Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 722 Der Erleuchtete
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 722 Der Erleuchtete
Im Zentrum von Manam-Turu von Hans Kneife! Mit der STERNSCHNUPPE auf dem Planeten der Fanatiker Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide erneut eine plötzliche Ortsversetzung erlebt. Allans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. In den rund sechs Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums für Leid und Unfrieden verantwortlich waren. Während dieser Zeit in Manam-Turu hat Atlan schmerzliche Niederlagen hinnehmen müssen, aber er hat auch einige kleinere Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel beim Treffen der Mutanten die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila untereinander und mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich sicher bald positiv für den Freiheitskampf der Daila gegen die Mächte des Neuen Konzils auswirken dürfte. Gegenwärtig verläßt Atlan die Daila wieder. Zusammen mit Chipol und Mrothyr, dem Rebellen von Zyrph, der ihm die schon verloren geglaubte STERNSCHNUPPE zurückbrachte, startet er zu einem neuen Abenteuer IM ZENTRUM VON MANAM-TURU …
Die Hauptpersonen des Romans: Allan, Chipol und Mrothyr - Der Arkonide, der Daila und der Rebell auf dem Weg ins Zentrum von Manam-Turu. Colemayn und Tuffelsyt - Sie folgen Atlans Spuren. Hangor - Ein »Bewahrer der Ungebundenheit«. Mondsohn Dyodor und Uferwelle Dyodora - Zwei »Hüter des Chlorophylls«.
1. Ruhig bewegte sich der silbergraue Diskus durch das All. Wie lange würde diese Phase der Ruhe anhalten? Ich fürchtete, daß wir nicht genügend Zeit haben würden, alles in Ruhe zu diskutieren und das zurückliegende Geschehen zu analysieren – wie üblich. Mein Leben, ein einziges Abenteuer. Grämlich bemerkte der Logiksektor: Aufschneider! Ohne Erregung lehnte ich mich in dem komfortablen Sessel zurück. Der Zentralraum der STERNSCHNUPPE umgab mich mit dem gediegenen Luxus der Innenausstattung. Ich war im Augenblick allein. Mrothyr und der junge Daila schliefen in ihren ebenso wohlausgestatteten Räumen. Vorübergehend hatten wir die Daila verlassen, weitere Verbannte waren zu finden. Diese Verbannten würden mir helfen in meinem Kampf gegen Hyptons, BASTION-V und gegen das breite Spektrum derjenigen Einzelpersonen und Mächte, von denen Friede und die natürliche Ordnung der Milchstraße in Frage gestellt oder vorsätzlich unterdrückt wurden. Wie auch immer: vermutlich ein Kampf ohne Ende. In dem schweren Glas aus den unerschöpflichen, scheinbar unergründlichen Speichern und Magazinen des linsenförmigen Schiffes befand sich vier Finger hoch ein Getränk, dessen Namen STERNSCHNUPPE mit Kortimmo angegeben hatte. Er erinnerte
mich an einen archaischen Trank aus dem schottischen Hochland der Erde, dessen Bezeichnung uisge beatha gelautet hatte; Wasser des Lebens. Ich nahm einen großen Schluck und freute mich, einfach so dazusitzen, das Gewimmel der Sterne anzusehen und die unaufdringlichen Klänge irgendwelcher exotischer Musik zu hören, die sich in den nicht minder unergründlichen Speichern des Schiffes befanden. »Schiff?« fragte ich nach einer Weile. Sofort, aber eine Spur unwillig, als hätte ich die STERNSCHNUPPE aus technischen Träumereien gestört, kam die zögernde Antwort. »Was kann ich für dich tun, Atlan? Noch einen … Drink?« »Vorläufig nicht. Besten Dank. Was weißt du über Kraupper?« »Durchaus marginale Informationen.« »Könntest du dich eine Spur verständlicher ausdrücken?« Ich grinste; mir schien, STERNSCHNUPPE würde in diesem Moment unwillig seufzen. »Du hast alles getan, damit weiterhin mit den verbannten Mutanten der Daila reibungsarm zusammengearbeitet werden kann.« Gleichzeitig mit dem Beginn des Dialogs hatte das Schiff die Lautstärke der Hintergrundmusik gedrosselt. Die Kosmokraten hatten mir tatsächlich eine mehr als verbesserte Ausgabe von ANIMA zur Verfügung gestellt. ANIMA! Ihr Schicksal konnte ich mir nur in abenteuerlichen Träumen ausmalen, selbst wenn sie noch »lebte«, in welcher Form dies auch sein mochte. Ich zuckte die Schultern. Was konnte ich tun? »Ich habe es zumindest versucht«, sagte ich und wiederholte meine Frage. »Du willst weitere Verbannte ausfindig machen, Atlan.« Eine Feststellung, keine Frage. »Richtig. Was hat das auf sich mit den beiden
Koordinatensätzen?« Reichlich vage ließ das Schiff verlauten: »Wie ich an diese Informationen gekommen bin, weiß ich auch nicht genau. Ich fand sie beim Stöbern in meinen Speichern. Verschiedene Funksprüche.« »Du bist wirklich ein Wunderwerk angewandter Hochtechnik«, brummte ich unzufrieden. »Weisen diese aufgesammelten und analysierten Koordinaten auf Verbannte hin?« »Wären wir sonst unterwegs?« »Kaum. Du steuerst das erste Ziel an? Kraupper? Was bedeutet Kraupper?« »Das ist völlig unklar. Es kann ein Planetensystem sein, eine Sonne, ein einzelner Planet, ein Punkt im Weltall. Möglicherweise sogar ein Planetenvolk. Auf jeden Fall ist Kraupper das erste Flugziel.« »Und das zweite?« »Eines nach dem anderen. Die Information ist mit großer Bedeutung befrachtet. Du sagtest etwa sinngemäß, du müßtest einen Gesamtüberblick der Galaxis Manam-Turu haben.« »Ein dringendes Vorhaben«, stimmte ich argwöhnisch zu. »Die Koordinaten zeigen, daß Kraupper nahe dem lockeren Kern des Zentrums liegt.« »Ich verstehe. Existieren dort irgendwelche Auswirkungen hyperphysikalischer Natur?« »Keine Informationen!« Ich vermutete es. Warum sollten im Mittelpunkt dieser Milchstraße andere Verhältnisse herrschen als in Alkordoom oder meiner heimatlichen Galaxis? »Hast du exakte Daten über Manam-Turu?« fragte ich schließlich. Das Schiff erwiderte: »Viele, aber nicht ausreichend.« »Dann zeige mir auf den Bildschirmen die aufbereiteten Daten, die du möglichst geschickt und selbst für mich verständlich darstellst«,
ordnete ich in sarkastischem Ton an. Ich kannte nur wenige Teile und Ausschnitte dieser Galaxis, und je mehr ich wußte, desto erfolgreicher konnte ich handeln. Ich trank einen weiteren Schluck und sah schon nach den ersten Bildern und Grafiken, daß Manam-Turu größer war als jene Galaxis, die von den Terranern »Milchstraße« genannt wurde. »Weiter so«, sagte ich und studierte aufmerksam die Monitoren. »Du machst das ganz geschickt.« »Der Kern, soweit ich Bilder davon beschaffen kann«, erklärte die STERNSCHNUPPE. Ich sah, daß die Zusammenballung von Sonnen und stellarer Materie im Zentrum Manam-Turus tatsächlich lockerer war, als ich es aus anderen Galaxien kannte. Das bedeutete für den silberfarbenen Diskus, daß der Anflug vermutlich ein wenig schwieriger sein würde. Den Fähigkeiten der linsenförmigen Konstruktion konnte ich vertrauen, obwohl ich nicht wußte, welche technischen Besonderheiten, Prinzipien, Überraschungen und Belastungsparameter die STERNSCHNUPPE in ihren Wandungen verbarg. Es kümmert dich auch nicht sonderlich, sagte der Logiksektor. Als Antwort nahm ich, die Bildfolge und die Erklärungen betrachtend, den letzten Schluck und ließ das Glas nachfüllen. Es waren schöne Stunden der Ruhe. Ich wollte sie nicht missen. Nur so fanden wir zu uns zurück. Die Gefahren würden nicht lange auf sich warten lassen. Das wußte inzwischen sogar Chipol, der junge Daila.
* Insgesamt zwanzig Stunden waren vergangen. Bis jetzt war im Anflug der STERNSCHNUPPE auf das Ziel Kraupper nichts vorgefallen. Ein ruhiger, ungestörter Flug, unterbrochen nur von
den kurzen Phasen, die zur Orientierung und zur Aufnahme neuer, galaktostellarer Informationen notwendig waren. »Wo sind wir?« fragte Mrothyr. Es war seine Form der Begrüßung, als er ausgeschlafen im zentralen Aufenthaltsraum erschien. »Auf der Spur aufregender Abenteuer«, scherzte ich. »Kraupper?« Das Schiff antwortete an meiner Stelle. »In kurzer Zeit erreichen wir die Koordinaten, die mit diesem Begriff identisch sind. Es ist ein Sternensystem.« Tatsächlich wurde das Schiff von den ersten Ausläufern härterer Vibrationen geschüttelt. Wir klammerten uns an den Sessellehnen fest. Die Erschütterungen wurden stärker und folgten in kürzeren Abständen aufeinander. Die STERNSCHNUPPE kommentierte nur: »Keine Gefahr. Nicht für mich.« Die stählerne Linse schwankte. Die Antriebssysteme des Ringes arbeiteten kurze Zeit dröhnend. Aus allen Richtungen klirrte und knisterte es; über die Anzeigen huschten die Licht- und Farbeffekte der hyperphysikalischen Störungen. Auf den Bildschirmen erschienen die ersten Ansichten des Zielgebiets vor dem Hintergrund des Zentrums. Die Objekte, die auf dem Monitor der Fernortung auftauchten, wurden nicht überstrahlt. Ein Diagramm baute sich auf. »Ein Sonnensystem«, sagte Chipol, ohne überrascht zu sein. »Mit vier … sechs Planeten. Etliche planetare Monde.« Über das Bild schob sich eine zweite Projektion. Ein leuchtend gelber Punkt begann aufgeregt zu blinken. Zahlenreihen und Buchstaben erschienen. »Ein Fremdkörper.« Sekunden später stellte sich heraus, daß es sich um ein Raumschiff handelte. Es schien antriebslos zu schweben. Die STERNSCHNUPPE drosselte die Geschwindigkeit und glitt in einer Ausweichkurve darauf zu. »Achtung!« sagte der Rebell scharf. »Es kann ein Gegner sein.«
»Es gibt keinerlei Energieemissionen«, erklärte das Raumschiff. »Ich werde Spähersatelliten auswerfen.« Chipol winkte mir, deutete auf die Schirme und sagte: »Solche Schiffe haben unsere Vorfahren gebaut. Oder so ähnlich.« »Ein Daila-Schiff?« Einige Minuten lang wuchs unsere Unruhe. Ich wäre am liebsten selbst in einen Raumanzug gestiegen und hätte das Schiff untersucht. Jetzt sahen wir, daß es sich langsam um seine Querachse drehte. Die Vergrößerung auf den Schirmen zeigte zunächst einige ausgebeulte Stellen, in deren Mittelpunkt gezackte Öffnungen zu sehen waren. Ein Wrack ohne jedes Leben, sagte der Logiksektor warnend. »Ein altes Schiff«, klärte uns STERNSCHNUPPE auf. »Die Untersuchung läuft.« Das Raumschiffswrack befand sich nahe der Umlaufbahn des sechsten, sonnenfernsten Planeten. War Kraupper der Name dieses Schiffes? Gut möglich, sagte ich mir, aber wahrscheinlich bedeutete jenes ungewöhnliche Wort die Bezeichnung des Sonnensystems. »Bist du sicher?« fragte ich den Jungen. Chipol nickte eifrig. »Ja.« Das Raumschiff wurde von mir unbekannten Strahlen abgetastet. Mindestens zwei Sonden schwirrten um den Körper herum und ließen hin und wieder überstarke Scheinwerfer aufblitzen. Einer der schwebenden Späher schob sich vorsichtig durch die nächstgelegene Öffnung. »Analyse«, druckte ein Gerät aus. »Alter einhundert Jahre. Plusminus zwei Prozent.« Die STERNSCHNUPPE und wir waren auf der Suche nach Verbannten. Nach Daila mit Mutantenfähigkeiten. »Die Zerstörungen sind auf Einschläge hyperschneller Meteore mit hohen Anteilen an Metall zurückzuführen«, hieß es nach einiger Zeit. Mrothyr warf mir einen langen, intensiven Blick aus seinen gelben
Augen zu. In seinem Gesicht arbeitete es. »Das Schiff wurde nicht beschossen.« »Nein. Und es ist abgetrieben. Ich versuche gerade, die Flugbahn auszurechnen, die es seit einem Jahrhundert zurückgelegt hat.« »Ob du das schaffst?« fragte Chipol vorlaut. »Es ist zu vermuten.« Ununterbrochen wechselten Bilder und Innenansichten des Wracks. Das Raumschiff war in fest der gesamten Länge von den kosmischen Geschossen mehrmals getroffen, und seine Insassen waren getötet worden. Die Spähersonden entdeckten immer neue Einzelheiten. Die Insassen hätten offensichtlich keine Chancen gehabt; es gab nicht einen Daila, dem es gelungen war, einen Raumanzug anzuziehen. Plötzlich erklärte das Schiff: »Nach den Definitionen, die ich von euch übermittelt erhielt, war dies ein Schiff der sogenannten Verbannten.« Also doch auf der richtigen Spur, Arkonide, sagte der Logiksektor zufrieden. Ich dachte nach: Verbannte oder nicht – es war ein Daila-Schiff, und daß es vor einem Jahrhundert hier zum Wrack geworden war, konnte nichts anderes bedeuten als kommenden Ärger. Ich hob die Schultern und fragte: »Wie viele bewohnte Planeten?« »Nur einen nach meinen Feststellungen. Der dritte. Er dürfte den Namen Kraupper haben. Soll ich ihn anfliegen?« »Unter Beachtung höchstmöglicher Vorsicht!« ordnete ich an. »Höre den Funk ab! Kontrolliere zuerst, ob es sich wirklich um Kraupper handelt!« »Verstanden!« gab das Schiff schriftlich auf allen Bildschirmen zurück. Der Zyrpher hatte seine Fellmütze verwegen in den Nacken geschoben. Seine schiefergraue Haut glänzte im verschiedenfarbigen Licht, das von den vielen Schirmen und Displays ausstrahlte.
Mrothyr machte ein reichlich unbeteiligtes Gesicht, obwohl er die zurückgelegte Entfernung noch nicht ganz begriffen hatte. »Was werden wir dort finden?« fragte er schließlich. Aus dem Fundus der STERNSCHNUPPE hatten wir unsere ramponierte Kleidung wieder ersetzt. Nur seine blaugrün gestreifte Mütze zeigte noch die Spuren rücksichtsloser Benutzung. »Verbannte Daila! Leute aus meinem Volk«, rief Chipol. »Es werden deren Enkel sein«, meinte ich. Ich setzte voraus, daß die Hyptons, jene eindringlich-sanften Überreder mit den Ansprüchen uneingeschränkter Macht, selbstverständlich auch bis zum Kern von Manam-Turu vorgestoßen waren. Ich wandte mich an die STERNSCHNUPPE. »Geht aus deinen Untersuchungen hervor, welches Ziel das Schiff gehabt hat?« »Nein. Die Sonden haben keine Aufzeichnungen gefunden.« Inzwischen hatten sich die Schiffe einander genähert, die Linse aus Stahl, in der wir uns befanden, und das Wrack. In unserer Bordwand und an den Außenkanten des Ringes flammten Scheinwerfer auf. Ihre scharf abgegrenzten Lichtkreise zeigten uns in Direktsicht die Spuren des damaligen Beschusses aus dem All. Die Sonden kamen zurück und wurden eingeschleust. Noch immer liefen Informationen über die Bildschirme. Ich merkte mir die wichtigsten Daten des Sechs-Planeten-Systems. Also: die Spur, die du verfolgst, scheint heiß zu sein, wisperte der Logiksektor. Aber deine Vermutung, daß hier Hyptons ihre Fäden spinnen, ist mir zu kühn. »Ich aktiviere die Schutzschirme und taste mich vorsichtig an den dritten Planeten heran«, erklärte STERNSCHNUPPE, nachdem das Schiff die Nähe des Wracks verlassen hatte. Als Zeichen dafür, daß sich sämtliche Anlagen und Geräte mit dem dritten Planeten, Kraupper (?), beschäftigten, bildeten sich die ersten Vergrößerungen auf den Monitoren ab. »Gibt es Anzeichen«, fragte der Zyrpher gespannt, »daß wir
geortet werden?« Ein Signal und eine fast unmerkliche Verzerrung der Sternenkulisse um uns herum bewiesen, daß die transparenten Schutzschirme eingeschaltet worden waren. Spätestens seit der reichlich problematischen und teilweise höllisch gefährlichen Art, in der ANIMA mit diesen rein technischen Vorgängen verfuhr, war mein Mißtrauen gegen Raumflugkörper dieser Art groß. Es war, obwohl es mit der STERNSCHNUPPE noch keine einschlägigen Pannen gegeben hatte, nicht viel geringer geworden. »Ich habe nichts merken können«, lautete die Antwort. »Richte deine Aufmerksamkeit darauf. Ich hasse Überraschungen dieser Art«, sagte ich. Ausgerechnet Raumschiffe, in deren Technik ich nicht eingreifen konnte – ein Greuel, so sehr ich auch die Bequemlichkeit schätzte. Immerhin hatte die STERNSCHNUPPE bisher einwandfrei funktioniert. Nach welchen Maximen … keine Ahnung. »Und wenn du Waffen hast, die uns helfen«, rief Mrothyr, »dann halte sie bereit.« »Sind bereit.« Die STERNSCHNUPPE beschleunigte und verließ ihre Position, die sich vor wenigen Augenblicken noch auf der Ebene der Planetenekliptik befunden hatte. Binnen weniger Minuten befanden wir uns, unterlichtschnell dahinjagend, hoch über dem Planeten. Die Bilder der ersten Analysen wurden größer und deutlicher; immer mehr Informationen strömten herein, wurden verarbeitet und für uns aufbereitet. Der Funkverkehr wurde analysiert. Das Raumschiff hatte einen Punkt hoch über der Ekliptik bezogen, direkt über dem Planeten. Namen und Begriffe wurden an uns weitergegeben. Wir hörten und sahen die Informationen. Die Sonne, ein gelber, großer Stern ohne besondere Kennzeichen oder physikalische Attraktionen, wurde auf dem Planeten Evdam Tur genannt. Die dritte Welt hieß tatsächlich Kraupper. Es war eine
»humanoide« Welt; Lufthülle und Lebensbedingungen entsprachen innerhalb einer engen Bandbreite den Bedürfnissen von Zyrphern, Daila und Arkoniden. Das Schiff fragte nach etwa einer Stunde: »Soll ich den Landeanflug einleiten? Oder wollt ihr noch mehr Detailerkenntnisse haben?« »Schwere Frage«, überlegte ich laut. »Ich glaube, wir sollten langsam und vorsichtig heranfliegen. Und möglicherweise einen passenden Landeplatz finden. Du kennst die Kriterien.« »Verstanden.« Wieder bewegte sich das Schiff. Der Planet wurde größer; Wolken bildeten über Land und Meeresflächen weiße, leuchtende Spiralen. Ich sagte entschlossen: »Leite die Landung ein.« Langsam sank die STERNSCHNUPPE abwärts. Ich beugte mich vor und studierte die Ansichten von Gebäuden, die wenigen Straßen und andere Formen der Planetenoberfläche. Aus den Lautsprechern kamen die Stimmen aus einigen ausgewählten Funkgesprächen. Ich verstand kein Wort. Aber ich konnte mich darauf verlassen, daß STERNSCHNUPPE bereits das Programm für die Translatoren erarbeitete. »Ich empfehle euch«, sagte ich, »gut zuzuhören. Wissen ist Macht.« Einige Sekunden später kippte der Boden des Raumes plötzlich um fast neunzig Grad. Gleichzeitig ertönten die Warnsummer. Ein wilder Geräuschorkan brach los. Instinktiv gelang es mir, die Beine auszustrecken und mich gleichzeitig am Sessel festzuhalten und festzuklemmen. Chipol wurde von den Beinen geschleudert und rutschte schreiend unter ein Pult. Es klirrte und krachte, als die STERNSCHNUPPE von schweren Schlägen erschüttert wurde. Eine gewaltige Kraft hatte das Schiff gepackt und riß es aus der Flugrichtung. Ich nahm einen Schatten aus dem Augenwinkel wahr. Der
Zyrpher flog an mir vorbei, drehte sich in der Luft und wurde gegen einen großen Bildschirm geschmettert. Er kam mit dem Rücken auf. Mit einem entsetzlichen Geräusch zersprang das Material in winzige Splitter. Der nächste Ruck, der das Schiff herum wirbelte, schleuderte den Körper wieder in die gegenüberliegende Ecke. Ich wurde halb aus meinem Sessel gerissen, aber eine weitere Vibration stauchte mich schwer in das federnde Material zurück. Ein Teil der Deckenverkleidung löste sich und kippte nach unten. Dann riß uns die fremde Kraft – ich vermutete die Wucht eines energiereichen Traktorstrahls – wieder in eine andere Richtung. Der Diskus bewegte sich in eine gänzlich andere Richtung. Noch immer ertönten die kreischenden Sirenen und die schaurig blökenden Warngeräte. Mrothyr versuchte aufzustehen. Ich schrie ihm zu, er solle liegenbleiben. In dem Chaos aus Geräuschen und Erschütterungen hörte und verstand er nichts. Mrothyr wurde in das Gewirr aus Stahlverstrebungen und Verkleidungsteile geschleudert. Ich hörte seinen gurgelnden Schrei. Dann wirbelten nur noch geringfügige Erschütterungen das Schiff herum. Die Wirkung des Traktorstrahls zog die STERNSCHNUPPE in gerader Richtung auf den Planeten zu. Fluchend kam ich auf die Füße. Die Sirene hörte zu heulen auf. Chipol versuchte, unter dem Bord hervorzukriechen. Ich taumelte auf Mrothyr zu. Er machte schwache Bewegungen, um sich aus dem Gewirr zu befreien. Ich packte die Winkel und Elemente, riß sie auseinander und warf sie zur Seite. Dann gelang es mir, seinen Körper unter den Achseln zu packen und hochzuheben. Mrothyr gab einen tiefen, summenden Laut von sich; es klang wie der Ausdruck tiefsten und größten Schmerzes. Ich zog ihn hoch und sah, daß er heftig blutete. In das Geräusch der leiser werdenden Hörner hinein rief ich das Schiff an.
»Er braucht Hilfe. Medorobots. Schnell!« Mrothyr zuckte. Die Bewegung ging durch seinen ganzen Körper. Dann stöhnte er auf und verlor die Besinnung. Ich zerrte ihn in den Mittelpunkt des Raumes und streckte ihn aus. »Aktion läuft«, erklärte das Schiff. Mrothyrs Kleidung war vom Hals bis zum Gürtel aufgerissen. Aus dem rechten Brustmuskel ragte ein handlanges, dreieckiges Stück Plastikmaterial heraus. Alles war voller Blut. Hinter mir summten zwei Medorobots heran. »Tritt zurück«, sagte STERNSCHNUPPE. »Ich bringe Mrothyr in meinen Medo-Versorgungsraum.« Die halb mannsgroßen Maschinen schoben behutsam ihre Greifer unter seinen Körper. Eine Düse fauchte auf und spritzte schmerzstillende oder einschläfernde Medikamente durch die Haut, die stellenweise hellgrau geworden war. Chipol berührte scheu meinen Arm. Er sah ebenso zerschunden aus wie der Zyrpher. »Stirbt er?« »Ich hoffe, er überlebt. Komm mit, laß dich kurieren. Das Schiff räumt sich selbst auf.« Wir folgten den Maschinen und Mrothyr. Nach wenigen Metern schob sich ein Teil der Korridorwand in die Höhe. Ich hatte bisher diesen Raum nicht gekannt; wie sicher vieles andere an Bord. Die Roboter legten den regungslosen Körper auf einen breiten Operationstisch, desinfizierten mit einem grünlichen Nebel die Wunde, und mit unendlicher Vorsicht entfernte ein Greifer den schweren, dicken Splitter. Eine dritte Maschine wartete, bis sich Chipol halb ausgezogen hatte und versorgte die Schrammen und Kratzer auf seiner Haut. »Schiff?« fragte ich und wußte, daß ich dem zyrphischen Rebellen jetzt nicht helfen konnte. »Du willst wissen, wie die Chancen stehen, daß er überlebt?« »Natürlich.« Ich spürte jetzt den ersten dumpfen Schmerz weniger Prellungen.
Mir war so gut wie nichts passiert. Hinter mir knirschte Chipol mit den Zähnen, um seinen Schmerz nicht zu zeigen. »Blutverlust ist gering. Er hat, soweit feststellbar, keinen Schaden an einem wichtigen Organ. Im Augenblick werden verletzte Gefäße repariert.« »Und der Planet? Der Traktorstrahl?« »Bis zum Augenblick der Landung, gleiche Geschwindigkeit vorausgesetzt, werden mehr als zwei Stunden vergehen.« »Andere Vorfälle?« »Keine.« Chipol wischte sich mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab und sagte zu mir: »Ich hole mir frisches Zeug.« »Lasse dich ausrüsten«, riet ich ihm. »Ich komme gleich nach. Wir werden uns irgendwie wehren müssen.« Chipol verließ den kleinen, strahlendhellen Raum. Ich sah schweigend der schnellen Arbeit der Maschinen zu. Binnen etwa zwanzig Minuten hatten sie die Wunde geschlossen und hinterließen einen breiten Streifen biologisches Klebematerial. Mrothyr lag unbeweglich da. Sein Kreislauf wurde an eine Vielzahl dünner Leitungen angeschlossen. Breite Bänder hielten seine Beine und Arme fest. »Ich beobachte seinen Zustand unausgesetzt«, erklärte das Schiff, als ich mich umwandte. Ich konnte nichts tun. »Sein Zustand ist stabil. Der Traktorstrahl ist derart energiereich, daß meine Systeme nicht dagegen ankommen. Ich habe die Abwehrmaßnahmen aktiviert. Ich kann mich wehren, wenn wir kurz vor der Landung stehen.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Dann haben diese netten Kraupper möglicherweise das uralte Daila-Schiff auf dem Gewissen? Aber im Lauf von hundert Jahren scheinen sie umgänglicher geworden zu sein.« »Einen gezielten Beschuß«, widersprach die STERNSCHNUPPE,
»hätten meine Schutzschirme überstanden. Auf den Bildern kannst du die Oberflächenstruktur gut erkennen.« Ich ging zurück in den Zentralraum und überlegte, welche Ausrüstung ich aussuchen sollte. Während einige Roboter die Schäden zu beseitigen anfingen, versuchte ich zu erkennen, was sich unter der harmlos erscheinenden Landschaft des Planeten verbarg. Der Logiksektor sagte in endgültigem Ton: Jetzt ist die Ruhe vorbei. Du steckst mitten in der Gefahr. Kraupper war also doch das richtige Stichwort. Ich ging in das Magazin und suchte meine Ausrüstung zusammen. Mein Unbehagen war so groß, daß ich nicht einmal fluchte. In meinem Magen bildete sich ein harter Klumpen. Ich ahnte, daß wir in weit größeren Schwierigkeiten waren, als es selbst unter diesen Umständen den Anschein hatte. »Wie geht es Mrothyr?« fragte ich. »Die Lage ist, in jeder Hinsicht, unverändert«, sagte das Schiff. »Wir sind in die Auseinandersetzung zweier Machtgruppen hineingeraten.« Und nach einer Pause: »Ich melde mich, wenn ich mehr erfahren habe.« Ich schaute auf den Monitor in der Wand und erkannte, daß wir uns in einer Höhe von mehr als zwanzig Kilometern befanden. Die ersten Schleier der Wolken tauchten unter uns auf. Wir saßen in der Falle.
2. Es ist unmöglich, von bestimmten Ereignissen den Staub wegzublasen, ohne daß jemand zu husten anfängt. Solange ich zwischen zwei meiner Anfälle in der Lage bin, schreibe ich meinen unwesentlichen Text. Mit dem Staub meine ich meinen »liebenswerten« Egomanen Tuffelsyt. Er ist mir
für seine Rettung etwa so dankbar wie eine Klapperschlange. Moralische Vorhaltungen gehen durch ihn hindurch. Ständig faselt er von diesem »wertvollen Atlan«, den er meistbietend versteigern will. Und mir geht es wieder einmal besonders schlecht. Nun, die Dinge ändern sich ständig … (Aus Colemayns Sternentagebuch)
* In der Steuerkanzel der NACHTJAGD herrschte die übliche Unordnung. Ich lag ausgestreckt auf meinen dünnen Polstern, umklammerte mit der linken Hand den Faustkeil-Kristall und dachte an all die Dinge, die ich nicht hatte. Ich war immerhin noch so kräftig gewesen, den Funkempfänger einzuschalten und auf die wichtigsten Frequenzen einzuregeln. Die Lautsprecher zischten, da nur die Trägerwelle arbeitete. Ab und zu gab es ein Prasseln oder Knacken. Hin und wieder dröhnten sie los und weckten sogar den Pharster. Dann gab es wieder das Problem, den Funkverkehr zu verstehen und die richtigen Informationen daraus zu verarbeiten. »Atlan«, stöhnte ich. »Dornenreich ist der Weg zu unserem unbekannten Treffpunkt.« Ohne daß ich es gemerkt hatte, war Tuffelsyt in die Kabine gekommen. Mit seinem schrillen Organ schrie er in beginnender Hysterie: »Du liegst hier herum und ruhst dich aus! Warum sind wir noch nicht auf BASTION-Fünf?« Ich entgegnete schwach: »Schrei nicht herum. Mir geht's schlecht. Warum steuerst du nicht dieses Totenschiff?« »Wozu bist du sonst zu gebrauchen?« Seine riesigen Augen starrten mich anklagend an. Ein Arm, grotesk verlängert, deutete auf mein Gesicht. Ich packte eine Getränkedose und warf sie nach
ihm. Ich traf.
* Jeder Nerv entlang der Wirbelsäule tobte. Colemayns Kopf dröhnte; jedes Wort und jede Bewegung riefen Schmerzen hervor. Der Sternentramp fühlte sich elend wie selten zuvor. Aber er konnte noch klar denken. »Kileimeinn«, zeterte der Pharster, der ein Naldrynne war, »du bist ein Wrack. Zu nichts nützte.« »Keine Vorwürfe, Tuffel!« sagte Colemayn müde. »Denk daran, daß ich dein unnützes Leben gerettet habe.« »Ich hätte mich schon selbst befreit«, erwiderte Tuffelsyt spitz. »Sind wir auf Kurs?« »Warum fragst du nicht die Geräte im Steuerpult?« fragte Colemayn zurück. Von dem Kristall gingen warme, physikalisch schwer meßbare Strahlungen aus und wärmten seine Haut. Der Anfall war vor zwei Tagen erfolgt, der Zustand des Mannes aus Evron besserte sich in nur winzigen Schritten. »Weil ich nichts davon verstehe.« Die NACHTJAGD war nach dem Fluchtstart von Pjol-Kimorz von den Ligriden nicht verfolgt worden. Das winzige Diskusschiff war auf dem Flug nach BASTION-V. Die Koordinaten hatte Colemayn ohne größere Schwierigkeiten von seinem Freund, dem GwardWissenschaftler Ipolmen, bekommen. Nun … Freund war vermutlich nicht ganz der zutreffende Begriff, aber die Dankbarkeit des Ligriden-Chefs war nicht gespielt gewesen. Trotz des niederträchtigen Verhaltens Tuffelsyts, der nicht einmal vor kaltblütigem Mord zurückgeschreckt war – wenn er nicht in letzter Sekunde vereitelt worden wäre. »Dann halt endlich deinen vorlauten Mund. Ich will geräuscharm leiden«, sagte Colemayn.
»Deine blöde Krankheit verschleppt alles. Ich will diesen Atlan sehen!« »Ich auch.« »Und? Was tust du? Du liegst hier und stöhnst.« »Soll ich etwa lachen, wenn es mir dreckig geht! Raus!« So oder ähnlich verliefen die »Unterhaltungen« der letzten Tage. Tuffelsyt wurde immer aggressiver. Noch aber war Colemayn in der Lage, die Vorfälle mit Gelassenheit abzutun. Wieder dröhnte ein aufgefangener, halb verstümmelter Funkspruch aus den Lautsprechern. Soviel verstand Colemayn: Eine Bodenstation und ein Schiff mit Namen OSTARN tauschten Informationen über einen Planeten aus, der unbewohnt, aber voller nötiger Rohstoffe war. »Uninteressant«, murmelte Colemayn und versank wieder in seinen lethargischen Zustand. Er half ihm, sich zu erholen. Immerhin war der Pharster nicht nur in der Lage, sondern auch bereit, Nahrungsmittel und Getränke aus der halbautomatischen Pantry und aus seinem Verbannungs-Vorrat zu holen und auch Colemayn davon etwas zu geben. Der Vorrat an Wein ging zu dessen Bedauern zur Neige. Colemayn sagte sich zum tausendsten Mal, daß er sein Geheimnis – oder wenigstens einen Teil davon – mit seinem Zustand bezahlen mußte. Eine Handvoll Tage lang war er völlig gesund gewesen; dann vergaß er, daß diese »Krankheit« auf ihren Augenblick lauerte. Jetzt, bevor er einschlief, wußte er, daß nach einer Serie von Anfällen in kurzen Abständen wieder eine Phase herrschen würde, in der er Wochen und Monate nichts spüren würde. Er schloß die Augen und streckte seine langen Beine aus. Unmerklich vergingen die Stunden.
*
Colemayn taumelte auf das offene Schott der Steuerkanzel zu. Er hielt sich mit beiden Händen am Rahmen fest. Um seine Hüften war ein großes, fadenscheiniges und an einigen Stellen eingerissenes Tuch geknotet. Colemayn hatte heiß und kalt geduscht; wie immer in diesen beengten Räumlichkeiten halb zusammengekrümmt und in schmerzender Körperverdrehung. Die eiskalte Dusche, die seinen Körper wie mit tausend Nadeln getroffen hatte, half ihm, einen Teil der Nebel um seinen Verstand zu vertreiben. Die Illusion, daß er bald wieder völlig gesund sein würde, wurde stärker. Er befahl sich, daß es ihm besser ginge. Diese autosuggestive Methode funktionierte bedingt, aber auch sie half. Aus den Lautsprechern kam ein Fauchen, dann ein auf- und abschwellendes elektronisches Zwitschern. Dann sagte eine klare, unpersönliche Stimme: »Hilferuf. Achtung. Derjenige, der Colemayn auf Thorrat traf, braucht dringend Hilfe.« Colemayn zuckte zusammen. Er war zunächst sicher, sich verhört zu haben. Dann sah er, daß sich das Aufnahmegerät wie immer selbsttätig eingeschaltet hatte. Trotz der Schwäche und der dumpfen Nebel in seinem Kopf verstand er nach dem ersten Satz, daß er selbst gemeint war. Er versuchte ein kurzes Lachen, ehe er begriff, daß diese seltsame Kodierung oder besser Umschreibung einen sehr ernsthaften Grund hatte. Die Vocoderstimme sprach den nächsten Satz. »Der Sternenwanderer ist stets ein anderer. So dichtete damals auf Thorrat der Reimeschmied, der Meister der Bratkunst.« Namen wurden also vermieden. Namen, die in der Galaxis Manam-Turu einigen Wesen bekannt sein dürften. Immerhin: Colemayn war ausgesprochen worden. Weiter: »Sternentramp. Ich brauche, lautet der Ruf, was Zulgea damals brauchte.« Also rief Atlan nicht selbst. Atlan! Endlich ein deutlicher Hinweis!
»Ich bin hier. An dem Ort, der dem Punkt entspricht, an dem in Alkordoom die Grenze des Nukleus beginnt.« Wieder ein zirpendes Zwitschern, dann fing wieder das Rauschen der Trägerwelle an. Colemayn tastete sich in den Raum hinein und setzte sich. Mit einem Stück Blech und weichem Plastikmaterial hatten die Reparaturtrupps der Ligriden den winzigen Sitz in ein mäßig bequemes, aber größeres Möbel verwandelt. »Beinahe hätte ich's in meinem Nebelkopf überhört«, sagte er und zog den Regler auf geringere Lautstärke. Schon das Denken bereitete ihm wieder neue Schmerzen. »Kursänderung!« sagte er sich und suchte mit unsicheren Fingern. Über die Monitoren schob sich zitternd Kartenausschnitt nach Kartenausschnitt. »Ich muß in den Kern dieser verdammten Galaxis!« sagte sich Colemayn. »Zu Atlan.« Er zwinkerte. Schweiß sickerte aus seinem Borstenhaar. Nach zwei weiteren Versuchen gab er auf. Tuffelsyt schlief glücklicherweise. Colemayn schwankte in die Toilette, suchte ein Medikament und spülte es mit Wasser herunter. Dann stolperte er in die Pantry, goß von dem Wein fast ebensoviel in den Becher wie daneben und trank in langen Zügen. Er hoffte, daß diese Kombination ihm über die nächste Stunde hinweghelfen würde. Dann löste er den Knoten, zog sein altes Gewand an und setzte sich wieder vor das Pult. Um die Übersichtskarte der Galaxis zu projizieren, die erste Datenfolge abzulesen und die Ziffernreihen in den Autopiloten zu programmieren, brauchte der Sternentramp zwanzig Minuten. Dann änderte er den Kurs. Die NACHTJAGD ging im Linearsprung in eine weite Kurve. Sie schlug die neue Richtung ein und raste auf den Mittelpunkt der Milchstraße zu. Der Sternenwanderer dachte in qualvoller Langsamkeit:
»BASTION-Fünf kann ich wohl vergessen. Ein herber Schlag für Tuffelsyt.« Er nahm sich vor, die Peilkoordinaten aus der Funkanlage abzurufen. Vorläufig mußte er sich damit zufriedengeben, jene einfachen Dinge zu tun, die ihm sein Zustand gestattete. »Ein Hilferuf«, sagte er und holte mehr Wein. »Atlan braucht Hilfe. Meine Hilfe kriegt er.« Die Aufregung schüttelte ihn. Er wußte, daß er Fieber hatte und riß sich zusammen. Wenn dieser Hilferuf derartig abgefaßt war, dann war Vorsicht geboten. Andere durften nicht verstehen, was und wer gemeint war. Verschiedene Folgerungen schlossen sich an diese Überlegung an. Atlan ahnte zumindest, daß er, Colemayn, sich in Manam-Turu befand. Oder hoffte er es nur? Wieder suchte Colemayn weiter und projizierte sämtliche Ausschnittkarten des angewählten Raumbezirks auf die Monitoren. Dann hörte er hinter sich vertraute Geräusche. »Der Herr Pilot ist also ausnahmsweise an der Arbeit!« stellte der Pharster giftig fest. »Richtig. War notwendig«, brummte Colemayn. »Was ist los?« »Kursänderung.« Der Pharster stampfte wütend mit seinen kurzen Beinen auf. Es klang wie ein langsamer Trommelwirbel. Jeder Ton schickte einen zuckenden Schmerz durch Colemayns Schädel. Er drehte sich herum und schrie: »Hör auf!« Dann fuhr er leiser fort: »Ich werde dir sagen, warum es wichtig war. Atlan ist nicht mehr in BASTION-Fünf. Er befindet sich irgendwo am Rand des galaktischen Zentrums. Er braucht mich, und vielleicht bekommst du einmal die Chance, zu helfen. Es wäre gut, denn du kommst mit deiner verrückten Einstellung nicht weiter.«
Tuffelsyts Gesichtsausdruck war, wie stets, undeutbar. Er schien nachzudenken. Dann keifte er los: »Seit ich dich getroffen habe, bietet sich mir nichts als Ärger und Verrat, Betrug und Verhaftung.« »Selbst schuld!« »Du bist schuld. Ständig erzählst du mir, welcher Held dein Freund ist.« »Ist er auch.« »Ohne dich wäre ich nicht an Bord des Verbanntenschiffes. Wir irren durch den Weltraum! Nichts ist passiert! Gewinn? Ich kann nicht mal davon träumen. Und jetzt rasen wir wieder zurück in den Kern. Weißt du wenigstens, wo er zu finden ist, dein wertvoller Atlan?« In steigendem Ärger knurrte Colemayn: »Du trampelst wieder einmal auf meinen Nerven herum. Ja, ich weiß, wo Atlan ist. Gleich werden wir es wissen.« »Was? Nicht mehr BASTION-Fünf?« »Nein. Und wenn ich Atlan erzähle, was du bisher getrieben hast, bringt er dich um. Er haßt Lügner, Betrüger, Wesen ohne Charakter, potentielle Mörder und solche Schreihälse wie dich, die nur mit dem Mundwerk mutig sind. Ich werde ihm die Wahrheit sagen. Die Wahrheit, verstehst du? Nicht, wie ich dich sehe.« Die letzten Worte hatte Colemayn fast geschrien. Er merkte, daß ihn seine Wut erleichterte. Ein Teil des Dunstes in seinem Kopf löste sich auf. »Meinst du das wirklich, Kileimeinn?« fragte Tuffelsyt nach einigen Minuten in einem völlig veränderten Ton. »Ja. Ich meine es so, wie ich es gesagt habe. Niemand kennt Atlan so gut wie ich. Schlag dir den Gedanken, ihn zu verkaufen, aus deinem behaarten Kopf.« Er packte den Becher und leerte ihn. Erst einige Zeit später staunte er darüber, daß Tuffelsyt ihn gefüllt vor ihn zurückstellte. Der Pharster zog sich schweigend zurück. Colemayn fragte sich, ob
seine Schreierei etwas genützt habe und verneinte es vor sich selbst. Er trank in kleinen Schlucken und versuchte, die Speicher und Rechnerelemente dazu zu bringen, ihm den Ausgangspunkt der Signale zu verraten. Der Hilferuf sollte nur ihn, dem erhofften »Retter«, den Standort seines Freundes verraten. Während er die Koordinaten aus dem Kartenmaterial heraussuchte und die Gebiete des Weltraums eingrenzte, gelang es ihm nach etlichen Schwierigkeiten, das Ziel wenigstens grob zu finden. Schließlich programmierte er ein Auftauchmanöver. Die NACHTJAGD mußte sich neu orientieren können. Hinter ihm fragte Tuffelsyt: »Glaubst du, Kileimeinn, daß ich das falsche Leben führe?« »Ich bin sicher, daß du vieles anders machen solltest«, meinte der Tramp. »Aber die Änderung muß sich zuerst in deinem Kopf abspielen. Und zwar gründlich.« Der kleine Diskus schüttelte sich. Die NACHTJAGD beendete eine lange Linearetappe. Auf den Bildschirmen breitete sich ein neues Panorama aus. Natürlich waren es Sterne und die Schleier interstellarer Materie in vielen Farben. Dennoch erkannte Colemayn, daß sich das Schiff auf direktem Kurs zum Zentrum von ManamTuru befand. »Immerhin«, murmelte Colemayn und bewegte langsam die Finger. Er tippte ebenso langsam auf die wenigen Tasten, mit denen er diesen Fixpunkt speicherte. Die Frequenz, auf der die NACHTJAGD den Hilferuf Atlans aufgefangen hatte, war bisher nicht wieder benutzt worden. Colemayn leitete die nächste Linearetappe ein. An ihrem Ende würde die NACHTJAGD sich etwa dort befinden, wo der Hilferuf Atlans ausgestrahlt worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt mußte Colemayn wieder bei Kräften und im vollen Besitz seines Verstandes sein.
3. »Hangor! Zerschmettere den Eindringling! Los! Laß ihn auf Manicaa zerschellen! Pack ihn! Sonst ist es zu spät.« »Ruhe!« schrie der vierschrötige Chef. »Ich leite die Kampfstation!« Alle Pulte waren besetzt. Im Zielkreuz des TraktorstrahlManipulators befand sich das fremde Raumschiff. Es wurde unbarmherzig auf den Planeten gezogen. »Es muß der Feind sein!« rief ein Beobachter. »Oder ein Verbrecher wider die straffen Grashalme!« lachte der Radarfachmann. »Er wehrt sich nicht.« »Immerhin.« »Ich habe Ruhe befohlen«, wiederholte Hangor. »Und ich brauche Ruhe.« Die Kampfstation war tief im Gebirge über Hupishna entlang dem Blauwassersee versteckt. Ihre Geschichte war lang und voller Rückschläge. Aber die Bewahrer der Ungebundenheit hatten es schließlich geschafft, trotz etwa zweihundertfünfzig Einsprüchen, Sabotageakten, Streiks und übler Verdächtigung der Hüter des Chlorophylls. Sämtliche Pulte waren besetzt; mit wirklichen Bewahrern, wie Hangor hoffte. »Ich denke nach«, sagte er. »Raumschiffe haben gute Technik an Bord. Wenn wir es richtig anfangen, steht uns die Technik zur Verfügung. Halte das Schiff in der gegenwärtigen Position fest, Gurop!« »Verstanden!« Gurop, der Manipulator, gehorchte widerwillig. Nachdem sie das Schiff geortet hatten, war, wie nicht anders zu erwarten, Alarm gegeben worden. Die Mannschaft hatte den Einsatz so oft geprobt, daß alles binnen weniger Minuten klappte. Und die Hüter hatten
bisher nichts gemerkt. Vielleicht hätten sie den Strom abgeschaltet, Kabel durchgeschnitten, einen Protestmarsch angefangen oder ähnlichen Unfug angestellt. Für den ersten Krisenfall stand ein riesiges Aggregat zur Verfügung, das sich aber noch nicht eingeschaltet hatte. Trotzdem, sagte sich der Chef, sie müssen merken, wieviel Energie wir abziehen. Die nächste Idee war für Hangor auch nicht neu. Er zupfte an dem indigofarbenen Haarbüschel, das an der Spitze des Ohres wuchs und ihm ein besonders listiges Aussehen gab. »Wenn die Hüter des Chlorophylls das Schiff haben wollen, um es gegen uns zu verwenden …«, brummte er laut und ließ den Satz offen. »Was dann?« »Beim vergüteten Schalter!« rief jemand aus der hinteren Ecke. »Tu doch endlich etwas!« Hangor ignorierte den Einwurf. Tief in seinem Innern gab es eine Idee, eine Überzeugung, einen ständigen Wunsch. Er schlug sich schon seit vielen Jahren damit herum. Dort im All wartete der böse Feind. Wie er hieß und aussah, wußte er nicht – der Gegner hatte viele Gesichter und Erscheinungsformen. Noch immer hing das Schiff unbeweglich hoch über den ersten Spuren der dichteren Lufthülle. Was sollte er tun? Natürlich war nicht jedes Raumschiff, das den Planeten anflog, ein Gegner. An die Möglichkeit, daß fremdes Ideengut ihn seit langem beeinflußt haben könnte, dachte Hangor nicht eine Sekunde lang. »Immerhin!« sagte der Kraupper, der seine Finger an den Auslösern der Geschützstrahlen hatte. »Er wehrt sich nicht, der verdächtige Fremde.« »Aber er hat seine Schutzschirme auch noch nicht abgeschaltet.« Die Gruppe der Bewahrer der Ungebundenheit gehörte zu der schwer zu definierenden oberen Bevölkerungsschicht. Ihre
Isolierung war zu einem Teil gewollt, zu einem anderen selbstgewählt, zum dritten entfernte sich die zahlenmäßig kleinere Führungsschicht von der Masse der Bevölkerung deswegen, weil die Masse zu den Hütern des Chlorophylls gehörte. Sie waren Anhänger einer nahezu bedingungslosen Naturreligion. Deswegen wurden die Bewahrer auch als »Fleischfresser«, »Töter« oder »Lebensvernichter« beschimpft. Von den Schwierigkeiten, eine gute Wurst, einen Schinken oder ein saftiges Bratenstück zu bekommen, wußte jeder Bewahrer aufregende Geschichten zu erzählen. Hangors Entschluß stand jetzt fest. »Ich werde das Schiff an einem abgelegenen Platz landen. Vielleicht auf dem Hochplateau hinter dem Hohen Gebirge des Westlichen Windschutzes. Kein Beschuß, Teylon!« »Endlich. Deine Überlegungsprozesse laufen so schnell wie eine Baumschnecke«, gab der Mann am Feuerleitpult zurück. Ein anderer lachte dröhnend auf und rief: »Aber nicht im Öl gesotten.« Hangor bewegte die Steuerung des Traktorstrahl-Geräts. Das diskusförmige, silberfarbene Schiff mit dem ungewöhnlichen Zentrumsreifen senkte sich wieder langsam. Niemand hatte etwas davon, wenn die Insassen getötet wurden – die kleinere Station auf Schryffan, dem vierten Planeten, hatte vor einigen Monaten zuerst geschossen und dann erst vergebliche Untersuchungen angestellt. Hangor hielt nichts von Wracks. Aber auch nichts davon, einen so kostbaren Besitz auf dem Mond zerschellen zu lassen. »Einverstanden. Wir fliegen mit den Gleitern hinüber. Bringe es dort runter, Hangor!« Etwa zwanzig Männer befanden sich in dem Kontrollraum. Sie beugten sich wieder konzentriert über die Geräte, Bildschirme und Instrumente. Die Unsicherheit hatte fast zu lange gedauert. Jetzt wußten sie, was zu tun war. Die wuchtige Tür aus Zweischichten-Stahlblech sprang auf und
schlug donnernd gegen die fein bearbeitete Felsenwand. Ein Strom Männer drang herein, bis an die Zähne bewaffnet. Eine Schleuse surrte, ein faustgroßer Kiesel pfiff quer durch die Felsenhalle und zerschmetterte den größten Schirm der normaloptischen Erfassung. »Aufhören! Abschalten!« Hangor erstarrte, als dicht neben ihm ein langer Rohrpfeil in einen Stapel Akten fuhr. »Ihr seid alle verrückt!« schrie er auf. Die Bewaffneten schienen genau zu wissen, wie sie vorzugehen hatten. Sie waren unheimlich schnell. Je drei Mann oder mehr kesselten einen der Bewahrer ein, rissen seine Hände von den Schaltern weg und fesselten sie mit Lederriemen, biegsamen Lianen oder Hanfstricken auf den Rücken. Ein Haufen Körper in Lederpanzern, Knochenhelmen, Fischbeinrüstungen und Holzteilen erfüllte plötzlich die Halle. »Die Extremisten!« keuchte Hangor. Mit allem hatte er rechnen müssen – damit nicht! »Die kriegerischen Hüter des Chlorophylls.« Fremde Finger griffen nach den Hauptschaltern. Es gab eine Unzahl scharfer, klickender Geräusche. Ein Gerät nach dem anderen wurde mit den Hauptschaltern desaktiviert. Nur einige Bildschirme lieferten noch Bilder, Ortungsechos und schwach zitternde Vergrößerungen. Das Raumschiff kam frei, schwankte und bewegte sich dann aus dem ehemaligen Energiekorridor des Traktorstrahls heraus. Auch Hangors Hände wurden auf den Rücken gebunden. Es war sinnlos. Die Übermacht war zu stark. Er schwor sich, die Wachen einer ausgeklügelten Prozedur von Strafen zu unterwerfen, wenn das alles erst einmal vorbei war. »Was wollt ihr Verrückten?« schrie er durch den allgemeinen Wirrwarr. Seinen Leuten, die sich zu wehren versuchten, stülpte man Säcke aus mittelbrauner Kiza über den Kopf. »Du Grillfetischist«, sagte ein schmaler Mann, dessen Körper unter
der »Rüstung« aus dickem Strohgeflecht, Lederschnüren, eingearbeiteten Krötenpanzern verschwand. »Du wolltest einen harmlosen Gast töten.« »Ich wollte ihm kein Haar krümmen«, antwortete Hangor. Es war sinnlos. Mit diesen Leuten war nicht zu reden. Vernunftgründen und logischen Argumenten waren sie nicht zugänglich. »Später, bei der Verhandlung, werden wir unsere Anklagen spezifizieren. Auf jeden Fall wird dein Vorgehen richtig bewertet werden. Du hast gegen Geist und Buchstaben unserer Religion verstoßen.« Hätte Hangor seine Arme frei gehabt, würde er schweigend abgewinkt haben. Für den Moment resignierte er und schwieg. Ruhig blickte er über die Kampftruppen des innenpolitischen Gegners hinweg. Ihre Ausrüstung bestand aus toter, abgestorbener Natur: sie trugen nicht ein Gramm Metall bei sich. Und auf dem Weg hierher hatten sie mit Sicherheit nicht einmal einen einzigen Grashalm zertreten. Sie überquerten Wiesen und Weiden nur im Herbst und Winter, wenn die Natur schlief. Hangor konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Je länger er lachte, desto verzweifelter klang es. Er ließ sich mit seinen Männern abführen.
* Der typische Kraupper, der von dem gleichnamigen Planeten aus zwei Monde und zwei Nachbarwelten »kolonisiert« hatte, besaß zwei Arme, zwei Beine und einen knapp zwei Meter großen Körper. Die Haut war auf der Vorderseite des Körpers und auf der Rückseite aufffallend weiß. Beginnend an der Schulter und endend an den äußeren Fußknöcheln zogen sich organisch entstandene, dunklere und pigmentreichere Hautschichten herunter. Beim Säugling waren sie elfenbeinfarben, beim Greis mittelbraun.
Haarwuchs existierte auf dem Schädel, an Wimpern und Brauen und an den Spitzen der flach anliegenden, luchsartigen Ohren. Es gab viele Sagen aus der Morgenröte der Kultur. Eine davon war, daß damals – vor Äonen – diese Haare die Schwingungen der Natur aufgefangen und besondere Nerven sie in die Hirne und in den Verstand geleitet hätten. Heute war davon nicht das geringste mehr zu spüren … … aber diese Legende stellte einen Teil des historischen Urgrunds dar, aus dem die Hüter des Chlorophylls ihre Lebens- und Naturauffassung ableiteten. Früchte niemals essen, bevor sie reif waren. Gras erst mähen, wenn es gilbte. Nur frische tote Fische essen; alles andere blieb im Kreislauf, der Natur. Milchtiere nur melken, niemals schlachten. Die reiche Palette der Galakto-Lebensmittel genügte – Milch in jeder Phase der Säuerung, Käse und Butter. Häuser aus Lehmziegeln, und die Hitze zum Brennen der Ziegel durfte nur in Flußkraftwerken erzeugt werden. In dieser Theorie war ebenso viel richtig wie falsch. Sinnverdrehtes paßte bei den extremen Chlorophyll-Hütern zu durchaus vernünftigen Gedanken. Diese Radikalität der Überzeugung zeigten indessen nur ein paar Prozent der Bevölkerung. Aber für jene, als Bewahrer der Ungebundenheit bezeichnete Kraupper, die kosmische Energie einfingen, daraus eine Metallzivilisation errichtet hatten, bedeuteten die kämpfenden Truppen der Hüter eine Kette von jahrhundertealten Sabotageakten. Dennoch: im Lauf der krauppischen Geschichte hatte sich das Metall gegen die Steinzeitkultur logischerweise durchgesetzt. Heute war das Pendel wieder nach der anderen Seite ausgeschlagen.
*
Gelber Mondsohn Dyodor trat aus dem Schatten des Gefleckten Grünblauen hervor. Seine grünen Augen richteten sich zum Himmel. Nachdenklich drehten seine Finger an den langen, spiralig eingerollten und mit Nußöl gepflegten Haaren der Ohrspitzen. »Ich hoffe, daß der Fremde landet. Gern möchten wir hören, was er über die Sitten auf anderen Welten berichtet.« Mondsohn Dyodor war sechzig Jahre alt. Seit fünfundvierzig Jahren hatte niemand aus seiner näheren und weniger nahen Umgebung erlebt, daß er auch nur einen Splitter seiner Selbstsicherheit und Überzeugung verloren hätte. Diese Sicherheit strahlte er mit jeder Geste aus. »Wenn er weiß, was sich schickt im Kosmos, wird das Schiff im Sandgarten landen«, meinte seine Tochter. Kleine Uferwelle Dyodora war, nach Kraupper-Maßstäben, von sinnverwirrender Schönheit. In ihrer schlanken, sechsfingrigen Hand befand sich eine überreife Frucht. Lautlos tropfte Saft auf den Kies unterhalb des Baumes. Die Frucht ließ den Eindruck ihrer rechteckigen Zähne erkennen. »Im Sandgarten, richtig. Ich sehe, daß der Traktorstrahl dieser Halunken abgeschaltet wurde.« »Hartkiesel Esagil und seine Männer«, sagte Dyodora. »Gute Leute. Stehen gerade für ihre Überzeugung«, bemerkte ihr Vater. Er hatte tatsächlich überaus scharfe Augen, mit denen er den winzigen glitzernden Punkt hoch im Blau wahrgenommen hatte. Der Punkt nahm nun eine andere Richtung und kam in einer weiten Spirale wieder auf Hupishna entlang dem Blauwassersee zu. »Kämpfer!« stimmte Dyodora zu. Ihre Lippen schlossen sich wieder, als sie an Esagil dachte. Das einzige, was sie an ihm bemerkenswert fand, war seine Fähigkeit zur kriegerischen Konsequenz. Der blitzende Punkt hoch über ihnen wurde deutlicher. Immer wieder warf das Sonnenlicht funkelnde Reflexe.
»Wir wissen nicht, was das fremde Schiff hier sucht«, bemerkte Mondsohn Dyodor nachdenklich. »Er, der das Schiff steuert, wird es uns nach der Landung sagen«, meinte seine Tochter. »Zweifellos.« Hier, auf halber Höhe des weit geschwungenen, terrassierten Hanges, war eine wohltuende Stille zu spüren. Rechts und links erstreckte sich ein breites Band von Farmen, Bauernhöfen, brachliegenden Äckern und Vorratsbauten. Weiter oben, zum Gebirge hin, standen die verhaßten Kathedralen der Technik. Die wuchtigen Arbeitsmaschinen, die scheinbar unzerstörbar waren, halfen den Bewahrern der Ungebundenheit. Seit zu vielen Jahren, sagte sich der Patriarch der Hüter. »Vielleicht sind es wieder jene unterdrückten Daila?« mutmaßte Dyodor schließlich. Aus der Höhe kamen erste, donnernde Geräusche. Der Lichtblitz begann zu blenden. Tausende und aber Tausende von Augenpaaren starrten dem Ankömmling entgegen. »Vielleicht erfahren wir, warum sich so viele in unserem Volk verändert haben?« Auch Dyodora kam aus dem Schatten hervor. Sie kannte, wie ihr Vater, jeden größeren Baum bei seinem Namen. Er erhielt ihn bei der Umpflanzung des Schößlings. »Ich werde den Steuermann jedenfalls nicht zu fragen vergessen«, versicherte Gelber Mondsohn. Kampf zwischen Bevölkerungsgruppen, unterschiedliche Konzepte, die sich von den Linien gemeinsamer Geschichte entfernt und abgespalten hatten, eine seltsame Unruhe, die vor Jahrzehnten zum erstenmal richtig erkannt worden war – Gelber Mondsohn Dyodor hatte Tausende Fragen und kaum eine Handvoll Antworten darauf. Er brauchte diese Antworten, um den anderen sein Wissen mitteilen zu können. Aber niemand gab ihm diese Antworten.
Er wartete und hoffte. Das Wissen derer, die aus dem Schiff kommen würden, gehörte den Hütern des Chlorophylls, nicht den anderen mit ihren Energiewaffen und den Maschinen.
* Die STERNSCHNUPPE zog eine weitere Kurve. Chipol hatte inzwischen begriffen, welch eine – für ihn – unfaßbare kosmische Entfernung wir zurückgelegt hatten. Hundert Lichtjahre erschreckten ihn, als er sich hatte erklären lassen, wie weit ein Lichtjahr war. Ich hatte ihn nur mühsam beruhigen können. Diese Beruhigung war unvollkommen; deswegen war Chipol so still und nachdenklich. Die STERNSCHNUPPE meldete sich wieder. »Hör zu, Atlan. Mrothyrs Zustand ist unverändert. Er schläft tief, und seine Organe arbeiten zufriedenstellend. Der Schock hat diesen starken, großen Organismus unerwartet getroffen und geschwächt.« Ich erwiderte bedauernd: »Ich kann nichts tun. Nicht viel, denke ich – es gibt da noch eine Möglichkeit, die ebenfalls risikoreich ist. Neue Mitteilungen?« Vor mir glitten die Bilder eines mondsichelförmigen Gebirgszugs vorbei. Die höchsten Berggipfel waren von Schnee und Eis bedeckt. Die Hänge waren dünn besiedelt und von einem Netz aus schmalen Straßen überzogen. In Ufernähe eines kreisförmigen Sees mit herrlichem blaustrahlendem Wasser verdichtete sich die Bebauung. Ich sah keinen Raumhafen. »Ich habe Informationen«, sagte das Raumschiff. »Ich höre!« »Ich fing während des Fluges viele Funksprüche auf. Eine erste grobe Analyse kann ich wagen. Es existiert nahe dem Kern eine Zone, die kugelförmig ist. Ihr Durchmesser beträgt etwa hundert
Lichtjahre. Das System der Sonne Evdam-Tur liegt außerhalb dieser Kugel, aber an deren Rand. Zwei Monde und zwei weitere Planeten, Schryffan, sind in diesem Sonnensystem kolonisiert. Fast alle Funksprüche kamen von Daila-Raumschiffen. Ich habe auch die Aufzeichnungen der Sonden nachkontrolliert. Das hundertjährige Wrack sieht aus, als ob es beschossen worden wäre, aber definitiv waren es Miniasteroiden. Daraufhin durchforschte ich noch einmal das Evdam-Tur-System. Es gibt einen Schwarm Meteoriten oder Asteroiden, die periodisch zwischen der Sonne und Kraupper hindurchziehen. Sie kommen in etwa vierzig Jahren wieder. Für uns herrschen keine Gefährdungen. Überdies würde der Schutzschirm ihre Energie absorbieren.« Ich nickte und fuhr fort, die Ansichten der Stadt anzusehen. Sie lag entlang der Seeufer und nahm etwa hundertachtzig Grad des Kreises ein. Auf dem See verkehrten große Schiffe mit hellbraunen Segeln. Ab und zu erkannte ich wuchtige, von Maschinen angetriebene Boote, die doppelt so schnell waren wie die Segler und riesige Kielspuren hinterließen. »Gibt es etwas über die Stadt zu sagen?« »Nur soviel: die Gegensätze zwischen offener Landwirtschaft ohne jeden Anteil an Energie elektrischer Art und höchst energiereichen Kraftstationen ist schroff und auffallend.« »Was das bedeutet, werden wir wohl nach der Landung erfahren. Die Sprache?« »Die Translatoren werden hinreichend programmiert.« Chipol hatte unter dem Eindruck der riesigen Entfernungen, des Zwischenfalls mit dem wieder abgeschalteten Traktorstrahl und dem lebensgefährlichen Unfall Mrothyrs sich bis jetzt still verhalten. Dazu kam, daß er ein schmerzstillendes Medikament wegen der blauen Flecken und Abschürfungen eingenommen hatte. Jetzt wandte er mir sein Gesicht zu und schüttelte den Kopf.
»Für dich sind hundert Lichtjahre nichts, ein Spaziergang …« Die STERNSCHNUPPE zog, nur langsam tiefergehend, im Schutz der Schirme einen weiteren Kreis. »Nun, nicht gerade das«, begann ich. Chipol schüttelte sich. »Ich habe mit Mrothyr gesprochen, vorher. Er konnte es auch nicht fassen. Eine so weite Strecke zwischen den Sternen.« Ich grinste ihm aufmunternd zu. »Reisen bildet und erweitert, wie du selbst erleben kannst, den geistigen Horizont.« »Gigantisch!« wiederholte er. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Eben waren wir noch an einem ganz anderen Ort, und jetzt haben wir uns soweit davon entfernt, wie das Licht in einem Jahrhundert reist.« »Das ist so«, sagte ich. »Und wir haben es überlebt. Ohne große Schwierigkeiten.« Ich nickte ihm zu. Mit diesem Schock mußte er ohne weitere Hilfe selbst fertig werden. Ich sagte zum Schiff: »Hole weitere Analysen ein. Ich gehe zu Mrothyr.« »Verstanden.« Ich öffnete den Saum der Jacke, des Hemdes und zog den Zellaktivator hervor. Ich streifte die unzerreißbare Kette über den Kopf und ließ das Schott der Krankenstation hochgleiten. Im gedrosselten bernsteinfarbenen Licht lag der junge Zyrpher mit geschlossenen Augen da, regungslos wegen der weichen Fesselbänder und umgeben von den Geräten des Überlebens- und Kontrollsystems. Ich legte den Aktivator auf seine Brust. Neben dem Lager stand unbeweglich ein Medoroboter und richtete glühende Sehzellen auf den Bewußtlosen. Seine Brust hob und senkte sich rhythmisch. Ich wartete eine halbe Stunde. Die rätselhaften Vorgänge scheinen dich kaum zu beeindrucken, rügte der Extrasinn. »Mehr als du meinst«, brummte ich. Ich war einigermaßen ratlos.
Nur die Hoffnung, von den Krauppern mehr zu erfahren, ließ mich an eine Landung denken. Immerhin: nach kurzer Zeit war der Traktorstrahl abgeschaltet worden. Wir waren anscheinend frei. Dann erkundigte ich mich besorgt bei der STERNSCHNUPPE: »Gibt es positive Veränderungen im Zustand unseres Freundes?« »Nein.« Ich nahm den Zellaktivator wieder an mich und hängte ihn um. Dann wies ich das Schiff an: »Führe die Landung aus. Lande irgendwo mitten unter den Menschen. Es wird am besten sein, einen nicht zu offenen Platz auszusuchen. Halte auf alle Fälle zumindest die Lähmstrahler feuerbereit.« »Verstanden.« Das Raumschiff setzte mit einer größeren Sinkrate den Landeanflug fort. Wir umkreisten den See, flogen mehrmals über die ausgedehnte Stadt und versuchten, so viele Einzelheiten wie möglich zu erkennen. Irgendwie paßte das alles nicht recht zusammen. Plötzlich, wieder in Stadtrandnähe, schaltete das Raumschiff auf direkten Funkempfang um. Ich zuckte zusammen, als ich die verzweifelte Stimme hörte. Auch Chipol sprang auf. »Ich bin Nardin. Ich bin ein Daila. Helft uns. Auf Kraupper werden wir unterdrückt und deportiert.« Ich konnte mich darauf verlassen, daß die STERNSCHNUPPE versuchte, das Signal anzupeilen und auszumessen. »Helft mir. Ich versuche, zu dem Schiff zu kommen. Landet nicht … technische Zentralen. Ich habe viel zu …« In einem prasselnden Knistern riß der Funkspruch ab. »Ein Daila!« sagte ich erstaunt. »Verbannt. Ein Mutant, es kann gar nicht anders sein!« rief Chipol. Ich nickte und sah, daß die STERNSCHNUPPE einige Kurskorrekturen ausführte. Sie schwebte auf eine bewaldete Zone
etwa in der Mitte des abgestuften Hanges zu. Völlig neue Perspektiven, Arkonide. Ein Daila-Mutant, weit entfernt von Aklard! sagte der Logiksektor aufgeregt. Die Verbannten von Aklard, jene Daila, zu denen Chipol im Interesse des Heimatplaneten eine Brücke schlagen oder eine Verbindung herstellen sollte! Ausgerechnet Chipol, der noch lange nicht reif genug war, die Problematik zu verstehen. Er lehnte die Mutanten gefühlsmäßig ab; aber angesichts des Funkspruchs schien er zu schwanken zwischen einer Art von Wiedersehensvorfreude und krasser Ablehnung aus Unsicherheit. Vermutlich stieß ich auch noch auf Spuren von EVOLO, meinte ich grimmig, aber das war wohl völlig unmöglich. Ich zuckte die Schultern. »Abwarten. Er kommt zu uns, wenn er es schafft.« »Die Mutanten sind auch hier gelandet. Und sie werden unterdrückt. Eine Minderheit also«, sagte Chipol. »Richtig.« »Wir beide«, sagte Chipol. »Wird sicher spannend.« »Darauf kannst du alles verwetten, was dir einfällt«, sagte ich mit einem sarkastischen Lachen. Wir warteten auf den Augenblick, an dem aus dem Unterteil unseres diskusförmigen Schiffes die Landestützen abgesenkt werden würden. Noch war der Schutzschirm aktiviert und noch immer hatte uns niemand angegriffen. Unsere Spannung stieg unaufhaltsam. Sekunden später sahen wir auf dem Monitor, wie von einer Plattform knapp unterhalb der ersten Felsen ein kleines Raumschiff oder ein großer Gleiter startete und schräg in den Himmel schoß. Das annähernd geschoßförmige, bizarr farbig bemalte, mit großen Bullaugen und Glasfenstern ausgestattete Objekt hinterließ eine mächtige weiße Dampfwolke, die sich nur langsam auflöste und brodelnd vor den Linsen vorbeizog. Hattest du auch nicht erwartet, wie? Luxusjachten auf Kraupper!
meinte das Extrahirn.
* Er wußte genau, wo man sie untergebracht hatte. Es war die ehemalige Gerätehalle einer landwirtschaftlichen Station, aus der die Hüter des Chlorophylls ein naturbiologisch aktives Hotel gemacht hatten. Überflüssig zu sagen, daß es auch hier keinerlei metallische Teile gab. Hangor lag auf der Pritsche aus Holz, Leder, Binsenflechtwerk und Stroh. Erbittert hatte er zuerst geflucht, dann hatte sich langsam die kühle Überlegung eingestellt. Jetzt dachte er intensiv darüber nach, wie sich die mißliche Lage ändern ließe. »Wie kann man nur so stur und uneinsichtig sein?« stöhnte der Technische Leiter der Planetaren Wachstation. In Wirklichkeit kannte er die Antwort schon lange. Die Entwicklung hatte, genau genommen, an zwei Punkten begonnen. An einem fernen Tag in der undeutlich gewordenen Vergangenheit Krauppers. Und vor mehr als acht planetaren Jahren. Irgend jemand hatte verschiedene Dinge erfunden. Dann gelang es, problemlose Energie zu erzeugen. Schließlich wurde von einer Gruppe das Verzehren von tierischem Fleisch und Fleischprodukten angeprangert, als Verbrechen bezeichnet und als ernster Verstoß gegen das Naturrecht bezeichnet. Aus ersten Emotionen waren bald zwei Gruppierungen geworden. Die eine Gruppe wollte ihre Ungebundenheit bewahren und schützte sich mit technischen Erfindungen gegen den Druck der anderen. Immerhin: in der Geschichte Krauppers gelang es noch, funktionsfähige Raumschiffe zu bauen, den eigenen Mond anzufliegen, dort eine Station zu errichten und zu betreiben, den Nachbarplaneten zu entdecken und dort ebenfalls eine ständige
Station zu unterhalten, dessen rohstoffreichen Mond auszubeuten, und den systeminneren Planeten zu besuchen. Die Antwort darauf war die »Gründung« einer Kerntruppe, die sich Hüter des Chlorophylls nannten. Eine ihrer ersten Forderungen war körperliche Züchtigung als Strafe für Kraupper, die Grashalme zertrampelten. Und das Vieh? Die Wildtiere? wurden sie höhnisch gefragt. Wollt ihr sie prügeln, weil sie weiden? Wollt ihr Raubkatzen einsperren, bei Wasser und Fladenbrot, weil sie ihre Beute reißen? Das sei die Art der Natur. Nur für die Planetarier, da gelten andere Gesetze, antworteten sie standhaft. Das laute Hohngeschrei eines Planeten begleitete diese Auseinandersetzung und andere, die ganz ähnlich waren. Dadurch wurden die Hüter des Chlorophylls erst recht in die Ecke getrieben und fingen an, die Natur zur Religion zu machen. Felsen, Bäume und Flüsse erhielten poetische Namen. Die einzelnen Familien suchten sich Namen aus der Natur. Die Zahl ihrer Anhänger nahm unter dem Eindruck dieses rigorosen Verhaltens ab, die Mitglieder indessen hielten noch enger zusammen. Ein Prozeß, der sich fast eineinhalb Jahrhunderte ausdehnte. Dann hatten die Techniker, die Anhänger einer Kultur und Zivilisation aus den besten Zutaten beider Glaubensrichtungen, ein Schlüsselerlebnis. Auf einem Mond, Manicaa, stürzte ein Raumschiff ab. Der Pilot starb. Die Laderäume waren voller Container, in denen hochkomplizierte Arbeitsroboter steckten. Schiff und Ladung wurden geborgen. Von diesem Moment an war die Trennung vollzogen. Aber die Hüter des Chlorophylls kämpften mit unzulänglichen Mitteln: Schleudern, Pfeilen und Bogen, sogenannten »natürlichen« Waffen. Und die Bewahrer der Ungebundenheit vermieden natürlich, mit ihren Möglichkeiten zurückzuschlagen. Binnen weniger Wochen hätten sie sämtliche Hüter gefangensetzen und ausschalten können. Sie beschränkten sich darauf, ihre Maschinenzivilisation mit milden
Mitteln zu verteidigen. Raumschiffe, planetenfeste Forts, weitreichende Geschütze und Waffen wurden gebaut und hergestellt. Die Programme befanden sich in den Arbeitsspeichern der fremden Maschinen. Die Roboter halfen noch heute den Bewahrern der Ungebundenheit. Beim letzten Begriff dieser Überlegungen und Nachdenklichkeiten angelangt, sprang Hangor auf. »Ich muß hier raus!« ächzte er. Seine Männer waren in den anderen Zellen untergebracht. Seit einer halben Generation hatte das Hotel keine Gäste gesehen. Dicke, rissige Bohlenwände trennten die einzelnen »Hotelräume« voneinander. »Das Schiff!« Man hatte ihn entwaffnet und ihm das Funkgerät abgenommen. Er konnte nicht einmal Feuer legen. Überdies vermutete er, daß die Chlorophyllhüter einen seiner Getreuen umgedreht hatten. Jemand mußte dafür gesorgt haben, daß die richtigen Schlösser sich zur richtigen Zeit öffneten. Das fremde Schiff. Vermutlich setzte es gerade zur Landung an. Für die Hüter des Chlorophylls schien es wieder einmal eine metallgewordene Sünde wider die Naturreligion zu sein. Für ihn und unzählige andere Bewahrer war es ein Feind aus dem All. Jenseits der' Tür hallten Tritte. Die Bretter knarrten. Er zog sich an die Fensterwand zurück, als sich die schwere Tür in ihren Hartholzangeln öffnete. »Es geht zum Gerichtsverfahren, Hangor«, sagte einer der Bewaffneten. Er trug einen sorgfältig gearbeiteten Streitkolben schlagbereit. Der andere hielt einen Dolch, der aus einer langen Hartholzwurzel herausgeschliffen worden war. »So schnell?« fragte Hangor zurück. »Bevor ihr mich verurteilt, sind wir längst befreit.« »Irre dich nicht, Fleischfresser.«
»Abwarten.« Draußen warteten noch einige Männer. Über knarrende Treppenstufen brachten sie ihn hinunter in die ehemalige Eingangshalle des Hotels. Durch die Glastüren – zum erstenmal fiel ihm ein, daß auch Glas auf großtechnische, also verbotene Weise hergestellt wurde – sah der Abwehrtechniker das gelandete Schiff. Es stand mitten im idyllischen Besitz von Gelber Mondsohn Dyodor! Hangor begann dröhnend zu lachen. Das Gericht hatte sich halbkreisförmig aufgebaut. Es bestand aus mindestens dreißig Frauen und Männern. Noch vor einem Dutzend Jahren hätte der Techniker noch Verwunderung empfunden – jetzt nicht mehr. Die Stiefel waren noch das Normalste an den Hütern; sie bestanden aus Leder, das seinerseits von Tieren stammte, die eines natürlichen Todes gestorben waren. »Fangt an«, sagte er und setzte sich auf den wuchtigen Holzstuhl. »Dort unten ruinierte gerade ein Schiff mit seinen Landestützen den gekämmten Rasen eures Oberpredigers.« Sie schienen es schon zu wissen, denn sie alle zeigten deutliche Zeichen der Unruhe. »Wir haben uns beraten«, sagte der Vorsitzende dieser Ansammlung von Leuten, deren Kleidung nahezu sämtliche Kombinationen aller handwerklich herstellbaren Stoffe, Flechtwerke und deren unterschiedlichsten Färbungen zeigte. »Die Beratung war intensiv. Du wirst von uns dazu verurteilt, bei den Anpflanzungen zu helfen. Bis auf weiteres.« »Bei den … Anpflanzungen?« fragte er verblüfft. Sie alle kannten das Projekt der Chloros. Sie versuchten, einen Wüstenstreifen zu rekultivieren. Dazu brauchten sie viel Material und noch mehr Arbeitskräfte. Das Projekt wurde überwacht wie alle Aktivitäten auf der Planetenoberfläche. »Ich nehme das Urteil an«, sagte er förmlich und bemühte sich,
das Lachen zu verbeißen. Was die Hüter hier taten, war ungesetzlich, aber sie konnten es durchsetzen. Später wurde der eine oder andere von ihnen deswegen angeklagt und verurteilt. »Das Gericht nimmt diese Bemerkung zu den Akten.« »Bringt ihn in den Transporter«, rief eine Frau und deutete auf den zerbeulten Lastengleiter. Wieder fesselte man ihm die Hände mit dünnen Lederriemen auf den Rücken. In einem Nebenraum mußte er warten. Immerhin konnte er aus dem Fenster hinaussehen. Mit gemischten Gefühlen erlebte er mit, wie sich um das Schiff eine ständig anwachsende Menge von Planetariern sammelte. Sie wirkten außerordentlich erregt. Nur undeutlich erkannte er unter ihnen Bewaffnete. Als man einen seiner Männer zu ihm hineinstieß, begrüßten sie sich mit einem müden Lächeln. »Das alte Spiel, Hangor.« »Diesmal mit einer neuen Variante. Hast du noch etwas organisieren können, Freund?« »Noch nicht. Aber wir werden gesucht.« »Hoffentlich«, lachte er, obwohl ihm keineswegs heiter zumute war, »von der richtigen Gruppe.« »Verlaß dich drauf.« Sie würden warten müssen, bis alle Männer ihr Urteil gehört hatten. Dann erst würde man sie im Gleiter abtransportieren. Das Groteske an diesen Vorgängen war für sie schon so gut wie alltäglich. Heute traf es sie, morgen andere – auf irgendeinem Punkt dieses Planeten. »Warten wir also«, sagte er, als der dritte Mann in den Raum gebracht wurde. »Reichlich unbequem hier.« »Aber dafür biologisch vollwertig!« Die aufgeregte Menge um das silberglänzende Raumschiff wurde offensichtlich wütend. Es schienen tausend Leute zu sein.
4. Die Landeteller gruben sich tief in die Wiese ein. Das Schiff hatte äußerst präzise aufgesetzt. Direkt dort, wo die Rampe den Boden berühren würde, verlief ein schmaler Kiesweg. Die prächtigen, farbensprühenden Blumen, lange Binsengewächse mit purpurnen Kolben und grazile Ranken legten sich zur Seite. Blüten schwebten einige Augenblicke lang durch die Luft. Zwei mächtige Äste von uralten, früchtetragenden Bäumen waren von dem Antriebsring heruntergedrückt worden. Ein Hagel von Früchten war ins Gras geprasselt. Leider wurden auch die Nester einiger Vögel halb zerstört. Die STERNSCHNUPPE schaltete die Außenlautsprecher ein. Erregtes Gemurmel, sagte der Logiksektor unbetont. Sie erwarten mit Freude euer Auftreten. Trotzdem: sei auf der Hut. Ich war, ebenso wie Chipol, mit offen getragenen und versteckten Geräten hervorragend ausgerüstet. Funkgeräte, mit deren Hilfe ich mit dem Schiff verkehren konnte, befanden sich nicht nur an meinem und Chipols Handgelenk. Ich schaute voller Verwunderung die einzelnen Personen an, die von den Linsen aus der Menge heraus vergrößert wurden. »Sie sind seltsam angezogen«, sagt Chipol. »Du hast recht. Entweder feiern sie ein Fest, oder es ist eine liebenswerte Eigenart, sich mit Jacken aus Strohgeflecht zu kleiden.« Das Schiff erklärte: »Die Sprache ist analysiert. Keine schwierigen Unterschiede zu den vorherrschenden Idiomen.« »Mrothyr?« knurrte ich ungeduldig. »Unverändert. Wollt ihr hinaus?« Die Luft war ohne Schwierigkeiten atembar, die Schwerkraft um ein Geringes weniger als ein g. »Ich rechne mit Schwierigkeiten«, sagte ich, »und angesichts dieser
Individuen weiß ich nicht, warum, und mit welchen.« »Ich kann nicht eine einzige Energiewaffe anmessen. Es gibt keine Metallteile in diesen Kleidern«, fuhr das Schiff fort. »Nicht einmal Spuren von Schwermetall in den inneren Organen?« wollte ich wissen. »Dazu reicht meine Meßtechnik nicht aus.« Irgendwo dort steckte der ausgestoßene Daila Nardin. Ich schlug Chipol auf die Schulter. »Wollen wir hinausgehen und unsere Fragen stellen?« »Ja.« Sein Gesichtsausdruck zeigte großes Unbehagen. So ähnlich fühlte ich mich auch. Trotzdem sagte ich: »Unter äußerster Vorsicht, STERNSCHNUPPE. Die Rampe hinunter. Nötigenfalls mußt du uns helfen.« »Ich kenne die technischen Möglichkeiten solcher Aktionen.« Neben der Polschleuse schob sich die Konstruktion leise summend aus dem Unterschiff. Die Vorderkante grub sich handbreit in den Boden, nachdem sie eine breite Bahn des hoch wuchernden Grases zur Seite geschoben oder herausgerissen hatte. Die erwartungsvollen Schreie waren nun nicht mehr zu überhören. Es war merkwürdig, denn sie kannten uns ja nicht. Und daß wir als Problemloser derart frenetisch gefeiert wurden, glaubte ich nicht. Was wollten sie? »Komm, Chipol«, sagte ich. »Ein weiterer kleiner Schritt auf unserem langen und beschwerlichen Weg liegt vor uns.« »Du sprichst so feierlich«, sagte er und folgte mir mit uneingeschränktem Vertrauen. Im Schutzschirm öffnete sich eine schmale Strukturlücke. Die Luft war frisch und warm. Sie roch nach Blütenstaub und feuchter Erde. Als wir uns etwa in der Mitte der Rampe befanden und ich zögernd den Arm hob, schwoll der Lärm aus mehr als tausend Kehlen ohrenbetäubend an. Über den Kies rannten ein halbes Dutzend Kraupper auf uns zu.
»Halt«, sagte ich laut, als ich sah, daß sie Beile mit Steinköpfen, Schwerter und kurze Wurfspeere schwenkten. Gleichzeitig warf das Schiff einen Schirm aus und projizierte ihn zwischen uns und den Männern. »Laßt mich sprechen!« rief durchdringend eine hellere Stimme durch das Murmeln und die vielen lauten Unterhaltungen. Der drohende Unterton wurde jetzt deutlicher. Ich musterte scheinbar ruhig die Gesichter der Planetarier. Ihre Körper waren so groß wie ich selbst. Die Bewaffneten sprangen zur Seite. Wenn sie Männer waren – und daran zweifelte ich nicht-, dann war es eine Frau, die zwischen ihnen hindurchging und stehenblieb, als ihre ausgestreckten sechs Finger die Schicht aus Schirmenergie berührten. »Ich grüße dich«, sagte ich laut und hob das rechte Handgelenk mit dem Translator. »Dies ist Chipol. Ich bin Atlan, der Raumfahrer. Ich komme in Frieden und Freundschaft.« Mit schneidender Stimme sagte die junge Frau: »Eine unüberbietbar abgedroschene Redewendung. Warum sündigst du gegen alles, was uns teuer und heilig ist?« Aha! zischte der Logiksektor. Instinktlos und wirkungsvoll. Ein echter Arkonide in all seiner Arroganz. Ich verstand nichts. Die Pause, in der sich meine Überlegungen förmlich überschlugen und ich versuchte, herauszufinden, welches Desaster unser Erscheinen ausgelöst hatte und aus welchem Grund, benutzte ich, um mir die Planetarier genauer anzusehen. Ihre Körper schienen absolut humanoid zu sein. Die Gesichter wirkten exotisch, aber nicht befremdlicher als meines in ihren Augen. Die junge Frau trug schulterlanges, metallisch glänzendes schwarzes Haar. Ihre Augen waren groß und ausdrucksvoll. Weitgeschwungene Wimpern unter feinen Brauen bewegten sich.
Das Haar teilte sich an den Ohren und ließ deren lange Spitzen erkennen, an deren Enden fingerlange Büschel von indigofarbenem Haar wuchsen. Bei einigen Männern war daraus ein Zierat worden; sie krümmten sich nach vorn, oben oder zur Seite und sahen ein wenig wie vibrierende Hörner aus. Nase und Mund waren humanoid, nur die Zähne schienen kleiner und kantiger zu sein. »Ich komme von weither«, sagte ich schließlich und versuchte mein gewinnendes Lächeln, »und woher sollte ich eure Sitten kennen? Wenn ich etwas falsch gesagt habe, dann zeigt mir, wie ich es besser machen kann.« »Dyodora, Gelber Mondsohns Tochter«, erklärte die Frau im Tonfall zerbrechenden Kristalls, »läßt sich nicht herab, einem Umweltsünder dieser Skrupellosigkeit zu glauben. Das Gras? Der Boden aufgerissen! Zwei Äste geknickt. All die schönen Blumen, die noch nicht befruchtet sind! Unreife Früchte fielen von den Bäumen. Vogelnester! Die Tiere sind in Panik! Ihr seid Verbrecher!« Stückweise begriff ich. Der Planet wurde von lauter Leuten bewohnt, die strikte Anhänger einer Naturreligion waren. »Ihr habt eine seltsame Art des Willkomms«, sagte ich. Chipol sah sich staunend und in steigender Unruhe um. »Was mich schmerzt. Denn du, schönste Mondtochter, solltest eigentlich meine Hände schütteln und mir Blütenkränze um den Hals hängen.« Sie verstand mich ausgezeichnet. Mein Lächeln sagte ihr gar nichts. Ich hob beide Arme und kehrte die Handflächen zuerst nach oben, dann nach vorn. »Freundschaft«, sagte ich. »Ich werde den Schaden gutmachen.« Die junge Dame, deren Körper in den Träumen vieler Raumfahrer herumspuken mochte, trug ein Kleid aus grob gewebtem Stoff, mit farbigen Beeren bestickt. Es ließ ihre Arme und die langen, wohlgeformten Beine frei. Sie mußte meine bewundernden Blicke förmlich spüren! An den Handgelenken und Fußgelenken trug sie breite Bänder aus
allerlei Beeren, durchbohrten Steinchen, Muscheln und ähnlichem Krimskrams. Es sah allerliebst und naiv aus. Ihr Ausschnitt war anstarrenswert. »Mord an Geschöpfen des Planeten«, antwortete sie kalt, »kann nicht gesühnt werden. Betrachte dich als arrestiert. Das Urteil wird rasch gesprochen sein.« »Eine Traumwelt«, sagte ich. »Du darfst ins Schiff hereinkommen und mit dem Steinbeil des grimmigen Burschen dort einen Bildschirm zerschlagen. Als Ausgleich. Nein?« Der Dialog verlief wie in einem Alptraum. Sie zeigte nicht die Spur von Humor. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge blieben ernst. Ich lächelte noch immer. Vermutlich wurde gerade ein dümmliches Grinsen daraus. »Nein.« Wenn ich mich schon unter Verrückten befand, dann mußte ich auch verrückte Dinge tun. »Ich habe also gegen die Naturgesetze verstoßen. Was geschieht jetzt? Ich sehe ein, daß ich eine Strafe verdient habe.« Endlich bewegten sich die starren Gesichtszüge. Die Mondtochter Dyodora verlor etwas von ihrer Starrheit. Die Bewaffneten traten ein paar Schritte zurück. »Es wird eine Verhandlung stattfinden, Fremder Atlan.« »Einverstanden, und weiter?« Die Wartenden hatten sich zu einem Halbkreis zusammengedrängt. Sie waren trotz aller Aufregung sehr diszipliniert, denn sie berührten tatsächlich nicht einen Grashalm. »Du wirst verurteilt.« »Zum Tode?« »Nein. Zu einer Arbeit für die Natur. Da dein Verbrechen schwer wiegt, wirst du lange für das wachsende Leben auf diesem Planeten arbeiten müssen.« »Ich verstehe«, sagte ich. Natürlich war die Vorstellung absurd, ich würde mit der Hacke irgendwo Furchen ziehen und Setzlinge
stecken. »Ihr habt sicher ein Gebiet, in dem es euch an Wasser mangelt, obwohl ein See oder ein Fluß in der Nähe ist?« Dyodora schien von den Aspekten ihrer Arbeit förmlich durchdrungen zu sein, denn bei meinem Vorschlag leuchteten ihre Augen auf. Erregt vibrierten die Haarbüschel ihrer Ohrspitzen. »Das ist der Fall.« »Sparen wir uns die Verhandlung«, sagte ich, noch immer bemüht, nicht laut herauszulachen. »Ich werde euch einen wunderschönen Kanal erzeugen. Er kann ruhig ziemlich lang sein.« »Wir erkennen, daß du ein ernsthafter Raumfahrer bist. Sünder wider die Naturreligion werden bestraft, ob sie aus dem All kommen oder aus unseren Reihen.« »Das bedeutet«, fragte ich und erkannte, daß meine ersten Überlegungen korrigiert werden mußten, »daß nicht alle Bewohner eures unvergleichlich schönen Planeten an die Naturreligion glauben?« »Nein. Nicht die Bewahrer der Ungebundenheit, diese … Irregeleiteten.« »Aha. Und ihr, wie nennt ihr euch?« »Wir sind die Hüter des Chlorophylls.« Ich nickte. Ich hatte also eine Gruppe von Leuten vor mir, die zumindest fanatisch darauf achteten, die Natur nicht zu strapazieren. Wenn ich mir ihre Ausstattung ansah, war ich fast überzeugt, daß ihre Haltung reichlich extrem war. Also konnten jene Ungebundenheits-Bewahrer nur das andere Extrem darstellen. Ausbeuter des Planeten. Benutzer von Maschinen. Sicher waren sie es gewesen, die uns mit dem Traktorstrahl gepackt und die schwere Verletzung Mrothyrs auf dem Gewissen hatten. »Es wird immer interessanter«, antwortete ich nach kurzer Überlegung. »Ich bin hier, um einige Fragen zu stellen. Wer ist in der Lage, mir zu antworten?« »Was willst du fragen?«
Ein Teil der Versammlung verlief sich. Offensichtlich passierte zu wenig. Staunend und wortlos betrachtete Chipol die Menge. Die Kleidung war zum Teil tatsächlich phantastisch. »Mehr oder weniger solche Dinge will ich wissen, die in der nahen Vergangenheit passiert sind.« Sie zwinkerte plötzlich und entspannte sich ein wenig. »Mein Vater ist der klügste Mann in Hupishna entlang dem Blauwassersee. Er weiß alles.« »Wie schön. Was kommt zuerst? Die Beantwortung, die Fragen, die Verhandlung oder die Strafe?« wollte ich wissen. Der Extrasinn flüsterte: Übertreibe es nicht! Mondsohns Tochter wurde unsicher. Sie drehte sich herum und rief einem Bewaffneten zu: »Hole Vater. Das Kollegium soll zusammentreten.« Leise fragte der junge Daila neben mir: »Wo ist der Ausgestoßene? Ich suche ihn, aber ich habe ihn nicht gesehen.« »Ich auch nicht«, bekannte ich. »Möglicherweise versteckt er sich unter einen phantastischen Helm. Er wird wahrscheinlich die beste Gelegenheit abwarten.« Wieder hatte sich die Anzahl der Wartenden verringert. Die aufgeregt umherschwirrenden Vögel waren verschwunden. Ein Augenblick größerer Ruhe trat ein, und ich überlegte mir, ob ich es riskieren konnte, den persönlichen Schutzschirm abzuschalten. Noch nicht. Ich wollte kein weiteres Risiko mehr eingehen, denn die Gewißheit, daß die Naturanbeter durchaus unbarmherzig und schnell reagierten, mußte ich einkalkulieren. Die Situation war völlig instabil. Alles konnte in den nächsten Minuten passieren. Ich legte in einer schützenden Geste den Arm um Chipols Schultern. Die Hüter des Chlorophylls scharten sich um die junge Frau und ihren Vater. Ich konnte beide in dem Gewimmel nicht mehr
erkennen. Meine Blicke glitten umher: aber noch immer konnte ich keinen Daila erkennen. Aber ich sah etwas anderes. Zwischen den Bäumen und den Wänden einiger Gebäude schwebten einige große Gleiter heran. Sie waren gänzlich schmucklos, wirkten dadurch noch stärker als Gegensatz zu dem farbensprühenden Bild der Hüter und der blühenden und grünenden Natur ringsum. Panzerungen, dicke Schutzscheiben, die stumpfen Läufe von Waffen und die entschlossenen Gesichter von Planetariern waren klar zu erkennen. Die Maschinen kamen lautlos näher. Ich starrte in die Richtung und sah, daß mindestens ein Roboter in jedem der sechs Gleiter stand. Die Gleiter bremsten. Noch hatten die Hüter jene anderen Vertreter nicht bemerkt. Dann, vermutlich auf ein Funkkommando, schwebten die schalenförmigen Maschinen fächerförmig auseinander. Du bist ihr Ziel, Arkonide, sagte kurz der Logiksektor. Ich wartete noch. Die Triebwerke der schwebenden Maschinen dröhnten auf. In diesem Augenblick bemerkten die Buntgekleideten das Vorgehen, das wie ein Angriff wirkte. Sofort fingen sie zu schreien an. Waffen wurden hochgerissen, Steine schwirrten durch die Luft und prasselten dröhnend gegen das Blech. Chipol fragte in heller Aufregung: »Das gilt uns? Sie wollen uns überfallen!« »Wahrscheinlich. Aber wohl nicht deswegen, weil sie uns töten wollen. Das würden sie anders machen.« Trotzdem zogen wir uns zur Rampe zurück und blieben im unteren Drittel stehen. Der einzelne Schirm löste sich auf. Wir befanden uns im Schutz des Schiffssystems. Der Kampf zwischen den Gleiterbesatzungen, etwa hundert Männern und sieben Robotern, und den Hütern des Chlorophylls war eine Angelegenheit, die lächerlich wirkte. Die Hüter schossen Pfeile ab und schleuderten faustgroße Steine. Es waren höchstens fünfzig Krieger, die sich mutig auf die Gleiter stürzten. Wurfspeere
zerbrachen an den Panzerungen. Ein fürchterliches Geschrei brach aus. Dyodora und ihr Vater eilten mit langen Schritten davon. Die Kampfbeile und Schwerter und diese phantastisch geformten Waffen aus Holz, Stein und Knochen – ihre Hiebe und Einschläge prallten wirkungslos an den Gleitern ab. Die Maschinen schoben sich langsam, aber rücksichtslos weiter heran. Die Roboter hoben langsam ihre Waffenarme und zielten auf die mutigsten und wildesten Krieger. Dann heulten kurze, scharfe Entladungen auf. Es waren Lähmoder Schockstrahlen. Sie trafen jene Krieger, die sich am weitesten vorgewagt hatten oder sich am wildesten gebärdeten. Die Männer brachen stöhnend zusammen. Ich legte meine Hand auf den Kolben des Strahlers. »Sie sind alle verrückt, nicht wahr, Atlan?« rief Chipol. Aus dem Lautsprecher eines Interkoms im Schleusenraum erkundigte sich die STERNSCHNUPPE überlaut: »Soll ich starten? Zurückschießen?« »Noch nicht. Sie wollen offensichtlich nur mich. Halte dich bereit.« In annähernd halbkreisförmiger Position näherten sich die Gleiter dem Schiff. Die Hüter waren von den Robotern bewußtlos zurückgelassen worden. Ein kleiner Rest Krieger und Zuschauer rannte in panischer Flucht nach allen Seiten davon. Der erste Gleiter hielt ungefähr dreißig Meter vor dem Ende der Rampe. Ein Lautsprecher begann zu dröhnen. »Raumfahrer! Du hast dich mit den Hütern des Chlorophylls verbündet. Jeder Ankömmling aus dem All ist für uns ein Vertreter des Feindes. Wir fordern dich auf, ergib dich! Sonst nehmen wir dich und das Raumschiff unter Beschuß.« Sicherlich gab es irgendwo in verborgenen Stellungen Geschützprojektoren. Offensichtlich wagten sie nicht, das Feuer zu eröffnen, denn dann hätten sie den Besitz der Hüter zerstört. Mir schien es, als ob die beiden rivalisierenden Gruppen bis zu einem
bestimmten Punkt aufeinander Rücksicht nehmen würden. Chipol und ich waren von dem Schutzschirm umgeben und in Sicherheit. Also rief ich zurück: »Ich ergebe mich weder euch noch den anderen. Ich bin kein Feind. Ich will nur Antworten auf meine Fragen.« Der Robot in dem ersten Gleiter feuerte ohne Warnung eine Serie von Lähmschüssen auf uns ab. Sie prallten auf den Schirm. Ihre Energie verteilte sich dröhnend und knatternd nach allen Seiten und versengte das Gras vor mir. »Vorsicht! Ich könnte zurückschießen«, rief ich. Ich sah den Mann, der das Mikrophon in der Hand hielt. Er trug eine Uniform, wie sie auf allen Planeten die Militärs trugen. »Du bist ein Spion. Mit Spionen machen wir kurzen Prozeß. Ergib dich. Wir haben andere Mittel, das Schiff und dich zu vernichten.« Der Tonfall ließ keinen Zweifel zu. Ich hatte mit Ärger gerechnet – und jetzt hatte ich ihn. Ich wandte mich an Chipol, der die Aktion mit aufgerissenen Augen mitverfolgt hatte. »Geh hinauf in den Steuerraum. Kontrolliere alles auf den Rundumschirmen. Hier bist du nur in Gefahr. Klar?« Er rannte sichtlich erleichtert die Rampe hinauf. Die anderen Gleiter rückten ein paar Meter zurück. Ihre Piloten schienen ein anderes Schußfeld zu suchen. Ich versuchte, weiter mit Verhandlungen oder Argumenten etwas auszurichten. Die Bewahrer wirkten nicht so, als ob sie viel Spaß verstünden. In dieser Beziehung waren sie wie die Hüter. Aber ihre technischen Möglichkeiten machten sie weitaus gefährlicher. »Ohne mich zu kennen, entscheidet ihr, daß ich ein Feind bin. Warum so voreilig?« »Wir wissen es! Wir sind gegen Feinde gerüstet.« »Aber ihr seid noch nicht ein einzigesmal angegriffen worden«, rief ich auf gut Glück. »Unsere Wachsamkeit und starke Bewaffnung haben es
verhindert. Und dir wird es nicht anders ergehen.« Wieder begriff ich ein wenig mehr. Ohne einen Feind zu kennen, rüsteten sie gegen ihn. Also waren sie von einer Psychose heimgesucht worden. Jemand hatte ihnen diese Überzeugung eingegeben. Die Bewahrer der Ungebundenheit waren manipuliert. Und wer kommt sonst dafür in Frage als die Hyptons? schaltete sich der Logiksektor ein. »Ich verstehe«, murmelte ich im Selbstgespräch. »Vernünftigen Argumenten sind sie nicht zugänglich.« Ich hob das Funkgerät an und sagte: »STERNSCHNUPPE! Diesmal mußt du deine Traktorstrahlen einsetzen. Ich will keine Verletzten oder Toten. Betäube die Besatzungen und setze die Gleiter irgendwo ab, wo sie keinen Schaden anrichten.« »Verstanden.« Ich rief: »Vermutlich muß ich andere Fragen stellen. Ich bin Gast auf eurer Welt. Gäste behandelt man anders. Ihr als Raumfahrer solltet es besser wissen.« Noch während ich sprach, dröhnte ein Strahlengeschütz im Schiff auf. Der Traktorstrahl packte den ersten Gleiter, hob ihn hoch und schwenkte ihn herum. Dann, als die Männer zusammensanken und der wachsam dastehende Robot polternd von den Gehwerkzeugen gerissen wurde, glitt der Gleiter durch die Luft, zwischen zwei Bäumen hindurch und auf das Ufer des Blauwassersees zu. Dort, dicht neben der Strandlinie, ließ das Schiff den Gleiter fallen. Er landete in einer aufgischtenden Fontäne und wurde meterhoch wieder zurückgeworfen. Noch während die Maschine durch die Luft gerissen wurde, wurden die Insassen von vier Gleitern fast gleichzeitig gelähmt. Zwei Maschinen zogen sich mit heulenden Triebwerken zurück und schoben sich in den Schutz der Gebäude und der dichter stehenden Baumstämme. Eine einzelne Gestalt lief im Zickzack auf das Schiff zu. Als sie mir
für einen Moment die Seite zuwandte, sah ich, daß die Ohren ganz anders geformt waren. »Nardin, der Daila. Hoffentlich!« Dann, lauter, zur STERNSCHNUPPE: »Laß den einzelnen ins Schiff. Es ist ein Daila.« Vor mir öffnete sich wieder eine Strukturlücke. Als ob ihn jemand mit der Waffe verfolgen würde, rannte ein älterer Mann herbei und fiel beinahe in meine Arme. Er keuchte und war schweißüberströmt. Hinter ihm schloß sich der Schirm. Das Schiff fuhr fort, die Traktorstrahlen einzusetzen. Auf der Terrasse des Hauses, rund zweihundert Meter entfernt, glaubte ich Vater und Tochter Mondsohn zu erkennen. »Du bist Nardin, der uns angefunkt hat?« »Ja. Das Gerät …«, er rang nach Luft, »… ausgefallen. Ich weiß nicht, wie man es repariert.« »Ich bin Atlan«, sagte ich und zeigte nach oben. »Geh ins Schiff. Dort ist einer aus deinem Volk. Aber er ist gegenüber verbannten Daila mit ihren Mutantenfähigkeiten sehr zurückhaltend.« Nardin starrte mich verständnislos an. Er schien kein Wort zu verstehen. Aber er folgte mir ins Schiff. Ich war einen Augenblick lang unentschlossen, welche Befehle ich geben sollte. Wartete ich hier, würden die Bewahrer vermutlich stärkere Waffen einsetzen. Landete ich an einer anderen Stelle, würden sie mich mit dem überstarken Traktorstrahl packen. Ich entschloß mich zu warten. Wenn ich von Nardin etwas erfuhr, würde es mir helfen, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Diese beiden extremen und teilweise abwegigen Weltanschauungen sagten mir nichts. Schon als ich den Daila die erste Antwort stottern hörte, ahnte ich, daß ich wenig Glück hatte.
*
Die Sonne begann sich, ein Stück über dem verschwimmenden Sandhorizont der Wüste schwebend, gelb und rötlich zu verfärben. Die Farbänderung traf die Wahrnehmungszellen der DharnsemidPflanze. Ströme krochen entlang der pflanzlichen Nervenbahnen. Die dornigen Enden der riesigen Blattstrukturen begannen sich aufwärts zu wölben. Sternförmig lagen mehr als hundert der zungenförmigen, spitz auslaufenden Blätter flach auf dem Sand. Er war von der Hitze des langen Tages durchglüht. Einige Schritte näher dem Zentrum der riesigen Pflanze – von den Eingeborenen wurde sie »Gott des Ungeziefers« genannt – bogen sich Ranken aufwärts, die wie gekrümmte, verhornte Luftwurzeln aussahen. Sie stützten die oberen, dreieckigen Blätter mit den langen Dornen. Auf den dunkelgrünen, riesigen Blättern glänzten wie faustgroße Edelsteine tiefrote Tropfen. Sie strömten einen betäubenden Geruch aus. Zwischen ihnen schimmerte ein hellerer, glänzender Belag. Diese Blätter fingen jetzt an, sich an den Rändern hochzuwölben. Das Innere der Pflanze wurde von Hunderten einzelner Blütenstengeln und Staubgefäßen gebildet. Sie wirkten wie ein vielfarbiger Wald aus biegsamen Stämmchen, die in unaufhörlicher Bewegung waren. Über diesen Teilen, die ständig Feuchtigkeit und winzige Pollen absonderten, stand eine Säule aufsteigender Luft. In diese Säule, die sich ausdehnte, hin und her bewegte, wieder schrumpfte, drangen von allen Seiten Mücken, Fliegen und größere Insekten ein. Sie berauschten sich an den Pollen, ihre Flügel wurden gelähmt, und nach einiger Zeit, fielen sie zu Hunderten und Tausenden ins Innere der Pflanze. Zwischen den schwankenden Stengeln waren weiße Knochen. Viele davon bröckelten und lösten sich auf. Aus dem Boden des Pflanzenkerns stieg ein ätzender Geruch auf, der sich mit dem honigduftenden Dunst mischte. Die stabförmigen Teile waren mit handlangen Widerhaken besetzt.
Das absolute Zentrum der Pflanze, die etwa kreisförmig, mit einem Durchmesser von mindestens zweihundert Metern sich auf dem Sand ausbreitete, bestand aus einem weißen, kelchförmigen Gefäß. Es war leer, bis auf einen Fleck auf dem Boden, der wie ein riesiges Auge aussah. Zu der Pflanze führten aus mehreren Richtungen deutlich ausgetretene Pfade durch den Sand. Sie endeten jeweils nach mehr als zweitausend Schritten in größeren Oasen. Dort standen Gebäude aus Holz und Binsengeflecht im Schatten uralter Bäume. Jeder der Bäume hatte einen poetischen Namen; einige wurden von den Hütern des Chlorophylls angebetet. Zwei jener »Oasen« allerdings waren ebenfalls voller Gewächse, aber die Gebäude, die sich aus dem bewachsenen Sand erhoben, waren eindeutig modern und aus raffiniert gestalteten Fertigteilen. Einige Roboter bewegten sich durch die Anlagen. Unterirdische Bewässerung, Beleuchtung in den Nächten, ein System von verschiedenen Mauern und Schutzzäunen bildeten einen schroffen Gegensatz zu dem Aussehen der anderen Oasen. Die Anordnung der unterschiedlichen Bauwerke ließ erkennen, daß auch dieser Kreis aus Oasen Teil des merkwürdigen Gesellschaftssystems darstellte. Es ging die Legende, daß in grauer Vorzeit die Pflanze als Hinrichtungsstätte gedient hatte. Der Gott des Ungeziefers war eine fleischfressende Pflanze. Sie ernährte sich von Insekten und kleinen Wüstentieren, die sie mit ihren durchdringend lockenden Geruch anzog. Nur die Roboter waren in der Lage, dem verlockenden Duft zu widerstehen. Jedes Lebewesen wurde von der Geruchswolke auf intensive oder weniger drängende Art erfaßt. Aber der hungrige Ruf der Dharnsemid-Pflanze zwang nur Tiere, sich in ihre klebrige, tödliche Umarmung zu stürzen. Vom Flußlauf her war eine rissige, tiefe Rinne zu sehen. Die Hüter arbeiteten seit mindestens zehn Jahren daran. Es sollte ein Kanal werden, von dessen Wasser der Sand zwischen den Oasen in einen
blühenden Garten verwandelt werden sollte. Die Hüter wollten dort große Kulturen aussäen, deren Pflanzen düngemittelfrei wachsen würden. Die Verurteilten aus der Traktorstrahl-Anlage hörten jetzt, in der Abenddämmerung, zu arbeiten auf. Ihre Aufpasser und die Gefangenen marschierten zurück in die nächstgelegene Oase.
5. Die Nähte der abgetretenen Stiefel waren ebenso schmutzig wie die Beinkleider aus rauhem, selbstgewebtem Stoff. Die Beine, die durch große Löcher zu sehen waren, schienen nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Der Daila bot trotz der farbenfrohen Jacke aus Leder, Bast und allerlei Geflecht einen bemitleidenswerten Eindruck. »Du mußt wissen«, sagte er stockend, »daß wir die Ausgestoßenen auf Kraupper sind. Es ist furchtbar.« Ich hatte ihm eine Mahlzeit aus ausgesucht kräftigen Zutaten und einen Krug Bier gebracht. Chipol saß in einer Ecke und blickte den Daila unverwandt an. Er wußte nicht, was er von diesem Zusammentreffen zu halten hatte. »Gibt es noch viele Daila auf Kraupper?« fragte ich. Er schüttelte langsam den Kopf. Das Bier trank er in langen Zügen, als habe er seit einer Ewigkeit nichts Gutes mehr getrunken. »Nein. Es sind vielleicht noch ein paar hundert. Wir haben vergessen und verloren.« »Ich verstehe nicht ganz. Was habt ihr verloren?« »Die Fähigkeiten, wegen denen wir ausgestoßen wurden. Die Erinnerungen an Aklard. Die Möglichkeit, andere Wesen zu beeinflussen.« Er schien ein gebrochener Mann zu sein. Sein Gesicht war ausgezehrt. Er hatte mir gesagt, daß er versuchte, sich innerhalb der
Hüter des Chlorophylls zu qualifizieren. Aber es gelang ihm nicht recht; er verstand die Mentalität dieser Kraupper nicht. Wieder schüttelte er den Kopf und murmelte undeutlich: »Sie sind alle verrückt. Ein Planet voller Wesen, die nicht wissen, was sie wirklich wollen. Wir hätten damals, als wir versuchten, überall neue Handelsbeziehungen zu starten, nicht hierherkommen dürfen.« »Ihr habt also keine Mutantenfähigkeiten mehr?« fragte Chipol laut. Er verlor seine Scheu zusehends. »Alles verloren. Wir landeten – und es ging uns so wie dir. Wie euch. Wir haben uns, ohne es zu ahnen, an den Heiligtümern der Naturreligion vergangen. Wir zertrampelten Wiesen, fällten heilige Bäume und fingen Fische. Zwei Daila wurden zum Tode verurteilt. Die Hüter sind verrückt, sage ich dir. Sie essen nicht einmal Fleisch. Sie reißen nicht einmal Früchte ab, wenn sie nicht reif sind.« »Ich habe dasselbe Problem«, sagte ich. »Auf mich wirken sie wie Träumer.« »Sie werden zu rasenden Bestien, wenn sie sehen, daß man ihre Heiligtümer angreift.« »Sie gehen mit Holzschwertern gegen gepanzerte Gleiter vor«, sagte der junge Daila. »Das ist noch gar nichts. Sie stehen im ständigen Streit gegen die anderen. Insgesamt sind es vielleicht ein Drittel der Bevölkerung. Der Rest ist gleichgültig und neigt einmal der oder der anderen Überzeugung zu.« »Zwei Extreme und eine schwer beeinflußbare Masse?« fragte ich. »So ist es. Wir Daila sind verstreut. Ein paar leben auf den Mondstationen, andere auf den Planetenkolonien. Man hat einige Schiffe von uns schon weit außerhalb des Evdam-Tur-Systems abgefangen.« »Warum, meinst du, behandeln sie euch so schlecht?« »Die Hüter erinnerten sich an irgendwelche Wesen, die gelandet sind und die Natur geschändet haben. Wir taten nichts anderes.
Also waren wir als Sünder gebrandmarkt, ehe wir überhaupt ein Wort sagen konnten.« »Ihr hattet niemals Kontakt mit den Nicht-Mutanten-Daila?« »Niemals mehr. Es ist, als ob Aklard verschwunden wäre. Unsere Erinnerungen werden undeutlich. Wir sind keine Daila mehr und noch keine Kraupper.« »Das ist schlimm. Ihr wißt nicht, wer ihr seid«, meinte Chipol. »Nein. Kraupper liegt außerhalb der Raumkugel der Daila. Ganz knapp am Band. Viele von uns leben im Innern dieses Gebildes. Von uns Mutanten. Ich meine Ex-Mutanten.« Nardin tat Chipol und mir leid. Immerhin sahen wir ein wenig klarer. Er erinnerte sich an meine vorletzte Frage und sprach weiter. »Die anderen, die Bewahrer, sie scheinen von einem abartigen Virus infiziert zu sein.« Begierig warteten wir darauf, daß er seine Erklärungen fortsetzte. »Sie rüsten wie die Irren«, stieß er hervor. »Die Roboter helfen ihnen dabei. Sie warten auf einen Angriff aus dem All. Jedes fremde Schiff ist höchst verdächtig.« »Die STERNSCHNUPPE natürlich ebenfalls«, murmelte ich. »Sie wollen also den Planeten zu einer Festung ausbauen, wie?« »Sie wollen es. Natürlich macht es sie zu Gegnern der Hüter.« »Weil sie gegen die Naturreligion verstoßen?« »Auch deswegen.« »Die verschiedenen Stützpunkte sind über den ganzen Planeten verteilt. Ich wollte mit ihnen arbeiten. Sie haben mich ausgelacht und weggeschickt. Wenn das System endlich fertig ist, wollen die Bewahrer ihre Erfolgserlebnisse haben.« »Dadurch, daß die Bewahrer auf den unsichtbaren Feind warten. Ich habe davon eine Kostprobe genossen«, fügte ich hinzu. »Die Rüstungsvorhaben verstoßen ebenfalls gegen die Gebote der anderen.« »Es ist chaotisch, Allan.« »Ich sehe es nicht anders«, antwortete ich und erkannte, daß sich
der Daila unmerklich entspannte. »Wer herrscht eigentlich über den Planeten?« »Eine Regierung aus Spitzenpolitikern beider Lager, Sie ist ziemlich wirkungslos. Die Techniker übertölpeln sie immer wieder. Die Regierenden sind selten in der Lage, sich durchzusetzen. Der Prozeß geht seit langer Zeit. Aber seit vielleicht knapp zehn Jahren wird es ganz besonders schlimm.« »Und wie passen die anderen Daila ins Bild?« fragte ich. Nardin leerte den Krug und antwortete schließlich zögernd: »Die allerersten von uns empfing man recht freundlich. Die nächsten hat man verhaftet und eingesperrt. Jetzt ist es so, daß alle Daila irgendwo ganz schlimme Arbeiten ausführen müssen. Auf den Monden, den Planetenkolonien, wir haben keine wirkliche Chance. Wir sind am Ende. Aus dem Kern der Galaxis scheinen Strahlungen hervorzusickern. Manam-Turu schädigte uns alle. Daß wir keine Mutanten mehr sind, habe ich euch schon gesagt. Und mehr und mehr vergessen wir Aklard und unsere Heimat. Es gibt über unsere Herkunft und die Vergangenheit nur noch wilde Gerüchte. Wir können die Wahrheit nicht mehr von den Legenden unterscheiden.« »Ihr habt euch mit der Lage abgefunden?« erkundigte sich Chipol nicht ohne Freundlichkeit. Er hatte verstanden, daß er keinen Grund hatte, Nardin zu fürchten. Traurig sagte der Daila: »Was bleibt uns anderes übrig?« »Wo seid ihr zu finden? Ich meine, arbeitet ihr mit den Technikern zusammen oder mit den anderen?« »Es ist leichter, mit den Hütern des Chlorophylls weiterzuleben. Es ist ein unwürdiges Leben, Atlan.« Sie hatten aus der Not heraus ihre Selbständigkeit und ihre Würde aufgeben müssen, um ihre nackte Existenz zu retten. Was konnte ich tun? Vermochte ich etwas zu ändern? Wahrscheinlich nicht. Auf keinen Fall innerhalb der nächsten Zeit.
Ich wandte mich an den Daila und fragte vorsichtig: »Was hast du vor? Willst du im Schiff bleiben? Ich kann euch nichts garantieren.« Er überlegte lange und antwortete stockend: »Ich muß zurück. Ich muß arbeiten, sonst kann ich nicht essen und wohnen. Sie werden böse, wenn ich meine Arbeit unterbreche.« »Wo arbeitest du?« »Dort in der Stadt. Ich reinige die Abwassergräben der HüterHäuser. Das Funkgerät war in einem Gleiter, der in einem Schuppen verrottet. Daß es noch funktionierte, war ein Wunder.« »Du kannst jederzeit zurückkommen«, sagte ich und deutete auf den Ausgang. »Vorausgesetzt, ich muß nicht starten und mich verstecken.« »Danke. Jetzt wißt ihr, wie es uns geht.« »Sehr schlecht geht es euch«, sagte Chipol, stand auf und gab ihm die Hand. Hastig stopfte der Daila die letzten Brocken des Essens in die Taschen und verließ das Schiff. Zuletzt rannte er über den Kiesweg und verschwand zwischen den Büschen. Chipol und ich schauten uns in tiefer Ratlosigkeit an.
* Dyodora ging zum Fenster, schob den handgewebten Vorhang zur Seite und zeigte auf den großen Fremdkörper zwischen den Bäumen. »Wir müssen den Bewahrern zuvorkommen«, sagte sie. Ihr Vater nickte langsam. »Das Schiff kann sich wehren. Wir haben gesehen, wie die Gleiter förmlich abgefertigt wurden.« Das Mondlicht und der Widerschein der Sterne ließ die Schiffshülle deutlich erkennen. Auch einige verstreute Lichter aus den Häusern spiegelten sich in dem silberglänzenden Metall.
»Wir können das Schiff nicht erobern«, meinte Mondsohns Tochter. »Wir müssen mit List vorgehen.« »Der Fremde hat dich mit seinen Augen angestarrt wie eine Frau aus seinem Volk«, sagte Gelber Mondsohn. »Vielleicht kannst du ihn überreden.« »Wozu überreden?« »Das Schiff zu verlassen. Dann können wir es übernehmen. Wir zwingen ihn dann, gegen die Bewahrer vorzugehen.« »Es ist dein Einfall?« fragte Dyodora. Sie hatten den Rest des Tages damit verbracht, mit den anderen Anführern aus dem Stadtgebiet zu diskutieren. »Nicht nur meine Idee, Tochter«, sagte Mondsohn. »Die Mehrheit ist dafür. Es ist die einzige und für lange Zeit letzte Gelegenheit, etwas zu unternehmen. Unsere Agenten in der Organisation der anderen haben herausgefunden, daß die vielen Bauwerke und die technische Ausstattung immer ausgefeilter werden. Viele Geschütze sind fertig. Die Bewahrer arbeiten unermüdlich mit ihren Robotern.« »Soll ich es gleich versuchen?« fragte Dyodora. »Ich meine, daß der Fremde mit dem weißen Haar jetzt schläft. Und der kleine Daila ebenfalls.« »Ich weiß nicht, wann der richtige Zeitpunkt ist«, entgegnete ihr Vater. Er schaukelte in seinem Stuhl hin und her. Von seinem Platz aus hatte er ungehinderten Blick auf das Raumschiff. »Ich werde bis zum ersten Morgenlicht warten. Dann sind die Männer am wenigsten in der Lage, klar zu denken.« »Ich sage nur, was die Anführer sagen. Du bist unsere beste Waffe im Kampf um die Einhaltung der religiösen Gebote.« »Vielleicht kann ich ihn überreden. Er wirkt nicht, als ob er dumm wäre. Er weiß, daß die Bewahrer und die Hüter auf ihn Einfluß nehmen wollen.« »Dein Lächeln wird ihn in die geeignete Verfassung bringen. Du mußt ihn nur genügend weit vom Schiff wegführen. Zeige ihm das Bewässerungsprojekt. Erbitte seinen Rat, versuche, an seine
Raumfahrerehre zu appellieren, oder etwas Derartiges. Du wirst es richtig machen.« Sie kannte ihren Vater gut genug. Dyodora wußte, daß er alles tun würde, um den alten Gesetzen dieses Planeten wieder zur Gültigkeit zurückzuhelfen. Ein unendlich langer Weg lag vor ihnen. Ob sie es je schafften, war zweifelhaft. Das Raumschiff des Fremden aber war ein Werkzeug von unschätzbarem Wert. »Ich versuche alles, was ich kann«, versicherte Dyodora. Sie ging in ihr Zimmer und öffnete die Fenster. Die Nachtvögel zwitscherten, die Insekten summten, und auf den kleinen Wellen des Blauwassersees breitete sich das Mondlicht aus. Ein Idyll. Die Gleiter, die mit aufgeblendeten Scheinwerfern und kreisenden blauen, gelben und roten Lichtern über den See in die Richtung der Berge schwebten, zerstörten die Stimmung nachhaltig. Obwohl Dyodora dieses Kleid nicht mochte, zog sie es an. Es war dünn, luftig und knapp und brachte ihren Körper auf das Vorteilhafteste zur Geltung. Mit den Fingerspitzen berührte sie die leicht federnde Schicht des fast durchsichtigen Schutzschirms. Es dauerte nicht lange, bis der Fremde über die Rampe herunterkam und dicht vor ihr stehenblieb. Er sah, daß sie völlig anders aussah als vor einem halben Tag; jetzt verhielt sie sich auch freundlicher. »Was kann ich für dich tun?« fragte er verwundert. »Zu solch früher Stunde?« »Mit mir kommen, zu meinem Vater. Er möchte mit dir reden, bei einem Essen aus unseren besten Zutaten.« »Worüber?« fragte der Raumfahrer und erwiderte ihr offenes Lächeln. »Letzten Endes über den Versuch, Ordnung für alle auf diesem Planeten zu schaffen. Außenstehende, sagte er, sehen die Probleme schärfer als jeder von uns.« »Daran ist viel Wahres. Warte bitte. Ich bin sofort wieder hier«, erklärte er und ging schnell ins Schiff zurück.
* Warnend erklärte der Extrasinn: Es ist eine Falle, zweifellos. Sie wollen das Schiff und damit die Macht. Sie müssen den Bewahrern der Ungebundenheit zuvorkommen. »Das sehe ich ebenso«, erklärte ich laut und war nicht eine Sekunde lang unsicher. Mit der STERNSCHNUPPE hatte ich die verschiedenen Reaktionen bereits durchgesprochen. Ich ging in die Kammer, in der Mrothyr lag. Ich konnte keine Änderung seines Zustands feststellen. Er lag in tiefem Schlaf; sofort erklärte das Schiff: »Eine geringfügige, positive Änderung. Es geht ihm gut. In einigen Tagen kann er aus der Gesamtüberwachung entlassen werden.« »Eine gute Nachricht«, freute ich mich. Chipol zog sich die Jacke an, während er auf mich zulief. Auch er war aufgeregt. »Wenn du zu den Hütern gehst, will ich mitkommen.« Wir beide waren bewaffnet und würden uns mit den Schockstrahlern gegen die Hüter leicht wehren können – wenn sie tatsächlich wagten, uns anzugreifen. Die Bewahrer schienen nicht angreifen zu wollen. Vermutlich versuchten sie, eine geschicktere Möglichkeit zu finden. »Gut. Komm mit. Irgend etwas kommt sicher bei diesem Versuch für uns heraus.« »Das meine ich auch.« Wir verließen das Schiff. Mit einer liebenswürdigen Geste nahm Dyodora unsere Arme und führte uns zum Haus. Wachsam blickte ich mich um. Vom Planetenboden aus war ebenso wenig zu erkennen wie auf den Bildschirmen der STERNSCHNUPPE. Ich ging bewußt ein Risiko ein. Wir erreichten das Haus, und
Dyodora wurde nicht müde, uns die Vorteile des natürlichen Lebens zu schildern, das im völligen Einklang mit der Natur des Planeten verlief, in alle Ewigkeit so und nicht anders. Wenn nicht diese schlimmen Bewahrer wären, die man von ihrer geistigen Krankheit heilen müsse! Wir gingen eine Treppe hinauf. Alles war aus Stein und Holz hergestellt und aufeinandergetürmt. Die Arbeitsweise war durchaus meisterhaft. Stolz versicherte die junge Frau: »Es ist alles aus nicht mehr lebenden Stoffen. Wir haben nicht einen einzigen Baum gefällt.« »Das glaube ich gern«, murmelte ich. Auf einer halb gedeckten Terrasse standen ein Tisch aus mächtigen Holzplatten, hölzerne Stühle, Tonteller und Holzplatten, hölzernes Besteck und unzählige halbe, fein bearbeitete halbe Nüsse, doppelt handgroß, in denen sich Nahrungsmittel befanden. Es sah alles, einschließlich einiger Blütenpflanzen zwischen den Speisen, sehr farbenfroh und appetitlich aus. Im größten Sessel mit reich geschnitzten Armlehnen saß der Vater. Er hob beide Arme und zeigte die Handflächen. »Willkommen in meinem Haus«, sagte er mit volltönender, tiefer Stimme. Auf einem Wandbord standen einige Geräte, die es hier eigentlich nicht geben dürfte: Hochleistungsempfänger, Funkgeräte und andere technische Erzeugnisse. Dyodora bemerkte meinen Blick und erklärte: »Wir haben sie den Bewahrern weggenommen.« »Völlig klar«, sagte ich und begrüßte Gelben Mondsohn Dyodor. »Danke für die Einladung.« »Nimm Platz … nehmt Platz, Fremde! Eßt mit uns. Redet mit uns!« »Worüber?« »Über das Leben, über euch und uns, und darüber, wie du uns helfen kannst, wieder die alte, naturgewollte Ordnung auf Kraupper und den anderen Planeten und Monden herzustellen.«
Es gab Tee, mit Honig gesüßt, Beeren in jeder Farbe und vielen Geschmacksrichtungen, zusammen mit steifgeschlagener, mit Nektar gewürzter Sahne, grobes, jedoch wohlschmeckendes Brot mit gesalzener Butter – es war überraschend gut. Kauend erwiderte ich: »Das ist eine gigantische Arbeit. Wir sind nicht als Retter des Planeten gekommen. Und woher wissen wir, daß die Hüter des Chlorophylls den richtigen Weg eingeschlagen haben?« Über die aktivierten Funkgeräte konnte das Schiff jede Einzelheit mitverfolgen. »Vielleicht hilft dir, was ich berichten werde, einen Schritt weiter«, sagte der alte Mann. Er sprach bedächtig und aus tiefer Überzeugung. »Vor vielen Jahren, etwa zu der Zeit, als das Raumschiff mit den Dutzenden der unermüdlich schuftenden Maschinen gefunden wurde, kam ein einzelner Robot hierher, sagt man. Wir haben von ihm gehört, ihn aber niemals gesehen.« »Ein einzelner Robot? Was ist an ihm so interessant?« »Wir wissen, daß er alle anderen Roboter steuert. Wir wissen auch andere Dinge. Wenn du sie erfahren hast, wirst du verstehen, daß wir die Bewahrer als krank bezeichnen.« »Sprich!« Die Blüten verströmten einen durchdringenden Geruch. Er war fast betäubend. Immer wieder fuhr ein leichter Windstoß durch die vielen Rankengewächse und vertrieb den exotischen Geruch. »Die Bewahrer der Ungebundenheit erhielten zur gleichen Zeit Besuch von einem unbekannten Sternenvolk. Man sagt, daß sie zweimal gekommen wären. Einmal vor reichlich acht Planetenjahren, einmal in weiter Vergangenheit. Diese Fremden beeinflußten einzelne, wichtige Personen. Diese Personen begannen, zusammen mit den Robotern, eine ganz andere Richtung der Zivilisation einzuschlagen. Diesem Ausbau unserer Welt widmen sie sich mit dem Eifer von Geisteskranken. Sie sind infiziert, verstehst du?«
Hyptons! sagte hart der Logiksektor. Einwandfrei die Hyptons. So zweifelsfrei war es für mich noch nicht. Ich trank einen Schluck Tee und fühlte, wie irgendwelcher Blütenstaub auf meiner Zunge brannte. »Ich setze voraus«, sagte ich, »daß diejenigen, die beeinflußt wurden, bis heute nicht wissen, daß sie nach einem fremden Willen handeln?« Ein Raumschiff, vielleicht eines der Ligriden, hatte die Hyptons hierher gebracht. Sie waren ohne Schwierigkeiten in der Lage, anderen Wesen ihren Willen aufzuzwingen. ParalogikPsychonarkotiseure nannten wir sie – damals. Unbeugsame Gewalt ging letztendlich von ihren Para-Impulsen aus. Auf Kraupper hatten sie zumindest einen schwerwiegenden Fehler begangen, der kaum wiedergutzumachen war: Sie »vergaßen«, auch die wichtigsten Frauen und Männer der »Hüter des Chlorophylls« in ihrem Sinn zu beeinflussen. »Du hast recht. Noch nie hat sich einer von ihnen auf einen außerplanetarischen Auftrag berufen. Es kommt, scheinbar, aus ihnen selbst. Sie wissen nicht, daß sie in fremdem Auftrag handeln.« »Woher weißt du das, Mondsohn?« fragte ich schließlich. »Wir haben Späher in den Reihen der Techniker. Sie nehmen es auf sich, unablässig ihre Überzeugung zu vergewaltigen. Sie haben uns Dinge berichtet, die absolut wahr sind. Helle, durchdringende Stimmen haben die Fremden. Sie sind nicht größer als dieser Tisch hoch. Sie sehen vogelartig aus, wie jene nachtjagenden Insektenfresser. Weiche und durchsichtige Gewänder in matten Farben haben sie getragen. Sie sollen auch fliegen können. Es gibt leider keine Bilder von ihnen.« Bist du jetzt völlig überzeugt? fragte der Extrasinn sarkastisch. »Ich bin nicht abgeneigt, euch zu glauben«, sagte ich. Dyodora schien bewußt gegen ihre Überzeugung zu handeln, denn sie brach von den Blütenpflanzen eine besonders schöne, noch nicht voll erblühte Ranke ab und heftete sie in einer Öffnung meines
Kombinations-Oberteils fest. Dabei lächelte sie mich verführerisch an. »Danke«, sagte ich. »Ist das ein Beweis dafür, daß meine ersten Sünden gegen eure Gräser und Bäume vergeben sind?« »Darüber reden wir später«, berichtigte Gelber Mondsohn. »Vorläufig hast du nicht mit Strafverfolgung zu rechnen.« »Was mich zur Kernfrage bringt«, sagte ich entschlossen. »Was soll ich tun? Am liebsten würde ich starten und euer Planetensystem für immer verlassen.« Ein Zustand begann mich zu ergreifen, den ich gut kannte. Es war eine besondere Form der Resignation. Bisher war es mir immer wieder, wenn auch unter Lebensgefahr und unsagbaren Mühen gelungen, zu überleben und etwas zu bewirken. Änderungen, die im Sinn der Kosmokraten waren. Änderungen, die ein besseres Leben ermöglichten oder die furchtbare Gefahr des Doppelgespanns EVOLO und Erleuchteter verringerten. Hier herrschte eine ganz besondere Form des Chaos. Ich ahnte, daß meine Bemühungen zwecklos sein würden. Aber noch gab es Chancen. »Kämpfe mit uns zusammen. Benütze dein Schiff als Waffe. Treibe den Bewahrern den verderblichen Übermut aus.« »Warum sollte ich einer Partei auf Kosten der anderen helfen?« erkundigte ich mich, nicht im mindesten überzeugt. Die nächste Antwort gab Dyodora in herausforderndem Ton. »Weil es unsere Leute waren, die in die Felsenhöhle der Traktorstrahl-Station eingedrungen sind. Sie haben die Bewahrer festgenommen. Wir haben den Traktorstrahl abgeschaltet. Dann erst hast du hier landen können.« Da hast du eine weitere, aufschlußreiche Erklärung, wisperte der Logiksektor. »Jetzt sehe ich ein wenig klarer«, erwiderte ich. »Bei dem Angriff mit dem Traktorstrahl wurde mein Begleiter schwer verletzt. Er liegt besinnungslos oder im Heilschlaf im Schiff.« Sofort bot sich Dyodora an.
»Ich komme mit dir. Ich kenne alle Heilkräuter. Warte ein paar Stunden, und er wird wieder gesund sein und ein neuer Freund des Chlorophylls.« »Das wage ich zu bezweifeln«, erwiderte ich und spürte einen neuen, noch leichten Schub der melancholischen, von tiefster Skepsis erfüllten Stimmung. »Wenn das Schiff startet«, sagte ich zögernd, »werden andere Stationen auf uns feuern.« »Denn sie sind ja überall auf dem Planeten verteilt, wie ihr sagt«, meinte Chipol. Seine Reaktionen waren bemerkenswert. Ich hatte gelernt, sein Verhalten ziemlich genau zu deuten. Vermutlich war es seiner starken Mutantenabneigung zuzuschreiben, daß seine Ahnungen häufig . richtig waren. Er hatte schnell eine Auswahl aus den mindestens zweieinhalb Dutzend Speisen getroffen und aß einen Teil mit Vergnügen und gutem Appetit, das andere betrachtete er als zu exotisch und stocherte lustlos darin herum. Die beiden Kraupper indessen schien er nicht sonderlich zu mögen. Bisher hatte er nicht ein einzigesmal gelächelt. »Das denke ich auch.« »Wir zeigen euch die Flugwege und die Schneisen, in denen sie euch vielleicht sehen, aber auf keinen Fall angreifen können. So gut ausgebaut sind ihre Festungen auch wieder nicht.« »Sagt es doch gleich«, meinte überraschend der Kleine. »Ihr wollt nur in unser Schiff hinein.« »Anders ist eine Zusammenarbeit schwer vorstellbar«, entgegnete Mondsohn Dyodor trocken. Ich mußte ihm recht geben. »Es läßt sich darüber reden«, wich ich aus. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Hyptons schon vor weitaus mehr als acht Jahren hier ihr Unwesen trieben und ihre posthypnotischen Einflüsterungen aussäten, war mehr als groß. Der Fund der »Arbeitsroboter« mochte zufällig gewesen sein. Jener ominöse einzelne Robot konnte eine ihrer Schöpfungen sein, ein »Stahlmann« also. Und die schlimmsten Bewahrer der Ungebundenheit – welch
ein doppelbödiger Ausdruck! – waren die ehemaligen Hüter des Chlorophylls. Ich stand auf, nahm meine große Teeschale mit und ging langsam im Raum hin und her. Überall trafen meine Blicke auf die Ergebnisse einer großen handwerklichen Kultur. Aber wie hatten sie es beispielsweise geschafft, mit Schnitzmessern und Sägen Holz zu bearbeiten, ohne vorher Erz geschürft, verhüttet und geschmiedet zu haben – und ohne während dieser Veredelungsprozesse die Natur zu schädigen? Ich schob diese Überlegungen zur Seite. Sie waren für mein Vorhaben ohne jede Bedeutung. »Ich habe das Problem, daß ich keinem von euch glauben kann«, sagte ich. »Der geringste Fehler kann mich töten und den Jungen dort. Ich kann nicht gegen einen Planeten kämpfen.« Ich blinzelte. Wieder drang der Blütenstaub in meine Nase; eine Mischung aus Honigduft, Pfeffer, ätherischen Ölen und unbekannten Substanzen. »Ich muß daran denken«, sagte ich langsam, »zu meinem kranken Kameraden zu gehen. Er braucht mich.« »Soll ich mit dir gehen?« fragte Dyodora und blickte Chipol an. Er nickte selbstbewußt in die Richtung der jungen Frau. »Meinetwegen. Du kannst natürlich jederzeit das Schiff verlassen, wenn du es für nötig hältst«, sagte ich und nahm einen letzten Schluck des bitter-säuerlichen Tees. Es war tatsächlich so: ich merkte, daß mich eine depressive Stimmung zu packen versuchte. Ich verbeugte mich kurz und sagte zu Mondsohn Dyodor: »Danke für das Essen. Ich werde über deine Worte nachdenken. Dazu brauche ich Ruhe. Noch eine Frage. Warum haben die Bewahrer mich und das Schiff nicht wieder angegriffen?« Er stieß ein Geräusch aus, das ich als ironisches Lachen erkannte. Was war mit meinen Augen und dem Gleichgewichtssinn los? »Glaube mir«, dröhnte seine Stimme in tiefer Sicherheit, »sie planen es. Sie werden es bei der nächsten Gelegenheit versuchen.«
»Ich richte mich danach. Bis bald, Mondsohn Dyodor.« »Ich hoffe, daß wir uns bald unter anderen Voraussetzungen sehen«, schloß er. Ich folgte Chipol und Dyodora und fühlte, wie der Boden unter meinen Sohlen zu schwanken schien. Ich klammerte mich am Geländer fest. Die Sonne brannte bereits auf den Boden, die Bäume warfen lange Schatten, und das grelle Licht wirkte auf mich wie ein Hieb in den Nacken. Ich taumelte, fing mich wieder und erkannte, daß ich von irgendeiner fiebrigen Krankheit befallen war. Der Zellschwingungsaktivator würde mich wieder kurieren. Aber der Weg zum Schiff wurde zu einem Alptraum. Brach ich hier zusammen, konnte mich jeder halbwüchsige Hüter oder Bewahrer gefangennehmen und entwaffnen. Ich würde wehrlos sein. Meine Schritte wurden schneller, meine Stirn begann zu glühen. Ich keuchte und erreichte Chipol, der sich leise mit Dyodora unterhielt. Der Kiesweg schien breiter zu werden, zog sich wieder zu einem schmalen Pfad zusammen, und das Schiff ragte plötzlich wie in gewaltiger Berg aus Metall vor mir auf. Ich taumelte, meine tiefen Atemzüge wurden lauter und keuchender. Vom Zellaktivator gingen warme, pulsierende Ströme aus. Ich schwankte wieder und sah plötzlich, daß die Rampe nur noch ein paar Meter vor mir war. Chipols Kopf ruckte plötzlich zur Seite, er riß die Augen weit auf und fragte entsetzt: »Atlan? Ist dir übel? Dein Gesicht …« »Es ist nichts. Ins Schiff, schnell«, sagte ich drängend. Ich verstand meine eigene Stimme nicht mehr. Meine Lungen begannen zu stechen. Schritt um Schritt schleppte ich mich weiter, taumelte nach vorwärts und genau in die Strukturlücke des Schirms hinein. Chipol klammerte sich an mich und schleppte mich die Rampe hinauf, und immerhin war ich noch in der Lage, zu registrieren, daß Dyodora hinter uns ging und noch immer lächelte. Das Lächeln erschien mir in meinem seltsamen Zustand so, als sei es Ausdruck ihrer
Zufriedenheit. Chipol schleppte mich ins Schiff und bugsierte mich schließlich in den Raum der Zentrale. Ich fiel in einen Sessel, den Chipol nach hinten umklappte. Mit tauben Lippen formulierte ich eine Anordnung. »Bringe Dyodora zu Mrothyr. Bleibt dort. So lange wie möglich.« »Ja, aber … in Ordnung. Ich halte sie bei Mrothyr fest.« Ich verlor mehr und mehr die Herrschaft über meine Sinne. Ich schloß die Augen und lauschte in mich hinein. Irgendein Gift raste durch meinen Kreislauf. Gift? Waren die Speisen vergiftet gewesen? Nein. Alle haben von allem gegessen. Sitzordnung war willkürlich, dröhnte der Extrasinn. »Schiff? STERNSCHNUPPE? Hörst … du … mich?« fragte ich erschöpft. »Ich höre. Was kann ich tun?« Der Zellaktivator arbeitete wie nie zuvor. Glühende Ströme schienen meine Haut zu versengen und den Körper zu kochen. Ich sagte mühsam, mit langen Pausen, fast unfähig zu klarer Überlegung, an allen Gliedern zitternd und von kaltem Schweiß überströmt: »Notruf. Auf gebräuchlichster Frequenz.« Lange Pause. »Rufe ANIMA. Sie ist irgendwo, ich fühle es. Sage ihr vom Treffen mit Colemayn. Auf …«, ich hatte den Namen vergessen und suchte ratlos in meinen Erinnerungen, »… auf Thorrat.« Ich fügte ein paar Wörter hinzu, die mir irgendwie aufgefallen und wieder eingefallen waren. »Kodiere es für ANIMA, mein Schiff. Nur sie soll's verstehen können. Ich brauche, was Zulgea von Mesanthor brauchte. Damals.« Wieder versank ich in eine kurze Bewußtlosigkeit. Ich kam wieder hoch, riß mühsam die Augen auf und sprach stotternd weiter. »Sage ihr, wo wir sind. Versteckt, verdeckt. Rufe ANIMA um Hilfe.« Die Antwort verstand ich nicht mehr. Welchen Text
STERNSCHNUPPE tatsächlich abstrahlte, erfuhr ich in dieser Zeit nicht. Ich fiel in eine tiefe, alptraumartige Bewußtlosigkeit. Wirre Erlebnisse aus Vergangenheit und Gegenwart bildeten Horrorträume. Ich erwachte immer wieder und schlug wild um mich. Wieviel Zeit verging, wußte ich nicht. Ich fand mich wieder neben dem Kontursessel. Ich öffnete meine Augen und sah einige Handbreit vor meinem Gesicht die farbenfrohe Blüte, die Dyodora mir angeheftet hatte. Die Blüte war versengt und verdorrt. Der Stengel mit den einst hellgrünen Blättchen war zusammengekrümmt, aus den Blättern waren lange, nadelartige Ranken geworden. Ich richtete mich auf Knie und Hände auf, packte die häßliche Pflanze und trug sie zum Abfallkonverter. Es knackte scharf, als ich sie hineinwarf. Noch immer waren meine Lippen trocken wie Papier. Meine Zunge hatte sich in etwas Dickes, Gefühlloses verwandelt. Das Fieber schüttelte meinen Körper. Noch immer befand ich mich im Zugriff der Träume. Ich schaffte es, taumelnd und schwankend aufzustehen. Ich schleppte mich zum Sessel und nahm aus dem Augenwinkel wahr, daß sich in meiner Nähe ein Robot bewegte, Stahlmann? Chipol? Ein Medorobot des Schiffes? Ich sackte schwer im Sessel zusammen und stöhnte ein Wort. Dann verlor ich wieder die Herrschaft über mich. Mein Verstand glitt in einen seltsamen Wachtraum ab. Ich befand mich auf einer riesigen Ebene. Sie war völlig ßach, wie eine geschickte Dekoration oder der dreidimensionale Ausschnitt eines phantastischen Bildes. Hartes, kaltes Licht strahlte senkrecht von oben herab. Ich lag flach auf der gelben Fläche. Riesengroß und nur ein paar Armlängen entfernt befand sich in dem gnadenlosen Licht eine bizarr
geformte, vielfarbige Blüte. Die Blüte der Vandalpflanze, wußte ich plötzlich. Als ich aufstehen wollte, stellte ich fest, daß sich mein Körper in Embryonalhaltung zusammengekrümmt hatte. Unter unsäglichen Anstrengungen konnte ich mich strecken und kam auf die Füße. Ich ging mit kleinen Schritten auf die Vandalblüte zu. Je näher ich ihr kam, desto kleiner wurde sie. Meine Knie zitterten. Ich bückte mich und versuchte, die Blüte aufzuheben. Als ich mich nach vorn beugte, packte mich ein rasender Schwindelanfall. Ich stützte mich mit einer Hand am Boden ab und tastete mit der anderen nach der Blüte. Unter meinen Fingern wurde sie kleiner und begann sich aufzulösen. Ihre Blätter und Blütenteile rieselten als feiner Staub zu Boden und bildeten merkwürdige, zufällige Muster und Linien. Ich erschrak trotz meines schlechten Zustands, als ich sehen mußte, wie sich die staubförmigen Reste der Blüte veränderten. Es schienen winzige Tierchen daraus zu werden, die nach allen Richtungen davonrasten. Fassungslos starrte ich hierhin und dorthin; die Dinge verschwanden vor meinen Augen. Ich stand wieder allein im Mittelpunkt der phantastischen Szenerie. Trotz des verwirrten Verstandes und der schlechten körperlichen Verfassung war ich in der Lage, zumindest einen klaren Gedanken zu fassen. Ich mußte weg. Möglichst weit, möglichst schnell. Je eher ich mich dazu entschloß, desto sicherer war mein Leben. Jemand rüttelte mich. Ich kam zu mir, aber ich spürte schon bei den ersten Bewegungen, daß ich völlig kraftlos war. Mondsohns Tochter beugte sich über mich. »Du bist wach! Du warst krank – einige Stunden lang.« Ich versuchte, in ihrem Gesicht einen Beweis für meine Ahnung zu erkennen. Stück um Stück fügte mein Gedächtnis die einzelnen Punkte zusammen. Ich war nach dem Essen im Haus des HüterAnführers zusammengebrochen. Jetzt, da ich daran dachte, spürte
ich auch wieder den Zellaktivator. Sein Wirken war noch immer fühlbar. Ich erinnerte mich eine Spur deutlicher. »Diese Blüte von dir … heißt sie Vandal?« Sie nickte und blickte mich verständnislos an. »Warum fragst du?« »Sie war reines Gift für mich. Hast du das gewußt?« Eine dumme Frage. Aber entweder war sie eine Meisterin in der Verstellung, oder diese Blüte war für die Planetarier alles andere als lebensgefährlich. »Nein. Wir haben sie immer im Haus.« »Ich wäre beinahe daran gestorben«, stellte ich fest und ließ es zu, daß sie mir half, mich halb aufzurichten. Chipol war herangekommen und betätigte den Sensorschalter. Die Rückenlehne des Sessels hob sich geräuschlos, bis sie an Nacken und Rücken anstieß. »Es tut mir leid. Ich wollte dir nur eine kleine Freude machen. Eine Geste der Freundschaft.« Und dabei hatte sie eine Pflanze beschädigt, sagte ich mir. Plötzlich sprach das Schiff. »Ich habe den Notruf ausgestrahlt. Aber ich weise darauf hin, daß die Adressatin ANIMA kaum zugehört haben dürfte. Rechne also nicht mit einem Erfolg.« Jetzt erinnerte ich mich. Ich hatte wohl tatsächlich um Hilfe gebeten. Für den Augenblick war es unsinnig, daß ich mich darum kümmerte. Chipol sagte: »Mrothyr geht es etwas schlechter. Er liegt wieder im Tiefschlaf. Dyodora will mit ihren Kräutern helfen.« »Bringe mir ein paar Becher von diesem Kortimmo«, bat ich ihn. »Und eine Ration Konzentratnahrung.« »Sofort.« Ich schloß die Augen und dachte nach. Wenn die Aussage des verstörten Daila richtig war, dann befanden wir uns an einer
interessanten Stelle nahe dem Kern der Galaxis Manam-Turu. Die Daila von Aklard waren entschlossen, die unbekannten Sonnensysteme dieser Einhundert-Lichtjahre-Raumkugel abseits dem Kernzentrum zu erschließen und mit den neuen Planetenvölkern Handel zu treiben. Und dabei würden sie zweifellos auf die zahlenmäßig kleine Gruppe der Ausgestoßenen treffen – jene Unglücklichen, die nun keinen Grund mehr hatten, sich ausgestoßen zu fühlen. Auch das war im Augenblick nicht mein Problem. Ich stürzte zwei Becher herunter und verschlang den würzig schmeckenden Riegel. Ich war also wieder allein mit all den Problemen, und logischerweise gab es auch keine ANIMA. Niemand würde mir helfen. »Nun denn«, murmelte ich und nickte der wartenden Kraupperin zu. »Hole deine seltsamen Arzneien. Dann werden wir etwas unternehmen, das den Hütern des Chlorophylls nützt und die Bewahrer ärgert. Daraufhin werden vielleicht die Bewahrer mit mir sprechen wollen. Ohne Waffen.« »Du läßt mich wieder ins Schiff?« fragte sie. »Ja. Was ich brauche, ist ein abgerundetes Bild der Lage. Ich kann es nur finden, wenn ich mich mit unzähligen Leuten von Kraupper unterhalte. Laß dir Zeit – ich brauche einige Zeit, um mich zu erholen.« »Ich werde meinem Vater alles berichten. Warte auf mich«, sagte sie und ging mit schnellen, energischen Schritten hinaus. Ihr dünnes Kleid flatterte und zeigte mir ihre makellosen Beine. »Hast du tatsächlich einen Plan, Atlan?« fragte mich Chipol. Ich nickte langsam. »Ja. Aber ich wünschte, er wäre besser. Dann würde er vielleicht funktionieren.«
6. Mit einem intelligenten Feind ist man jedenfalls besser dran als mit einem stupiden Freund. Ich kann Tuffelsyt nicht vorwerfen, mich in dieser Hinsicht zu enttäuschen. Immerhin ist seit dem Eintreffen des Notrufs seine Gier nach einem gewinnbringenden Verkauf von Atlan wohl geschwunden, ebenso seine Überzeugung, seine Finanzen mit einem einmaligen Coup zu sanieren. Er ist sogar zu so etwas wie einer vernünftigen Unterhaltung fähig – sensationell! Was wird er sagen und tun, wenn er Atlan gegenübersteht? ( Colemayns Sternentagebuch )
* Bisher hatte gegen die Nervosität immer das Kauen würzigen Tabaks geholfen. Auch sonst war er ein willkommenes Genußmittel. Jetzt fehlte er mir wirklich. Ich stützte beide Unterarme auf die breite Kante des Steuerpults und studierte die Sterne, die sich auf dem holografischen Schirmbild abzeichneten. Es war mir gelungen, aus den positronischen Speichern den Ausgangspunkt des Hilferufs herauszufiltern. Irgendwo von dort vorn, in einem Gebiet der Galaxis, hinter dem sich deutlich die enger zusammenstehenden Sonnen und Gasansammlungen, die leuchtenden Filamente und eine verwirrende Vielzahl von phantastischen Kontellationen abzeichneten – von dort vorn war das Signal gekommen. Ich hatte die Auswahl zwischen mindestens fünfzig Sonnen. Wo war Atlan? Wo befand sich der Besitzer dieser künstlichen Stimme, die den Text des Hilferufes gesprochen hatte? »Tuffelsyt!« rief ich. Die NACHTJAGD trieb in unterlichtschnellem Flug geradeaus. Wir befanden uns also ungefähr dort, wo der »Nukleus« von Manam-Turu begann. Es half nichts: Ich mußte das fremde Schiff
noch einmal rufen. Nicht das fremde, das andere Schiff. »Was brauchst du?« fragte der Pharster und stellte unaufgefordert einen Plastikbecher Wein vor mich hin. Ich nickte ihm dankend zu und sagte: »Wir sind im Zielgebiet. Um herauszufinden, wo dein Verkaufsartikel und mein Freund ist, muß ich einen Funkspruch absetzen. Wenn ich die Antwort einpeilen kann, kennen wir den Planeten, auf dem Atlan wartet. Oder jedenfalls war er vor kurzer Zeit dort.« »Warum fragst du mich?« »Weil wir uns vermutlich in Gefahr begeben. Wenn wir es vorher nicht wissen – gut. Aber hier liegt es auf der Hand. Ich gehe demokratisch vor. Bist du mit von der Partie?« »Selbstverständlich!« »Geht in Ordnung«, sagte ich. »Ich schwöre dir, daß ich dich erwürge, wenn du mir die Schuld gibst, falls etwas passiert.« »Zuerst habe ich mich geärgert«, sagte Tuffelsyt schrill, aber in einem ungewohnt ruhigen Ton. »Jetzt nicht mehr.« »Worüber?« »Über deine wortlose Bereitschaft, zu helfen. Obwohl du krank warst. Sehr krank.« Jetzt war ich völlig verblüfft. Tuffelsyt spielte den besonnenen, kameradschaftlichen Raumfahrer besser als ich den Sternentramp.
* Lautlos, nicht mehr als ein Partikel in der endlosen Weite des Weltraums, raste der kleine Diskus weiter. Sämtliche Empfänger waren eingeschaltet und auf höchste Empfindlichkeit gestellt. Die nadelgespickte Schale des Senders hatte sich hinter der Verkleidungskappe hervorgeschoben. Colemayn hatte sämtliche Schaltungen und Einzelheiten wohl
durchdacht. Er ließ den Unterbrecherschalter des Mikrophons los und sagte: »Der Reimeschmied ruft. Antworte, Arkonide. Wo steckst du?« Er ließ den Schalter wieder los und nahm die Sendeenergie zurück. Atemlos wartete er. »Und wenn du keine Antwort bekommst?« machte sich Tuffelsyt in der anderen Ecke des Pultes bemerkbar. Colemayn legte den Finger an die Lippen. »Still.« »Gelbe Sonne Evdam-Tur. Dritter Planet Kraupper. Nicht landen.« Colemayn grinste breit. Er hatte schon beim ersten Wort die Vocoderstimme wiedererkannt. Also sprach ein Roboter für Atlan. »Verstanden«, sendete er. »Schwierigkeiten?« »Zahlreiche. Planetenforts. Traktorstrahlen. Klar?« »Fast. Arkonide in Ordnung?« »Weitestgehend. Ende.« Die Anzeigen des Senders schnellten ebenso zurück wie die des Empfängersignals. Der Funkkontakt war in der kürzest möglichen Zeit abgewickelt worden. Colemayns Finger zeigte auf eine der Sonnen in mittlerer Entfernung. »Das ist sie. Wir haben ihn, Tuffel!« »Dann dauert es also nicht mehr lange, bis du deinen Freund triffst, Kileimeinn.« »Ich hoffe es.« Der Sternentramp bestimmte Entfernung und Kurs zu der Sonne, die der Empfänger angemessen hatte. Dann führte die NACHTJAGD eine kurze Linearetappe durch und verringerte ihre Fluggeschwindigkeit etwa fünfzehn Astronomische Einheiten vom Zentralfeuer des Planetensystems entfernt. Der Evroner hob den Becher und sagt zu Tuffelsyt: »Das ist so, mein Freund und Mitastronaut: Atlan ist auf dem dritten Planeten und hat dort, wie gewöhnlich, etliche
Schwierigkeiten. Ich setze voraus, daß er nichts von uns weiß, aber unsere Hilfe braucht. Die Gefahr, daß ein solch winziges Raumbötchen mit einem auch nur mittelmäßigen Traktorstrahl heruntergeholt wird, ist sehr groß.« »Du riskierst viel für Atlan.« Colemayn blickt den Pharster lange an und sagte dann in ungewohntem Ernst: »Ich habe dasselbe für dich riskiert. Und nicht nur einmal, wenn ich richtig gezählt habe. Keine Angst; zusammen mit Atlan und mit seiner Hilfe wirst du reich, auch wenn du den Arkoniden nicht an deine Sippe im Basar verschachern kannst. Überdies geht es dir jetzt und hier sehr viel besser als zu jedem anderen Tag in deinem Leben.« Die Ortungsschirme zeigten nach und nach die verarbeiteten Informationen. Während Colemayn auf eine unsachliche Antwort des nachdenklich gewordenen Tuffelsyt wartete, summte er fröhlich ein Lied. Es war wie immer: nach dem Vorbeizug der Krankheit fühlte er sich, als könne er Felsen umrennen. »… still ist es in der Steuerkammer, und dennoch wird die Kehl' mir klammer …« Der Planet Kraupper hatte einen Mond. Wenn tatsächlich der Weltraum innerhalb des Systems beobachtet und von Traktorstrahlen kontrolliert wurde, konnte Colemayn einen der ältesten Tricks anwenden. Er ließ errechnen, wie lange der Mond für eine Umkreisung brauchte, schlug einen Kurs vor, ließ die verschiedenen Bahnkreise und Parabeln projizieren und beseitigte die wenigen Irrtümer des Rechners. »Ein Landstreicher«, sagte er, förmlich glühend von der Vorfreude, endlich am Ziel seiner Odyssee zu sein, »ist ein Mann, der unterwegs zu Hause ist. Beim Robotregenten! Das wird ein Besäufnis werden!« Dann wurde er wieder ernst. Bisher hatte er nicht gewußt, ob Atlan in Gefahr war oder nicht.
Jetzt wußte er, daß sich Atlan in einer wenig guten Lage befand – wie immer sie sich darstellte. Deswegen war er in Sorge. »Es gibt keine Eile. Begreifst du, wie wir den Anflug gewählt haben?« erkundigt er sich. »Uralte List.« »Du versuchst«, meinte Tuffelsyt und versuchte alle Einzelheiten der Computergrafik im dreidimensionalen System richtig zu begreifen, »die Linie zu finden, die vom Planeten zum Mond und darüber hinaus ins All geht. Zwischen dem Ziel und uns befindet sich dabei immer der Mond.« »Du hast mitunter äußerst kluge Gedanken. Genau das tun wir. Start.« Die NACHTJAGD beschleunigte, änderte binnen weniger Sekunden ihre Flugbahn und raste davon. Sie beschrieb zunächst eine Kurve von fast hundertachtzig Grad, dann schwenkte sie in eine Gerade ein. Die Ortungsechos verschoben sich zueinander. Das kleinere, der noch namenlose Mond, und das größere, verschmolzen miteinander. Während der Mond sich scheinbar vergrößerte, versteckte sich der Planet dahinter. Einige Handvoll Minuten vergingen. Tuffelsyt und Colemayn beobachteten schweigend die Bildschirme. Einige Funksprüche gingen ein. Sie hatten nichts mit Atlan oder dem neuen Objekt zu tun, das auf Kraupper zuflog. Einmal erschien neben dem Mond ein Echo; es mußte ein kleines Raumschiff sein, das einen Orbit um den Himmelskörper einschlug. »Was sucht Atlan eigentlich auf diesem Planeten? Und an den anderen Orten, wo wir ihn gesucht haben?« Colemayn sagte: »Er versucht zu verhindern, daß eine ganze Galaxis im Chaos versinkt. Interessiert es dich? Gut. Dann werde ich es dir in groben Zügen erzählen. Ich selbst begreife es nämlich auch noch nicht völlig.« Der Mond schob sich näher. Sonnenlicht und Schatten
modellierten Vertiefungen, Ebenen, Krater und Spalten. An einigen Punkten der dunklen Seite strahlten Lichter. Die Vergrößerungen zeigten am Terminator eine Reihe von unterschiedlich großen Kuppelbauten und die silbernen Gitter von Antennenmasten. Der Planet war jetzt völlig hinter der Deckung des Mondes verschwunden. Aus weiteren Funksprüchen ließ sich heraushören, daß sich der Mondvermutlich Manicaa nannte. »Langsamer«, brummte der Sternentramp und drosselte die Geschwindigkeit ein weiteres Mal. Hinter der mächtigen, zerklüfteten Rundung schob sich das Ortungsecho eines Raumschiffs hervor. »Dort!« sagte Tuffelsyt. »Verfolgen sie uns?« Im selben Augenblick knisterten die Lautsprecher. Das Funkgerät war noch immer auf der hier gebräuchlichen Frequenz eingepegelt. Zuerst schenkten die beiden Raumfahrer den Worten keine gesteigerte Aufmerksamkeit, aber dann zuckte Colemayn zusammen und bewegte den Lautstärkeregler. »… wenn wir zurück sind, greifen wir an.« Ein andere Stimme. Das Klirren von Gläsern. Geräusche einer Unterhaltung. Die Antwort: »Ich weiß nicht, was interessanter ist. Der Fremde oder sein Schiff. Es ist ein Meisterwerk. Nicht einmal die idiotischen Daila hatten solche Konstruktionen.« »… wir haben Zeit.« »Woher weißt du's?« »Von den Männern, die sich mit Müsli, Obst, Säften und Tee jeden Tag im Dienst der guten Sache den Magen verderben.« »Ah. Unseren Agenten bei den Hütern der Chlorophyll-Stauden. Was sagen sie noch?« »Der Fremde hat mit diesem Mondsohn gesprochen. Und seine dumme Tochter, die nach einem Mann sucht, ging ins Schiff. Aber sie kam wieder heraus. Nicht mal der Fremde wollte sie.«
Ein Gelächter folgte, in das helle und dunklere Stimmen einfielen. Colemayn vergewisserte sich, daß die NACHTJAGD nicht sendete, dann flüsterte er: »Ein Vergnügungsflug. Vielleicht landen sie dort irgendwo bei den Gewächshäusern.« Die NACHTJAGD trieb im Schlagschatten des Mondes Manicaa schräg auf die zerklüftete Oberfläche des Gestirns herunter. Links von der Flugbahn befanden sich die Kuppelbauten. Sie waren hell beleuchtet, und die Raumfahrer sahen Gewächse und Wasserflächen auf den Schirmen. »Du solltest dich verstecken. Ich meine, die NACHTJAGD verstecken. Hinunter!« rief Tuffelsyt aufgeregt. »Sonst sehen sie uns.« »Du hast völlig recht«, knurrte Colemayn und bewegte die Hebel der Steuerung. Der Diskus senkte sich, kippte nach vorn und schräg nach rechts. Die dunklen Ränder einiger schwarzgrauer Krater kamen näher. Aus den Lautsprechern dröhnten die Stimmen der Besatzung. Im anderen Raumschiff, das nicht viel größer sein konnte als Tuffelsyts Verbannungsboot, konnte Colemayn mindestens fünf Stimmen unterscheiden. Aber es konnten auch mehr sein, Pilot und Kopilot mitgerechnet. Colemayn bewies abermals, daß er ein hervorragender Pilot war. Das Diskusschiff hielt über der Mondoberfläche fast an, glitt dann zwischen einzelnen Erhebungen hindurch und pirschte sich dicht über dem schwarzen Boden auf den Punkt zu, an dem die »Gewächshäuser« standen. Im Augenblick waren sie nicht sichtbar. Aber die Unterhaltung ging weiter: »Früher oder später wird der Fremde einen Fehler machen. Dann stürzen wir uns auf ihn.« »Hyp-A-Viervierzwei wird uns sagen, wie es am geschicktesten anzufangen ist.« »Diese Hüter! Sie haben es tatsächlich geschafft. Mitten in der
Traktorstrahl-Aktion überfielen sie uns.« »Und ich sage dir: sie haben Spione und Anhänger unter uns.« »Aber nicht in diesem Schiff.« Wieder gab es Gelächter und Klirren. Fremdartige Musik ertönte. Die Insassen des kleinen Schiffes waren anscheinend auf einen Betriebsausflug. Colemayn wandte sich an den Pharster. Tuffelsyts Fell glänzte; er hatte es während des langen Fluges gepflegt. An seinen sechs Gliedmaßen trug er wieder die metallenen Schmuckelemente. »Begreifst du jetzt, was auf Kraupper los ist? Sie haben Atlan mit einem Traktorstrahl heruntergeholt. Das würden sie auch mit uns gemacht haben. Zwei Gruppen bekämpfen sich gegenseitig auf dem Planeten.« »Wir steuern mitten in die Gefahr«, sagte Tuffelsyt. Dann stieß er ein helles Gelächter aus. »Es ist schwer, ein gutes Handelsobjekt zu erwischen. Ich halte mich an dich. Du weißt immer einen Ausweg.« »Schön wär's«, antwortete der Sternentramp und ließ die NACHTJAGD höher steigen. Hyp-A-442, sagte sich Colemayn und war überzeugt, daß die Bezeichnung auf einen Roboter hindeutete, das mußte etwas mit den Hyptons zu tun haben. Die Hyptons, die Ligriden und das Neue Konzil … Er wurde abgelenkt. Der größte Kuppelbau tauchte hinter einer Reihe Felsen auf. Das Raumschiff schwebte von links auf eine Schleuse oder einen überdachten Tunnel zu. Ungefähr ein Dutzend riesiger Scheinwerfer blendete auf und überschüttete einen Teil der grün schimmernden Hülle und den Bereich davor mit greller Helligkeit. »Wir haben eine gute Chance«, sagte Colemayn und bugsierte den Diskus langsam um die erste Kuppel herum, so daß sie sich zwischen dem anderen Raumboot und der NACHTJAGD hochspannte. Der Durchmesser betrug mehr als dreihundert Meter, die Höhe rund zweihundert. Das Material wirkte wie Glas, leicht milchig und
fugenlos. Im Innern breitete sich eine Landschaft aus, völlig grün, durchstrahlt von sonnenähnlich leuchtenden Lampen. Es gab einen breiten Bach, einen winzigen See, einige Bauwerke mit flachen, bewachsenen Dächern, und zwischen allen Einzelheiten ragten Felsen aus dem Urgestein von Manicaa hervor. Die kleineren Kuppeln, die sich in einer geschwungenen Reihe bis zu einem schroffen Felsabsturz hinzogen, waren ähnlich eingerichtet. In einem engen Kreis flog der Diskus bis vor den Eingang. Jenseits der Schleuse, die aus einer Serie von Schirmfeldern bestand, stand das andere Schiff. Es war mit dem Bug zum Ausgang abgestellt. Von den Krauppern war nichts mehr zu sehen. »Ein schnelles Schiff, anscheinend«, murmelte Colemayn. »Du mußt mir helfen, Tuffel.« »Was kann ich tun?« »Du mußt, nötigenfalls, unsere Kanonen bedienen. Ich werde den Rest versuchen.« »Mache ich.« Colemayn wußte, daß sein Plan die Ebene des Kalkulierbaren verließ. Aber es gab keine Wahl. Er mußte es riskieren. Er nickte Tuffelsyt zu und steuerte die NACHTJAGD im Schutz ihrer Schirme durch den Tunnel aus glasartigem Material. Er landete sie neben dem anderen Raumschiff und öffnete sofort die Schleuse. Die Leuchtfelder des Luftindikators blinkten in vertrauensvollem Grün. Zwei Luken öffneten sich in der Oberschale des Diskus, nahe dem breiten Nahtstreifen. Projektoren schoben sich hervor, zwei Zielschirme wurden hell, und die Bilder darauf begannen zu wandern, als Colemayn die Steuerhebel bewegte. Er deutete auf die roten Feuerknöpfe und erklärte Tuffelsyt, wie die beiden schwachenergetischen Strahlgeschütze zu bedienen waren. Dann stand er auf und kramte in seinem Rucksack. »Triff bitte nicht irrtümlich mich«, sagte er warnend. Er zog sein altertümliches Gewehr heraus, setzte es erstaunlich schnell
zusammen und schob dann das Schwert in den breiten Gürtel. »Sie sind sorglos«, sagte er hastig. »Wir wissen nicht, wie sie aussehen und wie sie bewaffnet sind. Ach … noch etwas.« Er huschte zurück zum Pult, klappte ein Fach auf und nahm ein Armbandfunkgerät heraus. Er bog die Klemmen auf, bis sie über sein linkes Handgelenk paßten. Dann stellte er am Gerät und am Pult die Frequenzen ein. »Funkverbindung zwischen uns. Klar?« »Viel Glück!« sagte der Pharster. Gebückt verließ Colemayn mit entschlossenen Schritten das Schiff, schlug mit der Stirn gegen den Rahmen des Schottes und turnte leise fluchend die Rampe hinunter. Die Luft war frisch und roch hervorragend nach der langen Zeit innerhalb des Schiffes. Ein Pfad, zweieinhalb Meter breit und aus polierten Platten des Mondgesteins, verzweigte sich nach fünfzig Metern. Colemayn rannt zum Schiff hinüber und sah, beide Läufe der Waffe ladend, daß auch dieses Schott weit offen stand. Es war auf Wesen von seiner Größe zugeschnitten. Das Schiff selbst wirkte wie eine Wespe ohne Flügel, mit kantigen Formen und silbern, schwarz und gelb gestreift. Eckige Fensterflächen unterbrachen die strenge Geometrie der Konstruktion, die auf zwei ausgefahrenen Kufen und zwei Auslegern ruhte. Das abkühlende Metall im Triebwerksbereich knackte scharf. Zum erstenmal bemerkte der Sternentramp, daß die Konstrukteure dieses lunaren Paradieses sogar für unregelmäßigen Wind gesorgt hatten. Die Zweige und dünneren Äste der Sträucher, Büsche und Bäume waren in ständiger Bewegung. Colemayn drang über die Leiter ins Innere des Raumschiffs ein. Sämtliche Beleuchtungskörper waren eingeschaltet. In einer riesigen Kabine herrschte mittleres Chaos. Überall standen und lagen Gläser herum. Einige waren zersplittert. Der Geruch von Alkohol hing in der Luft, dünner Rauch stieg aus konischen Töpfen auf und wurde zu den Gittern der
Klimaanlage transportiert. Hier lag ein Stiefel, dort ein Überkleid, dort eine Waffe – mit einem Satz war Colemayn dort und hängte sich den Waffengurt über die Schulter. Ochsenblutfarbenes Leder kontrastierte scharf mit dem Olivgrün seines mehrfach geflickten Hemdes. Er schlich auf die offene Verbindungstür zu. Dahinter befand sich die Steuerkanzel. Beide Sitze waren leer. Schweigend betrachtete Colemayn die Instrumente, Armaturen und Griffe der Steuerung. »Tuffel!« flüsterte er scharf. »Ich bin im Schiff. Alles in Ordnung. Ich habe eine Waffe gefunden. Sie waren wirklich auf einem Lustflug. Ich glaube, ich kann das Schiff steuern.« »Verstanden. Kann ich dir helfen?« »Noch nicht. Warte und beobachte alles scharf. Ich verlasse mich auf dich.« »Gut.« Colemayn fand noch eine Waffe. Beides waren Strahler und wirkten energiereich und einfach – wie die Schiffssteuerung. Er schob die zweite Waffe in den Gürtel neben sein Schwert, behielt die erste in der Hand und sprang aus dem fremden Schiff. Er blieb im Schutz eines Busches stehen, lauschte auf die ferne, dröhnende Musik und das kreischende Gelächter und musterte die Waffe, die seltsam vertraut in seiner Hand lag. Also schienen die Kraupper große Ähnlichkeit mit ihm zu haben. Er fand den Auslöse- und Sicherungsmechanismus, richtete die Waffe auf den nächsten Busch und drückte ab. Ein scharfes Fauchen ertönte; ein rotleuchtender, laserartiger Strahl spannte sich. Die Pflanze schüttelte sich und ließ alle Blätter sinken. »Lähmwaffe. Tuffel! Ich dringe jetzt ins Haus ein. Vermutlich werde ich Zeuge einer exotischen Orgie. Ich erzähle dir nachher, wie's war.« Colemayn rechnete, wie meist, mit unliebsamen Überraschungen, also wählte er einen anderen als den vermutlich direkten Pfad zu den Häusern. Er kam an dem gluckernden Gewässer vorbei, rannte
den wild überwucherten Tümpelrand entlang, tastete sich an den bizarren Mondfelsen vorbei und überquerte eine Brücke aus einem meisterlich behauenen Steinbrocken. Offensichtlich Arbeit einer Maschine, denn eine solche sterile Gleichmäßigkeit kannte kein Künstler. Auf einem Zickzackpfad, der über künstlich modellierte Hügel führte und eine Treppe aus wuchtigen Holzbohlen erreichte er das Haus. Riesige, langgezogene Fenster waren von dem indirekt angeleuchteten Grün mit aber Tausenden vielfarbiger Blüten überwuchert. Den Eingang brauchte er nicht zu suchen; er folgte einfach dem rhythmischen Lärm. Immer wieder spähte er duch die Glasflächen. Er sah schließlich einen Kraupper. Etwa eine Minute lang starrte er ihn an und merkte sich alle Einzelheiten. Dann flüsterte er ins Mikro des Funkgeräts: »Die Planetarier sehen aus wie ich. Die Haut ist weiß, die Ohren sind spitz und tragen lange Haarbüschel. Das sind die wichtigsten Unterschiede – ja. Sie haben sechs Finger.« »Was tust du?« »Ich sehe ihnen zu, wie sie miteinander schäkern, tanzen und Unmengen von Alkohol in sich hineinschütten.« Colemayn wartete, für einige Augenblicke unschlüssig. Er rechnete, daß ein solider Rausch etwa zwölf, fünfzehn Stunden brauchte. Er hatte eigene Erfahrungen. Diese Zeitspanne würde sein Vorsprung sein. Mit dem fremden Schiff würde er den Planeten ungeschoren anfliegen und dort landen können. Er zählte einen Betrunkenen in diesem Raum – er schnarchte wie ein Holzfäller, ein Pärchen, das eng umschlungen tanzte und alle Zeichen der Dreivierteltrunkenheit zeigte, ein zweites Paar, das aufeinander einredete und trank – fünf! – und eine junge Frau, die gerade versuchte, einen jungen Mann zu verführen. Sieben Leute. Zweimal umrundete er geräuschlos und ungesehen das Haus. Es war mit allem ausgerüstet, was eine solche Anzahl von Personen für einen Wochenendausflug brauchte. In diesem Augenblick, als er sich von
einem Balken abstieß und einen weiten Sprung ausführte, erkannte er auch, daß der Mond eine überraschend hohe Anziehungskraft hatte. Sie war fast, auf seine Bedürfnisse übertragen, Planetennorm. Er beschloß, noch zu warten. Er wollte so wenig Gewalt wie möglich. Zuerst verständigte er Tuffelsyt von seinem Entschluß, dann kauerte er sich unter einen Busch und hoffte, daß die Betrunkenen ihm einen Schluck übriglassen mochten. Überdies begann er Hunger zu spüren. Und die Zeit lief ihm davon. Die Zeit nämlich, in der er nicht wußte, ob sich Atlan in einer tödlichen Gefahr befand oder nicht. Es gab keine Umschreibung dafür, welche Vorwürfe er sich selbst machen müßte, wenn etwas Ernsthaftes geschah und er nicht eingegriffen und geholfen hatte. Die Musik wurde leiser. Bisher hatte er nur geringfügig unter den fremden Klängen gelitten. Er sah, wie ein Paar davontaumelte. Minuten später wurde der Raum, in dem sie sich aufhielten, dunkel. Die Tanzenden tanzten noch immer. Seine Geduld wurde wieder einmal aufs Äußerste strapaziert. Nach mehr als einer Stunde, während aus unergründlichen Schallquellen weiterhin exotische Musik die halbe Kuppel erfüllte, waren alle Teilnehmer dieses Raumausflugs betrunken oder widmeten sich zwischenplanetarischen Beziehungen. Colemayn hatte die Lähmwaffe inzwischen restlos begriffen. Er richtete sich auf, ging langsam durch den weit offenen Eingang in das Bauwerk hinein und suchte die Kraupper. Er feuerte die schwachen, lähmenden Ladungen ab, schüttelte mehrmals leicht verwirrt den Kopf und entdeckte schließlich die Musikanlage. Er entschloß sich, sie nicht auszuschalten. Er sortierte seine Waffensammlung und roch an sechs Flaschen. Eine davon, fast voll, nahm er mit und erschien plötzlich in der Steuerkanzel der NACHTJAGD. »Das war's«, sagte er ruhig. »Wir haben mehr als fünfundzwanzig Stunden Vorsprung. Vergiß die NACHTJAGD, Tuffelsyt. Ich habe
so eine Ahnung, daß wir sie niemals wiedersehen.« Er verstaute das Schwert mit dem merkwürdigen Griff und sein auseinandergenommenes Gewehr wieder im Rucksack, packte dieses Behältnis mit pedantischer Überlegung und empfahl Tuffelsyt, mitzunehmen, was er nicht entbehren zu können glaubte. Es war in diesem Fall nur wenig. Der Pharster bohrte zwei neue Löcher in einen der beiden Waffengurte und schnallte sich den breiten Lederriemen um die Körpermitte. »Und jetzt?« fragte er. »Jetzt verlängern wir unseren Vorsprung. Wahrscheinlich werden sie versuchen, mit unserem Diskus zurückzufliegen.« »Ich habe verstanden«, sagte Tuffelsyt und fing an, systematisch die Einrichtungen des Pultes zu demolieren und zu demontieren. Kabel wurden zerschnitten, Schalter entfernt, Hauptschalter umgelegt und abgebrochen, Knöpfe und Regler unbrauchbar gemacht. Die Schirme und Anzeigen erloschen. »Hauptenergieanlage.« Colemayn hob die Falltür und nahm schwerwiegende Veränderungen an den Steuerelementen vor. Wenn es sich bei den Ausflüglern um Profis handelte, würden sie mit der NACHTJAGD – zusammengepfercht und mit bemerkenswerten Schwierigkeiten zwar – starten können. Wenn nicht, gab es andere Möglichkeiten auf einem Mond, auf dessen staubigem Boden sich Sendemasten und andere Kuppeln erhoben. »Haben wir alles?« fragte der Pharster nach einer halben Stunde. »Alles, was mein ist, trage ich bei mir«, antwortete der Sternentramp und hob seinen grünen, reichlich mitgenommenen Rucksack hoch. »Nur der Kautabak fehlt mir.« Er wirkte völlig verändert: heiter, ein wenig fatalistisch und sehr entschlossen. Tuffelsyt trippelte hinter ihm her. Sie verließen die völlig dunkle und lahmgelegte NACHTJAGD und liefen hinüber zum anderen Raumschiff. Colemayn warf seinen Rucksack in eine gepolsterte Ecke und bat den Pharster, die Wohnkabine flüchtig
aufzuräumen. Er selbst versenkte sich in schweigender Konzentration, hin und wieder einen kleinen Schluck dieses ausgesucht guten Alkohols zu sich nehmend, in die Schaltungen der Steuerung. Ein erster Schirm erwachte zu farbigem Leben, ein anderer, der dritte. Zeiger schnellten auf Uhren hin und her. Lichtbänder bewegten sich. Das Klicken der Schalter war das lauteste Geräusch, denn der Sternentramp hatte die Verbindungstür zugeschoben. Im Innern des Raumschiffs ertönten summende Laute; heller, mittel oder dunkel. Mechanische Teile bewegten sich. Das Schiff begann zu schweben. Die Kufen und Ausleger klappten geräuschvoll ein. Schotte zischten zu und öffneten sich wieder. Nur langsam kehrte Ruhe ein. Das Schiff hob und senkte sich, drehte sich hin und her und schob sich schließlich unendlich langsam auf den Schleusentunnel zu. »Wir haben's geschafft, Kileimeinn?« rief Tuffelsyt schrill als er auf den Bildschirmen erkannte, daß sie sich von der riesigen Kuppel entfernten. »Halbwegs«, meinte Colemayn. »Jetzt gilt es, Atlan zu finden.« Tuffelsyt schien sich wirklich radikal geändert zu haben. Der Sternentramp wußte, daß eine solche Änderung meist das Ergebnis eines furchtbaren, tief in die Psyche einwirkenden Schocks war. Davon hatte er nichts gemerkt. Er blieb skeptisch, nahm aber die Vorteile der Tuffelsyt-Verstellungskunst gern mit. Es war problemloser. Er deutete auf einen Teil der Anlage, die halb aktiviert, halb dunkel war. »Das nächste Problem zeigt sich dort. Das scheint die Funkanlage zu sein.« Das SCHIFF schwebte ungehindert durch den Korridor, geradeaus über ein Feld kleiner Krater innerhalb eines riesigen Kraters, schwebte höher und wurde schneller. Noch befand es sich im vagen Halbdunkel des Terminators, was Colemayns Erinnerung aktivierte: Es war einen Moment lang so wie auf Tuffelsyts Heimatplaneten
… unendlich weit entfernt mittlerweile. Je länger er steuerte, desto mehr gewann Colemayn die Fähigkeit, über den Antrieb des fremden Schiffes zu bestimmen. Immerhin: der Pilotensessel war weich, groß und bequem, einschließlich der doppelt handbreiten Automatikgurte. »Funkanlage! Müssen wir antworten?« »Wenn das Schiff keinen Transponder hat, keinen eigenen Kennimpuls aussendet«, sagte Colemayn. »Dann wird's unter Umständen kritisch. Überdies muß ich wissen, wo Atlan im Moment steckt.« Er brachte das Schiff auf einen Kurs, der auf den riesigen Planeten wies. Der Planet war groß, rund und wirkte durch seine Farben wie die ersehnte Heimat. Weiße Wolkenspiralen und flockige Strukturen, das tiefe Blau der Ozeane, das Grün, Braun und Gelb der Kontinente – es sah wie eine Einladung aus. Colemayn versuchte, während Tuffelsyt sich in dem vergleichsweise riesigen Kopilotensitz zusammenrollte, die Funkanlage zu begreifen. Das Schiff raste in gerader Linie, von Minute zu Minute schneller werdend, auf Kraupper zu. Plötzlich erwachten versteckte Lautsprecher. Ein Stimmengewirr erfüllte wieder die Pilotenkanzel. »Aha!« machte Tuffelsyt. Colemayn kratzte sich im Nacken und betätigte probeweise einen Schalter nach dem anderen. Er zuckte mit den Schultern und brummte unschlüssig: »Nicht ganz einfach.« Er sah Ziffern, Buchstabengruppen, leuchtende Felder und Potenzanzeiger. Schließlich stellte er eine Ziffernfolge ein und rief auf gut Glück: »Der Reimeschmied ruft Arkoniden. Eile!« Einige Sekunden hielt der Stimmenwirrwarr an, dann sprach wieder die bekannte Vocoderstimme. »Peilstrahl. Ebenfalls Eile! Wüste mit Strukturelementen.« »Wir kommen!«
»Große Vorsicht. Erleichterung. Kühnheit risikoreich!« »Verstanden. Voll in Tarnung«, sagte Colemayn und versuchte zu erkennen, was ihm dieser fremde Robot zu sagen versuchte. »Wir kommen.« »Lage prekär. Energisch auftreten.« »Verstanden. Ende!« Was war so ähnlich wie in der NACHTJAGD. Das Funkgerät arbeitete einwandfrei und ließ erkennen, daß der andere Teilnehmer des Simplex-Funkverkehrs auf der Tagesseite zu finden war, offensichtlich über einer Wüste. Atlan war in Gefahr! Und bisher hatten die planetaren Abwehrstationen das Schiff nicht als Fremdkörper definiert. Colemayn jagte den zweigeteilten Körper rücksichtslos auf den Planeten zu, durch die immer dichter werdenden Luft- und Wolkenschichten, auf die größte erkennbare Sandfläche zu, die sich in strahlendem Gelb zeigte. Der Boden kam näher. Tuffelsyt keuchte entsetzt und befürchtete einen Absturz, aber Colemayn zwang das Schiff in rasendem Flug auf den Ausgangspunkt des Funkspruchs zu. Auf den Nahortungsschirmen zeichnete sich ein annähernd diskusförmiger Körper ab. Ringsherum breiteten sich Dünen aus. Dem Sonnenstand nach war es etwa Mittag. Das Licht des Gestirns brach sich auf der Außenhaut eines Raumschiffs, das im Sand stand. Vom Schiff bis zu .einem flachen, breiten Fluß zog sich, den Geländemerkmalen folgend, eine Vertiefung hin. In diesem Kanal, dessen leere Teile wie glasiert wirkten, rollte eine Welle schmutzigschäumenden Wassers auf den Mittelpunkt einer Anlage zu, die tatsächlich »strukturiert« wirkte – es waren tiefgrüne Oasen, die einen großen Fleck umstanden. Colemayn zog das Schiff in die Höhe, in einen Kreis hinein, verringerte die Geschwindigkeit und umkreiste das andere Schiff. Es stand auf wuchtigen Stützen, die sich tief in den Sand eingegraben hatten, zwischen dem Oasenkreis und dem Zentrum. Colemayn landete sein Fahrzeug in der Nähe des anderen
Raumschiffs. Die Wedel von palmenartigen Bäumen hüllten die silbern-schwarzgelbe Konstruktion in ihren Schatten ein. Die Außenlinsen begannen zu arbeiten. Vergrößerungen bildeten sich auf den Schirmen. Colemayn sah in steigender Verwunderung und zunehmendem Entsetzen zweierlei: Durch den Kanal drang eine gewaltige Masse Wasser in die Mitte der großen Wüstenei. Die erste Welle berührte den Boden des Kanals und löste sich in weißen, brodelnden Dampf auf. Eine Karawane bewegte sich auf das Zentrum zu. Die Vergrößerung wurde schärfer und zeigte mehr Einzelheiten. Ungefähr hundert Kraupper, in phantastische Gewänder gekleidet, eskortierten zwei Personen. Sie alle trugen fackelartige Gegenstände, von denen schwarze Rauchwolken aufstiegen. Zwischen ihnen waren zwei Gestalten. Eine, die wie ein junger Mann aussah, und eine andere. »Nein!« schrie Colemayn, als er begriff, was er sah. »Das ist Atlan!« »Wer?« fragte stotternd der Pharster. »Der Mann. Mit weißem Haar. Sie wollen ihn umbringen!« rief Colemayn und packte die Hebel der Steuerung. Er sah, daß die riesige, kreisförmig den Sand bedeckende Pflanze in allen ihren tausend Blättern, Ranken und Dornen, Blüten und leuchtend roten Klebetropfen in eine zitternde und schüttelnde Bewegung geriet, die nichts anderes als schiere Gier ausdrückte. Einen Meter hinter Atlan schritt eine junge Frau. Sie war unendlich schön und trug einen verinnerlichten Ausdruck zur Schau. Das gesamte Arrangement war nichts anderes als eine Hinrichtung. Atlan und der dunkelhaarige Junge an seiner Seite waren mit groben Stricken gefesselt. Colemayn sagte in einem scharfen Tonfall, den Tuffelsyt während der langen Reise nur dreimal gehört hatte: »Ich greife ein. Egal, was daraus wird. Dort ist Atlan! Wir müssen ihn retten.«
Das Schiff hob sich wieder. Es kam auf die Spitze des Zuges zu, hinter sich eine riesige Sandwolke. Zwanzig Meter vor Atlan und dem Anfang des Opferzuges pflügte das Schiff eine tiefe Furche in den Sand. Kaum hatte es angehalten, sprang ein rothäutiger Fremder aus der Schleuse und begann aus einer fauchenden Waffe zu feuern. »Colemayn!« schrie Atlan und warf sich, den Jungen mit sich zerrend, zu Boden. Der Sternentramp schoß in alle Richtungen und rief: »Atlan! Endlich! Ins Schiff! Schnell!«
ENDE
Atlan hat im Zentrumsbereich von Manam-Turu ein Sonnensystem entdeckt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gruppe verbannter Daila beherbergt. Diese Wahrscheinlichkeit wird zur Gewißheit, doch der Kontakt mit den Daila selbst gelingt nicht so ohne weiteres. Denn da sind die Kraupper, die Ureinwohner des dritten Planeten, deren extreme Einstellung tödliche Gefahren für die Crew der STERNSCHNUPPE heraufbeschwört. Mehr darüber berichtet Hans Kneifel im nächsten Atlan-Roman unter dem Titel: DIE MÖRDERPFLANZE