Die Zeit-Kugel Band 64
In Wien darf nicht der Halbmond wehn
Der Auftrag: Bei der zweiten Belagerung Wiens durch die T...
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Die Zeit-Kugel Band 64
In Wien darf nicht der Halbmond wehn
Der Auftrag: Bei der zweiten Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1683 kam es während der Schlacht mit dem herbeigeeilten kaiserlichen Entsatzheer im türkischen Heer zu einer Art Panik, deren Ursache nie geklärt werden konnte. Lediglich die Wirkung ist bekannt. Völlig demoralisiert flüchteten die Türken aus der Schlacht und gaben ihr Lager dem Christenheer preis. Reisen Sie an den Ort des Geschehens und finden Sie die Ursache heraus.
Club der Sieben
Am 5. Juli 1984 glückte Professor Robert Lintberg das phantastische Experiment, winzige Substanzteile zu ent – und zu rematerialisieren. Und er errechnete, daß diese Substanzteile im Zustand der Körperlosigkeit mit ungeheurer Geschwindigkeit in der 4. Dimension zu reisen vermochten – also nicht nur durch den Raum, sondern auch in die Vergangenheit und in die Zukunft. Mit seinem Assistent Frank Forster und dem Ingenieur Benjamin Hammer begann er, diese Entdeckung für die Praxis auszuwerten. Er wollte ein Fahrzeug bauen, das sich und seinen Inhalt entmaterialisieren, dann in ferne Räume und Zeiten reisen, sich dort wieder rematerialisieren und nach dem gleichen Verfahren wieder an den Ursprungsort und in die Ursprungszeit zurückkommen konnte. Doch nach 4 Jahren mußte der Professor seine Versuche aus Geldmangel einstellen. Die superreichen Mitglieder vom »Club der Sieben« in London boten ihm aber die fehlenden Millionen unter der Bedingung an, daß sie über den Einsatz der Erfindung bestimmen könnten. Der Professor erklärte sich einverstanden, konnte weiterarbeiten und vollendete am 3. Mai 1992 sein Werk: Die Zeit-Kugel. Seit diesem Tag reisen der Professor, sein Assistent und der Ingenieur im Auftrag des »Clubs der Sieben« durch die 4. Dimension. Dieser Roman erzählt die Geschichte der Ausführung eines derartigen Auftrags. * »Feuer!« kommandierte Ben und stieß den rechten Arm hoch. Zwölf Geschützrohre brüllten auf und schleuderten ihre tödliche Ladung weit in die türkischen Reihen hinein. Schmerzensschreie ertönten, Pferde wieherten schrill, das Donnern und Rollen der anderen Geschützbatterien erfüllte die Luft mit ohrenbetäubendem Lärm. Ben Hammer führte die 2. Batterie der unter der Leitung des Obersten Christian von Börner stehenden Wiener Artillerie, die den Türken vor der Stadt große Verluste zufügte. Die Heere der Osmanen besaßen zunächst die dreifache Übermacht gegenüber den Verteidigern der Stadt. Professor Robert Lintberg und sein Assistent Frank Forster befanden sich in der Löbelbastei; Lintberg kommandierte eine Abteilung der Bürgermiliz, Frank Forster tat Dienst als Adjutant bei Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg, der den Befehl über die militärische Verteidigung Wiens innehatte. Die drei Freunde von der Zeit-Kugel waren erst vor wenigen
Tagen in Wien eingetroffen. Die Belagerung war kurz zuvor von Kara Mustapha, dem Großwesir und obersten türkischen Befehlshaber, gegen die Widerstände mancher seiner Paschas eingeleitet worden, die die Eroberung Wiens als kein erstrebenswertes militärisches Ziel betrachteten. Aber der Wille des Großwesirs war gleich einem Befehl – und so mußten sie sich dem Willen ihres Kriegsherrn und Stellvertreters Sultan Mohammeds IV. beugen. »Herr! Ein Geschütz ist ausgefallen!« hörte Ben einen Soldaten rufen. Der Mann deutete auf die linke Flanke, die besonders gefährdet war, weil die Bastei nicht mehr verstärkt werden konnte. Die Zeit war zu knapp gewesen. Und die Mittel auch. »Nehmt von der rechten Flanke einen Sechzig-Pfund-Mörser und schiebt ihn an die Stelle der ausgefallenen Kanone. Diese kippt ihr über die Verschanzung in den Graben hinab!« »Ja, Herr!« Der Soldat verschwand, um den Befehl weiterzugeben. Ben kümmerte sich um, die Bereitstellung des Pulvers, überzeugte sich vom Zustand der Kanonen und erteilte den Korporalen und Sergeanten seine Anweisungen. Pulverqualm lag in der Luft und legte sich beißend auf die Atemwege. Ben trank einen Schluck Wasser, um den unangenehmen Geschmack loszuwerden, der ihn seit Beginn der Schlacht nicht mehr verließ. Die Schlacht wogte heftig hin und her. Zeitweise war der Kampfeslärm so groß, daß man kaum ein Wort verstand und Befehle nur durch Zeichen übermitttelt werden konnten. Bens Gesicht triefte vor Schweiß. Er war müde und überanstrengt. Die Türken führten immer neuen Nachschub heran, die Verteidiger waren von allen Hilfsquellen abgeschnitten und mußten mit dem vorliebnehmen, was in den Magazinen und Lagerhäusern vorhanden war. Schrill pfeifend flog eine türkische Geschützkugel dicht über Bens Batterie hinweg, prallte gegen eine Mauer und riß ein großes Loch hinein. »Feuer!« schrie Ben, um sich verständlich zu machen. »Zeigt es den Heiden!« Aus den Mäulern der auf das Türkenlager gerichteten Kanonen züngelten lange Flammen. Die Kugeln richteten drüben argen Schaden an. »Stellt das Feuer ein!« befahl Ben, der die Vorbereitungen im Türkenlager genau beobachtete und soeben feststellte, daß die türkische Artillerie in seinem Schußbereich einen Stellungswechsel vornahm. »Schafft neue Munition herbei! Tauscht die Leute aus und reinigt die Kanonenrohre!«
Ben erteilte klar und sicher seine Befehle. Er wußte nicht, wie lange die Feuerpause in seinem Abschnitt anhielt. Deshalb war es wichtig, sich so rasch als möglich auf neue Kampfhandlungen vorzubereiten. Die türkischen Hilfstruppen hoben neue Gräben aus, fertigten Schanzen an und zogen neue Kanonen in die Batteriestellungen. Unweit der zweiten und dritten türkischen Batteriereihen, im Trautsonschen Garten, hatte der Großwesir seine prunkvollen Zelte errichten lassen. Hier waren auch der Diwan mit der Heiligen Fahne, die Prunkgemächer, die Schatzzelte, der Harem und – unter einem mächtigen Sonnendach weithin sichtbar erhöht aufgebaut – der Hinrichtungsplatz. Die plötzliche Ruhe in seinem Abschnitt behagte Ben überhaupt nicht. Die Türken schienen irgendeine List vorzuhaben, denn es war nicht Art der Osmanen, einen gerade begonnenen Artillerieangriff ohne zwingenden Grund sogleich wieder zu beenden. Dahinter mußte mehr stecken. Ben befürchtete fast einen Angriff der Osmanen auf den Abschnitt seiner Batterie, weil er der am schwächsten befestigte und am leichtesten einzunehmende Bastionteil war. Zwölf Geschütze hatte er gehabt. Eines war ausgefallen. Sechzig Mann zählten zu seiner Einheit, davon waren vier verwundet. Sie alleine konnten dem Ansturm der Janitscharen und Tataren nicht standhalten. Und Verstärkung hatte er nicht zu erwarten. »Feuerpause ist beendet!« rief Ben. Die Soldaten eilten an die Kanonen. Aus dem Türkenlager hörte Ben Befehle, konnte sie aber nicht verstehen. Dazu klangen zu viele Stimmen durcheinander. Er musterte seine Batterie sehr nachdenklich. Diese Stellung mußte besser ausgebaut werden, sonst war sie nicht zu halten. Plötzlich hörte er drüben in einem der prächtigen Zelte einen Türken lästerlich schimpfen. * Kara Mustapha tobte. Der Großwesir stand in seinem Befehlszelt, die Hand am Krummschwert, und funkelte seinen Feldzeugmeister Achmed Bey, den französischen Renegaten und ehemaligen Kapuziner, böse an. »Warum leistet diese Bastion so großen Widerstand? Dort stehen insgesamt nicht mehr als zweitausend schlecht ausgerüstete und mit mangelhafter Artillerie ausgestattete Milizsoldaten! Was tatest du während meiner Abwesenheit mit den überreichlich vorhandenen Waffen und Kanonen, die wir gegen die Bastion hätten einsetzen können?«
Achmed Bey schwieg. Er konnte dem Vorwurf des Großwesirs zwar sehr viel entgegenhalten, aber er wußte, daß es keinen Zweck hatte, Kara Mustapha war in solchem Zustand keinen vernünftigen Argumenten zugänglich. »Wir nehmen die Mauern und Wälle von jetzt an pausenlos unter Beschuß! Beim Barte des Propheten, es muß uns gelingen, die ungläubigen Hunde für immer zu besiegen!« »Wie Ihr befehlt, Herr!« sagte Achmed Bey, verneigte sich und verließ das Zelt des Großwesirs. Ihm folgten die Blicke der wie Statuen stehenden Leibwächter Mustaphas. Der Feldzeugmeister ging zu seinem Zelt, das in unmittelbarer Nähe von dem des Oberbefehlshabers errichtet war, zog die Karte des von Mustapha gerügten Abschnitts heran und studierte sehr sorgfältig die Befestigungsanlagen und Vorwerke des Wiener Verteidigungsgürtels. Dann rief er einen Sipahi, dem er verschiedene Befehle auftrug, die dieser seinen Abteilungskommandeuren überbringen sollte. Als die Befehle überbracht waren, gingen die Kommandeure sogleich daran, sie auszuführen. Die Folge war, daß in Bens Abschnitt die türkischen Kanonen nach vorne verlegt wurden. * Die Verteidiger der Stadt hatten schwere Kämpfe mit den unermüdlich angreifenden Türken auszufechten. Die Osmanen konnten immer wieder neue, frische Truppen heranführen und fügten den Kaiserlichen, die Tag und Nacht Dienst tun mußten, schwere Verluste zu. »Herr! Oberst Graf von Sternheim bitte Euch, in das Kommandozelt zu kommen!« Sternheim war der Kommandeur eines Kavalleriedetachements, dessen Soldaten teilweise Dienst auf den langgezogenen Sternbasteien und Wällen taten. Wenn Sternheim ihn rief, hatte es etwas zu bedeuten, denn der Oberst wußte genau, daß Bens Stellung auf dem Westwall nur sehr schwer zu halten war. Als Ben das Zelt betrat, kam der Oberst sogleich auf ihn zu. »Gut, daß Ihr kommt, Herr von Debrec. Ich brauche Euch und Euren fachmännischen Rat. Ich will heute nacht den Hauptteil meines Detachements über die südliche Donau setzen und die dort vor dem Türkenlager liegenden Boote zerstören. Ich möchte, daß Ihr die Aktion leitet und erfolgreich zu Ende führt. Damit ist den Osmanen die
Gelegenheit genommen, uns vom Fluß her anzugreifen. Ihr wißt, daß die dortigen Befestigungen einem Sturm nicht standhalten werden.« »Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Oberst«, sagte Ben. »Den Auftrag werde ich übernehmen und hoffentlich gut zu Ende führen.« »Danke«, sagte der Graf und drückte Ben die Hand. »Ihr erhaltet alles, was Ihr zu diesem Handstreich benötigt. Wir müssen diese Boote auf jeden Fall vernichten.« Ben verließ den Grafen, um seine Vorbereitungen zu treffen. Zuerst inspizierte er den Fluß, um die beste Übersetzstelle herauszufinden. Dann listete er das benötigte Material zusammen, das er brauchte, um einen wirkungsvollen, die Türken überraschenden Schlag zu inszenieren. Der Adjutant des Obersten nannte ihm die genaue Anzahl der verfügbaren Soldaten. Es waren einundvierzig Mann! Sie mußten ausreichen, um sämtliche Boote zu vernichten. Am besten ist, überlegte Ben, wenn wir die Boote verbrennen, dann können sie nicht mehr instand gesetzt werden. Ich selbst brauche fünf, um die Leute überzusetzen! Der beste Zeitpunkt für das Vorhaben schien ihm die Stunde vor Mitternacht zu sein, ehe die türkischen Posten abgelöst wurden und erfahrungsgemäß ihre Aufmerksamkeit nicht mehr die allergrößte war. Ben befahl Hauptmann Walen zu sich, der eine Abteilung des Detachements kommandierte, also praktisch Oberst von Sternheims Vertreter war. »Herr?« sagte der Hauptmann ohne lange Umschweife und trat in Bens Zelt. In groben Zügen setzte Ben dem Hauptmann seinen Plan auseinander. »Wir sehen uns also heute abend. Die Männer treten um acht Uhr an, damit ich sie inspizieren kann«, sagte Ben abschließend. Und in Gedanken fügte er hinzu: Einundvierzig Mann! Du lieber Himmel, das ist ein Todeskommando! Er machte sich über die Skizzen her, die er am Fluß angefertigt hatte, um den Soldaten den besten Weg zu weisen. Dazu fertigte er einen Bericht, den er Oberst von Sternheim einreichen wollte. * »Wieviel Ausfälle, Korporal?« wollte Professor Lintberg wissen. Er war als Kommandant der Miliz am vorderen Kastell eingeteilt. »Zehn Mann sind gefallen, dreizehn Leute verwundet, Herr von Krems.« Der Korporal leierte die Meldung herunter.
Lintberg zuckte zusammen. Das waren mehr, als er befürchtet hatte. »Leutnant Fächer und die Sergeanten Remer und Brezcik sind unter den Toten, Herr. Nur Leutnant Czeska überlebte. Er ist aber schwer verwundet«, fügte der Korporal hinzu. Lintberg wußte, daß er keine Verstärkungen mehr erhielt. Es waren einfach nicht genug Leute da. Den Verteidigern von Wien stand mittlerweile eine fünfzehnfache Übermacht gegenüber. Immer wieder rannten die türkischen Abteilungen gegen die Wälle an. Sie erlitten hohe Verluste, konnten aber auf ein schier unerschöpfliches Menschenreservoir zurückgreifen. Draußen knatterten wieder Schüsse. Lintberg sprang auf. »Alarm, Korporal! Alle Mann zu den Waffen!« schrie er. Der Professor eilte zu seiner Verteidigungsstellung, um die Leute einzuweisen. Mit wachsender Unruhe sah er den angreifenden Osmanen entgegen. Wenn die Heiden die Wälle überrannten, dann war es aus mit der Stadt und allem, was sich darin befand. * »Gebt diese Nachricht an die Abteilungskommandeure weiter«, bat Graf von Starhemberg seinen Adjutanten Frank von Leitner, hinter dem sich Lintbergs Assistent Frank Forster verbarg. Frank verließ den Raum, ging zu seiner Arbeitsecke, schrieb Starhembergs Befehl nieder und eilte mit diesem zu den Ordonnanzen, von denen er eine beauftragte, den Befehl weiterzugeben und jeden Abteilungskommandeur lesen zu lassen. Dann eilte Frank wieder zu dem Grafen zurück, um den Austausch der Truppen auf den besonders gefährdeten Bastionen zu besprechen. * »Alles bereit?« flüsterte Ben und sah zu Hauptmann Walch, dessen Gesicht im Nachtdunkel kaum zu erkennen war. »Alles klar, Herr von Debrec. Die Männer sind bereit. Ich verwarnte jeden einzelnen. Sollte er Dummheiten machen, geht es ihm schlecht!« »Das war richtig, Hauptmann. Dann wollen wir gehen!« Die Kolonne setzte sich auf ein Zeichen des Hauptmanns in Bewegung. Sämtliche Geräte, die Geräusche verursachen konnten, waren zurück gelassen worden. Ben führte die Abteilung auf Schleichwegen an den eigenen Stellungen vorbei, hieß die Männer sich ducken, als sie unweit der
türkischen Verteidigungslinien waren, und deutete auf den linken am Flußufer entlangführenden ausgehobenen Graben. »Dort hinein und mir nach, bis wir bei den Booten sind.« Der Hauptmann gab den Befehl weiter. Ben spähte hinüber auf die rechte Flanke des türkischen Lagers, die seitliche äußerste Grenze der Osmanenbefestigungen und Schanzen, auf die grünen, seidenen Fahnen mit dem Halbmond auf der Stange, dem türkischen Staatssymbol, der Heiligen Fahne, um die Sultan Mohammed seinen vielen tausend Krieger geschart hatte. Als sie die Stelle erreicht hatten, wo Ben übersetzen wollte, ließ er haltmachen. »Setzt zuerst die Boote ins Wasser, dann steigen alle Mann ein. Ich bleibe zurück, bis vier Boote abgelegt haben, tm fünften Boot komme ich selber mit.« Ben hatte die Riemen der Boote mit Lappen umwickeln lassen, damit sie kein Geräusch verursachten. Die vier Boote legten ab. Ben sprang in das fünfte und wurde von einigen Soldaten hereingezogen. »Nun mal los!« zischte er den Soldaten zu, die sich mächtig ins Zeug legten. Im Osten war der Himmel hell vom Feuer der Geschütze und Biwaks des riesenhaften türkischen Lagers. Unablässig dröhnten die Detonationen, begleitet vom helleren Musketenfeuer, den Schreien der Verletzten und Sterbenden. Die Boote hatten die Mitte der Donau erreicht. Ben ließ sie mehrere Meter Abstand voneinander nehmen, damit sie bei einem feindlichen Geschützüberfall nicht alle zusammen vernichtet wurden. Unangefochten erreichten sie im Schütze der Dunkelheit das andere Ufer. Hier – weitab von ihrem eigentlichen Lager – hatten die Türken unvorsichtigerweise oder weil sie sich sehr stark fühlten, keine Wachtposten aufgestellt. Eine Unterlassungssünde, die Ben und seinen Leuten zugute kam. Vorsichtig sprangen die ersten Soldaten an Land und luden die Fässer mit Pulver, die Luntenschnüre, das Werg und die leicht brennbaren Lappen aus; damit sollten die Boote angezündet werden, die von den Fischern und Fährleuten zurückgelassen worden waren und die den Türken leicht als Brander oder als Übersetzboote dienen konnten. Ben zählte die Boote. Es waren einundfünfzig Stück, darunter große, zum Transport von fünfzig bis sechzig bewaffneten Soldaten geeignete Schiffe. »Fangt an!« sagte Ben leise. Die Soldaten machten sich an die Arbeit. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Es war zwar eine mörderische Arbeit, in so kurzer Zeit Feuer an so viele Boote zu legen, aber wenn es jetzt nicht getan wurde, konnte es zu spät sein und sogar den Fall der Stadt und
Festung Wien zur Ursache haben. »Herr von Debrec!« rief Sergeant Schutt und zupfte Ben am Ärmel. »Mir scheint, als näherten sich auf der Anhöhe des Ufers Leute. Ich habe Stimmen gehört, aber nicht verstanden, ob es Türken oder andere sind.« »Gut, Sergeant«, sagte Ben. »Wenn es Türken sind, werden wir es alsobald wissen, sie gefangen und mit in die Festung nehmen.« Ben ging mit dem Sergeant, befahl noch drei Männern, mit ihnen zu kommen, und erklomm unter äußerster Vorsicht die Uferanhöhe. Es gab hier oben noch Büsche, die gute Deckung boten. Sie hatten sich kaum auf die Lauer gelegt, als Ben laute Stimmen vernahm. Es waren Türken. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. »Wir warten, bis sie herangekommen sind. Dann sehen wir, wieviel es sind. Wir packen sie. Keiner darf einen Schrei ausstoßen! Wenn es einem gelingt, das Lager zu alarmieren, brauchen wir kein Frühstück mehr!« warnte Ben leise. »Die kriegen was auf die Rübe, daß es kracht!« versprach ein Soldat. Die übrigen brummten beifällig. Die türkischen Stimmen kamen näher. Schattenhaft waren Gestalten zu sehen. Ben unterschied schließlich sechs Leute. Ein Mann mehr, als seine Gruppe zählte. Aber das bedrückte ihn nicht. Er nahm es auch mit zwei Gegnern auf, wenn es sein mußte. Die Türken waren zu Fuß. Es konnte sich um Posten handeln, die weitab vom eigentlichen Lager auf Wachrunde waren. Dieser Umstand erschien Ben als höchst bedeutsam. Das mußte bei Gelegenheit ausgekundschaftet werden. Wozu sandten die Türken ihre Posten so weit weg? Gab es da etwas zu schützen und zu bewachen, von dem die Verteidiger von Wien keine Ahnung hatten? Die Aufklärung dieses Rätsels mußte warten. Wichtiger waren die überraschend aufgetauchten Türken. Sie mußten aus dem Verkehr gezogen werden, ehe sie entdeckten, was an den Booten im Gange war. Wenn nur einer entkam, waren die Folgen nicht auszudenken. Jetzt konnte Ben auch schon Einzelheiten gegen den helleren Hintergrund deutlich erkennen. Die Türken hatten die Musketen auf dem Rücken hängen und den Krummsäbel in der Hand, und sie kamen genau auf die auf der Lauer liegenden Männer zu. Ein Osmane tauchte unmittelbar vor Ben auf. Der Zeitreisende ließ ihn einige Schritte vorbei, sprang dann auf, erwischte einen zweiten Gegner und hieb diesem und dem ersten blitzschnell die Faust ins Genick. Es sollte lautlos gehen, aber ein Türke stürzte und fiel in einen prasselnden Busch. Der Zwischenfall hatte jedoch keine nachteiligen Folgen, denn die
Soldaten hatten sich inzwischen schon auf die anderen Türken geworfen. Es kam zu einem kurzen Handgemenge, an dessen Ende die Osmanen überwältigt waren, ohne daß einer einen Warnschrei hatte ausstoßen können. »Das war gute Arbeit«, sagte Ben keuchend. »Jetzt die Boote. Die Gefangenen werden geknebelt und gefesselt und mitgenommen. Sie werden uns wohl einiges erzählen können.« Die Boote wurden mit Pulver bestreut, Lappen wurden verteilt und Werg unter die Kiele gesteckt. Ben reichte Hauptmann Walch das Zündschloß, das er eigens für diesen Zweck mitgenommen hatte. »Jetzt, Hauptmann! Und laßt es schön brennen. Unsere türkischen Freunde sollen auch etwas davon haben!« Der Hauptmann eilte zum ersten Boot und zündete des Feuer an. Zum Glück lagen die Boote sehr eng nebeneinander, so daß nicht jedes einzelne in Brand gesetzt werden mußte. Vom Pulver angefacht, schlugen sofort Flammen aus dem Boot hervor. Das Feuer wurde größer und griff auf die anderen Boote über. Das reichlich verteilte Pulver setzte Masten und Tauwerk in Brand, so daß es bald hellauf brannte und sich eine breite Feuerwand entlang des Flusses zog. »Zurück in die Boote!« befahl Ben. »Nehmt aber auch unsere Gefangenen mit!« Die Soldaten rannten zu den eigenen Booten, drückten sie ins Wasser hinein, sprangen an Bord, ergriffen die Riemen und ruderten aus Leibeskräften, um aus der gefährlichen Uferzone und dem hellen Flammenschein herauszukommen. Erleichtert gewahrte Ben, daß alle fünf Boote abgelegt hatten und im Fluß waren. Aus dem Türkenlager ertönten die ersten Alarmrufe. Das Feuer war sehr spät bemerkt worden. Laut schreiend und wild gestikulierend rannten Osmanen herbei und schossen aufs Geratewohl, weil sie keinen Feind ausmachen konnten. Fast geräuschlos glitt Bens kleine Flotte dahin und hatte bald die sichere Flußmitte erreicht. Die Türken sammelten sich lärmend am gegenüberliegenden Ufer und schrien und schossen immer noch. Sogar eine Kanone wurde herbeigeschafft, aber in Ermangelung eines Zieles wurde sie nicht abgefeuert. Unterdessen schrammten Bens Boote mit dem Kiel auf das in Festungsnähe gelegene Ufer. »Aussteigen und die Boote an Land ziehen!« befahl Ben. »Hauptmann, Ihr geht mit mir. Ihr und die Gefangenen. Vorwärts!« Der Ingenieur wollte keine Zeit verlieren. Zuerst mußte er Oberst von
Sternheim berichten, dann die Gefangenen abliefern und schließlich wieder auf seinen Platz an der Bastion zurückkehren, wo seine Männer bisher unter schwerem Geschützfeuer gestanden hatten. Schon eine Stunde nach dem glücklichen Abschluß des nächtlichen Handstreiches stand Ben wieder an seinem Platz auf der Bastion. Seine Männer zeigten sich sehr erleichtert. Sie sahen in dem massigen, nimmermüden Abteilungskommandeur eine kraftvolle, im Besitze großer Autorität befindliche Person, an die sie sich gerne anschlossen. Vor allem aber konnte er auch dann noch Witze machen, wenn die türkischen Kugeln sehr nahe niederfielen. Doch kaum war Ben wieder heimisch geworden und hatte im Morgengrauen die vorgeschobenen Stellungen der Türken eingesehen, erschien ein Bote des Grafen von Starhemberg. »Herr von Debrec, der Kommandant bittet Euch um einen kurzen Besuch bei sich.« Das war ein Befehl, den Ben schlecht ignorieren konnte. Also ging er gleich mit dem Kurier mit. Graf von Starhemberg wohnte hoch oben im Turm des Stephansdomes in einer Kammer. Sein Hauptquartier aber war in einer großen Halle untergebracht, die vor der Belagerung den Bürgern Wiens als Versammlungssaal gedient hatte. Jetzt standen unzählige Tische herum, jeder von ihnen mit Bergen von Plänen, Karten, Zeichnungen, Skizzen und Kuriermeldungen bedeckt. Ordonnanzen eilten geschäftig hin und her, Kuriere wurden empfangen und verabschiedet, Offiziere meldeten sich, andere erhielten Aufträge und zogen sich zu ihren Einheiten zurück. Ben suchte lange, bis er Starhemberg endlich inmitten einer Gruppe heftig auf ihn einredender und übernächtigter Offiziere entdeckte. Das hagere, fast hartgeschnittene Gesicht des Grafen sah überanstrengt aus, als habe er schon tagelang nicht geschlafen. Und in Wahrheit war es auch fast so, denn der Kommandant der Festung Wien war unermüdlich überall, spornte die Verteidiger an, schaffte Material herbei, organisierte, improvisierte und zeigte sich an allen gefährdeten Punkten, um seinen tapfer kämpfenden Leuten neuen Mut zu geben und Kampfgeist zu verleihen. »Ah, Herr von Debrec! Ich freue mich, Euch zu sehen. Wir haben nur sehr wenig Zeit, uns über unsere Liebhabereien zu unterhalten.« Der Graf war wie Ben ein Freund von Artillerietechnik und Ballistik. »Ich habe einen Auftrag für Euch, Herr von Debrec, der nicht nur gefährlich, sondern auch ziemlich schwierig durchzuführen ist.« »Worum handelt es sich, Graf?« »Wir wollen die Heilige Fahne aus dem Lager des Großwesirs erbeuten,
um den Türken unsere Gegenwart zu beweisen. Dazu bedarf es nur weniger Leute. Drei Soldaten werden genügen. Ich würde gern sehen, wenn ihr den Auftrag ausführtet.« Ben überlegte kurz. Das war ein Auftrag ganz nach seinem Geschmack. Aber drei Soldaten brauchte er nicht, zwei würden genügen. »Ich werde die Fahne holen«, sagte Ben selbstbewußt. »Die Osmanen sollen sich noch lange daran erinnern.« »Ich danke Euch, Herr von Debrec«, sagte der Graf erleichtert. »Das wird unseren Soldaten neuen Auftrieb geben und den Kampfeseifer der Türken dämpfen. Zudem haben wir mit der Fahne dann ein gutes Faustpfand in der Hand. Bereitet nur alles für die kommende Nacht vor.« * Professor Lintberg duckte sich, als er den Türken gewahrte, der auf ihn anlegte und dann einen Pfeil abschoß. Das Geschoß ging vorbei, aber Lintberg fluchte gedämpft. Musketenschüsse hörte man, aber Pfeilschüsse – die waren tückisch. Das Feld vor den Wällen war von osmanischen Heerscharen überflutet, die den ganzen Tag schon mit Sturmleitern, Wurfmaschinen, Mörsern und Kanonen vorrückten, um die Bastion an dieser Stelle anzugehen. Schon wurden die ersten Leitern an die Mauern gelehnt, die von den Verteidigern immer wieder umgestürzt wurden. Dennoch gelang es einzelnen Türken, über die Wälle zu springen und Unruhe in die Reihen der heftig kämpfenden Verteidiger zu bringen. Zum Glück kamen sie nicht sehr weit und wurden noch auf der Bastion von den erbitterten Soldaten der Festung niedergemacht. Lintberg dirigierte seine Soldaten so souverän, als hätte er zeit seines Lebens nichts anderes getan. Und die Männer folgten ihm willig. Plötzlich ließ der Einschlag einer Kanonenkugel das Mauerwerk erzittern. Zentnerschwere Steinbrocken stürzten in den Graben. Herumfliegende Steinsplitter verletzten Freund und Feind. Die türkische Artillerie schoß erstaunlich treffsicher und ohne Pause. Dort drüben befanden sich exzellente Geschützmeister. Die gewaltige osmanische Kriegsmaschinerie, der weder die Verteidiger noch die verbündeten Heere Gleichwertiges entgegensetzen konnten, lief auf vollen Touren. Einer von Lintbergs Soldaten fiel. Ein faustgroßer Stein hatte ihm den Kopf zerschmettert. Zwei Kameraden trugen ihn hinweg und schafften ihn hinter den Wall. Lintberg stieß mit einer Hellebarde eine Sturmleiter der Türken um,
gerade noch rechtzeitig, als sich schon ein schwarzbraunes, teuflisch grinsendes Gesicht über die Mauerbrüstung schob und ein Krummsäbel blinkte. Ein gellender Schrei sagte Lintberg, daß der Feind abgestürzt war. Wieder erzitterte die Bastion unter einem Kugeleinschlag. Pulverdampf wogte aus den Gärten und stieg zur Bastion hinauf. Die Schwaden legten sich beklemmend auf die Lungen. Lintberg hustete gräßlich und verfluchte die türkische Artillerie. * Die Heilige Fahne befand sich unweit des Hauptzeltes von Großwesir Kara Mustapha und wurde von zehn Janitscharen bewacht, die Tag und Nacht auf Posten standen und sich nicht von der Stelle rühren durften. Die Heilige Fahne war dem Propheten geweiht und das kostbarste Kleinod, das die Türken mit sich führten. Der Großwesir war so sehr auf die Fahne bedacht, daß er sie immer in seiner unmittelbaren Nähe halten ließ. Die sie bewachenden Janitscharen gehörten zur Elite seiner Truppen und waren aufs sorgfältigste ausgesucht und dem Großwesir treu ergeben. Kein anderer durfte ihnen Befehle erteilen außer den von Kara Mustapha bevollmächtigten Offizieren und Paschas. Ben hatte die Nacht abgewartet und war dann mit den beiden Soldaten aufgebrochen. Das Problem war, unbemerkt aus der Stadt zu kommen. Der beste und sicherste Weg schien ihm durch das Südtor zu sein. Es besaß mehrere tote Winkel, die von den Türken nicht eingesehen werden konnten, und lag so weit von den osmanischen Schanzen ab, daß den türkischen Posten nichts auffallen würde. Er hoffte das jedenfalls. Der Mond war hinter Wolken versteckt, was Bens Absicht nur entgegenkam. Vom türkischen Lager her drang das Wiehern von Pferden, das Schmettern von Trompeten und das Summen und dumpfe Brausen des gewaltigen Heeres. Ben mußte nur etwa fünfhundert Meter bis zum türkischen Hauptlager zurücklegen, wo sich in den Gärten und bei den Zelten die Heilige Fahne befand. Der Ingenieur hatte am Tag bereits gesehen, daß die Fahne sehr streng bewacht wurde, er wußte aber nicht, wie viele Soldaten außer den zehn Posten dort noch Dienst taten. Ben wählte eine vollkommen dunkle Stelle an einem halb ausgehobenen Graben, der ursprünglich ersten und vordersten Linie der Türken, die später nach Nordosten verlegt worden war. Diese alten Stellungen waren unbewacht. Offenbar rechnete keiner der Osmanen damit, daß die Verteidiger hier einen Ausfall planen könnten. Ben sah in der Ferne die
prächtigen Zelte, die vielen Fackelträger und eisernen Becken mit großen Feuern, die alles in rotgoldenen, zuckenden Lichtschein hüllten. Dort mußten auch das Hauptzelt des Großwesirs, der Diwan sowie die anderen Zelte Kara Mustaphas stehen. Daraufhin gründete sich auch Bens Plan, denn die Türken würden nie damit rechnen, daß sich die Christen in ihr Lager wagten und dann auch noch in die Nähe des Zeltes von Kara Mustapha, des Großwesirs, des ersten Ministers des Sultans. Wer dort erwischt wurde, dem schlug man sofort den Kopf ab. »Wir gehen vor bis in den Schatten des Zeltes, dann sondieren wir das Gelände. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir die Wachen an der Fahne weglocken können«, sagte Ben leise zu seinen beiden Begleitern, dem Korporal Jaschec und dem Soldaten Rübe. Er spielte mit dem Gedanken, an eines der Zelte Feuer zu legen, damit das Lager in Aufregung geriet und er sozusagen in Ruhe die Fahne nehmen und damit fliehen konnte. Die Janitscharen standen unbeweglich um die Heilige Fahne, die Bogen in der erhobenen Hand, um jederzeit jeden Feind bekämpfen zu können. »Wie wäre es mit dem kleinen roten Zelt dort, Herr?« fragte Korporal Jachec und deutete auf ein prächtiges Rundzelt unweit der Fahne. »Es könnte vortrefflich brennen!« Teufel, der Bursche hatte ähnliche Überlegungen wie Ben angestellt. Ben prüfte die Stelle lange, dann sagte er: »Das ist zu sehr in Sichtlinie der Wache. Das andere, das schwarze dahinter, das wäre eher geeignet. Dorthin können wir uns ungesehen anschleichen.« Er winkte den beiden Soldaten, ihm zu folgen. Und er hoffte, daß die Nerven der Männer durchhielten. Auf allen vieren krochen sie am Boden entlang bis zu dem schwarzen Zelt. »Ich lege hier Feuer«, flüsterte Ben. »Ihr seht zu, daß ihr einige Steine findet und sie auf die Pferde des Großwesirs schleudert, die unweit des Diwans in der Koppel stehen. Dadurch wird die Verwirrung so groß werden, daß die Janitscharen glauben mögen, der Großwesir sei in Gefahr. Wenn ich euch das Zeichen gebe, habe ich Feuer gelegt. Dann seid ihr an der Reihe! Seid nur vorsichtig!« Ben griff in sein Wams, nahm Feuerstein und Lunte heraus und schüttete aus dem Horn etwas Pulver auf den Boden, wo die Zeltwand befestigt war. Er schlug nur einmal kurz den Stein an, fing den Funken mit der Lunte auf, legte sie in das Pulver hinein und blies vorsichtig nach. Kurz darauf glomm ein Glutpunkt auf. Mit einer grellen Flamme verpuffte das Pulver. Der Feuerball erfaßte die trockene Zeltseide und fraß ein großes Loch
hinein. Blitzschnell kletterten die Flammen höher, bis eine Seitenwand des Zeltes völlig vom Feuer erfaßt war. Ben winkte heftig den beiden Soldaten und kroch hastig in den Schatten eines rückwärtig liegenden Zeltes zurück. Die Wachen bei der Fahne entdeckten das Feuer und brüllten Alarm. Soldaten eilten herbei, deuteten auf das brennende Zelt und riefen nach Wasser. Bens Begleiter warfen unterdessen hastig mit Steinen, worauf die Pferde voller Schmerzen laut wieherten. Ben spähte nach dem Standplatz der Heiligen Fahne. Ein Teil der Janitscharen rannte eben zum Zelt des Großwesirs. Aber noch immer standen fünf Wächter mit dem Bogen in der Hand und sahen aufmerksam auf die anwachsende Menge, die vom Feuer angelockt wurde. Die Wachen mußten von der Fahne weg – aber wie? Während Ben verzweifelt überlegte, erschienen plötzlich mehrere Soldatentrupps, umstellten die Zelte des Großwesirs und legten einen undurchdringlichen Kordon darum. Ben sah nach seinen beiden Soldaten. Sie hatten sich in den Schatten eines der rückwärtig liegenden Proviantzelte geduckt und spähten ängstlich und nervös her. Die gefürchteten Krummschwerter der Türken waren unangenehm nah. Für das brennende Zelt gab es kein Wasser, aber Dienern und Wächtern des Großwesirs gelang es mit vereinten Kräften, das brennende Zelt niederzureißen und die Flammen zu löschen, so daß für die übrigen keine Gefahr mehr bestand. Aus den Augenwinkeln sah Ben plötzlich, wie sich eine starke Abteilung Janitscharen seinem Aufenthaltsort näherte, dann ausschwärmte und die einzelnen Zelte absuchte. Ben war noch unklar, was die Soldaten vorhatten. Dann aber begriff er in tödlichem Erschrecken, was hier vor sich ging. Die türkischen Soldaten suchten nach ihm und seinen beiden Begleitern! Der Plan, die Heilige Fahne zu stehlen, war den Türken bekannt gewesen! Alles war nur eine großangelegte Falle, ein Täuschungsmanöver gewesen, um sie hier in die Falle zu locken! Der Plan war verraten worden! Der Verräter konnte nur jemand aus der unmittelbaren Umgebung des Grafen Starhemberg sein, denn über diese nächtliche Aktion waren sehr wenige Leute informiert. Ben wünschte dem unbekannten hinterlistigen Halunken die Pest an den Hals und überlegte eine Möglichkeit zur Flucht, denn wenn die Türken ihn erwischten, hängten sie ihn auf. Oder sie schlugen ihm unverzüglich den Kopf ab. Ihm und den beiden Soldaten, die mit ihm gekommen waren. Und hängen, nein, hängen wollte Ben nicht.
Den Kopf bei den Türken lassen wollte er ebenfalls nicht. * Die türkischen Bogenschützen besaßen selbst in der Nacht eine Treffsicherheit, was von den Musketenschützen der Verteidiger nicht zu sagen war. Mehr als einmal waren die Pfeile gefährlich nahe an Lintberg vorbeigezischt, und nur seiner Geistesgegenwart und schnellen Reaktion hatte er seine bisherige Unverletztheit zu verdanken. Die Angriffe auf die Wälle seines Abschnitts hatten aufgehört, die Türken waren nach der dritten Welle nicht mehr gegen die Mauern angerannt und lasen in der Dunkelheit jetzt ihre Verletzten und Toten zusammen. Dennoch schossen die osmanischen Geschützmeister Kugel auf Kugel in die Festung hinein und fügten Menschen, Waffen und Maueranlagen großen Schaden zu, der nicht so leicht und so rasch behoben werden konnte, wie er entstand. Lintbergs Männer waren müde, erschöpft, ausgelaugt und hungrig. Mit dem Proviant klappte es nicht so recht, und mehrmals schon hatten die Soldaten auf den Basteien und Wällen zwei Tage hintereinander nichts zu essen bekommen. Pferdefleisch wurde zu Wucherpreisen gehandelt und halbroh verzehrt. Und in der Stadt holte sich die Pest ihre Opfer. Jedoch murrte keiner der Leute. Alle erfüllten treu und brav ihre Pflicht, denn sie wußten, sie kämpften nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um den Erhalt der Stadt. Und keiner der Männer auf den Wällen sehnte sich danach, eines Tages unter türkischer Herrschaft leben zu müssen und Frau und Töchter als Freiwild für die Türken zu wissen. Lintberg schob vorsichtig den Kopf über die Mauer und spähte auf das Vorfeld der Festung, das von Fackeln und Feuern erleuchtet war. Kein Türke war zu sehen. Die Toten und Verletzten waren geborgen. Der Professor wurde mutiger und zeigte mehr von sich. Da machte es plötzlich »Ratsch!« und aus Lintbergs linker Schulter ragte ein unterarmlanger Pfeil. Der Schmerz war bestialisch. Lintberg griff nach dem Geschoß, wollte es herausziehen, hatte sich aber doch überschätzt, denn plötzlich fiel er ohnmächtig zu Boden und konnte gerade noch von zwei herbeieilenden Soldaten aufgefangen werden. Sie trugen ihn sofort zum Spital, damit es keinen Wundbrand gab. Die Türken schmierten absichtlich Dreck auf die Pfeile. Der Professor hatte noch einmal Glück gehabt. Es hätte ihn auch in den Hals treffen können. Singend wischten die türkischen Pfeile über die Wälle und zwangen die
Verteidiger, sich niederzuducken.
hinter
den
dicken
Mauern
und
Schanzkörben
* Frank wartete, bis sich die Reiter hinter Graf Solm und ihm in Linie aufgestellt hatten, dann zog er den Säbel aus der Scheide und legte ihn mit der Schneide nach vorn an die rechte Schulter an. Zweihundert Kavalleristen waren bereit, einen nächtlichen Ausfall zu wagen, Verwirrung in die türkischen Reihen zu bringen und sich so rasch als möglich wieder vom Feind abzusetzen. Graf von Starhemberg hatte den Ausfall geplant, mehr aus psychologischen als aus militärischen Gründen, denn viel war für die Kavalleristen nicht zu holen. Die Türken sollten auf jeden Fall sehen, daß die Verteidiger trotz aller Bedrängnis noch immer kampfeswillig waren und sich keineswegs nur in der Defensive befanden. Bürgermeister Liebenberg war vor wenigen Stunden der Pest erlegen, und möglicherweise wußten die Türken schon davon. Graf Solm nickte dem Offizier am Kärntner Tor und zog die Zügel an. Das Tier schnaubte leise, hob den Kopf in die Höhe, daß das Zaumzeug klirrte, und stampfte übermütig auf der Stelle. Die Bastion, in der sich die Reiter befanden, war dem Gefechtsfeld vorgelagert, aber durch einen kleineren Hügel von der Türkenseite nicht einsehbar. Deshalb erschien Starhemberg ein Ausfall an dieser Stelle am günstigsten. Das Tor schwang weit auf, drei Reihen Musketiere stellten sich auf, um den Reitersoldaten Feuerschutz zu geben, wenn sie die Festung durch das Tor verließen. Graf Solm streckte den Säbel hoch in die Luft, riß ihn nach vorne und zeigte mit der Spitze zum türkischen Lager hin. Dann gab er dem Pferd die Sporen und jagte davon, gefolgt von Frank und den Kavalleristen, die nach Verlassen der Festung sofort ausschwärmten und einen verschobenen Keil bildeten. Frank jagte mit ein paar Leuten den Hügel hinab und erkannte von oben die labyrinthartigen Stellungsgräben. Die Türken tauchten verstört aus den Löchern auf und behinderten sich gegenseitig. Hier gedachte Frank anzusetzen. Kurz vor der osmanischen Linie fing er an, gellende Schreie auszustoßen, die von seinen Männern aufgenommen wurden. Musketenschüsse knatterten ihnen entgegen. Weiter drüben, wo Graf Solm ritt, krachte eine Kanone. Jemand brüllte, aber niemand verstand ein Wort. Die Überraschung des Augenblicks gab Frank und seinen Leuten die
Chance, bis tief in die gegnerischen Stellungen zu gelangen. Hageldicht prasselten die Säbelhiebe auf die schreienden Türken nieder, die ihre Waffen wegwarfen und davon stürzten, um der christlichen Soldateska zu entkommen. Frank ließ halten, gab den Befehl zur Sprengung sämtlicher in der Stellung befindlicher Kanonen und führte seine Leute auf gleichem Wege zum Kärntner Tor zurück, wo sich die Hauptmacht des Grafen Solm sammelte. Die Leute brachten ein paar Tote mit – und Graf Solm. Eine türkische Kugel hatte ihn tödlich getroffen. Kaum hatten sich die Tore hinter den Männern geschlossen, begannen die ersten türkischen Kanonen zu feuern. Aber es war zu spät, die Überlebenden dieses Ausfallkommandos waren in Sicherheit. Der Tod des Grafen Solm löste allerdings bei den Verteidigern größte Bestürzung aus. * Es gab nur eine Chance für Ben, nämlich ruhig liegenzubleiben, mit dem Zeltschatten zu verschmelzen und zu warten, bis die Janitscharen mit ihrer Suche aufhörten. Es war eine hauchdünne Chance. Um seine beiden Soldaten konnte er sich jetzt nicht kümmern. Er hoffte aber, daß sie sich ebenso verhielten wie er. Die Janitscharen um die Heilige Fahne waren verstärkt worden. Also mußte er den Plan ihrer Erbeutung endgültig aufgeben. Ben hatte es schwer, seinen riesenhaften Körper vor den Blicken der türkischen Soldaten zu schützen. Die Leibwache des Großwesirs war nicht aus dem Gros der Truppen rekrutiert, sondern bestand aus bestens ausgebildeten Männern, denn nur solche fanden Gnade in den Augen des osmanischen Oberbefehlshabers. Da schrie einer der Soldaten plötzlich auf und deutete auf ein Zelt. Ben wußte, daß dort Korporal Jaschec lag. Wenn die Türken ihn entdeckten, bedeutete das für ihn Sklaverei oder Tod. Aber er konnte nichts für ihn tun. Es war aussichtslos, gegen eine vierzig – oder fünfzigfache Übermacht zu kämpfen. Die Janitscharen zerrten den Korporal hoch und schleppten ihn mit sich irgendwo in die Zeltstadt hinein. Kurz darauf entdeckten sie den Soldaten Rübe, den sie auf die gleiche Art und Weise mitnahmen und nach hinten schleiften. Jetzt brauchte Ben eine gehörige Portion Glück, wenn er da wieder mit heiler Haut herauskommen wollte. Er schwor sich, den Verräter zu finden, der zwei brave Soldaten einem Ungewissen Schicksal überantwortet hatte, sollte er ohne Komplikationen
wieder in die Festung zurückkehren können, Eine dicke schwarze Wolkenbank schob sich heran und verschluckte das Licht des Mondes völlig. Ein Glück für Ben, der schon langsam nervös wurde. Er gab noch einige Minuten zu, bevor er sich behutsam davonzuschleichen gedachte. Zur Sicherheit nahm er das Messer aus Venusstahl zur Hand. Es konnte ihm bei einer raschen Flucht gute Dienste leisten. Zwei türkische Wachen kamen im Eilschritt vorbei. Sie hatten die Bogen über den Rücken gehängt und die Hände auf den Krummsäbeln liegen. Sie gehörten nicht zu den Janitscharen. Soviel sah Ben. Er wartete, bis sie außer Hörweite waren. Dann rappelte er sich auf und schlich an den Zelten vorbei bis zu einer Batteriestellung, die unbesetzt war. In der Nähe lagerten einige Soldaten auf dem Boden. Sie schliefen, aßen oder tranken Kaffee. Es gelang ihm, unbemerkt an ihnen vorbei zu kommen und hinter einigen niedrigen Büschen entlang zu kriechen, die bis zu einer Senke verliefen und dort in eine Baumreihe übergingen. War er erst bei den Bäumen, dann konnte er seine weitere Flucht gefahrlos fortsetzen. Vor ihm knackte es im Unterholz. Türkische Posten? Er duckte sich flach auf die Erde und versuchte sein erregt pochendes Herz zu beruhigen. Das Knacken wiederholte sich nicht. Hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt? Er kroch weiter, bis er die Bäume erreicht hatte. Erst dort wagte er, sich aufzurichten und geduckt weiterzulaufen. Ohne Aufenthalt rannte, lief und sprang der riesenhafte Ingenieur, bis er die Außenwerke der Festung Wien erreicht hatte. Ganz außer Atem nannte er den Posten das Losungswort und verlangte den Offizier der Wache. Der erschien sofort, erkannte Ben und fragte höflich nach seinen Befehlen. »Ich muß sofort zu Graf Starhemberg«, sagte Ben. »Ich habe ihm eine wichtige Meldung zu überbringen!« »Ich gebe Euch einen meiner Leute mit«, sagte der Kapitän der Wache eifrig. Kurz darauf erstattete Ben dem Grafen Bericht und schloß: »Darum, Graf, bin ich der Meinung, daß sich unter den Adjutanten ein Verräter befinden muß. Wer sonst könnte den Türken diesen Plan verraten haben als jemand, der genau eingeweiht war und sogar wußte, wieviel Leute sich der Fahne bemächtigen wollten?« »Ich werde den Fall untersuchen lassen, Herr von Debrec«, versprach der Graf. »Doch eine andere Sache! Ich möchte Euch von Eurer Bastei nehmen. Ihr seid mir zu schade, als daß ich Euch einer türkischen Kugel opfern möchte. Beratet mich hier bei der Verteidigung von Stadt und
Festung. Bald trifft das kaiserliche Heer unter der Führung Karls von Lothringen ein, so Gott will. Mit ihm Ludwig Wilhelm von Baden und Prinz Eugen von Savoyen. Danach wird die große Schlacht gegen die Türken stattfinden, die wir mit Gottes Hilfe hoffentlich für uns entscheiden können. Ich möchte auch Eure Kenntnisse im Festungsbau sowie in der Schießtechnik nutzen zu unser aller Wohl und zum Verderben unserer Feinde. Der Ingenieur Rimpler wurde heute beim Sprengen einer Gegenmine zerrissen. Er war unser Festungsbaumeister. Ein guter Mann. Gott möge seiner Seele gnädig sein. Ich ernenne Euch zum Festungsintendant, Herr von Debrec. Euch werden Artillerie, Baukolonnen und bei einer Eroberung der Stadt durch die Osmanen die südlichen Basteien unterstehen. Die Order werdet Ihr noch erhalten.« Damit war Ben entlassen. Er neigte kurz den Kopf, dann suchte er sein Gemach auf, eine bescheidene Kammer. Er wusch sich oberflächlich und sank todmüde auf sein Lager nieder. Er schloß die Augen und wollte gerade einschlafen, als das Sprechfunkgerät im Radar-Timer summte. Ben meldete sich knurrend. »Frank spricht, Ben. Den Professor hat es in der Schulter erwischt. Er wurde auf den Wällen von einem Pfeil getroffen. Zwar nur ein Schulterschuß, aber es steht nicht gut um ihn. Er fiebert sehr und muß große Schmerzen haben. Sieh mal nach ihm, wenn du Zeit hast. Wie sieht es bei dir aus?« Ben erklärte Frank kurz die Lage und die letzten Ereignisse. Frank unterrichtete Ben über seine Aktivitäten und den Tod von Graf Solm. »In Ordnung, Frank. Ich melde mich wieder, wenn es neue Nachrichten gibt. Zur Hölle mit den Türken!« »Ja, der Teufel soll sie holen!« sagte auch Frank und trennte die Verbindung. Nicht lange danach war Ben tief und fest eingeschlafen. * »Eine der gefährlichsten türkischen Waffen sind die Minen, die unseren Basteien, Wällen und Ravelins großen Schaden zufügen, ohne daß wir in der Lage sind, Gleichwertiges entgegenzusetzen, weil wir uns in der Defensive befinden. Rimpler wollte eine Gegenmine legen und kam dabei zu Tode.«
Die in der Halle anwesenden Offiziere, Pioniere und Mineure lauschten aufmerksam Bens Ausführungen. Ihm kam es darauf an, den an den vordersten Wällen und Linien verantwortlichen Kommandeuren die große Gefahr aufzuzeigen, die die Minen anrichten konnten. Immer wieder war es türkischen Kommandos gelungen, die Festungsmauern zu untergraben und die vordersten Wälle mit gewaltigen Pulverminen zum Teil zu zerstören. Ben hatte nun selbst einige Ideen entwickelt, wie ausgewählte Stoßtrupps Gegenangriffe gegen das Türkenlager unternehmen sollten, damit die feindlichen Mineure gestört wurden. Und er hatte Horchtrupps eingeteilt, damit die Verteidiger rechtzeitig erfuhren, wo sich die Türken herangruben. »… das, meine Herren, war das Kapitel Minen. Ich danke Ihnen«, schloß Ben seine Ansprache. Die Offiziere erhoben sich und verließen den Raum. Sie mußten wieder auf ihre Plätze zurück, denn die Türken stürmten ohne Unterlaß die Festungsmauern, während wieder die Türkenglocke geläutet wurde. Mit dumpfem Dröhnen fiel die große Glocke ein, die Pummerin. Kara Mustapha hatte die Losung ausgegeben, daß bei einer Einnahme durch Sturm die Stadt seinen Truppen zum Plündern gehörte. Bei einer Kapitulation allerdings war die Stadt die Beute des Großwesirs. Aus dem Lager der Türken war zudem die Nachricht gekommen, daß sich Kara Mustaphas Bruder im Anmarsch auf Wien befinde. Er war bei den Soldaten beliebt. Das hatte Ben von den Gefangenen erfahren, die er bei der geglückten Brandattacke auf die Boote mit in die Festung gebracht hatte. Der Bruder des Wesirs hieß Selim Mustapha, wurde aber nur der rote Selim genannt des Blutes wegen, das er vergoß. Er machte nie Gefangene. Ben suchte seinen Baum auf, der ihm vom Grafen zur Arbeit und zum Entwerfen von Plänen zur Verfügung gestellt worden war. Er plante eine neuartige Waffe, eine Mauerkanone, deren Durchschlagkraft allen herkömmlichen Kanonen und Mörsern überlegen war. Mit seinen überragenden Kenntnissen war es ihm leicht, Kanonen zu konstruieren, die den zeitgenössischen Waffen durchaus überlegen waren. Eine Schwierigkeit gab es allerdings: Das Material entsprach nicht den Anforderungen, obwohl Ben in dem Waffenmeister und Büchsenmacher Johannes Cleber einen fähigen Mann gefunden hatte, der auch in der Lage war, Bens theoretische Ausführungen in die Praxis umzusetzen. Allerdings wunderte sich Johannes Cleber immer häufiger, und
manchmal dachte er schon, daß der Herr von Debrec vielleicht ein Irrer war. * »Herr! Herr!« Ben wurde unsanft aus seiner Arbeit gerissen. Ein Offizier stand in der Tür und sah Ben respektvoll an. »Die Türken schlagen eine Brücke über die Donau, Herr! Graf Starhemberg bittet Euch, sofort ins Hauptquartier zu kommen!« Ohne lange zu überlegen, ließ Ben seine Pläne im Stich und eilte zu dem Grafen. Er mußte durch eine Gasse, in der man gerade ein paar Pesttote vor die Tür legte. Feuer brannten, um den Pesthauch abzuhalten. Einige unausgeschlafene Offiziere drängten sich um den Kommandanten, der mit schneidender Stimme seine Befehle gab. »Ah, Herr von Debrec! Tut mir leid, daß ich Eure Arbeit unterbrechen mußte. Die Türken kommen über die Donau. Wir müssen das auf jeden Fall verhindern. Graf Auerspergs Artillerie wird soeben in die neuen Stellungen gebracht. Ich möchte, daß Ihr zusammen mit Graf Heißler das Artilleriefeuer leitet und an den wichtigsten Stellen einsetzt. Wir können unsere Wälle nicht tatenlos von den türkischen Kanonen beschießen lassen und noch dazu die Gefahr eines Übersetzens eines osmanischen Heeres in Kauf nehmen.« Ben verließ den Kommandanten und suchte die Stellungen der Grafen Auersperg und Heißler auf. Die beiden Männer begrüßten Ben zurückhaltend. Johannes Cleber hatte mit ihnen über seinen Verdacht gesprochen. »Die Türken haben die Brücke trotz unseres heftigsten Feuers fast bis zur Mitte des Stromes getrieben. Wenn wir nicht alle Kräfte darauf konzentrieren, ist die Brücke bald errichtet. Dann Gnade uns Gott, denn die Türken tun es auf keinen Fall«, sagte Graf Auersperg dann immerhin. Salve auf Salve donnerte auf. Die Kugeln rissen Brückenteile, Kähne und Balken hoch und wirbelten Türken durch die Luft. Doch sofort wurden frische Truppen nachgeschoben, die neues Material brachten. Es schien unmöglich, der türkischen Plage Herr zu werden. Die Kanonen des Grafen Auersperg feuerten ununterbrochen und in so rascher Folge, daß die Träger kaum mit dem Heranschaffen von Pulver nachkamen. Dennoch ließ sich der Brückenbau nicht aufhalten. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagte Ben zu den beiden Grafen, die neben ihm standen und hinüber auf das andere Donauufer
starrten. »Mit dem Artilleriefeuer alleine kommen wir denen nicht bei. Wir müßten das begonnene Brückenteil in Brand setzen, dann wäre ein weiterer Ausbau für die Türken sinnlos. Graf Auersperg setzt das Feuer fort, ich werde einen Plan entwerfen, mit dessen Hilfe wir unserem Gegner dort drüben den Brückenbau ein für allemal verleiden.« Auersperg und Heißler schauten ihm skeptisch nach. Ben setzte sich ein Stück entfernt auf einen Schanzkorb und grübelte. Eine weitreichende Kanone mußte her. Cleber mußte sie gießen, und wenn der Teufel auf Stelzen kam! * Der rote Selim war im Lager eingetroffen, von den Türken mit Geschrei begrüßt. »Wie weit ist der Brückenbau fortgeschritten?« wollte er vom Feldzeugmeister Achmed Bey wissen. »Wir müssen bald auf der anderen Seite sein, denn nur dann können wir Karl von Lothringen daran hindern, die Festung zu entsetzen. Ich habe unterwegs verläßliche Meldungen bekommen, die von einem großen Heer sprechen.« »Wir erleiden schwere Verluste, großmächtiger Herr. Und die feindliche Artillerie macht uns jedes weitere Vorwärtskommen schier unmöglich«, lamentierte Achmed Bey. »Verluste! Verluste!« tobte der rote Selim, der Bruder des Großwesirs. »Allah fordert jeden Tag viele Menschenleben. Und hier, vor Wien, das einst Stadt Allahs heißen soll, müssen eben Opfer gebracht werden! Ich will, daß die Brücke in zwei Tagen fertig ist – ungeachtet möglicher Verluste von Leben und Material! Wir müssen übersetzen, koste es, was es wolle. Allah sei gelobt und gepriesen!« Achmed Bey seufzte und zog sich zurück. Er hatte die Brücke längst aufgegeben, denn ihm erschien unwahrscheinlich, daß er ihren Bau unter diesen großen Opfern weiter vorantreiben konnte. Aber er mußte dem Bruder des Großwesirs gehorchen. Der rote Selim hatte Macht und Einfluß. Vor allem aber war er beliebt. Die Soldaten folgten ihm blindlings. Denn das Kriegsglück war stets mit ihm gewesen. Bisher jedenfalls. * Ben erinnerte sich an die tunesischen Piraten, die feindliche Flotten am
Auslaufen hinderten, indem sie kleinere Boote mit Pulver und brennbaren Materialien beluden und diese mit Brandpfeilen und Musketenschüssen in Brand setzten. Das war die Lösung! Brander mußten ausgestattet werden, die durch die Strömung an den fertigen Brückenteil herangetrieben und dann durch gezielte Schüsse zur Explosion gebracht wurden. Sogleich unterbreitete Ben den Grafen Auersperg und Heißler seinen Vorschlag. Die beiden waren sogar begeistert und erteilten den Adjutanten die Befehle, Boote herbeizuschaffen und alles so herzurichten, wie der Herr von Debrec es benötigte. »Ich denke, kurz vor Tagesanbruch ist die beste Zeit, die Brander antreiben zu lassen«, sagte Ben. »Da sind die Wachen nicht mehr ganz so aufmerksam, weil sie auf die Ablösung warten.« Einige Stunden später waren die Boote beladen und bereit, in die Strömung gebracht zu werden. Es waren insgesamt zehn stattliche Kähne. Wenn nur drei bis zur Brücke kamen und sie in Brand stecken konnten, hatte sich der Aufwand schon gelohnt. Ben gab den Soldaten durch ein Zeichen den Befehl, die Boote ins Wasser zu stoßen. Gleichzeitig sollte Auerspergs Artillerie das Feuer eröffnen, um die Türken abzulenken und zu verwirren. Drei Boote trieben voraus, die anderen sieben folgten fast in Kiellinie hinterher. Kurz vor Erreichen der Brücke stieß das zweite Boot mit dem ersten zusammen. Beide trieben zur Seite und verfehlten die Brücke ganz knapp, was Ben mit einem saftigen Fluch kommentierte. Dafür stießen das dritte und das vierte Boot an einen der provisorischen Pfeiler an und blieben dort hängen. Auch das fünfte und sechste Boot wurden von den Strömungen herangetrieben; das siebte geriet ins Trudeln, schwamm seitwärts ab und verfehlte die Brücke. »Das ist gut«, sagte Ben zu Graf Heißler. »Vier Boote reichen aus.« Er sah nach den eigenen Artilleriestellungen, von denen her es dumpf aufblaffte. »Ihr könnt beginnen!« rief Ben zu den eigens dafür eingeteilten Musketenschützen hinüber. Die Männer legten an und zielten auf die Pulversäcke in den Kähnen. Mehrere Schüsse trafen die Säcke, zeigten aber noch keine Wirkung. Die Schützen luden neu, legten wieder an und feuerten erneut. Plötzlich schoß drüben beim zweiten Boot eine gewaltige Stichflamme empor, erfaßte das danebenliegende Boot und griff über zur halbfertigen Brücke, die wenig
später in hellen Flammen stand. Aus dem Lager der Türken ertönten laute Rufe. Trompeten schmetterten und kurz darauf grollten mit dumpfen todbringenden Schlägen die türkischen Kanonen auf. Ihnen antwortete die Auerspergsche Artillerie. Nach wenigen Minuten war das Gefecht wieder in vollem Gange. Die Türken konnten von der halbfertigen Brücke nichts mehr retten. Sie war in Flammen aufgegangen. Nach einer halben Stunde flaute das Gefecht ab, und dann schwiegen die türkischen Geschütze endgültig. Die Kanonen wurden in neue Stellungen gezogen. Die Verteidiger der Festung hatten einen beachtlichen Sieg errungen. Zwar nur ein Teilsieg, aber immerhin war es jetzt den Türken unmöglich gemacht, über den Fluß zu setzen und Karl von Lothringens heranrückendes Hauptheer anzugreifen. »Ich danke Euch, Herr von Debrec«, sagte Graf Heißler und drückte Ben bewegt die Hand. »Wir alle haben Euch zu danken. Wäre es den Türken gelungen, über den Fluß zu kommen, hätten sie unermeßlichen Schaden anrichten können, ja sogar unsere gesamte Sache zunichte machen können. Ich werde Graf Starhemberg von Eurer Tat berichten.« »Dafür bin ich schließlich da«, sagte Ben schlicht und verabschiedete sich von Heißler und Auersperg, um wieder über seinen Plänen zu brüten. Er nahm sich vor, Cleber wegen des Kanonengusses einzuheizen. Die weittragende Waffe mußte her, koste es, was es wolle! * Unabhängig von den um Wien kämpfenden Türken operierten die verbündeten Tataren weit im Hinterland, unternahmen schnelle Vorstöße auf Dörfer, Flecken, feste Klöster und Märkte. Die wilden Horden tauchten unerwartet auf, schlugen grausam zu und töteten jeden, der ihnen in die Quere kam oder für den sie keine Verwendung hatten. Bewaffneter Widerstand wurde von vornherein sofort und ohne Pardon niedergemacht. Männer, Frauen und Kinder wurden an den Händen zusammengebunden, an den Füßen in Ketten gelegt und davongetrieben, um im türkischen Lager verkauft zu werden. Wer alt oder krank war, wurde ebenso wie zu kleine Kinder niedergehauen oder ertränkt. Graf Starhemberg wußte um die Nöte des offenen Landes und die grausamen Taten der Tataren in den Tälern des Wienerwaldes. Und hätte er Truppen zur Verfügung gehabt, wäre er der Bevölkerung zu Hilfe geeilt; von denen es einigen wenigen gelang, die Festung und Stadt Wien zu erreichen und Schutz hinter den Wällen zu finden.
»Es sieht sehr schlimm aus im Umland«, sagte Starhemberg zu Ben. »Und wir sitzen hier in der Festung wie in einer Mausefalle und können nichts tun. Wir brauchen hier jeden verfügbaren Mann, sonst hätte ich längst einen großen Ausfall gewagt. Ich bitte Euch um einen großen Gefallen, Herr von Debrec. Ich brauche einen zuverlässigen Kurier, der Karl von Lothringen eine wichtige Botschaft überbringt. Ihr scheint mir der geeignete Mann zu sein. Wollt Ihr den Auftrag übernehmen? Er ist sehr gefährlich und kann Euch das Leben kosten. Gerne hätte ich einen anderen geschickt, aber Ihr seid ein intelligenter, wendiger Mann, auf den ich mich felsenfest verlassen kann. Deshalb möchte ich Euch zum Herzog senden.« Ben überlegte nur kurz. Wenn der Graf so darauf bestand, ihn mit der Botschaft zu betrauen, mußte er wohl seine Gründe haben. »Ich werde die Botschaft überbringen, Graf«, sagte Ben zu Starhemberg. »Ich reite allein und hoffe, in zwei, drei Tagen wieder zurück in der Festung zu sein.« »Gott sei mit Euch, Herr von Debrec. Ich hoffe auch, daß wir uns gesund wiedersehen. Übermittelt dem Herzog meine aufrichtigsten Grüße und schildert ihm unsere Lage, die Ihr selbst sehr gut kennt.« Ben versprach es und suchte sich dann den Festungsplan heraus, um einen ungefährlichen Weg nehmen zu können, ohne sogleich den Türken in die Hände zu fallen. Er entschied sich für die Mödlinger Schanze, ein im Augenblick wenig belagertes Vorwerk, das den Türken anscheind zu stark befestigt erschien, obwohl gerade hier die Armierung und die Mauern die schwächste Stelle der gesamten Verteidigungsanlagen aufwiesen. Allerdings war hier die Hälfte der über siebenhundert Wiener Studenten gefallen. Beim Rittmeister des Grafen ließ sich Ben ein Pferd geben und erhielt eine starke Stute, die seinen massigen Körper ohne große Mühe auch im anstrengenden Galopp über weite Entfernungen zu tragen versprach. Gegen Abend wollte Ben aufbrechen, die Nacht hindurch reiten, daß er am nächsten Tag um die Mittagszeit das Lager Herzog Karls von Lothringen zu finden hoffte. * »Viel Glück, alter Junge«, sagte Frank, der sich von Ben verabschiedete. »Ich soll dir auch Grüße von Lintberg bestellen.« »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, ihn zu besuchen«, entgegnete Ben. »Ich werde es nachholen, wenn ich zurück bin.«
»Gut, vergiß es nicht. Und behalte den Kopf auf den Schultern.« »Danke, Frank.« Ben gab dem Pferd die Sporen und jagte durch eine von den Wachen offengehaltene Lücke aus der Mödlinger Schanze. Er schlug sofort die Richtung nach Norden ein und umging die Festung in weitem Bogen. Als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, gab er dem Pferd die Zügel frei und suchte sich einen Weg entlang der Donau, an der sich – noch nördlich des Kahlenberges – das Hauptheer Karls von Lothringen befinden sollte. Auf dem Weg dorthin mußte sich Ben nur vor den Horden der Tataren hüten, die kreuz und quer durch das Land zogen und plünderten und töteten. Der Weg, den Ben gefunden hatte, verengte sich und wurde schlechter. Es herrschte stockdunkle Nacht und miserable Sicht. Der Ingenieur sah kaum noch die Kruppe des Pferdes. Aber der Instinkt der Stute half über diese Unzulänglichkeit hinweg. Da hörte Ben plötzlich gutturale Stimmen und die Huftritte mehrerer Pferde. Tataren! schoß es ihm durch den Kopf. Er mußte sich verstecken und durfte auf keinen Fall den wilden Gesellen in die Hände fallen. Er schwang sich vom Pferd und führte es nach rechts in die Büsche hinein, an denen er sich durch Abtasten und mit ausgestrecktem Arm orientierte. Er hielt dem Pferd das Maul zu und flüsterte leise und unentwegt auf das Tier ein, um es zu beruhigen. Die Stimmen waren nähergekommen. Die Reiter mußten sich schon in unmittelbarer Nähe befinden. Ben schätzte sie auf zehn oder zwölf Mann, eine Übermacht, der er als einzelner nicht gewachsen gewesen wäre. Die Reiter hatten angehalten und Unterhielten sich laut. Waffen klirrten, Pferde schnaubten, und immer wieder ertönten die kehligen Laute der Tataren. Bens Stute wurde unruhig, tänzelte auf der Stelle und versuchte ihren Kopf zu befreien. Ben aber lieft nicht los. Sein Leben hing davon ab. Drüben ertönten einige harte Kommandos, dann entstand Bewegung in den Reihen der Tataren. Die ganze Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Ben wartete, bis sie außer Hörweite waren, dann gab er der Stute den Kopf frei. Leise schnaubend dankte sie es ihm. Sie versuchte ihren Kopf in seine Achselhöhle zu stecken zum Zeichen, daß sie ihm verziehen hatte. Ben tätschelte sie und lobte sie leise. Er führte die Stute wieder auf den Weg heraus, schwang sich in den Sattel und überließ es wieder dem Pferd, den Weg zu finden. Endlich dämmerte ein neuer Tag herauf und ließ Weg und Land erkennbar werden. Nach der Skizze, die Ben sich angefertigt hatte, mußte er noch etwa sechs Stunden reiten, bis er im Heerlager Karls von Lothringen war. Er
lenkte die Stute zur Donau hin, stieg ab, ließ sie trinken und schöpfte selber mit der Hand Wasser. Ein schmerzhafter Druck zwischen den Schulterblättern ließ ihn plötzlich erstarren. Verdammt, er war zu sorglos gewesen. Vorsichtig wandte er den Kopf. Hinter ihm stand ein türkischer Soldat, der einen aufgelegten Pfeil gegen seinen Rücken drückte und ihn grimmig musterte. Ben verwünschte seinen Leichtsinn, aber es war nichts mehr zu ändern. Er konnte nur hoffen, daß nicht allzu viele Krieger mit dem Türken gekommen waren. »Wer bist du?« fragte der Türke, anscheinend ebenso überrascht wie sein zuvor noch wassertrinkender Gegner. Der Sprachtransformer übersetzte klar und deutlich und ohne zu stocken die Sätze des anderen. »Ich bin der Herr von Debrec«, sagte Ben wahrheitsgemäß, »und möchte weiter nach Königstätten.« Das war ein Ort nördlich von Wien. »Du bist ein Spion«, sagte der Türke. »Du kommst mit mir in unser Lager!« An dem letzten Satz erkannte Ben, daß der Osmane alleine war. Das ließ ihn zuversichtlich werden. »Gut«, sagte Ben scheinbar ergeben, rappelte sich auf, klopfte sich Erde und Gras von der Kleidung, schwang plötzlich herum, stieß dem Türken den Bogen weg und donnerte ihm gleichzeitig die Faust ans Kinn. Ächzend flog der Osmane rückwärts, während der abgehende Pfeil um ein Haar die Stute traf und ins Wasser zischte. Ben zog den Türken in ein Gebüsch hinein, band ihm Hände und Füße und tarnte ihn so, daß er nicht gleich gesehen werden konnte. Den Bogen warf er mitsamt den Pfeilen in die Donau. Dann ritt er weiter. Er hatte schon genug Zeit verloren. Immer wieder mußte er umherstreifenden Tatarenhorden ausweichen und sich verstecken. Vereinzelt begegnete er auch regulären türkischen Verbänden, die in raschem Galopp ihre Stellungen aufsuchten. Sein Zeitplan ging nicht auf. Er verlor immer wieder wertvolle Minuten, die sich zu Stunden addierten. Erst am späten Nachmittag gewahrte Ben in der Ferne eine riesenhafte Staubwolle, die Spitzen unzähliger Zelte, dazu Fahnen und Feldzeichen. Das war das Heerlager Herzog Karls von Lothringen, eines Fürsten ohne Land, der als einer der fähigsten Heerführer und militärischen Köpfe seiner Zeit galt. Ben wurde am Eingang des Zeltlagers von berittenen Posten abgefangen. »Ich möchte zu Herzog Karl«, sagte Ben. »Wichtige Botschaft von Graf Starhemberg für ihn.« »Folgt mir!« sagte ein hünenhafter, schnauzbärtiger Husar und preschte die provisorische Zeltstraße entlang.
Ben hatte Mühe, ihm zu folgen. Vor einem prächtig geschmückten Zelt, an dessen Eingang Banner, Standarten und Fahnen standen, sprang der Husarenoffizier ab. »Ich werde Euch anmelden, Herr …« »Herr von Debrec«, sagte Ben mit leisem Unbehagen. Der Offizier verschwand in dem Zelt und kehrte wenig später mit einem Adjutanten zurück, der auf Ben zuging, ihm die Hand reichte und ihn begrüßte. »Kommt mit, Debrec!« sagte der Adjutant. »Der Herzog erwartet Euch.« Er führte Ben in das Zelt an einen von Plänen übersähten Tisch, hinter dem ein hagerer, schlanker Mann mit wie gemeißelt wirkenden Gesichtszügen saß und schrieb. »Durchlaucht«, sagte der Adjutant leise, »Herr von Debrec.« Der Herzog sah auf, legte die Gänsefeder weg, erhob sich, ging um den Arbeitstisch herum, trat auf Ben zu und nahm ihn in die Arme. »Willkommen, Herr von Debrec. Ich begrüße Euch auf das allerherzlichste. Ich weiß, wie schwer Stadt und Festung um ihr Überleben ringen und wie sehr die tapferen Verteidiger kämpfen müssen. Darum ist es Euch hoch anzurechnen, daß Ihr trotz der Gefahren im Land Starhembergs Botschaft überbrachtet.« Ben reichte ihm die Schriftrolle. Der Herzog löste das Siegel und las Starhembergs Botschaft. Nachdem geraume Zeit verstrichen war, ließ er die Rolle sinken und starrte auf einen imaginären Punkt im Zelt. Dann sagte der Herzog mehr zu sich selbst, als zu anderen: »Mehr als siebentausend Mann von der Wiener Garnison gefallen und die Pest in der Stadt! Die Lage wird immer kritischer.« Er wandte sich an Ben. »Kara Mustaphas Verluste sind erheblich, schreibt der Graf. Was glaubt Ihr, Debrec, wie lange die Stadt dem Großwesir noch standhalten kann?« »Das ist schwer zu sagen, Durchlaucht. Der rote Selim, der Bruder des Großwesirs, ist im Lager. Die Türken folgen ihm blindlings. Mit ihm als Führer sind die Türken uns in jedem Fall überlegen. Auch die Zahl der Truppen ist der unseren haushoch überlegen. Doch mir scheint, daß die Kampfmoral der osmanischen Truppen nachgelassen hat. Zudem teilten uns Gefangene mit, daß es zu heftigen Kämpfen zwischen Kara Mustapha, den Paschas und Beys um die Macht gekommen sei. Dem Großwesir wird nicht verziehen, daß er Wien zu spät angegriffen hat und dann auch noch an den falschen Stellen, nämlich dort, wo die Bastionen am stärksten sind. Aber wenn nicht bald die Entscheidungsschlacht stattfindet, überrennen die
Türken unter der Führung des roten Selim Wien …« Ben ließ den Satz offen. Der Herzog jedoch verstand ihn sehr gut und nickte bedeutungsschwer. »Ich habe bis jetzt sechsundfünfzigtausend Mann zur Verfügung, dazu kommen noch zehntausend Soldaten von Kurfürst Max Emanuel von Bayern. Ist das Heer aufgestellt, wird Kara Mustapha die Kriegserklärung und die offizielle Aufforderung überbracht, das Land zu verlassen und sämtliche Kampfhandlungen einzustellen.« »Kara Mustapha wird sich einen Dreck darum scheren!« sagte Ben heftig. »Es ist mehr eine offizielle Geste, Herr von Debrec«, sagte der Herzog steif. »Hoffen wir, daß wir ihn mit Gottes Hilfe schlagen werden.« »Ja, das wollen wir hoffen«, sagte Ben. »Ich werde Euch wieder verlassen, denn ich will nach Wien zurück. Starhemberg braucht dort jeden Mann. Habt Ihr eine Botschaft?« »Sagt nur, daß wir in Eilmärschen nahen.« Der Herzog gab Ben die Hand. »Ich danke Euch. Mit Männern wie Euch ist mir um Wien nicht bange.« Mit diesem dünnen Trost verließ Ben das Zelt und ließ sich sein Pferd bringen. Er jagte sofort nach der eingeschlossenen Festung zurück. Und mit unverschämtem Glück erreichte er anderntags Wien und schaffte es, über die Mödlinger Schanze zu kommen, bevor ihn ein aufmerksam gewordener und nachsetzender Türkentrupp zu packen kriegte. * »Die Vorstädte nutzen uns nichts mehr«, sagte Ben. »Wir können sie preisgeben. Sie sind an mehreren Stellen in Brand geschossen. Das wird die Türken für einige Zeit aufhalten und beschäftigen. Dann muß eine der nächsten Aktionen ein radikaler Vernichtungszug gegen die türkischen Mineure sein. Sie haben schon genug Schaden mit ihren Stollen und Gängen unter den Bastionen angerichtet. Unsere Leute sind teilweise schon so gut ausgebildet, daß sie es mit den Osmanen in der Beziehung aufnehmen können. Die Horchtrupps haben sich bewährt, und wir haben Gegenminen gelegt. Aber das reicht nicht.« Ben erklärte den Offizieren und Abteilungskommandeuren seine Pläne in bezug auf die Unterbindung der Tätigkeit der osmanischen Mineure. »Es muß auf jeden Fall verhindert werden, daß sie unterirdisch in die Festung gelangen. Das wäre unser aller Untergang. Ich schlage deshalb die
zusätzliche Aufstellung von kleineren Alarmtrupps vor, die sofort melden, wenn Grabgeräusche aus den unterirdischen Gewölben dringen. Wir können dann stärkere Kräfte heranziehen, die den Durchbruch der Türken verhindern müssen. Da ich Befehlsgewalt von Graf von Starhemberg erhalten habe, befehle ich die Aufstellung dieser Trupps ab sofort. Die einzelnen Kommandeure können mir dann ihre Berichte vorlegen. Das wäre es, meine Herren.« Ben schloß die Zusammenkunft, um Professor Lintberg aufzusuchen, der noch immer an dem Pfeilschuß laborierte. »Hallo, Professor!« sagte Ben, als er Lintberg in seiner Krankenkammer besuchte. »Wie geht es Ihnen? Sie machen vielleicht Geschichten.« »Die machen die Türken. Mir geht es langsam wieder besser«, erwiderte Lintberg und richtete sich auf. »Die Wunde schließt sich. Bald kann ich wieder auf den Wällen stehen. Wie sieht es draußen aus, Ben?« »Nicht gut. Der rote Selim organisiert das Heer, und die Türken führen immer neue Kräfte heran, die sie von ihrem Heer in Ungarn abziehen. Dem können wir natürlich nichts Gleichwertiges entgegensetzen. Der Großwesir läßt pausenlos stürmen. Gottlob läßt er weder die Höhen des Wienerwaldes besetzen noch trat er unseren Entsatztruppen, die sich nördlich des Kahlenberges formieren, mit seinen Kuruzzen und Tatarenhorden entgegen. Da war Kara Mustapha schlecht beraten. Zum Glück für uns. Der Großwesir wußte sehr wohl, daß ein Entsatzheer nach hierher unterwegs war, befahl aber seinen Truppen nicht, dieses anzugreifen. Eine unverständliche Entscheidung, die ihn unter Umständen um den Sieg bringen kann. Nun muß ich aber wieder gehen, Professor«, sagte Ben. »Ich habe noch eine Menge zu tun. Zudem will ich einige Gefangene verhören, die wir neulich bei der Bootsattacke mitgenommen hatten. Ich nehme an, da werden einige interessante Dinge herauskommen.« Ben verließ Lintberg, suchte sich in der Bastion eine unbeobachtete Ecke, aktivierte das Sprechgerät im Radar-Timer und wartete, bis Frank sich meldete. Kurz darauf summte es leise. »Frank, ich will die Türken verhören, die ich neulich gefangennahm. Dazu brauche ich deine Hilfe. Kannst du kommen und in einer halben Stunde in meinem Arbeitsraum sein?« Für einige Sekunden hörte Ben nur noch Franks heftiggehenden Atem. Dann kam die Antwort: »Ich komme, Ben. Es dauert nur noch etwas, weil ich gerade einen Brief an Kaiser Leopold diktieren muß. Der sitzt mit der Familie immer noch beim Bischof von Passau. Ende.«
Ben eilte zu seinem Arbeitsraum. Dort befahl er seinem Adjutanten, Hauptmann Gregor, die Gefangenen vorführen zu lassen. Bevor die Türken gebracht wurden, erschien auch schon Frank. Ben erklärte ihm kurz die Art der Gefangennahme und daß er vermutete, die Türken hätten irgendwo im von ihnen besetzten Hinterland etwas Wichtiges zu bewachen gehabt. Die Türken wurden hereingeführt. Ben wandte sich an den Anführer. »Da ihr Gefangene seid, hängt es von euch ab, wie ihr behandelt werden wollt. Ihr wißt selbst, daß wir nicht viele Lebensmittel haben, also euch nicht füttern können. Arbeitet mit uns zusammen – und ihr bekommt eure Ration. Wenn nicht, muß ich euch verhungern lassen.« Der Anführer der Türken schwieg, aber seine unruhig hin und her blickenden Augen verrieten genug. Ben beschloß, ohne Umschweife sein Ziel anzusteuern. »Woher seid ihr in der Nacht eurer Gefangennahme gekommen? Und was habt ihr bewachen müssen? Das will ich von euch wissen, sonst lasse ich euch in kochendem Öl sieden!« Ben bluffte, aber er hoffte, daß diese handfeste Drohung ihre Wirkung nicht verfehlte. Der Türke senkte den Kopf und schwieg. Ben konnte schlecht Repressalien gegen die Leute ergreifen, obwohl man im 17. Jahrhundert nicht besonders zimperlich war. Schon gar nicht in einer belagerten Festung wie Wien. »Hauptmann Gregor!« rief Ben laut. »Bereitet das Öl vor! Die Heiden wollen nicht sprechen, also müssen sie kochen!« Die Türken zuckten zusammen und sahen auf ihren Anführer. Der blickte auf Ben, dann hob er die Hand. »Ich werde sagen, Herr, was Ihr wissen wollt«, erklärte er stockend. »Wir hatten die Aufgabe, eine Gefangene zu bewachen.« »Eine Gefangene?« Ben wurde aufmerksam Auch Frank rückte interessiert näher. »Welche Gefangene?« wollte Ben wissen. »Maria Alexandra Gräfin von Zähringen.« Ben pfiff durch die Zähne. Die Gräfin war eine Nichte Herzogs von Lothringen und damit ein gewaltiges Faustpfand in den Händen des Großwesirs. Oder seines Bruders. Je nachdem, wer sie hatte. »Wieviel Soldaten bewachen die Gräfin?« wollte Frank wissen. »Sechs, Herr«, sagte der Türke. »Es ist geheim. Es wissen nur der Großwesir, sein Bruder und einige wenige hohe Offiziere von der Gräfin.« »Und wo wird sie gefangengehalten?« fragte Ben.
Der Türke beschrieb Ben den Ort. Der Ingenieur machte sich im Gedächtnis rasch eine Skizze, dann rief er den Hauptmann und bat ihn, die Gefangenen abführen zu lassen. Frank sah auf Ben. »Ich habe das Gefühl, daß wir etwas unternehmen werden«, sagte er. Ben grinste Frank fröhlich an. »Das Gefühl habe ich auch.« * Der Bote verneigte sich tief vor dem Großwesir, berührte mit der Stirn die Erde und reichte dem ersten Minister des Sultans die mit Gebetsschnüren verzierte Schriftrolle, die der Großwesir sogleich öffnete und entrollte. Bevor er las, führte er das Schreiben an die Stirn. Es handelte sich um eine Botschaft Sultan Mohammeds, der schrieb, welche Fortschritte die Belagerung Wiens machte und wann endlich die Heilige Fahne über den Türmen und Wällen der Stadt flattern konnte. Darüber geriet der Großwesir so sehr in Wut, daß er seine Peitsche aus dem Gürtel nahm und seinen neben ihm knienden Diener grundlos schlug. Dieser wagte nicht, sich zu rühren. Zudem kannte er solche Ausbrüche bei seinem Herrn, der über Leben und Tod gebieten konnte, wie es ihn gerade gelüstete. »Sendet Boten an meinen Bruder, an Achmed Bey und sämtliche Agas und Paschas sowie an die Khans der Tataren und Kuruzzen. Wien muß fallen, muß unser sein! Ist das nicht der Fall, rollen die Köpfe! Geht und teilt den Feldherren meine Botschaft mit!« Der Großwesir hatte sich in Wut geredet. Unvermittelt sprang er auf, lief aus dem Zelt zu der Heiligen Fahne hin, sah nach oben, murmelte einige unverständliche Worte und blickte dann nach der heftig umkämpften Festung, gegen deren Bastionen seine Truppen immer wieder Sturmangriffe unternahmen. Pulverdampf wölkte um die Festungssterne. Dumpf grollten die Geschütze übers Märzfeld. Es ärgerte den Großwesir, daß auch die Verteidiger feuerten. Das mußte sich ändern. Diese Stadt mußte fallen. * Das Boot glitt fast geräuschlos dahin. Ben saß am Ruder, Frank und drei Offiziere an den Riemen. Die Riemen waren mit Lappen umwickelt, um möglichst leise an den türkischen Stellungen vorbeizukommen. Ben hatte
mit Graf Starhemberg über dieses Unternehmen gesprochen und ihn gebeten, seine Zustimmung zu geben, was der Graf auch ohne weiteres tat. »Da kommt uns etwas entgegen!« flüsterte Frank. Ben hielt Ausschau und erkannte nach längerem Hinsehen einen langen schwarzen Gegenstand. Es war ein dahintreibender Baum. Der Ingenieur lenkte das Boot nach links mehr zur Strommitte hin, dann wieder geradeaus. »Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Ben zu Frank. »Dort oben, wo die drei Bäume stehen, müssen wir ans Ufer. Vorausgesetzt, die Burschen haben mich nicht schamlos angelogen.« Ben lenkte das Boot ans Ufer. Es knirschte leicht, als der Kiel das Ufer berührte. Die Männer sprangen aus dem Boot. Ben ging als letzter. Sie verstauten das Boot im dichten Unterholz. »Wir müssen leise vorgehen«, mahnte Ben. »Nach den Aussagen der Gefangenen patrouillieren die Wächter im Kreuzgang zwischen den Zelten und der Umgebung hin und her.« Von weitem waren leise Stimmen zu hören. »Das Lager kann nicht weit vom Fluß sein. Wir schleichen uns an, überraschen die Wachen und schlagen jeden nieder. Doch töten wir keinen. Ich möchte kein Blutvergießen!« sagte Frank. Als Ben, Frank und die drei Offiziere näher an das türkische Lager herangekommen waren, erkannten sie ein großes, prächtiges Zelt, auf dessen Spitze ein Halbmond prangte. Vor dem Zelt saßen zwei Wachen, die Füße untergeschlagen. Ihre Musketen lagen in Griffweite. In der Nähe brannte ein Feuer, beix dem ein dritter Posten stand. »Das wären drei. Also müssen noch drei weitere Posten in der unmittelbaren Umgebung sein. Frank, du pirschst dich heran und überwältigst mit den anderen die Posten. Ich suche die drei Wachen«, flüsterte Ben. Er glitt behende in das dichte Unterholz und tastete sich bis zu einer kleinen Lichtung durch, auf der ein kleines Zelt türkischer Machart stand. Ben hörte deutlich Geräusche, wie sie schlafende Männer verursachen. Das konnten die Wachen sein, die dienstfrei hatten. Ben achtete darauf, keinen Lärm zu machen, schlich nahe an das Zelt heran und lauschte. Er konnte deutlich drei Männer unterscheiden. Gewandt schob er sich in das Zelt hinein und warf einen kurzen Blick in die Runde. Es war dämmrig, das ferne Feuer gab nicht viel Licht. Drei Männer lagen dicht nebeneinander, den Kopf in der Armbeuge vergraben, und hatten die Welt um sich herum vergessen. Soviel konnte er immerhin erkennen. Er beugte
sich nieder, holte aus und hieb mit der linken und rechten Faust jeweils einem Türken so fest an die Schläfe, daß dem friedlichen Schlaf der Männer tiefe Bewußtlosigkeit folgte. Jetzt blieb nur noch der dritte übrig. Ben umspannte die Kehle des Schlafenden und donnerte ihm die Faust ans Kinn. Dieser dritte Türke war nach dieser Behandlung ebenfalls bewußtlos. Es war einfacher gegangen, als Ben es sich vorgestellt hatte. Aber das war nur einer tüchtigen Portion Glück zu verdanken. Das nächstemal würde es sicher nicht so einfach sein. Ben fesselte und knebelte die Türken und warf eine Seidendecke über sie, so daß sie bei der ersten flüchtigen Suche nicht gleich entdeckt wurden. Dann kehrte er zum Hauptzelt der Türken zurück, in dem er die Gräfin vermutete. Frank kam Ben entgegen. »Wir haben sie überwältigt. Es ist unvorstellbar, wie leichtsinnig diese Osmanen ihre Pflichten wahrnehmen. Aber lassen wir das. Komm, ich stelle dich der Gräfin vor.« Frank betrat mit Ben das Prunkzelt. Auf einer Liege saß eine junge, wunderschöne Frau, die Frank und Ben freundlich und sehr erstaunt entgegenlächelte. »Gräfin, ich darf Euch Herr von Debrec vorstellen«, sagte Frank. Die Gräfin reichte Ben die Hand. Ben küßte ihr galant die Hand, als hätte er das gelernt. »Ich danke Euch, Herr von Debrec, für Euren Mut und meine Befreiung aus der Gefangenschaft der Türken. Der Herzog von Lothringen wird Euch dafür belohnen.« Ben senkte verlegen den Kopf. »Ich tat nur, was ich tun mußte, Gräfin«, sagte er mit spröder Stimme. Frank trat herzu und nahm resolut den Arm der Gräfin. Er schien sich mit ihr schon ein wenig angefreundet zu haben, denn sie duldete es ohne Widerspruch, daß er ihr hochhalf. Ben fand die Gräfin für seinen Geschmack zwar etwas zu dünn, aber Frank schien sie zu gefallen. Nun, schön war sie auf alle Fälle. »Die Zeit drängt, wir müssen zur Festung zurückkehren«, sagte Ben. »Gräfin, wann werden die Wachen abgelöst?« »Meistens etwa um die elfte Stunde.« Ben rechnete nach und schielte heimlich auf den Radar-Timer. »Hm, dann bleiben uns noch etwa zwei Stunden Zeit. Das genügt. Frank, suche die Männer zusammen, wir brechen auf.« Kurz darauf schwamm das Boot wieder auf der Donau. An Bord befand sich wohlbehalten Marie Alexandra, die Gräfin von Zähringen, die aus
türkischer Gefangenschaft gerettete Nichte Karls von Lothringen. Aus der Ferne grollten dumpf die Kanonen beider Seiten. Roter Feuerschein färbte den Nachthimmel blutrot und erzeugte eine unbehagliche Stimmung bei den darauf zufahrenden Männern, die nicht wußten, ob sie in einem Tag noch lebten. * Der Reiter an der Spitze des langen Heerwurmes trug einen blauen Rock mit roten Aufschlägen, der reich bestickt und mit Goldborten und Quasten verbrämt war, dazu ein gelbes, silberbesticktes Kamisol sowie Reitergamaschen mit goldenen Knöpfen. Er ritt einen braunen Hengst, dessen Satteldecke reich mit Troddeln und Fransen verziert war und die prächtige Statur des Reiters noch unterstrich. Der Mann zu Pferd war Kurfürst Max Emanuel von Bayern, der mit seinen rund zehntausend Mann gekommen war, um zum kaiserlichen Heer zu stoßen und damit sein Versprechen Kaiser Leopold gegenüber zu halten. Hinter dem Kurfürsten und Markgrafen von Bayreuth ritt General Degenfeld, einer der fähigsten Offiziere im ganzen Kaiserreich. Wenn Max Emanuel das Hauptheer erreicht hatte, sollte der Aufmarsch gegen die Türken unmittelbar beginnen. Der Kurfürst wußte durch Kuriere um Wiens schweren Kampf und wie sehr die Verteidiger der Stadt und Festung in Bedrängnis waren. Deshalb trieb er seine Truppen unermüdlich an. * »Zieht dort Palisaden entlang!« befahl Ben und zeigte auf der Löbelbastei auf einen Mauerabschnitt. »Dazu brauchen wir kleinere Geschütze, die wir von der westlichen und nördlichen Bastei abziehen. Hier werden sie dringender gebraucht.« Ben leitete die Befestigungsarbeiten, die dringend notwendig waren, nachdem die Türken Sturmangriff auf Sturmangriff unternommen hatten. »Ich mache mir auch Sorgen um die Flankenbatterien«, sagte Ben. »Dort können die Osmanen zur Innenmauer durchbrechen und uns in die Zange nehmen.« Unermüdlich karrten Bürger, Soldaten, Studenten, Professoren und Handwerker Fässer mit Öl, Pech und anderen brennbaren Stoffen herbei,
um die verriegelten und verbarrikadierten Tore vollends unpassierbar zu machen. An manchen Gassen und Straßen ließ Ben Ketten spannen, um bei einer eventuellen Einnahme der Vorwerke durch die Türken diese am raschen Vorwärtskommen zu hindern., »Ben, riech mal!« sagte Frank und hielt die Nase in den aufkommenden Wind. Eine breite Schwade übelsten Gestankes wälzte sich der Festung entgegen. Sie kam aus den vorderen Laufgräben. »Das sind die toten Janitscharen«, sagte Ben. »Starhemberg weigerte sich bisher, den Türken eine Waffenruhe zur Bergung ihrer Toten zu gönnen.« »Herr von Debrec?« Ben wandte sich um. Ein Offizier der Artillerie stand hinter ihm, den schmutzigen Federhut unterm Arm. »Wohin sollen die Kanonen?« Ben hatte sich vierzig Kanonen zuteilen lassen, die in der Kampfzone aufgestellt werden sollten, um die geplanten Ausfälle der Verteidiger wirkungsvoll mit Artillerie zu unterstützen. »Gestern nacht«, sagte Frank zu Ben, »unternahm Oberst Dupigny mit sechzig Kürassieren einen Ausfall, der leider mißglückte. Es gab viele Gefallene und Verwundete.« »Allmählich wird die Zeit knapp«, sagte Ben, »und arbeitet nur für die Türken. Unsere Leute sind mit den Minen nun auch gut bei Hand, aber den Osmanen dennoch noch immer unterlegen. Heute haben wir zwei entdeckt und mit hineingeschüttetem Wasser unschädlich gemacht, bevor die Türken sie hätten hochgehen lassen können.« Plötzlich ertönte auf dem südlichen Ravelin, einem zwischen zwei Basteien eingesetztes Befestigungsstück, heftiges Kanonenfeuer. * »Hauptmann, übernehmt den Befehl über die Schanzungsarbeiten!« rief Ben, und zu Frank gewandt sagte er: »Komm mit, ich fürchte, die Türken unternehmen einen großen Sturmangriff!« Sie rannten zur weit entfernten Stadtmauer, an der es dumpf dröhnte. Dreck und Steine flogen hoch in den Himmel, Pulverdampf wölkte auf. Ein Teil der Mauer sackte zusammen. »Das sind türkische Großminen!« stellte Ben fest. »Anscheinend gehen sie jetzt aufs Ganze und wollen’s genau wissen. Das werden wir ihnen versalzen!« Kanonenschüsse fielen in immer kürzerer Folge. Es klang wie grollender
Donner. Ben und Frank hatten die aufgebrochene Stadtmauer erreicht und eilten die überdachte Treppe hoch zum Niederwall. Nun konnten sie das Schlachtfeld überblicken. Unter der Mauer klaffte ein Loch im Erdreich, aus dem noch Dampf stieg. Bei den türkischen Artilleriestellungen gab es keine Feuerpause. Schuß auf Schuß verließ die glänzenden Bronzerohre. »Ben, das Ravelin dort drüben! Die Türken sind dabei, es einzunehmen!« schrie Frank. Ben sah hinüber. Das Außenwerk der Festungsanlage war von dichten Janitscharenhorden umlagert, die Sturmleitern und allerlei Belagerungsgerät mit sich führten und die Verteidiger des Ravelins hart bedrängten. »Los, Frank! Wir müssen hinüber!« rief Ben und sprang auch schon die Treppe hinab. Einzelnen Türken war es schon gelungen, auf die Wälle zu steigen und die Verteidiger in heftige Einzelgefechte zu verwickeln. Die scharfen Krummsäbel blitzten in der Sonne, laut ertönte das Geschrei der wilden Söhne aus dem Osten. Kaum waren Ben und Frank auf dem oberen Wehrgang angelangt, wurden sie auch schon von Türken angegriffen. Aber die beiden Freunde von der Zeit-Kugel parierten mit ihren Säbeln und droschen erbarmungslos auf die Osmanen ein, die bald die Aussichtslosigkeit ihres Bemühens erkannten und die Flucht ergriffen. Aber immer neue Angreifer drängten nach, daß es den Verteidigern unmöglich war, sich ihrer zu erwehren. »Wir können das Ravelin nicht halten!« rief Ben. »Zieht euch zurück!« befahl er den Soldaten auf den Wällen und Mauern. Schuß auf Schuß jagten die türkischen Artilleristen auf die Mauern des Ravlins, das langsam in Schutt und Trümmer sank. Bei den türkischen Geschützen war ein Mann mit leuchtend grünem Umhang, der die Kanoniere anfeuerte. Der Kerl verstand sein Handwerk. Ben hatte den Verdacht, daß es der rote Selim war. Nach und nach zogen sich die Verteidiger zurück und überließen den Osmanen das Außenwerk. Ben und Frank sicherten den Rückzug und wiesen den erschöpften Leuten den Weg. Immer mehr Türken drangen nach, daß sie sich gegenseitig auf den Wällen behinderten und im Wege standen. Das kam den sich zurückziehenden Verteidigern zugute, denn so war es den Osmanen nicht möglich, ihre schweren Waffen gegen die von Ben und Frank geführten Leute einzusetzen. Nach Erreichen der zweiten Kampflinie machten die erschöpften Männer halt. Ben ließ ihnen Verpflegung und Trinkwasser geben und befahl ihnen
zu ruhen, bis sie erholt waren und wieder eingesetzt werden konnten. * Leutnant Materna war auf Horchposten. Er hatte Dienst im äußersten Winkel der Hofburg. Ihm waren fünf Mann unterstellt, die die mehrräumigen Anlagen der Burg vor eventuell vordringenden türkischen Mineuren schützen und bewachen mußten. Bis jetzt hatte es noch keine Schwierigkeiten gegeben, aber das besagte nicht, daß es so blieb. Der Leutnant erinnerte sich sehr gut an Herrn von Debrecs letzte Instruktionsstunde. Der Festungsintendant hatte erwähnt, daß die Türken keine Gelegenheit ausließen, durch ihre Mineure Gänge und Stollen in die Festung graben zu lassen und ihnen dafür kein Opfer zu hoch erschien. Deshalb war erhöhteste Aufmerksamkeit geboten. Die beiden zurückkehrenden Soldaten erstatteten ihren Bericht. »Keine besonderen Vorkommnisse!« Jetzt standen nur noch die Meldungen der beiden anderen Posten aus, dann war auch dieser Tag ereignislos vorübergegangen. Der Leutnant schrieb gerade an seinem Rapport, als einer der patrouillierenden Posten aufgeregt zu ihm kam und sagte: »Ich glaube, sie kommen! Wir hörten eben auf unserem Rundgang aus den unteren Gewölben dumpfe Grabgeräusche, die sich wie Hammerschläge anhörten. Möglich, daß es Mineure sind, die einen Gang unter den Mauern hertreiben.« Leutnant Materna fackelte nicht lange. »Wir werden eine Signalrakete zünden. Mache du das, Jakob. Aber es muß eine rote sein, wie der Intendant es befohlen hat!« Kurz darauf raste wie ein roter Leuchtfinger eine Rakete in die dunkle Nacht hinein und blieb mehrere Minuten lang weithin sichtbar schweben. * »Herr von Debrec!« rief der Offizier der Wache aufgeregt. »Der Alarmtrupp in der Hofburg ließ soeben eine rote Rakete steigen!« »Dann haben die Türken mit dem Unterminieren begonnen!« sagte Ben, sprang auf die Beine und zog sich hastig an. »Gebt Alarm! Die Männer sollen sich bereitmachen! Wir setzen den Türken alles entgegen, was wir zu bieten haben! Eilt schon voraus. Ich komme gleich nach!« Ben wartete, bis der Offizier seine Räume verlassen hatte, dann rief er Frank über den Radar-Timer, unterrichtete diesen kurz über die neue Lage
und bat ihn, sofort zu kommen. Dann eilte er hinaus. Ben schwang sich auf sein bereitgehaltenes Pferd und ritt los. Leutnant Materna empfing Ben schon weit vor den Hofburganlagen. Ben ließ seine Männer absitzen. »Die Mineure zu mir!« befahl er mit lauter Stimme. Deren Offizier eilte zu Ben und erhielt gleich darauf seine Instruktionen. Die Pulverträger machten sich bereit. Dann traf noch ein verspäteter Reiter ein. Es war Frank. Ben gab einem Offizier den Auftrag, die Männer nachzuführen, dann ging er mit Frank voraus, geführt von Leutnant Materna, der sich in den unterirdischen Anlagen der Hofburg am besten auskannte. Je tiefer Ben und Frank sowie die Soldaten kamen, desto deutlicher hörten sie die dumpfen Schläge. Die Türken waren schon sehr nahe mit dem Stollenvortrieb. »Die Fackeln anzünden!« befahl Ben. Er wandte sich an Leutnant Materna. »Woher kommen die Geräusche genau?« »Aus den Kasematten. Den Türken muß es gelungen sein, sich von der Donau her einen Zugang zu graben. Allerdings muß das eine Heidenarbeit gewesen sein.« Je tiefer sie kamen, desto mehr fiel die Temperatur. Die Wände troffen vor Feuchtigkeit, und aus den einstigen Verliesen drangen Moderduft und Schwaden abgestandener, feuchtkalter Luft heraus. Sie waren nicht mehr weit von den Türken entfernt, denn das Klopfen und Hämmern war jetzt schon ganz deutlich zu hören. Kurz darauf waren sogar gedämpfte Stimmen zu hören. »Das sind die Türken!« flüsterte Ben. »Haltet euch bereit! Die Mineure zu mir! Auch die Pulverträger!« Die Soldaten stellten sich in dem etwa vier Meter breiten unterirdischen Gang auf. Nach etwa fünfzig Meter machte dieser eine scharfe Biegung und ging in ein weiträumiges Verlies über, an dessen Ende bereits metergroße Löcher in der Mauer waren, durch die die türkischen Mineure und Janitscharen schon zu erkennen waren. Sie bemühten sich in rasender Eile, die Löcher zu vergrößern, um ihre Truppen und das Gerät in die Hofburg einschleusen zu können. Noch war keiner der Türken auf Ben und seine Soldaten aufmerksam geworden, aber das konnte sich nur noch um wenige Augenblicke handeln. Deshalb entschloß sich Ben, die Überraschung, die auf seiner Seite war, zu nützen und die Türken sofort anzugreifen. »Werft die Pulverfässer!« befahl Ben leise den Mineuren, die auf dem Bauch bis unmittelbar an die Löcher in der Mauer krochen, ihre Fässer
fertigmachten und dann durch die Mauerbreschen schleuderten. Kaum waren sie drüben aufgeschlagen und zerbrochen, schleuderten die Männer Fackeln hinterher. Eine grelle Stichflamme schlug aus den Löchern. Schmerzensschreie der Türken drangen bis zu Ben und Frank herüber. Eine Explosion hatte es nicht gegeben. Das Pulver war nur verpufft, aber es hatte gewirkt wie eine Gegenmine. Im Nu war das Gewölbe von Pulverdampf, Lärm und den Schreien sterbender oder verwundeter Männer erfüllt. Die Soldaten feuerten jetzt mit Musketen durch die Löcher. Ben lag neben Frank in Deckung einer Säule und steuerte das Feuer der Soldaten. Die Türken, die trotz der Stichflamme und des heftigen Beschüsses immer wieder versuchten, durch die Bresche in das innere Hofburggewölbe zu gelangen, mußten ihr Vorhaben aufgeben. Es scheiterte am wütenden Gegenfeuer von Ben und seinen Soldaten. »Wir müssen den Gang zum Einsturz bringen«« sagte Ben während einer Feuerpause, in der beide Seiten ihre Leute versorgten. »Die Löcher und Breschen müssen raschestens geschlossen werden. Ich bin froh, daß ich die Horchtrupps habe aufstellen lassen. Wäre es den Türken gelungen, hier durch die Kasematten zu kommen, hätten sie uns ganz schön in die Zange nehmen können und die Festung praktisch eingenommen gehabt.« Er beauftragte den Leutnant, einen Kurier an das Hauptquartier zu senden, der Maurer und Festungsbauleute holen sollte, damit der Gang gesprengt und die Löcher und Breschen ohne Zeitverlust geschlossen wurden. »Ziehen wir uns zurück«, sagte Ben zu Frank. »Für dieses Mal sind die Türken abgeschlagen. Alles andere kann Leutnant Materna überwachen. Ich möchte wieder an meiner neuen Entwicklung weiterarbeiten. Es soll – hm – für die Türken eine kleine Überraschung werden.« »Was ist eigentlich aus dem ominösen Verräter geworden, den du unter Starhembergs Adjutanten vermutest?« fragte Frank. »Ich habe bisher noch keine Zeit gehabt, werde mich aber bald um ihn kümmern.« »Hoffentlich gelingt es dir.« »Ja, das hoffe ich auch«, sagte Ben skeptisch und klopfte sich den Staub von der Kleidung. * Mehmed Effe Khan, Kommandeur der ersten Janitscharen-Abteilung des Großwesirs, schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, Achmed Bey«, sagte er zum Feldzeugmeister des Großwesirs. »Meine Janitscharen werden nicht mehr kämpfen! Du bist ein Renegat, ein Verräter also Ein Verräter an deinen Landsleuten, an der Christenheit, schließlich warst du selbst einmal ein Priester deiner Religion. Meine Religion ist der Islam und dessen Bibel der Koran. Laut Koran und türkischem Kriegsbrauch müssen meine Soldaten nicht länger als vierzig Tage vor ein und derselben Festung dienen.« Der Feldzeugmeister wußte, daß eine solche Konfrontation kommen mußte. Die Janitscharen zeigten sich in letzter Zeit sehr widerspenstig und murrten mehr und mehr gegen den harten Kriegsdienst vor der Festung Wien. Das Versprechen, das er den Truppen des Großwesirs gegeben hatte, nämlich in sehr kurzer Zeit Wien eingenommen zu haben, hatte sich als Trugschluß erwiesen. Die Verteidiger erwiesen sich als hartnäckiger, mutiger und widerstandsfähiger, wie er zu Anfang geglaubt hatte. Er hatte auch schon mit Kara Mustapha und dem roten Selim über die Unzufriedenheit der Janitscharen gesprochen. Der Großwesir hatte daraufhin den moslemischen Predigern befohlen, mit falschen Nachrichten die Krieger zu beruhigen. Achmed Bey beschloß, zu einer ähnlichen List zu greifen. »Wir haben Nachricht von einem unserer Spione. Kaiser Leopold ist tot, Effe Khan! Der Sieg wird bald unser sein!« Der Janitscharen-Khan blickte auf den Feldzeugmeister. »Der Kaiser ist tot? Und das ist die Wahrheit?« »Beim Koran und bei Großwesir Kara Mustapha«, log Achmed Bey unbekümmert, »Dann wird der Sieg bald unser sein«, sagte Effe Khan. »Ich kehre zu meinen Truppen zurück und überbringe ihnen diese Botschaft.« »Wir werden siegen, Effe«, sagte Achmed Bey. »Bald wird Wien und damit das Reich in der Hand unserer Krieger sein. Dann wird Allahs Sonne über dem Abendland leuchten und Sultan Mohammed der Herr über die ganze Welt sein.« Der Janitscharen-Khan schwang sich auf sein Pferd und ritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Achmed Bey sah ihm noch lange nach, dann kehrte er grinsend in sein Zelt zurück. * »Wir unternehmen im Morgengrauen einen Ausfall«, sagte Graf
Starhemberg zu den versammelten Kommandeuren und Offizieren. »Dazu werden sechshundert Soldaten abgestellt. Der Ausfall findet unter General von Sereny und Oberst Scherfenberg statt. Wir greifen das türkische Lager von der Ostflanke her an. Diese für die Türken unerwartete Aktion wird die Osmanen verwirren, uns aber entscheidende taktische Vorteile verschaffen. Das Entsatzheer hat sich noch nicht formiert. Allerdings habe ich auch seit zwei Tagen keine Nachricht mehr von draußen erhalten. Das türkische Belagerungsnetz wird immer dichter und undurchdringlicher. Dennoch ist Kara Mustapha in großer Bedrängnis. Die Janitscharen haben trotz Selimes Anwesenheit die Belagerung satt, weil sie zu keinem Ergebnis führte, sie aber plündern und Beute machen wollen. Mein Spion Kolschitzky hat mir diese Nachricht gebracht. Unsere Verluste sind sehr erheblich, die Ausfälle durch die Pest gewaltig Ich habe befohlen, die Straßen von Nichtstuern und allem Gesindel zu räumen und diese Leute auf die Wälle zu schicken. Der Prediger Abraham a Santa Clara unterstützt mich durch Aufrufe. Der militärische Wert ist zwar gering, aber dennoch wird jede Hand, die eine Waffe halten kann, dringend gebraucht. Leider konnte nicht verhindert werden, daß wir das südliche Ravelin verloren und die Türken ihre Roßschweife auf den Ruinen aufpflanzen konnten. Hauptmann Müller, der Hauptmann Heisterberg zu Hilfe kam, fiel leider kurz nach seinem Einsatz, deswegen ich den Rückzugsbefehl für alle gab. Das wäre im Augenblick die bestehende Lage. Ich danke, meine Herren.« »Ich glaube, die Türken planen in allernächster Zeit einen großen Sturmabgriff, vielleicht den größten seit Beginn der Belagerung«, sagte Ben zu Frank, als sie beide Starhembergs Raum verlassen hatten. »Ich habe nämlich festgestellt, daß nach vier normalen Sturmangriffen immer ein stärkerer Vorstoß erfolgt. Und jetzt wäre es wieder soweit. Zudem haben sie eine Bastion und ein Ravelin eingenommen, was ihnen natürlich wieder Auftrieb gegeben hat. Dennoch sollten wir die Wälle zusätzlich verstärken und mehr Männer dorthin beordern. Wenn es uns gelingt, die Hauptstöße der Türken gleich beim ersten Angriff aufzufangen, haben wir schon gewonnen.« »Was macht deine neue Entwicklung?« »An der konnte ich in der letzten Zeit nur sehr wenig arbeiten.« Frank, der Ben sehr gut kannte, fiel es nicht ein, seinen Freund genauer danach zu fragen, denn Ben hätte ihm doch nichts erzählt. Es war eine Eigenheit des Ingenieurs, erst mit einem fertigen Produkt herauszukommen
und es dann vorzustellen. * »Allah illah!« riefen die türkischen Prediger, allen voran Prediger Wani, der Koranspruch auf Koranspruch rief und die Janitscharen immer wieder anfeuerte. Ben stand mit Frank auf der Burgbastei und erwartete mit den anderen Offizieren und Soldaten den blitzschnell geführten schweren Angriff der Türken, die mit mehreren tausend Janitscharen in die Offensive gingen. Allen voran eilten die Mineure, deren Flanken flinke Tatarenreiter schützten, bis die Mineure in ihren Gräben und Löchern untergekrochen waren. Das Abwehrfeuer der Verteidiger nahm zu, aber die Reihen lichteten sich kaum. Stundenlang dauerte das Gefecht. Nach und nach verließ die Soldaten auf den Wällen der Mut, aber die Offiziere feuerten sie immer wieder an. Da erschütterten gewaltige Detonationen die Wälle der Burgbastei, die so heftig waren, daß einige der Verteidiger umfielen und den Halt unter den Füßen verloren. »Feuert nach drüben!« schrie Ben, der die Gefahr erkannt hatte. »Die Türken haben eine Bresche in die Flanke der Burgbastei gesprengt! Feuert nach drüben! Benachrichtigt Graf Starhemberg!« Ben verließ den Wall, Frank folgte ihm nach. Sie eilten über die Treppe nach unten und rannten an der Mauer entlang bis hinüber zu der Mauer, die der Bastei vorgelegen war und den einzigen Schutz des Vorwerks bildete. Dahinter fluteten die Scharen der türkischen Truppe über das Glacis, und immer neue Truppen drängten durch die gespengte Bresche in der Bastei, die fast zehn Meter breit war. Ben erkannte sofort, daß die Bastei verloren war, wenn nicht alles getan wurde, um den Vormarsch der Türken zu stoppen. »Schafft Kanonen heran!« brüllte er zu einem auf dem Pferd sitzenden Artillerieoffizier, der aus der Innenstadt gekommen war, um sich einen allgemeinen’Überblick zu verschaffen. Der Offizier verstand sofort, riß sein Pferd herum und ritt davon, um seine Abteilung zu holen. Das Feuer der Türken hatte sich verstärkt, denn jetzt fiel auch die Artillerie ein und jagte Schuß um Schuß auf die Stellungen der Verteidiger. Wenn nicht rasch die eigene Artillerie herangeführt wurde, mußte die Bastei aufgegeben werden. Mit gezogenem Säbel lief ein Infanterieoffizier vom hinteren Festungswerk heran. Ihm folgte ein Zug Musketiere. Es waren Soldaten, die zuvor an den nördlichen
Wällen Dienst getan hatten. Starhemberg mußte die Männer auf schnellstem Wege an die Bresche befohlen haben. Von den hinteren Zufahrtsstraßen zur Bastei ertönten Räderrollen, Pferdegetrappel und laute Rufe. Dann tauchten die ersten Kanonen und Mörser auf. Die Pferde dampften vor Schweiß. Sie mußten im mörderischsten Tempo getrieben worden sein, um rechtzeitig an der Bastei zu sein, damit die Kanonen noch wirkungsvoll eingesetzt werden konnten. Ben zählte die Kanonen. Es waren zwanzig Stück, weniger als er erwartet hatte, aber besser als überhaupt keine. »Fünf an die linke Flanke!« schrie Ben zu dem Artillerieoffizier hinüber, den er vorhin fortgeschickt hatte, um Verstärkung zu erbitten. »Vier decken die rechte Flanke! Weitere vier auf die Bresche visieren! Der Rest nimmt die Angreifer unter Beschuß!« In kurzer Zeit waren die Kanonen auf ihre Plätze gehievt, eingerichtet und verkeilt. Dann lösten sich die ersten Schüsse. Sie lagen noch zu hoch oder zu tief. Doch dann hatten sich die Kanoniere eingeschossen und eröffneten das Wirkungsfeuer. Die türkische Angriffsspitze stockte vor der heftigen Gegeqwehr der Verteidiger. Doch die nachdrängenden Osmanen schoben ihre vorderen Kameraden immer weiter durch die Bresche. Die Artillerie der Verteidiger feuerte jetzt aus allen Rohren. Ben gewahrte, daß die Ausfälle der eigenen Leute trotz des mörderischen Beschusses durch die Türken sehr gering waren. »Weiter so!« rief er seinen Soldaten zu. »Wir besiegen die Türken! Nur nicht nachlassen!« Graf Starhemberg erschien am Kampfort. Er begrüßte Ben und Frank und ließ sich von den beiden über die Situation unterrichten. »Ihr habt richtig gehandelt, Herr von Debrec!« lobte der Stadtkommandant. »Und nur dieser Entscheidung haben wir es zu verdanken, daß die Türken hier nicht durchgebrochen sind. Ich werde Kaiser Leopold von Eurem Verhalten berichten.« Der Graf ritt weiter, gefolgt von Offizieren, Adjutanten und Stadtvogten. * »Unermeßliche Beute wartet auf uns, wenn wir Wien erst eingenommen haben«, schwärmte Großwesir Kara Mustapha den in seinem Zelt versammelten Agas, Khans und Beys vor, die dem Großwesir ihre Zweifel an der Fortführung der Belagerung unterbreitet hatten. Es gärte im Türkenlager. Die Janitscharen ließen sich nicht mehr mit
Koransprüchen abspeisen und auch nicht mehr durch den roten Selim anfeuern. Sie wollten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Langes Belagern, wenig Beute und große Verluste an Menschenleben war nicht nach ihrem Geschmack. Auch die zügellosen Tataren und Kuruzzen zeigten mehr und mehr Ungeduld und konnten von ihren Anführern nur mühsam im Zaum gehalten werden. »Wien ist die reichste Stadt in Europa, von Paris abgesehen«, sagte Kara Mustapha. »Wir werden Schätze finden, von denen wir jetzt nicht einmal träumen können. Und haben wir Wien, dann haben wir Europa, ein reiches Land, auf dem Allahs Blick schon lange mit Wohlgefallen ruht. Nur noch kurze Zeit, dann ist der Sieg unser und das Banner des Halbmondes weht über ganz Europa.« Kara Mustapha spürte die inneren Widerstände seiner Kommandeure und Offiziere, wußte aber gleichzeitig, daß er die Truppen noch halten mußte, sonst waren alle bisherigen Verluste umsonst gewesen. Er wußte auch, daß der Kaiser ein großes Heer zusammengezogen hatte. Dennoch waren seine Truppen um mindestens das Dreifache überlegen. Aber er hütete sich, den Kommandeuren gegenüber etwas von der Bereitstellung eines gegnerischen Entsatzheeres verlauten zu lassen. Das würden sie noch früh genug erfahren. Er fürchtete sich nicht vor dem kaiserlichen Heer, wußte aber, daß seine bisherigen Verluste während der Belagerung unwahrscheinlich hoch waren. Seinen Schätzungen nach betrugen sie fast ein Viertel seiner gesamten Heeresstreitmacht. Dazu wütete noch die Pest in den Reihen seiner Krieger und setzte weitere Kräfte matt. Aber er mußte seinen Heerführern gegenüber optimistisch sein und Haltung bewahren. Hatte er die Festung erst einmal in die Knie gezwungen, konnte er mit seinen aufsässigen Offizieren abrechnen. »Allah wird uns den Sieg verleihen«, sagte er zu den Kommandeuren und erhob sich. Das war das Zeichen für die Offiziere, daß sie sich zurückzuziehen hatten. Sie verließen das Zelt und kehrten zu ihren Leuten zurück. Kara Mustapha aber ging zu der eigens für ihn errichteten Moschee. Er wollte dort beten und Allah um den Sieg bitten. Und der Sieg würde sein werden, denn Allah stand immer nur auf der Seite der Rechtgläubigen. * Ben nahm einen neuen Papierbogen und übertrug die Zeichnung auf dem ersten Bogen. Er hatte lange über dieser Entwicklung gesessen, sie
hundertmal berechnet, geändert, Dinge hinzugefügt und weggelassen. Jetzt endlich hatte er nichts mehr daran auszusetzen. »Ordonnanz!« Kurz darauf erschien Leutnant Barlac. »Herr?« »Ich möchte sofort den Waffenmeister Cleber sprechen!« »Jawohl, Herr von Debrec«, sagte der Leutnant und verließ den Raum. Ben beugte sich wieder über den Plan und zeichnete sorgfältig weiter. »Ihr wolltet mich sprechen, Herr?« Ben fuhr auf und sah den kleinen, linkisch wirkenden Mann, der verlegen seine Mütze in der Hand drehte. »Ah, Johannes, gut, daß Ihr so rasch gekommen seid. Setzt Euch, denn ich habe einige Dinge mit Euch zu besprechen.« Schüchtern nahm der Büchsenmacher Platz. Ben reichte ihm den von ihm entworfenen und gezeichneten Konstruktionsplan. »Was haltet Ihr davon, Johannes?« Der Waffenmeister nahm interessiert den Bogen und studierte ihn lange und sehr sorgfältig. Er bewegte dabei leise murmelnd die Lippen, schien nachzurechnen, zu überlegen und alles ganz genau zu prüfen. Schließlich gab er Ben den Plan wieder zurück. »Das ist eine ganz ausgezeichnete Waffe, Herr«, sagte Cleber zögernd. »Aber einen Grund gibt es, daß sie nicht hergestellt werden kann.« »Und der wäre?« »Das Material, Herr von Debrec. Denn wie wollt Ihr eine Kanone von solcher Qualität herstellen, wenn alle verwendbaren Metalle, die wir haben, dafür nicht geeignet sind?« Wie gerne hätte Ben dem Waffenmeister gesagt, daß es für ihn als Ingenieur aus dem 21. Jahrhundert keine Schwierigkeiten bereitete, ein geeignetes Metall zu entwickeln. Aber er mußte schweigen. »Das Metall beschaffe ich Euch schon. Traut Ihr Euch zu, den Bau der Kanone zu übernehmen?« Johannes Cleber. runzelte die Stirn und dachte nach. Schließlich sah er Ben lange Zeit an und sagte dann: »Ja, Herr von Debrec, ich glaube, ich kann die Kanone bauen. Wenn Ihr mir die Mittel dazu gebt?« »Ihr erhaltet, was Ihr benötigt. Wie lange wird es dauern, Johannes?« »Eine Woche?« »Zu lang!« erwiderte Ben. »Vier Tage?« »Drei Tage, Johannes! In drei Tagen brauche ich die Kanone!«
»Ich werde mein möglichstes tun, Herr von Debrec.« »Nicht nur das Möglichste, Johannes. Ich möchte, daß Ihr alles tut! Hört Ihr? Alles? Es ist für Wien und für das Abendland!« »Ich werde sogleich beginnen, Herr!« »Ich werde Euch begleiten, Johannes.« Sie verließen Bens Arbeitszimmer und gingen zur Werkstatt Johannes Clebers, die unweit der Hofburg lag. * »Ihr habt mich befohlen, Herr?« Frank hob den Kopf und sah auf den jungen Mann, der in militärischer Haltung vor ihm stand und darauf wartete, angesprochen zu werden. »Ihr seid Herr von Kunitz’ Diener?« »Ja, Herr. Jakob Heidler ist mein Name.« Herr von Kunitz war der kaiserliche Resident, den der Großwesir gefangengenommen hatte und ihn ehrenvoll, aber sehr streng bewachen ließ. Jakob Heidler war schon einige Male heimlich zwischen dem türkischen Lager, der belagerten Festung sowie dem Heerlager Herzog Karls von Lothringen als Übermittler von Botschaften tätig gewesen. Dreimal hatte ihm der Pole Kolschitzky, der Spion Starhembergs, dabei geholfen. Dieses Mal sollte er den Residenten im Osmanenlager aufsuchen und diesen bitten, einige Hintergrundberichte über das türkische Lager, die Moral der Truppen und sämtliche in Bälde eintreffende Veränderungen zu liefern. Jakob Heidler wiederholte Wort für Wort diesen Auftrag und machte sich dann auf den gefährlichen Weg, den er schon so oft und ohne Rücksicht auf sein Leben zu nehmen gegangen war. Jakob verließ das Stabsquartier und trat in die dunkle Nacht hinaus. Vereinzelt war entfernter Kanonendonner zu hören. Geschlossene Infanterietrupps marschierten am Stabsquartier vorbei. Sie gingen nach vorne, zu den Bastionen, Vorwerken und Verteidigungsschanzen. Jakob ließ die Trupps vorbeimarschieren, dann eilte er weiter. Er gelangte durch das Neutor, kam durch einige Hinterhöfe und näherte sich immer mehr der Stadtmauer, an der heftige Kämpfe tobten. Er störte sich nicht daran, sondern lief behende durch die mit Trümmerschutt, Palisadenholz und zerstörten Kanonen bedeckte Gasse unmittelbar an der Stadtmauer. An einem von Kugeln und Minen zerstörten Haus machte er halt. Er sah sich nach allen Seiten um, dann glitt er durch die zerfetzt in den Angeln
hängenden Türreste und lauschte. Alles blieb still. Jakob griff nach einem Stein, hob ihn auf und nahm eine Laterne darunter hervor. Er zündete das Öl an, wartete einige Minuten, bis die Flamme groß genug war, dann ging er weiter in das Innere des zerstörten Hauses. Über Schutt- und Trümmerhaufen hinweg erreichte er bald ein kleines Zimmer, das vollständig leer war. Der Boden war von Trümmern, Dachschindeln und Staub bedeckt. Jakob räumte einige Steine und Holzteile beiseite. Eine quadratische Steinplatte wurde sichtbar, an der ein großer, eiserner Ring befestigt war. Er stellte die Lampe auf den Boden, ergriff mit beiden Händen den Ring und zog die Steinplatte nach oben. Er legte sie nach hinten auf die Erde, ergriff wieder die Lampe und verschwand in der entstandenen Öffnung. Danach herrschte Stille. Nur im Gebälk knisterte es leise. * Johannes Clebers Gesicht glänzte vor Schweiß, war rauchgeschwärzt und zeigte sichtliche Ermüdungsspuren, aber er hielt nicht inne, sondern arbeitete weiter. Der Schmelztiegel vor ihm war gefüllt mit glühendem, dampfendem, kochendem Eisen. Ab und zu warf er eine Handvoll Pulver in die wabernde Masse. Dann sah er zu Ben, der nicht weniger angegriffen wirkte. »Wir können beginnen, Johannes«, sagte Ben. Der Waffenmeister zog den Tiegel hoch. Ben stieß ihn mit einer langen Eisenstange bis über die am Boden ausgebreitete Gußform. Langsam kippte der Tigel nach vorh, das flüssige Eisen tropfte zögernd, dann immer schneller werdend in die Öffnung der Gußform hinein. Als der Tiegel leer war, brachte Ben den nächsten herbei. Dann einen dritten, einen vierten und den fünften. »So«, sagte er nach dessen Entleerung aufatmend. »Jetzt haben wir es geschafft, Johannes.«err«, sagte der Waffenmeister erleichtert. »Gottlob, eine Heidenarbeit war es schon.« Ben grinste. »Ohne Arbeit keinen Erfolg, Johannes. Und nun laß uns ausruhen. In vier Stunden arbeiten wir weiter. Ich möchte die Kanone bald erproben.« »Gut, Herr. Dann sehen wir auch, ob wir etwas geleistet haben.« »Ja, Johannes. Jetzt geh schlafen.« »Jawohl, Herr.«
Ben löschte die Lampen und sah noch einmal nach den Feuern. Sie waren aus. * Der unterirdische Gang, in dem sich Jakob Heidler jetzt befand, war feucht und kalt und klamm. Er gehörte zu den Kasematten und Verliesen der Bastionen am an der Donau gelegenen Vorwerk. Er führte unter dem Glacis hindurch bis fast an das Ufer des Flusses heran, hörte auf und war durch Büsche und Gras gegen Entdeckung getarnt. Jakob kannte den Weg im Schlaf. Als er das Ende des Ganges erreicht hatte, stellte er die Laterne ab, löschte die Flamme und spähte vorsichtig zwischen den Büschen hindurch auf die entfernt liegenden türkischen Stellungen. Er wußte, er konnte von dort nicht gesehen werden, war aber dennoch vorsichtig, denn beinahe wäre er einmal einer der unberechenbar in der Gegend umherstreifenden Tatarenhorden in die Hände gefallen. Die Luft war jedoch rein. Jakob eilte weiter. Wenngleich ihn die Nachtdunkelheit schützte, war es dennoch nicht so dunkel, daß er nichts mehr erkennen konnte. Das spärliche, noch vorhandene Licht reichte gerade aus, den Weg vor ihm zu erkennen. Bald tauchten die ersten Laufgräben der Türken auf. Jakob umging sie, suchte sich eine leicht abschüssige Stelle und schlich eng an die Schräge der Böschung gepreßt weiter. In unmittelbarer Nähe hörte er türkische Stimmen. Jakob, der selbst fließend Türkisch sprach, hörte, wie einer der Posten einem anderen von einem Mädchen erzählte. Jakob bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen, und setzte seinen Weg fort. Das Zelt, in dem Kunitz gefangengehalten wurde, war in der Nähe der Zeltstadt des Großwesirs, die zwar sehr streng bewacht wurde, aber von Janitscharen, die glaubten, daß sich wohl kaum ein Spion oder Angreifer in die Nähe des Großwesirs wagte. Jakob legte sich auf den Bauch und kroch bis zum Zelt des Residenten. Dann griff er nach dem zweiten Haken an der Rückwand, lockerte ihn, hob die Seide hoch und kroch in das Zelt hinein. Es raschelte, dann vernahm er leises Räuspern. »Jakob?« fragte eine tiefe Stimme. »Ja, Exzellenz, ich bin es.« »Junge, du Teufelskerl!« sagte der Resident. »Du machst so lange, bis dich die Türken erwischen und dir die Bastonade geben.« »Die Türken erwischen mich nicht, Exzellenz, dafür sorge ich schon.«
Dann kam Jakob gleich zur Sache und bat den Residenten, ihm die von Frank erbetenen Berichte anzufertigen. »Ich werde mich beeilen, Jakob«, sagte der Resident, »damit du noch vor Anbruch des Morgens aus dem Lager schleichen kannst.« Der Resident zündete eine Lampe an, setzte sich auf den Boden und schrieb hastig und ohne zu zögern die für die Verteidiger und für den Herzog von Lothringen so wichtigen Einzelheiten aus dem türkischen Lager nieder. * »Die Mauer dort!« sagte Ben und bedeutete den Kanonieren, die neue Kanone auf das durch viele Einschüsse und Minen stark zerstörte Mauerteilstück der Bastei zu richten. »Feuer!« kommandierte der Ingenieur. Frank stand bei den Offizieren, dem Waffenmeister und Graf Heißler, der Bens Geschütz sehr interessant fand. Der Richtschütze senkte die Fackel und hielt sie an das Zündloch. Ben hatte für die Kanone sogar ein Zündschloß vorgesehen. Das aber war nicht rechtzeitig fertig geworden. Die Kanone entlud sich mit einem ohrenbetäubenden Knall, rollte zurück und blieb stehen. Auf dem Mauerstück gähnte jetzt ein gewaltiges Loch, das allein von der Kugel verursacht worden war. Ben hatte nämlich befohlen, den Schuß auf ein unversehrtes Teilstück zu richten. »Respekt!« sagte Graf Heißler. »Dagegen haben die Türken nichts zu bieten, obwohl in den letzten Tagen einige Hundert-Pfund-Mörser bei ihnen eingetroffen sind, sagt Kolschitzky.« »Die Kanone ist auch sehr gut auf Wällen und Mauern und Basteien einzusetzen«, sagte Ben. »Sie schießt auch weiter als die besten türkischen Geschütze. Wenn wir sie in unseren vordersten Linien einsetzen, kann sie den Türken großen Schaden zufügen. Die Zündanlage muß eingebaut werden, und das Richtvisier bedarf einer Änderung.« »Wenn wir mehr von dieser Sorte hätten«, sagte Graf Heißler, »könnten wir die türkische Artillerie nach und nach ausschalten, ohne daß wir selbst Verluste verzeichnen müßten.« »Wir haben zuwenig Material, Herr Graf«, sagte Johannes Cleber, »sonst würde Herr von Debrec sicher noch einige der Kanonen herstellen lassen.« »Begnügen wir uns mit dieser«, sagte Ben. »Sie ist besser als überhaupt
keine. Bringt sie wieder zu Meister Cleber zurück. Wir haben noch einiges daran zu arbeiten. Ben verließ mit dem Waffenmeister den Ort der Demonstration. Ihn juckte es in den Fingern, das Geschütz komplett zu machen und in eine Feuerstellung an den vordersten Verteidigungslinien zu bringen. * »Durchlaucht, der Kurfürst von Bayern entbietet Euch seinen Gruß. Meine Soldaten rechnen es sich als hohe Ehre an, unter Eurem Oberbefehl und Euch als Feldherr dienen und kämpfen zu dürfen!« Herzog Karl von Lothringen, der den Kurfürsten vor dem Heerlager empfangen hatte, reichte Max Emanuel beide Hände zum Gruß. Fanfaren ertönten, Salutschüsse donnerten auf, und aus vielen tausend Kehlen stieg der Ruf »Vivat Bavaria!« auf. Das kaiserliche Heer war nun vollständig, nur die Bayern hatten noch gefehlt. Wenige Stunden vor Kurfürst Max Emanuel war der König von Polen mit seinem vierzehntausendköpfigen Heer eingetroffen, wovon die Kavallerie alleine fast zwölftausend Soldaten zählte, deren schwere Panzerreiter bei Freund und Feind sehr gefürchtet waren. »Jetzt gönnen wir den Truppen noch einen Tag Ruhe«, sagte Herzog Karl zu Max Emanuel. »Dann erproben wir die Schlachtaufstellung. Und in drei Tagen marschieren wir los und stellen uns den Osmanen.« Er nahm Fürst Max Emanuel zur Seite. »König Sobieski erwartet Euch in seinem Zelt. Er wäre gerne zum Empfang von Euch gekommen, aber er hat soeben eine Unterredung mit dem Gesandten von Rußland, der ihm eine Botschaft des ungarischen Residenten überbrachte.« »Ich werde ihn aufsuchen, Karl«, sagte Max Emanuel. »Macht Euch keine Sorgen. Hier geht es nicht mehr um die Rangfolge oder um die Etikette. Hier geht es um das Abendland – auch wenn Sobieski nur ein Wahlkönig ist.« »Danke, Max Emanuel«, sagte der Herzog und lächelte erfreut. »Ihr habt mir eine große Sorge genommen.« »Seid unbesorgt, Karl. Zudem haben sich auch Leopold und der König versöhnt und sind sich weitgehend entgegen gekommen.« »Das war sehr großzügig vom Kaiser«, sagte der Herzog. »Aber wenn das Reich in Gefahr ist, zeigen sich sogar Kaiser kompromißbereiter.« Fürst Max Emanuel lachte leise. »Das ist eben Politik, Karl. Aber nun gehe ich, Sobieski zu begrüßen.
Wir sehen uns heute abend beim Festbankett.« * »Boten überbrachten mir die Nachricht, daß Herzog Karls Heer vollständig ist. Gestern traf Kurfürst Max Emanuel von Bayern mit seinem Heer ein. Herzog Karl marschiert übermorgen los und wird in vier Tagen kampfbereit sein. So lange müssen wir noch ausharren. Ich weiß, daß vieles in der Stadt im argen liegt, daß die Lebensmittel teurer werden. Und hätten wir das Brot nicht rationiert, würde auch das zu unerschwinglichen Preisen gehandelt. Aber wir müssen durchharren«, sagte Graf Starhemberg leise. »Gegen die Türken, gegen die Pest – ja sogar gegen uns selbst. Auch im Lager der Türken grassiert die Pest. Ein schwacher Trost, aber immerhin. Wenn das Heer sich zum Kampfe stellt, wird das Kara Mustapha nicht davon abhalten, die Festung erneut zu berennen. Deshalb bleibt jeder Mann auf^seinem Posten, bis vom Stephansdom die Glocke den Sieg über die Türken verkündet. Weitere Fragen beantworten meine Adjutanten.« Der Graf ging hinaus, die Offiziere erhoben sich und grüßten stumm. »Ist Jakob Heidler schon zurück?« fragte Ben. »Bis jetzt noch nicht, aber es wird nicht mehr lange dauern, schätze ich.« »Morgen setzen wir die neue Kanone ein. Da die Löwelbastei am heftigsten bekämpft wird, ist eine Aufstellung dort am sinnvollsten.« »Ja, Ben«, sagte Frank. »Ich gehe wieder auf meinen Posten zurück. Lintberg ist übrigens auch wieder mit von der Partie. Seine Wunde ist ausgeheilt. Er kann wieder kämpfen, sagte er.« »Er soll sich zurückhalten, wir brauchen ihn nämlich noch«, murmelte Ben. »Bis morgen, Frank.« * »Hievt an!« rief Ben den Kanonieren zu, die an den schweren Seilen zogen und das wuchtige Kanonenrohr langsam nach oben brachten. Auf der Höhe des Walles angekommen, ließ Ben die Männer das Rohr halten. »Zieht es jetzt auf den Wall!« schrie er nach oben zu den am Laufgang stehenden Männern. »Und vorsichtig auf der Lafette niederlassen, sonst reiße ich euch die Ohren ab!« Die Soldaten lachten.
Dann ließen die Männer das Rohr Millimeter um Millimeter auf die Lafette herab. Der Geschützmeister drehte das Rohr, bis die Haltezapfen über den Aussparungen schwebten. Dann deutete er mit dem Daumen nach unten. Die Männer gaben Seil zu. Krachend und knirschend senkte sich das Rohr auf die Lafette, die Haltezapfen fügten sich in die Aussparungen; dann saß das Rohr unverrückbar fest. Nun mußte die Kanone nur noch an ein Schußloch gebracht, eingerichtet und justiert werden, und die Beschießung der türkischen Artillerie konnte beginnen. »Laßt euch einen Becher Wein geben, Männer«, sagte Ben. »Ihr habt eure Sache gut gemacht!« Die Soldaten lachten. Sie verließen den Wall, um sich beim Quartiermeister den versprochenen Wein zu holen, den sie fast nur noch vom Hörensagen kannten. Ben aber eilte mit Johannes Cleber zur Kanone hinauf, um ihre Justierung vorzunehmen. Er richtete das Visier auf einen Achtzig-Pfünder der osmanischen Artillerie, der ziemlich weit hinten an einer für die Geschütze der Festung unerreichbaren Linie stand. »Laden!« befahl Ben den Kanonieren, die neugierig ihren Dienst versahen. »Kanone geladen!« meldete der Geschützführer. Dann: »Kanone feuerbereit!« »Feuern!« befahl Ben recht gelassen. Die Lafette bäumte sich ein wenig auf, aber bewegte sich kaum von der Stelle. Ben hatte sie festkeilen und verankern lassen. Drüben, bei dem türkischen Mörser, stieg eine weiße Rauchwolke auf. Und die Stelle, an der der Mörser gestanden hatte, war leer. Trümmer lagen umher, und ein tiefer Krater gähnte in der Erde. »Die Kanone ist ein voller Erfolg, Herr!« brüllte Johannes Cleber begeistert und mit leuchtenden Augen. »Damit habt Ihr ein unvergeßliches Werk geschaffen.« »… das ohne Eure Hilfe nicht zustande gekommen wäre«, meinte Ben kühl. »Ihr habt einen großen Anteil daran, Johannes. Darum schmälert Euer Verdienst daran nicht so sehr. Ihr seid bescheidener, als Euer Wissen und Können vermuten läßt. Ihr könnt stolz auf Euch sein.« »Danke, Herr von Debrec.« »Dankt mir nicht, Johannes. Kommt, gehen wir lieber einen Schluck Wein trinken. Ich glaube, wir haben ihn uns verdient!« Lachend führte Ben den Waffenmeister zu seinem Quartier. * »Feuer!« brüllten die Geschützführer, und aus den Kanonen der Festung
donnerten die Stückkugeln in die dichten Reihen der stürmenden Belagerer. Zu Hunderten wurden die Osmanen niedergemäht, aber sofort waren die Lücken wieder geschlossen, denn neue Truppen rückten nach und ersetzten die Gefallenen. Bens neue Kanone richtete großen Schaden unter den türkischen Sturmabteilungen an, zerfetzte manches Geschütz und zerstörte viele Mörser. Doch allmählich begannen die osmanischen Batterien sich auf die Bastei einzuschießen und brachten Bens Kanoniere sowie die anderen Verteidiger auf den Wällen in große Bedrängnis. »Wir müssen rascher feuern!« sagte Ben zu Johannes Cleber, der das Geschütz überwachte und pflegte. »Es darf auf keinen Fall zerstört werden!« Endlich ließ der Sturm der Türken nach. Sie begannen sich zurück zu ziehen, nahmen ihre Toten und Verwundeten mit, soweit dies das Feuer der Verteidiger zuließ, und kehrten in ihr Lager zurück. »Ph!« sagte Ben erschöpft. »Das hätten wir wieder einmal geschafft. Aber noch zwei oder drei solcher Angriffe, und wir können Wien gleich freiwillig aufgeben.« Die Soldaten ließen sich auf der Stelle nieder, schliefen oder starrten erschöpft vor sich hin. »Jeder zweite Mann kann schlafen«, befahl Ben. »Zuerst zwei Stunden, dann, wenn alles ruhig bleibt, jeweils die nächsten vier Stunden!« Ben verließ die Löwelbastei, um noch einige schriftliche Arbeiten zu erledigen. Da mußten Berichte geschrieben, Aufstellungen gemacht, Namenslisten zusammengestellt werden. Die Arbeit riß nicht ab. Insgeheim wünschte er, daß die Schlacht schon stattgefunden hätte, dann wäre es ihnen möglich, mit der Zeit-Kugel wieder in ihre Zeit zurückzukehren. Ein wenig Ruhe würde ihm ganz gut zu Gesicht stehen. Aber er hatte einen Auftrag zu erfüllen. * »Jakob Heidler ist zurückgekehrt, Ben«, sagte Frank. »Nach Kunitz’ Berichten sieht es nicht gut bei den Osmanen aus. Viele Truppenteile meutern, dann hat die Pest ganze Abteilungen außer Gefecht gesetzt, der Toten werden immer mehr, Seuchen und Epidemien breiten sich aus.« »Dennoch hat Kara Mustapha noch immer genug Leute, um uns mitsamt dem Entsatzheer in die Flucht zu schlagen. Sicher mag der Kampfeswille der Türken nicht der beste sein, aber sie haben nun mal eine gewaltige
Übermacht. Daran ist nicht zu rütteln, Frank.« »Sicher, Ben, aber solche Nachrichten lassen mich immer mehr hoffen, daß die Belagerung bald vorbei ist.« Ben lachte. »Du kennst doch den Ausgang und die Daten, Frank. Warum also zweifelst du?« »Hm, Ben, was ist, wenn die Ereignisse sich durch unvorhergesehene Einflüsse verschieben oder überlagern und Paradoxa stattfinden?« »Daran wollen wir überhaupt nicht denken, Frank, das könnte eine Katastrophe geben«, sagte Ben leise und schob den Gedanken an eine solche Möglichkeit weit von sich. Frank nickte. »Du hast recht, Ben. Lassen wir den Gedanken fallen. Es würde uns nur zu sehr verwirren, wenn wir solchen Hypothesen größeren Raum gäben.« In der Ferne grollte dumpfer Kanonendonner. Ben und Frank sprangen auf. »Ein neuer Sturmangriff!« rief Ben, »Wir müssen auf die Wälle!« Sie eilten zur Löwelbastei, gegen die sich der erneute Angriff der Türken richtete. Ben hörte von weitem den dumpfen, blaffenden Klang seiner Kanone. Das Vorfeld wimmelte von türkischen Soldaten, die bisher noch nie in solch massiver Formation angegriffen hatten. »Kara Mustapha geht wohl aufs Ganze?« vermutete Ben. »Anscheinend will er uns jetzt keine Minute Ruhe mehr gönnen. Nun gut, dann soll er seinen Krieg haben. Schießt, Leute, schießt, was das Zeug hält!« Frank deutete auf eine Stelle hinter der zweiten osmanischen Batterielinie. »Sieh mal, dort drüben! Ein netter Anblick, was?« Ben folgte Franks ausgestrecktem Arm. Dann pfiff er laut. »Das ist doch … das ist Großwesir Kara Mustapha höchstpersönlich, Frank. Der rote Selim ist auch dabei. Und noch so ein paar Burschen! Ja, denen wollen wir doch mal einen Gruß hinübersenden!« Es waren tatsächlich der Großwesir, der rote Selim, Achmed Bey und die engsten Berater, die auf dem Schlachtfeld erschienen waren. Auch der berühmte Prediger Wani befand sich in ihrer Begleitung. Der Großwesir trug Federbusch und Turbanbrosche, Säbel und Pelz, die Zeichen des Seraskers, des obersten Feldherrn und Stellvertreter Sultan Mohammeds. Einer der höchsten Offiziere trug die wehende grüne Fahne des Propheten mildem Halbmond. »Feuer einstellen!« befahl Ben. »Neues Ziel, zweite Batterielinie, Reiterpulk! Ziel erkannt?«
Der Kanonier spähte kurz hinüber, dann sagte er laut: »Ziel erkannt! Reiterpulk hinter zweiter Batterielinie! Herr, da erkenne ich den roten Selim! Teufel noch mal, mir wird seltsam!« Die Kanone wurde herumgeschwenkt, eingerichtet, dann geladen und feuerbereit gemacht. »Feuer!« rief Ben. Der Schuß verließ das Rohr. Gespannt beobachteten sie die Reitergruppe, die nichts von dem auf sie zurasenden Tod ahnte. Keines der bisher von den Verteidigern verwendeten Geschütze hatte eine solche Reichweite wie die von Ben entworfene und entwickelte Kanone. Die Stückkugel schlug links neben der grünen Fahne des Propheten ein. Erde spritzte hoch, einige der Reiter fielen tot oder verwundet von den Pferden. Ben konnte nicht recht erkennen, wer alles außer Gefecht gesetzt war. Aber er glaubte, daß auch der rote Selim zusammengezuckt und fast vom Pferd gefallen wäre, hätte Achmed Bey ihn nicht gehalten und gestützt. »Ich glaube, der rote Selim ist verwundet«, sagte Ben zu Frank gewandt. »Allerdings kann ich mich auch täuschen.« Die Reitergruppe schwenkte zur Seite und ritt hastig zum Lager zurück. Ben verfolgte die flatternde grüne Fahne, bis sie in der Zeltstadt verschwand und nicht mehr zu sehen war. Dann ließ er die Kanone wieder auf ohne Pause stürmenden Osmanen richten. * »Die Verteidiger können die Löwelbastei nicht mehr lange halten«, sagte Achmed Bey zu dem Großwesir, der den Sturmangriff seiner Truppen aufmerksam verfolgte. »Wenn wir den Christen keine Atempause gönnen und sie Tag und Nacht auf den Wällen binden, wird ihre Verteidigungsbereitschaft bald erlahmen, und wir können die Stadt nehmen.« Der Großwesir schwieg, nickte jedoch. Nur der rote Selim knurrte unzufrieden. Sein Bruder hatte ihm den Oberbefehl versprochen, weil das Heer das verlangt hatte. Die türkischen Batterien begannen wieder zu feuern und nahmen den Reitern die Sicht. Als der Pulverdampf sich verzogen hatte, waren Teile der oberen Bastei schwer beschädigt. Plötzlich begann es in der Luft schrill zu pfeifen, dann schlug neben der Reitergruppe eine Kugel größeren Kalibers ein, deren Splitter viele
Offiziere verwundeten oder töteten. Achmed Bey blickte auf den Großwesir, dann auf den roten Selim – und erschrak. Der Kopf Kara Mustaphas Bruder war eine einzige blutige Masse. Achmed Bey mußte den Helden des Heeres sofort vom Schlachtfeld bringen, denn die Truppen durften nicht sehen, daß ihr Idol verwundet war. Achmed Bey hatte jetzt auch keine Zeit, sich um die Wunden des Großwesirs zu kümmern. Er richtete einen scharfen Befehl an die Agas und Khans, den Großwesir und den roten Selim in die Mitte zu nehmen und ihn so vor allen Blicken abzuschirmen. Dann führte er das Pferd Selim Mustaphas ins Lager zurück und ließ den Mann ins Zelt des Großwesirs bringen. Nur der Prediger Wani durfte mit anwesend sein, als Achmed Bey den Verwundeten untersuchte. Aber der Feldzeugmeister brauchte nicht genau hinzusehen, er wußte auch so schon die grausame Wahrheit. Der Bruder des Großwesirs Kara Mustapha war tot. Die zuletzt abgefeuerte Granate der Wiener Verteidiger hatte dem roten Selim das halbe Kinn abgerissen. Achmed Bey blickte auf Wani, der verzweifelt seinen Bart strich. »Er ist tot, nicht wahr?« »Ja«, sagte Achmed Bey. »Selim Mustapha ist vor dem Feind gefallen.« »Wir müssen die Belagerung abbrechen, Achmed«, sagte der Prediger. »Ohne ihn meutern unsere Janitscharen, und die Tataren und Kuruzzen erst recht.« »Das können wir nicht, Wani. Das wäre Wahnsinn, jetzt, so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Nur noch wenige Tage, und die Stadt fälllt uns in die Hand wie eine reife Frucht.« »Aber er ist tot«, beharrte Wani störrisch. »Das wissen bisher nur du und ich«, sagte Achmed Bey zögernd. »Niemand sonst. Und es wird auch niemand erfahren, hörst du?« »Was hast du vor, Achmed?« »Selim Mustapha ist nicht tot – wenigstens für die Truppen nicht. Ich werde die weiteren Angriffe befehlen – in seinem Namen. Wir werden seine Wunde überschminken und ihn so herrichten, daß alle glauben, er lebt noch. Wir können ihn auf sein Pferd schnallen und so befestigen, daß die Truppen nichts merken werden.« »Und die Agas, Khans und Beys?« »Man muß sie unterrichten und den Beuteanteil erhöhen.« »Wir können es versuchen«, sagte Wani. »Und wann willst du dem Sultan Nachricht geben?« »Überhaupt nicht. Erst nach der Eroberung und dem Fall von Wien wird
er von Selims Tod erfahren. Bis dahin bleibt alles, wie es ist.« »Was ist, wenn die Kommandeure sich weigern, bei dem Spiel mitzumachen? Selim war der Held ihrer Truppen.« »Sie werden sich nicht weigern, sonst sende ich ihnen die Seidenschnur!« Wani verstand und schwieg. Er sah auf den roten Selim und wußte plötzlich, daß sie nicht siegen würden, nicht siegen konnten, daß alles umsonst gewesen war. Aber er hütete sich, Achmed Bey davon zu erzählen. Er wußte, der Feldzeugmeister war oft recht unberechenbar. Er wandte sich um und kümmerte sich um den Großwesir Kara Mustapha, der verletzt war und laut jammerte. * »Das Pulver wird knapp«, sagte Frank zu Ben und Lintberg, die eine Feuerpause benutzten, um miteinander zu sprechen. »Nicht nur das Pulver«, sagte Professor Lintberg, »auch die Lebensmittel. Die Not ist sehr groß, und nur die Hoffnung auf das Entsatzheer hält die Verteidiger noch auf den Wällen, obwohl es dabei auch schon manchen Meuterer gegeben hat.« »Die Schlacht findet in wenigen Tagen statt«, sagte Ben. »Dann ist das alles hier zu Ende, und wir können wieder zurück in unsere Zeit.« »Was ist los mit Ihnen, Ben? Haben Sie die Lust verloren?« wollte Lintberg wissen. »Nein, Professor, ich bin nur müde. Das alles hier ist doch ziemlich strapaziös, und ich habe mir keine Ruhe gegönnt, um hinter all den tapferen Leuten nicht zurückzustehen.« »Haben Sie noch ein wenig Geduld, Ben«, bat der Professor. »Unser Auftrag ist bald beendet, dann kehren wir zurück.« »Sicher, Professor«, entgegnete Ben. »Viel Glück, Freunde.« * »Der Bruder des Großwesirs ist tot!« sagte Achmed Bey zu den auf Kissen und Diwans lagernden Truppenkommandeuren, Tatarenkhans und Kuruzzenfürsten. »Daran ist nicht zu rütteln. Wir aber werden weiterkämpfen.« »Besser wäre, wir zögen uns zurück«, sagte Pascha Ibrahim von Ofen. »Wir haben schon genug Verluste erlitten, ohne sehr weit gekommen zu sein. Was sollen wir noch mehr Männer verlieren?«
»Wir können jetzt nicht aufgeben«, sagte Achmed Bey hart. »Das wäre militärisch ein großer Fehler. In wenigen Tagen fällt die Festung, unsere Truppen haben schon mehrere wichtige Basteien besetzt, an denen wir Brückenköpfe errichten. Dann gehört Wien uns. Sollten die Verteidiger kapitulieren, wird die Stadt dennoch geplündert. Die Truppen haben freie Hand.« »Das läßt sich hören«, sagten die Kommandeure und Paschas erfreut. »Was ist mit dem Entsatzheer Karls von Lothringen?« fragte der Aga der Janitscharen, der mehrere Regimenter selbst befehligte. »Nach meinen Informationen handelt es sich um kaum mehr als dreißigtausend Mann«, sagte Achmed Bey und hielt die Anzahl der christlichen Soldaten absichtlich niedrig. »Es wird ein leichter Sieg für uns.« Die Agas und Paschas lachten. Achmed Bey fühlte, daß er wieder Oberwasser hatte. »In wenigen Tagen hat sich das Christenheer formiert und stellt sich zum Kampfe. Bis dahin wird die Festung noch einige Male gestürmt, damit die Verteidiger nicht zur Ruhe kommen. Ihr werdet an die Aufstellung eurer Truppen denken und die nicht an der Belagerung teilnehmenden Soldaten Schlachtordnung üben lassen. Nun geht wieder zu euren Plätzen. Allah sei mit uns.« »Allah sei mit uns!« murmelten die Kommandeure und drängten aus dem Zelt hinaus. Wani blickte Achmed Bey skeptisch an. »Du hast sie überzeugt«, sagte er schließlich. »Aber ich glaube nicht, daß das lange anhalten wird, denn ich kenne die Leute. Wir müssen in allernächster Zeit einen großen Sieg erringen, um etwas vorweisen zu können.« »Wir werden Wien einnehmen«, sagte Achmed Bey. »Das wird unser größter Sieg!« »Es muß bald sein«, sagte der Prediger. »Sehr bald.« * »Das habt Ihr gut gemacht«, sagte Graf Starhemberg zu dem Polen Kolschitzky, der sich wieder einmal zum kaiserlichen Heerlager geschlichen hatte und Nachrichten und Botschaften überbrachte. »Ihr seid ein fähiger Mann«, sagte Ben zu ihm und legte dem Mann seine Hand auf die Schulter. Kolschitzky grinste. »Das ist doch nichts gewesen, denn langsam kenne ich die Schleichwege
so gut, daß ich sie mit geschlossenen Augen gehen könnte.« »Ihr werdet nicht mehr hinausmüssen, Kolschitzky«, sagte Ben. »Die Schlacht findet bald statt, dann ist die Belagerung nicht mehr wichtig. Die Türken werden ihre Truppen abziehen, denn ich glaube, daß wir siegen werden.« »Wir werden siegen«, sagte Graf Starhemberg entschlossen. »Im Türkenlager wird gemunkelt, daß der rote Selim verwundet sei«, erzählte Kolschitzky. »Die Verwundung sei nicht schlimm, aber immerhin müßte er für einige Tage der Ruhe pflegen. Achmed Bey hat nun den Oberbefehl, weil auch der Großwesir etwas abbekommen hat.« »Hm«, meinte der Graf, »Achmed Bey ist ein wesentlich klügerer Taktiker als Mustapha. Er wird die Fehler seines obersten Kriegsherrn nicht wiederholen, andererseits kann er seine Truppen kaum aus den Stellungen nehmen. Das würde das Gleichgewicht auf dem Schlachtfeld verändern.« Die Männer wurden plötzlich durch heftigen Beschuß im Gespräch unterbrochen. »Das ist ein neuer Sturmangriff«, sagte Ben. »Wir müssen auf die Wälle. Gebt Alarm!« befahl er einem Adjutanten. Sie bestiegen die vor Starhembergs Hauptquartier für sie bereit gehaltenen Pferde und jagten zu der westlichen Bastei, die wieder von den türkischen Artilleristen beschossen wurde. Dazwischen gingen Stollenminen hoch, wummerten Mörser und krachte das eigene Abwehrfeuer. Ben jagte mit dem Grafen und Kolschitzky zu den Schießscharten, sah hinaus und zog sich rasch wieder zurück. »Das ist Achmed Beys Taktik!« sagte Ben zu dem Grafen. »Die Türken greifen jetzt schwerpunktmäßig an und verzetteln sich nicht mehr wie unter Kara Mustapha!« Es klatschte plötzlich laut, der Graf zuckte zusammen und faßte sich an die Schulter. Auf seinem Wams erschienen dunkelrote Flecke, die rasch größer wurden. »Ich habe einen Schuß erwischt«, sagte Starhemberg ächzend zu Ben. »Ich bringe Euch weg, Graf!« sagte Ben und führte den Kommandanten vorsichtig die ausgetretenen Stufen des Wehrganges hinab. »Bringt eine Bahre!« befahl er einigen Soldaten, die Pulverfässer stapelten. Sie legten den Grafen vorsichtig darauf und trugen ihn zum Stephansdom, um ihn hinauf in sein Turmzimmer zu bringen. Die Verteidiger hatten sehr große Mühe, diesen mit verbissener Wut geführten Angriff abzuwehren. Auf einmal aber geriet der Angriff aus unerklärlicher Ursache ins Stocken. Die Spitze der Türken hielt inne, die
Sturmleitern wurden zurückgezogen, reitende Boten preschten herbei und schrien den Kommandeuren irgendwelche Befehle zu. Mehrere Soldaten der Türken wandten sich um, deuteten auf den Kahlenberg und machten Anstalten, ihre Plätze zu verlassen. Der Angriff wurde schwächer und schwächer, bis sich die Türken schließlich zurückzogen. Ben erkannte, daß im Lager der Osmanen eine starke Bewegung entstand, viele Regimenter sich formierten und nach Norden abrückten. »Das kaiserliche Heer ist eingetroffen!«, sagte Ben erleichtert zu Kolschitzky. »Die Türken stellen sich zum Kampf. Jetzt wird es ernst.« Ben sah die vielen Tausende von Janitscharenkriegern, die nach dem Kahlenberg abrückten und von denen auf jeden kaiserlichen Soldaten zehn Türken kamen. Das Heer würde es schwer haben, sich gegen diese erdrückende Übermacht zu behaupten. Der Belagerungskampf hatte überall aufgehört, das Artilleriefeuer – sonst ständige Begleitmusik – schwieg. Die Verteidiger eilten sämtlich auf die Wälle und blickten zum Kahlenberg hin, über dem kleine Rauchwolken schwebten, die sich später als Pulverqualm von Geschützen herausstellten, deren Schüsse man nicht hören konnte. Nachdem das Hauptheer der Türken aus dem Lager abgerückt war, griffen die Belagerungstruppen die Stadt erneut an und stürmten ohne Rücksicht auf Verluste gegen die schwer mitgenommenen Mauern und Wälle. * Die Heerführer, unter denen sich viele Fürsten befanden, knieten nieder, als Pater Marco d’Aviano, der Beichtvater Kaiser Leopolds, den Segen erteilte. Der Pater hatte die Soldaten ins Kamaldulenkloster auf dem Kahlenberge gebeten, um vor der Schlacht noch einmal eine Messe zu lesen und das Heer zu segnen. Danach begaben sich die Feldherren zu ihren Heeresteilen, die nach den Plänen von Herzog Karl von Lothringen aufgestellt waren. Ein strahlender, klarer Spätsommertag stieg herauf, Vögel zwitscherten und sangen fröhlich. Es hätte ein wunderbarer Tag sein können, wenn nicht die furchtbare Bedrohung durch die asiatischen Reiterhorden gewesen wäre, die alles daransetzten, um aus Wien und dem Abendland eine islamische Provinz zu machen. Am linken Flügel, dicht an der Stadt, führte Herzog Karl das Kommando. Der rechte Flügel wurde von König Sobieski von Polen kommandiert. Viele bekannte Heerführer hatten sich unter einem Oberbefehl vereinigt, um die Türken vernichtend zu schlagen und
diese permanente Gefahr vom Abendland abzuwenden. Da waren Träger berühmter Namen wie Markgraf Hermann und Ludwig Wilhelm von Baden, Graf Leslie, Graf Capara, Hieronymus Lubomirski mit seinen polnischen Panzerreitern. Außerdem dienten 33 Prinzen im Heer, darunter auch der neunzehnjährige Prinz Eugen. Zwischen den beiden Heeren lag aber noch eine weite, sehr unterschiedliche Strecke, die über zerklüftete Waldabhänge, Schluchten und enge Pässe führte. Dann ertönten fünf Kanonenschüsse und Bewegung entstand in den Abteilungen des kaiserlichen Heeres, das sich nur schwerfällig in Marsch setzte. Vom Stephansdom stiegen Raketen auf, die die Verbündeten grüßten. Das hatte Ben befohlen. Der Ingenieur erkannte von seinem Platz auf dem Wall der nördlichen Bastei, wie die Masse des christlichen Heeres in breiter Front sichtbar wurde und den Hang herabquoll. Achmed Bey und seine Oberbefehlshaber verließen daraufhin den Beobachtungshügel hinter ihren Batterien und ritten zu den in Kampfordnung aufgestellten Heeren. Neben dem Feldzeugmeister ritten Prediger Wani und der Träger der Heiligen Fahne. Herzog Karl von Lothringen ritt vor die aufgestellten Heeresabteilungen, zog das Schwert, deutete auf die Türken und rief: »Für die Freiheit und das Abendland!« Die christlichen Soldaten übernahmen den Ruf, der bald aus Tausenden von Kehlen zum Himmel stieg. »Für Allah und den Propheten!« rief Achmed Bey. Dann gab König Sobieski seinen Panzerreitern das Zeichen zum Angriff. In Keilformation preschten die Soldaten mit den blitzenden Helmen und flatternden Federbüschen heran und auf das äußerste Janitscharenregiment zu, das so aufgestellt war, daß es die Kaiserlichen in der Bewegung erheblich hindern konnte. Die Truppen prallten mit großer Wucht aufeinander. Den wuchtigen Hieben der Panzerreiter hatten die flinken, leichteren Tatarenkrieger nichts entgegenzusetzen. Die Polen leerten die Sättel der Türken sehr rasch. Jetzt berührten sich auch andere türkische und kaiserliche Heeresteile. Die Schlacht entbrannte. * »Wir müssen einen Ausfall unternehmen«, sagte Ben. »Das wird das kaiserliche Heer etwas entlasten und starke türkische
Kräfte vor der Festung binden!« Graf Starhemberg, der geschwächt auf dem Krankenlager saß, nickte. »Ich überlasse es Euch. Die Kaiserlichen würden eine solche Entlastung sicher begrüßen. Wieviel unserer Leute sind verfügbar?« Ben rechnete kurz nach. »Etwa vierhundert Mann, Kavalleristen, Infanterie, dazu fünf Kanonen und zwei Mörser.« »Das müßte eigentlich genügen«, sagte Graf Starhemberg. »Wo wollt Ihr ausfallen?« »Am Neutor. Dort sind die Türken so massiert, daß sie ihre Übermacht überhaupt nicht zur Entfaltung bringen können. Ich selbst werde den Angriff führen und versuchen, die Osmanen zurückzuwerfen.« »Ich stelle Euch zur Verfügung, was Ihr braucht, Debrec. Es darf uns kein Mittel zu teuer sein, unsere Feinde empfindlich zu schlagen und zu vernichten.« Ben suchte Frank auf und unterrichtete seinen Freund von seinem Vorhaben. »Ich mache mit«, sagte Frank spontan. »An diese Möglichkeit werden die Türken wohl kaum denken, daß wir, nachdem sie uns so belagern und auch noch die Schlacht stattfindet, einen Ausfall wagen. Wir heizen ihnen tüchtig ein, damit sie sich auf ihrer späteren Flucht nach Osten einiges zu erzählen haben, wenn sie an ihren Lagerfeuern sitzen und Wasserpfeifen rauchen.« »Du magst die Türken wohl nicht besonders?« fragte Ben und grinste. »Ich reiße mich nicht um sie«, erklärte Frank. »Na schön«, sagte Ben, »dann wollen wir uns mal für heute abend vorbereiten. Ich denke, daß kurz vor Sonnenuntergang die beste Zeit ist. Ich werde heute nachmittag noch kurz die Männer inspizieren, dann treffen wir uns gegen fünf Uhr am Neutor.« * Die Soldaten waren angetreten. Auf dem linken Flügel standen die Kavalleristen, daneben die Infanterie, dann kam die Artillerie hintereinander gestaffelt. »Ihr wißt, Männer, was ihr zu tun habt«, sagte Ben, der von seinem Pferd herunter sprach. »Dieser Ausfall soll die Türken verwirren, Unruhe in ihre Reihen bringen und unsere verbündeten Heere entlasten. Hauptmann Hessel, übernehmt die Abteilung und führt sie bis unter das Tor. Wir
warten hier bis wenige Minuten vor Sonnenuntergang. Die Artillerie wird zu beiden Seiten des Tores aufgestellt und feuert, während die Infanterie den attackierenden Kavalleristen Feuerschutz gibt. Ich werde mit der Infanterie vorrücken, dann soll die Kavallerie folgen. Viel Glück!« * Ein Stück der Sonnenscheibe war noch sichtbar, als Ben den Befehl zum öffnen des Tores gab. Kaum waren die Flügel aufgestoßen, feuerte auch schon die Artillerie. »Attacke!« schrie der Rittmeister der Kavallerie und donnerte mit seinen Männern los. Auch die Fußsoldaten eröffneten mit den Musketen den Beschuß. Die Türken wichen verblüfft zurück, als sie die heranstürmenden Soldaten zu Pferde sahen. Wahrscheinlich glaubten sie, daß die Männer ein Teil des christlichen Heeres waren. Verwirrt und kopflos rannten sie durch ihre Laufgräben und Stellungen und überließen die vordersten Linien Bens Männern. Bei diesem verwegenen Handstreich fielen dem Ingenieur und seinen Leuten acht Kanonen und eine unübersehbare Menge Pulver in die Hände. »Der Ausfall hat sich gelohnt«, sagte Frank zu Ben und wies auf die türkischen Vorräte. »Nicht nur das, Frank«, sagte Ben, »wir haben den Türken auch die vorderste Stellung hier an der Bastei genommen. Das kommt unseren Truppen beim anschließenden Angriff auf das Osmanenlager nur zugute.« Da fielen etliche Schüsse. »Die türkische Artillerie beschießt unsere Leute!« sagte Frank. »Die müssen über Nacht dort Kanonen aufgefahren haben!« Er deutete auf die östliche Seite der türkischen Verschanzungen. »Ben, wir müssen die Batterie nehmen, sonst bestreichen die in aller Ruhe das angreifende Entsatzheer!« »Gut, nehmen wir eben die Batterie«, sagte Ben grimmig, riß sein Pferd herum und galoppierte zu den sich erneut aufstellenden Kavalleristen. Rasch wies der Ingenieur die Anführer der Kavallerie ein und befahl ihnen, die Türken beim ersten Ansturm aus den Stellungen zu werfen und die Kanonen zu zerstören. Die Reiter preschten los. Die Türken eröffneten das Feuer mit Kanonen und Musketen und holten so manchen Soldaten aus dem Sattel. Dennoch stürmten die Kavalleristen unerschrocken vorwärts. Schon stellten die türkischen Artilleristen das Feuer ein. Einzelne Osmanen wandten sich zur Flucht. Schließlich blieb nur noch
der Offizier zurück. Als er aber sah, daß er der letzte Mann an der Batterie war, rannte auch er davon. »Zwölf Kanonen«, zählte Ben wenig später. »Damit haben wir einen guten Fang gemacht. – Macht die Kanonen unschädlich!« befahl er den Männern. »Es darf kein Rohr erhalten bleiben!« Die Soldaten zertrümmerten mit wuchtig geführten Hammerschlägen die Zündlöcher, die Mündungen und Haltezapfen der türkischen Geschütze und zertrümmerten die Lafetten und Räder. »Wir ziehen uns in die Festung zurück!« rief Ben. »Dort kommen Tataren angeritten! Das sind zu viele für uns! Rückzug! Zuerst gehen die Infanteristen und die Artillerie! Die Reiter geben Feuerschutz!« Die Aktivitäten Bens und der Soldaten waren dem türkischen Lager nicht verborgen geblieben. Und so hatte der Khan der Tataren einem Regiment seiner Leute befohlen, den Verteidigern den Rückzug zur Festung abzuschneiden. Aber sie kamen zu spät, denn es gelang allen, wieder zurück in die Festung zu gelangen. Als die Tataren unter den Vorwerken der Festung erschienen, empfing sie so wütendes Gegenfeuer, das sie sofort abdrehten und davonritten. »Absitzen!« befahl Ben den Männern der Abteilung, die den Ausfall mitgemacht hatte. »Ihr habt dienstfrei bis morgen abend. Und für jeden Soldaten gibt es einen Becher Wein.« Die Männer johlten. »Ich erstatte Starhemberg Bericht«, sagte Ben zu Frank. »Kommst du mit?^ »Ja«, entgegnete Frank. »Ich bin gespannt, was er dazu zu sagen hat.« * Der linke Heeresflügel des kaiserlichen Heeres war in heftige Kämpfe mit den Türken auf dem Marchfeld verwickelt. Die österreichisch-sächsischen Soldaten kämpften wie die Löwen und gewannen Stück für Stück Boden gegen die sich langsam zurückziehenden Türken. Österreichische Infanterie und Dragoner rückten gegen das besetzte Nußdorf vor und nahmen es nach heftigen Kämpfen ein. Obwohl die Türken sich in den zahlreichen Hohlwegen des Gebirges gut verschanzt und verbarrikadiert hatten, konnten die verbündeten Truppen sie in erbitterten Scharmützeln schlagen und hinauswerfen. Die vielen Weinberge, die manchmal mitten im Gefechtsfeld lagen, mußten durchschritten werden, wobei es sehr oft zum Kampf Mann gegen
Mann kam. Herzog Karl von Lothringens weise Entscheidung, auf den Kahlenberghöhen Artillerie aufzustellen, erwies sich jetzt als eine der besten Entscheidungen der gesamten Türkenschlacht. Als die sich zum Teil recht undiszipliniert verhaltenden polnischen Lanzenreiter in ihren glänzenden, weithin sichtbaren Rüstungen beim Austritt aus dem Gebirge von Dornbach ins Sichtfeld der Türken gerieten, entstand plötzlich große Verwirrung in den Reihen der Polen. Zur Hilfe eilende deutsche Regimenter deckten den Rückzug der Polen, bis sie sich wieder neu formieren und angreifen konnten. Doch jetzt begriffen auch die Türken die Schwierigkeiten des rechten christlichen Flügels und holten neue Reserven heran, obwohl sie selbst in großer Bedrängnis waren. Aber da erreichte der linke Flügel des Entsatzheeres schon das Lager der über fünfzigtausend osmanischen Zelte, die von den heraneilenden Türken heftig verteidigt wurden. Das Blatt wendete sich mehr und mehr zugunsten des christlichen Heeres. Nun rächte sich der Fehler, die Festung zu belagern und im gleichen Atemzug gegen das Entsatzheer zu kämpfen. * »Unsere Leute weichen zurück«, sagte der Aga der Janitscharen und rang heftig nach Atem. »Die Christen haben uns aus den Stellungen am Kahlenberg hinausgeworfen. König Sobieski von Polen jagt meine Leute mit seinen Lanzenreitern. Und der Tatarenführer Hadschi-Giraj konnte gerade noch die Heilige Fahne des Propheten retten, sonst wäre sie auch in die Hände der Ungläubigen gefallen.« Achmed Bey schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Wir werden uns zurückziehen und neu formieren müssen. Zunächst beginnen wir mit der Verlagerung und dem Abtransport von Vorräten nach Schwächst. Dann folgt der Geschützpark. Die Janitscharen halten die Stellung vor der Festung, bis die Schlacht eine Entscheidung gebracht hat. Die christlichen Gefangenen, die wir gemacht haben, werden getötet, wenn wir sie nicht mitnehmen können. Setzt alle Reserven ein, die wir noch haben, und führt sie In die Schlacht. Die Christen dürfen nicht gewinnen. Die Söhne des Propheten müssen siegen!« * Das christliche Heer stieß immer weiter in Richtung des Zeltpalastes
Kara Mustaphas vor. Achmed Bey beobachtete von seinem Kommandoplatz aus, wie seine eigene Kavallerie von den eine Bergattacke reitenden polnischen Panzerreitern zurückgeworfen wurde und sah, wie der König auf ihn zugeritten kam. Neben Achmed Bey flatterte die grüne Fahne der Türken, die nicht in die Hände der Feinde gelangen durfte. Der Feldzeugmeister nahm die Fahne und jagte ins Zeltlager zurück, wo schon etliche christliche Heeresverbände eingedrungen waren. * Ben, Frank und Professor Lintberg beobachten von den Bastionen die Schlacht und das ins türkische Zeltlager eindringende kaiserliche Heer. Der Ingenieur hatte dem Christen der Reiter befohlen, vom Schottentor aus einen neuen Ausfall zu wagen und die dortigen türkischen Laufgräben von der Flanke her zu packen. »Es gibt keinen Zweifel mehr«, sagte Professor Lintberg, »die Türken sind geschlagen.« Frank und Ben stimmten ihm zu. »Ich glaube, wir sollten jetzt das Lager der Türken aufsuchen«, sagte Ben. »Das wird sicher ein interessanter Besuch werden.« »Das glaube ich auch«, stimmte Lintberg zu. »Worauf warten wir dann noch?« drängte Frank. »Brechen wir gleich auf.« Als sie aus dem Tor der Löwelbastei ritten, jagten an ihnen flüchtende Tatarenhorden vorbei, verfolgt von polnischen Lanzenreitern, die ihnen dicht auf den Fersen blieben. Die türkischen Laufgräben, an denen die drei Freunde der Zeit-Kugel auf ihrem Weg ins osmanische Lager vorbei kamen, waren mit den Toten der Türken bedeckt. Und überall flohen die einstigen Belagerer unter Zurücklassung all ihrer Habe. Endlich erreichten die Freunde die Zeltstadt. Es war ein unermeßlich riesiges Lager, an Größe fast mit Wien oder Prag zu vergleichen. In gewaltigen Pferchen standen Zehntausende von Schlacht – und Zugtieren. Und über dem Lager hing der Geruch von vielen verwesenden Leichen. »Seht mal dort drüben!« sagte Ben. Auf einem großen freien Platz zwischen den Zelten lagen viele Hunderte von erschlagenen Menschen. »Das waren Sklaven und Kriegsgefangene«, sagte Lintberg bitter. »Die Türken haben sie vor ihrer Flucht umgebracht.« »Steigen wir ab und gehen zu Fuß weiter«, schlug Ben vor. »Dort hinten ist Kara Mustaphas Zelt!« Das Prunkzelt des Großwesirs war sehr hoch,
fast zwanzig Meter, und erstreckte sich über einen Raum, der etwa fünfzig Meter im Durchmesser hatte. Links und rechts neben dem Zelteingang standen zwei Janitscharenwachen, den Säbel in der Hand, die Augen starr geradeaus gerichtet. Sie ließen Ben, Frank und Lintberg passieren und kümmerten sich nicht um die drei Christen. Dann betraten die Freunde das Prunkzelt. Überrascht gewahrten sie keine kriegsmäßig eingerichtete Wohnung, sondern – eine fantastische Insel im Chaos – angelegte Gärten, Bäder, Springbrunnen, Diwane mit gold- und silberdurchwirkten Stoffen reich geschmückt, kostbare Lampen, goldene Gefäße mit wohlriechenden Essenzen und Parfüms. Weiter hinten standen goldene Käfige, in denen Kaninchen saßen und die ungewohnten Besucher scheu musterten. »So lasse ich mir es gefallen«, sagte Ben. »Großwesir müßte man sein, dann könnte man auch so leben.« »Wolltest du das im Ernst?« fragte Frank. »Natürlich nicht«, sagte Ben. »Für einö kurze Zeit aber wollte ich es schon einmal ausprobieren.« Ben ließ Frank und den Professor vor einer an einem Zeltpfahl hängenden Schrifttafel stehen und ging weiter nach den hinteren Abteilungen, die, wie er vermutete, die privaten Gemächer des Großwesirs enthielten. Ben schob einen Seidenvorhang zur Seite und gelangte in ein von Teppichen und seidenen Tüchern abgeteiltes Gemacn, das nur einen Diwan, einige Sitzkissen und eine Wasserpfeife enthielt. Auf dem Diwan lag ein Mann, der den Kopf verbunden hatte. Das mußte der Großwesir sein. Ben trat näher und vor den Diwan hin. Der Kopf des Mannes war ganz verbunden und ließ nicht einmal Raum für die Augen oder den Mund. »Exzellenz«, sagte Ben leise. Er wiederholte es noch einmal. Aber der Mann rührte sich nicht. Ben rüttelte ihn sanft an der Schulter. Da fiel die rechte Hand des Mannes zur Erde herab und blieb dort in unnatürlicher Lage liegen. Jetzt wußte Ben Bescheid. Der Mann, den er für den Großwesir gehalten hatte, war tot. Nun erkannte Ben, daß sie alle einem Irrtum, einer Täuschung erlegen waren. Es war der rote Selim. Der Held des Türkenheeres mußte schon längere Zeit tot sein. Er erinnerte sich daran, daß Kolschitzky erwähnt hatte, daß man im Türkenlager von einer Verwundung des Großwesirs gemunkelt hatte und von einer schlimmen Verletzung seines Bruders. Also hatte Ben mit dem Kanonenschuß von der Bastei herab doch getroffen. »Professor, Frank!« rief er laut und zeigte den herbeieilenden Freunden
den Toten. Sie wickelten ihn aus. Es war der rote Selim. Er war tot und sah fürchterlich aus. Das war das große Geheimnis. * Nach und nach legte sich der Widerstand der türkischen Truppen, die immer mehr von den Kaiserlichen zurückgedrängt wurden Ganze Heeresteile hatten sich schon zur Flucht gewandt und jagten unter Zurücklassung ihres gesamten Kriegsgerätes nach Osten davon. »Am liebsten würde ich sie jagen lassen, bis kein Mann mehr übrig ist«, sagte Herzog Karl von Lothringen zu Fürst Max Emanuel, als sie beide die fliehenden Türken beobachteten. »Aber unsere Leute sind müde und erschöpft und keinen Strapazen mehr gewachsen. Sie brauchen erst einmal gründliche Ruhe.« Da ertönten schmetternde Trompetentöne, die über das ganze Schlachtfeld drangen. »Das ist das Signal des Kaisers«, sagte der Herzog erstaunt. »Kommt, Karl, eilen wir ihm entgegen und begrüßen ihn. Die Schlacht ist geschlagen, das türkische Hauptheer zerschmettert.« Sie ritten zum Kahlenberg hinauf, wo unweit des fast verbrannten Klosters der Kaiser mit seinem Gefolge stand und sich mit dem polnischen König unterhielt. »Ach, Karl«, sagte der Kaiser erfreut, als er den Herzog sah. »Wie mir der König versicherte, seid Ihr der eigentliche Sieger der Schlacht, denn ohne Eure geschickte Taktik hätten wir die Türken wohl kaum so rasch besiegt.« »Majestät«, sagte der Herzog und kniete nieder, »es war viel Gluck mit uns und Gottes Hilfe, sonst hätten wir die Türken wohl kaum besiegt.« »Jedenfalls ist dieser glorreiche Ausgang Euch zu verdanken«, sagte der Kaiser. »Euch und dem polnischen König«, fugte er rasch hinzu, als er den Schatten auf Sobieskis Gesicht auftauchen sah. »Ich danke Euch, Majestät, für Eure allzu gute Meinung über mich«, sagte der Herzog bescheiden. »Aber auch Fürst Max Emanuel hat seinen Teil dazu beigetragen, uns zum Siege zu verhelfen.« Der Kaiser nickte Max Emanuel freundlich zu. »Das glaube ich gerne. Mit ihm habe ich so meine eigenen Pläne, die ich ihn noch wissen lasse. Doch nun wollen wir zum Dankgottesdienst.« Kaiser Leopold schritt zu dem zerstörten Kloster hinüber.
Die Feldherren, Kommandeure und Offiziere folgten ihm. * »Achtung!« schrie Ben und warf sich zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um dem Säbelhieb des Tataren auszuweichen, der plötzlich aus dem Zeltschatten aufgetaucht war. Frank und Lintberg wandten sich erstaunt um. Der Tatar versuchte, Ben wieder mit dem Säbel zu treffen, doch der riesenhafte Ingenieur legte eine Gewandtheit zutage, die ihm niemand zugetraut hätte. Dann riß Ben seinen Säbel aus der Scheide, parierte die wütenden Hiebe des Tataren und zwang ihn nun seinerseits, in die Verteidigung zu gehen. Bens wuchtig geführte Hiebe konnte der Tatar nicht länger abwehren. Erschöpft hielt er bald inne, warf den Säbel weg und rannte mit langen Sätzen davon. Der Ingenieur lachte laut hinter dem Fliehenden her, machte aber keine Anstalten, ihn zu verfolgen. »Reiten wir wieder nach Wien zurück«, schlug er seinen Freunden vor. In seiner Unterkunft angekommen, ließ er Kolschitzky kommen. Kurz darauf erschien der Spion Starhembergs. »Ihr habt mich rufen lassen, Herr?« »Ja, mein Lieber, das hat auch seinen Grund, denn ich will Euch ein Geschenk machen. Graf Starhemberg bat mich nämlich, Euch für Eure treuen Kurierdienste zu belohnen.« »Ich habe nur getan, was alle anderen auch getan hätten«, sagte der Pole bescheiden. »Mag sein«, entgegnete Ben, »aber Ihr habt es nun mal getan. Ich entdeckte im türkischen Lager einen riesigen Kaffeevorrat. Ihr sollt ihn haben. Eröffnet ein Kaffeehaus. Das ist ein Privileg, das der Graf Euch verleiht. Nehmt es und nutzte es und machte das Beste daraus.« »Ich danke Euch, Herr. Ich danke Euch von ganzem Herzen«, sagte Kolschitzky. »Das ist ein unerwartetes, großzügiges Geschenk, das ich nicht verdient habe. Aber ich werde es zu nützen wissen.« »Tut das«, sagte Ben. »Ihr erwerbt Euch damit viele Verdienste und werdet eines Tages noch einmal in die Geschichte eingehen«, fügte er doppelsinnig hinzu. * »… und von dieser letzten Janitscharenabteilung sind sechstausend
Männer, elftausend Frauen, vierzehntausend Mädchen und fünfzigtausend Kinder aus Steiermark und Niederösterreich als Sklaven mitgeschleppt worden. Hätten wir diese Abteilung gleich verfolgt, wären die Menschen noch zu retten gewesen. Jetzt aber ist es zu spät.« »Ja, leider«, sagte Ben zu Graf Starhemberg, der von seiner Verwundung wieder genesen war. »Dafür hatten wir während der Schlacht nur insgesamt zweitausend Tote zu beklagen. Die schwersten Verluste hatten die Bevölkerung des offenen Landes sowie unsere Leute auf den Wällen zu tragen.« »Aber die Türken hatten viele Gefallene. Manche der Laufgräben waren bis zum Rand mit Toten angefüllt. Es waren die fürchterlichsten Verluste, die die Osmanen bisher in einer offenen Feldschlacht hatten hinnehmen müssen«, sagte der Graf. »Dafür haben wir eine riesige Kriegsbeute gemacht, Graf«, erinnerte Ben. »Über dreihundert Geschütze sind in unsere Hände gefallen, fünfzehntausend Zelte, unzählige Waffen und Vorräte, die für die Ernährung ganzer Städte ausgereicht hätten. Es ist kaum zu glauben, daß so wenige Truppen wie die unsrigen einem der gewaltigsten Heere, das Europa je gesehen hat. Trotz bieten und es sogar besiegen konnten. Das wird ein Markstein in der Geschichte werden.« »Ja, das glaube ich auch, Debrec. Kommt, laßt uns einen Schluck trinken. Meine Kehle ist wie ausgetrocknet!« * Der Prediger sah zu zu dem schweigsam dahinreitenden Feldzeugmeister, der den Kopf bis zur Brust gesenkt hatte und nachgrübelte. »Nehmt es nicht so schlimm, Achmed Bey«, sagte Wani. »Ihr könnt nichts dafür. Kara Mustapha hat die Belagerung falsch angefangen. Und Ihr könnt nicht die Fehler eines anderen innerhalb von wenigen Tagen ausgleichen. Das ist unmöglich.« »Was wird der Sultan zu der Niederlage sagen?« fragte Achmed Bey mehr sich selbst als seinen Begleiter. »Ich weiß nicht«, erklärte Wani wahrheitsgemäß. »Aber Euch wird er keine Schuld geben. Er wird die Niederlage dem Großwesir anlasten.« Achmed Bey schwieg. Er kannte den Sultan und wußte, wie launisch und unberechenbar der osmanische Herrscher sein konnte. Aber das war nicht Achmed Beys Angelegenheit. Alles Weitere lag in Allahs Hand. Vielleicht entlud sich der Zorn des Sultans nur auf Kara Mustapha, der noch immer
an seinen Wunden kränkelte und in einer Sänfte getragen wurde. * »Graf Starhemberg bittet Euch um eine Unterredung«, sagte der Adjutant des Kommandanten. Ben erhob sich sofort und suchte den Grafen auf. »Debrec, eben erreicht mich ein Bote, der berichtete, daß unweit von Nußdorf ein größerer Tatarentrupp sein Unwesen treibt. Wir müssen etwas unternehmen, sonst nisten die Osmanen sich ein, andere kommen nach, und dann haben wir die Türken wieder im Land.« »Ich nehme einen Trupp Kavallerie und erkunde die Lage«, sagte Ben kurz entschlossen. »lch nehme einhundert Mann, das wird genügen.« »Gut, Debrec. Braucht Ihr Verstärkung, dann sendet einen Boten.« Ben holte seine Waffen, ließ sich sein Pferd vorführen und ritt zum Bereitstellungsraum der Kavallerie. Die Soldaten waren schon aufgesessen und warteten auf ihn. Er unterrichtete die Unterführer kurz über die Lage, dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Ben führte seine Leute durch das Schottentor und jagte im gestreckten Galopp nach Richtung Nußdorf. Es war noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Ben wollte auf jeden Fall aber noch bei Tageslicht die Gegend erkunden, die Stärke des Gegners feststellen und sich nicht überraschen lassen. »Leutnant Schonen!« Der Offizier trabte zu Ben nach vorne. »Herr?« »Ihr geht mit mir. Wir werden das Tatarenlager erkunden und die Stärke der Türken feststellen.« »Jawohl, Herr«, sagte der Leutnant und galoppierte mit Ben davon. Die Kavalleriegruppe blieb zurück und machte Rast. Ben legte mit seinem Pferd ein so scharfes Tempo vor, daß der Leutnant alle Mühe hatte, mitzukommen. Sie erreichten einen leichten Höhenzug, auf dem sie bis zu einer keilförmigen Schlucht weiterritten. Sie durchquerten die Schlucht, trabten durch einen Bach und hielten am Ende der Schlucht an. Von weitem waren Stimmen zu hören. Es waren türkische Leute. »Das müssen die Tataren sein«, sagte Ben zu dem Leutnant. »Wir schleichen uns an das Lager heran. Sie von Norden, ich von Süden. Ich will wissen, wie hoch die Zahl der Tataren ist, ferner wie sie bewaffnet sind und welchen Troß sie mit sich führen.«
»Ja, Herr«, sagte der Leutnant und verschwand zwischen den Bäumen. Ben stieg einen Abhang hoch, legte einige Meter auf der Höhe zurück, dann stieg er wieder abwärts und sah von hier aus schon die Feuer des Tatarenlagers brennen. Er zählte zehn Feuer. An jedem lagerten etwa zwanzig Mann. Das waren mehr, wie ihm Soldaten zur Verfügung standen. An allen vier Seiten des auf einer Lichtung aufgeschlagenen Lagers standen Posten, die jedoch keine besondere Aufmerksamkeit walten ließen und sich viel lieber mit ihren Weinschläuchen beschäftigten. Ben machte keine schweren Waffen aus. Die Tataren an den Feuern grölten, tranken und aßen, was das Zeug hielt. Unweit eines Lagerfeuers saß ein prächtig geschmückter Tatar, neben dem ein Feldzeichen im Boden steckte, ein Roßschweif und ein Seidenbanner. Das mußte der Anführer sein. Ben war unklar, was die Tataren hier suchten, denn nachdem das türkische Heer vernichtend geschlagen worden war, war es für die wilden Horden sehr gefährlich, sich im Umland zu zeigen. Die polnischen Lanzenreiter machten auf jeden Türken Jagd. Ben duckte sich hinter einem Baum. Einer der Tataren kam heran, genau auf sein Versteck zu. Beinahe hätte er Ben entdeckt. Doch schien er zu betrunken, um seine Umgebung noch wahrnehmen zu können. Ben hatte genug gesehen. Er überlegte kurz, ob er die Tataren jetzt sofort angreifen sollte. Die fast doppelte Übermacht würde durch die Überraschung und die Trunkenheit vieler Tataren wieder wettgemacht werden. Er entschloß sich, noch in dieser Nacht anzugreifen. Die Lagerfeuer waren hell genug, um alles gut erkennen zu lassen. Es mußten nur die Posten überrascht werden, dann versprach ein konzentriert geführter Angriff durchaus einen Erfolg. Ben eilte zurück zu seinem Pferd. Der Leutnant wartete schon auf ihn. Sie tauschten kurz ihre Informationen aus, dann beauftragte Ben den Leutnant, die Abteilung heranzuholen. Er selbst wollte hier warten und die Tataren weiter beobachten. Der Leutnant sprang in den Sattel und preschte davon. Ben kehrte auf seinen Beobachtungsplatz zurück. * Es mochten etwa zwei Stunden vergangen sein, da hörte Ben das leise Schnauben eines Pferdes. Er verließ seinen Platz und eilte zu dem Ort, an dem er sein Pferd stehen hatte. Ein dunkler Schatten richtete sich plötzlich drohend vor ihm auf. Schon wollte Ben nach dem Säbel greifen, da sagte eine leise Stimme: »lch bin es, Rittmeister von Dragen, Herr von Debrec.« Erleichtert ließ Ben den Säbelgriff los.
»Wir greifen die Tataren in vier Abteilungen von jeder Seite des Lagers an. Es muß alles blitzschnell gehen, keiner der Türken darf zur Besinnung kommen. Eure Männer müssen laut schreien und die Tataren dadurch verwirren. Wenn ich zu schreien beginne, geht der Angriff los!« »Jawohl, Herr von Debrec«, sagte der Rittmeister und kehrte zu seinen Leuten zurück. Ben schwang sich auf sein Pferd, ritt langsam den Abhang hinunter und sah noch einmal zu den Tataren. Aber im Lager hatte sich nichts verändert. Ben riß seinen Säbel heraus, legte den Kopf in den Nacken und begann fürchterlich zu schreien. Gleich darauf antworteten ihm hundert Kehlen. Erschrocken sprangen die Tataren auf, einige fielen gleich darauf um, so betrunken waren sie. Die weniger Betrunkenen griffen nach dem Säbel oder dem Bogen, kamen aber nicht dazu, ihre Waffen einzusetzen. Überall aus dem Unterholz, zwischen Bäumen hervor und von der Anhöhe herab drangen Bens Männer und umzingelten die Tataren. Deren Anführer sah bald ein, daß er gegen Bens Männer keine Chance hatte. Er bellte einen Befehl, worauf die Tataren ihre Waffen zur Erde warfen. »Ihr seid Gefangene«, sagte Ben zu dem Tatarenführer, der ihm als Zeichen seiner Unterwerfung den Roßschweif überreichte. »Bindet die Gefangenen zu vieren aneinander«, befahl Ben seinen Männern. »Wir führen sie nach Wien zurück!« Stunden später verließ ein langer Zug den Wald. Die Feuer brannten noch, leere Weinschläuche lagen auf der Erde, und ein Berg Säbel, Bogen und Pfeile blieb zurück. * »Ich danke Euch, Debrec«, sagte Herzog Karl von Lothringen. »Das habt Ihr ausgezeichnet gemacht. Wie können wir Euch nur danken?« »Behandelt die Tataren nicht zu streng, Durchlaucht«, sagte Ben. »Sie sind auch nur arme Verblendete, die einem Gefehl gehorchen mußten, den sie innerlich vielleicht ablehnten.« »Ich werde Eurer Bitte willfahren«, sagte der Herzog. »Damit ist unser Dank aber nur sehr ungenügend abgestattet. Darum sagt mir, habt Ihr einen Wunsch?« »Nein«, sagte Ben. »Das heißt, ich habe doch einen. Meine Freund und ich, wir wollen Wien verlassen und weiterziehen. Stellt uns bitte drei gute Pferde zur Verfügung und Proviant. Das wäre meine einzige Bitte.«
»Sie ist schon gewährt, hoch bevor Ihr sie ausgesprochen habt«, sagte der Herzog und lächelte. »Ich danke Euch und Euren Freunden für Eure Hilfe und Euren Beistand. Lebt wohl, Debrec.« Der Herzog gab Ben, Frank und Lintberg die Hand. Ein Diener brachte die Pferde und den Proviant, dann saßen die drei Freunde auf und ritten durch das Schottentor davon. * In Höhe des türkischen Lagers hielten sie ihre Pferde an und wandten sich noch einmal um. Auf den Zinnen und Türmen der nunmehr befreiten Stadt flatterten die Fahnen der verbündeten Truppen, nicht die Banner mit dem Halbmond. »Nehmen wir Abschied von Wien«, sagte Ben. »Kommt, reiten wir weiter.« Sie ritten an der Donau entlang, überquerten den Fluß mit einer Fähre und drangen weiter nach Osten, dorthin, wo die Zeit-Kugel materialisieren würde. Unterwegs begegneten ihnen immer wieder polnische Lanzenreiter, deren Lanzenfähnchen im Wind flatterten und weithin anzeigten, wer die Reiter waren. Sie patrouillierten die Donau entlang, um versprengte Türken und Tatarenverbände abzufangen oder daran zu hindern, sich erneut zu sammeln. Am Abend kamen sie in ein Dorf, das fast völlig zerstört war. Dennoch war das einzige Gasthaus des Ortes noch intakt. »Wir könnten hier übernachten«, sagte Ben. »Das ist besser, als draußen im Freien zu kampieren, wo die Gegend noch immer nicht sicher ist.« »Eine gute Idee«, sagte Professor Lintberg. »Hunger hätte ich nämlich auch.« Sie betraten das Gasthaus. Der Schankraum war recht voll, denn es saßen meistens Soldaten hier, die in der Nähe ihr Lager errichtet hatten. »Wir möchten etwas zu essen«, sagte Ben zu dem eilfertig herbeischießenden Wirt. »Sehr wohl, die Herren.« Kurz darauf stellte er eine große Schüssel mit einem dampfenden Braten auf den Tisch. Die drei Freunde langten herzhaft zu. Am meisten aß der immer hungrige Ben. Sie bestellten anschließend noch eine Flasche Wein. Dann ertönte plötzlich großer Lärm, Schüsse hallten, und laute Schreie waren zu hören. Die Soldaten sprangen auf, griffen nach den Waffen und eilten nach draußen. Ben und seine Freunde folgten ihnen. Vor dem Gasthaus hatte sich eine Rotte versprengter Tataren versammelt, die
soeben eine Frau und zwei Mädchen zu verschleppen versuchten. Die Tataren ließen die Frau und die Mädchen los, bestiegen wieder ihre Pferde und jagten aus dem Dorf hinaus. Einige der Soldaten schossen hinterher, trafen aber nicht. Es war reine Pulververschwendung. Ben, Frank und Lintberg ließen sich drei Zimmer geben und gingen früh schlafen, weil sie am Morgen sehr früh aufstehen mußten, um rechtzeitig bei der Zeit-Kugel zu sein. Als sie den Platz erreicht hatten, trieben sie die Pferde weg, legten alles überflüssige Material ab und schwangen sich in die Kugel hinein, die sichtbar geworden war. Gerade noch rechtzeitig, denn in der Ferne erschien ein Trupp Tataren, der sich, wohl vom Glanz der Zeit-Kugel angelockt, in raschem Tempo näherte. Pfeile und ein paar Kugeln hämmerten gegen die Hülle. Die drei Zeitreisenden grinsten. Hier drin saßen sie sicher wie in Abrahams Schoß. Sicherer jedenfalls als in der Festung Wien und vor den brüllenden Mündungen der türkischen Kanonen. ENDE
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Die Gasse im Meer Die biblischen Quellen sind ungenau, aber immerhin steht fest, daß ein Mann mit Namen Moses oder Mosis ein in Gefangenschaft lebendes Volk gegen den Willen des herrschenden Pharao aus Ägypten hinwegführte. Der Pharao ließ Streitwagenverbände nachsetzen, um die billigen Arbeitskräfte wieder einzufangen. Was danach geschah, ist umstritten. Moses soll dem Meer den Befehl gegeben haben, zur Seite zu weichen und seinem Volk eine Gasse zu machen. Als das aus der Gefangenschaft entführte Volk trockenen Fußes hindurch war, ertrank die nachrückende ägyptische Reiterei samt den Kampfwagenverbänden. Es wird auch behauptet, Moses habe eine sehr seichte Stelle in einem der Bitterseen gewußt und habe dort sein Volk in die Freiheit geführt. Und es gibt auch Meinungen, nach denen genau in dem Augenblick, als Moses mit seinen Leuten am Meer ankam, eine ferne gewaltige Naturkatastrophe das Wasser in Wallung brachte und zurückweichen ließ und auf diese Weise für einige Stunden eine Gasse im Meer entstanden war. Das Team von der Zeit-Kugel reist an den Ort des Geschehens und prüft nach, was damals wirklich geschehen ist.
Zeit-Kugel-Lexikon Die Zeit-Kugel ist ein aluminiumfarbener, fensterloser Ball mit einem Durchmesser von 5 m, der die Ent- und Rematerialisierungsapparatur, ein Panoramascope und Sitzgelegenheit für 3 Passagiere enthält. Die Reise mit der Zeit-Kugel ist stets vorprogrammiert. Die Vorprogrammierung bestimmt das räumliche und zeitliche Ziel, die Dauer des dortigen Aufenthaltes und den Zeitpunkt der Rückkehr. Änderungen nach dem Start sind nicht möglich. Zum Schutz der ZeitKugel entmaterialisiert sie sich 5 Minuten nach der Ankunft am Zielort und rematerialisiert wieder l Stunde vor der Abreise. Das Mitbringen von Gegenständen aus fernen Räumen und anderen Zeiten ist nicht möglich, da der Umwandlungsprozeß nur Dinge erfaßt, die beim Beginn der Reise an Bord waren. Die Ent- und Rematerialisierung sowie die Reise werden von den Passagieren nicht wahrgenommen, da sie während dieser Phasen bewußtlos sind. Der Radar-Timer wird von den Passagieren der Zeit-Kugel wie ein Armband getragen und ist eine Kompaß-Uhr-Kombination, die stets die Richtung zur und die Entfernung von der Zeit-Kugel und zudem die verbleibende Zeit bis zur Rückreise zeigt. Die Kleidung der Zeit-Kugel-Passagiere besteht aus einer helmartigen Kapuze und einem silbrigen, hautengen Overall, der sowohl vor Hitze als auch vor Kälte schützt. Der Sprach-Transformer (auch Dolmetscher genannt) ist in der helmartigen Kapuze untergebracht und übersetzt jede Spache ohne Verzögerung.