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1. Auflage 1989 bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München Titelbild und Innenillustrationen von Magdalene Hanke-Basfeld Reihengestaltung: Klaus Renner Autorenphoto: Jochen Blume Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen Druck: Hoffmann Druck, Augsburg ISBN 3-570-04.942-6 • Printed in Germany
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Dieses Buch ist für Burghardt, der den Mut eines Löwen hat, für Katja mit ihrer Löwenmähne und für alle Fans des kleinen Vampirs – mit Löwenmut oder ohne. Angela Sommer-Bodenburg
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Ganz spontan Es war Freitag abend. Anton lag auf seinem Bett und las den »Vampir von Amsterdam« – allerdings nicht so konzentriert wie sonst, weil er immer wieder zum offenen Fenster hinüberblickte; in der Hoffnung, den kleinen Vampir zu sehen. Seine Eltern waren schon vor einer halben Stunde aufgebrochen. Eigentlich hatten sie heute abend nichts vorgehabt. Aber dann hatten sie sich – »ganz spontan«, wie sie neuerdings so gern sagten – entschlossen, noch zum Schwimmen ins Hallenbad zu gehen. Natürlich hatten sie Anton gedrängt, mitzukommen. Aber er hatte erwidert, daß sei ihm »zu spontan«. Außerdem sei er viel zu erschöpft, weil er den ganzen Nachmittag mit Ole Hockey gespielt hätte. »Na schön, wenn du keine Lust hast, mit uns etwas zu unternehmen!« hatte seine Mutter geantwortet; verärgert wie jedesmal, wenn ein Vorschlag, der von seinen Eltern kam, Anton nicht in helle Begeisterung versetzte. »Dann gehen wir hinterher aber noch einen Wein trinken!« »Von mir aus«, hatte Anton gesagt und in sich hinein gelacht. Doch nun verstrich die Zeit, ohne daß der kleine Vampir erschien. Anton begann zu frieren. Er stand auf, um das Fenster zu schließen. Da plötzlich landete eine kleine schwarzgekleidete Gestalt auf dem Fensterbrett. Mit einem fröhlichen Kichern hüpfte sie ins Zimmer. Es war – Anna! »Guten Abend, Anton!« begrüßte sie ihn. »Hallo, Anna«, antwortete er – verlegen, daß er mit seinen Gedanken nur bei Rüdiger gewesen war. Anna sah anders aus als sonst, irgendwie – gepflegter. Ob das an dem dunkelroten Stirnband lag, das sie trug? Ihre weiße Haut hatte einen rosigen Schimmer, und sie duftete angenehm nach Jasmin, ihrem neuen Parfüm. 5
»Hast du heute abend noch etwas vor?« fragte Anton mit belegter Stimme. Anna lächelte geheimnisvoll. »Wir haben etwas vor!« »Wir?« »Ja, Lumpi, Rüdiger und ich – und du auch, falls du möchtest.« »Lumpi ist auch dabei?« Schaudernd dachte Anton daran zurück, wie sich Lumpi bei ihrem letzten Zusammentreffen in der Kegelhalle im Jammertal einen seiner Fingernägel abgebrochen hatte – und wie er gedroht hatte, das würde Anton ihm büßen. »Aber... er will sich an mir rächen!« »Wer will sich rächen?« »Na, Lumpi!« »Lumpi?« »Ja! Weil er sich seinen Fingernagel abgebrochen hat, damals beim Kegeln im Jammertal!« »Ach, die Sache hat er längst vergessen!« sagte Anna. »Ehrlich?« »Ganz bestimmt. Du kannst ruhig mitkommen!« »Und – wohin?« fragte Anton vorsichtig. Anna kicherte. »Schnuppern!« »Schnuppern?« wiederholte Anton, einigermaßen ratlos. »Ja, schnuppern bei Schnuppermaul!«
Angefreundet »Ihr... ihr wollt in das Haus von Geiermeier?« »Genau!« »Aber ist das nicht viel zu gefährlich?« »Gefährlich?« Anna kicherte wieder. »Geiermeier liegt doch im Krankenhaus.« »Ja, schon. Aber Schnuppermaul... immerhin ist er der Assistent von Geiermeier. Bestimmt hat ihm Geiermeier 6
genaue Anweisungen gegeben, wie er den Kampf gegen euch fortsetzen soll!« »Und selbst wenn...«, sagte Anna. »Schnuppermaul hält sich jedenfalls nicht dran. Er und Lumpi haben sich angefreundet, mußt du wissen.« »Sie haben sich – angefreundet?« »Na ja, nicht so wie du und ich«, erwiderte Anna und sah Anton mit einem zärtlichen Lächeln an. »Aber Lumpi sagt, Schnuppermaul ist ohne Geiermeier ganz harmlos. Und außerdem tut Schnuppermaul ihm leid.« »Er tut ihm leid?« sagte Anton – verblüfft über solche zarten Gefühlsregungen bei Lumpi. Anna nickte. »Seit Geiermeier im Krankenhaus liegt, fühlt er sich richtig vereinsamt. Und deshalb ist Schnuppermaul auch so glücklich, daß er neulich nacht auf dem Friedhof Lumpi kennengelernt hat!« Anna kicherte. »Stell dir vor: Lumpi hat Schnuppermaul erzählt, er wäre auf dem Weg zu einem Faschingsfest«, berichtete sie. »Und da hat Schnuppermaul gefragt, ob Lumpi ihn nicht mitnehmen könnte. Bei ihm zu Hause wäre es so sterbenslangweilig!« Anna kicherte wieder. »Lumpi hat geantwortet, mitnehmen könnte er ihn leider nicht«, fuhr sie fort, »aber Schnuppermaul sollte doch mal selbst, bei sich zu Hause, ein Faschingsfest feiern. Dann würde er, Lumpi, in seinem Kostüm kommen und mit Schnuppermaul Fasching feiern! Ja, und von dem Vorschlag war Schnuppermaul so begeistert, daß er Lumpi gleich für heute abend eingeladen hat. Und ein paar Freunde soll Lumpi auch noch mitbringen, hat er gesagt.« Nun prustete Anna vor Lachen. Auf einmal sah Anton ihre Vampirzähne, leuchtend weiß und erschreckend spitz. Er verspürte ein Frösteln. 7
Anna hatte seinen Blick bemerkt. Schnell hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Kommst du jetzt?« fragte sie. »Aber Geiermeier – er hat doch überall Knoblauchzöpfe hängen«, wandte Anton ein. Anna schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr. Lumpi hat gesagt, wenn Schnuppermaul zufällig Knoblauch im Haus haben sollte, dann müßte er ihn verschwinden lassen. Knoblauch würde nicht zu seinem Vampirkostüm passen. Also hat Schnuppermaul den ganzen Knoblauch weggeschmissen. Und nicht nur das –« Anna machte eine Pause. »Er will sich auch als Vampir verkleiden!« »Schnuppermaul? Als Vampir?« »Ist das nicht lustig? Jetzt bist du der einzige, der sich noch in einen Vampir verwandeln muß!« »Ich?« fragte Anton erschrocken. »Ja, du!« sagte Anna sehr sanft und blickte ihn aus großen glänzenden Augen an. »Ich will aber kein Vampir werden!« rief Anton mit heiserer Stimme. 8
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und gekränkt erwiderte sie: »Ich meinte doch nur: mit weißer Schminke und Puder. Und hier –« Sie zog unter ihrem Vampirumhang einen zweiten hervor und gab ihn Anton, »– mit dem Umhang von Onkel Theodor!« »Danke«, sagte Anton verlegen, der seine Heftigkeit schon bereute. Um sie wieder zu versöhnen, fragte er: »Hilfst du mir beim Schminken?« »Und deine Eltern?« »Die sind weggeschwommen.« »Weggeschwommen?« »Na, im Schwimmbad!« »Ach so!« »Ja, dann helfe ich dir gerne«, sagte Anna, und nun lächelte sie wieder.
Schade, jammerschade Während Anton im Badezimmer den Puder und die Babycreme aus dem Schrank nahm, erinnerte er sich, wie ihm der kleine Vampir beim Schminken geholfen hatte – in der Nacht des großen Vampirballs, an dem Anton, als Vampir verkleidet, teilgenommen hatte. Damals hatte ihm Rüdiger derart unsanft die Haare gebürstet, daß Anton fast eine Beule davongetragen hatte. Und mit dem Babypuder war der kleine Vampir so verschwenderisch umgegangen, daß Anton kaum noch Luft bekommen hatte! Anna dagegen verteilte die weiße Babycreme ganz behutsam auf Antons Gesicht und massierte sie vorsichtig mit den Fingerspitzen in die Haut ein. Den Puder schüttete sie zuerst in ihre Handflächen, um ihn dann auf Antons Haut zu verreiben. Nur Antons Haare – die bürstete sie genauso ruppig wie der kleine Vampir.
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»Au!« ächzte Anton, der das Gefühl hatte, ihm würden ganze Haarbüschel ausgerissen. »Tut es weh?« fragte sie verwundert. »Ja!« »Ehrlich?« Anna wurde rot. »Meine Haare muß ich noch viel stärker bürsten! Aber ich glaube, jetzt reicht es.« Sie ließ die Bürste sinken, und Anton betrachtete sich im Spiegel. »Nicht schlecht«, meinte er. Seine Haut wirkte leichenblaß – richtig echt! Er nahm den Augenbrauenstift seiner Mutter und malte sich noch dicke schwarze Augenränder. Dann zog er die Lippen mit einem roten Lippenstift nach und drehte sich, breit grinsend, zu Anna um.
»Wie sehe ich aus?« »Süß!« sagte sie und seufzte. Mit einem wehmütigen Lächeln fügte sie hinzu: »Es ist wirklich schade, Anton, jammerschade...« 10
Mehr sagte sie nicht, aber Anton hatte auch so verstanden, was ihrer Meinung nach »schade« war. »Fliegen wir?« fragte er schnell. »Deine Hose«, antwortete sie. »Vampire tragen noch immer keine Jeans – leider!« »Ach ja«, Anton sah an sich herunter. Er trug seine blauen Jeans und den grauen Pulli. »Ich... ich hab’ nichts Schwarzes.« »So?« sagte Anna nur und lächelte, als wüßte sie es besser. Im Geist ging Anton noch einmal alle seine Hosen durch. Nein, er besaß keine schwarze mehr, seitdem seine Mutter die Leinenhose in eine Kleidersammlung gegeben hatte! »Bestimmt nicht«, versicherte er. Anna kicherte. »Doch, du hast etwas Schwarzes! Etwas sehr Besonderes, und das ist schwarz.« Anton schüttelte den Kopf. »Nein.« »Oh, ja!« erwiderte Anna und verzog schmollend ihren Mund. »Und zwar den Anzug!« »Ach, den –«, sagte Anton betreten. Daß er nicht gleich darauf gekommen war! Anna hatte den alten Anzug im Keller der Ruine entdeckt, und Anton hatte ihn mit nach Hause genommen – ihr zuliebe. Seitdem versteckte er das uralte Ding in seinem Kleiderschrank... »Ich – ich dachte, er wäre zu gut für den Fasching«, antwortete er. Doch damit hatte Anton erst recht ins Fettnäpfchen getreten. »Zu gut – wenn ich dabei bin?« rief Anna erbost. »N-nicht deinetwegen«, stotterte Anton. »Zu gut für Schnuppermaul, weil... vielleicht kleckert er, und dann kriegt man die Flecken nicht mehr raus!« Eine ziemlich lahme Ausrede, das merkte Anton selbst. Aber eine bessere war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.
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Anna warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wahrscheinlich hast du den Anzug gar nicht mehr – und du willst es mir nur nicht sagen.« »Ich soll den Anzug nicht mehr haben?« rief Anton in gespielter Entrüstung.
Antonio Bohnsackio der Düstere Er lief in sein Zimmer, und gleich darauf kehrte er mit dem alten schwarzen Anzug und dem Spitzenkleid von Anna zurück. Der Anblick ihres Kleides schien Anna wieder zu besänftigen. Sie ergriff es und strich andächtig über den schon recht mürben Stoff. »Möchtest du, daß ich es anziehe?« fragte sie leise und schaute Anton mit einem innigen Lächeln an. »Ja«, sagte er mit heiserer Stimme – was hätte er auch sonst antworten sollen! »Und du? Ziehst du deinen Anzug an?« Er nickte betreten. »Ach, Anton, das wird schön.« Anna stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann gehe ich jetzt in dein Zimmer und ziehe mich um. Und danach feiern wir Fasching bei Schnuppermaul – wir beide als Paar: du in dem Anzug und ich in dem Kleid!« Kichernd verließ sie das Badezimmer. ›Als Paar?‹ dachte Anton voller Mißbehagen und betrachtete sein Spiegelbild. Aber wer ihm da entgegenblickte, war ja gar nicht Anton Bohnsack, sondern Antonio Bohnsackio der Düstere, ein Vampir! Und Antonio Bohnsackio der Düstere konnte durchaus mit Anna von Schlotterstein als Paar zum Fasching gehen...
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Zum Fasching gehen – wie recht Anton damit hatte, erfuhr er gleich darauf in seinem Zimmer. »Toll siehst du aus!« sagte Anna, als er eintrat. »Du auch«, antwortete Anton, und das war nicht mal gelogen; häßlich fand er nur ihr Kleid! Anna errötete. »Die Sachen sind leider etwas unpraktisch«, meinte sie. »Allerdings!« stimmte Anton ihr zu. Der Anzug war ihm viel zu weit und zu lang, und obendrein kratzte der Stoff erbärmlich. »Fliegen können wir in den Sachen jedenfalls nicht«, erklärte Anna mit einem bedauernden Lächeln. »Nicht?« »Nein, das wäre viel zu riskant. Wir könnten irgendwo hängenbleiben. Oder unsere Arme würden sich im Stoff verfangen. Und dann würden wir abstürzen – trotz der Umhänge!« »Du meinst, wir müssen zu Fuß gehen?« »Ja, wir werden Spazierengehen – wie Menschen!« Anna kicherte. ›Wie Menschen?‹ dachte Anton. Anna schien etwas vergessen zu haben: Er war ein Mensch! Aber er schwieg, um sie nicht noch einmal zu verärgern. »Hoffentlich treffen wir meine Eltern nicht«, murmelte er. »Deine Eltern?« sagte Anna erschrocken. »Glaubst du, daß sie schon zurückkommen?« »Keine Ahnung. Aber wenn wir zu Fuß gehen müssen, sollten wir jetzt aufbrechen.«
Fußgänger »Ich bin bereit!« sagte Anna. Damit raffte sie ihr Kleid und stolzierte aus dem Zimmer.
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Anton ging rasch zum Fenster und lehnte die Fensterflügel an, so daß er sie bei seiner Rückkehr nur aufzudrücken brauchte, um ins Zimmer zu kommen. Dann schloß er seine Zimmertür von außen ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Die Wohnungstür zog er nur zu. Seine Eltern ließen die Tür immer unverschlossen, wenn sie weggingen – wegen der Brandgefahr, wie sie sagten. Im Hausflur blickte Anton sich vorsichtig um. Aber niemand war zu sehen; weder Frau Miesmann noch Frau Puvogel. »Wir könnten doch sagen, daß wir zum Fasching gehen, falls jemand kommt«, flüsterte Anna ihm zu. »Das überzeugt bestimmt!« »Ich glaube nicht, daß es meine Eltern überzeugen würde!« erwiderte Anton und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Nervös wartete er, bis der Fahrstuhl kam und die Tür aufging – aber die Kabine war leer! Auch der Hausflur lag wie ausgestorben da. Anton atmete auf. Anna und er mußten einen Schutzengel haben – nein, einen Schutzvampir! Draußen vor dem Haus zogen sie zur besseren Tarnung ihre Vampirumhänge über. »Oh, es ist aufregend, mit dir spazierenzugehen!« sagte Anna und lachte leise. Anton gab keine Antwort. Besorgt musterte er die sich nähernden Autos. Er wurde erst ruhiger, als sie die Siedlung verlassen hatten und den dunklen, von Büschen gesäumten Weg entlanggingen, der zum Friedhof führte. »Ist Rüdiger schon bei Schnuppermaul?« fragte er mit heiserer Stimme. »Nein. Ich soll sie in der Gruft abholen.« »Sie?« »Ja, Rüdiger und Lumpi!« »Lumpi...«, wiederholte Anton voller Unbehagen. 14
Hoffentlich stimmte es wirklich, daß Lumpi die Sache mit dem abgebrochenen Fingernagel vergessen hatte!
Ganz offiziell Je näher sie dem Friedhof kamen, desto mulmiger wurde Anton zumute. Insgeheim bereute er schon, daß er sich von Anna zu diesem Faschingsfest bei Schnuppermaul hatte überreden lassen! Am liebsten wäre er wieder umgekehrt – aber er tat es nicht, aus Angst, daß Lumpi und Rüdiger ihn dann als Feigling verspotten würden. Und außerdem tauchte nun schon die hohe weißgestrichene Friedhofsmauer auf, die den vorderen, gepflegten Teil des Friedhofs umschloß. Anton fühlte, wie Anna aufgeregt an seinem Ärmel zupfte. »Heute nacht müssen wir nicht über die Friedhofsmauer klettern«, sagte sie und kicherte. »Immerhin sind wir ganz offiziell eingeladen!« So schnell ihr das in dem langen Kleid möglich war, lief sie zur Pforte und drückte den Griff herunter. Mit einem Quietschen ging die Pforte auf. »Komm!« flüsterte Anna. Zögernd betrat Anton den Friedhof. Selbst in Annas Gegenwart verspürte er ein leises Grauen. Doch er nahm all seinen Mut zusammen und folgte ihr. An der alten Kapelle, deren Eisentür von einem großen, im Mondlicht blinkenden Vorhängeschloß versperrt wurde, hielt Anna inne. »Warte hier auf uns!« sagte sie und verschwand zwischen den Sträuchern. Anton drückte sich an die Steinmauer der Kapelle und blieb reglos stehen. Schreckliche Gedanken zuckten ihm durch den Kopf: Wenn nun Geiermeier vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen worden wäre... Der Friedhofswärter würde Anton 15
bestimmt für einen echten Vampir halten und mit seinen Holzpflöcken auf ihn losgehen! Oder – schlimmer noch – wenn einer der erwachsenen Verwandten des kleinen Vampirs hierherkäme: Tante Dorothee zum Beispiel... Anton wäre ihr ausgeliefert, und nicht einmal Anna könnte ihn dann noch retten! Angstvoll sah er sich um und lauschte. Hatte dort drüben nicht etwas geknackt? Und war jetzt nicht etwas Großes, Dunkles in gebückter Haltung vorbeigehuscht und zu den hohen Büschen gelaufen? Anton spürte, wie sich ihm die Haare sträubten. Mit der Hand tastete er nach der Eisentür der Kapelle. Vielleicht ließ sich das Schloß doch öffnen, so daß Anton in allergrößter Not in der Kapelle Zuflucht finden könnte... Aber er fand das Schloß nicht. –
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Und sich zu bewegen, wagte er nicht. Mit angehaltenem Atem stand er da, den Blick auf die hohen Büsche gerichtet.
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In bester Gesellschaft Und plötzlich – Anton stockte das Blut in den Adern – trat eine kräftige, schwarz gekleidete Gestalt aus den Büschen heraus, reckte sich und kam mit langen, federnden Schritten auf ihn zu... »Ein Vampir!« stammelte er. Der Vampir bot einen dermaßen fürchterlichen Anblick, daß Anton glaubte, ohnmächtig zu werden: Er hatte rote Haare, die ihm wild vom Kopf abstanden, einen grellroten Mund und Augenhöhlen, tief und schwarz wie Krater... »Nein!« ächzte Anton. »Nein!« Schon war der Vampir auf Armeslänge an ihn herangekommen. Doch unvermittelt blieb er stehen und öffnete seinen großen Mund zu einem breiten Grinsen. Wie durch einen Nebel sah Anton die Fangzähne des Vampirs, messerscharf und leuchtend weiß. »Nein!« stöhnte er. »Nicht!« Eine tiefe, krächzende Stimme antwortete: »Was hat denn mein kleiner Anton? Warum zittert er so? Und die Stirn... sie ist ja ganz schweißnaß!« Anton riß die Augen auf. Diese Stimme... »Weißt du noch immer nicht, wer ich bin?« fragte der Vampir und lachte, heiser krächzend. So lachte nur einer... »Lumpi?« fragte Anton mit bebender Stimme. »Na, endlich hast du’s kapiert!« zischte Lumpi. Dann drehte er sich um und rief: »Du kannst kommen. Er hat es überlebt!« Anton sah, wie eine zweite schwarze Gestalt aus den Büschen hervortrat. Auch sie war wüst zurechtgemacht – aber unter der Schminke erkannte Anton den kleinen Vampir. »Tolle Überraschung, wie?« krächzte Lumpi. 18
Beklommen musterte Anton ihn. »Dein Anton hat ja Nerven wie Sargtaue!« meinte Lumpi jetzt. »Ich dachte, er würde beim Anblick meiner Faschingsbemalung schreiend davonrennen.« »Tja«, sagte der kleine Vampir. »Es hat eben auf ihn abgefärbt.« »Abgefärbt?« Lumpi schüttelte seine Haarmähne. »Meinst du den roten Puder?« »Nein! Mein Mut hat auf ihn abgefärbt!« erwiderte der kleine Vampir kichernd. Er hatte ebenfalls rot gepuderte Haare. Und seine von Natur aus dunklen Augenränder waren, genau wie bei Lumpi, durch dicke schwarze Striche verstärkt. Ihre Lippen hatten beide ziemlich ungeschickt bemalt: weit über die Ränder hinaus, so daß sie aus der Nähe betrachtet eher komisch aussahen – wie Zirkusclowns. Anton mußte grinsen; trotz des Schreckens, der ihm noch in den Knochen saß. Der kleine Vampir hielt Antons Grinsen offenbar für einen Ausdruck der Bewunderung, denn er sagte geschmeichelt: »Dein Make-up ist auch nicht schlecht! Jedenfalls viel echter als beim Vampirball.« ›Ja, dank Anna!‹ dachte Anton. Laut fragte er: »Wo ist eigentlich Anna?« »Die kommt später nach«, erwiderte der kleine Vampir gleichmütig. Anton erschrak. »Sie kommt später nach?« Ohne Anna in das Haus von Geiermeier und Schnuppermaul zu gehen, fand er nicht sehr verlockend! In brenzligen Situationen war es bisher fast immer Anna gewesen, die sich für Anton eingesetzt und ihm geholfen hatte – wie damals bei der transsylvanischen Nacht in Antons Zimmer, als seine Eltern das fürchterliche Durcheinander entdeckt hatten.
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Der kleine Vampir hatte in jener Nacht nur Augen für Olga gehabt – fast so wie heute abend, wo er sich ausschließlich für Lumpi zu interessieren schien. Und zuzulassen, daß Lumpi ihn zu Tode erschreckte, war auch nicht sehr freundschaftlich! Schon überlegte Anton, ob er nicht nach Hause zurückgehen sollte, auch wenn Lumpi und Rüdiger ihn deswegen als Angsthasen und Spielverderber beschimpfen würden – da sah er eine kleine, in ein bodenlanges weißes Gewand gehüllte Gestalt hinter der Kapelle hervorkommen. Im ersten Augenblick glaubte er, es sei ein Gespenst. Aber dann begriff er, daß es Anna war! Auch sie wirkte fremd: mit wild aufgetürmten, rot gepuderten Haaren und dunkelrot geschminktem Mund. Sie lächelte Anton zu und sagte entschuldigend: »Ich hoffe, es hat nicht allzu lange gedauert!« »Anton war ja in bester Gesellschaft«, erwiderte Lumpi und lachte dröhnend. Und indem er Rüdiger einen kräftigen Stoß in die Seite versetzte, meinte er unternehmungslustig: »So, und nun auf zum Fasching!«
Wie Sand in der Gruft Er drehte sich um und stapfte davon, während der kleine Vampir hinter ihm herlief – bemüht, mit Lumpi auf gleicher Höhe zu bleiben. Anna und Anton folgten in einigem Abstand. »Und es ist ganz sicher, daß Geiermeier noch im Krankenhaus liegt?« fragte Anton. »Ja, absolut sicher«, antwortete Anna. Geheimnisvoll fügte sie hinzu: »Ich weiß es aus eigener Anschauung.« »Aus eigener Anschauung?« »Ja! Gestern abend bin ich am Krankenhaus vorbeigeflogen, und da hab’ ich Geiermeier in seinem Bett liegen sehen. Und 20
stell dir vor –« Sie kicherte. »Er war ganz dünn und bleich – wie ein Vampir!« »Geiermeier?« »Ja. Wenn er zu unserem Faschingsfest käme, würde er richtig echt aussehen!« »Lieber nicht«, sagte Anton rasch. »Mir reicht schon Schnuppermaul.« ›Und Lumpi‹, fügte er in Gedanken hinzu. Besorgt musterte er die große, breitschultrige Vampirgestalt, die entschlossen dem Haus des Friedhofswärters zustrebte, gefolgt von einem aufgeregten kleinen Vampir. »Ein Glück, daß du dabei bist!« seufzte er. Anna lächelte. »Ein Glück, daß du dabei bist, Anton! Ohne dich könnte mir das ganze Faschingsfest gestohlen bleiben. Und Lumpi und Rüdiger erst recht! Wenn du wüßtest, wie die beiden mir zum Hals raushängen mit ihrem MännerMusikverein!« »Womit?« fragte Anton verdutzt. »Männer-Musikverein! Aber verrate nicht, daß ich dir das gesagt habe.« »N-nein.« »Heute abend wollen sie übrigens Schnuppermaul fragen, ob er bei ihnen mitmachen will!« »Schnuppermaul?« »Ja. Er soll unheimlich gute Platten haben. Und eine richtige Gitarre mit drei Saiten.« Anton schüttelte irritiert den Kopf. »Ich dachte, sie wollten eine neue Männergruppe gründen. Aber ein MännerMusikverein... Haben sie denn Ahnung von Musik?« »I wo, kein bißchen! Nur Lumpi hat gesagt, Männergruppen würde es heute wie Sand in der Gruft geben. Dagegen wäre ein Männer-Musikverein etwas vollkommen Neues. Und außerdem wäre es viel –«
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sie überlegte, »– viel positiver; ja genau, so hat er sich ausgedrückt!«
Tantchen... »Und dich wollen sie bestimmt auch fragen, ob du –«, fuhr Anna fort, brach dann aber erschrocken ab. Sie packte Anton am Arm, und bevor er wußte, wie ihm geschah, hatte sie ihn hinter einen Busch am Wegrand gezerrt. »Psst!« zischte sie ihm zu und legte beschwörend einen Finger auf den Mund. »Tante Dorothee!« »Tante Dorothee?« stammelte Anton und spürte, wie ihm der Schreck in alle Glieder fuhr. »Ja, da vorn, bei Lumpi und Rüdiger!« sagte Anna flüsternd. Leise fügte sie hinzu: »Uns hat sie bis jetzt noch nicht entdeckt.« »Bis jetzt?« sagte Anton zähneklappernd. Das dichte Laub versperrte ihm die Sicht, so daß er weder Lumpi und Rüdiger noch die gräßliche Tante Dorothee erkennen konnte. Aber Vampire hatten ja viel schärfere Augen als Menschen... »Wir dürfen uns nicht von der Stelle rühren«, flüsterte Anna. »Mich in meinem Kleid darf sie auf keinen Fall sehen und dich noch viel weniger!« Schaudernd hörte Anton, wie nun Tante Dorothees Stimme über den Friedhof klang: »Lumpi? Rüdiger?« »Ja, was ist, Tantchen?« kam die Antwort Lumpis – so ungezwungen, als sei er kein bißchen überrascht, Tante Dorothee hier zu treffen. »Wo wollt ihr hin?« fragte Tante Dorothee schneidend. Anton merkte, wie er weiche Knie bekam. »In die Stadt, Menschen erschrecken«, antwortete Lumpi. »Sieht man das nicht?« »Habt ihr euch deshalb so herausgeputzt?« 22
»Ja. Damit die Menschen laut kreischend davonlaufen.« Lumpi lachte heiser. »Das gibt Power, das gibt Schwung, das macht lustig, das hält jung!« »Ihr mit euren Lause-Buben-Streichen!« sagte Tante Dorothee, nun milder gestimmt. »Aber beherzigt die Regeln: Nur solche Kontakte zu Menschen, die der Erhaltung unserer Art dienen – keine Freundschaften!« »Das versteht sich von selbst, Tante Dorothee«, erwiderte Lumpi großspurig. »Und was ist mit Rüdiger?« forschte Tante Dorothee. »Einmal hat er schon Gruftverbot bekommen, weil er sich mit einem Menschenjungen eingelassen hatte!« Bei diesen Worten lief es Anton eiskalt über den Rücken. »Einmal hat ihm gereicht«, versicherte Lumpi. »Heute würde er so etwas nicht wieder tun. Oder, Rüdiger?« »Nein, nein, nie wieder!« kam die prompte Antwort des kleinen Vampirs.
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»Na schön«, sagte Tante Dorothee. »Dann zieht meinetwegen los und erschreckt die Menschen. Ich werde in die Gruft gehen und mich aufs Ohr legen!« »Was, schon?« fragte Lumpi. »Ja. Mir ist irgendwie komisch«, erklärte Tante Dorothee. »Aber vielleicht hab’ ich mich ganz einfach nur übernommen!« meinte sie dann und lachte schrill. »Gute Besserung, Tantchen!« flötete Lumpi. »Danke«, sagte Tante Dorothee würdevoll. 24
»Sie geht weg!« flüsterte Anna. Anton seufzte tief. »So, jetzt ist sie in der Gruft«, verkündete Anna kurz darauf. »Woher weißt du das?« fragte er. »Ich hab’ gehört, wie der Stein über unserem neuen Einstiegsloch geklappert hat. Komm!« Sie trat aus dem Schatten der Büsche heraus, und Anton folgte ihr zögernd.
Kloß im Hals »Und... und wenn Tante Dorothee zurückkommt?« fragte Anton mit rauher Stimme. »Warum sollte sie?« erwiderte Anna. »Nein, sie wird erst mal ein Nickerchen machen.« Trotz dieser Versicherung wich bei Anton das Gefühl der Beklemmung nicht, das er empfand. »Und Lumpi und Rüdiger?« fragte er heiser, gegen die aufsteigende Angst ankämpfend. »Siehst du die beiden?« »Nein«, antwortete Anna. »Ich schätze, die sind schon im Haus, bei Schnuppermaul.« »Im Haus? Du glaubst, sie warten nicht auf uns?« »Warten? Ja, auf dich vielleicht!« sagte Anna. »Wie meinst du das?« fragte Anton. »Auf mich würde Rüdiger ganz bestimmt nicht warten – so eifersüchtig wie der ist!« »Eifersüchtig?« »Allerdings«, erklärte Anna. »Rüdiger möchte dich nicht mit mir teilen!« Anton hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Mit dir... teilen?« »Nicht so, wie du denkst.« Anna kicherte. »Als Freund!« »Ach so –«, murmelte Anton. Vielleicht war Eifersucht der Grund dafür, daß der kleine Vampir ihn heute abend so geflissentlich »übersehen« hatte? 25
»Rüdiger hätte dich auch gern zum Fasching abgeholt«, sagte Anna jetzt und bestätigte damit Antons Vermutung. »Aber Lumpi hat gesagt, wir müßten würfeln, und wer die niedrigste Zahl hätte, der dürfte dich abholen. – Und ich hab’ natürlich gewonnen!« fuhr sie vergnügt fort. »Ich hatte eine eins und Rüdiger eine sechs.« ›Armer Rüdiger‹! dachte Anton – aber das behielt er vorsichtshalber für sich. Der Weg machte jetzt eine Biegung, und hinter der Biegung trafen sie zu Antons Erleichterung auf Rüdiger und Lumpi.
Die Konferenz der Vampire Die beiden lehnten an Geiermeiers Gartentor und spähten zum Haus hinüber. »Da seid ihr ja endlich!« knurrte Lumpi. Anton stellte sich neben den kleinen Vampir an das Tor. »Hallo, Rüdiger«, sagte er leise. Der kleine Vampir warf ihm einen Seitenblick zu. »Hallo, Anton«, antwortete er – etwas freundlicher als vorhin, wie es Anton schien. »Warum steht ihr noch hier?« fragte Anna. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?« »Nun...«, sagte Lumpi gedehnt. »Wir haben gerade eine kleine Konferenz abgehalten.« »Eine Konferenz?« »Ja. Wir haben überlegt, wer von uns vieren wohl am besten geeignet wäre, bei Schnuppermäulchen zu klingeln und nachzugucken, ob er alleine ist.« Mit einem breiten Grinsen fixierte er Anton. »Ich wüßte schon, wer!« sagte Anna. »Ach ja?« meinte Lumpi, ohne den Blick von Anton abzuwenden. »Du denkst sicherlich an diesen jungen Freund
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hier, auf den Rüdiger so große Stücke hält! Ja, wir wollen mal sehen, wie mutig er ist, unser Anton Bohnsack!« Ganz steif, wie hypnotisiert stand Anton da. Er hatte das Gefühl, als wäre alles an ihm erstarrt: sein Herzschlag, seine Atmung... Doch jetzt faßte Anna ihn beim Arm und schüttelte ihn sanft, wie um ihn aufzuwecken. »Ich bin für Rüdiger!« erklärte sie mit fester Stimme. »Für mich?« schrie der kleine Vampir auf. »Aber Schnuppermaul ist viel größer und stärker als ich!«
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»So?« sagte Anna. »Und was ist mit Anton? Schnuppermaul ist auch viel größer und stärker als Anton.« »Aber nicht stärker als ich!« ließ sich da Lumpi vernehmen. »Ich bin viel stärker als Schnuppermaul!« »Warum gehst du dann nicht?« meinte Anna listig. »Wenn du so einmalig stark bist...« »Ja, du hast recht«, meinte Lumpi geschmeichelt. »Ich sollte gehen – ich, Lumpi der Starke!« Er stieß das Gartentor auf, und mit hoch erhobenem Kopf marschierte er auf das Haus zu. »Angeber!« zischte der kleine Vampir – aber so leise, daß nur Anton und Anna es hören konnten.
Auf die Särge, fertig, los! Vor der Haustür blieb Lumpi stehen und blickte prüfend durch das ovale Guckloch in den erleuchteten Vorraum. Dann erst drückte er auf den Klingelknopf. Anton hielt den Atem an. Nun wurde die Tür geöffnet, und eine schauerlich anzusehende Gestalt trat heraus. Doch Anton erkannte sofort, daß es Schnuppermaul, der Friedhofsgärtner, war: an seinen strohgelben Haaren, der großen gebogenen Nase und den riesigen Händen. In dem kalkweißen Gesicht sahen die Augen besonders gruselig aus: Schnuppermaul hatte sie rot ummalt. Gekleidet war er ganz stilgerecht mit einem bodenlangen Umhang aus schwarzem Stoff – ›wahrscheinlich selbstgenäht!‹ dachte Anton. Lumpi pfiff anerkennend durch die Zähne. »Junge, Junge«, meinte er. »Gefällt Ihnen mein Aufzug?« fragte Schnuppermaul mit Stolz in der Stimme. »Ihr – was?« fragte Lumpi und reckte den Kopf, als suchte er einen Fahrstuhl. 29
»Mein Kostüm!« erklärte Schnuppermaul. »Ach so – jaja!« Lumpi hustete. »Sind Sie allein?« fragte er dann betont forsch. Schnuppermaul kicherte. »Ich hoffe, nicht mehr lange! Haben Sie Ihre Freunde mitgebracht?« »Aber sicher«, sagte Lumpi großsprecherisch. »Können wir reinkommen?« »Ich bitte darum«, antwortete der Friedhofsgärtner und machte einen Schritt zur Seite. Lumpi wandte den Kopf und rief: »Auf die Särge, fertig, los! Ihr könnt kommen.« »Wie viele Freunde sind es denn?« fragte Schnuppermaul und lachte – halb besorgt, halb erwartungsvoll. »Drei«, antwortete Lumpi und trat an Schnuppermaul vorbei ins Haus. »Nein, zwei – und eine Freundin!« widersprach Anna. Sie hob den Saum ihres Kleides an, und mit entschlossenen Schritten ging sie auf die Haustür zu. »Ein Mädchen ist auch dabei?« kicherte Schnuppermaul. »Nein, wie niedlich!« »Niedlich?« zischte der kleine Vampir. »Niedlich ist Anna nun ganz bestimmt nicht – eher ’ne Niete!« Anton wollte etwas erwidern, Annas Ehre verteidigen – aber dann erinnerte er sich, was ihm Anna über Rüdigers Eifersucht erzählt hatte, und so sagte er lieber nichts. Langsam ging er hinter dem kleinen Vampir auf das Haus des Friedhofswärters zu.
Herzlich willkommen! Anton war noch nie bei Geiermeier gewesen. Nur einmal hatte er, hinter einem Busch versteckt, beobachtet, wie Schnuppermaul aus dem Haus gekommen und zur Mülltonne gegangen war. 30
Durch die geöffnete Haustür hatte Anton in den Vorraum sehen können – und eine Gänsehaut bekommen: Da hatte ein Korb voll langer, angespitzter Holzpflöcke gestanden, und an der Wand hatte ein Kruzifix gehangen, mit einem Zopf von Knoblauchknollen drumherum. Als Anton nun an Schnuppermaul vorbei den Vorraum betrat, war er voll banger Erwartung – doch bis auf einen altmodischen schwarzen Regenschirm schien der Korb leer zu sein. Und um das Kruzifix herum hingen – passend zum Fasching – ein paar Luftschlangen. »Herzlich willkommen!« sagte Schnuppermaul jetzt mit übertriebener Freundlichkeit und machte eine Bewegung, als wolle er Anton und den kleinen Vampir umarmen. Doch Anton wich rasch einen Schritt zurück. Irritiert fragte Schnuppermaul: »Herzlich – sagt man das nicht unter Vampiren?« »Doch, doch«, bestätigte der kleine Vampir mit kehliger Stimme. Anton sah, wie er sich mit der Zungenspitze verstohlen über die Lippen fuhr. »Vampire sind für alles offen, was von Herzen kommt!« Anton zuckte zusammen. Schnuppermaul allerdings schien die Anspielung des kleinen Vampirs überhaupt nicht verstanden zu haben, denn er lachte unbekümmert und meinte: »Dann bin ich ja beruhigt. Also, noch einmal: Herzlich willkommen, ihr beiden Mit-Vampire! Und nun runter in die Grabkammer!« »Runter in die Grabkammer?« wiederholte Anton und warf einen besorgten Blick in das Innere des Hauses. Lumpi und Anna waren schon vorgegangen, und er konnte sie weder sehen, noch konnte er hören, was sie machten. »Ja! Es ist alles vampirgemäß hergerichtet.« Selbstzufrieden kichernd, wandte Schnuppermaul sich zum Gehen. »Vampirgemäß?« Der kleine Vampir grinste. 31
»Ich bin gespannt, was Schnuppermaul sich darunter vorstellt!« flüsterte er Anton zu. »Ich auch«, sagte Anton. ›Runter in die Grabkammer‹... einladend hatte das nicht geklungen!
Beklommen ging er hinter dem kleinen Vampir her. Sie kamen in das Treppenhaus, in dem eine mit Stoff bespannte Lampe ein merkwürdiges rötliches Licht verbreitete. Voller Unbehagen sah Anton sich um, aber auch hier entdeckte er keinen Hinweis auf Geiermeiers Spezialgebiet: die Jagd auf Vampire. Es hingen nur ein paar alte Fotos in verstaubten Rahmen an den Wänden – und ein völlig blinder Spiegel. »Ihr habt ja richtige Antiquitäten hier!« meinte der kleine Vampir und deutete mit einem Kopfnicken auf den Spiegel, in dem sich niemand mehr spiegeln konnte. »Ja, Herr Geiermeier liebt das Alte«, antwortete Schnuppermaul. »Und er hält auf Tradition.« 32
»Wir auch!« ertönte da Lumpis Stimme. Sie schien von unten zu kommen, aus dem Keller. »Die Fotos hier zum Beispiel«, fuhr Schnuppermaul schwärmerisch fort. »Sie stammen alle noch aus dem Elternhaus von Herrn Geiermeier!« »Ach, wirklich?« sagte Anton. »Ist die Stereoanlage auch noch von den Eltern?« rief Lumpi. Dumpf und unheimlich klang seine Stimme, als käme sie tatsächlich aus einer Grabkammer... »Nein, die gehört mir!« erwiderte Schnuppermaul mit sichtlichem Stolz. »Aber bitte noch nicht einschalten, Herr von Schlotterstein. Warten Sie noch eine Minute, bis ich Ihnen zeigen kann, welche Knöpfe Sie freundlicherweise drücken wollen!« Er hob seinen Umhang an, und vorsichtig, jeden Fuß sorgsam setzend, stieg er die Kellertreppe hinunter. Doch Lumpi hatte anscheinend schon die richtigen Knöpfe gefunden: Laute Popmusik erklang, und Lumpi grölte: »Ich küsse Ihre Hand, Monsieur...« »Aber... das geht doch nicht«, sagte Schnuppermaul. Sein Protest ging unter in Lumpis lauter werdendem Gesang, in den sich jetzt auch das helle Kichern von Anna mischte. »Nein, das geht wirklich nicht!« rief der kleine Vampir, und grinsend lief er hinter Schnuppermaul her. »Warte!« bat Anton – aber Rüdiger war schon im Keller verschwunden.
Übung macht den Vampir Sollte Anton ihm folgen? Aber was würde ihn da unten, in Schnuppermauls »Grabkammer«, erwarten? Während er noch überlegte, erhob sich ein schrilles Gelächter, die Musik brach ab, und dann war Schnuppermauls
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Stimme zu vernehmen: »Nein, wirklich, also ich weiß nicht... Meinen Sie nicht, daß ich als Vampir echt genug bin?« Anton spürte, wie es ihn eisig überlief. Als Vampir echt genug... Lumpi, Rüdiger und Anna würden doch nicht etwa bei Schnuppermaul...? Und Schnuppermaul hatte nicht den leisesten Verdacht, daß es sich bei den dreien um echte Vampire handelte! Ihm, Anton, würden sie bestimmt nichts tun – schon aus alter Freundschaft nicht. Aber wie würden sie es mit dem Friedhofsgärtner halten, der sie, gemeinsam mit Geiermeier, aus ihrer heimatlichen Gruft vertrieben hatte? Anton umfaßte das Geländer der Kellertreppe, und ganz langsam ging er die Stufen hinunter. Als er die vorletzte Stufe erreicht hatte, erhob sich abermals ein wildes Gelächter. Gleich darauf erschien Schnuppermaul, gefolgt von Lumpi, Anna und Rüdiger. Anton bekam vor Verlegenheit heiße Wangen; denn die Vampire hatten Schnuppermaul keineswegs... äh... angebissen. Sie hatten ihm nur die strohgelben Haare toupiert und mit ihrem roten Puder bestäubt.
»Sieht er jetzt nicht viel vampirhafter aus?« fragte Anna kichernd. 34
»J-ja«, sagte Anton heiser. »Stell dir vor: Er wollte es nicht. Er hat sich richtig dagegen gesperrt«, berichtete Anna. »Sag du ihm, daß er so viel besser und vor allem viel echter aussieht!« Anton räusperte sich. »Sie... Sie sehen wirklich viel echter aus.« »Tatsächlich?« Nun lächelte Schnuppermaul, und geziert zupfte er an seinen wild abstehenden Haaren. »Ich bin eben noch etwas ungeübt«, sagte er entschuldigend. »Früh übt sich, was ein echter Vampir werden will!« erwiderte Lumpi und lachte dröhnend. »Oder, anders ausgedrückt: Übung macht den Vampir!« Schnuppermaul blickte ihn mit gerunzelten Brauen an. »Übung macht den Vampir?« wiederholte er fragend. Auf einmal ging ein Leuchten über sein Gesicht. »Ach so – Sie meinen, wir sollten öfter Vampir-Fasching feiern!« »Genau das meine ich«, sagte Lumpi und lachte noch lauter. »Keine schlechte Idee!« sagte Schnuppermaul. Er strich über seinen Umhang, und dann bekannte er mit einem verlegenen Kichern: »Wissen Sie – eigentlich bin ich für Fasching gar nicht zu haben. Aber sich in einen Vampir zu verwandeln, das ist doch etwas anderes als diese ewigen Piraten und Cowboys!« »Allerdings!« stimmte ihm Lumpi zu. Anna und Rüdiger sahen sich an und lachten hinter vorgehaltener Hand. Anton spürte ein unbehagliches Gefühl in der Magengegend. Wenn Schnuppermaul doch ein bißchen vorsichtiger wäre in seiner Wortwahl! »Sich in einen Vampir zu verwandeln« – wie leicht könnte das von Lumpi als Aufforderung mißverstanden werden!
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Diät »Und was machen wir jetzt?« fragte er rasch, um das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema zu bringen. »Oh, jetzt eröffnen wir das Büfett!« erwiderte Schnuppermaul vergnügt und stieg die Kellertreppe wieder hoch. »Das Büfett!« Anna brach in ein prustendes Gelächter aus. Schnuppermaul blieb stehen. »Sie haben doch nicht etwa schon zu Abend gegessen?« fragte er besorgt. Lumpi hüstelte. »Nicht direkt.« »Na, da bin ich aber erleichtert!« sagte Schnuppermaul. Oben angekommen, fügte er mit einem selbstgefälligen Lachen hinzu: »Aber bei meinem Büfett würden vermutlich sogar echte Vampire zugreifen: Es gibt nur vampirgemäße Speisen und Getränke!« »Nur vampirgemäße Speisen und Getränke?« rief Lumpi mit sich überschlagender Stimme. »Was denn?« »Ja, was?« rief nun auch der kleine Vampir. Schnuppermaul machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Am besten sehen Sie selbst, meine Herren!« »Meine Herren?« empörte sich Anna, die als letzte im Treppenhaus angekommen war. »Ich bin wohl überflüssig hier!« »Nein, keineswegs«, versicherte Schnuppermaul. »Ich dachte nur, Sie müßten Diät halten, junge Dame.« »Sie müßte Diät halten, haha!« rief Lumpi und zeigte mit dem Finger auf Anna. »Meine kleine Schwester und Diät! Ich lach’ mich tot!« Anna streckte ihm wütend die Zunge heraus. »Fiesling!« fauchte sie. »Verzeihen Sie bitte«, sagte Schnuppermaul betreten.
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»Ich... ich wollte Sie nicht kränken, junge Dame. Aber ich dachte, weil Sie sich eben, bei der Erwähnung des Büfetts, so amüsiert haben...« »Wenn Anna Diät machen würde, dann wäre bald gar nichts mehr von ihr übrig!« meinte der kleine Vampir. »Verzeihen Sie!« bat Schnuppermaul noch einmal. »Aber bei diesen weiten Kleidern sieht man wirklich nicht, ob jemand ein paar überzählige Pfunde darunter versteckt.« »Ein paar überzählige Pfunde?« Lumpi lachte krächzend. »Meine kleine Schwester versteckt ganz andere Sachen unter ihren Kleidern, hihi!« Anna war rot geworden. »Ja, genau«, kicherte der kleine Vampir. »Hübsche, löchrige Wollstrumpfhosen – so wie ich.« »Mich vor Anton blamieren – das könnt ihr!« rief Anna mit Tränen in den Augen. »Aber damit ihr es wißt: ich pfeife auf euch und auf euren blöden Fasching. Ich gehe!« Sie raffte ihr Kleid, und laut schluchzend stolperte sie zur Tür. »Anna!« sagte Anton betroffen und wollte ihr folgen. Aber der kleine Vampir packte ihn am Umhang und zischte: »Laß sie! In dieser Stimmung ist Anna zu allem fähig. Wenn du Pech hast, kratzt sie dir die Augen aus.« »Was, Anna?« sagte Anton ungläubig. »Gerade Anna!« bestätigte Lumpi. »Hast du vergessen, daß sie mit mir verwandt ist?« Er stieß ein wieherndes Gelächter aus, in das der kleine Vampir mit einstimmte. Anton preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Er hörte Annas sich entfernende Schluchzen, dann schlug die Haustür zu. Lumpi gab einen tiefen Seufzer von sich. »Na, endlich!« sagte er. »Die Störenfriedin sind wir los.«
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Zu Schnuppermaul gewandt, fragte er mit zuckersüßer Stimme: »Wollten wir nicht das Büfett eröffnen?«
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»Doch, doch«, sagte Schnuppermaul verwirrt. »Ich – ich hoffe nur, es ist nicht meine Schuld, daß Ihr Fräulein Schwester sich so überstürzt entfernt hat...« »Nein, nein, bestimmt nicht!« Lumpi sah Anton mit einem hinterhältigen Grinsen an. »Vermutlich hat sie noch eine andere Verabredung.« »Ja, wahrscheinlich mit Waldi dem Bösartigen!« ergänzte der kleine Vampir, nicht minder hämisch. »Mit Waldi dem Bösartigen?« wiederholte Schnuppermaul und kicherte. »Sie haben so ulkige Namen in Ihrer Clique! Das sind wohl alles Künstlernamen, wie?« »Sie haben es erraten«, sagte Lumpi. »Wir alle in unserer Sippe – äh – Clique sind Künstler, Lebenskünstler, nein: Überlebenskünstler!« »Eine lustige Truppe müssen Sie sein!« meinte Schnuppermaul und schmunzelte. »Ja, sehr lustig«, bestätigte Lumpi, vollkommen ernst. Mit Grabesstimme fügte er hinzu: »Und sehr hungrig!« »Ach ja...«, sagte Schnuppermaul. »Das Büfett! Kommen Sie doch, meine Herren. In der guten Stube ist alles vorbereitet.« Er ging voraus und öffnete eine Schiebetür. »In die gute Stube?« sagte Lumpi und knuffte den kleinen Vampir. »Passender wäre wohl: in die Höhle des Löwen!« Damit hatte er Anton aus der Seele gesprochen. Die gute Stube von Geiermeier – wer wußte, was ihn und die beiden Vampire da erwarten mochte?
Schöner roter Saft Beim Eintreten fiel Antons Blick sogleich auf den großen runden Tisch in der Mitte des Raums, der mit einem schwarzen Tuch bespannt war. Verblüfft ging Anton näher heran. Noch nie hatte er eine derart ungewöhnlich gedeckte Tafel gesehen! 39
Da gab es Orangen – »Blutorangen!« wie Schnuppermaul hervorhob –, dicke schwarze Würste – »Blutwürste!« wie Schnuppermaul voller Stolz versicherte – und die verschiedensten roten Speisen und Leckereien: Tomaten, Mettwurst und Schinken, Wackelpudding, Lollis, Bonbons und – ganz viele rote Gummibärchen. Verstohlen spähte Anton zu dem kleinen Vampir hinüber, der auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches stand. Er mußte daran denken, wie glücklich Rüdiger an jenem – nun schon legendären – Samstagabend gelächelt hatte, als er das erste Mal bei Anton gewesen war und dabei die Tüte mit den Gummibärchen entdeckt hatte! »Guck mal, Gummibärchen«, hatte er gerufen und hinzugefügt: »Früher hatte ich auch immer welche, von meiner Oma!« Mit verzückter Miene hatte er eins probiert – und es unter gräßlichem Husten und Ächzen wieder ausgespuckt. Genau an diesem Punkt hatte für Anton ihre Freundschaft begonnen; denn ein Vampir, der sich über Gummibärchen freute, war ganz bestimmt kein blutrünstiges Monster, sondern ein eher menschlicher Vampir, mit dem man sogar... Mitleid haben konnte. Heute allerdings würdigte der kleine Vampir die Gummibärchen keines Blickes. Statt dessen ergriff er eine kleine bauchige Flasche aus durchsichtigem Glas, die eine dunkelrote Flüssigkeit enthielt und kein Etikett trug.
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»Und was ist das?« fragte er heiser. »Saft«, antwortete Schnuppermaul kichernd. »Schöner roter Saft.« »Saft! Igitt!« sagte der kleine Vampir voller Abscheu. »Wieso?« mischte sich da Lumpi ein. »Wenn es der richtige Saft ist, Lebenssaft!« 41
Aufgeregt knackte er mit seinen scharfen Zähnen. »Ist es... Lebenssaft?« rief er. Schnuppermaul zuckte verlegen mit den Schultern. »Meine Tante hat mir nur gesagt, daß er lebensnotwendige Vitamine und Spurenelemente enthält – ja, und daß er ganz ohne chemische Zusätze ist.« »Ihre Tante?« sagte Lumpi und atmete hörbar schneller. »Der rote Saft stammt von Ihrer Tante?« »Ja«, bestätigte Schnuppermaul. »Von Tante Bertha.« »Von Tante Bertha...«, wiederholte Lumpi andächtig. Er entriß dem kleinen Vampir die Flasche und hielt sie sich dicht vor die Augen. »Ein sehr dickflüssiger Saft«, kicherte er. »Man kann ihn auch verdünnt trinken, hat Tante Bertha gesagt«, erklärte Schnuppermaul. »Verdünnt?« schrie Lumpi auf. »Dracula bewahre!« Mit zittrigen Fingern schraubte er den Verschluß ab. Dann setzte er die Flasche an den Mund und trank sie, ohne abzusetzen, leer. »Aber Sie trinken ja den ganzen Saft aus, Herr von Schlotterstein!« rief Schnuppermaul. »Ich... ich glaube nicht, daß so viele Vitamine und Spurenelemente auf einmal der Gesundheit zuträglich sind.« Er sollte recht behalten; allerdings in ganz anderer Hinsicht. Kaum hatte Lumpi die Flasche abgesetzt, da begann sich sein bleiches Gesicht entsetzlich zu verfärben: zuerst lief es rosa an, dann wurde es purpurrot, und schließlich sah es rotviolett aus. »Das war gar kein Lebenssaft!« röchelte er. »Das war Gift, reines Gift.« »Gift?« Schnuppermaul hob mit beleidigter Miene die leere Flasche vom Teppich auf. »Das ist Tante Berthas altbewährter Kirschsaft!« erklärte er würdevoll. »Herr Geiermeier und ich trinken jeden Morgen ein
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Gläschen davon. Der Saft ist reine Arznei, sagt Herr Geiermeier.« »Kirschsaft!« stöhnte Lumpi. »Mein armer Magen...« »Oh, im Gegenteil«, widersprach Schnuppermaul. »Kennen Sie nicht den Spruch: Ist dein Magen abgeschlafft, mach ihn fit mit Kirschensaft!« »Nein, kenne ich nicht«, ächzte Lumpi, dessen Gesicht allmählich wieder eine normale Färbung annahm. »Aber haben Sie hier irgendwo ein Badezimmer?« »Selbstverständlich!« antwortete Schnuppermaul. »Soll ich Sie hinführen? Es hegt im ersten Stock.« Lumpi gab keine Antwort. Er legte die Hände auf den Bauch und stöhnte. »Au, wie das kneift...« »Kommen Sie!« rief Schnuppermaul erschrocken. Er nahm Lumpi beim Arm und führte ihn zur Tür hinaus.
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Löcher in den Zähnen »Seid vorsichtig mit Schaumi-Doll!« rief der kleine Vampir ihnen hinterher. »Schaumi-Doll?« fragte Anton. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor. »Weißt du nicht mehr?« Rüdiger kicherte. »Die Geschichte aus unserer Familienchronik, die ich dir vorgelesen habe!« »Ach ja –« Jetzt erinnerte Anton sich wieder: In jener Nacht, als die Vampire ihre Särge ins Jammertal geschafft hatten, war der kleine Vampir zum Badezimmer von Geiermeier geflogen, hatte die Tür von innen abgeschlossen, die Abflüsse der Badewanne verstopft, den Wasserhahn aufgedreht und eine Flasche Schaumi-Doll ins Wasser entleert. Für den Rest der Nacht waren Geiermeier und Schnuppermaul mit dem Öffnen der Tür und dem Aufwischen beschäftigt gewesen, so daß die Vampire ganz ungestört ihre »Tour de Sarg« hatten beenden können... »Meinst du, es steht sehr schlimm um Lumpi?« fragte Anton jetzt. Der kleine Vampir grinste. »Solange es kein Kirschlikör war, besteht noch Hoffnung für ihn.« Anton schluckte. »Du meinst, wenn es Likör gewesen wäre, müßte er – sterben?« »Ach, Anton! Du vergißt immer, daß wir schon tot sind!« erwiderte der kleine Vampir amüsiert. »Nein, das Schlimmste, was Lumpi passieren könnte, wäre, daß er eine Woche lang mit Magenschmerzen im Sarg liegen müßte.« »Ach so –«, sagte Anton erleichtert. Obwohl Lumpi nicht unbedingt sein Freund war, wünschte er ihm doch nichts Schlechtes! »Ich würde meinen Durst jedenfalls nie aus einer Flasche stillen!« meinte der kleine Vampir, und mit einer Miene des Abscheus zeigte er auf die vielen Flaschen, die noch auf dem 45
Tisch standen. Einige trugen ein Etikett und waren ganz normale Brause- oder Saftflaschen, wie man sie in Geschäften kaufen konnte. Andere erweckten den Eindruck, als kämen sie aus dem Keller mit Eingemachtem von Tante Bertha. »Und du?« fragte er. »Hast du keinen Durst?« Anton zuckte zusammen. »Ich?« »Ja, wer sonst?« sagte der Vampir und verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen, bei dem Anton seine nadelspitzen Eckzähne sah. »D-doch, ich habe Durst«, stotterte Anton, und hastig griff er nach einer Flasche mit einem gelben Etikett. »Rote Barbara«, las er mit belegter Stimme vor. »Die gute Brause aus dem Schwedenwald, angereichert mit echtem Hagebuttensaft«. »Hoffentlich ist sie nicht zu sauer«, sagte er, während er den Verschluß aufschraubte. Dabei sah er sich auf dem Tisch nach einem Glas um. Doch er konnte keins entdecken, und so setzte er die Flasche schließlich, genau wie Lumpi, an den Mund. Anton trank allerdings nur vorsichtig ein paar Schlucke. »Na, ist sie sauer?« erkundigte sich der kleine Vampir, schadenfroh kichernd. »Nö. Eher zu süß.« »Zu süß? Dann kriegst du Löcher in den Zähnen, stimmt’s?« Anton warf ihm einen finsteren Seitenblick zu, und wortlos stellte er die Flasche auf den Tisch zurück. »He, wieso trinkst du nicht aus?« fragte der kleine Vampir. »Weil ich keine Löcher in meinen Zähnen haben will, deshalb«, sagte Anton. »Aber wenn Schnuppermaul zurückkommt, muß die Flasche unbedingt leergetrunken sein!« rief der kleine Vampir aufgeregt. »Und diese ganzen Eßsachen hier... Tomaten und Schinken und diese dicken Blutwürste und die Orangen – die magst du doch hoffentlich?« 46
»Kein Bedarf«, antwortete Anton. »Aber dann zwingt Schnuppermaul uns bestimmt zum Essen!« rief der Vampir. »Ach, das glaube ich nicht«, sagte Anton. »Dafür ist er nicht der Typ.« »Kannst du nicht wenigstens ein paar Sachen essen – so wie damals im Zug, als diese Frau in unser Abteil gekommen ist – die mit den blonden Locken, die ihre Brille verlegt hatte?« Anton schüttelte den Kopf. »Wenn ich keinen Hunger habe, kann ich auch nichts essen!« entgegnete er – und jetzt empfand er Schadenfreude. »Aber im Zug hattest du auch keinen Hunger, jedenfalls keinen großen«, behauptete der Vampir. »Und trotzdem hast du gewaltig zugelangt.« »So?« Anton konnte sich nicht mehr genau entsinnen, was er gegessen hatte; nur eins wußte er noch: daß der Picknick-Korb von Frau Giftich sehr leckere Dinge enthalten hatte. »Wahrscheinlich habe ich zugelangt, weil du mich höflich darum gebeten hast«, bemerkte er grinsend. »Ich soll dich höflich gebeten haben?« Rüdiger schnaubte entrüstet. »Ich bitte nie um irgendwas – und höflich bitte ich schon gar nicht!« Anton grinste noch mehr. »Dann versuch doch mal, mich höflich zu bitten. Vielleicht greife ich in dem Fall doch noch zu.« Es gab nämlich auf dem Tisch einige Sachen, die Anton durchaus verlockten: der große rote Lolli, die Gummibärchen, die Orangen. Und hinter den Blutwürsten entdeckte er jetzt sogar noch ein Körbchen mit Erdbeeren... »Na gut!« Der Vampir schüttelte seine wilde Haarmähne, so daß der rote Puder aufstäubte, und knurrte: »Würdest du – bitte – so nett sein und ein paar von diesen Sachen hier essen!« Das klang zwar eher wie ein Befehl – aber Anton war damit zufrieden. 47
»Oh, gern«, säuselte er und nahm sich das Körbchen mit den Erdbeeren.
Blutbildend Als Lumpi, gestützt von Schnuppermaul, zurückkam, hatte Anton die Erdbeeren, eine Orange, eine Tomate, zwei Scheiben Mettwurst, eine große Portion Wackelpudding und eine Handvoll Gummibärchen gegessen. Außerdem hatte er drei Flaschen geöffnet – allerdings nur solche mit Etikett; zu denen hatte er mehr Zutrauen! – und jeweils ein paar Schlucke getrunken. Wenngleich die Zusammenstellung des Menüs etwas ungewöhnlich gewesen war... Anton hatte es geschmeckt, getreu dem Motto »Der Appetit kommt beim Essen«! Diesen Eindruck schien auch Schnuppermaul zu haben. Zufrieden meinte er: »Wie ich sehe, haben Sie sich an den Speisen gütlich getan, meine Herren!« »Ja, haben wir«, sagte der kleine Vampir, während Anton sich als Nachtisch noch ein paar von den roten Bonbons in den Mund schob. Schnuppermaul warf Lumpi, der ziemlich mitgenommen aussah, einen besorgten Blick zu. »Wollen Sie nicht auch zugreifen, Herr von Schlotterstein?« ermunterte er Lumpi. »Ein kräftiges Schinkenbrot könnten Sie jetzt gut gebrauchen, denke ich!« »Ein Schinkenbrot?« ächzte Lumpi. »Nein, nein, auf keinen Fall...« Dabei schlugen seine Zähne wie im Fieber aufeinander. »Oder hier: Sehen Sie!« Schnuppermaul ließ Lumpis Arm los und hob den Teller mit den Blutwürsten hoch. »Diese delikaten Blutwürste«, meinte er anpreisend. »Sie sind nicht nur schmackhaft, nein, sie sind auch aufbauend und vor allem – blutbildend!« 48
»Blutbildend?« wiederholte Lumpi mit tonloser Stimme, und sonderbar schwankend machte er einen Schritt auf Schnuppermaul zu. Schaudernd sah Anton, wie Lumpi seine großen Hände mit den langen, spitz zugefeilten Fingernägeln nach dem Hals des Friedhofsgärtners ausstreckte. Im letzten Moment aber hielt Lumpi inne und ergriff eine Stuhllehne, an der er sich festhielt. Schnuppermaul starrte ihn aus großen, erschrockenen Augen an. Den wahren Hintergrund dieser gespenstischen Szene schien er allerdings nicht erkannt zu haben; denn er erklärte: »Sagen Sie, was Sie wollen, Herr von Schlotterstein: Sie müssen zum Arzt gehen!«
Doch Lumpi sagte gar nichts, sondern stöhnte nur. »Bloß keinen Arzt!« erwiderte da der kleine Vampir. »Lumpi muß nach draußen, an die frische Luft.« Er trat neben Lumpi und schüttelte ihn. 49
»Los, komm!« sagte er drängend. »An die frische Luft?« fragte Schnuppermaul zweifelnd. »In diesem Zustand?« »Ja! Frische Luft ist das einzige, was bei ihm hilft.« Der kleine Vampir schüttelte Lumpi stärker, aber Lumpi rührte sich nicht. »Los, komm!« sagte Rüdiger noch einmal. Jetzt hob Lumpi den Kopf. Er sah furchtbar aus: Schweißperlen bedeckten seine Stirn, und seine Haut hatte eine grünliche Färbung angenommen. »Der Saft«, ächzte er. »Das war kein einfacher Kirschsaft. Da war noch was drin...« »Wahrscheinlich ein Schuß Rum«, meinte Schnuppermaul und kicherte. »Tante Bertha tut manchmal etwas Rum hinein, zur Geschmacksverbesserung.« »Rum!« schrie Lumpi gellend auf und stürzte zur Tür. »Oh, nein!« rief der kleine Vampir. »Rum ist fast so schlimm für uns wie –« Er brach ab. Ohne sich noch um Anton zu kümmern, lief er hinter Lumpi her, der nach Luft ringend im Treppenhaus verschwunden war. Anton war vor Schreck ganz starr. Erst als er hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde, besann er sich und wollte den beiden folgen – doch Schnuppermaul hielt ihn an einem Zipfel seines Umhangs fest.
Glauben Sie an Vampire? »Bleiben Sie noch«, bat er. »Aber mein Freund braucht mich jetzt!« wehrte Anton ab. »Und ich brauche Sie erst recht!« erwiderte Schnuppermaul in flehentlichem Ton. »Sehen Sie nur: All die guten Sachen, die ich eingekauft habe! Darauf dürfen Sie mich nicht sitzenlassen!«
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Anton zögerte. Er fürchtete, daß etwas Entsetzliches mit Lumpi passiert sein könnte. Aber selbst wenn es so wäre – er, Anton, würde für Lumpi wohl kaum eine große Hilfe sein... »Na gut«, murmelte er, und widerstrebend griff er nach einer Tomate. »Danke!« sagte Schnuppermaul und nahm sich eine Scheibe Mettwurst. »Wissen Sie«, fuhr er im Plauderton fort. »Herr Geiermeier wird erst in vierzehn Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Und bis dahin wäre mir alles schlecht geworden!« »Ja, und danach muß Herr Geiermeier wahrscheinlich noch für ein Vierteljahr zur Kur, der Arme!« »Für ein Vierteljahr?« rief Anton, und in seiner Verblüffung fiel ihm die zweite Tomate, die er gerade angebissen hatte, fast aus der Hand. »Schlimm, nicht wahr?« sagte Schnuppermaul. »Aber für mich ist es fast genauso schlimm! Dieser Arbeitsplatz hier auf dem Friedhof...« Er schluckte. »Dieser Arbeitsplatz ist schon zu zweit schwer zu ertragen! Aber allein... Denken Sie an die Einsamkeit hier, die Stille nachts, die Dunkelheit auf den Wegen, die vielen Hecken, hinter denen wer weiß was lauern könnte.« Er schüttelte sich. »Vor allem, wenn man nachts auf seinem Kontrollgang plötzlich daran denken muß, daß es vielleicht doch Vampire geben könnte. Ich meine: echte Vampire – nicht so nette, harmlose Faschingsvampire wie Sie und ich und Herr von Schlotterstein mit seinem jungen Freund!« Er blickte Anton forschend an. »Glauben Sie an Vampire?« »Ich?« sagte Anton erschrocken. »Ja – äh, nein.« »Ich auch nicht«, antwortete Schnuppermaul und kicherte leise. »Jedenfalls nicht wirklich. Aber mein Chef, der Herr Geiermeier... Der ist Nacht für Nacht auf der Pirsch!«
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»Was?« rief Anton bestürzt. »Ich denke, er liegt im Krankenhaus!« »Das tut er auch.« Schnuppermaul lachte verlegen. »Ich meinte die Zeit vor seinem Herzanfall. Aber Herr Geiermeier hat es auch wirklich übertrieben mit seiner Jagd auf Vampire...« Er seufzte tief. »Dort, wo ich herkomme, in Stuttgart, war alles viel schöner als hier!« sagte er dann, und bei der Erinnerung daran leuchteten seine Augen. »In Stuttgart mußte ich nicht auf dem Friedhof wohnen – bewahre! Da hatte ich ein Zimmer mitten in der Stadt. Und meine Arbeit war auch viel leichter und angenehmer: saubere Wege, gepflegte Anlagen, alles übersichtlich und modern.« – »Vor allem: Es war niemand da, der mir mit Vampiren Angst gemacht hätte...«
Leugnen zwecklos »Aber Sie essen ja gar nicht!« rief er auf einmal. »Ich, mein Magen...«, stotterte Anton. »Ihr Magen macht Ihnen Probleme? Dann müssen Sie unbedingt einen Schluck von Tante Bertrias Kirschensaft nehmen!« Schnuppermaul kicherte und sagte: »Ist dein Magen mal geschafft, trink Tante Berthas Kirschensaft!« »Ich habe schon von dem Saft getrunken«, erwiderte Anton. »Aber mir ist der Rum auch nicht bekommen.« »Tatsächlich?« Schnuppermaul zwinkerte ihm ungläubig zu. Er holte sich eine Flasche ohne Etikett vom Tisch, öffnete sie und roch daran. Dann nahm er einen tiefen Schluck.
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»Mir bekommt der Saft hervorragend«, schwärmte er. »Und ganz besonders, wenn er Rum enthält!« »Aber wollen wir uns nicht setzen?« fragte er, nachdem er die Flasche wieder zurückgestellt hatte. »Im Sitzen kommt man sich leichter näher.« »Ich... meine Eltern erwarten mich«, sagte Anton rasch. Doch kaum waren ihm diese Worte entschlüpft, bereute er sie schon und hätte sich für seine Unvorsichtigkeit ohrfeigen können. Schnuppermaul horchte auf. »Ihre Eltern?« fragte er. »Sie wohnen noch bei Ihren Eltern?« »Ja-ja«, sagte Anton und spürte, wie er unter seiner weißen Schminke errötete. Beklommen sah er zur Tür. »Ich muß jetzt unbedingt aufbrechen!«
»Ihre Eltern...«, sagte Schnuppermaul und musterte Anton nachdenklich. Anton hatte das schreckliche Gefühl, als stünde seine Entlarvung unmittelbar bevor. Und wirklich: Jetzt ging ein Lächeln über Schnuppermauls Gesicht, und er rief: »Deine Eltern. Du bist überhaupt noch 53
nicht erwachsen. Nein, wie entzückend! Wo ich doch so kinderlieb bin!« Dann, auf einmal, runzelte er die Stirn und fragte: »Sind wir uns nicht irgendwo schon einmal begegnet?« »W-wie kommen Sie denn darauf?« stotterte Anton. »Dein Haar«, antwortete Schnuppermaul. »Dieser helle Ton, dieser matte Schimmer...« Noch schien er seiner Sache allerdings nicht sicher zu sein. Anton bebte innerlich vor Aufregung. ›Laß es ihm nicht einfallen, bitte!‹ sprach er heimlich ein Stoßgebet. Doch da lachte Schnuppermaul und rief: »Ich weiß es wieder! Hier auf dem Friedhof haben wir uns getroffen!« »Auf dem Friedhof?« sagte Anton in gespieltem Erstaunen. »Ja! Du warst der nette Blonde mit dem Sandeimer und der Schaufel.« Schnuppermaul machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht. »Du warst auf den Friedhof gekommen, weil in deiner Sandkiste zuhause der Sand ausgewechselt wurde – genauso war es!« Anton nickte verschämt. »Ach ja«, murmelte er. Weiterhin zu leugnen, war sowieso zwecklos. »Spielst du noch immer gern im Sand?« erkundigte sich Schnuppermaul. »Hm, ja«, sagte Anton. »Aber der Sand ist schon wieder so – so dreckig.« »Ach, wirklich?« Schnuppermaul kicherte. »Wieder voller kleiner Hundehäufchen?« Anton nickte. »Weißt du was?« Schnuppermaul lief ans Fenster und schob die dicken dunkelgrünen Vorhänge zur Seite. »Ich könnte im Garten eine Sandkiste aufstellen – nur für dich und ohne Häufchen!« »Nur für mich?« tat Anton geschmeichelt.
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»Ja, nur für dich!« bestätigte Schnuppermaul und rieb sich die Hände.
Wölfi der Kinderliebe »Übrigens –«, fragte er nach einer Pause. »Wie heißt du eigentlich?« »Wie ich heiße?« wiederholte Anton erschrocken. Um Zeit zu gewinnen, fragte er zurück: »Welchen Namen meinen Sie: den normalen oder den Vampirnamen?« »Haben Vampire denn besondere Namen?« »Aber sicher!« antwortete Anton. Betont rätselhaft fügte er hinzu: »Sie haben Namen, die in keinem Telefonbuch der Welt stehen!« »Tatsächlich?« sagte Schnuppermaul sichtlich beeindruckt, als hätte Anton ihm eine tiefe Weisheit anvertraut. »Willst du ihn mir nicht verraten, deinen geheimnisvollen Vampirnamen?« fragte er dann. Anton reckte sein Kinn. »Antonio der Düstere!« »Toll!« meinte Schnuppermaul. »Eigentlich müßte ich mir auch, passend zu meinem Kostüm, einen Vampirnamen zulegen, findest du nicht?« »Doch, unbedingt«, bestätigte Anton und grinste in sich hinein. Was Geiermeier wohl dazu sagen würde! »Mein Name ist wie geschaffen dafür!« Schnuppermaul kicherte. »Ich heiße nämlich Wolf-Rüdiger!« »Wolf-Rüdiger?« platzte Anton heraus. Schnuppermaul sah ihn befremdet an. »Hast du etwas gegen Rüdiger?« fragte er. »N-nein«, versicherte Anton hastig. »Das wäre auch ziemlich dumm!« bemerkte Schnuppermaul. »Rüdiger bedeutet ›Ruhm‹ und ›Speer‹ und ist ein sehr alter und ehrenwerter Name!«
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»Ruhm und Speer?« Die beiden Begriffe würde Anton sich merken – für den kleinen Vampir! »Ich... ich kannte mal einen, der Rüdiger hieß«, erklärte er. »Der hatte riesige Füße und ist immer so komisch geschlurft –« »Ach, deshalb!« sagte Schnuppermaul. Er blinzelte Anton zu und fragte: »Was hältst du davon, wenn ich mich als Vampir ›Wölfi der Kinderliebe‹ nenne?« Anton zwang sich, ernst zu bleiben. »Ja, sehr passend!« sagte er, und vor unterdrücktem Lachen klang seine Stimme ganz kratzend. »Aber jetzt muß ich wirklich gehen.« »Soll ich dich nicht nach Hause bringen?« fragte Schnuppermaul. »M-mich? Nach Hause?« »Ja! Und dann stellst du mich gleich deinen Eltern vor. Die wollen doch schließlich wissen, mit wem ihr Herr Sohn den Abend verbracht hat!« »Ich, äh, also...« Fieberhaft überlegte Anton, wie er Schnuppermaul von diesem völlig unmöglichen Vorschlag wieder abbringen könnte... Schnuppermaul hielt Antons Zögern wohl für Zustimmung, denn er meinte: »Na, wunderbar. Dann werde ich dir noch ein paar von den guten Sachen hier einpacken, und danach brechen wir auf.« Er kicherte, und mit den Worten: »Ich hole nur schnell eine Tüte aus der Küche!« verließ er das Zimmer. Anton wartete noch einen Moment – dann schlich er ins Treppenhaus. Er hörte, wie Schnuppermaul in der Küche mit irgendwelchen Tüten raschelte. Auf Zehenspitzen ging Anton weiter. Er durchquerte den Vorraum und erreichte die Haustür. Anton riß sie auf, und dann rannte er.
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Kribbeln im Magen Erst auf dem Spielplatz vor seinem Haus hielt er inne. Sein Atem ging stoßweise, und ihm war ganz schwindlig. Aber das kam nicht nur vom Laufen: Von der Straße aus hatte Anton gesehen, daß in seiner Wohnung Licht brannte.
Seine Eltern mußten also – früher, als Anton erwartet hatte – von ihrem Ausflug ins Schwimmbad und von dem Glas Wein, das sie anschließend trinken wollten, zurückgekehrt sein! Und dann mußten sie auch bemerkt haben, daß Antons Zimmertür abgeschlossen war... Beklommen malte Anton sich aus, wie sie gegen die Tür geklopft und seinen Namen gerufen hatten. Ob sie die Tür vielleicht sogar – aufgebrochen hatten? 57
Jedenfalls war sein ursprünglicher Plan, durch das angelehnte Fenster wieder in die Wohnung zu gelangen, nun hinfällig geworden... Oder doch nicht? überlegt er dann. Wenn er einfach behauptete, fest wie ein Murmeltier geschlafen zu haben und das Klopfen und Rufen seiner Eltern gar nicht gehört zu haben? Das klappte allerdings nur, wenn sie die Tür nicht aufgebrochen hatten! Er beschloß, zu seinem Fenster zu fliegen und nachzusehen. Hastig zog er das alte Jackett aus, das er unter dem Vampirumhang trug, und band es sich, genau wie damals in der Ruine im Jammertal, um die Hüften. Die alte Hose behielt er an; bis hinauf zu seinem Zimmer würde er es allemal schaffen! Dann machte er ein paar vorsichtige Schritte aus dem Schatten der Büsche heraus. Als er nichts Verdächtiges entdeckte, bewegte er seine Arme ein paarmal auf und ab. Mit einem Kribbeln im Magen spürte er, wie sich seine Füße vom Erdboden abhoben und wie er zu schweben begann. Er machte ein paar kräftige Armstöße – und flog. Anton landete auf dem schmalen, gemauerten Sims vor seinem Fenster. Er hielt sich an einem Vorsprung in der Hauswand fest und blickte, vor Aufregung zitternd, in sein vom Mondlicht erleuchtetes Zimmer.
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Aufatmend erkannte er das helle Rechteck der Zimmertür: Sie war geschlossen! Anton drückte den angelehnten Flügel des Fensters nach innen auf und ließ sich ins Zimmer gleiten. Dann verriegelte er das Fenster hinter sich. Ohne Licht zu machen, zog er den Vampirumhang und die Anzughose aus und versteckte sie, zusammen mit dem Jackett, in seinem Schrank. Als er in seinen Schlafanzug geschlüpft war und auf der Bettkante saß, schaltete er die Nachttischlampe ein.
Lieber Anton ›So, jetzt können seine Eltern ruhig klopfen!‹ dachte Anton und reckte sich zufrieden. Da fiel sein Blick auf ein weißes, mit einem Bindfaden verschnürtes Bündel, das unter seinem Schreibtisch lag. Sekundenlang setzte Antons Herzschlag aus. Waren seine Eltern doch im Zimmer gewesen? Er stand auf und ging langsam auf das Bündel zu. Aber nein, was dort auf dem Teppich lag, gehörte bestimmt nicht seinen Eltern: Es war ein zusammengerolltes weißes Kleid – Annas Spitzenkleid! Anton stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und mit einem fast zärtlichen Gefühl hob er das Bündel auf. Anna war also in seinem Zimmer gewesen! Jetzt sah er, daß ein Blatt Papier unter den Bindfaden geschoben war. Er zog es heraus und begann zu lesen: Lieber Anton, bitte, bewahre das Kleid noch eine Weile für mich auf! Schade, daß unser Fasching so enden mußte! Aber bestimmt sehen wir uns bald wieder. Zu Deiner Party können wir nicht kommen, leider – Familienangelegenheiten! 60
Deine Anna P. S.: Sind auch Mädchen auf Deiner Party? Hoffentlich nicht! ›Oje, die Party morgen abend!‹ fiel es Anton wieder ein. Er hatte ohnehin keine große Lust zum Feiern gehabt – schon wegen des stundenlangen Aufräumens vorher und nachher nicht... Aber ohne Anna und den kleinen Vampir konnte ihm die ganze Party gestohlen bleiben! Am besten, er ging zu seiner Oma und ließ seine Eltern mit Ole, Sebastian und Henning allein feiern – schließlich stammte die Idee zu der Party von ihnen! Plötzlich hörte Anton Schritte im Flur. »Und du glaubst, wir sollten noch mal versuchen, ihn zu wecken?« Das war die Stimme seines Vaters. »Ja, unbedingt!« antwortete Antons Mutter.
Eine schwierige Lage Hastig ließ Anton den Brief und das Kleid in seinem Schrank verschwinden. Dann schlich er zu seinem Bett und kroch unter die Decke. »Ich glaube, das Bett hat geknarrt!« hörte er seine Mutter aufgeregt flüstern. »Vielleicht ist er aufgewacht«, antwortete Antons Vater. Nun klopfte es an der Tür. »Anton?« fragte seine Mutter. »Was ist...?« tat Anton verschlafen. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!« rief sie. »Wieso hast du deine Zimmertür abgeschlossen? Und wieso hast du auf unser Klopfen nicht geantwortet?« 61
»Klopfen?« Anton gähnte. »Ich hab’ nichts gehört.« »Siehst du!« sagte Antons Vater, offenbar an seine Frau gerichtet. »Er hat gar nichts gemerkt! In seinem Alter hat man noch einen ganz tiefen Schlaf.« »Du mußt es ja wissen«, erwiderte Antons Mutter, verärgert über diese Belehrung. Spitz setzte sie hinzu: »Ich vermute, er hatte wieder einen seiner Alpträume!« »Genau!« bestätigte Anton. »Ich habe geträumt, ich liege im Bett und schlafe, und auf einmal kommen zwei Monster und wollen mich wecken...« Seine Mutter gab ein erbostes Schnauben von sich. »Schließ jetzt bitte deine Tür auf!« sagte sie gereizt. Anton grinste. »Nein!« »Wie – nein?« fragte sie verdutzt. »Nein!« »Aber das ist ja...« »Das ist ein Ratschlag von Herrn Schwartenfeger, jawohl!« sagte Anton und lachte in sich hinein. »Von Herrn Schwartenfeger?« Sie zögerte. Anton stellte sich vor, wie sie ratsuchend seinen Vater ansah. »Was hat denn der Psychologe damit zu tun?« fragte Antons Vater. »Oh, sehr viel«, behauptete Anton. »Er hat gesagt, daß ich mein Zimmer so oft und so lange abschließen darf, wie ich will, weil –« Er machte eine Pause und versuchte, sich an einen der Lieblingsbegriffe von Herrn Schwartenfeger zu erinnern. »Weil das zu meiner freien Persönlichkeitsentfaltung dazu gehört – ja, das hat er gesagt!« erklärte er dann; von Stolz erfüllt, daß ihm dieser komplizierte Ausdruck wieder eingefallen war!
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Seinen Vater schien er damit allerdings nicht sonderlich beeindruckt zu haben, denn er witzelte: »Was sollst du entfalten?« Anton schwieg hoheitsvoll. Doch zum Glück war es Anton gelungen, seine Mutter zu verunsichern. Eher verlegen und nicht mehr halb so energisch, sagte sie jetzt: »Wenn Herr Schwartenfeger meint, daß es so wichtig für dich ist, dem Zimmer abzuschließen... Ich werde auf jeden Fall mit ihm darüber sprechen.« ›Von mir aus!‹ dachte Anton. Herr Schwartenfeger würde sowieso alles richtig finden, was der »freien Persönlichkeitsentfaltung« diente; dessen war Anton sicher. Er glaubte schon, auf der ganzen Linie gewonnen zu haben – da erklärte seine Mutter auf einmal: »Gute Nacht würde ich dir trotzdem noch gern sagen!«
Sofort begriff Anton, daß sie ihm nicht durch die Tür hindurch, sondern an seinem Bett gute Nacht sagen wollte. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Schließlich hatte er noch gar keine Zeit gehabt, die Faschingsschminke abzuwischen und seine toupierten Haare wieder in Ordnung zu bringen. »Ich hab’ mich schon hingelegt«, murmelte er. »Und den Schlüssel... hab’ ich abgezogen.« 63
»Was? Du hast den Schlüssel abgezogen?« rief sie. »Das ist aber sehr leichtsinnig. Wenn hier nun ein Feuer ausbricht!« »Heute nacht wird bestimmt kein Feuer mehr ausbrechen«, mischte sich da Antons Vater ein. »Und wenn Anton wirklich so müde ist, sollten wir ihn jetzt schlafen lassen. Immerhin muß er morgen frisch und munter sein – für seine Party!« »Eben!« sagte Anton. Sein Vater mit seiner sprichwörtlichen Arglosigkeit hatte ihn mal wieder aus einer schwierigen Lage befreit! »Na schön«, gab Antons Mutter nach. »Also, schlaf gut, Anton.« »Ihr auch!« »Frisch und munter für die Party...«, brummte Anton, als seine Eltern gegangen waren. ›Wenn doch schon Samstag wäre!‹ dachte er. ›Dann hätte ich die blöde Party hinter mir.‹
Straßenpöbel Doch so schlimm, wie Anton es sich vorgestellt hatte, wurde die Party gar nicht. Die erste freudige Überraschung war, daß Ole, Sebastian und Henning ihr Geld zusammengelegt und einen dicken Band mit Gruselgeschichten für ihn gekauft hatten. »Die Schöne und der Vampir« lautete der Titel, und er enthielt überwiegend Geschichten, die Anton so unglaublich das war – noch nicht kannte! Nach dem Abendessen – es gab Würstchen mit Kartoffelsalat, Pizza und Eistorte – machten sie Spiele: Flaschendrehen, Die Reise nach Jerusalem, Blinde Kuh... Ja, und als die Stimmung auf dem Höhepunkt war, holte Anton ein paar alte Bettbezüge aus der Flickenkiste, und sie veranstalteten Sackhüpfen; speziell für Frau Miesmann unter ihnen. 64
Prompt klingelte es an der Tür, und Herr Miesmann hielt einen seiner Vorträge, der in ordinären Ausdrücken wie »Rockerbande« und »Straßenpöbel« gipfelte. Danach mußten sie »etwas Ruhiges« spielen: Karten. Die Party endete mit Topfschlagen. Anton zerbrach fast den Holzlöffel, so kräftig hieb er auf den Topfdeckel ein – extra für Frau Miesmann! – und dann erlebte er die zweite freudige Überraschung des Abends: unter dem Topf fand er noch ein Buch: »Werwölfe – die dreizehn besten Geschichten«. Er mußte grinsen. Ob in dem Buch auch »Wölfi der Kinderliebe« vorkam? »Das war doch eine tolle Party!« meinte Antons Mutter, als Anton, nun im Schlafanzug, ins Wohnzimmer kam. »Hm – ja«, sagte Anton und unterdrückte ein Grinsen. »Vor allem die Bücher.« »Anton, der Bücherwurm!« lachte sein Vater. »Wieso?« sagte Anton in gespieltem Erstaunen. »Andere Eltern wären froh, wenn ihre Kinder Bücher lesen würden. Und ich lese nicht nur, ich lese sogar gern!« »Fragt sich allerdings, was jemand liest«, erwiderte seine Mutter. »Und ›Die Schöne und der Vampir‹ kann man wohl nicht als ›wertvolles Buch‹ bezeichnen!« »Wertvoll.« Anton grinste. »Hauptsache, die Seiten sind voll bedruckt!« »Übrigens«, sagte er nach einer Pause. »›Werwölfe – die dreizehn besten Geschichten‹ – wenn ich mich nicht irre, habt ihr das Buch gekauft!« »Vati hat es gekauft«, korrigierte seine Mutter. »Tja...« Der Vater sah Anton mit einem Augenzwinkern an. »Ich mag Bücherwürmer.« – »Und voll bedruckte Seiten mag ich auch!« ergänzte er schmunzelnd.
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Eigenheiten, die man respektieren muß Anton war allerdings nicht der einzige Bücherwurm an diesem Abend: Als er nach dem Zähneputzen in sein Zimmer zurückkehrte, saß eine schwarzgekleidete Gestalt auf seinem Bett und schien ganz vertieft in das neue, dicke Gruselbuch. Es war – »Rüdiger!« freute sich Anton. Der kleine Vampir hob den Kopf und verzog seine Mundwinkel zu einem anerkennenden Grinsen. »Das ist die tollste Geschichte, die ich jemals gelesen habe!« sagte er mit heiserer Stimme. »Welche denn?« fragte Anton und näherte sich ihm neugierig. »Na, diese hier!« antwortete der Vampir und hielt das Buch hoch. Anton erblickte eine Federzeichnung, auf der sich eine blühend aussehende Frau und ein dünner, kränklich wirkender Mann zärtlich anlächelten. Offenbar hatte Rüdiger gerade die Titelgeschichte des Buches gelesen: »Die Schöne und der Vampir«! »Eine wunderbare Geschichte«, sagte der Vampir in einem für Anton ganz ungewohnten, schwärmerischen Tonfall. »Hier wird der Vampir endlich einmal richtig dargestellt!« »Richtig? Inwiefern?« fragte Anton. Immerhin kannte er die Geschichte nicht – noch nicht. »Na, als ein sehr sympathischer Zeitgenosse, der nur gewisse Eigenheiten hat, die man eben – wie heißt es so schön in der Geschichte? – verstehen und respektieren muß!« »Eigenheiten, die man respektieren muß?« Anton dachte an seine Eltern, die bestimmt nicht viel Verständnis und Respekt für Rüdigers »Eigenheiten« aufbringen würden. Und »sympathisch« fanden sie den kleinen Vampir erst recht nicht! 66
Er ging hastig zur Tür und schloß sie von innen ab. Dann machte er das Fenster zu, das er vorhin zum Lüften geöffnet hatte. Inzwischen war es schon recht kühl im Zimmer geworden, und Anton fröstelte in seinem Schlafanzug. Oder war es die Müdigkeit? Er nahm seinen braunen SchafwollPullover aus dem Schrank und zog ihn über. Der kleine Vampir nieste. »He, was mieft hier plötzlich so?« krächzte er. »Keine Ahnung«, sagte Anton.
Dabei hätte er die Frage sehr wohl beantworten können: Der kleine Vampir mit seinen uralten Sachen verbreitete diesen Geruch nach muffiger Sargluft – ganz besonders, seit das Fenster nicht mehr offenstand! »Es mieft nach Stall«, erklärte der Vampir mißvergnügt und zog die Nase kraus. »Puh! Das erinnert mich an diesen widerlichen Urlaub auf dem Bauernhof, zu dem du mich überredet hattest!« 67
Sein Blick fiel auf Antons Pullover. »Igitt, Schafwolle!« rief er. »Das ist es, was mieft!« Anton roch an der Wolle. »Ich kann nichts feststellen«, erwiderte er. »Ich aber! Zieh sofort den Pulli aus!« herrschte der Vampir ihn an. »Den Pulli ausziehen? Und wenn mir kalt ist?« protestierte Anton. »Du solltest langsam wissen, daß wir Vampire sehr empfindliche Nasen haben!« knurrte der kleine Vampir. »Ach, wirklich?« Anton hatte Mühe, nicht zu lachen. Wenn das stimmte, mußten die Vampire ja am allerwenigsten sich selbst ertragen können! Doch das sagte er lieber nicht laut! Er trat an seinen Schrank und vertauschte den SchafwollPullover gegen einen aus – Baumwolle.
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Nur ein Wimpernschlag »Das Buch hier«, sagte der Vampir, nun wieder ganz sanft. »Würdest du mir das mal leihen?« »Leihen?« wiederholte Anton. Der kleine Vampir war nicht gerade zuverlässig, was die Rückgabe geliehener Bücher betraf! »Ich... ich hab’ es heute erst bekommen – als Geschenk!« sagte er abwehrend. »Als Geschenk?« Der kleine Vampir grinste. »Daran kannst du mal sehen, wie gut du es hast. Mir schenkt niemand Bücher! Also solltest du etwas Mitgefühl aufbringen und mir dein Buch wenigstens leihen!« »Und wann kriege ich es zurück?« »Wann?« Der Vampir rollte mit den Augen, als würde er angestrengt nachdenken. »Ich schätze in spätestens... dreihundertdreiunddreißig Nächten.« »Was?« empörte sich Anton. »Das wäre ja fast ein Jahr!« Der Vampir lächelte süßlich. »Das ist kaum länger als ein Wimpernschlag im Angesicht der Ewigkeit«, erwiderte er hochtrabend. »Wie bitte?« sagte Anton verblüfft. »Alter Vampirspruch«, erklärte Rüdiger. »Aber wenn du Glück hast, bekommst du es auch noch früher zurück!« setzte er prahlerisch hinzu, und bevor Anton etwas entgegnen konnte, ließ er das Buch unter seinen weiten Umhang verschwinden. Anton lachte grimmig. »Noch früher?« »Ja! Es hängt von bestimmten wichtigen Personen ab«, antwortete der Vampir und kicherte. »Wahrscheinlich mal wieder von Jörg dem Aufbrausenden und Waldi dem Bösartigen«, meinte Anton zähneknirschend.
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»Nein, ausnahmsweise nicht«, sagte der kleine Vampir, und noch heftiger kichernd, fuhr er fort: »Man könnte auch sagen: Von einer wichtigen Person hängt es ab!« »Von einer? Dann bestimmt von Lumpi!« »Auch falsch. Von einer weiblichen hängt es ab!« »Von einer weiblichen?« »Ja. Wenn sie kommt, will ich ihr die Geschichte vorlesen, diese ›Die Schöne und der Vampir‹!« »Wenn sie kommt?« Anton hatte plötzlich den schrecklichen Verdacht, daß es – Tante Dorothee sein könnte! »Etwa zu mir, in mein Zimmer?« rief er. »In dein Zimmer?« Der kleine Vampir schnaubte verächtlich. »Glaubst du, sie würde von Wien bis hierher fliegen, um in dein Zimmer zu kommen?« »Von Wien?« »Jawohl! Die ganze Strecke von Wien bis hierher – und das alles mit ihrem schweren Klappsarg auf dem Rücken!« »Mit ihrem Klappsarg? Dann muß es Olga sein!« stieß Anton hervor. Kaum hatte Anton ihren Namen genannt, da geschah eine seltsame Verwandlung mit dem kleinen Vampir: Eine tiefe Röte überzog sein Gesicht, und verlegen lispelte er: »Das hat aber gedauert, bis du drauf gekommen bist.« »Na ja«, verteidigte sich Anton. »Immerhin liegt es schon ziemlich lange zurück – das mit Olga!« »Allerdings!« Der kleine Vampir seufzte. »Wenn ich daran denke, wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben, Olga und ich... Nächtelang, wochenlang, monatelang, jahrelang, jahrzehntelang...« »Aber das ist doch nur ein Wimpernschlag im Angesicht der Ewigkeit!« meinte Anton grinsend. Der Vampir warf ihm einen giftigen Blick zu. »Spar dir deine Witze!« knurrte er. »Meine Witze?« sagte Anton. 71
Aber der kleine Vampir zog es vor, seine Erwiderung zu überhören. Mit einem eitlen, selbstgefälligen Lächeln zupfte er an seinen langen, verfilzten Haarsträhnen herum und beachtete Anton überhaupt nicht.
Richard der Nachtragende »Sag mal«, fragte Anton nach einer Pause. »Woher weißt du eigentlich, daß Olga zurückkommt?« »Woher?« tat der Vampir geheimnisvoll. »Darüber darf ich nicht sprechen.«
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»Ach, wirklich?« Anton grinste. »Hast du etwa einen Brief bekommen, einen Liebesbrief von Olga?« »Olga schickt keine Briefe – jedenfalls nicht mit der Post!« schnaubte der Vampir. Offenbar hatte Anton mit seiner Frage eine wunde Stelle bei ihm getroffen! »Aber woher weißt du es dann?« beharrte Anton. »Ich habe eben so meine Beziehungen«, antwortete Rüdiger. »Deine Beziehungskisten?« Anton grinste noch mehr. »Trottel!« zischte der Vampir. »Ich bin doch kein Sargtischler. Von meinen Verbindungen habe ich gesprochen.« »Ach so!« Anton unterdrückte ein Lachen. »Das konnte ich ja nicht wissen, daß Olga dich angerufen hat.« Der kleine Vampir sah ihn verwirrt an. »Wieso angerufen? Wer hat gesagt, daß sie angerufen hat? Außerdem haben wir gar kein Telefon... Nein, ich weiß es von Richard dem Nachtragenden.« »Von Richard dem Nachtragenden?« wiederholte Anton – sehr zufrieden, daß es ihm gelungen war, dem kleinen Vampir sein Geheimnis zu entlocken. »Dann hast du den Brief also von Richard dem Nachtragenden bekommen«, folgerte er. »Er hat dir Olgas Brief zugetragen – äh, nachgetragen!« »›Brief‹, ich höre immer ›Brief‹!« sagte der Vampir unwirsch. »Richard der Nachtragende hat Waldi dem Bösartigen davon erzählt, daß Olga schreckliches Heimweh nach unserer Gruft hat und daß sie so bald wie möglich zurückkehren möchte. Ja, und Waldi der Bösartige hat es Lumpi erzählt, und Lumpi hat es mir erzählt!«
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»Ach«, meinte Anton. »Dann ist es mehr ein Gerücht aus der Gerüchtegruft!« »Ein Gerücht aus der Gerüchtegruft?« wiederholte der kleine Vampir, und seine Augen funkelten zornig. »Wie kommst du denn darauf? Richard der Nachtragende verbreitet keine Falschmeldungen.« ›Nein, aber Lumpi vielleicht – oder Waldi!‹ dachte Anton; doch das behielt er lieber für sich. »Falschmeldungen?« sagte er laut. »Das klingt ja fast, als wäre er Nachrichtensprecher beim Fernsehen!« »Das ist er auch – jedenfalls so was Ähnliches«, erwiderte der Vampir und fügte hinzu: »Man könnte sagen, er ist Sprecher der Spätnachrichten beim Fernfliegen!« Er brach in ein heiseres Gelächter aus, und auch Anton mußte lachen. »Und im übrigen«, fuhr der kleine Vampir fort, sobald er sich wieder beruhigt hatte. »Wenn ich irgendwelche Zweifel hätte, daß Richard der Nachtragende die Wahrheit gesagt hat, dann wäre ich heute abend nicht hierher, zu dir gekommen!« »Wieso? Was hat das alles mit mir zu tun?« fragte Anton. »Oh, sehr viel«, antwortete der Vampir. »Anna hat mir von deinem Programm gegen starke Ängste berichtet, und ich habe mich entschlossen, es zu machen – für Olga!«
Mit den Augen der Liebe Sekundenlang war Anton so überrascht, daß er keinen Ton herausbrachte. Dann fragte er mit rauher Stimme: »Du willst das Programm machen – für Olga?« »Ja, als Zeichen meiner großen –«, begann der Vampir, doch unvermittelt brach er ab und schnauzte Anton an: »He, wieso horchst du mich hier so aus?«
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»Ich horch’ dich überhaupt nicht aus!« widersprach Anton. »Du selbst hast angefangen von deiner großen –« »– Verehrung, meiner großen Verehrung für Olga; genau, das wollte ich sagen!« erklärte der Vampir. Und leise, vertrauensvoll fügte er hinzu: »Olga hat Richard dem Nachtragenden die Gründe genannt, warum sie sich von mir getrennt hat!« »Ach, wirklich?« sagte Anton voller Unbehagen; denn schließlich war er es gewesen, der sich das Märchen von dem Vetter in Paris ausgedacht hatte, den Olga angeblich besuchen wollte – damals, nach Olgas Abflug, als der kleine Vampir so verzweifelt gewesen war. Wenn der kleine Vampir nun auf dem Weg über Richard den Nachtragenden, Waldi den Bösartigen und Lumpi erfahren hatte, daß es diesen mysteriösen Vetter gar nicht gab... mußte er dann nicht wütend auf ihn, Anton, sein? Aber einen wütenden Eindruck machte Rüdiger nicht, eher im Gegenteil: Für seine Verhältnisse wirkte er sogar richtig gut gelaunt. »Ja, und wenn ich erst mal gelernt habe, den Sonnenstrahlen standzuhalten«, fuhr der kleine Vampir jetzt mit erhobener Stimme fort, »dann wird Olga erkennen, daß ich keineswegs so hasenherzig und mittelmäßig bin, wie sie glaubt!« »Mittelmäßig und hasenherzig?« wiederholte Anton. »Hat Olga das gesagt?« Der kleine Vampir nickte. »Ja. Das sind ihre Hauptgründe gewesen.« »Und sie hat sogar recht damit«, fügte er hinzu. »Ich hatte wirklich das Herz eines Hasen – klein, ängstlich und eigensüchtig. Und mittelmäßig war ich auch – langweilig und unbedeutend!« Er gab einen tiefen Seufzer von sich. »Aber manchmal braucht man eben eine andere Person, die einen kritisch, aber
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doch mit den Augen der Liebe betrachtet – damit man begreift, wie es wirklich um einen steht!« »Mit den Augen der Liebe?« wiederholte Anton, dem eine spöttische Entgegnung auf der Zunge lag: Daß Liebe blind macht! Aber er ahnte, daß er mit einer solchen Bemerkung den kleinen Vampir nur dazu bringen würde, Olga in Schutz zu nehmen. »Ich finde dich nicht hasenherzig«, erwiderte er und ergänzte doppeldeutig: »Da wüßte ich ganz andere!« Mit den »ganz anderen« spielte Anton natürlich auf Olga an. Olga hatte mit Sicherheit das »kleinste« Herz von allen: In ihm war nur Platz für sie selbst! Aber wie Anton erwartet hatte, verstand der Vampir seine Andeutung vollkommen falsch. »Ja, das stimmt!« meinte er. »Du bist noch ängstlicher und eigensüchtiger als ich.« Er lachte krächzend, und Anton machte gute Miene zum bösen Spiel; was blieb ihm auch anderes übrig? Mit einem Vampir befreundet zu sein, das bedeutete nicht nur, Geduld zu haben. Nein, vor allem durfte man nicht – den Humor verlieren! Und Humor ist, wenn man trotzdem lacht... alter AntonSpruch!
Die alte Leier »Ach, ich bin so aufgeregt!« sagte der kleine Vampir jetzt. »Wann, glaubst du, könnte ich frühestens mit dem Programm anfangen?« »Wann?« Anton zögerte. Er hatte das Gefühl, daß es seine Pflicht wäre, Rüdiger vor allzu großen Hoffnungen zu warnen und ihn auf die Gefahren hinzuweisen, die ihm möglicherweise drohten; denn nicht
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einmal Herr Schwartenfeger selbst wußte, ob sein Programm auch wirklich funktionieren würde! Andererseits – wenn es funktionierte, dann bedeutete das eine ungeheure Chance für den kleinen Vampir! Und um diese Chance wollte Anton den Vampir nicht bringen; auch nicht dadurch, daß er ihn schon vorher entmutigte. Er dachte an den geheimnisvollen Patienten, Igno von Rant. Dieser Igno von Rant war ein echter Vampir! Und Anton hatte ihn vor Sonnenuntergang in der Praxis des Psychologen getroffen! Im übrigen: Was immer Anton auch gegen das Programm vortragen würde... in seiner augenblicklichen Verfassung würde Rüdiger nur glauben, daß er, Anton, eifersüchtig auf Olga wäre. Und hinzugehen in die Praxis und mit Herrn Schwartenfeger zu reden, so überlegte Anton, das bedeutete kein sehr großes Risiko für den kleinen Vampir... »Übermorgen«, sagte er heiser. »Am Montag – am Montag abend bin ich wieder bei Herrn Schwartenfeger.« »Übermorgen schon?« Der Vampir knackte mit seinen spitzen Zähnen. Nach kurzem Überlegen fragte er: »Und wie gehen wir nun am geschicktesten vor? Ich meine, du solltest vielleicht erst mal vorfühlen...« »Hab’ ich schon!« erklärte Anton. »Wenn du das Programm machen willst, brauchst du eine Sonnenbrille, Sonnencreme, ja, und gelbe Farben.« »Sonnenbrille? Sonnencreme? Gelbe Farben?« Der kleine Vampir verzog sein Gesicht, als hätte er in eine Knoblauchzehe gebissen. »Das ist doch die Therapie«, versuchte Anton ihm zu erklären. »Die Sachen braucht Herr Schwartenfeger für die DeDesensi-. Na, für sein Training gegen starke Ängste eben!« Der richtige Ausdruck wollte ihm mal wieder nicht einfallen. Dabei hatte Anton sogar im Lexikon nachgeschlagen und
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herausgefunden, daß er so etwas wie »Verminderung der Empfindlichkeit« bedeutete. Der kleine Vampir hustete ein paarmal hinter vorgehaltener Hand. »Klingt eigenartig«, meinte er. »Kriegt man dadurch nicht noch mehr Angst?« »Wie das Programm im einzelnen funktioniert, weiß ich auch nicht«, erwiderte Anton. »Herr Schwartenfeger hat gesagt, daß ihr eine Probestunde machen sollt, weil – durch Reden allein versteht man das Programm nicht.« Der Vampir horchte auf. »Wer – ihr?« Anton räusperte sich. »Du und Anna. Ich... ich hab’ Schwartenfeger erzählt, daß ich zwei Freunde habe, und diese Freunde würden Vampire kennen.« »Anna?« Der Vampir schnappte nach Luft. »He, damit bin ich aber nicht einverstanden, daß Anna dieses – dieses Training macht!« »Schon gut!« sagte Anton besänftigend. »Sie will ja auch gar nicht.« »Ach, sie will nicht?« Der kleine Vampir kicherte. »Ich schätze, ihr fehlt der Mut dazu.« »Bestimmt!« sagte Anton ironisch. Immerhin trug Anna den Beinamen »die Mutige«! Der kleine Vampir knackte wieder mit seinen Zähnen. »Eine Probestunde...«, murmelte er. Dann straffte er sich, und entschlossen sagte er: »Also gut: Ich mache die Probestunde! Du gehst am Montag hin und läßt dir einen Termin geben!« »Für mich?« fragte Anton und grinste hinterhältig. »Nein, für mich – Dussel!« »Dussel?« Anton grinste noch mehr. »Ich an deiner Stelle würde lieber höflich... bitten!«
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»Bitten, bitten«, zischte der Vampir. »Immer diese alte Leier! Na schön, von mir aus: Würdest du mir bitte einen Termin besorgen?« »Warum nicht gleich so?« meinte Anton. »A-aber nicht am Mittwoch –«, ergänzte der Vampir hastig. »Am Mittwoch bin ich ausgebucht: Männer-Musikverein!« »Ausgebucht?« Anton blickte auf den Umhang des Vampirs – dorthin, wo sich die Umrisse des Buches abzeichneten. »Gut, ich besorg’ dir den Termin«, sagte er. »Aber nur, wenn du mir ›Die Schöne und der Vampir‹ zurückgibst!« Der Vampir warf ihm einen finsteren Blick zu. »Nennst du das höflich?« sagte er voller Verachtung. Er ging zum Fenster und riß es auf. »Du siehst nur das Sandkorn im Auge des andern«, bemerkte er giftig, »aber nicht den Balken im eigenen – aua!« Anscheinend hatte er sich den Kopf am Fensterrahmen gestoßen. Er gab ein zorniges Schnauben von sich, und ohne ein Abschiedswort flog er davon – mit Antons Buch. Anton seufzte. Wer mit einem Vampir befreundet war, brauchte nicht nur Geduld und Humor. Vor allem brauchte er Bücher – und nicht irgendwelche, sondern richtig gute: Vampirbücher! Aber ein Buch war ihm ja noch geblieben: »Werwölfe – die dreizehn besten Geschichten«. Anton nahm es und legte sich auf sein Bett. Doch dieser Samstag war so anstrengend gewesen, daß Anton über die erste Zeile nicht hinauskam. »In einer stürmischen Herbstnacht klopften zwei einsame Wanderer...«, las er – dann fielen ihm die Augen zu, und er schlief.
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Der Erfolgspatient Als Anton am Montag abend hinter seiner Mutter die Wohnung betrat, roch es köstlich nach Bratkartoffeln. »Hm, lecker!« frohlockte er. Antons Vater erschien im Flur. »Ich hoffe, ihr habt ordentlichen Hunger mitgebracht.« »Bratkartoffeln am Abend?« erwiderte Antons Mutter und verzog die Mundwinkel. »Die sind doch viel zu kalorienreich! Außerdem liegen sie schwer im Magen.« »Und ich dachte, ich würde euch eine Freude machen!« sagte Antons Vater. »Nach eurer langen Sitzung beim Psychologen.« »Nach meiner langen Sitzung«, verbesserte Anton. »Mutti hat mich nur hingefahren.« »Ja, und es wäre klüger gewesen, hierzubleiben und die Aufsatzhefte nachzusehen!« schimpfte sie. »Jetzt habe ich noch einen Haufen Arbeit vor mir.« Anton grinste. »Hättest du mich doch mit dem Bus fahren lassen!« »Aber mir hast du eine Riesenfreude gemacht mit den Bratkartoffeln«, erklärte er, zu seinem Vater gewandt, und fügte mit einem Seitenblick auf seine Mutter hinzu: »Ich muß ja nicht auf meine Linie achten!«
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»Haha!« sagte seine Mutter und warf ihm einen verärgerten Blick zu. Sie reckte ihr Kinn, und mit energischen Schritten ging sie zu ihrem Arbeitszimmer. »Guten Appetit bei euren Kalorienbomben!« zischte sie und schlug die Tür hinter sich zu. Antons Vater blickte verdutzt auf die geschlossene Tür. »Sag mal, hattet ihr Streit, du und Mutti?« »Nö!« meinte Anton. »Ihr denn?« »Aber es muß doch einen Grund geben für Muttis schlechte Laune«, beharrte sein Vater. »Hat Herr Schwartenfeger ihr irgendwelche unangenehmen Dinge eröffnet?« Anton schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er und marschierte auf die Küche zu. »Dann sind es wahrscheinlich die Aufsatzhefte, die ihr die Stimmung verdorben haben«, bemerkte sein Vater und folgte ihm. In der Küche nahm Anton sich erst mal eine große Portion Bratkartoffeln. »Was hat Herr Schwartenfeger denn so gesagt?« erkundigte sich sein Vater, der ebenfalls kräftig zugegriffen hatte. »Ach –«, antwortete Anton mit vollem Mund. »Ich brauch’ jetzt nicht wieder hinzugehen.« »Tatsächlich?« sagte sein Vater erfreut. »Dann bist du also geheilt?« Das sollte wahrscheinlich ein Scherz sein. »Sozusagen ein Erfolgspatient von Herrn Schwartenfeger!« Anton grinste. »Sieht so aus.« »Und sonst?« fragte sein Vater. »Worüber habt ihr noch gesprochen?« »Sonst?« sagte Anton gedehnt. »Über die Schule und so.« Daß sie vor allem über die Probestunde gesprochen hatten, verriet Anton natürlich nicht. Und auch den Termin behielt er für sich: Am Samstag abend sollte er mit dem kleinen Vampir um 21.30 Uhr in die Praxis von Herrn Schwartenfeger
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kommen. Und dann würde Rüdiger seine ersten Erfahrungen mit dem rätselhaften Programm machen... »Am Samstag«, fragte Anton vorsichtig, »geht ihr da wieder ins Kino?« »Nein, ins Theater«, antwortete sein Vater. »Mutti hat schon Karten gekauft.« »Sie hat schon Karten?« freute sich Anton. »Was gibt es denn?« fragte er aufgekratzt. »Romeo und Julia, zweiter Teil?« »Keine Ahnung«, antwortete sein Vater. »Mutti hat die Karten gekauft.« Anton grinste. »Auch Kultur-Muffel, wie?« Sein Vater lachte und füllte sich ein zweitesmal den Teller. »Jedenfalls kein Bratkartoffel-Muffel!«
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Vollstes Vertrauen Nach dem Abendessen ging Anton in sein Zimmer – angeblich, um noch Mathematik zu pauken. Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Es begann bereits zu dämmern, und in den meisten Häusern brannte Licht. ›Hoffentlich ließ der kleine Vampir nicht allzu lange auf sich warten!‹ dachte er. Er nahm sein Buch »Werwölfe – die dreizehn besten Geschichten«, legte sich aufs Bett und schaltete die Nachttischlampe ein. Doch er hatte kaum die erste Seite gelesen, da hörte er, wie eine heisere Stimme vom Fenster her sagte: »Hallo, Anton!« Auf dem Fensterbrett saß der kleine Vampir. »Hallo, Rüdiger«, begrüßte Anton ihn freudig. Mehrmals hustend, kam der kleine Vampir ins Zimmer geklettert. Anton erschrak. Der Vampir wirkte noch bleicher als sonst – richtig abgezehrt und hinfällig sah er aus. Er war doch nicht etwa... krank? Der kleine Vampir schien seine Gedanken erraten zu haben, denn er meinte: »Keine Sorge, das ist nur mein Magen, mein armer leerer Magen.« Er lachte krächzend. Sein Lachen ging in ein rauhes, stoßweises Husten über. Anton spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. »Ich – also, die Probestunde«, sagte er rasch, um das Gespräch auf ein weniger heikles Thema zu bringen. »Herr Schwartenfeger hat mir für Samstag einen Termin gegeben!« »Dir?« »Nein, uns natürlich«, sagte Anton. »Oder willst du etwa nicht mehr, daß ich mitkomme?« »Doch, klar!« knurrte der Vampir. »Ich bin doch nicht lebensmüde.« 84
»– Aber wieso erst am Samstag?« fragte er unzufrieden. »Es ist weil –«, Anton räusperte sich. »Herr Schwartenfeger macht dieses Training ja nicht in seiner normalen Sprechstunde«, erklärte er dann. »Ja, und in der Woche kann ich eben nicht – wegen meiner Eltern und wegen der Schule.« »Und samstags gehen deine Eltern meistens aus, ich weiß«, ergänzte der Vampir. »Wann sollen wir da sein?« »Um halb zehn.« »Um halb zehn?« Der kleine Vampir hustete wieder. Als sein Husten abgeklungen war, meinte er mit einem breiten Grinsen: »Na, um die Zeit hab’ ich wahrscheinlich schon – gegessen!« »Aber jetzt muß ich unbedingt etwas für mein leibliches Wohl tun«, fügte er hinzu und schüttelte seine Beine, als wären sie ihm eingeschlafen. »Also, bis Samstag«, sagte er und drehte sich zum Fenster um. »W-warte!« rief Anton. »Was ist denn noch?« »Für die Probestunde – die Sonnenbrille und das Sonnenöl und die Sonnencreme –« Der kleine Vampir schwang sich auf das Fensterbrett. »Die darfst du besorgen«, meinte er gönnerhaft. »In dieser Beziehung habe ich vollstes Vertrauen zu dir!« »Und das Geld dafür?« sagte Anton. Aber da hatte der Vampir schon die Arme unter dem Umhang ausgebreitet und war davongeflogen. »Vollstes Vertrauen, ja!« sagte Anton grimmig. »Zu meinem Sparschwein!«
Vor Rührung weinen Doch bis zum Samstag hatte Anton noch genügend Zeit, um sich zu überlegen, wie er die Sachen besorgen konnte, ohne 85
daß er sein – wie er fand – viel zu mageres Sparschwein schlachten mußte. Gleich am nächsten Morgen begann er damit, daß er seiner Mutter erzählte, seine Augen würden ihm wieder Beschwerden machen; genau wie damals, als ihm Frau Dr. Dösig, ihre Hausärztin, die Augentropfen verschrieben hatte; diese »TulliEx«, die er dann an Anna weitergegeben hatte. »Du liest eben zuviel!« bemerkte seine Mutter. »Ja, das stimmt!« antwortete Anton mit einem tiefen Seufzer. »Wenn du wüßtest, was ich alles lesen muß: zehn Seiten für Deutsch, vier für Sachkunde...« »Diese Lektüre meine ich nicht!« erwiderte sie. Anton lächelte vor sich hin, entgegnete aber nichts. Jedenfalls hatte er es geschafft, seine Mutter davon zu überzeugen, daß er als Schutz für seine empfindlichen Augen unbedingt – eine Sonnenbrille brauchte! Im Kaufhaus dann, nachdem Anton eine Brille mit extra dunklen Gläsern bekommen hatte, gelang es ihm sogar, seine Mutter in die Sportabteilung zu locken. Und dort kaufte sie ihm tatsächlich – nachdem er vom Hockeyspielen mit Ole und von Oles neuer Sportausrüstung geschwärmt hatte – einen Trainingsanzug, Socken und ein Stirnband; alles in sonnengelb! Anton war sehr zufrieden. Ja, seine Zufriedenheit ging so weit, daß er die Sonnencreme und das Sonnenöl von seinem eigenen Geld bezahlte!
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Am Samstag verließen Antons Eltern schon kurz nach neunzehn Uhr die Wohnung, und Anton mußte zwei Stunden – zwei endlos lange Stunden – vor einem öden SamstagabendFernsehprogramm ausharren, bevor der kleine Vampir auf dem Fenstersims landete und gegen die Scheibe pochte. 87
Erleichtert sprang Anton auf. Er lief zum Fenster und öffnete es. »Ganz schön lahme Sendung, wie?« meinte der Vampir fachkundig und deutete mit einem Kopfnicken auf den Fernseher. »Sämtliche Leute, in deren Wohnzimmer ich heute geguckt habe, waren vor dem Apparat eingenickt.« Und mit einem krächzenden Gelächter fügte er hinzu: »Die vom Fernsehen müßten mich mal die Filme aussuchen lassen! Dann würden die Zuschauer vor Spannung auf den Stühlen stehen – oder sie würden vor lauter Angst unter dem Sofa liegen, haha.« Anton grinste. »Oder sie würden vor Rührung weinen.« »Vor Rührung weinen?« fragte der Vampir mißtrauisch. »Wie meinst du das?« »Na ja... Du würdest wahrscheinlich ständig Liebesfilme zeigen – wegen Olga!« Zu Antons Überraschung fühlte sich der kleine Vampir durch diese Bemerkung keineswegs auf den Arm genommen, sondern eher geschmeichelt. »Ja, genau«, sagte er. »Und nur solche, wo sie sich am Schluß auch kriegen!« ›Wo sie sich am Schluß auch kriegen?‹ dachte Anton zweifelnd. Im Fall des kleinen Vampirs und seiner ziemlich einseitigen »großen Liebe« zu Olga glaubte er nicht an ein Happy-End! Und daß Olga von Seifenschwein angeblich ungeheure Sehnsucht nach der Gruft Schlotterstein hatte und so bald wie möglich zurückkehren wollte, konnte er, Anton, sich auch nicht vorstellen. Doch der kleine Vampir war offenbar durch nichts in seinen Gefühlen für Olga zu erschüttern.
Geschmacksverirrung »Fliegen wir nun endlich?« zischte er. 88
»J-ja, sofort«, antwortete Anton. Er ging zu seinem Bett und holte die Tüte mit den neuen Sachen. Als erstes zeigte er dem kleinen Vampir die gelben Socken. »Hier, die müssen wir mitnehmen.« »Iieh – pfui!« sagte der Vampir angewidert. »Da flimmert’s mir ja vor den Augen. Du leidest wohl neuerdings unter Geschmacksverirrung, wie?« »Ich nicht«, sagte Anton, »eher Herr Schwartenfeger.« »Was, schwärmt der für dieses ekelerregende – brr! – gelb?« »Nein, es gehört zu seinem Programm dazu. Aber das hatte ich dir doch gesagt!« »Mir?« »Ja! Und die Sonnenbrille brauchst du auch.« »Pfui, Sonnenbrille!« Der kleine Vampir hielt sich abwehrend die Hände vor die Augen. »Noch nie hat ein Vampir so ein abscheuliches, unwürdiges Gestell aufgesetzt.« »Du brauchst sie ja nur beim Training zu tragen«, sagte Anton. »Die Sachen sind sowieso alle nur für das Programm.« Der Vampir knurrte etwas und ließ die Hände sinken.
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»Na, gib schon her«, zischte er und entriß Anton die Tüte. »Los, und jetzt komm!« Anton sah zu, wie Rüdiger die Tüte unter seinem Umhang verschwinden ließ. Wahrscheinlich stopfte er sie in den Bund seiner alten, löchrigen Strumpfhose. »Was ist?« fauchte der kleine Vampir. »Worauf wartest du noch?« »Auf – auf nichts«, sagte Anton. Er streifte sich den zweiten Vampirumhang über, den er im Schrank vor den argwöhnischen Blicken seiner Eltern versteckt gehalten hatte. Dann flog er hinter dem kleinen Vampir zum Fenster hinaus – nicht ohne vorher seine Zimmertür abgeschlossen zu haben; für den Fall, daß seine Eltern wider Erwarten doch vor ihm zurückkamen!
Nicht so hastig! Die Strecke, die sie fliegend zurücklegen mußten, hatte Anton sich am Nachmittag auf dem Stadtplan angesehen, und so erreichten sie in kurzer Zeit das Haus, in dem Herr Schwartenfeger seine Praxis hatte. Sie landeten im Vorgarten, hinter ein paar halbhohen Büschen, die sich – eine böse Überraschung für Anton – als Rosensträucher erwiesen. »Ah!« Anton stieß einen unterdrückten Schrei aus. Mit der rechten Hand mußte er einen der Zweige gestreift und sich an einem Dorn die Haut geritzt haben. Er spürte, wie ihm eine klebrige Flüssigkeit in einem dünnen Faden den Zeigefinger hinunterrann: Blut! Schnell leckte er den Finger ab, und dann trat er mit weichen Knien aus dem Schatten der Sträucher heraus. Doch da hielt ihn der Vampir von hinten am Umhang fest und zog ihn unsanft wieder zu sich zurück. 91
Antons Herz schlug wie rasend. Ein Vampir und Blut... »He, nicht so hastig!« knurrte der kleine Vampir. »Mir ist plötzlich ganz komisch.« »K-komisch?« stotterte Anton. Er fuhr mit der Zunge noch einmal über die Wunde – und stellte erleichtert fest, daß sie aufgehört hatte, zu bluten!
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Doch seine Verletzung schien gar nicht der Grund zu sein, daß der kleine Vampir sich »komisch« fühlte; denn jetzt sagte er mit ängstlicher Miene: »Und wenn es nun eine Falle ist – das mit dem Programm?« »Eine Falle?« wiederholte Anton und steckte seine rechte Hand in die Hosentasche – vorsichtshalber. »Glaubst du etwa, ich würde dich in eine Falle locken?« sagte er in gespielter Entrüstung. »Na ja...« Der Vampir hüstelte verlegen. »Immerhin kenne ich diesen Warzenpfleger überhaupt nicht.« »Schwartenfeger«, korrigierte Anton und fügte hinzu: »Aber ich kenne ihn! Außerdem – er hat ja noch einen anderen Vampir in Behandlung: Igno von Rant. Und dem ist auch nichts passiert; der kann jetzt sogar vor Sonnenuntergang seinen Sarg verlassen.« Das hatte den kleinen Vampir anscheinend überzeugt. Er erhob sich und meinte: »Also gut, auf deine Verantwortung.« ›Das ist mal wieder typisch Rüdiger!‹ dachte Anton. ›Immer dem anderen die Verantwortung in die Schuhe – äh, Turnschuhe – schieben!‹
Klingelzeichen Sie gingen zur Haustür, und Anton klingelte zweimal kurz, zweimal lang; das Zeichen, das er mit Herrn Schwartenfeger vereinbart hatte. »Damit ich weiß, daß ihr es seid!« hatte er zu Anton gesagt. »Dann bleibt meine Frau im Wohnzimmer, und ich mache euch selbst die Tür auf.« Anton war das nur recht gewesen. Je weniger Zeugen, desto besser für ihn und den kleinen Vampir! Während sie warteten, trat der Vampir nervös von einem Fuß auf den anderen, und
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auch Anton wurde immer unruhiger. Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so sicher und selbstbewußt. Als er hörte, wie sich durch den Hausflur schwere Schritte näherten, durchzuckte ihn sekundenlang der Gedanke, daß es vielleicht doch – eine Falle sein könnte! Dann ging die Haustür auf, und Herr Schwartenfeger stand ihnen gegenüber. »Guten Abend!« begrüßte er sie. »Ich freue mich, daß ihr gekommen seid!« »Guten Abend, Herr Schwartenfeger«, sagte Anton mit belegter Stimme. »’n Abend«, krächzte der kleine Vampir, dem das Licht der Flurlampe direkt ins Gesicht fiel. »Kommt herein«, sagte Herr Schwartenfeger. Er schien sich weder über die schulterlangen verfilzten Haare, die bleiche Haut und die tiefen Augenränder des Vampirs zu wundern – noch über die löchrigen, muffig riechenden Umhänge, die Anton und Rüdiger trugen.
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In seinen großen, quietschenden Schuhen ging er nun voraus, und Anton und der kleine Vampir folgten ihm. Sie kamen in die Praxis und durchquerten den langen Flur, in dem es abscheulich nach Fisch roch. Anton drehte sich fast der Magen um. Oder war das die Aufregung? Endlich hatten sie das Sprechzimmer erreicht. Herr Schwartenfeger nahm hinter seinem großen, mit Büchern und Akten übersäten Schreibtisch Platz und nickte ihnen einladend zu. Anton steuerte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu und setzte sich.
Rudolf Bär »Und was ist mit dir?« fragte Herr Schwartenfeger den kleinen Vampir, der an der Tür stehengeblieben war. »Willst du nicht hereinkommen?« »Oder muß ich ›Sie‹ sagen?« fügte er scherzend hinzu. Der kleine Vampir verzog die Mundwinkel. »Freunde sagen ›du‹ zu mir«, erklärte er mit Grabesstimme. Herr Schwartenfeger schmunzelte. »Dann werde ich ›du‹ sagen, wenn ich darf. Darf ich?« »Meinetwegen«, zischte der Vampir, der jetzt nicht mehr ganz so mißtrauisch wirkte. ›Ein sehr geschickter Schachzug von Herrn Schwartenfeger!‹ dachte Anton anerkennend. Langsam kam der kleine Vampir ins Zimmer. »Wie heißt du eigentlich?« fragte Herr Schwartenfeger, der ihm mit einem freundlichen, aufmunternden Lächeln entgegenblickte. »Rü- äh Ru-, Rudolf!« antwortete der Vampir heiser. Beinahe hätte Anton laut aufgelacht. Rasch hielt er sich eine Hand vor den Mund. »Rudolf?« sagte der Psychologe. »Und weiter?« »Was weiter?« 96
»Na, wie heißt du mit Nachnamen?« »Mit Nachnamen?« Der kleine Vampir zögerte, »Be-er-digung«, nuschelte er dann. »Rudolf Bär? Aber das klingt ja gar nicht wie ein Vampirname!« meinte Herr Schwartenfeger. Anscheinend hatte er nur die ersten beiden Silben verstanden! »Was wollen Sie damit sagen?« fragte der kleine Vampir argwöhnisch. »Ich dachte, Vampire hätten immer ganz ausgefallene Namen«, antwortete Herr Schwartenfeger. »Zum Beispiel Igno von Rant.« »Aber Bär, Rudolf Bär – das klingt nicht sehr vampirisch!« Der kleine Vampir sah Anton hilfesuchend an. »Camembert∗«, sprang Anton ihm bei. »Er heißt mit vollständigem Namen ›Rudolf Camembert‹ – uralter französischer Adel, wissen Sie. Und der hat es nicht nötig, mit seinen Titeln zu protzen.« »Was, aus französischem Adel?« schnaubte der kleine Vampir entrüstet. »Wirf mich bloß nicht mit diesem widerlichen Vetter von Olga, diesem hinterhältigen Betrüger, in einen Sarg, hörst du?« Herr Schwartenfeger lachte etwas gequält. »Na, na«, sagte er. »Wir wollen hier doch keine alten Familienfehden wieder aufleben lassen! Außerdem wird es Zeit, daß wir uns dem Trainingsprogramm zuwenden.« »Dein Trainingsprogramm...« Sofern das überhaupt möglich war, wurde der kleine Vampir noch bleicher. »Ja. Du nimmst jetzt Platz, Rudolf, und dann entspannst du dich!« erklärte Herr Schwartenfeger, nun auf einmal sehr berufsmäßig.
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Camembert: französischer Weichkäse; wird kamembär ausgesprochen 97
Mit diesen Worten stand der Psychologe auf. Er ging zur Tür und schloß sie. »Platz nehmen?« sagte der kleine Vampir voller Unbehagen. »Wo denn?« »Dort, auf dem Entspannungsstuhl«, antwortete Herr Schwartenfeger und zeigte auf einen merkwürdigen breiten Stuhl mit Armlehnen. Der Stuhl war mit grünem Leder bezogen und sah eher wie eine Liege aus.
Ein kleines Wunder Vorsichtig näherte sich der kleine Vampir dem Entspannungsstuhl. »Willst du es dir nicht bequem machen?« fragte Herr Schwartenfeger, als der Vampir vor dem Stuhl stehenblieb. Rüdiger schüttelte den Kopf. »Nein.« »Na, von mir aus«, sagte Herr Schwartenfeger. »Wenn du dich so besser fühlst... Aber es wird dir schwerfallen, dich in dieser Haltung zu entspannen!« »Ich will mich ja gar nicht entspannen«, erwiderte der Vampir. »Ich will nur lernen, keine Angst mehr vor den Sonnenstrahlen zu haben.« »Und du meinst, das würdest du innerhalb von zwanzig Minuten lernen können?« »Na ja –« Der kleine Vampir räusperte sich. »Jedenfalls hier in der Probestunde!« erklärte er und blickte mit trotziger Miene zu Anton hinüber. »Ich weiß nicht, was Anton dir über die Probestunde erzählt hat«, antwortete Herr Schwartenfeger. »Aber deine Angst vor den Sonnenstrahlen wirst du in dieser einen Stunde nicht verlieren.« »Und wozu bin ich dann hier?« murrte der Vampir.
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Herr Schwartenfeger lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück. »Ich verstehe ja deine Ungeduld, Rudolf! Du hast dir viel von dieser Stunde versprochen, und das ist auch gut so.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Aber mein Programm«, sagte er, »mein Desensibilisierungs-Programm erstreckt sich über eine ganze Reihe von Stunden. Und dazu gehören Übungen, viele Übungen, die du gewissenhaft wiederholen mußt.« »Und ein paar Probeübungen sollten wir jetzt gleich machen«, fügte er hinzu. »Damit du einen Eindruck bekommst, wie das Trainingsprogramm abläuft.« »Übungen?« brummte der kleine Vampir. »Und wiederholen muß ich sie auch noch?«
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Herr Schwartenfeger schmunzelte. »Zaubern kann ich nicht – leider. Aber wenn wir zusammenarbeiten, du und ich, dann können wir vielleicht ein kleines Wunder vollbringen.« »Ein kleines Wunder?« sagte der Vampir. »Oh, ja, ich will ein Wunder vollbringen, ein großes sogar!« Er lachte heiser, und entschlossen nahm er auf dem Entspannungsstuhl Platz.
Auf dem Holzpfad Doch sogleich richtete er sich wieder auf und schimpfte: »Die blöde Tüte stört!« Er zog sie unter seinem Umhang hervor und warf sie auf den Boden. »He, die Sachen habe ich nicht geschenkt bekommen!« protestierte Anton. »Ach, wirklich? Hast du sie etwa geklaut?« antwortete der Vampir und grinste. »Ich meine: Meine Mutter und ich haben sie nicht umsonst bekommen!« erwiderte Anton wütend. »Die waren sogar ziemlich teuer.« Er hob die Tüte auf und gab sie dem Psychologen. »Das sind die gelben Sachen, die Sie für Ihr Training brauchen«, sagte er. »Ach, du hast sie schon mitgebracht?« freute sich Herr Schwartenfeger. »Das nenne ich zuverlässig!« »Ja, Anton ist wirklich lässig – zu lässig!« bemerkte da der kleine Vampir. »Der läßt es zu, daß ich mir die Knochen an seiner ekligen Tüte verbiege!« »Ich vermute, es hat sich was ganz anderes verbogen«, gab Anton zurück. »So? Und was?« tat der kleine Vampir unschuldig. »Die Sonnenbrille!« sagte Anton grimmig. »Wenn die kaputt ist, muß ich von meinem Taschengeld eine neue kaufen!« 100
»Du tust grade so, als wäre das der Weltuntergang«, spottete der Vampir. »Bei meinem niedrigen Taschengeld!« sagte Anton. »Denk lieber an mich«, meinte der Vampir. »Ich kriege gar kein Taschengeld.« Herr Schwartenfeger versuchte zu lachen. »Ihr seid heute wohl auf dem Kriegspfad!« »Eher auf dem Holzpfad«, knurrte Anton. Und um den kleinen Vampir zu ärgern, fügte er boshaft hinzu: »Auf dem Holzpflock-Pfad!« »Ha!« schnaubte der Vampir und schüttelte drohend seine Faust. »Wenn du so weitermachst, gebe ich Tante Dorothee deine Adresse, du, du – Rindvieh!« »Nun ist aber genug!« mischte sich Herr Schwartenfeger ein. »Ihr seid nicht hergekommen, um vor mir eure Streitigkeiten auszutragen.« »Und damit ihr es wißt –«, fügte er mit ernster Miene hinzu, »wenn ihr euch nicht vertragen könnt, werde ich mir überlegen müssen, ob Anton in Zukunft überhaupt noch bei den Therapiestunden dabei sein kann.« »Was?« rief der kleine Vampir erschrocken. »Sie meinen, ich soll allein...« Er sprach nicht zu Ende. »Du sollst nicht«, widersprach Herr Schwartenfeger. »Aber wenn ihr euch hier wie zwei Kampfhähne aufführt... Unter solchen Bedingungen können wir nicht arbeiten!« »Hast du gehört, Anton?«, sagte der kleine Vampir. »Du mußt dich zusammenreißen!« Anton schwieg – voller Verachtung, wie der Vampir hoffentlich merkte. »Du aber auch, Rudolf«, sagte Herr Schwartenfeger. »An mir soll’s nicht liegen«, versicherte der kleine Vampir großspurig. »Ich brenne darauf, mit dem Programm anzufangen!«
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Er streifte seine schwarzen Stoffschuhe ab und wackelte ungeduldig mit den Zehen. »Übrigens, ich finde, wir sollten gleich zwei Übungen hintereinander machen«, erklärte er. »Meine Großmutter, Sabine die Schreckliche, sagt immer: Doppelt gebissen hält länger vor, haha!« »Sabine die Schreckliche?« Herr Schwartenfeger schmunzelte. »Ist das eine Seitenlinie von euch?« »Wie – Seitenlinie?« fragte der kleine Vampir irritiert. »Sehr französisch klingt das jedenfalls nicht«, meinte Herr Schwartenfeger. »Sie sind nicht rein französisch, die ›Camemberts‹!« kam Anton dem Vampir zu Hilfe; trotz seines Zorns auf ihn. »Nicht?« wunderte sich Herr Schwartenfeger. Dann lachte er. »Ach, jetzt verstehe ich. Camembert wird ja auch nicht nur in Frankreich gegessen!« Anton verkniff sich mühsam ein Lachen. »Genau!« pflichtete er Herrn Schwartenfeger bei und freute sich an dem ratlosen Gesicht, das der kleine Vampir machte. »Aber jetzt sollten wir wirklich anfangen«, sagte Herr Schwartenfeger. »Und denkt daran: Keine Streitereien und Ablenkungen. Wir konzentrieren uns nur auf das Programm!« Mit diesen Worten schlug er die dicke schwarze Mappe auf, die sein geheimnisvolles Trainingsprogramm gegen starke Ängste enthielt.
Psychologen-Chinesisch »Angst«, begann Herr Schwartenfeger, »ist nicht einfach nur ein Gefühl. Angst ist ein recht kompliziertes Zusammenspiel verschiedener Teilkräfte.« »Aha«, machte der kleine Vampir.
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»Sind uns die Ängste nun angeboren?« sagte Herr Schwartenfeger salbungsvoll. »Oder haben wir sie irgendwann einmal erlernt?« Der kleine Vampir erwiderte nichts, sondern wackelte nur mit den Zehen. Es sah aus, als täte er das, um die zahlreichen Löcher in seinen uralten Wollstrümpfen besser betrachten zu können. »Die Antwort lautet: Es gibt angeborene und erlernte Ängste!« erklärte Herr Schwartenfeger und musterte den kleinen Vampir prüfend – wohl, um zu sehen, ob Rüdiger seinen Ausführungen auch folgen konnte.
»Ja, und unter den erlernten Ängsten gibt es nun sogenannte ›Phobien‹«, fuhr er nach einer Pause fort. »Das sind starke Ängste, die eigentlich unbegründet sind – zum Beispiel die Angst vor Motten.« »Was, vor Motten?« Der kleine Vampir lachte krächzend. »Es gibt wirklich Leute, die vor diesen niedlichen Tieren Angst haben?«
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»Wir Psychologen behandeln die verschiedensten Phobien«, antwortete Herr Schwartenfeger. »Starke Ängste vor Hunden zum Beispiel, vor Mäusen, ja sogar vor Fliegen.« »Vor Fliegen?« Der kleine Vampir gab ein prustendes Lachen von sich und sah zu Anton hinüber. »Das ist ja sagenhaft, wovor ihr Menschen Angst habt, haha!« »Ich habe keine Angst vor Hunden, Mäusen oder Fliegen!« erwiderte Anton so würdevoll, wie es ihm nur möglich war. »Und vor Motten erst recht nicht.« »Na, na«, sagte Herr Schwartenfeger rasch, »keine neuerlichen Streitigkeiten!« »Streitigkeiten?« meinte der kleine Vampir mit Unschuldsmiene. »Ich bin doch ganz friedlich!« »Jedenfalls freut es mich, daß meine kurzen Erläuterungen zum Thema Ängste und Phobien kein Psychologen-Chinesisch für dich waren«, meinte Herr Schwartenfeger. »Psychologen-Chinesisch?« Der kleine Vampir lachte heiser. »Nein, nein. Ich hab’ alles kapiert.« »Gut! Dann kommen wir jetzt zu dir, Rudolf.« »Zu mir?« Der kleine Vampir hob alarmiert den Kopf. Doch Herr Schwartenfeger blieb ganz ruhig in seinem Drehstuhl sitzen. »Was nun dich betrifft, Rudolf«, fuhr er fort, »so hattest du, als du geboren wurdest, keine Angst vor den Sonnenstrahlen. Und bestimmt hat dich deine Mutter so oft es ging nach draußen in den Garten gebracht, damit dir die Sonne ins Gesicht scheinen konnte.« »Mir wird schlecht«, stöhnte der kleine Vampir, dem plötzlich Schweißperlen auf der Stirn standen. »Hör mir noch einen Augenblick zu!« bat Herr Schwartenfeger. »Also: Deine Angst vor den Sonnenstrahlen ist erst viel später entstanden. Du hast sie, wie wir Psychologen das nennen – erlernt. Und nun paß auf: Was man erlernen kann, kann man auch wieder ver-lernen!«
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»Das ist doch nicht schwer zu verstehen, oder?« fragte er, als der kleine Vampir keine Antwort gab. »Nein«, ächzte Rüdiger. »Wunderbar!« sagte Herr Schwartenfeger zufrieden. »Dann werden wir uns jetzt dem praktischen Teil widmen.« »Wem?« »Na, dem Programm!« »Ach so –« »Zunächst einmal, Rudolf, wirst zu lernen, dich körperlich zu entspannen.« »Entspannen?« knurrte der kleine Vampir. »Und wozu?« »Nun«, antwortete Herr Schwartenfeger, »entspannt zu sein, das bedeutet: nicht nervös zu sein, keine Angst zu haben. Und diese Fähigkeit, sich zu entspannen, kann man trainieren.« »Aha!« »Später wirst du dann lernen, dich auch in solchen Situationen zu entspannen, die dir im Augenblick noch Angst bereiten.« »Erst später?« »Es braucht eben alles seine Zeit!« sagte Herr Schwartenfeger. »Das wirst du merken, wenn wir mit der ersten Übung beginnen!«
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Ganz locker »So, nun wirst du ein paar Techniken zur Entspannung lernen«, erklärte der Psychologe. »Bist du bereit, Rudolf?« »Ja«, antwortete der kleine Vampir heiser. »Dann leg deine Arme auf die Lehnen! Laß sie ganz locker dort liegen. Und entspann dich dabei... Schließ deine Augen. Denk an deine Arme: Sie liegen auf den Lehnen, und sie sind ganz locker.« Anton beobachtete den kleinen Vampir. Besonders entspannt wirkte er nicht: seine geschlossenen Lider flatterten, und durch seine Arme lief in kurzen Abständen ein Zittern. »Nun ballst du deine rechte Hand zu einer Faust!« sagte Herr Schwartenfeger. »Drück sie fest zusammen, noch fester, noch mehr, ganz fest! Und achte darauf, wie sich das anfühlt... Ganz viel Spannung ist jetzt in deiner Faust... in deinem Unterarm...« »So. Und nun läßt du die Finger deiner rechten Hand wieder locker werden, ganz locker... Achte auf das Gefühl: Wie deine Finger wieder locker werden, dieses ganz andere Gefühl der Entspannung! Und noch einmal...« »Au!« rief der kleine Vampir. »Das tut weh!« »Es tut weh?« sagte Herr Schwartenfeger verwundert. »Ich... ich hab’ einen Krampf in der Hand!« jammerte der Vampir und schüttelte den rechten Arm. »Und außerdem kann ich das nicht ausstehen: Mitten in der Nacht nur so daliegen!« »Es ist ungewohnt für dich, ich weiß«, sagte Herr Schwartenfeger, kein bißchen verärgert. Er mußte wirklich eine Engels-Geduld haben – oder zumindest tat er so! »Aber du möchtest doch gern deine Angst vor den Sonnenstrahlen verlieren, nicht wahr?« fragte er. »Ja!« knurrte der Vampir. »Er will es für Olga tun«, warf Anton ein. 106
»Für Olga?« Herr Schwartenfeger schmunzelte. »Du hast eine kleine Freundin, Rudolf?« »Ja!« sagte der Vampir und zischte Anton zu: »Verräter!« »Aber das muß dir doch nicht peinlich sein«, erwiderte Herr Schwartenfeger. »Im Gegenteil: Wenn du weißt, für wen du es tust, denn gehst du mit viel mehr Schwung und Begeisterung an das Training heran.« »Genau!« Der kleine Vampir warf Anton einen triumphierenden Blick zu. »Wollen wir noch eine Übung machen – für Olga?« fragte der Psychologe. Das wirkte wie eine Zauberformel: Der kleine Vampir errötete, und eifrig stimmte er zu: »Oh, ja. Für Olga immer!« »Gut.« sagte Herr Schwartenfeger. »Dann leg deine Arme wieder auf die Lehnen. Und nun beuge sie im Ellenbogengelenk und spann deine Muskeln an... fester, noch fester! Achte dabei auf das Gefühl der Spannung... Ganz angespannt sind die Muskeln jetzt... Nun streck die Arme wieder locker aus. Laß sie herunterhängen, ganz entspannt... Konzentrier dich auf dieses Gefühl der Entspannung.« »So. Und noch einmal...« »Au, meine Arme sind wie Blei!« ächzte der Vampir. Die wenigen Übungen schienen ihn bereits erschöpft zu haben. Anton dagegen waren die Anweisungen des Psychologen eher wie Spielerei vorgekommen: Arme beugen, Spannung halten, lockern... ›Aber vielleicht spannt der kleine Vampir seine Muskeln zu stark an?‹ überlegte er. Immerhin verfügten Vampire über außergewöhnliche Kräfte!
Die Farbe Gelb »Wenn du nicht mehr willst, machen wir sofort Schluß!« sagte Herr Schwartenfeger. 107
»Ich... ich glaube, fürs erste Mal reicht es«, murmelte der kleine Vampir. »Aber sicher!« pflichtete Herr Schwartenfeger ihm bei. »Du brauchst es mir nur zu sagen.« ›So schnell müßten meine Eltern zu Hause auch mal auf meine Wünsche eingehen!‹ dachte Anton neidisch. Aber die waren eben keine Psychologen »Für die allererste Stunde haben wir wirklich eine Menge geschafft«, lobte Herr Schwartenfeger. Eine Menge? dachte Anton zweifelnd. Die Sportstunden bei ihm in der Schule waren anstrengender! »In den nächsten Stunden wirst du dann weitere Entspannungsübungen lernen«, erklärte Herr Schwartenfeger. »Und danach beginnt erst das eigentliche Trainingsprogramm – die Desensibilisierung.« »Was, danach erst?« »Ja. Du verstehst nun sicherlich, warum wir für das Programm Zeit brauchen.« »Hm, ja«, meinte der kleine Vampir. »So. Und zum Schluß der Probestunde kommen wir noch zur Farbe Gelb!« kündigte Herr Schwartenfeger an. Er nahm Antons Tüte und zog nacheinander die Sonnenbrille – erstaunlicherweise war sie noch heil! –, die Socken, das Stirnband, das Sonnenöl, die Sonnencreme und den Trainingsanzug heraus. »Brrr, pfui!« fauchte der kleine Vampir. »Im Augenblick ruft die Farbe Gelb noch Angst bei dir hervor.« Herr Schwartenfeger nickte. »Aber glaub mir, wenn du erst mal gelernt hast, dich richtig zu entspannen, wirst du diese Angst verlieren!« Zu Antons Verwunderung legte er die Sachen in die Tüte zurück. Rüdigers heftige Abneigung schien ihn davon überzeugt zu haben, daß es im Augenblick nicht sehr günstig wäre, diesen Teil des Trainings fortzusetzen. 108
»Mein anderer Patient, Igno von Rant, mochte anfangs auch kein Gelb«, sagte er. »Ihr anderer Patient?« Der kleine Vampir knackte mit seinen spitzen Zähnen. »Dieser Igno von Rant –«, begann er nach kurzem Überlegen. »Anton hat mir erzählt, Sie wüßten selbst nicht genau, ob er nun ein Vampir ist oder nicht.« »Tja –« Herr Schwartenfeger quietschte mit seinem Stuhl. »Vieles spricht dafür, daß er einer ist. Er sagt allerdings von sich, er sei kein Vampir. Wahrscheinlich kann er sich selbst – als Vampir – nicht akzeptieren!« »Wie meinen Sie das?« »Ich stelle es mir so vor: Er muß irgendwann einmal ein schreckliches Erlebnis gehabt haben – ein Trauma, wie wir Psychologen sagen. Dieses Trauma wirkt vermutlich noch heute in ihm nach und bringt ihn dazu, sich nicht zu seinem Vampir-Sein zu bekennen.« Der kleine Vampir machte ein bestürztes Gesicht. »Hat er vielleicht... Vampirjäger getroffen?« »Das wäre möglich«, sagte Herr Schwartenfeger. »Vielleicht waren es tatsächlich Vampirjäger!« »Olga!« rief der kleine Vampir aus. »Sie hat auch so ein schreckliches Erlebnis gehabt – damals in Transsylvanien, in ihrem Schloß Seifenschwein!« Herr Schwartenfeger schrieb etwas in seine schwarze Mappe. »Ist Olga denn ein Vampir?« fragte er. »Ja!« antwortete der kleine Vampir, und aufschluchzend drehte er seinen Kopf zur Wand.
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»Und sie will sich auch nicht zu ihrem Vampir-Sein bekennen?« fragte Herr Schwartenfeger weiter. Rüdigers Kopf fuhr herum. »Wie kommen Sie denn darauf?« rief er und blickte Herrn Schwartenfeger aus zornig funkelnden Augen an. »Olga ist sogar sehr stolz darauf, Vampir zu sein! Und sie hat auch allen Grund dazu; denn die von Seifenschweins sind eine der ältesten Vampirsippen überhaupt!« ›Sind?‹ dachte Anton. Zutreffender wäre wohl: Sie waren es. Soweit er wußte, war Olga die letzte derer von Seifenschwein; und sie stellte nicht gerade eine Zierde ihrer Sippe dar! Aber das sah der kleine Vampir ja bekanntermaßen anders... »Meinst du, du könntest deine Olga mal mitbringen?« erkundigte sich Herr Schwartenfeger. 110
»Ha, wie denn?« sagte der kleine Vampir. »Wenn sie in Wien ist! Und das ist ein ganz schön anstrengender Flug von Wien bis hierher.« Wieder notierte der Psychologe etwas in seiner Mappe. »Aber es stimmt doch, daß du das Programm für Olga machen möchtest?« fragte er dann. Der kleine Vampir verzog seine schmalen, ziemlich blutlosen Lippen. »Ja«, zischte er, offenbar um seine Fassung ringend. Herr Schwartenfeger schrieb noch etwas, und danach klappte er die dicke, schwarze Mappe zu. »So! Das soll für heute genug sein«, erklärte er und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück.
Zeit zu gehen »Und wie geht es nun mit dem Desensi-, äh, mit dem Programm weiter?« fragte Anton, als weder der kleine Vampir noch Herr Schwartenfeger etwas sagte. »Wie es weitergeht?« Der Psychologe machte eine auffordernde Geste in Richtung des kleinen Vampirs. »Das hat jetzt allein Rudolf zu entscheiden!« Der Vampir schreckte aus seinen Gedanken auf. »Wer?« »Na, du, Rudolf!« antwortete Herr Schwartenfeger. »Ich schlage vor, daß du dir alles noch einmal in Ruhe überlegst, 111
und daß wir uns in einer Woche, zur selben Zeit wie heute, hier in meiner Praxis wiedersehen. Bist du damit einverstanden?« Der kleine Vampir nickte. »Dann bringe ich euch jetzt zur Tür«, sagte der Psychologe und fügte scherzend hinzu: »Sonst verlauft ihr euch noch und landet im Wohnzimmer, bei meiner Frau. Und die wollen wir lieber nicht stören!« »Ihre Frau?« sagte der kleine Vampir mit rauher Stimme und fuhr sich mit der Zungenspitze einmal verstohlen über die Lippen. »Nein, auf keinen Fall«, sagte Anton hastig. »Komm, Rüdiger!« »Wie sagst du: Rüdiger?« fragte Herr Schwartenfeger verwundert. »Heißt dein Freund nicht Rudolf?« Anton erbleichte. Aber rasch hatte er sich wieder gefaßt und sagte: »Doch, doch, er heißt Rudolf, Rudolf Camembert! Nur – Rüdiger klingt moderner, deshalb!« Herr Schwartenfeger erhob sich aus seinem Drehstuhl und schmunzelte. »Moderner?« »Ja!« erklärte Anton. »Auch Vampire gehen mit der Zeit.« »Genau!«, krächzte der kleine Vampir. »Wenn es Zeit ist, gehen sie. Los, Anton!« Er zog seine Stoffschuhe wieder an, und nach einem kurzen, sehnsüchtigen Blick auf das Fenster marschierte er zur Tür, die Herr Schwartenfeger schon für sie offenhielt. Schweigend durchquerten sie den Flur und gingen die Treppen hinunter zum Ausgang.
Kreislauf-Probleme An der Haustür reichte Herr Schwartenfeger zuerst Anton und dann Rüdiger seine große, fleischige Hand.
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»Oh, du bist ja ganz ausgekühlt!« sagte er betroffen, als er die knochige Hand des Vampirs drückte. »Hast du Probleme mit deinem Kreislauf?« »Ob ich Probleme mit meinem Kreislauf habe?« Der kleine Vampir stieß ein kehliges Lachen aus. »Oh, ja! Jetzt zum Beispiel brauch’ ich dringend etwas Flüssiges, um ihn wieder in Schwung zu bringen, meinen – Blutkreislauf!« Anton spürte, wie es ihn eiskalt überlief. Aber Herr Schwartenfeger schien gar nicht zu verstehen, welche Probleme der kleine Vampir meinte; denn er antwortete mit ernster, mahnender Miene: »Du mußt es mir unbedingt sagen, wenn dein Kreislauf nicht in Ordnung ist! Dann dürfen wir bestimmte Übungen nicht machen.« »Ich habe diese Probleme nicht immer...«, entgegnete der kleine Vampir und sah den Psychologen lauernd an. »Du hast sie nicht immer?« »Nein, nur manchmal.« Der kleine Vampir stieß wieder ein rauhes Vampir-Lachen aus. »Ja, aber wann genau?« fragte Herr Schwartenfeger hartnäckig weiter. »Wir sollten jetzt gehen!« drängte Anton. »Komm schon, Rüdiger.« »Wartet!« erwiderte Herr Schwartenfeger. »Die Sache mit den Kreislauf-Problemen – die will ich doch noch klären, bevor ihr geht.« »Wollen Sie das wirklich?« sagte der kleine Vampir und musterte aus großen, unnatürlich glänzenden Augen den kräftigen Hals des Psychologen. »Das wäre sehr entgegenkommend von Ihnen, ehrlich!« »Los, Rüdiger, wir gehen jetzt!« sagte Anton mit lauter, fordernder Stimme, und kurzerhand packte er den Vampir am Umhang und zerrte an dem löchrigen Stoff.
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Er hoffte, daß es ihm auf diese Weise gelingen würde, Rüdiger aus der Erstarrung aufzuwecken, in die er stets verfiel, wenn es um... Blut ging. Und tatsächlich, sein Zerren schien zu wirken: Der kleine Vampir drehte sich wütend zu ihm herum und knurrte: »He, du reißt meinen Umhang kaputt, du Trampel! Und das ist Spezialstoff, den kann man nicht mehr nachkaufen – Idiot!« Anton ließ Rüdigers Wortschwall über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie er vermutet hatte, fühlte Herr Schwartenfeger sich aufgerufen, den Streit zu schlichten. »Na, na«, sagte er tadelnd. »Ihr solltet nicht wieder euer Kriegsbeil ausgraben!« »Wir?« sagte Anton. »Ich bin doch ganz friedlich – wie immer!« Und indem er den kleinen Vampir mit einem hinterhältigen Grinsen ansah, fügte er hinzu: »Ich glaube, die Sitzung war tatsächlich zu anstrengend. Wissen Sie, die Camemberts haben alle ziemlich – äh, weiche Nerven!« »Weiche Nerven?« Der kleine Vampir stieß einen Schrei aus und fuchtelte mit seinen Armen in der Luft herum, als wollte er auf Anton losgehen. »Gleich wirst du eine weiche Birne haben, jawohl!« »Oh, da fürchte ich mich aber«, gab Anton zurück; insgeheim sehr zufrieden damit, daß es ihm gelungen war, einen Streit vom Zaun zu brechen. Denn nun war die Gelegenheit zur Flucht gekommen, auf die er gewartet hatte. »Fang mich doch!« rief er, und nach einem letzten Blick in das betretene Gesicht des Psychologen rannte er auf die Straße und verschwand in dem dunklen Weg, der seitlich am Haus vorbeiführte – gefolgt von einem wutschnaubenden kleinen Vampir.
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Verräter unter sich Nachdem er ein Stück gelaufen war – genug, um vor Herrn Schwartenfeger sicher zu sein – blieb Anton stehen und blickte dem kleinen Vampir freundlich entgegen. Der Vampir verlangsamte seine Schritte; wohl, weil er mit irgendeiner List rechnete. »Ich lauf dir nicht weg!« rief Anton ihm zu. Der kleine Vampir kam mißtrauisch näher. »Und warum bist du eben weggerannt?« »Aus Vorsicht!« erklärte Anton. »Aus Vorsicht?« »Na ja –« Anton machte eine vielsagende Handbewegung. »Es hat fast so ausgesehen, als wolltest du bei Herrn Schwartenfeger...« »Ich – bei ihm?« Der kleine Vampir lachte heiser. »Hm, ja, er sieht nicht gerade schwächlich aus, dieser Herr Warzenkneter! Und wenn er dauernd über meinen Kreislauf redet...« Er seufzte tief – wahrscheinlich in Erinnerung an den Psychologen. »Aber was dich betrifft, Anton Bohnsack«, fuhr er nach einer Pause fort, und auf einmal hatte seine Stimme einen drohenden Unterton. »Du bist der schäbigste Verräter, der mir je begegnet ist.« »Ach, wirklich?« sagte Anton in gespieltem Gleichmut.
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»Und ob!« Der kleine Vampir schnaufte erregt. »Erstens hast du dem Warzenkneter von Olga erzählt. Und zweitens hast du ihm meinen richtigen Namen verraten!« »Das ist mir nur so rausgerutscht«, verteidigte sich Anton. »Und außerdem – deinen Nachnamen weiß Herr Schwartenfeger nicht!« »Na, und wenn schon«, zischte der Vampir. »Hast du mal überlegt, was Olga sagen wird, wenn sie diesen blöden Namen hört: ›Camembert‹? Richtig peinlich ist mir das!« Anton grinste. Er konnte sich schon denken, was Olga in ihrer boshaften Art sagen würde: Daß ihm der Name wie auf den Leib geschrieben wäre! »›Rudolf Beerdigung‹ war auch nicht gerade umwerfend«, konterte er. »Aber der Name paßte wenigstens zu mir!« erwiderte der kleine Vampir. Mit einem schwärmerischen Lächeln fügte er hinzu: »Rudolf ›Bär‹ gefällt mir allerdings noch besser. Bär – das bedeutet Mut und Kraft und Stärke!« »Du solltest in die Werbung gehen«, bemerkte Anton ironisch. »Wohin?« »In die Werbe-Branche!« Zu Antons Überraschung lächelte der Vampir geschmeichelt. »Aber da bin ich doch schon«, sagte er und kicherte. »Seit ich Olga kenne, werbe ich um sie!« Doch dann schien er seine Offenherzigkeit zu bereuen; denn er warf Anton einen grimmigen Blick zu und knurrte: »Ich muß jetzt fliegen.« »Aber das Programm«, wandte Anton ein. »Wollen wir nicht noch über das Programm sprechen – und über deine Probestunde?« »Nein!« sagte der Vampir unfreundlich. »Oder sitzt du auf deinen Ohren?« 116
»Wieso?« »Weil Herr Schwartenfeger gesagt hat: Ich soll es mir in aller Ruhe überlegen!« – »Und bei dir hat man keine Sekunde Ruhe!« fügte er hinzu. Mit diesen Worten erhob sich der kleine Vampir in die Luft. »Fliegen wir nicht zusammen?« rief Anton. »Zusammen?« erwiderte der Vampir. »Noch nie gehört, das Wort!« Dann hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. »Und der nennt mich Verräter!« sagte Anton. Er breitete die Arme unter dem Umhang aus, und seufzend machte er sich auf den Rückflug.
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Angela Sommer-Bodenburg wurde 1948 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach dem Studium der Soziologie und Pädagogik war sie zwölf Jahre Grundschullehrerin. Seit 1984 ist sie freischaffende Autorin. Aus ihrer Feder stammt u. a. die Figur des kleine Vampirs, mit der sie sich weltweit in die Herzen von Millionen junger Leser geschrieben hat. Die neuen Folgen, illustriert von Magdalene Hanke-Basfeld, erscheinen jetzt unter dem Reihen-Titel »Anton und der kleine Vampir«.
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