen war. Seine Antwort erreichte den Arapaho wie aus weiter Ferne. »Ich bin …« Als seine Worte verklangen, war der andere vollends verschwunden, als habe er sich in Nichts aufgelöst. »… niemandes Freund.«
* Einige Zeit später Mandschurei, China Die Züge des Mannes zuckten unentwegt, als bewege sich darunter etwas Lebendes, das nicht hervorbrechen durfte. Auf seiner Stirn
glänzte Schweiß, vom Licht des vollen Mondes silbern gefärbt. Und in seinen Augen stand ein unstetes Flackern wie von mühsam bezwungener Angst. Chiyoda kannte die Ursache dieser Symptome, und er schüttelte tadelnd den Kopf. »Du bist noch nicht bereit«, erklärte er mit leiser Stimme, bestimmt und sanft in einem. »Ich kann nicht länger warten, Meister«, erwiderte der andere gepreßt. Sichtlich angestrengt widerstand er der Versuchung, zum bleichen Rund des Mondes aufzusehen, das wie in den Nachthimmel über dem Kloster gestanzt wirkte. Chiyoda konnte die Versuchung seines Gegenübers selbst spüren, fast noch mehr als seine eigene. Denn während die Bestie im Innern des anderen in ihrem imaginären Kerker schier tobte, um daraus zu fliehen und sich des ganzen Körpers zu bemächtigen, strich das Tier in Chiyoda nurmehr am Gitter seines Käfigs entlang; gereizt, sicher, aber im Laufe vieler Jahre solchermaßen bezähmt, daß es seinen animalischen Trieb dem Willen seines Herrn unterordnete. Diese Kunst lehrte Chiyoda jeden, der zu ihm in das abgelegene Kloster im nordostchinesischen Tiefland kam und wünschte, den Fluch zu bezwingen. Aber nur wenigen gelang es, dem alten Chinesen nachzueifern. Denn das Wollen allein genügte längst nicht; weit größerer Opfer und Anstrengungen bedurfte es, den Wolf zu bändigen. Der Mann, der Chiyoda vor einigen Wochen um Hilfe ersucht hatte und nun im Begriff stand, das Kloster zu verlassen, zählte zu jenen Wenigen. Der weise Alte spürte, daß dieser Mann das Zeug dazu hatte, dem Fluch des Blutes dauerhaft zu entgehen. Er war auf dem besten Wege gewesen – aber nun offenbar nicht bereit, diesen Weg auch bis zum Ende zu gehen … Die Muskeln des anderen verkrampften sich, seine Miene entgleiste vor Schmerz, als ein neuer Schub ihn ereilte. Sein Körper wollte mutieren – aber er ließ es nicht geschehen, verweigerte der Bestie
die Herrschaft. Seine Züge entspannten sich, wenn auch nur ein wenig, als er sich in jene Meditation versetzte, die Chiyoda ihm beigebracht hatte in langen Tagen und Nächten. Der alte Werwolf ließ ihn gewähren. Als er den Wolf in sich soweit zurückgezwungen hatte, daß er nicht hervorbrechen konnte, sagte der Mann: »Es tut mir leid, aber –« Wieder schüttelte Chiyoda den Kopf. »Du mußt dich nicht entschuldigen«, entgegnete er, leises Bedauern im Ton, »allenfalls vor dir selbst. Ich zwinge dich zu nichts – du bist aus freien Stücken hergekommen, und ebenso bleibt es dir überlassen, zu gehen, wann immer du willst. Mir bleibt nur, dir zu sagen, daß deine Lehre noch nicht beendet ist. Und alles, was du in den vergangenen Wochen auf dich genommen hast, könnte vergebens gewesen sein, wenn du jetzt gehst. Du hast den Wolf bislang nur bezähmt – aber noch lange nicht besiegt.« »Ich – ich … komme wieder.« Die zögernden Worte des Mannes klangen nach einem Versprechen. »Du wirst mir willkommen sein«, sagte Chiyoda. »Doch bedenke, daß wir dann wieder von vorne werden beginnen müssen. Und bedenke, was in der Zwischenzeit wieder geschehen wird: all das, was du verabscheust und weswegen du zu mir gekommen bist.« Der andere senkte den Blick, sah auf seine Fußspitzen und dann so hastig wieder hoch, als würden sogar seine Schuhe ihm Grauen einflößen. »Ich weiß«, sagte er kaum hörbar, »das Töten … Ich will, daß es aufhört. Ich ertrage es nicht länger, in den Nächten des hellsten Mondes morden zu müssen –« »Dann bleib«, unterbrach Chiyoda ihn, »und es wird ein Ende haben. Ich weiß, daß du es schaffen kannst, dem Bösen zu entsagen. Bei keinem anderen sonst spürte ich dieses Talent in solchem Maße wie bei dir.« Sein Gegenüber hob den Kopf. Seine Züge waren verkniffen, aber
es sprach auch eine fast spürbare Entschlossenheit daraus, vor der Chiyoda kapitulieren mußte. »Ich muß gehen«, sagte der andere. »Jetzt!« Sein Blick schweifte zum Horizont, wo nachtschwarze Berge wie eine natürliche Grenze um Chiyodas Reich lagen. Tatsächlich aber mochte der Mann etwas ganz anderes sehen – jenes Ziel, das er sich gesetzt und von dem er Chiyoda erzählt hatte. »Und ich werde zurückkehren – aber nicht allein«, fügte er dann noch hinzu, mit dunklerer Stimme als zuvor. »Du hast dir eine große Aufgabe gestellt«, meinte Chiyoda. »Ein Mann könnte daran zerbrechen.« Der andere lächelte knapp und freudlos. »Möge der Wolf mir dabei helfen«, hoffte er und fuhr fort: »Verstehst du nun, warum ich jetzt aufbrechen muß? Ich brauche das Tier in mir – noch …« Chiyoda nickte nicht, starrte den anderen nur ausdruckslos an und sagte: »Dann geh.« »Auf Wiedersehen, Meister.« Die Worte waren keine bloße Grußformel – sie kamen einem Schwur gleich, so feierlich sprach der andere sie aus. Dann wandte er sich ab und ging – so schwerfällig, als laste das Alter seines Fluchs als wirkliches Gewicht auf ihm – hinaus in die mondhelle Nacht. Um irgendwann dort anzukommen, wo seine Heimat lag. Weit entfernt, auf der anderen Seite dieser Welt. Und Chiyoda wußte, daß seinem Schüler nicht nur ein langer, sondern vor allem auch beschwerlicher Weg bevorstand …
* Das alte Kloster in der Mandschurei war ein Ort der Ruhe und des Friedens – – in den Nächten, da der Mond sich nicht zur Gänze am Himmel
zeigte … In Nächten wie dieser aber war Chiyodas Refugium ein Ort des Grauens! Erfüllt von schaurigen Lauten und Dingen, die unsichtbar, aber doch wie zum Greifen in der Luft lagen. Chiyoda jedoch schien das nicht einmal wahrzunehmen. Furchtlos schritt er durch die kaum erhellten Korridore, vorbei an dicken Bohlentüren, hinter denen Monstren sich wie irr gebärdeten, und auch das Wehklagen und das Flehen um Hilfe rührten ihn nicht. Wer zu ihm kam, dem erklärte Chiyoda vor Beginn der Lehren, worauf er sich einließ. In der Folge tat er dann nichts anderes, als seinen Schülern den Weg zur Erlösung zu weisen – gehen mußten sie ihn allein. Weil auch später, wenn sie ihres Fluches einmal Herr geworden waren, niemand an ihrer Seite sein würde, der ihnen half. In Vollmondnächten sperrte Chiyoda seine Gäste in Zellen, zu ihrem eigenen Schutz – und zu seinem persönlichen. Denn er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie in Bestiengestalt über ihn herfallen würden, um zu verhindern, daß er sie weiterhin darin unterwies, wie das werwölfische Ego zu unterdrücken war. Und an Kraft und Ungestüm mochten die jungen Werwölfe Chiyoda durchaus überlegen sein! Das Alter hatte ihm beides aufgezehrt, denn im Gegensatz zur vampirischen Rasse war ein Werwolf nicht unsterblich, und seine Kraft wuchs nicht mit der Erfahrung eines langen Lebens: Werwölfe mußten den Jahren Tribut zollen – ganz so wie Menschen. Letztlich sind und bleiben wir Menschen, sinnierte der Alte, während er dem Sanktuarium zustrebte, ohne sonderliche Eile. Nur in der hellsten Mondphase werden wir zu Tieren – aber sind wir das dann noch selbst, in dieser anderen Gestalt, die von kannibalistischer Lust beseelt ist …? Solchen und ähnlichen Gedanken war Chiyoda oft nachgegangen in all den Jahren, und im Grunde war sein Wunsch, den dunklen Trieb im Zaum halten zu können, aus Überlegungen wie diesen hervorgegangen – vor langer, sehr langer Zeit. Antworten indes hatte er
nie gefunden, keine endgültigen zumindest. Wie er überhaupt wenig wußte über das Wesen seiner Art. Weniger jedenfalls, als andere glauben mochten. Sie hielten seine mitunter philosophischen Worte für etwas wie einen Mantel, den er über die Wahrheit breitete. Dabei waren sie nur in langen Jahren gesponnene und endlich ausgesprochene Gedanken, mit denen er selbst der Wahrheit nachspürte – ohne sie je gefunden zu haben. Oder wenigstens keine wirkliche – nur mögliche … So wußte auch Chiyoda nicht verbindlich zu sagen, wo der Ursprung der Werwölfe lag. Wohl kannte er einige Erklärungen, aber die einzig wahre mochte vielleicht nicht einmal darunter sein … Es kümmerte ihn nicht sonderlich. Wozu sollte er diese Quelle auch in Erfahrung bringen? Er hatte erreicht, was sein Ziel war, hatte dem Bösen entsagt – und wer wollte, dem verriet er, wie es zu bewerkstelligen war. Nach mehr stand ihm nicht der Sinn. Chiyoda betrat das Sanktuarium, jenen Raum des Klosters, in den er sich zurückzuziehen pflegte, um zu meditieren, und schloß die mit Schnitzereien verzierte Tür hinter sich. Die Laute seiner sicher verwahrten Schüler, die gegen ihren Trieb ankämpften, wurden gleichsam ausgesperrt. Vollkommene Stille umfing den Alten – nur tief in sich vernahm er ein Geräusch; etwas wie ein verhaltenes Knurren … Chiyoda lachte lautlos und strich sich wie besänftigend über die magere Brust unter der schlichten Kutte. »Du kannst es nicht lassen, wie?« fragte er amüsiert und fügte dann in ernstem, fast bedauernden Ton hinzu: »Aber nach all den Jahren werde ich mich hüten, deine Ketten auch nur noch einmal zu lösen. Weil ich fürchte, du würdest dich nicht wieder gefangennehmen lassen – alter Freund …« Als sich der Alte in die seidenen Kissen sinken und vom Duft des Räucherwerks umspielen ließ, dachte er an jenen Mann, von dem er sich draußen verabschiedet hatte.
Obwohl Chiyoda sich seinen Schülern gegenüber meist mehr oder minder gleichgültig gab und auch darauf achtete, keine allzu tiefreichenden Beziehungen aufzubauen, interessierte ihn der weitere Werdegang dieses Werwolfs. Irgend etwas Besonderes hatte ihm angehangen. Vielleicht, dachte Chiyoda, war er menschlicher als alle anderen. Und vielleicht wünsche ich ihm deshalb Glück auf seinem Weg – der ihn irgendwann zu mir zurückführen möge … … wenn er überlebt, was er vorhat. Chiyoda seufzte. Er haßte Gedanken solcher Art, und so suchte er Ablenkung im Schlaf, in den er durch seine Meditationsfähigkeit übergangslos zu fallen vermochte – und in Träumen, die ihn durch Welten führten. Welten, durch die er seit einiger Zeit nicht mehr allein ging …
* Makootemane blinzelte verblüfft, als könne ein Lidschlag das Unmögliche, dessen Zeuge er eben geworden war, fortwischen. Aber das Bild blieb unverändert. Der kleine dürre Chinese stand staunend vor ihm – nachdem er geradewegs aus dem Nichts gekommen war! Mit einem einzigen Schritt, wie andere durch eine Tür gingen, hatte er diese Welt betreten. »Bist du hier zu Hause?« fragte Makootemane mit brüchiger Stimme. »Bisweilen«, sagte der andere. »Dann mußt du mir sagen, wo ich hier bin«, bat der Arapaho. So waren Makootemane und Chiyoda sich zum ersten Mal begegnet, hier in dieser Welt abseits der Wirklichkeit, in die es den Geist des toten Vampirindianers verschlagen hatte …* *siehe VAMPIRA T12
Nachdem »Niemandes Freund« verschwunden war, hatte Makootemane nach jenem gesucht, der ihn durch diese Welt führen konnte, hatte nach diesem anderen gerufen – – und in Chiyodas Träumen hatten seine Rufe ein Echo gefunden. Der Weise war ihnen gefolgt. Denn das Tier in sich zu bezähmen, war nicht sein einziges Talent. Er vermochte darüber hinaus in Zukunft und Vergangenheit zu schauen und sich darin zu bewegen – wie er auch jenseitige Welten betreten konnte. Er war ein Wanderer zwischen den Wirklichkeiten. Und auf diesen Wanderungen leistete Makootemane ihm mitunter Gesellschaft. Denn zu Lebzeiten hatte auch der Arapaho sich mit Dingen befaßt, die zu verstehen der menschliche Geist kaum genügte. Aber er hatte auch nie versucht, sie zu ergründen, sondern sich ihrer nur bedient, ohne sie jedoch zu mißbrauchen. So waren ihm nun, in diesen Welten zwischen Diesseits und Jenseits, unter Chiyodas Anleitung Dinge möglich, die ein Mensch nie für möglich gehalten hätte. Einander waren die beiden wesenverwandten Alten (denn schließlich hatten sie, jeder auf seine Art, dem Bösen entsagt) stete Inspiration – und schlicht angenehme Gesellschaft. Denn die Geschichten zweier so außergewöhnlicher Leben waren nahezu endlos, ein unerschöpflicher Quell für lange Gespräche. Inzwischen wußten Chiyoda und Makootemane viel voneinander, aber längst nicht alles. Immer wieder mußten sie ihre Unterhaltungen unterbrechen, weil es auf ihren Wanderungen durch die Welten einen Punkt gab, an dem ihre Wege sich trennen mußten – dort, wo Chiyoda in seine Wirklichkeit zurückkehrte – – in die Welt der Lebenden. Manchmal schmerzte dieser Abschied Makootemane. Weil er allein zurückbleiben mußte, einsam – und tot … Es war nicht so, daß der Arapaho sich nach dem Leben zurückgesehnt hätte – nur die Lebenden vermißte er bisweilen. Was aus seinem Stamm, seiner Sippe geworden war, nachdem er sie verlassen
hatte, das interessierte ihn. Aber ihnen noch einmal zu begegnen, war ihm nicht möglich. Vielleicht jedoch … Auf einer ihrer gemeinsamen Wanderungen fragte er Chiyoda danach. Doch der alte Chinese schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Weg, auf dem du zurückgehen könntest«, sagte er. Es klang nicht allzu bedauernd. »Aber glaube mir – manchmal ist es gut, nicht allzu viel zu wissen.« Etwas in Chiyodas Ton beunruhigte Makootemane. »Gibt es etwas, das du mir verheimlichst?« hakte er nach. »Was kümmert dich diese eine Welt, aus der du kamst – wo dir doch ungezählte offenstehen?« umging Chiyoda eine direkte Antwort. Dabei tat er einen Schritt zur Seite, zog den Arapaho mit sich, und beide fanden sich unvermittelt in einer anderen Welt wieder, in der blühende Pflanzen den Boden bis zum Horizont bedeckten und ein geradezu betäubendes Konglomerat aus tausend Düften entfalteten. »Du weichst mir aus«, stellte Makootemane fest. »Nein. Ich sorge mich nur nicht um fremdes Schicksal. Das ist alles.« Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Makootemane gab den nächsten Richtungswechsel vor und nahm diesmal seinerseits Chiyoda mit sich, zurück in jene Welt, in der er nach seinem Tod gestrandet war. In ihr hielt der Arapaho sich am liebsten auf. Weil sie ihn noch am ehesten an jene erinnerte, in der er sein Leben zugebracht hatte. »Ich möchte gar nicht wirklich zurückkehren«, sagte er dann, leise, wie im Selbstgespräch, »nur einen Blick würde ich hinüber tun wollen.« Ein kleines Lächeln spielte um Chiyodas schmale Lippen. »Es liegt dir viel daran, nicht wahr?« »Wenn ich es könnte, würde ich mein Leben dafür geben«, erwiderte Makootemane, ebenfalls lächelnd.
»Ich werde diesen Wunsch nie verstehen«, sagte der Chinese. »Wie kann jemand nur so an Vergangenem hängen – noch dazu hier, wo Zeit keine Rolle mehr spielt?« »Vielleicht gerade deshalb«, meinte der Arapaho, »weil Vergangenes an diesem Ort gegenwärtig bleibt. Und überdies zeigen mir deine Worte, daß wir einander zwar ähneln mögen, aber wir gleichen uns eben nicht.« Sein Ton wechselte, klang ein klein wenig wehmütig, als er ergänzte: »Du hattest nie Kinder, oder?« »Nein«, antwortete Chiyoda und setzte, fast schroff, hinzu: »Es wäre unverantwortlich gewesen.« »Das unterscheidet uns«, erklärte Makootemane. »Und als Vater sorge ich mich um meine Kinder, auch wenn sie nicht von meinem Fleische, sondern nur von meinem Blute sind.« »Ein eigenartiger Vampir bist du.« »Wie du ein seltsamer Werwolf bist – was uns letztlich doch wieder gleichmacht.« Die beiden Alten grinsten einander jungenhaft zu. Schließlich seufzte Chiyoda schwer. »Was ist?« fragte der Arapaho. »Nun«, begann der andere, »es gibt da etwas, das ich dir zeigen könnte –« »Was ist es?« unterbrach Makootemane ihn ungeduldig. Chiyoda hob beschwichtigend die Hand. »Gemach, mein Freund. Denn ich muß dir zuvor noch etwas erklären –« »Rede endlich.« »Du kannst einen Blick in die Wirklichkeit werfen –« »Wie? Und wo?« »Ich werde dich hinführen«, sagte Chiyoda. »Aber bedenke: Was immer du sehen wirst – du kannst es nicht ändern. Du hast keine Möglichkeit, Einfluß zu nehmen auf den Lauf der Dinge, ob sie dir nun gefallen oder nicht.« Einen Moment lang schwieg Makootemane. Hinter seiner Stirn
überschlugen sich die Gedanken, wie in seiner Brust die Gefühle einander jagten. »Trotzdem«, sagte er schließlich, »ich möchte es tun. Bring mich zu diesem Ort, ich bitte dich darum, mein Freund.« Chiyoda nickte, berührte die Hand des Arapaho und trat einen Schritt zurück. »Wir sind schon da.« Makootemane sah sich um. Chiyoda hatte ihn in eine Welt geführt, deren Pflanzenreichtum von geradezu überwältigender Vielfalt war. Alle standen sie in voller Blüte oder trugen schon Früchte, von denen der Arapaho die wenigsten je zuvor gesehen hatte. Die Luft war erfüllt von ihrer Aromenvielfalt. Wäre er noch darauf angewiesen gewesen, Luft zu holen, so hätte es Makootemane jetzt den Atem verschlagen. Zwei Worte kamen ihm von den Lippen, einem Hauch gleich. »Manitous Garten …« Chiyoda nickte unwillig. »Ja, durchaus möglich. Dennoch meide ich diesen Ort tunlichst.« »Aber – warum?« wollte Makootemane wissen. »Weil er verführerisch ist.« Makootemane ließ es damit bewenden und fragte: »Wie kann ich nun von hier aus hinüber in die Welt der Lebenden sehen?« Chiyoda wandte sich um und wies auf einen Baum, kaum fünf Schritte entfernt. Die Zweige bogen sich unter der Last ihrer Früchte so weit zu Boden, daß man die untersten mühelos mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte. »Dort«, sagte er nur. »Ich verstehe nicht –«, meinte Makootemane, während er schon auf den Baum zutrat. »Pflücke eine Frucht«, sagte Chiyoda. Der Arapaho hob den Arm, seine Finger berührten eine der runden, rotglänzenden Früchte, griffen aber nicht zu, sondern wanderten weiter zur nächsten und übernächsten.
»Welche nur?« murmelte er. »Sie sind alle wunderschön, zu schön fast, um sie –« »Es ist gleich, für welche du dich entscheidest«, erklärte Chiyoda mit leiser Ungeduld. Endlich schloß sich die Hand des Arapahos um eine Frucht. Vorsichtig drehend pflückte er sie vom Ast. Dann betrachtete er sie wie etwas unendlich Kostbares. »Und nun?« fragte er schließlich. Chiyoda trat zu ihm, streckte die Hand nach der Frucht aus und berührte sie mit den Fingerspitzen, ohne daß Makootemane sie losließ. »Konzentriere dich auf den Ort, zu dem du hinzusehen wünschst«, forderte er den Arapaho auf. Der nickte und starrte angestrengt auf die Frucht. Die Struktur der roten Schale begann sich für ihrer beider Blicke aufzulösen, als würde sie flüssig, und schließlich wirkte sie wie die Oberfläche eines winzigen Teiches, der mit rötlichem Wasser gefüllt war – oder mit Blut. Und darauf … zeigte sich ein Bild. »Mein Dorf«, flüsterte Makootemane erschrocken. »Was ist geschehen? Es ist –!« Obwohl die Szenerie miniaturisiert war und unscharf, konnte man doch erkennen, daß die Zelte verlassen waren. Einige waren eingestürzt, andere zerrissen. »Was ist mit meinem Stamm geschehen?« fragte Makootemane fast tonlos. »Ich hatte dich gewarnt«, erinnerte Chiyoda. Der Arapaho schien ihn kaum zu hören. Seine Züge erstarrten unter neuer Anstrengung, als er seine Gedanken auf ein neues Ziel konzentrierte. Die Szene auf der Frucht verschwamm, als habe man einen Stein in eine Wasserspiegelung geworfen. Dann verliefen sich die Wellen. Und ein neues Bild gewann Kontur –
Makootemane schrie auf! So plötzlich und heftig, daß Chiyoda erschrocken zurückfuhr. Er hatte nur einen flüchtigen Blick auf jenes neue Bild erhaschen können. Ein Mann war zu sehen gewesen – dessen Leid er nicht hätte teilen wollen …! »Was ist?« fragte er den Arapaho. Makootemanes Griff verstärkte sich wie im Krampf. Seine dürren Finger gruben sich durch die Schale und ins Fleisch der Frucht. Rot wie Blut quoll ihr Saft ihm aus der Faust. »Dieser Mann –«, setzte er keuchend an, »– er muß Höllenqualen erdulden. Und ich kann ihm nicht beistehen …« »Wer ist –«, begann Chiyoda und verbesserte sich dann mit Blick auf die zerdrückte Frucht in Makootemanes Hand, »– wer war er?« »Mein Sohn«, antwortete der Arapaho. »Mein liebster Sohn.« Er schluckte hart. »Wyando«, ergänzte er dann mit fast erstickter Stimme. »Hidden Moon …«
* Wochen zuvor Italien, nahe Rom »Ciao, Mamma.« Lucia Goldoni schluckte heftig. Den stacheligen Kloß, der ihr mit einemmal im Hals saß, wurde sie damit allerdings nicht los. Zwei einsame Tränen rannen ihr warm links und rechts über die Wangen. »Nun wein du nicht auch noch«, bat Lucias Mutter, ebenso angestrengt wie vergeblich bemüht, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Ihre Augen schienen wie mit flüssigem Glas überzogen, so sehr schwammen sie in Tränen ob des Abschieds von ihrer Tochter. Lucias Vater stand derweil schweigend neben Frau und Kind. Seine Miene war wie versteinert, nur seine Wangenmuskeln zuckten arhythmisch.
Sein Blick jedoch war so starr geradeaus gerichtet, als interessierten ihn das geschäftige Hin und Her und das Stimmengewirr im Abfertigungsbereich des Flughafens Leonardo da Vinci sehr viel mehr als der Abschied von seiner Tochter. Lucia griff nach seinen Händen und sah zu ihm auf. »Papa, bitte –«, setzte sie leise an, schluckte wieder und fuhr dann fort: »Bitte, wünsche mir alles Gute, Papa –« »Du weißt, was ich mir wünsche«, erwiderte Paolo Goldoni hart, ohne seine Tochter anzusehen. Lucia nickte. »Ja. Aber du weißt, daß mein Entschluß feststeht. Ich möchte etwas aus meinem Leben machen, und dazu muß ich –« »Gar nichts mußt du«, fiel Paolo Goldoni ihr ins Wort. »Du kannst auch hier etwas aus deinem Leben machen! Heirate und werde –« »– Mutter von mindestens fünf bambini?« unterbrach ihn Lucia nun ihrerseits. Sie lachte bitter auf. »Nein, Papa, das ist es nicht, was ich vorhabe. Und ich wollte, du würdest meine Pläne respektieren.« »Wie könnte ich das, wo du unsere Familie zerbrechen läßt?« »Das tue ich nicht!« Lucia wurde so laut, daß vorbeigehende Leute die Köpfe umwandten. Noch immer ließen Tränen die dunklen Augen der jungen Römerin schimmern, dahinter jedoch begann das Feuer des Zorns zu flackern. »Ich verlasse euch doch nicht für immer«, sprach sie dann weiter, angestrengt um Beherrschung kämpfend. »Aber in Paris zu studieren, das ist eine Chance –« »In Paris studieren«, sagte ihr Vater leise. »Und wohin wirst du dann gehen? Noch weiter weg.« Paolo Goldinis Ton klang so verbittert, als wolle er ausspucken. Fast instinktiv wich Lucia einen kleinen Schritt zurück. »Unsinn!« erwiderte sie dann aufgebracht. »Ich werde immer wieder zu euch zurückkommen, wohin mein Weg mich auch führen wird.« »Irgendwann wird dir dieser Weg zu weit sein«, prophezeite ihr
Vater düster. Lucias Mutter schluchzte. »Paolo, ich flehe dich an – mach uns die Sache doch nicht noch schwerer, als sie es schon ist! Warum kannst du dem Kind nicht deinen Segen geben?« »Weil mir die Familie heilig ist, Gina, und ich es nicht gutheißen kann, wenn sie zerrissen wird!« »Du bist es, der sie zerreißt!« warf sie ihm vor, und plötzlich klang die kleine rundliche Frau nicht mehr weinerlich, sondern fast schon kämpferisch. Paolo Goldini sah regelrecht erstaunt auf seine Gattin hinab, und sie funkelte ihn förmlich an. Inzwischen waren die ersten Leute um sie her stehengeblieben; ausnahmslos ausländische Passagiere, die kurz vor ihrem Abflug noch auf ein original italienisches Familiendrama hofften. »Mit deiner Hartherzigkeit und deinem Dickkopf wirst du Lucia ganz und gar vertreiben! Meinst du, sie wird je zurückkommen wollen, wenn du dich so verhältst?« fragte Gina Goldini. Sie wandte sich ihrer Tochter zu: »Ich jedenfalls wünsche dir viel Glück und alles Gute in der Ferne, mein Liebes. Auch wenn es mir schwerfällt, dich gehen zu lassen.« Lucia sah zu ihrem Vater auf. »Und glaubst du, es fällt mir leicht, euch zu verlassen? Das tut es nicht, ganz gewiß nicht.« Paolo Goldinis steinerne Maske begann zu bröckeln. Das Zucken seiner Wangen wurde heftiger, und er blinzelte, als sei ihm ein Staubkorn ins Auge geraten. Der Flug nach Paris wurde aufgerufen, die Passagiere gebeten, sich am Abfertigungsschalter einzufinden. Lucia nahm ihre beiden Koffer auf. »Ich muß gehen«, sagte sie. Gina Goldini drückte ihre Tochter noch einmal fest an ihr Herz. Ihr Blick sagte mehr, als jedes Wort es vermocht hätte. »Ich liebe euch«, sagte Lucia leise, »ich liebe euch beide, mehr als ich alles auf der Welt je lieben werde.«
Sie wollte sich umdrehen, doch eine kräftige Hand hielt sie zurück. Und dann riß Paolo Goldini seine Tochter regelrecht in seine Arme. »Vergiß uns nicht«, flüsterte er in ihr schwarzes, duftendes Haar. Sein warmer Atem ließ Lucia erschauern, ihr Herz schlug schneller. Und der Kloß in ihrem Hals schien ihre Kehle von innen heraus sprengen zu wollen. Kein Wort brachte sie mehr hervor, und so blieb ihr nur, lächelnd zu nicken, während von neuem Tränen über ihr Gesicht liefen. »Nun geh schon«, sagte Paolo Goldini rauh. »Und komm wieder, wann immer du willst – nur … tu es bald, ja?« »So bald wie möglich«, erwiderte Lucia, kaum verständlich. Rückwärts gehend und mit kleinen Schritten entfernte sie sich, bis sie sich in die Reihe der wartenden Passagiere am Abfertigungstresen einreihen konnte. Die Eltern verschwanden in der Menge – und Lucia fühlte sich nicht halb so gut, wie sie es sich seit Wochen vorgestellt hatte, wenn sie an ihren ersten Schritt in ein neues Leben dachte. Paris und das Studium dort hatten zwar nichts von ihrem Reiz verloren – aber der Abschied von ihrer Familie und von Rom waren schlimmer, als sie es vermutet hatte. Obwohl – das traf den Punkt noch nicht einmal richtig: Denn im Grunde genommen hatte sie diesen Abschied in all der Zeit stets aus ihren Gedanken verbannt, eher unbewußt denn mit Absicht. Jetzt wußte sie, warum … Die Formalitäten an der Abfertigung gingen rasch vonstatten, die beiden Koffer entschwanden auf dem Transportband, und wenig später saß Lucia auf einem leidlich bequemen Stuhl in einem der Warteräume des Flughafens Leonardo da Vinci, der in Fiumicino lag, knapp dreißig Kilometer nördlich von Rom. Der Flug nach Paris konnte nicht ganz ausgebucht sein, denn die Anzahl der Menschen, die darauf warteten, in die Maschine einsteigen zu können, war überschaubar. Zum allergrößten Teil schien es sich um Geschäftsreisende zu handeln. Viele der gutgekleideten
Männer, die meisten im sogenannten besten Alter, waren in irgendwelche Akten oder Wirtschaftsmagazine vertieft – – nur einer fiel aus der Reihe … Lucia fröstelte, ohne recht zu wissen, weshalb. Sie wollte den Blick abwenden von jenem einen Mann, aber sie konnte es nicht. Als hielte etwas wie eine unsichtbare Hand ihr Kinn fest, die es ihr unmöglich machte, den Kopf zu bewegen. Der andere erwiderte ihren Blick. Auf so eigenartige Weise, daß Lucia sich von seinem Blick förmlich berührt, beinahe seziert fühlte. Das Gefühl währte so lange, bis der Mann lächelte. So übergangslos, als hätte er dieses Lächeln buchstäblich angeknipst. Lucia verzog ebenfalls die Lippen, doch verriet ihr Lächeln vor allem Unsicherheit und – ja, was eigentlich? Wieder schauderte sie. Aber diesmal war es nicht von unangenehmer Art; eher rührte es von einem hitzigen Schauer her, der sie durchlief, plötzlich und so heftig, daß Lucia unruhig auf ihrem Sitz hin und herrutschte. Der Mann dort unterschied sich von den anderen. Seine Erscheinung ließ ihn nicht unbedingt wie einen Geschäftsmann wirken. Er machte einen – Lucia suchte nach dem richtigen Wort, fand es nicht und entschied sich dann für – exotischen Eindruck mit seinem langen dunklen Haar, seinem bronzenen Teint und seinen fremdartigen Zügen. Fast wie ein Indianer, meinte Lucia im Stillen. Nur sein teurer Anzug stand diesem Vergleich entgegen. Aber das Mädchen ertappte sich bei der Vorstellung, wie der Mann wohl in der traditionellen Kleidung eines Indianerstammes aussehen würde. Am besten, dachte sie, nur mit einem Lendenschurz bekleidet – oder mit noch weniger … Noch immer gelang es ihr nicht, den Blick von ihm abzuwenden, obwohl sie sich selbst von ihm bei ihren sündigen Gedanken erwischt fühlte. Zumindest aber schaffte sie es, die Lider zu schließen, als
sie errötete – und noch unruhiger wurde. Ganz kurz dachte sie an ihren Vater, und das ernüchterte sie für den Moment. Er hätte sie vermutlich umgebracht oder zumindest in den Keller geschleift und dort im hintersten Verschlag eingesperrt, hätte er gewußt, was sein Töchterlein sich gerade ausgemalt hatte. Denn damit entsprach sie ziemlich genau seinen Vorstellungen davon, was sie in Paris treiben würde – und nun war es schon auf dem Flughafen von Rom soweit …! Wieder meinte Lucia, von etwas Unsichtbarem berührt zu werden. Es hob ihre Lider, gegen ihren Willen, und von neuem begegnete ihr Blick dem des Fremden, der wie das fleischgewordene Klischee des Latin Lovers aussah. Aber da war noch etwas an ihm – etwas, das ihn wie das Gegenstück zu einem Glorienschein zu umgeben schien: dunkel anstatt hell, alles Licht schluckend; etwas wie ein – Lucia konnte es nicht anders bezeichnen – unsichtbarer Schatten, der nichts mit dem Lichteinfall zu tun hatte. Einen zeitlosen Moment lang wünschte Lucia sich, der andere möge zu ihr herkommen, um sich auf den freien Platz neben ihr zu setzen; zugleich aber fürchtete sie sich davor, er könnte es wirklich tun, wenn er ihr den Gedanken vom Gesicht ablas. Und daß er dazu fähig war, davon war sie einfach überzeugt. Nicht, weil sie ihm das entsprechende Talent zugesprochen hätte, sondern weil schlicht jeder ihrer Gedanken sich in ihren Zügen widerspiegeln mußte. Und tatsächlich erhob sich der Fremde von seinem Stuhl! Lucia erstarrte. Und die Lähmung wich nur quälend langsam aus ihr, als der andere sich, wenn auch nach einem Moment scheinbaren Zögerns, abwandte und dem mehrsprachigen Hinweisschild zu den Toiletten folgte. Nicht jedoch ohne Lucia noch einen langen Blick zuzuwerfen – – als wolle er sie auffordern, ihm zu folgen? »Du spinnst ja«, entfuhr es ihr leise, aber immer noch laut genug, daß die am nächsten sitzenden Männer es hören konnten und Lucia
konsterniert ansahen, ehe sie sich wieder ihrer Lektüre widmeten. Peinlich berührt wollte Lucia in ihrem Stuhl versinken, doch statt dessen – stand sie auf! Und ging in die Richtung des Toilettenbereichs. Wie von selbst bewegten sich ihre Füße. Und ihr Kopf schien völlig frei von jedem Gedanken zu sein. Erst als ihre Hand auf der Klinke der Tür zur Herrentoilette lag und sie selbst sich hastig nach allen Seiten umsah, ob jemand sie beobachtete, kam ihr zu Bewußtsein, was sie da eigentlich zu tun im Begriff stand. Fast hätte Lucia noch aufgeschrien vor Schreck, und sie ließ die Klinke so plötzlich los, als sei das Metall plötzlich glühend heiß. Sie wollte zurückweichen, aber sie hatte den Schritt noch nicht getan, als die Tür auch schon von innen geöffnet wurde. Ein Arm streckte sich durch den Spalt, eine Hand packte Lucia und zog sie in den Raum dahinter. Alles ging so schnell vonstatten, daß sie noch nicht einmal den Gedanken fassen konnte, sich zur Wehr zu setzen. Abgesehen davon, daß sie es gar nicht wollte … Die Tür klappte ins Schloß, als Lucia dagegengedrängt wurde. Ein metallisches Klicken verriet, daß sie abgesperrt wurde. Wie der andere dieses Kunststück bewerkstelligte, wußte das Mädchen nicht – denn sie spürte in diesem Moment schon seine beiden Hände an ihrem Körper … »Wer –?« begann sie keuchend. »Was –?« Die Gedanken rasten hinter ihrer Stirn – und flohen ins Nichts, kaum daß sein Blick den ihren traf. »Pssst«, zischte er. Sein kalter Atem zog eine Spur wie aus Reif über ihre Wange, die seine nachstreichende Zunge nicht schmelzen ließ, sondern nur noch beißender in ihre Haut trieb. Lucia stöhnte auf. Ihre Knie begannen zu zittern und wollten nachgeben, doch der Fremde verhinderte ihren Fall. Sein Knie drängte zwischen ihre Schenkel, so daß sie davon gestützt wurde.
Ihr ohnehin nur kurzer Rock rutschte hoch, während der andere mit beiden Händen nach Lucias Hinterteil langte und sie dazu brachte, auf seinem Knie vor und zurück zu rutschen. Ein wohliger Schrei wollte Lucia entfleuchen; sie hielt ihn zurück, indem sie ihre Schneidezähne fest in die Unterlippe grub. Ein winziger Blutstropfen trat hervor, saß schimmernd wie eine Perle auf der kleinen Wunde. Ein grollender Laut, der Lucia in jeder anderen Situation erschreckt oder gar entsetzt hätte, stieg aus der Kehle des anderen auf, als halte sich dort ein hungriges Tier versteckt. Hier und jetzt aber fühlte das Mädchen sich durch den Ton nur noch stärker erregt. Mit zitternden Fingern fuhr sie über seinen Nacken. Was ist das? flüsterte es in ihrem Denken. So weich – wie Federflaum … Doch der Gedanke verging in Lust. Ihre Finger glitten über seine Brust und tiefer, bis sie den Bund seiner Hose erreichte. Ungeschickt begann sie Knöpfe und Reißverschluß zu öffnen. Darunter trug der Fremde – nichts. Sein hartgeschwollenes Glied drängte sich förmlich in Lucias Griff, pochend und – kalt? Ihre Irritation währte nicht länger als eine halbe Sekunde und verging vollends unter dem Geräusch, mit dem ihr Höschen riß. Ganz kurz nur berührte die Spitze seines Gliedes ihren Schoß, teilte die Lippen, und Lucia wünschte sich nichts sehnlicher, als daß er in sie drang. Sie bat, ja flehte darum, daß er es endlich tat – – aber er lachte nur heiser und dunkel in einem und hob sie hoch. Schwungvoll drehte er sich mit seiner vor Lust fiebernden Last herum und setzte Lucia dann auf dem gekachelten Absatz zwischen den Waschbecken ab. Die Kühle der Fliesen an ihrem nackten Gesäß ließ das Mädchen erneut frösteln, aber dann schien die Hitze ihres eigenen Leibes selbst auf die Kacheln überzugehen, so daß sie meinte, auf einer heißen Herdplatte zu sitzen. Lucia lehnte sich zurück, so gut es ging. Mit beiden Händen tastete sie zu ihrer Scham hinab und ihre Finger stimulierten jene empfind-
lichen Stellen, die sie im zarten Mädchenalter schon ausfindig gemacht hatte. »Komm«, gurrte sie, »bitte, komm endlich zu mir!« Der Fremde aber nahm sich noch die Zeit, Lucias Bluse zu öffnen; den spitzenbesetzten Büstenhalter darunter jedoch zerriß er so ungestüm, wie er es schon mit ihrem Slip getan hatte. Die Höfe ihrer Brustwarzen waren dunkelrot vor Erregung. Mit einem gutturalen Laut stürzte der andere sich über Lucia. Seine Lippen schlossen sich erst um die Spitze ihrer rechten Brust, dann um die der linken, unter der das Herz zum Zerspringen klopfte. Lucia juchzte, als er endlich in sie glitt. Nie zuvor hatte das Mädchen den Geschlechtsakt in solcher Allgewalt erlebt, daß sie meinte, explodieren zu müssen, noch bevor es richtig begonnen hatte. In ihr brannte ein Feuer, heftiger und heißer, als jedes irdische es sein konnte. Sie glaubte zu vergehen, und sie begrüßte den Gedanken an solches Sterben wie den besten Freund – denn wie hätte irgendein Tod süßer sein können als jener, der sie jetzt überkommen wollte? Der pralle Pfahl des Fremden stieß vor. Lucia stöhnte wieder, vor echtem Schmerz diesmal; brennend zog er sich über ihre Brüste, als hätte etwas Spitzes sie dort verletzt. Und tatsächlich gewahrte sie dünne Blutstriemen, als sie hinsah. Aber der Schmerz war erträglich, und zudem schien der Anblick ihrer Wunden den Fremden in noch wildere Raserei zu treiben – was ihr selbst nur zum Vorteil gereichte. Boden und Wände schienen um sie her zu erbeben. Lucia griff mit den Händen über ihre Schultern nach hinten, um sich abzustützen. »Ja, ja, ja«, flog es über ihre Lippen, und dann schließlich: »Jaaaa!« Ihr Blut schien zu kochen und die Adern sprengen zu wollen. Nun ganz und gar wie ein Tier warf sich der Fremde nach vorne und über Lucia. Sein Gesicht mit einemmal – anders! Entstellt? Die Fratze einer Bestie! Gebleckte Fänge blitzten durch Lucias Blickfeld und verschwan-
den, als der andere das Gesicht an ihrem Hals barg. Etwas berührte die Haut dort, kalt und nadelspitz, schon jetzt schmerzhaft, da er noch gar nicht – zugebissen hatte? Dio mio! durchfuhr es Lucia. Die Hitze der Lust verwandelte sich in eisiges Entsetzen, das sie lähmte bis ins kleinste Fingerglied. Was geschieht hier nur? Was tut dieses Monster mit mir? Herr im Himmel – ich flehe dich an: Hilf mir! Und Hilfe kam. Wenn auch nicht von Seiten des Himmels …
* Die Tür flog auf. Das Schloß zerplatzte förmlich, ohne daß die Verriegelung auf konventionelle Art und Weise gelöst worden wäre. Eine für Lucia nur als Schatten zu erkennende Gestalt stürmte herein, solchen Wind entfachend, daß die Tür hinter ihr wieder zuschlug und zublieb – trotz des zerstörten Schlosses … Der halbnackte Fremde über Lucia allerdings schien sich an alldem nicht zu stören. Er wich nicht von ihr, schien fest entschlossen, zu Ende zu bringen, was er gerade erst beginnen wollte. Widerlich geifernde und keuchende Laute krochen aus seiner Kehle empor und, als seien sie lebende Kreaturen, auf dürren Beinen über Lucias Hals, stechend kalt wie aus blankem Eis. Das Mädchen wollte schreien, doch fehlte ihr der Atem. Das Gewicht des anderen hatte ihr alle Luft aus den Lungen gepreßt, und so lag sie nun da, stumm die Lippen bewegend wie ein Fisch auf dem Trockenen – – bis ihre Schreie plötzlich doch laut wurden und sich an den gefliesten Wänden des Raumes brachen. Weil der Fremde von kräftigen Händen von ihr herabgezerrt und brutal in eine Ecke geschleudert wurde – Von kräftigen Händen? Verwirrung löste den Schrecken in Lucias
Miene übergangslos ab. Wie konnte geschehen, was unzweifelhaft geschehen war? Wie konnte dieser andere ihrem Peiniger überlegen sein? Denn er war doch nicht mehr als – – ein Knabe? Nun, wie auch immer – ein Teufelsbursche ist er auf jeden Fall, wenn er solchen Mut und solche Stärke besitzt, dachte Lucia, seltsam nüchtern – und nicht wissend, wie nahe sie der Wahrheit damit kam … … wie sie so vieles nicht länger wußte, kaum daß sie dem Jungen, der nicht älter als Fünfzehn, allenfalls Sechzehn sein konnte, eine Sekunde lang in die nachtfarbenen Augen gesehen hatte. »Dies hier ist die Herrentoilette, Signorina«, sagte er lächelnd und in akzentfreiem Italienisch. Sein Tonfall war pure Überzeugung: »Sie müssen sich wohl in der Tür geirrt haben.« »J-ja, n-natürlich«, erwiderte Lucia. »Mi … mi dispiace. Scusi, Signor …« Wie um alles in der Welt, fragte sie sich, bin ich nur hier hereingekommen? Ebenso verzweifelt wie verwirrt blickte Lucia um sich. Die Situation war ihr unendlich peinlich. Und es wurde noch schlimmer, als sie sich bewußt wurde, daß sie fast nackt zwischen den Waschbecken saß. Eilig rutschte sie von den Fliesen herunter und versuchte fahrig, ihre Kleidung in Ordnung zu bringen. »Gehen Sie jetzt«, forderte der Knabe sie auf, »und – vergessen Sie, was hier geschehen ist, ja?« »Geschehen? Was soll geschehen sein?« fragte Lucia mit nicht gespielter Naivität. »Eben – gar nichts.« Der Junge öffnete die Tür und wies hinaus. Lucia ging, aber weder beeilte sie sich, noch wirkte sie, als würde sie sich für etwas schämen. Sie erweckte ganz den Anschein, als sei nichts gewesen – und genauso war es für sie auch …
* Gabriel schloß die Tür und wandte sich dann Hidden Moon zu. Der Arapaho kauerte nach wie vor in der Ecke, in die er geschleudert worden war, und er erinnerte noch immer an ein Tier – nicht mehr jedoch an eine entfesselte Bestie; eher an einen geprügelten Hund, der Angst vor seinem Herrn hatte. Und tatsächlich trat der Knabe nach Hidden Moon! Die Wucht des Trittes ließ ihn sich regelrecht zusammenkrümmen. Doch als er wieder aufsah, glänzten kaum verhalten Zorn und Haß in seinen dunklen Augen. »Bist du vollends von Sinnen?« fuhr Gabriel ihn an. Seine Stimme widersprach seinem Äußeren, war die eines Erwachsenen, dunkel und dröhnend zugleich. »Habe ich dir nicht klare Order gegeben, was dein Verhalten anbelangt?« »Ja«, antwortete der Arapaho, »das hast du. Aber ich konnte nicht widerstehen – dieses Mädchen war so verlockend …« »Vielleicht sollte ich dich kastrieren«, überlegte der Knabe ganz ernsthaft, »gleich hier und jetzt. Vielleicht besinnst du dich dann darauf, deinen Kopf zum Denken zu benutzen und nicht deinen –« »Es wird nicht wieder vorkommen«, beeilte sich Hidden Moon zu versichern. »Dafür werde ich ohnehin Sorge tragen. Keine Sekunde werde ich dich mehr aus den Augen lassen«, erklärte Gabriel. »Ich habe dich nicht aus purer Freundlichkeit mit unauffälliger Garderobe ausstaffiert – du sollst darin auch unauffällig bleiben. Ich möchte kein Aufsehen, weder hier noch jetzt. Alles zu seiner Zeit …« Er wies bezeichnend auf die Kleidung des Arapaho; das Hemd stand offen, die Hose hing ihm um die Knie. »Zieh dich endlich an, und dann laß uns gehen. Es wird Zeit. Das Flugzeug nach Paris wird nicht auf uns warten – weil man nicht
weiß, welch hoher Gast sich die Ehre gibt.« Hidden Moon tat, wie ihm geheißen. Auf einen prüfenden Blick in den Spiegel mußte er seiner Natur gemäß verzichten. Das geschliffene Kristallglas zeigte nur Gabriel, nicht jedoch ihn, den Vampir, der er nach wie vor war – wenn auch gänzlich aus der Art geschlagen … … seit der Odem der Hölle ihn gestreift hatte. Ein mysteriöses Tor war in den Tiefen des Bergklosters Monte Cargano geöffnet worden, für ganz kurze Zeit nur. Der Sog des Höllenschlundes hatte Lilith Eden und ihren Erzfeind Landru verschlungen, Hidden Moon jedoch hatte der Kraft widerstanden. Dafür aber hatte ihn die finstere Macht vergiftet und zu ihrem Diener gemacht, als der er aus Monte Cargano entkommen war.* Dreihundert Jahre lang war Wyando, wie der Arapaho von seines Stammesgeschwistern genannt wurde, der dunklen Triebe eines Vampirs ledig gewesen, weil sein Seelenadler das Böse gleichsam aus ihm gefiltert hatte. Vor einiger Zeit hatte Lilith Eden diese Rolle übernommen – sie hatte zwar Hidden Moons Adler getötet, doch dessen Aufgabe war auf sie übergegangen. Solange sie also in seiner Nähe war, konnte der Arapaho alles Böse in Lilith ableiten; nun aber war sie verschwunden, unerreichbar fern – und Hidden Moon der Macht des Anti-Christen selbst ausgeliefert. In der Umgebung des Klosters hatte der Vampir ausgeharrt, dem Flüstern seines vergifteten Blutes gehorchend. Bis dieses Flüstern ihn zurück nach Monte Cargano gerufen hatte, wo sein neuer Herr ihn erwartete – – das Kind. Gabriel. Der Leibhaftige! In Adlergestalt hatte er seinen Meister dort aufgenommen, der sich selbst verwandelt hatte ins Sinnbild der Unschuld – in ein Zick-
*siehe VAMPIRA T17: »Der Hort der Wächter«
lein –, und ihn fortgetragen. * Nach Rom, wo sie nun ein paar Tage zugebracht hatten, in denen Gabriel einige Nachforschungen anstellte, über deren Details er sich jedoch in Schweigen hüllte. Der teuflische Knabe hatte noch längst nicht seine ganze Kraft entfaltet, wohl aber wußte er nun endlich, wer er war – und was er dereinst sein würde. Wenn er erst einmal zum Manne gereift war, dann würde er der Satan selbst sein. Und bis dahin wollte er sich die Welt bereitet haben, auf daß das Böse triumphierte. Was Gabriel zu diesem Zwecke unternahm und wie seine Ziele im einzelnen aussahen, darüber hatte er Hidden Moon nichts verraten. Nur über eines hatte er ihn nicht im Unklaren gelassen – daß er nichts anderes war als lediglich ein Diener, eher weniger noch: ein Werkzeug nur, dessen der Knabe sich bediente. Irgendwann würde der Punkt gekommen sein, da er seiner Hilfe nicht mehr bedurfte. Und dann … Hidden Moon hoffte, daß dieser Punkt noch in der Ferne lag. Und daß ihm zur rechten Zeit etwas einfallen würde, wie er sein Schicksal wieder in eigene Hände nehmen konnte. Denn obwohl sein Leben sich grundlegend verändert, ja ins Gegenteil verkehrt hatte, hing er noch immer daran. Fast sogar mehr noch als je zuvor, weil es von neuem Sinn erfüllt war. Ihm zu folgen, würde er nie müde werden. Und wenn er sich erst einmal der Zügel seines Herrn entledigt hatte, würden seinem Treiben, seiner Grausamkeit, seiner neuen Kraft keine Grenzen mehr gesetzt sein. Bis dahin jedoch – »Komm mit«, störte Gabriel seine Überlegungen. Hinter dem Knaben – wie er selbst in teuren Zwirn gewandet, den sie sich in Rom auf den Leib hatten schneidern lassen – trat Hidden Moon aus dem Waschraum und kehrte zurück in die Wartelounge. Das Mädchen saß auf demselben Platz wie zuvor, das Haar noch immer ein wenig unordentlich, ebenso die Kleidung. Drei, vier Män*siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen«
ner hoben den Blick, als der Knabe und der Arapaho zurückkehrten, sahen anzüglich erst auf diese beiden und dann zu Lucia Goldini hin. »Kümmert euch um euren Scheiß!« zischte Gabriel ihnen zu – und sie gehorchten: Synchron steckten sie ihre Nasen zurück in die Magazine und Akten, während ihnen feiner Schweiß auf die Stirn trat. »Gut so«, lobte Gabriel. Ehe er und sein Diener Platz nehmen konnten, wurde ihr Flug aufgerufen. Sie ließen die anderen vor und traten als Letzte an die Paßkontrolle. »Ihre Pässe bitte«, wurden sie von der uniformierten Matrone am Ausgang aufgefordert. »Wir brauchen keine Pässe«, erklärte Gabriel mit Unschuldsmiene und in lammfrommen Ton. »Sie brauchen keine Pässe«, wiederholte die Frau. »Wir können passieren«, sagte der Knabe. »Sie können passieren.« »Los.« Der Arapaho folgte Gabriel durch den Tunnel, der sie direkt in die Maschine brachte. Bei der Platzzuweisung wiederholte der Knabe das Spielchen von eben. »Oh, welch nette Gesellschaft«, rief Gabriel erfreut aus, als man sie bat, neben einem jungen Mädchen Platz zu nehmen. »Was führt Sie nach Paris, Signorina, wenn die Frage erlaubt ist?« fragte er, als er saß – wohlweislich den Sessel zwischen Lucia Goldini und Hidden Moon in Beschlag nehmend. »Das Studium«, erwiderte das Mädchen lächelnd. »Zum ersten Mal von zu Hause fort?« betrieb Gabriel weiter harmlose Konversation. Lucia nickte und seufzte. »Dann passen Sie nur gut auf sich auf, Signorina – Paris kann die Hölle sein«, sagte Gabriel, sein ganz besonderes Lächeln aufsetzend,
das alles über seine Herkunft verriet – wenn man ihn kannte und bereit war, an die Existenz der Teufels zu glauben … »Warum fliegen wir eigentlich mit – so einer Maschine?« fragte Hidden Moon leise, als die Unterhaltung zwischen Gabriel und Lucia eingeschlafen und das Flugzeug bereits gestartet war. Alles Technische war ihm, der drei Jahrhunderte lang in erster Linie im Einklang mit der Natur gelebt hatte, noch immer suspekt. »Genügt deine Macht nicht, um uns einfach so –«, der Arapaho schnippte bezeichnend mit den Fingern, »– nach Paris zu bringen?« »Wozu denn Kräfte verschwenden, wenn es so bequeme Arten des Reisens gibt?« knurrte Gabriel aus dem Mundwinkel zurück. Schnurrend wie ein zufriedenes Kätzchen schmiegte er sich in die Polster des Sessels. »Ich werde mir jetzt etwas Ruhe gönnen. Und du behältst hübsch deine Hände und Zähne bei dir«, meinte er mit unauffälligem Blick in Lucias Richtung. »Wenn nicht«, fügte er drohend hinzu, »werde ich dir beweisen, daß meine Macht –«, er schnippte mit den Fingern, »– zumindest genügt, um dich dorthin zu transportieren.« Er sah wie zufällig durch das kleine Fenster, und sein Blick fiel auf die gewaltigen Triebwerke. »Alles klar?« »Si«, murmelte Hidden Moon. »Bene«, nickte Gabriel und schloß die Augen.
* Paris Strömender Regen spülte das Blut in die klaffenden Lücken des Gassenpflasters. Die Nacht breitete ihr Dunkel barmherzig über die Toten, die schon zu Lebzeiten vom Leben ausgeschlossen waren. Vor Hidden Moons Augen jedoch konnte die Nacht nichts verber-
gen. Für seinen vampirischen Blick, der selbst geringstes Licht zu nutzen verstand, schien das ganze Szenario wie in Blut gemalt. Und er selbst war der Künstler, der dieses grauenhafte Werk geschaffen hatte … »Bist du satt?« kam es fragend aus der Nacht. Gabriel hatte sich ein Stück abseits gehalten, während der Vampir weiter in das Gassengewirr nahe der Seine vorgedrungen war, dorthin, wo jene ein Zuhause gefunden hatten, die von der Gesellschaft verstoßen wurden. Clochards wurden sie weithin genannt; doch Gabriel hatte schon in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes hier festgestellt, daß ein anderer Ausdruck sie eher bezeichnete – Freaks. Denn es waren beileibe nicht nur gewöhnliche Obdachlose, die sich hierher verkrochen … Hidden Moon, wieder in menschliche Gestalt zurückverwandelt, nachdem er als Adler in die Gassen eingefallen war, nickte und erhob sich. Sein Anzug klebte ihm längst am Leibe, klatschnaß nicht mehr allein vom Regen, der ihm das Blut in Schlieren aus dem Gesicht und von den Händen wusch. »Was soll mit ihnen geschehen?« fragte der Arapaho durch das Rauschen des Regens und zeigte hinab auf die drei ausgesaugten Leichen. »Wollen wir sie einfach hier liegenlassen?« Der Knabe, so trocken, als weigere der Regen sich, ihn zu berühren, trat zu seinem Diener. »Natürlich nicht«, antwortete er. »Ich sagte doch – kein Aufsehen. Noch nicht. Noch lange nicht.« »Wohin also mit ihnen?« »Faß an«, befahl Gabriel. Gemeinsam packten sie die Toten und schleiften sie zum nahen Seineufer, das an dieser Stelle vor langer Zeit einmal befestigt gewesen sein mochte. Inzwischen aber waren Stein und Beton weitgehend abgebröckelt oder zumindest brüchig geworden, so daß jeder Schritt zum Risiko geriet.
»Du willst sie einfach in den Fluß werfen?« wunderte sich Hidden Moon. »Da wird man sie doch finden!« »Nicht, wenn ich die Gesetze der Physik ein wenig zu unseren Gunsten beeinflusse«, erklärte Gabriel. »Ich muß nur –«, er wuchtete den ersten Leichnam über den Uferstreifen,»– das Wasser überzeugen, daß der Körper schwer wie Stein ist.« Mit lauten Platschen schlug der Tote ins Wasser, das an just dieser Stelle für einen winzigen Moment in glühendem Rot aufleuchtete – und augenblicklich versank der Körper darin, so rasch, als sei er aus Granit gemeißelt! Das gleiche Phänomen wiederholte sich auch bei den beiden anderen Toten. »Du siehst«, sagte Gabriel, »ein Kinderspiel – wenn man weiß, wie’s geht.« Er blinzelte seinem Diener verschwörerisch zu. »Und nun komm mit.« Gabriel ging dem Arapaho voraus, führte ihn so sicher durch das Gassenlabyrinth, als kenne er es schon seit langer Zeit. Während der Knabe kaum einen Blick nach links oder rechts warf, ließ Hidden Moon sich immer wieder ablenken von dem, was sich in den Schatten tat. Gefahr indes drohte ihnen zu keiner Sekunde – im Gegenteil, als spürten jene, die dort im Dunkeln hausten, wer oder vielmehr was da kam, zogen sie sich nur noch tiefer zurück, harrten reglos aus, bis der teuflische Knabe und sein Vasall vorübergegangen waren. Ein ums andere Mal meinte der Vampir förmlich zu fühlen, wie Erleichterung sich hinter ihnen breitmachte. »Wohin gehen wir?« fragte er nach einer Weile. »Hier entlang«, sagte Gabriel knapp und wies in einen besonders schmalen Durchlaß zwischen zwei einsturzgefährdeten Bauten, die seit Jahrzehnten nicht mehr offiziell bewohnt sein konnten. Am Ende der engen Sackgasse stießen sie auf ein Loch in der Ziegelmauer, die den Weg dort abriegelte. Gabriel schlüpfte hindurch, Hidden Moon folgte ihm seiner Größe wegen etwas mühevoller
nach. Sie befanden sich in einem winzigen Raum, dessen einziger Zugang verschüttet war. Nur eine Treppe, schief und wacklig, führte in die Tiefe hinab. An ihrem unteren Ende tauchten die beiden in ein regelrechtes Labyrinth aus Gängen und Stollen ein, aber auch hier fand Gabriel mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit seinen Weg. Weil von nirgendwoher auch nur der geringste Lichtschimmer herabfiel, entzündete Gabriel eine Flamme in seiner bloßen Hand, deren Licht strahlend hell das Dunkel vertrieb. Ratten nahmen fiepend Reißaus, und Käfer von geradezu monströser Größe flohen mit den Schatten. Hidden Moon konnte trotz des Lichtes nur feststellen, daß dieser Weg sie immer weiter in die Tiefe führte; ansonsten hatte er die Orientierung nahezu verloren, weil jede Gangbiegung der vorherigen ähnelte, und manches Mal meinte er, sie würden nur im Kreise laufen. Gabriel hieß seinen Diener, durch eine weitere Maueröffnung zu kriechen, folgte ihm dann nach, und als sein Licht die Umgebung aus der Finsternis riß, erkannte Hidden Moon, daß sie sich in einem hohen Tunnel befanden, der sich beiderseits ins Endlose zu erstrecken schien. Entlang seiner Mitte schimmerten zwischen Schutt und Geröll metallene Stränge, die dem Tunnelverlauf in beide Richtung folgten. »Was ist das?« wollte Hidden Moon wissen. »Wo sind wir hier?« »Im Untergrund«, erwiderte Gabriel. »In einem aufgegebenen Stollen der Pariser Metro.« »Metro?« Mit dem Begriff wußte der Arapaho nichts anzufangen. »So nennt man hier die U-Bahn. Subway, du verstehst?« Darunter konnte der Vampir sich zumindest etwas vorstellen, auch wenn er selbst nie mit einer solchen U-Bahn gefahren war. »Und was tun wir hier?« fragte er, während er sich weiter in der Trostlosigkeit umschaute.
»Ich tue hier gar nichts«, erklärte der Knabe. »Und du – hoffentlich nichts.« »Ich verstehe nicht –« Hidden Moon drehte sich hastig nach seinem Herrn um – weil er ahnte, was dessen Worte zu bedeuten hatten! »Du wirst hier warten, bis ich dich wieder zu mir hole«, legte Gabriel dar. »Ich habe derweil – nun, sagen wir, geschäftlich in Paris zu tun. Und danach – mal sehen …« »Ich soll hier warten?« begehrte der Arapaho auf. »An diesem verlassenen, erbärmlichen Ort? Das kannst du nicht –« »Natürlich kann ich das!« entgegnete der Knabe, und sein Ton klang ganz so, als wundere er sich ernsthaft über die Zweifel seines Dieners. »Ich werde nicht –« »Du wirst hierbleiben«, fiel Gabriel dem Vampir erneut ins Wort. »Dafür trage ich schon Sorge. Sieh nur hin.« Das Licht, das er bislang wie einen nichtstofflichen Ball auf der Hand getragen hatte, begann sich auszubreiten. Wuchs und wucherte in alle Richtungen. Berührte Boden, Wände und Decke des Stollens und – tat irgend etwas damit. Drang in sie und veränderte sie. Schmolz sie und ließ sie in Eiseskälte erstarren. Während in der Ferne des Tunnels zu beiden Seiten donnerndes Getöse laut wurde und Staub von Einstürzen aus dem dort nistenden Dunkel ins Licht trieb. Hidden Moon schrie auf im Schrecken der Erkenntnis. Gabriel versiegelte den Stollen kraft seiner Macht, ließ den Tunnel zum Kerker werden – in dem er, Hidden Moon, schmoren sollte! In der Bewegung des Umdrehens floh der Vampir in seine Adlergestalt, und auf deren Schwingen raste er der Maueröffnung zu, durch die sie eben in den Tunnel gestiegen waren. Doch dieses Loch – – existierte nicht mehr! Der Stein darüber war geschmolzen unter Gabriels weißglühen-
dem Licht und hatte die Öffnung verschlossen. Hart prallte der Adler gegen die Wand. Sein Schrei wehte in zersplitterten Echos durch den Tunnel. Federn senkten sich trudelnd zu Boden. Noch im Sturz verwandelte sich Hidden Moon zurück. Wut ließ das Schwarz seiner Augen kochen. Trotzdem verlor er die Beherrschung nicht vollends. »Du kannst mich hier nicht einschließen«, preßte er hervor. »Ich werde elendig krepieren, wenn du mich ohne Blut zurückläßt.« Gabriel schüttelte in gespieltem Mitleid den Kopf. »Das würde ich doch nie tun«, sagte er. »Der Tisch ist reich gedeckt für dich – du brauchst dich nur zu bedienen.« Er wies in die Runde, und als sei seine Geste ein geheimes Zeichen, geriet hie und da Bewegung in die Finsternis jenseits des unwirklichen Lichtes. Leises Quieken klang auf, und vereinzelt reckten sich spitze Schnauzen über die Grenze zwischen Hell und Dunkel. »Du verlangst, daß ich mich –«, der Arapaho wies den Tunnel hinab, »– davon nähre?« »Ich verlange gar nichts«, stellte Gabriel richtig. »Aber ich bin sicher, daß du sie bald als Leckerbissen zu schätzen weißt. Adieu, mein treuer Freund. Paris ruft mich.« Damit wandte er sich um – und verschwand durch die Wand! Wo sein Weg ihn nach oben führte, dorthin, wo ein weiterer Freund seiner Unterstützung bedurfte: Landru, ehemals Mächtigster der Alten Rasse, doch seit seiner Rückkehr von jenseits des Höllentores nur mehr ein Schatten seines einstigen Selbst. Gabriel würde der Erinnerung des Vampirs auf die Sprünge helfen – wenn Landru im Gegenzug bereit war, ihm zu Diensten zu sein. Wenn es an der Zeit dafür war …
*
Zeit hatte für Hidden Moon ihre Bedeutung verloren. Wie viele Tage und Nächte draußen, jenseits der Tunneldecke vergangen waren, seit Gabriel ihn hier zurückgelassen hatte, vermochte er nicht einmal zu schätzen, weil ihm jeglicher Anhaltspunkt fehlte. Natürlich hatte der Vampir versucht, dem Kerker, zu dem Gabriel den Metro-Stollen gemacht hatte, zu entfliehen. Viele Stunden, vielleicht sogar Tage hatte er damit zugebracht, nach einem Fluchtweg zu suchen. Gefunden hatte er keinen. Wände, Decken und Boden waren durch die Kraft des teuflischen Knaben wie von einer dicken Glasur überzogen, die nichts und niemand aufzubrechen vermochte – schon gar nicht mit bloßen Händen. Ob ihm die Kraft des Bösen, die ihn seit Liliths Weggang beseelte, hätte helfen können, wußte der Arapaho nicht – weil er nicht wußte, wie er sich ihrer bedienen konnte. Bislang hatte diese dunkle Kraft nur sein dunkles Ich gestärkt, sein bezähmtes Wesen entarten lassen – und womöglich war sie zu mehr ja gar nicht imstande … Der Tunnel selbst – nun, Hidden Moon hatte seine Annahme bestätigt gefunden, als er den Stollen in beide Richtungen ein Stück weit abgegangen war. Decke und Wände waren dort unter magischer Einwirkung eingestürzt; der Schutt türmte sich bis zu den Abbruchstellen auf und war auf gleiche Art wie der Rest des Tunnels zu einer festen Masse gebacken worden, die härter als jedes Gestein und alles Metall war. Geblieben waren nur ein paar Mauerritzen und Bodenspalten, die meisten – und Hidden Moon hatte sie alle untersucht – so klein, daß er gerade mal die Hand hineinstecken konnte. Keine jedoch von solcher Größe, daß sie auch nur andeutungsweise einen Ausweg versprach. Obwohl die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit erfolglos geblieben war, bedauerte der Arapaho, daß sie nun vorbei war. Denn solange er gesucht hatte, war er zumindest beschäftigt gewesen – abgelenkt von dem erbärmlichen Schicksal, zu dem sein Herr ihn verdammt hatte.
Das tatenlose Warten auf seine Rückkehr war zermürbend gewesen – und inzwischen hatte er die Hoffnung nahezu fahren lassen. Auf die einzige Abwechslung, die sich ihm bot, hätte Hidden Moon nur zu gern verzichtet. Aber er konnte es nicht, denn obwohl ihm davor ekelte, war es wie ein Zwang, dem er sich nicht entziehen konnte – – die Jagd. Weil er seinen Blutdurst stillen mußte. An Ratten … Es war entwürdigend. Und schlimmer. Wieder einmal saß Hidden Moon vor einem der faustgroßen Löcher, diesmal nahe jener Stelle, durch die er und Gabriel in den Stollen gekommen waren. Lange hatte er sich gegen den Drang gewehrt, doch dann waren die Symptome zu stark geworden, als daß er sich noch länger hätte widersetzen können. Wie ein Junkie auf Entzug hatte er sich gekrümmt und am Boden gewälzt. Die bloße Bereitschaft, erneut auf Jagd zu gehen, hatte ihm schon etwas Linderung verschafft. Inzwischen hatte der Arapaho eine gewisse Übung im Jagen der grauen Nager. Wobei der Begriff des Jagens freilich zu hoch gegriffen war für dieses erbärmliche Schauspiel. Es war nicht mehr als eine Geduldsprobe, an deren Ende die Schnelligkeit entschied – zugunsten Hidden Moons oder der Ratte … Wenn er nur lange genug stillsaß und sich völlig ruhig verhielt, dann wagte es eines der pelzigen Biester, die Nase aus einem Mauerloch zu strecken. Und Hidden Moon mußte dann nur rasch genug zupacken, ehe das Tier sich wieder zurückziehen konnte. Eine Stunde oder mehr mochte inzwischen verstrichen sein. Und fast war der Vampir schon daran, aufzugeben – – als er doch noch die Ahnung einer Bewegung auffing! Die verschmolzenen Wände und Decke des Tunnels leuchteten noch immer schwach nach in jenem Licht, das Gabriel hineingesandt
hatte, und es warf selbst in Mauerritzen und – spalten noch Schatten. Und auf einen solchen war der Arapaho nun aufmerksam geworden. Schon schob sich eine spitz zulaufende Schnauze aus dem Spalt. Aber noch war es zu früh, um zuzuschlagen. Hidden Moon beherrschte sich – eine Sekunde, eine weitere verharrte er reg- und atemlos – – und packte dann zu! Mit der Geschwindigkeit eines jagenden Adlers schloß sich seine Hand um den pelzigen Leib und drückte zu. Die Ratte quiekte wie ein Ferkel, zappelte, kratzte und biß um sich. Hidden Moon verstärkte seinen Griff. Hör- und spürbar brachen dünne Knochen unter seinen Fingern. Das Gefiepe des Tieres wurde lauter, seine Bewegung schwächer. Rasch führte der Vampir die Beute an seine Lippen, zögerte noch einen Moment, als ihm der Gestank aus dem dreckigen Fell in die Nase stieg. Er versuchte ihn zu ignorieren, schaffte es nicht gänzlich – und schlug dann endlich seine Zähne in den fetten Leib. Im Vergleich zum Blut eines Menschen war das der Ratte bestenfalls lauwarm, und es schmeckte, wie das Tier selbst roch: fürchterlich. Jeder Schluck, den Hidden Moon aus der Ratte sog, wollte ihm aus dem Gedärm wieder hochsteigen, ließ ihn würgen, und die letzten beiden spie er schließlich wieder aus. Blut verklebte seine Lippen, und darin hingen Haare des Rattenpelzes. Angewidert keuchend und um Atem ringend wischte er beides fort, während seine Faust den Kadaver förmlich zerquetschte, als sei die Ratte schuld an seiner Situation. Dann schleuderte Hidden Moon den Tierleib mit solcher Kraft davon und gegen die Wand, daß er daran klebenblieb. Ein widerlicher Tod, selbst für eine Ratte, aber der Vampir bedauerte das Tier nicht. Im Gegenteil – eher beneidete er es und seine
Artgenossen. Denn mochten sie ihm auch in jeder anderen Hinsicht unterlegen sein, so hatten sie ihm doch eines voraus: Sie konnten diesen Tunnel nach Belieben verlassen. Beinahe wünschte sich Hidden Moon, selbst eine Ratte zu sein, war er bereit, sein ganzes Wesen als Preis zu zahlen, wenn er dafür nur die Freiheit erhielte – Seine Überlegungen stockten, als hätten sie sich an einem Hindernis verfangen. War der Gedankengang, dem er eben gefolgt war, tatsächlich so absurd, wie er schien? Oder steckte nicht vielmehr etwas darin, das Hoffnung versprach – eine Chance war? Ohne daß er bewußt an ihn dachte, stieg vor Hidden Moons geistigem Auge das Bild seines Vaters und Lehrmeisters auf. Makootemane. Er, Wyando, war der liebste Sohn des Alten gewesen, von Anbeginn ihres vampirischen Daseins. Er hatte ihn in vielen Dingen unterrichtet, und Hidden Moon hatte sich als ebenso talentierter wie gelehriger Schüler erwiesen. Menschen hätten all jene Dinge unter dem Begriff Zauber oder Magie zusammengefaßt, Makootemane indes hatte ihnen nie einen Namen gegeben. Sie waren und wirkten, wenn man sich ihrer zu bedienen verstand, und damit hatte er es belassen. Hidden Moon fühlte sich wie von Fieber erfaßt. Wenn es ihm nun gelang, sein Wissen um diese Dinge dahingehend zu nutzen, daß er die Gestalt wechselte – nicht jedoch in die eines Adlers, wie er und sein Stamm es in all der Zeit getan hatten, sondern in die einer … Ratte! Ob es möglich wäre? Es kam auf den Versuch an! Und vielleicht, überlegte der Vampir weiter, hilft mir die dunkle Kraft dabei, auf welche Weise auch immer …
*
Die Transformation in einen Adler ging für gewöhnlich so rasch vonstatten, daß Hidden Moon die einzelnen Schritte nicht voneinander zu trennen vermochte. Es genügte quasi der Gedanke, sich verwandeln zu wollen – und schon geschah es. Nun aber, da eine gänzlich andere Gestalt sein Ziel war, mußte er die Verwandlung langsam ablaufen lassen, um sie lenken zu können. Er mußte seinen Körper gleichsam selbst »umbauen«, neu formen. Also löste er zunächst den Impuls auf, gebot dem Lauf der Dinge dann aber mit gedanklichem Befehl Einhalt. Seine Knochen und Muskeln, die sich schon hatten umbilden wollen, erstarrten in ganz und gar unnatürlicher Form – und schmerzten höllisch! Der Arapaho stürzte zu Boden, krümmte sich. Trotzdem schaffte er es, sich zu konzentrieren. Stück um Stück befahl er seinem Leib, zu tun, was er von ihm erwartete. Hätte es einen Beobachter der Szene gegeben, er würde sich mit Grausen abgewandt haben. Denn aus Hidden Moon wurde eine furchtbar anzusehende Kreatur, weder Mensch noch Tier, und so blieb es für eine grausam lange Weile – – bis die Gestalt endlich zu schrumpfen begann, elend langsam. Fleisch und Muskeln verformten sich mit widerlich feuchten Geräuschen, Knochen knirschten, als würden sie zermahlen. Und dann endlich wurde aus ihr – – etwas, das einer Ratte zumindest ähnelte … Ein Wesen von der Größe eines jungen Hundes. Die Augen immer noch eher die eines Menschen als die eines Tieres. Die Haut rosig nackt, nur hie und da sproß ein borstiges Fellbüschel daraus hervor. Die Vorderläufe gemahnten mehr an Arme denn an die Beine eines Nagetieres, an ihren Enden winzige verkümmerte Finger … Ein Schrei aus dem nicht ganz lippenlosen Maul, wie weder Mensch noch Tier ihn je ausstoßen konnte, so durchdringend und
schrill, daß er dem mutierten Vampir selbst in den Ohren wehtat. Er war Klage und Triumph in einem, denn obgleich es ihm mörderische Qual bedeutete, diese Gestalt beizubehalten, hatte er es doch geschafft! Ob nun die höllische Kraft in ihm dazu beigetragen hatte, wußte er nicht – aber es war auch nicht von Belang. Nur das Ergebnis zählte. Und es konnte genügen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Sich unsicher auf seinen vier Gliedmaßen bewegend, kroch Hidden Moon auf jene Wandöffnung zu, vor der er vorhin noch seine jüngste Beute geschlagen hatte, und schließlich hinein. Die Spalte, die sich dahinter anschloß, war gerade breit genug, um ihm Platz zu bieten. Zu beiden Seiten berührte sein Körper den rauhen Stein. Und stellenweise wurde es dann doch so eng, daß er fürchtete, steckenzubleiben. Die Tunnelwandung schien – zumindest hier – meterdick zu sein. Der »Gang«, durch den Hidden Moon sich zwängte, verzweigte sich schon bald in etliche Richtungen, bis er sich in einem regelrechten Labyrinth wähnte, von dem das Mauerwerk durchzogen wurde. Dabei konnte die Rattenkreatur nicht immer die Richtung wählen, die ihr die richtige schien, sondern mußte sich notgedrungen dorthin wenden, wo sein entstellter Leib weiter Platz fand. Die miserablen Sichtverhältnisse erschwerten Hidden Moon das Vorankommen noch zusätzlich. Das Leuchten der magisch versiegelten Wände blieb allmählich hinter ihm zurück, und so fand sein nachtsichtiger Blick mittlerweile kaum noch Licht, das er verwenden konnte. Nach einer Weile schien er in einer Sackgasse angekommen zu sein. Der vor ihm liegende Weg verengte sich, so daß er schon meinte, sich mühsam rückwärts bewegend umkehren zu müssen. Noch einmal sammelte er seine Kräfte, um sich nach vorne zu schieben. Tatsächlich bröckelte das Mauerwerk um ihn herum zumindest soweit ab, daß er weiterkam –
– und plötzlich haltlos nach unten schlitterte! Wie über eine geröllbedeckte Rampe rutschte das Rattenwesen in die Tiefe und kam in einem Hohlraum innerhalb der Tunnelwandung zu liegen. Es stank bestialisch hier unten, nach Kot und noch übleren Dingen. Durch Risse in Decke und Wänden der Mauerhöhlung sickerte ein Abglanz des von Gabriel verursachten Leuchtens – und fast wünschte Hidden Moon sich, nichts sehen zu können! Denn er fand sich inmitten des Zentrums dieses »Mauerreiches« wieder – im Nest der Ratten! Es war nicht verlassen. Und er war kein willkommener Gast …
* Schwarze, wie tot wirkende Augen musterten den Eindringling, Schnauzen reckten sich ihm witternd entgegen, und ein unruhiges, spürbar feindseliges Fiepen erfüllte die Rattenhöhle. Hidden Moon versuchte die Zahl der Tiere zu schätzen, was ob ihrer Masse kaum möglich war. Zwei Dutzend mußten es mindestens sein. Die neugeborene, noch blinde und haarlose Brut, die er in einer der Ecken gewahrte, nicht hinzugerechnet. Zwei Dutzend zuviel … Fast instinktiv wandte der Vampir sich ab und versuchte zu der Öffnung hinaufzukriechen, durch die er hereingekommen war. Doch das lockere Geröll gab unter seinen ungeschickten Pfoten nach – während die Geräusche hinter ihm an Lautstärke zunahmen. Und näherkamen. Krallen kratzten über Stein und Schutt, und beinahe meinte Hidden Moon, den stinkenden Atem der Rattenschaar über seinen nackten Leib streichen zu spüren. Panik wollte ihn übermannen und sein klares Denken wie eine Sturmflut unterspülen. Er zwang sich zur Konzentration, nutzte die
Meditationstechniken, die Makootemane ihm einst beigebracht hatte, so gut es die Situation zuließ. Was tun? Was tun? Was tun? hämmerte es in ihm. Rettung konnte ihm nur die Flucht bieten. Aber diese Möglichkeit schloß sich aus. Zum einen schaffte er es kaum, über die Rampe zurückzukriechen, zum anderen waren ihm die echten Ratten an Geschwindigkeit überlegen. So konnte er sich ihnen also nur zum Kampf stellen – wohl wissend, daß er auf verlorenem Posten stehen würde. Schon ihre bloße Überzahl mußte den Sieg der Ratten bedeuten. Zudem würde er ihrer Geschicklichkeit kaum etwas entgegenzusetzen haben – Zu weiteren Überlegungen blieb dem Vampir keine Zeit. Denn die Ratten griffen an! Ohne daß der Blick ihrer Augen es verraten hätte, stürzten sich drei, vier der Tiere auf die fremde Kreatur, attackierten sie mit Zähnen und Klauen, und der Geruch des Blutes schien sie in regelrechte Raserei zu treiben. Andere rückten nach, und mit Mühe gelang es Hidden Moon, sich zwei oder drei der Angreifer zu erwehren und sie abzuschütteln. Dafür stürzten sich vier oder fünf weitere auf ihn … Schon badete er förmlich in seinem eigenen Blut. Jeder Nerv in seinem mutierten Leib brannte in Schmerz. Und der Vampir gab alle Gegenwehr auf, beschränkte sich darauf, seinen Körper zu schützen, so gut es ihm noch möglich war. Die Ratten würden ihn zerfleischen – und dann? Würde das seinen Tod bedeuten? War er als Vampir empfänglich für solches Sterben? Er wußte es nicht. Aber die Antwort würde er bald erhalten. Wenn nicht – Zwischen den um ihn her wogenden Rattenleibern versuchte Hidden Moon hindurchzusehen, um die Größe des Hohlraumes abzuschätzen. War er groß genug, um einem Menschen Platz zu bieten? Gewiß nicht.
Wenn er es wagte, sich hier und jetzt in seine ursprüngliche Gestalt zu transformieren, würde es ihn kurzerhand zerquetschen. Aber wenn er – Der Vampir flehte zu namenlosen Göttern und zu der dunklen Kraft in sich, daß es ihm gelang, seine wahnwitzige Idee in die Tat umzusetzen. Hidden Moon sandte den Impuls in sein Innerstes. Und diesmal ließ er der Transformation ihren seit Jahrhunderten gewohnten Lauf, beeinflußte sie nicht, ließ geschehen, was unzählige Male geschehen war in ewiger Zeit. Er wurde zum Adler. Und augenblicklich fielen die pelzigen Angreifer von ihm ab. Aber sie ließen sich nur für den Moment irritieren. Dann stürzten sie sich wieder und scheint’s mit noch ärgerer Wildheit auf den Eindringling. Krallen und Zähne gruben sich durch das Federkleid des Adlers und ins Fleisch darunter, und der Arapaho schrie auf – nur zum Teil vor Schmerz jedoch; in erster Linie nämlich gab er sich damit selbst das Signal zum Angriff! Wände und Decke des Rattennestes behinderten ihn in seiner Bewegungsfreiheit. Die Schwingen vermochte er schon gar nicht auszubreiten. Aber immerhin blieb ihm genug Platz, Schnabel und Krallen einzusetzen. Und beides nutzte er weidlich! Er riß den Ratten tiefe, klaffende Wunden, zerfetzte ihre Leiber und berauschte sich am strömenden Blut, bis er sich in schiere Raserei gesteigert hatte. Details wurden unwichtig. Hidden Moon funktionierte nur noch, einer Mordmaschine gleich, die sich erst dann abschalten würde, wenn der letzte Gegner getötet war. Minuten vergingen. Die Ratten erwiesen sich als zäh in jeder Hinsicht. Aber letztlich unterlagen sie.
Totenstille kehrte ein, nur noch durchbrochen vom kläglichen Fiepen der neugeborenen Tiere, die vom Blut ihrer Artgenossen bespritzt im Nest lagen. Auch ihnen schenkte der Vampir das Leben nicht. Wenn es in der Hölle eine Ecke gab, die für Ratten reserviert war, dann sollte die gesamte Brut dort schmoren … Erst als der Kampf vollends vorüber war und Ruhe auch in Hidden Moon selbst Einzug hielt, merkte er, wie sehr ihm die Biester wirklich zugesetzt hatten. Sein Federkleid war zerrupft und an vielen Stellen schwarz von Blut. Nur allmählich schlossen sich die Wunden, als wisse seine Selbstheilungskraft ob der Vielzahl nicht, wo sie zuerst ansetzen sollte. Dann, nachdem er wieder etwas bei Kräften war, transformierte der Vampir erneut in die rattenhafte Gestalt, die nun im zweiten Versuch dem natürlichen Vorbild eine Spur ähnlicher sah als beim ersten Mal. Der Aufstieg zur Öffnung der Mauerhöhlung beanspruchte einige Zeit, und vor allem soviel Kraft, daß Hidden Moon ein weiteres Mal ausruhen mußte, als er dort anlangte. Das Rattenblut, das er im Kampf geradezu gesoffen hatte, vermochte die Regeneration seiner Kräfte kaum zu beschleunigen; es tat nicht sehr viel mehr, als den bloßen Durst zu stillen. Schließlich kroch das Rattenwesen weiter, aber bald schon mußte es sich eingestehen, daß es die Orientierung nunmehr gänzlich verloren hatte. Ein Fluchtweg nach draußen ließ sich nicht finden, womöglich gab es auch keinen; keinen zumindest, der für Hidden Moon geschaffen war. So kehrte er in den von Gabriel präparierten U-Bahn-Tunnel zurück, als er wenigstens den schmalen Zugang dorthin wiederfand. Aber der zum Kerker gewordene Stollen war nicht mehr leer und verlassen. Hidden Moon wurde erwartet.
* »Er ist gezwungen, sich von Rattenblut zu ernähren, und er ist gefangen an einem Ort, der nicht der niedersten Kreatur würdig ist.« Makootemanes Blick ging nur scheinbar ins Nichts. Tatsächlich aber sah er wieder und wieder, was die Frucht ihm gezeigt hatte – Hidden Moon, seinen liebsten Sohn, dessen Dasein aus allen Fugen geraten sein mußte. Ein furchtbares Schicksal hatte ihn ereilt – »– warum nur?« fragte der Alte. »Hast auch du – es gespürt?« Chiyodas Stimme klang ruhig, und er mußte sich nicht sonderlich um Beherrschung bemühen. In langen Jahren hatte er gelernt, sich vom Schicksal und Leid anderer nicht anrühren zu lassen; ganz gleich, ob ihm diese anderen nahestanden, oder ob er sie überhaupt nicht kannte. »Es?« echote der Arapaho, das Wörtchen gleichfalls nachdrücklich betonend. Er nickte. »Ja, das habe ich. Das Böse ist so stark in meinem Sohn, daß ich es selbst über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus zu spüren vermochte.« Chiyoda wußte um die Besonderheit von Makootemanes Sippe; daß sie das Böse aus sich abzuleiten imstande war. Hidden Moon schien diese Fähigkeit verloren zu haben, und der Grund konnte nur der Verlust seines Seelentieres sein. Warum er nicht einen anderen Adler entsprechend erzogen hatte, wußten weder Makootemane noch Chiyoda. Letzterer aber wußte eines: Es gab noch andere Wege, dem dunklen Trieb zu entkommen; Mittel, das Böse in seine Schranken zu weisen. Als habe er die Gedanken seines Begleiters erahnt, wandte der Arapaho sich an ihn und fragte: »Gibt es nichts, was wir für Wyando tun könnten?« Und nach einer kurzen Pause fügte er, eindringlicher noch, hinzu: »Kannst du nichts unternehmen, weiser Chiyoda? Mir selbst bindet der Tod die Hände …«
Der Chinese hob die mageren Schultern, senkte sie wieder. »Es ist nicht meine Art, mich in andere Belange einzumischen«, sagte er. »Ich beobachte die Dinge lediglich – nie aber habe ich sie verändert oder auch nur ihren Lauf beeinflußt.« »Aber könntest du es in diesem besonderen Fall?« Makootemane war nicht willens, aufzugeben. »Ich könnte es – vielleicht. Möglicherweise könnte ich deinen Sohn auf einen Pfad führen, auf dem das Böse ihm nicht zu folgen vermag. Freilich weiß ich nicht zu sagen, ob ein Vampir dem dunklen Trieb auf gleiche Art widerstehen kann, wie es einem Werwolf möglich ist. Es käme auf den Versuch an.« Nichts in Chiyodas Miene verriet, ob er überhaupt bereit war, seinen Worten Taten folgen zu lassen. »Dann flehe ich dich an – wage den Versuch! Um unserer Freundschaft willen …« Makootemanes Blick wollte den Chiyodas bannen. Und tatsächlich gelang es dem alten Chinesen nicht, den Kopf zu wenden oder auch nur die Augen niederzuschlagen. »Ist es denn Freundschaft, was uns verbindet?« erwiderte er. Der Arapaho nickte. »Die stärkste Freundschaft, die je zwischen zwei Wesen bestand«, meinte er. »Denn der Tod vermag sie nicht zu scheiden.« Auch Chiyoda nickte, langsam, bedächtig. »Vielleicht habe ich einen Weg beschritten, der es mir nicht länger erlaubt, das Schicksal anderer zu ignorieren. So sei es denn.« »Du bist bereit, Wyando zu helfen?« »Ich will sehen, was ich tun kann.« Chiyoda sprach’s, tat einen Schritt – und verschwand. Aus dieser Wirklichkeit.
*
Hidden Moons Rückverwandlung in menschliche Gestalt beanspruchte kaum mehr als die Dauer eines Herzschlags. Und schon im nächsten Moment bemerkte er den Fremden, der ihm in einiger Entfernung gegenüberstand. Im ersten Reflex wollte er ihn augenblicklich attackieren – als er plötzlich innehielt, als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. Und in der Tat schien den dürren alten Chinesen dort etwas zu umgeben, das es unmöglich machte, sich ihm unbedacht zu nähern. Es handelte sich spürbar weder um Magie noch etwas ähnlich Geartetes; es waren schlicht und ergreifend die Aura dieses Mannes und der Respekt, den er ausstrahlte, der andere auf Distanz hielt. Auch Hidden Moon. Für den Augenblick jedenfalls … »Wer bist du? Und wie kommst du hierher?« »Zwei Fragen auf einmal«, erwiderte Chiyoda. »Geduld scheint deine Stärke nicht zu sein –« »Hör auf mit diesem Quatsch!« fuhr der Arapaho auf. »Mir ist nicht nach Philosophieren zumute. Antworte endlich!« Der Alte lächelte milde. »Nun, so sei es. Mein Name ist Chiyoda. Und mir ist es vergönnt, Wege zu beschreiten, die überall hinführen – und nirgendwohin.« Hidden Moon musterte sein Gegenüber aus geschmälten Augen. Das unerwartete Auftauchen des (immer noch) Fremden wollte sein Denken verwirren, doch er behielt die Kontrolle und stellte die für ihn dringlichste Frage: »Wenn du hier hereingekommen bist, dann kennst du sicher auch den Weg hinaus?« »So ist es.« »Zeige ihn mir!« »Wenn es an der Zeit ist.« »Wenn es an der Zeit ist?« stieß Hidden Moon hervor. »Verdammt, es ist an der Zeit! Ich sitze schon viel zu lange hier fest. Ich muß raus aus diesem Loch!«
Chiyoda hob beschwichtigend die Hand. »Verrate mir erst, wer dich hier eingesperrt hat, und aus welchem Grund die Macht des Bösen in dich gefahren ist.« »Woher … willst du das wissen?« fragte Hidden Moon argwöhnisch. »Es wurde mir zugetragen.« »Von wem?« »Von Makootemane.« Der Vampir prallte förmlich zurück, als Chiyoda den Namen nannte. Das war doch … unmöglich! Der Alte da konnte seinen Vater nicht kennen – oder doch? »Makootemane ist tot«, sagte er nur, leise und rauh. Chiyoda nickte. »Das ist wahr. Und doch treffe ich mich mit ihm.« »Wo?« stieß der Arapaho hervor. »Wie sollte das gehen?« Der Chinese lächelte. »Du magst glauben, vieles zu wissen. Aber du weißt nicht, was hinter dem vorgeht, was für dich die Wirklichkeit ist. Dort liegen Welten, die nur ein geschulter Geist erfassen kann.« »Ich verstehe nicht –« »Ich weiß«, sagte Chiyoda. »Weshalb bist du hier? Nur um zu reden?« fragte Hidden Moon, der Unterhaltung längst überdrüssig. »Nein. Makootemane bat mich, dir zu Hilfe zu eilen«, erwiderte Chiyoda. »Und so bin ich gekommen, um zu ergründen, ob du Hilfe brauchst – oder überhaupt willens bist, dir helfen zu lassen.« »Natürlich brauche ich Hilfe«, sagte der Vampir heftig. »Bring mich von hier fort!« Chiyoda schüttelte lächelnd das Haupt. »Ich spreche nicht von solcher Art der Hilfe. Es geht vor allem um etwas anderes –« »Um was?« »Das Böse«, sagte Chiyoda knapp. »Es ist stark in dir, wird nicht mehr abgeleitet von einem – wie nennt deine Sippe es? Ach ja, von
einem Seelenadler.« »Was weißt du schon über meine Sippe –?« »Alles, was Makootemane mir darüber erzählte«, entgegnete der Chinese und fuhr dann fort: »Ich könnte dir helfen, dem Bösen zu entsagen – vorausgesetzt, du willst es. Denn ich kann es dir nicht abnehmen, wie dein Adler es vermochte. Ich kann dir nur Möglichkeiten zeigen, dich der dunklen Kraft zu entledigen. Tun mußt du es selbst.« Hidden Moon lächelte verschlagen. »Ich nehme an, du wirst mich nur unter dieser Voraussetzung hier herausholen – wenn ich bereit bin, dem Bösen zu entsagen.« Chiyoda nickte schweigend. »Nun«, meinte Hidden Moon, »dann verspreche ich es natürlich.« Sein Ton indes ließ keinen Zweifel daran, daß die Worte nur dahingesagt waren. Und er setzte noch hinzu: »Wie könntest du mich an mein Versprechen binden?« »Das kann ich nicht«, erklärte Chiyoda offen. »Denn ich bin nur ein Mensch, ohne besondere Macht. Aber –« Er verstummte. »Aber?« hakte der Vampir schließlich ungeduldig nach. »– ich werde dich an einen Ort bringen, wo du über kurz oder lang zu deinem Wort stehen wirst. Dessen bin ich mir ganz sicher.« »Was soll das für ein Ort sein?« wollte der Arapaho wissen. »Wohin bringst du mich?« Chiyoda blieb ihm die Antwort schuldig. Er tat einen Schritt, überwand damit die meterweite Distanz zu Hidden Moon, als benutze er eine geheime Abkürzung, faßte den Vampir bei der Hand – – und nahm ihn mit. In seines Vaters Reich.
*
»Mein Sohn …« Die Berührung Makootemanes war sonderbar leicht, als wiege sein Leib nichts und als sei nicht mehr die geringste Kraft in seinen Gliedern. Aber Hidden Moon hatte ohnedies kaum einen Blick für seinen Blutvater – viel mehr beschäftigte ihn der plötzliche Ortswechsel, den er sich nicht zu erklären wußte, sowie der Ort selbst, an dem sie sich befanden. Er war – nicht wirklich. Nicht echt. Die Farben, das Geräusch des sachten Windes, der das Präriegras kämmte – nichts sah so aus und hörte sich so an wie in der Welt, die Hidden Moon seit über dreihundert Jahren Heimat war. Die Ähnlichkeit mochte zwar groß sein, aber vielleicht fielen die Unterschiede gerade deswegen so stark auf. »Wo sind wir?« brachte er endlich hervor. »Vielleicht ist dieser Ort das, was wir als Land unserer Ahnen bezeichnen – vielleicht auch nicht«, antwortete Makootemane. »Ist man erst einmal hier, zählt der Name nicht mehr.« »Ich –«, begann Hidden Moon, sich immer noch verunsichert umsehend, »– ich habe nicht vor, hierzubleiben.« »Es wird dir nichts anderes übrigbleiben. Die Möglichkeiten deiner Wahl sind – nun, gering wäre noch hochgegriffen.« Die Worte erreichten Hidden Moon von hinten, die Stimme aber war ihm so vertraut, daß er sich nicht nach Chiyoda umwenden mußte. »Er kann und wird dir helfen. An einem Ort, wo schon vielen Hilfe zuteil wurde«, sagte Makootemane. Ein feines Lächeln brachte den Anschein von Leben in das Faltenmuster seines ledrigen Gesichtes. Unwillkürlich wich Hidden Moon einen Schritt zurück. Nicht einmal das Antlitz seines Vaters wirkte völlig echt … »Sei dir dessen nicht so sicher«, erwiderte er dann. »Du mußt das Böse aus dir vertrieben, mein Sohn!« entfuhr es Ma-
kootemane erschrocken, ehe er gleichermaßen vorwurfsvoll wie entsetzt fortfuhr: »Soll denn alles vergebens gewesen sein? Die Art, nach der wir all die Zeit lebten – bedeutet sie dir nichts mehr?« »Diese Zeit«, erklärte Hidden Moon, »ist vorüber. Eine neue ist angebrochen, und sie gefällt mir ausgesprochen gut.« »Das Böse spricht aus dir!« behauptete Makootemane. »Wyando ist zum Schweigen verdammt. Aber Chiyoda wird ihm den Knebel lösen und –« »Den Teufel wird er tun!« Hidden Moon agierte so schnell, daß sowohl Makootemane als auch Chiyoda völlig davon überrascht wurden und nichts dagegen unternehmen konnten. Wenn sie es überhaupt gekonnt hätten … Zwei, drei Sprünge brachten den Arapaho hinter den alten Chinesen, und noch im selben Augenblick hatte er ihn fest im Griff: Mit der rechten Hand drückte er Chiyodas Arme nach hinten, die linke legte er ihm um die Kehle. Schon wuchsen seine Fingernägel zu Klauen, die sich millimetertief in die faltige Haut des Alten senkten. Halbmondförmige Wunden füllten sich mit Blut. »Bring mich weg von hier!« verlangte er rauh. »Zurück in meine Welt! Sofort!« »Wyando –«, setzte Makootemane an, doch sein Sohn unterbrach ihn barsch: »Halt die Schnauze, alter Narr! Wir haben nichts mehr gemeinsam.« »Aber es könnte wieder sein«, flehte der alte Indianer. »Laß dir von Chiyoda helfen –« »Er ist solcher Hilfe nicht wert.« Chiyoda sprach ruhig, ohne jedes Anzeichen von Angst oder gar Panik, ganz so, als sei nichts geschehen. »Ich verzichte ohnehin darauf«, sagte Hidden Moon. »Mach endlich – sonst …!« Seine Klauen gruben sich noch eine Winzigkeit tiefer in Chiyodas Hals. Doch der Alte zuckte nicht einmal, hatte sein Schmerzempfin-
den völlig ausgeschaltet. »Ich mag zwar alt sein«, sagte er, »aber ich bin nicht bereit, mein Leben fortzuwerfen. Nicht für einen Bastard wie dich.« Weder Wut noch etwas Ähnliches lagen in seinem Ton; er klang so sachlich, als spreche er über nichts Bedeutsameres als das Wetter. »Wohin soll ich dich bringen?« fragte er dann. Hidden Moon überlegte kurz. Im ersten Moment schien ihm jeder Ort seiner Welt, der einzig echten Wirklichkeit, so gut wie der andere. Dann aber faßte er den Entschluß, sich dem Schicksal zu stellen. Vielleicht gelang es ihm letztlich ja doch noch, Rache zu üben … Er nannte den Ort, an den er gebracht werden wollte. Und Chiyoda erfüllte seinen Wunsch.
* Seit einigen Wochen erst lebte Lucia Goldini in Paris, aber sie fühlte sich schon wie zu Hause an der Seine, war der Stadt der Liebe verfallen. Was nicht zuletzt an Professor Roger Ganachaud lag, der sie tagsüber in der Universität in die Geheimnisse der Kunstgeschichte einweihte – und ihr seit einigen Nächten gänzlich andere Dinge beibrachte … Aber Roger war nicht der alleinige Grund, weshalb Lucia weder Rom noch ihre Familie sonderlich vermißte, zumindest nicht so, daß es weh tat; die Stadt selbst war reine Faszination, pures Leben, und jeder Winkel atmete Atmosphäre. Wer einmal in Paris gelebt hat, dachte Lucia, der kann das Leben an keinem anderen Ort dieser Welt wiederfinden … Sie lächelte über ihre philosophische Anwandlung und drückte sich enger gegen Roger Ganachaud, der an ihrer Seite auf den Stufen der Basilique du Sacré-Coeur saß. Die Basilika oder vielmehr deren Treppe war schon in den ersten
Tagen ihres Hierseins zu Lucia Golidinis liebstem Platz in Paris geworden. Viele betrachteten Sacré-Coeur als kitschigstes Gebäude der Stadt; wie ein Zuckerbäcker-Werk thronte es auf dem Montmartre. Aber das Panorama von den Stufen der Kirche aus war grandios, überwältigend. An klaren Tagen reichte der Blick 50 Kilometer weit über Paris. Lucia jedoch liebte die Aussicht besonders bei Nacht. Zum einen, weil die Touristenströme dann längst versiegt waren, und zum anderen lag ihr Paris nachts als Lichtermeer zu Füßen, dessen Brandung der ferne Verkehrslärm war und über das die markantesten Bauten der Stadt wie urzeitliche Kreaturen ihre skurrilen Häupter reckten. Lucia erschauerte wohlig ob des bloßen Anblickes, und das angenehme Schaudern nahm noch zu, als sie Rogers warmen Atem über Wange und Hals streichen fühlte, so sanft wie die Berührung einer Feder. »Was würde passieren, wenn uns jemand von der Universität so sähe?« fragte Lucia, nicht zum ersten Mal seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Ihr Französisch hatte sich seitdem verbessert – in jeder Hinsicht … »Was sollte passieren?« entgegnete Roger. Er pustete sich eine Strähne seines widerspenstigen Blondschopfes aus der Stirn. Er wirkte ganz und gar nicht so, wie man sich einen Dozenten gemeinhin vorstellte. Er war jung und lässig, bevorzugte legere Kleidung, und oft wurde er selbst noch für einen Studenten gehalten. »Ist es nicht –«, begann Lucia lächelnd und überlegte dann: »– wie nennt man das gleich noch?« »Unzucht mit Abhängigen?« Lucia nickte, nicht ganz ernst. Roger lächelte. »Ach Unsinn«, wehrte er ab. »Wir leben in Paris, der Stadt der Liebe. Wäre es nicht Sünde, sich ihrem Ruf zu verweigern?«
»Todsünde«, bestätigte Lucia und verschloß ihm die Lippen mit den ihren. Seine Hände gingen auf Wanderschaft, seine Finger berührten sanft die Rundungen ihrer Brüste. »Nicht hier«, flüsterte sie. »Weshalb nicht? Könnte es einen segensreicheren Ort geben?« erwiderte er, heiser vor Erregung. »Ich bin streng katholisch erzogen«, sagte Lucia. »Aber deine Familie ist weit weg, und der Papst kann auch nicht vom Petersdom bis nach Paris gucken.« »Trotzdem, das schickt sich nicht«, beharrte Lucia – und zupfte am Reißverschluß seiner Hose. »Du Biest.« »Si.« »Oui heißt das hierzulande.« Lucias Finger zogen den Bund seiner Unterhose herab und berührten seinen harten Schaft. »Und das hier?« fragte sie neckisch. »Mon dieu!« rief er aus. »Findest du das nicht ein bißchen sehr hochtrabend?« lachte sie. »Was –?« erwiderte er verwirrt, dann begriff er. »Nein, ich meinte nicht das, sondern –« »Was denn?« Lucia zog die Hand zurück. Roger schien ehrlich beunruhigt, zumindest aber überrascht, und ihr Blick folgte der Richtung des seinen. »Siehst du das?« fragte er atemlos. Sie schüttelte den Kopf. »Was?« Roger Ganachaud streckte den Arm vor und wies in den Nachthimmel, auf eine Stelle rechts des noch nicht ganz vollen Mondes, der sein Silberlicht über Paris goß. »Was ist das?« entfuhr es Lucia erstaunt, als sie den sich bewegen-
den Schatten dort endlich ausmachte. »Wenn ich nicht sicher wüßte, daß es unmöglich sein kann –«, setzte Roger an, »dann –« »Dann was?« hakte Lucia nach, als ihr Freund nicht weitersprach. Der Schatten am Himmel begann mit der Dunkelheit jenseits des Lichthofes des Mondes zu verschmelzen, und nach zwei drei weiteren Schlägen seiner mächtigen Schwingen entschwand er vollends ihren Blicken. »– dann würde ich sagen, daß wir gerade einen Adler gesehen haben«, sagte Roger. Und Lucia fröstelte. Ohne recht zu wissen, warum. Nur eines wußte sie: Den wahren Grund wollte sie gar nicht erfahren …
* Studentin von Bestie ermordet? Frauenleiche am Montmartre aufgefunden PARIS (mi) – Kein Mensch, sondern ein Monster scheint für einen Mord verantwortlich zu zeichnen, der sich in der vergangenen Nacht im Schatten der Basilique du Sacré-Coeur zugetragen hat. Das Opfer ist Lucia G. (19), eine Studentin aus Rom, die dem Vernehmen nach erst seit wenigen Wochen in Paris lebte. Über die Tatumstände war Näheres noch nicht in Erfahrung zu bringen. Die wenigen Worte der Ermittler und ihre Gesichter sprachen jedoch Bände. Lesen Sie weiter auf Seite 3 Philemon de Lamaze schlug die Zeitung auf, um die Fortsetzung der Titelgeschichte zu lesen. Wie er aus Gesprächsfetzen, die von anderen Tischen des kleinen Bistros am Fuße des Montmarte zu ihm herwehten, entnehmen konnte, war der Mord auch das Frühstücksthema schlechthin. Den Appetit indes ließen sich nur die wenigsten Gäste verderben. Lautstark schlürfte man weiter Café au lait
aus riesigen Tassen und ließ sich die darin eingetunkten Croissants schmecken. Der Text auf der dritten Seite brachte kaum weitere Informationen über den Mord an Lucia G. (19). Der Tat verdächtigt wurde ein gewisser Roger G. (36). Er war der Letzte gewesen, der Lucia G. lebend gesehen hatte, und er hatte auch die Leiche gefunden. Seinen eigenen Worten zufolge sollte der Mörder ihn vor der Tat niedergeschlagen haben. Nach Angaben eines Polizeisprechers zweifelte man an dieser Aussage; weitere Verhöre würden gerade stattfinden. Der Schreiber der Zeilen (mi, hinter dessen Kürzel Philemon de Lamaze den Boulevard-Reporter Mimiche wußte) erging sich im weiteren in eigenen Spekulationen. Offenbar – oder zumindest erweckte er mit seinen Worten den Anschein – hatte er selbst einen Blick auf die Leiche werfen können, und er gipfelte in der Behauptung, daß kein Mensch diese Tat begangen haben konnte – allenfalls ein Tier, oder etwas Schlimmeres … Philemon lächelte freudlos. Bei aller ehrlicher Entrüstung und tief empfundener Abscheu, die er Mimiche durchaus zubilligte, war dieser Mord ganz unzweifelhaft ein gefundenes Fressen für den Reporter, ein Fall so recht nach Mimiches Geschmack. Zumal wenn man, wie Philemon es konnte, zwischen seinen Zeilen zu lesen verstand … Ein Bild der Toten war nicht veröffentlicht worden (selbst Mimiche kannte Grenzen), dafür aber ein Foto des Tatorts: eine schmale Gasse, die vom Place du Tertre wegführte, tagsüber ein Treffpunkt für zahlreiche Maler, die dort, im Herzen des Künstlerviertels Montmartre, im Freien arbeiteten und ausstellten. Philemon de Lamaze faltete die Zeitung zusammen, verstaute sie in der Innentasche seiner Jacke und beglich die Rechnung. Dann trat er aus dem Bistro, ging am weltberühmten Moulin Rouge vorbei und bog in die nächste Straße ein, die zum Montmartre hinaufführte. Montmartre, einst ein eigenes, auf einem Hügel gelegenes Dorf,
das der Moloch Paris sich irgendwann einverleibt hatte, zeichnete sich durch seine ganz eigene Atmosphäre aus. In gewissem Sinne war es immer noch ein Dorf, das nur zufällig inmitten einer Weltstadt lag und sich von deren Hektik nicht hatte anstecken lassen. Heute jedoch lag etwas Bedrückendes über Montmarte. Weder sicht- oder greifbar, nur zu spüren; etwas, das das Atmen erschwerte und das Leben an diesem Ort lähmte. Dazu kam noch der feine Nebel, der in den Gassen hing und die sonst so muntere Farbenvielfalt grauwusch. Etwas wie das Echo jenes Mordes schien durch die Gassen zu treiben und jeden Menschen wie mit totenkalter Hand zu berühren. Angst ging um wie ein Gespenst. Philemon de Lamaze ließ sich davon jedoch nicht infizieren. Angst vor solchen Gespenstern war ihm fremd, seit seiner Jugend schon. Seit sie nicht mehr seine Feinde waren, sondern – Verbündete, vertraute Wegbegleiter … Den Tatort, fast oben auf dem Montmartre gelegen, hätte Philemon auch dann gefunden, wenn er die Örtlichkeiten weniger gut gekannt hätte. In der Nähe der betreffenden Gasse, die ansonsten kaum Interessantes zu bieten hatte, hielten sich auffallend viele Leute auf, darunter ein paar Uniformierte sowie Polizisten in Zivil, denen man ihre Profession dennoch ansah. De Lamaze hielt sich etwas abseits und beobachtete das Geschehen, und vor allem die Leute. Jeden einzelnen unterzog er einer gewissenhaften Musterung, und hätte ihn jemand beobachtet, würde dieser Jemand unschwer festgestellt haben, daß der junge Mann mit dem dunklen Haar nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau hielt – oder nach Jemandem … Als er letztlich nicht fündig wurde, zeigte sein Gesicht weder Enttäuschung noch Erleichterung, sondern einen Ausdruck, der irgendwo dazwischen lag. Es wäre auch zu leicht gewesen, dachte er, in sich gekehrt lächelnd.
Als gehöre er nur zu den Schaulustigen, mischte sich Philemon de Lamaze dann unter die Leute und näherte sich einigermaßen unauffällig dem Tatort, der noch immer mit Plastikbändern abgesperrt war. Trotzdem war auch aus der Distanz genug zu erkennen. Kreidestriche zeichneten die Fundstelle der Leiche nach, andere markierten Stellen, wo mögliche Beweismittel gelegen hatten. Auffallend wenige, wie Philemon für sich bemerkte. Sein Blick wanderte weiter über das abgesperrte Terrain. Hie und da waren dunkle Flecken auf dem Pflaster der Gasse zu sehen. Und ungewöhnlich wenig Blut …, stellte der junge Mann weiter fest, beinahe staunend. Er hatte ein anderes Szenario erwartet … Er drängte sich ein Stück an der Absperrung entlang, den Blick überlegend gesenkt – und stutzte plötzlich. Was war das? Unauffällig sah er sich um, dann bückte er sich und tat, als binde er seine Schnürsenkel neu. Dabei klaubte er unbemerkt vom Boden auf, was ihm ins Auge gefallen war. Eine Feder … Nachdem er sich ein Stück von der Menge entfernt hatte, roch er daran, als wolle er Witterung aufnehmen – und verhielt überrascht. Konnte es möglich sein? Ließ sich ein Irrtum ausschließen? Sicher nicht zur Gänze, aber – Entschlossen machte er kehrt, verließ den Montmartre. Er hatte nicht gefunden, was er gesucht hatte. Dafür aber etwas anderes, das sich als Spur erweisen konnte. Zwar wußte Philemon noch nicht, wohin sie ihn führen würde. Aber zumindest wußte er, wo er möglicherweise weitere Anhaltspunkte finden konnte. Mimiche, dachte er lächelnd, mein alter – Freund …?
*
Paris ängstigte ihn! Nie zuvor hatte Hidden Moon sich in einer Stadt solcher Größe aufgehalten, nicht über längere Zeit jedenfalls, und nicht ganz und gar auf sich gestellt. Zu Makootemanes Lebzeiten und als sein Stamm noch unbehelligt von jeder Gefahr sein Dasein geführt hatte, waren weder Hidden Moon noch eines seiner vampirischen Geschwister je weiter gekommen als bis nach New Jericho, der ihrem Heimatdorf am nächsten gelegenen Kleinstadt. Er war Weite gewohnt, und Leere. Die Unmenge von Menschen in Paris jedoch, die drangvolle Enge der Bauten und den Verkehrslärm empfand der Arapaho als derart bedrückend, daß er meinte, kaum mehr atmen zu können. Dennoch hatte er nicht vor, Paris den Rücken zu kehren. Weil diese Stadt der Ort sein konnte, an dem er Gabriel wiederbegegnete. Seinem Herrn … Mit dem er noch eine Rechnung zu begleichen hatte! Daß der verdammte Knabe ihm an Kräften überlegen war, wußte der Vampir wohl. Aber Kräfte mußten in einer Auseinandersetzung nicht immer entscheidend sein, und die direkte Konfrontation mit Gabriel würde er nach Möglichkeit ohnedies meiden. Viel mehr interessierten ihn die weiteren Pläne des teuflischen Bürschleins. Denn sie wollte Hidden Moon durchkreuzen! Weil niemand ihm ungestraft die Freiheit nehmen durfte – nicht einmal der Leibhaftige selbst … Bis dahin mußte der Vampir nicht fürchten, Not zu leiden. Denn nie war ihm der Tisch reicher gedeckt gewesen als hier. Unter diesem Aspekt betrachtet, fand Hidden Moon doch allmählich Gefallen an Paris … Trotzdem achtete er darauf, nicht aufzufallen. Nicht zuletzt deshalb hatte er Lucia Goldinis Begleiter in der vergangenen Nacht auch am Leben gelassen. Damit der Verdacht des Mordes nach Möglichkeit auf ihn fiel. Daß man ihm die Tat nicht würde nachwei-
sen können, war eine andere Sache. Hidden Moon jedenfalls ging davon aus, daß man einem Verdächtigen den Mord irgendwie anhängen würde, wenn man des wahren Täters nicht habhaft wurde. Daß er die junge Italienerin überhaupt gefunden hatte, dazu hatte ihm der Zufall verholfen. Ohne daß sie ihn wiedererkannt hätte – schließlich hatte Gabriel ihre Erinnerung an den Zwischenfall auf dem Flughafen von Rom ausgelöscht –, war sie ihm über den Weg gelaufen. Sie weiter zu beobachten, war ein Kinderspiel gewesen. Und sie zu töten, war schon Teil seiner Rache an Gabriel – weil er damit hatte beenden können, was der Knabe ihm in Italien verdorben hatte … Nun sann der Arapaho über sein weiteres Vorgehen nach. Vielleicht, überlegte er, sollte er sich eine Dienerkreatur schaffen, die in seinem Auftrag die Gegend, in der Gabriel ihn zurückgelassen hatte, im Auge behielt, um ihm zu melden, wenn der Knabe zurückkehrte, um seinen Diener zu sich zu holen. Hidden Moon nickte. Der Gedanke war nicht übel. Und so hielt er Ausschau nach einem geeigneten Kandidaten …
* Mimiche hieß nicht wirklich Mimiche. Es mußte die Verballhornung seines wahren Namens sein, den niemand kannte und den der Boulevard-Reporter wohl längst selbst schon vergessen hatte. Mimiche war in der Pariser yellow press zu einem Markenzeichen geworden, wenn auch zu einem von eher zweifelhafter Qualität – zumindest aber durfte man nicht immer Seriosität von Mimiche erwarten. Aber das tat auch niemand. Wollte man sachlich fundierte Artikel lesen, griff man eben nicht nach einer Story von Mimiche. Daß er jedoch als freier Reporter gut im Geschäft war, legte den Schluß nahe, daß seine Art des Schreibens und des »Geschichten-Anpackens« gefragt waren. Was nicht erst seit dem tödlichen Unfall der Princess of
Wales und ihres Geliebten kein Geheimnis war. Der Sensationsjournalismus bediente »nur« einen Markt, und mithin machte sich dieser Markt mitschuldig an den Auswüchsen solcher Lust an der Intimsphäre Prominenter … Mimiche war im 13. Arrondissement zu Hause, wo in Krimis von Simenon und Malet die schönsten Morde geschahen, der sentimentalen Kulisse wegen: schmuddelige Häuser, nasses Kopfsteinpflaster, altmodische Plätze und Restaurants, in denen kleine Leute an engen Tischen Alltägliches bereden. Kurzum: Im 13. Arrondissement entsprach die Stadt noch immer jenem Bild, das Menschen in aller Welt von Paris im Kopf hatten. Philemon de Lamaze verzichtete darauf, an der Haustür zu klingeln, zumal er davon ausging, daß die Klingel sowieso nicht funktionierte. Als eine ältere Frau das schmalbrüstige Haus verließ, schlüpfte er durch die Tür, ehe sie ins Schloß fiel, und stieg dann die knarrenden Holzstufen in die zweite Etage hinauf. In den altersschwachen Paternoster setzte er noch weniger Vertrauen als in die Klingel … Im Treppenhaus roch es nach Zigaretten- und Pfeifenrauch, nach Fisch- und Gemüsesuppe und nach ein paar Dingen, die nicht einmal Philemons feine Nase zu entschlüsseln wußte. Vor Mimiches Appartementtür konzentrierte sich der Zigarettengeruch, und darunter lag, wenn man exakt zu riechen verstand, der Geruch von Papier und Druckerschwärze. Was – Philemon lächelte – aber auch bloße Einbildung sein konnte … Mit den Knöcheln pochte er fest gegen die Tür – die unter der Berührung aufschwang; Ein Stückweit jedenfalls, denn schon wurde sie von einem Zeitungsstapel, die im dahinterliegenden Korridor zuhauf standen, gebremst. Einen Moment lang war Philemon beunruhigt. Offene Türen verhießen selten etwas Gutes. Mimiches markante Stimme beruhigte ihn jedoch umgehend wie-
der. »Komm rein«, rief er, »ich habe dich schon erwartet!« Philemon schob sich durch den Türspalt und drückte die Tür hinter sich zu. Wie ein Storch stieg er dann über die Zeitungsstapel im Flur hinweg und erreichte schließlich Mimiches »Allerheiligstes« – eine wohl einzigartige Mischung aus Heimredaktion, Küche, Wohnund Schlafzimmer. Wozu Mimiche die anderen Zimmer seiner Wohnung nutzte, hatte Philemon nie erfahren; vermutlich als Archiv. Oder er versteckte darin irgendwelche Leichen, die er in der Saure-Gurken-Zeit hervorholte … Der Nebel, der über Paris lag, schien einen heimlichen Weg in Mimiches Appartement gefunden zu haben. Graublauer Dunst hing über allem, und der Reporter selbst schien regelrecht zu dampfen, so sehr war er in Zigarettenqualm gehüllt. Eines der zahlreichen Telefone, die über den Raum verteilt waren, schlug an. Mimiche streckte sich, nahm den Hörer ab und legte ihn gleich wieder auf. »Jetzt nich’«, brummte er. »Kannst du hellsehen?« spielte Philemon auf Mimiches Bemerkung an, daß der ihn schon erwartet hätte. »Nein, aber aus dem Fenster sehen.« Der Reporter, ein schlaksiger Typ mit markantem Gesicht, das ein klein wenig an den jungen Belmondo erinnerte, wies zum Fenster hin, zu dem der Weg einem Hürdenlauf gleichen mußte. »Allerdings habe ich mir ohnehin gedacht, daß du aufkreuzen würdest, nach dem, was da letzte Nacht passiert ist«, fuhr Mimiche dann fort. »Obwohl ich hoffte, dich nie mehr wiedersehen zu müssen.« »Und so was nennt sich nun Freund«, meinte Philemon, und er klang ehrlich betroffen. »Hab’ ich nie getan.« »Was?« »Behauptet, dein Freund zu sein. Wer Freunde wie dich hat, der
braucht keine Feinde mehr.« »Davon dürftest du sowieso genug haben. Kommt es da auf einen mehr oder weniger an?« entgegnete Philemon ernst. »Bon, mach’s kurz«, wechselte Mimiche das Thema. »Was willst du?« »Die Leiche.« »Du willst – was?« Mimiche schien aus seinem lädierten Schreibtischsessel aufspringen zu wollen, verhielt aber inmitten der Bewegung. »Das kann nicht dein Ernst sein …« Philemon winkte lächelnd ab. »Ich will sie nicht haben – nur sehen.« Mimiche stieß einen verächtlichen Laut hervor. »Willst du dir noch mal bei Tageslicht ansehen, was du in der Nacht angerichtet hast?« fragte er bitter. Philemon war nun vollends getroffen, tief ins Mark, und fast hätte er sich gekrümmt unter dem Vorwurf des Reporters. Wenngleich er ihn und seine ablehnende Haltung ja nur zu gut verstand. Vielleicht – ganz bestimmt sogar! – hätte er an Mimiches Stelle nicht anders reagiert. Im Gegenteil, fast bewunderte er den Reporter schon dafür, daß er ihm, de Lamaze, überhaupt Einlaß gewährt hatte … »Das war nicht ich«, sagte er nur, weil ihm jedes Wort mit einemmal schwerfiel. »Und das soll ich dir glauben?« »Habe ich dich schon einmal belogen?« »Nun, das nicht«, erwiderte Mimiche gedehnt. »Aber du erinnerst dich sicher auch an das, was ich dir letztes Mal versprochen habe, oder?« Philemon nickte gesenkten Blickes, aber Mimiche ließ es sich nicht nehmen, das Messer in der Wunde herumzudrehen und seinem Besucher besagtes Versprechen nachdrücklich in Erinnerung zu rufen. »Solltest du Paris noch einmal heimsuchen, habe ich dir gesagt, würde ich mein Schweigen brechen und dein kleines Geheimnis aufdecken. Jeder würde dann erfahren, wer und was du bist – und man
würde dich bis ans Ende der Welt jagen!« Mimiche, sonst die fleischgewordene französische Lässigkeit und Inbegriff der Ruhe selbst, hatte sich förmlich in Rage geredet; sein Blick sprühte vor Zorn, und Speichel flog ihm in feinen Tröpfchen von den Lippen. »Ich weiß …«, sagte Philemon leise, und er stand da wie ein gemaßregelter Schuljunge, »… aber ich schwöre dir, daß ich es nicht war. Und … ich werde nie mehr nach Paris kommen, wenn –« Er stockte. »Wenn was?« fuhr Mimiche ihn an, kaum ruhiger denn zuvor. »Wenn ich dir noch einmal helfe? Wenn ich mir die Hände noch einmal mit Blut beschmiere?« »So ist es nicht!« gab Philemon zurück. Verzweiflung ließ nun auch ihn lauter werden. »Aber deine Hilfe brauche ich tatsächlich.« »Warum sollte ich das tun?« »Weil wir einen anderen Mörder aufhalten müssen! Ich muß ihn finden, verstehst du? Und die Chance wird sich so rasch nicht wieder bieten.« Mimiche nickte, weil er wirklich verstand. »Ich weiß, erst wieder in einem Jahr. Wenn überhaupt …« »Ja«, sagte Philemon, schluckte hart und hektisch; trotzdem sprach er mit belegter Stimme weiter: »An Mamas Geburtstag …« »Alle Jahre wieder«, knurrte der Reporter zynisch. Scharf faßte er Philemon de Lamaze ins Auge. »Was ist noch? Ich seh’s dir doch an, daß du noch etwas anderes auf dem Herzen hast – wenn du überhaupt sowas wie ein Herz besitzt …« Wieder fühlte der junge Mann sich tief verletzt, und er vermochte es kaum mehr zu verbergen. Vage Betroffenheit und zumindest ein Anflug von Mitleid ließen Mimiches Tonfall wenigstens eine Spur sanfter werden, als er ihn aufforderte: »Nun red schon. Spuck’s aus. Papa Mimiche hat ein offenes Ohr für jede Art von Geschichten, das weißt du doch.«
»Es ist –«, setzte Philemon an und suchte nach geeigneten Worten, »naja, es könnte sein, daß jemand ganz anderer den Mord begangen hat.« »Wie kommst du darauf?« fragte Mimiche alarmiert. »Ich war am Tatort«, erklärte Philemon und fügte auf Mimiches Blick, der lautlos sagte ›Wußte ich’s doch!‹, rasch hinzu: »Nein, nicht heute nacht – erst vorhin. Aber … nun, es war so wenig Blut dort …« »Und?« »Du weißt doch, wie es aussieht, wenn ein –« Mimiche nickte grimmig. »Wie auf einem Schlachtfeld sieht’s da normalerweise aus!« »Eben. Und drüben am Montmartre hat es eben nicht so ausgesehen.« »Ich habe die Tote gesehen«, sagte der Reporter, »und ich bin hundertpro sicher: Das kann kein Mensch getan haben! Kein Mensch kann so ein Tier sein –« Philemon griff in die Tasche seiner Jacke und holte hervor, was er in der Nähe des Tatorts gefunden hatte. »Vielleicht war es ja ein Tier«, sagte er langsam. Mimiche nahm das Fundstück entgegen, das Philemon ihm hinhielt. »Was ist das?« fragte er, obwohl er freilich sah, was es war; nur schien er den Zusammenhang nicht recht zu verstehen. »Eine Feder«, antwortete Philemon. »Du willst mir doch nicht weismachen, daß ein Vogel –« Mimiche lachte trocken auf. »Das ist Unsinn!« »Das ist die Feder eines Adlers«, erklärte Philemon und tippte sich bezeichnend an die Nase. »Wenn ich mich auf meinen Riecher verlassen kann …« »Ich weiß nicht recht«, meinte Mimiche zweifelnd, während er die lange dunkle Feder in den Fingern drehte.
»Sorge dafür, daß ich die Leiche sehen kann, und wir werden vielleicht mehr wissen«, bat Philemon. Er lächelte, weil er den Reporter schon auf seiner Seite wußte. Mimiche hatte Blut geleckt, im beinahe wörtlichen Sinne. Und erwartungsgemäß sagte er: »Na gut, ich will sehen, was ich tun kann.« Seine Rechte langte schon nach dem nächstbesten Telefonapparat. Bevor er jedoch wählte, sah er – wenn auch mit aufgesetztem Vorwurf im Blick – zu Philemon hin und grummelte: »Du bringst mich noch ins Grab – zumindest aber um meinen Job.« »Wozu hat man Freunde wie mich auch sonst?« erwiderte Philemon de Lamaze – noch spöttisch und leichthin ….
* Hidden Moon verließ das Gassenlabyrinth nahe des Seineufers. Aber obwohl ihm der Gestank und der Unrat dort zuwider waren, kehrte er fast zögernd in belebtere Gegenden zurück. Paris war ihm nach wie vor nicht ganz geheuer. Die Stadt kam ihm noch immer vor wie ein gefräßiger Moloch. Die relative Einsamkeit des Viertels, das nun hinter ihm lag, war geradezu Balsam für die dunkle Seele des Arapahos gewesen. Trotzdem – es schien ihm nicht ratsam, sich dort länger aufzuhalten, als es erforderlich gewesen war. Außerdem hätte er sich dann sparen können, was er gerade getan hatte – einen Wachtposten aufzustellen, der unverzüglich Alarm schlagen würde, wenn Gabriel zurückkehrte. Nein, er mußte seinen Plan so durchziehen, wie er ihn sich ausgedacht hatte. Nur dann würde er funktionieren. Und dazu mußte der Vampir sich eben wieder unter Menschen begeben, damit Gabriel seine Spur nicht allzu leicht fand – wenn er es denn überhaupt so ohne weiteres vermochte. Die Kräfte des Bürschleins bedeuteten Hidden Moon noch immer ein Mysterium. Wozu Gabriel in der
Lage war, und was seine Macht überstieg – der Arapaho wußte es nicht. Andererseits wollte er diese Kraft auch nicht am eigenen Leibe erprobt wissen … Der Gedanke beflügelte seine Schritte. Plötzlich trachtete Hidden Moon, die Distanz zwischen sich und seinem einstigen Kerker schnellstens zu vergrößern! Er wußte ja nicht, wann der teuflische Knabe zurückkam – und wie übelgelaunt er sein würde …
* Den Zutritt in die Leichenkammer des gerichtsmedizinischen Instituts von Paris zu erwirken hatte sich schwieriger gestaltet, als Philemon de Lamaze angenommen hatte. Mimiche hatte eine ganze Reihe von Telefonaten führen und etliche Kontakte spielen lassen müssen, bevor es endlich grünes Licht gab. Nun, hellgrünes Licht zumindest – denn gerngesehene Besucher würden sie dort trotz allem nicht sein … Der Reporter parkte seinen nicht mehr ganz taufrischen Peugeot etwas abseits des riesigen Gebäudes, in dem neben der Gerichtsmedizin auch andere polizeiliche Institutionen ihren Sitz hatten. »Bist du neuerdings schlecht zu Fuß?« fragte er, als Philemon sich über die Entfernung mokierte. »Nein, aber von Natur aus faul. Warum hat Gott des Menschen Fuß wohl nach dem Gaspedal eines Autos geformt? Bestimmt nicht, auf daß der Mensch damit laufe«, erwiderte Philemon grinsend. »Ob der liebe Gott mit deinem Fuß irgendwas zu schaffen hatte, wage ich zu bezweifeln«, konnte der Reporter sich einen verbalen Seitenhieb nicht verkneifen. »Darüber kann ich nicht lachen.« »Dacht’ ich mir schon.« Auf dem Weg zum Institut hielten sie sich im Schatten von Bäu-
men und im toten Winkel der Gebäudefenster. Mimiche war in den meisten Pariser Kreisen bekannt wie der berühmte bunte Hund, und er hatte seinem Kontaktmann versprechen müssen, daß er die Gerichtsmedizin unbemerkt betreten würde. Die Tote vom Montmartre wurde offensichtlich gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Durch eine winzige Tür an der Rückseite des Gebäudes traten sie ein und fanden sich in einem Bereich des Kellers wieder, der seit langem nicht mehr genutzt zu werden schien. Am Fuß einer Treppe wurden sie schließlich erwartet. Ein jüngerer Mann in grünem Kittel reichte ihnen nach knappem Gruß zwei gleichfarbene Mäntel nebst Mundschutz. »Hier, zieht das an«, sagte er und winkte ihnen dann, ihm zu folgen. »Man könnte meinen, wir würden hier etwas Verbotenes tun«, meinte Philemon. Das Einwegmaterial vor seinem Mund dämpfte seine Stimme. »Das tun wir auch«, belehrte ihn Mimiche. »Klappe halten!« schnauzte ihr Führer. »Du warst schon freundlicher«, beschwerte sich der Reporter bei seinem Kontaktmann. »Du hast auch schon besser gezahlt«, rechtfertigte sich der Grünkittel. Mittels eines Aufzuges, der sonst nur zum Lastentransport genutzt wurde, fuhren sie zwei Etagen in die Höhe. Über Schleichwege, die durch Abstellräume und Putzkammern führten, geleitete der junge Medizinische Assistent die beiden heimlichen Besucher dann in einen der gekachelten Räume, deren Ausstattung sich auf Schubfächer in den Wänden und sterile Metalltische mit Ablaufrinnen beschränkte. An keinem Ort der Welt konnte der Begriff von der Totenstille größere Bedeutung haben als hier. In diesem Raum war nur eine der Bahren belegt. Dunkle Flecken verunstalteten das Tuch, das über die Leiche gebreitet war.
»Ihr habt fünf Minuten«, sagte der junge Mann, »keine Sekunde länger. Dann ist die Pause hier vorbei, und die Untersuchung wird fortgesetzt. Und sollte euch jemand erwischen – ich kenne euch nicht, habe euch nie gesehen. Klar?« »Nun mach dir mal nich’ in deinen Kittel«, murrte Mimiche. »Sieht so scheußlich aus, Braun auf Grün.« Wortlos, aber giftigen Blickes machte sich der andere aus dem Staub. Mimiche wartete, bis die Tür hinter seinem Bekannten zugeklappt war, dann wandte er sich Philemon zu. »Na denn«, sagte er, »tu, was du nicht lassen kannst. Aber beiß nicht rein, ja?« Bezeichnend wies er auf die verhüllte Tote. »Spar dir deine dummen Witze«, gab Philemon zurück. »Ich habe mich geändert«, fügte er dann hinzu. »Ach?« machte Mimiche. »Machst du sowas wie ‘ne Therapie für reumütige –« Das bewußte Wort wollte ihm nie recht über die Lippen. »Sowas Ähnliches.« Mimiche hob erstaunt die Brauen. »So was gibt es wirklich?« »Ja.« Philemon griff nach dem Leinentuch, hob es an und zog es dann bis zur Brust der Toten weg. Er widerstand dem Reflex, die Augen zu schließen. Zum einen war er schließlich extra hergekommen, um sich die Leiche anzuschauen, und zum anderen hatte er schon sehr viel übler zugerichtete Tote gesehen – und nicht nur gesehen … Der Hals des Mädchens war eine einzige Wunde. Weitere Verletzungen fanden sich in ihren Armbeugen sowie in den Kniekehlen. Und die Blässe ihrer Haut konnte nicht allein der Tod verursacht haben. Vielmehr – »Sie scheint völlig blutleer zu sein«, flüsterte Philemon erstaunt. »Vielleicht war der Mörder nicht hungrig, sondern nur durstig«, ließ Mimiche eine weitere zynische Anspielung vom Stapel.
Philemon überging den Unterton und schüttelte den Kopf. »Das war keiner von meiner Art. Die Wunden sind völlig atypisch.« »Du mußt es ja wissen …« »Und du solltest es noch wissen«, gab Philemon nun seinerseits bissig zurück. »Erinner mich bloß nicht dran«, murmelte Mimiche. »Was also geruhen Monsieur Professeur zu diagnostizieren?« Philemon hob die Schultern und holte die Adlerfeder ein weiteres Mal aus seiner Tasche. »Ich weiß zwar nicht, wie das hier dazu passen sollte«, sagte er, die Feder hebend, »aber ich würde sagen … das war ein Vampir. Wenn auch die Bißmale selbst für eine solche Kreatur zumindest außergewöhnlich sind.« Mimiche keuchte, erschrocken und entrüstet in einem. »Nun mach aber mal ‘nen Punkt!« fuhr er auf. »Übel genug, daß du mich dazu gebracht hast, diese eine Geschichte zu glauben – aber jetzt kommst du auch noch mit Vampiren daher! Was willst du mir als nächstes auftischen? Daß der Teufel selbst Paris heimsuchen wird?« Philemon grinste verunglückt. »Wenn es solche wie mich gibt«, er wies mit dem Daumen auf sich, »warum sollte es dann nicht auch Vampire geben?« »Weil –«, setzte Mimiche erregt an und rang nach Worten, »– weil eure Sorte schlimm genug ist! Mehr verkraftet diese Welt nicht …« »Du hast ja keine Ahnung, was wirklich in dieser Welt vorgeht«, meinte Philemon. Aber es klang nicht die Spur mitleidig – eher schon so, als bedauere er, daß er selbst es wußte. Hallende Schritte klangen auf, wurden lauter, kamen näher. Synchron wandten Philemon und Mimiche sich zur Haupttür um. »Verdammt«, entfuhr es Philemon. »Was jetzt?« »Keine Sorge, komm mit.« Mimiche zog ihn mit sich zu einer schmalen Tür, die am Ende der Wand mit den Kühlfächern fast ver-
steckt lag. »Du scheinst dich hier ja ganz gut auszukennen«, meinte Philemon, als sie draußen waren. »Glaubst du, du bist der einzige, dem ich hier Leichen zeigen muß?« gab der Reporter zurück, während sie zurück zum Auto hasteten. Mimiche setzte sich hinters Steuer des Peugeot. »Wohin jetzt, der Herr?« »Einen Besuch machen«, sagte Philemon nur. »Bei Mama, nehme ich an?« Philemon de Lamaze nickte, ohne ihn anzusehen. Mimiche fuhr los.
* Cimetière du Père Lachaise, Cimetière de Gentilly, Cimetière de Montmartre – das waren die großen und vor allem die bekannten Friedhöfe von Paris; nicht nur Ruhestätten der Toten, sondern fast mehr noch Pilgerstätten für Touristen; denn dort waren große Persönlichkeiten zu Grabe getragen worden, Künstler ebenso wie Politiker und historische Berühmtheiten. Der kleine Friedhof nahe der Avenue Victor Hugo konnte nicht mit großen Namen aufwarten, er besaß ja noch nicht einmal selbst einen. Jean Grenouille nannte ihn nur seinen Friedhof, sein Reich. Er hatte ihn gewissermaßen okkupiert; nicht in dem Sinne, daß er dieses Fleckchen Paris besetzt hielt. Nein, er pflegte es. Ehrenamtlich sozusagen, und unentgeltlich. Nur um der Toten willen, und zum Gefallen derer, die ihre verstorbenen Lieben hier besuchten. Ab und an steckte einer von ihnen dem Alten ein paar Franc zu, aber er hätte es auch ohne Lohn getan. Vielleicht, weil die Toten ihm die liebste Gesellschaft waren, nachdem die Lebenden ihn seit jeher mieden …
Das mochte daran liegen, daß er mit seinem Buckel und dem blinden Auge ihrer Idealvorstellung menschlicher Schönheit nicht einmal nahekam – wie auch immer, er hatte es vor langer Zeit schon aufgegeben, sich deswegen zu grämen. Mit der bescheidenen Zuwendung, die er von städtischer Seite (oder staatlicher – so genau wußte er das nicht …) erhielt, hatte Jean Grenouille sein Auskommen, genügsam wie er war, und Freunde hatte er auf seinem Friedhof genug. Stumme, aber geduldige Zuhörer waren sie ihm, und Grenouille meinte gar, den stillen Dank, dem sie ihm für seine Arbeit zollten, spüren zu können. Er wärmte ihm Herz und Seele, und mochten die Leute auch sagen, die Toten wären kalte Gesellen – er wußte es allemal besser … Es dämmerte schon, als Jean Grenouille aus dem kleinen Leichenhaus trat und dorthin blinzelte, wo im Nebeldunst die Sonne gerade versinken mußte, während am Horizont gegenüber schon der volle Mond aufzog. Zwei Verstorbene lagen in der kleinen Halle aufgebahrt. Ein älterer Herr, der selbst bis vor wenigen Tagen noch regelmäßig den Friedhof aufgesucht hatte, um nach dem Grab seiner Frau zu sehen und es morgen schon mit ihr teilen würde; und ein – für Grenouilles Begriffe jedenfalls – noch junges Weib von geradezu sündiger Schönheit, wie er fand. Sorgsam um sich schauend, ob auch niemand ihn sah, schlich Grenouille aus dem Leichenhaus. Aber zu so später Stunde zog es die Leute nicht mehr auf den Friedhof. Ganz so, als glaubten sie, die Gräber würden sich im Dunkeln öffnen, um den Lebenden den Weg in die Hölle hinab zu weisen – Aber halt! Grenouille stutzte. Was war denn das? Dort drüben, bei den Gräbern nahe der Mauer? Bewegte sich da nicht etwas? Tatsächlich trieb sich da jetzt noch ein Besucher um. Grenouille straffte sich, so gut es seiner krummen Gestalt eben
möglich war, und machte sich auf den Weg. Höflich, aber bestimmt würde er den Mann dort bitten, zu gehen. Denn zumindest in der Nacht sollten auch seine Freunde ungestört ruhen dürfen … »Monsieur?« sprach er den Fremden schließlich an, der vor einem der Gräber kniete. Darin schlief seine Freundin Marie den ewigen Schlaf; Grenouille kannte die Namen aller Toten hier. Der Mann indes schien ihn nicht zu hören. Grenouille sprach ihn ein weiteres Mal an und sagte: »Sie sollten gehen, Monsieur, ich möchte das Tor abschließen.« Er ließ vernehmlich die rostigen Schlüssel am Gürtelbund klimpern. Ein ganz eigenartiger Laut drang zu Grenouille. Er schauderte. Nie zuvor hatte er einen solchen Ton gehört. Ein klein wenig erinnerte er ihn an das Knurren eines Hundes – aber einem Hund, der solche Laute von sich gab, wollte Grenouille im Leben nicht begegnen … »Sie sollten gehen«, hörte er den Mann am Grab sagen. »Glauben Sie mir, es wäre nur zu Ihrem Besten.« »Ich verstehe nicht –« »Das müssen Sie auch nicht. Tun Sie einfach, was ich sage. Gehen Sie!« Die Worte des Fremden klangen drohend, und wieder vernahm Grenouille diesen unheimlichen Laut – in der Stimme des Mannes dort …! Was war das nur für ein seltsamer Kauz? fragte sich Jean Grenouille. Na, wer auch immer er war – er hatte nicht das Recht, ihn von hier fortzuweisen. Solches Recht stand allein ihm selbst zu! Andererseits jedoch – sollte der Fremde doch ruhig noch ein Weilchen bleiben. Marie bekam so selten Besuch … »Gut, noch ein paar Minuten«, sagte Grenouille, »aber dann müssen Sie gehen.« Er wandte sich um – und erstarrte, kaum daß er es getan hatte! Das bösartige Knurren schwoll an, wurde laut und immer lauter, und schon war es direkt hinter ihm. Heißer, übler Atem fuhr ihm
über den Nacken und umnebelte Grenouille zur Gänze – – vermengt mit dem Geruch seines eigenen Blutes … Der Tod erbarmte sich seines treuen Dieners, ehe furchtbarster Schmerz ihn in den Wahnsinn treiben und umbringen konnte.
* »Merkwürdig«, murmelte Philemon de Lamaze, als er das Gittertor zu dem kleinen Friedhof aufstieß, »daß hier nicht abgeschlossen ist.« »Wieso sollte das Tor abgeschlossen sein?« fragte Mimiche, der ihm folgte. »Damit nachts die Kundschaft nicht davonläuft? Sehr unwahrscheinlich, daß die Toten sich dazu aufraffen könnten.« Er wies über das kleine Gräberfeld, über dem die beginnende Nacht schon ihre Schatten mit dem Nebel verwoben hatte. »Ich dachte, alle Friedhöfe würden nachts abgesperrt«, meinte Philemon, während er den Hauptweg des Gräberfelds entlangging und die linkerhand davon abzweigenden in Gedanken mitzählte. »Nur die, auf denen es etwas zu holen gibt«, behauptete Mimiche. »Der Père Lachaise beispielsweise. Stände der nächtens offen und unbewacht, hätten etwa Jim Morrison und Oscar Wilde vermutlich schon keine Grabsteine mehr –« »– sieben, acht!« zählte Philemon die Seitenwege nun laut und sagte dann: »Hier ist es.« Er bog in den bezeichneten Weg ab, lief an der Reihe der Gräber entlang, bis hin zum letzten, das bereits im Schatten der Friedhofsmauer lag. Dort blieb er stehen. Mimiche hielt sich zwei, drei Schritte abseits. Ein schlichter Stein, schräg in der Erde steckend, schmückte dieses Grab, eine geschliffene Granitplatte deckte es ab. Immer geliebt Marie de Lamaze 1950-1988 stand in schnörkellosen Metallettern auf dem Grabstein.
Auf der Platte lag ein Strauß frischer Rosen. Philemon wußte, daß es achtundvierzig waren, ohne sie zählen zu müssen. Seine Mutter wäre morgen achtundvierzig Jahre alt geworden … »Er war schon hier«, sagte er rauh. Der Atem dampfte ihm in der kalten Nachtluft vor den Lippen. »Ich weiß.« Mimiches Stimme klang erstickt, als kämpfe er gegen Brechreiz an. »Was ist?« fragte Philemon. Er drehte sich nach seinem Begleiter um, vage beunruhigt. Mimiche deutete stumm auf eine Stelle zwischen zwei anderen Gräbern. Ein dunkler Umriß zeichnete sich, seltsam unförmig, am Boden ab. Erst als er nähertrat, erkannte Philemon, worum es sich dabei handelte. »Nein!« entfuhr es ihm. Mimiche stieß einen undefinierbaren Laut aus. Vermutlich kam ihm immer noch der Magen hoch. Der Tote sah ganz und gar nicht so aus, als sei er friedlich entschlafen. Genau genommen sah er noch nicht einmal wie ein Toter aus, sondern so, als habe eine Schlachterei nicht verwertbares Fleisch und Innereien kurzerhand an dieser Stelle »entsorgt« … »Der arme Kerl hatte offenbar das Pech, ihm über den Weg zu laufen«, meinte Mimiche. Philemon nickte. »Ich muß ihn finden. Unbedingt. Noch heute Nacht.« »Wie willst du das anstellen?« fragte Mimiche, während Philemon wie ein gereizter Tiger auf und ab lief. »Willst du ihn einfach rufen?« Philemon verhielt mitten im Schritt und schnippte mit den Fingern. »Das ist es!« Der Reporter lachte humorlos auf. »Du bist nicht bei Trost. Wie soll das funktionieren?«
Philemon grinste nicht minder trocken. »Er wird meinem Ruf folgen – weil er ihm nicht wird widerstehen können.« Mimiche nickte, die Lippen verziehend. »Verstehe. Der Ruf des Blutes und sowas, hm?« »Genau«, sagte Philemon. »Ich muß nur einen Ort finden, von dem aus mein Ruf so weit wie nur möglich trägt.« Er sah sich um. »Irgend etwas Hohes am besten –« Er erstarrte, den Blick nach Süden gerichtet, hinweg über die Wipfel der Bäume, die den kleinen Friedhof säumten, dorthin, wo in einiger Entfernung und jenseits der Seine ein stählernes Skelett himmelhoch aufragte, das durch die nächtliche Illumination weißglühend aussah. Philemon nickte triumphierend. »Fahr mich zum Eiffelturm«, bat er Mimiche dann. Der Reporter stöhnte gequält. »Merde! Du bringst mich in Teufels Küche.« »So schlimm wird’s schon nicht werden«, meinte Philemon. Und noch grinste er dabei.
* In klaren Nächten herrschte stets reger Betrieb im und um den Eiffelturm. Heute jedoch, da Nebel die Sicht trübten, stand die 7000 Tonnen schwere Stahl-und-Eisen-Konstruktion nahezu einsam da. Die Anzahl der Leute, die zu einer der drei Besucherplattformen hinaufsteigen oder -fahren wollten, war überschaubar, und Mimiches Presseausweis beeindruckte sie zumindest so sehr, daß sie dem Reporter und Philemon de Lamaze den Vortritt ließen. Das unscheinbare Plastikkärtchen ersetzte ihnen außerdem die Tickets für den Lift. »Was wirst du tun, wenn er deinem Ruf folgt?« fragte Mimiche leise, als sie Seite an Seite inmitten weiterer Besucher in der geräumigen Fahrstuhlkabine standen. »Ich betone, wenn er es tut. Denn ich
glaube nicht, daß er so blöd sein wird. Wenn er dich überhaupt hört – was ich für noch unwahrscheinlicher halte …« Philemons Antwort ließ sekundenlang auf sich warten. Und schließlich sagte er nur, mit dunkler, fremd klingender Stimme: »Dann gnade ihm Gott.« Mimiche konnte sich eines Schauderns nicht erwehren … Drei Personen stiegen in der ersten, 57 Meter hoch gelegen Etage aus. Die anderen fuhren weiter bis zur nächsten, von der aus man immerhin 115 Meter in die Tiefe spucken konnte. Bis zur dritten und letzten, 276 Meter über dem Boden, wagte sich niemand hinauf – außer Philemon und Mimiche. Ein einsamer Wachmann versah dort oben seinen Dienst. Mimiche trat zu ihm. »’n Abend, Louis.« »Mimiche!« rief der Uniformierte aus, und es war nicht ganz klar, ob es Freude oder Verzweiflung war, das seine Stimme färbte. »Was treibt dich zu dieser Stunde und bei diesem Wetter hier herauf?« Diesmal war sich Philemon sicher, daß er etwas im Tonfall des Wachmanns hörte, das nahendes Ungemach fürchtete. Mimiche umging die Frage und griff in die Hosentasche. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.« Philemon hörte das Knistern von Papier, das so rasch den Besitzer wechselte, daß es mit Blicken kaum nachzuverfolgen war. »Das hab’ ich befürchtet«, stöhnte der Mann vom Sicherheitsdienst. »Nichts Schlimmes«, beruhigte Mimiche ihn. Sein Ton verriet allerdings, wie unangenehm ihm seine Bitte selbst war. »Laß mich und meinen Freund hier –«, er wies mit dem Daumen über die Schulter auf Philemon, der dem Wachmann übertrieben höflich nickend zulächelte, »– für eine Weile allein hier oben. Und sorg dafür, daß wir nicht gestört werden. Es sei denn –« Er beschrieb Louis einen Mann, den er zu ihnen herauflassen sollte – so er denn kom-
men sollte … »Mon dieu, Mimiche!« entfuhr es Louis. Sein Mienenspiel schien ihm völlig außer Kontrolle geraten zu sein. »Ich wußte nicht, daß du – ich meine, ich dachte du hättest bei den Weibern ‘nen richtigen Schlag, und jetzt –« Sein entgeisterter Blick blieb an Philemon hängen. »Na ja, ein hübscher Bengel ist er ja, muß man ihm lassen – und dann erwartet ihr auch noch ‘nen dritten dazu? Bei der Scheißkälte?« Ein weiterer Geldschein wechselte von Mimiches Hand in Louis’. »Und kein Wort – zu niemandem, klar?« sagte der Reporter. »Natürlich nicht«, versicherte der Sicherheitsdienstler. »Ich schweige wie ein Grab. Obwohl – es könnte nicht schaden, wenn …« Er rieb die Finger aneinander. »Elende Ratte«, zischte Mimiche, legte aber zähneknirschend noch ein Scheinchen drauf. Dann endlich zog Louis sich zurück. Mimiche meinte noch, irgend etwas zu hören, das wie »Verrückte Schwuchteln« klang, ehe der Uniformierte endlich in der Fahrstuhlkabine verschwand und nach unten fuhr. Nach einer Weile leuchtete seitlich des Zustiegs eine rote Lampe auf, die signalisierte, daß der Lift außer Betrieb war. »Verdammt teurer Spaß«, knirschte Mimiche, als Philemon zu ihm getreten war. »Du tust es zum Wohle der Menschheit«, tröstete ihn der. »Nu’ übertreib mal nich’ so schamlos.« »Na gut, zumindest Paris wird was davon haben.« »Wenn’s klappt«, schränkte Mimiche ein. »Wie soll dein Spielchen jetzt überhaupt ablaufen?« Philemon antwortete nicht. Schweigend entledigte er sich statt dessen seiner Kleidung, bis er nackt im beißenden Wind stand. »Eines ist jedenfalls sicher: Du wirst dir den Tod holen«, meinte Mimiche, aber sein Spott wollte nicht recht greifen. Seine Stimme zitterte, nicht nur der Kälte wegen. Er spürte, daß es ernst wurde.
Philomen beugte sich zu seinen abgelegten Kleidern hinab, griff in die Jackentasche, dann reichte er dem Reporter einen kurzläufigen Revolver. »Was soll ich damit?« fragte Mimiche verwirrt. »Zu deiner Sicherheit«, erklärte Philemon. Er bebte am ganzen Leibe. Der Reporter ließ die Trommel ausklappen. »Nur zwei Kugeln?« fragte er. Philemon nickte. »Aus Silber. Habe ich anfertigen lassen. Was glaubst du, wie teuer das Zeug ist?« Er grinste grimassenhaft. Dann wurde er übergangslos ernst. »Wenn ich irgendwelche Dummheiten machen sollte – erschieß mich.« Mimiche öffnete den Mund, doch sekundenlang brachte er keinen Ton hervor. »W-was soll ich t-tun?« stammelte er schließlich. Sein Blick wechselte unentwegt zwischen der Waffe in seiner Hand und Philemon de Lamaze hin und her. »Mich erschießen«, wiederholte der. »Wenn ich dich angreife, wenn irgendwas Unvorhersehbares passiert – dann tu’s einfach, ja?« »Du bist ja völlig irre!« »Ich wünschte, ich wäre nur das«, sagte Philemon düster. Dann wandte er sich dem von Nebeln verschleierten Mond zu, breitete die Arme aus, sank in die Knie – – und ließ geschehen, was er sich so lange verboten hatte. Mimiche sah starr und stumm vor Grauen mit an, was mit Philemon vorging. Deutlich wurde ihm vor Augen geführt, weshalb er gehofft hatte, ihn nie mehr wiedersehen zu müssen. Denn er wußte auch, wozu Philemon fähig war, was er zu tun gezwungen war, wenn er nicht mehr er selbst, nicht mehr der freundliche junge Mann war – sondern nur noch das Ungeheuer … Wenig später heulte ein Wolf hoch über den höchsten Dächern von Paris, und die Nacht trug seinen Ruf weit über die Stadt. Ir-
gendwo verwehte er – doch nur menschliche Ohren …
* Die kleine Bar lag in einer Seitenstraße der Avenue des Champs Élysées und zählte zu den Geheimtips der Pariser Nachtschwärmer. Noch! Sie würde es nicht mehr tun, wenn der Tip erst einmal jedermann zu Ohren gekommen und das verwinkelte Lokal hoffnungslos überlaufen war. Dann würde irgend jemand anderswo eine weitere Bar eröffnen, dafür sorgen, daß man sich erzählte, hier müsse man einfach mal gewesen sein, und so würde das immer weitergehen. Wie es seit Jahren eben schon so ging. Aimée Richis kannte alle ehemaligen und alle aktuellen Geheimtips. Sie flatterte schon seit Jahren durch das Pariser Nachtleben, bezeichnete sich selbst als »Nachtfalter« und verschwieg, daß sie die Nacht vor allem deshalb bevorzugte, weil das Kunstlicht der Bars die Fältchen besser und vor allem billiger kaschierte als jede Creme. Zweimal hatten Idioten schon versucht, sie zu vergewaltigen. In beiden Fällen hatten die Typen ihren Versuch mit schwerer Atemnot und tagelang tränenden Augen bezahlt. Ans Ziel ihrer perversen Träume waren sie nicht gekommen. Aimée bestimmte immer noch selbst, wem sie seine Träume erfüllte – und ob sie sich dafür entlohnen ließ … Warum sie gerade jetzt, da der dunkelhaarige Typ auf der anderen Seite der Bar sie auffallend unauffällig musterte (und das schon seit einer geraumen Weile), daran denken mußte, wußte sie nicht. Der Mann dort – um die Fünfzig, weder schlank noch dick, sondern von angenehm kräftiger Statur und erlesen gekleidet – sah nicht aus wie einer, der sich mit Gewalt nahm, was Frauen ihm freiwillig nicht zu geben bereit waren. Aimée Richis hatte einen Blick für so was – und sich bislang ja auch nur zweimal geirrt … Sie verfiel auf einen uralten Trick, um Näheres über den Typen in
Erfahrung zu bringen: eine Zigarette zwischen die Lippen und verzweifelt nach dem Feuerzeug suchend, das sie natürlich in ihrem Täschchen wußte, aber mit Absicht übersah. Eine Flamme sprang klickend vor ihrem Gesicht auf. Aimée nickte dankend, während sie dunkles, dichtes Haar auf einer sehnigen Faust sah, die sich um ein goldenes Feuerzeug schloß. Nicht billig, das Teil, und die Hand – durchaus interessant. Wie der Rest des Mannes. Er überragte Aimée um mindestens eine halbe Haupteslänge. Gut. Sie haßte Kerle, die kleiner waren als sie. »Gestatten Sie?« Der Mann sah fragend auf den freien Barhocker neben dem ihren. »Bitte sehr«, erwiderte sie, Rauchkringel blasend. »Ist ein freies Lokal in einem freien Land.« »So schnippisch? Ich kann mich auch auf meinen alten Platz –« »Excusez-moi, war nicht so gemeint. Bleiben Sie nur.« Er stellte sich vor, sie nannte ihren Namen. »Romaine«, wiederholte sie so langsam, als ließe sie sich seinen Namen auf der Zunge zergehen. »Ein schöner Name. Was tun Sie so, Romaine?« »Ich reise viel, stamme ursprünglich aus dem Elsaß.« »Leben Sie hier in Paris?« »Ich habe keinen wirklichen Wohnsitz. Ich lebe mal hier, mal da – wo es mir gerade gefällt«, antwortete er. Seine Stimme war dunkel und volltönend, angenehm. Aimée erschauerte bei der Vorstellung, wie diese Stimme ganz nah an ihrem Ohr klingen mußte, wenn sein Atem warm über ihren Hals strich … Aimée Richis! rief sie sich zur Ordnung. Was bist du nur für ein schmutziges kleines Mädchen? Sie kicherte, für Romain scheinbar grundlos. »Was ist so lustig?« fragte er. »Ich würde gerne mitlachen.« Er lächelte.
»Oh, ich bin sicher, wir würden einiges finden, worüber wir gemeinsam lachen könnten«, meinte Aimée zweideutig. »Das könnte ich mir auch vorstellen«, erwiderte er. Wie zufällig berührten seine Finger die nicht mehr ganz straffe Haut ihres Oberarmes. Aimée schloß für einen Moment die Augen, während etwas wie schwacher Strom von ihrem Arm bis hinab in die Fußzehen prickelte. »Ich wür-« »Was ist?« fragte sie, als Romain plötzlich mitten im Wort abbrach. Aimée musterte ihn erstaunt und aufmerksam. Romains Blick hatte sich verändert. Er galt nicht mehr der Frau an seiner Seite, sondern – Sie versuchte seiner Richtung zu folgen, fand aber nichts, was Romains Interesse geweckt haben könnte. »Haben Sie das auch gehört?« fragte er leise, aber irgendwie schien er sie nicht einmal bewußt anzusprechen. Er wirkte wie der Welt entrückt. »Nein«, erwiderte sie verwirrt. »Wovon reden Sie? Was ist denn los?« »Ich muß gehen«, sagte er hastig. Er warf einen Geldschein auf den metallbeschlagenen Tresen und rutschte vom Hocker. »Es tut mir leid«, murmelte er noch, dann eilte er zur Tür hinaus. Mehrere Gäste sahen ihm verwundert nach; offensichtlich hatten sie das sich anbahnende Techtelmechtel zwischen ihm und Aimée Richis beobachtet. Entsprechend amüsiert waren die Blicke, die man ihr zuwarf. Sie ignorierte sie. »Idiot!« fauchte sie in ihr Cocktailglas. Ohne zu wissen, wie glücklich sie sich schätzen durfte – denn heute Nacht hätte ihr nichts von all dem das Leben gerettet, was sie zur Verteidigung gegen unliebsame Verehrer in ihrer Handtasche mit sich schleppte … Vor der Bar steuerte der Mann eines der bereitstehenden Taxis an. Er nahm im Fond Platz, weil der Beifahrersitz von einem grauen
Perserkater besetzt war. »Wohin?« fragte der Fahrer, nicht allzu freundlich. »Nach – Südwesten«, antwortete Romain nach kurzem Zögern. »Was?« Der Glatzkopf hinter dem Steuer war hörbar unzufrieden mit der Zielangabe. Romaines Arm legte sich ihm blitzschnell um den Hals und preßte den Fahrer hart gegen die Kopfstütze. Das Tier auf dem Beifahrersitz fauchte, so lahm und wenig überzeugend jedoch, daß die Vermutung nahelag, es gäbe auch schwule Kater … »Du hast es gehört«, knurrte Romaine. »Und nun fahr los, sonst ist die Nacht für dich vorbei, verstanden?« »J-ja, natürlich«, keuchte der Glatzkopf und gab Gas. Unterwegs sagte ihm sein Fahrgast immer wieder, wann er die Richtung zu wechseln hatte. Bis er ihm schließlich ein konkretes Ziel nennen konnte. »Zum Eiffelturm.« »Das ist doch endlich mal ‘n Wort«, zeigte sich der Fahrer zufrieden. Die Unannehmlichkeit des kleinen Zwischenfalls würde er auf den Preis aufschlagen …
* Philemon de Lamaze bot einen erbarmungswürdigen Anblick, wie er nackt und erschöpft auf dem nietenbeschlagenen Metallboden lag. Aber Mimiche vermochte kaum Mitleid aufzubringen. Dazu wußte er zu gut, was Philemon wirklich war – und was er zumindest in der Vergangenheit schon alles getan hatte. Es war nicht so, daß er de Lamaze dafür wirklich haßte. Vielmehr eigentlich haßte er sich selbst – weil er nie etwas dagegen unternommen und nur geschwiegen hatte; um ihrer Freundschaft willen, die nicht wirklich Freundschaft sein konnte – oder war sie es gerade deswegen, weil sie selbst dieser buchstäblich mörderischen Belas-
tung standgehalten hatte? Mimiche verbot sich, weiter darüber nachzudenken. Er würde weder Ziel noch Antworten finden. Eher um sich abzulenken, als aus echter Hilfsbereitschaft, reichte er Philemon die Hand hinab. »Steh auf und zieh dich an, Junge«, sagte er. »Du hattest deinen Spaß, aber er kommt nicht.« Philemon übersah die ihm dargebotene Hand und richtete sich schweratmend auf Hände und Knie auf, schüttelte den Kopf und keuchte: »Er kommt. Er muß kommen! Er muß mich doch gehört haben …« Der Reporter schob den Revolver hinter den Hosenbund, erst jetzt richtig froh darüber, daß er die Waffe nicht hatte benutzen müssen. Wie groß mußte Philemons Willenskraft sein, daß er ihn nicht angegriffen hatte, als er nicht er selbst gewesen war? Mimiche konnte die immense, ja wahrhaft übermenschliche Anstrengung nicht nachvollziehen. »Wer weiß, ob er überhaupt noch in der Stadt ist«, meinte er. Philemon wies zum Himmel auf, als wolle er das Rund des Mondes mit seinem ausgestreckten Finger aufspießen. »Er wird Paris nicht verlassen, solange Vollmond ist«, war er überzeugt. »Das hat er nie getan. Du weißt es doch. Von wem stammt denn der Name Vollmond-Monster?« Mimiche nickte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton hervor. Er verharrte ebenso atemlos wie Philemon, als das Metall unter ihnen sacht zu vibrieren begann. Dumpfes Rumpeln drang an ihre Ohren – und die Anzeige neben der Fahrstuhltür sprang von Rot auf Grün um. Die Kabine kam hoch! »Ich wußte es«, stieß Philemon hervor, triumphierend und – glücklich? Der Fahrstuhl hielt ratternd an. Die Tür glitt auf. Die dunkle Silhouette eines kräftigen Mannes zeichnete sich im Gegenlicht ab –
– während ein anderer Schatten, vom Mondlicht geworfen, sich kreisend über die Metallplatten der Aussichtsetage bewegte. Ein geflügelter Schemen von gewaltiger Größe und solch tiefer Schwärze, als fresse er jedes bißchen Helligkeit. »Merde!« entfuhr es Mimiche. »Da hast du deinen Adler!« Er zeigte nach oben. Der Mann trat aus dem Fahrstuhl. Der Adler zog weiter seine Kreise. Mimiche tastete nach dem Revolver und sagte: »Verdammte Scheiße! Drei Monster – und nur zwei Kugeln …«
* Hidden Moon wußte nicht, ob es klug gewesen war, dem eigenartigen Ruf zu folgen, der ihn erreicht hatte, als er sich am Montmartre nach jemandem umgesehen hatte, der ihm die Nacht versüßen konnte, mit Lust und Blut. Das Viertel dort gefiel ihm, besser jedenfalls als der Rest der Stadt. Ein Hauch vergangener Zeit hing in den Gassen, und die Menschen schienen dem Leben selbst näher als anderswo in Paris. Nun, dem nächtlichen Vergnügen konnte er später noch frönen. Momentan schien ihm der Ursprung jenes Rufes der interessantere Zeitvertreib. Ein Heulen war es gewesen, und er schien der einzige gewesen zu sein, der es vernommen hatte. Was es nur um so reizvoller gemacht hatte, dem Ruf zu folgen. Er hatte den Arapaho schließlich zu jenem monströsen Turm geführt, der mitten aus der Stadt aufragte, jetzt in der Nacht glühend vor Licht. Drei Etagen teilten das Ungetüm, und auf der oberen lag die Quelle des Rufes. Drei Menschen – einer von ihnen nackt – fand Hidden Moon dort vor. Und zwei von den dreien, das spürte der Vampir, waren nicht, was sie zu sein schienen …
Unwillkürlich eilten seine Gedanken zurück und verharrten an jenem Punkt der jüngeren Vergangenheit, da er einer Frau namens Nona begegnet war.* Sie war von eben jener Art gewesen wie zwei dieser Männer – und sie hatte ihm nicht feindselig gegenübergestanden. Daraus schloß Hidden Moon, daß ihm hier zumindest keine unmittelbare Gefahr drohte. In der Tat – dies versprach eine kurzweilige Nacht zu werden! Aber noch beobachtete er nur.
* »Wie hast du mich gefunden – nach all den Jahren?« Romain blieb zwei Schritte von Philemon de Lamaze entfernt stehen. »Mutters Grab«, antwortete der jüngere Mann. Damit war alles gesagt. Romain nickte. »Ich verstehe.« »Wie du«, fuhr Philemon dann trotzdem fort, »besuche ich es alle Jahre wenigstens einmal, wenn es geht, zu ihrem Geburtstag. Vor zwei Jahren fand ich dort einen Strauß mit sechsundvierzig Rosen. Ich wußte, daß du ihn auf ihr Grab gelegt hattest. Im vorigen Jahr versuchte ich dich auf dem Friedhof abzupassen, doch es gelang mir nicht. Dieses Mal aber –« »Was bezweckst du damit, mein Junge?« fragte Romain de Lamaze. Er versuchte zu lächeln, wie er es für väterlich hielt, aber es mißlang kläglich. »Ich möchte, daß du aufhörst.« »Womit?« »Mit dem Morden!« »Du weißt, daß ich das nicht kann«, erwiderte Romain de Lamaze. »Du kannst es – wenn du nur willst«, behauptete sein Sohn in *siehe VAMPIRA T06
scharfem Ton. »Ich kann es auch!« »Oh, ich verstehe«, nickte der Vater. »Nun, dann wünsche ich dir Glück auf deinem weiteren Weg. Ich aber werde – wie nennt man es noch gleich? Ach ja – dem Bösen nicht entsagen. Mir gefällt das Leben unserer Art – und du hättest auch Gefallen daran finden können, wärst du nicht so sehr deiner Mutter nachgeraten.« Die Worte allein genügten, um in Philemon kalte Wut und Haß anzuschüren. Der Ton, in dem sein Vater sprach, trieb ihn zur Weißglut. Dennoch beherrschte er sich, wenn auch mühsam, als er sagte: »Hast du sie deshalb umgebracht? Weil sie mich dir entfremdet hat?« Romain de Lamazes Augen verengten sich. »Du weißt, daß es nicht so war«, sagte er leise. »Es war – ein Unfall.« »Ein Unfall!« stieß Philemon hervor. »Du Lügner! Du hast sie ermordet, du elendes Tier!« »Wenn es so gewesen wäre, wie du sagst – weshalb suche ich dann Jahr um Jahr ihr Grab auf?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete Philemon. »Vielleicht hast du ja noch einen Rest Gewissen, den du beruhigen mußt.« Romain schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre alles anders gekommen – daß wir eine Familie geblieben wären.« »Vater und Sohn, Seite an Seite mordend in jeder Vollmondnacht? Großartige Familie …« »Verdammt, warum mußtest du mir wieder über den Weg laufen? Führe dein eigenes Leben, und tu es so, wie es dir gefällt. Aber laß mich in Ruhe!« Romain de Lamazes Stimme wurde mit jedem Wort lauter, und das unterschwellige Knurren darin verriet, daß auch sein Zorn sich kaum mehr im Zaume halten ließ. »Ich wollte nur wissen, ob ich dir noch etwas bedeute«, erklärte Philemon. »Ob du bereit bist, dich um meinetwillen zu ändern. Du bist es nicht.« »Und?« gab sein Vater zurück. »Was jetzt?«
Philemon streckte den Arm zur Seite aus, hielt die Handfläche nach oben. »Mimiche«, sagte er nur. Der Reporter verstand – und warf Philemon den Revolver zu. Wenn auch ungern; er riskierte einen Blick nach oben, wo noch immer der Adler seine Kreise zog, in geradezu unheimlicher Lautlosigkeit. De Lamaze junior richtete die Waffe auf seinen Vater. »Was soll das werden?« fragte Romain. »Du willst mich erschießen? Was bist du doch für eine mißratene Kreatur!« »Du hattest die Wahl«, erinnerte Philemon – und drückte ab.
* Baptiste Chénier fühlte sich wie ein König! Mochte sein Reich auch schäbig sein, verkommen und voller Unrat, und seine Untertanen nur Kreaturen, die nirgendwo sonst eine Bleibe mehr fanden – er fühlte sich großartig in dieser neuen Rolle. Wenn ihm derjenige, der ihn zum König ernannt hatte, nur nicht verboten hätte, diesen neuartigen Durst zu stillen, der ihn immer stärker überkam … Ob er es wagen konnte, sich über das Verbot hinwegzusetzen? Immerhin drohte kaum die Gefahr, daß jener andere sich blicken ließ. Weshalb sonst hätte er ihn, Baptiste, als Statthalter hier zurücklassen sollen, auf daß er ein Auge auf dieses Reich hatte und Meldung erstattete, wenn sich etwas Besonderes ereignete? Baptiste Chénier nickte sich selbstzufrieden zu. Freilich konnte er es wagen. Selbst wenn der andere davon erfuhr – was konnte er schon tun? Den Kopf würde er ihm nicht gleich abreißen. Und viel mehr gab es nicht, was ihm das Leben noch verderben konnte … Baptiste schlich um die nächste Ecke, wo er den liebsten Platz der
alten Martine wußte. Um die alte Vettel war’s nicht schade, und vermissen würde sie schon gar niemand. Doch hinter der nächsten Ecke wartete nicht Martine auf ihn. Sondern – ein Knabe? Zudem noch einer, der nicht hierher gehörte in seinem noblen Aufzug! »Wer bist du, Bürschlein?« fragte Baptiste, soviel Feierlichkeit in seine Stimme legend, wie er irgend zusammenkratzen konnte. »Wo ist der Kerl?« fragte der Jüngling, anstatt eine Antwort zu geben. »Von wem redest du, frecher Hund? Weißt du nicht, wen du vor dir hast?« brauste Baptiste Chénier auf. »Oh, doch«, erwiderte Gabriel, »eine verfluchte Kreatur!« Eine unsichtbare Hand preßte sich um Baptistes Kehle. »He da, was soll das?« gurgelte er. »Ich bin der König –!« »Der König der Idioten vielleicht, mag durchaus sein«, meinte der Knabe. »Wo ist der Kerl, der dich zu dem gemacht hat? Rede endlich!« »Ich kann’s nicht sagen.« »Na gut, dann anders«, sagte Gabriel. Wie von Geisterhänden wurde Baptiste das Gesicht auf den Rücken gedreht. Etwas floh aus ihm, der schwache Hauch untoten Lebens, und wehte in die Nacht. Und Gabriel folgte ihm nach.
* Ein Schatten senkte sich rasend schnell auf Philemon nieder. Etwas bohrte sich ihm schmerzhaft in Hand und Arm. Die Kugel schlug gegen die Fahrstuhltür und sirrte als Querschläger davon. Der Adler hatte ihn angegriffen!
Warum nur –? Viel drängender als diese Frage war jedoch etwas ganz anderes! Denn der Adler blieb nicht Tier, sondern verwandelte sich – in einen Mann mit langem schwarzen Haar, das ihm bis über die Schultern fiel. Mann? durchfuhr es Philemon. Nein, verdammt, das ist – »– ein Vampir! Ich hatte recht.« »Schlaues Bürschchen«, erwiderte Hidden Moon, seine Zähne bleckend. Philemon rang um Fassung, während er aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sein Vater sich erhob; er hatte sich noch in dem Moment, da sein Sohn geschossen hatte, zu Boden fallen lassen. »Wer bist du?« fragte Philemon. »Und was mischst du dich hier ein?« Der Arapaho zuckte die Schultern. »Kam zufällig vorbei. Und mußte feststellen, daß dein Vater mir sympathischer ist als du – Weichling!« »Halt dich da raus«, verlangte Philemon. Hidden Moon schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid«, sagte er, »aber ich werde deinem Vater ein wenig unter die Arme greifen.« »Spar dir die Mühe«, ließ sich Romain de Lamaze vernehmen. Er kam näher und trat den Revolver, den sein Sohn hatte fallenlassen, zur Seite. Scheppernd rutschte die Waffe über den Metallboden. »Ich brauche deine Hilfe nicht«, fuhr de Lamaze fort. »Mit dem Jungen werde ich selbst fertig. Ich –« Was er noch hatte sagen wollen, ging unter im Grollen seiner mutierenden Kehle. Seine Kleidung riß unter der Gewalt schwellender Glieder und Muskeln. Und noch bevor Philemon auch nur daran denken konnte, sich zu verwandeln, spürte er schon die Klauen seines Vaters im eigenen Fleisch!
Aufschreiend stürzte er zu Boden. Der Schmerz trieb ihn rasend schnell einer Grenze zu, der er nie zuvor auch nur nahegekommen war. Vielleicht habe ich den Tod verdient, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht sollte ich ihn dankbar annehmen. Dann hätte alles ein Ende … Aber da, endlich, spürte Philemon, wie auch sein Leib und Geist sich dem Mond ergaben. Kraft, die er nie mehr hatte nutzen wollen, ermöglichte es ihm, das Ungeheuer von sich zu stoßen. Und schon setzte er zum Sprung an, um sich auf seinen Vater zu werfen – – als ein Schuß fiel! Das Szenario erstarrte, als sei die Zeit stehengeblieben. Dann bewegte sich – einer. Sank zu Boden. Fiel vornüber. Starb. Im Tode verwandelte sich Romain de Lamaze zurück. Das Fell fiel ihm in Büscheln aus, Fleisch und Skelett formten sich um. Bis nur der Mensch übrigblieb. »Mein Gott, was habe ich getan?« flüsterte Mimiche, den Toten anstarrend. Der nutzlos gewordene Revolver fiel ihm aus der Hand. »Einen Fehler hast du gemacht. Einen unverzeihlichen Fehler …« Der Knabe war buchstäblich aus dem Nichts gekommen. Er trat auf den Reporter zu, der ihn anstarrte, als sei er ein Gespenst. »Verdammt, wer bist du?« preßte Mimiche hervor. Obwohl der Knabe nichts tat, wich er vor ihm zurück. »Nenne mich –«, antwortete Gabriel, überlegte kurz und sagte dann lächelnd: »– den Rächer des Wolfes!« Er bewegte die Fäuste, als übe er sich im Schattenboxen. Mimiche jedoch taumelte hin und her, als würde er von den Schlägen eines Unsichtbaren getroffen! »Hör auf! Was immer du auch tust!« rief Philemon. Er stürmte heran. »Halt dich zurück, du Narr.« Gabriel führte einen harten Tritt ins Nichts. Philemon wurde regel-
recht zurückkatapultiert und blieb benommen liegen. Derweil wankte Mimiche immer näher auf die Brüstung der Plattform zu, bis sie seine Bewegung stoppte. Gabriel holte aus – und führte einen gewaltigen Uppercut in die Luft. Mimiche wurde förmlich ausgehoben! Kippte über das Geländer. Und stürzte brüllend in die Tiefe. Gabriel wandte sich um. »So, nun zu uns beiden – mein untreuer Diener. Es ist Zeit, daß du deinen Auftrag …« Sein Blick suchte Hidden Moon. Und fand ihn in einiger Entfernung. Ein Adler raste durch die Nacht – fort, nur fort! Der Knabe streckte die Hand ins Nichts. Unsichtbare Riesenfinger gruben sich in das Gefieder des Adlers. Machten es ihm unmöglich, die Schwingen weiter zu bewegen. Gigantenfäuste schmetterten den Vampir hinab, fast dreihundert Meter tief. Hart schlug der Adler auf dem Rasen des Marsfeldes auf, das sich vom Eiffelturm bis zur Ecole Militaire erstreckte. So hart, daß er buchstäblich im Boden verschwand. Und auf magische Weise immer tiefer sank und sank – an ein Ziel, das Gabriel schon lange ausgewählt hatte. Das Feld war bereitet. Nun galt es, das Böse zu säen …
* Im Dschungel von Yucatán Nahe der vergangenen Stadt Mayab Schmerz hatte Lilith Eden ins Nichts der Besinnungslosigkeit gerissen. Und Schmerz war es nun auch, der sie zurückzerrte aus jenem Vorhof des Todes.
Bei ihrem Sturz vom Himmel herab hatte Baumgeäst ihre Knochen schier zerschlagen, und der Aufprall hatte ein Übriges dazu getan, daß sie wie tot am Boden zu liegen kam, mit zerschmetterten Gliedern. Als nun ihre vampirische Heilkraft sich soweit von dem magischen Schock erholt hatte, daß sie die Wunden zu heilen imstande war, ging das mit nahezu dem gleichen Schmerz einher, der die Verletzungen schon im Entstehen begleitet hatte. Lilith wand sich zwischen Gras und Flechten am Dschungelboden, als würde sie von unsichtbaren Henkersknechten geprügelt und getreten, und ihre Schreie trieben jedes Tier in weitem Umkreis in die Flucht. Wird das Schicksal denn nie mehr auf meiner Seite stehen? fragte sie sich; weniger weil die Antwort sie interessierte, sondern in erster Linie um sich abzulenken, was unter ärgster Qual in ihrem geschundenen Leib vonstatten ging. Und aus gleichem Grund flohen ihre Gedanken in die jüngste Vergangenheit, reflektierten, was sich dort ereignet hatte. Lilith erinnerte sich ihres Erwachens in einem Bergkloster, das dem Untergang geweiht war. Wie sie an diesen Ort gelangt und was zuvor geschehen war, wußte sie nicht mehr. Es war, als hätte ihr Leben erst dort und zu diesem Zeitpunkt begonnen. Und doch spürte sie, daß dem nicht so war – daß es ein Vorher gegeben hatte; nur war es gelöscht worden aus ihrem Bewußtsein. Auf abenteuerliche Weise war sie aus jenem Kloster entkommen und mit einem Mann zusammengetroffen, der ebenso bar seiner Erinnerung war wie sie. Zunächst hatte er sich Hector Landers genannt, später dann erst hatte er seinen wahren Namen in Erfahrung bringen können: Landru. Und zugleich war es ihm gelungen, ihrer beider wahres Wesen zu ergründen: Vampire waren sie, nährten sich vom Blut der Menschen – und hatten vor dem Verlust ihrer Erinnerung ein Leben Seite an Seite geführt. So jedenfalls hatte es sich Landrus Worten zufolge zugetragen,
und Lilith hatte weder Grund noch Gelegenheit gehabt, an ihrem Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Sie war ganz und gar darauf angewiesen, sich auf die Worte anderer zu verlassen. Schließlich hatte Landru sie nach Hause gebracht, »in den Schoß ihrer Familie«, wie er es genannt hatte – in den Dschungel Mesomamerikas, in eine Stadt namens Mayab, an der die Zeit seit fünfhundert Jahren spurlos vorübergegangen war, weil Magie sie vom Rest der Welt abschnitt. Die Menschen jener Hermetischen Stadt hatten unter der grausamen Herrschaft von acht Vampiren gestanden, die, laut Landru, ihrer beider Kinder waren. In der folgenden Zeit jedoch hatte Lilith den Schleier der Geheimnisse Stück um Stück gelüftet, bis sie endlich wußte, daß Landru sie belogen hatte – wenn sie auch den Grund seiner Lügengespinste noch immer nicht kannte. Aus einem uralten Buch, EWIGE CHRONIK genannt, das nur Lilith zu lesen verstand, hatte sie erfahren, wer sie wirklich war – ein Kind zweier Welten, halb Vampir, halb Mensch, das zu dem Zwecke geboren worden war, die Ur-Mutter der Alten Rasse mit Gott selbst zu versöhnen. Und nicht zuletzt aus diesem Grund war Landru alles andere denn ihr Vertrauter oder gar Verbündeter und Geliebter – sondern ihr Todfeind! Im Zuge all dieser Geschehnisse veränderte sich die Situation in Mayab von Grund auf. Und als die vampirischen Tyrannen schließlich vernichtet waren, war damit auch die Hermetische Stadt selbst dem Untergang geweiht. Denn die Macht, die den magischen Wall in all der Zeit aufrechterhalten hatte, verlor mit dem Tod der Vampire ihre Existenzberechtigung – und verschlang Mayab mit ihrer Magie. Liliths Versuche, die Hermetische Stadt und deren Volk vor dem Untergang zu bewahren, waren fehlgeschlagen. Nur sie selbst war entkommen, ausgespien in dem Moment, da Mayab vollends verging – und nicht zuletzt gerettet durch das Eingreifen eines …
… unheimlichen Knaben. Dem sie hatte versprechen müssen, ihm zu Diensten zu sein, wann immer er seinen Preis einfordern würde. Was Lilith im Angesicht des sicheren Todes auch getan hatte. * Jetzt aber, da Mayab buchstäblich verschwunden war, schien ihr all das auf eine Weise absurd, als sei es nie wirklich geschehen. Hätten die Schmerzen ihr nicht mit brutaler Nachdrücklichkeit alles unbarmherzig in Erinnerung gerufen … Der Schmerz verebbte nun zwar allmählich, das knirschende Geräusch, mit dem ihre Knochen unter der Haut wie im Zeitraffer zusammenwuchsen, war jedoch kaum weniger schlimm. Bis endlich auch die letzte Schramme verheilt war und Liliths Haut wieder jenen makellosen, vornehm blassen Teint zeigte, verging noch eine ganze Weile. Sie nutzte die Zeit, um sich in eine halbwegs bequeme Position aufzurichten, rutschte an einen Baum heran, dessen Stamm ihr den Rücken stützte. Zum Aufstehen fühlte sie sich noch nicht kräftig genug. »Was soll ich jetzt tun?« fragte sie sich im Selbstgespräch. Der Klang ihrer Stimme sollte ihr helfen, die Einsamkeit und überhaupt die ganze Situation erträglicher zu machen. Ein kläglicher Versuch, der scheiterte, ehe er recht begonnen hatte. Im Gegenteil fühlte Lilith sich noch mehr alleingelassen, weil niemand da war, der ihre Frage zu beantworten vermocht hätte. Landru kam ihr in den Sinn, natürlich. Ihn wollte und mußte sie aufspüren, wohin er auch geflohen war. Wenn er denn überhaupt geflohen war; wahrscheinlicher war wohl, daß er Lilith für tot hielt, untergegangen mit der Hermetischen Stadt, die durch seine verbotene Kelchtaufe erst entstanden war. Nun, er sollte sich noch wundern! Sie würde ihn bezahlen lassen für das, was er ihr angetan hatte. Nur … wann? Lilith senkte den Blick. Im Grunde hatte sich an ihrer mißlichen Lage nicht allzu viel geändert. Wohl wußte sie nun einiges aus ihrer *siehe VAMPIRA 25 bis 36
Vergangenheit, über ihr Leben und Wesen – doch zu großem Nutzen gereichte ihr dieses Wissen nicht. In ihre australische Geburtsstadt Sydney zurückzukehren, kam kaum in Frage. Dort war sie vor einigen Wochen erst gewesen, und die Reise dorthin hatte ihr nichts gebracht – abgesehen davon, daß Landru den einzigen Menschen getötet hatte, der Lilith kannte und zumindest so etwas Ähnliches wie ein Freund gewesen war … Vielleicht sollte sie – »Lilith?« Erschrocken sah sie auf, als die Stimme an ihr Ohr drang. »Lilith Eden?« »Wer –?« Sie wandte den Kopf – und sah ihn. Nur – wer war er? »Du bist es«, entfuhr es dem Fremden. (Fremder? raunte es in Lilith. Ist er das – ein Fremder? Kommt er dir nicht – bekannt vor? Vertraut?) Aber – wie war er hierhergekommen? Lilith hatte weder Schritte noch sonst ein verräterisches Geräusch vernommen. Er stand da wie aus dem Boden gewachsen … Seine Füße lösten sich scheint’s zäh von Gras und Erde, als er nähertrat. Wäre er in besserer Verfassung gewesen – weniger schmutzig, anders gekleidet als in einen zerrissenen Anzug –, so hätte er sicher gut ausgesehen. Nun war er auch jetzt weder abstoßend noch häßlich, aber er wirkte eben – ungepflegt, als habe er viele Tage und Nächte in seiner Kleidung zugebracht, ohne auch nur mit Wasser in Berührung gekommen zu sein. Erdklumpen hingen in seinem langen schwarzen Haar, und auf seinem nackten Oberkörper zeigten sich blutige Striemen. »Wer bist du?« fragte Lilith endlich, lahm jedoch, weil ihre Zunge und Gedanken gleichermaßen von bleierner Schwere schienen. »Du – du kennst mich nicht?« entgegnete er und kam näher. Etwas in seinen Zügen und in seinen Augen veränderte sich – und es beunruhigte Lilith auf nicht in Worte zu fassende Weise. Gefahr! signali-
sierte ihr Instinkt nur, ohne daß sie den konkreten Grund der Bedrohung erfuhr. Etwas Verschlagenes stahl sich in das Mienenspiel des anderen, sichtlich mühsam kaschiert, aber nicht zu leugnen. »Nein«, erwiderte Lilith. »Dann solltest du mich kennenlernen«, meinte er. »Auf eine Art, wie du mich noch nicht kanntest!« Seine Züge entgleisten vollends. Sein Gesicht wurde zur Fratze, seine Zähne zu Fängen. Gier ließ seinen Blick entflammen, und heisere Laute stiegen aus seiner Kehle – – als er sich auch schon auf Lilith stürzte! Sie wollte ausweichen, war jedoch nicht schnell genug; zudem fühlte sie sich noch längst nicht kräftig genug, um einen wie auch immer gearteten Kampf aufzunehmen. Und so vermochte sie kaum etwas zu ihrer Gegenwehr zu unternehmen, als der andere sie zu Boden rang und seine spitzen Zähne ihren Hals verletzten. Gleich mußte er ihre Schlagader zerfetzen –! Doch soweit kam es nicht … … denn etwas ganz und gar anderes geschah. Gabriels Saat des Bösen ging auf! Er hatte Hidden Moon mit seinem Seelentier zusammengebracht. Und das Böse, das sich seit Wochen in Hidden Moon angestaut hatte, floh in einem einzigen, brachialen Augenblick aus ihm …
* Lilith empfing einen ganz und gar merkwürdigen Eindruck tief aus ihrem Innersten: Es kam ihr vor, als gebe es dort ein Gefäß, das von fremder Macht gefüllt würde – mit einer solchen Menge jedoch, daß es überlief … … und schließlich zersprang! Auseinander barst!
Was immer hineingegeben worden war – und dessen Strom noch längst nicht versiegte! – ergoß sich nun in sie selbst und füllte sie an, weil nunmehr sie selbst die Rolle des zerstörten Gefäßes übernahm! Lilith meinte, in schwarzen Fluten zu ersaufen, und zugleich schien die Welt in einer Explosion zu vergehen, in der alle Farben wie auf einer Negativaufnahme ins Gegenteil verkehrt waren. Jeder Nerv straffte sich unter ungeheuerlicher Spannung, und ihr Blut kochte und toste in einem Maße, daß es die Adern zu sprengen drohte. Und dann – – war es vorbei. So überraschend, wie es begonnen hatte. Der Sturm in ihr verebbte nicht allmählich, er schlief ein, von einem Augenblick zum nächsten. Aber er hatte Lilith verändert. Verwüstet. Verheert. Ihr Empfinden, ihre Einstellung – alles, was von Belang war, hatte sich umgekehrt unter einer Überdosis Hölle. Gut war Böse. Freund war Feind … »Wer bist du – Freund oder Feind?« Liliths Frage galt dem anderen, der sie eben angegriffen und damit das auslösende Moment gegeben hatte. Auch er kam ihr mit einemmal verändert vor. Alles Verschlagene und Feindselige, alle Gier und Wildheit schienen ausgelöscht, waren verschwunden aus seinem Gebaren. Er wirkte nur noch – verwirrt. Und verunsichert. Zugleich aber auch – erlöst. »Dein Freund«, erwiderte er dann langsam, »natürlich dein Freund. Wie –« »Dein Pech«, knurrte Lilith, »mein Freund!« Und noch bevor er auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, stürzte nun Lilith sich auf Hidden Moon – ungleich wilder, als er es zuvor getan hatte. Wollte man einen Vergleich ziehen, dann war es, als habe ihn eine Bestie geritten und getrieben – Lilith aber war die Bestie selbst!
Schon unter den ersten Hieben ihrer zu Klauen mutierten Hände ging Hidden Moon zu Boden, Haut riß, schwarzes Blut spritzte. Ihren nächsten Attacken entging er nicht durch Gegenwehr, sondern durch bloße Geschwindigkeit. Als der Arapaho versuchte, einen Gegenschlag anzubringen, bezahlte er das Aufgeben seiner Körperdeckung mit einer Reihe gebrochener Rippen, die unter Liliths kräftigen Tritten splitterten und sich in seine Lungen spießten. Hidden Moon wollte aufschreien, doch trieb er den Grad des Schmerzes damit in noch weitere Höhen. Weg! brüllte es in ihm. Ich muß weg hier! Der Teufel selbst ist in dieses Weib gefahren – und sie wird mich abschlachten wie ein Stück Vieh! Tatsächlich ließ Lilith nicht nach. Im Gegenteil, immer ungestümer drang sie auf ihn ein, und es gab kaum eine Stelle seines Körpers mehr, die nicht blutete oder zumindest schmerzte. Ihm blieb nur eine Chance. Auf Adlerschwingen stieß Hidden Moon endlich in die Höhe, nicht machtvoll schreiend, wie er es sonst in der gefiederten Gestalt vermochte, sondern kläglich krächzend. Und Lilith – blieb zurück. Sah ihm funkelnden Blickes nach, verächtlich lachend. »Erbärmliche Kreatur«, zischte sie, »du bist es nicht wert, am Leben zu bleiben – aber noch weniger bist du es wert, daß ich dich jage.« Sie wandte sich ab. »Mir steht der Sinn jetzt nach Höherem! Es ist an der Zeit, diese Welt zu verändern, sie zu einem Ort zu machen, an dem es sich zu leben lohnt – unter neuer Herrschaft!« Ihre Worte klangen im Ton einem Versprechen ganz ähnlich – – einem Schwur, daß neue Zeiten anbrechen würden.
EPILOG Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. 2. Moses 20,12; 4. Gebot Meine liebe Maman, es ist vorbei. Vater ist tot, erlöst vielleicht, und ich bin froh darum, daß nicht ich es war, der ihn töten mußte. Mimiche hat es getan, mein Freund seit vielen Jahren, dem ich einst mein Geheimnis aufgebürdet habe. Erst heute weiß ich wirklich, welche Last ich ihm damit auflud. Daß er darunter nicht zerbrach und mir treu die Freundschaft hielt – ich wünschte, ich könnte es ihm danken, mit eigenen Worten, von Mann zu Mann. Nun, da er aber tot ist, bleibt mir nur eine Art, ihm zu danken – indem ich das Versprechen, das ich ihm gab, erfülle: nämlich nie mehr zurückzukehren nach Paris … Vergessen freilich werde ich nie, was hier war und geschah – und nie und nimmer werde ich dich vergessen, Maman. Niemals auch jene Nacht, da in mir der Fluch meines Vaters erwachte und er mich seine Art des Jagens lehren wollte. Noch immer weiß ich nicht, und nie werde ich es erfahren, ob du von seinem wahren Wesen wußtest. Wenn du es getan hast, Maman, bewundere und verehre ich dich nur um so mehr – für deine Stärke, die du in all den Jahren an seiner Seite hast aufbringen müssen. Sein Fluch muß für dich der größere gewesen sein. Hätte ich dich nur nicht verlassen in jener Nacht, da mein anderes Ich sich mir offenbarte! Ich habe dir oft geschrieben, wie mein Leben in der weiteren Zeit verlief, und gewiß war es nicht immer schlecht. Doch nie war es so schön, wie es mit dir hätte sein können. Ich bedauere tief und werde es nie überwinden, dich alleingelassen zu haben – denn vielleicht hätte ich verhindern können, was geschehen ist und was ich hernach nur aus den Zeitungen erfahren konnte.
Ich frage mich noch immer, ob Vater ein schlechter Mensch war … Und wenn er dich getötet hat, wie es heißt, dann muß er es doch gewesen sein! Trotzdem wollen meine Zweifel nicht weichen; denn er war mein Vater – und er war wie ich … Rasch noch will ich dir, Maman, berichten, wie ich in der gestrigen Nacht entkam. Der unheimliche Knabe hat mich gerettet! Ich weiß weder, wie er es bewerkstelligt hat, noch weshalb er es tat – aber er trug mich fort, als sei er ein Engel mit unsichtbaren Flügeln, und ließ mich dann allein. »Wie könnte ich einen von deiner Art töten?« sagte er noch, ehe er verschwand. Seltsam, und vielleicht werde ich nie verstehen, was er meinte … Nun komme ich zum Ende, meine liebe Maman, und es werden dies meine letzten Worte an dich sein. Denn wie ich dir zu früherer Zeit schon berichtete, hörte ich auf meinen Reisen um die Welt von einem hochbesonderen Mann, der es versteht, Wesen meiner Art zu helfen. Inzwischen durfte ich ihn kennenlernen und erfahren, daß jedes Wort, daß die unseren sich über ihn erzählen, wahr ist: Er kann uns anleiten, dem Bösen zu entsagen! Nun also kehre ich zu ihm zurück – auf daß ich nur noch Mensch und nie mehr Bestie sei. In Liebe ewig, dein Philemon 30. Januar 1998 Philemon de Lamaze faltete das Blatt Papier zurecht, steckte es dann in einen Umschlag, und den wiederum legte er auf den Stapel weiterer Kuverts; samt und sonders Briefe an seine Mutter, die er nie abgeschickt hatte – das Tagebuch seines Lebens. Er erhob sich von dem kalten Stein, auf dem sitzend er im Licht einer Taschenlampe den Brief geschrieben hatte. Unter Aufwendung aller Kraft gelang es ihm, die Grabplatte anzuheben und einen Spalt zur Seite zu schieben. Dann warf er die Briefe allesamt in das gemauerte Geviert darunter, lauschte dem Rascheln, mit dem sie den wohl schon zerfallenen Sarg seiner Mutter berührten.
Er zögerte kurz, doch dann nahm er den Rosenstrauß seines Vaters auf und ließ ihn ebenfalls hinab ins Grab fallen. Schließlich rückte er die Granitplatte wieder zurecht, und dann ging er. Ein weiter Weg lag vor ihm. Nach China, in die Mandschurei. Zurück zu Chiyoda. ENDE
Seelensauger Leserstory von Valentin Olbrich Ich befinde mich mitten im Herzen Londons auf dem Trafalgar Square. Zahlreiche Menschen sitzen wie ich auf dem Rand eines der beiden riesigen Springbrunnen, in deren Wasser fröhlich johlende Kinder planschen. Der Platz schäumt über vor Leben. Unzählige Tauben lassen sich bereitwillig gurrend von den Menschen füttern. Hin und wieder stößt ein ganzer Schwarm der blaugrauen Vögel in die Höhe, wenn einige Inline-Skater und Rollschuhläufer ihre waghalsigen Kunststücke vollführen. Dann flattern die Tauben hinein in den wolkenlos blauen Himmel und lassen sich auf der turmhohen Denkmalssäule nieder, wo eine Statue Lord Nelsons steht und die Whitehall Street hinunterblickt, an deren Ende Big Ben und die Houses of Parliament eindrucksvoll emporragen. Personen unterschiedlichster Rassen und Altersstufen – Inderinnen im schweren Sari, Japaner mit Stadtführern in der Hand und küssende Teenagerpärchen in zerrissenen Jeans – halten ihre Gesichter entspannt in die warme Augustsonne. Und nur wenige Meter von mir entfernt geht eine junge Frau lächelnd in den Tod. Aufrecht sitzt sie auf dem kleinen Hocker und sieht ihren Mörder an, der mit mörderischer Akribie ihre ebenmäßigen Gesichtszüge mit einem Kohlestift auf seinen Zeichenblock bannt. Bisher beinhaltet diese nur die Augen und die Wangen, aber mit jedem neuen Strich verliert die etwa 25jährige Frau an Lebenskraft. Innerlich zitternd schweift mein Blick hinüber zu dem Monstrum, das ich erst vor einigen Minuten erkannte. Ungestört hält es sein ab-
scheuliches Mahl. Es grinst ohne Lippen. Scharlachrot klafft dabei ein zahnloser Mund wie eine offene, feuchte Wunde. Eine graue Zunge schnellt hektisch vor und wieder zurück, als wäre sie ein am heißen Seeufer zappelnder Fisch. In den hellweißen Augen, die sich wie Maden in den Höhlen winden, leuchtet brutale Lebensgier. Dieses Ding sieht aus wie ein menschlich geformtes rohes Stück Fleisch. Wie ein Stück Fleisch aus einer Metzgerei, deren Kühlanlage seit Wochen defekt ist. Tränen unbändiger Wut und Verzweiflung beginnen meinen Blick zu verschleiern, als ich den Weg des Zeichenstiftes verfolge, der in den Krallen des Wesens sein unblutiges, aber tödliches Werk verrichtet. Und niemand greift ein. Denn niemand außer mir sieht das Grauen hinter der attraktiven Maske des Straßenmalers. Seht doch hin, ihr blinden Narren! Er tötet sie! Helft doch! Für Sekunden schließe ich die Augen und lausche meinen eigenen lautlosen Schreien. Doch auch nach endlosen Augenblicken hat sich die Szenerie um mich herum um kein einziges Detail verändert. Noch immer genießt jeder den Sommer! Und noch immer läßt die junge Frau sich töten. Ich muß eingreifen! Ich bin der einzige, der die beinahe perfekte Illusion des Ungeheuers zu durchschauen vermag. Der einzige … Ruckartig erhebe ich mich und schlendere unauffällig auf den Mörder und sein Opfer zu, wobei meine Haut wie von tausend Ameisenbissen brennt. Nur unter Aufbietung meiner gesamten Kraft kann ich mich davon abhalten, loszustürmen und die untote Kreatur zu vernichten. Aber wie würden hundert Menschen reagieren, wenn ein älterer Mann wie ich eine Waffe zieht und einem Künstler, der doch nur eine junge Frau porträtieren will, sechs Kugeln zwischen die Augen jagt? Abgesehen davon, daß das Geschöpf vor mir bereits lange tot ist und nie mit solchen Projektilen zu vernichten wäre. Ich blinzele gegen die Sonne, und für Sekundenbruchteile ist es,
als habe man zwei völlig konträre Dias überblendet: Das erste zeigt den lebenden Leichnam in seiner ganzen Scheußlichkeit, das zweite das sonnengebräunte Gesicht eines blonden jungen Mannes, wobei das zweite direkt auf das erste projiziert wird und dieses schließlich völlig auslöscht. Die Sonne läßt die moosgrünen Augen des Mannes ansehnlich schillern. Sein Lächeln betont markante Wangenknochen. Ein Traumtyp. Und in Wahrheit ein Alptraum. »Sie sind sehr geduldig, Miß«, sagt er heiter zu seiner Kundin – seinem Opfer – und nickt ihr anerkennend zu. Die Sterbende, die weiterhin Lebensenergie in Form hauchdünner Rinnsale verliert, freut sich sichtlich über das Kompliment ihres Henkers. »Danke!« Ihr verlegen gesenkter Blick kann nicht verleugnen, daß sie ihr Gegenüber sehr anziehend findet. »Aber was tut man nicht alles für die Kunst …?« Ihr Mörder lacht, und die Lüge seines Aussehens zerbricht wie sprödes Glas – allerdings nur für mich. Das Lachen ist jetzt das hungrige Knurren des Monstrums. Die grellweißen Augen weiten sich. Übelkeit schwappt in mir hoch. Schweratmend fahre ich durch mein schweißverklebtes, schütteres Haar. Ich bin bereits über Sechzig; viel zu alt, um den einsamen Krieg noch weiterführen zu können, dessen Schlachten doch erst begonnen haben. Schon als Junge habe ich sie erkannt – die Seelensauger. Und ich habe viel über sie in Erfahrung gebracht in all den Jahren. Diese Wesen waren einst Menschen, die irgendwann im Laufe ihrer von Zweifeln und Ängsten geprägten Existenz dem Schattenreich anheim fielen. Unfähig, an ein Dasein nach dem Tode zu glauben, besessen von der scheinbar ewigen Macht der Materie, fehlgeleitet im Denken, jegliches Bewußtsein wäre unweigerlich an das Fleisch gebunden und ende mit dem Tod, riefen sie dunkle Mächte an, um unsterblich zu werden und ihre Gedanken und Gefühle aufrechtzuerhalten.
Und in dieser so oft durchlebten Situation der lähmenden Hilflosigkeit erinnerte ich mich an das Zitat eines englischen, längst verstorbenen Dichters, das genau den fatalen Fehler jener Wesen begreift, die einst Menschen waren: »Und muß der Mensch auch werden zu Staub, muß die Hülle auch verblassen, müssen Bäume opfern Ihr Laub, keine Gewalt vermag des Menschen Seele zu fassen. Denn sie ist ewig und wahr, und so ist Gott.« Jene Zweifler konnten nicht die uralten Gesetze von Leben und Tod durchbrechen. So wurden sie zu lebenden Toten, von einer widernatürlichen Kraft durchpulst. Sie verloren genau das, was sie durch ihren blasphemischen Trotz retten wollten: ihre Lebendigkeit, ihre Seele. Ihr Unvermögen, außer Haß und Hunger eigene Emotionen zu entwickeln und zu spüren, treibt sie zur Jagd nach uns Menschen und somit nach unseren Gefühlen. Sie sind wie Psycho-Vampire. All die Stimmungen, die uns Menschen prägen, wie Angst, Liebe, Haß, Freude, Trauer, Zuversicht, Neid, Reue oder Wut sind ihre Nahrung, denn sie selbst haben durch ihren Pakt mit der Finsternis genau jene Eigenschaften verloren. Und die Tische sind in jeder Weltmetropole üppig gedeckt. Auch hier in London. Und erst recht hier am Trafalgar Square, wo die ausgelassene Freude der Menschen greifbar in der Sommerluft sprüht. Wenn doch die Millionen müder und kraftloser Menschen überall auf der Welt wüßten, was der wahre Ursprung ihrer Erschöpfung ist … Entschlossen atme ich ein und gehe dann direkt auf den Seelensauger und sein Opfer zu. Zu lange habe ich bereits gezögert. Ich mime einen Betrunkenen und stolpere direkt auf die Staffelei zu, reiße sie um und begrabe sie mitsamt dem Zeichenstift unter meinem Gewicht. Dabei spüre ich die todbringende Klaue des Seelensaugers für einen eisigen Sekundenbruchteil an meiner Schulter. Der Verlust eines Quentchens an Kraft wird sich erst später bemerkbar machen. Doch es geht hier nicht um mich, sondern um die junge Frau, die
ich retten will. Der Seelensauger hat bereits viel ihrer Energie an sich gerissen, aber zum Glück immer noch zu wenig, um sie zu töten. Die Frau läßt einen erschrockenen Laut hören. Ihr Portrait lugt zerknickt unter meinem Körper hervor, und obwohl ihr Gesicht nicht in meinem Blickfeld ist, spüre ich ihren Blick auf mir. »Passen Sie doch auf!« schneidet ihre vorwurfsvolle, vor Erschöpfung bereits dünne Stimme in mich hinein, während ich mich wieder taumelnd aufrichte und absichtlich wie ein Betrunkener herumlalle. Das ist nicht fair, Lady. Ich habe dein Leben gerettet. Ich spüre den Haß des Seelensaugers fast wie greifbaren, giftigen Dampf in der Luft. Seine Gier hatte sich hochgeschaukelt, hatte kurz vor der tödlichen Explosion gestanden. Der lebende Leichnam faucht mich an, doch die Blinden, zu denen auch die Frau gehört, vernehmen nur folgende Worte: »Sie haben wohl zuviel Luft aus dem Glas gelassen, was, Mister?« Die humorvolle Besorgnis des jungen Künstlers wird von einigen Passanten, die die Szene beobachten, mit einem amüsierten Lachen aufgenommen. Es ist schwer, die Gefühle zu beschreiben, die sich in einer einzigen Sekunde verfärben wie ein Chamäleon. Da ist Trauer, die sofort in bittere Verzweiflung übergeht. Alles in mir schreit nach Hilfe. Verdammt, hört doch endlich auf zu lachen! Ihr wißt nichts, nur das, was euch vorgegaukelt wird! Meine schmerzende Verzweiflung verwandelt sich schließlich in Zorn auf meine Mitmenschen, von denen mich doch Welten und Wissen trennen. Der Seelensauger entschuldigt sich bei seiner Kundin, welche mir immer noch mißlaunige Blicke zuwirft. »Tut mir leid, Miss. Das Bild ist wohl hin.« Sein Lächeln vertreibt den Unmut aus ihrer Stirn. Freundlich winkt sie ab. »Ist ja nicht Ihre Schuld. Wir können gerne noch mal von vorne beginnen.« Das Ding läßt die weißen Zähne seiner Maskerade blitzen und nickt. »Na klar. Aber zuerst bringe ich unseren Freund an einen si-
cheren Ort, damit er nicht wieder den Boden küßt.« Die untote Kreatur faßt nach meiner Hand, scheinbar um mich zu stützen. Widerwillig versuche ich sie abzuschütteln, doch mein Gegner hält mein Gelenk wie mit einer Stahlklammer fest. »Wo wohnen Sie denn?« stellt er eine unglaublich banale Frage, während er mir haßerfüllt Energie entzieht. »Ich … in … in Upney«, stammele ich, diesmal mehr aus wachsendem Entsetzen denn aus Verstellung. Ich bin von unzähligen Menschen umgeben und dennoch hilflos! Mein Feind beginnt bereits, mich auszuweiden. Wie es ein hungriger Panther tut, der seine wehrlose Beute niedergestreckt hat und nun seine Krallen in das Fleisch schlägt. Und alle um uns herum sehen doch nur einen begabten jungen Künstler, der einen alten Säufer hilfsbereit zur nahen U-Bahn-Station geleitet. Wie überaus sozial von ihm! Jung hilft Alt! meldet sich eine vor Zynismus beißende Stimme in mir. »Oh, Upney! Dann können Sie ja von hier aus direkt in die District Line einsteigen und durchfahren!« Wir bahnen uns einen Weg über den sonnigen Platz. Ich spüre, wie meine Kräfte erlahmen. Hemmungslos trinkt der Seelensauger meine Lebensenergie. Die Frau, die irgendwo hinter uns zurückbleibt, wurde nur langsam angezapft. Ich jedoch werde innerhalb von Augenblicken all meiner Energien beraubt. Handle! schreit alles in mir. Unendlich langsam trotten wir über den Trafalgar Square, damit ich dann spätestens am Bahngleis entkräftet zusammenbreche und an Herzversagen sterbe. Und jeder von den Leuten hier würde bezeugen, daß ich bereits stark betrunken war und daß mir der nette junge Mann nur geholfen hat, in die U-Bahn zu gelangen … Unendlich müde hebe ich meinen Kopf. Heiß und trocken brennt sich die Sonne in mein zerfurchtes Gesicht (sind meine Falten nicht schon tiefer geworden?).
Ich sehe meinem untoten Feind direkt in die schwarzgrinsende Fratze und begreife endlich. Er weiß, wer ich bin! Über welche Gabe ich verfüge! Es war eine Falle, nur für mich! Diese Erkenntnis verleiht mir blitzartig wieder Willenskraft. Ja, er will mich töten, so schnell es geht. Obwohl ich meine Umwelt nicht von den Schrecken überzeugen kann, die sich in ihrem Alltag wie Maden im Speck winden, bin ich eine Gefahr für diesen Seelensauger und seinesgleichen. Ich kenne die Ursprünge dieser Wesen und wie man sie vernichten kann … Ruckartig reiße ich mich los und wäre fast zusammengebrochen. Meine eigene Erschöpfung läßt heißes Entsetzen in mir hochwallen. Im letzten Moment klammere ich mich am Geländer der Treppe fest, die wir bereits erreicht hatten und die nach unten führt. »Ich … kann allein gehen … danke …« Die Schwerfälligkeit, mit der die Worte über meine Lippen dringen, macht mir die tödliche Enge klar, in die ich mich selbst mit meinem Heißsporn getrieben habe. So lange jage ich sie nun schon, und doch stecke ich nun in dieser aussichtslosen Lage! »Allein gehen?« Die boshafte Stimme zieht jede Silbe übertrieben in die Länge. »Wir wollen doch nicht, daß Sie stolpern und sich das Genick brechen, oder?« Der lippenlose schwarze Mund verzerrt sich zu einem hämischen Grinsen. Keuchend ringe ich nach Luft. Alles dreht sich vor meinen Augen. Die Sonne, die Hitze, das Hupen der Autos, all das vereinigt sich zu einem mächtigen Sog, der mich in die Tiefe der totalen Erschöpfung reißen will. Meine Lider sinken schwer hernieder. Schlafen … nur noch schlafen … NEIN! Panisch beiße ich mir die Unterlippe blutig. Der Schmerz mobilisiert meine letzten Kraftreserven. Unbeholfen nehme ich die erste Stufe der Treppe; die Gesichter der entgegenkommenden Personen
verschwimmen wie eine Landschaft hinter einer verregneten Windschutzscheibe. Dicht hinter mir ertönt wieder die Stimme meines Gegners. »Sie sollten besser nicht allein laufen«, flüstert er mit stinkendem Atem in mein Ohr. »Es könnte böse enden …« Und wieder fühle ich seine toten Finger, die sich wie Blutegel in meine Schulter bohren. Mit einem heiseren Schrei torkele ich die Stufen hinab. Es ist mehr ein Fallen als eine bewußtes Gehen. Dabei reiße ich beinahe ein kleines blondes Mädchen um. Es starrt mich mit erschrockenen Augen an, aber ich taumele weiter, höre noch die wütende Stimme der Mutter der Kleinen, und der Seelensauger folgt mir ohne Eile. Ich höre das gemächliche Klicken seiner Armani-Schuhe, und wie er sich höflich bei der Mutter und deren kleiner Tochter entschuldigt. Langsam, aber zielstrebig geht er hinter mir her. Er wird mich packen, mich in seinen Armen ermorden, während ich in seine siegreiche Fratze blicke, und er wird dabei verzweifelt nach einem Arzt schreien … Blind vor Entsetzen sehe ich unvermittelt den Bahnsteig vor mir. Meine Stirn brennt wie in einem plötzlichen Fieberanfall, und ich weiß, daß ich jetzt handeln muß, sonst werde ich nie wieder handeln können. Aus dem finsteren Schlund des U-Bahn-Tunnels sehe ich bereits die grellen Lichter des Zuges heranrasen und höre das gequälte Quietschen von Metall und das dumpfe Brausen, mit dem die Waggons die Luft vor sich hertreiben. Trotz meiner bleiernen Schwäche erfasse ich die Lage sofort. Es wird nur noch Sekunden dauern, bis … Ich drehe mich um. Meine zitternden Hände klammern sich für einen winzigen, starken Augenblick um die Schultern des Seelensaugers, der mir lachend üblen Verwesungsgeruch in die Augen sprüht, und schon fühle ich, wie mich sämtliche Kräfte verlassen. Doch in diesem allerletzten Augenblick wende mich wieder dem Gleis zu und stoße meinen Feind so weit wie möglich von mir. Dieser Moment ist wie jener Sekundenbruchteil zwischen Helligkeit und Stromausfall. Schon als ich den Seelensauger wegstoße, flie-
ßen jegliche Energiereserven aus mir heraus wie aus einer leckgeschlagenen Wasserflasche. Ich breche zusammen und sehe, wie mein Gegner unter die zermalmenden Räder gerät, sehe, wie seine menschliche Maske in einem blutigen Knall zerstört wird und bilde mir ein, das Reißen der Sehnen und das Knirschen der Knochen sogar durch das Kreischen des Metalls zu hören. Natürlich ist es nur Einbildung, doch eben diese Einbildung treibt mich zum Lachen. Ja, krächzendes Lachen sprudelt aus mir hervor, unaufhörlich, da ich nicht damit aufhören will. Der Zug kommt ächzend zum Stehen. Gräßliches Schweigen lastet schwer auf der gesamten Szene. Nur ich lache noch leise. Und in mein krächzendes Lachen hinein mischt sich nun eine Vielfalt von Geräuschen: betäubtes Stöhnen, Stimmengewirr, und all das konzentriert sich auf die langen Blutspritzer am Zug und am Bahngleis. Jetzt erst begreifen die Menschen. Jetzt erst schleicht sich die Erkenntnis durch ihre schockgelähmten Hirne. Jetzt erst schreien sie. Zuerst nur leise, dann jedoch bricht die wachsende Hysterie alle Dämme, und fassungslose Schreie hallen durch den Bahnhof. Hastige Schritte erklingen, als einige der unfreiwilligen Beobachter die Nerven verlieren und davonlaufen. Ich sehe den Fahrer des Zuges durch den blutigen Schleier auf der Scheibe. Nur seine Mundwinkel zucken unkontrolliert. Und in diesen ewigen Momenten bade ich in all dem Grauen, das ich selbst freigesetzt habe. Ja, man muß diesen Idioten, die einfach die Wahrheit nicht sehen wollen, mit einer Radikalkur klarmachen, was mit uns Menschen seit Jahrhunderten passiert! Jetzt endlich wird jeder erfahren, wie oft ich mein Leben schon für Fremde riskiert habe. Jeder der hier Anwesenden wird endlich erkennen, was für Parasiten unerkannt unter uns leben, denn nach dem Tod des Seelensaugers nimmt dieser seine ursprüngliche Gestalt an und zeigt sein wahres Wesen. Die Menschen werden endlich erfahren, daß … »Mörder!« schreit eine Frau direkt neben mir. Ihre Stimme über-
tönt das Chaos und läßt mich erschrocken aufhorchen. Ich bin kein Mörder, will ich sofort beschwörend erwidern, sehen Sie doch hin! Das ist nicht der zerquetschte Körper eines Menschen, sondern … Ich spreche meine Gedanken nicht aus. Denn als ich aufblicke, sehe ich direkt in die schwarze Fratze des Seelensaugers, der sich hinter dem makellosen Gesicht der jungen Frau verbirgt. Das Böse in den weißen Augen, die sich in meine Pupille meißeln, verschlägt mir die Sprache. Ich will mich verteidigen, will die unzähligen Blicke der echten Menschen, die mich mit Abscheu und Angst anstarren, in Blicke des Verständnisses und des Mitleids für mich verwandeln. Ich will ihnen die Wahrheit zeigen, denn nicht ich bin der Mörder, nein, sondern das schreckliche Wesen, das hier nach Jahrhunderten sein Ende gefunden hat … »Mörder! Sie haben ihn getötet!« »Nein«, glaube ich zu schreien, aber nur ein heiseres Flüstern dringt über meine Lippen. Doch niemand aus der Menge, die mich wie ein Anklagetribunal umsteht, glaubt mir. Nur ganz hinten höre ich zwei Kinder verwirrt weinen. Niemand sieht den Tod hinter der Maske der jungen Frau. Statt dessen sehen sie alle auf mich nieder. So viele Blicke, so viele Emotionen. Schrecken. Ekel. Angst. Und seltsam – plötzlich richtet sich mein Haß nicht mehr gegen die Seelensauger, sondern gegen diese dumme, naive Masse aus Idioten, für deren Verwandte und Freunde ich mich seit Jahrzehnten einsetze, deren Leben ich schon so oft gerettet habe, damit sie weiterhin mit ihren geliebten Mitmenschen glücklich sein konnten, während ich stets nur von dumpfer Einsamkeit begleitet wurde. Ihr undenkbaren Mistkerle! Ich habe das hier nur für euch getan! Begreift doch! Begreift doch endlich! »Seht doch hin!« brülle ich wütend mit zornesrotem Gesicht. »Seht
sie doch an!« Ich rappele mich auf, sinke wieder zu Boden, drohe ohnmächtig zu werden. Schwarze, lautlose Wogen branden auf mich zu, doch ich kralle meine Fingernägel tief in meine Wangen, bis ich heißes Blut darüber hinablaufen spüre. Ich zwinge mich geradezu, in die grellen Augen des Seelensaugers zu blicken, und schreie weiter: »Sie ist kein Mensch! Genauso wenig wie das Geschöpf, das ich eben vernichtet habe! Es sind Monster!« Meine Stimme wird lauter. »Sie töten uns alle, jeden Tag! Sie machen uns fertig, diese verdammten Monster, sie saugen uns aus, sie werden …« Jedes meiner Worte läßt die Menge um mich herum versteinern. Nur zwei Personen bewegen sich. Zuerst sehe ich lediglich ihre Schultern, dann jedoch treten sie aus der Menge hervor und blicken kalt auf mich herab. Security Service, lese ich auf ihren blauen Uniformen. O Gott, nein, bitte hilf mir … »Sie kommen mit uns«, sagt der eine Seelensauger hart. Es ist mein Todesurteil. »Und wehren Sie sich nicht«, fügt der andere hinzu und beugt seinen verwesten Schädel zu mir herab. Hunger und Triumph lodern in seinen grellen Augen. Mit Erleichterung sieht die Menge zu, wie mich die beiden Beamten des Sicherheitsdienstes am Arm packen und fortschleifen. Ich habe keine Kraft mehr, mich zu regen. Wieder stürzen dunkle Wellen aus dem Nichts auf mich ein, lähmen mein Denken, betäuben mein Handeln. Ich sehe zurück und genau in die leuchtenden Augen des lebenden Leichnams, der sich als junge Frau kleidet. Und ich höre noch einige Satzfetzen der angeekelten Menschenmenge, die hinter mir zurückbleibt. »Das kann doch nicht wahr sein … Ein Irrer … Hab’ keine Angst mehr, Kleines, sie bringen ihn schon weg … O Gott, ein Verrückter …« »Seht doch in ihre Gesichter!« brülle ich mit fiebriger Kraft. »Seht doch in ihre Gesichter! Seht doch …«
Sie bringen mich fort. An einen Ort, wo niemand sie stört. Und meine Schreie begleiten uns auf diesem Weg. »Seht doch in ihre Gesichter!« ENDE ©Valentin Olbrich, Winzerstr. 31, 13593 Berlin
Das Gift des Bösen von Adrian Doyle Vergiftet vom Bösen, ist Lilith Eden endlich das geworden, was sie nie sein wollte: eine grausame Vampirin ohne Skrupel und Menschlichkeit. Das Gute in ihr wurde hinweggefegt, so wie die Erinnerung an ihr früheres Leben. Auch Nona wurde mit dem Bösen konfrontiert – eine Begegnung, die sie fast vernichtet hätte. Doch zwischen Leben und Tod entdeckt sie, was sie so lange suchte: eine Spur zum Ursprung der Werwölfe! Ein absonderliches Schicksal führt diese beiden so ungleichen Frauen zusammen. Nur eines verbindet sie: der Plan eines Kindes, das der leibhaftige Satan ist …