Indiana Jones im Goldmann Verlag
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Indiana Jones im Goldmann Verlag
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GOLDMANNVERLAG Umwelthinwcis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchessind chlorfrei und umweltschonend.Das Papier enthält Recycling-Anteile. Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmender Verlagsgruppe Bertelsmann Jäger des verlorenen Schatzes TM and Copyright e der Originalausgabe 1981 bei Lucasfilm Ltd. (LFL) This translation published by arrangementwith Ballantine Bookj, A Division of Random House, Inc. Copyright G der deutschsprachigenAusgabe 1981 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Indiana Jones und der Tempeides Todes TM and Copyright O der Originalausgabe 1984 bei Lucasfilm Ltd. (LFL) This translation published by arrangement with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc. Copyright C der deutschsprachigenAusgabe 1984 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Indiana Jones und der letzte Kreuzzug TM and Copyright 6 der Originalausgabe 1989 bei Lucasfilm Ltd. (LFL). All rights reserved. This translation published by arrangement with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc. Copyright © der deutschsprachigenAusgabe 1989 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung:Design Team München Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer:11592 SN Herstellung: Peter Papenbrok/sc Made in Germany ISBN 3-442-11592-2 . 7 9 10 8 6
Jäger des verlorenen Schatzes Aus dem Amerikanischen von Richard Daniel
Titel der Originalausgabe: Raiders of the Lost Ark Originalverlag:Ballamine Books, New York
Südamerika 1936 Der Urwald war dunkel und grün, geheimnisvoll, bedrohlich. Das wenige an Sonnenlicht, das die hohen Schranken des Geästs und wirr verschlungener Ranken durchdrang, war blaß, von milchiger Farbe. Die lastende, klebrige Luft troff vor Feuchtigkeit. Vögel kreischten gellend, als hätte man sie plötzlich mit riesigen Netzen eingefangen. Glitzernde Insekten huschten am Boden im Laub schnatterten und quiekten Tiere. In seinem unberührten Zustand hätte der Urwald unerforschtes Gebiet sein können, ein Fleck, für den es keine Landkarten gab, den niemand durchstreift hatte - das Ende der Welt. Acht Männer zogen langsam auf einem schmalen Pfad dahin, blieben ab und zu stehen, um eine herabhängende Ranke oder einen Ast abzuhacken, der den Weg versperrte. An der Spitze der Kolonne befand sich ein hochgewachsener Mann, der Lederjacke und Filzhut trug. Hinter ihm kamen zwei Peruaner, die argwöhnisch in den Dschungel starrten, und fünf unruhige Quechua-Indianer; diese plagten sich mit den beiden Maultieren ab, die Rucksäcke und Vorräte schleppten. Der Mann, der die Gruppe führte, hieß Indiana Jones. Er war muskulös auf eine Weise, wie man sie bei einem Athleten vermutet hätte, der über seine beste Zeit noch nicht ganz hinaus war. Seine schmutzigblonden Bartstoppeln waren seit einigen Tagen nicht rasiert worden, dunkle Streifen von Schweiß zeichneten ein Gesicht, das einmal auf gefällige, photogene Art gutaussehend gewesen sein mochte. Nun umgaben jedoch kleine Fältchen die Augen, Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, und die fast sanften, regelmäßigen Züge gewannen dadurch etwas Charaktervolles und Markantes. Es war, als hätten seine Erfahrungen mit der Zeit sein Aussehen gezeichnet. Indy Jones legte nicht die Vorsicht an den Tag, mit der sich die beiden Peruaner bewegten - sein sicheres Auftreten erweckte den Eindruck, als seien nicht sie hier zu Hause, sondern er. Trotzdem beeinträchtigte das forsche Auftreten sein Gefühl der Wachsamkeit nicht. Er kannte sich gut genug aus, um von Zeit zu Zeit beinahe unmerklich nach links und rechts zu blicken, stets darauf gefaßt, daß der Urwald eine Drohung, eine Gefahr erkennen ließ. Der plötzliche Ruck eines Astes oder das Knacken von verfaulendem Holz - das waren die Signale, die Gradpunkte auf seinem Gefahrenkompaß. Manchmal blieb er stehen, nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und überlegte sich, was ihn mehr störte - die schwüle Feuchtigkeit oder die Unruhe der Quechuas. Immer wieder redeten sie in Ausbrüchen ihrer fremden Sprache aufgeregt miteinander, einer Sprache, die Indy an die Laute der Urwaldvögel erinnerte, jener Geschöpfe der undurchdringlichen Vegetation, der wabernden Dünste. Er schaute sich nach den beiden Peruanern um, nach Barranca und Satipo, und erkannte, wie wenig er ihnen in Wahrheit traute - und trotzdem mußte er sich auf sie verlassen, um aus diesem Urwald das zu holen, was er haben wollte. Was für ein Haufen, dachte er. Zwei verschlagene Peruaner, fünf Indianer in Todesangst, und dazu zwei störrische Maultiere. Und ich bin ihr Anführer. Mit einem Pfadfindertrupp wäre ich besser dran gewesen. Indy drehte sich nach Barranca um und fragte, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte: »Worüber reden die Indianer?« Barranca wirkte gereizt. »Worüber reden die schon, Senor Jones? Über den Fluch. Immer über den Fluch.« Indy zog die Schultern hoch und richtete den Blick auf die Indianer. Indy verstand ihre abergläubische Furcht, ihren Glauben, und empfand in gewisser Beziehung sogar mit ihnen. Der Fluch - der uralte Fluch des Tempels der Chachapoya-Krieger. Die Quechuas waren damit aufgewachsen, er war fester Bestandteil ihrer Weltsicht. »Sagen Sie ihnen, sie sollen still sein, Barranca«, erklärte er. »Machen Sie ihnen klar, daß ihnen nichts zustoßen wird.« Die Salbe des Wortes. Er kam sich vor wie ein Quacksalber, der von einem unerprobten Serum eine Dosis zu verabreichen hat. Woher, zum Teufel, wollte er wissen, daß ihnen nichts zustoßen würde? Barranca sah Indy kurz an, dann sprach er mit scharfer Stimme auf die Indianer ein, und sie blieben eine Weile stumm - es war ein Schweigen, das unterdrückter Angst entsprang. Wieder konnte Indy ihnen das nachfühlen: Vage Trostesworte waren nicht in der Lage, Jahrhunderte des Aberglaubens ungeschehen zu machen. Er setzte den Hut wieder auf und schritt langsam auf dem Pfad weiter, eingehüllt von den Gerüchen des Urwalds, dem Duft der Pflanzen, die wuchsen, dem Gestank anderer, die verfaulten, uralter Kadaver, wimmelnd von Maden,
verrottenden Holzes, vertrocknenden Laubes. Man kann sich schönere Gegenden vorstellen, wo man sein will, dachte er, es gibt gewiß Besseres. Dann dachte er an Forrestal, stellte sich vor, wie er Vorjahren eben diesen Weg gegangen war, dachte an das Fieber in Forrestal, als er in die Nähe des Tempels gekommen war. Aber Forrestal war, so gut er als Archäologe auch gewesen sein mochte, von seiner Reise hierher nicht zurückgekommen - und was der Tempel an Geheimnissen enthielt, lag noch immer dort verborgen. Armer Forrestal. In dieser gottverlassenen Gegend gestorben zu sein, war ein teuflischer Grabspruch und einer, nach dem Indy keine Sehnsucht hatte. Er setzte seinen Weg durch den Urwald fort, gefolgt von den anderen. An dieser Stelle füllte der Dschungel schluchtartiges Gelände aus, und der Pfad durchzog die Schluchtwand wie eine alte Narbe. Vom Boden stiegen jetzt dünne Nebelschwaden auf, Dämpfe, von denen er wußte, daß sie im Verlauf des Tages dichter und undurchdringlicher werden würden. Der Nebel würde in dieser Schlucht hängen, als hätten die Bäume Spinnennetze geflochten. Ein großer Ara, bunt wie ein frischer Regenbogen, schoß kreischend aus dem Dickicht und flatterte hinauf in die Bäume. Indy erschrak kurz. Dann .schnatterten die Indianer wieder, gestikulierten wild mit den Händen, stießen einander an. Barranca drehte sich um und brachte sie mit einem gezischten Befehl zum Schweigen, aber Indy wußte, daß es immer schwerer werden würde, sie unter irgendeiner Kontrolle zu halten. Er konnte ihre Ängste so deutlich spüren wie die Feuchtigkeit, die auf seiner Haut lastete. Im übrigen bedeuteten ihm die Indianer weniger als sein wachsendes Mißtrauen gegen die beiden Peruaner, zumal gegen Bar-ranca. Das war ein Instinkt von der Art, auf die er sich stets verließ, eine Eingebung, die ihn fast während des ganzen Marsches begleitet hatte. Nur wurde das Gefühl immer stärker. Sie würden ihm für ein paar gesalzene Erdnüsse bereitwillig die Kehle durchschneiden, das wußte er. Es ist nicht mehr weit, sagte er sich vor. Als er dann erkannte, wie nah er dem Tempel war, als ihm klar wurde, wie wenig ihn noch vom Idol der Chachapoya trennte, erlebte er von neuem, wie Adrenalin ihn durchflutete: Er sah sich vor der Erfüllung eines Traumes, eines alten Schwures, den er im stillen geleistet, eines Gelübdes, das er vor sich selbst abgelegt hatte, als er in der Archäologie ein Anfänger gewesen war. Es war, als kehre er fünfzehn Jahre in seine Vergangenheit zurück, als fände er das vertraute Staunen wieder, den besessenen Drang, die dunklen Orte der Geschichte zu verstehen, also das, was ihn bei der Archäologie so angezogen hatte. Ein Traum, dachte er. Ein Traum nimmt Gestalt an, verwandelt sich aus Nebelhaftem zu Greifbarem. Und er konnte die Nähe des Tempels jetzt spüren, bis tief in die Knochen hinein. Er blieb stehen und lauschte wieder dem Geschnatter der Indianer. Sie wissen es auch. Sie wissen, wie nah wir herangekommen sind. Und das erschreckt sie. Er ging weiter. Durch die Bäume sah man in der Schluchtwand einen Riß. Der Pfad war fast unsichtbar geworden, überwuchert von Schlingpflanzen, erstickt von verfilztem Unkraut, das sich auf Wurzeln breitmachte -Wurzeln mit dem Aussehen von Gewächsen, die durch wahllos im Weltraum schwebende Sporen entstanden waren und sich hier aus einer bloßen Laune heraus ausgebreitet hatten. Indy hackte einen Weg frei, schwang den Arm, so daß seine Machete die Hindernisse zerteilte, als seien sie nur faserartiges Papier. Verdammter Urwald. Man durfte sich von der Natur nicht unterkriegen lassen, auch wenn sie, wie hier, alle Zügel hatte schießen lassen, wenn sie jedes Maß verloren zu haben schien. Als er eine Pause einlegte, war er schweißdurchnäßt, und seine Muskeln schmerzten. Trotzdem fühlte er sich wohl und stark, als er die zerteilten Ranken, die durchtrennten Wurzeln betrachtete. Dann nahm er wahr, daß der Nebel dichter wurde, kein kalter Nebel, kein Eishauch, sondern etwas, das aus dem Schweiß des Urwaldes selbst entstand. Er hielt kurz den Atem an und schritt durch den Tunnel. Sein Atem stockte erneut, als er das Ende des Weges erreichte. Da war er. Dort, in einiger Entfernung, umhüllt von mächtigen Bäumen, der Tempel. Einen Augenblick lang war Indy erfaßt von den seltsamen Verknüpfungen der Geschichte, einem Gefühl der Dauerhaftigkeit, eines Kontinuums, das zuließ, daß jemand namens Indiana Jones im Jahr 1936 am Leben sein und ein Bauwerk vor sich sehen konnte, das zweitausend Jahre früher errichtet worden war. Ehrfürchtig. Überwältigt. Ein Gefühl der Demut. Aber dies alles traf es nicht genau. Es gab keinen Ausdruck für seine Erregung. Eine Zeitlang brachte er kein Wort heraus. Er starrte nur das Bauwerk an und staunte über die Energie, die es gekostet haben mußte, ein solches Gebäude mitten in einem gnadenlosen Urwald zu bauen. Dann wurde er von den Rufen der Indianer in die Gegenwart zurückgerissen. Er fuhr herum und sah drei von ihnen auf dem Pfad davonstürzen und die Maultiere im Stich lassen. Barranca hatte die Pistole gezogen und zielte auf die flüchtenden Indianer, aber Indy packte das Handgelenk des Mannes, verdrehte es ein wenig und riß den Peruaner zu sich herum. »Nein«, sagte er. Barranca starrte Indy vorwurfsvoll an. »Sie sind Feiglinge, Senor Jones.« »Wir brauchen sie nicht«, gab Indy zurück. »Und wir brauchen sie nicht zu töten.«
Der Peruaner ließ die Pistole sinken, warf einen Blick auf Satipo, seinen Begleiter, und starrte Indy wieder an. »Wer soll die Lasten tragen ohne die Indianer, Senor? Es gehört nicht zu unserer Abmachung, daß Satipo und ich niedrige Arbeiten leisten müssen, nicht wahr?« Indy sah den Peruaner an, erkannte die eisige Kälte in den Augen des anderen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Mensch jemals lächelte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß jemals Licht in die Seele Barrancas drang. Indy erinnerte sich, derart tote Augen schon einmal gesehen zu haben; bei einem Hai. »Wir lassen die Vorräte zurück. Sobald wir haben, was wir wollen, können wir das Flugzeug erreichen, bevor es dunkel wird. Wir brauchen keine Vorräte mehr.« Barranca spielte an seiner Pistole herum. Der Abzugsfinger juckt ihn, dachte Indy. Drei tote Indianer machen ihm gar nichts aus. »Stecken Sie das Ding ein«, sagte Indy. »Pistolen sind mir unsympathisch, Barranca, wenn ich nicht derjenige bin, welcher den Finger am Abzug hat.« Barranca blickte achselzuckend auf Satipo; zwischen den beiden fand eine stumme Verständigung statt. Sie würden sich den Augenblick aussuchen, das wußte Indy. Sie würden im geeigneten Moment losschlagen. »Stecken Sie's in den Gürtel, ja?« brummte Indy. Er warf einen kurzen Blick auf die beiden Indianer, die geblieben waren; Satipo bewachte sie. Sie schienen vor Angst halb gelähmt zu sein, sahen aus wie Zombies. Indy drehte sich nach dem Tempel um, verschlang ihn mit den Augen, genoß diesen Moment, kostete ihn aus. Der Nebel ringsum wurde dichter, eine Verschwörung der Natur, so, als wolle der Urwald seine Geheimnisse für immer bewahren. Satipo beugte sich vor und zog etwas aus der Rinde eines Baumes. Er hob vor Indy die offene Hand. Auf der Handfläche lag ein kleiner Pfeil. »Hovitos«, sagte Satipo. »Das Gift ist noch feucht -dreiTage, Senor Jones. Sie müssen uns auf den Fersen sein.« »Wenn sie wüßten, daß wir hier sind, hätten sie uns schon umgebracht«, erwiderte Indy ruhig. Er griff nach dem kleinen Pfeil. Primitiv, aber wirksam. Er dachte an die Hovitos, an ihre legendäre Wildheit, ihre uralte Anhänglichkeit an den Tempel. Sie waren abergläubisch genug, sich vom Tempel selbst fernzuhalten, aber auch so eifersüchtig, daß sie jeden töteten, der in die Nähe des Tempels kam. »Gehen wir«, sagte er. »Bringen wir es hinter uns.« Sie mußten wieder hacken und zerteilen, die wirr verschlungenen Ranken durchschneiden und zertrennen, die Schlingpflanzen auseinanderreißen, die wie Fußeisen am Boden lauerten. Indy blieb schweißüberströmt stehen, seine Hand mit dem Hackmesser sank herab. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, daß einer der Indianer einen starken Ast zurückbog. Es war der Schrei, der ihn blitzschnell herumfahren ließ. Sein Arm mit dem Messer war erhoben. Es war der wilde Schrei des Indianers, der ihn veranlaßte, zu dem Ast zu stürzen, als der Quechua mit gellenden Rufen in den Urwald hineinrannte. Der letzte Indianer folgte ihm, warf sich blindlings, in Panik, gegen die dornigen Äste und scharfkantigen Ranken. Dann waren beide verschwunden. Indy riß, das Messer erhoben, den Ast zurück, der die Indianer so erschreckt zu haben schien. Er war entschlossen, sich auf alles zu stürzen, was ihnen Todesangst eingejagt hatte, wollte die Klinge gebrauchen. Er zog den schweren Ast zur Seite. Sie hockte hinter dem wabernden Nebel. Aus Stein gemeißelt, zeitlos, das Gesicht war die Erfindung eines grauenhaften Alptraums, war die Skulptur eines Chachapoya-Dämons. Indy starrte sie kurz an, während er sich der Bösartigkeit des unwandelbaren Gesichts bewußt wurde, und begriff, daß man sie hier aufgestellt hatte, damit sie den Tempel bewache und jeden abschrecke, der hier vorbeikommen mochte. Ein Kunstwerk, dachte er und machte sich Augenblicke lang Gedanken über seine Schöpfer, über ihre Weltsicht, über die Art religiöser Ehrfurcht, die etwas so Schreckliches wie diese Statue hervorzubringen imstande gewesen war. Er zwang sich dazu, die Hand auszustrecken und den Dämon leicht an der Schulter zu berühren. Dann nahm er noch etwas anderes wahr, etwas, das noch mehr beunruhigte als das steinerne Gesicht. Das unheimlicher war. Die Stille. Die unheimliche Stille. Nichts. Keine Vögel. Keine Insekten. Kein Windhauch, der in den Bäumen raschelte. Nichts, als sei hier alles tot, als sei es von einer gottlosen, zerstörerischen Hand zum Schweigen gebracht worden. Er griff sich an die Stirn. Kalt, kalter Schweiß. Gespenster, dachte er. Hier wimmelt es von Gespenstern. Das war die Art von Stille, die man sich vor dem Beginn der Schöpfung hätte vorstellen können. Er entfernte sich von der Steinfigur, gefolgt von den beiden Peruanern, die bemerkenswert kleinlaut wirkten. »Was ist das, um Himmels willen?« fragte Barranca. Indy zog die Schultern hoch. »Ach, alter Plunder. Was sonst? Jede Chachapoya-Familie mußte einen haben, wußten Sie das nicht?« Barrancas Gesicht wirkte grimmig. »Sie scheinen das manchmal sehr leicht zu nehmen, Senor Jones.«
»Ist denn etwas anderes sinnvoll?« Der Nebel kroch, quoll, krallte, schien die drei Männer zurückzudrängen. Indy starrte durch die Dämpfe, blickte auf den Tempeleingang, auf die vielfach verschlungenen, primitiven Wandfriese, die im Lauf der Jahrhunderte der Vegetation, dem Gewirr von Sträuchern, Laub und Ranken erlegen waren. Aber was ihn stärker bannte, war der dunkle Eingang selbst, rund und klaffend wie der Mund einer Leiche. Er dachte daran, wie Forrestal in diesen schwarzen Schlund getreten war, die Schwelle zu seinem Tod überschritten hatte. Der Arme. Barranca starrte ebenfalls auf den Eingang. »Wie können wir Ihnen vertrauen, Senor Jones? Noch nie ist jemand lebend herausgekommen. Weshalb sollten wir Ihnen unser Vertrauen schenken?« Indy lächelte den Peruaner an. »Barranca, Barranca - Sie müssen lernen, daß auch ein elender Gringo manchmal die Wahrheit sagt.« Er zog ein Stück zusammengefaltetes Pergament aus der Brusttasche. Er starrte auf die Gesichter der Peruaner. Ihre Mienen waren leicht durchschaubar. Indy fragte sich, welche Kehlen hatten durchschnitten werden müssen, damit diese beiden Schurken zu der anderen Hälfte des Planes gelangt waren. »Das sollte Ihre Frage beantworten, Barranca«, sagte er und breitete das Pergament am Boden aus. Satipo zog ein ähnliches Pergament aus der Tasche und legte es zu dem, das Indy vorgewiesen hatte. Die beiden Hälften paßten genau zusammen. Eine Zeitlang sagte keiner etwas; die Grenzschwelle war erreicht, das wußte Indy, und er wartete angespannt. »Also, Amigos«, sagte er schließlich. »Wir sind Partner. Unsere Wünsche decken sich gewissermaßen. Gemeinsam besitzen wir einen vollständigen Grundrißplan des Tempels. Wir haben das, was vor uns noch keiner hatte. Wenn wir nun davon ausgehen, daß diese Säule hier die Ecke bezeichnet -« Bevor er zu Ende sprechen konnte, sah er wie bei einem in Zeitlupe aufgenommenen Film, daß Barranca nach seiner Pistole griff. Er sah, wie die schmale braune Hand sich um den Griff der silbernen Waffe schloß - und handelte. Indiana Jones reagierte schneller, als der Peruaner erwarten konnte; blitzschnell, kaum verfolgbar, zuckte er von Barranca zurück, griff gleichzeitig unter den Rücken seiner Lederjacke und holte eine zusammengerollte Lederpeitsche hervor, den Griff fest umklammernd. Seine Bewegungen gingen fließend ineinander über, Muskeln und Haltung und Gleichgewicht waren in völligem Einklang, mühelos bildeten Arm und Peitsche eine Einheit, wie zusammengewachsen. Er schwang die Peitsche, ein Knall durchschnitt die Luft, die Peitschenschnur wickelte sich fest um Barrancas Handgelenk. Er riß heftig daran, und der Schuß krachte in den Boden. Einen Augenblick lang regte sich der Peruaner nicht. Er starrte Indy fassungslos an, mit einem Gemisch von Verwirrung, Schmerz und Haß, schien nicht begreifen zu können, daß er übertölpelt und gedemütigt worden war. Als die Peitschenschnur um sein Handgelenk sich lockerte, fuhr Barranca herum und stürzte davon, hinter den Indianern her in den Urwald. Indy drehte sich zu Satipo herum. Der Peruaner hob die Arme über den Kopf. »Senor, bitte«, sagte er, »ich wußte nichts, nichts von seinem Plan. Er war verrückt. Ein Verrückter. Bitte, Senor. Glauben Sie mir.« Indy starrte ihn kurz an, dann nickte er und hob die beiden Hälften des Planes auf. »Sie können die Hände herunternehmen, Satipo.« Der Peruaner wirkte erleichtert und ließ steif die Arme sinken. »Wir haben den Grundriß«, sagte Indy. »Worauf warten wir noch?« Und er ging auf den Tempeleingang zu. Der Geruch war der von Jahrhunderten, die festgehaltenen Gerüche von Jahren des Schweigens und der Dunkelheit, der Feuchtigkeit, die vom Urwald hereindrang, des Wucherns von Pflanzen. Wasser tropfte von der Decke, herausgluckernd aus dem dichten Moosbewuchs, der dort entstanden war. Im Korridor wisperte es von Nagetierkrallen. Und die Luft - die Luft war unerwartet kalt, unberührt von Sonnenlicht, für immer im Schatten. Indy ging vor Satipo und lauschte auf den Widerhall ihrer Schritte. Fremdartige Geräusche, dachte er. Eine Störung der Toten – und einen Augenblick lang faßte ihn das Gefühl an, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, wie ein Plünderer, ein Räuber, einer, der die Absicht hat, Dinge zu beschädigen, die zu lange ihren Frieden hatten. Er kannte das Gefühl gut, diese Empfindung, etwas Falsches, Unzulässiges zu tun. Er befaßte sich nicht gern damit. Es war ganz so, als hätte man bei einer sonst erfreulichen Abendgesellschaft mit einem überaus langweiligen Gast zu tun. Er betrachtete seinen Schatten, der vor der Stablampe in Satipos Hand dahinglitt. Der Korridor schlängelte und wand sich, führte tiefer in das Tempelinnere hinein. Immer wieder blieb Indy stehen und warf einen Blick auf den Plan, indem er ihn vor die Lampe hielt. Er bemühte sich darum, die Einzelheiten der ganzen Anlage in sein Gedächtnis zurückzurufen. Er wünschte sich etwas zu trinken, seine Kehle war trocken, seine Zunge angeschwollen - aber er wollte keine Unterbrechung zulassen. Er konnte in seinem Schädel eine Uhr ticken hören, und jedes Ticken sagte zu ihm: Du hast keine Zeit, du hast keine Zeit.... Die beiden Männer kamen an Simsen vorbei, die aus den Wänden herausgehauen worden waren. Hier und dort
blieb Indy stehen und betrachtete die Gegenstände, die auf den Simsen lagen. Er ging sie durch, legte manches zurück, steckte anderes ein. Kleine Münzen, winzige Medaillons, Tonscherben, so klein, daß er sie mitnehmen konnte. Er wußte, was wertvoll war und was nicht. Aber all das bedeutete nichts im Vergleich zu dem, worauf es ihm wirklich ankam - das Idol. Er beschleunigte seine Schritte, und der Peruaner eilte hinter ihm her, keuchend vor Anstrengung. Und plötzlich blieb Indy wie angewurzelt stehen. »Warum geht es nicht weiter?« fragte Satipo. Seine Stimme klang, als käme sie aus einem von Hitze versengten Brustkorb. Indy sagte nichts. Er blieb wie erstarrt stehen und atmete kaum. Satipo trat verwirrt einen Schritt auf Indy zu, wollte ihn am Arm berühren, hielt aber inne, und seine Hand blieb wie die einer Statue in der Luft hängen. Eine riesengroße schwarze Tarantel kroch mit aufreizender Langsamkeit an Indys Rücken empor. Indy konnte ihre Beine spüren, die sich der Nackenhaut entgegenschoben. Er wartete, eine Ewigkeit, wie ihm schien, bis er fühlen konnte, daß das grauenhafte Wesen sich auf seiner Schulter niederließ. Er war sich Satipos panischer Furcht bewußt, konnte spüren, wie es den anderen drängte, gellend aufzuschreien und davonzustürzen. Er wußte, daß er rasch handeln mußte, dabei aber unauffällig, damit Satipo nicht die Nerven verlor. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Indy zu seiner Schulter hinauf und schleuderte das Geschöpf in die Dunkelheit hinein. Erleichtert ging er weiter, aber dann hörte er Satipo ächzen, drehte sich um und sah, daß zwei andere Spinnen auf den Arm des Peruaners herabfielen. Im nächsten Augenblick zuckte Indys Peitsche aus dem Schatten heraus und riß die Wesen herunter auf den Boden. Er trat schnell auf die krabbelnden Spinnen und zerstampfte sie mit der Stiefelsohle. Satipo war aschfahl geworden und schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Indy griff nach ihm und hielt ihn am Arm fest, bis er sich erholt hatte. Dann zeigte der Archäologe den Korridor hinunter zu einem kleinen Raum vor ihnen, einer Kammer, die erhellt war durch einen einzelnen Sonnenstrahl, der durch ein Loch in der Decke hereinfiel. Die Taranteln waren vergessen; Indy wußte, daß andere Gefahren lauerten. »Genug, Senor«, stöhnte Satipo. »Kehren wir um.« Indy würdigte ihn keiner Antwort. Er hielt den Blick auf die Kammer gerichtet. Sein Gehirn arbeitete und rechnete, seine Einfallskraft half ihm, sich in die Gehirne der Wesen hineinzudenken, die vor so langer Zeit diesen Bau errichtet hatten. Sie mußten Wert darauf gelegt haben, die Schätze des Tempels zu schützen. Sie mußten Hindernisse und Fallen erwogen haben, um dafür zu sorgen, daß kein Fremder je in das Innerste des Tempels gelangte. Er trat näher heran, beherrscht von der instinktiven Vorsicht des Jägers, der im Wind Gefahr wittert, der Gefährdung spürt, bevor er Anzeichen dafür sehen kann. Er bückte sich, betastete den Boden, fand einen dicken Unkrautstengel, riß ihn heraus -hob den Arm und warf die Pflanze in die Kammer. Den Bruchteil einer Sekunde lang geschah nichts. Dann kam ein leise surrendes Geräusch, ein Knarren, und die Wände der Kammer schienen aufzubrechen wie riesige Kiefer, wie das Maul eines gigantischen Hais, und schnappten in der Mitte des kleinen Raumes krachend zusammen. Indiana Jones lächelte. Er wußte die Mühen der Tempelbauer, die Verschlagenheit dieser grauenhaften Falle zu schätzen. Der Peruaner fluchte halblaut vor sich hin und bekreuzigte sich. Indy wollte etwas sagen, als er an den mächtigen Zähnen des Steingebisses etwas stecken sah. Es kostete ihn nur einen Augenblick, um zu erkennen, was von dem scharfkantigen Metall dort zerschlitzt worden war. Forrestal. Halb Skelett, halb Mumie. Das Gesicht auf groteske Weise erhalten geblieben durch die Temperatur in der Kammer, die qualvolle Überraschung noch sichtbar, wie zur Warnung für jeden anderen festgeprägt, der den Wunsch haben mochte, den Raum zu betreten. Forrestal, durchbohrt an Brust und Lenden, schwarzgewordenes Blut am Buschkhaki, Todesflecken. Mein Gott, dachte Indy. Niemand hatte es verdient, so zugrunde zu gehen. Niemand. Trauer erfaßte ihn. Du bist da einfach hineingetappt, Freund. Du spieltest in einer viel zu hohen Klasse. Du hättest im Hörsaal bleiben sollen. Indy schloß kurz die Augen, dann trat er in die Kammer, zerrte die Überreste des Mannes von den spitzen Dornen und legte die Leiche auf den Boden. »Sie kannten diesen Menschen?« fragte Satipo. »Ja, ich kannte ihn.« Der Peruaner bekreuzigte sich wieder. »Ich glaube, wir sollten lieber nicht weitergehen, Senor.« »Sie werden sich von einer solchen Kleinigkeit doch nicht entmutigen lassen, wie?« Indy schwieg plötzlich. Er sah, wie die Metallspieße sich langsam zurückzogen und in die Wände glitten, aus denen sie gekommen waren. Er bestaunte die einfache Mechanik der Anlage - einfach und tödlich. Indy lächelte den Peruaner an und berührte kurz seine Schulter. Satipo schwitzte stark und zitterte am ganzen Körper. Indy trat in den Raum hinein, ein wachsames Auge auf die Dornen gerichtet, deren Spitzen in die Wände zurückklappten. Nach einiger Zeit folgte ihm der Peruaner, halblaut vor sich hin brummend. Sie durchquerten die Kammer und erreichten einen geraden Korridor von etwa fünfzehn Meter Länge. Am Ende des Ganges war eine Tür zu sehen, die erhellt war vom Sonnenlicht, das aus der Decke hereindrang.
»Wir sind ganz nah«, sagte Indy, »so nah.« Er studierte noch einmal den Plan und klappte ihn zusammen, nachdem er sich die Einzelheiten eingeprägt hatte. Er setzte sich nicht sofort in Bewegung. Seine Augen suchten die Umgebung nach weiteren Gefahren, nach zusätzlichen Fallen ab. »Es sieht ungefährlich aus«, meinte Satipo. »Genau das macht mir Angst, mein Freund.« »Es ist ungefährlich«, wiederholte der Peruaner. »Gehen wir.« Satipo, plötzlich von Eifer erfaßt, trat vor. Und erstarrte, als sein rechter Fuß im Boden versank. Er stürzte nach vorn und schrie gellend auf. Indy handelte sofort, packte den Peruaner am Gürtel und zog ihn heraus. Satipo sank erschöpft zu Boden. Indy blickte auf den Boden, in dem der Peruaner eingebrochen war. Spinnweben, ein vielfältig verschlungenes Gewebe von Spinnennetzen, uralt, darüber eine dicke Staubschicht, und das Ganze sah aus wie ein Boden. Er bückte sich, hob einen Stein auf und ließ ihn durch das Spinnengewebe fallen. Nichts, kein Geräusch, kein Aufprall war hörbar. »Geht weit hinunter«, murmelte Indy. Satipo, noch nicht wieder zu Atem gekommen, schwieg. Indy starrte über die Fläche der Spinnweben hinweg zur Tür. Wie hinüberkommen, die Grube überwinden, wenn es keinen Boden gab? »Ich glaube, jetzt kehren wir um, Senor«, sagte Satipo. »Ja?« »Nein«, widersprach Indy. »Ich glaube, wir gehen weiter.« »Wie? Mit Flügeln? Meinen Sie das?« »Man braucht keine Flügel, um zu fliegen, Freund.« Er zog die Peitsche heraus und starrte zur Decke hinauf. In das Dach waren verschiedene Balken eingelassen. Sie mögen durchgefault sein, dachte er, aber vielleicht sind sie auch noch kräftig genug, mein Gewicht zu tragen. Auf jeden Fall lohnte ein Versuch. Wenn er nicht erfolgreich war, würde Indy dem Idol adieu sagen müssen. Indy schwang die Peitsche hinauf, sah, wie die Schnur sich um einen Balken wickelte, zerrte daran und prüfte die Festigkeit. Satipo schüttelte den Kopf. »Nein, Sie sind verrückt!« »Wissen Sie etwas Besseres?« »Die Peitsche trägt uns nicht. Der Balken wird brechen.« »Immer diese Pessimisten«, sagte Indy. »Immer die Ungläubigen. Vertrauen Sie ruhig auf mich. Tun Sie einfach, was ich mache, ja?« Indy umklammerte den Peitschengriff mit beiden Händen, zerrte noch einmal daran, dann schwang er sich langsam durch die Luft, war sich dabei ständig des trügerischen Bodens unter sich bewußt, der Dunkelheit des Schachtes, der unter den Schichten von Spinnweben und Staub tief hinabreichte, der Möglichkeit, daß der Deckenbalken brechen, die Peitschenschnur sich lösen konnte, und ... Aber er hatte kaum Zeit, an diese Dinge zu denken. Er flog durch die Luft, den Peitschenstiel umklammernd, spürte den Wind an seinem Gesicht. Er flog, bis er sicher war, den Rand des Schachtes hinter sich zu haben, um dann herabzuspringen und auf festem Boden zu landen. Er ließ die Peitsche über den Abgrund zu dem Peruaner zurückschwingen. Satipo murmelte etwas auf spanisch, vielleicht ein Stoßgebet. Indy fragte sich nebenbei, ob es in den Gewölben des Vatikans irgendwo einen Schutzheiligen für jene geben mochte, die Gelegenheit hatten, sich einer Peitsche als Beförderungsmittel zu bedienen. Er verfolgte, wie der Peruaner neben ihm hochkam. »Hab' ich doch gesagt, nicht? Besser als mit dem Bus.« Satipo erwiderte nichts. Selbst im Halbdunkel konnte Indy aber erkennen, daß sein Gesicht kalkweiß war. Indy zwängte den Peitschenstiel in einen Riß der Wand. »Für den Rückweg«, sagte er. »Ich halte nichts von Einbahnstraßen, Satipo.« Der Peruaner zog die Schultern hoch, als sie durch den sonnenbeschienenen Eingang in einen großen Kuppelsaal traten. In der Decke gab es Oberlichter, durch die breite Sonnenstrahlen auf den schwarzweiß gefliesten Boden fielen. Und plötzlich entdeckte Indy auf der anderen Seite des Raumes etwas, das ihm den Atem nahm, ihn mit tiefer Ehrfurcht erfüllte, eine Hochstimmung erzeugte, die er kaum zu fassen vermochte. Das Idol. Auf einer Art Altar stehend, zugleich zornig-wild und wunderschön, im Licht der Lampe goldglitzernd, schimmernd im Sonnenlicht, das durch die Decke hereindrang - das Idol. Das Idol der Chachapoya-Krieger. Was er dann empfand, war die Erregung einer überwältigenden Begierde, der Wunsch, durch den Saal zu stürmen und diese Schönheit zu berühren - eine Schönheit, umgeben von Hindernissen und Fallen. Welche Art von Falle war für den Schluß aufgehoben worden? Welche Falle umgab das Götzenbild selbst? »Ich gehe hin«, sagte er. Der Peruaner hatte die Figur ebenfalls entdeckt und blieb stumm. Er starrte das Götzenbild mit einem Ausdruck der Gier an, der verriet, daß nichts anderes mehr zählte, als diesen Schatz, als diese Beute in die Hände zu bekommen. Indy beobachtete ihn kurz und dachte: Jetzt hat er das Idol gesehen. Er kennt seine Schönheit. Man darf ihm nicht mehr trauen. Satipo wollte über die Schwelle treten, aber Indy hielt ihn zurück. »Denken Sie an Forrestal«, sagte er.
»Immer.« Indy starrte über das komplizierte Muster der schwarzen und weißen Fliesen hinweg, bestaunte die Präzision der Anordnung und die makellose Ausführung. Neben der Tür steckten zwei uralte Fackeln in verrosteten Halterungen aus Metall. Er griff hinauf, zog eine heraus, versuchte sich das Gesicht des letzten Menschen vorzustellen, der eben diese Fackel in der Hand gehalten haben mochte, dachte an die Zeitspanne - immer wieder blieb er fassungslos vor den Dingen, die so viele Jahrhunderte überdauert hatten. Er zündete die Fackel an, warf einen Blick auf Satipo, beugte sich vor und stieß mit dem anderen Ende der Fackel auf eine der weißen Fliesen. Er klopfte mehrmals darauf. Fest. Kein Widerhall, kein Vibrieren. Sehr fest. Er klopfte auf eine der schwarzen Platten. Es passierte, bevor er die Hand zurückziehen konnte. Ein Geräusch, als schnelle etwas durch die Luft, pfeifend schnell, dann fetzte ein kleiner Pfeil in den Schaft seiner Fackel. Er zog die Hand zurück. Satipo stieß den Atem aus und zeigte in den Saal hinein. »Er kam von dort«, sagte er. »Sehen Sie das Loch dort? Von dort kam der Pfeil.« »Ich sehe Hunderte von Löchern«, gab Indy zurück. Die Wände waren übersät mit schattenhaften Vertiefungen, von denen jede einen Pfeil enthalten mußte. Sobald man eine schwarze Fliese betrat oder darauf drückte, wurde eines der Geschosse abgefeuert. »Bleiben Sie hier, Satipo.« Der Peruaner drehte langsam den Kopf. »Wenn Sie darauf bestehen.« Indy trat, die lodernde Fackel in der Hand, vorsichtig in den Saal, mied die schwarzen Platten, stieg über sie hinweg, um die ungefährlichen weißen Platten zu erreichen. Er nahm seinen Schatten wahr, den der Fackelschein an die Wände warf, war sich der todbringenden Löcher bewußt, die man im Halbdunkel undeutlich erkennen konnte. Aber es war doch vor allem die Götzenfigur, die seine Aufmerksamkeit beanspruchte, deren unendliche Schönheit immer deutlicher wurde, je näher er herankam, das hypnotisierende Glitzern, der rätselhafte Ausdruck des Gesichts. Seltsam, dachte er, fünfzehn Zentimeter hoch, zweitausend Jahre alt, ein Klumpen Gold mit einem Gesicht, das man kaum schön nennen konnte - seltsam, daß Menschen darüber den Verstand verloren, daß sie dafür töteten. Und trotzdem hielt ihn das Bildwerk in seinem Bann, so daß er den Blick abwenden mußte. Konzentriere dich auf die Bodenfliesen, ermahnte er sich. Nur darauf. Auf nichts sonst. Laß deinen Instinkt hier nicht betäuben. Vor ihm auf einer weißen Platte, durchbohrt von Pfeilen, lag ein kleiner, toter Vogel. Er starrte ihn an, innerlich aufgewühlt, ergriffen von der Erkenntnis, daß die Tempelbauer, die Erfinder dieser Fallen, zu raffiniert gewesen sein würden, um allein die schwarzen Fliesen als Auslöser der tödlichen Pfeile zu verwenden. Wie ein Joker in einem Kartenspiel würde mindestens eine weiße Fliese ebenfalls todbringend sein. Mindestens eine. Und wenn es mehrere gab? Er zögerte, spürte, wie der Schweiß an ihm herunterrann, fühlte die Wärme des Sonnenscheins auf seinem Kopf, die Hitze der Fackelflammen an seinem Gesicht. Vorsichtig stieg er über den toten Vogel hinweg und starrte auf die weißen Platten, die zwischen ihm und dem Götzenbild lagen, als sei jede einzelne sein persönlicher Feind. Manchmal ist Vorsicht nicht genug, dachte er. Manchmal erringt man den Preis nicht, wenn man zögert, wenn man das letzte Risiko scheut. Vorsicht muß sich mit Einsatz verbinden - aber man muß wissen, daß man erträgliche Aussichten hat. Das Idol lockte ihn an. Es ließ ihn nicht los. Und hinter sich fühlte er Satipo, der vom Eingang aus zuschaute, ohne Zweifel Pläne schmiedend. Tu es, sagte er zu sich selbst. Was soll sein? Tu es, zum Teufel noch mal, was bringt die Vorsicht? Er bewegte sich mit der Anmut eines Tänzers. Er war unterwegs mit der eigenartigen Eleganz eines Mannes, der sich zwisehen Rasierklingen dahinschlängelt. Jede Fliese war jetzt möglicherweise eine Tretmine, ein Schritt konnte den Tod bedeuten. Er schob sich vorwärts und stieg über die schwarzen Platten, wartete darauf, daß sein Gewicht den Mechanismus auslöste, der die Pfeile in Schwärmen durch die Luft schnellen ließ. Dann war er näher an dem Altaraufsatz, an der Figur. An der Beute. Am Triumph. Und an der allerletzten Falle. Wieder blieb er stehen. Sein Herz hieb wuchtig an die Rippen, sein Pulsschlag dröhnte, in seinen Adern sengte das Blut. Schweiß tropfte von seiner Stirn und rann über seine Lider, machte ihn blind. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg. Nur wenige Meter, dachte er. Wenige Meter. Und wenige Fliesen. Er hob nacheinander die Füße und setzte sie vorsichtig wieder auf. Wenn er je auf vollkommenes Gleichgewicht angewiesen gewesen war, dann jetzt. Das Götzenbild schien ihm zu winken, ihn zu rufen. Noch ein Schritt. Und noch einer. Er hob das rechte Bein, berührte die letzte weiße Platte vor dem Altar. Er war am Ziel. Er hatte es geschafft. Er zog eine Hüftflasche heraus, schraubte den Verschluß ab und trank in großen Zügen. Das hast du dir verdient, dachte er. Er steckte die kleine Flasche wieder ein und starrte das Idol an. Die letzte Falle. Worin konnte sie bestehen? Die letzte und größte Gefahr. Er überlegte lange, versuchte sich in die Gedanken jener Menschen hineinzuversetzen, die dieses Bauwerk
geschaffen und die Abwehranlagen ersonnen hatten. Nun gut, es kommt einer, der das Götzenbild mitnimmt, also muß es hochgehoben werden, man muß es von der dicken Platte aus poliertem Stein heben und an sich nehmen. Was dann? Irgendein Mechanismus unter der Figur reagiert auf die Entlastung, und das löst - was aus? Noch mehr Pfeile? Nein, gewiß etwas noch Gefährlicheres. Etwas noch Tödlicheres. Er strengte sein Gehirn an, dachte fieberhaft nach, alle Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Er beugte sich vor und blickte am Sockel des Altars vorbei. Da lagen Steinsplitter, Schmutz, Kies, angesammelt seit Jahrhunderten. Vielleicht, dachte er. Es könnte sein. Er zog einen kleinen, verschnürten Beutel aus der Tasche, öffnete ihn, schüttete die Münzen heraus, die er enthielt, und begann den Beutel mit Erde und Steinen zu füllen. Er wog ihn eine Weile in der Hand. Vielleicht, dachte er noch einmal. Wenn du schnell genug bist. Du könntest es mit einer Schnelligkeit schaffen, auf die der Mechanismus nicht eingerichtet ist. Wenn es wirklich eine solche Falle war. Wenn, wenn, wenn. Zu viele Hypothesen. Er wußte, daß er unter anderen Umständen einfach weggegangen wäre, um die Konsequenzen so vieler Unwägbarkeiten zu vermeiden. Aber nicht jetzt, nicht hier. Er stand hoch aufgerichtet da, wog wieder den Beutel in der Hand, fragte sich, ob er wirklich soviel wog wie die Figur, hoffte es. Dann handelte er blitzschnell, riß das Idol an sich, warf den Beutel an die Stelle, wo die Figur gestanden war, mitten auf die Steinplatte. Nichts. Einen langen Augenblick nichts. Er starrte auf den Beutel, dann auf die Figur in seiner Hand, und auf einmal nahm er ein fremdartiges fernes Geräusch wahr, ein Grollen wie von einer riesigen Maschine, die sich in Bewegung setzte, als erwache etwas aus langem Schlaf, um brüllend, zerfetzend und zermalmend durch den Tempel zu fahren. Der Sockel aus poliertem Stein sackte plötzlich hinab - fünfzehn Zentimeter, zwanzig. Dann wurde der Lärm stärker, ohrenbetäubend, und alles begann zu schwanken und zu zittern, als brächen die Fundamente des ganzen Bauwerks zusammen, als platzten sie auseinander, klafften sie, während Ziegel und Holz splitterten und barsten. Er fuhr herum und lief, so schnell er konnte, über die Fliesen zurück, auf den Eingang zu. Und noch immer verstärkte sich der Lärm wie verzweifelter Donner, rollte und hallte durch die alten Gänge und Räume und Kammern. Er sprang auf Satipo zu, der unter der Tür stand, das Gesicht von purem Entsetzen gezeichnet. Nun bebte alles, der Bau war in Bewegung, Mauerwerk brach, Wände stürzten ein, alles zerfiel. Als Indy die Tür erreichte, drehte er sich um und sah einen Steinblock auf den Fliesenboden fallen und die Pfeile auslösen, die zu Tausenden ziellos durch den zusammenstürzenden Saal schwirrten. Satipo war schwer atmend zu der Peitsche getreten und schwang sich über die Grube hinweg. Als er auf der anderen Seite stand, sah er Indy kurz an. Wußte doch, daß es kommen wird, dachte Indy. Ich habe es gefühlt, ich habe es gewußt, und jetzt wird es geschehen, was kann ich tun? Er sah, wie Satipo die Peitsche vom Dachbalken herunterholte und in der Hand zusammenrollte. »Ein Geschäft, Senor. Ein Austausch. Das Idol gegen die Peitsche. Sie werfen mir die Figur zu, ich Ihnen die Peitsche.« Indy lauschte dem zerstörerischen Bersten und Krachen hinter sich und behielt Satipo im Auge. »Was für eine Wahl haben Sie, Senor Jones?« fragte Satipo. »Was ist, wenn ich die Figur in den Abgrund werfe, mein Freund? Dann haben Sie für Ihre ganze Mühe eine Lederpeitsche, nicht?« »Und was haben Sie für Ihre Mühe, Senor?« Indy zog die Schultern hoch. Der Lärm hinter ihm nahm immer noch zu; Indy konnte spüren, wie der ganze Tempel bebte und der Boden zu schwanken begann. Das Idol, dachte er - er konnte die Figur nicht einfach in den Abgrund fallen lassen. »Also gut, Satipo. Die Figur für die Peitsche.« Und er warf das Idol dem Peruaner zu. Er verfolgte, wie Satipo die Figur auffing, sie in die Tasche stopfte und die Peitsche auf den Boden fallen ließ. Der Peruaner lächelte. »Es tut mir ehrlich leid, Senor Jones. Adios. Und viel Glück.« »Ihnen kann es nicht mehr leid tun als mir!« schrie Indy, als er den Peruaner im Korridor verschwinden sah. Das ganze Gebäude begann heftig zu schwanken, wie eine rachsüchtige Urwald-Gottheit. Er hörte, wie Mauerwerk herabstürzte und Säulen brachen. Der Fluch des Idols, dachte er. Eine Sondervorstellung im Kino, ein Film, den die Kinder an Samstagnachmittagen in dunklen Filmtheatern erregt und mit Schaudern verfolgten. Es gab nur eines - eine einzige Möglichkeit, keine Alternative. Du mußt springen, sagte er sich. Du mußt alles auf eine Karte setzen und über den Schacht hinwegspringen, in der Hoffnung, daß die Schwerkraft auf deiner Seite ist. Hinter dir bricht die Hölle los, vor dir liegt ein bodenloser Abgrund. Also springst du, du fliegst in die Dunkelheit hinein und hältst dir selbst dabei die Daumen. Spring! Er holte tief Luft, warf sich hinaus in die Leere über dem Schacht, mit aller Kraft, die er aufbrachte, hörte dem
Sausen der Luft zu, während er flog. Er hätte gebetet, wenn er dazu imstande gewesen wäre, gebetet darum, nicht von dem schwarzen Nichts unter ihm verschlungen zu werden. Nun fiel er herab. Der Schwung war verbraucht. Er stürzte. Er hoffte, daß er auf den anderen Schachtrand hinabstürzte. Aber das tat er nicht. Er konnte die Dunkelheit fühlen, muffig und feucht, spürte, wie sie von unten heraufschoß, und er riß die Hände hoch, suchte nach etwas, an dem er sich festhalten konnte, an irgendeiner Kante, irgend etwas. Er spürte, wie seine Fingerspitzen sich in den Schachtrand gruben, in die bröckelnde Kante, und versuchte sich hochzuziehen, während der Rand weich wurde und nachgab und gelockerte Steine in den Abgrund hinabfielen. Er schwang die Beine, krallte sich mit den Händen fest, warf sich wie ein gestrandeter Fisch hoch, um hinauf-, hinauszukommen, zu packen, was immer jetzt Sicherheit zu geben versprach. Alle Muskeln angespannt, ächzend, mit den Füßen an der Innenwand der Grube scharrend, versuchte er hochzukommen. Er durfte den hinterlistigen Peruaner mit dem Götzenbild nicht entkommen lassen. Er schwang wieder die Beine, strampelte, suchte nach einem Hebel, der ihm helfen würde, aus dem Schacht hinaufzusteigen, nach irgend etwas, egal, was es war, das spielte keine Rolle. Und die ganze Zeit über brach der Tempel auseinander wie eine armselige Strohhütte in einem Orkan. Er stöhnte, grub die Finger tiefer in die Erde über ihm, strengte sich an, bis seine Muskeln zu zerreißen und die Blutgefäße zu platzen drohten, zog sich hoch, während er hörte, daß seine Fingernägel unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben und abbrachen. Fester, dachte er. Streng dich mehr an. Er setzte seine letzten Kräfte ein, blind vor Schweiß, mit vibrierenden Nerven. Irgend etwas muß nachgeben, dachte er. Irgend etwas reißt, dann wirst du bald wissen, was am Schachtboden ist. Er legte eine Pause ein, versuchte Kräfte zu sammeln, seine nachlassende Energie zusammenzuraffen, zog sich erneut Millimeter um Millimeter hoch. Endlich vermochte er das Bein über den Rand zu schwingen, sich über die Kante hinweg auf die relative Sicherheit des Bodens zu schieben – auf einen Boden aber, der schwankte und jeden Augenblick auseinanderzubersten drohte. Er stand unsicher auf und blickte in die Richtung, in der Satipo verschwunden war. Er war zu dem Raum gelaufen, wo sie Forre-stals Überreste entdeckt hatten. Die Kammer mit den Stahlkiefern. Die Folterkammer. Und plötzlich wußte Indy, was mit dem Peruaner geschehen würde, er kannte sein Schicksal plötzlich genau, bevor er noch das grauenhafte Klirren der spitzen Stangen hörte, bevor der Entsetzensschrei Satipos durch den Gang gellte. Er lauschte, griff nach seiner Peitsche und lief zur Kammer. Satipo hing an einer Seite, aufgespießt wie ein Falter von grotesker Größe in der Sammlung eines Wahnsinnigen. »Adios, Satipo«, sagte Indy, zog die goldene Figur aus der Tasche des Toten, zwängte sich an den Dornen vorbei und stürzte durch den Korridor hinter der Kammer. Vor sich sah er den Ausgang, das Licht an der Öffnung, das dichte Laub der Bäume dahinter. Und noch immer nahm das Grollen zu, schien seine Ohren zu sprengen, seine Knochen durchzuschütteln. Er drehte sich um und sah einen riesigen Felsblock durch den Korridor auf sich zurollen und immer schneller dahinrasen. Die letzte Falle, dachte er. Selbst wenn man in den Tempel gelangte, selbst wenn man alles überlebte, was an Gefahren lauerte, sollte man nicht lebendig davonkommen. Er raste weiter. Er hetzte wie ein Wahnsinniger zum Ausgang, während der gigantische Steinblock durch den Korridor donnerte. Er warf sich der Lichtöffnung entgegen und hechtete hinaus ins hohe Gras, gerade als der Steinblock an den Ausgang krachte und ihn für immer versperrte. Erschöpft und außer Atem blieb er auf dem Rücken liegen. Zu knapp, dachte er. Zu knapp, als daß man einen Trost darin finden könnte. Er wollte schlafen. Er wollte nichts anderes als die Gelegenheit haben, die Augen zu schließen und sich in die Dunkelheit tragen zu lassen, die Ruhe bringt, traumlose, tiefe Erleichterung. Du hättest dort tausend Tode sterben können, dachte er. Du hättest mehr Tode sterben können, als in einem ganzen Leben unterzubringen sind. Dann lächelte er, setzte sich auf und drehte die Figur in seinen Händen hin und her. Aber es hat sich gelohnt, sagte er sich. Das Ganze hat sich gelohnt. Er starrte die goldene Figur an. Er war immer noch in ihren Anblick vertieft, als ein Schatten auf ihn fiel. Sein Kopf zuckte hoch. Er kniff die Augen zusammen und starrte hinauf. Zwei Hovito-Krieger blickten auf ihn hinab, ihre Gesichter waren mit den grellen Farben der Kriegsbemalung beschmiert, die langen Bambus-Blasrohre hatten sie wie Speere erhoben. Aber es war nicht die Anwesenheit der Indianer, die ihn jetzt beunruhigte, sondern der Anblick des weißen Mannes, der zwischen ihnen stand. Er trug Safarikleidung und einen Tropenhelm. Indy sagte lange Zeit nichts. Der Mann mit dem Tropenhelm lächelte, und sein Lächeln war eiskalt und tödlich. »Belloq«, sagte Indy. Von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet Belloq. Indy löste den Blick kurz vom Gesicht des Franzosen und starrte auf die Figur in seiner Hand, dann sah er an Belloq vorbei zu den Bäumen hinüber, wo an die dreißig Hovito-Indianer in einer Reihe nebeneinanderstanden.
Neben den Indianern stand Barranca, ein einfältiges, habgieriges Lächeln auf dem Gesicht, Ein Lächeln, das langsam der Verwirrung Platz machte, aus der dann ganz rasch ein starrer, leerer Ausdruck wurde, den Indy als Ankündigung des Todes erkannte. Die Indianer zu beiden Seiten des Peruaners ließen seine Arme los, und Barranca stürzte auf das Gesicht. In seinem Rücken steckten viele Pfeile. »Mein lieber Doktor Jones«, sagte Belloq. »Sie haben ein Talent, sich die falschen Freunde auszusuchen.« Indy sagte nichts. Er sah zu, wie Belloq die Hand ausstreckte und die Figur an sich nahm. Belloq betrachtete das Stück eine Weile genießerisch, drehte es hin und her und streichelte es zärtlich. Dann nickte er knapp, als wolle er eine unpassende Höflichkeit an den Tag legen. »Sie mögen angenommen haben, daß ich aufgegeben hätte. Aber wir stellen wieder einmal fest, daß es nichts gibt, was Sie besitzen können, ohne daß ich es Ihnen wegzunehmen vermag.« Indy schaute zu den Indianern hinüber. »Und die Hovitos erwarten, daß Sie ihnen die Figur übergeben?« »Gewiß«, antwortete Belloq. Indy lachte. »Naiv von ihnen.« »Sie sagen es«, gab Belloq zurück. »Wenn Sie nur ihre Sprache sprechen könnten, nicht wahr? Dann wären Sie natürlich in der Lage, ihnen zu erklären, wie es sich in Wirklichkeit verhält.« »Natürlich«, sagte Indy. Er sah zu, als Belloq sich den versammelten Kriegern zuwandte und das Idol hochhob. Wie auf Befehl, alle gemeinsam, so, als sei es einstudiert und lange geübt, legten die Indianer sich mit den Gesichtern nach unten auf den Boden. Ein Augenblick völliger Stille trat ein, ein solcher von primitiver Götterfurcht. Unter anderen Umständen wäre ich so beeindruckt, daß ich bleiben würde, um zuzusehen, dachte Indy. Unter anderen Umständen, aber nicht jetzt. Er schob sich langsam auf die Knie, blickte auf den Rücken Belloqs, schaute kurz zu den auf dem Boden liegenden Indianern hinüber - dann war er aufgesprungen und rannte auf die Bäume zu, wartete auf den Augenblick, in dem die Indianer aufstehen mußten und die Luft erfüllt sein würde vom Schwirren der Pfeile aus den Blasrohren. Er stürzte in den Wald, als er Belloqs Aufschrei hinter sich hörte, brüllend in einer Sprache, die gewiß die der Hovitos war, dann hetzte er durch das Unterholz, zurück zum Fluß und dem Wasserflugzeug. Lauf. Lauf, auch wenn du keine Kraft mehr im Leib hast. Hol die letzten Reserven heraus. Laufen sollst du! Dann hörte er die Pfeile. Er hörte sie durch die Luft fliegen, surren, pfeifen, eine Melodie des Todes. Er lief im Zickzack weiter, schlängelte sich durch das Dickicht, so schnell er konnte. Hinter sich hörte er Äste knacken und brechen, hörte, wie Ranken zerteilt wurden, als die Indianer ihn verfolgten. Er fühlte sich auf einmal von seinem Körper völlig losgelöst; er war über das Bewußtsein seines eigenen Körpers hinausgelangt, über die absurden Forderungen von Muskeln und Sehnen, trieb sich vorwärts auf eine Weise, die völlig automatisch war, eine Sache der Urreflexe. Er hörte gelegentlich einen Pfeil in einen Baumstamm klatschen, vernahm das erschrockene Flattern von Urwaldvögeln, die sich aus dem Geäst erhoben, das Quietschen von Tieren, die vor den anstürmenden Indianern davonstoben. Lauf, dachte er immer wieder. Lauf, bis du nicht mehr laufen kannst, und lauf dann noch ein Stück weiter. Denk nicht. Bleib nicht stehen. Belloq, dachte er. Meine Zeit wird kommen. Wenn ich das hier überstehe. Laufen - er wußte nicht, wie lange. Das Tageslicht verblaßte schon. Er blieb stehen, schaute hinauf zum dünnen Licht über den dichten Bäumen, dann stürmte er in Richtung des Flusses weiter. Was er jetzt mehr als alles andere hören wollte, war das lebenswichtige Geräusch rauschenden Wassers, was er sehen wollte, war das Flugzeug, das auf ihn wartete. Er warf sich herum und lief durch die Lichtung, zeitweise ungedeckt. Einen Augenblick lang wirkte die Lichtung, das Fehlen der Bäume, bedrohlich, die plötzliche Stille vor dem Abend beunruhigend. Dann hörte er die Schreie der Hovitos, und die Lichtung erschien ihm als schwarzer Mittelpunkt einer bizarren Schießscheibe. Er fuhr herum, sah Gestalten, hörte ein Sausen, als zwei Speere an ihm vorbeizischten - dann rannte er weiter, dem Fluß entgegen. Während er lief, dachte er: Sie bringen dir beim Archäologie-Seminar 101 keine Überlebensfähigkeiten bei, sie liefern keine Handbücher für das Überleben, während sie dich die Methodik der Ausgrabung lehren. Und ganz gewiß warnen sie dich nicht vor der Hinterlist eines Franzosen namens Belloq. Er blieb wieder stehen und lauschte den Geräuschen der Indianer hinter sich. Er nahm ein anderes Geräusch wahr, eines, das ihn mit Freude erfüllte, das ihn in Verzückung geraten ließ: das Rauschen von schnellströmendem Wasser, das Schwanken von Schilf. Der Fluß! Wie weit konnte er noch entfernt sein? Indy lauschte wieder, um Gewißheit zu erlangen, dann eilte er dorthin, wo die Geräusche herkamen. Er war von neuer Energie erfüllt, die Batterien waren wieder aufgeladen. Schneller jetzt, kraftvoller und schneller. Durch das Dickicht stürzen, das dich peitscht, auf die Kratz- und Schnittwunden nicht achten. Schneller und schneller. Das Geräusch wurde deutlicher. Das strömende Wasser.
Er stürzte zwischen den Bäumen heraus. Da! Unten an der Böschung, hinter dem dichtbewachsenen Ufer, der feindseligen Vegetation - der Fluß. Der Fluß und das Wasserflugzeug, auf dem Wasser tanzend. Er hätte sich nichts Herrlicheres vorstellen können. Er lief die Böschung entlang und begriff, daß es keinen mühelosen Weg durch die Vegetation hinunter zum Flugzeug gab. Es blieb auch keine Zeit, einen zu suchen. Du mußt am Ufer hinauf zu der Stelle, wo eine steile Klippe das Wasser überragt, und springen. Springen, dachte er. Na und? Was ist schon ein Sprung mehr? Er kletterte, während er unten einen Mann wahrnahm, der tief unten auf einer Tragfläche der Maschine saß. Indy erreichte eine Stelle fast genau über dem Flugzeug, starrte kurz hinunter, dann schloß er die Augen und trat ins Leere. Er prallte nicht weit von der Tragfläche entfernt in das laue Wasser, tauchte unter, als die Strömung ihn mitriß, schoß blindlings hoch und schwamm auf das Flugzeug zu. Der Mann auf der Tragfläche stand auf, als Indy eine Verstrebung packte und sich hochzog. »Starten, Jock!« schrie Indy. »Sofort! Nichts wie weg hier!« Jock hastete über die Tragfläche und kletterte in die Kanzel, während Indy atemlos auf den Passagiersitz stürzte und zusammensank. Er schloß die Augen und lauschte dem Brummen der Motoren, als das Flugzeug über den Fluß glitt. »Ich hatte nicht erwartet, daß Sie so plötzlich hereinschneien«, meinte Jock. »Sparen Sie sich die Witze, ja?« »Ärger, Kumpel?« Indy hätte am liebsten gelacht. »Bei Gelegenheit muß ich Ihnen das erzählen.« Er lehnte sich zurück und machte wieder die Augen zu, in der Hoffnung, Schlaf zu finden. Dann begriff er, daß das Flugzeug nicht abhob. Er setzte sich auf und beugte sich vor. »Abgesoffen«, sagte Jock. »Abgesoffen? Wieso?« Jock grinste. »Ich fliege das Ding nur. Die Leute haben immer den komischen Eindruck, daß alle Schotten große Mechaniker wären, Indy.« Durch das Fenster konnte Indy sehen, wie die Hovito-Indianer an einer seichten Stelle in den Fluß hineinwateten. Zehn Meter, noch sieben. Sie glichen grotesken Geistern vom Flußbett, die emporgestiegen waren, um irgendeinen Verstoß zu rächen. Sie hoben die Arme; ein Schwärm Speere flog auf den Rumpf der Maschine zu. »Jock...« »Ich bemühe mich ja, Indy. Ich bemühe mich.« »Ich finde, Sie sollten sich mehr anstrengen«, sagte Indy ruhig. Die Speere trafen das Flugzeug, klapperten auf die Tragflächen, prallten wie Hagelkörner an den Rumpf. »Ich hab's«, sagte Jock. Die Motoren sprangen stockend an, gerade als zwei von den Indianern zu einer Tragfläche geschwommen waren und daran hochkletterten. »Läuft schon«, sagte Jock. »Geht schon los.« Das Flugzeug setzte sich wieder in Bewegung, rauschte auf dem Fluß dahin und begann sich dann mühsam zu erheben. Indy sah, wie die beiden Indianer das Gleichgewicht verloren und gleich unheimlichen Urwaldgeschöpfen ins Wasser stürzten. Das Flugzeug stieg über die Baumwipfel empor, der Abwind schüttelte die Äste und trieb entsetzte Vögel in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hinaus. Indy lachte und schloß die Augen. »Dachte schon, Sie schaffen es nicht«, meinte Jock. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll.« »Ich hatte nie Zweifel«, gab Indy zurück und lächelte. »Erholen Sie sich. Schlafen Sie. Vergessen Sie den Drecks-Urwald.« Indy döste einen Augenblick. Ruhe. Die Muskeln entspannen. Ein gutes Gefühl. Er hätte sich ihm lange überlassen können. Dann glitt etwas über seinen Oberschenkel. Langsam und schwer. Er öffnete die Augen und sah eine Königsschlange, die sich bedrohlich um seinen Schenkel ringelte. Er fuhr hoch. »Jock!« Der Pilot schaute um und lächelte. »Der tut Ihnen nichts, Indy. Das ist Reggie. Er tut keinem Menschen was.«
»Tun Sie das Ding weg, Jock.« Der Pilot griff nach hinten, streichelte die Schlange und zog sie zu sich in die Kanzel. Indy sah der Schlange nach, als sie davon-glitt. Ein alter Abscheu, unerklärlicher Schrecken. Bei manchen Menschen waren es die Spinnen, bei anderen Ratten, manche fürchteten sich vor geschlossenen Räumen. Bei ihm waren es Anblick und Berührung einer Schlange. Er rieb sich die Stirn, auf der wieder Schweißtropfen standen, und fröstelte plötzlich, als die nasse Kleidung an seinem Körper kühl wurde. »Behalten Sie sie bei sich«, sagte er. »Ich mag Schlangen nicht.« »Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis«, erwiderte Jock. »Die meisten Schlangen sind netter als die meisten Menschen.« »Glaube ich Ihnen«, sagte Indy. »Aber halten Sie das Ding von mir fern.« Du glaubst, du bist in Sicherheit, dachte er, und auf einmal - eine Boa am Bein. Gehört wohl alles dazu. Er schaute eine Weile zum Fenster hinaus und sah, wie die Dunkelheit sich mit unergründlicher Gewißheit über den riesigen Urwald senkte. Du kannst deine Geheimnisse behalten, dachte Indy. Die kannst du allesamt behalten. Bevor er einschlief, eingelullt vom Brummen der Motoren, hing er noch dem hoffnungsvollen Gedanken nach, es möge nicht allzulange dauern, bis seine Wege sich mit denen des Franzosen wieder kreuzten.
Berlin In einem Büro in der Wilhelmstraße saß ein Offizier in der schwarzen SS-Uniform an einem Schreibtisch -ein Mann namens Eidel. Er starrte auf die Aktenstapel, die vor ihm lagen. Dem Besucher Eidels, der Dietrich hieß, war klar, daß der kleine Mann die Aktenstöße als Ausgleich brauchte. Er kam sich damit groß und wichtig vor. Es ist heutzutage überall so, dachte Dietrich. Man beurteilt einen Mann und seinen Wert nach dem Berg von Papierkram, den er aufhäufen kann, nach der Zahl der Gummistempel, die er benützen darf. Dietrich, der sich als aktiven Menschen betrachtete, seufzte innerlich und blickte zum Fenster, an dem eine hellbraune Jalousie herabgelassen worden war. Er wartete darauf, daß Eidel das Wort ergriff, aber der SS-Offizier schwieg schon geraume Zeit, so, als sollte sogar sein Schweigen etwas von dem vermitteln, was er als seine eigene Bedeutsamkeit betrachtete. Dietrich blickte auf das Führerbild an der Wand. Wenn man es genau nahm, kam es gar nicht darauf an, was man von Leuten wie Eidel hielt - schlaff, ein Schreibtischhocker, gespreizt, in armselige Büros eingesperrt -, weil Eidel zu Hitler direkten Zugang hatte. Man hörte sich also das an, was er zu sagen hatte, und man lächelte dazu, und man gab sich so, als sei man geringeren Ranges. Schließlich gehörte Eidel zum engsten Kreis des Führers, zur Leibstandarte. Eidel fuhr mit den Händen über seine Uniform, die frisch gewaschen und gebügelt zu sein schien. »Ich hoffe, ich habe Ihnen die Bedeutung dieser Sache klargemacht, Oberst.« Dietrich nickte. Er war ungeduldig. Er haßte Büros. Eidel stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen wie ein U- Bahn-Fahrgast nach einem Haltegriff, von dem er weiß, daßer zu weit entfernt ist; dann ging er zum Fenster. »Der Führer wünscht, daß dieser Gegenstand beschafft wird. Und wenn er einen Wunsch ausspricht, versteht sich ...« Eidel verstummte, drehte sich um und starrte Dietrich an. Er gestikulierte mit den Händen, um anzudeuten, daß das, was durch den Kopf des Führers ging, für geringere Sterbliche ohnehin unbegreiflich sei. »Ich verstehe«, sagte Dietrich und trommelte mit den Fingern auf seinen Aktenkoffer. »Die religiöse Bedeutung ist von Wichtigkeit«, fuhr Eidel fort. »Selbstverständlich ist es nicht so, daß der Führer ein besonderes Interesse an jüdischen Altertümern als solchen hätte.« Er unterbrach sich und lachte sonderbar, so, als glaube er, einen guten Witz gemacht zu haben. »Ihn interessiert mehr die symbolische Bedeutung des Stückes, wenn Sie verstehen.« Dietrich kam es so vor, als lüge Eidel und versuche hier etwas zu vertuschen. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß der Führer in diesem Zusammenhang auf symbolische Bedeutung Wert legte. Dietrich starrte auf das Telegramm, das Eidel ihm vorhin zu lesen gegeben hatte, dann blickte er wieder auf das Bild des Führers, das ernst und grimmig von der Wand herabschaute. Eidel sagte in der Art eines Oberlehrers: »Wir kommen nun zur Frage des Fachwissens.« »Gewiß«, nickte Dietrich. »Wir kommen im besonderen zur Frage des archäologischen Fachwissens.« Dietrich sagte nichts. Er sah, wohin das führte. Er begriff, was man von ihm wollte. »Ich fürchte, das übersteigt meine Fähigkeiten«, erklärte er. Eidel lächelte schwach. »Aber Sie haben Beziehungen, soviel ich weiß. Sie haben Verbindung zu den höchsten Autoritäten auf diesem Gebiet. Habe ich recht?« »Darüber ließe sich streiten.« »Dafür bleibt keine Zeit«, gab Eidel zurück. »Ich bin nicht hier, um darüber zu debattieren, was höchste Autorität bedeutet, Oberst. Ich bin, wie Sie, hier, um einen bestimmten Befehl auszuführen.«
»Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern«, antwortete Dietrich. »Ich weiß«, sagte Eidel. Er stützte sich auf seinen Schreibtisch. »Und Ihnen ist klar, daß ich von einer ganz bestimmten Autorität in Ihrem Bekanntenkreis spreche, deren Fachkenntnisse auf diesem Spezialgebiet für uns von unschätzbarem Wert sein werden. Richtig?« »Der Franzose«, sagte Dietrich. »Genau.« Dietrich schwieg lange. Er fühlte sich ein wenig beunruhigt. Es kam ihm vor, als sehe ihn Hitlers Gesicht mahnend und vorwurfsvoll an. »Und seine Vertrauenswürdigkeit ist nicht gerade die beste.« »Der Franzose ist schwer zu finden«, erklärte er. »Wie jeder, der sich als Söldner bezahlen läßt, nimmt er Aufträge auf der ganzen Welt an.« »Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?« Dietrich zog die Schultern hoch. »Als er in Südamerika war, denke ich.« Eidel betrachtete seine Hände, die schmal und blaß und trotzdem plump wirkten, wie die eines Menschen, dem es versagt geblieben ist, Konzertpianist zu werden. »Sie können ihn finden«, stellte er fest. »Verstehen Sie, was ich sage? Ist Ihnen klar, woher dieser Befehl kommt?« »Ich kann ihn finden«, sagte Dietrich. »Aber ich warne Sie gleich -« »Sie sollen mich nicht warnen, Oberst.« Dietrich spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Dieser kleine, schwachsinnige Angeber und Schreibtischhengst. Es hätte ihm Spaß gemacht, ihn zu erdrosseln, ihm die Akten in den Schlund zu stopfen, bis er daran erstickte. »Nun gut, ich betone - der Franzose kostet viel.« »Kein Thema«, sagte Eidel. »Man geht davon aus, daß Sie wissen, wie Sie sich zu verhalten haben. Die Sache ist die, Oberst: Sie werden ihn finden und zum Führer bringen. Aber das muß rasch geschehen. Es muß gestern erledigt sein, wenn Sie verstehen.« Dietrich starrte die Jalousie an. Es erfüllte ihn mit Angst und Schrecken, daß der Führer sich mit Lakaien und Dummköpfen wie Eidel umgeben hatte. Das deutete auf eine gewisse Einschränkung der Urteilsfähigkeit im Umgang mit Menschen hin. Eidel lächelte, so, als belustige ihn Dietrichs Unruhe. Nach einer Pause sagte er: »Es eilt natürlich. Offenkundig interessieren sich auch andere dafür. Diese Herrschaften vertreten nicht die Interessen des Reiches. Drücke ich mich klar genug aus?« »Völlig«, sagte Dietrich. Er dachte kurz an den Franzosen. Er wußte, daß Belloq sich derzeit in Südfrankreich aufhielt, obwohl er das Eidel nicht mitzuteilen gedachte. Die Aussicht, mit Belloq ins Geschäft kommen zu müssen, war es, die ihn erschreckte. Der Franzose hatte eine Glätte an sich, die völlige Skrupellosigkeit verbarg, absoluten Egoismus, eine Mißachtung jeder philosophischen, politischen und glaubensmäßigen Anschauung. Wenn etwas Belloqs Interessen entsprach, war es von Gültigkeit. Wenn nicht, war es ihm gleichgültig. »Mit den anderen Herrschaften wird man kurzen Prozeß machen, wenn sie auftauchen sollten«, fuhr Eidel fort. »Sie brauchen sich damit nicht zu befassen.« »Dann äst es ja gut«, sagte Dietrich. Eidel griff nach dem Telegramm und warf einen Blick darauf. »Was wir besprochen haben, bleibt unter uns, Oberst. Das brauche ich eigentlich nicht zu betonen, nicht wahr?« »Sie brauchen es nicht zu betonen«, wiederholte Dietrich gereizt. Eidel kehrte an seinen Platz zurück und starrte den Besucher über den Aktenberg hinweg an. Er schwieg kurze Zeit, dann tat er so, als sei er erstaunt, Dietrich vorzufinden. »Sie sind immer noch hier, Oberst?« Dietrich umklammerte seine Aktentasche und stand auf. Es fiel schwer, gegenüber diesen schwarzuniformierten Hanswursten nicht Haß zu empfinden. Sie taten wirklich so, als gehöre ihnen die Welt. »Ich wollte eben gehen«, sagte Dietrich. »Heil Hitler«, sagte Eidel und streckte den Arm aus. An der Tür antwortete Dietrich ebenfalls mit dem deutschen Gruß.
Connecticut Indiana Jones saß in seinem Büro im Marshall-College. Er hatte eben seine erste Vorlesung des Semesters im Archäologie-Seminar 101 gehalten, und sie war gut abgelaufen. Sie lief immer gut ab. Er lehrte gern und wußte, daß er seine Leidenschaft für das Thema seinen Studenten vermitteln konnte. Aber jetzt war er ruhelos, und das störte ihn. Er wußte genau, was er eigentlich tun wollte. Indy legte die Beine auf den Schreibtisch, wobei er ein paar Bücher herunterstieß, dann stand er auf und ging im
Büro hin und her - sah es nicht als den vertrauten Ort, der es sonst war, seine Zuflucht, sein Versteck, sondern als die Zelle irgendeines Fremden. Jones! ermahnte er sich. Indiana Jones, sei vernünftig. Die Gegenstände rings um ihn schienen für eine Weile ihren Sinn zu verlieren. Die große Wandkarte von Südamerika wurde zu einem unwirklichen Farbklecks, zu einer abstrakten Schmiererei. Die Tonnachbildung des Götzen sah plötzlich albern und häßlich aus. Er griff nach der Figur und dachte: Für so etwas hast du dein Leben eingesetzt? Bei dir muß eine Schraube locker sein. Oder mehrere. Er behielt die Nachbildung der Götzenfigur in der Hand und betrachtete sie abwesend. Seine Besessenheit von altertümlichen Dingen kam ihm plötzlich abscheulich und unnatürlich vor. Eine unsinnige Vernarrt-neit m die alte Geschichte - mehr als das, das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, festzuhalten, sie durch ihre Überreste und Funde zu verstehen, heimgesucht zu werden von den Gesichtern längst zu Staub zerfallener Künstler und Handwerker, umgeistert von der Vorstellung der Hände, die schier Unvergängliches geschaffen hatten. Und das alles nicht vergessen, nie ganz vergessen, nicht, solange man selbst am Leben war und mit einem diese unvernünftige Leidenschaft. Einen Augenblick lang kehrten die alten Empfindungen zurück, überschwemmten ihn mit der Erregung, die er das erstemal als Student gespürt hatte. Wie lange war das her? Fünfzehn Jahre? Zwanzig? Darauf kam es nicht an. Die Zeit war für ihn etwas anderes als für die meisten. Die Zeit war etwas, das man durch ihre verschütteten Geheimnisse entdeckte - in Tempeln, in Ruinen, unter Geröll und Staub und Sand. Die Zeit dehnte sich aus, wurde elastisch, erzeugte das Staunen darüber, daß alles, was je gelebt, mit allem verbunden war, das jetzt existierte - ja, daß im Grunde der Tod gar nichts zu bedeuten hatte, weil so viel blieb. Ohne Bedeutung. Er dachte an Champollion bei der mühseligen Arbeit am Stein von Rosette, an den Triumph, die alten Hieroglyphen endlich entziffert zu haben. Er dachte an Schliemann und seine Ent- deckung des alten Troja. An Flinders Petrie, der die Gräber der ägyptischen Vorgeschichte bei Nakada ausgegraben hatte. An Wolleey und seine Entdeckung der Königsgräber von Ur im Irak. An Carter und Lord Carnavon und ihren Zufallsfund, das Grab Tut-ench-Amuns. Da hatte alles angefangen. Mit diesem Augenblick der Entdeckung, der dem inneren Auge eines Orkans glich. Man wurde mitgerissen, davongetragen, zurückbefördert mit einer Art Zeitmaschine, von der die Schreiber utopischer Romane keine Vorstellung hatten - eine ganz persönliche Zeitmaschine, die ganz private Leitung zur fernen Vergangenheit. Er balancierte die Nachbildung des Götzen auf der Hand und starrte sie an, als sei sie eine persönliche Feindin. Nein, dachte er, dein schlimmster Feind bist du selbst, Jones. Du hast dich hinreißen lassen, weil du unter Forrestals Papieren die Hälfte eines Lageplans gefunden hast - und weil du unbedingt zwei Halunken trauen wolltest, die über die andere Hälfte verfügten. Schwachkopf. Und Belloq. Er war eigentlich der Schlaukopf. Belloq hatte den Blick für das Vielversprechende. Belloq war immer schon gewesen - vergleichbar mit den Schlangen, die dir so zuwider sind. Unbemerkt unter einem Stein hervorgleitend, glitschig und raubgierig, zustoßend auf das, was gar nicht selbst gejagt war. Vor seinem inneren Blick tauchte Belloq auf - das schmale, gut geschnittene Gesicht, die schwarzen Augen, das Lächeln, hinter dem sich die Verschlagenheit verbarg. Er dachte an andere Begegnungen mit dem Franzosen. Er erinnerte sich an die höhere Schule, als Belloq sich den Preis der archäologischen Gesellschaft durch eine Arbeit über Formationskunde erschlichen hatte beruhend auf Indys eigenen Nachforschungen. Auf irgendeine Weise hatte Belloq davon abgeschrieben, Zugang dazu gefunden. Indy hatte nichts beweisen können und es auch gar nicht versucht, weil er nicht als schlechter Verlierer hatte dastehen wollen, als Neider. '1934. Denk an den Sommer dieses Jahres, dachte er. 1934. Schwarzer Sommer. Er hatte monatelang eine Ausgrabung in der Rub al Khali-Wüste Saudi-Arabiens geplant. Monate angestrengter Arbeit und unzähliger Vorbereitungen, des Betteins um finanzielle Unterstützung, des Aufbauens, des Beharrens darauf, daß seine Instinkte nicht trogen, was die Ausgrabungsstelle anging, daß dort die Überreste einer Nomadenkultur zu finden waren, einer vorchristlichen Kultur. Und dann? Er schloß die Augen. Selbst heute noch erfüllte ihn die Erinnerung mit Bitterkeit. Belloq war ihm zuvorgekommen. Belloq hatte dort Ausgrabungen gemacht. Gewiß, der Franzose hatte nur weniges von historischer Bedeutung gefunden, aber das war nicht das Eigentliche. Das Eigentliche war, daß Belloq wieder bei ihm gestohlen hatte, und er, Indy, zum zweitenmal keine klare Möglichkeit zu erkennen vermochte, es zu beweisen.
Und jetzt das Götzenbild. Indy schreckte aus seiner Versunkenheit hoch und hob den Kopf, als die Tür aufging. Marcus Brody schaute herein, halb vorsichtig, halb besorgt. Er betrat das Zimmer. Indy betrachtete Marcus, den Konservator des National Museums, als seinen engsten Freund. »Indiana«, sagte Marcus leise. Indy streckte die Hand mit de,m Götzen aus, als wolle er die Figur dem anderen hinhalten, dann warf er sie plötzlich in den Papierkorb. »Ich hatte die echte Figur in der Hand, Marcus. Das echte Stück.« Indy setzte sich und lehnte sich zurück, die Augen geschlossen, rieb die geschlossenen Lider. »Das hast du mir erzählt, Indiana. Das hast du mir schon erzählt«, sagte Brody. »Gleich, als du zurückgekommen bist. Weißt du noch?« »Ich kann sie wieder in die Hand bekommen, Marcus. Das ist möglich. Ich habe es mir genau überlegt. Belloq muß sie verkaufen, nicht? Und wo wird er das tun, hm?« Brody sah ihn nachsichtig an. »Wo denn, Indiana?« »In Marrakesch und nirgendwo anders.« Indy stand auf und zeigte auf die Gegenstände, die auf dem Schreibtisch lagen. Es waren die Einzelstücke, die er aus dem Tempel mitgenommen hatte. »Schau. Sie müssen etwas wert sein, Marcus. Auf jeden Fall so viel, daß ich nach Marrakesch fahren kann, nicht?« Brody blickte kaum auf die Stücke, sondern legte die Hand auf Indys Schulter, freundschaftlich und sorgenvoll zugleich. »Das Museum kauft sie, wie üblich. Ohne Fragen. Aber über das Idol reden wir später. Ich möchte dich mit ein paar Leuten bekanntmachen. Sie kommen von weit her, um mit dir zu sprechen, Indiana.« »Was für Leute?« »Sie kommen aus Washington, Indiana. Nur, um mit dir zu sprechen.« »Wer ist das denn?« fragte Indy ungeduldig. »Militärische Abwehr.« »Militärische was? Bin ich etwa in Schwierigkeiten?« »Nein. Ganz im Gegenteil, offenbar. Sie scheinen deine Hilfe zu brauchen.« »Die einzige Hilfe, die ich brauche, ist die, das Geld zu beschaffen, damit ich nach Marrakesch fahren kann, Marcus. So viel wird beim Verkauf doch zu erzielen sein.« »Später, Indiana, später. Zuerst möchte ich, daß du mit den Leuten sprichst.« Indy blieb vor der Karte von Südamerika stehen. »Ja«, sagte er. »Ich spreche mit ihnen, wenn es dir so viel bedeutet.« »Sie warten im Hörsaal.« Sie traten in den Korridor hinaus. Ein hübsches, junges Mädchen tauchte vor Indy auf. Sie trug Bücher unter dem Arm und gab sich Mühe, beflissen und studierwillig auszusehen. Indys Miene hellte sich auf, als er sie sah. »Professor Jones«, sagte sie. »Ahm -« »Ich hatte gehofft, wir könnten uns besprechen«, sagte sie schüchtern und warf einen Seitenblick auf Marcus Brody. »Ja, sicher, Susan, klar, ich weiß, das habe ich versprochen.« »Aber nicht jetzt«, warf Marcus Brody ein. »Nicht jetzt, Indiana.« Er wandte sich dem Mädchen zu. »Professor Jones muß an einer sehr wichtigen Sitzung teilnehmen, meine Liebe. Warum rufen Sie ihn nicht ein paar Stunden später an?« »Ja«, murmelte Indy. »Bis Mittag bin ich wieder da.« Das Mädchen lächelte enttäuscht und entfernte sich. Indy sah ihr nach und bewunderte ihre Beine. Er spürte, daß Brody ihn am Ärmel zupfte. »Hübsch. Entspricht ganz deinen Maßstäben, Indiana. Aber später, ja?« »Später«, sagte Indy und löste den Blick widerstrebend von dem Mädchen. Brody öffnete die Tür zum Hörsaal. In der Nähe des Podiums saßen zwei Offiziere der Army. Sie drehten die Köpfe, als die Tür aufging. »Wenn das die Musterungskommission ist, ich habe schon gedient«, sagte Indy. Marcus Brody führte Indy zu einem Stuhl auf dem Podium. »Indiana, ich möchte dir Colonel Musgrove und Major Eaton vorstellen. Das sind die Herren, die eigens aus Washington gekommen sind, um mit dir zu sprechen.« »Freut mich«, sagte Eaton. »Wir haben viel von Ihnen gehört, Professor Jones. Doktor der Archäologie, Fachmann für das Okkulte, Beschaffer von wertvollen Raritäten.« »So kann man es auch nennen«, meinte Indy. »Das mit den seltenen Raritäten klingt vielversprechend«, stellte der Major fest. Indy warf einen Blick auf Brody, der das Wort ergriff. »Ich bin sicher, daß alles, was Professor Jones für unser Museum hier tut, im Einklang mit den Maßstäben der internationalen Vereinbarung über den Schutz von Altertümern ist.« »Aber ganz gewiß«, sagte Major Eaton. »Sie sind ein vielseitiger Mann, Professor«, erklärte Musgrove.
Indy winkte ab. Was wollten die beiden? »Soviel ich weiß, haben Sie an der Universität Chicago bei Professor Ravenwood studiert«, sagte Major Eaton. »Ja.« »Haben Sie eine Ahnung, wo er sich derzeit aufhält?« Ravenwood. Der Name weckte Erinnerungen von solcher Heftigkeit in Indy, daß er innerlich erschrak. »Nur Gerüchte, nicht mehr. Ich habe gehört, er sei in Asien. Genau weiß ich es nicht.« »Nach unseren Informationen standen Sie in sehr engen Beziehungen zu ihm«, warf Musgrove ein. »Ja.« Indy rieb sich das Kinn. »Wir waren Freunde. Aber seit Jahren haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich fürchte, wir haben uns zerstritten. So könnte man es jedenfalls nennen.« Zerstritten war noch höflich ausgedrückt. Eher ein totales Zerwürfnis. Dann dachte er an Marion. Das war eine unerwünschte Erinnerung, etwas, was er aus den tiefen Schichten in seinem Gedächtnis erst zutage fördern mußte. Marion Ravenwood, das Mädchen mit den wunderschönen Augen. Die Offiziere flüsterten miteinander und schienen zu einer Entscheidung zu gelangen. Eaton wandte sich Jones wieder zu und sagte mit ernster Miene: »Was wir Ihnen jetzt mitteilen, muß vertraulich behandelt werden.« »Sicher«, sagte Indy. Ravenwood - wo paßte der alte Mann in diese rätselhafte Geschichte hinein? Und wann gedachte man endlich zur Sache zu kommen? Musgrove ergriff das Wort. »Gestern fing eine unserer europäischen Zweigstellen eine Mitteilung ab, die von Kairo nach Berlin ging. Die deutschen Vertreter in Ägypten waren offenbar von Erregung ergriffen.« Musgrove warf einen Blick auf Eaton und wartete darauf, daß dieser fortfuhr, so, als sei jeder einzelne nur zur Offenbarung von Bruchstücken der Information befugt. »Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen da etwas mitteile, das Sie schon wissen, Professor Jones«, sagte Eaton, »wenn ich die Tatsache erwähne, daß die Deutschen seit zwei Jahren Archäologenteams durch die ganze Welt jagen -« »Das ist mir nicht entgangen.« »Gut. Sie scheinen voller Gier nach allen religiösen Altertümern zu suchen, die sie in die Hände bekommen können. Unseren Geheiminformationen zufolge ist Hitler vom Okkulten besessen. Er soll sogar einen persönlichen Wahrsager beschäftigen, wenn das der richtige Ausdruck ist. Und im Augenblick hat es ganz den Anschein, daß in der Wüste bei Kairo streng geheime archäologische Ausgrabungen stattfinden.« Indy nickte. Das Gespräch langweilte ihn. Er wußte von Hitlers scheinbar endlosen Bemühungen, die Zukunft zu erraten, Gold aus Blei zu machen, den Stein der Weisen zu finden, was auch immer. Nimm irgendwas, dachte er; wenn es nur absurd genug ist, scheint der Mann mit dem Schnurrbart sich dafür zu interessieren. Indy sah zu, als Musgrove ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche zog. Musgrove behielt es in der Hand und sagte: »Die Mitteilung enthält Angaben zu den Tätigkeiten in der Wüste, aber wir wissen nicht, was wir davon halten sollen. Wir dachten, daß sich vielleicht Ihnen der Sinn erschließt.« Er reichte Indy das Blatt hinüber. Darauf stand: UNTERNEHMEN TANIS SCHREITET FORT. BESCHAFFEN AUFSATZ STAB DES RE. ABNER RAVENWOOD; USA. Er las die Wörter noch einmal, die Gedanken waren plötzlich klar, das Denken geschärft. Er stand auf, starrte Brody an und sagte fassungslos: »Die Nazis haben Tanis entdeckt.« Brodys Gesicht war blaß und wirkte grimmig. »Verzeihen Sie«, erklärte Eaton. »Ich komme da leider nicht mit. Was sagt Ihnen der Name Tanis?« Indy ging vom Podium zum Fenster. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Er stieß das Fenster auf und atmete die frische Morgenluft ein, die angenehm kühl in die Lunge drang. Tanis. Der Stab des Re. Ravenwood. Wie eine Flut kam es zurück, die alten Legenden, die Geschichten, die Fabeln. Er wurde schier erdrückt von den Dingen, von Wissen, das er jahrelang in sich gespeichert hatte - in einem solchen Maß, daß es ihn drängte, das rasch loszuwerden, es hinter sich zu bringen. Nur langsam, ermahnte er sich. Erklär es ihnen langsam, damit sie es verstehen können. Er drehte sich um und sagte zu den Offizieren: »Es wird da vieles für Sie nicht so leicht verständlich sein. Möglicherweise. Ich weißes nicht. Das hängt von Ihren persönlichen Ansichten ab, so viel kann ich Ihnen gleich verraten. Okay?« Er schwieg kurze Zeit und blickte auf ihre verständnislosen Gesichter. »Die Stadt Tanis ist einer der möglichen Fundorte für die verlorengegangene Bundeslade.« »Bundeslade?« sagte Musgrove. »Was meinen Sie damit?« »Ich spreche von der Lade, also dem Kasten, der Truhe, worin die Israeliten, die Juden, die Zehn Gebote aufbewahrten.« »Moment mal«, sagte Eaton. »Sie meinen die Zehn Gebote Gottes?« »Ich meine die echten Steintafeln, diejenigen, welche Moses vom Berg Sinai herabbrachte. Die ersten zerschlug er ja, als er sah, wie sein Volk um das Goldene Kalb tanzte. Er war auf dem Berg gewesen und hatte mit Gott geredet und die Gebote gehört, während sein Volk unten Orgien feierte und Götzenbilder aufstellte. Er wurde also zornig und zerbrach die Tafeln.«
Die Gesichter der beiden Offiziere waren ausdruckslos. Indy wünschte sich, den Männern etwas von der inneren Erregung vermitteln zu können, die er selbst empfand. »Moses bekam neue Gesetzestafeln von Gott, die Isrealiten legten sie in die Lade und nahmen sie überallhin mit. Als sie sich im Land Kanaan niederließen, wurde die Bundeslade in den Tempel Salomons gestellt. Dort bliebt sie lange Zeit, kam auch in andere Tempel... und verschwand.« »Wohin?« fragte Musgrove. »Niemand weiß es.« Brody sagte in geduldigerem Ton als Indy: »Ein ägyptischer Pharao eroberte um 926 v. Chr. Jerusalem. Er hieß Scheschonk. Es kann sein, daß er sie nach Tanis bringen ließ -« »Wo er sie in einer Geheimkammer versteckt haben könnte, die >Schacht der Seelen < genannt wurde«, warf Indy ein. Es blieb einige Zeit still. »Jedenfalls heißt es so«, fuhr Indy schließlich fort. »Aber jedem, der sich an der Lade vergriffen hat, scheint es schlecht ergangen zu sein. Bald, nachdem Scheschonk nach Ägypten zurückgekehrt war, ging Tanis unter, von einem Sandsturm in Wüste verwandelt, der ein ganzes Jahr dauerte.« »Der obligatorische Fluch«, meinte Eaton. Indy ärgerte sich ein bißchen. »Wenn Sie so wollen«, sagte er ungeduldig. »Aber während des Kampfes um Jericho trugen hebräische Priester die Lade sieben Tage um die Stadt herum, bis die Mauern einstürzten. Und als die Philister die Lade angeblich stahlen, zogen sie das ganze Unheil auf sich - einschließlich der Plagen von Aussatz und Ratten.« »Das ist ja alles ganz interessant«, sagte Eaton, »aber weshalb wird ein Amerikaner in einem Nazi-Telegramm erwähnt, falls wir wieder zur Sache kommen dürfen?« »Er ist der Fachmann für Tanis«, sagte Indy. »Tanis ließ ihn nicht los. Er besaß sogar Fundstücke von dort. Aber die Stadt selbst hat er nie aufspüren können.« »Aus welchem Grund sollten die Deutschen sich für ihn interessieren?« fragte Musgrove. Indy überlegte. »Ich habe den Eindruck, daß die Nazis den Aufsatz für den Stab von Re suchen. Und sie glauben, daß Abner ihn hat.« »Der Stab von Re«, sagte Eaton. »Das klingt alles so weit hergeholt und wenig glaubwürdig.« Musgrove, der sich für das Thema weit mehr zu erwärmen schien, beugte sich vor. »Was ist der Stab von Re, Professor Jones?« »Ich zeichne Ihnen das auf«, gab Indy zurück. Er ging zur Tafel und begann rasch zu skizzieren. Während er mit der Kreide zeichnete, sagte er: »Der Stab von Re soll angeblich der Schlüssel für den Aufbewahrungsort der Lade sein. Ein sehr raffinierter noch dazu. An sich war das ein langer Stock, vielleicht knapp zwei Meter hoch, niemand weiß es genau. Jedenfalls hatte er einen besonderen Aufsatz, ein Kopfstück in Gestalt der Sonnenscheibe, in deren Mitte ein Kristall angebracht war. Können Sie mir folgen? Man mußte den Stab in einen ganz bestimmten Kartenraum in Tanis tragen - dort war die ganze Stadt in Miniaturform nachgebildet. Wenn man den Stab zu einer ganz bestimmten Tageszeit an eine ganz bestimmte Stelle in diesem Raum steckte, schien die Sonne durch den Kristall im Aufsatz und lenkte einen Strahl auf das Stadtmodell, um den Ort zu bezeichnen, wo sich der Schacht der Seelen befand -« »Wo die Lade versteckt war?« ergänzte Musgrove. »Richtig. Und das ist vermutlich der Grund, weshalb die Nazis diesen Aufsatz oder Knauf oder wie man ihn nennen will, in ihren Besitz zu bringen trachten. Das erklärt, daß Ravenwood in dem Telegramm erwähnt wird.« Eaton stand auf und begann ruhelos hin und her zu wandern. »Wie sieht diese Lade eigentlich aus?« »Das zeige ich Ihnen«, sagte Indy. Er ging mit raschen Schritten durch den Saal, zog ein Buch aus einem Regal und blätterte, bis er eine große farbige Abbildung fand. Er zeigte sie den beiden Offizieren. Sie starrten schweigend auf die Illustration, die eine biblische Schlacht darstellte. Die Armee der Israeliten warf den Feind nieder; vor den Reihen der Juden trugen zwei Männer die Bundeslade, einen länglichen, goldenen Kasten, auf dem zwei goldene Cherubim mit verhüllten Häuptern angebracht waren. Die Juden trugen den Kasten an zwei Stangen. Er war aufgehängt an Ringen an seinen Ecken. Ein Gegenstand von außerordentlicher Schönheit - aber noch eindrucksvoller als das Aussehen war der durchdringende, grelle Strahl von weißem Licht und Flammen, der den Flügeln der Engel entsprang, eine Licht- und Feuer-Fontäne, die der zurückweichenden Armee entgegenschoß und Entsetzen und Verwüstung hervorzurufen schien. Musgrove sagte beeindruckt: »Was soll das sein, das aus den Flügeln kommt?« Indy zog die Schultern hoch. »Wer weiß? Blitzschlag. Feuer. Die Macht Gottes. Wie man es auch nennen mag, es war angeblich imstande,
Berge einzuebnen und ganze Gegenden zu verwüsten. Nach Moses' Worten war eine Armee, die im Besitz der Bundeslade war, unbesiegbar.«Indy blickte auf Eatons Gesicht und entschied: Der Kerl hat keine Phantasie. Den bringt nichts aus der Ruhe. Eaton starrte mit einem unmerklichen Achselzucken auf das Bild. Ungläubigkeit, dachte Indy. Die Skepsis des Berufssoldaten. »Wie stehen Sie selbst zu dieser... sogenannten Macht der Bundeslade, Professor?« »Wie ich schon sagte, das kommt darauf an, was man glauben will. Es hängt davon ab, ob man bereit ist, dem Mythos eine gewisse Wahrheit zu unterstellen.« »Sie weichen aus«, erwiderte Musgrove mit einem Lächeln. »Ich bin vorurteilslos«, gab Indy zurück. Eaton hob den Kopf. »Aber ein Verrückter wie Hitler... Es könnte sein, daß er wirklich an diese Macht glaubt, nicht? Er könnte das restlos geschluckt haben.« »Möglich«, sagte Indy. Er starrte Eaton zerstreut an und verspürte plötzlich ein vertrautes Gefühl der Vorahnung, eine innere Anspannung. Die untergegangene Stadt Tanis. Der Schacht der Seelen. Die Bundeslade. Hier entzog sich eine fremdartige Harmonie dem rationalen Denken, und sie verlockte ihn mit verführerischem Sirenengesang. »Er bildet sich vielleicht ein, mit der Bundeslade sei seine Militärmacht unbesiegbar«, sagte Eaton mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Wenn er wirklich das Ganze geschluckt hat, arm ich mir zumindest den psychologischen Vorteil ausmalen, den er sich davon erwartet.« »Da ist noch etwas«, warf Indy ein. »Der Überlieferung zufolge wird die Bundeslade zu dem Zeitpunkt wieder aufgefunden werden, wenn der echte Messias auftritt.« »Der echte Messias«, sagte Musgrove. »Für den hält Hitler sich vielleicht«, warf Eaton ein. Es wurde still. Indy blickte wieder auf die Illustration, auf die grelle Lichtzunge, die aus den Flügeln der Engel schoß und die zurückweichenden Feinde versengte. Eine Kraft, die alle anderen Kräfte übertraf. Die nicht mehr zu beschreiben war. Er schloß kurz die Augen. Was, wenn das wirklich wahr sein sollte? Was, wenn es eine solche Kraft wirklich gab? Nun gut, versuche du, logisch zu denken, versuche das so zu sehen, wie Eaton es tut, führe es zurück auf eine alte Mär, auf etwas, das von fanatischen Juden verbreitet worden ist. Schreckenspropaganda gegenüber ihren Feinden, eine Art psychologischer Kriegsführung. Trotzdem zeigte sich hier etwas, das man nicht einfach übergehen, nicht beiseiteschieben konnte. Er öffnete die Augen und hörte Musgrove seufzen. »Sie haben uns sehr geholfen«, sagte der Colonel. »Ich hoffe, wir dürfen uns wieder an Sie wenden, falls das nötig sein sollte.« »Jederzeit, meine Herren, jederzeit«, nickte Indy. Man schüttelte sich die Hände, dann begleitete Brody die Offiziere zur Tür. Indy blieb allein zurück und klappte das Buch zu. Er beschäftigte sich eine Weile mit seinen Gedanken und war gleichzeitig bemüht, das wachsende Gefühl der Erregung zu unterdrücken. Die Nazis haben Tanis gefunden - der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Susan sagte: »Ich hoffe, ich habe dich nicht in Verlegenheit gebracht, als du mir Brody aus dem Büro gekommen bist. Ich meine, ich war ja wirklich ... auffällig.« »Gar nicht«, sagte Indy. Sie saßen im vollgestopften Wohnzimmer in Indys kleinem Holzhaus. Das Zimmer war voll von Erinnerungsstücken an Reisen, an Ausgrabungen, von wieder zusammengesetzten Tonvasen und winzigen Statuetten, von Tonscherben und Landkarten und Globen - ein Durcheinander wie in meinem Leben selbst, dachte er manchmal. Das Mädchen zog die Knie an die Brust und ließ den Kopf darauf sinken. Wie eine Katze, dachte er. Eine kleine, zufriedene Katze. »Ich liebe dieses Zimmer«, sagte sie. »Ich liebe das ganze Haus ... aber vor allem dieses Zimmer.« Indy stand vom Sofa auf und ging im Zimmer herum, die Hände in den Taschen. Das Mädchen störte ihn aus irgendeinem Grund. Manchmal hörte er gar nicht hin, wenn sie etwas sagte. Er hörte nur ihre Stimme und nicht, was sie von sich gab. Er goß sich etwas zu trinken ein, schlürfte und trank; das Getränk brannte in seiner Brust ein angenehmes Glühen, wie eine winzige Sonne, die dort unten aufleuchtete. »Du wirkst heute so abwesend, Indy«, sagte Susan. »Abwesend?« »Dich beschäftigt etwas. Ich weiß nicht.« Sie zog die Schultern hoch. Er ging zum Radio, schaltete das Gerät ein, hörte kaum auf die Stimme, die für Maxwell-Kaffee warb. Das Mädchen stellte einen anderen Sender ein. Tanzmusik. Abwesend, dachte er. Weiter weg, als du dir vorstellen kannst. Meilenweit. Meere und Kontinente und Jahrhunderte weit entfernt. Er dachte plötzlich an Ravenwood,
an ihr letztes Gespräch, an den schrecklichen Wutanfall des alten Mannes. Während er dem Echo dieser Stimmen lauschte, fühlte er sich traurig, enttäuscht von sich selbst; er hatte eine zerbrechliche Wahrheit in die Hände genommen und sie zerbrochen. Marion ist rettungslos verliebt in Sie, und aas haben Sie ausgenützt. Sie sind achtundzwanzig Jahre alt, ein erwachsener Mann, möchte man meinen, und Sie haben die hirnlose Verliebtheit eines jungen Mädchens ausgenützt und Ihren eigenen Zwecken dienlich gemacht, nur, weil sie glaubt, sie liebe Sie wirklich. »wenn ich gehen soll, Indy, mußt du es sagen. Ich kann das verstehen, wenn du allein sein willst.« »Nein, ist schon gut. Wirklich. Bleib nur.« Jemand klopfte an die Tür; auf der Veranda knarrte es. Indy verließ das Wohnzimmer und ging in die Diele. Er sah draußen Marcus Brody stehen. Der Konservator lächelte geheimnisvoll, als bringe er Neuigkeiten von ganz besonderer Art. »Marcus«, sagte Indy. »Dich habe ich nicht erwartet.« »Ich glaube doch«, sagte Brody und öffnete die Fliegengittertür. »Gehen wir ins Arbeitszimmer«, schlug Indy vor. »Warum nicht ins Wohnzimmer?« »Gesellschaft.« »Ah. Natürlich.« Sie betraten das Arbeitszimmer. »Du hast es geschafft, wie?« sagte Indy. Brody lächelte. »Sie wollen, daß du die Bundeslade vor den Nazis herausholst.« Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Indy wieder Worte fand. Er wurde von Hochstimmung erfaßt, von einem Gefühl des Triumphes. Die Bundeslade. »Ich glaube fast, ich habe mein ganzes Leben daraufgewartet, so etwas zu hören.« Brody blickte auf das Schnapsglas in Indys Hand. »Sie haben mit ihren Vorgesetzten in Washington gesprochen und sind dann zu mir gekommen. Sie brauchen dich, Indy. Sie wollen dich haben.« Indy setzte sich an seinen Schreibtisch, starrte in sein Glas und schaute sich dann im Zimmer um. Eine merkwürdige Empfindung erfüllte ihn plötzlich; hier ging es um mehr als nur um Bücher und Artikel und Landkarten, um mehr als Spekulationen, Gelehrtenstreit, Diskussion, Fachdebatten - etwas ganz Wirkliches hatte alle die Wörter und Bilder verdrängt. »Da die Herren Militärs sind, schlucken sie natürlich nicht alles über die Wirkung der Lade und so weiter«, erklärte Brody. »Mit solchen Märchen wollen sie nichts zu tun haben. Sie sind schließlich Soldaten, und Soldaten halten sich für beinharte Realisten. Sie wollen die Lade - und ich zitiere, wenn ich das noch zusammenbringe - wegen ihrer Historischen und kulturellen Bedeu-tung< und weil >ein derartiger Gegenstand von unschätzbarem Wert nicht in den Besitz eines faschistischen Regimes gelangen soll<. Oder so ähnlich.« »Die Gründe spielen keine Rolle«, gab Indy zurück. »Außerdem bezahlen sie sehr gut -« »Das Geld ist mir auch nicht wichtig, Marcus.« Indy hob die Hand und erfaßte mit einer weitausholenden Geste das ganze Zimmer. »Die Lade steht für das Ungreifbare, das die Archäologie für mich bedeutsam macht - du weißt schon, die Geschichte, die ihre Geheimnisse verbirgt. Dinge, die da draußen liegen und auf ihre Entdeckung warten. Ihre Gründe oder ihr Geld bedeuten mir nicht so viel.« Er schnippte mit den Fingern. Brody nickte zustimmend. »Die Lade kommt natürlich in unser Museum.« »Versteht sich.« »Falls es sie gibt...« Brody schwieg einen Augenblick und fügte hinzu: »Wir sollten unsere Hoffnungen nicht zu hoch schrauben.« Indy stand auf. »Zuerst muß ich Abner finden. Das ist der erste logische Schritt. Wenn Abner den Aufsatz hat, muß ich ihn an mich bringen, bevor es die Gegenseite tut. Das ist doch nur sinnvoll, nicht? Ohne den Aufsatz keine Lade. Und wo finde ich Abner?« Er verstummte, als ihm klar wurde, wie schnell er die Sätze hervorgesprudelt hatte. »Ich glaube, ich weiß, wo ich anfangen muß-« »Es ist lange her, Indy«, gab Brody zu bedenken. »Vieles ändert sich.« Indy starrte sein Gegenüber kurze Zeit an. Die Bemerkung erschien ihm rätselhaft: Vieles ändert sich. Dann wurde ihm klar, daß Brody auf Marion anspielte. »Vielleicht sieht er dich jetzt in einem anderen Licht«, fuhr Brody fort. »Es könnte allerdings auch sein, daß er dir das immer noch nachträgt. Für diesen Fall wird man wohl davon ausgehen dürfen, daß er dir den Aufsatz nicht geben will. Falls er das Ding überhaupt hat.«
»Hoffen wir das Beste.« »Immer Optimist, nicht?« »Nicht immer«, erwiderte Indy. »Manchmal kann Optimismus tödlich sein.« Brody war verstummt und ging im Zimmer herum, blätterte hier und dort in einem Buch. Schließlich sah er Indy ernst an. »Ich möchte, daß du vorsichtig bist, Indy.« »Ich bin immer vorsichtig.« »Du kannst ziemlich unbekümmert sein. Das weiß ich so gut wie du selbst. Aber die Bundeslade hat keine Ähnlichkeit mit irgendwelchen Dingen, auf die du es früher abgesehen hattest. Sie ist unendlich bedeutsamer. Viel gefährlicher.« Brody klappte ein Buch zu, als wolle er seine Worte damit unterstreichen. »Ich bin kein Skeptiker wie diese Herren Offiziere - ich glaube daran, daß die Lade Geheimnisse birgt. Gefährliche Geheimnisse, will mir scheinen.« Indy wollte schon etwas Spöttisches darauf sagen, weil ihn der melodramatische Unterton in der Stimme seines Freundes dazu reizte, aber er sah an Brodys Miene, daß dieser es ernst meinte. »Ich will dich nicht verlieren, Indiana, gleichgültig, worum es geht. Verstehst du?« Sie tauschten einen Händedruck. Indy fiel auf, daß Brodys Hand schweißfeucht war. Als Indy allein war, als ihn auch Susan verlassen hatte, blieb er bis lange in die Nacht hinein auf, konnte nicht schlafen, brachte seine Gedanken nicht zur Ruhe. Er schlenderte von einem Zimmer des kleinen Hauses ins andere, während er abwechselnd die Hände zu Fäusten ballte und sie wieder öffnete. Nach all den Jahren, dachte er, nach dieser langen Zeit - ob Ravenwood mir helfen wird? Ob Ravenwood zu mir steht, falls er den Aufsatz hat? Und hinter diesen Fragen lauerte noch eine andere. Ob Marion noch bei ihrem Vater lebt? Er betrat schließlich sein Arbeitszimmer und legte die Füße auf den Schreibtisch, starrte die Dinge an, die er gesammelt hatte. Er schloß für kurze Zeit die Augen, um klarer denken zu können, stand wieder auf. Aus einem der Regale nahm er eine Ausgabe von Ravenwoods altem Tagebuch, ein Geschenk des alten Mannes, als sie noch Freunde gewesen waren. Indy blätterte darin, überflog den Text, eine Enttäuschung nach der anderen vermerkt, eine Ausgrabung, die den Erwartungen nicht entsprochen hatte, eine andere, die nur dürftige Ergebnisse erbracht hatte, einen sehr kleinen, aber lockenden Hinweis auf den Verbleib der Bundeslade. In dem Tagebuch zeichneten sich die Umrisse einer Besessenheit ab, die einer zwanghaften Suche nach einem verlorengegangenen Objekt der Geschichte. Aber die Bundeslade war fähig, einem ins Blut zu gehen und alles zu erfüllen, was einen umgab. Er konnte die Beharrlichkeit des alten Mannes verstehen, seine grenzenlose Hingabe, den Drang, der ihn von einem Land zum anderen, von einer Hoffnung zur nächsten geführt hatte. So viel war aus den Seiten herauszulesen, aber nirgends stand etwas von dem Aufsatz. Nichts. Die letzte Eintragung im Tagebuch erwähnte Nepal, wo eine Ausgrabung hatte stattfinden sollen. Nepal, dachte Indy, der Himalaya, das schwierigste Gelände der Welt. Und sehr weit von dem entfernt, was die Deutschen in Ägypten trieben. Vielleicht war Ravenwood damals noch auf etwas anderes gestoßen, auf einen neuerlichen Hinweis, der zur Lade führen mochte. Vielleicht war das ganze Material überTanis unzutreffend. Vielleicht. Nepal. Immerhin ein Anfang. Ein Anfang. Er blätterte noch kurze Zeit im Tagebuch, dann ließ er sich in den Sessel sinken. Er hätte zu gern gewußt, wie Abner Ravenwood ihn empfangen würde. Und welchen Empfang er von Marion zu erwarten hatte.
Berchtesgaden Dietrich fühlte sich nicht wohl, wenn er mit Belloq zusammen war. Es lag nicht so sehr am mangelnden Vertrauen zu diesem Franzosen, an dem Gefühl, daß Belloq auf alle Dinge mit dem gleichen Zynismus reagierte - es war eher das eigenartige Charisma Belloqs, das Dietrich beunruhigte, die Vorstellung, daß man aus irgendeinem Grund den Wunsch verspürte, ihn zu mögen, daß er einen selbst dann anzog, wenn man sich dagegen wehrte. Sie saßen in einem Vorzimmer des Berghofs bei Berchtesgaden, wohin der Führer sich oft zurückzog. Dietrich war vorher noch nie hiergewesen und konnte ein Staunen nicht unterdrücken. Belloq, der behaglich die Beine ausgestreckt hatte, schien dagegen nichts Vergleichbares zu empfinden. Ganz im Gegenteil - Belloq hätte ebensogut in einem Straßencafe in Frankreich sitzen können, dort, wo Dietrich ihn tatsächlich gefunden hatte, in Marseiile. Kein Respekt, dachte Dietrich. Kein Gefühl für die Bedeutung der Dinge. Die Haltung des Archäologen ärgerte ihn.
Er hörte eine Uhr ticken, vernahm ihren zarten Schlag. Belloq seufzte, schlug die Beine übereinander und schaute auf die Armbanduhr. »Worauf warten wir, Dietrich?« fragte er. Dietrich senkte unwillkürlich die Stimme. »Der Führer wird uns empfangen, wann es ihm genehm ist, Belloq. Offenbar glauben Sie, er hätte nichts Besseres zu tun, als mit Ihnen über irgendein Museumsstück zu sprechen.« »Museumsstück.« Belloq sagte es mit unverhüllter Verachtung und starrte den Deutschen quer durch das Zimmer an. Wie wenig sie wissen, dachte er. Wie wenig sie von der Geschichte verstehen. Sie setzen überall auf das Falsche. Sie bauen ihre Kolossalgebäude und lassen ihre Regimenter im Stechschritt paradieren, aber sie ahnen nichts davon, daß man das Geschichtliche nicht einfach herbeizaubern kann. Es ist schon da, und man kann es nicht fabrizieren, nicht versuchen wollen, es mit grandiosen Gesten hervorzubringen. Die Bundeslade. Der bloße Gedanke an die Möglichkeit, die Bundeslade zu finden, raubte ihm die Ruhe. Warum mußte er überhaupt mit diesem armseligen Anstreicher reden? Weshalb war er verpflichtet, sich mit dem Kerl zusammenzusetzen, obwohl die Ausgrabungen in Ägypten schon begonnen hatten? Was konnte er von Hitler schon erwarten? Nichts, dachte er. Überhaupt nichts. Einen gespreizten Vortrag, vielleicht. Gegeifere. Geschwätz von der Größe des Reiches. Und daß die Bundeslade, wenn sie wirklich existiert, nach Deutschland gehört. Was wußten diese Leute überhaupt? Die Bundeslade gehörte nirgends hin. Wenn sie Geheimnisse enthielt, wenn sie über die Kräfte verfügte, die man ihr zuschrieb, dann wollte er derjenige sein, welcher sie entdeckte - das war keine Sache, die man leichthin dem Verrückten anvertrauen durfte, der jetzt irgendwo in einem Zimmer seines Berghofs hockte und ihn warten ließ. Er seufzte ungeduldig und setzte sich anders zurecht. Schließlich stand er auf, trat ans Fenster und schaute auf die Berge hinaus, ohne sie wirklich zu sehen. Er dachte an den Augenblick, in dem er den Kasten öffnen, hineinblicken und die Überreste der Steintafeln sehen würde, die Moses vom Berg Sinai heruntergebracht hatte. Es fiel leicht, sich vorzustellen, wie seine Hand den Deckel hochhob, vielleicht ein paar Worte dazu sprach -bevor der Augenblick der Offenbarung kam. Der Augenblick, der alles andere überschattete: Es gab nichts, was bedeutsamer gewesen wäre als die Bundeslade. Als er sich vom Fenster abwandte, beobachtete ihn Dietrich. Der Deutsche bemerkte den sonderbaren Ausdruck in Belloqs Augen, das schwache Lächeln um den Mund, das nach innen gerichtet zu sein schien, so, als amüsiere er sich über einen glänzenden Witz, dessen Pointe nur er verstand, über einen schwer-wiegenden, belustigenden Gedanken. Dietrich begriff nun, wie tief sein Mißtrauen reichte - aber das war eine Reichssache, der Führer war es gewesen, der den besten Mann angefordert hatte, der Führer, der Rene Belloq haben wollte. Dietrich hörte die Uhr die Viertelstunde schlagen. In einem Korridor irgendwo außerhalb des Zimmers hörte er Schritte. Belloq wandte sich erwartungsvoll der Tür zu. Die Schritte verklangen jedoch, und Belloq fluchte auf französisch leise vor sich hin. »Wie lange sollen wir noch warten?« fragte er. Dietrich zog nur die Schultern hoch. »Warten Sie, ich komme selber drauf«, fuhr Belloq fort. »Der Führer lebt nach einer Uhr, zu der wir gewöhnlichen Sterblichen keinen Zugang haben, nicht? Vielleicht glaubt er, die innerste Natur der Zeit als einziger erkannt zu haben?« Belloq winkte resigniert ab und lächelte. Dietrich bewegte unbehaglich die Schultern, von dem Gedanken erfaßt, daß der Raum abgehört werden mochte, daß Hitler dieses unsinnige Gefasel mithörte. »Haben Sie vor nichts Ehrfurcht, Belloq?« fragte er. »Ich könnte Ihnen darauf antworten, Dietrich, nur bezweifle ich, daß Sie begreifen könnten, wovon ich rede.« Sie verstummten beide, Belloq kehrte ans Fenster zurück. Jeder Augenblick, den ich hier festsitze, ist einer weniger in Ägypten, dachte er. Er wußte, daß die Zeit von Bedeutung war, daß die Nachricht von den Ausgrabungen sich verbreiten würden, daß man das nicht ewig geheimhalten konnte. Er konnte nur hoffen, daß die Sicherheitsvorkehrungen der Deutschen wirksam waren. Er blickte wieder auf Dietrich und sagte: »Sie haben mir übrigens noch nicht genau erklärt, wie wir an den Stabknaufkommen wollen. Das muß ich wissen.« »Dafür wird gesorgt«, antwortete Dietrich. »Man hat jemanden beauftragt -« »Wen, Dietrich? Ist ein Archäologe dabei?« »Das nicht -« »Schläger, Dietrich? Einige von Ihren harten Burschen?« »Professionals.« »Ah, aber keine Archäologen-Professionals. Woher wollen sie wissen, ob sie den Knauf gefunden haben? Woher wollen sie wissen, daß er keine Fälschung ist?«
Dietrich lächelte. »Das Geheimnis liegt darin, zu wissen, wo man suchen muß, Belloq. Es kommt nicht allein darauf an, zu wissen, was man sucht.« »Ein Mann wie Ravenwood läßt sich nicht ohne weiteres zwingen«, sagte Belloq. »Habe ich von Zwang gesprochen?« »Das war gar nicht nötig«, gab Belloq zurück. »Ich sehe die Notwendigkeit ein, und das genügt. Ich glaube, Sie werden auf gewissen Gebieten feststellen, daß ich nicht zimperlich bin. Ganz im Gegenteil, wenn ich so sagen darf.« Dietrich nickte. Wieder näherten sich Schritte der Tür. Diesmal wurde sie geöffnet. Ein Adjutant in Uniform, in dem Schwarz, das Dietrich so verabscheute, kam herein. Er sagte nichts, sondern zeigte nur mit einer Kopfbewegung an, man möge ihm folgen. Belloq ging zur Tür. Das Innerste des Schreins, dachte er. Das Allerheiligste des kleinen Anstreichers, der davon träumt, der Geist und Beweger der Geschichte zu sein, ohne die Wahrheit erkennen zu können. Was Belloq an der Geschichte interessierte, das einzige, was Sinn ergab, lag in der Wüste von Ägypten vergraben. Mit Glück, dachte Belloq. Mit ein bißchen oder auch sehr viel Glück. Er ließ Dietrich vorangehen. Ein nervöser Mann, ging es Belloq durch den Kopf, das Gesicht so bleich, als gehe jemand seiner Einrichtung entgegen, um ein Mindestmaß an Würde bemüht. Gedanke belustigte den Franzosen.
Nepal Die DC 3 überflog die weißen Berghänge, schwebte ab und zu durch Nebelwände, durch dichte Haufenwolken. Die Gipfel der Bergkette waren zumeist unsichtbar, verborgen in den eisigen Wolken, in Gewölk, das regungslos und undurchdringlich erschien, ganz so, als könnte kein Winterwind, kein Sturm sie vertreiben. Umwege, dachte Indy, während er zum Fenster hinausstarrte, weite Umwege: durch die Vereinigten Staaten nach San Francisco, dann mit dem China Clipper von Pan Am nach vielen Zwischenlandungen das erste Hauptziel erreicht: Hongkong. Mit einem alten Flugzeug weiter nach Schanghai, und schließlich mit der alten Mühle hier weiter nach Katmandu. Indy fröstelte unwillkürlich, als er sich die eisige Trostlosigkeit des Himalaya vorstellte. Die ungeheuren Gipfel, die unerforschten Schluchten und Täler, der Schnee, der alles meterhoch bedeckte. Eine Umwelt, die sich der Vorstellung eigentlich entzog, und trotzdem gab es hier Leben, Menschen existierten, arbeiteten, liebten. Er klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte - das Tagebuch von Abner Ravenwood - und ließ den Blick durch das Innere der Maschine gleiten. Er steckte die Hand in die Innentasche seiner Jacke und betastete das Bündel Geldscheine, das Marcus Brody einen >Vorschußdes amerikanischen Militärs< genannt hatte. Er besaß mehr als fünftausend Dollar, das er inzwischen als >Nachdrucks<-Geld sah, falls Abner Ravenwood seine Einstellung ihm gegenüber nicht geändert hatte. Ein bißchen Bestechung. Der alte Mann würde Geld sicherlich brauchen können, weil er, wie Indy wußte, seit Jahren keinen Lehrstuhl mehr innehatte. Er würde die große Geißel jeder akademischen Disziplin kennengelernt haben - die qualvolle Suche nach der Finanzierung. Die Bettelschale, mit der man unaufhörlich rasseln mußte- Fünftausend sind mehr Geld, als ich jemals bei mir getragen habe, dachte Indy. Eigentlich ein kleines Vermögen. Er fühlte sich ganz und gar nicht wohl damit. Geld hatte ihm nie etwas bedeutet, und er hatte es so rasch ausgegeben, wie es verdient worden war. Er schloß eine Zeitlang die Augen und fragte sich, ob er Marion noch bei ihrem Vater finden würde. Nein, dafür sprach nicht viel. Sie war erwachsen, sie würde fortgezogen sein, vielleicht sogar geheiratet haben, in den Staaten. Aber was, wenn sie doch noch bei ihrem Vater war? Was dann? Der Gedanke genügte, um ihn davor zurückschrecken zu lassen, Ravenwood in die Augen zu sehen. Aber all die Jahre. Inzwischen mußte sich doch vieles geändert haben. Vielleicht auch nicht, nicht bei jemandem, der so einseitig dachte wie Abner. Voreingenommen war voreingenommen - und wenn ein Kollege eine Liebesaffäre mit der eigenen Tochter hatte, dann setzte sich der Groll fest. Indy seufzte. Eine Schwäche, dachte er. Warum hast du damals nicht stark bleiben kön-nea> Warum hast du dich hinreißen lassen? Bei einem Mädchen, das noch gar nicht erwachsen war? Aber sie war ihm nicht unerwachsen vorgekommen, sie war eine Kind-Frau gewesen. Ihr Blick und ihr Aussehen hatten mehr gezeigt als ein Mädchen, das heranwuchs. Hör auf damit, vergiß es, ermahnte er sich. Du mußt dich jetzt mit anderen Dingen beschäftigen. Und Nepal ist nur ein Schritt auf dem Weg nach Ägypten. Ein weiter Schritt. Indy spürte, wie das Flugzeug kaum merklich herabsank, dann starker nach vorn kippte, dem Landeplatz entgegenrauschte. Er konnte aus der Schneewüste die schwach funkelnden Lichter einer Stadt auftauchen sehen. Er schloß die Augen und wartete auf den Augenblick, in dem das Fahrwerk den Boden berührte und das Flugzeug die Rollbahn hinunterfegte, bevor es abgebrernst wurde. Dann rollte das Flugzeug zu einem
Flughafengebäude - es war nicht viel mehr als ein großer Hangar, den man offenbar zu einem Abfertigungsgebäude umgebaut hatte. Er stand auf, räumte seine Papiere und Bücher zusammen, zog die Reisetasche unter dem Sitz heraus und ging durch die Maschine. Den Mann im Regenmantel unmittelbar hinter sich nahm Indiana Jones nicht wahr. Ein Passagier, der in Schanghai zugestiegen war und ihn auf dem letzten Teilstück der Reise ständig beobachtet hatte. Der Wind, der über das Flugfeld fegte, war beißend kalt und durchschnitt Indys Kleidung. Indy senkte den Kopf und hastete auf den Hangar zu, hielt mit der einen Hand seinen alten Filzhut fest, umklammerte mit der anderen die Leinentasche. Dann war er im Gebäude, das nicht viel wärmer wirkte. Die einzige Wärme schien von den dicht zusammengedrängten Leibern zu kommen, die er sah. Er brachte rasch die Zollformalitäten hinter sich, dann war er umringt von Bettlern, hinkenden Kindern, blinden Kindern, ein paar Männern mit Schüttellähmung, einigen zusammengeschrumpften Menschen, deren Geschlecht nicht erkennbar wurde. Sie klammerten sich an ihn, flehten ihn an, aber da er die Art der Bettler aus anderen Teilen der Welt kannte, wußte er auch, daß es besser war, nichts zu geben. Er zwängte sich hindurch, erstaunt von der Geschäftigkeit, die hier herrschte. Es war ebensosehr Bazar wie Flughafengebäude, voller Verkaufsstände und Tiere, dem Gewimmel eines Marktplatzes. Männer brieten Innereien auf Kohlenpfannen, andere würfelten hingebungsvoll, wieder andere schienen Esel zu versteigern - die Tiere waren in einer Reihe aufgestellt und mit Stricken gefesselt, Haut und Knochen, aus mehr bestanden sie nicht, dazu glanzlose Augen und räudiges Fell. Die Bettler drängten ihm nach. Er ging schneller, vorbei an den Buden, die Geldwechslern gehörten, Verkäufern von fremdartigen Früchten und Gemüsen, vorbei an den Teppich- und Tuchhändlern, an den Schneidern, die Lederbekleidung aus Yak-Häuten anboten, vorbei an den primitiven Imbißstuben und den Ständen, die kalte Getränke feilboten, umzingelt von Gerüchen, dem Gestank brodelnden Fetts, dem Duft von Parfüms, den Gerüchen unbekannter Gewürze. Er hörte, wie jemand im Gedränge seinen Namen rief. Indy blieb stehen und schwang ein wenig die Leinentasche, um die Bettler abzuwehren. Er starrte in die Richtung, wo die Stimme hergekommen war. Er sah das Gesicht von Lin Su, selbst nach so vielen Jahren war es ihm noch vertraut. Er zwängte sich zu dem kleinen Chinesen durch, und sie schüttelten sich eifrig die Hände. Lin Su, dessen faltiges Gesicht zu einem fast völlig zahnlosen Lächeln verzogen war, nahm Indy beim Ellenbogen und führte ihn durch einen Ausgang hinaus auf die Straße - wo ein Sturmwind, scharf und heftig, von den Bergen herabgeheult kam und zwischen den Häusern dahinfegte, als suche er Rache. Sie traten in einen Hauseingang. Der kleine Chinese hielt immer noch Indys Arm fest. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Lin Su in einem Englisch, das zugleich kurios und gemessen klang, das aber auch verriet, daß seine Sprachkenntnisse ein wenig eingerostet waren. »Es sind viele Jahre.« »Zu viele«, sagte Indy. »Zwölf? Dreizehn?« »Wie Sie schon sagen, zwölf...« Lin Su machte eine Pause und blickte die Straße hinauf. »Ich habe natürlich Ihr Kabel erhalten.« Seine Stimme wurde leiser, als seine Aufmerksamkeit auf eine Bewegung auf der Straße gerichtet wurde, auf einen Schatten, der an einem Eingang vorbeihuschte. »Sie werden die Frage verzeihen, alter Freund. Folgt Ihnen jemand?« Indy sah ihn erstaunt an. »Nicht daß ich wüßte.« Indy blickte auf die Straße. Er sah nichts als die mit Fensterläden verschlossenen Fassaden kleiner Läden und das blasse Licht von der Farbe einer Kerosinflamme, das aus dem offenen Eingang einer Kaffeestube fiel. Der kleine Chinese zögerte kurz, dann sagte er: »Ich habe Erkundigungen für Sie eingezogen, wie Sie es wünschten.« »Und?« »In einem Land wie diesem ist es schwer, rasch Informationen zu erhalten. Das ist Ihnen klar. Die fehlenden Nachrichtenverbin-dungen. Und natürlich das Wetter. Der vermaledeite Schnee erschwert alles. Das Telefonsystem ist primitiv, wenn es über-haupt vorhanden ist.« Lin Su lachte. »Ich kann Ihnen aber sagen, er Ravenwood, als man das letztemal von ihm hörte, in der Gegend von Patan gewesen ist. Dafür kann ich mich verbürgen. Alles andere, was ich erfahren habe, sind Gerüchte und der Rede kaum wert.« »Patan, sagen Sie. Wie lange ist das her?« »Schwer zu sagen. Die letzte zuverlässige Nachricht stammt von vor drei Jahren.« Lin Su zog die Schultern hoch. »Ich bin sehr traurig, daß ich nicht mehr vermochte, mein Freund.« »Sie haben es sehr gut gemacht«, sagte Indy. »Besteht die Aussicht, daß er noch dort sein könnte?« »Ich kann Ihnen sagen, daß niemand davon weiß, er habe das Land verlassen. Darüber hinaus ...« Lin Su fröstelte und schlug den Mantelkragen hoch. »Immerhin«, meinte Indy. »Ich hätte natürlich gern mehr geliefert. Ich habe die Hilfe nicht vergessen, die Sie mir zuteil werden ließen, als ich das letztemal in Ihrem großen Land war.« »Ich habe nur eine Eingabe an die Einwanderungsbehörde gemacht, Lin Su.« »Gewiß, aber Sie teilten mit, ich sei in Ihrem Museum beschäftigt, obwohl das gar nicht zutraf.«
»Eine Notlüge«, sagte Indy. »Aber Freundschaft ist nichts anderes als die Summe von Freundlichkeiten.« »Sie sagen es.« Indy fühlte sich bei den orientalischen Förmlichkeiten, bei diesen Sprüchen, die aus den Schriften eines drittklas-sigen Konfuzius stammen mochten, nicht immer wohl, aber er begriff, daß Lin Su sich so typgemäß benahm, weil er das Gefühl hatte, man erwarte das von ihm. »Wie komme ich nach Patan?« Lin Su hob einen Finger in die Luft. »Da kann ich Ihnen helfen. Ich habe mir sogar schon die Freiheit genommen. Kommen Sie mit.« Indy ging mit dem kleinen Mann ein Stück die Straße hinunter. Vor einem Gebäude stand ein schwarzes Auto unbekannter Machart. Lin Su zeigte mit Stolz darauf. »Ich stelle Ihnen mein Automobil zur Verfügung.« »Geht das wirklich?« »Gewiß. Im Inneren finden Sie die erforderliche Karte.« »Ich bin überwältigt.« »Eine Kleinigkeit«, sagte Lin Su. Indy ging um das Auto herum. Er schaute durch das Fenster hinein, sah die zerfetzte Lederpolsterung, durch die Sprungfedern herausragten. »Was ist das für ein Modell?« fragte er. »Eine Promenadenmischung, fürchte ich«, sagte Lin Su. »Es ist von einem Mechaniker in China zusammengebaut und unter einigen Kosten an mich geliefert worden. Ein Teil Ford, ein Teil Citroen. Ich glaube, daß von einem Morris auch etwas zu finden ist.« »Und wie lassen Sie da etwas reparieren?« »Das kann ich beantworten. Ich halte die Daumen, daß nie etwas defekt wird.« Der Chinese lachte und gab Indy die Schlüssel. »Bis jetzt hat mich das Fahrzeug nicht im Stich gelassen. Das ist auch sehr gut, weil die Straßen hier über die Maßen schlecht sind.« »Erzählen Sie von den Straßen nach Patan.« »Schlecht. Wenn Sie Glück haben, können Sie dem Schnee jedoch entgehen. Folgen Sie der Route, die ich auf der Karte eingezeichnet habe. Dann sollte Ihnen nichts zustoßen.« »Ich kann Ihnen nicht genug danken«, sagte Indy. »Sie bleiben nicht über Nacht?« »Leider nicht.« Lin Su lächelte. »Sie haben... wie ist der Ausdruck? Ah, ja. Eine feste Frist?« »Richtig, die habe ich.« »Ihr Amerikaner«, sagte er. »Sie haben es immer eilig. Und leiden immer an Magengeschwüren.« »Bis jetzt haben sie mich verschont«, meinte Indy und öffnete die Autotür. Sie knarrte vernehmlich. »Der Gang ist schwer zu betätigen«, sagte Lin Su. »Die Steuerung ist wackelig. Aber Sie kommen an Ihr Ziel und wieder Zurück.« Indy warf seine Tasche auf den Beifahrersitz. "Was kann man von einem Auto mehr verlangen?« »Viel Glück, In-di-a-na.« Es klang wie ein chinesischer Name, wenn Lin Su ihn so aussprach. Sie tauschten einen Händedruck, dann schloß Indy die Autotür. Er drehte den Schlüssel im Zündschloß herum, hörte den Motor aufheulen, dann rollte das Fahrzeug. Er winkte dem kleinen Chinesen zu, der schon die Straße hinunterlief und über das ganze Gesicht strahlte, als sei er stolz darauf, seinen Wagen einem Amerikaner geliehen zu haben. Indy blickte auf die Karte und hoffte, daß sie genau war, weil er davon überzeugt sein konnte, daß er hier keine Hinweisschilder vorfinden würde. Er fuhr stundenlang auf den ausgefahrenen Straßen dahin, die Lin Su auf der Karte eingezeichnet hatte. Als es dunkel wurde, schienen die Berge ringsum wie riesige Gespenster näher heranzurücken. Er war froh, daß er in den Pässen oft nicht sehen konnte, wie steil es neben der Straße hinabging. Hier und dort, wo die Straße verschneit war, mußte er ganz langsam fahren und manchmal sogar aussteigen, um sich den Weg freizuschaufeln. Eine trostlose Gegend. Unwirtlich in einem Maße, das jeder Beschreibung spottete. Indy fragte sich, wie das sein mußte, wenn man hier lebte und nichts als ewigen Winter kannte. Das Dach der Welt, so hieß es. Durchaus glaubhaft, aber eben ein schrecklich einsames Dach. Lin Su konnte es offenbar ertragen, aber es war wohl die ideale Lage für sein Geschäft: Ein- und Ausfuhr von Gütern, wo die ganze Konterbande der Welt hindurchgeschleust wurde, ob es gestohlene Kunstwerke, Altertümer, Waffen oder Rauschgifte waren. Die Behörden sahen darüber hinweg, die Beamten hielten die Hände auf. Indy fuhr gähnend und schläfrig weiter, sehnte sich nach Kaffee, um sich ein wenig aufzupulvern. Meile um Meile lauschte er dem Quietschen und Ächzen der Stoßdämpfer, dem Knarren der Reifen im Schnee. Und ganz plötzlich, bevor er sich auf der Karte vergewissem konnte, erreichte er die Außenbezirke einer Stadt. Der Ort schien keinen Namen zu haben, Schilder fehlten. Er hielt am Straßenrand an und faltete die Karte auseinander.
Er knipste die Deckenbeleuchtung an und kam zu dem Schluß, daß er Patan erreicht haben mußte, weil es auf Lin Sus Karte keine zweite größere Ortschaft gab. Er fuhr langsam durch den weitgedehnten Außenbezirk, vorbei an armseligen Hütten und fensterlosen Lehmbauten. Dann erreichte er das, was nach einer Durchgangsstraße aussah, eine schmale Durchfahrt, mehr eine Gasse mit winzigen Läden und engen Gängen, die sich in unheimlichen Schatten verloren. Er stoppte und schaute sich um. Eine sonderbare Straße - und viel zu still. Indy kam plötzlich zum Bewußtsein, daß hinter ihm ein anderes Fahrzeug nachkam. Es fuhr mit einem Schlenker an ihm vorbei und wurde schneller. Als es verschwand, wurde ihm klar, daß es das einzige andere Auto war, das er auf dem ganzen Weg gesehen hatte. Was für ein gottverlassenes Loch! dachte er und versuchte sich vorzustellen, daß Abner Ravenwood hier lebte. Wie konnte ein Mensch das nur aushaken? Jemand kam ihm auf der Straße entgegen. Ein Mann, ein großer breitschultriger Mann in einer Pelzjacke, der wie ein Betrunkener hin- und herschwankte. Indy stieg aus und wartete, bis der Mann mit der Pelzjacke herangekommen war, bevor er ihn ansprach. Der Mann roch nach Schnaps, und das so stark, daß Indy den Kopf wegdrehen mußte. Der andere trat argwöhnisch zur Seite, als erwarte er, überfallen zu werden. Indy hob die Arme und streckte die Hände aus, die Innenflächen nach oben, um seine Harmlosigkeit zu bezeigen, aber der Mann trat nicht näher heran. Er beobachtete Indy mißtrauisch. Er schien gemischtrassiger Abstammung zu sein, mit Augen, die orientalisch aussahen, und breiten Backenknochen, die an einen Mongolen denken ließen. Versuch es einfach mit Englisch, dachte Indy. »Ich suche Ravenwood«, sagte er. Das ist absurd, fügte er im stillen hinzu. Mitten in der Nacht in einem wildfremden Ort, und du fragst nach einem Menschen in einer Sprache, die hier keiner versteht. »Ein Mann namens Ravenwood.« Der Mann glotzte ihn verständnislos an. Er öffnete den Mund. »Kennen-Sie-Mann-namens-Ravenwood?« Ganz langsam, wie bei einem Schwachsinnigen. »Raven-wood?« sagte der Mann. »Getroffen, Freund«, nickte Indy. »Raven-wood.« Der Mann schien an dem Namen herumzu-kauen. »Ja. Genau. Wir stellen uns also jetzt die ganze Nacht hierher und lallen uns gegenseitig etwas vor«, meinte Indy resigniert, durchfroren und erschöpft, wie er war. »Ravenwood.« Der Mann lächelte plötzlich, drehte sich um und zeigte die Straße hinauf. Indy folgte dem Finger mit seinem Blick und entdeckte in der Ferne ein Licht. Der Mann legte die gewölbte Hand an den Mund, als trinke er. »Ravenwood«, wiederholte er unablässig und zeigte nach hinten. Er begann nachdrücklich zu nicken. Indy ließ es sich gesagt sein, daß er diese Richtung einschlagen sollte. »Sehr verbunden«, sagte er. »Ravenwood«, erwiderte der Mann. »Ja, genau, richtig«, sagte Indy und ging zum Auto zurück. Er stieg ein und fuhr weiter, hielt an dem Licht, das der Mann ihm gezeigt hatte, und bemerkte erst jetzt, daß er ein Wirtshaus vor sich hatte, an dem, ausgerechnet, ein Schild in englischer Sprache hing: THE RAVEN. Der Rabe, dachte Indy. Der Mann hatte ihn falsch verstanden. Durcheinander und betrunken dazu, das war alles. Immerhin, wenn das der einzige Laden war, der in diesem Kaff geöffnet hatte, konnte er hier haltmachen und feststellen, ob irgend jemand sich auskannte. Er stieg aus und nahm erst jetzt den Lärm wahr, der aus der Kneipe drang, das Stimmengewirr, das Geschrei und Gelächter einer ganzen Anzahl von Gästen, die schon stundenlang tranken. Es war ein Geräusch, das er schätzte, eines, an das er gewöhnt war, und es wäre ihm nichts lieber gewesen, als sich zu den Angeheiterten zu gesellen. Nichts da, sagte er sich. Du hast nicht einen so weiten Weg zurückgelegt, um dich vollaufen zu lassen wie ein verirrter Tourist, der einmal erleben will, wie die unteren Stände sich vergnügen. Du hast ein Ziel, das klar umrissen ist. Er ging zur Tür. Du bist ja schon weiß-Gott-wo herumgekommen, dachte er, aber das ist wohl der Gipfel. Als er hineintrat, sah er einen bunt zusammengewürfelten Haufen, ein Gemisch aus aller Herren Länder. Es war, als hätte jemand einen Schöpflöffel genommen, ihn in ein Glas getaucht, in dem alles schwamm, was die Welt an Typen hervorgebracht hatte, und den Inhalt hier in dieser absurden, einsamen Dunkelheit ausgegossen. Das ist wahrhaftig der Gipfel, dachte Indy belustigt. Sherpa-Bergführer, Nepalesen, Mongolen, Chinesen, Inder, bärtige Bergsteiger, die aussahen, als würden sie in ihrem jetzigen Zustand von einer Trittleiter kippen, verschiedene Leute, denen man nicht auf Anhieb ansah, wo sie herkamen. Das ist wahrhaftig Nepal, dachte er, und das ist das Treibgut des internationalen Rauschgifthandels, der Schmuggelorganisationen, der Banditen. Er schloß hinter sich die Tür, dann entdeckte er hinter der langen Bartheke an der Wand einen ausgestopften riesengroßen Raben, die Flügel drohend gespreizt. Reichlich unheimlich, dachte er. Und es beunruhigte ihn, daß diese seltsame Übereinstimmung zwischen Abners Familiennamen und dem Namen dieses Lokals aufgetaucht war. Zufall? Er trat vor in den Raum, der nach Schweiß und Alkohol und Tabakrauch roch. Er nahm den süßlichen Geruch von Haschisch in der Luft wahr. An der Bartheke, wo die meisten Gäste sich versammelt hatten, war etwas im Gange. Eine Art
Trinkwettbewerb. Auf der Theke stand eine lange Reihe von Schnapsgläsern. Ein großer, breiter Mann, der mit australischem Akzent etwas rief, stand schwankend davor, hob die Hand und tastete blind nach dem nächsten Glas. Indy trat näher heran. Eine Wette. Er fragte sich, wer der Gegner des Australiers sein mochte. Er zwängte sich durch das Gedränge, um das festzustellen. Als er es sah, als er den Gegner bei dem Wettbewerb erkannte, wurde ihm einen Augenblick schwindlig, seine Brust schnürte sich zu, ein Stich durchfuhr seinen ganzen Körper. Und sekundenlang stülpte die Zeit sich um, verwandelte sich wie eine vor langer Zeit gemalte, bis jetzt unberührte Landschaft. Eine Illusion. Eine Fata Morgana. Er schüttelte den Kopf, als könnte ihn das in die Wirklichkeit zurückreißen. Marion. Marion, dachte er. Die dunklen Haare, die in weichen Wellen auf ihre Schultern herabfielen, die großen, klugen braunen Augen, die Welt mit leichter Skepsis betrachtend, ein wenig ungläubig angesichts dessen, wozu der Mensch fähig war - Augen, bei denen es ihm stets so vorgekommen war, als blickten sie in das Innerste hinein, als könnten sie die geheimsten Triebfedern erkennen; der Mund -vielleicht war nur der Mund ein wenig anders geworden, ein wenig härter, der Körper ein wenig voller. Aber es war wirklich Marion, die Marion seiner Erinnerung. Und sie stand hier und hatte sich mit einem Bären von Australier in eine Trinkwette eingelassen. Er schaute zu, wagte kaum sich zu bewegen, während die Umstehenden Nebenwetten auf den Ausgang des Wettbewerbs abschlössen. Selbst dem ahnungslosesten Zuschauer mußte es als kaum denkbar erscheinen, daß der Australier von einer Frau unter den Tisch getrunken werden konnte, die nicht viel über einssechzig groß war. Aber sie kippte einen Schnaps nach dem anderen, ohne hinter dem Mann zurückzubleiben. Irgend etwas in Indy, eine Verkrampfung, ein steinharter Knoten, löste sich plötzlich und wurde weich. Er hätte sie am liebsten aus diesem Irrenhaus herausgeholt. Nein, wies er sich zurecht. Sie ist kein Kind mehr, nicht länger Abners Tochter - sie ist eine Frau, eine junge, schöne Frau. Und sie weiß, was sie tut. Sie wird allein fertig - sogar hier, mitten in diesem Gewühl von Verkommenen, Straßenräubern und Besoffenen. Sie kippte wieder ein Glas. Die Zuschauer brüllten. Mehr Geld flog auf die Theke. Jubelgeschrei. Der Australier taumelte, griff nach einem Glas, verfehlte und kippte um wie ein gefällter Baum. Indy war beeindruckt. Er sah zu, als sie die schwarzen Haare zurückwarf, nach dem Geld auf der Theke griff und den Gästen etwas zurief; obwohl er die Sprache nicht kannte, wurde aus ihrem Tonfall klar, daß sie den Wettbewerb für beendet erklärte. Ein Glas stand jedoch noch auf der Theke, und man sah, daß keiner sich zu entfernen gedachte, bevor sie auch dieses geleert hatte. Sie schaute sich im Kreis um und sagte: »Penner.« Dann kippte sie den Schnaps hinunter. Die Zuschauer brüllten wieder auf, Marion schwenkte die Arme, und das Gedränge begann sich aufzulösen. Murrend und schlurfend ging man zur Tür. Der Barmann, ein Nepalese, sorgte dafür, daß die Leute auch wirklich gingen, und drängte sie in die Nacht hinaus. In einer Hand hielt er einen Axtstiel. In einem Lokal wie diesem braucht man vielleicht sogar mehr als das, um schließen zu können, dachte Indy. Dann war es an der Theke leer, die letzten Nachzügler hatten den Raum verlassen. Marion ging hinter die Theke, hob den Kopf und sah Indy an. »He, hörst du nicht? Wohl taub, wie? Schluß! Hast du verstanden? Bairra tschakaiho?« Sie ging auf ihn zu. Auf einmal blieb sie wie angewurzelt stehen, als ginge ihr ein Licht auf. »Hallo, Marion«, sagte er. Sie rührte sich nicht. Sie starrte ihn nur an. Er versuchte sie so zu sehen, wie sie jetzt war, nicht als die Erscheinung in seinem Gedächtnis, und das fiel ihm auf einmal schwer. Wieder schnürte sich etwas zu in ihm, diesmal in seiner Kehle. »Hallo, Marion«, sagte er noch einmal. Er setzte sich auf einen Barhocker. Einen Augenblick lang glaubte er, in ihrem Blick eine alte Empfindung aufleuchten zu sehen, etwas, das dort eingesperrt war - aber was sie als nächstes tat, verblüffte ihn völlig. Sie ballte die Faust, holte blitzschnell aus und traf ihn mit Wucht am Kinn. Er kippte vom Barhocker herunter, blieb am Boden liegen und schaute zu ihr hinauf. »Mich freut es auch, dich wiederzusehen«, sagte er, rieb sich das Kinn und grinste. »Steh auf und verschwinde!« sagte sie. »Warte, Marion.« Sie blieb vor ihm stehen. »Ein zweites Mal geht das genausogut«, sagte sie und ballte wieder die Faust. »Das glaube ich«, sagte er. Er schob sich auf die Knie hoch. Durch Unterkiefer und Kinn ging ein schmerzhafter Stich. Wo hatte sie gelernt, so zuzuschlagen? Wo hatte sie überhaupt gelemt, so zu trinken? Was sagt man? dachte er. Aus dem Mädchen wird eine Frau, und die Frau weiß sich zu helfen.
»Ich habe dir nichts zu sagen.« Er stand auf und wischte sich den Schmutz von der Kleidung. »Okay, okay«, sagte er. »Mag sein, daß du nicht mit mir reden willst. Das kann ich verstehen -« »Sehr einsichtsvoll von dir.« Die Bitterkeit, dachte Indy. Verdiente er sie denn? Nun ja, vielleicht. »Ich bin hier, um mit deinem Vater zu sprechen«, sagte er. »Da kommst du zwei Jahre zu spät.« Indy bemerkte aus dem Augenwinkel, daß der Nepalese den Axtgriff in der Hand wog. Ein bedrohlich aussehender Bursche, eigentlich. »Schon gut, Mohan. Ich mache das schon.« Sie wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf Indy. »Geh nur nach Hause.« Mohan legte den Axtgriff auf die Theke. Als sie ihm zunickte, ging er achselzuckend zur Tür und verließ das Lokal. »Was heißt >zwei Jahre zu spät« fragte Indy langsam. »Was ist mit Abner?« Zum erstenmal schien sich in Marion etwas zu lösen. Sie atmete stockend aus, als wolle sie sich vom Druck der Trauer befreien. »Was kann ich wohl meinen? Eine Lawine hat ihn erwischt. Was hätte ihn sonst aufhalten können? Eigentlich ganz passend -er hat sein Leben lang gegraben. Soviel ich weiß, liegt er irgendwo noch da oben am Berg, tief unter dem Schnee.« Sie wandte sich ab und füllte ein Glas. Indy setzte sich wieder auf den Hocker. Abner tot. Unfaßbar. Um diesen Schlag zu verdauen, brauchte er mehr Zeit. »Er war der Überzeugung, seine geliebte Lade müßte hier an einem Berg vergraben sein.« Marion trank. Er konnte sehen, wie ihre Härte, wie diese rauhe, scheinbar eisenharte Schale Risse bekam. Aber sie kämpfte dagegen an, wollte sich diesem Schwächeanfall nicht beugen. »Er hat mich zu seinen verrückten Ausgrabungen um die halbe Welt gezerrt, als ich noch ein halbes Kind war«, sagte sie. »Dann stirbt er auf einmal. Er hat mir keinen Penny hinterlassen. Willst du wissen, wie ich gelebt habe? Ich habe hier gearbeitet. Und nicht gerade als Barfrau, kann ich dir verraten.« Indy starrte sie an. Er wußte selbst nicht genau, was er in diesem Augenblick empfand, welche Gefühle ihn bewegten. Sie waren ihm unvertraut, ganz fremdartig. Sie wirkte auf einmal furchtbar zerbrechlich. Und wunderschön. »Der Kerl, dem der Laden gehörte, schnappte über. Hier schnappt früher oder später jeder über. Und was passierte, als man ihn abholte? Willst du das wissen? Er hinterließ mir das Geschäft. Alles gehört mir, solange ich lebe. Kannst du dir etwas Schlimmeres vorstellen?« Es war zuviel, als daß Indy das auf einmal verdauen, auf einmal verarbeiten konnte. Er wollte etwas sagen, das sie trösten konnte, aber er wußte, daß es dafür keine Worte gab. »Es tut mir leid«, sagte er. »Vielen Dank.« »Es tut mir wirklich leid.« »Ich dachte, ich hätte dich geliebt«, sagte sie. »Und schau dir an, was du daraus gemacht hast.« »Ich wollte dir nicht weh tun.« »Ich war doch noch ein Kind.« »Hör zu, was ich getan habe, habe ich getan. Ich bin nicht glücklich darüber, ich kann es nicht erklären. Und ich erwarte auch nicht, daß du glücklich darüber bist.« »Es war falsch, Indiana Jones. Und das hast du auch ganz genau gewußt.« Indy schwieg. Er fragte sich, ob man sich für Gewesenes wirklich entschuldigen konnte. »Wenn ich zehn Jahre zurückgehen, wenn ich alles ungeschehen machen könnte, glaub mir, Marion, ich würde es tun.« »Ich wußte, daß du einmal durch diese Tür da kommen würdest. Frag mich nicht, warum. Ich wußte es einfach.« Er legte die Hände auf die Theke. »Warum bist du denn nicht zurückgegangen?« »Geld. Ganz einfach. Ich will zurück, wenn ich entsprechend auftreten kann.« »Vielleicht kann ich da helfen. Vielleicht kann ich endlich «was Gutes für dich tun.« »Ist das der Grund, warum du zurückgekommen bist?« Er schüttelte den Kopf. »Ich brauche eines von den Stücken, von denen ich glaube, daß dein Vater sie besessen hat.« Marions Hand zuckte hoch, aber diesmal war Indy vorbereitet und packte ihr Handgelenk. »Saukerl«, sagte sie. »Wenn du nur diesen verrückten alten Mann in Ruhe lassen würdest. Du hast ihm, weiß Gott, genug weh getan, als er noch lebte.« »Ich bezahle«, sagte er. »Wieviel?«
»So viel auf jeden Fall, daß du auf gehörige Weise nach Hause zurückgehen kannst.« »So? Der Haken dabei ist nur, daß ich seine Sachen verkauft habe. Gerumpel, alles miteinander. Er hat sein ganzes Leben dafür vergeudet.« »Alles? Du hast alles verkauft?« »Du bist enttäuscht? Wie fühlt man sich denn da, Mr. Jones?« Indy lächelte sie an. Ihr Augenblick des Triumphes war ihm aus irgendeinem Grund angenehm. Dann fragte er sich, ob sie wirklich die Wahrheit sagte, ob Abners Besitztümer wahrhaftig so wertlos gewesen waren. »Es gefällt mir, wenn du niedergeschlagen aussiehst«, sagte sie. »Ich spendiere dir ein Glas. Was willst du?« »Soda«, sagte er seufzend. »Soda? Die Zeiten haben sich geändert, Indiana Jones. Ich ziehe Scotch vor. Ich mag Bourbon und Wodka und Gin auch sehr gern. Von Kognak bin ich nicht so begeistert. Den trinke ich nicht mehr.« »Du bist jetzt ein hartgesottenes weibliches Wesen, wie?« Sie lächelte ihn wieder an. »Wir sind hier auch nicht gerade in Schenectady.« Er rieb sich wieder das Kinn. Plötzlich hatte er die Vorhutgefechte satt. »Wie oft soll ich noch sagen, daß es mir leid tut? Würde da jemals Schluß sein?« Sie schob ihm ein Glas Mineralwasser hin, und er trank mit einer Grimasse. Sie beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf der Theke ab. »Du kannst bar bezahlen, wie?« »Ja« »Erzähl mir von dem Ding, das du suchst. Wer weiß, vielleicht finde ich den Burschen, dem ich alles verkauft habe.« »Ein Bronzestück in Form der Sonne. Es trägt in der Mitte, nicht genau in der Mitte, ein Loch. Darin befindet sich ein roter Kristall. Das Ding stammt von einem Stab, auf den es aufgesetzt war. Kommt dir das bekannt vor?« »Vielleicht. Wieviel?« »Dreitausend Dollar.« »Nicht genug.« »Na gut. Ich kann bis fünftausend gehen. Du bekommst mehr, wenn du in die Staaten zurückgehst.« »Klingt ja sehr wichtig.« »Ist es auch.« »Habe ich dein Wort darauf?« Er nickte. »Das hatte ich schon einmal, Indy«, sagte Marion. »Als wir uns das letztemal sahen, hast du mir dein Wort gegeben, daß du wiederkommst. Erinnerst du dich?« »Ich bin wiedergekommen.« »Der alte Schweinehund«, sagte sie. Sie schwieg eine Weile, dann ging sie um die Theke herum, bis sie neben ihm stand. »Gib nur die fünftausend jetzt und komm morgen wieder.« »Warum morgen?« »Weil ich es sage. Weil es Zeit wird, daß ich zu bestimmen anfange, wo du beteiligt bist.« Er zog das Geld heraus und gab es ihr. »Okay«, sagte er. »Ich vertraue dir.« »Du bist nicht bei Trost.« "Ja«, sagte er seufzend. »Das sagt man allgemein.« kr stieg vom Hocker. Er fragte sich, wo er die Nacht verbringen sollte. Wahrscheinlich in einer Schneewehe, dachte er. Wenn Marion ihren Willen durchsetzte. Er wollte gehen. »Tu mir noch einen Gefallen«, sagte sie. Er drehte sich um und sah sie an. »Küß mich.« »Ich soll dich küssen?« »Ja. Los. Du sollst meine Erinnerung auffrischen.« »Und wenn ich nicht will?« »Brauchst du morgen gar nicht zu kommen.« Er lachte. Er beugte sich zu ihr vor, überrascht von seiner eigenen Begierde, dann von der plötzlichen Wildheit des Kusses, wie sie an seinen Haaren zerrte, wie ihre Zunge sich zwischen seine Lippen schob und in seinen Mund glitt. Der Kuß des Kindes war längst dahin; das war etwas anderes jetzt, der Kuß einer reifen, erfahrenen Frau. Sie löste sich aus seinen Armen, lächelte und griff nach ihrem Glas. »Und jetzt verschwinde endlich aus meinem Laden«, sagte sie. Sie sah ihm nach, sah die Tür hinter ihm zufallen. Lange Zeit bewegte sie sich nicht, dann löste sie das Tuch, das sie um den Hals geschlungen hatte. Zwischen ihren Brüsten hing eine Kette. Sie zog an der Kette. An ihrem
Ende hing ein sonnenförmiges Bronze-Medaillon mit eingesetztem Kristall. Sie rieb es nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger. Indy fror in der eiskalten Nachtluft, als er zum Wagen ging. Er blieb eine Weile darin sitzen. Was sollte er jetzt tun? Bis zum Morgen in diesem Kaff herumfahren? In Patan würde er kaum ein Dreisterne-Hotel finden, und der Gedanke, die Nacht schlafend im Auto zu verbringen, gefiel ihm nicht. Bis zum Morgen würde er steifgefroren sein. Vielleicht lasse ich ihr ein bißchen Zeit, sie wird weich, und ich kann wieder hinein, dachte er; vielleicht zeigt sie mir etwas von der Gastfreundschaft, für die Wirtsleute so berühmt sein sollen. Er legte die gewölbten Hände aneinander und blies hinein, um sie zu wärmen, dann ließ er den Motor an. Selbst das Lenkrad war so eiskalt, daß beinahe die Finger daran kleben blieben. Indy fuhr langsam davon. Er sah den Schatten im Hauseingang auf der anderen Straßenseite nicht, den Schatten des Mannes im Regenmantel, der in Schanghai in die DC 3 gestiegen war, ein Mann namens Toht, der auf ausdrückliche Anweisung einer Sonderbehörde des Dritten Reiches für die Sammlung von Altertümern nach Patan geschickt worden war. Toht ging über die Straße, begleitet von seinen Gehilfen - einem brutal aussehenden Deutschen mit Augenklappe, einem Nepalesen, der eine Pelzjacke trug, und einem Mongolen mit einer Maschinenpistole. Er hielt sie so im Arm, als könnte alles, was sich bewegte, zur Zielscheibe werden. Sie blieben vor der Tür zum Winshaus stehen und sahen Indiana Jones' Auto nach, das mit rot aufglühenden Heckleuchten verschwand. Marion stand nachdenklich vor dem Kohlenfeuer, einen Schürhaken in der Hand. Sie stocherte in den erlöschenden Flammen herum. Ganz plötzlich, ohne es zu wollen, obwohl ihr das als unentschuldbare Schwäche galt, weinte sie. Dieser verdammte Jones, dachte sie. Zehn Jahre unterwegs, auf einer mühevollen Straße, und er kommt einmal wieder angetanzt und fängt erneut an, mir etwas zu versprechen. Und die zehn Jahre schrumpften zusammen, die Zeit blätterte zurück, wie die Seiten eines Buches, und sie erinnerte sich, wie es damals gewesen war. Fünfzehnjahre war sie alt gewesen, und der Meinung, in den gutaussehenden jungen Archäologen verliebt zu sein, in den jungen Mann, vor dem ihr Vater sie gewarnt hatte. Sie hörte ihn noch sagen: >Du trägst nur Blessuren davon, auch wenn du mit der Zeit darüber hinwegkommst. < Der Schmerz war echt gewesen, aber das andere hatte nicht gestimmt. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, was sie immer behaupteten, die alten Waschweiber -vielleicht vergaß man den ersten Mann, die erste Liebe wirklich nie. Sie jedenfalls hatte nie das Köstliche daran vergessen, das Beben, das Gefühl, an der bloßen Erwartung der Küsse, der Umarmung zu sterben. Nichts hatte an diese unfaßbare Steigerung der Sinne herangereicht, an dieses Gefühl des Schwebens, als sei man körperlos, federleicht, ans Licht gehalten, durchsichtig. Sie entschied, daß sie dumm war, wenn sie weinte, weil der große Archäologe durch die Tür hereinstolziert war. Zum Teufel mit ihm, sagte sie sich vor. Jetzt ist er nur noch für das Geld gut. Mit zusammengezogenen Brauen ging sie zur Theke. Sie zog die Kette über den Kopf und legte das Medaillon auf die Bartheke. Sie griff nach dem Geld, das Indy ihr gegeben hatte, griff hinter die Bar und legte es in ein Kästchen aus Holz. Sie starrte immer noch auf das Madaillon, das im Schatten des ausgestopften Riesenvogels lag, als sie an der Tür ein Geräusch hörte. Sie fuhr herum und sah vier Männer hereinkommen. Im selben Augenblick wußte sie schon, daß es Ärger geben würde, und daß der Ärger dem guten alten Indiana Jones auf dem Fuß folgte. In was hat er mich da bloß hineingezogen? dachte sie. »Wir haben geschlossen, tut mir leid«, sagte sie. Der Mann mit dem Regenmantel, ein Gesicht wie ein offenes Rasiermesser, lächelte. »Wir wollen nichts trinken«, erwiderte er. Er sprach mit starkem deutschen Akzent. »Oh.« Und sie sah den Begleitern des Rasiermessers, dem Nepalesen und dem Mongolen (mein Gott, er hat eine Maschinenpistole, dachte sie) zu, als sie herumschnüffelten. Sie dachte an das Medaillon, das auf der Theke lag. Der Mann mit der Augenklappe ging nah daran vorbei. »Was wollen Sie?« fragte sie. »Genau dasselbe, was Ihr Freund Indiana Jones will«, gab der Deutsche zurück. »Ich bin sicher, daß er davon gesprochen hat.« »Nein, tut mir leid.« »Ah«, sagte der Mann. »Dann hat er es schon an sich gebracht?« »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie. Der Mann setzte sich und schlug seinen Regenmantel auseinander. »Verzeihen Sie, daß ich mich nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Toht. Arnold Toht. Jones hat nach einem bestimmten Medaillon gefragt, nicht?« »Vielleicht...« Sie dachte an die Schußwaffe auf dem Wandbrett hinter dem ausgestopften Raben und fragte sich, wie schnell sie danach würde greifen können. »Bitte, kommen Sie mir nicht damit«, sagte Toht. »Also gut. Er kommt morgen wieder. Warum kommen Sie da nicht auch zurück, und wir halten eine Versteigerung ab, wenn Sie so daran interessiert sind?« Toht schüttelte den Kopf. »Leider geht das nicht. Ich muß den Gegenstand heute noch haben, Fräulein Ravenwood.« Er stand auf, blickte ins Feuer, bückte sich und zog den Schürhaken aus der Glut.
Marion täuschte ein Gähnen vor. »Ich habe ihn nicht. Kommen Sie morgen wieder. Ich bin müde.« »Daß Sie müde sind, tut mir leid. Indes.. .«Er machte eine Kopfbewegung. Der Mongole packte Marion von hinten und drehte ihr die Arme auf den Rücken, während Toht den rotglühenden Schürhaken aus dem Feuer zog und auf sie zukam. »Ich glaube, ich kann Ihren Standpunkt verstehen«, sagte sie. »Mit mir kann man vernünftig reden -« »Gewiß, gewiß.« Toht seufzte, als sei ihm Gewaltanwendung zuwider, trat auf sie zu und hielt ihr den Schürhaken vor das Gesicht. Sie spürte die Hitze auf der Haut. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und wehrte sich gegen den Griff des Mongolen, aber er war zu stark für sie. »Warten Sie, ich zeige Ihnen, wo das Ding ist.« »Dazu hatten Sie vorher Gelegenheit, meine Liebe«, erwiderte Toht. Ein Sadist reinsten Wassers, dachte sie. Auf das Medaillon kommt es ihm nur nebenbei an, er will sehen, wie das rotglühende Eisen mein Gesicht verbrennt. Sie wehrte sich heftig, aber es war nutzlos. Also gut, dachte sie, du hast alles andere verloren, dann kommt es auf dein Aussehen auch nicht mehr an. Sie versuchte den Mongolen in den Arm zu beißen, aber er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Hand roch nach Wachs. Sie starrte auf den Schürhaken. Zu nah. Zehn Zentimeter. Fünf. Vier. Der Übelkeit erregende Geruch von glühendem Metall. Und dann Dann geschah alles zu schnell für sie. Im ersten Augenblick begriff sie nichts. Die Ereignisse überschlugen sich, wischten an ihr vorbei, verschwammen wie eine Tuschezeichnung im Regen. Sie hörte einen Knall, einen heftigen Knall, und sie sah, wie die Hand des Deutschen plötzlich hochflog, der Schürhaken durch Zimmer zum Fenster wirbelte, wo er sich im Vorhang verfing, der zu schwelen begann. Sie fühlte, wie der Mongole sie losließ, dann begriff sie, daß Indiana Jones zurückgekommen war, daß er an der Tür stand, in der einen Hand seine altbekannte lange Lederpeitsche, in der anderen eine Pistole. Indiana Jones, im allerletzten Augenblick zur Stelle wie die rettende Reiterei. Wo warst du so lange? hätte sie am liebsten geschrien. Aber jetzt wollte sie eingreifen, sie mußte eingreifen, im Lokal knisterte es vor Spannung, als entlüde sich ein Gewittersturm. Sie fuhr herum und griff nach einer Flasche, als Toht auf sie schoß, aber er hatte nicht gut genug gezielt, und sie überschlug sich am Boden hinter der Theke, während Glassplitter her abregneten. Ein Schuß nach dem anderen, ganze Salven, ohrenbetäubend laut, als wollten ihre Trommelfelle zerreißen. Der Mongole, etwas schwerfällig, zielte mit seiner Maschinenpistole. Er richtet sie auf Indy, dachte sie, genau auf Indy. Schnell. Sie griff instinktiv nach dem Axtgriff ihres Barmannes und hieb ihn dem Mongolen über den Kopf, so fest sie konnte. Er brach zusammen. Aber dann war noch jemand in der Bar, jemand, der durch die Tür gebrochen war, als sei sie aus Pappe, und sie hob den Kopf und sah jemanden, den sie erkannte, einen Sherpa aus dem Ort, einen Riesen, den man mit ein paar Gläsern Schnaps für alles anwerben konnte. Er kam herein wie ein Wirbelwind, packte Indy von hinten und riß ihn zu Boden. Und Toht brüllte: »Schießt! Schießt beide nieder!« Der Mann mit der Augenklappe wurde auf Tohts Befehl lebendig. Er hatte eine Pistole in der Hand, und es war unverkennbar, daß er nicht zögern würde, Tohts Anweisung nachzukommen. Marion geriet in Panik, aber dann geschah etwas Seltsames: Indy und der Sherpa griffen gleichzeitig nach der Waffe, die auf den Boden gefallen war. Sie richteten sie auf ihren Gegner, und die Waffe krachte, das Geschoß traf den mit der Augenklappe am Hals und schleuderte ihn zurück. Er taumelte rückwärts, bis er an der Thekenwand herunterrutschte, den Kopf nach vorn geknickt. Dann ging der Kampf weiter, das widersprüchliche Zusammenspiel, der Waffenstillstand, das war alles vorbei. Indy hatte die Pistole wieder verloren, und er und der Sherpa rollten ineinander verkeilt über den Boden. Jeder versuchte, die Waffe an sich zu reißen. Toht hatte nun freie Schußbahn auf Indiana. Marion riß die Maschinenpistole hoch, die der Mongole hatte fallen lassen, und versuchte sich darüber klarzuwerden, wie man sie bediente -wie sollte man sie schon bedienen, außer, den Abzug betätigen? Sie eröffnete das Feuer, aber die Waffe bäumte sich im Rückstoß auf. Die Geschosse fetzten an Toht vorbei. Dann fielen ihr die Flammen auf, die von den Vorhängen auf die Einrichtung übergriffen. Hier gewinnt keiner, dachte sie. Nur das Feuer. Aus dem Augenwinkel sah sie Toht am Ende der Theke kauern, als die Flammen hochschlugen und über die ganze Bar hinwegloderten. Er hat es gesehen, dachte sie. Er hat das Medaillon gesehen. Sie sah, wie seine Hand sich darauf zuschob, sah die Freude auf seinem Gesicht, und dann kreischte er auf, als das vom Feuer geschwärzte Medaillon seine Handfläche verbrannte, Form und Umriß, die alte, uralte Inschrift tief in sein Fleisch sengte. Er konnte es nicht festhalten. Die Schmerzen waren zu stark. Er wankte zur Tür, seine verbrannte Hand umklammernd. Dann zuckte Marions Blick zu Indy hinüber, der mit dem Sherpa rang. Der Nepalese tanzte um sie herum und versuchte, freie Schußbahn auf Indy zu gewinnen. Sie versuchte die Maschinenpistole abzufeuern, aber die Munition schien verschossen zu sein. Nichts rührte sich. Dann die Pistole. Die Waffe hinter dem ausgestopften Raben. Durch Flamme und sengende Hitze griff sie danach, hörte ringsum die Schnapsflaschen platzen wie Benzinbomben, zielte auf den Nepalesen. Ein Volltreffer, dachte sie. Ein einziger Volltreffer.
Er sprang herum wie ein Wilder, wollte nicht stillstehen. Der Rauch nahm ihr die Sicht, erstickte sie. Indy gab dem Sherpa einen Tritt, daß er davonrollte, dann hatte der Nepalese freie Bahn zu Indys Kopf. Jetzt! Du mußt es jezt tun! Sie drückte ab. Der Nepalese wurde vom Einschlag hoch- und nach hinten gerissen. Indy sah sie durch Rauch und Flammen hindurch dank-bar an und lächelte. Packte Peitsche und Hut und schrie: »Nichts wie raus hier!« »Nicht ohne das Stück, das du wolltest.« »Es ist hier?« Marion stieß mit einem Tritt einen brennenden Stuhl weg. Von der Decke brach mit heftigem Auflodern ein Holzbalken herunter und versprühte Funkenregen und Aschenglut. »Laß es!« schrie Indy. »Ich will, daß du hier rauskommst! Schnell! Aber Marion hetzte zu der Stelle, wo Toht das Medaillon hatte fallen lassen. Hustend, bemüht, nicht tief einzuatmen, während ihre Augen brannten und tränten, bückte sie sich und hob das Medaillon mit ihrem Halstuch auf. Dann hielt sie Ausschau nach dem Holzkästchen mit dem Geld. »Unfaßbar!« Asche. Fünftausend Dollar, in Rauch aufgegangen. Indiana Jones packte sie beim Handgelenk und zerrte sie durch das Feuer zur Tür. »Weg! Weg hier!« brüllte er. Sie stürzten hinaus in die kalte Nacht, gerade als die Decke einstürzte, als Rauch und Flammen sich in zerstörerischer Wut in die Dunkelheit ergossen. Glühende Asche, lodernde Balken, flammendes Holz - sie tanzten durch das aufflammende Dach in den Himmel hinauf. Indy und Marion standen auf der anderen Straßenseite und schauten zu. Sie bemerkte, daß er immer noch ihr Handgelenk festhielt. Diese Berührung. Es war so lange her, so viel Zeit war vergangen, und noch während sie an die Berührung, an die Reibung seiner Haut auf der ihrigen dachte, kämpfte sie die Erinnerung nieder. Sie machte sich los und trat einen Schritt zur Seite. Sie starrte lange in das lodernde Feuer und schwieg. Holz knallte und brach auseinander. »Ich finde, du bist mir einiges schuldig«, sagte sie schließlich. »Allerhand sogar.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel das da«, sagte sie und hielt ihm das Medaillon hin. »Ich bin deine Partnerin, Freund. Das Ding hier gehört nämlich immer noch mir.« »Partnerin?« sagte er. »Genau.« . Sie starrten noch geraume Zeit in die Flammen, ohne zu bemerken, wie Arnold Toht durch die Gassen abseits der Hauptstraße davonschlich, eine Ratte im Labyrinth. Im Auto sagte Marion: »Was nun?« Indy schwieg kurze Zeit. »Ägypten«, erwiderte er schließlich. »Ägypten?« Marion sah ihn an, als der Wagen durch die Dunkelheit rollte. »Mit dir kommt man in die ausgefallensten Gegenden.« Die Umrisse der Berge tauchten auf; ein bleicher Mond erschien. Indy sah, wie die Wolken sich auflösten. Er fragte sich, warum er sich plötzlich bedrückt fühlte. Das Gefühl verflog aber rasch, als er Marion lachen hörte. »Was ist denn so lustig?« »Du«, sagte sie. »Du mit deiner Peitsche.« »Spotte lieber nicht darüber. Sie hat dir das Leben gerettet.« »Ich konnte es fast nicht glauben, als ich dich sah. Die komische alte Peitsche hatte ich ganz vergessen. Ich weiß noch, wie du den ganzen Tag damit geübt hast. Die alten Flaschen an der Wand, und du mit der Peitsche davor.« Sie lachte wieder. Indy erinnerte sich an die Faszination, die von der Peitsche ausgegangen war, seitdem er als Siebenjähriger im Zirkus eine Peitschennummer gesehen hatte. Mit großen Augen war er dagesessen und hatte verfolgt, wie der Peitschenartist allen Gesetzen der Natur Hohn zu sprechen schien. Und dann die vielen Übungsstunden, eine Hingabe, die niemand erklären konnte, nicht einmal er selbst. »Gehst du irgendwohin, ohne sie mitzunehmen?« fragte sie. »Ich nehme sie nie mit in den Hörsaal«, erwiderte er. »Aber du schläfst damit, möchte ich wetten.« »Das kommt ganz darauf an«, sagte er. Sie blickte stumm in die Bergnacht hinaus. Nach einer Weile sagte sie: »Worauf kommt es an?« »Überleg es dir selber.« »Ich glaube, ich habe begriffen.« Er warf einen Seitenblick auf sie, dann achtete er wieder auf die mit Schlaglöchern übersäte Straße.
Ausgrabungsstätte Tanis, Ägypten
Die heiße Sonne versengte den Sand, brannte auf der Wüste, die sich von einem Horizont zum anderen erstreckte. An einem Ort wie diesem kann man sich die ganze Welt als Wüste im Sonnenglast vorstellen, dachte Belloq, als einen Planeten ohne Vegetation, ohne Gebäude, ohne Bewohner. Ohne Menschen. Aus irgendeinem Grund gefiel ihm der Gedanke. Verrat und Hinterlist waren ihm stets als die gängige Währung unter den Menschen erschienen - und aus diesem Grund hatte er sich dieser Zahlungsmittel bedient. Und wenn es nicht Verrat und Hinterlist waren, womit die Menschen am besten umgehen konnten, dann war es die Gewalt. Er beschattete die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und trat einige Schritte vor, um die Ausgrabungen zu beobachten. Ein großes Gelände - aber das entsprach der Art der Deutschen. Großflächig, mit allem Drum und Dran, auch dem Überflüssigen. Er schob die Hände in die Taschen und sah den Lastwagen und Planierraupen zu, den Arabern, die schaufelten, den deutschen Aufsehern. Und dem albernen Dietrich, der sich für den Oberherrn des Ganzen zu halten schien, der Befehle bellte und wie von Furien gehetzt umherlief. Belloq blieb stehen und hielt den Blick weiter auf die Arbeiten gerichtet, ohne sie eigentlich zu sehen. Er hatte einen geistesabwesenden Ausdruck im Gesicht. Er erinnerte sich an die Begegnung mit dem Führer, an dessen geschmackloses, übertriebenes Auftreten. Sie sind die maßgehende Kapazität auf diesem Gebiet, twe ich höre, und ich brauche den besten Mann. Geschmacklos und ahnungslos. Falsche Komplimente und dann unsinniges Geschwafel, das Tausendjährige Reich, der grandiose historische 85 Rahmen, die Aufgabe, die sich nur ein Wahnsinniger hatte stellen können. Belloq hatte einfach nicht mehr zugehört und den Führer nur verwundert angestarrt, verblüfft, weil das Geschick eines Staates in solche Hände geraten war. Ich will die Bundeslade, versteht sich. Die Bundeslade gehört ins Reich. Etwas, das so alt ist, muß nach Deutschland. Belloq schloß die Augen vor der gleißenden Sonne. Er hörte nicht mehr auf den Lärm der Arbeiten, die Rufe der Deutschen, die vereinzelten Antworten der Araber. Die Bundeslade. Sie gehört keinem einzelnen, keinem bestimmten Ort, keiner bestimmten Zeit. Aber ihre Geheimnisse gehören mir, wenn es wirklich Geheimnisse gibt. Er öffnete die Augen und starrte auf die Ausgrabungsstätte, auf die riesigen Krater, die in den Sand geschürft worden waren, und er verspürte sonderbare Schwingungen, ein Gefühl der Überzeugung, daß die großartige Beute irgendwo in der Nähe sein mußte. Er konnte es fühlen, war sich der Macht bewußt, hörte ein Wispern, das bald zu einem Donnern werden würde. Er zog die Hände aus der Tasche und starrte auf das Medaillon in seiner Hand. Während er den Gegenstand betrachtete, kam ihm eine sonderbare Besessenheit zum Bewußtsein - und die Angst, daß er ihr früher oder später erliegen mochte. Man brauchte nur lange genug nach etwas zu gieren, wie er nach der Bundeslade gierte, und man nahm den Anflug eines Wahnes wahr, der beinahe ... beinahe was war? Göttlich. Vielleicht war es der Wahn der Heiligen und Zeloten. Eine Vision von so gewaltigen Ausmaßen, daß die Wirklichkeit daneben einfach verblaßte. Eine Empfindung von derart unbeschreiblicher kosmischer Macht, daß das dünne Gefüge dessen, was man für die wirkliche Welt hielt, zerriß, auseinanderbrach und einem Begreifen Platz machte, das wie die Erkenntnis Gottes alles überstieg. Vielleicht. Er lächelte vor sich hin. Er ging um die Gräben herum, vorbei an den Lastautos und Baggern. Er umklammerte das Medaillon fest mit der Hand. Er dachte daran, wie die Schläger, die Dietrich nach Nepal geschickt hatte, ohne Ergebnis geblieben waren. Er verzog angewidert den Mund. Aber die Schwachköpfe hatten etwas mitgebracht, das seinen Zwecken dienlich war. Toht hatte ihm jammernd seine Hand gezeigt, um Mitgefühl zu schinden, vermutete Belloq. Ohne sich darüber klarzusein, daß in seiner Handfläche eine genaue Nachbildung eben des Gegenstandes eingeprägt war, den zu beschaffen er versäumt hatte. Er war belustigt gewesen, Toht Stunden und Tage unruhig dasitzen zu sehen, während er, Belloq, mit großer Genauigkeit eine Kopie angefertigt hatte. Er hatte sich alle Mühe gegeben, das Original nachzubilden. Aber es war nicht echt, nicht das historische Gebilde. Für seine Berechnungen in dem Raum mit dem Stadtmodell war es genau genug, ausreichend für den Schacht der Seelen, aber er wollte das Original unbedingt haben. Belloq steckte das Medaillon wieder in die Tasche und ging zu Dietrich hinüber. Er schwieg lange Zeit. Es machte ihm Spaß, zu verfolgen, wie unbehaglich dem Deutschen in seiner Gegenwart wurde. Nach einiger Zeit sagte Dietrich: »Es geht gut voran, nicht wahr?« Belloq nickte und legte wieder die Hand über die Augen. Er dachte an etwas anderes, das ihn störte. Es war die Nachricht, die einer von Dietrichs Lakaien aus Nepal mitgebracht hatte. India-na Jones. Natürlich hätte er sich denken können, daß Jones früher oder später zur Stelle sein würde. Jones war ein Ärgernis, auch wenn die Rivalität zwischen ihnen stets mit einer Niederlage für ihn endete. Er ist zu wenig verschlagen, dachte Belloq. Der Instinkt fehlt ihm. Genau das, worauf es ankommt. Aber nun war er mit dem Mädchen, Ravenwoods Tochter, in Kairo gesehen worden.
Dietrich drehte sich zu ihm herum und sagte: »Sind Sie in der änderen Sache zu einer Entscheidung gelangt?« »Ich denke schon«, sagte Belloq. »Ich nehme an, es ist die Entscheidung, mit der zu rechnen war.« »Man sollte nie voreilig sein, mein Freund.« Dietrich sah den anderen stumm an. Belloq lächelte. »Aber in diesem Fall haben Sie vermutlich recht « »Soll ich mich darum kümmern?« Belloq nickte. »Ich glaube, die Einzelheiten kann ich Ihnen überlassen « »Versteht sich«, sagte Dietrich.
Kairo Die Nacht war warm und windstill, die Luft wie Vakuum, trocken, schwer zu atmen, als sei untertags die ganze Feuchtigkeit verdunstet. Indy saß mit Marion in einer Kaffeestube und blickte immer wieder zur Tür. Stundenlang waren sie durch Seitenstraßen und Gassen gelaufen, hatten sich von den Hauptstraßen ferngehalten - und trotzdem hatte er das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Marion wirkte erschöpft und ausgelaugt, ihre langen Haare waren feucht vom Schweiß. Indy konnte nicht übersehen, daß sie immer ungeduldiger mit ihm wurde. Sie starrte ihn jetzt über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg vorwurfsvoll an. Er beobachtete die Tür, sah sich jeden genau an, der hereinkam oder hinausging, und drehte ab und zu das Gesicht nach oben, um die schwache Luftbewegung aufzufangen, die vom Deckenventilator kam. »Du könntest wenigstens den Anstand haben, mir zu sagen, wie lange wir noch so herumschleichen«, sagte Marion. »Tun wir das?« »Daß wir uns verstecken, sieht doch ein Blinder, Indiana. Ich »rage mich langsam, warum ich aus Nepal weggegangen bin. Mein Geschäft lief schließlich sehr gut, und deinetwegen ist der Laden abgebrannt.« Er sah sie an und lächelte. Es gefiel ihm, daß sie so lebhaft wurde, wenn sie in Zorn geriet. Er griff über den kleinen Tisch und berührte ihre Hand. »wir verstecken uns vor solchen Burschen, wie wir sie in Nepal am Hals hatten.« »Na schön, das sehe ich ein, aber wie lange soll das dauern?« »Bis ich das Gefühl habe, daß es sicher ist, zu gehen.« »Wohin? Was hast du im Sinn?« »Ich bin nicht völlig ohne Freunde.« Sie seufzte und leerte ihre Tasse, lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Weck mich, wenn du dich entschlossen hast, ja?« Indy stand auf und zog sie hoch. »Es ist soweit«, sagte er. »Wir können gehen.« »Mensch«, murrte sie. »Gerade, wenn ich mich auf Schönheitsschlaf einrichte.« Sie traten hinaus in die Gasse, die fast völlig verlassen war. Indy blieb stehen und blickte nach links und rechts, dann griff er nach ihrer Hand und zog sie mit. »Würdest du mir vielleicht verraten, wohin wir gehen?« »Zu Sallah.« »Und wer ist Sallah?« »Der beste Ausgräber in ganz Ägypten.« Er konnte nur hoffen, daß Sallah noch im selben Haus lebte. Und dahinter verbarg sich eine zweite Hoffnung, eine tiefergreifende, nämlich die, daß Sallah bei den Ausgrabungen in Tanis beschäftigt war. Er blieb an einer Ecke stehen, wo zwei schmale Gassen abzweigten. »Dahin«, sagte er und zog Marion mit. Sie seufzte, gähnte breit und ließ sich mitzerren. In den Schatten hinter ihnen bewegte sich etwas, lautlos über den Boden huschend, bemüht, dem Paar auf den Fersen zu bleiben. Indy wurde in Sallahs Haus begrüßt, als hätten sie sich erst vor wenigen Wochen zum letztenmal gesehen. Dabei lag das Jahre zurück. Trotzdem hatte Sallah sich kaum verändert. Dieselben klugen Augen im braunen Gesicht, dieselbe energische Fröhlichkeit, die gleiche Gastfreundlichkeit und Wärme. Sie umarmten sich, und Sallahs Frau Fayah, groß und breit, bat sie ins Haus. Die Herzlichkeit der Begrüßung berührte Indy tief. Er fühlte sich im Haus sofort wohl. Als sie sich im Eßzimmer an den Tisch setzten und Speisen vorgesetzt bekamen, die Fayah mit Windeseile auf den Tisch zauberte, blickte er zu dem zweiten Tisch in der Ecke hinüber, wo Sallahs Kinder saßen. »Manches ändert sich also doch«, sagte er. Er schob ein Stück Lammfleisch in den Mund und wies mit dem Kopf zu den Kindern hinüber.
»Ah«, sagte Sallah. Seine Frau lächelte stolz. »Beim letztenmal waren es noch nicht so viele.« »Ich erinnere mich nur an drei«, meinte Indy. »Jetzt sind es neun«, erwiderte Sallah. »Neun«, sagte Indy und schüttelte staunend den Kopf. Marion stand auf und ging zu den Kindern hinüber, sprach mit ihnen, legte die Hand auf ihre Schultern, spielte kurze Zeit mit ihnen und kam wieder zurück. Indy bildete sich ein, daß sie und Fayah einen Blick tauschten, der Einverständnis und Liebe zu den Kindern verriet. Er selbst hatte in seinem Leben für Kinder nie Zeit gehabt, sie stellten eine Komplikation dar, die er nicht brauchen konnte. »Wir haben beschlossen, bei neun aufzuhören«, erklärte Sallah. »Das halte ich für klug«, lobte Indy. Sallah griff nach einer Dattel, kaute eine Weile und sagte schließlich: »Es ist wirklich schön, Sie wiederzusehen, Indiana. Ich habe oft an Sie gedacht. Ich wollte sogar schreiben, aber ich bin ein schlechter Briefschreiber und dachte mir, Sie wären auch kein guter.« »Ganz richtig.« Indy griff ebenfalls nach einer prallen, frischen Dattel. Sallah lächelte. »Ich wollte nicht gleich fragen, aber Sie sind sicher nicht bis nach Kairo gekommen, nur um mich zu sehen. Habe ich recht?« »Allerdings.« Sallah sah ihn listig an. »Ich würde sogar eine Wette bezüglich des Grundes für Ihr Kommen eingehen.« Indy starrte seinen alten Freund an, lächelte und schwieg. »Aber ich bin keine Spielernatur«, fuhr Sallah fort. »Natürlich nicht«, sagte Indy. »Bei Tisch reden wir nicht vom Geschäft«, warf Fayah trocken ein. »Später«, sagte Indy. Er warf einen Blick auf Marion, die halb zu schlafen schien. »Später, wenn alles ruhig ist«, bestätigte Sallah. Es blieb kurze Zeit still, dann wurde es plötzlich laut im Zimmer, als die Kinder in Geschrei ausbrachen. Fayah drehte sich um und versuchte Ruhe zu stiften, aber die Kinder hörten nicht auf sie. Sie stand auf und sagte streng: »Wir haben Gäste. Was sind das für Manieren?« Es war nutzlos. Erst als sie zu ihnen hinüberging, wurden sie still und fuhren auseinander. Mitten auf dem Tisch saß ein kleiner Affe und kaute an einer Brotrinde. »Wer hat das Tier hereingebracht?« fragte Fayah scharf. »Wer war das?« Die Kinder antworteten nicht. Sie lachten über den Affen, der mit dem Brot in der Hand auf dem Tisch herumstolzierte. Er überschlug sich, machte einen Handstand, sprang vom Tisch und lief zu Marion hinüber. Dort hüpfteer auf ihren Schoß und küßte sie blitzschnell auf die Wange. Sie lachte. »Ein Kußäffchen, wie?« sagte sie. »Ich mag dich auch.« »Wie ist er hereingekommen?« fragte Fayah. Die Kinder drucksten herum, dann sagte das älteste von ihnen: »Das wissen wir nicht. Er ist einfach aufgetaucht.« Fayah starrte ihre Brut ungläubig an. »Wenn Sie das Tier hier nicht haben wollen -«, sagte Marion. »Wenn es Ihnen gefällt, ist es bei uns willkommen, Marion«, unterbrach Fayah sie. »Wie Sie auch.« Marion behielt den Affen noch kurze Zeit auf dem Schoß, dann stellte sie ihn hinunter. Er sah sie vorwurfsvoll an und sprang sofort wieder hinauf. »Er scheint dich zu lieben«, meinte Indy. Tiere empfand er noch ein wenig störender als Kinder, sie waren nicht so drolligSie legte die Arme um das kleine Geschöpf und drückte es an sich. Indy beobachtete sie kurz, dann wandte er sich Sallah zu. Der Araber stand auf. »Wir können in den Hof hinausgehen«, sagte Sallah. Indy folgte ihm. Im ummauerten Innenhof war es heiß; die Müdigkeit drückte ihn stärker nieder, aber er wußte, daß er ihr noch nicht nachgeben durfte. Sallah deutete auf einen Baststuhl, und Indy setzte sich. »Sie wollen über Tanis reden«, sagte Sallah. »Genau.« »Das habe ich mir gleich gedacht.« »Sie arbeiten also dort?« Sallah blickte geraume Zeit zum Nachthimmel hinauf und schwieg. »Indy«, sagte er schließlich. »Heute nachmittag bin ich persönlich in den Raum mit dem Stadtplan eingedrungen.«
Obwohl Indy die Mitteilung eigentlich erwartet hatte, traf sie ihn tief. Eine Zeitlang war es, als sei sein Gehirn leergefegt, als wären alle Vorstellungen und Erinnerungen in einem dunklen Abgrund verschwunden. Der Raum mit dem Stadtplan von Tanis. Er dachte an Abner Ravenwood, an die lebenslange Suche nach der Bundeslade, an den Tod im Schnee. Nach einer Weile befaßte er sich mit sich selbst und der seltsamen, eifersüchtigen Reaktion, die ihn erfaßt hatte, beinahe so, als hätte er derjenige sein müssen, der als erster in diesen Raum eindrang, als sei das sein Recht gewesen, wie ein Vermächtnis, das Ravenwood ihm auf obskure Weise hinterlassen hatte. Unvernünftiges Zeug, dachte er. Ersah Sallah an und sagte: »Sie sind schnell.« »Die Nazis sind gut organisiert, Indy.« »Ja. Wenigstens auf einem Gebiet sind sie gut, und sei es die Ausführung von Befehlen.« »Außerdem führt der Franzose die Oberaufsicht.« »Der Franzose?« »Belloq.« Indy saß hochaufgerichtet auf dem Stuhl. Belloq. Gab es keinen Ort auf der Welt, an dem der Kerl nicht auftauchte? Zuerst war Indy zornig, dann wurde ein anderes Gefühl lebendig, eines, «s ihm besser behagte, das Gefühl, im Konkurrenzkampf zu ehen, der Kitzel, eine Möglichkeit zu erkennen, die auf Revanche wies. Er lächelte. Belloq, dachte er, diesmal bist du dran. Seine Entschlossenheit wuchs. Er zog das Medaillon aus der Tasche und gab es Sallah. »Den Raum mit dem Plan der Stadt mögen sie gefunden haben«, sagte er, »aber ohne das hier werden sie nicht sehr weit kommen, wie?« »Ich nehme an, das ist der Aufsatz vom Stab des Re.« »Richtig. Die Inschrift ist mir unverständlich. Was halten Sie davon?« Sallah schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht lesen, aber ich kenne jemanden, der vielleicht dazu imstande ist. Ich werde Sie morgen zu ihm bringen.« »Dafür wäre ich sehr dankbar«, sagte Indy. Er nahm das Schmuckstück wieder an sich und steckte es ein. Kann nichts passieren, dachte er. Ohne das Stück hier ist Belloq praktisch blind. Ein Gefühl des Triumphs machte sich breit. Das gehört alles mir, Rene, dachte er. Wenn ich einen Weg finde, an den Deutschen vorbeizukommen ... »Wie viele Deutsche sind an der Ausgrabung beteiligt?« fragte er. »Ungefähr hundert Mann«, erwiderte Sallah. »Und sehr gut ausgerüstet.« »Das dachte ich mir.« Indy schloß die Augen und lehnte sich zurück. Er spürte, wie der Schlaf ihn zu übermannen drohte. Mir fällt schon etwas ein, sagte er sich. Und zwar bald. »Ich mache mir Sorgen, Indy«, erklärte Sallah. »Weshalb?« »Wegen der Lade. Wenn sie hier in Tanis ist...« Sallah verstummte. Sein Gesicht wirkte gequält. »Sie gehört nicht zu den Dingen, an denen der Mensch sich vergreifen darf«, fuhr er fort. »Sie war immer von Tod umgeben. Immer. Sie ist nicht von dieser Welt, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ich verstehe schon«, sagte Indy. »Und der Franzose... er ist offensichtlich ganz besessen davon. Ich sehe ihm in die Augen und entdecke etwas, das ich nicht beschreiben kann. Die Deutschen mögen ihn nicht. Das macht ihm nichts aus. Er scheint auf nichts zu achten. Die Lade ist alles, woran er denkt. Dabei entgeht ihm nicht das geringste. Als er in den Raum mit dem Stadtmodell trat... wie kann ich sein Gesicht beschreiben? Er war gar nicht da, nicht in der Wirklichkeit, sondern an einem Ort, wo ich nicht sein möchte.« Aus dem Nichts, aus der heißen Dunkelheit heraus, wirbelte plötzlich ein Wind auf, der Sand und Staub heranwehte - ein Wind, der sich ebenso schnell wieder legte, wie er aufgekommen war. »Sie müssen jetzt schlafen«, sagte Sallah. »Mein Haus ist das Ihre, versteht sich.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Die beiden Männer gingen hinein. Im Haus war es still geworden. Indy ging an dem Zimmer vorbei, in dem Marion schlief, blieb an der geschlossenen Tür stehen und hörte ganz schwach ihre gleichmäßigen Atemzüge. Sie schläft so fest wie ein Kind, dachte er und sah Marion plötzlich vor sich, Jahre zurück, als es die Affäre zwischen ihnen gegeben hatte, wenn man das so nennen konnte. Das Begehren, das er jetzt empfand, war ein ganz anderes; er begehrte die erwachsene Frau, die hinter der Tür lag. Das Gefühl war ein gutes. Er ging weiter durch den Flur, gefolgt von Sallah. Das Kind ist nicht mehr da, dachte er; nur die Frau gibt es noch. »Sie geben der Versuchung nicht nach, Indy?« meinte Sallah leise. »Haben Sie von der puritanischen Ader in mir noch nichts gewußt?« Sallah zog die Schultern hoch und lächelte geheimnisvoll, als Indy die Tür des Gästezimmers schloß und zum Bett ging. Indy hörte Sallah im Flur davongehen, dann wurde es still. Er schloß die Augen und hoffte, rasch
einschlafen zu können - aber die Erschöpfung in ihm schien so groß zu sein, daß der Schlaf sich nicht einstellen wollte. Er warf sich ruhelos herum. Warum konnte er nicht aufhören zu denken und einfach schlafen? Du gibst der Versuchung nicht nach, Indy? Er preßte die Fäuste auf die Augen, warf sich herum, aber was er vor sich sah, war Marion in ihrem Bett. Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Leg dich wieder hin, Indy, ermahnte er sich. Du weißt nicht, was du tust. Er trat in den Korridor hinaus und ging langsam zu Marions Zimmer. Ein Einbrecher auf Zehenspitzen, dachte er. Vor ihrer Tür blieb er stehen. Kehr um. Leg dich ins Bett, auch wenn du nicht schlafen kannst. Er drückte die Klinke nieder, betrat das Zimmer und sah sie auf dem Bett liegen. Mondlicht durchflutete das Zimmer, wie der silberne Widerschein von den Schwingen eines riesigen Nachtfalters. Marion rührte sich nicht. Sie lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Seite gedreht, die Arme auf dem Bauch. Das Licht warf sanfte Schatten auf ihren Mund. Geh zurück, dachte er. Mach schon. Wunderschön. Sie sah so schön aus, so ungeschützt. Eine schlafende Frau im Mondlicht, man hätte schwindlig werden mögen. Er ertappte sich dabei, daß er zum Bett ging und sich auf den Matratzenrand setzte. Er starrte auf ihr Gesicht, hob die Hand, berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. Sie schlug sofort die Augen auf. Lange Zeit schwieg sie. Ihre Augen waren schwarz. Er legte den Finger an ihre Lippen. »Du willst wissen, warum ich hier sitze, nicht?« fragte er leise. »Ich kann es kaum erraten«, gab sie zurück. »Willst du mir die Zusammenhänge von Mr. Roosevelts New Deal erklären? Oder vielleicht erwartest du, daß ich dir im Mondlicht in die Arme sinke.« »Ich erwarte gar nichts.« Sie lachte. »Das ist nicht wahr. Jeder erwartet etwas. Das habe ich inzwischen gelernt.« Er griff nach ihrer Hand. Sie zitterte ein wenig. Sie sagte nichts, als er den Kopf senkte und sie auf den Mund küßte. Sie erwiderte den Druck seiner Lippen kurz, fest und ohne Erregung. Er hob den Kopf und sah sie an. Sie setzte sich auf und zog ein Laken hoch. Ihr Nachthemd war durchsichtig, man sah ihre Brüste - feste Brüste, nicht mehr die einer Heranwachsenden. »Ich möchte, daß du gehst«, sagte sie. »Warum?« »Der Grund ist unwichtig.« Indy seufzte. »Haßt du mich wirklich so sehr?« Sie starrte zum Fenster hinüber. »Schöner Mond«, sagte sie. »Ich habe dich etwas gefragt.« »Du kannst nicht einfach wieder in mein Leben hineintrampeln, Indy. Du kannst nicht alles umwerfen, was ich mir aufgebaut habe, und erwarten, daß ich da anknüpfe, wo wir aufgehört haben. Begreifst du das nicht?« »Doch«, sagte er. »Mein Vortrag ist zu Ende. Jetzt brauche ich Schlaf. Also geh.« Er stand langsam auf. Als er an der Tür war, hörte er sie sagen: »Ich will dich auch. Spürst du das nicht? Laß uns Zeit, ja? Wir wollen sehen, was geschieht.« »Gewiß.« Er trat hinaus in den Korridor und schien nicht fähig zu sein, den Widerhall der Enttäuschung, die in seinem Kopf dröhnte, zum Schweigen zu bringen. Er stand im Mondlicht, das durch das Fenster am Ende des Flurs hereindrang, und während seine Begierde nachließ, fragte er sich, wie dumm das gewesen war, was er getan hatte. Aber es ist nicht meine erste Narretei, dachte er. Als er fort war, konnte sie nicht mehr schlafen. Sie saß am Fenster und starrte auf die Silhouette der Stadt, ihre Kuppeln, Minarette und flachen Dächer. Warum mußte er so früh kommen? Geduld war seine starke Seite nicht, wie? In Herzensdingen war er so unbekümmert wie in allen anderen. Er konnte nicht begreifen, daß andere Menschen Zeit brauchten; letztere mochte nicht alle Wunden heilen, aber viele. Sie, Marion, konnte sich nicht eintacn aus der Vergangenheit herausreißen und wie ein fremdes Geschöpf von einer fernen Galaxie in Indiana Jones" ruppige Gegenwart treten Das mußte sanfter vor sich gehen. Wenn überhaupt etwas geschehen konnte. Die Gestalt huschte durch den Abstellraum, wo Indy und Marion ihre Koffer zurückgelassen hatten. Hände befühlten Kleidungsstücke, öffneten Gepäckstücke, holten Papiere heraus, untersuchten sie gründlich, kramten. Die Erscheinung fand nicht, was sie suchte. Sie wußte, daß sie etwas ganz Bestimmtes finden mußte - eine Zeichnung, einen Gegenstand, es spielte keine Rolle, solange die Form die richtige war. Als nichts zu finden
war, begriff die Gestalt, daß der Auftraggeber enttäuscht sein würde. Es würde nichts zu essen geben, vielleicht sogar eine Strafe. Wieder stellte sich die Erscheinung die Form des Gegenstandes vor: eine Sonne, kleine Zeichen ringsum, in der Mitte ein Loch. Erneut begann das Wesen zu kramen. Wieder war nichts zu finden. Der Affe huschte lautlos in den Korridor hinaus, nahm ein paar Essensreste von dem Tisch, wo er vorher mit der Frau gespielt hatte, dann schwang er sich durch ein offenes Fenster hinaus in die Dunkelheit.
Kairo Der Nachmittag war sonnig, der Himmel fast weiß. Alles schimmerte weiß, die Wände, Kleidungsstücke, das Glas, als sei das Licht zu Reif erstarrt, der sich über alles legte. »Haben wir den Affen gebracht?« fragte Indy. Sie eilten durch die überfüllte Straße, vorbei an den Bazaren, an den Händlern. »Er ist mir gefolgt, ich habe ihn nicht mitgebracht«, gab Marion zurück. »Er scheint sehr an dir zu hängen.« »Nicht so sehr an mir, Indy. Er hält dich für seinen Vater, weißt du. Jedenfalls seht ihr euch ähnlich.« »Von mir die Schönheit, von dir der Verstand.« Marion schwieg einige Zeit. »Warum hast du dir nicht ein nettes Mädchen gesucht, geheiratet und neun Kinder aufgezogen?« fragte sie schließlich. »Wer sagt, daß ich das nicht getan habe?« Sie warf ihm einen Blick zu. Es tat ihm wohl, sie für einen Augenblick erschrecken zu sehen. »Du hättest dir die Verantwortung nie aufgeladen. Mein Vater kannte dich, Indy. Er hat gesagt, du bist ein Landstreicher.« »Großzügig von ihm.« »Der begabteste Landstreicher, den er je ausgebildet hat, aber j-rotzdem ein Landstreicher. Er hat dich geliebt, weißt du das? Es hat sehr viel gebraucht von dir, ihm das abzugewöhnen.« Indy seufzte. »Ich will nicht mehr darüber reden, Marion.« »Ich eigentlich auch nicht«, erwiderte sie. »Aber manchmal sollte man dich daran erinnern.« »Als Mahnung, wie?« »Ja. Damit du dich zurückhältst.« Indy begann schneller zu gehen. Manchmal ging sie ihm unter die Haut, da nützte alle Abwehr nichts. Wie das unvermutete Hochfluten der Begierde gestern nacht. Ich brauche das nicht, dachte er. Nicht bei meiner Art von Leben. Liebe, das bedeutet auch Ordnung, und du willst von Ordnung nichts wissen, weil du dich im Chaos eingerichtet hast. »Du hast mir nicht gesagt, wohin wir gehen«, meinte Marion. »Wir treffen Sallah, dann gehen wir zu seinem Experten.« »Mir gefällt es, wie du mich herumschleppst«, sagte Marion. »Das erinnert mich manchmal an meinen Vater. Er schleifte mich rund um die Erdkugel wie einen alten Lappen.« Sie erreichten eine Straßengabelung. Der Affe riß sich plötzlich von Marion los und lief mit weiten, hüpfenden Schritten durch die Menge. »He!« schrie Marion. »Komm zurück!« »Laß ihn laufen«, sagte Indy erleichtert. »Ich hatte mich gerade an ihn gewöhnt.« Indy schüttelte den Kopf, packte sie bei der Hand und zerrte sie mit. Der Affe zwängte sich zwischen den vielen Leuten auf der Straße hindurch, mied die ausgestreckten Hände der Leute, die ihn berühren wollten, bog um eine Ecke und huschte in einen Hauseingang. Dort sprang er in die Arme des Mannes, der ihn dressiert hatte. Die Dressur hatte sehr gut angeschlagen. Er preßte das Tier an sich, steckte ihm ein Stück Zucker in den Mund und trat hinaus auf die Straße. Der Affe war besser als ein Suchhund und hundertmal klüger. Der Mann blickte die schmale Straße hinauf und schaute zu den Dächern hinauf. Er winkte. Von einem nahen Dach winkte jemand zurück. Dann tätschelte der Mann den Affen. Er hatte gute Arbeit geleistet, als er den beiden gefolgt war, die getötet werden sollten, war ihnen auf der Spur geblieben wie ein Raubtier, aber viel freundlicher. Gut, dachte der Mann. Sehr gut. Indy und Marion bogen auf einen kleinen Platz ein, der vollgestopft war mit Verkaufsbuden und einer schiebenden Menge von Käufern. Indy blieb plötzlich stehen. Sein Instinkt war wach geworden, die Nerven vibrierten. Es wird etwas geschehen, dachte er. Er starrte in das Gedränge. Was wollte sich ankündigen?
»Warum bleiben wir stehen?« fragte Marion. Indy blieb stumm. Diese Menschen. Wie sollte er bei dem Gedränge etwas erkennen? Er griff in seine Jacke und umklammerte den Griff der Peitsche. Sein Blick glitt über die Menge. Eine Gruppe kam auf sie zu, entschlossener, als es bei den anderen Schaulustigen der Fall war. Ein paar Araber, zwei Europäer oder Amerikaner. Indy sah etwas Metallisches aufblitzen. Ein Dolch, fuhr es ihm durch den Kopf. Er sah ihn in der Hand eines Arabers glitzern, der rasch herankam. Indy riß die Peitsche heraus, schlug zu, hörte den scharfen Knall. Die Peitschenschnur wickelte sich um die Hand des Arabers, und der Dolch flog in weitem Bogen davon. Inzwischen kamen noch mehr Leute auf sie zu. Er überlegte hastig. »Weg hier«, sagte er zu Marion und gab ihr einen Stoß. »Lauf!« Aber Marion lief nicht davon. Statt dessen packte sie einen Besen, der an einer Bude lehnte, und hieb ihn einem zweiten Araber an die Kehle. Der Mann sackte zusammen. »Weg«, sagte Indy drängend. »Verschwinde.« »Denke gar nicht daran«, sagte sie. Es sind zu viele, dachte Indy. Zu viele, um mit ihnen fertig zu werden, selbst wenn sie mir hilft. Er sah eine Axt niedersausen und schlug erneut mit der Peitsche zu, traf den Araber am Hals. nß an der Schnur, und der Mann stöhnte auf, bevor er zusammenbrach. Dann hatte ihn einer der Weißen erreicht und versuchte, ihm die Peitsche aus der Hand zu reißen. Indy riß das Bein hoch und rammte den Fuß in den Körper des Gegners. Der Mann legte die Hände auf die Brust und stürzte rückwärts in einen stand, brach inmitten von herabstürzenden Früchten und quetschtem Gemüse zusammen, das Stilleben eines Irren. Indy entdeckte in der Wand ein kleines Tor, packte Marion, stieß sie hinein und verriegelte die Tür, so daß sie trotz Protestgeschrei nicht herauskonnte. Er schaute sich um, schlug mit seiner Peitsche zu, riß Buden die Bodenstützen weg. Chaos breitete sich aus, heilloses Durcheinander. Eine Klinge schnellte ihm entgegen, er duckte sich gerade noch rechtzeitig und hörte den Stahl an seinem Kopf vorbeizischen. Dann fetzte die Peitschenschnur hinaus und wickelte sich um die Fußknöchel des Arabers, der hinfiel und Vasen und Töpfe mitriß, die am Boden zerbarsten, während die Händler zornig aufschrien. Indy erfaßte das Durcheinander mit einem Blick. Ob noch jemand sich mit ihm anlegen wollte? Es war, als könnte er nicht genug bekommen. Niemand rührte sich außer den Händlern, die miterlebt hatten, wie ein Verrückter ihre Verkaufsbuden demolierte. Er wich zurück, zu der Tür in der Wand, griff nach dem Riegel. Er konnte Marion an das Holz hämmern hören. Bevor er den Riegel zurückschieben konnte, stürzte sich eine Gestalt im Burnus auf ihn, ein langes Messer in der Hand. Indy riß den Arm hoch, um den Hieb abzufangen, packte den Mann am Handgelenk und rang mit ihm. Marion hörte auf zu hämmern und wich von der Tür zurück, hielt Ausschau nach einem anderen Ausweg. Hol Indy der Teufel! dachte sie. Wie kommt er dazu, mich beschützen zu wollen? Hol ihn der Teufel mit seiner Einstellung, die noch aus dem Mittelalter stammt. Sie lief den kleinen Durchgang hinunter und blieb wie angewurzelt stehen: Ein Araber kam mit raschen Schritten drohend auf sie zu. Sie huschte in eine Nebengasse und hörte den Mann hinter sich herankommen. Eine Sackgasse. Eine Mauer. Sie schwang sich an der Mauer hinauf und hörte den Araber keuchend herankommen. Sie kletterte hinüber, sprang herunter, versteckte sich in einem Alkoven zwischen den Gebäuden. Der Araber eilte ahnungslos an ihr vorbei. Marion guckte hinaus. Er kam wieder, diesmal in Begleitung eines der Europäer. Sie wich in die Nische zurück, schwer atmend, bemüht, sich zu fassen, ihr Herz zu beruhigen, das wie irr schlug. Was macht man in einer solchen Lage? fragte sie sich. Man versteckt sich, nicht wahr? Man versteckt sich einfach. Sie war tiefer in die Nische hineingetreten, suchte die Schatten, die dunklen Stellen, stieß auf einen großen, geflochtenen Korb. Na gut, dachte sie, dann kommst du dir eben vor wie einer der vierzig Räuber Aladdins, aber im Sturm war jeder Hafen recht, nicht wahr? Sie stieg in den Korb, machte von innen den Deckel zu und blieb zusammengekauert sitzen. Ganz ruhig. Keine Bewegung. Durch die Öffnungen konnte sie zwei Männer herumschleichen hören. Sie sprachen gebrochen Englisch miteinander. Da nachschauen. Haben schon nachgeschaut dort. Sie regte sich nicht. Was sie nicht sah, nicht sehen konnte, war der Affe, der auf einer Mauer über der Nische saß; sie konnte ihn plötzlich wild schnattern hören, und es dauerte einige Augenblicke, bis ihr klar wurde, was die Laute bedeuteten. Der Affe, dachte sie. Er ist mir gefolgt. Verrat ohne Hintergedanken. Bitte, geh fort, Affe, laß mich in Ruhe. Aber sie spürte, wie der Korb hochgehoben wurde. Sie spähte durch die schmalen Zwischenräume des
Korbes und sah, daß der Araber und der Europäer sie gemeinsam trugen, daß sie wie eine Abfalltonne auf ihren Schultern davon-geschleppt wurde. Sie bäumte sich auf. Sie hämmerte mit den Fäusten an den Deckel, aber er saß fest. Im Bazar hatte Indy den Mann mit dem Messer abgedrängt, aber auf dem Platz herrschte Tumult, zornige Händler drängten durcheinander und wiesen aufgebracht auf den Mann mit der Peitsche, der den Verstand verloren haben mußte. Indy wich an der Tür zurück, tastete nach dem Riegel, sah wieder das Messer heranzucken. Diesmal stieß er mit dem Fuß zu und schleuderte den Mann zurück in die Menge. Er riß die Tür auf und hetzte in den Durchgang, suchte überall nach Marion. Nichts. Am anderen Ende der Gasse nur zwei Kerle, die einen großen Korb wo, zum Teufel, war sie hingekommen? Dann hörte er ihre Stimme seinen seinen Namen rufen. Er erschrak. Der Deckelkorb. Er sah, wie sich der Deckel ein wenig hob, als die Träger um eine Ecke bogen. Einen Augenblick lang lenkte ihn lautes Geschnatter ab, er hob den Kopf und sah den Affen auf der Mauer sitzen. Das Tier schien ihn zu verhöhnen. Am liebsten hätte er die Pistole herausgerissen und das Wesen abgeknallt. Statt dessen lief er hinter den beiden Männern her. Er bog ebenfalls um die Ecke und sah sie in großer Entfernung vor sich laufen, den Korb zwischen sich. Wie können die Leute so schnell sein, wenn sie Marions Gewicht tragen müssen? dachte er. Sie waren schon eine Biegung voraus. Er folgte ihnen durch überfüllte Straßen, in denen sich Käufer und Händler drängten, durch die er sich zwängen mußte. Er durfte den Korb nicht aus den Augen verlieren, durfte die Kerle nicht entkommen lassen. Er bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg, stieß Leute einfach beiseite, beachtete ihre zornigen Proteste nicht. Nur weiter. Du darfst sie nicht aus den Augen verlieren. Dann nahm er ein seltsames Geräusch war, ein Singen, das düster und feierlich klang, melancholisch und unheimlich in einem. Er wußte nicht, wo es herkam, aber es brachte ihn zum Stehen; er schaute sich hilflos um. Als er weiterlaufen wollte, konnte er den Korb nicht mehr sehen. Er rannte los, warf sich in die Menge hinein, zerteilte sie. Und der fremdartige Klagegesang, wenn es ein solcher war, wurde lauter und durchdringender. An der Einmündung einer Gasse blieb er stehen. Zwei Araber vor ihm trugen einen geflochtenen Korb. Er riß sofort die Peitsche heraus und schlug einen davon nieder, zog die Peitschenschnur zurück, ließ sie wieder hinausschnellen. Sie knallte gegen das Bein des anderen Arabers, umwickelte es wie eine dünne Schlange. Der Korb kippte um, und er trat darauf zu. Keine Marion. Verwirrt starrte er auf die Gegenstände, die aus dem Korb gekippt waren. Pistolen, Gewehre, Munition. Der falsche Korb! Er wich aus der Gasse zurück und eilte weiter die Bazarstraße entlang. Das seltsame Heulen wurde noch lauter. Er betrat einen großen Platz, betroffen vom plötzlichen Anblick all des Elends ringsum: ein Platz voller Bettler ohne Gliedmaßen, blind, mit Armstümpfen, hilflos ausgestreckt. Es roch nach Schweiß und Urin und Kot, ein unbeschreiblicher Gestank, fast mit Händen zu greifen. Er überquerte den Platz und wich den Bettlern aus. Dann mußte er stehenbleiben. Nun wußte er, woher das Heulen kam. Auf der anderen Seite des Platzes bewegte sich ein Leichenzug. Viele Menschen, ein langer Zug, offenbar das Begräbnis eines bekannten Bürgers. Reiterlose Pferde zogen den Sarg, Priester sangen Worte aus dem Koran, heulende Frauen gingen voran, die Köpfe fast völlig verhüllt, dahinter Diener, und am Ende, schwerfällig und mächtig, der Büffel für das Opfer. Er starrte den Zug eine Weile an. Wie sollte er da hindurchkommen? Er blickte auf den Sarg, der reich geschmückt war und aus edlem Holz zu sein schien, dann entdeckte er durch eine kleine Lücke in der Kolonne den Korb, den die zwei Männer zu einem Lastwagen mit Plane trugen. Das Fahrzeug stand in der hintersten Ecke des Platzes. Er konnte bei dem Lärm hier keine Gewißheit haben, glaubte aber Marion im Korb kreischen zu hören. Er wollte vortreten und sich durch den Leichenzug zwängen, als es passierte. Vom Lastwagen her eröffnete ein Maschinengewehr das Feuer, bestrich den Platz, so daß die Trauernden wie die Bettler auseinanderstoben. Die Priester sangen weiter, bis die Geschosse durch den Sarg fetzten und Holzsplitter durch die flogen. Die mumifizierte Leiche glitt aus dem zerschossenen Sarg heraus auf den Boden. Die Trauernden klagten lauter. indy hetzte im zickzack zu einem Brunnen auf der anderen Seite des Platzes und feuerte in Richtung Lastauto ein paar
Pistolenschüsse ab. Er warf sich hinter den Brunnen und schob sich hoch, sah noch, wie der Korb auf den Lastwagen geworfen wurde. Dann setzte sich, fast außerhalb seines Gesichtsfelds, kaum wahrnehmbar, ein schwarzes Auto in Bewegung. Auch der Lastwagen rollte an. Er verließ den Platz. Bevor er entschwinden konnte, zielte Indy sorgfältig, genauer als je zuvor in seinem Leben, und drückte ab. Der Fahrer des Lastautos sank am Steuer zusammen. Das Fahrzeug geriet ins Schleudern, prallte an eine Wand und kippte um. Als Indy darauf zulaufen wollte, geschah es plötzlich. Vor Entsetzen war er wie gelähmt. Er erkannte, daß er etwas derart Tiefgreifendes in seinem ganzen Leben nicht mehr empfinden würde, nie mehr solche Qual, solchen Schmerz, eine derart grauenhafte, niederdrückende Betäubung. All das schoß ihm durch den Kopf, als er sah, wie der Lastwagen explodierte. Flammen schössen heraus, Trümmer flogen durch die Luft, das Fahrzeug zerfiel in seine Einzelteile; und was er noch begriff, war, daß man den Korb auf die Pritsche eines Lastautos voll Munition geworfen hatte. Daß Marion tot war. Getötet durch eine Kugel aus seiner eigenen Waffe. Wie durfte das sein? Er schloß die Augen und hörte nichts mehr, nahm nur noch die gleißende weiße Sonne wahr, die auf seine Augenlider trommelte. Er lief eine Ewigkeit, wie es schien, herum, ohne darauf zu achten, wo er war, und seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Augenblick zurück, als er den Fahrer erschossen hatte. Warum? Warum hatte er die Möglichkeit nicht berücksichtigt, daß der Lastwagen gefährliche Ladung an Bord haben konnte. Du hast ihr Leben ruiniert, als sie ein junges Mädchen war. Und als sie zur Frau geworden war, hast du sie umgebrachtEr ging durch die schmalen Straßen, durch die mit Menschen verstopften Gassen, während er mit seiner Schuld rang. Es war mehr Qual, als er sie zu fassen vermochte, ein größerer Indy begriff, daß diese Begegnung unausweichlich gewesen war. Rene Belloq trank Wein und schwang eine Kette, an der eine Uhr hing. »Ein Affe«, sagte Belloq. »Ich sehe, Sie lassen bei der Auswahl Ihrer Freunde immer noch Geschmack erkennen.« »Sie sind zum Totlachen, Belloq.« Der Franzose verzog den Mund. »Ihre Schlagfertigkeit läßt nach. Das fiel schon auf, als wir miteinander studierten. Ihnen fehlt der Witz.« »Ich sollte Sie auf der Stelle umbringen -« »Ah, den Drang kann ich verstehen. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß nicht ich es war, der Miss Ravenwood in diese traurige Geschichte hineingezogen hat. Was Sie stört, ist doch nur die Tatsache, daß Sie dafür verantwortlich sind, mein alter Freund. Ist es nicht so?« Indy sank auf einen Stuhl vor dem Tisch. Belloq beugte sich vor. »Und es ärgert Sie auch, daß ich Sie durchschaue, Jsnes. Aber eine gewisse Ähnlichkeit haben wir beide wohl.« Indy starrte Belloq mit blutunterlaufenen Augen an. »Sie brauchen nicht ordinär zu werden.« »Bedenken Sie folgendes«, sagte Belloq. »Die Archäologie ist schon immer unsere Religion gewesen, unser Glaube. Wir haben uns beide zugegebenermaßen vom rechten Weg ein wenig entfernt. Wir neigen beide zu vereinzelten ... zweifelhaften .. Transaktionen. Unsere Methoden sind nicht so verschieden, wie Sie vorgeben wollen. Ich bin, wenn Sie so wollen, ein Schattenbild von Ihnen. Was würde nötig sein, um Sie zu dem zu machen, was ich bin, Professor? Hm? Etwas mehr Schärfe? Eine Verfeinerung des tödlichen Instinkts, ja?« Indy sagte nichts. Belloqs Worte drangen wie durch einen Nebel zu ihm. Belloq redete Unsinn, puren Unsinn, und das klang nur großartig, weil er es mit einem französischen Akzent aussprach, den man als charmant empfinden konnte. Indy hörte eher das Zischen einer Giftschlange. »Zweifeln Sie daran, Jones? Überlegen Sie. Was führt Sie her. Die Gier nach der Lade, habe ich recht? Der alte Traum vom Altertum. Die historische Reliquie, die Suche nach dem Einmaligen - das könnte ein Virus im Blut sein. Sie träumen vom Vergangenen.« Belloq lächelte und schwang die Uhr an der Kette hin und her. »Sehen Sie sich die Uhr an. Billig. Ein Nichts. Tragen Sie das Ding in die Wüste hinaus und vergraben Sie es für tausend Jahre. Es wird unbezahlbar wertvoll sein. Menschen werden sich gegenseitig dafür umbringen. Menschen wie Sie und ich, Jones. Die Lade ist etwas anderes, das gebe ich zu. Mit Profit hat sie natürlich weniger zu tun, das ist uns beiden klar. Aber die Gier bleibt, mein Freund. Das Laster, das wir gemeinsam haben.« Der Franzose lächelte nicht mehr. Seine Augen blickten in die Ferne. Es war, als spräche er zu sich selbst. »Verstehen Sie, was die Lade ist? Sie gleicht einem Sender. Einem Radio, mit dem man Gott erreichen kann. Und ich bin ihr sehr nah. Ganz nah. Ich habe Jahre darauf gewartet, so nah an sie heranzukommen. Was ich
meine, hat mit Profit nichts zu tun, es geht über die Lust der Aneignung weit hinaus. Ich spreche von etwas anderem. Verbindung aufzunehmen mit dem, was sich in der Lade befindet.« »Sie schlucken das, Belloq? Sie übernehmen die Mystik? Sie glauben an die Macht?« Belloq verzog angewidert den Mund. Er lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sie nicht?« Indy zuckte nur mit den Schultern. »Ah, Sie sind Ihrer Sache nicht sicher, wie? Nicht einmal Sie.« Belloq senkte die Stimme. »Ich bin mehr als sicher, Jones. Ich weiß es ganz genau. Ich zweifle nicht mehr daran, überhaupt I"cnt. Meine Forschungen haben mich immer in diese Richtung geführt. Ich weiß Bescheid.« »Sie haben den Verstand verloren«, sagte Indy. "Schade, daß es so enden muß«, gab Belloq zurück. »Sie sind anchmal ein Anreiz für mich gewesen, etwas Seltenes in einer Welt wie dieser.« »Dann bin ich ja froh, Belloq.« »Ich auch. Wirklich. Aber alles geht zu Ende.« »Kein sehr stiller Ort für einen Mord.« »Das spielt keine Rolle. Die Araber mischen sich nicht ein. Es ist ihnen gleichgültig, wenn wir uns gegenseitig umbringen.« Belloq stand lächelnd auf und nickte knapp. Indy versuchte Zeit zu gewinnen. »Ich hoffe, Sie lernen etwas bei Ihrem kleinen Gespräch mit dem lieben Gott, Belloq.« »Gewiß.« Indy spannte die Muskeln an. Es blieb keine Zeit, seine Pistole zu ziehen, keine Zeit, nach der Peitsche zu greifen. Seine Mörder saßen hinter ihm. Belloq schaute auf die Uhr. »Wer weiß, Jones? Vielleicht gibt es ein Jenseits, in dem wir uns wiedersehen. Der Gedanke, daß ich Ihnen dort auch über bin, belustigt mich.« Draußen wurde es laut. Ein merkwürdiges Geräusch, das Geschnatter aufgeregter kleiner Kinder, glückliches Plappern, das an Weihnachten denken ließ. Nicht das, was er hier in seiner Todeszelle erwartet hatte. Belloq blickte erstaunt zur Tür. Sallahs Kinder, alle neun, marschierten herein und riefen Indys Namen. Indy glotzte sie an, als sie ihn umringten, als die Kleineren auf seine Knie kletterten, während die anderen ihn umstellten, als wollten sie ihn abschirmen. Ein paar stiegen auf seine Schultern. Einer hockte sich auf Indys Rücken, ein anderer umklammerte seine Beine. Belloq hatte die Brauen zusammengezogen. »Sie glauben wohl, Sie können sich hier zurückziehen, wie? Sie bilden sich ein, dieser armselige Schutzschild deckt sie?« »Ich bilde mir gar nichts ein«, erwiderte Indy. »Typisch«, knurrte Belloq. Sie zogen ihn zur Tür, er wurde mitgerissen, fortgeschleppt, während die Kinder ihn vor den Männern abschirmten. Sallah! Es mußte Sallahs Plan gewesen sein, seine Kinder aufs Spiel zu setzen, sie in das Lokal zu schicken und ihn herauszuholen. Wie konnte Sallah so etwas tun? Belloq hatte sich wieder hingesetzt und die Arme verschränkt. Er sah aus wie ein strenger Vater bei einer Theateraufführung in der Schule. Er schüttelte den Kopf. »Ich werde bei der nächsten Tagung der Internationalen Archäologen-Gesellschaft erzählen, wie Sie die Vorschriften gegen Kinderarbeit mißachten, Jones.« »Sie sind ja nicht einmal Mitglied.« Belloq lächelte, aber nur kurz. Er starrte unaufhörlich die Kinder an, dann schien er einen Entschluß zu fassen und wandte sich seinen Gehilfen zu. Er hob die Hand und deutete an, daß sie ihre Waffen wegstecken sollten. »Ich habe für Kinder und junge Hunde etwas übrig, Jones. Sie mögen Ihre Dankbarkeit in schlichter Form zum Ausdruck bringen, was zu Ihnen passen würde. Aber bei unserer nächsten Begegnung werden kleine Kinder Sie nicht mehr retten können.« Indy ließ sich von den Kindern mitziehen, dann schlüpfte er hinaus, während die Kleinen ihn umfingen, als sei er ihr kostbarstes Gut. Sallahs Lastauto stand vor der Tür - ein Anblick, der Indy wie ein Wunder erschien, das erste Ereignis an diesem Tag, bei dem man nicht zu verzweifeln brauchte. Belloq leerte sein Glas. Er hörte das Fahrzeug davonfahren. Als das Motorengeräusch verklang, dachte er ein wenig überrascht, daß er noch nicht bereit war, Indy zu töten. Daß die Zeit noch nicht ganz reif war. Es hatte gar nicht an den Kindern gelegen -sie fielen nicht ins Gewicht. Es lag vielmehr daran, daß er im Grunde Jones verschonen wollte, aus irgendeinem Trieb heraus, der ihm selbst nicht ganz begreiflich war. Vielleicht war es besser, Indy noch ein bißchen länger am Leben zu lassen. Schließlich gibt es Dinge, die sind schlimmer als der Tod, dachte er. Es belustigte ihn von neuem, sich vorzustellen, was Jones an "Mieren Qualen und Selbstvorwürfen würde durchmachen müssen. Da war einmal das Mädchen, und das wäre Marter genug gewesen, Strafe in vollem Maß. Nein, dazu kam die Tatsache, ebenso niederschmetternd, wenn nicht mehr, daß Jones würde
erleben müssen, wie ihm die Bundeslade versagt blieb. Belloq warf den Kopf zurück und lachte; seine deutschen Begleiter starrten ihn verwundert an. Im Fahrzeug sagte Indy: »Ihre Kinder haben ein Talent, im richtigen Augenblick zu erscheinen, das man einem General wünschen würde, Sallah.« »Ich wußte, worum es ging. Ich mußte rasch handeln«, gab Sallah zurück. Indy starrte auf die Straße hinaus: Dunkelheit, einige Lichter, Leute, die dem Lastwagen auswichen. Die Kinder saßen hinten und sangen und lachten. Die Verkörperung der Unschuld, dachte Indy und erinnerte sich an das, was er lieber vergessen hätte. »Marion...« »Ich weiß«, sagte Sallah. »Ich habe es erfahren. Ich bin traurig. Mehr als traurig. Was kann ich sagen, um Sie zu trösten? Wie kann ich Ihre Trauer lindern?« »Gegen die Trauer hilft nichts, Sallah.« Der Araber nickte. »Ich verstehe Sie.« »Aber Sie können mir auf andere Weise helfen. Sie können mir helfen, diese Verbrecher zu bekämpfen.« »Auf meine Hilfe können Sie sich verlassen, Indiana«, sagte Sallah. »Jederzeit.« Er schwieg geraume Zeit. »Ich habe viele Neuigkeiten für Sie«, erklärte er schließlich. »Nicht nur gute. Sie betreffen die Lade.« »Heraus damit«, sagte Indy. »Wenn wir zu Hause sind. Später können wir zu meinem Freund gehen, der Ihnen erklärt, was die Zeichen zu bedeuten haben.« Indy starrte stumm vor sich hin. Der Katzenjammer erfaßte ihn bereits, mit heftigen Schmerzen an Stirn und Schläfen. Wenn er wacher gewesen wäre, nicht halb betäubt vom Alkohol, hätte er vielleicht das Motorrad bemerkt, das dem Lastwagen folgte. Aber selbst wenn ihm das Motorrad aufgefallen wäre, den Fahrer, einen Tierdresseur, hätte er nicht erkannt. Als die Kinder ins Haus gebracht waren, gingen Sallah und Indy in den Innenhof hinaus. Sallah ging eine Weile hin und her, bevor er an der Mauer stehenblieb und sagte: »Belloq hat das Medaillon.« »Was?« Indys Hand fuhr sofort in die Tasche. Seine Finger berührten den Aufsatz. »Sie irren sich.« »Er hat eine Nachbildung, ein Stück wie das Ihre, mit einem Kristall in der Mitte. Und auf dem Aufsatz befinden sich dieselben Zeichen wie auf Ihrem Original.« »Ich kann das nicht begreifen«, sagte Indy fassungslos. »Ich hatte immer geglaubt, es gäbe nirgends Bilder davon. Keine Nachbildungen. Ich verstehe das nicht.« »Da ist noch etwas, Indiana«, sagte Sallah. »Ich höre.« »Heute früh ging Belloq in den Raum mit dem Stadtmodell. Als er herauskam, gab er uns Anweisungen, wo wir graben sollen. Eine neue Stelle, abseits der eigentlichen Ausgrabungsstätte.« »Der Schacht der Seelen«, sagte Indy resigniert. »Das vermute ich auch, wenn er die Berechnungen in der Plankammer angestellt hat.« Indy schlug mit der Faust in seine andere Handfläche. Er wandte sich Sallah wieder zu und zog den Stabaufsatz aus der Tasche. »Sind Sie sicher, daß das Ding so ausgesehen hat?« »Ich habe es gesehen.« »Schauen Sie genau hin.« Der Ägypter griff achselzuckend nach dem Gebilde und stante es einige Zeit an, während er es hin und her drehte. »Es könnte einen Unterschied geben.« »Heraus damit.« »Ich glaube, Belloqs Scheibe hatte nur auf einer Seite Zeichen.« »Sind Sie sicher?« »Ziemlich sicher.« »Dann brauche ich jetzt nur noch zu wissen, was die Zeichen Beuten.« »Deshalb sollten wir zu meinem Freund gehen, und zwar gleich.« Indy blieb stumm. Er verließ, von Sallah gefolgt, den Hof und trat in die Gasse hinaus. Unruhe hatte ihn erfaßt. Die Lade, ja -aber nun ging es um mehr. Was er tat, geschah für Marion. Wenn ihr Tod einen Sinn haben sollte, dann mußte er vor Bel-loq zum Schacht der Seelen gelangen. Wenn ein Tod überhaupt jemals Sinn haben kann, dachte er. Sie stiegen in Sallahs Lastauto, und Indys Blick fiel auf den Affen, der hinten hockte. Er starrte ihn an. Sollte es nie mehr möglich sein, das Geschöpf loszuwerden? Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde es die Menschensprache lernen und ihn >Papa< nennen. Ein Echo in seinem Inneren durchzuckte ihn schmerzhaft: Marions kleines Witzchen über die Ähnlichkeit der beiden. Der Affe schnatterte und rieb sich die Vorderpfoten. Als der Lastwagen ein Stück davongerollt war, tauchte aus der Dunkelheit das Motorrad auf und folgte ihm.
Das Haus des Imams stand am Stadtrand von Kairo auf einer kleinen Anhöhe. Es war ein ungewöhnliches Gebäude, das Indy ein wenig an ein Observatorium erinnerte. Als er und Sallah, gefolgt von dem Affen, zum Eingang schritten, entdeckte er auch eine Öffnung im Dach, aus der ein großes Teleskop ragte. »Der Imam hat viele Interessen, Indiana«, sagte Sallah. »Er ist Geistlicher, Gelehrter, Astronom. Wenn jemand die Zeichen lesen kann, dann er.« Vor ihnen wurde die Eingangstür geöffnet. Ein Junge stand da und nickte, als sie eintraten. »Guten Abend, Abu«, sagte Sallah. »Das ist Indiana Jones.« Eine kurze, höfliche Vorstellung. »Indiana, das ist Abu, der Lehrling des Imams.« Indy nickte und lächelte voll Ungeduld, weil er mit dem Gelehrten zusammentreffen wollte - der in diesem Augenblick am Ende des Flurs auftauchte. Ein alter Mann in abgetragenen Gewändern, die Hände Klauen, die Haut mit braunen Altersflecken bedeckt; aber seine Augen glitzerten lebendig und wißbegierig. Er neigte den Kopf zu einer stummen Begrüßung. Sie folgten ihm in sein Arbeitszimmer, einen großen Raum voller Manuskripte, Kissen, Landkarten, uralter Dokumente. Man spürt es hier, dachte Indy, ein Leben, das ganz dem Lernen, dem Erwerb von Wissen geweiht ist. Jeder Augenblick an jedem Tag eine neue Erkenntnis. Nichts vergeudet. Indy gab dem Imam die Scheibe. Dieser nahm sie stumm entgegen und ging zu einem Tisch an der Rückseite des Zimmers, wo eine kleine Lampe brannte. Er setzte sich, drehte das Medaillon zwischen den Fingern und kniff die Augen zusammen. Indy und Sallah ließen sich auf Polstern nieder. Der Affe war zwischen ihnen. Sallah streichelte das Tier. Stille. Der alte Mann trank einen Schluck Wein, dann schrieb er etwas auf einen Zettel. Indy bewegte ungeduldig die Schultern und beobachtete ihn. Der Imam schien das Schmuckstück so gemächlich zu betrachten, als sei die Zeit ohne Bedeutung. »Geduld«, sagte Sallah. Beeil dich, dachte Indy. Der Mann stellte sein Motorrad in einiger Entfernung vom Haus ab. Er schlich an der Hausmauer entlang nach hinten und blickte in Fenster hinein, bis er die Küche entdeckte. Er preßte sich an die Wand und beobachtete Abu, der am Wasserhahn Datteln wusch. Er wartete. Abu legte die Datteln in eine Schale und »teilte diese auf den Tisch. Der Mann regte sich nicht, mehr Schatten als Substanz. Der Junge stellte eine Karaffe Wein und Wäser auf ein Tablett und verließ mit diesem die Küche. Erst dann löste sich der Mann aus dem Schatten. Er zog eine Flasche aus dem Umhang, öffnete sie, schaute sich rasch in der Küche um und goß Flüssigkeit aus der Flasche über die Datteln in der schale. Er stutzte, hörte den Jungen zurückkommen und huschte so schnell und lautlos, wie er aufgetaucht war, wieder davon. Der Imam hatte kein Wort gesagt. Indy blickte ab und zu auf Sallah, dessen Miene verriet, daß er es gewohnt war, geduldig zu sein und lange zu warten. Die Tür ging auf. Abu kam mit Wein und Gläsern herein und stellte das Tablett auf den Tisch. Der Wein sah verlockend aus, aber Indy griff nicht danach. Das Schweigen beunruhigte ihn. Der Junge entfernte sich, und als er wiederkam, brachte er zu essen - Käse, Obst und eine Schale Datteln. Sallah griff zerstreut nach einem Stück Käse und kaute nachdenklich. Die Datteln sahen gut aus, aber Indy hatte keinen Hunger. Der Affe huschte unter den Tisch. Indy beugte sich vor und griff nach einer Dattel. Er legte den Kopf zurück, warf die Dattel in die Luft und versuchte sie mit dem Mund aufzufangen -aber sie prallte von seinem Kinn ab und hüpfte davon. Abu warf ihm einen sonderbaren Blick zu - so, als sei dieser abendländische Brauch zu absurd, um ergründet werden zu können -, hob die Dattel auf und warf sie in den Aschenbecher. Verflixt, dachte Indy. Bin nicht mehr in Form. »Schauen Sie. Kommen Sie her und sehen Sie selbst«, sagte der Imam plötzlich. Seine heisere Stimme brach das Schweigen mit der feierlichen Autorität eines Gebets. Es war eine Stimme, auf die man sofort hörte. Indy und Sallah blickten über die Schultern des alten Mannes, der auf die erhaben geprägten Zeichen zeigte. »Das ist eine Warnung... sich nicht an der Bundeslade zu vergreifen.« »Genau das, was ich brauche«, sagte Indy. Er beugte sich weiter vor. »Die anderen Zeichen betreffen die Höhe des Stabes von Re, auf dem dieser Aufsatz angebracht werden muß. Das Stück allein ist nicht von Nutzen.« Indy bemerkte, daß die Lippen des alten Mannes ein wenig schwärzlich aussahen und er von Zeit zu Zeit mit der Zunge darüberfuhr. »Dann hat Belloq die Höhe des Stabes von seiner Nachbildung«, sagte Indy. Sallah nickte. »Was sagen die Zeichen?« fragte Indy. »Das ist noch die alte Weise. Es bedeutet, sechs Kadam hoch.« »Ungefähr 1.83m hoch«, erklärte Sallah. Indy hörte den Affen am Tisch herumstreichen, wo das Essen stand, und nach dem einen oder anderen greifen. Er ging hinüber und holte sich eine Dattel, bevor der Affe zugreifen konnte.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte der Imam. »Auf der anderen Seite der Scheibe steht auch etwas. Ich lese es euch vor. >Und nehmt einen Kadam weg, um den hebräischen Gott zu ehren, dessen Lade dies ist.<« Indys Hand erstarrte auf dem Weg zum Mund. »Sind Sie sicher, daß auf Belloqs Scheibe nur eine Seite Zeichen aufweist?« fragte Sallah. »Ganz sicher.« Indy begann zu lachen. »Dann ist Belloqs Stab um mehr als dreißig Zentimeter zu lang. Sie graben an der falschen Stelle.« Sallah lachte mit. Die beiden Männer umarmten sich, während der Imam mit ernster Miene zusah. »Ich weiß nicht, wer Belloq ist«, sagte der alte Mann. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß man die Warnung, was die Lade betrifft, sehr ernst nehmen muß. Ich kann Ihnen auch sagen, daß geschrieben steht: Wer die Lade öffnet und ihre Kräfte herausläßt, wird sterben, wenn er daraufblickt. Wenn er es wagt, ihnen gegenüberzutreten. Ich würde mich an diese Warnungen halten, an Ihrer Stelle.« Der Augenblick hätte eigentlich feierlich sein müssen, aber Indy war angesichts der Erkenntnis des Fehlers, der dem Franzosen unterlaufen war, zu begeistert, um auf die Worte des Alten zu hören. Ein Triumph! dachte er. Herrlich. Er wünschte sich nur, Belloqs Gesicht zu sehen, wenn er den Schacht der Seelen nicht finden konnte. Er warf eine Dattel in die Luft und öffnete den Mund. Aber diesmal, dachte er. Sallahs Hand packte zu und fing die Dattel auf, bevor sie Indys Mund erreichte »He!« Sallah wies auf den Boden unter dem Tisch. Der Affe lag hingestreckt, umgeben von Dattelkernen. Eine Pfote zuckte noch, zitterte, dann fielen die Augen des Tieres langsam zu, und es regte sich nicht mehr. Indy sah Sallah an. Der Ägypter sagte achselzuckend: »Schlechte Datteln.«
Ausgrabungsstätte bei Tanis, Ägypten Die Wüste gleißte im Vormittagslicht, die Sanddünen flimmerten. Eine Landschaft, in der man es keinem verdenken kann, wenn er Luftspiegelungen zu sehen glaubt, dachte Indy. Er starrte zum Himmel hinauf, während der Lastwagen auf der Straße dahinratterte. Er fühlte sich nicht wohl in dem Burnus, den Sallah ihm geliehen hatte, und war nicht ganz überzeugt davon, sich als Araber ausgeben zu können - aber versucht werden mußte es auf jeden Fall. Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und warf einen Blick auf den Lastwagen, der hinter ihnen fuhr. Am Steuer saß Sallahs Freund Omar; hinten saßen sechs arabische Arbeiter. In Sallahs Lastauto befanden sich weitere drei. Hoffen wir, daß sie so zuverlässig sind, wie Sallah behauptet, dachte er. »Ich bin nervös«, sagte Sallah. »Das gebe ich ganz offen zu.« »Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen.« »Sie gehen ein großes Risiko ein«, meinte Sallah. »Das ist hier nun mal so«, gab Indy zurück. Er schaute wieder zum Himmel hinauf. Das Licht der Morgensonne hämmerte auf den Sand. Sallah seufzte. »Hoffentlich können wir den Stab auf die richtige Größe stutzen.« »Wir haben sehr genau gemessen«, sagte Indy. Er dachte an den 1,52m langen Stock, der hinten im Fahrzeug lag. Sie hatten in der vergangenen Nacht mehrere Stunden gebraucht, um das Ding zurechtzuschneiden und das Ende so anzuspitzen, daß der Aufsatz daraufpaßte. Ein sonderbares Gefühl, dachte Indy, das Medaillon auf dem Stab anzubringen. In diesem Augenblick hatte er die enge Verbindung mit der Vergangenheit gespürt und andere Hände vor sich gesehen, die eben dieses Gebilde vor so langer Zeit auf genau diese Art befestigt hatten. Die beiden Fahrzeuge kamen zum Stehen. Indy stieg aus und ging zu dem von Omar gesteuerten Lastauto zurück; der Araber stieg herunter und hob grüßend die Hand. Dann zeigte er auf eine Stelle in großer Entfernung, wo das Gelände weniger flach war und die Sanddünen höher wuchsen. »Dort warten wir«, sagte Omar. Indy rieb sich die trockenen Lippen mit dem Handrücken. »Und viel Glück«, sagte der Araber. Omar stieg wieder in sein Fahrzeug und fuhr davon, eine mächtige Staub- und Sandwolke hinter sich herziehend. Indy sah dem Lastwagen nach, dann ging er zu dem anderen Fahrzeug zurück und stieg ein; der Lastwagen rollte etwa eine Meile weit langsam dahin, bevor er wieder hielt. Sallah und Indy stiegen aus, schritten über den Sand, legten sich auf den Boden und blickten über eine Kante auf das Gelände hinunter. Die Ausgrabung von Tanis. Eine riesengroße, weitabgesteckte Anlage; an den Gräben und Geräten unten, an der Zahl der Arbeiter, konnte man erkennen, wieviel Wert der Führer darauf legte, die Bundeslade in seinen Besitz zu bringen. Es gab Lastautos, Bagger, Planierraupen, Zelte. Es gab Hunderte von arabischen Arbeitern und, so schien es jedenfalls,
genauso viele deutsche Aufseher, die in ihren Uniformen seltsam fehl am Platz erschienen, ganz so, als legten sie Wert darauf, sich hier in der Wüste besonders unbehaglich zu fühlen. Überall waren Gräben aufgeworfen und tiefe Löcher herausgeschürft worden, bevor man sie wieder aufgegeben hatte, Fundamente und Verbindungsgänge waren ausgegraben und verlassen worden. Und hinter dem großen Grabfeld schien sich eine primitive Flugzeug-Landebahn zu erstrecken. »Eine Grabung von dieser Größe habe ich noch nie gesehen«, sagte Indy. Sallah wies auf die Mitte des Geländes, wo ein hoher Sandberg aufragte, in den ein Gang hineinführte; man hatte ein langes Seil zwischen Pfosten gespannt und es dort hineingeführt. »Der Raum mit dem Stadtmodell«, sagte er. »Wann erfaßt die Sonne ihn?« »Kurz nach acht Uhr.« »Wir haben nicht viel Zeit.« Indy blickte auf die Armbanduhr, die er sich von Sallah ausgeliehen hatte. »Wo sind die Deutschen, die nach dem Schacht der Seelen graben?« Sallah streckte wieder die Hand aus. In einiger Entfernung hinter der eigentlichen Ausgrabungsstätte standen mehrere Lastwagen und eine Schaufelraupe. Indy starrte eine Weile hinüber, dann stand er auf. »Haben Sie das Seil?« »Natürlich.« »Gehen wir.« Einer der arabischen Arbeiter setzte sich ans Lenkrad des Lastwagens und steuerte ihn langsam zur Ausgrabungsstätte. Zwischen den Zelten stiegen Indy und Sallah aus. Sie huschten verstohlen zu dem Sandberg. Indy trug den eineinhalb Meter langen Stab und fragte sich, wie lange es ihm mit dem auffälligen Stab in der Hand gelingen konnte, unbemerkt zu bleiben. Sie kamen an mehreren uniformierten Deutschen vorbei, von denen sie kaum beachtet wurden. Sie bildeten eine Gruppe, rauchten und unterhielten sich miteinander in der Morgensonne. Als sie ein Stück weitergegangen waren, deutete Sallah durch eine Handbewegung an, sie sollten stehenbleiben. Sie hatten den Sandberg erreicht. Indy schaute sich kurz um, dann ging er so unbekümmert, wie es ihm möglich war, auf das Loch zu - die Decke des alten Raumes mit dem Stadtmodell. Er schaute hin-ein, hielt den Atem an und warf einen Blick auf Sallah, der unter seinem langen Gewand ein zusammengerolltes Seil hervorgeholt hatte und das eine Ende nun um eine in der Nähe stehende Tonne schlang. Indy schob den Stab in das Loch hinein, lächelte Sallah an und ergriff das Seil. Sallah beobachtete ihn mit grimmiger Miene, das Gesicht schweißbedeckt. Indy ließ sich langsam in den ausgegrabenen Raum hinabgleiten. Der Plan von Tanis, dachte er. In jedem anderen Augenblick hätte ihn der bloße Gedanke, an diesem Ort zu sein, fassungslos gemacht; in jedem anderen Augenblick hätte er sich die Zeit genommen, alles genau zu betrachten und zu untersuchen - aber nicht jetzt. Er erreichte den Boden und zerrte am Seil, das sofort hinaufgezogen wurde. Es fällt verdammt schwer, hier nicht in Erregung zu geraten, dachte er - in diesem kunstvoll mit Wandgemälden bedeckten Raum, den das von oben hereinströmende Sonnenlicht erhellte. Er trat zu der Stelle, wo das Miniaturmodell der Stadt Tanis aufgebaut war: ein kunstvoller Relief-Stadtplan aus Stein, in allen Einzelheiten ausgeführt, so präzise, daß man sich beinahe Miniatur-Menschen in diesen Gebäuden oder auf diesen Straßen vorstellen konnte. Er bestaunte die Könnerschaft dieser Anlage, die Geduld und Ausdauer, die man dafür aufgewendet haben mußte. Neben dem Modell erstreckte sich eine Reihe in den Boden eingelassener Mosaiksteine. In dieser Reihe gab es Schlitze in regelmäßigen Abständen, an jedem ein Symbol für die Jahreszeit. Die Schlitze waren eingelassen worden, damit man den Stab hineinstecken konnte. Er zog den Aufsatz aus dem Burnus, griff nach dem Stab und richtete den Blick auf die einfallenden Sonnenstrahlen, die schon über die Miniaturstadt zu seinen Füßen wanderten. Es war 7.50 Uhr. Er hatte nicht viel Zeit. Sallah hatte das Seil hochgezogen und aufgerollt. Er war auf dem Rückweg zur Tonne. Er hörte den Geländewagen kaum, der herankam, und die laute Stimme des Deutschen ließ ihn zusammenschrecken. »He! Du da!« Sallah bemühte sich, dümmlich zu lächeln. »Du, ja«, sagte der Deutsche. »Was machst du da?« »Nichts, nichts.« Er sah den anderen unschuldig an und senkte den Kopf. »Gib das Seil her!« sagte der Deutsche. »Der Wagen sitzt fest.« Sallah zögerte, dann knotete er das Seil auf und trug es zum Geländewagen. Schon war ein zweites Fahrzeug, ein Lastauto, aufgetaucht und hielt vor dem Geländewagen. »Mach das Seil an den Autos fest!« befahl der Deutsche. Sallah gehorchte schwitzend. Das Seil, dachte er; das kostbare Seil wird mitgenommen. Er hörte die Motoren der beiden Fahrzeuge, sah, wie die Räder sich im Sand drehten. Das Seil straffte sich. Wie sollte er Indy ohne Seil aus dem Loch herausholen? Er folgte dem Geländewagen ein Stück über den Sand, ohne zu bemerken, daß er schließlich neben einem Kessel stehenblieb, in dem Essen auf offenem Feuer kochte. Mehrere deutsche Soldaten saßen an einem Tisch, und einer von ihnen rief ihm zu, er möge das Essen bringen. Hilflos starrte er den Deutschen an.
»Bist du taub?« Er senkte unterwürfig den Kopf, hob den schweren Kessel aus der Halterung und trug ihn zum Tisch. Er dachte an Indy, der unten in dem Loch festsaß, und fragte sich verzweifelt, wie er den Amerikaner ohne Seil dort herausholen sollte. Er begann das Essen auszuteilen, ohne auf die Beleidigungen der Deutschen zu achten. Er beeilte sich. Er verschüttete Essen auf den Tisch und bekam dafür eine Kopfnuß. »Tölpel! Schau dir mein Hemd an! Sieh dir an, was du gemacht hast!« Sallah senkte tief den Kopf und täuschte Schani vor. »Hol Wasser! Beeil dich!« Er stürzte davon, um Wasser zu holen. Indy ergriff den Aufsatz und steckte ihn sorgfältig auf den Stab. Er schob den Stab in eine der Öffnungen zwischen den Mosaiksteinen und hörte, wie das Holz auf dem alten Gestein klap-Pwte. Das Sonnenlicht erfaßte die Schmuckscheibe, der gelbe Strahl schob sich fast ganz an das kleine Loch im Kristall heran. Er wartete. Oben konnte er Stimmengewirr hören. Er verschloß die Ohren davor. Gedanken um die Deutschen würde er sich später machen, wenn es sein mußte, nicht jetzt. Der Sonnenstrahl durchdrang den Kristall und warf einen hellen Lichtstreifen auf die Miniaturstadt. Der Streifen wurde Prissma des Kristalls gebrochen und verändert - und in diesem Gewirr von winzigen Gebäuden und Straßen fiel er auf eine ganz bestimmte Stelle. Rotes Licht, auf einem kleinen Bauwerk leuchtend, das, wie auf geheimnisvolle Art, zu glühen begann. Indy verfolgte das mit grenzenlosem Staunen, und erst jetzt fielen ihm rote Farbflecke an anderen Gebäuden auf, Flek-ke, die ganz frisch waren. Belloqs Berechnungen. Oder Fehlberechnungen. Das von der Sonnenscheibe beleuchtete Gebäude lag mehr als fünfundvierzig Zentimeter näher als der letzte rote Punkt, den der Franzose angebracht hatte. Großartig. Ideal. Indy hätte sich nicht mehr erhoffen können. Er ging neben der Minaturstadt in die Knie und zog ein Maßband heraus. Er spannte es zwischen Belloqs letzter Markierung und dem im Sonnenlicht erstrahlenden Bauwerk. Er stellte rasch seine Berechnungen an und kritzelte auf einen kleinen Notizblock. Der Schweiß brannte auf seinem Gesicht und tropfte auf seine Hände hinunter. Sallah suchte nicht nach Wasser. Er eilte zwischen den Zelten dahin, in der Hoffnung, nicht wieder von einem Deutschen aufgehalten zu werden. In panischer Angst begann er nach einem Seil zu suchen. Er fand keines. Kein Seil, nichts. Er huschte hierhin und dorthin, im Sand stolpernd und rutschend, und betete, daß keinem der Deutschen sein sonderbares Verhalten auffiel, daß niemand auf den Gedanken kam, ihm irgendeine Arbeit aufzutragen. Er mußte schnell handeln, um Indy herauszuholen. Aber wie? Er blieb stehen. Zwischen zwei Zelten standen mehrere Tragkörbe mit offenen Deckeln. Kein Seil, dachte er. In solchen Fällen mußte man improvisieren. Als er sich vergewissert hatte, daß er nicht beobachtet wurde, ging er auf die Tragkörbe zu. Indy brach den Holzstab in zwei Stücke und steckte die Sonnenscheibe wieder ein. Er legte die Holzstücke in eine Ecke des Raumes, trat direkt unter das Loch und starrte zum grelle11Himmel hinauf. Das gleißende Blau blendete ihn im ersten Augenblick. »Sallah!« rief er halblaut. Nichts. »Sallah!« Nichts. Er schaute sich nach einem anderen Weg um, der nach draußen führen mochte, aber soviel er sehen konnte, gab es keinen. »Sallah!« Stille. Er starrte zur Öffnung hinauf, blinzelte in das grelle Licht und wartete. Plötzlich bewegte sich oben etwas, dann fiel etwas herunter, und er glaubte zunächst, es sei das Seil. Das stimmte nicht. Was er herunterkommen sah, waren zusammengeknotete Kleidungsstücke, offenkundig in größter Hast aneinandergeschlungen, um ein Ersatzseil zu bilden - Hemden, Uniformröcke, Hosen, Burnusse und - ausgerechnet - eine Hakenkreuzfahne. Er packte den Strick, zerrte daran und begann hinaufzuklettern. Er stieg oben hinaus und warf sich auf den Bauch, während Sallah die verknoteten Kleidungsstücke herausriß. Indy lächelte. Der Ägypter stopfte die Sachen in die Tonne. Indy stand auf und folgte Sallah mit raschen Schritten zu den Zelten. Sie bemerkten den Deutschen nicht, der mit sichtbarer Ungeduld hin und her marschierte. »Du da! Ich warte immer noch auf das Wasser!« Sallah breitete bedauernd die Hände aus. Der Deutsche wandte sich Indy zu. »Du bist auch so ein fauler Kerl. Warum gräbst du nicht?«
Sallah ging auf den Deutschen zu, während Indy sich mit tiefen Verbeugungen entfernte und in die andere Richtung davoneilte. Sem langes Gewand flatterte, während er zwischen den Zelten dahinstürrnte. Hinter sich konnte er den Deutschen rufen hören, als sei dem Mann plötzlich ein Licht aufgegangen, sei sein Argwohn geweckt worden. "Warte! Komm zurück!« Das glaubst du doch wohl selber nicht, dachte Indy. Er hastete zwischen den Zelten dahin, hin- und hergerissen zwi-schen dem Wunsch, nicht aufzufallen, und dem Drang, nach dem Schacht der Seelen zu graben, als zwei deutsche Offiziere vor ihm auftauchten. Verdammt. Er blieb stehen und beobachtete, wie sie sich miteinander unterhielten und sich Zigaretten anzündeten. Sein Weg war versperrt. Er schlich an den Zeltwänden weiter, den Schatten nutzend, wo er ihn finden konnte, dann trat er durch eine Öffnung, einen Eingang in eines der Zelte. Hier konnte er immerhin einige Minuten warten, bis der Weg frei war. Die beiden Deutschen würden wohl nicht den ganzen Tag dort herumstehen und sich unterhalten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, rieb die feuchten Hände an seinem Gewand. Zum erstenmal, seit er hier angekommen war, dachte er über den Raum mit dem Stadtmodell und über das unheimliche Gefühl der Zeitlosigkeit nach, das er empfunden hatte, beinahe so, als schwebe man im Leeren, als sei man selbst zu einem konservierten Gegenstand aus der Frühzeit geworden, aufbewahrt, unverändert, im besten Zustand erhalten. Der Plan von Tanis. In gewisser Weise war das so, als hätte man entdeckt, daß ein Märchen auf Wahrheit beruhte, die Legende, in deren Kern Wahrheit steckt. Der Gedanke erregte Demut in ihm. Du lebst im Jahr 1936, dachte er, mit Flugzeugen und Radios und gewaltigem Kriegsgerät - und dann stößt du auf etwas Einzigartiges und Grandioses wie ein Stadtmodell, in dem ein bestimmtes Gebäude zu leuchten beginnt, wenn das Licht in einer ganz bestimmten Weise darauf fällt. Nenn es Alchemie oder sogar Zauberei - wie du es auch betrachtest, der Verlauf der vielen Jahrhunderte hatte keine tiefgreifenden Veränderungen, geschweige denn Verbesserungen bewirkt. Die Zeit hatte nur an den Wurzeln eines tiefen Sinnes für das Kosmische, das Zauberische genagt. Und nun war er in Reichweite des Zieles. Der Bundeslade. Wieder fuhr er mit dem Ärmel über seine Stirn. Er starrte durch einen Schlitz in der Zeltwand hinaus. Sie standen immer noch da, rauchten und sprachen miteinander. Wann würden sie endlich belieben, weiterzugehen? Er suchte nach einem Ausweg, versuchte sich eine Methode einfallen zu lassen, wie er von hier fortkonnte, als er in der anderen Ecke des Zelts ein Geräusch hörte. Ein sonderbar ersticktes Ächzen, gedämpft, kaum hörbar. Er fuhr herum und starrte in das Zelt hinein, das er für leer gehalten hatte. Einen Augenblick lang, in dem er ungläubig und fassungslos wie gelähmt stehenblieb, spürte er, wie sein Herz auszusetzen schien. Sie saß auf einem Stuhl, mit Stricken daran festgebunden, ein Taschentuch als Knebel im Mund. Sie saß da, und ihre Augen flehten ihn an, schössen Blitze auf ihn ab, während sie versuchte, durch den Knebel hindurch zu sprechen. Er hastete durch das Zelt, löste die Verschnürung des Knebels und ließ ihn herunterfallen. Er küßte sie lange und heftig. Als er den Kopf hob, legte er die Handfläche an ihre Wange. »Sie hatten zwei Körbe«, sagte sie stockend. »Zwei... um dich zu täuschen. Als du dachtest, ich bin im Lastwagen, war ich in einer Limousine...» »Ich dachte, du bist tot«, sagte er. Was war das für ein Gefühl in ihm? Unbeschreibliche Erleichterung? Eine Zentnerlast Schuld, die von ihm abfiel? Oder reine Freude, Dankbarkeit dafür, daß sie noch am Leben war? »Ich bin immer noch da«, sagte sie. »Hat man dir etwas getan?« Sie schien mit sich zu ringen. »Nein - man hat mir nichts getan. Man hat nur nach dir gefragt und wollte erfahren, wieviel du weißt.« Indy rieb sein Kinn und fragte sich, ob er sich täuschte, wenn er ein Zögern an Marion wahrnahm. Aber er war viel zu erregt, um sich mit diesem Gedanken befassen zu können. »Indy, bitte, hol mich hier raus. Er ist das Böse -« »Wer?« »Der Franzose.« Er war im Begriff, die Stricke aufzuknoten, und hob plötzlich den Kopf. »Was ist denn?« fragte sie. "Hör zu, du wirst nie begreifen können, wie mir jetzt zumute ist. Ich werde das nie beschreiben können. Aber ich möchte, daß du- mir vertraust. Ich werde etwas tun, das mir widerstrebt« »Mach mich los, Indy. Bitte.« »Darum geht es. Wenn ich dich befreie, werden sie hier jeden Quadratzentimeter Sand umschaufeln, um dich zu finden, und das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Und weil ich weiß, wo die Lade ist, muß ich um jeden Preis vor ihnen dort sein, und erst danach kann ich dich holen -«
»Indy, nein!« »Du brauchst nur noch ein bißchen Geduld zu haben -« »Du Dreckskerl! Mach mich los!« Er schob ihr den Kebel wieder in den Mund und knotete ihn fest. Er küßte sie noch einmal auf die Stirn, ohne ihr Aufbäumen zu beachten, und richtete sich auf. »Halt durch«, sagte er. »Ich komme wieder.« Ich komme wieder, dachte er. In ihm hallte etwas wider, etwas, das zehn Jahre zurücklag. Er sah die Zweifel in ihren Augen. Er küßte sie noch einmal, dann huschte er zum Zelteingang. Sie hieb die Stuhlbeine auf den Boden. Er ging hinaus. Die deutschen Offiziere waren verschwunden. Die Sonne stach stärker herab, schien das Gehirn aus dem Schädel pressen zu wollen. Sie lebt, dachte er. Sie ist am Leben. Der Gedanke breitete sich in ihm aus, erfüllte ihn mit Helligkeit. Er begann davonzueilen, fort von den Zelten, von der Ausgrabungsstätte, hinaus in die sengenden Dünen, dorthin, wo er sich mit Omar und seinen Arbeitern treffen sollte. Er zog den Theodoliten hinten aus Omars Fahrzeug heraus und stellte ihn zwischen den Dünen auf, richtete ihn auf den Sandberg mit dem Planmodell in der Ferne aus, zog seine Berechnungen zu Rate und nahm eine Peilung vor, die ihn zu einer Stelle einige Meilen entfernt in der Wüste führte, in unberührtem Sand, erheblich näher als der Ort, wo Belloq fälschlicherweise nach dem Schacht der Seelen grub. Dort, dachte er. Das ist die Stelle! »Ich habe es«, sagte er und klappte das Instrument zusammen, um es wieder in das Fahrzeug zu schieben. Die Stelle war durch die aufsteigenden Dünen von Belloqs Grabungsstelle aus nicht zu erkennen. Sie konnten unbemerkt graben. Als er in den Lastwagen stieg, sah er auf den Dünen eine Gestalt herankommen. Es war Sallah. Mit wehenden Gewändern eilte er auf das Fahrzeug zu. »Ich dachte schon, Sie kommen nie«, sagte Indy. »Ich auch«, sagte Sallah, als er hinten einstieg. »Los«, sagte Indy zum Fahrer. Als sie in die Dünen hinausgefahren waren, hielt der Lastwagen. Es war eine abgelegene nackte Stelle, wo sie nach der Lade zu graben gedachten. Die Sonne stand schillernd am Himmel, von der Farbe einer explodierenden gelben Rose - diesen sonderbaren Vergleich drängte ihre Erscheinung auf. Sie schien vom Himmel stürzen zu wollen. Sie gingen zu der Stelle, die Indy angepeilt hatte. Er blieb kurze Zeit stehen und starrte sie an - trockener Sand. Man wäre nie auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet hier zu graben. Man hätte nie glauben mögen, daß dieser Boden irgendeinen Fund hergeben würde, ganz gewiß nicht die Bundeslade. Indy ging zum Lastauto und holte eine Schaufel. Die Arbeiter kamen schon heran. Sie hatten wettergegerbte Gesichter und sonnenverbrannte Haut. Indy fragte sich, ob man in diesem Klima älter werden konnte als vierzig Jahre. Sallah, der einen Spaten geholt hatte, ging neben ihm her. »Ich glaube, sie könnten nur dann hierherkommen, wenn Belloq erkennt, daß er an der falschen Stelle gräbt. Einen anderen Grund kann es nicht geben.« »Wer hat schon einmal gehört, daß ein Nazi einen Grund braucht?« Sallah lächelte. Er drehte sich um und starrte auf die Dünen; in allen Richtungen erstreckten sie sich meilenweit leer dahin. »Selbst ein Nazi würde einen guten Grund brauchen, um hier herumzulaufen«, meinte er. Indy stieß die Schaufel in den Boden. »Er würde auf jeden Fall einen Antrag in dreifacher Ausferti-gung stellen und ihn in Berlin genehmigen lassen müssen.« Er warf einen Blick auf die Arbeiter. »Fangen wir an«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen.« Sie begannen zu graben, häuften Sand, arbeiteten angestrengt und ohne Unterbrechung, tranken höchstens einmal einen Schluck lauwarmes Wasser aus den Schläuchen. Sie gruben, bis das Licht am Himmel erlosch, aber die Hitze blieb, untrennbar mit dem Sand verbunden. Belloq saß in seinem Zelt und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, auf dem Landkarten lagen, Zeichnungen der Bundeslade, Blätter mit den Zeichen seiner Berechnungen. In seinem Inneren herrschte düstere Enttäuschung, er war unruhig und nervös - und Dietrichs Anwesenheit, der auch noch seinen Gehilfen Gobier mitgebracht hatte, heiterte ihn nicht gerade auf. Belloq erhob sich, ging zu einem Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht. »Ein verlorener Tag«, sagte Dietrich. »Nutzlos...« Belloq trocknete sich das Gesicht ab und griff nach der Kognakflasche, um ein kleines Glas zu füllen. Er starrte die beiden Deutschen an, auch Gobier, der Dietrichs Schatten zu sein schien. Dietrich fuhr unbeirrt fort: »Meine Leute haben den ganzen Tag gegraben - und wofür? Sagen Sie mir das, wenn Sie können.«
Belloq trank einen Schluck. »Meine Berechnungen sind zutreffend. Sie beruhen auf den Informationen, die in meinem Besitz sind. Aber die Archäologie ist keine besonders exakte Wissenschaft, Dietrich. Ich glaube, Sie haben das noch nicht ganz begriffen. Vielleicht finden wir die Lade in einem benachbarten Raum. Vielleicht fehlt uns noch eine entscheidende Erkenntnis.« Er leerte achselzuckend sein Glas. An sich verabscheute er die Art der Deutschen, sich mit Haarspaltereien abzugeben. Sie bedrängten ihn unaufhörlich und hingen an seinen Lippen, als sei er ein Seher, ein Prophet-Im Augenblick konnte er ihre Reaktion aber verstehen. »Der Führer verlangt ständige Berichterstattung über die erzielten Fortschritte«, sagte Dietrich. »Er ist nicht für seine Geduld berühmt.« »Sie werden .sich vielleicht an mein Gespräch mit Ihrem Führer erinnern, Dietrich. Dann fällt Ihnen gewiß ein, daß ich keine Versprechungen gemacht habe. Ich habe lediglich erklärt, es sähe günstig aus, nicht mehr.« Sie schwiegen. Gobier trat vor die Kerosinlampe und warf einen riesigen Schatten, den Belloq als seltsam bedrohlich empfand. »Das Mädchen könnte uns helfen«, sagte Gobier. »Sie war schließlich jahrelang im Besitz der Sonnenscheibe.« »Allerdings«, sagte Dietrich. »Ich bezweifle, daß sie etwas weiß«, gab Belloq zurück. »Ein Versuch lohnt sich«, meinte Gobier. Belloq fragte sich, warum ihn die Art, wie sie das Mädchen behandelten, so störte. Sie waren barbarisch mit ihr umgegangen, hatten sie mit Folterung bedroht, aber für ihn schien klar zu sein, daß sie nichts Nützliches mitteilen konnte. War das eine Schwäche von ihm, empfand er irgend etwas für sie? Der Gedanke entsetzte ihn. Er starrte Dietrich an. In welcher Angst sie vor ihrem armseligen kleinen Führer leben, dachte er. Er muß ihnen nachts im Traum erscheinen - wenn sie überhaupt träumten, was ihm noch nicht sicher erschien. Sie hatten alle miteinander keine Phantasie. »Wenn Sie sich mit dem Mädchen nicht beschäftigen wollen, Belloq, habe ich jemanden, der aus ihr herausholen kann, was sie weiß.« Das war nicht der Augenblick, Schwäche zu zeigen, den Eindruck zu erwecken, ihm liege an der Frau. Dietrich ging zum Zelteingang und rief etwas hinaus. Kurze Zeit später erschien Arnold Toht und grüßte mit erhobenem Arm. An der Handfläche war die Narbe zu erkennen, ausgebranntes Gewebe, der Abdruck der Sonnenscheibe. »Diese Frau«, sagte Dietrich. »Ich glaube, Sie kennen sie, Toht.« "Da ist eine alte Rechnung zu begleichen«, antwortete Toht. Die Narbe«, sagte Belloq. ließ verlegen seinen Arm sinken. Als es dunkel geworden war und der bleiche Wüstenmond über dem Horizont heraufkam, ein Mond von gedämpftem Blau hörten Indy und seine Arbeiter zu graben auf. Sie hatten Fackeln angezündet und sahen, wie der Mond langsam dunkler wurde, als Wolken daran vorbeizogen; danach zuckten Blitze am Himmel, seltsame Blitzstrahlen, die sich kurz gabelten und aufleuchteten, ein Gewitter, aus dem Nichts entstanden, wie es schien. Die Männer hatten ein Loch gegraben, an dessen Unterseite eine schwere Steintür den Boden ausfüllte. Lange Zeit blieben alle stumm. Aus dem Lastwagen wurden Werkzeuge geholt, und die Arbeiter stemmten die Steintür auf, die von enormem Gewicht zu sein schien. Die Tür wurde hochgehievt. Darunter befand sich eine unterirdische Kammer. Der Schacht der Seelen. Der Raum hatte eine Tiefe von annähernd zehn Metern, er war eine große Höhle, deren Wände mit Hieroglyphen und gemeißelten Bildern bedeckt waren. Das Dach wurde von hohen Statuen getragen, den Bewachern des Gewölbes. Es war ein Ehrfurcht erregender Bau, der im Licht der Fackeln ein Gefühl der Bodenlosigkeit vermittelte, als hätten sie einen Abgrund vor sich, in dem die Geschichte selbst verborgen lag. Die Männer traten mit den Fackeln näher heran und starrten hinunter. Das andere Ende der Kammer tauchte auf, nur schwach erhellt. Dort befand sich ein Steinaltar mit einem Steinkasten; der Boden davor war mit einem fremdartigen dunklen Belag bedeckt. »In dem Steinkasten muß die Lade sein«, sagte Indy. »Icnverstehe nur nicht, was das graue Zeug am Boden sein soll.« Aber als ein Blitz aufzuckte, sah er es. Er erschrak, ließ die Fackel in den Schacht fallen und hörte das Zischen Hunderter von Schlangen. Die Fackel brannte weiter, und die Schlangen wichen vor den Flammen zurück. Mehr als nur Hunderte, Tausende von Schlangen, ägyptische Brillenschlangen, zuckend und sich zu-sammenrollend, über den Boden dahingleitend, während sie die Flammen böse anzischten. Der Boden schien sich im Feuerschein aufzubäumen aber es war nicht der Boden, es waren die Schlangen, die vor dem Lodern zurückwichen. Nur der Altar war von den Schlangen unberührt. Nur der Steinaltar schien gegen sie immun zu sein. »Warum ausgerechnet Schlangen?« sagte Indy. »Alles, nur keine Schlangen. Alles andere hätte ich ertragen können.« »Vipern«, sagte Sallah. »Sehr giftig.« »Vielen Dank für die Mitteilung, Sallah.« »Sie weichen vor den Flammen zurück, wie Sie sehen.« Reiß dich zusammen, dachte Indy. Du bist der Bundeslade so nah, daß du sie fast in den Händen hältst. Du mußt mit deiner Angst fertig werden und etwas dagegen tun. Tausend Schlangen - na und? Was soll schon sein? Der zuckende, lebende Boden war die Verkörperung eines alten Alptraumes.
Schlangen verfolgten ihn bis in seine Träume hinein, erregten seine tiefsten Ängste. Er drehte sich nach den Arbeitern um. »Also gut. In Ordnung. Ein paar Schlangen. Was ist das schon? Ich brauche viele Fackeln. Und Petroleum. Ich brauche da unten eine Landebahn.« Nach einiger Zeit warf man brennende Fackeln in den Schacht. Auf die Stellen, wo die Schlangen vor den Flammen zurückgewichen waren, ließ man mehrere Kanister mit Petroleum fallen. Die Araber ließen anschließend eine große Holzkiste an Seilen hinabgleiten. Indy schaute zu und fragte sich, ob Krankhafte Furcht etwas war, das man überwinden und niederringen konnte, etwas, das man zu ignorieren vermochte wie einen quälenden körperlichen Schmerz. Trotz seiner Entschlos-senheit, da hinunterzusteigen, zitterte er - und die durcheinan-dergleitenden, sich aufbäumenden Vipern füllten die Dunkelheit mit ihrem Zischen, ein Geräusch, schlimmer als alles, was er in seinem Leben je gehört hatte. Man ließ ein Seil hinab. Er richtete sich auf, schluckte krampfhaft, griff nach dem Seil, schwang sich hinaus und glitt hinunter in den Schacht. Augenucke später folgte ihm Sallah. Hinter den Flammen wanden Schlangen, wogten durcheinander, Schlangen auf Schlangenbergen, zuhauf, Schlangeneier legend, die auseinander-brachen und winzige Vipern erkennen ließen, Schlangen, die andere Schlangen zerbissen. Er hing eine Weile am Seil, das hin und her schwankte, Sallah über sich. »Dann also los«, sagte er. Marion hob den Kopf, als Belloq ins Zelt kam. Er ging langsam auf sie zu und betrachtete sie einige Zeit, ohne ihr den Knebel abzunehmen. Was hatte dieser Mann an sich? Woran lag es, daß ein unnennbares Gefühl in ihr aufstieg, beinahe Panik? Sie konnte hören, wie ihr Herz schlug. Sie starrte ihn an und hätte am liebsten die Augen zugemacht und das Gesicht abgewendet. Bei ihrer ersten Begegnung, nachdem sie gefaßt worden war, hatte er sehr wenig zu ihr gesagt und sie nur prüfend angesehen, so wie jetzt. Die Augen blickten kalt und wirkten doch klug, obwohl sie selbst nicht sagen konnte, wie sie zu diesen Einsichten kam, so, als seien sie der Wärme fähig. Sie kamen ihr auch wissend vor, so, als hätte er ein tiefes Geheimnis ergründet, hätte er die Wirklichkeit einer Prüfung unterzogen und sie als mangelhaft empfunden. Das Gesicht war gut geschnitten, von melancholisch-versonnenem Ausdruck. Aber das waren nicht die Dinge, die in ihr Inneres griffen. Es war etwas anderes. Etwas, woran sie nicht denken wollte. Sie schloß die Augen. Marion konnte es nicht ertragen, so durchdringend angestarrt zu werden, gemustert wie ein archäologischer Fund, eine Tonscherbe, irgendwo ausgegraben und aufgelesen. Leblos, ein Gegenstand. Als sie hörte, wie er sich bewegte, öffnete sie die Augen. Er sagte immer noch nichts. Ihre Beunruhigung wuchs. Er ging durch das Zelt, bis er vor ihr stand, dann streckte er ganz langsam die Hand aus und entfernte bedächtig den Knebel. Sie sah plötzlich seine Hand vor sich, ein unerwünschtes Bild, ihre Hüfte streichelnd. Nein, dachte sie. So ist das gar nicht. Aber das Bild blieb. Belloqs Hand zog den Knebel mit der Selbstsicherheit des erfahrenen Liebhabers aus ihrem Mund zum Kinn herab, dann löste er den Knoten - alles ganz langsam, mit der beiläufigen Eleganz des Verführers, der auf irgendeine unerklärliche Weise spürt, wie seine Beute sich ihm hingibt. Sie drehte den Kopf zur Seite. Sie wollte diese Gedanken abschneiden, schien aber nicht fähig dazu zu sein. Ich will nicht von diesem Mann angezogen werden, dachte sie. Ich will nicht, daß er mich berührt. Aber als seine Finger unter ihr Kinn glitten und ihre Kehle streichelten, wurde ihr klar, daß sie sich nicht zu wehren vermochte. Ich lasse nicht zu, daß er das in meinen Augen sieht, beschloß sie. Ich lasse es mir nicht anmerken. Wider Willen begann sie sich vorzustellen, daß seine Hände über ihren Körper glitten, Hände, die seltsam sanft waren, rücksichtsvoll und zärtlich, intim und erregend. Und plötzlich wußte sie, daß dieser Mann ein Liebhaber von hohen Graden sein würde, daß er in ihr Lust erregen konnte, wie sie sie noch nie verspürt hatte. Er weiß es, dachte sie. Er weiß es auch. Sein Gesicht kam nah heran. Sie konnte seinen reinen Atem spüren. Nein, nein, nein, dachte sie. Aber sie sagte nichts. Sie wußte, daß sie sich ein wenig vorbeugte, auf den Kuß wartete, die Gedanken in Wirrnis, ihr Begehren zu stark. Er kam nicht. Es gab keinen Kuß. Er bückte sich und begann ihre Fesseln zu lösen, ruhig und beherrscht wie zuvor, ließ die Stricke auf den Boden fallen, als wären es hauchdünne Gewänder. Noch immer sagte er nichts. Er sah sie an. In seinen Augen glitzerte etwas, ein Anflug der Wärme, die sie vorhin glaubte, erkannt zu haben aber sie wußte nicht, ob sie echt war oder nur eine Waffe, die er gebrauchte, ein Requisit für seine Rolle. Dann sagte er: »Sie sind sehr schön.« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte...« Aber sie wußte nicht, ob sie ihn anflehte, sie in zu lassen, oder ob sie geküßt werden wollte. In ihrem Leben hatte sie noch keinen derartigen Widerstreit der Gefühle erlebt. Indy, warum, zum Teufel, hast du mich nicht befreit? Warum hast du mich hier sitzenlassen? Abgestoßen, angezogen - warum gab es da keine feste, klare
Grenze? Eine Scheidelinie, die man deutlich sehen konnte? Es nützte nichts. In ihrem Inneren lief alles durcheinander. Sie sah den Widerspruch und begriff entsetzt, daß sie sich wünschte, von diesem Mann geliebt zu werden. Sie wollte, daß er sie lehrte, was körperliche Liebe bedeuten konnte - und darüber hinaus blieb die Erkenntnis, daß er grausam sein konnte, aber auch das fiel plötzlich nicht mehr ins Gewicht. Sein Gesicht näherte sich wieder dem ihren. Sie blickte auf seine Lippen. Seine Augen waren voller Verständnis, erfüllt von einem Wissen, das sie bei einem Mann noch nie gesehen hatte. Noch bevor er sie küßte, kannte er sie, konnte er tief in sie hineinblicken. Sie kam sich in einer Weise nackt vor, die mit dem Ablegen der Kleider nichts zu tun hatte. Selbst diese Schutzlosigkeit erregte sie jetzt nur noch mehr. Er kam immer näher heran. Er küßte sie. Sie wollte zurückweichen. Der Kuß - sie schloß die Augen und überließ sich ihm - war mit keinem anderen Kuß in ihrem Leben zu vergleichen. Er war mehr als die Begegnung von Lippen und Zungen. Er erzeugte in ihr grelle Lichtzuckungen, Farben, Gewebe von Gold und Silber und Gelb und Blau, so, als hätte sie einen unvorstellbaren Sonnenuntergang vor sich. Langsam, geduldig, freigebig. Niemand hatte sie jemals so berührt. Nicht so. Nicht einmal Indy. Als er den Kopf zurückzog, begriff sie, daß sie ihn fest umschlungen hielt. Sie grub ihre Fingernägel in seinen Körper. Die Erkenntnis war wie ein Schlag für sie, ein Schock, der Scham in ihr hochfluten ließ. Was trieb sie? Was hatte Besitz von ihr ergriffen? Sie löste sich von ihm. »Bitte«, sagte sie. »Nicht mehr.« Er lächelte. »Sie wollten Ihnen weh tun«, sagte er. Es war, als hätte es den Kuß nie gegeben. Er schien mit ihr nur gespielt zu haben. Der plötzliche Absturz war der in die Tiefe rasende Wagen einer Berg-und-Talbahn. »Es ist mir gelungen, sie zu überreden, daß sie mir ein wenig Zeit mit Ihnen allein einräumten, meine Liebe. Sie sind schließ-lich eine sehr attraktive Frau. Und ich möchte nicht erleben, daß man Ihnen weh tut. Sie sind Barbaren.« Wieder kam er näher heran. Nein, dachte sie. Nicht wieder. »Sie müssen mir etwa sagen, womit ich sie hinhalten kann. Irgend etwas.« »Ich weiß nichts ... wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Ihr war schwindlig geworden. Sie mußte sich hinsetzen. Warum küßte er sie nicht noch einmal? »Was ist mit Jones?« »Ich weiß überhaupt nichts.« »Ihre Treue ist bewundernswert, aber Sie müssen mir verraten, was Jones weiß.« Indy tauchte vor ihrem verschwimmenden Blick auf. »Er hat mir nichts gebracht als Probleme...« »Da gebe ich Ihnen recht«, sagte Belloq. Er griff nach ihr, erfaßte ihr Gesicht mit den Händen, blickte in ihre Augen. »Ich fürchte fast, ich möchte glauben, daß sie nichts wissen. Aber ich kann die Deutschen nicht zurückhalten.« »Lassen Sie nicht zu, daß man mir weh tut.« Belloq sah sie achselzuckend an. »Dann erzählen Sie mir irgend etwas!« Die Zeltklappe wurde aufgerissen. Marion blickte hinüber und sah Arnold Toht am Eingang stehen, hinter ihm die Deutschen, von denen sie wußte, daß sie Dietrich und Gobier hießen. Die Angst flammte in ihr auf wie eine zweite Sonne. »Es tut mir leid«, sagte Belloq. Sie regte sich nicht. Sie starrte auf Toht und dachte daran, mit welcher Lust er den rotglühenden Schürhaken an ihr Gesicht gehalten hatte. »Fräulein Ravenwood«, sagte Toht. »Ein weiter Weg seit Nepal, nicht?« Sie trat zurück und schüttelte angstvoll den Kopf. Toht ging auf sie zu. Sie warf einen Blick auf Belloq, wie um ihn ein letztes Mal anzuflehen, aber er verließ schon das Zelt und trat in die Nacht hinaus. Belloq blieb draußen stehen. Es war sehr eigenartig, von dieser Frau angezogen zu werden, seltsam, mit ihr schlafen zu wollen, obwohl das Ganze damit angefangen hatte, daß er bemüht gewesen war,etwas aus ihr herauszuholen. Aber danach, nach dem ersten Kuß... Er schob die Hände in die Taschen und zögerte vor dem Zelt. Er wäre am liebsten wieder hineingegangen, um diesen Abschaum an dem zu hindern, was er im Schild führte aber seine Aufmerksamkeit galt plötzlich dem Horizont. Blitze - aufzuckendes Licht, auf sonderbare Weise an einer einzigen Stelle gesammelt, wie von dort angelockt. Ein Zusammentreffen von Blitzstrahlen, Gabelungen, Zacken und Bögen. Er biß sich nachdenklich auf die
Unterlippe, dann kehrte er ins Zelt zurück. Indy ging auf den Altar zu. Er versuchte das Zischen der Schlangen zu überhören, ein Geräusch, das Wahnsinn zu entfachen drohte - einem Alptraum zugehörig, der durch die unheimlichen Schatten der Fackeln noch grausiger wurde. Er hatte Petroleum aus den Kanistern auf den Boden gespritzt und es angezündet, um freie Bahn zwischen den Schlangen zu schaffen, und die auflodernden Flammen schirmten ihn gegen das Licht ab, das von oben kam. Sallah war hinter ihm. Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Steindeckel des Kastens und hoben ihn hoch; im Inneren lag die Bundeslade, herrlicher als alles, was in seiner Vorstellung gewesen war. Eine Zeitlang vermochte er sich nicht zu bewegen. Er starrte auf die makellosen goldenen Cherubim, die einander auf dem Deckel gegenüberknieten, auf das Gold, mit dem das Akazienholz überzogen war. Die goldenen Tragringe an den vier Ecken glitzerten im Licht seiner Fackel. Er blickte auf Sallah, der die Lade auch in ehrfürchtigem Schweigen anstarrte. Mehr als alles andere drängte es Indy, die Hände auszustrecken und die Lade zu berühren - aber während er das dachte, streckte Sallah schon seine Hand aus. »Nicht berühren«, entfuhr es Indy. »Ja nicht berühren!« Sallah zog die Hand zurück. Sie drehten sich nach der Holzkiste um und zogen die vier Stangen heraus, die an den Ecken angebracht waren. Sie schoben die Stangen in die Ringe der Lade und hoben sie hoch, ächzten unter dem Gewicht, stemmten sie aus dem Steinbehälter in die Kiste. Die Flammen sanken langsam in sich zusammen, und die Schlangen, deren Zischen immer lauter wurde, immer mehr einer einzigen, hallende Stimme glich, glitschten auf den Altar zu. »Schnell«, sagte Indy. »Schnell.« Sie befestigten die Seile an der Kiste. Indy zerrte an einem der Stricke, und die Kiste wurde hinaufgezogen. Sallah griff nach dem anderen Seil und hangelte sich rasch hinauf. Indy griff nach seinem Kletterseil, zerrte daran, um sich zu vergewissern, daß es ihn trug - und es stürzte herab, fiel schlangengleich von der Öffnung in die Kammer hinab. »Was, zum Henker -« Die Stimme des Franzosen, von oben hereintönend, war unverkennbar. »Aber, Doktor Jones, was machen Sie denn an einem so abscheulichen Ort?« Indy hörte Gelächter. »Sie machen das langsam zur Gewohnheit«, sagte Indy. Die Schlangen kamen zischend näher. Er konnte hören, wie sie am Boden entlangrutschten. »Eine schlechte Angewohnheit, das gebe ich zu«, erklärte Bel-loq und spähte hinunter. »Bedauerlicherweise kann ich Sie künftig nicht mehr brauchen, mein alter Freund. Und ich empfinde es als passende Ironie, daß Sie für immer ein Bestandteil dieses archäologischen Fundes werden.« »Ich sterbe vor Lachen!« schrie Indy hinauf. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen nach oben und fragte sich, ob es noch einen anderen Ausweg gab... zermarterte sich immer noch das Gehirn, als er sah, wie Marion in das Loch hineingestoßen wurde, hinabfiel, auf ihn zustürzte. Er trat hastig vor und fing ihren Sturz ab, wurde mit ihr zu Boden gerissen. Die Schlangen schoben sich näher heran. Sie klammerte sich verzweifelt an Indy, der Belloq oben erbost sagen hörte: »Ich hatte sie für mich bestimmt.« "Sie nützt uns nichts mehr, Belloq«, sagte eine andere Stimme. »Nur der Auftrag des Führers ist von Belang.« »Ich hatte Pläne mit ihr.« »Die einzigen Pläne, auf die es ankommt, sind jene, die Berlin betreffen«, gab Dietrich zurück. Oben blieb es eine Weile still, dann blickte Belloq in den Schacht hinunter. »Es sollte nicht sein«, sagte er leise zu Marion. Er nickte Indy zu. »Adieu, Indiana Jones.« Plötzlich wurde die Steintür zur Kammer von deutschen Soldaten zugeklappt. Die Luft fegte aus dem Schacht, Fackeln erloschen, und die Schlangen glitschten in die Dunkelheit hinein. Marion hielt Indy fest umfangen. Er löste sich von ihr, griff nach zwei Fackeln, die noch brannten, und gab ihr eine davon. »Stoß sie allem entgegen, was sich bewegt«, sagte er. »Alles bewegt sich«, gab sie zurück. »Alles wabert und glitscht durcheinander.« »Erinnere mich nicht daran.« Er begann im Dunkeln umherzutasten, fand einen der Petroleumkanister, spritzte die Flüssigkeit bis zur Wand und zündete sie an. Er starrte an einer der Statuen hinauf und fühlte, wie die Schlangen immer näher herandrängten. »Was machst du?« fragte Marion. Er goß den Rest der Flüssigkeit im Kreis ringsum aus und steckte sie in Brand. »Bleib hier.« »Warum? Wo willst du hin?« »Ich komme wieder. Halt die Augen offen und mach dich bereit zur Flucht.« »Zur Flucht wohin?«
Er antwortete nichts. Er ging durch die Flammen rückwärts zur Mitte der Kammer. Schlangen züngelten um seine Fersen, und er schwang verzweifelt die Fackel, um sie fernzuhalten. Er starrte an der Statue hinauf, die bis fast unter die Decke reichte. Er zog die Peitsche unter seinem Gewand hervor und ließ die Schnur durch das Halbdunkel hinaufschnellen, sah, wie sie sich um die Säule wickelte. Er zerrte daran, um die Festigkeit zu prüfen, dann zog er sich mit einer Hand hinauf, in der anderen Hand die Fackel. Er hangelte sich hinauf und verdrehte einmal den Hals, um zu Marion hinunterzustarren, die hinter der zusammensinkenden Flammenwand stand. Sie wirkte verloren, einsam und hilflos. Er gelangte zur Spitze der Statue, als hinter ihrem Gesicht eine Schlange hervorschnellte und ihn anzischte. Indy stieß ihr die Fackel entgegen, roch brennendes Reptilfleisch, sah die Schlange an dem glatten Stein abrutschen und hinunterfallen. Er spreizte sich ein, die Füße zwischen Wand und Statue. Bitte, laß das gutgehen, dachte er. Schlangen kletterten an der Statue hoch, und seine Fackel - die schon niedergebrannt war -würde sie nicht ewig aufhalten. Er hieb damit um sich, schlug hierhin und dorthin, hörte Schlangen hinunterstürzen und auf den Boden prallen. Dann entglitt ihm die Fackel und erlosch im Hinabfallen. Gerade dann, wenn du Licht brauchst, hast du keines, dachte er. Irgend etwas glitt über seine Hand. Er schrie erschrocken auf. In diesem Augenblick schwankte die Statue auf ihrem Sockel, erbebte, kippte auf erschreckende Weise. Es geht los, dachte Indy, und klammerte sich an der Statue fest wie an einem bockigen Maulesel. Aber es war eher ein Baumstamm in tosender See - und er stürzte, fiel hinab, während er verzweifelt bemüht war, sich festzuhalten, immer schneller, vorbei an Marion, die ihn angaffte, inmitten der erlöschenden Flammen, vorbeirauschend an ihr wie ein gefällter Baum, durch den Boden der Kammer hindurch, hinein in die Dunkelheit dahinter. Dann war der Flug auf der Statue plötzlich zu Ende, als die zerbrochene Figur aufprallte. Er rutschte halb betäubt herunter und rieb sich den Kopf, tastete in der Dunkelheit herum, nahm undeutlich Lichtschein wahr, der durch das gezackte Loch in der Schachtdecke hereindrang. Marion rief nach ihm. »Indy! Wo bist du?« Er griff durch das Loch hinauf, als sie hineinstarrte. "Flieg nie mit einer Statue«, sagte er. »Hör auf mich.« »Das merke ich mir.« Er Packte ihre Hand und half ihr herunter. Sie hielt die Fackel über ihren Kopf. Die Flammen waren klein geworden - aber der Lichtschein reichte aus, um ihnen zu zeigen, daß sie sich in einem Labyrinth von Kammern befanden, die durch schräg ver-laufende Gänge miteinander verbunden waren. Katakomben unter der Erde. »Wo sind wir jetzt?« . »Da weißt du soviel wie ich. Vielleicht hat man den Schacht aus einem besonderen Grund über den Katakomben errichtet Ich weiß es nicht. Schwer zu sagen. Aber immer noch besser als Schlangen.« Ein Schwärm erschreckter Fledermäuse schoß aus dem Dunkel, umflatterte sie mit wildem Flügelschlag. Sie duckten sich und traten in ein anderes Gewölbe. Marion wedelte mit den Armen und kreischte. »Mach das nicht«, sagte er. »Das erschreckt mich.« »Was denkst du, wie ich mich fühle?« Sie gingen von Kammer zu Kammer. »Es muß einen Weg nach draußen geben«, sagte er. »Die Fledermäuse sind ein gutes Zeichen. Sie müssen ins Freie gelangen können, um sich zu ernähren.« Wieder eine Kammer, in der es grauenhaft roch. Marion hob die Fackel höher. Sie sahen verrottende Mumien mit ihren Bandagen, verfaulendes Fleisch, das von vergilbendem Stoff herabhing, Schädelhaufen, Gebeine, an denen noch Fleischfetzen hingen. Eine Mauer vor ihnen war bedeckt mit glänzenden Käfern. »Dieser Geruch ist unerträglich«, sagte Marion. »Beklagst du dich?« »Ich glaube, mir wird schlecht.« »Fein«, sagte Indy. »Das setzt dem Ganzen noch die Krone auf.« Marion seufzte. »Ich kann mir nichts Grauenhafteres vorstellen.« »Doch. Wo du herkommst, war es noch ärger.« »Aber weißt du was, Indy?« sagte sie. »Wenn ich schon mit jemandem hiersein muß...« »Kapiert«, sagte er, um ihr das Wort abzuschneiden. »Schon kapiert.« »Richtig. Du hast es verstanden.« Marion küßte ihn sanft auf die Lippen. Die Weichheit ihrer Berührung überraschte ihn. Er wollte sie noch einmal küssen -aber sie zeigte erregt auf eine Stelle, und als er das Gesicht drehte, sah er in einiger Entfernung die gelobte Sonne, die eben aufging, weiß und wundersam und voller Verheißung.
»Gott sei Dank«, sagte sie. »Danke, wem du willst, aber wir haben noch viel Arbeit vor uns.«
Ausgrabungsstätte bei Tanis, Ägypten Sie befanden sich zwischen den verlassenen Grabungsfeldern, in der Nähe der Start- und Landebahn, die von den Deutschen in der Wüste verlegt worden war. An der Bahn standen zwei Tankfahrzeuge, daneben ein Zeltdepot, und am Rand ein Mann -dem Overall nach ein Mechaniker -, der die Hände in die Hüften gestemmt hatte und zum Himmel hinaufschaute. Kurze Zeit danach ging jemand auf den Mann zu. Marion erkannte die Gestalt. Es war Gobier, Dietrichs Mitarbeiter. Schlagartig begann es am Himmel zu dröhnen, und Marion und Indy sahen von ihrem Versteck aus ein Nurflügelflugzeug zur Landung ansetzen. Gobier schrie dem Bodenmechaniker zu: »Sofort auftanken! Die Maschine muß mit Fracht sofort wieder starten!« Das Nurflügelflugzeug sank herab und setzte auf, rollte holpernd heran. »Sie schaffen die Lade in das Flugzeug«, sagte Indy. »Was machen wir jetzt? Winken wir zum Abschied?« »Nein. Wenn die Lade an Bord kommt, sind wir schon im Flugzeug.« Sie sah ihn prüfend an. »Wieder so ein Einfall von dir?« »Jetzt sind wir so weit gekommen - laß uns weitermachen.« Sie liefen los und huschten zu einer Stelle hinter dem Zeltdepot. Der Mechaniker schob eben Bremsklötze vor die Räder des Flugzeugs, dann trug er den Treibstoffschlauch heran. Die Pro-peller drehten sich, der Motor brüllte immer noch mit ohrenbetäubender Lautstärke. Sie wagten sich noch näher an die Landebahn heran und sahen beide einen zweiten Deutschen in Mechanikerkluft nicht, einen blonden, jungen Mann mit Tätowierungen an den Armen, der hinter ihnen näher kam. Er schlich sich an, einen schweren Schraubenschlüssel erhoben, um ihn auf Indys Schädel niedersausen zu lassen. Es war Marion, die als erstes seinen Schatten sah als er verschwommen vor ihr am Boden auftauchte; sie schrie auf. Indy fuhr herum, als der Schraubenschlüssel niedersauste. Er warf sich hoch, packte den Arm des anderen und rang ihn zu Boden, während Marion hinter einem Kistenstapel verschwand, herüberschaute und sich überlegte, was sie tun konnte. Indy und der Mann rollten auf die Landebahn hinaus. Der erste Mechaniker entfernte sich vom Flugzeug, blieb vor den beiden Gestalten stehen, die sich am Boden wälzten, und wartete auf die Gelegenheit, um Indy durch einen Tritt mit dem Stiefel außer Gefecht zu setzen - aber dann war Indy auf den Beinen, warf sich herum, hieb den anderen Mann mit zwei Faustschlägen nieder. Der Blonde mit den Tätowierungen hatte jedoch noch nicht aufgegeben. Sie umschlangen einander von neuem, stürzten zu Boden, wälzten sich zum Heck des Flugzeugs, wo die Bremspropeller rotierten. Jeden Augenblick wirst du Hackfleisch, dachte Indy. Er spürte, wie die scharfen Propellerflügel die Luft um ihn herum zerhackten. Sie würden ihn durchschneiden wie Butter. Er versuchte den jungen Mann von den Propellern wegzustoßen, aber sein Gegner war kräftig. Indy packte ihn an der Kehle und drückte zu, aber der Deutsche riß sich los und griff erneut mit wilder Wut an. Marion, die hinter den Kisten hervorlugte, sah den Piloten aus der Kanzel steigen. Er hatte eine Pistole in der Hand, die er auf Indy richtete. Er wartete darauf, freie Schußbahn zu erhalten. Sie stürzte über die Landebahn, riß einen der Bremsblöcke unter dem Fahrwerk heraus, hieb ihn dem Piloten über den Kopf. Er brach zusammen und fiel in die Kanzel hinein, auf den Gashebel, so daß der Motor noch lauter brüllte. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und drehte sich herum, gleichsam verärgert darüber, auf einer Seite noch blockiert zu sein. Marion hielt sich an der Einstiegsluke zur Kanzel fest, umnicht in die Propeller gerissen zu werden, beugte sich hinein und versuchte den bewußtlosen Piloten vom Gashebel wegzuzerren Nichts zu machen. Er war zu schwer. Das Flugzeug drohte zu kippen, wobei es Indy zerquetschen oder ihn mit den Propellern in Stücke schneiden mußte. Was ich für dich alles mache, Indy, dachte sie dumpf. Sie stieg in die Kanzel und hieb auf die Plexiglashaube, die über ihr zuklappte. Das Flugzeug drehte sich immer noch, die große Tragfläche fegte knapp über der Stelle dahin, wo Indy mit dem Deutschen rang. In Panik sah Marion, wie Indy den Mechaniker niederschlug, der sofort wieder auf den Beinen war, von Indy aber mit einem Faustschlag nach hinten geschleudert wurde ...In den Propeller hinein. Marion schloß die Augen, aber nicht, bevor sie sah, wie die Propellerflügel den Deutschen zerfetzten, daß das Blut aufspritzte. Die Maschine rollte noch immer. Marion öffnete die Augen, versuchte die Kanzel zu verlassen, entdeckte, daß die Kanzelhaube klemmte. Sie hämmerte daran herum, aber ohne Erfolg. Zuerst ein Korb, jetzt eine Flugzeugkanzel, dachte sie. Wann hört den auf? Indy hetzte zur Maschine, sah sie kippen, entdeckte entsetzt, daß Marion im Inneren an die Kanzelhaube
hämmerte. Die Tragfläche brach ab, fetzte durch das Tankfahrzeug, zerteilte es mit der Sicherheit eines Chirurgenskalpells, und der Treibstoff ergoß sich wie Blut eines narkotisierten Patienten auf die Landebahn. Indy begann schneller zu laufen, rutschte durch die Pfützen des Flugzeugbenzins. Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, fiel hin, raffte sich wieder auf und lief weiter. Er sprang auf die Tragfläche und kletterte zur Kanzel. »Steig aus! Das ganze Ding fliegt in die Luft!« schrie er. Er griff nach dem Hebel, mit dem die Kanzel sich von außen öffnen ließ. Er rang damit, versuchte ihn aufzustemmen, warf sich mit aller Kraft dagegen, während unaufhörlich Flugzeugbenzin aus dem Tankfahrzeug strömte. Marion, die in der Falle saß, starrte ihn flehend an. Die Holzkiste, umgeben von drei bewaffneten deutschen Solda-ten stand vor dem Eingang von Dietrichs Zelt. Im Inneren herrschte fieberhafte Geschäftigkeit. Man packte Papiere ein, faltete Karten zusammen, montierte Funkgeräte ab. Belloq, der im Zelt stand, verfolgte die Vorbereitungen für die Abreise eher zerstreut. Seine Gedanken galten allein dem, was in der Kiste lag, dem Gegenstand, den zu untersuchen er kaum erwarten konnte. Es fiel ihm schwer, seine Ungeduld zu zügeln, sich zusammenzunehmen und abzuwarten. Er erinnerte sich an das Ritual der Vorbereitungen, das beachtet werden mußte, bevor man die Bundeslade öffnete. Es war seltsam, auf welche Weise er sich im Lauf der Jahre auf diesen Augenblick vorbereitet hatte -und sonderbar, wie vertraut ihm die Sprüche geworden waren. Den Nazis würde das natürlich nicht passen - aber sie konnten mit der Lade tun, was sie wollten, sobald er damit fertig war. Sie konnten sie seinetwegen hübsch verpacken und in irgendein Museum stellen. Hebräische Gesänge: Das würde ihnen gar nicht passen. Der Gedanke belustigte ihn ein wenig. Das hielt jedoch nicht lange an, weil sich seine Gedanken wieder auf den Inhalt der Kiste richteten. Wenn alles, was er über die Lade wußte, zutraf, wenn die alten Geschichten über die darin verborgene Kraft der Wahrheit entsprachen, würde er der erste Mensch sein, der Verbindung mit dem aufnahm, das seinen Ursprung in einem Ort - einem unvorstellbaren Ort - jenseits aller menschlichen Erkenntnis hatte. Er verließ das Zelt. In der Ferne, emporschießend wie eine Feuersäule, die unmittelbar vom Himmel zu kommen schien, gab es eine ungeheure Explosion. Er begriff, daß das am Landestreifen geschehen war. Er begann in diese Richtung zu laufen, getrieben von Sorge. Dietnch kam hinter ihm herangestürmt, gefolgt von Gobier, der erst vor wenigen Minuten an der Landebahn gewesen war. Die Tankfahrzeuge waren explodiert, das Flugzeug zeigte sich als lodernde Fackel. "Sabotage«, sagte Dietrich. »Aber wer steckt dahinter?« »Jones«, sagte Belloq. »Jones?» Dietrich sah ihn verblüfft an. »Der Mann hat mehr Leben als die sprichwörtliche Katze« knurrte Belloq. »Aber irgendwann müssen sie alle verbraucht sein, nicht?« Sie starrten schweigend in die Flammen. »Wir müssen die Lade sofort fortbringen«, erklärte Belloq. »Wir müssen sie in einen Lastwagen schaffen und nach Kairo fahren. Von dort aus können wir ein Flugzeug nehmen.« Belloq starrte noch kurz in das Inferno, dachte an Indiana Jones' Hartnäckigkeit, an seine Fähigkeit, entgegen allen Aussichten immer wieder zu überleben. Man mußte das bewundern, diese Zähigkeit. Und man hatte sich vor der Verschlagenheit und dem Glück zu hüten, das dahintersteckte. Man war zu leicht geneigt, den Gegner zu unterschätzen. Und es sah ganz so aus, als sei ihm das bei Jones unterlaufen. »Wir brauchen starken Schutz, Dietrich.« »Versteht sich. Dafür werde ich sorgen.« Belloq wandte sich ab. Der Flug von Kairo aus war natürlich eine Erfindung - er hatte ohne Dietrichs Wissen schon einen Funkspruch an die Insel durchgegeben. Damit würde er sich befassen, wenn es soweit war. Es kam nur noch darauf an, daß er die Lade öffnete, bevor sie nach Berlin geschickt wurde. Zwischen den Zelten herrschte wildes Durcheinander. Deutsche Soldaten waren zur Landebahn gestürzt und kehrten in heilloser Verwirrung von dort zurück. Eine andere Gruppe von Bewaffneten, die Gesichter rauchgeschwärzt, lud die Lade auf einen der Lastwagen mit Planen. Dietrich beaufsichtigte sie, schrie Befehle und eilte erregt hin und her. Er freute sich darauf, die verdammte Kiste in Berlin abliefern zu können. Seine Erleichterung würde grenzenlos sein, aber er traute diesem Belloq nicht. Er hatte in den Augen des Franzosen ein Glitzern bemerkt, das ihm verdächtig erschien. Hinter der erkennbaren Entschlossenheit lauerte etwas Wahnhaftes, so, als hätte der Archäologe sich noch tiefer in sich selbst zurückgezogen. Es war ein Blick des Wahns, dachte Dietrich, und betroffen kam ihm zum Bewußt-sein daß er einen ähnlichen Ausdruck auf dem Gesicht des Führers gesehen hatte, als er zusammen mit Belloq in Bayern gewe-sen war. Vielleicht waren sie einander ähnlich, dieser Franzose und Adolf Hitler. Vielleicht waren es ebensosehr ihre Schwä-chen wie ihre Stärken, die sie von normalen Menschen unterschieden. Dietrich konnte es nur vermuten. Er starrte auf die Kiste, die nun im Lastwagen verschwand, und zerbrach sich den Kopf über Jones - aber der Amerikaner mußte einfach tot sein, et mußte ganz gewiß in der grauenhaften Kammer liegen. Und trotzdem schien der Franzose davon überzeugt zu sein, daß der Amerikaner hinter dem Sabotageakt steckte. Vielleicht war auch dieser Haß, diese Rivalität zwischen den beiden nur ein Zachen mehr für Belloqs Wahnsinn.
Vielleicht. Es blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken über den Gemütszustand des Franzosen zu machen. Es ging um die Lade, um den Weg nach Kairo und um die bedrückende Aussicht auf weitere Sabotageakte unterwegs. Schwitzend schrie er auf seine Leute «n, voll Haß auf dieses Land, diese Wüste. Eigentlich taten ihm die Soldaten leid. Wie er waren sie weit von der Heimat. Marion und Indy hatten sich hinter einen Stapel Fässer geworfen und sahen, wie die Araber verwirrt hin und her liefen, wie die Deutschen den Lastwagen beluden. Ihre Gesichter waren schwarz vom Rauch der Explosion, und Marion, unter dem Ruß aschfahl, sah völlig erschöpft aus. »Du hast dir aber Zeit gelassen«, klagte sie. »Ich hab' dich herausgeholt, ja?« »Im letztmöglichen Augenblick«, sagte sie. »Warum wartest du immer so lange?« Er warf ihr einen Blick zu, fuhr mit seinen Fingerspitzen über ihr Gesicht, starrte auf den Ruß an den Fingern, drehte den Kopf und blickte zum Lastwagen hinüber. "S ie bringen die Lade fort, und das ist das einzige, was im Augenblick wichtig ist.« Eine Gruppe von Arabern lief vorbei. Unter ihnen entdeckte Indy zu seiner Freude und Überraschung Sallah. Er streckte den Fuß aus. Sallah stolperte darüber, fiel hin und raffte sich mit strahlender Miene wieder auf. »Indy! Marion! Ich dachte schon, wir hätten uns zum letztenmal gesehen.« »Gleichfalls«, sagte Indy. »Was ist passiert?« »Sie achten kaum auf die Araber«, berichtete Sallah. »Sie halten uns für Dummköpfe, für ahnungslose Narren außerdem können sie uns kaum voneinander unterscheiden. Ich bin entwischt, aber sie haben ohnehin nicht gut aufgepaßt.« Er sank keuchend hinter die Fässer. »Ich nehme an, die Explosion ist Ihnen zu verdanken.« »Richtig.« »Sie wissen nicht, daß man die Lade mit dem Lastwagen nach Kairo bringen will?« »Nach Kairo?« »Und von dort aus wohl nach Berlin.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Indy. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Belloq die Lade nach Berlin gelangen läßt, bevor er hineingeschaut hat.« Ein offener Wagen hielt neben dem Lastauto. Belloq und Dietrich stiegen zusammen mit einem Fahrer und einem Bewaffneten ein. Füße knirschten durch den Sand; zehn oder noch mehr Soldaten mit Karabinern stiegen hinten zu der Lade auf das Fahrzeug. »Aussichtslos«, sagte Marion. Indy antwortete nicht. Paß genau auf, ermahnte er sich. Pa» auf und konzentrier dich. Denk nach. Ein zweites Geländefahrzeug ohne Verdeck erschien. Hinten war ein Maschinengewehr montiert, an dem ein MG-Schütze saß. Am Steuer saß Gobier, neben ihm Arnold Toht. Marion zog heftig den Atem ein, als sie Toht erkannte. »Ein Ungeheuer«, sagte sie., »Das sind sie alle«, gab Sallah zurück. »Ungeheuer oder nicht, es sieht mit jedem Augenblick hoff-nungsloser aus«, erklärte sie tonlos. Maschinengewehr, Soldaten, dachte Indy. Vielleicht ließ sich doch etwas machen. Vielleicht brauchte er nicht daran zu glauben daß es hoffnungslos war. Er sah zu, als die Kolonne sich in Bewegung setzte und durch die Sanddünen fuhr. »Ich folge ihnen«, sagte er. »Wie denn?« fragte Marion. »Kannst du so schnell laufen?« »Ich habe eine bessere Idee.« Indy stand auf. »Ihr zwei seht zu, daß ihr so schnell wie möglich nach Kairo zurückkommt und ein Transportmittel nach England beschafft - egal was, ein Schiff, ein Flugzeug, ganz egal.« »Warum England?« fragte Marion. »Da gibt es keine Sprachhindemisse und keine Nazis«, gab Indy zurück. Er sah Sallah an. »Wo können wir uns in Kairo treffen?« Sallah überlegte. »In Omars Werkstatt, wo sein Lastwagen steht. Kennen Sie den Platz der Schlangen?« »Grausig«, sagte Indy. »Aber diese Adresse werde ich wohl nicht so leicht vergessen, wie?« »In der Altstadt«, sagte Sallah. »Ich werde da sein.« Marion stand auf. »Woher weiß ich, daß du da unversehrt ankommst?« »Verlaß dich auf mich.« Er küßte sie, als sie nach seinem Arm griff. »Ich möchte wissen, ob eine Zeit kommen wird, in der du mich nicht mehr verläßt«, sagte sie. Er huschte davon und schlängelte sich zwischen den Fässern hindurch. »Wir können mit meinem Lastwagen fahren«, sagte Sallah zu Marion, als Jones verschwunden war. »Das geht langsam, aber es ist sicher.«
Marion starrte ins Leere. Was war es, das sie an Indy so anzog? Er war nicht gerade ein zärtlicher Liebhaber, wenn man überhaupt einen Liebhaber nennen konnte. Er tauchte schlagartig in ihrem Leben auf und verschwand wieder. Was, Teufel, war das? Manche Dinge kann man einfach nicht ergründen, dachte sie. Manchmal will man es auch gar nicht. Indy hatte die Hengste gesehen, die zwischen der Landebahn und der Ausgrabungsstätte angepflockt waren. Zwei von den Pferden, ein weißer Araber und ein Rappe, wurden durch ein Sonnensegel vor der ärgsten Sonnenstrahlung geschützt. Als er Marion und Sallah zurückgelassen hatte, lief er auf die Stelle zu in der Hoffnung, daß die Pferde noch da waren. Sie waren es Ein Glück, dachte er. Vorsichtig ging er auf sie zu. Er hatte seit Jahren auf keinem Pferd mehr gesessen und fragte sich, ob es wirklich der Wahrheit entsprach, daß man das Reiten so wenig verlernte wie das Radfahren, wenn man es einmal gelernt hatte. Er konnte es nur hoffen. Der schwarze Hengst, der schnaubend stampfte, bäumte sich auf, als Indy herankam, während der Schimmel ihn ruhig ansah. Indy schwang sich auf den weißen Pferderücken, zerrte an der Mähne, spürte, wie das Pferd ein wenig bockte, dann lief es in die angezeigte Richtung. Nur los, dachte er, als er unter dem Sonnensegel herausritt und dem Pferd die Fersen in die Seiten stieß. Er trieb das Tier zum Galopp an, jagte es über die Dünen hinweg, durch Rinnen, über scharfe Kanten. Das Pferd lief wunderbar leicht und ging auf jeden Wink ein. Er mußte die Kolonne irgendwo an der Bergstraße zwischen hier und Kairo abfangen. Wie es dann weitergehen sollte - wer wußte das? Er mußte eben etwas aus dem Ärmel schütteln. Zunächst einmal genoß er den Rausch der Jagd. Der Konvoi mühte sich eine schmale Bergstraße hinauf, die immer höher führte, auf Serpentinen über schwindelnden Abgründen. Indy saß auf dem Hengst und beobachtete die Fahrzeuge; sie plagten sich ein ganzes Stück unter ihm die Steigungen hoch. Die Männer in den Lastwagen mochten zwar uniformierte Zombies sein, aber sie hatten Karabiner, und Bewaffneten war mit Respekt zu begegnen. Vor allem dann, wenn sie derart in der Übermacht waren und man selbst - mehr tollkühn als vernünftig - allein auf einem Araberhengst saß. Er trieb das Pferd einen Hang hinunter, Geröll, weicher Boden und Gebüsch, und die Hufe lösten kleine Lawinen aus. Er erreichte die Straße hinter dem letzten Geländewagen, immer noch in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden. Das war ein Irrtum. Er trieb das Pferd im Zickzack auf der Straße hin und her, als das Maschinengewehr im Heck des Fahrzeugs zu feuern begann und die Straße so mit Geschossen beharkte, daß das Pferd ins Tanzen geriet. Das Rattern der MG-Salven hallte von den Bergwänden wider. Indy trieb den Hengst an, sein Letztes zu geben, dann war er an dem Geländeauto vorbei und sah die verblüfften Gesichter der Deutschen darin. Der MG-Schütze drehte seine Waffe herum, und sie keckerte leer, als die Patronen verschossen waren und er nutzlos auf den Reiter zuhielt. Toht, der neben dem Fahrer saß, riß eine Pistole heraus, aber Indy war schon durch den vorausfahrenden Lastwagen verdeckt, neben dessen Führerhaus er nun herritt. Der Deutsche feuerte trotzdem, und die Geschosse fetzten durch die Plane. Jetzt mußt du's riskieren, dachte Indy. Er sprang vom Pferd, flog durch die Luft, hielt sich am Führerhaus fest und riß die Tür auf, als der Soldat neben dem Fahrer seinen Karabiner hochriß. Indy rang mit ihm um die Waffe, die einmal hierhin, einmal dorthin gedreht wurde, während der Soldat ächzend die Oberhand zu behalten versuchte. Indy verdrehte ihm brutal die Arme, hörte Knochen brechen, den Mann aufschreien, dann stieß Indy ihn aus dem Führerhaus auf die Straße. Nun der Fahrer. Indy stürzte sich auf ihn, einen beleibten Mann mit Goldzähnen, während das Lenkrad herumschnellte und der Lastwagen auf den Abgrund zusteuerte. Indy packte das Steuer, riß es herum, und der Fahrer hieb ihm die Faust ins Gesicht. Einen Augenblick lang war Indy betäubt. Der Fahrer versuchte zu bremsen. Indy stieß seinen Fuß weg. Dann rangen sie miteinander, das Lenkrad rotierte hin und her, der Last-geriet ins Schleudern. Im Fahrzeug dahinter mußte Gobler das Steuer herumreißen, und zwar so plötzlich und scharf, daß der MG-Schütze im Heck über den Rand hinaus-geschleudert wurde und über die steile Felswand hinabstürzte. Er fiel wie ein bleibeschwerter Flugdrachen, die Arme ausgestreckt, während der Wind durch seine Haare pfiff und der Wi-derhall seines gellenden Schreies in der Felsschlucht umherirrte. Im vorausfahrenden Geländewagen drehte Belloq den Kopf um festzustellen, was vorging. Jones, dachte er als erstes. Das mußte wieder Jones sein, der immer noch versuchte, an die Lade heranzukommen. Die Beute wird dir nie gehören, Freund, dachte er. Er starrte Dietrich kurz an und blickte wieder nach hinten, aber der Sonnenglanz auf der Windschutzscheibe des Lastwagens verhinderte, daß man in das Führerhaus hineinsehen konnte. »Ich glaube, wir haben ein Problem«, sagte Belloq beiläufig.
Das Fahrzeug erreichte eine Kuppe, durchfuhr eine Haarnadelkurve, prallte an das dünne Schutzgeländer und verbog es. Der Fahrer bekam den Wagen wieder in die Gewalt, während der Soldat im Heck seine Maschinenpistole hob und auf das Führerhaus richtete. Belloq hielt ihn zurück. »Wenn Sie schießen, töten Sie vielleicht den Fahrer. Wenn das geschieht, stürzt das, was Ihr Führer sich wünscht, wahrscheinlich in die Tiefe. Was sagen Sie dann in Berlin?« Dietrich nickte grimmig. »Sind das wieder die Spaße Ihres Freundes aus Amerika, Belloq?« »Was er gegen eine solche Überzahl zu erreichen hofft, ist mir schleierhaft«, gab Belloq zurück. »Aber was er tut, erschreckt mich auch.« »Wenn der Lade etwas zustößt...« Dietrich sprach den Satz nicht zu Ende, aber er hätte auch mit einem Finger quer über die Kehle fahren können, um auszudrücken, was er meinte. »Der Lade wird nichts zustoßen«, sagte Belloq. Indy umklammerte jetzt den Hals des Fahrers, und wieder verlor dieser die Herrschaft über das Fahrzeug. Der Lastwagen drehte sich und schleuderte auf das zerbrochene Geländer zu. walzte es platt, wirbelte eine riesige Staubwolke auf, bevor Indy das Lenkrad packte und den Laster vom Abgrund zurückriß. Im Geländewagen dahinter wurden Gobler und Toht vom Staub geblendet - Toht hatte immer noch seine Pistole in der Hand, schien aber nicht zu wissen, was er damit anfangen sollte. Gobier hustete und spuckte, blinzelte heftig, um den Sand aus den Augen zu vertreiben. Aber es war schon zu spät. Das letzte, was er sah, war das zermalmte Geländer, das letzte, was er hörte, der heulende, angstvolle Aufschrei Tohts. Der Wagen schien vom Abgrund angezogen zu werden wie ein Eisenspan von einem Magneten, brach durch das Geländer und flog hinaus ins Leere, schien sekundenlang gegen alle Gesetze der Schwerkraft in der Luft zu schweben, bevor er hinabstürzte, immer schneller, aufprallte, explodierte, in Flammen stand, hinabkullerte wie ein Spielzeug. Verdammt, dachte Indy. Sooft er sich auf den Fahrer stürzte, drohte der Lastwagen sie in den Tod zu reißen. Und der Kerl war stark. Unter der Fettschicht verbargen sich kräftige Muskeln. Aus dem Augenwinkel nahm Indy etwas anderes wahr. Er blickte in den Seitenspiegel und sah Soldaten, die sich außen am Lastauto entlanghangelten, sich verzweifelt und entschlossen festhielten und das Führerhaus zu erreichen versuchten. Mit ungeheurer Kraftanstrengung stieß Indy den Fahrer weg, öffnete die Tür auf seiner Seite und rammte ihn mit solcher Wucht, daß er hinausfiel. Der Mann flog, sich überschlagend, in einer Staubwolke davon, brüllend und kreischend. Tut mir leid, dachte Indy. Er packte das Lenkrad und trat auf das Gaspedal, holte das vorausfahrende Fahrzeug rasch ein. Dann wurde es plötzlich dunkel, als sie in einen kurzen Bergtunnel hineinrasten. Er riß das Lenkrad hin und her, daß der Lastwagen einmal links, einmal rechts die Tunnelwand streifte, hörte die Schreie der Soldaten, als sie gegen den Fels geschleudert wurden, sich nicht mehr festhalten konnten und abstürzten. Indy fragte sich, wie viele Soldaten noch hinten im Lastwagen sein mochten. Dann hinaus aus dem Tunnel, wieder im grellen Licht, rammte er von hinten den offenen Wagen, sah, wie der bewaffnete Beifahrer den Kopf hob und hinaufdeutete auf das Dach des Lastwagens. Da hat er sich verraten, dachte Indy. Wenn auf dem Dach des Lastautos Soldaten sind, hat der Kerl das eben preisgegeben Lieber Vorsicht als Nachsicht, sagte er sich, trat mit aller Kraft auf die Bremse, daß die Räder blockierten und das Fahrzeug schlagartig zum Stehen kam. Er sah, wie zwei Soldaten vom Dach des Lastwagens flogen und an die Felswand prallten. Die Bergstraße führte jetzt steil hinunter. Indy gab Gas bedrängte das Fahrzeug vor ihm, rammte es; ein gutes Gefühl dachte er, wenn man weiß, daß sie nicht versuchen werden, dich umzubringen, weil deine Fracht zu wertvoll ist. Er genoß das plötzliche Gefühl der Freiheit und stieß den offenstehenden Wagen hinten immer wieder an, sah, wie Belloq und seine deutschen Freunde durcheinandergeschüttelt wurden. Er wußte jedoch, daß er früher oder später an ihnen vorbei mußte. Ehe sie Kairo ereichten, mußte er vor ihnen sein. Er jagte den Lastwagen wieder vorwärts und rammte das Auto. Die Straße wurde flacher, in der Ferne, noch verschwommen, konnte er die Außenbezirke der Stadt sehen. Jetzt kam das Gefährliche an der Sache, das Schlimmste. Sie mochten zwar das Risiko gescheut haben, ihn mit dem Lastwagen und seiner Fracht in den Abgrund stürzen zu sehen, aber hier würden sie gewiß versuchen, ihn zu töten oder dafür zu sorgen, daß er von der Straße abkam. Wie aufs Stichwort, ganz so, als hätte man seine Gedanken lesen können, eröffnete der Soldat das Feuer. Die Geschosse der Maschinenpistole zerfetzten das Glas, rissen die Plane auseinander, bohrten sich in die Karosserie. Indy hörte die Kugeln vorbeiprasseln und duckte sich instinktiv. Es war unabdingbar, daß er sich vor die anderen setzte. Die Straße war immer noch kurvenreich, direkt vor ihnen ging es in eine scharfe Biegung. Jetzt ran, dachte er. Du mußt es hier versuchen. Er trat das Gaspedal durch, zog den Lastwagen am offenen Personenauto vorbei, hörte Schüsse, dann rammte er den anderen Wagen von der Seite und sah ihn von der Straße abkommen und eine niedrige Böschung hinunterkippen.
Ein Schritt war gelungen. Er wußte aber, daß sie auf die Straße zurückkehren und die Verfolgung aufnehmen würden. Er wart einen Blick in den Seitenspiegel: Da waren sie schon. Sie brausten rückwärts die Böschung hinauf, wendeten auf der Straße, rasten hinter ihm her. Er trat das Gaspedal bis auf den Boden durch. Schneller, schneller, dachte er verzweifelt. Dann war er in den Außenbezirken der Stadt, das Auto unmittelbar hinter sich. Stadtstraßen - die Sache sah wieder ganz anders aus. Enge Durchfahrten. Er brauste hindurch, Tiere und Menschen stoben auseinander, Verkaufsstände kippten um, Körbe, Obst und andere Waren kullerten durcheinander, während die Bettler sich zur Seite warfen. Fußgänger stürzten sich in Hauseingänge, an denen der Lastwagen vorbeiraste. Indy gelangte in immer engere Straßen und Gassen, auf der Suche nach dem Platz, wo Omars Werkstatt sein mußte. Er rief sich den Weg durch das Straßengewirr ins Gedächtnis zurück. Ein blinder Bettler, auf wunderbare Weise plötzlich sehend geworden, sprang auf die Seite, ließ seine Bettelschale fallen und schob die schwarze Brille hoch, um dem Lastauto nachzustarren. Indy nahm den Fuß nicht vom Gas. Das Personenauto war ihm immer noch dicht auf den Fersen. Er riß das Steuer herum. Wieder eine enge Gasse. Maulesel hüpften auf die Seite, ein Mann kippte von einer Staffelei, ein Säugling im Arm seiner Mutter begann zu plärren. Tut mir leid, dachte Indy. Ich würde mich gern persönlich entschuldigen, aber das geht im Augenblick nicht. Doch das Geländefahrzeug konnte er nicht abschütteln. Dann war er auf dem Platz. Er sah das Schild an Omars Werkstatt, das Tor stand weit offen, und er raste hinein. Das Tor wurde sofort zugestoßen und verriegelt, während er den Laster im letzten Augenblick zum Stehen brachte. Mehrere Araberjungen mit Besen und Bürsten begannen die Fahrspuren des Lastwagens zu beseitigen, während Indy zusammengesun-ken in der Dunkelheit der Garage hinter dem Steuer saß. Das Geländefahrzeug bremste, fuhr über den Platz und raste weiter, während Belloq und Dietrich fieberhaft die Straßen absuchten. Auf der Pritsche des Lastwagens, in der Kiste sicher verwahrt, begann die Bundeslade kaum merklich zu summen. Es war, als hätte sich im Inneren eine Maschine selbst eingeschaltet. Niemand hörte das Geräusch. Es war dunkel, als Sallah und Marion die Garage erreichten. Indy lag auf einem Feldbett, das Omar ihm zur Verfügung gestellt hatte, und erwachte allein und hungrig in der stillen Dunkelheit aus einem kurzen Schlaf. Er rieb sich die Augen, als eine Deckenlampe aufflammte. Marion hatte sich irgendwo gewaschen und gekämmt und sah - hinreißend aus, schoß es Indy durch den Kopf. Sie stand vor ihm. »Du siehst ziemjich mitgenommen aus«, meinte sie. »Nur ein paar Kratzer«, gab er zurück, setzte sich auf und stöhnte, als er die Schmerzen in allen Gliedern spürte. Als Sallah hereinkam, vergaß Indy Müdigkeit und Schmerzen auf der Stelle. »Wir haben ein Schiff«, sagte der Araber. »Ist Verlaß drauf?« »Die Männer sind Piraten, wenn man so sagen darf. Aber Sie können sich auf sie verlassen. Katanga, ihr Kapitän, ist ein Ehrenmann - ohne Rücksicht auf seine zweifelhafteren Unternehmungen.« »Sie nehmen uns und die Fracht mit?« Sallah nickte. »Für einen bestimmten Preis.« »Ganz klar.« Indy stand steif auf. »Schaffen wir den Lastwagen zum Hafen.« Er sah Marion kurz an und fügte hinzu: »Ich habe das Gefühl, daß der Tag noch nicht zu Ende ist.« In dem eindrucksvollen Gebäude der deutschen Botschaft m Kairo saßen Dietrich und Belloq in einem Zimmer, das sonst der Botschafter benützte, ein Berufsdiplomat, der Hitlers Säuberungen überstanden hatte und nun sehr gern bereit gewesen war, den Raum zur Verfügung zu stellen. Sie saßen schon geraume Zeit stumm beieinander, Belloq betrachtete das Führerbild, während Dietrich eine ägyptische Zigarette nach der andere rauchte. Ab und zu läutete das Telefon. Dietrich nahm jedesmal den Hörer ab, lauschte kurz, legte wieder auf und schüttelte den Kopf, wenn Belloq ihn ansah. »Wenn wir die Lade verloren haben ...« Dietrich zündete sich die nächste Zigarette an. Belloq stand auf, ging im Zimmer herum und winkte ab. »Auf diesen Gedanken lasse ich mich gar nicht erst ein, Dietrich. Was ist mit Ihrem großartigen Spionagenetz in Ägypten? Warum können die Leute nicht finden, was Ihre Männer mit solcher Nachlässigkeit verloren haben?« »Sie finden es. Ich glaube fest daran.« »Glauben! Wenn ich das nur auch könnte!« Dietrich schloß die Augen. Er hatte Belloqs Gereiztheit satt und fürchtete sich gleichzeitig davor, mit leeren Händen nach Berlin zurückkehren zu müssen. »So etwas von Unfähigkeit ist nicht zu fassen«, sagte Belloq. »Wie kann ein einzelner Mann - ganz allein, wohlgemerkt - sich gegen eine Militärkolonne durchsetzen und auch noch spurlos verschwinden? Was für eine Idiotie! Kaum zu fassen!« »Das höre ich nun schon zum zehntenmal«, sagte Dietrich verärget.
Belloq trat ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Irgendwo in dieser undurchdringlichen ägyptischen Nacht verbarg sich Jones, und Jones hatte die Bundeslade. Der Teufel sollte ihn holen. Die Lade durfte nicht in seinen Händen bleiben, schon der Gedanke daran jagte Belloq kalte Schauer über den Rücken. Wieder schrillte das Telefon. Dietrich meldete sich, lauschte und richtete sich plötzlich auf. Als er den Hörer auf die Gabel zurücklegte, sah er den Franzosen triumphierend an. »Ich sagte doch, daß meine Leute etwas finden.« »Nämlich?« " Einem Nachtwächter im Hafen zufolge hat ein Ägypter namens Sallah, der mit Jones befreundet ist, einen Frachtdampfer namens >Bantu Wind< gechartert.« "Das könnte eine List sein", wandte Belloq ein. "Möglich, aber wir werden uns damit befassen.« »Es bleibt uns gar nichts anderes übrig«, knurrte Belloq. »Gehen wir.« Sie verließen mit schnellen Schritten die Botschaft und fuhren zum Hafen, erfuhren dort jedoch nur, daß das Schiff vor einer Stunde abgelegt hatte. Zielhafen unbekannt.
Im Mittelmeer In der Kapitänskajüte der >BantuWind< zog Indy das Hemd aus, und Marion behandelte seine vielen Schürfund Schnittwunden mit Jod und Verbandspäckchen. Er starrte sie an, während sie sich mit ihm beschäftigte, und registrierte, daß sie ein Kleid trug. Es war weiß, hochgeschlossen, ein wenig streng, aber es gefiel ihm sehr. »Wo hast du das bloß her?« fragte er. »Im Schrank hängt eine ganze Garderobe«, erwiderte sie. »Ich habe so das Gefühl, daß ich nicht die erste Frau bin, die bei diesen Piraten mitfährt.« »Mir gefällt es«, sagte er. »Ich komme mir vor wie eine - ähm - Jungfrau.« »Du siehst auch so aus.« Sie betrachtete ihn kurz, während sie Jod auf eine Wunde pinselte. »Jungfräulichkeit ist sehr vergänglich, Schatz«, sagte sie schließlich. »Wenn sie fort ist, ist sie fort. Dieses Konto kann man nicht mehr auffüllen.« Sie setzte sich und füllte ein kleines Glas mit Rum. Während sie ihn schlürfte, sah sie ihn spöttisch an. »Habe ich mich schon dafür entschuldigt, daß dir dein Lokal gebrannt ist?« sagte er. »Kann ich nicht behaupten. Habe ich dir schon dafür gedankt, daß due mich aus dem brennenden Haus gerettet hast?« Er schüttelte den Kopf. "Wir sind quitt. Vielleicht sollten wir die Vergangenheit als abgeschlossen betrachten, hm?« Sie schwieg lange Zeit. "Wo tut es weh?« fragte sie sanft. »Überall.« Marion drückte einen leichten Kuß auf seine linke Schulter »Da?« Indy zuckte ein bißchen zusammen. »Ja, da.« Marion beugte sich näher heran. »Wo tut es nicht weh?« Sie küßte seinen Ellenbogen. »Da?« Er nickte. Sie küßte ihn auf den Kopf. Dann zeigte er auf seinen Hals, und sie küßte ihn dort. Dann auf die Nasenspitze, auf die Augen. Er berührte seinen Mund, und sie küßte ihn lange und leidenschaftlich. Sie war anders; sie hatte sich verändert. Das war nicht mehr die Wildheit, der er in Nepal begegnet war. Irgend etwas hatte sie berührt und weicher werden lassen. Er fragte sich, was das gewesen sein mochte. Er staunte über die Verwandlung. Die Bundeslade in ihrer Kiste lag im Frachtraum des Schiffes. Ihre Anwesenheit erregte die Ratten dort. Sie huschten heillos hin und her, am ganzen Körper zitternd. Nach wie vor drang, leise wie ein Wispern, Summen aus der Kiste. Nur die Ratten, mit ihrem feineren Gehör, nahmen das Geräusch wahr, und es schien sie zutiefst zu erschrecken. Kapitän Katanga rauchte, als die erste Morgenhelligkeit das Meer erfaßte, auf der Brücke eine Pfeife und blickte auf aas Wasser, als versuche er etwas auszumachen, das für Landratten unsichtbar war. Er ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und vom Salzwasser besprühen, das auf seiner schwarzen Haut weiße, glitzernde Streifen zurückließ. Da draußen war etwas, aus dem Dunkeln hervorkommend, aber er wußte nicht genau, was es sein mochte. Er verengte die Augen, starrte hinaus, sah nichts. Er lauschte dem beruhigenden Tuckern der alten Schiffs-motoren und dachte an ein altgewordenes Herz, das Blut durc einen alten Körper zu pumpen
suchte. Er dachte einen Augen-blick an Indy und die Frau. Er fand sie beide sympathisch, außer-dem waren sie Sallahs Freunde. Aber irgend etwas an der Fracht, an dieser Kiste, beunruhigte ihn. Er konnte nicht genau bestimmen, was es war, er wußte nur, daß er froh sein würde, sie loszuwerden, wenn der Augenblick kam. Ähnliche Unruhe empfand er jetzt, während seine Augen das Meer absuchten. Ein vages Etwas. Ein Gefühl, das nicht zu erklären war. Aber dort draußen war irgend etwas, das stand für ihn fest, dort draußen bewegte sich etwas. Er wußte es, auch wenn er es nicht sehen konnte. Er nahm so gewiß wie den salzigen Geruch des Meerwassers den Geruch der Gefahr wahr. Er hielt weiter Ausschau, angespannt, vorgebeugt wie jemand, der auf einem hohen Sprungbrett steht. Jemand, der nicht schwimmen kann. Als Indy wach wurde, beobachtete er Marion eine Weile. Sie schlief immer noch, jungfräulich in dem weißen Kleid. Sie hatte das Gesicht zur Seite gedreht, ihr Mund war ein wenig geöffnet. Er rieb mit der Hand die verbundenen Stellen, wo die Haut zu jucken begann. Sallah hatte ihm seine Sachen gebracht. Er zog sein Hemd an, vergewisserte sich, daß die Peitsche am Rücken festsaß, schlüpfte in die Lederjacke und drehte den alten Hut mit den Händen. Ein Hut, der Glück bringt, dachte er. Ohne ihn hätte er sich nackt gefühlt. Marion drehte sich um und öffnete die Augen. »Was für ein angenehmer Anblick«, sagte sie. »Ich fühle mich aber nicht angenehm«, antwortete er. Sie starrte auf seine Verbände und fragte: »Warum gerätst du immer m solche Situationen?« Sie setzte sich auf, glättete ihre Haare und schaute sich in der Kajüte um. »Freut mich, daß du dich umgezogen hast. Als Araber bist du nicht sehr überzeugend gewesen, fürchte ich.« »Ich habe mein Bestes gegeben.« Sie gähnte, reckte sich und stand auf. Er verfolgte ihre Bewegungen und genoß ihre Anmut, ihre Behendigkeit. Sie griff nach seiner Hand, drückte einen Kuß darauf und ging in der Kajüte »Wie lange werden wir schwimmen?« fragte sie. »Meinst du das wörtlich oder bildlich?« »Wie du willst, Indiana.« Er lächelte sie an. Dann begriff er, daß etwas geschehen war. Während er sich seinen Gedanken hingegeben hatte, waren die Schiffsmotoren verstummt, und der Dampfer war nicht mehr in Fahrt. Er stand auf und hastete zur Tür, stieg an Deck und eilte auf die Brücke, wo Katanga aufs Meer hinausstarrte. Die Pfeife des Kapitäns brannte nicht, sein Gesicht wirkte ernst. »Sie scheinen sehr einflußreiche Freunde zu haben, Mr. Jones«, sagte Katanga. Indy glotzte. Im ersten Augenblick konrite er nichts erkennen, dann folgte sein Auge der Hand des Kapitäns, die eine weit ausholende Geste machte, und er sah, daß die >Bantu Wind< wie eine junge Dame von einem Gefolge unerwünschter Anbeter von einem ganzen Rudel - es mußte ein Dutzend sein - deutscher Wolf-U-Boote umringt war. »Ach, Scheiße«, sagte er. »Das finde ich auch«, meinte Katanga. »Sie und das Mädchen müssen rasch verschwinden. Wir haben im Frachtraum einen Platz für Sie. Aber schnell! Holen Sie das Mädchen!« Es war zu spät. Die beiden Männer sahen, daß fünf Schlauchboote mit Bewaffneten den Dampfer umkreisten. Schon stiegen die ersten Deutschen die Strickleiter hinauf, die man heruntergelassen hatte. Indy fuhr herum und rannte los. Seine Gedanken galten vor allem Marion. Er mußte als erster bei ihr sein. Zu spät - Stiefel polterten, deutsche Befehle gellten. Er sah, wie Marion von zwei Soldaten aus der Kajüte gezerrt wurde. Die anderen Deutschen stiegen an Bord und trieben die Besatzung zusammen, hielten sie mit Karabinern in Schach. Indy verlor sich im Schatten und schlüpfte durch eine Tür ins Innere des Schiffes. Bevor er hinabtauchte und verzweifelt einen Ausweg zu rinden versuchte, hörte er, wie Marion ihre Bewacher beschimpfte. Trotz der schlimmen Lage mußte er lächeln. Was für eine Frau! dachte er. Nicht unterzukriegen. Genau das Richtige für ihn. Dietrich kam an Bord, gefolgt von Belloq. Der Kapitän hatte seiner Besatzung bereits bedeutet, keinen Widerstand zu leisten. Seine Männer hätten gerne gekämpft, aber die Übermacht war zu groß. Sie stellten sich mürrisch vor den Läufen der deutschen Karabiner in einer Reihe auf, als Belloq und Dietrich vorbeigingen, Befehle zischten und die Soldaten auf die Suche nach der Lade schickten. Marion sah Belloq herankommen. Sie spürte einen Anflug der Ausstrahlung, die sie im Zelt erlebt hatte, aber diesmal war sie fest entschlossen, sich dagegen zu wehren, nicht den Empfindungen nachzugeben, die dieser Mann in ihr erregen mochte. »Meine Liebe«, sagte Belloq. »Sie müssen mich mit der -sicherlich reizvollen - Geschichte beglücken, wie Sie aus dem Schacht entkommen sind. Aber das hat Zeit bis später.«
Marion sagte nichts. Sollte das Ganze nie ein Ende nehmen? Indy besaß offenbar ein großes Talent dafür, Unheil auf sich und andere zu ziehen. Sie sah Belloq an, der sie sanft unters Kinn faßte. Sie bog den Kopf zurück. Er lächelte. »Später«, sagte er und ging auf Katanga zu. Er wollte etwas sagen, als ein Geräusch herüberdrang. Er drehte sich um und sah, wie eine Gruppe von Soldaten die Kiste mit der Bundeslade aus dem Frachtraum heraufbrachte. Er kämpfte seine Ungeduld nieder. Die Welt mit ihren prosaischen Eulgriffen hatte seinen Ehrgeiz immer behindert. Aber damit wir es bald vorbei. Langsam und widerwillig löste er den Blick von der Kiste, als Dietrich Befehl gab, sie auf eines der Unterseeboote zu bringen. Er sah Katanga an. »Wo ist Jones?« »Tot.« »Tot?« wiederholte Belloq. "Was hätte er uns genützt? Wir brachten ihn um und warfen ihn über Bord. Das Mädchen ist auf den Märkten, die ich belie-fere, von größerem Wert. Ein Mann wie Jones bringt mir nichts ein. Wenn es seine Fracht war, auf die es Ihnen ankam, kann ich nur darum bitten, daß Sie sie mitnehmen und uns das Mädchen lassen. Dann wird sich der Verlust bei dieser Reise in Grenzen halten.« »Sie strapazieren meine Geduld«, gab Belloq zurück. »Sie erwarten von mir, Ihnen zu glauben, daß Jones tot ist?« »Glauben Sie, was Sie wollen. Ich verlange nur, daß man uns in Frieden weiterfahren läßt.« Dietrich war herangetreten. »Sie haben überhaupt nichts zu verlangen, Kapitän. Die Entscheidung liegt allein bei uns. Wir haben uns mit der Frage zu befassen, ob wir den alten Kahn in die Luft sprengen sollen.« »Das Mädchen kommt mit mir«, sagte Belloq. Dietrich schüttelte den Kopf. »Zählen Sie sie zu meinem Honorar«, fuhr Belloq fort. »Ich bin sicher, der Führer wäre einverstanden. Angesichts der Tatsache, daß wir die Lade beschafft haben, Dietrich.« Der Deutsche schien zu zögern. »Wenn sie mir keine Freude macht, können Sie sie natürlich den Haien zum Fraß vorwerfen, versteht sich.« »Also gut«, sagte Dietrich. Er sah auf Belloqs Gesicht einen zweifelnden Ausdruck, dann gab er Befehl, Marion an Bord des U-Bootes zu bringen. Indy verfolgte von seinem Versteck in einem Ventilatorschacht aus die Vorgänge. Er hatte sich völlig zusammenkauern müssen, und seine Muskeln schmerzten. Stiefel scharrten unangenehm nah vor seinem Gesicht an Deck vorbei - aber entdeckt hatte man ihn nicht. Katangas Lüge war ihm dürftig vorgekommen, eine Verzweiflungstat, wenn auch gut gemeint. Immerhin, sie hatte gewirkt. Er starrte auf das Deck hinaus und zerbrach sich den Kopf. Er mußte in das U-Boot, er mußte zu Marion, zur Bundeslade. Aber wie? Wie, um alles in der Welt, sollte er das machen? Belloq starrte den Kapitän scharf an. »Woher weiß ich, daß Sie die Wahrheit über Jones sagen?« Katanga zog die Schulten hoch. »Ich pflege nicht zu lügen.« Er starrte den Franzosen an; de Kerl war ihm zuwider. Indy konnte einem leid tun, wenn er solche Gegner hatte. »Haben Ihre Leute ihn an Bord gefunden?« fragte der Kapitän. Belloq blickte versonnen; Dietrich schüttelte den Kopf. »Gehen wir«, sagte der Deutsche. »Wir haben die Lade. Lebendig oder tot, Jones ist nicht mehr von Bedeutung.« Belloq spannte kurz die Muskeln an, dann schien er tief einzuatmen, bevor er Dietrich folgte und den Dampfer verließ. Indy hörte, wie die Schlauchboote von der >Bantu Wind< ablegten. Er handelte sofort, stürzte aus seinem Versteck und rannte über das Deck. Im U-Boot betrat Belloq den Funkraum. Er setzte Kopfhörer auf, griff nach dem Mikrophon und gab einen Rufcode durch. Nach einiger Zeit hörte er über dem Rauschen eine Stimme. Sie sprach mit deutschem Akzent. »Kapitän Mohler, hier ist Belloq.« Die Stimme klang sehr fern und undeutlich. »Auf Ihre letzte Mitteilung hin ist alles vorbereitet worden, Belloq.« »Ausgezeichnet.« Belloq nahm den Kopfhörer ab, verließ den Funkraum und ging zu der kleinen Kabine im Bug, wo die Frau festgehalten wurde. Er trat ein. Sie saß auf einer Koje, ihr Gesicht wirkte düster. Sie sah nicht auf, als er herankam. Er streckte die Hand aus, griff unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht herauf. »Sie haben schöne Augen«, sagte er. »Sie sollten sie nicht verbergen.« Sie drehte das Gesicht zur Seite. Er lächelte. "Ich dachte, wir könnten dort fortfahren, wo wir unterbro-
chen wurden.« Sie stand auf und ging durch den kleien Raum. »Wir sind bei nichts unterbrochen worden.« «Ich glaube doch.« Er versuchte nach ihrer Hand zu greifen, aber sie riß sich los. »Sie wehren sich? Das haben Sie vorher nicht getan, meine Liebe. Warum der Sinneswandel?« »Die Dinge stehen ein wenig anders«, gab sie zurück. Er betrachtete sie eine Zeitlang schweigend, dann sagte er: »Sie empfinden etwas für Jones? Ist es das?« Sie starrte ins Leere. »Armer Jones«, sagte Belloq. »Ich fürchte, es ist sein Schicksal, nie der Sieger zu sein.« »Was soll das heißen?« Belloq ging zur Tür. Bevor er hinausging, drehte er sich noch einmal um. »Sie wissen nicht einmal, ob er lebt oder tot ist, nicht wahr?« Er schloß die Tür und ging durch den schmalen Gang. Mehrere Matrosen kamen an ihm vorbei, gefolgt von Dietrich, der zornig und grimmig wirkte. Belloq amüsierte sich darüber. In seiner Wut wirkte Dietrich lachhaft, wie ein erzürnter Lehrer, der nicht die Macht besitzt, einen widerspenstigen Schüler zu bestrafen. »Vielleicht hätten Sie die Güte, eine Erklärung zu liefern, Belloq.« »Was gibt es zu erklären?« Dietrich schien seine ganze Beherrschung zu brauchen, um dem Franzosen nicht ins Gesicht zu schlagen. »Sie haben dem Kapitän des Bootes den Auftrag erteilt, einen bestimmten Stützpunkt anzulaufen - eine Insel vor der afrikanischen Küste. Ich bin davon ausgegangen, daß wir nach Kairo zurückkehren und mit der ersten Maschine sofort nach Berlin fliegen. Woher nehmen Sie die Frechheit, den Plan einfach zu ändern, Belloq? Stehen Sie plötzlich unter dem Eindruck, ein Admiral der deutschen Kriegsmarine zu sein? Ist es das? Hat Ihr Größenwahn solche Ausmaße angenommen?« »Größenwahn«, sagte Belloq belustigt. »Das glaube ich kaum, Dietrich. Mir geht es darum, die Bundeslade zu öffnen, bevor wir sie nach Berlin bringen. Wäre es Ihnen angenehm, mein Freund, wenn Ihr Führer die Lade leer vorfände? Wollen Sie nicht die Gewißheit haben, daß die Lade heilige Gegenstände enthält, bevor wir nach Deutschland zurückkehren? Ich versuche mir die schreckliche Enttäuschung in Hitlers Gesicht vorzustellen, wenn er in der Lade nichts vorfindet.« Dietrich starrte den Franzosen an; sein Zorn war verraucht und hatte Zweifeln Platz gemacht. »Ich traue Ihnen nicht, Belloq. Ich habe Ihnen nie getraut.« »Vielen Dank.« Dietrich schwieg kurze Zeit, dann fuhr er fort: »Ich finde es sonderbar, daß Sie auf einer obskuren Insel die Lade öffnen wollen, statt den konventionelleren Weg zu wählen - also nach Kairo zurückzufahren. Warum können Sie sich den verdammten Kasten nicht in Ägypten ansehen?« »Das wäre nicht passend«, gab Belloq zurück. »Können Sie das näher erklären?« »Gewiß - aber Sie würden es nicht begreifen, fürchte ich.« Dietrich sah ihn erbost an. Er spürte, daß seine Autorität von neuem untergraben worden war - aber der Franzose hatte den Führer hinter sich. Was konnte er, Dietrich, angesichts dieser Tatsache unternehmen? Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon. Belloq sah ihm nach. Der Franzose rührte sich lange Zeit nicht von der Stelle. Er war von einem hochflutenden Gefühl der Erwartung erfaßt, wenn er an die Insel dachte. Man hätte die Bundeslade überall öffnen können, in diesem Sinn hatte Dietrich recht. Aber es ist passend, sie auf der Insel zu öffnen, dachte Belloq, an einem Ort, auf dem die Ausstrahlung der fernen Vergangenheit »stet, einem Ort von historischer Bedeutung. Ja, dachte Belloq, der Schauplatz muß dem Ereignis entsprechen. Bundeslade und Umgebung müssen aufeinander eingestimmt sein. Nichts ande-res kommt in Frage. Er ging zu dem kleinen Frachtraum, wo die Kiste lag. Er starrte sie eine Weile versonnen an. Welche Geheimnisse verbirgst du? Was kannst du mir verraten? Er streckte die Hand aus und berührte die Kiste. War es Einbildung, daß er sie vibrieren zu spüren glaubte? Machte er sich etwas vor, wenn er meinte, ein schwaches Summen zu hören? Er schloß die Augen, die Hand immer noch auf dem Holzdeckel. Ein Augenblick tiefsten Staukonnte eine ungeheure Leere sehen, eine subtile Dun-kelheit, eine Grenzlinie, die er überschreiten würde, um an einen Ort jenseits der Sprache und der Zeit zu gelangen. Er öffnete die Augen; seine Fingerspitzen prickelten. Bald, sagte er zu sich selbst. Bald. Das Meer war kalt und umspülte ihn mit kleinen Strudeln von der Fahrt des U-Bootes. Indy klammerte sich an die Reling. Seine Muskeln schienen zerreißen zu wollen, die nasse Peitschenschnur zog sich im Wasser zusammen und drohte ihn bis zum Ersticken zusammenzupressen. Du könntest ertrinken, dachte er, und versuchte sich daran zu erinnern, ob das Ertrinken nach Meinung aller ein leichter Tod war. Es mochte auf jeden Fall besser sein, als sich an der Reling des Unterseebootes festzuhalten, das schlagartig in die Tiefe tauchen konnte. Jeden Augenblick war das möglich. Er fragte sich, ob Helden Pensionsanspruch hatten. Er zog sich hoch und fiel auf das Deck. Dann fiel es ihm ein.
Sein Hut. Sein Hut war fort. Nicht abergläubisch werden. Du hast keine Zeit, das Verschwinden eines Hutes zu beklagen, der dir immer Glück gebracht hat. Das U-Boot begann zu tauchen. Es sank unter die Oberfläche wie ein riesiger Fisch aus Metall. Er stürzte über das Deck, bis zu den Hüften schon im Wasser. Er erreichte die Kommandobrücke und hetzte die Leiter hinauf. Auf dem Turm blickte er nach unten. Das U-Boot sank tiefer. Der Turm wurde vom hochsteigenden Wasser erfaßt und verschlungen, dann versank auch der Funkmast. Er trat Wasser und schwamm zum Periskop, klammerte sich daran, als das Schiff unterging. Wenn es ganz versank, war es aus mit ihm. Das Periskop wurde eingezogen, sank tiefer, während er sich daran festhielt. Bitte, dachte er, bitte, geh nicht tiefer hinunter. Aber das kommt davon, wenn du auf einem deutschen U-Boot als blinder Passagier mitfahren willst. Da kannst du nicht verlangen, daß man auch noch den roten Teppich für dich ausrollt. Halb erfroren und zitternd klammerte er sich an das Peri-skop, aber dann war, ganz so, als hätte eine Meeresgottheit Indy Gebete erhört, der Tauchvorgang plötzlich zu Ende. Vom Periskop ragte nur noch ein Meter aus dem Wasser. Immerhin besser als gar nichts. Ein Meter reichte. Mehr brauchte er nicht, um zu überleben. Nicht tiefer sinken, dachte er verzweifelt. Dann wurde ihm klar, daß er es laut gesagt und nicht nur gedacht hatte. Unter anderen Umständen wäre ihm das komisch vorgekommen - ein vernünftiges Gespräch mit einigen Tonnen deutschem Stahl führen zu wollen. Ich habe den Verstand verloren. Das ist es. Und ich bilde mir alles nur ein. Die See hat mich verrückt gemacht. Indy griff nach seiner Peitsche und band sich am Sehrohr fest, in der Hoffnung, wenn er einschlief, nicht am schwarzen Meeresgrund aufzuwachen oder - noch schlimmer - als Fischfutter. Die Kälte drang ihm ins Mark. Er versuchte das Zähneklappern einzustellen. Und die Peitsche, vollgesogen, schnitt ihm ins Fleisch. Er versuchte wach zu bleiben, vorbereitet auf alles, was sich ergeben mochte - aber die Müdigkeit lag bleiern in ihm, der Schlaf schien das Wichtigste zu sein, das einzige, was noch von Belang war. Er schloß die Augen. Er versuchte, an etwas Bestimmtes zu denken, an irgend etwas, das ihn daran hinderte, einzuschlafen -aber es fiel schwer. Er fragte sich, wohin das U-Boot unterwegs sein mochte. Er sang im stillen kleine Lieder. Er versuchte sich an alle Telefonnummern zu erinnern, die er sich jemals gemerkt hatte. Er dachte an ein Mädchen namens Rita, das er beinahe geheiratet hätte. Wo mochte sie jetzt sein? Noch einmal knapp davongekommen, damals, dachte er. Aber er war todmüde, und die Gedanken irrten ziellos durcheinander. Er versank in Schlaf, trotz der Kälte, trotz der Schmerzen. Er schlief ein,. schlummerte tief und traumlos. Als er wach wurde, war es hell, und er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, ob vielleicht sogar ein ganzer Tag vergangen war. Er konnte seinen Körper nicht mehr spüren. Alles war gefühllos. Seine Haut war durch das Wasser aufgeweicht, die Fingerballen runzlig und weich. Er zog die Peitsche zurecht und schaute sich um. Voraus war Land zu erkennen, eine Insel, halbtropisch - friedlich und still, dachte er. Er starrte auf das üppigeLaub. Grün, herrlich, dicht und geruhsam. Das U-Boot fuhr auf die Insel zu und glitt in eine Art Höhle hinein. Im Inneren hatten die Deutschen einen unterirdischen Stützpunkt errichtet, mit einem riesigen Becken für die Stationierung und Wartung von Unterseebooten. Und hier stehen mehr Nazis herum, als man bei einem Reichsparteitag in Nürnberg zu sehen bekommt, dachte Indy. Wie konnte er da übersehen werden? Er befreite sich rasch von seiner Peitsche und glitt ins Wasser, tauchte unter, bevor ihm einfiel, daß die Peitsche immer noch am Sehrohr hing. Peitsche und Hut - ein Tag für traurigen Abschied von Dingen, an denen er sehr gehangen hatte, soviel stand fest. Er schwamm auf die Insel zu, bemüht, so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben. Er sah das U-Boot auftauchen, als es dem Dock entgegenglitt. Dann stolperte er an Land, froh darüber, wieder Boden unter den Füßen zu haben, auch wenn es der Boden einer Nazi-Enklave war. Er stapfte durch den Sand zu einer Anhöhe, von der aus er die Dockanlage überblicken konnte. Die Kiste wurde aus dem U-Boot gehievt, unter Aufsicht von Belloq, der in ständiger Angst davor zu schweben schien, jemand könnte seinen kostbaren Schatz fallen lassen. Er beugte sich über die Kiste wie ein Arzt über seinen sterbenden Patienten. Dann kam Marion herauf, umgeben von einem Trupp uniformierter Narren, die sie vorwärts stießen. Indy setzte sich in den Sand, verborgen durch Binsen, die am Rand der Stranddünen wuchsen. Eine Eingebung, dachte er verzweifelt. Ich brauche eine Eingebung. Eher ein Wunder.
Auf einer Insel im Mittelmeer Es war Spätnachmittag, als Belloq mit Mohler zusammentraf. Der Franzose war nicht gerade glücklich darüber, daß Dietrich an dem Gespräch teilnahm. Man würde sich darauf verlassen können, daß er Fragen stellte, und seine Ungeduld ging Belloq auf die Nerven. Sie schien ansteckend zu sein. »Alles ist entsprechend Ihren Anweisungen vorbereitet worden, Belloq«, sagte Mohler.
»Man hat nichts vergessen?« »Nichts.« »Dann muß die Lade jetzt zu der Stelle gebracht werden.« Mohler warf einen Blick auf Dietrich, drehte sich um und beaufsichtigte eine Gruppe von Soldaten, die sich anschickten, die Kiste in einen Geländewagen zu heben. Dietrich war die Verärgerung anzumerken. »Was heißt das? Welche Vorbereitungen meint er?« »Das betrifft Sie nicht, Dietrich.« »Alles, was mit der gottverfluchten Bundeslade zu tun hat, betrifft mich.« »Ich werde die Lade öffnen«, sagte Belloq. »Es sind jedoch gewisse... gewisse Vorbedingungen damit verbunden.« »Vorbedingungen? Was meinen Sie?« »Zerbrechen Sie sich lieber nicht den Kopf, mein Lieber. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, daß Sie Ihr schon überbeanspruchtes Gehirn noch mehr belasten.« "Sie können sich den Sarkasmus sparen, Belloq. Manchmal scheinen Sie mir zu vergessen, wer hier das Kommando führt.« Belloq starrte eine Zeitlang auf die Kiste. « Sie müssen verstehen - es geht hier nicht einfach darum, einen Kasten zu öffnen, Dietrich. Dazu gehört ein gewisses Ritual. Wir haben es nicht mit einer Kiste voller Handgranaten zu tun, wissen Sie. Das ist schließlich kein alltägliches Unternehmen.« »Was für ein Ritual?« . »Das werden Sie schon sehen, Dietrich. Sie brauchen dabei aber nicht zu erschrecken.« »Wenn der Lade irgend etwas zustößt, Belloq, egal, was es sein mag, sorge ich persönlich dafür, daß Sie zur Verantwortung gezogen werden. Haben Sie mich verstanden?« Belloq nickte. »Ihre Sorge um die Lade ist rührend. Sie brauchen sich aber keine Gedanken zu machen. Sie wird schließlich unversehrt nach Berlin gebracht werden, und Ihr Führer kann seine Sammlung um ein stolzes Stück ergänzen. Ja?« »Sehen Sie zu, daß Sie sich daran halten.« »Gewiß. Das werde ich.« Belloq blickte auf die Kiste mit der Bundeslade, bevor er in den Urwald hinter der Dockanlage hineinstarrte. Don war er, der Ort, wo die Lade geöffnet werden würde. »Das Mädchen«, sagte Dietrich. »Ich will reinen Tisch. Was machen wir mit dem Mädchen?« »Ich glaube, das kann ich Ihnen überlassen«, erwiderte Belloq. »Mir bedeutet sie nichts.« Nichts bedeutet etwas, dachte er. Nichts fällt ins Gewicht neben der Bundeslade. Warum hatte er sich überhaupt die Mühe gemacht, Interesse für das Mädchen aufzubringen? Warum hatte er auch nur von fern mit dem Gedanken gespielt, sie zu beschützen? Menschliche Empfindungen hatten keinen Platz neben der Bundeslade. Alles an menschlicher Erfahrung verblaßte daneben zur Bedeutungslosigkeit. Was spielte es für eine Rolle, ob sie am Leben blieb oder starb? Er spürte wieder das Gefühl höchster Erwartung in sich. Nur mit Mühe konnte er den Blick von der Kiste losreißen. Sie lag auf dem Rücksitz eines Geländewagens und hielt ihn in ihrem Bann. Ich werde deine Geheimnisse ergründen, dachte er. Alle deine Geheimnisse. Indy huschte um die Bäume am Rand der Dockanlage. Er beobachtete Marion, die flankiert war von ihren Bewachern, als sie in ein Auto stieg. Das Fahrzeug rollte davon und verschwand im Urwald. Belloq und der Deutsche stiegen in einen zweiten Geländewagen, folgten dem Wagen mit der Bundeslade und tauchten ebenfalls in der Vegetation unter. Wohin wollen sie, Teufel noch mal? fragte sich Indy. Er hastete lautlos weiter. Der Deutsche tauchte urplötzlich vor ihm auf, wie aus dem . Nichts gefallen. Er griff nach seiner Waffe, aber bevor er die Pistole ziehen konnte, packte Indy einen abgestorbenen Ast und hieb ihn ihm an die Kehle. Der junge Deutsche hob die Hand an den Hals, als sei er zutiefst erstaunt, dann quoll Blut aus seinem Mund. Seine Augen verdrehten sich, und er sank auf die Knie. Indy hieb ihm den Ast auf den Schädel, und der Mann brach zusammen. Was macht man mit einem bewußtlosen Deutschen? fragte er sich. Er starrte den am Boden liegenden Mann eine Weile an, bevor ihm der Einfall kam. Warum nicht? Warum eigentlich nicht? Der Geländewagen, in dem Belloq und Dietrich saßen, rollte langsam durch eine Schlucht. »Dieses Ritual behagt mir nicht«, erklärte Dietrich. Dir wird bald noch viel mehr nicht behagen, dachte Belloq. Was mit deinem sogenannten Ritual zusammenhängt, wird dich um den Rest deines Verstandes bringen, mein Freund. »Ist es unbedingt nötig?« fragte Dietrich. "Ja", sagte Belloq kurz.
Dietrich starrte auf die Kiste im Fahrzeug vor ihnen. »Es mag Sie trösten, wenn Sie bedenken, daß die Bundeslade morgen vor Ihrem Führer stehen wird.« Dietrich seufzte. Der Franzose war nicht bei Trost, das stand für ihn fest. Irgendwann hatte die Lade ihm den Rest seines Verstandes geraubt. Man sah es an seinen Augen, hörte es an seiner knappen Redeweise, die er seit einigen Tagen angenommen hatte, und man entnahm es den sonderbar nervösen Gesten, die seine Worte begleiteten. Dietrich wußte, daß er keine Ruhe finden würde, bis er wieder in Berlin war und melden konnte, daß der Auftrag ausgeführt sei. Das Fahrzeug rollte in eine Lichtung. Sie war ausgefüllt mit Zelten und getarnten Unterständen, mit Baracken, Fahrzeugen, Funkmasten; es herrschte rege Geschäftigkeit, Soldaten stürzten in alle Richtungen davon. Dietrich blickte mit Stolz auf das Depot, aber Belloq schien von alledem nichts wahrzunehmen. Der Franzose blickte durch die Lichtung auf ein Gebilde aus Stein auf der anderen Seite - ein Spitzturm, an die zehn Meter hoch, oben abgeflacht, in die schrägen Seiten hatte irgendein Stamm der Vorzeit, eine untergegangene Rasse, grobe Stufen hineingehauen. Das Ganze glich einem Altar - und diese Tatsache war es, die Belloq hierhergeführt hatte. Ein Altar, Naturgestein, wie von Gott für die Öffnung der Bundeslade geschaffen. Eine Zeitlang brachte er kein Wort heraus. Er starrte auf das Steingebilde, bis Kapitän Mohler herankam und ihm auf die Schulter tippte. »Wollen Sie jetzt anfangen?« fragte der Deutsche. Belloq nickte. Er ging hinter Mohler zu dessen Zelt. Er dachte an den untergegangenen Stamm, der diese Stufen gehauen hatte, der hier und dort verstreut seine eigenen Altertümer hinterlassen hatte, zerbrochene Statuen, die an vergessene Gottheiten zu erinnern schienen, überall auf der Insel. Die religiöse Ausstrahlung des Ortes war genau die richtige: Die Bundeslade hatte einen Ort gefunden, der ihrem wahren Wesen entsprach. Es war völlig richtig, keine andere Stelle hätte besser gepaßt. »Das Zelt aus weißer Seide«, sagte Belloq. Er berührte den weichen Stoff. »Wie angeordnet«, meinte Mohler. »Gut, gut.« Belloq trat ein. In der Mitte des Zeltes stand eine Kiste. Er öffnete den Deckel und schaute hinein. Das Zerernoniengewand war kunstvoll und bestickt. Er beugte sich weihevoll vor und berührte es. Dann sah er den Deutschen an. »Sie haben sich genau an meine Anweisungen gehalten. Ich bin sehr zufrieden.« Der Deutsche hatte etwas in der Hand: einen Elfenbeinstab, ungefähr eineinhalb Meter lang. Er reichte ihn Belloq, der die eingeschnitzten Figuren betastete. »Ideal«, sagte Belloq. »Die Lade muß entsprechend den alten Riten mit einem Elfenbeinstab geöffnet werden. Und wer die Lade aufschließt, muß dieses Gewand tragen. Sie haben gute Arbeit geleistet.« Der Deutsche lächelte. »Sie werden unsere kleine Vereinbarung nicht vergessen.« »Wie versprochen«, sagte Belloq. »Wenn ich in Berlin bin, werde ich Sie dem Führer ganz besonders ans Herz legen.« »Ich danke Ihnen.« »Ich danke Ihnen«, sagte Belloq. Der Deutsche betrachtete das Prunkgewand. »Das hat etwas Jüdisches an sich, nicht?« »Kein Wunder, mein Freund. Es ist jüdisch.« »Sie werden sich hier sehr beliebt machen, wenn Sie das tragen.« »Ich lege keinen Wert darauf, beliebt zu werden, Mohler.« Der Deutsche sah zu, als Belloq das Gewand über den Kopf stülpte und der reichverzierte Brokatstoff an ihm herabfiel. Es war eine Verwandlung grundlegender Art: Der Franzose sah aus wie ein Hohepriester. Nun ja, was gibt es nicht alles? dachte Mohler. Außerdem hatte Belloq Zugang zu Hitler, selbst wenn er nicht ganz bei Verstand sein mochte - und darauf kam es an. »Ist es draußen dunkel?« fragte Belloq. Er fühlte sich seltsam losgelöst, so, als falle seine alte Persönlichkeit von ihm ab und er sei zum Fremden in einem Körper geworden, den er nur undeut-lich als vertraut empfand. Bald ist es soweit«, erwiderte der Deutsche. "Wir müssen bei Sonnenuntergang beginnen. Das ist wichtig" Man hat die Lade zu dem Stein getragen, wie Sie es wünschten, Belloq." uGut.« Er berührte den bestickten Stoff. Selbst sein eigener Name erschien ihm auf einmal fremd. Es war, als hätte etwas Ungreifbares, Körperloses begonnen, ihn in sich aufzunehmen Er schien außerhalb seines eigenen Ichs zu schweben - ein Gefühl, das sich mit Alltagsworten nicht wiedergeben ließ. Er griff nach dem Elfenbeinstab und trat aus dem Zelt. Fast überall stellten die deutschen Soldaten ihre Tätigkeit ein und drehten sich um, starrten ihn an. Er konnte die Abwehr, die Ausstrahlung der Abgestoßenheit ein wenig verstehen, aber auch hier schien alles aus weiter
Ferne heranzudringen. Dietrich ging neben ihm her und sagte etwas. Belloq mußte sich zusammennehmen, damit er ihn verstehen konnte. »Ein jüdisches Ritual? Sind Sie verrückt, Mann?« Belloq antwortete nicht. Er ging auf die unterste der Stufen im Stein zu; die Sonne, gleißend im Untergang, hing tief am fernen Himmel und überflutete alles mit einer Wirrnis von Orange und Rot und Gelb. Er trat an die erste Stufe und warf einen kurzen Blick auf die deutschen Soldaten ringsum. Man hatte Scheinwerfer aufgestellt und beleuchtete die Stufen, die Bundeslade. Belloq blickte auf sie und war überzeugt davon, sie summen zu hören. Wenn er sich nicht völlig täuschte, drang ein Leuchten aus ihr hervor. Aber dann geschah etwas, lenkte ihn ab, zog ihn auf die Erde zurück, auf festen Boden; eine Bewegung, ein Schatten, er wußte es nicht genau. Er fuhr herum und sah, daß einer der Soldaten eine merkwürdige Haltung einnahm und mit eingezogenem Kopf unterwegs war. Den Helm trug er schief und tief in die Stirn gezogen, so, als wolle er sein Gesicht verbergen. Aber es waren nicht diese Dinge, die Belloq beschäftigten, sondern ein sonderbares Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Was war das? Wie konnte das sein? Er glotzte und sah, daß der Mann einen Granatwerfer schleppte. Im verblassenden Licht des Tages war ihm das nicht gleich aufgefallen. Aber das seltsame Gefühl, dieses Prickeln was konnte es bedeuten? Etwas Dunkles durchwehte ihn. Dunkelheit, die sich erst aufhellte, als der Soldat den Helm abnahm und den Granatwerfer aur die Bundeslade richtete - die Lade, die aus der Kiste gehoben worden war und auf der Steinplatte schutzlos aussah. »Halt!« schrie Indy. »Wenn sich einer rührt, blase ich den Kasten in die Luft!« »Jones, Ihre Beharrlichkeit überrascht mich. Man wagt den Namen Söldner kaum noch in den Mund zu nehmen«, sagte Belloq. »Doktor Jones«, fuhr Dietrich dazwischen, »Sie glauben doch wohl nicht, daß Sie von dieser Insel entkommen können.« »Das hängt davon ab, wie vernünftig wir alle sind. Alles, was ich will, ist das Mädchen. Wir behalten die Lade nur so lange, bis wir sicher nach England unterwegs sind. Dann gehört sie Ihnen.« »Und wenn wir ablehnen?« sagte Dietrich gepreßt. »Dann fliegen die Lade und ein paar von uns in die Luft. Und ich bin überzeugt davon, daß Hitler gar nicht erbaut sein wird.« Indy ging auf Marion zu, die gefesselt war und sich zu befreien versuchte. »In einer deutschen Uniform sehen Sie gut aus, Jones«, sagte Belloq. »Sie in Ihrem Ornat auch.« Aber eine andere Person war in Bewegung und schlich sich von hinten an Indy heran. Das Mädchen begann aufzuschreien, während Belloq Mohler erkannte. Der Kapitän stürzte sich auf Indy, stieß ihm die Waffe aus der Hand und riß ihn zu Boden. Jones - einer, der nie aufgab, dachte Belloq spöttisch, und wenn es noch so hoffnungslos aussehen mochte - Jones ließ die Faust ins Gesicht des Deutschen krachen, riß das Knie hoch und rammte es ihm zwischen die Beine. Der Kapitän ächzte und rollte davon, aber Indy war schon von Soldaten umzingelt, und obwohl er sich wehrte, war die Übermacht doch zu groß für ihn. Belloq schüttelte den Kopf und lächelte schwach. Er sah Indy an, der von Soldaten festgehalten wurde. "Nicht schlecht, Jones. Ein guter Versuch.« Dietrich trat durch die Reihen. "Dumm von Ihnen, sehr dumm«, sagte Belloq. »Ihre Tollkühnheit ist kaum zu fassen.« "Ich bemühe mich ja, davon loszukommen«, stieß Indy hervor, während er sich aufbäumte, um sich loszureißen. Es war nutzlos. »Ich habe ein Heilmittel anzubieten«, sagte Dietrich. Er zog lächelnd seine Pistole aus der Tasche. Indy starrte auf die Waffe und warf einen Blick auf Marion die ihre Augen zusammenpreßte und stockend schluchzte. Dietrich hob die Pistole und zielte. »Halt!« Belloqs Stimme hallte über den Platz hinweg, sein Gesicht wirkte im grellen Scheinwerferlicht unheimlich. Dietrich ließ die Hand mit der Pistole sinken. »Dieser Mann ist seit Jahren ein Ärgernis für mich, Oberst Dietrich«, sagte Belloq. »Manchmal, das gebe ich zu, hat er mich auch amüsiert. Und obwohl ich sein Ende gerne miterlebe, möchte ich, daß er noch eine letzte Niederlage mitnimmt. Lassen Sie ihn leben, bis ich die Lade geöffnet habe. So lange soll er noch dabeisein. Was die Lade an Schätzen enthalten mag, bleibt ihm versagt. Er wird nicht einmal den Inhalt sehen können. Der Gedanke behagt mir. Das ist ein Höhepunkt, von dem er jahrelang geträumt hat - und er bleibt ihm versagt. Wenn ich die Lade geöffnet habe, können Sie ihn beseitigen. Ich schlage vor, daß sie ihn inzwischen neben dem Mädchen festbinden.« Belloq lachte, ein hohler Laut, der durch die Dunkelheit hallte. Indy wurde zu der Statue gezerrt und dort neben Marion gefesselt. »Ich habe Angst, Indy«, sagte sie. »Es hat nie mehr Anlaß dafür gegeben.« Die Bundeslade begann zu summen, und Indy drehte den Kopf, sah Belloq die Stufen zum Altar hinaufsteigen.
Es war bitter für ihn, mit ansehen zu müssen, wie Belloq nach der Lade griff und sie öffnete. Er würde nicht einmal hineinblicken dürfen. Man richtet ein ganzes Leben nach einem einzigen Ziel aus, und wenn man es erreicht hat, wenn man davorsteht - aus. Nur der bittere Geschmack der Niederlage. Statt dessen mußte er zusehen, wie der wahnsinnige Franzose im Prunkgewand eines Hohepriesters zur Bundeslade hinaufstieg. Er konnte den Blick trotzdem nicht abwenden. »Ich glaube, wir müssen sterben, Indy«, sagte Marion. »Es sei denn, dir fällt etwas ein" Indy hörte sie kaum und schwieg. Da war auf einmal etwas, das ihn bedrängte, ihn nicht in Ruhe ließ - ein Summen, leise und beharrlich, das aus der Bundeslade hervorzudringen schien. Wie konnte das sein? Er starrte Belloq an, der langsam und gemessen hinaufstieg. »Wie kommen wir hier heraus?« fragte Marion gepreßt. »Das weiß Gott.« »Willst du Witze machen?« »Vielleicht.« »Das ist ein sehr unpassender Augenblick dafür, Indiana.« Sie drehte ihm den Kopf zu. Ihre Augen zeigten tiefe Schatten. »Aber ich liebe dich.« »Wirklich?« »Ja.« »Ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte Indy, von sich selbst ein wenig überrascht. »Und die Aussichten sind schlecht«, sagte Marion. »Das werden wir sehen.« Belloq erinnerte sich an.die Worte eines alten Hebräergesangs, Worte auf einem Pergament mit dem Bild der Sonnenscheibe, und begann leise und monoton zu singen. Er stieg hinauf, während er psalmodierte, hörte das Summen der Lade als Begleitung zu seiner Stimme. Das Geräusch wurde stärker, grollender, füllte die Dunkelheit aus. Die Kraft der Bundeslade, ihre ungeheure Macht. Sie durchflutete Belloq, verwirrend, fordernd. Die Macht. Das Wissen. Er blieb vor der letzten Stufe stehen, immer noch singend, obwohl er seine eigene Stimme nicht mehr hören konnte. Trotz des Staubes der Jahrhunderte war die Lade das Schönste, was er jemals gesehen hatte. Und sie leuchtete, sie begann zu strahlen, zuerst schwach, dann immer heller. Er war von tiefem Staunen erfüllt, während er die Cherubim anstarrte, das schimmernde Gold, das aufstrahlende Licht. Auch das Geräusch wurde stärker, vibrierte in ihm, schien ihn zu packen schütteln. Er spürte, wie es in ihm zu vibrieren begann, als sollte er in Atome zerspalten und in den Weltraum hinausge-schleudert werden. Aber es gab keinen Raum und keine Zeit-Sein ganzes Wesen wurde von der Bundeslade erfaßt, eingehüllt von dieser Kraft, die den Menschen mit Gott verband. Sprich zu mir. Sag mir, was du weißt, erklär mir die Rätsel des Seins. Seine Stimme schien nun aus allen seinen Poren zu dringen, aus Gewebe und Zellen. Und er löste sich los, schwebte, herausgehoben aus der starren Welt der Logik ringsum, den Naturgesetzen trotzend. Sprich zu mir. Weih mich ein. Er hob den Elfenbeinstab, schob ihn unter den Deckel, versuchte ihn aufzustemmen. Das Summen wurde noch lauter, umfassender. Er hörte nicht, wie unten die Scheinwerfer explodierten und ein Regen von Glassplittern diamantengleich in die Dunkelheit fiel. Das Summen - die Stimme Gottes, dachte er. Sprich zu mir. Sprich zu mir. Während er sich mit dem Stab abmühte, kam es ihm plötzlich vor, als hätte er bis zu diesem Augenblick gar nicht existiert, als wären alle Erinnerungen gelöscht. Seltsame Ruhe erfüllte ihn, ungeheurer Frieden, das Gefühl, mit allem, was ihn umgab, eins zu sein, auf vielfache Weise in Verbindung mit dem ganzen Universum. Mit dem Kosmos vereint, allem verbunden, was in den fernsten Weiten des Weltraums schwebte, sich ausdehnte und schrumpfte, explodierenden Novas, wirbelnden Planeten, dem unbegreiflichen Dunkel der Unendlichkeit. Er hörte auf zu sein. Was Belloq auch gewesen sein mochte, es gab ihn nicht mehr. Er war ein Nichts, er war das Summen selbst, das aus der Bundeslade drang. Die Stimme Gottes. »Er wird sie öffnen«, sagte Indy. »Das Geräusch«, stieß Marion hervor. »Wenn ich nur die Hände auf die Ohren pressen könnte. Was ist das für ein Lärm?« »Die Lade.« »Die Lade?« Indy dachte an etwas anderes, an eine verschüttete Erinnerung, an etwas, das sich in seinem Gedächtnis verflüchtigen wollte. Was war es? Was konnte es sein. Etwas, das er vor kurzem gehört hatte. Aber was? Die Bundeslade. Es hatte mit der Bundeslade zu tun. Was war es? Die Lade, die Lade - versuch dich zu erinnern. Oben auf der Steinplatte, auf der obersten Stufe, mühte sich Belloq, den Deckel zu heben. Überall platzten Lampen und sprühten Glasschauer. Selbst der Mond, der nun am Nachthim-mel sichtbar geworden war, schien im Begriff zu stehen, auseinanderzufallen, am Firmament zu explodieren. Die Nacht und alles, was sie enthielt, glich einer riesigen Bombe am Ende einer kurzen Lunte - einer brennenden Lunte, dachte Indy. Was war es? Was bedrängte ihn?
Der Deckel ging auf. Belloq stemmte ihn mit dem Stab hoch, unter dem schweren Gewand schwitzend, während er weitersang, obwohl man seine Stimme hinter dem Summen der Lade nicht mehr hörte. Der Augenblick. Der Augenblick der Wahrheit. Die Offenbarung. Die geheimnisvolle Ausstrahlung des Göttlichen. Belloq stöhnte und hebelte. Der Deckel sprang plötzlich auf, und das Licht, das herausflutete, blendete Belloq. Aber Belloq trat nicht zur Seite, nicht zurück, bewegte sich nicht. Das Licht bannte ihn so sehr wie das Vibrieren. Er war keiner Bewegung fähig. Seme Muskeln waren gelähmt. Sein Körper arbeitete nicht mehr. Der Deckel der Lade. Es war das letzte, was er sah. Die Nacht war plötzlich erfüllt von Feuerraketen, die aus der Lade fegten, von Flammensäulen, die in der Dunkelheit emporschössen, von Lohe, die das Firmament versengte. Ein weißer Lichtkreis zog einen gleißenden Ring um die Insel, ein Licht, in dem der Ozean glühte und gischtend emporsprühte, eine schäumende Springflut im Dunkel hochpeitschend. Das Licht, es war das Licht des ersten Schöpfungstages, das Licht des Neuen, der Erscahffung,das Licht, das Gott befohlen hatte: das Licht der Schöpfung. Und es durchzuckte Belloq mit dem harten Gleißen eines gigantischen Diamanten, ein Licht jenseits der armseligen Leuchtkraft irgendeines Edelsteins. Es zerschnitt sein Herz, zersprenget ihn. Und es war mehr als Licht - es war eine Waffe, eine Kraft, die durch Belloq hindurchfuhr und ihn mit dem Licht von tausend Sonnen aufflammen ließ, weiß, grellrot, blau verwüstet von der Strahlungsflut aus der Bundeslade. Und er lächelte. Er lächelte, weil er, einen Augenblick lang, selbst diese Kraft war. Die Kraft nahm ihn in sich auf. Es gab keine Unterscheidung zwischen den Menschen und der Kraft. Dann verflog der Augenblick. Belloqs Augen verschmorten in ihren Höhlen, ließen schwarze, blicklose Löcher zurück, und seine Haut schälte sich von den Knochen, rollte sich auf, als griffe schwärender Aussatz mit der ungeheuren Schnelligkeit eines Steppenbrandes um sich, zerfallend, brennend, versengt, geschwärzt. Und immer noch lächelte er. Er lächelte sogar noch, als er sich aus einem Menschen in etwas zu verwandeln begann, das Gott berührt, das Gottes Zorn erfaßt hatte, etwas, das langsam zu einem Häufchen Staub zerfiel. Als die Lichter durch die Dunkelheit zuckten, als der ganze Himmel von der Macht der Bundeslade ausgefüllt war, hatte Indy instinktiv die Augen geschlossen - geblendet von der unbeschreiblichen Kraft. Und auf einmal fiel es ihm ein, er wußte wieder das, wonach er so lange gesucht hatte, dachte an die Worte im Hause des Imams an jenem Abend: Wer die Lade öffnet und ihre Kraft freisetzt, wird sterben, wenn er sie erblickt... Und über dem Getöse, vor den gleißenden weißen Säulen, die den Sternenhimmel verblassen ließen, schrie er Marion zu: Nicht hinsehen! Mach die Augen fest zu! Sie hatte beim ersten Aufgleißen das Gesicht abgewandt, und während das Feuer immer stärker auflohte, preßte sie ihre Augen mit aller Kraft zu. Sie war erfüllt von unendlicher Angst, von Ehrfurcht und Staunen. Immer wieder drängte es sie, hinzusehen. Immer wieder lockte der mächtige Himmelsbrand, die Verwüstung der Nacht. Nicht hinsehen, sagte Indy immer wieder. Sie klammerte sich an seine Worte. Er sagte es, schrie es, brüllte es hinaus. Die Nacht summte wie ein Dynamo, brauste, dröhnte, die Lichter versengten das Dunkel und kreischten auf. Nicht hinsehen nicht hinsehen nicht hinsehen! Der Flammenturm stand am Himmel wie der Schatten Gottes ein brennender, lohender Schatten nicht aus Dunkelheit, sondern aus reinem, grellem Licht. Er stand da, zugleich erschreckend und herrlich, und blendete alle, die auf ihn blickten. Er fetzte die Augen aus den Gesichtern der Soldaten. Er verwandelte sie aus Männern in uniformierte Skelette, bedeckte den Boden mit verkohlten, geschwärzten Gebeinen, übersäte alles mit menschlichen Überresten. Er verbrannte die Insel, drückte Bäume platt, kippte Boote um, zermalmte die Dockanlage. Er verwandelte alles. Feuer und Licht. Er verwüstete und zerstörte in rasendem Zorn, den nichts lindern zu können schien. Er zerbrach die Statue, an die Indy und Marion gefesselt waren; die Figur zerfiel, bis nichts mehr von ihr übrigblieb. Dann fiel der Deckel der Bundeslade auf der Steinplatte zu, die Nacht wurde wieder dunkel, das Meer stumm. Indy wartete lange, bevor er die Augen zu öffnen wagte. Die Bundeslade leuchtete. Strahlte mit einem Glanz, der aus geborgener Stille kam, und verbreitete eine Warnung, warnte und drohte. Indy starrte Marion an. Sie schaute sich sprachlos um, fassungslos vor dem, was die Bundeslade geschaffen hatte. Zerstörung, Verwüstung, Tod. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Es gab nichts zu sagen. Nichts. Die Erde rings um sie und Indy war nicht verkohlt. Sie war unberührt. Sie hob ihr Gesicht zur Bundeslade. Dann griff sie langsam nach Indys Hand und umklammerte sie fest.
Epilog Washington D.C. Sonnenschein flutete durch die Fenster von Colonel Musgroves Büro. Draußen, hinter üppigem Rasen, standen Kirschbäume, und der Morgenhimmel war klar, von hellem Blau. Musgrove saß an seinem Schreibtisch. Eaton hatte sich auf einen Stuhl daneben niedergelassen. Ein dritter Mann lehnte an der Wand, ohne ein Wort beizusteuern; er besaß die unheimliche Anonymität eines Großbürokraten. Er hätte sich auch ein Schildchen anheften können, dachte Indy. Die Aufschrift hätte lauten können: >Vertreter der Macht<. »Wir sind für Ihre Dienste sehr dankbar«, erklärte Musgrove. »Und die finanzielle Entschädigung - wir nehmen an, daß sie befriedigend hoch war.« Indy nickte und warf einen Blick auf Marion, bevor er Marcus Brody ansah. »Ich begreife immer noch nicht, warum das Museum die Bundeslade nicht bekommen kann«, sagte Brody. »Sie befindet sich an einem sicheren Ort«, erwiderte Eaton ausweichend. »Das ist eine ungeheure Kraft«, warf Indy ein. »Man muß sie verstehen lernen. Man muß sie analysieren. Das ist kein Spielzeug, wissen Sie.« Musgrove nickte. »Unsere besten Leute arbeiten daran.« »Namen?« sagte Indy. »Aus Sicherheitsgründen kann ich sie nicht nennen.« »Die Bundeslade war dem Museum versprochen. Sie hatten zugestimmt. Nun kommen Sie mit Ihren sogenannten besten Leuten daher. Brody neben mir ist einer der Besten auf diesem Gebiet. Warum bekommt er nicht Gelegenheit, mit Ihren besten Leuten zusammenzuarbeiten?« »Indy«, sagte Brody leise. »Hör auf. Spar dir das.« »Nein«, sagte Indy. »Die Sache hat mich meinen Lieblingshut gekostet, so geht das schon an.« »Ich versichere Ihnen, die Bundeslade wird sehr gut verwahrt«, sagte Musgrove. »Und ihre Kraft - wenn wir Ihre Schilderung unterstellen wollen - wird zu gegebener Zeit untersucht werden.« »Zu gegebener Zeit«, sagte Indy. »Juristensprache.« »Hören Sie«, warf Brody gepreßt ein, »wir wollen nichts anderes, als die Bundeslade im Museum aufzubewahren. Wir wollen auch die Zusicherung hören, daß sie nicht beschädigt wird, solange sie sich in Ihrem Besitz befindet -« »Das können Sie unterstellen«, gab Eaton zurück. »Was die Frage angeht, ob die Lade in Ihr Museum kommt, so fürchte ich, daß wir unsere Haltung überdenken müssen.« Stille. Eine Uhr tickte. Der gesichtslose Bürokrat spielte an seinen Manschettenknöpfen. Schließlich sagte Indy ruhig: »Sie wissen gar nicht, was Sie da in der Hand haben, wie?« Er stand auf und half Marion aus dem Sessel. »Wir bleiben natürlich in Verbindung«, sagte Eaton. »Es war sehr freundlich von Ihnen, uns zu besuchen. Wir wissen Ihre Dienste zu würdigen.« Draußen im warmen Sonnenschein griff Marion nach Indys Arm. Brody ging mit gesenktem Kopf neben ihnen her. »Sie wollen dir nichts sagen, das ist klar«, erklärte Marion. »Es ist vielleicht besser, wenn du die Lade vergißt und dich auf dein eigenes Leben konzentrierst, Indiana.« Indy warf einen Blick auf Brody. Es war ihm klar, daß man ihn um etwas betrogen hatte, das ihm gehörte. »Sie werden ihre Gründe haben, die Bundeslade nicht herzugeben«, meinte Brody. »Aber eine bittere Enttäuschung ist das doch.« Marion blieb stehen, hob den Fuß und kratzte sich an der Ferse. »Denk lieber an etwas anderes«, sagte sie zu Indy. »Woran denn?« »Daran«, sagte sie und küßte ihn. »Es ist zwar nicht die Bundeslade«, meinte er lächelnd, »aber auch ganz schön.« 'Die Holzkiste war beschriftet mit den Worten: >STRENG GEHEIM, ARMY ABW., 9906753, NICHT ÖFFNEN.« Die Kiste lag auf einem niedrigen Transportwagen, den der Lagerarbeiter vor sich her schob. Auf die Kiste achtete er kaum. Seine Welt bestand aus vielen solchen Kisten, allesamt mit unbegreiflichen Aufschriften. Zahlen, Zahlen, Geheimvermerke. Er war gegen diese Hieroglyphen schon immun. Er dachte nur an seine Lohntüte. Er war alt, seine Schultern hingen herab, und es gab nicht mehr viele Dinge im Leben, die ihn wirklich beschäftigten. Diese Kiste oder irgendeine andere gehörte bestimmt nicht dazu. Im Lagerhaus waren Hunderte, ja Tausende von Kisten gestapelt, und er war nicht neugierig darauf, was sie enthielten. Dem Anschein nach interessierten sie auch sonst keinen Menschen. Soviel er wußte, machte niemand sich je die Mühe, irgendeine zu öffnen. Sie wurden aufeinandergestellt, in Reihen angeordnet, und reichten vom Boden bis zur Decke hinauf. Kisten, Kisten, Kisten, so weit das Auge reichte. Sie sammelten Staub, und die Spinnen spannten ihre Netze zwischen ihnen. Der Mann schob seinen Wagen und seufzte. Was war schon eine Kiste
mehr oder weniger? Er fand eine freie Stelle, schob sie hinein, dann blieb er stehen, steckte den Finger ins Ohr und schüttelte ihn heftig. Verflixt, dachte er. Er mußte wohl doch einmal zum Ohrenarzt gehen. Es war ihm ganz so vorgekommen, als hätte er ein leises Summen gehört.
und der Tempel des Todes Aus dem Amerikanischen von Toni Westermayr
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Titel der Originalausgabe: Indiana Jones and the Temple of Doom Originalverlag: Ballantine Books, New York
Aus dem Regen in die... Shanghai 1935 Der Nachtklub war voller Lärm und Rauchschwaden. An Tischen rund um die Tanzfläche saßen Damen und Herren in Abendkleidung, darunter auch Männer, die nicht unbedingt Herren waren. Sie stammten aus verschiedenen Ländern, obwohl manches davon auf solche Landeskinder wohl kaum Wert legen mochte. Langbeinige Zigarettenmädchen, Rausschmeißer mit bulligen Gesichtern, exotische Speisen, Kellner im Frack, leises Lachen und lautes Gelächter, Champagner und gebrochene Versprechungen, hier und dort im Tabak ein wenig Opium, um dem Ganzen den letzten Pfiff zu geben. Ein dekadenter On in einer Zeit des unaufhaltbaren Verfalls. Aber bei allem doch tres gai. Wie die letzte Party vor dem Jüngsten Gericht. In wenigen Jahren sollte die Welt im Krieg entflammen. An der Seitenwand umschlossen Deco-Kurven und orientalische Mauerbogen intime Nischen oder Balkone mit Treppen. Die Bar lag hinten. Vorne neben den Türen zur Küche befanden sich das ein wenig erhöhte Musikpodium und daneben, unmittelbar vor der Tanzfläche, die Bühne. Die Bühne war von zwei gigantischen, holzgeschnitzten Statuen flankiert: chinesische Herrscher auf Thronen, goldene Breitschwerter in den Händen. Sie lächelten kühl, so als führten sie den Vorsitz bei diesen Festlichkeiten. Neben der linken Statue hing ein riesiger Gong an zwei dicken Kordeln von der Decke bis fast zum Boden herab. Auf der Vorderseite schwebte im Halbrelief ein zorniger Drache über einem hohen Berg. Neben dem Gong stand ein muskulöser Diener in einer Haremshose, den Hammer vor der nackten Brust. In der Bühnenmitte war der Schädel eines mächtigen Drachen mit weit aufgerissenem Maul nach vorn gerichtet. Die riesenhaften Augen quollen aus dem Kopf, die Pappmache-Fühler bebten im Takt mit dem Lärm im Saal, die Schuppen aus Lampionpapier wogten. Plötzlich drang Rauch aus dem tiefen Schlund. Der Diener schlug weit ausholend auf den Gong. Feuerrotes Licht ergoß sich in den Rauch im Drachenmaul. Das rauchige Licht strömte die Stufen hinab von der Bühne auf die Tanzfläche, während die Kapelle zu spielen begann. Dann entstieg langsam aus den klaffenden Kiefern des Untiers die Frau. Sie war Anfang, vielleicht Mitte Zwanzig. Grünblaue Augen, dunkelblonde Haare. Sie trug ein hochgeschlossenes, hautenges Abendkleid mit goldenen und roten Quasten, dazu passende Handschuhe, hohe Absätze und Schmetterlingsohrringe. Sie blieb an der Unterlippe des Drachen stehen, hob die Hand, um kokett an einem der oberen Zähne zu zerren, dann trat sie mit sinnlichem Gegurre vor. Sie hieß Willie Scott und war atemberaubend. Zwölf Mädchen tanzten die geschwungenen Treppen auf beiden Seiten des Drachenschädels hinab. Sie schwenkten Fächer vor ihren zart geschminkten Gesichtern und zeigten unter knielangen goldenen Kimonos ihre Beine in Seidenstrümpfen wohl eher länger als nur für kurze Augenblicke, während Willie zu singen begann: »Ji wang si-i wa je kan dao Xin li bian jao la jing bao jin tian shi Dao Anything goes.« Das Publikum achtete kaum darauf, aber das war Willie ziemlich gleichgültig. Sie zog ihre Nummer professionell ab, tanzte die Stufen hinauf und hinunter und sang kehlig ihr Lied; ihre Gedanken inten durch den Rauch, der über der Bühne wirbelte, am dichtesten über dem Bestienschädel, als wären es die Träume des Drachen. In ihrer Vorstellung war das kein zwielichtiger Nachtklub in Shanghai, sondern die große Bühne. Diese billigen Hupfdohlen hinter ihr waren ein exaktes
Revueballett, sie traten in den Staaten auf, und sie selbst war der umschwärmte Star, reich, bewundert und bezaubernd und unabhängig und... Der Raum verzog sich ein wenig. Willie fiel wieder ein, wo sie wirklich war. Keine Ahnung, die Leute hier, dachte sie. Sie sind zu primitiv, um eine Spitzennummer zu erkennen, auch wenn sie an ihren Tisch gesteppt kommt. Der Bandleader gab ihr den Einsatz, und sie sang den letzten Refrain, hob einen roten Schal vor das Gesicht und blickte die Zuschauer aufreizend an. "Anything goes!« Die Kapelle spielte die Schlußtakte; das Publikum applaudierte. Die drei Männer am vordersten Tisch klatschten höflich und zogen die Mundwinkel hoch, ohne zu lächeln: Es waren der Gangster Lao Tsche und seine zwei Söhne. Üble Schurken mit elegantem Anstrich. Willie zwinkerte ihnen zu. Genauer gesagt, sie zwinkerte Lao Tsche zu, der zur Zeit für Are Spesen aufkam. Er nickte ihr zu - aber dann fiel ihm etwas anderes auf. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Während Willie auf die Bühne zurücklief und sie verließ, folgte sie Lao Tsches Blick, «m zu sehen, was sein Mißvergnügen erregt hatte. Es war ein Mann, der den Nachtklub eben betreten hatte und an der Rückseite des Lokals die Treppe herunterkam. Er trug ein weißes Dinnerjacket mit einer roten Nelke im Knopfloch, schwarze Hosen, Weste, Fliege, Schuhe. Viel mehr als das konnte Willie nicht sehen. Der Mann schien eine gute Haltung zu haben, aber sie hatte ein ungutes Gefühl. Ob er von der Polizei war? Sie sah ihn unten an der Treppe ankommen, wo ihn ein Kellner begrüßte, gerade als sie die Bühne verließ. Ihr letzter Gedanke dazu war: Na, gut sieht er ja aus, aber mit dem könnte es Ärger gebe. Indiana Jones verließ den Aufzug und stieg die Treppe zum Nachtklub >Obi Wan< in dem Augenblick hinunter, als die Vorstellung zu Ende ging. Er sah die zwölf Tänzerinnen in Rot und Gold unter lautem Beifall davonhuschen und lächelte. Nur nicht wegrennen, meine Damen, dachte er. Bin doch eben erst angekommen. Lässig stieg er die letzten Stufen hinunter, aber seine Augen suchten das ganze Lokal ab, wachsam wie die einer Katze. Alles war, wie er es in Erinnerung hatte, eher noch auffälliger, krasser: das liederliche Volk, der hohle Genuß; Angehörige einer untergehenden Gattung. Er fragte sich, ob denn wenigstens ihre materiellen Werke bleiben würden, ob in tausend Jahren ein Kollege von ihm ihre Häuser und Juwelen ausgraben und sich das Leben in diesem Raum hier ausmalen würde. Dieses verkommene Leben, dachte er, als sein Blick auf den Tisch von Lao Tsche fiel. Als er unten ankam, trat ein Kellner heran. Der Mann war jung, obwohl er schon schütteres Haar hatte, schmächtig gebaut, obwohl er gefährlich wirkte, halb Chinese, halb Holländer. Er hieß Wu Han. Er verbeugte sich leicht vor Indiana, während er leer lächelte, und sagte so leise, daß nur Jones es verstehen konnte: »Vorsicht.« Indy nickte zerstreut und ging auf Lao Tsches Gruppe zu. Als er herankam, setzte man sich wieder. Der Applaus verklang. »Doktor Jones«, sagte Lao Tsche. »Lao Tsche«, sagte Indiana Jones. Lao war nah an die Fünfzig. Das gute Leben hatte Gesicht und Bauch aufgeschwemmt, aber unter der Oberfläche war alles hart. Wie Eidechsenfleisch. Er trug eine schwarze Smokingjacke aus Seidenbrokat, ein schwarzes Hemd, weiße Fliege. Seine Augen drückten schwere Lider, er wirkte reptilhaft. Am linken kleinen Finger trug er den goldenen Siegelring der königlichen Familie der Tschang-Dynastie. Indy stellte es mit Kennermiene bewundernd fest. Links neben Lao Tsche saß sein Sohn Kao Kan, eine jüngere Ausgabe des Vaters: stämmig, nicht aus der Ruhe zu bringen, skrupellos. Auf Laos rechter Seite saß sein zweiter Sohn Tschen. Er war groß gewachsen und beinahe gespenstisch hager. Der weiße Schal, der lose um seinen Hals hing, erinnerte Indy an die zerfetzten Laken, die manchmal um langverdorrte Leichen hingen. Lao lächelte Indy an. »Nee tschin lie hau ma?« Tschen und Kao Kan lachten höhnisch. Indy lächelte ebenfalls. "Wah junghan, nee nah? Wah hwei hung jung tschee ja lunee kao su wah shu shu.« Er kehrte den Witz gegen Lao Tsche selbst. Die drei Männer verstummten. Lao starrte Indy bösartig an. »Sie haben mir nie erzählt, daß Sie meine Sprache verstehen, Doktor Jones.« »Ich gebe ungern an«, erwiderte Indy mit unbewegtem Gesicht. Zwei Leibwächter tauchten auf, tasteten ihn rasch ab und verschwanden wieder. Es gefiel ihm nicht, aber er hatte nichts anderes erwartet. Er setzte sich Lao gegenüber.
Ein Kellner erschien am Tisch. Er brachte eine große Schüssel Kaviar und eisgekühlten Champagner im Sektkübel. Das Lächeln kehrte auf das Gesicht des Verbrecherkönigs zurück. »Zu dieser besonderen Gelegenheit habe ich Champagner und Kaviar bestellt.« Er starrte Indy unverwandt an, während «fortfuhr: »Es ist also wahr, Doktor Jones. Sie haben Nurhachi gefunnden.« Indy beugte sich ein wenig vor. »Sie wissen dies genau. Gestern nacht hat einer Ihrer Jungs «sucht, Nurhachi zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen.« Kao Kan legte seine linke Hand auf den Tisch. Sie trug einen frischen Verband. Der Zeigefinger fehlte. Tsche kochte innerlich. Er nickte. "Sie haben meinen Sohn beleidigt.« Indy lehnte sich zurück. "Nein. Sie haben mich beleidigt. Aber ich habe sein Leben Lao starrte Indy an wie die Kobra den Mungo. »Doktor Jones, ich will Nurhachi haben.« Er legte ein Bündel Geldscheine auf das Drehtablett in der Tischmitte und drehte es, bis das Geld vor Indy lag. Indy legte die Hand auf das Bündel, prüfte seine Dicke, rechnete in Dollars um. Zu wenig. Viel zu wenig. Er drehte das Tablett zu Lao zurück und schüttelte den Kopf. »Das deckt nicht einmal annähernd meine Spesen, Lao. Ich dachte, ich hätte es mit einem ehrlichen Gauner zu tun.« Kao Kan und Tschen fluchten zornig auf Chinesisch. Tschen stand halb auf. Plötzlich lag eine Hand in einem eleganten Handschuh auf Laos Schulter. Indys Blick glitt an dem glatthäutigen Arm hinauf zum Gesicht der Frau, die hinter Lao stand; sie starrte ihn offen an. »Willst du uns nicht bekannt machen?« sagte sie leise. Lao gebot Tschen mit einer Handbewegung, sich zu setzen. »Doktor Jones, das ist Willie Scott«, sagte Lao. »Willie, das ist Indiana Jones, der berühmte Archäologe.« Willie ging um den Tisch herum auf Indy zu, während er aufstand, um sie zu begrüßen. Beim Händedruck taxierten sie einander. Ihr Gesicht gefiel ihm. Es besaß eine natürliche Schönheit, die durch die Schicksalsschläge des Lebens gezeichnet war wie ein seltenes Juwel nach einer Flut, ein Rohdiamant, der auf seine Fassung wartete. Sie trug eine durchsichtige Schmetterlingshaarspange, die aus ihrem Haar hervorzuwachsen schien. Indy faßte das als eine gewisse Extravaganz, wenn nicht gar Verdrehtheit ihrer Person auf. Sie trug Handschuhe. Für Indy hieß das soviel wie: >Ich komme zwar mit vielen zusammen, aber mir kommt keiner zu nah.« Ihr Parfüm war teuer. Das Kleid mit Quasten war vorne hochgeschlossen und hinten tief - sehr tief - ausgeschnitten, für Indy ein Hinweis darauf, daß sie kühl auftrat und eine schöne Erinnerung hinterließ. Sie gehörte zu Lao. Das bedeutete nichts Gutes. Willie erkannte sofort den Mann wieder, den sie beim Schluß ihres Auftritts bemerkt hatte. Ihr erster Eindruck bestätigte sich. Gutaussehend, aber so fehl am Platz, daß die Luft am Tisch geradezu knisterte. Aber er gab ihr Rätsel auf. Archäologe? Das paßte gar nicht. Er hatte eine interessante Narbe quer übers Kinn; sie fragte sich, woher sie stammen mochte. Sie war Kennerin von so was. Und ganz gewiß hatte er hübsche Augen, auch wenn sie die Farbe nicht genau zu bestimmen vermochte. Gewissermaßen grün-haselnußbraun-grau-himmelblau mit goldenen Pünktchen. Klar und hart und letzten Endes unergründlich. Eigentlich zu schade. Wie man es auch nahm, das personifizierte Unheil. Sie ließ den Blick von seiner interessanten Narbe zu seinen gar nicht braunen Augen gleiten. »Ich dachte, Archäologen wären komische kleine Männer, die dauernd nach irgendeiner Mammi suchen«, sagte sie spöttelnd. »Mumie«, verbesserte er. Sie setzten sich. Lao unterbrach ihr kurzes Gespräch. »Doktor Jones hat Nurhachi für mich gefunden und ist im Begriff, ihn abzuliefern... jetzt gleich.« Indy wollte antworten, aber da spürte er erst und sah dann auch die auf ihn gerichtete, kleine runde Mündung von Kao Kans Pistole in offensichtlicher Bereitschaft, sich zu äußern. Indy wollte jedoch nicht erfahren, was die Pistole zu sagen hatte. Er ergriff eine zweizinkige Vorlegegabel von einem nahen Servierten, während Willie weitersprach. »Wer ist denn Nurhachi?« fragte sie unschuldig. Von dem bevorstehenden großen Knall nahm sie immer noch nichts wahr. Im nächsten Augenblick wurde dieser ihr aber bewußt. Indiana zog sie an sich heran und preßte die Gabel an ihren Körper. Willie hielt kurz den Atem an. Ich wußte es, ich wußte es ja ganze Zeit, sagte sie zu sich. Zu Lao sagte sie leise, aber «gend: »Lao, er bedroht mich mit einer Gabel.« Indy sagte mit monotoner Stimme zu Kao Kan: »Weg mit der Kanone, Kleiner " Er verstärkte den Druck mit der Waffe. Willie spürte die Zinken deutlich. Sie war bemüht, keine Furcht in ihrer Stimme sich anmerken zu lassen. »Lao, er bedroht mich mit der Gabel!« Sie glaubte nicht wirklich, daß er zustoßen würde, aber bei Männern und ihren Spielsachen wußte man nie. Lao warf seinem Sohn einen Blick zu. Der junge Mann ließ die Pistole sinken.
Indy setzte nach. »Ich schlage vor, Sie geben mir jetzt, was Sie mir schuldig sind, oder... ich garantiere für nichts.« Er sah Willie an. »Nicht wahr?« »Ja«, flüsterte sie dumpf. »Sagen Sie es ihm", empfahl Indy. »Bezahl den Mann«, flehte sie Lao an. Wortlos zog Lao einen kleinen Beutel aus der Tasche, legte ihn auf das Tablett und drehte ihn zu Indy und Willie hinüber. Indy forderte sie mit einer Kopfbewegung auf. Sie griff nach dem Beutel und schüttete eine Handvoll Goldmünzen auf den Tisch. In Indys Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Den Diamanten, Lao. Es ging um den Diamanten.« Lao lächelte, zuckte als Besiegter mit den Schultern, zog ein viereckiges Silberkästchen aus der Westentasche und legte es auf das Drehtablett. In dem Augenblick, als Indianas Augen auf das Kästchen gerichtet waren, kippte Kao Kan weißes Pulver aus einem winzigen Fläschchen in das Champagnerglas neben sich. Und als das Drehtablett auf dem Weg zu Indy an ihm vorbeikam, stellte Kao Kan das Glas zu den Münzen und dem Silberkästchen. Als die Gegenstände sie erreichten, öffnete Willie das Kästchen. Im Inneren befand sich ein großer, aber zart aussehender Diamant. »O Lao«, stieß sie hervor. Diamanten waren für sie höchste Freude und Dämonie zugleich. Sie waren die Härte selbst, aber von wundersamer Schönheit. Sie waren klar, sie bargen alle Farben. Sie waren die mag'' sehe Spiegelung ihres innersten Ichs. Und dabei waren sie auch noch überaus praktisch. Ein Diamant wie dieser konnte sie reich und von Kerlen wie diesen Typen am Tisch ein für alle Male unabhängig machen. Indy stieß die Gabelzinken in die Tischplatte, griff nach dem Edelstein und schob Willie auf ihrem Stuhl fort zu ihrem alten Platz. Sie starrte ihn eisig an. »Sie sind eine Schlange.« Das traf nun wirklich die Farbe seiner Augen. Er beachtete sie nicht und untersuchte den Edelstein. Perfekt geschliffen, jede Facette ein Spiegel des ewigen Alls. Lupenrein, keine Einschlüsse, weißes Feuer. Die Universität hatte lange nach diesem Klunkersteinchen gesucht. »Jetzt«, zischte Lao. »Her mit Nurhachi!« Indy winkte Wu Han, dem Kellner, der ihn beim Eintritt begrüßt hatte. Wu Han kam heran, eine Leinenserviette über dem linken Unterarm, in der rechten Hand ein Tablett. In der Mitte des Tabletts stand eine kleine Jadeschatulle. Willies Zorn verrauchte. Die Sache wurde immer spannender. Geld, Münzen, Edelsteine, Drohungen... und nun diese kostbare Miniatur. »Wer ist denn nun eigentlich dieser Nurhachi?« fragte sie scharf. Indy griff nach der Schatulle, stellte sie auf das Drehtablett und ließ sie zu Lao hinüberrotieren. Willie verfolgte sie mit dem Blick. »Muß wohl sehr klein sein, der Knabe«, murmelte sie. Lao zog die Schatulle zu sich heran. Seine Söhne beugten sich vor. Lao sagte mit leiser, ehrfürchtiger Stimme fast wie im Selbstgespräch: »Dieser heilige Sarg enthält die sterblichen Überreste von Nurhachi, dem ersten Kaiser der Mandschu-Dynastie.« Indy griff nach dem Champagnerglas vor sich und hob es mit weit ausholender Gebärde zu einem Trinkspruch. »Willkommen daheim, Alter.« Er trank. Asche? dachte Willie. Das ist alles? Ein Häufchen Asche? ach ihrer Sicht der Dinge brachte es nichts ein, bei der Vergan-genheit zu verweilen. Gegenwart und Zukunft, nur sie zählten. Der Rest war bestenfalls von tödlicher Langeweile. Sie begann sich zu schminken. Lao grinste Indy schief an. »Und jetzt geben Sie mir den Diamanten zurück.« Indy hatte das Gefühl, daß die Temperatur im Lokal angestiegen war. Er lockerte den Kragen. »Ist das Ihre Art von Humor, oder höre ich schlecht?« Lao zeigte ihm eine kleine blaue Phiole. Willie starrte sie an. Noch mehr Schätze? dachte sie. »Was ist das?« »Gegengift«, zischte Lao. »Gegengift wofür?« fragte Indy argwöhnisch. Er hatte plötzlich eine Vorahnung. »Für das Gift, das Sie eben getrunken haben«, gab Lao höhnisch zurück. In Willie regte sich jenes flaue Gefühl, das nichts Gutes verhieß. »Gift!« sagte sie rauh. »Lao, was treibst du? Ich arbeite hier!« Wohl nicht mehr lange, dachte sie. Indy fuhr mit dem Finger über die Innenseite seines Champagnerkelchs. Ein körniger Rückstand bedeckte den
Boden. »Das Gift wirkt schnell, Doktor Jones«, höhnte Lao. Indy legte den Diamanten auf den Tisch und streckte die Hand aus. »Her damit, Lao.« Tschen griff nach dem Stein, starrte in seine funkelnden Tiefen, grinste befriedigt, legte ihn wieder hin und drehte das Tablett zu seinem Vater. Als der Stein an Willie vorbeikam, griff sie nach ihm. Noch nie hatte sie einen so großen, so makellosen Diamanten in der Hand gehalten. Er schien beinahe zu vibrieren. Lao hatte das Interesse an dem Stein jedoch verloren. Er starrte die Schatulle an. »Endlich habe ich die Asche meines ehrwürdigen Ahnen!« Indy wurde mehr als ungeduldig. Vor seinen Augen begannen gelbe Punkte zu tanzen. »Das Gegengift, Lao.« Der Chinese beachtete ihn nicht. Das läuft in die falsche Richtung, dachte Jones. Er war aus dem Gleichgewicht. Seine Chancen wurden immer geringer. trriß die große Gabel an sich und hielt sie wieder an Willies Rippen »Lao«, sagte er heiser. »Lao«, wiederholte sie. Lao Tsche, Kao Kan und Tschen lachten nur. »Behalten Sie das Mädchen«, sagte Lao. »Ich suche mir ein anderes.« Willie starrte Lao an, als gehe ihr erst jetzt etwas auf, das sie eigentlich schon die ganze Zeit gewußt hatte. »Du dreckiger kleiner Gauner«, sagte sie. Wu Han trat plötzlich vor. »Bitte«, sagte er und lächelte Lao an. Sie drehten die Köpfe. Unter dem Tablett, für die Gäste an anderen Tischen unsichtbar, hielt er eine Pistole in der Hand. Sie war auf Lao gerichtet. »Gute Bedienung hier«, meinte Indy. »Das ist ja gar kein Kellner«, entfuhr es Willie. Die Gabelzinken bohrten sich immer noch in ihren Körper. Bei allen waren die Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie wußte nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. »Wu Han ist ein alter Freund«, murmelte Indiana. »Das Spiel ist noch nicht aus, Lao! Das Gegengift!« Als Indy die Hand ausstreckte, gab es plötzlich einen lauten Knall am Nebentisch. Ihre Köpfe fuhren herum. Ein betrunkener Amerikaner hatte eine Flasche Champagner geöffnet, und der Schaum besprühte seine beiden kichernden Begleiterinnen. Mehrere Kellner ließen an anderen Tischen Sektkorken springen. Knallen, Spritzen, Gelächter. Indy richtete die Aufmerksamkeit wieder auf seinen eigenen Tisch. Er fühlte sich zunehmend unwohl. Wu Han, der neben ihm stand, sah leichenblaß aus. »Wu Han, was ist -« begann er, aber bevor er weitersprechen konnte, brach Wu Han über dem Tisch zusammen. Erst in diesem Augenblick sah Indy die rauchende Pistole in Tschens Hand unter einer Serviette verschwinden. »Indy!« stieß Wu Han hervor. Als Wu Han nach vorn kippte, fuhr Indiana hoch, fing den angeschossenen Kameraden auf und ließ ihn auf seinen Stuhl »Keine Sorge, Wu Han«, murmelte er. »Ich hol´ dich hier schon heraus.« »Diesmal nicht«, flüsterte der Sterbende. »Ich bin dir bei vielen Abenteuern gefolgt, aber jetzt gehe ich allein in das große Unbekannte.« Und damit starb er. Indy ließ den Kopf seines Freundes auf die Tischplatte sinken. Ihm war heiß. Auf seinem Gesicht standen Schweißtropfen. Lao konnte seine Fröhlichkeit kaum verbergen. »Nicht traurig sein, Doktor Jones. Sie leisten ihm bald Gesellschaft.« Indys Beine waren plötzlich wie aus Gummi. Er taumelte rückwärts. Kao Kan lachte glucksend. »Zuviel getrunken, Doktor Jones?« Indy stolperte weiter nach hinten und prallte mit dem Betrunkenen am Nebentisch zusammen. Sogar Tschens Totenschädel grinste, als er sah, wie die beiden sich fassungslos anstarrten. Wutentbrannt schob Jones den Betrunkenen weg und stieß mit einem Kellner zusammen, der am nächsten Tisch von einem Servierwagen aus bediente. Er servierte flammende, alkoholgetränkte Tauben am Spieß. Und wenn es das letzte ist, was ich tue, dachte Indy, dieses Grinsen wische ich von Tschens Gesicht. Im nächsten Augenblick packte er den Flammenspieß, schnellte herum und schleuderte den Spieß nach Tschen. Der Spieß bohrte sich bis zu den lodernden Tauben in Tschens Brust. Für einen langen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Der Lärm im Lokal erstarb. Panik lag in der Luft. Die Menschen um Laos Tisch erstarrten, gebannt vom Anblick des skeletthaften Chinesen im Smoking, den ein Silberspieß durchbohrte, während die flammenden Vögel unheimliche Lichter über sein verzerrtes Gesicht tanzen ließen.
Dann geschah alles gleichzeitig. Willie kreischte instinktiv. Die Frau am Nebentisch, die das zweite Grillschwert mit Pigeon Flambe neben sich auf dem Servierwagen sah und sich vielleicht fragte, wer noch durchbohrt (werden sollte, kreischte ebenfalls. Im Lokal brach das Chaos aus. Schreie, Splittern von Glas, durcheinanderstürzende Menschen, absolute Verwirrung... so mochte es in Pandoras Büchse gewesen sein, bevor sie geöffnet worden war. Indy hechtete über den Tisch, um das kleine blaue Röhrchen mit dem Gegengift an sich zu reißen, aber es rutschte auf der glasigen Oberfläche davon und fiel auf den Boden. Indy und Lao starrten einander aus nächster Nähe an. Jones packte den Gangster an den Rockaufschlägen und fauchte ihn heiser an: »Hoe wei geh fan yaan.« Sehr üble Person gegen das Gesetz. »Ndio gwok haat yee«, zischte Lao. Ausländischer Bettler. Kao Kan packte Indy um den Hals, aber Jones schlug ihn mit einem linken Haken nieder. Einer von Laos Gehilfen riß Indy von hinten hoch und stieß dabei das blaue Röhrchen über den Boden. Kao Kans Pistole fiel unter den Tisch. In Willies Gehirn jagten sich die Gedanken: Lao war Abschaum. Sie konnte froh sein, ihn loszuwerden. Ihr Job in diesem Lokal war dahin. Diesen Jones hatte sie von Anfang an richtig eingeschätzt. Wenn sie einen kühlen Kopf bewahrte, mochte sie mit dem Diamanten entwischen können. Sie schob ihre Hand in das Durcheinander auf dem Tisch und ergriff den Diamanten. Es blieb ihr aber kaum Zeit, ihn zu befühlen, als auch schon Jones und der Leibwächter im Ringkampf an ihr vorbeitaumelten. Sie stießen ihr den Edelstein aus der Hand. Der Diamant fiel auf die Tanzfläche. »Du Idiot«, entfuhr es ihr. Sie meinte Indy und sich selbst damit. Im nächsten Augenblick hechtete sie ihrem verlorenen Schatz hinterher. Die Kapelle begann wieder zu spielen, so, als fange das Fest nun erst richtig an. Indy rollte mit dem Leibwächter auf den nächsten Tisch. Der andere traf ihn mit der Faust am Kinn und betäubte ihn. Indy schlug blindlings zurück und traf die Zigarettenverkäuferin, die auf die beiden Männer gestürzt war. Der Leibwächter packte Indy und schleuderte ihn auf einen Servierwagen, der durch den Schwung zum Musikpodium rollte. Jones schoß wie ein fliegender Geist durch das Getümmel. Der Luftzug an seinem Gesicht belebte ihn ein wenig und kühlte den Schweiß auf seiner Stirn. Die Menschen, an denen er vorbeifegte, sahen aber ein wenig verzerrt aus. Er sah die Phiole am Boden - oder bildete er sich das nur ein? -, konnte die schnelle Fahrt aber nicht aufhalten. Er krachte an das Podium. Als er sich aufrichtete, sah er Laos Leibwächter, der sich auf ihn stürzen wollte. Jones packte gerade noch rechtzeitig den großen Kontrabaß und hieb den Chinesen damit nieder. Er blieb kurz stehen, um sich zurechtzufinden. Plötzlich sah er das blaue Röhrchen mitten im Gewühl am Boden liegen. Er sprang darauf zu. Im selben Augenblick wurde es von einem Fuß fortgestoßen. Indy, auf Knien und Händen, hob den Kopf. Vor sich hatte er Willie in der gleichen Haltung. »Das Gegenmittel«, stieß Indy hervor. »Der Diamant!« rief Willie gleichzeitig. Indy bemerkte den Stein in seiner Nähe, aber der Diamant wurde in der nächsten Sekunde zwischen ein Dutzend Beine gestoßen. »Mist!« fauchte Willie und kroch auf Händen und Knien hinterher. Indy kämpfte sich in der entgegengesetzten Richtung vorwärts. Lao hatte sich schließlich durch das Gewühl geboxt und den Lokaleingang erreicht. Er schrie einige Worte. Fast augenblicklich stürmte ein Trupp seiner Helfer herein, um sich Befehle geben zu lassen. Die Kapelle spielte weiter, freilich ohne Baßbegleitung. Die zwölf Tänzerinnen sprangen fröhlich aus dem Drachenschlund und hinunter auf die Tanzfläche. Das Fest war in vollem Gange. Indy raffte sich vom Boden auf, hinein in die Reihe der Tänzerinnen. Er fühlte sich schwindlig. Der Anblick von Laos Leuten, die mit Beilen durch den Eingang hereinstürmten, putschte ihn aber wieder auf. Er taumelte zum Musikpodium. Drei Beilträger schleuderten ihre Waffen vergebens nach ihm, denn er sprang hinter eine der Statuen. Er packte hastig ein Schlagzeugbecken und ließ es dem vierten Beilkämpfer entgegensegeln. Der Mann wurde am Kopf getroffen und stürzte in einen großen Kühlkübel. Eiswürfel spritzten heraus und verteilten sich überall auf dem Boden. Und auch um den Diamanten herum. Willie stöhnte vor Verzweiflung, wühlte in Hunderten von Eissplittern und suchte darin mit letzter Kraft nach dem ihnen nun so ähnlichen Diaman-ten. Was sie fand, war aber nur das blaue Röhrchen. Indy sah von der Bühne aus, wie sie es aufhob. »Dortbleiben!« schrie er. »Bitte!« Ihre Blicke trafen sich. Willie stand vor einer Entscheidung. Was hatte sie mit dem Kerl zu schaffen? Vor zehn Minuten war er in ihr Leben getreten, hatte sie mit einer langen Gabel bedroht, ihr den ersten Blick auf einen
Diamanten von unschätzbarem Wen verschafft, sie ihren Freund gekostet - was kein Verlust war - und ihren Job dazu - was sich verschmerzen ließ -, und nun hielt sie sein Leben in der Hand. Seine Augen waren ja wirklich etwas Besonderes. Sie schob das Röhrchen sicherheitshalber mal in ihren Ausschnitt. An der Suche nach dem Diamanten gedachte sie sich nicht hindern zu lassen. Sie durchwühlte weiter die Eishaufen. Kao Kan wachte auf. Er fand seine Pistole am Boden, drehte sich langsam herum und entdeckte Indy. Er hob, noch immer ein wenig schwankend, die Waffe und zielte. Indy sah ihn rechtzeitig. Er wich zurück zur Bühnenschmalseite und zerrte an dem dort hängenden Seil. Im nächsten Augenblick begannen mit traumhafter Langsamkeit Luftballons von der Decke herabzuschweben. Hunderte bunter Luftballons. Kao Kan verlor sein Zielobjekt hinter dem träge sinkenden Vorhang an Farbenpracht aus den Augen. Die Ballonschwärme verhüllten alles. Indy schob sich seitwärts weiter, hin zu der Stelle, wo Willie eben noch gewesen war. Er sah sie nicht mehr. Dafür aber zwei Gegner. Einer von ihnen traf ihn zwar mit einem Karateschlag, aber er schickte den Mann mit einem Hieb in die Magengrube zu Boden. Den anderen schleuderte er auf einen empörten Kellner. Er lehnte sich zusammengesunken an die Balkonwand. Das Gift zerfraß ihn, so daß er am ganzen Körper zitterte. Daß sein Gesicht aschfahl sein mußte, wußte er. Sein Magen verkrampfte sich. Am liebsten hätte er sich der Bewußtlosigkeit überlassen. Aber nein! Er mußte Willie finden! Er brauchte das Röhrchen. Er schüttete sich ein Glas Wasser ins Gesicht. Das half ein wenig. Die Situation wurde immer kritischer. Er sah vier weitere Mitglieder der Bande hereinstürzen. Kao Kan wußte sich vor Wut kaum zu fassen. Er wollte den Mörder seines Bruders tot sehen, aber sein Arm zitterte immer noch so stark, daß er nicht richtig zielen konnte. Voller Freude entdeckte er, daß einer seiner Leute eine Maschinenpistole bei sich hatte. Kao Kan stürzte wie ein Wahnsinniger zur Treppe und entriß dem Mann die Waffe. Er begab sich wieder in das Gewühl und schrie: »Wo ist er? Ich lege ihn um.« Als man die Maschinenpistole sah, stoben die Menschen auseinander. Auch das Ballongewimmel ließ nach. Es dauerte nur Augenblicke, bis Kao Kan und Indy einander sehen konnten. Kao begann zu feuern. Indy hechtete über die Balkonbrüstung direkt hinter den Riesengong. Geschosse fetzten in den Balkon. Indy kauerte hinter dem riesigen Schutzschild aus Bronze. Die Menschen kreischten, warfen sich zu Boden oder suchten anderweitig Deckung. Als der erste Feuerstoß vorbei war, sprang Indy zur Statue des chinesischen Fürsten, riß ihm das goldene Breitschwert aus der Hand und durchschnitt mit zwei raschen Hieben die Seile, an denen der Riesengong von der Decke herabhing. Mit einem hallenden Bonnngg stürzte die Scheibe auf den Boden. Jones sprang hinter sie, während Geschosse auf die Vorderseite prasselten. Er duckte sich an deren Rückseite und rollte die Scheibe langsam über den Boden, dorthin, wo Willie noch immer verzweifelt in den Eiswürfeln wühlte. Willie hatte auf das ohrenbetäubende Hallen hin den Kopf hochgerissen und sah die Riesenscheibe auf sich zurollen. Das ist also das Ende, dachte sie. Zerquetscht von einem Amokgong in einem Nachtklubinferno. Indy packte im letzten Augenblick ihren Arm und riß sie zu sich hinter die Scheibe. Querschläger surrten jaulend, als Laos Leute zwischen den umgestürzten Tischen bessere Schußmöglichkeiten suchten. Willie schrie auf. Indy blickte nach vorn. Unmittelbar vor ihnen erhob sich eine Wand bemalter Glasfenster. Sie kreischte: »Ich will nicht -« Aber für Diskussionen blieb keine Zeit. Der rollende Gong krachte durch die Fensterwand. Im nächsten Augenblick packte Indy Willie um die Hüfte und sprang mit ihr kopfüber durch die Öffnung. Sie stürzten drei Meter tief, rollten ein schräges Schindeldach hinunter und ins Leere. Aneinandergeklammert fielen sie zwei Stockwerke tief, stürzten durch eine Markise, brachen durch einen Bambusbalkon und landeten endlich auf dem Rücksitz eines Duesenberg-Kabrios, das direkt vor dem Haus geparkt war. Willie setzte sich hastig auf, fassungslos darüber, noch am Leben zu sein, und starrte in das ebenso erstaunte Gesicht eines zwölfjährigen Chinesenjungen auf dem Vordersitz. Er trug eine Baseballmütze der New York Yankees und glotzte Willie an. »Mann! Heiliger Strohsack! Bruchlandung!« sagte Short Round. »Mach schon, Short Round!« wies ihn Indy an, der sich langsamer aufgerafft hatte. »Klar doch, Indy!« sagte der Junge. »Schön festhalten!« Short Round drehte sich mit breitem Grinsen nach vorn, schob den Schirm der Baseballmütze ins Genick und trat aufs Gaspedal. Mit quietschenden Reifen fegten sie in die Nacht von Shanghai.
Short Round
Für Short Round war das ein ganz normaler Tag gewesen. Er war diesmal früh aufgestanden - gegen Mittag - und zur Arbeit gegangen. Sein Arbeitsplatz befand sich in den Räumlichkeiten der Opiumhöhle in der Liu Street. An den Nachmittagen hatte Short Round dort nicht sehr viel zu tun. Zu dieser Tageszeit gab es nur wenige Gäste, während ein paar andere sich von der vergangenen Nacht ausschliefen. Für ein paar Pennies brachte Short Round ihnen Tee; er führte sie zu den Rikschas hinaus; er bewachte Kleidung. Gelegentlich bediente er sich aus den bewachten Sachen mit mehr als Pennies; ab und zu nahm er Gegenstände an sich, die von Interesse waren. Unter anderem war Short Round ein Dieb. Natürlich nicht im ganz strengen Sinn genommen. Er sah sich eher als einen Nachfolger Robin Hoods, des Helden in dem Film, den er im Tai-Phung-Kino sieben- oder achtmal gesehen hatte. Zu den Armen, die er beschenkte, gehörte er eben selbst. Jedenfalls war das sein Gedankengang während der stillen Nachmittagsstunden in der Liu Street gewesen. Der süßliche Rauch hing in dünnen Schwaden über zwei halb besinnungslosen Gästen, die auf den bloßen Holzpritschen lagen, der eine ein alter Chinese, der andere ein junger Belgier. Short Round saß im Nebenzimmer auf ihren Habseligkeiten und dachte über ein Frühstück nach, als ihm der Gedanke kam, in der Tasche des Belgiers könnte etwas Eßbares sein. Er kramte gerade darin, als der Eigentümer hereinkam. Der Mann schien darüber gar nicht erfreut zu sein. Er wirkte auch nicht betäubt, sondern im Gegenteil sehr aufgebracht. Short Round hatte aus solchen Vorfällen genug gelernt, um zu wissen, daß Erklärungen in der Regel nichts fruchteten. Deshalb entfernte er sich durch das Fenster, den Paß des Belgiers - ganz zufällig - in den Fingern. Der Belgier jagte ihm nach. Short Round liebte schöne Hetzjagden. Er kam sich begehrt vor. Er rannte durch die Gasse hinter dem Haus, verfolgt von dem empörten Gast. Über einen Zaun, zwei weitere enge Gassen hinauf. Der Mann war ihm immer noch auf den Fersen. Eine Feuerleiter an einem uralten Holzgebäude empor, bis hinauf zum Dach. Der Belgier immer noch hinterher. Short Round jagte über die Dächer. Schrägdächer, Schindeln, Giebel - das machte am meisten Spaß. Er rutschte, sprang und wirbelte um Schornsteine wie ein Affe im Urwald. Dächer waren Shon Rounds Spezialgebiet. Sein Verfolger verlor an Abstand, aber ihn nicht aus den Augen. Short Round kam zur letzten Dachkante; dort ging es vier Stockwerke hinab. Der Belgier holte auf. Short Round hetzte die Schräge hinauf, über den First, auf der anderen Seite ging es genauso tief hinunter. Einen Meter unterhalb reichte aber aus dem obersten Fenster des Gebäudes eine Wäscheleine über die Gasse zum Fenster gegenüber. Genau wie bei Robin Hood! Mann! Heiliger Strohsack! Short Round hüpfte zur Wäscheleine hinunter, baumelte dort einen Augenblick und zog sich dann Hand über Hand an flatternden Seidenpyjamas entlang zum anderen Fenster, während sein Verfolger auf dem Dach gegenüber auf flämisch fluchte. Short Round sprang zum Fenster hinein, drehte sich herum, zeigte dem Wutentbrannten als Bezahlung für seinen Reisepaß ein strahlendes Lächeln und rief: »Sehr lustig! Sehr lustig, großer Spaß!« Der Mann fand das überhaupt nicht lustig. Die Menschen hatten einfach keinen Humor mehr. Short Round entschuldigte sich bei der fassungslosen Familie, zu der er hereingeplatzt war, für die Störung, verbeugte sich überaus höflich und verließ das Haus. Draußen waren die Schatten allmählich lang geworden. Die Fischverkäufer packten ein, denn ihre Ware begann verdächtige Gerüche zu verbreiten. Die Nachtmenschen regten sich noch nicht. Das war Short Round die liebste Tageszeit. Die Stunde der Tauben. Jeden Tag um diese Zeit versammelten sich im Hof des Klosters bei der Gung-Ho-Bar Hunderte von Tauben. Sie veranstalteten ein ganz wundersames Gurrkonzert wie das Schnurren von tausend zufriedenen Perserkatzen. Wenn Short Round das hörte, fühlte er sich an die Zeit erinnert, als seine Mutter ihn auf den Armen geschaukelt hatte, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, warum das so war. Eine Familie hatte er schon lange nicht mehr. Außer, natürlich, Dr. Jones. Dr. Jones war jetzt seine Familie. Short Round hegte sogar den Verdacht, Indy sei in Wahrheit eine Reinkarnation des niederen Gottes Tschao-pao, Er-der-Schätze-entdeckt. Aber Short Round zählte Tschao-pao zu seinen eigenen Ahnen, also waren er und Indy ohnehin nah verwandt. Er verließ den Ort der Tauben und ging zur Gung-Ho-Bar. Dort hatten er und Indy sich kennengelernt. Er betrat das Lokal. In der hintersten Nische saß Indy vor einer Tasse Ginseng-Tee und wartete. Short Round lief mit breitem Grinsen auf ihn zu und setzte sich ihm gegenüber. »Indy, ich haben Paß für Wu Han!« flüsterte er aufgeregt. Er überreichte den Reisepaß des Belgiers. Indy blätterte ihn durch und zog die Brauen hoch. »Shorty, wo hast du den her? Ich dachte, ich hätte dir aufgetragen, nicht mehr zu stehlen.« »Nicht stehlen«, widersprach der Junge. »Mann ihn mir gegeben. Er nicht mehr brauchen.«
Short Round wirkte so unschuldig, so verletzt, daß Indy ihm beinahe glaubte. Jedenfalls steckte er das Ausweispapier für Wu Han ein. Short Round strahlte. Das war einer der Gründe, warum er Indy liebte. Er und Indy waren aus dem gleichen Holz geschnitzt: Sie besaßen beide ein Talent, das Besitzrecht von Fundsachen zu übertragen, indem sie für Wertsachen, die zu lange an einem Ort verblieben waren, alsbald eine neue Heimat fanden. Indy gedachte auch für Short Round eine neue Heimat zu finden. Er wollte ihn nach Amerika mitnehmen. Indy sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Okay, Kleiner. Bist du sicher, ich kann mich wegen der Flugtickets auf dich verlassen?« Er gab dem Jungen Geld für den Kauf der Flugscheine. »Kinderleicht, Indy. Ich holen nur Auto von meine Onkel Wong, dann ich sprechen mit Ticketmann, dann ich am Klub auf dich warten.« »Direkt vor der Tür.« Indy nickte. »Eine Stunde, bevor es hell wird. Hast du eine Uhr?« »Klar okay.« »Dann vergiß nicht, deinem Onkel dafür zu danken, daß er uns wieder sein Auto leiht.« »Ach, ihn nicht stören. Wir bald fahren nach Amerika?« »Ja, ziemlich bald. Zuerst Delhi. Jetzt mach schon. Ich muß mit jemand wegen einer Schatulle reden.« Short Round verließ die Bar; Indy blieb sitzen. Short Round lief sechs Straßen weit zum Haus eines deutschen Diplomaten, den er oberflächlich kannte - eigentlich gar nicht kannte. Er hatte dem Mann in einem der besseren Bordelle vorige Woche die Schuhe geputzt und dabei den ehrenwerten Konsul zu der Bordellbesitzerin sagen hören, er verreise für vierzehn Tage, um Verwandte im Elsaß zu besuchen. Als Short Round am Haus ankam, ging er nach hinten. Er kroch durch die kleine Katzentür des Nebeneingangs in die Garage. Dort spielte er zehn Minuten lang mit der jungen Katze. Er zog eine kleine Wollmaus an einem Faden vor ihr hin und her, bis sie zupackte. Als die Katze mit ihrer Siegesbeute schließlich in einem Winkel unter der Treppe verschwand, schob Short Round die Flügel des Garagentors auf. Dann schloß er die Zündung des Autos kurz. Es war ein cremefarbenes Duesenberg Auburn-Kabriolett, Baujahr 1934, leicht kurzzuschließen. Ob leicht oder nicht, auf jeden Fall war er mit Indy in diesem Wagen diese Woche schon «n paarmal herumgefahren. Er duckte sich unter das Armaturenbrett und hielt Kabel aneinander, bis ein Funke übersprang und der Motor aulbrüllte. Short Round kam sich bei solchen Gele-25 genheiten vor wie der Junge im Märchen, der in einem Drachenbauch gelebt hatte. Er schloß die Augen und lauschte den ratternden Kolben, sog den Rauch ein, der vom elektrischen Kurzschluß aufstieg, spürte, wie die dunkle Wagenenge ihn umschloß gleich einem feuergehärteten Drachenbauch... Er hatte sich selbst Angst eingejagt. Er wand sich zum Fahrersitz hinauf, legte den Rückwärtsgang ein, steuerte den Wagen hinaus, ließ den Motor im Leerlauf, schloß das Garagentor und fuhr die Auffahrt hinunter auf die Straße. Er konnte kaum über das Lenkrad blicken und kaum die Pedale erreichen, aber das genügte. Im verschwimmenden Licht des Nachmittags wurden aus den Großstadt- bald Vorort- und schließlich Landstraßen. Das war die zweitschönste Tageszeit für Short Round - wenn die Sonne orangerot wie glühende Kohle glomm, bevor die Erde sie erneut für eine Nacht verschlang. Am frühen Abend stand er in einem kleinen britischen Flughafenbüro und verhandelte mit einem Engländer namens Weber um drei Flugscheine. »Ich glaube kaum, daß ich für jemanden von deiner Statur Platz finden kann«, begann der Brite hochmütig. Short Round gab ihm den Großteil von Indianas Geld. »Nicht für mich. Für Doktor Jones, die berühmte Professor. Das sein wichtige Regierungsauftrag. Ich sein Gehilfe.« Weber blieb skeptisch, nahm das Geld aber an. »Na, ich will sehen, was ich tun kann.« »Sie machen richtig, Doktor Jones Sie in seine Buch schreiben. Vielleicht Sie bekommen Orden.« Er zwinkerte ihm zu. Dieser sonderbare junge Mann schien Weber nicht geheuer zu sein. »Ich werde tun, was ich kann, bin mir aber nicht sicher, ob ich so kurzfristig drei Plätze in derselben Maschine bekommen kann.« Short Round zwinkerte ihn wieder an und gab Weber den Rest des Geldes als Bestechung. Außerdem ließ er Weber den Dolch in seinem Gürtel sehen. Weber fand es entschieden beunruhigend, sich von einem zwölf Jahre alten Gangster bestechen zu lassen; gleichwohl nahm er das Geld. »Ja, ich bin sicher, das wird sich machen lassen.« Er lächelte. Die Frage war nur, wann die Zentrale in London ihn in die Zivilisation zurückversetzen würde. Short Round verbeugte sich tief vor Weber, drückte ihm die Hand und salutierte stramm, die Fingerspitzen am Schirm der Baseballmütze. Dann lief er zum Duesenberg und fuhr in die Stadt zurück. Er stellte den Wagen im Lagerhaus eines Bekannten ab, der ihm eine Gefälligkeit schuldig war. Die Nacht
begann erst jetzt allmählich aufzuleben. Short Round betrachtete den hellen Tag als einen schlafenden Schurken, der jeden Abend mit riesigem Hunger erwachte. Short Rounds drittliebste Tageszeit war die Nacht als Ganzes. Er schlenderte zum Hafen hinunter. Hier mußte man als Junge vorsichtig sein, denn Jungen waren sehr begehrt. Man zwang sie zur Arbeit auf Schiffen oder zu anderen wenig achtbaren Tätigkeiten. Allerdings konnte man, war man nur geschickt genug, zu einem kostenlosen Abendessen kommen. Und bei diesen Gedanken begann Short Round Hunger zu verspüren. Er requirierte ein schmales Brett aus dem Abfall hinter einer der Bars und nahm es mit zu einer Stelle, wo das ölige Wasser an einen der Stege schwappte. Dort kauerte er im Schatten, die Füße im Wasser, und wartete. Nachdem fünf Minuten still vergangen waren - in dieser Zeit betete er zu Naga, dem Drachenkönig, der dieses Meer bewohnte und beherrschte - schlug er plötzlich mit dem Brett mehrmals klatschend auf die Wasseroberfläche. Binnen Sekunden trieb ein saftiger Mondfisch, von Short Rounds Hieben betäubt, mit dem Bauch nach oben an die Oberfläche. Er packte den Fisch am Schwanz, riß ihn aus dem Wasser und schlug ihn an einen Pfahl. Dann ging er im Sand in die Hocke, schlitzte den Fisch mit seinem Dolch auf und schlang das zarte gelbe Fleisch hinunter. Er fragte sich, ob es in Amerika wohl auch Mondfische gäbe. Der Gedanke an Amerika erinnerte ihn ans Kino. Bevor er sich mit Indy wieder treffen sollte, hatte er viele Stunden Zeit. Er beschloß, zum Tai-Phung-Kino zu wandern und nachzusehen, ob ein neuer Film gespielt wurde. Das Tai-Phung zeigte meist amerikanische Filme, vor allem für die vielen Ausländer in den Bank- und Diplomatenvierteln der Stadt. Im Tai-Phung hatte Short Round den größten Teil seiner Englischkenntnisse erworben. Die Schrift über dem Eingang konnte er nicht lesen. Er konnte überhaupt kaum lesen, sah man von den Wörtern ab, die Indy ihm mit der Zeit beibrachte. Da die Buchstaben aber anders aussahen als bei seinem letzten Besuch, beschloß er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er stieg an der Rückseite des Gebäudes auf zwei Abfalltonnen und kroch durch das hohe Badezimmerfenster hinein. Dort ließ er sich am Wasserbehälter auf den Boden herab. Er bot dem ein wenig fassungslos dreinblickenden Mann auf der Schüssel an, ihm die Schuhe zu putzen, aber der Mann lehnte höflich ab. Short Round huschte unter der Tür der Kabine hindurch und hinaus ins Kino. Er saß auf einem Außenplatz nahe beim Ausgang, um rasch verschwinden zu können, falls das nötig werden sollte. Er rutschte tief in den Sessel, damit die Platzanweiser, die ihn vom Sehen kannten, ihn nicht sofort entdeckten. Er schob einen Klumpen Bubblegum in den Mund und lehnte sich zurück, um den Film zu verfolgen. Der Streifen gefiel ihm gut. Ein Privatdetektiv namens Nick machte ständig witzige Bemerkungen zu seiner Frau Nora, einer überaus hübschen Dame. Sie hatten auch einen albernen Hund, der Asta hieß. Nick trank noch einen Martini bei einer großen Gesellschaft, wo die Schurken lauerten, als ein vornehmes Paar sich genau vor Short Round niederließ und ihm die Sicht versperrte. Er wollte schon aufstehen und sich einen anderen Platz suchen, als er bemerkte, daß die Dame ihre Handtasche in den Zwischen-raum der beiden Sessel stellte. Das Angebot war zu verlockend. Short Round wartete zehn Minuten - bis die beiden vom Film gefesselt waren -, dann schob er die Hand nach vorn und zog die Tasche zu sich heran. Es war eine Abendtasche aus Silberlame mit Perlmuttverschluß. Short Round klappte sie auf und kramte hastig. Mann! Was für ein Glück! Er fand eine Puderdose, die mit Edelsteinen besetzt war. In der Rückwand befand sich eine kleine Uhr. Genau das, was er brauchte, um die Zeit für sein Treffen mit Indy zu vergleichen - wenn der kleine Zeiger auf die Vier und der große auf die Zwölf wies. Indy brachte ihm auch Ziffern bei. Die konnte man sich leichter merken. Das war ein sehr gutes Omen. Es verhieß einen erfreulichen Verlauf der Nacht. Short Round schickte ein kurzes Dankgebet zu Tschao-pao, Er-der-Schätze-entdeckt. Dann stand er auf, begann laut zu keuchen, stürzte im Mittelgang hin und hing einen Arm über den Sessel der Dame. »Aber nein!« stieß sie hervor. »Lady, großer Mann eben Ihre Tasche gestohlen!« keuchte Short Round und ließ die Handtasche vor ihre Füße fallen. »Ich ihn erwischen und für Sie zurückholen. Er mich geschlagen, aber ich entwischt. Da Ihre Tasche.« Er schob sie mit dem Knie zu ihr und brach zusammen. »Du armes Kind!« sagte sie und warf hastig einen Blick in die Brieftasche an der Unterseite. Das ganze Geld war noch da. »Psst!« flüsterte ihr Begleiter. Er versuchte, die Ablenkung unbeachtet zu lassen. Nach seiner Meinung war es stets das beste, auf die Avancen dieser Gassenjungen nicht einzugehen. Die Dame zog eine Braue hoch. Short Round wimmerte vor Schmerzen. Die Dame gab ihm zwei Dollar. »Da, mein Lieber«, sagte sie in vertraulichem Ton. »Weil du so tapfer und ehrlich gewesen bist.« »Danke, Lady«, erwiderte Short Round. Er stopfte die Geldscheine in die Hose, sprang hoch und lief zur Tür hinaus. Die Dame starrte kurze Zeit verwundert vor sich hin, dann achtete sie wieder auf den Film.
Draußen wurde die Nacht lebendig. Papierlampions, Räucherstäbchen, Jongleure, Straßenhändler, Dirnen. Short Round, der sich ganz wie Nick Charles vorkam, ging auf eine Prostituierte zu, die einen Schlitz im Kleid hatte und einen zweiten in ihrem Lächeln. »He, Kleine, hast 'ne Zigarette?« Er zwinkerte ihr zu. Sie wollte etwas erwidern, überlegte es sich, griff in ihre Handtasche, zog einen Streifen Kaugummi heraus und warf ihn Short Round zu. »O Mann!« rief er und steckte die Beute ein. »Danke, Lady!« Er rannte los, bereit für alles. Was für eine tolle Nacht! Für einen Dollar kaufte er einen Kreisel, der eine Melodie spielte und Lichter blinken ließ, während er sich drehte. Drei andere Jungen wollten ihm den Kreisel abnehmen. Er mußte einem davon das Spielzeug auf den Kopf schlagen, als er über einen Zaun kletterte, um zu entkommen. Ende der Jagd; Ende des Spielzeugs. Er hatte nur noch die abgebrochene Kurbel in der Hand. Die warf er in die Gasse hinein, so weit er konnte, und das war ziemlich weit. Eines Tages würde er ein ebenso guter Baseball-Werfer sein wie der große Lefty Grove. Auch Short Round war Linkshänder. Seinen zweiten Dollar gab er einer alten Frau, die bettelnd auf einer Türschwelle saß. Es rührte ihn irgendwie an, wenn er alte Bettler sah, zumal Großmütter. Wichtiger als alles andere war natürlich die Familie. Seine eigene Großmutter lebte zwar nicht mehr, aber wie wäre das gewesen, wenn sie irgendwo an einer Haustür hätte betteln müssen? Daran mußte man immer denken. Die alte Frau verneigte sich vor Short Round; er dankte ihr dafür, daß sie ihm Gelegenheit gegeben hatte, sie zu ehren. Es begann leicht zu regnen. Short Round hastete zu dem Lagerhaus zurück, wo er den Duesenberg abgestellt hatte. An der Rückwand saßen ein paar Männer im Kreis beieinander. Einer von ihnen warf das I Ging. Short Round sah ihm eine Stunde lang zu. Der Mann warf die Schafgarbenhalme für alle Anwesenden, aber als Short Round seinen eigenen Schicksalsweg gelesen haben wollte, lehnte der Mann ab. Short Round machte hinter ein paar Teeballen ein Nickerchen, eingelullt vom fröhlichen Gemurmel einer Gruppe Matrosen, die in einer Wandnische würfelten. Würfel, I Ging - alles dasselbe. Als er wach wurde, sah er ein junges Paar, das sich neben einem anderen Stapel Ballen an der Wand küßte. Er sah den beiden ein paar Minuten zu. Sie schienen sehr glücklich zu sein. Er fragte sich, ob sie Kinder hatten. Durch die Tür hörte Short Round die atmosphärischen Störgeräusche eines alten Radios. Er ging hinüber. Das kleine Gehäuse stand am Boden; das Anschlußkabel führte zur Wand. Davor kauerte ein betrunkener amerikanischer Matrose und stellte das Gerät auf einen fast unhörbaren Sender ein, der geschmuggelte Schallplatten aus Amerika spielte. Über die Wellen drang ein weiteres Abenteuer des >Schattens< durch, der das Böse in den Herzen der Menschen kannte und ihren Geist verwirren konnte. Shorty liebte diese Sendereihe; er hörte sie sich an, wo er konnte. Der Matrose verjagte ihn aber mit Tritten. Offenbar eine Privatvorstellung. Außerdem wurde es schon spät. Er blickte auf die Uhr, die er >gefunden< hatte. Es wurde Zeit. Er ließ den Motor an und fuhr langsam hinaus in den Verkehr. Der Regen hatte aufgehört. Er erreichte den Nachtklub zur vereinbarten Zeit. Von Indy war jedoch nichts zu sehen. Der Türsteher wollte ihn vom Eingang verjagen, aber er gab ihm die Puderdose mit Uhr und erhielt die Erlaubnis, eine Weile zu bleiben, falls er keinen Arger mache. Dann fiel Indy in das Auto. Gemeinsam mit der Dame. »Mann! Heiliger Strohsack! Bruchlandung!« sagte Shorty Round. »Mach schon, Short Round!« wies Indy ihn an. Mit quietschenden Reifen fegten sie in die Nacht von Shanghai. Willie wollte es nicht glauben. »Das ist doch nicht zu fassen! Ein Kind steuert den Wagen ?!« »Keine Sorge, ich habe ihm Fahrstunden gegeben«, gab Indy lässig zurück. »Ah, da ist mir gleich viel wohler«, sagte sie sarkastisch und nickte. Als Short Round um die nächste Kurve jagte, wurde Willie auf Indiana geschleudert. Ohne lange Vorrede griff er in ihren Ausschnitt. »Hören Sie, wir haben uns eben erst kennengelernt«, sagte Willie empört. Was manche Männer sich so einbildeten... »Nur keine falschen Hoffnungen. Wo ist das Gegenmittel?« Es war schwer, dort etwas zu ertasten. Seine Fingerspitzen waren vom Gift schon gefühllos geworden. Sehr schade. Er fand das Glasröhrchen mit der Handfläche, rollte es zu den Fingern, zog es aus ihrem Büstenhalter. Als er den Verschluß abgeschraubt hatte, setzte er es an den Mund und trank es aus. »Äh!« »Sie sehen nicht sehr gut aus.« »Ich vertrage Gift so schlecht.« Er wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ab. »Short Round, bieg rechts ab und fahr zur Wang Pu-Brücke.« »Klar! Kapiert!« rief der Junge. Wenn er am Steuer saß, versuchte er immer wie James Cagney auszusehen.
Indy schaute zum Heckfenster hinaus und sah eine große schwarze Limousine, die sie verfolgte. »Wir scheinen Gesellschaft zu bekommen.« Willie war plötzlich bedrückt. Wenn Lao sie jetzt erwischte, würde er mehr als böse sein. Der Nachtklub war ein Trümmerhaufen, sie hatte den Diamanten verloren, der Junge mußte jeden Augenblick den Wagen an irgendeine Mauer setzen, sie hatte zwei Fingernägel abgebrochen... das war doch der Gipfel! Das hatte gerade noch gefehlt! Alles andere konnte sie verkraften, aber wie sollte man als Sängerin ein Engagement bekommen, wenn man aussah wie... Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der Seitenscheibe. Noch schlimmer als erwartet. In ihre Augen traten Tränen; Tränen des Zorns. »Sehen Sie sich an, was Sie mit mir gemacht haben«, fuhr sie ihn an. »Mein Lippenstift ist verschmiert, ich habe mir zwei Fingernägel abgebrochen und in meinem Strumpf ist eine Laufmasche.« Kugeln durchschlugen die Heckscheibe und überschütteten sie mit Glassplittern. Indy und Willie duckten sich tief; Short Round saß schon zu tief auf seinem Sitz, um von hinten gesehen zu werden. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie größere Probleme haben«, murmelte Indiana und griff nach seiner Schultertasche. Er zog eine Pistole heraus und feuerte durch das zerschossene Fenster. »Da, Shorty!« rief er. »Durch den Tunnel!« Sie fegten heulend durch den dunklen Tunnel. Der Verfolger blieb ihnen auf den Fersen. Seine Scheinwerfer glühten wie Gespensteraugen. »Was sollen wir tun?« schrie Willie. »Wo fahren wir hin?« Erst jetzt ging ihr auf, in welcher Lage sie sich befand. »Zum Flugplatz«, knurrte Indy. »Nein, aufpassen, Shorty! Links, linksl« Er griff nach vorn, legte die Hand auf das Lenkrad und half Short Round beim Steuern. Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Du machst es gut, Kleiner.« Willie sank tiefer in den Sitz. Der Duesenberg erreichte einen Platz, auf dem das Leben pulsierte. Tausende von Händlern, Bettlern, Dirnen, Matrosen, Dieben, Kauflustigen und Kulis mit Rikschas schlenderten im Gewirr von Lampions, Transparenten mit chinesischen Schriftzeichen, Ladenfassaden und Verkaufsständen durcheinander. Alle stoben auseinander, als der Duesenberg vorbeiraste. Ein Teil der Menschen strömte hinter dem Fahrzeug wieder zusammen und versperrte den Weg, als die schwarze Limousine angebraust kam. Sie krachte in voller Fahrt auf einen Gemüsestand, geriet ins Schleudern, prallte an den Randstein und kam in einem Schwarm von Händlern zum Stehen. Indy blickte zum Heckfenster hinaus. »Sieht aus wie Chop Suey, da hinten.« Willie wagte nicht hinauszusehen. Sie holten einen Vorsprung vor dem Verfolger heraus, erreichten die Autostraße, brausten durch die nächtliche Landschaft. »Shorty, bist du am Flugplatz gewesen?« »Sicher, Indy. Mr. Weber haben Plätze für dich, mich und Wu Han.« »Wu Han kommt nicht, Shorty.« Short Round dachte nach. Wu Han konnte nicht davongelaufen sein; er war treu gewesen. Also war er entweder tot, gefangen oder hielt die Bösewichter auf - alles sehr ehrenhafte Beschäftigungen. Auf jeden Fall war es nun allein die Aufgabe von Short Round, ihren gemeinsamen geliebten Kameraden und Seelenfreund zu schützen. »Keine Sorge, Indy«, sagte er. »Short Round jetzt Leibwächter Nummer Eins.« Willie wagte einen Blick nach hinten. In der Ferne bogen zwei winzige Scheinwerfer um eine Kurve und folgten ihnen. »Den freien Platz nehme ich«, sagte sie trocken. Ihre Wahlmöglichkeiten schienen überaus begrenzt zu sein. »Wo fliegen wir eigentlich hin?« »Nach Siam«, sagte Indy, während er nachlud. »Siam?« klagte sie. »Für Siam bin ich nicht angezogen.« Sie hätte sich gern noch ausführlicher beschwert, aber im Augenblick schienen im ganzen Universum keine Götter, Halbgötter oder auch Richter zuhören oder sich interessieren zu wollen, geschweige denn der Verrückte neben ihr. Sie blickte argwöhnisch zu ihm hinüber. Draußen an der Straße huschte ein Schild vorbei: FLUGHAFEN NANG TAO. Die Scheinwerfer hinter ihnen schienen aufzuholen. Nun ja, vielleicht würde doch alles gut werden. In Siam war sie noch nie gewesen... Short Round lenkte den Wagen über eine unbefestigte Auffahrt zum Flugfeld vorbei an einem kleinen Frachtbereich. Auf der Rollbahn liefen die Triebwerke einer Dreimotorigen warm-Der Duesenberg kam mit quietschenden Bremsen auf dem Vorfeld zum Stehen; die drei Insassen sprangen heraus. Short Round trug Indys Schultertasche. Vom Einstieg eilte ihnen der junge Engländer entgegen. »Doktor Jones, ich bin Weber. Ich habe mit Ihrem... Gehilfen gesprochen.« Er sah Short Round von der Seite kurz an und sprach weiter. »Es ist mir gelungen, drei Plätze zu finden. Bedauerlicherweise in einer
Frachtmaschine voller Geflügel.« »Macht er Witze?« fuhr Willie auf. »Madam«, sagte Weber steif, »das war das Beste, was ich bei einer so kurzfristigen -« Er verstummte plötzlich und lächelte. »Guter Gott, sind Sie nicht Willie Scott, die berühmte Sängerin?« Willie war im ersten Augenblick völlig verblüfft und im nächsten bezaubert. Mitten an einem abscheulichen Tag ein Hoffnungsstrahl - ein Fan. »Hm, ja, das bin ich.« Sie wurde rot. »Miß Scott«, sagte Weber eifrig, »Ihre Vorstellungen haben mich hingerissen. Ja, wenn ich das so ausdrücken darf -« Willie wagte schon den Gedanken aufkeimen zu lassen, der Tag sei vielleicht doch nicht völlig verloren, als Jones aber auch wieder dazwischenfahren mußte. »Sie können ja Autogramme geben, Herzchen. Shorty und ich müssen aber leider weg.« Indy und Shorty eilten zum Flugzeug. Willie zögerte noch, entschied sich aber rasch, als sie die schwarze Limousine heranbrausen sah. Mit größter Freundlichkeit und Würde tröstete sie Weber: »Es ist immer schön, einen Fan zu treffen, aber ich muß mich jetzt wirklich beeilen.« Und heiser zu Indy: »Verdammt noch mal, wartet doch auf mich!« Sie rannte auf das Flugzeug zu. Weber winkte. Willie sprang hinein. Die schwarze Limousine kam am Zaun des Frachtbereichs zum Stehen. Lao Tsche sprang heraus, gefolgt von mehreren Männern mit Pistolen. Der Vorfall erregte die Aufmerksamkeit von zwei Flughafenpolizisten, die langsam auf das Auto zugin-gen. Lao Tsche blickte über das Vorfeld zu dem rollenden lugzeug hinüber. Indy salutierte in der Maschine und warf die Frachttür zu. Laos Leute warteten auf Befehle, auf einen Wutausbruch, aber dieser lächelte nur. Als die Maschine zum Start gedreht wurde konnte er auf der bisher abgewandten Rumpfseite deutlich die Beschriftung lesen: LAO TSCHE LUFTFRACHT. Der Pilot sah im Vorbeirollen Lao am Zaun stehen und grüßte seinen Chef. Lao Tsche lachte herzhaft und erwiderte den Gruß. Das Flugzeug hob mit heulenden Motoren ab, eine schwarze Silhouette vor dem orangeroten Schimmer der ersten Morgendämmerung. Sie flogen nach Westen. Willie saß zusammengekauert in ihrem feuchten Quastenkleid und fror, während Dutzende aufgeregter Hühner in Kisten nach ihr hackten. »Wenn ihr nicht aufhört, dreh' ich euch eigenhändig die Hälse um, dann kommt ihr auf den Bratspieß.« Das war nun wirklich zuviel! Das Schlimmste dabei war, daß sie an ihre Jugendzeit auf einer Geflügelfarm in Missouri erinnert wurde. Seitdem hatte sie einen Horror vor Hühnern. Ihre Mutter hatte ihr immer wieder erklärt, hier gehöre sie hin und hier werde sie auch bleiben, selbst wenn sie noch so sehr träume und hoffe. Um von dort wegzukommen, sei ein Wunder nötig, und Wunder, die gäbe es nun einmal nicht. Es war jedoch kein Wunder, daß Willie mit achtzehn Jahren die Schönheitskonkurrenz in der Gegend gewann; sie war einfach das schönste Mädchen weit und breit. Mit dem gewonnen Geld fuhr sie nach New York, um Schauspielerin und Tänzerin zu werden. Dort blieben Wunder aus. Offenbar hatte in New York jede zweite Frau diesen Wunsch. Willie ging also nach Westen. In Chicago geriet sie in schlechte Gesellschaft und mußte überhastet abreisen. Dies schadete ihr in Hollywood, wo ebenfalls kein Mangel an Künstlerinnen zu bemerken war. Das hieß also: Entweder zurück nach Missouri oder weiter nach Westen. Eines wußte Willie aber genau: Wenn es irgendwo mit Gewißheit keine Wunder gab, dann eben in Missouri. Sie begleitete einen elegant gekleideten Mann, der ihr versprach daß der Orient allem offen sei. Das hatte sich auch bewahrheitet: Große Löcher haben das so an sich. Wunder hatte sie auch in Shanghai keine erlebt, aber doch eewisse Erfolge verzeichnen können. Sie hatte sich im kleinen Kreis einen vielversprechenden Ruf erworben, es gab Menschen, die sie immer wieder hören wollten. Sie hatte ein, zwei Verehrer. Sie hatte Aussichten. Das war nun alles vorbei. Statt der Aussichten hatte sie Erinnerungen. Und Hühnerfedern im Mund. Der Geruch war genau wie in Missouri. An der Rückseite des Frachtraums ging eine Tür auf. Indiana Jones trat heraus. Er hatte sich umgezogen. Nun trug er eine alte Lederjacke über einem Khakihemd, Arbeitshose und Arbeitsstiefel, einen grauen Hut mit herabgebogener Krempe, eine Ledertasche über der Schulter, an der Hüfte eine alte Armee-Pistolentasche. Er kam heran, den zusammengerollten Smoking in der einen Hand, in der anderen eine zusammengerollte Viehpeitsche. Er setzte sich zwischen Willie und Shorty, warf den Abendanzug auf den Boden und hängte die Peitsche an einen Kleiderhaken.
»Und was stellen Sie dar, einen Löwenbändiger?« fragte Willie mit höhnischer Belustigung. Die Männer waren wie die Kinder. »Wenn ich schon so freundlich war, Herzchen, Sie mitkommen zu lassen, könnten Sie jetzt doch mal eine Weile den Mund halten, ja?« Er tätschelte lässig ihr Bein. Sie fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Sie nahm seine Hand von ihrem Schenkel. Der Kerl dachte offenkundig immer nur an das Eine, und hier war weder der Ort noch die Zeit, noch er der richtige Mann. Sie hob seine Smoking-Jacke auf. »Ich erfriere noch. Was heißt hier »mitkommen lassend Von Augenblick an, als Sie in den Nachtklub gekommen sind, haben Sie den Bück nicht von mir abwenden können.« Sie ging nach hinten, während sie sich in das Jackett wickelte.»Ach nein?« sagte Indy. Er lächelte, lehnte sich an eine Wand aus Hühnerkisten, schob den Hut über das Gesicht und schlief ein. Die Tür zur Kanzel öffnete sich einen Spalt. Der Kopilot starrte angestrengt in den Frachtraum. Er sah Willie weiter hinten auf einem Quastenkissen schlafen, zusammengerollt in Indys Abendanzug samt weißem Hemd; Indy schlief an Backbord, den Hut auf dem Gesicht, Hühnerfedern auf der Jacke; Shorty schlummerte friedlich neben ihm, angetan mit Leinenschuhen, Baseballmütze, wattierter Hose und zerfranster Kulijacke aus Baumwolle, den Kopf auf Indys Schulter. Der Kopilot blickte hinüber zum Piloten, der eben über Funk Anweisungen von seinem Arbeitgeber erhielt. Der Pilot sah zum Kopiloten hinüber und nickte. Der Kopilot ergriff einen großen Schraubenschlüssel und wog ihn in der Hand, während er Jones betrachtete. Nach kurzer Überlegung legte er den Schraubenschlüssel weg und zog ein Messer aus dem Gürtel. Als der Kopilot zur Tür hinausging, drehte Indiana sich herum. Der Kopilot wich zurück. Der Pilot fluchte auf Chinesisch und gab seinem Begleiter eine Pistole Kaliber 45. Der Kopilot betrachtete die Waffe und erkundigte sich, ob auch die Frau und das Kind dran glauben müßten. Der Pilot nickte. Der Kopilot hatte das Gefühl, das könnte schlechtes Karma bedeuten, und sagte das auch. Der Pilot widersprach heftigst. Man verwies gegenseitig auf die Ahnen. Schließlich ließ der Pilot sich seine Pistole zurückgeben, befahl dem Kopiloten, das Steuer zu übernehmen, und machte sich aur den Weg, um den Auftrag selbst auszuführen. Indiana schlief immer noch fest. Als der Pilot einen Schritt auf ihn zutrat, rollte ein Ei aus einer Kiste hoch oben im Stapel und fiel herunter - fünf Zentimeter tief auf ein Bündel von Stoffetzen, holperte Spitz- über Rundseite ein schräges Brett hinunter, kippte in ein genau ausbalanciertes Nest, kullerte zu einem schmalen Sims hinab, verharrte kurz und stürzte endlich ab Ohne wachzuwerden, ohne einen Muskel mehr als nötig einzusetzen, streckte Indy die Hand aus und fing das Ei auf, bevor es am Boden zerschellte. Indiana Jones war nicht ohne Fehler, aber er hatte ein Gefühl für abstürzende Eier. Es war eine Tat, die den Piloten zum Einhalten brachte. Fassungslos und voller Angst vor diesem gefährlichen Zauberer wich er zwei Schritte zurück und lächelte den Kopiloten einfältig-hilflos an. Sie besprachen den Fall in Ruhe, sie erwogen Vorschläge. Sie hatten ihre Befehle. Trotzdem kamen sie zu dem Schluß, es sei besser, die Dinge den Göttern zu überlassen. Der Pilot betätigte den Hebel, mit dem die Treibstofftanks geleert wurden. Der Kopilot stattete sie beide mit Fallschirmen aus. Dann gingen sie leise durch die Maschine nach hinten. Willie erwachte verschlafen und sah den Kopiloten die Heckbucht betreten und die Vorhänge hinter sich zuziehen. Sie wälzte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, als ihr auffiel, daß auch der Pilot aus der Kanzel kam, nach hinten ging und ebenfalls hinter dem Vorhang verschwand. Das kam ihr merkwürdig vor. So groß war das Flugzeug doch nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß es noch mehr Besatzungsmitglieder geben sollte. Hmm. Keine anderen Leute mehr. »Wer fliegt denn wohl die Maschine?« Sie stand auf, ging nach vorn und steckte den Kopf zur Kanzeltür hinein. Niemand flog die Maschine. Sie schrie auf und warf die Tür zu. »Niemand fliegt die Maschine!« Short Round, stets wachsam, war sofort wach. Indy, von den Nachwirkungen des Giftes noch immer betäubt, schlief weiter. Willie stüzte zum Heck. Sie riß den Vorhang auf. Da standen die beiden einzigen Besatzungsmitglieder mit umgeschnallten Fallschirmen an der offenen Frachttür. "O mein Gott! Nicht weggehen! Hilfe, Indiana! Aufwachen, der Pilot steigt aus!" Shorty rannte zu ihr. Mann! Kein Witz! Der Pilot ließ sie im Stich. Indy öffnete betäubt die Augen. »Sind wir schon da?« Willie war bei ihm und rüttelte ihn wach, schrie ihn an. »Niemand am Steuer... springen... Fallschirme! Tun Sie etwas!« Der Kerl mußte doch für irgend etwas zu gebrauchen sein. Was er da anhatte, war bestimmt eine Fliegerjacke. Er würde die alte Mühle steuern können.
Indiana sprang auf und lief zum offenen Vorhang. Niemand da. Am klaren Himmel schwebten zwei geöffnete Fallschirme. Er stürzte zur Kanzel, gefolgt von Willie. Mit einem Blick hatte er die Situation erfaßt. Er ließ sich selbstsicher auf dem Pilotensitz nieder. Willie hatte vor Dankbarkeit Tränen in den Augen. Sie lachte und nickte. Es gab also doch einen Grund, warum dieser zweifelhafte Doktor existierte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sagte sie: »Sie können fliegen?« Indy sah sich die Instrumente an, drehte an zwei Knöpfen, betätigte einen Schalter, griff nach dem Steuerknüppel. »Nein.« Und mit einem scharfsinnigen Unterton in der Stimme: »Sie etwa?« Willie wurde bleich. Sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Indy grinste schief. »Das war nur Spaß, Herzchen. Ich habe alles unter Kontrolle. Höhenmesser: in Ordnung. Stabilisator: kein Problem. Fluggeschwindigkeit: okay. Treibstoff –« Eine lange Pause. Willie hatte seinen kleinen Witz noch nicht ganz überwunden und war deshalb nicht in der Stimmung für Humor. Aber Indys Schweigen hörte sich ohnehin nicht humorvoll an. »Treibstoff?« sagte Willie. »Treibstoff? Was ist mit dem Treibstoff?« Indiana stand langsam auf. Willie folgte seinem Blick zum Fenster hinaus. Der letzte Motor blieb spuckend stehen. Alle Propeller waren regungslos. Das Flugzeug senkte die Nase nach unten. »Wir haben ein Problem«, sagte Indiana. Er ging an Willie vorbei in den Frachtraum. »Shorty!« Short Round kam atemlos angelaufen. »Ich schon nachsehen, Indy. Keine Fallschirme mehr.« Vielleicht konnten sie sich Flügel wachsen lassen. Der Affengott Wo-Mai hatte den Seidenspinnern Flügel verliehen, damit sie Motten werden und ihrem irdischen Gefängnis entfliehen konnten. Indy begann in allen Spinden zu kramen. In der Kanzel wurde Willie jäh aus ihrer Erstarrung gerissen, als unmittelbar vor der Windschutzscheibe ein schneebedeckter Berggipfel auftauchte. »Indiana!« brüllte sie, weniger als Hilferuf denn als letzten menschlichen Kontakt vor der Vernichtung. Die Götter waren jedoch gut gelaunt. Das Flugzeug verfehlte den Berg knapp, stieß eine Nase voll Schnee vom höchsten 'Gipfel und überwand den Grat um Zentimeter. Willies Herz blieb beinahe stehen. Sie stürzte aus der Kanzel und sah Indy ein großes Bündel gelbes Segeltuch aus einem der Lagerbehälter ziehen. An der Seite war es beschriftet: RETTUNGSSCHLAUCHBOOT. »Sind Sie übergeschnappt?« kreischte sie ihn an. Er beachtete sie nicht. »Hilf mir mal, Shorty«, sagte er zu dem Jungen. Die beiden schleppten das Segeltuchbündel zur offenen Frachtluke, während Willie weiterbrüllte. »Sind Sie wahnsinnig? Ein Schlauchboot! Wir sinken nicht, wir stürzen ab!« »Kommen Sie her, verdammt!« befahl er. »Los, Shorty, halt dich fest an mir!« Short Round umklammerte Indys Hüften von hinten. Der Absturz würde toller werden als alles in dem Film >Wings<, den Shorty viermal gesehen hatte. Willie zögerte einen Augenblick, bevor sie entschied, daß sie doch nicht allein sterben wollte. »Wartet auf mich!« rief ein kleines Mädchen in ihr. Sie riß inrgoldenes Kleid an sich - für alle Fälle war es besser, etwas dabeizuhaben, was man tragen konnte - rannte zu den beiden und schlang die Arme um Indianas Hals, so daß sie und Shorty ihn beide von hinten umarmten. Indy umklammerte das zusammengefaltete Schlauchboot vor sich, während er den heranrasenden Berghang unter ihrem sinkenden Flugzeug beobachtete. Fünf Meter über dem Boden. Drei Meter, weiter Sinkflug. Zweieinhalb. Indy sprang mit aller Kraft hinaus und riß an der Aufblasleine. Short Round schloß die Augen in Erwartung des großen Fluges.
Der heilige Stein Sie kippten aus der Luke. Während das Flugzeug führerlos über die Hänge sauste, blähte das Schlauchboot sich schlagartig dick auf und entfaltete die Wirkung einer Bremsklappe - ein riesiger, aufgeblähter Flugdrachen, von der brausenden Luft getragen, der die drei von Entsetzen erfüllten Seelen über der Ewigkeit baumeln ließ. Short Round legte insgeheim ein Versprechen bei Frau Wind ab, Feng-p'o, dem Himmelswesen, das dafür verantwortlich war, sie drei mit ihren Säcken voll wirbelnder Winde in der Luft zu halten. Hundert Meter von ihnen entfernt kam das Frachtflugzeug auf und explodierte in einer ungeheuren Feuerwolke von Gestein, Stahl und gegrillten Hühnern. Einen Augenblick danach glitt das Schlauchboot an eine Schneewehe, prallte ab, flog erneut, traf wieder auf und begann den natürlich bewachsenen Berghang
hinabzurasen. Indiana hielt sich vorne fest, Willie und Shorty klammerten sich an die Verschnürung. Sie fegten einige Minuten lang den Berg hinab wie ein Bob und fuhren nun endlich schon unterhalb der Baumgrenze. Der Wald war tief verschneit. Willie hob für Sekundenbruchteile den Kopf, bevor sie sich dafür entschied, nicht mehr hinsehen zu wollen. Shorty war verängstigt und zugleich begeistert. Das entsprach genau der vereitelten Flucht in >Eiskreaturen von der Venus<. Aber Indy würde sie durchbringen. Short Round brauchte nicht hinzusehen, um das zu wissen. Indy war einmalig. Sie schnellten über einen schneebedeckten Baumstamm und erhoben sich wieder in die Luft, direkt auf einen großen Baum zu. Indy zerrte wild an der Außenschnur, warf sich auf die Seite, schaffte es irgendwie, das Schlauchboot so zu drehen, daß es an der schneeverwehten Seite des Stammes abprallte; und schon rutschten sie die nächste Böschung hinunter. Die Talfahrt ging weiter. Sie wurden erheblich langsamer, klatschten zuerst durch einen kleinen Bach und rutschten auf Laubboden dahin. Als sie mit nur noch geringer Geschwindigkeit in eine Lichtung einfuhren, endlich kurz vor dem Ende der Strapaze, nutzte Indy die Gelegenheit, die anderen erleichtert anzulächeln. »Indy, du bist der Größte«, sagte Short Round bewundernd. Sogar noch besser als Robin Hood. Indy strahlte Willie an. »Manchmal staune ich sogar über mich selbst.« »Kann ich mir denken«, sagte sie schwach. »Indy!« schrie Short Round. Indy drehte den Kopf, als sie durch Gebüsch krachten und wieder durch die Luft schwebten - über den Rand einer Steil-wippe. Niemand von ihnen blickte hinunter. Sie fielen in einer sanften Parabelkurve, wahrscheinlich nicht sol ange, wie es für sie den Anschein hatte, und landeten schließlich klatschend auf einer breiten Wasserfläche. Wildwasser. Das Schlauchboot wurde auf der Stelle in die tosende Strömung gerissen, rammte Felsblöcke, rotierte über brausenden trudeln, wand sich durch enge Kanäle zwischen scharfkantigen Steinformationen. Sie hielten sich verzweifelt fest, keuchend und Luft ringend, als die Schnellen sie über Wasserfälle hinabrissen, gegen Steinriesen schleuderten, donnernde Kaskaden hinunterwarfen. Jedes Quentchen Kraft wurde dafür gebraucht, sich festzuhalten. Kein Gedanke an Steuern, an Lageveränderung, an Gebete oder Vorwürfe. Nur die Finger um die Schnüre klammern. Dann gab es einen weiten Satz nach vorne, bei dem jedem das Herz stillzustehen schien - und das Schlauchboot schien langsamer zu werden. Es trieb aus der Hauptströmung hinaus zu einem stillen Seitenarm, einer Art kleiner Flußbucht. Die drei mitgenommenen Passagiere blieben regungslos 'am Boden des Schlauchboots liegen. Short Round, zerschlagen und erschöpft, hob den Kopf ein wenig, um sich zu vergewissern, daß seinem Helden nichts zugestoßen war. »Indy?« Indiana hustete kurz. »Okay, Shorty. Mir fehlt nichts.« Willie stöhnte. Sie war, wie die anderen auch, bis auf die Haut durchnäßt, die Haare hingen wirr herab, ihre Kleidung tropfte. Sie durfte gar nicht daran denken, wie sie aussah. »Alles in Ordnung?« fragte Indiana. »Nein.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich bin für dieses Leben nicht geschaffen.« War aber nett, mich zu fragen, dachte sie. »Wo sind wir überhaupt?« Das Schlauchboot kam am Ufer sanft zum Stillstand - genauer gesagt, vor einem Paar schwarzer Beine am Ufer. Indy starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Sonne hinauf, um festzustellen, wer zu den Beinen gehörte. »Indien«, flüsterte er. »Menschenkind«, entfuhr es Willie. »Indien? Woher wissen Sie, daß wir in -« Sie wälzte sich herum und starrte in das fremde, runzlige Gesicht eines alten Mannes, der nur aus Haut und Knochen bestand. Sie schnappte nach Luft. Der Mann trug ein zerfetztes Gewand, und um seinen Hals hing eine Kette aus fremdartigen Kugeln. Er sah aus wie ein Medizinmann. Ein unheimlicher Wind erhob sich heulend und umtobte siePlötzlich legte der alte Mann die Handflächen zusammen -Willie zuckte zusammen - und hob die Hände an die Stirn. Willie und Short Round verfolgten fassungslos, wie Indiana den Gruß des Schamanen auf gleiche Weise erwiderte. Sie waren zu Fuß unterwegs, der Schamane und vier Männer mit Turbanen, gefolgt von Indy, der seine Viehpeitsche trug, Short Round mit Indys Tasche und Willie, die ihr Abendkleid und die hochhackigen Schuhe mitnahm. Sie gingen auf einem ausgetretenen, felsigen Pfad über öde, leicht geschwungene Hügel. Hier und dort
wucherte verkümmertes Gebüsch, ab und zu tauchte ein Baum ohne Früchte auf. Die Luft roch staubig. Short Round lief eifrig hinter Indy her und brauchte drei Schritte für je zwei von diesem. Es war nicht leicht, den Fußstapfen eines solchen Mannes zu folgen, aber Short Round war der Aufgabe gewachsen, weil er Indy liebte. Indy hatte Freundschaft mit ihm geschlossen, als niemand ihm zur Seite gestanden, ihm vertraut, als er kein Vertrauen verdient hatte. Und Indy würde ihn nach Amerika mitnehmen. Jetzt waren sie auf dem Weg dorthin. Short Round konnte es kaum glauben. Amerika, wo jeder Mensch Schuhe und Hut trug, wo man in Autos fuhr, zu tanzen verstand, gut schoß, Witze riß, bei jedem Spiel sein Bestes gab, zu seinem Wort stand, großartig aussah, klug redete, fein aß, Risiken einging, die sich auszahlten - dahin ging Short Round. Er gedachte, Indy hartnäckig zu bewachen, bis sie dort waren. Wenn Indy dann keinen Leibwächter mehr brauchte, wollte Short Round nur noch Indys Sohn sein. Er konnte sich um Indy weiter kümmern, ohne jeden Tag zur Arbeit fahren zu müssen. Das einzige Problem bei diesem Plan war, daß man eine Mutter brauchen würde, wenn Indy Shortys Vater wurde. Wie Yin zu Yang gehörte. Wie Nick Charles Nora hatte, Fred Astaire seine Ginger Rogers. Robin Hood und Marian. Clark Gable und Jean Harlow. Hsienpo und Jing-t'ai. -Beim Gedanken an diese benei-denswerten und unsterblichen Paare warf Short Round sein Auge auf Willie und sah sie in einem neuen Licht. Für Indy war sie vielleicht gerade richtig. Hübsch genug war sie. Bis jetzt hatte sie sich gut gehalten. Als Mama mochte sie in Ordnung sein. Sie und Indy konnten ihn dann adoptieren, und sie würden zu dritt im Twentieth Century Limited-Fernzug leben und auf den Schienen nach New York hin- und zurückfahren. Das sollte ein schönes Leben werden. Short Round hielt es für angebracht, sie als Bewerberin ernsthaft zu prüfen. Inzwischen verspürte Willie enorme Erleichterung darüber, noch lebendig zu sein, wenn auch im großen trostlosen Nirgendwo. In der vergangenen Nacht hätte sie ebensogut mehrmals in einem großen trostlosen Nirgendwo tot sein können. Am Leben zu sein war unendlich viel besser. Sie fühlte den warmen Fels an ihren Fußsohlen, die heiße Sonne in ihrem Gesicht, die enge Verbundenheit mit ihrem eigenen Dasein. Sie fühlte sich hungrig. Ob Indy in seiner Tragetasche oder in der Jacke wohl etwas zu essen hatte? Sie ging schneller, um ihn einzuholen, und stellte fest, daß er mit dem Schamanen sprach. Eigentlich der Schamane mit ihm. »Mama okej enakan bala. Gena hitijey.« Indy beherrschte diesen Dialekt nicht gerade fließend, aber er verstand ihn. >Ich habe es in einem Traum gesehen. Ich sah das Flugzeug am Fluß vom Himmel fallen. Ich sah es im Traum.< Der alte Mann sagte es immer wieder. Willie kam an sie heran und lauschte. »Was sagt er?« fragte sie. »Sie haben mich erwartet«, erwiderte Indy. Es schien ihm rätselhaft. »Was heißt das? Wie denn?« »Der alte Mann sah es in einem Traum.« »Traum«, bemerkte sie abfällig. »Er meint wohl Alptraum.« Indy kniff die Augen zusammen. »Er sagte, sie hätten am Fluß darauf gewartet, daß die Maschine abstürzt.« Eine verwirrende Behauptung. Willie schüttelte den Kopf. »Und wo war ich? Auch in dem Traum?« Indiana lächelte sie an. Diese Schauspielerinnen, dachte er. Er wußte aber nicht mehr als sie. Spekulationen schienen nicht viel Sinn zu haben. Also lief er eben weiter voran. Willie sprach weiter, um ihre aufkeimende Unruhe zu bekämpfen. »Das ist alles? Was für ein Ende hatte der Traum denn? Wie kommen wir hier wieder heraus? Wann essen wir? Ich komme um vor Hunger. Was wird aus mir?« Der felsige Boden ging allmählich in ausgedörrten Lehm über. Bald hüllte sie ein heißer Wind in Staubwirbel ein. Aus dem Lehm wurde eine dünne Krume, rissig und unfruchtbar. Und schließlich erreichten sie am Fuß der verwüsteten Berge das Dorf. Mayapore. Wie der Boden ausgelaugt und armselig. Sie gingen auf einem ausgedörrten Weg durch den Ort. Er wirkte elend. Zerlumpte Dorfbewohner standen zu dritt oder viert in Gruppen und beobachteten die Fremden, als sie vorbeigeführt wurden. Die Gesichter drückten Hoffnungslosigkeit aus. Frauen zogen Eimer aus vertrockneten Brunnen und fanden nur Sand. Räudige Hunde liefen geduckt zwischen Hütten aus bröckelndem Lehm, grobem Verputz und Zweigen. Geduldig hockten Geier in vereinzelten dürren Bäumen. Dies war schlimmer als nur eine Dürre, das war eine Leichenwache. Indiana fiel auf, daß mehrere Dorfbewohner Short Round anstarrten und auf ihn zeigten. Ein paar hagere Frauen schienen zu weinen, vergossen aber keine Tränen. Ihre Körper waren zu ausgemergelt. Indy zog Shorty
näher zu sich heran, denn die en weckten seine Sorge um den Jungen. Plötzlich begriff er den Grund: Es gab keine Kinder im Dorf. Short Round bemerkte es auch. Die Aufmerksamkeit, die man ihm zollte, erschreckte ihn. Er sorgte sich um Indianas Sicherheit, jetzt als sein Leibwächter. Er trat näher heran, um seinen alten Freund im Auge zu behalten, während die Elendsgestalten sie mit den Augen verfolgten. Man führte sie in ein kleines Gebäude aus Stein. Am Boden lagen drei Strohsäcke. Da es keine Fenster gab, war es um eine Spur kühler als im Freien. »Schlaft jetzt«, sagte der Schamane. »Eure Reise hat euch müde gemacht. Später werden wir essen und reden. Aber zuerst schlaft ihr.« Er ließ sie allein, ohne noch ein Wort zu sagen. Indy dolmetschte für seine Begleiter. »Aber ich habe solchen Hunger«, wimmerte Willie. »Versuchen Sie, im Schlaf Lammkoteletts zu zählen«, empfahl Indy und legte sich auf den Boden. Bald schliefen sie alle. Wolken voller schwarzer Asche verdunkelten den blutroten Sonnenuntergang. Indiana, Willie und Short Round saßen verkrampft auf halb zerbrochenen Stühlen in einer Hütte mit Schilfdach, aber ohne Wände. Es gab nur Steinbogen, durch die der abendliche Wind hereinblies. Ein halbes Dutzend Stammesälteste saßen in ihren Silhouetten erkennbar auf dem Lehmboden, außerdem einige Männer und Frauen und in ihrer Mitte der Dorfhäuptling, ein uralter, weißhaariger Mann. Sein Gesicht war von der Qual des Schicksals seiner Stammesangehörigen gezeichnet. Der Häuptling erteilte Befehle. Drei Frauen huschten herein und stellten Holzschalen vor die Besucher. Die anderen bekamen nichts. Willie blickte erwartungsvoll. »Ich hoffe sehr, daß es jetzt Abendessen gibt.« »Estudai. Estudai«, sagte Indiana zu den Frauen. Danke. Während er es sagte, schöpften die Frauen die Speise in die Holzschüsseln. Es war ein grauer Brei mit gelbem Reis und einem Stück schimmliger Obstschale. Willie starrte das Essen verzweifelt an. »Das kann ich nicht essen.« »Das ist mehr, als diese Leute in einer ganzen Woche bekommen«, erklärte Indy. »Sie sind kurz vor dem Verhungern.« »Das sehe ich«, gab sie scharf zurück. »Ich begreife nur nicht, was es nützen soll, wenn ich ihnen das auch noch wegnehme. Noch dazu wird mir schon übel, wenn ich es nur sehe.« Sie hatte den Appetit ganz verloren. Wie konnte sie diesen armen Men-schen die karge Mahlzeit wegnehmen? So schlimm war es auf der Farm in Missouri nie gewesen. Trotzdem .weckten diese ausgemergelten Gesichter unerfreuliche Erinnerungen. Willie wünschte sich weit fort. »Essen Sie!« befahl Indy. »Ich habe keinen Hunger.« Die Dorfältesten beobachteten sie. Indy setzte ein verbissenes Lächeln auf. »Sie beleidigen sie und bringen mich in Verlegenheit. Essen Sie!« Jones in Verlegenheit zu bringen, hätte ihr nicht so sehr viel ausgemacht, aber die Armut des Dorfes wollte sie nicht auch noch beleidigen. Sie aß. Sie aßen alle. Der Häuptling lächelte befriedigt. »Ruht euch hier aus, bevor ihr weiterzieht«, sagte er auf Englisch. »Dafür wären wir dankbar.« Indiana nickte. Der Häuptling sprach also Englisch. Die Briten mußten einmal in der Nähe gewesen sein. »Wir nicht ruhen«, erklärte Short Round mit seiner hohen Stimme. »Indy mich bringen nach Amerika. Wir jetzt gehen. Wir gehen Amerika.« Er wollte nur klarstellen, daß das hier die Hauptsache war und als solche verstanden wurde, bevor irgend jemand mit einer anderen Idee daherkam. »Wir gehen nach Amerika«, verbesserte Willie. Bis jetzt hatte sie einfach noch nicht gewagt, darüber nachzudenken, aber auf einmal schien das eine überaus gute Idee zu sein. Vielleicht nach »Amerika. Amerika.« Der Häuptling nickte, obwohl er nur gaqnz undeutlich begriff. "Reg die ab, Kleiner",sagte Indy zu Shorty und setzte ihm seine Mütze auf. Er wandte sich an den Häuptling. »Könnt ihr uns einen Führer nach Delhi mitgeben? Ich bin Professor und muß an meine Universität zurück.« .»Ja. Sajnu wird euch begleiten.« »Danke.« Der Schamane ergriff das Wort. »Auf dem Weg nach Delhi besucht ihr Pankot.« Das hone sich so an, als sei es schon beschlossene Sache, als berichte er nur von Dingen, die bereits feststanden. Indiana bemerkte den Wechsel im Tonfall. »Pankot liegt nicht auf dem Weg nach Delhi«, wandte er bedächtig ein. »Dort geht ihr zum Pankot-Palast«, fuhr der Schamane fort, als hätte Indy nichts gesagt. Indy versuchte es anders. »Ich dachte, der Palast steht seit 1857 leer.« »Nein«, widersprach der Schamane ruhig. »Es gibt einen neuen Maharadscha, und der Palast hat wieder das
dunkle Licht. Es ist wie vor hundert Jahren. Dieser Ort ist es, der mein Dorf tötet.« Indy hatte Mühe zu folgen. »Ich verstehe nicht. Was ist hier geschehen?« Der Schamane sprach langsam und deutlich, als wolle er sich einem Kind verständlich machen. »Das Böse entsteht in Pankot. Dann zieht es wie die Monsunregen seine Dunkelheit über das ganze Land.« »Das Böse. Welches Böse?« fragte Indy. Er war sich bewußt, daß der Schamane zwei Ebenen zugleich ansprach, aber sie blieben nicht fest, sondern verschoben sich ständig ineinander. Indy kam es vor, als müsse er durch zerbrochenes Glas beobachten. Short Round gefiel die Wendung des Gesprächs ganz und gar nicht. »Schlechte Nachricht. Du hören auf Short Round, länger leben.« Vor allem mißfiel ihm das Interesse, das Indy für das Thema bekundete. Mit dem Bösen durfte man sich nicht einlassen. Das Böse scherte sich nicht darum, ob man zielsicher schießen oder schnell laufen konnte. Der Schamane sprach weiter. »Sie sind vom Palast gekommen und haben Sivalinga aus unserem Dorf geholt.« »Was geholt?« warf Willie ein. Auch sie war aufmerksam geworden. Hier entwickelte sich ein Drama, ganz wie ein düsteres Bühnenstück. Sie hatte das Gefühl, für eine der Rollen vorgesehen zu sein. »Einen Stein«, erwidert« Indy. »Einen heiligen Stein aus dem Schrein, der das Dorf schützt.« »Deshalb hat Krischna euch hergebracht.« Der Schamane nickte. Indy wollte das nicht auf sich beruhen lassen. »Nein. Wir sind nicht hergebracht worden. Unser Flugzeug ist abgestürzt.« Short Round stimmte dieser Erklärung zu. Er sagte: »Wumm!« und ließ die Finger einer Hand in die andere Handfläche hinab-flattem, damit diese einfachen Menschen ihn leichter verstehen konnten. Indy setzte zu einer weiteren Erläuterung an. »Nach der Sabotage durch -« »Nein«, sagte der Schamane wie ein geduldiger Lehrer zu seinem begriffsstutzigen Schüler. »Wir beten zu Krischna, uns bei der Suche nach dem Stein zu helfen. Es war Krischna, der euch vom Himmel hat fallen lassen. Ihr werdet also zum Pankot-Palast gehen, Sivalinga finden und ihn uns zurückbringen.« Indiana wollte Einwände erheben. Dann sah er sich den trau-rigen, flehenden Häuptling ebenso an wie die hungernden Dorfbewohner und die gequälten Ältesten. Alle beobachteten ihn hilflos. Und er blickte wieder in die tiefgründigen, bannenden Augen des Schamanen. Es wurde dunkel. Sie standen alle auf. Der Häuptling ging voran zum Rand des Dorfes, begleitet von Dorfbewohnern, Ältesten und Gästen. Überall loderten Fackeln wie Furiengeister, Hunde heulten klagend. Die Sterne schienen weit fort zu sein. Sie näherten sich einem haushohen Felsblock, in den ein kleiner, kuppelförmiger Altar gehauen war. Shorty ging nah neben Indiana, verwirrt und ängstlich. »Indy, sie haben abstürzen lassen unser Flugzeug?« flüsterte er. »Damit du herkommen?« »Das ist nur Aberglaube, Shorty«, versicherte er dem Jungen. »Nur eine Gespenstergeschichte. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.« Short Round war keineswegs beruhigt. Er kannte Gespenstergeschichten - Märchen von Bergdämonen und alten wandernden Geistern; Geschichten, die seine Brüder in der Nacht vor ihrem Verschwinden erzählt hatten; Geschichten, die er auf der Straße gehört hatte, nachdem seine ganze Familie verschwunden war, wohl selber entführt von Donnerkobolden; Geschichten aus den dunklen Gassen und den Winkeln von Bars; Geschichten, die nachts lebendig wurden, wenn die Geister hervorkrochen. Shorty sprach ein stummes Bittgebet an den Gott der Gespenstertür, der wandernde Geister daran hinderte, unsere Welt zu betreten... oder sie durchließ. Als die Gruppe die in den Stein gehauene Nische erreichte, vollführte der Schamane eine Geste der Anbetung. Short Round kletterte am Felsen hoch, um in den primitiven Schrein zu starren. Nur, um sich zu vergewissern, daß dort keine Geister lauerten, die Indy gefährlich werden konnten. Indiana zog ihn aber auf den Boden herunter und sah ihn mahnend an. »Sie haben den Sivalinga von hier weggenommen?« fragte Indy den Häuptling. »Ja.« Indiana sah sich die kleine Nische an. Sie war leer, aber eine Vertiefung in ihrem Boden zeigte die Kegelform des Steins an, der dort gelegen hatte. Die Form war ihm vertraut. »War der Stein sehr glatt?« »Ja.« Der Schamane nickte. »Er stammte aus dem Heiligen Fluß?« »Ja. Er wurde vor langer Zeit hierhergebracht, vor meines Vaters Vater.« »Mit drei Querlinien.« Indy sah ihn vor sich. »Ja, das ist richtig.« »Für die drei Stufen des Alls«, fuhr Indy fort. Die Illusion weltlicher Materie, die Wirklichkeit des
transzendentalen Geistes die Einheit von Raum, Zeit und Stoff. Es war kraftvolle Mythologie, die vitale Talismane schuf. »Ich habe solche Steine gesehen. Aber warum sollte der Maharadscha diesen Heiligen Stein von hier fortnehmen?« Willie starrte über Indys Schulter in den leeren Schrein. Shorty hielt sich an ihrem Bein fest. Der Schamane sagte scharf: »Sie sagen, wir müssen zu ihrem bösen Gott beten. Wir antworten, daß wir das nicht tun werden.« Ein blitzendes Feuer flackerte unter dem Tränenfilm seiner Augen auf. Willie sagte leise: »Ich verstehe nicht, wie der Verlust des Steins das Dorf vernichten konnte.« Der Schamane wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Er versuchte zu sprechen, fand aber die richtigen Worte auf Englisch nicht. Langsam berichtete er in seiner eigenen Sprache, um sein Herz ein wenig zu erleichtern. »Sive linge nathi unata...« Indy übersetzte leise für die anderen. >Als der Heilige Stein genommen wurde, trockneten die Brunnen aus. Dann wurde der Fluß zu Sand.< Er sah den Schamanen an. »Idorajak?« sagte er. Das hieß >Dürre<. »Na!« rief der Schamane. »Gos Kolan maha polawa...« wieder übersetzte Indiana die Hindisprache. >Unsere Ernten wurden verschluckt von der Erde, und die Tiere legten sich auf den Boden und zerfielen zu Staub. In einer Nacht gab es auf den Feldern einen Brand. Die Männer gingen hinaus, um ihn zu löschen. Als sie zurückkamen, hörten sie die Frauen in der Dunkelheit weinen. Lamai.< »Lamai«, wiederholte Willie, die aufmerksam zuhörte. »Die Kinder«, flüsterte Indy. »Er sagt, sie haben die Kinder gestohlen.« Der Schamane ging zum Rand des Fackelscheins und starrte hinaus in die Dunkelheit. Willie hätte am liebsten geweint. Short Round apürte, wie ihn eine Kälte überkam. Er trat näher an Indy heran. Indy fand keine Worte. Der Schamane seufzte tief, kam in den Lichtkreis zurück und sah Indy an. »Du wirst unsere Kinder finden, wenn du Sivalinga findest.« Indy mußte sich räuspern, bevor er sprechen konnte. »Es tut mir leid. Ich weiß aber nicht, wie ich euch helfen kann.« Er wollte es nicht wissen. Das Ganze hatte etwas Tödliches. Er kam sich vor wie am Rand eines Mahlstroms. Der Schamane und der Häuptling starrten gebannt in Indianas Augen. Sie weigerten sich, seine Ablehnung hinzunehmen. Ihre Augen waren die des Dorfes, die Seele eines sterbenden Stammes. Indy brachte weitere Einwände vor. »Die englischen Behörden, die hier zu bestimmen haben, sind die einzigen, die euch helfen können.« »Sie hören nicht auf uns«, sagte der Häuptling monoton. »Ich habe Freunde in Delhi und werde dafür sorgen, daß sie der Sache nachgehen.« »Nein, ihr werdet nach Pankot gehen«, erklärte der Schamane. Er wiederholte die Worte mehrmals in seiner eigenen Sprache. Mit jeder monotonen Wiederholung ließ Indys Widerstand weiter nach. Er spürte, daß sein Wille sich neu formte, wie die Ufer eines Stroms sich unter den reißenden Wassern des Monsuns unweigerlich verändern. Der Strom bleibt derselbe, aber sein Lauf liegt nun woanders. Der Schamane sprach weiter in der Sprache seines Volkes. »Was sagt er jetzt?« erkundigte sich Willie. Indy erwiderte heiser: »Er sagt, es sei Bestimmung, daß ich hierhergekommen bin. Er sagt, ich werde das Böse erkennen. Das Böse sieht mich hier bereits und weiß, daß ich komme. Das ist meine Bestimmung, und die Zukunft läßt sich nicht verändern. Er sagt, ich kann diese Zukunft nicht sehen. Es ist allein meine Reise.« Short Round und Willie staunten Indy von der Geschichte gebannt an. Indy starrte verwirrt auf den Schamanen. In den Augen des einen spiegelte sich der jeweils andere. Die drei lagen in ihrer Hütte und versuchten zu schlafen. Vergeb-lich Bilder suchten sie heim: Kinder, die verschwanden, Tiere, die sich in Staub verwandelten, absolute Leere; rote Flammen, schwarze Seelen. Indy hatte genügend dunkle Gegenden des Erdballs erforscht, um zu wissen, daß jeder Glaube seinen eigenen Einflußbereich hatte; jede Magie herrschte dort, wo sie entstanden war. Und hier war Magie am Werk und übte einen Einfluß auf ihn aus, den er bis jetzt nur schwer bestimmen konnte. Aber verdrängen konnte er beides nicht, sondern bestenfalls in den Schatten seines Halbschlafs damit ringen. Willie wollte nichts anderes als von hier fort sein. Sie haßte diese Gegend, den Schmutz, die hungrigen Menschen, die Spannung in der Luft. Es war wie vor einem Tornado zu Hause. Kurz bevor das Dach einstürzte. Sie hielt es hier nicht mehr aus. Short Round hatte ein schlechtes Gefühl, ein sehr schlechtes sogar. Diese Leute unterwarfen Indy einem Zauber und fesselten seinen Geist, so daß sein Körper folgen mußte. Short Round hatte solche Geschichten von Seeleuten gehört, die auf den Philippinen oder auf Haiti gewesen waren; die endeten selten gut. Er würde nun unaufhörlich wachsam sein müssen, um Indy vor inneren Bedrohungen ebenso zu schützen wie vor äußeren. Er würde mehr sein müssen als ein Leibwächter; er hatte auch ein Seelenwächter zu sein. Auch die Dame war nicht ungefährdet, wie er spürte. An ihrem Schatten nagten Geister. Er konnte sie aus den
Augenwin-keln wahrnehmen; sie verschwanden nur, wenn er den Kopf wehte, um sie direkt zu sehen. Short Round würde also auch auf sie achtgeben müssen. Wer sollte sonst Indys Frau werden, sobald sie von diesem unheimlichen, verdorrten Ort entkommen waren? Er rief Huan-t'ien an, den Höchsten Herrn des Dunklen Himmels, der im Nordhimmel lebte und böse Geister verjagte. Erst wenn er das getan hatte, würde er schlafen können. Endlich schlief auch Indy. In einem Traum kam etwas zu ihm. Es kam aus der Dunkelheit herangestürmt. In dessen Innersten hauste Entsetzen; Zweige zerkratzten sein Gesicht. Der Atem dieses Etwas ging schwer unter dem vollen Mond. Der Wind stöhnte es vorwärts, es flog aus dem schwarzen Nichts der Nacht hinein in Indys gepeinigtes, schlafendes Gehirn... Er öffnete die Augen. Was war das? Er hatte etwas gehört das wußte er. Da rannte etwas, brach durch das Unterholz Langsam setzte er sich auf und lauschte. Short Round und Willie schliefen gleich daneben. Aber irgend etwas Unheimliches war im Gange. Indy spürte es. Er stand auf, ging zur Tür der Hütte, trat hinaus. Der Wind wurde stärker. Der Mond glich einer ockerfarbenen Münze. Da: drüben links im Gebüsch ein Rascheln und Knacken. Indy drehte sich um. Es knisterte in den Zweigen. Plötzlich tauchte aus dem Unterholz ein Kind auf und rannte geradewegs auf ihn zu. Indy ging in die Hocke. Das Kind fiel bewußtlos in seine Arme. Es war ein Junge von sieben oder acht Jahren, völlig abgemagert, in ein paar Lumpen gekleidet. Sein Rücken trug die Spuren einer Peitsche. Indiana rief um Hilfe, trug das Kind in seine Hütte und legte es auf die Decke. Wenige Minuten danach hatten sich alle Dorfältesten um den Jungen versammelt. Ja, sagten sie, das sei ein Kind aus ihrem Dorf. Der Schamane drückte einen nassen Lappen über der Stirn des Jungen aus, träufelte Flüssigkeit in dessen Mund und sprach ein paar heilende Worte. Die Augenlider des Kindes zuckten und öffneten sich. Es starrte die vielen fremden und vertrauten Gesichter an, die zu ihm hinunterblickten - schaute sich um, bis es Indiana entdeckte. Der Arm des Jungen bewegte sich schwach, hob sich und griff nach Indiana und keinem anderen. Indy nahm die kleine Hand mit der seinen. Er konnte sehen, daß die dunkelhäutigen, zarten Finger völlig zerschunden waren; sie umklammerten etwas. Langsam erschlaffte die.Faust des Kleinen. Die Finger ließen etwas in Indys Hand fallen. Der Junge versuchte zu flüstern. Indiana beugte sich tief hinunter , um zu lauschen, während sich die Lippen des Kindes bewegten. Es war nur ein Hauch. Seine Mutter kam hereingestürzt. Sie war rasch verständigt worden. Sie kniete nieder, nahm den Jungen in die Arme und preßte ihn schluchzend an sich. Willie und Short Round sahen mit großen Augen sprachlos zu. Indy richtete sich auf und betrachtete, was der Kleine ihm gegeben hatte. Es war ein kleines, zerfetztes Stück Stoff, abgerissen von einem alten Miniaturgemälde. Indiana erkannte es. »Sankara«, murmelte er.
Der Pankot-Palast Die Morgendämmerung brach früh an. Indy ging mit raschen Schritten durch das Dorf und hörte sich fetzte Hinweise und Bitten der Dorfbewohner an, die neben ihm hertrabten, um Schritt zu halten. Am Dorfrand warteten zwei große Elefanten. . Sajnu, ihr Führer, versuchte höflich, Willie zu einem der Tiere zu zerren. Sie wehrte sich höflich. , »Verdammt noch mal, Willie, los jetzt! Wir müssen uns auf dm Weg machen!« Na gut, gut, er hat recht, dachte sie. Das ist wirklich albern. Wir müssen fort, und das sind gezähmte Tiere. Große, unbere-chenbare, gelegentlich in Wildheit ausbrechende Haustiere. Außerdem gibt es hier kein anderes Beförderungsmittel. Na gut. Sie hätte ihren Platz im Leben nicht erreicht, wenn sie ein Pflänzchen gewesen wäre. Plötzlich tauchte die Frage auf, was sie eigentlich erreicht hatte. Sie war in Mayapore in Indien. Darüber wollte sie ungern länger nachdenken. Sie atmete tief ein und ließ sich von Sajnu auf den Elefantenrücken »Brr! Ganz ruhig. Braver Elefant«, besänftigte sie ihn, stocksteif zwischen den Elefantenschultern sitzend, ihre Miene eine Mischung zwischen Würde und Entsetzen. Das goldene Kleid hielt sie immer noch in den Händen. Short Round stand neben dem zweiten Elefanten und sah Indy herankommen. Er lief mit strahlendem Gesicht auf den Professor zu. »Ich mit dir reiten, Indy?« »Nee, dort drüben wartet eine kleine Überraschung auf dich, Shorty.« Short Round lief um den großen Leitelefanten herum und sah, daß man ein Elefantenbaby heranführte. Genau seine Größe! Er wagte kaum an sein unfaßbares Glück zu glauben. Was für ein Abenteuer! Was für ein hübscher Rüssel! Was für ein liebes Tier! »O Mann!« schrie er und sprang, unterstützt vom zweiten Führer, hinauf. Er wußte genau, wie man das machte. Das hatte er von >Tarzan< gelernt. Die Elefanten in diesem Film waren enge Freunde von Tarzan; für Short Round würden sie es auch sein.
Jane war ebenfalls eine enge Freundin von Tarzan gewesen. Short Round bedachte, in welcher Beziehung Willie sich mit Jane vergleichen ließ, was Männer anging. Er hoffte, daß Willie mit Indy besser zurechtkam als mit Elefanten. Sajnu führte Willies Tier zu Short Round. Sie hatte ihre erste Angst überwunden, verrenkte sich und rutschte nun aber hin und her, vergeblich in ihrem Streben nach der richtigen Sitzhal-tung. Als ihr Reittier neben dem von Shorty stand, wurden die Elefanten von beiden Führern aus dem Dorf geleitet. Willie unterbrach ihre Bemühungen lange genug, um die leid-vollen Gesichter der Dorfbewohner wahrzunehmen. Manche Menschen weinten sogar, was Willie tief betroffen machte. »Das ist das erste Mal, daß jemand weint, wenn ich fortgehe", vertraute sie Short Round an. .. »Sie nicht um dich weinen«, versicherte er. »Sie weinen, weil Elefanten weggehen.« Das mußte es sein. Die Elefanten waren großartig. »Kann sein«, gab Willie schmollend zu. "Sie kein Futter für sie haben. Darum sie geben Elefanten weg und verkaufen. Indy sagen.« Willie hörte den dritten Elefanten hinter sich und drehte sich ganz herum. Indy kam auf seinem Elefantenbullen angeschwankt. Die Stoßzähne des Tieres waren überaus lang. »Willie, rutschen Sie nicht dauernd herum«, rügte er. Short Round kicherte. »Lady, haben Gehirn verkehrt. Dort China, diese Richtung Pankot.« Pankot? dachte sie. Indiana rief zu Willies Führer hinunter: »Sajnu, imanadu.« Und Sajnu schrie zu Willie hinauf: »Aijo nona, oja pata ne-mei!« Dann brüllte er ihren Elefanten an. »Augenblick, Augenblick, ich sitze noch nicht bequem«, rief sie. »Indiana, so kann ich nicht bis Delhi reiten.« »Wir reiten nicht nach Delhi«, sagte Indiana mit ruhiger »Nicht nach Delhi!« kreischte sie. Panik ergriff sie. »He, Moment mal!« Sie blickte flehend auf die Dorfbewohner hinunter. »Kann mich nicht jemand nach Delhi bringen? Ich will nicht nach Pankot!« »Gut, gehen wir«, rief Indy zu den Führern hinunter. »Ich möchte vor morgen abend dort sein.« Sajnu führte Willies Elefanten. Das Ungeheuer setzte sich schwankend in Bewegung. Die Dorfbewohner winkten ihr freundlich nach, wünschten ihr viel Erfolg und dankten ihr für ihren Mut. »Indiana!« brüllte sie den Urheber dieser Verschwörung an. Verdammt, warum haben Sie es sich anders überlegt? Was hat Ihnen der Kleine gestem nacht gesagt?" Er beachtete sie überhaupt nicht. Die Elefanten trotteten inmitten von Schwärmen zerlumpter Dorfbewohner. In ihrer Mitte sah Willie den Häuptling und den alten Schamanen. Der Weise führte die aneinandergelegten Hände zur Stirn, als die Kolonne loszog. Sie kamen langsam, aber stetig voran. Mit jeder Stunde rückten die fernen Berge näher. Die Landschaft hier war karg, wenn auch bei weitem nicht so trostlos wie in der unmittelbaren Umgebung des Dorfs. Hohes Gras wuchs überall, gemischt mit kurzen verkrüppelten Bäumen. Ab und zu konnte man einen kleinen Vierbeiner davonhuschen sehen. Short Round machte bei seinem Elefanten unaufhörlich neue Entdeckungen. Die dünnen, wolligen Haare, die senkrecht auf seinem Schädel standen, waren stachlig wie bei einem Kugelfisch; die Haut war überall rauh, nur nicht an der Unterseite des Bauchs, der glatt war wie ein Kuheuter; und wenn er die Knochenwülste über den Brauen streichelte, gab der kleine Elefant einen hochzufriedenen, ulkigen Huplaut von sich. Er teilte Shorty mit, er heiße zufällig Big Short Round. Willie hatte sich mit ihrem Tier gewissermaßen geeinigt, dazu allerdings eine Sprache verwendet, die man nicht eben als vornehm bezeichnen konnte. Trotzdem waren sie zu einer An gegenseitigem Einvernehmen gelangt. Der Elefant bewegte sich so, wie er wollte, und Willie zählte ihm aus Rache alle möglichen Verwendungszwecke seiner dereinst sterblichen Elefantenüberreste, zum Beispiel Leim oder Schmierseife, auf. Am frühen Nachmittag brannte die Sonne erbarmungslos hernieder. Sie stapften durch Gegenden, die zunehmend grüner wurden. Sie sahen viele Banyanbäume, Kletterfeigen, Laubboden, träge Flüsse. Und es wurde immer feuchter und schwüler. Willie blickte angewidert an sich hinunter. Sie trug immer noch Indys weites Smokinghemd, das inzwischen klebrig von Schweiß und verschmutzt von Laub und Staub war. Seine Hose schien an der Sitzfläche fast durchgescheuert zu sein. Die weiße Jacke hatte sie um die Taille gebunden. Wie konnte sie so tief gesunken sein? Womit hatte sie das eigentlich verdient? Sie betrachtete ihr zusammengeknülltes Quastenkleid. Noch gestern war sie eine echte Dame gewesen. Sie nahm sich plötzlich zusammen. Hör auf damit, Willie, hör endlich auf. Eine Dame zu sein ist ein Geisteszustand, und es gibt überhaupt keinen Grund, warum ich nicht auch hier auf diesem gottverlassenen Untier eine Dame sein kann. Sie zog ein Fläschchen französisches Parfüm aus der Innentasche ihres ehemals so schönen Kleids und begann sich hoheitsvoll hinter den Ohren damit zu betupfen.
Es zeigte sich aber bald, daß sie nicht als einzige unter der Hitze litt. Sie blickte zwischen ihren Beinen auf das Tier hinunter und murmelte: »Ich glaube, du brauchst das nötiger als ich.« Sie beugte sich vor und betupfte den Elefanten hinter den Ohren mit dem Duftwasser. Sie mußte sich dazu weit hinabbeugen; der Geruch des Elefanten war überwältigend. Willie verzog das Gesicht, wandte sich ab und kippte den halben Inhalt der Flasche über den Rücken des Tiers. Der Elefant war aufgebracht. Er schwang den Rüssel über den Kopf, schnupperte kurz an dem fremden Duft und trompetete angewidert. Willie ärgerte sich. »Worüber beklagst du dich denn? Das ist sündteures Zeug!« Der Elefant stöhnte nur und trottete weiter. Indy döste im Verlauf des Tages immer wieder vor sich hin, während Short Round ein endloses Gespräch mit Big Short Round führte. Am späten Nachmittag veränderte sich die Landschaftsform erneut; sie gelangten in den niederen Dschungel. Die Umgebung hier war üppiggrün und dampfte. Das Pflanzendach hing dreißig Meter über ihnen, so dicht, daß kaum die Sonne hindurchfunkelte. Die Luft selbst schien eine goldgrüne Färbung anzunehmen. Riesige Gummibäume gab es zuhauf, Überwuchert mit Moosen und Lianen. Dazwischen standen überall exotische Obstbäume, Farne, Palmen und Weiden. Sie verfolgten einen Weg, den man aber nicht immer genau erkennen konnte. Immer wieder mußte einer der Führer einen herabgestürzten Ast wegräumen oder Ranken durchhacken. Und überall ertönten allerlei Geräusche. Willie hatte noch nie so viele unbekannte Laute gehört: Zirpen, Keckem, Knurren, Kreischen, Klackern. Manche jagten ihr Schauer über den Rük-ken. Sie fluchte halblaut und klammerte sich fester an ihren Elefanten, als ihr lieb war. Manchmal fiel es einfach sehr schwer eine Dame zu bleiben, sagt: sie sich. Leicht war es dagegen, ein kleiner Junge zu sein. Short Round nahm mit Augen und Ohren auf, was sich bot, als sei das alles Teil eines großen Spiels, eigens für ihn ausgedacht. Er hielt sich manchmal wie ein König, manchmal wie ein Hündchen - vergaß aber nie, in Abständen zu Indy hinüberzublicken. Seine Verantwortung als Leibwächter Nummer Eins verlangte stete Wachsamkeit. Für kurze Zeit donnerte und blitzte es, aber kein Regen fiel. Für Short Round war das ein schlechtes Zeichen. Es bedeutete, daß Lei-Kung, der Herr des Donners, und Tien-Mu, die Mutter der Blitze, ohne Grund miteinander kämpften. Aus einem solchen Streit konnte nichts Gutes entstehen. Lei-Kung war furchtbar anzusehen: eulenschnabelig, mit Krallen an seinem blauen, aber sonst menschlichen Körper. Er verbarg sich mit Vorliebe in den Wolken und hieb, wenn jemand in die Nähe kam, mit einem Holzschlegel auf die Trommel. Tien-Mu erzeugte Blitze mit Hilfe von zwei Spiegeln, aber wenn sie sich ärgerte, richtete sie einen davon auf Lei-Kung, damit er sein Abbild sehe und entsetzt sei. Dann hieb er lauter auf die Trommel. Aber der Auseinandersetzung entsprang kein Regen, nur der trockene Zorn dieser beiden Alten. Short Round richtete ein Bittgebet an das Himmlische Ministerium für Donner und Wind und ersuchte darum, eine höhere Autorität möge eingreifen, wer immer das auch sei. Schließlich hörte der Streit auf. Short Round blieb jedoch wachsam. Als er einmal an einem überhängenden Zweig etwas entdeckte, stellte er sich schwankend auf den Rücken des Elefantenbabys und griff hinauf. Es war eine runde Frucht. Er pflückte sie vorn Zweig und ließ sich wieder auf sein Reittier fallen. Er hielt die Frucht geschickt zwischen den beiden ersten Fingern und dem Daumen und drehte ein paarmal rasch das Handgelenk. Ganz wie Lefty Grove, der Baseballspieler. »Du kommen mit mir nach Amerika, und wir kriegen Job in Zirkus«, erklärte er Big Short. »Du mögen?« Seitdem er den Charlie Chaplin-Film über den Zirkus gesehen hatte, wollte Short Round dort arbeiten. Der Rüssel des Kleinelefanten krümmte sich nach hinten, pflückte Short Round die Frucht aus der Hand und versenkte sie mit einem genießerischen Schmatzlaut im Maul. Short Round verstand das so, daß sein Elefant den Film auch gesehen hatte. Sie kamen an einen seichten Fluß. Sajnu rief zu Indy etwas hinauf, Indy nickte. Sajnu drehte sich um und führte die kleine Kolonne an dem breiten, knietiefen Gewässer entlang. Shortys Elefant kam an erster Stelle, dann Indys und schließlich Willies Tier. Dreißig Meter flußaufwärts hörte Shorty ein seltsames Geräusch und verfolgte es hinauf bis in die Baumwipfel. »Indy, schau!« rief er. Indy und Willie blickten hinauf und sahen Hunderte riesiger fliegender Geschöpfe am dunkelnden Himmel flattern. »Was für große Vögel«, sagte Willie. Sie fand sie interessant. Sajnu sagte etwas zu Indy. Der Professor nickte. »Das sind keine großen Vögel«, sagte er zu Willie. »Das sind Riesenfledermäuse.« Short Round krümmte sich zusammen. >Dracula< hatte er zweimal gesehen, wußte also, was Fledermäuse bedeuten konnten.
Willie schauderte ebenfalls und duckte sich unwillkürlich tiefer auf ihr Reittier. Leider brachte sie das wieder näher heran, als ihrer Nase dies behagte. Sie schnitt eine Grimasse und murmelte: »Schätzchen, diese Dschungelhitze tut dir gar nicht gut«, und schüttete den Rest des Parfüms über den Elefantenrücken. die erfreuliche Wirkung zeigte sich augenblicklich. Es war der Duft von Zivilisation. Er rief die Erinnerung an Nachtlokale und reiche Gönner wach, an elegante Garderobe und Seidenkis-sen. Wdlie war plötzlich froh, am Leben zu sein, Riesenfledermäuse hin, Riesenfledermäuse her. und sie begann laut und fröhlich zu singen: "In old days a glimpse of stocking was looked on as some-thing shocking; now, heaven knows, anything goes!« Indy war überrascht, sie hier draußen so singen zu hören. Er mußte lachen. Am liebsten hätte er mitgesungen, obwohl er kaum Liedertexte kannte und seine Summe alles andere als wohl. tönend war. Nichtsdestoweniger begann er hinauszubrüllen: »Oh, give me a home, where the buffalo roam, where the deer and the antelope play.« Short Round empfand das als unbeherrscht. Ein Gesangsspiel, bei dem jeder sein Lieblingslied so laut wie möglich sang. Auf der Stelle fiel er in den Gesang ein: »>Die goldne Sonne geht auf und scheint im grünen Wald, scheint in der ganzen Stadt Shanghai.<« Und Willie sang noch lauter: »>Good authors, too, who once knew better words, now only use four-letter words writing prose, anything goes.<« »>Where seldom is heard a discouraging word, and the skies are not cloudy all day.<« »Die Stadt Shanghai, ich liebe die Stadt, ich liebe die Sonne.« »>The world has gone mad today, und good's bad today, and black's white today, and day's night today.« »Home, home on the range.« Dann sang Shorty bei Indy mit, weil er dieses Lied auch mochte: »Where the deer and the antelope play.« Aber er sang den Text auf chinesisch. Sie sangen alle, so laut sie konnten, durcheinander, wollten einander übertönen, wollten das unglaubliche Glück feiern, am Leben zu sein und in diesem Augenblick und an diesem Ort singen zu können. Für Willies Elefant war das zuviel des Guten. Zuerst dieser grauenhafte, fremdartige Gestank, nun dieses quälende Ge-krächze; beides zusammen war einfach unerträglich. Das Tier blieb plötzlich stehen, tauchte den Rüssel in den Fluß, den sie eben durchquerten, saugte ungefähr achtzig Liter Wasser ein krümmte den Rüssel über den Kopf nach hinten und dusch Willie mit einem kräftigen Strahl gründlich ab. Sie flog herunter und landete klatschend im Wasser. Short Round lachte unbändig und zeigte auf sie hinunter. »Sehr lustig!« rief er glucksend. »Sehr lustig, ganz naß!« Auch für Willie war das zuviel. Wie ein übermüdetes Kind, das Schläge bekam, weil es zu angestrengt gespielt hatte, wurde sie zwischen Wut und Tränen der Enttäuschung hin und her gerissen. Sie war naß und schmutzig und hungrig und am Ende ihrer Kraft. Genug war einfach genug. »In Shanghai bin ich glücklich gewesen«, zischte sie, ohne sich länger im Zaum zu halten. »Ich hatte ein kleines Haus mit Garten. Meine Freunde waren reich. Ich ging zu Festen und wurde in Limousinen gefahren. Ich hasse das Leben im Freien. Ich bin Sängerin, keine Naturfreundin! Ich könnte meine Stimme verlieren!« Short Rounds Augen wurden groß, während er sie beobachtete. »Dame wirklich zornig«, sagte er. Indiana blickte sich um, stellte fest, wie tief die Sonne stand, wie die Abenddämmerung vordrang, und kam zu einem Entschluß. »Ich glaube, hier schlagen wir am besten unser Lager auf.« Eigentlich waren sie ja alle ein bißchen erschöpft. Sonnenuntergang. Die drei Elefanten tauchten an einer tiefen Stelle im Fluß bis zur Brust ins Wasser. In ihrer Nähe watete Indy ohne Hemd und bespritzte die müden Tiere. Sajnu tat dasselbe von der anderen Seite. Short Round spielte lachend mit dem Elefantenbaby. Der Elefant wickelte den Rüssel um ihn, schwang ihn in die Luft und drehte ihn auf den Rücken. Shorty tauchte ins Wasser, und wenn er heraufkam, verabreichte ihm der Elefant eine Dusche. Die beiden paßten altersmäßig gut zueinander. Dreißig Meter flußaufwärts schwamm Willie gemächlich in Bucht. Sie tauchte zum kühlen Grund hinab, drehte sich langsam, erschlaffte, tauchte auf, strich sich die Haare aus den Augen, trieb auf dem Rücken dahin, summte zufrieden, beobachtete die Muster im Laub über sich. Sie brauchte das. Ihr Leben war innerhalb der letzten beiden Tage auf den Kopf gestellt worden. Alles hatte sich prächtig angelassen, bis dieser Kerl in den Nachtklub gekommen war und... Eigentlich war er ja wohl gar nicht so schlimm, dachte sie, falls man einen solchen Typen mochte, aber sie verspürte nicht das unwiderstehliche Bedürfnis, ihm in ihrem Leben einen besonderen Platz einzuräumen.
Zum einen war er Akademiker, nach allen geltenden Regeln also schlecht bei Kasse. Zum zweiten hatte er sich offensichtlich zwar in sie verknallt, sagte aber nie ein nettes Wort, bemühte sich nie, ihr irgend etwas Gutes zu tun, zeigte nie Mitgefühl für sie und benahm sich ganz allgemein nie wie ein Gentleman. Ein durch und durch eigensüchtiger, herrischer Grobian. Zu was war er eigentlich nütze? Immerhin, er war nett zu dem Kleinen. Das war ein Punkt. Zu ihr war in ihrer Kindheit nie jemand nett gewesen, und es tat ihr wohl, wenn sie sah, daß der Junge gut behandelt wurde. Das ausgehungerte Kind gestern nacht im Dorf hatte ihn auch tief angerührt, das war zu sehen gewesen. Nun gut, er konnte mit Kindern umgehen. Was noch? Nun, er hatte ihr Kopf und Kragen gerettet, als im Nachtklub die Hölle losgebrochen war, und ein zweites Mal im Flugzeug. Allerdings sprach viel dafür, daß alle diese Dinge gar nicht geschehen wären, wenn er sie nicht ausgelöst hätte. Oder vielleicht doch. Darum ging es beim Karma; die Inder schienen kaum ein anderes Thema zu kennen. Die Chinesen freilich auch, jedenfalls bei manchen Abendgesellschaften, bei denen sie eingeladen war. Apropos Abendgesellschaften: Sie mußten von der nächsten mindestens tausend Meilen entfernt sein. >When every night the set that's smart is intrudin' in nudist parties in Studios, any-thing goes.< Seine Augen, gewiß; das war das Beste an ihm. Sie fragte sich, wie sie, ganz aus der Nähe, wirklich aussehe mochten. . Sie tauchte wieder unter, ließ sich vom kühlen Wasser erfri schen und die Verspannung in ihren Muskeln lösen. Nun ja, es würde sich schon alles finden. Das war immer so, wenn man nur nicht aufgab. Aber trotzdem: Tausend Meilen vom nächsten Paar Seiden-strümpfe entfernt. Indiana ging, angetan mit der tropfenden Hose, am Ufer entlang. Er wollte sich vergewissern, daß Willie nichts zugestoßen war. Nicht, daß er an eine Gefahr geglaubt hätte. Sie war eine Dame mit Courage, soviel stand fest. Sie hatte allerlei erlebt und sah am Ende vielleicht nicht immer blendend aus, aber sie stand alles durch. Sie war hier nur nicht in ihrem Element, das war alles. Sie war eine Großstadtpflanze. Er hätte sie nicht derartig unter Druck gesetzt, wenn er nicht geglaubt hätte, ihr das zumuten zu dürfen. Er fühlte sich manchmal geradezu gehalten, dies zu tun. Sie konnte einem so gründlich auf die Nerven fallen. Immerhin, man durfte das einem Menschen nicht verdenken, wenn er ganz offensichtlich litt. Die Frage war nur, ob sie das immer so lautstark zur Kenntnis geben mußte. Vielleicht lag das daran, daß sie Sängerin war. Auf jeden Fall stand fest, daß man sich hier draußen um sie kümmern mußte. Das arme Ding hatte sich offensichtlich Hals über Kopf in ihn verliebt. Aus diesem Grund hielt er es für angebracht, nach ihr zu sehen und sich zu vergewissern, daß sie nicht von Moskitos davongetragen wurde. Er stieß auf ihre trocknenden Kleidungsstücke an einem Ast, der tief über dem Wasser hing. Einen Augenblick später sah er Willie nicht weit davon entfernt schwimmen - gewissermaßen völlig unbehindert. Der Anblick ließ seinen Mund ein wenig trocken werden. »He, Willie«, rief er. »Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber herauskommen. Sein Plötzliches Auftauchen erschreckte sie, aber sie gewann ihre Fassung rasch zurück. Solche Vorfälle hatte sie hundertmal erlebt. "Splitternackt? "sagte sie gleichmütig. »Das möchten Sie wohl?" "Los, Zeit zum Abtrocknen.« »Geschenkt«, gab sie zurück. »Doktor Jones, wenn Sie versuchen, mich zu verführen, ist das ein sehr primitives Verfahren.« Man brauchte nur einmal anständig sein zu wollen, schon bekam man die Quittung. »Ich Sie verführen? Liebe Dame, ausgezogen haben Sie sich selbst.« Er zog mit größter Interesselosigkeit die Schultern hoch. »Ich bin nur herübergekommen, um Sie daran zu erinnern, daß man nie weiß, was da noch alles im Wasser schwimmt.« Obwohl sie mitten im Nirgendwo waren, vielleicht zehntausend Meilen von Cole Porter entfernt, stand für Willie fest, daß dies überaus vertrautes Terrain war. »Irgendwie fühle ich mich hier sicherer«, meinte sie lächelnd. »Wie Sie wollen«, sagte er mit einer Geste absoluter Gleichgültigkeit. Er drehte sich um und ging zum Lager zurück, ein ganz klein wenig beleidigt. Während sie trotz ihres weltstädtischen Pfiffs sich irgendwie darüber ärgerte, daß er nicht länger geblieben war. Die Nacht im Urwald fiel rasch ein. Das Lagerfeuer verbreitete warmes, orangerotes Licht, aber unmittelbar außerhalb des Feuerscheins waren die Schatten schwarz, verhüllend, unnachgiebig. Sajnu fütterte die Elefanten. Die anderen Führer unterhielten sich leise. Willie wand, in eine Decke gehüllt, am Feuer ihre noch immer nassen Sachen aus. In dieser Treibhausatmosphäre ging das mit dem Trocknen nicht so schnell. Sie ließ halb mit Absicht Wasser auf Indys Rücken tröpfeln, der mit Short Round Poker spielte. Dann trug sie alles zu einem niedrig hängenden Ast, um es über Nacht zum Trocknen aufzuhängen. Indiana warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts und spielte weiter.
»Was du haben?« fragte Short Round ernsthaft. »Zwei Sechsen.« »Drei Asse. Ich gewinnen.« Der Junge grinste. »Noch zwei Spiele, ich haben dein ganzes Geld.« Shorty warf die Karten hin. Indy teilte aus. Willie, die ihre Kleidung auf dem Ast zusammenlegte, blickte kurz hinüber. »Wo haben Sie Ihren kleinen Leibwächter gefunden?« fragte »Ich habe ihn nicht gefunden, sondern eingefangen«, erwiderte Jones und griff nach seinen Karten. »Was?« sagte sie, während sie ein paar von den größeren Stücken anders aufhängte. »Seine Eltern kamen um, als Shanghai bombardiert wurde. Shorty ist seit seinem vierten Lebensjahr auf der Straße. Ich erwischte ihn, als er meine Tasche leeren wollte.« Willie griff nach dem letzten Kleidungsstück auf dem Ast unter ihr. Sie wickelte eine Riesenfledermaus aus. Sie stieß einen Schrei aus, bei dem die Köpfe aller herumfuhren, ausgenommen der von Indy, der nur zusammenzuckte. Sie sprang von der flügel- und krallenschlagenden, zischenden Fledermaus zurück, hinein in einen großen Farnwedel, wo sie sich einem bösartigen Pavian gegenübersah. Seine Schnauze war rosa-und dunkelrot. Er fauchte Willie ergrimmt an. Sie kreischte wieder, so daß der Pavian die Flucht ergriff. Sie stieß rückwärts an einen dunklen Felsbrocken, wo ein großer Leguan hockte und nach ihr schnappte. Short Round machte sich keine großen Sorgen mehr, nachdem die Fledermaus weggeflogen war, aber er bot erneut dem Gott der Gespenstertür einen Dollar (auf Kredit) an, ebenso Dr. van Helsing und allen anderen Beschützern vor Dracula. Willie hatte bedauerlicherweise keine derartigen Beschützer. Alles, was sie hatte, war, daß ihre schlimmsten Befürchtungen gegenüber Mutter Natur eingetroffen waren. Während ihres folgenden hysterischen Anfalls gab sich Indy aus Versehen eine vierte Karte. Short Round bemerkte es und begann sich zu ärgern. Willie suchte wie besessen die Umgebung des Lagers ab. In Abständen stieß sie Schreckenslaute aus. "Das Problem mit ihr ist der Lärm«, murrte Indy. Er versuchte sich auf seine Karten zu konzentrieren. "Ich nehmen zwei«, sagte Short Round gepreßt. Indy nickte. »Ich drei.« »He, du haben vier genommen«, protestierte Shorty. »Nein, ich habe nicht vier genommen.« Indy war empört. »Doktor Jones betrügen«, beschuldigte ihn Short Round. »Ich habe keine genommen, aber ich glaube, du hast eine geklaut«, gab Indy zurück. Willie stieß wieder einen schrillen Schrei aus, als es irgendwo raschelte. Sie trat mit dem Fuß nach einem leeren Gebüsch. »Du mir zehn Cents schulden«, sagte Shorty. »Du bezahlen. Gleich bezahlen.« Indy warf verärgert die Karten hin. ' »Ich mag nicht mehr spielen.« »Ich auch nicht.« »Und ich bringe dir nichts mehr bei.« »Mir egal. Du betrügen. Ich aufhören.« Er griff nach den Karten und stolzierte davon, wobei er Chinesisches vor sich hinmurmelte. Willie wich rückwärts bis zu Indiana zurück, der noch am Feuer saß. Sie starrte wild in alle Richtungen. »Wir sind völlig umzingelt!« stieß sie hervor. »Hier wimmelt es von Lebewesen.« Sie schauderte. »Deshalb spricht man vom Dschungel«, sagte er trocken. »Was lauert dort draußen noch?« flüsterte sie. Er sah sie an und lächelte. Willie. Ein komischer Name. Er ließ ihn auf der Zunge zergehen. »Willie. Willie. Ist das eine Abkürzung?« Sie wurde ein bißchen steif. Sie dachte nicht daran, sich lächerlich machen zu lassen. »Willie ist mein Bühnenname - Indiana.« Sie legte die Betonung auf ana. Short Round, der in der Nähe seines Elefanten schmollte, sprang Indy bei. »He, Lady, Sie Doktor Jones sagen.« Sie gab sich ein wenig zu vertraut für jemand, den Short Round noch nicht offiziell als Ziel für Indys Werbung anerkannt hatte. . 70 Willie und Indy lächelten. Er schnippte zehn Cents zu Shorty hinüber, um Frieden zu schließen, dann sah er Willie an. »Das ist mein Bühnenname.« Er drehte sich ein wenig herum. »Wie sind Sie eigentlich in Shanghai gelandet?« »Meine Gesangskarriere geriet unter die Räder der Wirtschaftskrise«, sagte sie dumpf. »Ein Kerl hat mir eingeredet, ein Mädchen könnte es im Orient zu etwas bringen.«
Er breitete neben dem Feuer eine Decke aus und legte sich hin. »Show business, wie? Noch andere Ambitionen?« »Bis morgen am Leben zu bleiben«, sagte sie grollend. »Und danach?« Sie lächelte innerlich. »Ich werde mir einen gutaussehenden, unfaßbar reichen Prinzen anlachen.« »So einen würde ich auch gern ausgraben«, meinte er. »Vielleicht haben wir doch etwas gemeinsam.« »Wie?« »Ich mag meine Prinzen reich und tot und am besten schon seit zweitausend Jahren begraben. Reichtum und Ruhm. Sie wissen, was ich meine.« Er zog ein Stück Stoff aus der Tasche und faltete es vorsichtig auseinander. Es war der Fetzen, den ihm vergangene Nacht in Mayapore das Kind gegeben hatte. Willie saß neben ihm und starrte es an. »Schleppen Sie uns deshalb zu diesem verlassenen Palast? Um Reichtum und Ruhm zu finden?« Er zeigte ihr das altertümliche Stück. »Das gehört zu einem alten Manuskript. Dieses Piktogramm stellt Sankara dar, einen Priester. Es ist Hunderte von Jahren alt. Vorsichtig!« Sie griff danach, um es sich genauer anzusehen. Es war ein primitives Bild, gemalt in verblaßten Rot-, Goldund Blautönen. Einfach faszinierend. Willie war angerührt von seiner Geschichte, seiner inneren Weisheit. Shorty kam ebenfalls herübergeschlendert, um es sich anzusehen. Sie begannen alle beide echtes Interesse zu zeigen, angeregt von Indys ehrfürchtigem Tonfall. Sogar das Elefantenbaby wurde aufmerksam, Es trottete herüber zu Willie und legte den Rüssel auf ihre Schulter. Sie zuckte heftig zusammen, dann schob sie den Rüssel unwillig weg und beugte sich wieder über das Piktogramm. »Ist das eine Art Schrift?« »Ja, Sanskrit«, sagte Indy. »Ein Teil der Legende von Sankara. Er besteigt den Kaiisa-Berg, wo er Shiwa trifft, den Hindugott.« Der Elefant hängte wieder seinen Rüssel über Willies Schulter; erneut streifte sie ihn ab. »Hör endlich auf«, fuhr sie ihn an. Zu Indy sagte sie: »Das ist Shiwa, wie? Was gibt er da dem Priester?« »Steine. Er beauftragte ihn, hinzugehen und das Böse zu bekämpfen. Um ihm zu helfen, gab er ihm fünf heilige Steine, die magische Eigenschaften besaßen.« Der Elefant stieß Willie wieder an. Ihre Geduld näherte sich rasch dem Ende. »Magische Steine. Mein Großvater lief sein ganzes Leben mit einem Kaninchen in der Rocktasche und Tauben auf den Ärmeln herum. Er machte viele Kinder glücklich und starb als armer Mann. Magische Steine. Reichtum und Ruhm. Gute Nacht, Doktor Jones.« Sie gab ihm den Stoff zurück und ging zum Rand der Lichtung, wo sie ihre Decke ausbreitete. »Wo gehen Sie hin?« fragte Indy. »Ich würde hier in der Nähe schlafen. Zur Sicherheit.« Er beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Sie begann ihm unter die Haut zu gehen. Er bemühte sich, sie nicht anzusehen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Willie wollte seinen Blick ebenfalls nicht erwidern. Konnte er nicht ehrlich sein, was seine Gefühle anging, Himmel noch mal? Sie hatte einfach kein Vertrauen zu Männern, die nicht offen erkennen ließen, was sie wollten. »Doktor Jones, ich glaube, ich wäre weniger gefährdet, wenn ich mit einer Schlange schliefe.« In diesem Augenblick schob sich eine Riesenpython von dem Baum hinter ihr herab und schlängelte sich über ihre Schulter. Short Round war entsetzt. Bei Indy war es noch ärger. Indy hatte eine Heidenangst vor Schlangen. Er wußte nicht warum, und es kümmerte ihn auch nicht. Er wußte nur, daß von allen Wesen, die es je gegeben hatte, geben oder auch nicht geben mochte, Schlangen die einzigen waren, bei deren Anblick er Blut schwitzte, zu frösteln begann und am liebsten davonrannte. Willie dagegen glaubte, das sei immer noch das Elefantenbaby. Sie verlor die Geduld, griff hinter sich, ohne hinzusehen, packte die Schlange und schleuderte sie weg. »Aufhören, hab' ich gesagt!« Indy wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Er schwitzte. Willie bückte sich, um ihre Decke glattzustreichen. Die Schlange glitt davon. »Ich hasse diesen Dschungel«, murmelte Willie. »Ich hasse diese Elefanten. Ich hasse diese Schlafgelegenheit.« In der Nähe huschte ein Bengaltiger ungesehen durch das Dickicht und verschwand. Indy setzte sich für einige Sekunden auf einen Felsblock und atmete mehrmals tief ein, dann stand er auf und begann Holz fürs Feuer nachzulegen. Viel Holz. Am nächsten Morgen brachen sie das Lager früh ab, um voranzukommen, bevor es heiß wurde. Tropenwinde
rüttelten an den obersten Ranken, während die Elefanten durch das Unterholz stapften. Die Luft war erfüllt vom Geschrei der Tiere. Allerdings klang es nicht mehr so bedrohlich wie während der Nacht. Es erinnerte Willie an einen großen, schlecht geführten Zoo. Short Round führte wieder Gespräche mit Big Short Round, immer stärker davon überzeugt, daß der Geist seines verlorenen Bruders Tschu, der vom Rad der Seelenwanderung erfaßt worden war, ein Heim im Körper dieses großen Babys gefunden hatte. Zum einen war Tschu selbst rundlich gewesen, was zu einer Inkarnation als Elefant gut paßte, zum anderen hatte Tschu stets gute Laune gezeigt wie dieses Tier hier auch. Und schließlich war Tschu mit dem Kosenamen Buddha belegt worden, nicht «lein seiner Rundlichkeit und guten Laune wegen, sondern auch Wegen der beträchtlichen Größe seiner Ohrläppchen - auf die Ohrengröße des jungen Elefanten brauchte man nicht näher einzugehen. So besprach Short Round Dinge mit Big Short Round, die nur Tschu hätte verstehen und für wichtig halten können - Familienangelegenheiten, Entschuldigungen für lange schwelende Auseinandersetzungen über derart wichtige Fragen wie die, ob Jimmy Foxx oder Lou Gehrig der bessere Schluß-Schlagmann sei - und zu Shortys großer Erleichterung konnte der Elefant ihn zu allen diesen Fragen beruhigen. Sie waren gerade bei einer neuen Debatte und erwogen, was sie in Amerika alles sehen würden, wenn sie gemeinsam zum Zirkus gingen, als sie über eine Anhöhe kamen und in der Ferne den Palast sahen. Aus prachtvollem, beinahe schillerndem weißen Alabaster ragte er am Bergkamm aus dem Dschungelteppich hervor wie eine perfekt geformte Perle auf einem Meer aus grüner Jade. »Indy, schau!« stieß Short Round hervor. »Das ist Pankot.« Er nickte. Sie starrten ihn alle eine ganze Minute lang stumm an, dann ritten sie weiter. Erst geraume Zeit nach Mittag erreichten sie die ersten Vorberge, die zum Palast hinaufreichten. Sie wollten gerade zum ersten niedrigen Paß ansetzen, als Sajnu die Elefanten mit einem Befehl zum Stehen brachte und nach vorne lief. »Navath thana.« Seine Stimme klang angstvoll. Indy sprang von seinem Reittier und ging nach vorn zu dem Führer. Als er näherkam, sah er, daß Sajnu etwas anstarrte und immer wieder dieselben Worte hervorstieß. »Winasajak. Maha winasajak.« Eine Katastrophe, eine große Katastrophe. Indy tippte ihm auf die Schulter. Er rannte zu den anderen Führern zurück und redete stammelnd auf sie ein. Indy konnte jetzt erkennen, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Es war eine kleine Statue, die den Weg bewachte, eine Göttin mit acht Armen. Eine bösartige Gottheit, die eine geschnitzte Halskette aus kleinen Menschenköpfen trug. An jeder ihrer Hände baumelte an den Haaren festgehalten ein weiterer Menschenkopf. Sie zeigte eine furchterregende Grimasse. Überdies war sie mit rituellen Gegenständen geschmückt: Laub, tote Vögel, Nagetiere, Schildkröten. Um die Hüften trug sie einen Gurt aus echten, abgehackten Menschenfingern. Indy kehrte zu der Gruppe zurück. Willie und Short Round stiegen eben ab. »Warum halten wir hier?« fragte Willie. »Was du ansehen, Indy?« wollte Short Round wissen. Vielleicht einen Schatz, den Tschao-pao entdecken konnte. Indy sprach jedoch mit den aufgeregten Führern. Sajnu schüttelte unablässig den Kopf und drehte die Elefanten herum. »Anej behe mahattaja«, sagte er immer wieder. Die Führer begannen die Elefanten mit schnellen Schritten wegzuführen. Willie erschrak. Sie lief ihnen ein paar Schritte nach und schrie: »Nein, nein, nein! Indy, sie stehlen unsere Reittiere!« »Von hier aus gehen wir zu Fuß", sagte Indy. Es hatte keinen Zweck, Eingeborene zu zwingen, dorthin zu gehen, wohin sie nicht gehen wollten. Das verschlimmerte alles nur noch. »Nein!« sagte sie schmollend. Nach dem ganzen Ärger von gestern hatte sie sich eben an die großen, häßlichen Untiere gewöhnt. Short Round sah die Elefanten davonstapfen. Sein großer, rundlicher Freund drehte sich nach ihm um. »Elefantenbaby!« rief Shorty. Konnte es sein, daß nach all den Jahren sein geliebter Bruder Tschu zurückgekehrt war, nur um zwei Tage zu bleiben und dann wieder fortzugehen? Warte! Das ist nicht fair! Was wird aus dem Zirkus? Aber vielleicht war er nur zurückgekommen, um die Mei-fungsverschiedenheiten aus der Welt zu schaffen, die Jahre zuvor in Shanghai ungeklärt geblieben waren. Vielleicht war es jetzt, da alles friedlich beigelegt war, Zeit für Tschu, wieder zu gehen. Es fiel nur Round schwer, sich damit abzufinden oder es auch zu ergründen, aber so schien es nun einmal zu sein. Lächelte Tschu jetzt nicht sogar, als er Abschied nahm? Short Round winkte der verlorenen, wiedergefundenen Seele zu. Sein kleiner Freund trompetete, schwenkte
die Ohren, wedelte mit dem Rüssel und trottete davon. Short Round gab sich große Mühe, nicht zu weinen. Indy ging zu dem Götterabbild zurück und betrachtete es gründlich. Short Round rief ihm zu: »Doktor Jones, was du ansehen?« Ein Schatz war nur ein schwacher Trost für einen zweimal verlorenen Bruder, aber immerhin ein Trost. »Nicht herkommen!« rief Indy. Er wollte nicht, daß die beiden das sahen, vor allem Short Round nicht. Es war ein bösartiges Totem, voll okkulter Macht. Bestenfalls konnte es grauenhafte Träume hervorrufen; schlimmstenfalls... Indy sah keinen Sinn darin, Short Round einer derartigen Scheußlichkeit auszusetzen - Willie übrigens auch nicht. Er fühlte auch ihr gegenüber einen gewissen Beschützerinstinkt. Er stand auf und kehrte zu seinen Freunden zurück. »Wir gehen zu Fuß weiter.« Am späten Nachmittag erreichten sie eine steingepflasterte Straße, die an einer hohen Steinmauer entlangführte. Willie humpelte ein paar Meter hinter den anderen her, die hochhackigen Schuhe in der Hand. Sie schwitzte, war zerzaust und murrte. »Von Gewehrsalven bedroht, aus einem Flugzeug gestürzt, fast ertrunken, von einem Leguan angefaucht, einer Fledermaus angefallen; ich rieche wie ein Elefant...« Plötzlich hatte sie aas Gefühl, keinen Schritt mehr tun zu können. Sie schrie die beiden von hinten an: »Ich sage euch, ich schaffe es nicht!« Indiana blieb stehen, ging zu Willie zurück, wollte eine Bemer-kung machen - energisch, sarkastisch oder spitz - als sich wie bei der ersten Begegnung ihre Blicke trafen. Etwas, das er dort sah - verloren, ganz still hinter dem Lärm - ließ ihn schweigen-Und etwas, das sie sah, zumindest vorübergehend, brachte bisher Unbewußtes in ihr an die Oberfläche. . Wortlos hob er sie hoch und trug sie den Rest des Weges au seinen Armen. Sie war überrascht und verwirrt, aber nicht uner-freut. »Sonst noch Klagen?« fragte Indiana. Sie lächelte schwach. »Ia. Wenn Ihnen das nur früher eingefallen wäre.« Es fühlte sich gar nicht so übel an. Short Round verdrehte die Augen. Er hatte das Clark Gable in >Es geschah in einer Nacht< tun sehen. Im Film war es ihm albern erschienen, hier fand er es auch albern. Indy trug sie den ganzen Weg an der Mauer entlang, bis sie das große Eingangstor erreichten. Dort setzte er sie ab und glättete ihre Kragen. »Na, kein dauerhafter Schaden.« Er lächelte. Sie richtete sich auf, drehte sich herum und sah zum ersten Mal den Pankot-Palast aus der Nähe. Sie pfiff leise durch die Zähne. Er war großartig und riesenhaft. Ein ausgefallenes Gemisch von Mogul- und Radschput-Stil, spiegelte es die Strahlen der untergehenden Sonne mit einer blutigen, schillernden Färbung wider. Die drei Reisenden gingen langsam über eine Marmorbrücke zum Haupteingang.
Überraschung im Schlafzimmer An beiden Seiten der Brücke standen Palastwachen. Bärtig, mit schwarzen Turbanen und Orden, Krummschwer-tern in ihren Gürteln, Lanzen in den Händen standen sie der Reihe nach stramm, als die drei Besucher vorbeigingen. Willie zuckte anfangs zusammen, genoß die Ehrenbezeigungen dann aber sichtlich. Ihre Haltung wurde straffer. Sie begann eine Anmut zu zeigen, die jemandem von ihrem Stande gemäß war. bedauerte lediglich, vor dem Eintreten nicht ihre Schuhe zu haben. Sie traten durch einen dunklenTorbogen in einen glitzernden Innenhof. Mauern aus Quarz und Marmor, Minarette aus Lapislazuli, vergoldete Bogenfenster... wie ein prachtvolles Mausoleum. Und ebenso verlassen. »Hallo?« rief Indy. Seine Stimme hallte von den dräuenden Mauern wider. Drei hünenhafte Radschput-Wachen erschienen lautlos auf der anderen Hofseite. Sie wirkten nicht so ehrerbietig wie der erste Trupp. »Na?« fragte Willie beschwichtigend. Die einzige Antwort war ihr eigenes Echo. Einige Augenblicke später stieg zwischen den Wachen ein hochgewachsener, streng aussehender Inder mit Brille die Marmorstufen des breiten Eingangs herunter. Er trug einen weißen Anzug. Er betrachtete höflich, aber argwöhnisch die zerzauste Schönheit in einem Männersmoking, die Schuhe und Kleid in den Händen hatte, den schmutzigen Chinesenjungen mit der amerikanischen Baseballmütze und den weißen Kerl mit den verkniffenen Augen und einer Viehpeitsche. Sein Name war Chattar Lal. Er trat mit typischer Beamtengeschäftigkeit hervor, um die Besucher genauer in Augenschein zu nehmen. Von der Nähe aus verbesserte sich ihr Aussehen auch nicht. »Ich würde sagen, Sie sehen wie Verirrte aus.« Er lächelte verächtlich. »Aber ich kann mir auch nicht
vorstellen, wo in der Welt Sie am richtigen Platz erscheinen würden.« Indiana zeigte sein feinstes amerikanisches Lächeln der Sorte Ich-bin-da-wo-ich-hingehöre-egal-wo-das-sein-mag. »Verirrt? Nein, wir haben uns nicht verirrt. Wir sind auf dem Weg nach Delhi. Das ist Miß Scott und das Mr. Round. Mein Name ist Indiana Jones.« Chattar Lal war entgeistert. »Doktor ]ones? Der berühmte Archäologe?« Willie lästerte ohne Bitterkeit. »Schwer zu glauben, nicht?« Chattar Lal sprach weiter. »Ich erinnere mich, Ihren Namen das erste Mal gehört zu haben, als ich in Oxford studierte. Ich bin Chattar Lal, Premierminister seiner Hoheit des Maharadschas von Pankot.« Er verbeugte sich. »Willkommen im Pankot-Palast!« Er begleitete sie durch die Haupteingangshalle, durch Säle von Marmorsäulen, vorbei an das Auge verzaubernden Möbelstük-ken eingelegt mit Spiegel- und Halbedelsteinen, Elfenbeinbrunnen! herrlichen Gobelins. Willie betrachtete die üppige Pracht ehrfurchtsvoll. Im nächsten Korridor kamen sie an den chronologisch aufgereihten Porträts der Fürsten von Pankot vorbei. Die Gesichter waren unterschiedlich verlebt, elegant, bösartig, leer, sichtlich gealtert, ohne erkennbares Alter. Als sie an den Bildern vorbeigingen, flüsterte Willie Short Round zu: »Möchtest du dem in einer dunklen Gasse begegnen? Der da sieht ganz nett aus. Ich könnte mir vorstellen, mit so einem Prinzen verheiratet zu sein. Prinzessin Willie.« Vor ihnen befragte Chattar Lal Indy in einem Tonfall, der zwischen Neugier und Mißtrauen schwankte. »Der Flugzeugabsturz und Ihre Reise hierher klingen . . . höchst unglaublich.« Willie hörte das. »Sie hätten mal dabei sein sollen«, witzelte sie. Indy sagte ernsthaft: »Wir wären dankbar, wenn der Maharadscha uns für heute nacht aufnehmen würde. Wir ziehen morgen weiter.« Gleich nach einer kleinen heimlichen Besichtigung. »Ich bin nur der demütige Diener meines Herrn« - Chattar Lal senkte kurz den Kopf - »aber der Maharadscha hört in der Kegel auf meinen Rat.« »Ist er das?« fragte Willie. Sie waren zum letzten Bild in der e an der Wand gekommen. Willie blieb stehen und unverhohlener Enttäuschung auf den ungeheuer kor-pulenten, gealterten Radschput-Fürsten. »Ein junger Springins-feld ist er ja nicht unbedingt«, sagte sie seufzend. Nein, nein«, verbesserte Chattar Lal, »das ist Shafi Singh, der verstorbene Vater des jetzigen Maharadschas.« "Ah, gut.« Willies Miene hellte sich auf. »Und vielleicht ist der jetzige Maharadscha ein wenig jünger? Und schmaler?« Zwei Dienerinnen traten aus einer Nebentür und verbeugten sich. Chattar Lal nickte Willie zu. »Sie werden Sie jetzt zu Ihren Zimmern begleiten. Sie erhalten frische Kleidung. Heute abend speisen Sie mit Ihrer Hoheit.« »Speisen?« sagte Willie strahlend. »Mit einem Prinzen? He, ich werde doch nicht zur Abwechslung mal Glück haben?« Bis sie sich zufällig in einem Spiegel erblickte. »Aber seht mich bloß an! O mein Gott, ich muß mich herrichten!« Wenn man einen Prinzen angeln wollte, kam es entscheidend auf den Köder an. Sie eilte mit einer der Dienerinnen davon. Chattar Lal lächelte Indiana kühl an. »Um acht Uhr im Pavillon des Vergnügens, Doktor Jones.« Sie verbeugten sich voreinander, einer knapper als der andere. Über kunstvoll angelegten Gärten erhob sich eine ungewöhnliche goldene Kuppel. Die Nachtluft duftete nach Jasmin, Hyazinthen, Koriander und Rosen. Die Brise, in der die Fackelflammen tanzten, verwehten Klänge von Sitara, Trommel und Flöte. Der Pavillon des Vergnügens leuchtete. Reiche Hofminister und indische Kaufleute in ihren Radsch-put-Festgewändern spazierten auf den Wegen, tauschten Neuigkeiten aller Art aus und versprachen einander Belohnungen für Gunst bei Hofe und eingebildete Vorrechte. In dieses Netz von Palastintrigen schritt Indiana Jones mit seinem Leibwächter Short Round. Indy trug die gewohnte Berufskleidung: Tweedjacke, Fliege. runde Brille. Hose und Hemd waren von der Dienerschaft im Palast gereinigt worden. Er hatte beschlossen, seinen drei Tage alten Bart stehen zu lassen. Er wollte vor diesem seltsamen Premierminister hart und urwüchsig erscheinen. Außerdem sollte Willie nicht glauben, er wolle sie beeindrucken. Short Round war ebenfalls sauber, hatte sich allerdings geweigert, die Kleidung zu wechseln oder seine Mütze abzulegen. »Schau dich um, Shorty«, begann Indiana. »Möchtest du ein Tages so einen Besitz haben?« »Sicher«, sagte Short Round.
»Falsch«, erwiderte Indy. »Gewiß, er ist schön, aber er stinkt nach Korruption. Riechst du es?« Short Round schnupperte. »Ich... glauben.« Die Luft hatte wirklich einen eigenartigen Duft wie von zu süßem Weihrauch. »Kluges Kind«, lobte Indy und nickte. Der Junge war schon benachteiligt genug, als daß man ihn auf diese Art von Reichtum begierig machen durfte. »Es sieht gut aus, das gebe ich zu, und ein Besuch hier kann sehr nett sein, aber hier leben möchtest du bestimmt nicht.« »Ich leben in Amerika«, bestätigte Short Round. »Nimm etwa die geschnitzte Sonnenuhr aus Elfenbein dort.« Er hätte sie am liebsten mitgenommen zur Universität - es war ein Paradebeispiel der Tamilen-Handwerkskunst -, aber darum ging es ihm hier nicht. »Sie ist ganz eindeutig aus einem anderen Reich gestohlen worden, damit man hier protzen kann.« Short Round nickte. »So wie bei uns. Finden neue Heim für Sachen.« Indy räusperte sich. »Ganz so habe ich es nicht gemeint, Shorty.« Short Round war vorübergehend verwirrt, glaubte darin aber zu erkennen, worauf Indy hinauswollte. »Ah, diese Mann nicht können lesen!« »Richtig«, sagte Indy. Er beschloß, es vorerst dabei zu belas-sen. »Sie können nicht lesen.« »Aber ich glauben, sie verstehen gut Zahlen«, erklärte Short Round. Wer so reich war, mußte immerhin Geld zählen können. Indy lächelte seinen Freund an. Du hast gute Augen, Kleiner.« Sie ließen ihre guten Augen über die Porzellanfliesen wandern, die Jadefassaden, die geriffelten Säulen. Als die Schmarotzer und Schranzen hintereinander eintraten, erschien Chatter Lal Bei sich hatte er einen britischen Kavalle-riehauptmann in Ausgehuniform. Chattar Lal übernahm die Vorstellung. »Wir dürfen uns heute abend glücklich schätzen, so viel, unerwartete Gäste zu haben. Das ist Captain Phillip Blumburtt.« Blumburtt verbeugte sich vor Shorty und Indiana. Er war das Inbild eines Gentleman, um die Sechzig, schnurrbärtig, begin-nende Glatze, vier Orden an der Brust des Uniformrocks. Indy schüttelte den Kopf. »Hallo! Ich habe bei Sonnenuntergang Ihre Truppe einrücken sehen.« »Eine reine Routineinspektion«, versicherte der Captain allen Anwesenden. »Die Briten machen sich solche Gedanken um ihr Empire.« Chattar Lal versuchte herzlich zu wirken. »Sieht so aus, als hätten Sie hier selbst ein recht hübsches kleines Reich, um das Sie sich Gedanken machen müssen«, sagte Indy lächelnd. Während die vier Männer beieinanderstanden und den Baustil bewunderten, betrat Willie die Gärten auf einem anderen Weg. Indiana bewunderte auch ihren Bau. Sie sah hinreißend aus. Sie war gebadet und geschminkt, und man hatte ihr einen elfenbeinfarbenen Seidensari zur Verfügung gestellt, mit etwas europäisch geprägtem, tiefem V-Ausschnitt und Brokateinsäumung. Ihr Haar schmückte eine Tiara aus Brillanten und Perlen. Dazu trug sie goldene Reifen an den Ohren, eine mit Juwelen besetzte Halskette und auf dem Kopf einen hauchdünnen Seidenschleier. Die Verwandlung war vollständig. »Sie sehen aus wie eine Prinzessin«, sagte Indy. So weit sie sich zurückerinnern konnte, war dies die erste nette Bemerkung, die er zu ihr gemacht hatte. Sie wurde beinahe rot. Blumburtt und Lal machten ihr ähnliche Komplimente. Der Premierminister teilte mit, daß das Dinner bald beginnen werde, und ging voraus zum Speisesaal. Willie wollte ihn begleiten, aber Indy hielt sie kurz zurück. »Lassen Sie sich die Gier nicht so anmerken«, riet er. »Man sieht, daß Ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft.« »Ich komme mir wirklich vor wie im Himmel«, gestand sie Fin echter Prinz, stellen Sie sich das vor. Das Höchste bisher war ein Herzog.« Sie gingen durch die Innengärten und betraten den Pavillon, Willie an Indys Arm. Ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes bei der Weihnachtsbescherung. Short Round hielt sich einige Schritte zurück, nur um sie bewundern zu können. Wunderschön, vornehm, charmant, das ideale Paar. In diesem Augenblick waren sie seine Idealeltern und er ihr liebevoller Sohn. Er blieb stehen und sandte ein kurzes Gebet an seine liebsten Sterngottheiten - den Stern des Glücks, den Stern der Würden, den Stern der Langlebigkeit -und bat darum, diesen Augenblick in den Himmelsarchiven vermerken zu lassen, damit er später auf Wunsch wiederholt werden konnte. Nach dem Gebet holte er sie im Trab ein und ging im Gleichschritt. Sie betraten den Speisesaal. Mächtige Marmorsäulen trugen die Rokokodecke. An den Wänden tanzten Alabasterpferde im Halbrelief. Der Boden war aus Marmor und Ebenholz. Kristalllüster erleuchteten mit Kerzenschein jeden Winkel. In der Mitte des Raums war ein langer, niedriger Tisch für zwanzig Personen mit massiv-goldenen Tellern und Bechern gedeckt. An der Tür standen regungslos Wachen, an denen Edelsteine glitzerten. Indy und sein Anhang traten ein.
Abseits ließen Trommeln und Streichinstrumente eine exoti-sche Melodie entstehen, zu der ein spärlich bekleidetes Mädchen sich ekstatisch im Kreis drehte. Indiana betrachtete sie von Kopf «s Fuß und lächelte anerkennend. »Ich hatte immer schon eine Schwäche für Volkstanz.« Willie nickte der Tänzerin halb verächtlich, halb aufmunternd zu. "Tanz nur weiter, Kleine. Sieh dir an, was mir das eingebracht hat." Sie warf einen geringschätzigen Blick auf Jones und be-schleunigte ihre Schritte, um den Premierminister einzuholen. »Ach, Mr. Lal«, sagte sie beiläufig, »wie spricht man eigentlich die Frau des Maharadschas an?" »Seine Hoheit hat sich noch keine Frau genommen«, erwiderte Chattar Lal. Willie strahlte. »Nein? Na, dann ist ihm die Richtige wohl noch nicht begegnet.« Während Willie die komplizierteren Stufen der Plauderei mit dem Premierminister bewältigte, schlenderte Indiana zu einer Wand, wo zahlreiche Bronzestatuen und außergewöhnliche religiöse Gegenstände zu sehen waren. Eine eigenartige Tonfigur erregte auf der Stelle seine Aufmerksamkeit. Er nahm sie hervor, um sie genauer zu betrachten, als Blumburtt herantrat. Der Offizier lächelte, als er die kleine, seltsame Puppe sah. »Reizend. Was ist das?« »Man nennt das eine Kyrta«, erklärte Indy. »Wie die Wodu-puppen in Westafrika. Die Kyrta stellt Ihren Feind dar - und sie verleiht Ihnen absolute Macht über ihn.« »Das ist doch alles Gefasel«, knurrte Blumburtt. »Ihr Engländer glaubt, daß ihr Indien beherrscht«, sagte Indiana gleichmütig. »Das ist nicht der Fall. Die alten Götter haben immer noch die Macht.« Das hatte er gespürt, als er auf die kleine Statue am Weg zum Palast gestoßen war, und die Kyrta-puppe verstärkte den Eindruck noch. Blumburtt wirkte mürrisch. Indy stellte die Puppe zurück. Willie kam herbeigeilt, ganz aufgeregt von ihrem Gespräch mit dem Premierminister. »Stellen Sie sich vor, der Maharadscha schwimmt geradezu m Geld!« Ihr Gesicht war gerötet. »Vielleicht war es doch kein« so schlechte Idee, hierherzukommen.« Blumburtt sah sie mit zweifelnd hochgezogenen Brauen an. Indy lächelte nur. Auf dem Podium der Musiker dröhnte sonor eine Trornrne. »Ich glaube, wir werden zum Essen gerufen«, sagte Gaptain Blumburtt mit einiger Erleichterung. »Endlich!« entfuhr es Willie. Blumburtt hatte es plötzlich sehr eilig, Abstand zu diesen Leuten zu gewinnen. Indiana bot Willie den Arm und führte sie zu Tisch. Während die Trommel weiter geschlagen wurde, nahmen die versammelten Gäste ihre Plätze auf Sitzkissen ein, die um den niedrigen Bankettisch verteilt waren. Nur die Kopfseite des Tisches blieb leer. Indiana wurde rechts davon placiert, neben Captain Blumburtt; Willie und Shorty standen ihnen gegenüber, auf der linken Seite des Ehrenplatzes. Chattar Lal schlenderte zur Ecke in Willies Nähe, klatschte zweimal in die Hände und sagte zuerst auf Hindi, dann in englischer Sprache: »Seine Erhabenste Hoheit, Bewahrer der Radschput-Tradition, der Maharadscha von Pankot, Zalim Singh.« Alle Augen richteten sich auf zwei kunstvoll gearbeitete, geschlossene Türflügel aus massivem Silber drei bis vier Meter hinter dem Premier. Schlagartig gingen die Türen auf. Der Maharadscha Zalim Singh trat heraus. Alle Anwesenden verbeugten sich tief. Indy sah Willie aus ihrer vorgebeugten Haltung aufblicken, sah, wie buchstäblich ihr Unterkiefer herunterklappte. Er blickte -von ihrem Gesicht zu dem des eintretenden Monarchen. Zalim Singh war erst dreizehn Jahre alt. »Das ist der Maharadscha?« flüsterte sie. »Dieses Kind?« Nie waren menschliche Gesichtszüge stärker von Enttäuschung gezeichnet gewesen. »Vielleicht hat er eine Vorliebe für ältere Frauen«, meinte Indy. Zalim Singh schritt zur Schmalseite des Tischs. Er trug ein knges Gewand aus Gold- und Silberbrokat, übersät mit Brillan-ten, Rubinen, Smaragden und Perlen. Sein Turban war in gleicher Weise mit Edelsteinen besetzt, obenauf ein Diadem in Form einer zerfallenden Wasserfontäne. Überdies war er mit Ohrrin-gen, -Fingerringen und Zehenringen geschmückt. Sein Gesicht besaß die zarte Weichheit vor dem Einsetzen der Pubertät: keine Fältchen, keine Behaarung, durch einen Hauch von Babyspeck noch ein wenig rundlich. Eigentlich sah er sehr feminin aus. Und sehr schön Er sah sich herrisch in der Runde um... bis sein Blick auf Short Round fiel. Shorty verbeugte sich nicht. Short Round stand da mit seiner Baseballmütze, schob den Kaugummi in die andere Backe und funkelte feindselig den Jungen an, der sich wohl für etwas Besonderes hielt. Feinde von Natur aus. Indy schickte einen vernichtenden Blick über den Tisch zu Short Round. Er vernichtete Shorty nicht gerade, veranlaßte ihn aber doch, sich zu verbeugen. Aber er verbeugte sich für Indy, sagte er sich, nicht für diesen angeberischen Weichling. Der Maharadscha ließ sich endlich auf seinem Seidenkissen nieder. Auf sein Nicken nahmen auch die Gäste
ihre Plätze am Boden ein und lehnten sich an die Kissen. Indy lächelte mitfühlend zu Willie hinüber, deren Träume, Monarchin zu werden, sich in Rauch aufgelöst hatten. »Kopf hoch«, sagte er tröstend. »Sie haben Ihren Prinzen verloren, aber das Essen ist auf dem Weg.« Es war genau das, was sie brauchte. Ihre Niedergeschlagenheit machte dem Hungergefühl Platz. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so ausgehungert gewesen«, sagte sie. Diener erschienen mit Silberplatten voll dampfender Speisen. Willie schloß kurz die Augen und genoß die Düfte, die ihr in die Nase stiegen. Als sie sie wieder öffnete, stand der erste Gang vor ihr: ein ganzes gebratenes Wildschwein. Pfeile durchbohrten den Rücken und den aufgedunsenen Bauch. An den Schäften hingen winzige, ungeborene Frischlinge, und eine Reihe gebratener Frischlingsbabys saugten an den gekochten Zitzen ihrer Mutter. Willie schnitt fassungslos eine Grimasse. »Mein Gott, das ist irgendwie abscheulich, nicht?« Indiana furchte die Stirn. Bestenfalls erschien ihm das merkwürdig, denn Hindus aßen kein Fleisch. Er warf einen Blick auf Blumburtt, der ebenso verwundert zu sein schien. Willie starrte auf ihren Teller. Der junge Maharadscha beugte sich zu Chattar Lal hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Der Premierminister nickte und wandte sich an die Gäste. »Seine Hoheit wünscht, daß ich Seine Besucher willkommen heiße. Vor allem den berühmten Doktor Jones aus Amerika.« Indy neigte den Kopf ein wenig in Richtung des kleinen Prinzen. »Wir betrachten es als hohe Ehre, hiersein zu dürfen.« Ein kleiner, zahmer Affe sprang auf Short Rounds Schulter, stahl eine Blume vom Teller und keckerte fröhlich. Short Round kicherte. Der Affe nahm ihm die Mütze vom Kopf, worauf er sie zurückholte. Sie drückten sich die Hände, tauschten flüsternd Geheimnisse aus, spielten mit den Blütenblättern, kurz, sie benahmen sich wie übermütige Brüder bei einer Familienfeier. Willie starrte immer noch das gebratene Wildschwein an, garniert mit seinen Kindern. Indiana unterhielt sich mit Chattar Lal. »Eine Frage, Premierminister. Ich habe mir einige Kunstgegenstände des Maharadschas angesehen -« »Eine schöne Sammlung sehr alter Stücke, finden Sie nicht?« »Ich bin nicht sicher, ob wirklich alle Stücke so alt sind. Manche sind erst vor kurzer Zeit angefertigt worden, denke ich. Sie sehen aus wie Abbildungen, wie sie die Thugs zur Anbetung der Göttin Kali verwenden.« Bei der Erwähnung des Wortes >Thug< wurde es am ganzen Tisch still. Alle Inder starrten Jones an, so, als sei ein Tabu verletzt oder ein unentschuldbarer Fauxpas begangen worden. Chattar Lal unternahm den Versuch, höflich zu bleiben, wirkte aber kühl. »Das ist nicht möglich, Doktor Jones.« »Nun, ich scheine mich zu erinnern, daß die Thugs in dieser Provinz, vielleicht sogar in dieser Gegend hier, besonders aktiv gewesen sind.« Er schien einen Nerv getroffen zu haben. Der ausgelösten Reaktion entnahm er, daß das ein Thema war, dem nachzugehen sich lohnen mochte. Blumburtt beteiligte sich nun am Gespräch. »Ach, die Thugs. Großartige Halunken. Erwürgten Reisende. Übrigens war das wirklich in dieser Provinz. Ein britischer Offizier machte der Sache ein Ende, ein Major -" »Sleeman«, warf Indiana ein. »Major William Sleeman.« »Ja genau, der war's«, bestätigte Blumburtt. »Er schleuste sich sogar in die Sekte ein und nahm die Anführer fest«, fuhr Indy fort. »1830, glaube ich. Mutiger Mann.« »Sie sind mit der Vergangenheit großartig vertraut«, sagte Chattar Lal mit erwachendem Interesse. »Das ist nun mal mein Beruf«, gab Indy zu verstehen. »Doktor Jones«, fuhr der Premierminister fort, »Sie wissen ganz genau, daß der Thugkult seit fast einem Jahrhundert tot ist.« Blumburtt nickte. »Aber natürlich. Die Thugs waren entartete Gestalten, die Kali mit Menschenopfern verehrten. Die britische Armee hat ihnen den Garaus gemacht.« Die Diener brachten eine zweite Platte und stellten sie auf den Tisch: dampfend heiße Boa constrictor, garniert mit gerösteten Ameisen. Einer der Diener schlitzte der riesigen Schlange den Bauch auf. Eine Masse kleiner, lebendiger Aale quoll heraus. Willie wurde bleich. Der Kaufmann neben ihr gluckste befriedigt. »Ah! Schlange Surprise!« »Wo ist die Überraschung?« Willie wirkte ernüchtert. Sie war entschieden weniger hungrig als zuvor. Indiana setzte sein Gespräch mit Chattar Lal fort. »Geschichten über die Thugs sterben wohl nur langsam aus.« Vor allem dann, wenn es Anlässe für ihr
Fortbestehen gab. »Es gibt keine Geschichten mehr«, widersprach der Premier. »Na, ich weiß nicht.« Indy schüttelte freundlich den Kopf. »Wir kommen aus einem kleinen Dorf, und die Bewohner dort haben uns erzählt, daß der Pankot-Palast durch das Böse vergangener Zeiten wieder mächtig zu werden beginne.« »Das sind doch nur Schauermärchen«, erwiderte Lal verächtlich. »Als ich dann zum Palast kam«, fuhr Indy unbeirrt fort, »stieß ich auf einen kleinen Schrein. Er enthielt eine Statue der Göttin Kali, der Göttin von Tod, Zerstörung und Chaos.« Zalim Singh und sein erster Minister tauschten einen Blick aus, was Indiana nicht unbemerkt blieb. Chattar Lal faßte sich, bevor er antwortete. »Ah, ja. Wir haben dort als Kinder gespielt. Mein Vater warnte mich immer wieder, mir von Kali nicht mein Atman, oder wie Sie sagen, meine Seele nehmen zu lassen. Aber ich erinnere mich an nichts Böses. Ich entsinne mich nur an den Zauber der Kindheit. Und an die Liebe meiner Familie und der zahmen Tiere. Dorfgeschwätz, Doktor Jones. Alles nur Geschichten, um die Kinder zu erschrecken, Märchen. Sie fangen an, Captain Blumburtt Sorgen zu bereiten, furchte ich.« Sein Gesicht war zur Maske erstarrt. »Keine Sorgen, Premierminister«, widersprach Blumburtt jovial. »Er weckt nur mein Interesse.« Short Round spielte wieder mit seinem kleinen Affenfreund. Dieses unheimliche Gespräch gefiel ihm nicht. Er hoffte, daß Huan-t'ien, Höchster Herr des Dunklen Himmels, ein Auge auf das hatte, was hier unten geschah. Aber so, als sei das Gespräch für Willie noch nicht schlimm genug - Menschenopfer, auch das noch! -, übertrafen die Speisen ihre ärgsten Befürchtungen. Und gerade als sie überlegte, ob sie eine der Blüten essen sollte, beugte sich ein Diener über ihre Schulter und legte einen fünfzehn Zentimeter langen, gerösteten schwarzen Käfer auf ihren Teller. Sie wimmerte leise, als sie sah, wie der fette Kaufmann neben ihr ein ähnlich glänzendes, groteskes Rieseninsekt auf seinem Teller ergriff, es in der Mitte aufknackte und den gallertartigen Inhalt auszusaugen begann. willie wurde noch bleicher. Vor ihren Augen tanzten glitzernde Punkte. Der Kaufmann sah sie zweifelnd an. »Aber Sie essen ja nicht!« Sie lächelte schwach. «ich hatte, äh, schon zum Mittagessen einen Käfergang.« Stets höflich bleiben, wenn man bei einem Maharadscha speist. Inzwischen ging das Gespräch oben am Tisch weiter. »Wissen Sie«, sagte Indiana, »die Dorfbewohner behaupteten außerdem, der Pankot-Palast hätte ihnen etwas weggenommen.« »Doktor Jones.« Chattar Lals Stimme war heiser geworden. »In unserem Land pflegt ein Gast seinen Gastgeber nicht zu beleidigen.« »Tut mir leid«, gab Jones zurück. »Ich dachte, wir unterhalten uns nur über Volksmärchen.« Er behielt einen unschuldigen Gesprächston bei, aber seine Unterstellungen waren für jene deutlich, die sie fürchteten. »Was soll denn gestohlen worden sein?« fragte Blumburtt im Amtston. Diebstahl - das war eine ganz andere Sache. Dergleichen fiel in seinen Zuständigkeitsbereich. »Ein heiliger Stein«, sagte Indiana. »Ha!« stieß der Premierminister hervor. »Da sehen Sie's, Cap-tain - ein Stück Gestein!« Alle lachten unbehaglich. Willie hörte und sah nur, wie ein Dutzend Gäste diese grauenhaften Mammutkäfer aufknackten und das Innere schlürften. Sie beugte sich zu Short Round hinüber, der dem Affen Baseballsignale beibrachte. »Gib mir deine Mütze«, keuchte sie. »Wozu?« fragte er argwöhnisch. »Ich muß mich übergeben.« Ein Diener trat vor, um ihr Hilfe anzubieten. Willie lächelte ihn an, so gut es ging. Sie wollte sich nicht gehenlassen. »Hören Sie, haben Sie irgend etwas, Sie wissen schon, etwas Einfaches - vielleicht Suppe oder dergleichen?« Der Diener verbeugte sich, ging und kehrte im nächsten Augenblick mit einer zugedeckten Schüssel zurück. Er stellte sie vor ihr auf den Tisch und nahm den Deckel ab. Es war Suppe. Dem Geruch nach mit Huhn. Ein Dutzend Augäpfel schwammen darin. Der Kaufmann nickte anerkennend zu Willies Wahl. »Sieht köstlich aus!« rief er. An Willies Wangen liefen Tränen herab. Indiana setzte Chattar Lal noch immer unter Druck. »Ich hatte anfangs auch Zweifel. Dann ließ sich ein Zusammenhang herstellen zwischen dem heiligen Stein des Dorfes und der alten Legende von Sankaras Stein.«
Chattar Lal fiel es offenbar schwer, seine Wut noch weiter zu bezähmen. »Doktor Jones, wir alle sind bösartigen Gerüchten hilflos ausgesetzt. Ich scheine mich zu entsinnen, daß man Sie in Honduras beschuldigt hat, Sie wären kein Archäologe, sondern ein Grabräuber.« »Die Zeitungen haben den Vorfall übertrieben«, sagte er achselzuckend. »Und hat nicht der Sultan von Madagaskar gedroht, Ihnen den Kopf abzuschneiden, wenn Sie sein Land noch einmal betreten?« fuhr Lal fort. Indy erinnerte sich an den Sultan sehr gut. »Es war nicht mein Kopf«, murmelte er. »Dann vielleicht Ihre Hände.« Am Funkeln in seinen Augen war erkennbar, daß der Premierminister genau wußte, welche Körperteile mit Abtrennung bedroht worden waren. »Nein, nicht meine Hände.« Indy war ein wenig verlegen geworden. »Es war mein... es war ein Mißverständnis.« »Genau das, womit wir es hier zu tun haben, Doktor Jones.« Lal lehnte sich lächelnd zurück. »Ein Mißverständnis.« Der Maharadscha hustete plötzlich und ergriff zum ersten Mal das Wort. »Ich habe die schrecklichen Geschichten über den bösen Thug-kult gehört.« Seine Worte brachten den ganzen Tisch zum Schweigen, als sei es eine große Überraschung, ihn zu irgendeinem Thema eine Meinung vertreten zu hören. »Ich dachte, die Geschichten sollten dazu dienen, Kinder zu erschrecken«, fuhr er fort. »Später erfuhr ich, daß es die Thugs früher wirklich gegeben hat und daß sie unbeschreibliche Dinge getan haben.« Er starrte Indiana an. »Ich schäme mich dessen, was hier vor so vielen Jahren geschehen ist. Wir bewahren diese 'Gegenstände diese Puppen und Idole - auf als Mahnung, daß so etwas in meinem Reich nie wieder vorkommen wird.« Seine Stimme war am Ende lauter geworden; an seiner Oberlippe hatte sich Schweiß gebildet. Im Saal herrschte absolute Stille. »Sollte ich einen Verstoß begangen haben, so bitte ich um Entschuldigung«, sagte Indiana schließlich leise. Man atmete wieder. Diener entfernten die alten Platten und brachten neue. Die Unterhaltung ging weiter. Indy fühlte sich besser informiert und zugleich ahnungsloser, was die Vorgänge hier betraf. »Ah«, freute sich der Kaufmann neben Willie. »Die Nachspeise!« Short Rounds Affe kreischte plötzlich und hetzte durch ein offenes Fenster hinaus. Willie schloß die Augen. Sie wollte nicht hinsehen. Es würde zu arg sein. Sie hatte das nicht nötig. Sie hörte Bestecke klappern und die Gäste zugreifen. Schließlich siegte die Neugier im Verein mit dem Schwindelgefühl, das sie überfallen hatte. Sie öffnete die Augen. Doch schon war es zu spät. Es war unmöglich nicht zu sehen, was sie sah, und es war schlimmer als jede Vorstellung. Platten voll toter Affenschädel. Die Schädeldecken waren abgesägt worden und lagen wie kleine Deckel auf den finster blickenden Köpfen. Jede Platte lag auf einem kleinen Serviersockel, und die langen, weißen Affenhaare hingen von den kleinen Skalps herab. Short Round schaute sich entsetzt um. Sogar Indy und Captain Blumburtt wirkten ein wenig fassungslos. Willie sah in tiefer Bedrückung zu, als der Maharadscha und seine Gäste die Schädeldecken entfernten und goldene Löffel in das Innere tauchten. »Eisgekühltes Affenhirn!« Der Kaufmann neben ihr konnte sich in seinem Entzücken kaum zurückhalten. Willie vermochte kaum alles andere zurückzuhalten. Sie versuchte mit der Situation deshalb so ehrenhaft wie möglich fertig-zuwerden und kippte ohnmächtig um. »Eine reichlich bizarre Speisenfolge, finden Sie nicht?« sagte Blumburtt zu Indiana, als sie den Pavillon verließen und durch die Gärten schlenderten. Short Round ging nebenher. Hunderte von Lampions beleuchteten die Umgebung. Der Geruch der Wasserpfeife vermischte sich mit den natürlichen Düften des Gartens. »Auch wenn sie uns vergraulen wollten - ein gläubiger Hindu rührt niemals Fleisch an.« Indiana nickte. »Man fragt sich, was das für Menschen sind.« »Hm. Ich glaube kaum, daß sie uns erschrecken wollten«, brummte Blumburtt. »Mag sein«, erwiderte Indy ausdruckslos. »Tja, ich muß gehen. Die Truppe für die Nacht verabschieden und so weiter. War schrecklich nett, Sie kennengelernt zu haben, Doktor.« »Ganz meinerseits, Captain.« Sie gaben sich noch einmal die Hände, ehe Blumburtt sich zurückzog. Indy blickte auf Shorty hinunter. »Na komm«, sagte er. »Wollen mal sehen, was wir herausfinden können.« Sie gingen zu den Küchenräumen. Indy glaubte fest daran, daß man mit der Dienerschaft reden mußte, wollte man wirklich etwas über ein Haus erfahren.
Ein Dutzend Personen machte dort sauber, spülte Geschirr und räumte auf. Indy sprach mit dem Mann, der Chefkoch zu sein schien, aber der andere blieb stumm. Indy versuchte es mit einem anderen Dialekt. Keine Antwort. Er sprach ein paar andere Leute an, mit demselben Erfolg. Er sah auf einer Anrichte eine Schale mit Obst stehen, griff danach und fragte, ob er sich davon nehmen könne. Niemand schien es zu bekümmern. »Siehst du, Shorty, es ist genau so, wie ich immer sage: Wenn du über einen Haushalt etwas wissen willst, erkundigst du dich beim Personal.« Short Round gähnte. Indy machte es ihm nach. Ein junges Mädchen schien Indy zuzuzwinkern - jedenfalls kam es ihm so vor -, aber ein älterer Mann scheuchte sie sofort hinaus. Sie ging mit einer Bewegung, die Indy besonders gefiel, nämlich mit einem leichten Hüftschwenken, das ihn an eine gewisse Dame erinnerte, die in der letzten Zeit seine Gedanken nicht unerheblich beschäftigte. Er betrachtete die mürrische Dienerschaft bei ihrer Arbeit, warf einen Blick auf die Obstschale, sah Shorty an, der im Stehen einschlief. Er kam zu dem Schluß, daß sie alle ein bißchen Ruhe brauchten. Fünf Minuten später gingen sie durch einen Korridor voller Schatten zu ihrem Schlafzimmer. Short Round trug eine zugedeckte Platte und gähnte alle zehn Sekunden. Indy tätschelte seinen Kopf, nahm ihm die Platte ab und blieb an der Tür stehen. »Hm, ich glaube, ich sehe besser mal nach Willie«, sagte er zu dem Jungen. »Das du besser tun«, erwiderte Shorty. Er trat rückwärts in das Zimmer, während Indy weiterging, dann flüsterte er vernehmlich: »Du mir später erzählen, was gewesen.« Indy blieb stehen. »Hau ab«, befahl er. Shorty schloß die Tür. Aber er öffnete sie gleich darauf einen Spalt, nur um kurz zuzusehen. Das war immerhin der Beginn der großen Liebesszene, eines Zusammentreffens, das für Short Round von entscheidender Bedeutung werden konnte. Wie der große Baseballspieler Babe Ruth stand Indy im Begriff, einen Sieg zu erzielen - falls man ihm nicht ein Bein stellte. Aber eigentlich konnte nichts schiefgehen. Für Shorty stand immer deutlicher fest, daß Indy und Willie in Wahrheit das legendäre Liebespaar Hsienpo und Jing-t'ai waren, herabgestiegen vom Himmel. Ursprünglich waren sie in einer Umarmung gestorben und vom Jade-Kaiser in die Regenbogen geschickt worden. Hsienpo war das Rot, Jing-t'ai das Blau. Hatten Willi« Augen nicht genau diese Blautönung? Gab es bei Indy nicht eben diese rötliche Färbung? Waren sie dann nicht ganz offenkundig zurückgekehrt, um sich auf der Erde erneut zu vereinen und Short Round als das violette Produkt ihres Zusammenseins zu sich zu nehmen? Short Round war überzeugt davon. Gab es in seinen braunen Augen nicht violette Pünktchen? Er konnte seine violett gefleckten Augen kaum noch offenhalten, so schläfrig war er. Das brachte ihn auf die Frage, ob Willie nicht wie der >Schatten< die Macht besaß, die Gehirne der Menschen zu verwirren. Aber noch wollte Shorty nicht schlafen; wenigstens die erste scheue Begegnung dieses Märchenpaars wollte er miterleben. Indy legte die letzten Meter zu Willies Zimmerflucht zurück. Die Tür war geschlossen. Er wollte eben klopfen, als sie aufging. Willie stand vor ihm, noch im Prinzessinnengewand. Sie wirkte ein wenig erstaunt. »Ach, was für eine Überraschung!« sagte sie. »Ich habe etwas für Sie.« Indys Stimme klang ein wenig unterdrückt. Er versuchte sich weltmännisch zu geben, hatte sein Gesicht aber nicht ganz unter Kontrolle. »Sie haben nichts, was ich wollen könnte.« Sie sagte es, um ihn zu necken, wußte aber schon, während sie es aussprach, daß sie es nicht ernst meinte. »Gut«, sagte Indy und nickte. Sinnlos, dort zu bleiben, wo man nicht erwünscht war. Er drehte sich um und zog dabei unter dem Deckel der Platte einen Apfel heraus. Er biß hinein. Willie hörte das Knirschen. Sie riß ihm den Apfel aus der Hand und biß hinein. Noch nie hatte ein Apfel so gut geschmeckt. Sie schloß die Augen, genoß den süß-säuerlichen Geschmack, das feste Fruchtfleisch. Der siebte Himmel. Als sie die Augen öffnete, hatte er den Deckel abgenommen und hielt ihr die Platte an: Bananen, Apfelsinen, Granatäpfel, Feigen, Weintrauben. Willies Atem stockte. Sie trug das Tablett in ihr Zimmer, wohin er ihr folgte. Short Round lächelte weise und ging zu Bett. Jones war eigentlich doch nicht so übel, dachte Willie, wenn er nicht gar so eingebildet gewesen wäre. Er hatte ihr aber wirklich geholfen, und die Menschen schienen tatsächlich von ihm gehört zu haben, also war er vielleicht doch gewissermaßen berühmt; und nun dieses himmlische Essen, ja, im Grunde war er sogar reizend, und hier saßen sie, Tausende Meilen von einem Radio oder einem Auto entfernt... Sie stopfte Weintrauben in den Mund und lächelte ihn an. Er stand wie ein Zimmerkellner an der Tür. >If driving fast cars you like, If low bars you like, If old hymns you like, If bare limbs you like.. .< Sie rollte ihre Ärmel hoch und schälte eine Banane. >If Mae West you like, Or me undressed you like, Why, nobody will oppose.. .<
Er erwiderte ihr Lächeln. Das arme, verzweifelte Ding. Offensichtlich war sie ganz wild auf ihn. Nun ja, ihm machte das nichts aus. Sie hatte alles, was eine Frau brauchte, und er für seinen Teil wollte kein Stockfisch sein. Er schob sich näher. »Sie sind ein netter Mann«, säuselte sie. »Sie könnten mein Palastsklave werden.« Mit jedem Tag sah sie besser aus. Wenn er sie so ansah, spürte er dieses seltsame, altbekannte Flattern. »Tragen Sie Ihren Schmuck auch im Bett, Prinzessin?« »Ja, und sonst nichts«, gab sie zurück. »Schockiert Sie das?« Anything goes. »Nein.« Er trat vor sie hin. »Mich schockiert nichts. Ich bin Wissenschaftler.« Er griff nach einem Apfel und biß hinein. »Und als Wissenschaftler betreiben Sie viel Forschung?« fragte sie. »Immer«, erwiderte er. »Ach, Sie meinen, was für Nachtcreme ich auflege, in welcher Lage ich am liebsten schlafe, wie ich morgens aussehe?« Das wurde ein bißchen anzüglich, dachte sie. Hoffentlich handelt er bald. Indy nickte, als könnte er Gedanken lesen. »Paarungsbräuche.« »Liebesrituale.« »Primitive Sexualsitten.« »Sie sind also Experte auf dem Gebiet«, sagte sie abschließend und löste seine Krawatte. Er sah immer besser aus. »Jahrelange praktische Erfahrung«, bestätigte er. »Liebe in den Tropen.« Sie küßten sich. Lange und zart, zunächst beherrscht, dann leidenschaftlicher. Sie holten Luft. »Ich kann es dir nicht verdenken, daß du wütend auf mich bist«, erklärte sie wie zur Entschuldigung. »Ich bin schon nicht ganz leicht.« »Ich habe Schlimmeres erlebt«, erwiderte er galant. »Du wirst nie etwas Besseres erlebt haben«, versprach sie. »Ich weiß nicht«, meinte er mit schiefem Lächeln, während er die Tür hinter sich schloß. »Als Wissenschaftler will ich die Versuchsergebnisse nicht vorwegnehmen. Ich sage dir morgen früh Bescheid.« Versuch! dachte sie empört. So, als wäre ich seine Laborratte oder sonst etwas! »Was!« zischte sie. Eine Geliebte wollte sie mit Vergnügen sein, aber keine Trophäe. Sie öffnete die Tür, die er eben geschlossen hatte. »Na, Sie eingebildeter Affe! So leicht bin ich nun auch nicht zu haben!« »Ich auch nicht«, sagte er, zunächst verblüfft, dann verärgert. »Das Problem bei Ihnen ist, daß Sie glauben, alles müßte immer nach Ihrem Kopf gehen, Willie.« Er stolzierte hinaus und ging zu seinem Zimmer gegenüber. »Sie sind einfach zu stolz, um zuzugeben, daß Sie wild auf nüch sind, Doktor Jones.« Das war in Wahrheit sein Problem! Er mußte stets die Zügel in der Hand haben, und weil er leidenschaftlich in sie verliebt war, kam er sich verwundbar vor, als sei er ihrer Gnade ausgeliefert. Die wollte sie auch zeigen - wenn er sich endlich wie ein Gentleman benahm. »Willie, wenn Sie mich brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden können.« Er stand unter der Tür seines Zimmers und bemühte sich, kühl zu erscheinen. Sie würde bald kommen. »Fünf Minuten«, prophezeite sie. »In fünf Minuten sind Sie wieder hier.« Er begehrte sie heftiger, als er zugeben wollte soviel stand fest. In dieser Verfassung würde er nicht lange durchhalten, der Arme. Indy gähnte bewußt auffällig: »Schätzchen, in fünf Minuten schlafe ich schon«, und schloß die Tür. »Fünf Minuten«, wiederholte sie. »Sie wissen es, und ich weiß es.« Indy öffnete seine Tür einen Spalt und spähte hinaus, klappte sie wieder zu. Willie warf ihre Tür knallend zu, das letzte Wort für sich behaltend. Indy stand in seinem Zimmer an die Tür gelehnt. Keine Schritte draußen, keine Bitten um Verzeihung. Ach, zum Teufel damit. Er ging zu seinem Bett und setzte sich. Er war wütend, und das aus gutem Grund. Willie marschierte weg von der Tür und setzte sich auf das Bett. Sie versank in der Daunenmatratze und murmelte Grimmiges vor sich hin. Er würde wiederkommen. So klug war er ja nun auch nicht, aber immerhin ein Mann - und sie war eine richtige Frau. Sie griff nach der Uhr am Bett und beschwor sie wütend. »Fünf Minuten.« Sie zog ihr Kleid aus. Indy zog die Jacke aus. Er funkelte böse die Uhr am Bett an. »Viereinhalb Minuten«, knurrte er. Einfach lächerlich. Sie war eine alberne Frau, das war ein alberner Palast, sie befanden sich in einer albernen Lage, und er fühlte sich einfach... bedrängt. Willie lief in ihrem üppig eingerichteten Zimmer herum. Sie blies Kerzen aus, drehte Lampen dunkler, blieb vor dem bodenlangen Spiegel stehen und begann sich herzurichten. Ihr Haar vertrug diese Feuchtigkeit einfach nicht. Konnte es daran gelegen haben? Wenn er nur nicht gar so abrupt hinausgestürmt wäre. Aber er würde wiederkommen.
Indy blickte in seinen Kommodenspiegel. Was war an seine Äußeren auszusetzen? Doch wohl gar nichts. Freilich war sie eine schöne Frau, das ließ sich nicht bestreiten - aber das konnte doch kein Grund sein, von ihm zu erwarten, daß er angekrochen kam. Er ging zum Sofa und deckte Shorty richtig zu. Ach, noch einmal zwölf Jahre alt zu sein. An der Wand hingen Gemälde. Sie zeigten Radschput-Prinzen auf tänzelnden Pferden, Landschaften, Tänzerinnen. Tänzerinnen. Tänzerinnen. Willie lag auf ihrem Himmelbett und übte diverse verführerische Posen. In Abständen sah sie auf und blickte in süßer Überraschung auf den in ihrer Vorstellung bußfertigen Besucher. »Aber, Doktor Jones...« Oder: »Oh, Indiana...« Auf ihrer Uhr am Bett war es 22.18 Uhr. Indy lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Wie sollte er jetzt einschlafen können? Hielt sie ihn für einen Mann aus Stahl? Konnte irgendein Mann solche Qualen aushaken? Auf seiner Uhr am Bett war es 22.21 Uhr. Willie griff nach ihrer Uhr, hielt sie ans Ohr, schüttelte sie. Tick, tock, tick. Sie trommelte mit den Fingern gereizt auf dem Bettpfosten. Konnten ihre Reize versagt haben? Verstand sie es nicht mehr, Männer zu fesseln? Wie konnte es sein, daß er jetzt nicht an ihrer Tür scharrte? Wie nur? Indy wäre gern aufgestanden, weigerte sich aber, es zu tun. Die Uhr neben ihm tickte. Er konnte länger warten als sie. Die Archäologie hatte ihm das Wartenkönnen beigebracht. Früher oder später würde sie es nicht mehr aushaken, würde nachgeben, sich erweichen lassen, zu ihm eilen. Er hoffte nur, es würde früher sein. Er blickte zur Tür. "Willie!« Er lächelte. Die Tür blieb zu. Er versuchte es mit anderen Tonfall. »Willie?« Nein. Er probierte es mit Lässigkeit. »Willie. Ach, hallo?« Die Tür blieb geschlossen. Short Round schlief weiter. In ihrem Zimmer probierte Willie neue Posen, neue Begrüßungen aus. "Jones. Doktor Jones. Ach, Indiana, hallo.« Indys Uhr zeigte 22.35 Uhr an. Er schleuderte sie auf den Boden und begann hin und her zu gehen. Willie rutschte zum Ende ihres Betts, streckte sich auf der Satindecke aus, die Arme an die Hüfte gestemmt. Sie glitt vom Bettende auf den Boden. Indy ging vor den Gemälden an der Wand auf und ab, die Prinzen zeigten, tänzelnde Pferde und Tänzerinnen, Tänzerinnen. Willie ging vor ihrer Gemäldereihe an der Wand hin und her und murmelte: »Nächtliche Betätigungen, Quatsch! Primitive Sexualsitten! >Ich sage dir morgen früh Bescheid!«« Auch Indy begann zu murmeln, während er hin und her lief. »Palastsklave. Ich soll ein eingebildeter Affe sein. Fünf Minuten.« Willie blieb stehen. Sie starrte sich im Spiegel an, fassungslos, enttäuscht, betroffen. »Ich kann es nicht glauben. Er kommt nicht.« Indy blieb stehen und starrte ins Leere. »Ich kann es nicht glauben. Sie kommt nicht. Ich kann es nicht glauben. Ich gehe nicht.« Hinter dem letzten Wandgemälde in der Reihe trat plötzlich ein schwarzgekleideter Mann hervor und legte eine Würgeschnur um Indianas Hals. Jones gelang es, die Garrotte mit einigen Fingern zu packen, aber trotzdem wurde ihm binnen Sekunden beinahe der Kehlkopf zerquetscht. Er rang erfolglos nach Luft und sank langsam auf die Knie. Seine Augen traten aus den Höhlen, als er auf die winzigen, grinsenden Totenschädel an den Enden der Todesschnur in den Fäusten des Mörders starrte. Mit einer letzten Gewaltanstrengung kippte Indiana nach vorn. Der Gegner flog über seinen Rücken auf den Boden. Der Mann riß ein Messer heraus, aber Indiana hieb ihm einen Blumentopf auf den Schädel. Der Dolch fiel klappernd auf den Boden. Short Round begann sich zu regen. Indy hörte ein Geräusch im Korridor und blickte zur Tür. Der Mann sprang ihn erneut an. Im Korridor stand Willie vor Indianas geschlossener Tür und rief: »Diese Nacht werden Sie nie vergessen! Es ist die Nacht, in der Sie mich verloren haben! Schlafen Sie gut, Doktor Jones! Angenehme Träume! Ich hätte Ihr größtes Abenteuer sein können!« Indy überschlug sich gemeinsam mit dem Angreifer. Sie rollten über die Fliesen. Short Round fuhr aus dem Schlaf empor. Als Indy schwankend aufstand, packte Shorty die Peitsche und warf sie ihm zu. Indy fing sie auf. Die Peitschenschnur wickelte sich um den Arm des Mörders, aber der Mann riß sich los und stürzte zur Tür. Indy ließ die Peitschenschnur ein zweites Mal sausen und erfaßte den Mann um den Hals. Der Angreifer zerrte mit einem heftigen Ruck daran, der Peitschenstiel wurde Indy aus der Hand gerissen und flog zum Deckenventilator hinauf. Die Peitsche wickelte sich um die Drehflügel wie Angelschnur um eine Rolle, so daß der Mörder wie eine dem Untergang geweihte Flunder langsam zur Decke hinaufgezogen wurde. Seine Zehen hoben sich vom Marmorboden. Er stieß einen kurzen, erstickten Schrei aus... seine Beine zuckten... und schon war er erhängt. »Shorty, stell den Ventilator ab!« rief Indy. »Ich kümmere mich um Willie.« Shorty drückte auf den Wandschalter. Der Ventilator kam zum Stillstand, als Indy hinausrannte. Er stürzte mit wild rollenden Augen in Willies Zimmer. Sie lag auf dem Bett. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
»Oh, Indy.« Er war doch gekommen. Ein Schatz. Vielleicht kam er mit der Uhr nicht so zurecht. Er hechtete auf das Bett. »Geh zärtlich mit mir um«, flüsterte sie. Er kroch weiter und starrte unter das Bett. Leer. Er stand auf begann wie ein Wilder das Zimmer zu durchsuchen. »Ich bin hier", rief Willie. Indy suchte weiter. Willie zog die Bettvorhänge zurück. Seine Augen waren gewiß von der Liebe getrübt. Er konnte nicht klar sehen. Indy ging um das Bett herum und blieb vor der Tür stehen. »Niemand hier«, murmelte er. »Nein, ich bin hier«, flüsterte Willie und zog den letzten Vorhang zur Seite. Indy ging zum Spiegel. Willie sprang vom Bett und folgte ihm. Er spürte an der Blumenvase einen Luftzug, der von links kam. Der Mörder in seinem Zimmer war durch einen Geheimgang hereingekommen. In diesem Raum mußte es ebenfalls einen geben. Er ging zu einer der Säulen. Der Luftzug war hier stärker. Willie ging ihm nach. »Indy, du benimmst dich so merkwürdig.« Indy starrte die Säule an. Eine nackte Tänzerin war in den Stein gemeißelt. Er begann die Vorsprünge abzutasten: Schuhe, Schmuckstücke, Hüften, Busen. Willie hielt das für überaus merkwürdig. »He, hier bin ich.« Der Hebel befand sich in dem Busen. Plötzlich verschwand die ganze Säule mit einem knirschenden Quietschen in der Mauer und gab dabei den Eingang eines Tunnels frei. Indy trat hinein. Er zündete ein Streichholz an und las die Inschrift an der Wand. »>Folge den Fußstapfen Shiwas.<« »Was heißt das?« flüsterte Willie aufgeregt. Sie war dicht hinter ihm. »>Verrate nicht.. .<« Er verstummte, zog den kleinen Fetzen alten Stoffs aus der Tasche und verglich ihn mit der Wandinschrift. Shorty tauchte unter der Tür auf und eilte auf die Nische zu. Indy las die Sanskrit-Inschrift auf dem Stoff. »>Verrate nicht diese Wahrheit.<« Er sah den Jungen an. »Shorty, hol unsere Sachen.« Während Indy in den Tunnel eindrang, stürmte Short Round zu ihrem Zimmer zurück.
Der Tempel des Todes »Was ist da unten?« fragte Willie mit zitternder Stimme. »Das will ich eben feststellen. Sie warten hier. Wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind, wecken Sie Captain Blumburtt und gehen uns nach.« Sie nickte. Short Round erschien mit Indys Tasche, Peitsche und Hut. Die beiden stiegen den Geheimgang hinunter. Shorty ging um die erste Biegung voran, um sicherzugehen, daß Indy nichts zustoßen konnte. Die Schatten wirkten aber sehr bedrohlich. »Doktor Jones, ich glaube, wir nicht sollten hier sein.« Indy packte ihn beim Kragen und stellte ihn hinter sich. »Bleib hinter mir, Shorty! Geh da, wo ich gehe. Und rühr nichts an!« Als Indy weiterging, bemerkte Short Round jedoch eine Seitentür, die Indy entgangen war. Short Round legte die Hand auf den Türknopf und zog fest daran. Die Tür brach entzwei und zwei Skelette stürzten auf ihn. Shorty setzte sich hart auf den Boden und schrie auf. Er hatte diese Figuren schon gesehen - in >Die Mumie<. Er hatte geglaubt, damals schon den Verantwortlichen klargemacht zu haben, daß er nie mit jemandem in dieser Verfassung zusammenstoßen wollte, schon gar nicht in einem dunklen Tunnel. Irgend jemand schien bemüht zu sein, ihm eine Lektion zu erteilen. Indy zog ihn hoch und schleppte ihn um die nächste Biegung. Hier kam hohltönender Wind auf und blies ihnen Hautfetzen indie Gesichter - Menschenhaut, wie es schien. Short Round zog sein Messer. »Ich gehen, wo du gehen. Ich nichts anrühren.« Mehr Hautlappen klatschten an ihre Gesichter. Shorty leierte «ne Folge von chinesischen Gebeten, Flüchen und Gespensterbannsprüchen herunter. Hier ging es eher zu wie in >Der Unsichtbare<: zerfetzte Hüllen, die von einer leeren Wesenheit abfielen. Shorty war froh, daß er solche Geschöpfe schon früher gesehen hatte. So konnte ihm hier nichts geschehen. »Reg dich ab, Kleiner!« Indy lächelte grimmig. »Sie wollen uns nur erschrecken.«
Sie gingen weiter. Der Tunnel war aus Stein - kühl, feucht, fest. Je weiter sie gingen, desto tiefer schien er in die Erde hinabzuführen und desto dunkler wurde es. Bald war es so finster, daß sie nichts mehr erkennen konnten. »Na gut, nun wird es richtig dunkel«, sagte Indy. »Bleib ganz nah bei mir.« Nach einigen Schritten nahm Shorty unter den Sohlen ein Knirschen wahr. »Ich auf etwas treten«, flüsterte er. »Ja, am Boden liegt etwas.« »Treten wie auf Glückskekse.« »Keine Glückskekse.« Indy schüttelte den Kopf. Es bewegte sich, was es auch sein mochte. Er zündete ein Streichholz an. Sie schauten sich um. Vor ihnen befand sich eine Wand mit zwei Löchern. Aus einem der Löcher quoll klebriges Zeug nebst Millionen zuckender, krabbelnder Käfer. Der Käferschwarm ergoß sich auf den Boden und bedeckte ihn völlig. Ein lebender Teppich aus glänzenden Käfern, huschenden Schaben und wimmelnden Larven. Short Round blickte hinunter und sah einige der Insekten an seinen Beinen hochkrabbeln. »Kein Plätzchen.« Er schnitt eine Grimasse. Indy streifte die Käfer ab. Im selben Augenblick brannte das Streichholz bis zu seinen Fingern herunter und erlosch. »Au! Los!« schrie er und stieß seinen kleinen Freund vor sich her. Sie rannten, so schnell sie konnten, direkt in die nächste Kammer. Gleich hinter der Schwelle trat Shorty auf einen kleinen Knopf im Boden. Dieser löste den Mechanismus aus, der hinter ihnen eine schwere Steintür zuschlagen ließ. »Oh nein!« stieß Indy hervor. Er sprang zurück und versuchte sie aufzuhalten. Aber sie schloß sich. Als er sich umdrehte, sah er die Tür an der anderen Seite der Höhle herabgleiten. Das schwache Licht dahinter erlosch. Indy hetzte zum Portal, kam aber erneut zu spät. Er setzte sich auf den Boden, um seine Gedanken zu ordnen. »Du böse auf mich?« fragte Shorty mit schwacher Stimme in der Dunkelheit. Er kam sich vor wie ein Kleiner Donner - eines der gemeinsamen Kinder vom Herrn des Donners und der Mutter der Blitze, die durch Unerfahrenheit bei guter Absicht ständig Mißgeschicke erleben. »Indy, du böse auf mich?« »Nein«, murmelte Indiana. Leise fügte er hinzu: »Nicht direkt.« Eher böse auf sich selbst. Er hätte den Jungen nicht mit hierhernehmen dürfen. Es war zu gefährlich. »Ach, du nur wütend?« »Stimmt«, sagte Indy Und zündete ein Streichholz an. Er fand am Boden einen verölten Lappen und zündete ihn an. Menschliche Skelette lagen auf dem Boden verstreut. Shorty ging auf An zu. Indiana wollte aber verhindern, daß der Junge unabsichtlich noch auf einen weiteren Auslösemechanismus trat. »Bleib stehen«, sagte er warnend. »Komm, stell dich an die Wand.« Short Round gehorchte. Er preßte sich mit dem Rücken an einen Steinblock, der aus der Wand ragte. Aber der Block glitt in die Wand hinein und löste so wieder eine Vorrichtung aus. Von der Decke senkten sich spitze Dornen herab. »Auch das noch«, stöhnte Indiana. Im Licht des brennenden Lappens erschienen die Dornen wie flammende Höllenzähne. Short Round schrie Indy zornig an. »Du sagen, ich an Wand stellen, ich tun, was du sagen. Ich nicht schuld, nicht schuld!« Indy hörte aber nicht zu. Er schrie, so laut er konnte, zur Tür hinaus: »Willie, kommen Sie runter!« In ihrem Zimmer hörte Willie Indiana rufen. Sie zog ihr Kleid an und trat in den zugigen Tunnel. »Indy!« schrie sie. Keine Antwort. Sie holte eine kleine Ölampe vom Tisch und ging den Tunnel entlang. »Bestimmt werde ich wieder ganz schmutzig!« murmelte sie, als sie um die erste Biegung schritt. Die beiden Skelette zuckten ihr entgegen. »Indy!« kreischte sie. »Hier sind zwei Tote!« »Hier werden gleich noch zwei Tote sein, wenn Sie sich nicht beeilen!« schrie er zurück. Sie lief vorbei an den widerlichen, klatschenden Hautfetzen, die steile Neigung hinab, in die tiefere Dunkelheit, den aufkommenden Wind. Er blies ihre Lampe aus. Dann kam der abscheuliche Gestank. »Uh, hier stinkt's!« stöhnte sie. »Willie, kommen Sie runter!« »Ich habe von euch beiden bald genug«, zischte sie. Was bildeten die sich ein! Sollte das nie ein Ende nehmen? »Willie!« Die Dornen an der Decke sanken herab, kamen immer näher. Sie sahen jetzt eher aus wie Schwertspitzen, rasiermesserscharf. »Ich komme ja schon!« rief sie. »Los, wir sind in Bedrängnis!« schrie er. Er sah Short Round an. »Gib mir dein Messer.« Er ließ sich den Dolch
geben und kratzte verzweifelt in den Fugen des eingelassenen Steinblocks. »In welcher Bedrängnis?« rief sie. Nun schoben sich auch aus dem Boden spitze Dornen. »In schwerer.« »Indy?« Sie ging weiter. Der Geruch wurde übler, seine Summe lauter. »Es ist ernst«, versicherte er. »Warum die Eile?« »Das ist eine lange Geschichte. Schnell, sonst erfahren Sie sie nie.« »Mein Gott, was ist das?« Sie blieb stehen, als sie etwas unter den Sohlen spürte. »Der ganze Boden hier ist voll. Das knirscht und... dann wird es breiig. Indy, was ist das? Ich kann überhaupt nichts sehen.« - Sie zündete ein Streichholz an Überall Käfer. Krabbelnde Käfer mit schwarzen Panzern, langbeinige Gliederfüßler, aufgedunsene, durchsichtige Lebewesen, die Skorpionen glichen, Wurmartiges, das sich schlängelte, hüpfende Heuschrecken, blinde Höhlengeschöpfe... Ihr wurde so übel, daß sie noch nicht einmal schreien konnte. Sie würgte nur. »Indy, lassen Sie mich rein! Hier sind überall Käfer, Indy.« »Willie«, sagte Indy auf der anderen Seite der Steintür, die sie trennte, »hier sind keine Insekten.« »Machen Sie die Tür auf und lassen Sie mich rein«, flehte sie. »Machen Tür auf und uns rauslassen«, heulte Shorty. »Uns rauslassen, rauslassen!« »Lassen Sie mich rein, Indy, bitte«, rief sie schrill. »Gleich. Arbeite dran.« »Indy, sie sind in meinen Haaren.« Bauten sich dort Nester, bohrten sich hinein, spannen Netze, klackten mit ihren großen Scheren. »Willie, halten Sie den Mund und hören Sie zu! Es muß einen Auslösedrehhebel geben.« »Einen was?« »Einen Griff, der die Tür öffnet.« »O Gott, Indy. Sie sind in meinem Haar.« Kratzend, nagend. Die Dornenspitzen waren nun auf Kopfhöhe. »Machen Sie die Augen auf, Willie! Sehen Sie sich um! Irgendwo muß ein Hebel verborgen sein. Los, suchen Sie!« »Da sind zwei Löcher«, wimmerte sie. »Ich sehe zwei quadratische Löcher.« »Gut. Jetzt das richtige.« Sicher das Loch, aus dem der klebrige Brei und die Insekten karnen. Das Ganze war wohl ein Witz, nicht wahr? Zögernd streckte sie die Hand nach dem linken, vergleichsweise sauberen Loch aus. Freilich nicht unbedingt sauber, aber doch wenigstens nicht mit diesem widerlichen Schleim... Eine Hand griff durch das linke Loch und packte die ihre. Indys Hand. »Nein, nicht dieses Loch, das andere!« schrie er. »Das rechte Loch!« »Da drinnen wimmelt es. Ich kann nicht!« widersprach sie. »Doch, Sie können. Tasten Sie in dem Loch herum.« Los, Kleine. Ich brauche deine Hilfe. »Tun Sie's doch.« Angeber, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun hatte. »Sie müssen es sofort tun!« brüllte er. Er war schon tief zusammengeduckt, die Dornen drückten in sein Fleisch. Willie schob die Hand in das Ekelzeug. »Mein Gott, es ist weich. Es bewegt sich. Es fühlt sich an wie eine Schüssel voll verfaulter Birnen.« »Willie, wir gehen hier zugrunde!« »Ich hab' ihn.« Sie fand einen Hebel und zerrte daran. Die Tür rollte zur Seite. Indy saß neben Shorty vor der Öffnung. Die Dornen zogen sich langsam zurück. Willie stürmte hinein und riß sich die Käfer aus den Haaren. Sie zitterte am ganzen Körper. Shorty lief zur anderen Tür, die nach oben glitt und rutschte am Boden über die Schwelle, ganz wie der berühmte Ty Cobb beim zweiten Baseball-Tor. Er wollte hinaus, bevor wieder etwas schiefgehen konnte. Willie stampfte mit den Füßen und schüttelte sich. »Schaffen Sie die weg! Sie sind überall, weg damit, ich hasse Käfer, sie sind in meinem Haar!« Als sie sich bückte, um sie auszukämmen, drückte sie wieder den Steinblock hinein, der den ganzen Ablauf nochmals auslöste. Die erste Tür begann sich zu schließen. Short Round rief hinter der zweiten Tür hervor: »Ich nicht gewesen. Sie gewesen. Los, raus hier!« Er begann die beiden in seiner Muttersprache anzufeuern, als die andere Tür und die Dornen erneut herabsanken. Wie ein Trainer der kantonesischen Jugendliga schrie er auf Chinesisch: »Rutschen, Indy, rutschen!« Indy packte Willie. Sie rannten durch die Höhle. Er stieß sie unter der herabgleitenden Tür durch und hechtete hinaus, wobei er seinen Hut verlor.
Dann griff er, bei einem Spielraum, der nur noch Zentimeter betrug, unter der absinkenden Tür durch, packte seinen Hut und riß ihn heraus, nur Sekunden, bevor die Tür auf den Boden krachte. Ohne Hut sollte man nicht auf Abenteuer gehen. Sie standen in einem großen, unheimlich beleuchteten Tunnel, durch den ein seltsamer, einzelner Windzug wehte, wie ein Trauermarsch heraufheulend aus dem innersten Erdkern. Das Licht kam von vorn, um eine Biegung des Tunnels. Rötliches Licht; dumpf, geisterhaft. Indy, Willie und Short Round gingen langsam zum Ende des Tunnels und starrten verblüfft auf den Anblick unter ihnen. Es war eine Höhle von ungeheurer Größe, jeder Quadratzentimeter darin bebauen, wie aus dem Fels herausgeschlagen, mit einer kathedralenartigen Kuppeldecke, getragen von Steinsäulen in Reihen, gemeißelt zu einem gigantischen unterirdischen Tempel, einem Tempel des Todes. Steinbalkone hingen über dem Granitboden, gestützt von Säulen und Bogen, die zu dunklen Nebenkammern führten. Aus diesen Grotten strömten Hunderte von Gläubigen und betraten singend den Tempel. Sie sangen im Chor, als Antwort auf die seltsamen, einsamen Winde, die heulend aus den Tunnels in den oberen Stockwerken der Höhle drangen. Diese fremdartige Tunnelmusik erzeugte ihre eigene Harmonie, ihre eigene Dynamik, aufund abschwellend in Tonhöhe und -stärke, aus allen mitschwingenden Höhlungen widerhallend. Und im Takt mit diesen Windstößen sangen die Gläubigen laut oder dissonant oder gedämpft oder schrill: »Gho-ram gho-ram gho-ram sundaram, gho-ram gho-ram gho-ram sundaram...« Riesenhafte Steinstatuen ragten über den Menschenmassen empor, Gestein in Gestalt von Elefanten, Löwen, Halbgöttern undd Dämonen, reich verzierte Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, manche dem schieren Wahnsinn entsprossen. Über den Balkonen loderten Fackeln und beleuchteten die Szene für die drei Zuschauer, die gebannt von ihrem winzigen Standplatz hoch über und hinter dem Schauplatz zusahen. Unter ihnen begann die geheimnisvolle Sekte sich vor einem riesigen Altar an der Rückseite des Tempels zu verbeugen. Von diesem Altar waren die Menschen durch eine Spalte im Boden getrennt. Die Spalte sah halb natürlich, halb gemeißelt und geformt aus. Aus ihr drang das matte, rote Licht, ihr entstiegen nach Schwefel stinkende Schwaden von Rauch und Dampf, bis sie von den stöhnenden, klagenden Winden durch irgendeinen anderen Tunnel hinausgeweht wurden. Der Altar selbst auf der anderen Seite der Spalte war in Rauch gehüllt, so daß man seine wahre Form nur ahnen konnte. Im Verlauf der Zeremonie traten Priester in langen Gewändern aus diesem Dunst. Sie trugen Kessel mit Weihrauch und reinigten die Luft um den Altar, als sie bis zum Rand der Spalte vortraten. Bald verflüchtigte sich der Rauch. Auf dem Altar wurde eine gigantische Steinstatue erkennbar, die halb in einer riesigen, in das Gestein gehauenen Kuppelnische stand. Es war Kali - die grauenhafte Beschützerin des Tempels, die bösartige, blutrünstige Göttin, Mittelpunkt all dieser Verehrung. Sie war mehr als sieben Meter hoch. In Stein gehauene Schlangen ringelten sich an ihren Beinen empor, um ihre Hüften hing ein Rock aus baumelnden Menschenarmen. Die Statue selbst besaß sechs Arme. Einer hielt ein Schwert, einer den abgetrennten Schädel eines geopferten Hünen an den Haaren, zwei stützten sie auf dem Altar, zwei ausgestreckte Arme ließen einen flachen Eisendrahtkorb an Ketten baumeln. Um ihre Schultern waren Halsketten aus Totenschädeln gelegt. Ihr Gesicht war grauenerregend, halb Maske, halb Totenkopf, eine abscheuliche Mißgeburt. Augen und Mund glühten im Widerschein geschmolzener Lava aus der Grube darunter, die ihre Steinkrallen schwärzte. Sie hatte keine Nase, nur ein mißgestaltetes Loch. Ihr Kopfschmuck war mit alten Zeichen übersät, die großes Unheil verkündeten. Die Priester blickten ehrfurchtsvoll zu der Gottheit hinauf. Die Gläubigen sangen lauter und leidenschaftlicher ihre Beschwörungen. Oben im Windtunnel fröstelte Willie. »Was geht hier vor?« flüsterte sie. Sie fühlte sich kalt, ausgelaugt, im Innersten aufgewühlt. »Eine Thug-Zeremonie«, sagte Indy. »Sie beten Kali an.« »Haben Sie das schon einmal gesehen?« »Seit hundert Jahren hat das niemand gesehen.« Er war aufgeregt und nervös. Was für eine unglaubliche Entdeckung! Eine ausgestorbene Religion, deren Rituale und Totems nun wieder so lebendig waren wie ehedem. Es war, als betrachte er die wiederauferstandenen Gebeine eines untergegangenen Stamms. Plötzlich hörten sie hinter dem Altar ein Heulen - unmenschlich, aber nur allzu menschlich. »Baatschao; muz baatschao. Baatschao koi muzbaatschao.« »Was ist das?« murmelte Willie. »Scheint das Hauptereignis zu sein«, erwiderte Indy. »Er ruft: >Rettet mich, bitte, rettet mich!<« Mit düsteren Mienen verfolgten sie das Schauspiel. Eine riesige Trommel erdröhnte dreimal. Der Gesang verstummte. Nur der Wind stöhnte unaufhörlich weiter. In seinem Widerhall trat eine neue Gestalt auf den Altar. Dies war der Hohepriester Mola Ram. Er trug ein schwarzes Gewand, seine Augen waren rot und eingesunken. Er hatte eine Halskette aus Zähnen um. Auf seinem Kopf trug er den oberen Schädelteil eines Büffels, dessen Hörner wie die des leibhaftigen Teufels
hinausragten. Er trat an den Rand der Spalte vor die Menschenmenge. Auf der anderen Seite, dem Hohepriester gegenüber, sah Indy eine vertraute Gestalt sitzen. »Da«, sagte er leise zu Willie. »Unser Gastgeber, der Maharadscha.« »Wen starrt er da an?« fragte Willie. »Das scheint der Hohepriester zu sein.« Short Round kam er vor wie Frankensteins Monster. Mola Ram hob die Arme über den Kopf. Wieder erhob sich hinter dem Altar ein klagender Schrei, als dringe er aus Kalis Statue selbst. Rasch wurde der wahre Ursprung des Schreis deutlich. Priester zerrten einen sich wehrenden, zerlumpten Inder vor den Altar und fesselten ihn an den rechteckigen Eisenkorb, der knapp über dem Steinboden von Kalis Armen herabhing. Alle sahen schweigend zu. Mola Ram ging zu dem gefesselten Opfer. Der auf dem Rücken liegende Mann wand sich hilflos auf dem hängenden Gestell, Arme und Beine gespreizt. Er schrie. Mola Ram murmelte eine Beschwörungsformel. Der Mann schluchzte. Mola Ram streckte die Hand nach dem Gefesselten aus. Seine Hand durchbohrte die Brust des Opfers. Durchbohrte sie, sank in den Brustkorb... und riß das zuk-kende Herz des Inders heraus. Willie preßte die Hand auf den Mund. Short Round riß die Augen weit auf. »Er sein Herz herausgerissen. Er tot.« Kaiser Shao-sin hatte die Herzen von Weisen herausnehmen lassen, hieß es, um zu sehen, ob das Herz eines Weisen wirklich von sieben Löchern durchbohrt war. Das Herz dieses Mannes hatte jedoch keine Löcher, und dieser Priester war nicht Shao-sin. Short Round kam sich vor, als wären sie in die Hölle gestürzt worden. Es gab zehn Höllen, beherrscht von den Jama-Königen. Auf verschiedenen Stufen konnte man in einem See aus Eis versenkt, an eine rotglühende Säule gebunden, in einem Teich von stinkendem Blut ertränkt, als Hungriger Dämon wiedererschaffen werden. ... oh, es gab noch viele Qualen. Dies hier war gewiß die fünfte Hölle, wo man das Herz der toten Seele immer wieder herausriß. Short Round wollte hier nicht sein. Indy glaubte zwar nicht an die Hölle, aber an das, was er sah. Und was er nun sah, war unfaßbarer als jede Hölle, die er sich je hätte vorstellen können. Er starrte gebannt auf den Mann, der geopfert wurde. »Er lebt noch«, murmelte Indiana. In der Tat schrie der Mann noch immer, und sein blutiges Herz schlug gleichmäßig in Mola Rams Hand. Mola Ram hob das Herz über den Kopf. Wieder begannen die Gläubigen zu singen: »Jai ma Kali, jai ma Kali, jai ma Kali...« Das Opfer war lebendig und kreischte. Man sah keine Wunde an seiner Brust, nur eine rötliche Stelle, wo Mola Rams Hand eingedrungen war. Die Priester hängten Ketten an den Eisenrahmen und drehten ihn um, so daß der Mann mit dem Gesicht nach unten über einer schweren Steintür im Boden schwebte. Die Tür begann sich mit dumpfem Dröhnen zu öffnen. Darunter tat sich eine Grube auf wie am Boden der Spalte: brodelnde, blutrote Lava. Dann wurde der Eisenrahmen in die Grube hinabgesenkt. Das Opfer sah das Magma langsam heraufsteigen. Sein Herz schlug in Mola Rams Hand weiter. Die Menge sang monoton, der Wind heulte unablässig. Das waren die letzten Laute, die er auf dieser Welt hörte. Sein Gesicht begann zu rauchen und aufzuplatzen, als die Lava näher an seinem herabsinkenden Körper loderte. Sein Fleisch zischte, schälte sich ab, verkohlte. Er versuchte zu schreien, aber die giftigen Dämpfe erfüllten seine Lunge; die sengendheißen Gase verbrannten seine Kehle. Sein Haar ging in Flammen auf. Oben im Tunnel schloß Willie die Augen. Indy starrte voller Entsetzen hinunter. Short Round schaute, wandte sich ab, schaute wieder. Er flehte das Himmlische Ministerium für Feuer an, ihn von diesem höllischen Reich zu erlösen. Neben dem Altar hielt Mola Ram immer noch das Herz in die Höhe. Es schlug immer noch und tropfte von Blut. Es begann zu rauchen. Dann stand es plötzlich in Flammen. Und ver-schwand. Der eiserne Rahmen wurde aus der Tiefe von Priestern hoch-gezogen, die ein großes Rad neben dem Altar drehten. Das Metall glühte rot wie ein Brandstempel, aber von dem Opfer war nichts mehr zu sehen. Es war völlig in Rauch aufgegangen. Die Menge skandierte: »Jai ma Kali, jai ma Kali, gho-ram sundaram...« Der Wind tobte. Indy, Willie und Short Round starrten mit glasigen Augen auf die Szene. Mola Ram verschwand hinter dem Altar. Drei Priester traten aus den Schatten und trugen in Stoff gewickelte Gegenstände zum Altar. Willie begann zu weinen. »Still«, flüsterte Indy, aber Short Round schien ebenfalls den Tränen nah zu sein und preßte Willie an sich.
Die Priester wickelten sorgfältig drei kegelförmige Stücke von kristallinem Quarz aus und trugen sie zum Sockel der Kali-Statue. Zwischen den Beinen der Statue war ein ungefähr ein Meter hoher Steinschädel angebracht, dessen Augen und Nase hohl waren. Die Priester führten die drei Kristalle vor dem Schädel zusammen. Die Kristalle begannen von innen heraus zu glühen. Die Priester führten die Steine auseinander und das Glühen hörte auf. Sie führten sie erneut zusammen und schoben sie in die drei Schädelhöhlungen, wo die Steine hell erleuchteten. Indiana sah mit wachsender Faszination zu. »Sie wußten, daß ihr Stein magisch war. Aber sie ahnten nicht, daß er zu den verschwundenen Sankara-Steinen gehörte.« »Warum leuchtet er im Dunkeln?« fragte Short Round zitternd. »Der Legende nach erglühen die Diamanten in den Steinen, wenn man diese zusammenführt.« Willie wischte sich die Augen und nahm sich zusammen. Sie lachte beinahe vor Erschöpfung und Anspannung. »Diamanten?« Ihr Interesse war erneut geweckt. Sie stieß Indy an. Die Sankara-Steine leuchteten grell und rissen alle hin, die im Netz ihrer glühenden Kraft gefangen waren. Die drei Priester verbeugten sich mehrmals vor den Kristallen und rutschten schließlich auf Knien rückwärts in die Dunkelheit hinter dem Altar. Die anderen Priester folgten ihnen. Dann zerstreute sich die ganze Menschenmenge. Innerhalb von wenigen Minuten war die Höhle wieder leer. Nur der Wind beklagte das Grauen. Indiana sah seine Freunde an. »Also gut, paßt auf. Ihr zwei wartet hier und verhaltet euch ganz still.« Short Round nickte. Er hatte es nicht eilig, näher dorthinzukommen. Er gab Indy Peitsche und Schultertasche. Willie schien ihrer Sache nicht so sicher zu sein. , »Halt, was machen Sie?« fragte sie scharf. Sie wollte nichts anderes, als von hier fortkommen. Indy blickte an der senkrechten Wand hinunter, die vom Ausgang des Windtunnels zum Steinboden tief unter ihnen steil abfiel. »Ich gehe da hinunter«, sagte er. »Da hinunter? Sind Sie verrückt geworden?« »Ich gehe nicht ohne die Steine.« Sie waren die Entdeckung des Jahrhunderts. Ihr Leuchten hatte ihn in den Bann gezogen. Er mußte sie haben. Sie war plötzlich wutentbrannt. »Sie verlieren Ihr Leben, wenn Sie hinter Ihrem verdammten Reichtum und Ruhm herjagen!« Er sah sie mit tiefer Rührung an. Es kümmerte sie zumindest, was aus ihm wurde. »Vielleicht, eines Tages«, sagte er mit einem Lächeln. »Heute noch nicht.« Heute würde er diese magischen Steine holen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, stieg er vorsichtig aus der Tunnelmündung ab. Es gab im rauhen Gestein genug Stellen, wo Hände und Füße Halt finden konnten. Aufgrund seiner Geschicklichkeit gelang es Indy, zu einer der riesigen Stützsäulen an der Rückseite der Höhle hinüberzuklettern. Dort ließ er sich an der Säule hinunter und hielt sich an Steinkobras, herausgehauenen Löwen und Tän-zerinnen fest. Nach langer Zeit gelangte er schließlich auf den Boden. Lautlos lief er durch die Höhle und blieb an der Bodenspalte stehen. Er blickte hinunter. Dort brodelte Feuer wie die flüssige Seele des Tempels. Der Rauch stieg ihm ätzend in Augen und Nase. Er mußte zurückweichen. Auf der anderen Seite stand die Statue Kalis, vor ihr befanden sich die drei Sankara-Steine. Für einen Sprung war die Entfernung zu groß. Indiana blickte nach links und rechts; auch einen Umweg gab es nicht. Dann bemerkte er auf der anderen Seite des Abgrunds zwei Säulen zu beiden Seiten des Altars, auf denen Steinelefanten standen. Indy entrollte seine Peitsche und ließ mit meisterlicher Präzision die Schnur fliegen. Die Viehpeitsche knallte. Das Ende der Schnur wickelte sich fest um den Stoßzahn des vorderen Elefanten. Indy zerrte am Peitschengriff, zog die Lederschnur straff, atmete tief ein - und rannte los. Am Rand des Abgrunds sprang er hoch. Die Peitschenschnur spannte sich, als er über der Spalte war. Er schwang hinaus und hinüber. Er landete in der Nähe der hochragenden Göttin auf den Füßen. Der Wind wehte stärker und grollte höhnend. Indy löste die Peitschenschnur vom Elefantenstoßzahn. Short Round winkte ihm vom Windtunnel hoch oben zu: Alles klar. Es war schwer, auf diese Entfernung Leibwächter zu sein, aber Shorty nahm seine Aufgabe auch hier ernst. Indy nickte und rollte die Peitsche wieder zusammen, um sie an seinem Günel zu verstauen. Er drehte sich nach dem Altar um, wo die drei Steine glühten. Indiana trat vorsichtig näher. Er bückte sich, um sie genauer zu betrachten. Der mittlere Stein - der aus Mayapore gestohlen worden war zeigte drei aufgemalte Linien. Sie schimmerten grell. Indy berührte den Stein. Er war nicht heiß. Vorsichtig hob er ihn an die Augen und blickte in das glühende Innere. Ein magischer Diamant funkelte im Inneren des Steins. Sein Licht war ätherisch und bannend. Wunderschön. Regenbogen-licht. Sternenlicht. Aber sobald man ihn auch nur kurze Zeit aus seiner Höhlung entfernte, verblaßte das Licht und erlosch. Indy hielt ihn wieder an die anderen. Erneut strahlten sie alle drei hell.
Auseinander, dunkel; zusammen, hell. Er steckte die Steine ein. Im Beutel berührten sie einander alle. Es war wie eine winzige, kühle Sonne. Willie und Short Round verfolgten ängstlich, wie Indy die drei Sankara-Steine verstaute. Er zog die Schnur des Beutels zu. Das Licht war nicht mehr zu sehen. Auch Kali beobachtete ihn. Indiana wich zurück und starrte zu der furchtgebietenden Statue hinauf. Kali blickte auf den winzigen Sterblichen hinunter... und sprach. Indiana sprang zurück. Das dämonische Gesicht schien ihn auszulachen, erneut zu sprechen, zu murmeln, anzuklagen... Halt. Die Geräusche kamen hinter dem Altar hervor, sie drangen nicht aus dem Mund der Statue. Indy lachte über sich selbst - wenn auch nicht laut - und trat hinter den Altar, um zu sehen, woher das käme. Willie und Short Round erschraken, als Indy hinter dem Altar verschwand. »Ach, verdammt, wo geht er jetzt hin?« zischte sie. Sie blieb nun mal nicht gern allein. Der Wind stöhnte wieder. Der Ton in ihrem Tunnel begann aber ein wenig zu schwanken, in einer Reihe seltsamer Stakkato-modulationen seine Höhe zu verändern. Short Round drehte sich um und sah zwei Schattengestalten durch den Tunnel auf sie beide zukommen. Ihre Körper im Gang veränderten den Ton des Windes und erzeugten die seltsame Melodie. Short Round erstarrte. »Was –« begann Willie, dann sah sie es. Im nächsten Augenblick stürzten sich die beiden riesigen Thugwachen auf sie. Short Round riß noch rechtzeitig seinen Dolch heraus, um den einen Thug an der Hand zu verletzen. Der Mann stutzte überrascht und von Schmerzen gepeinigt. Der andere packte Willie. Sie hatte mit solchen Kerlen wie diesen schon gerauft, seitdem sie Lippenstift auflegte. Mit einer geübten Bewegung riß sie das Knie zwischen seine Beine hoch. Er stöhnte auf und sank in die Hocke. Der zweite Thug ging vorsichtig auf Short Round zu. Willie sprang ihm auf den Rücken, schlang die Arme um seinen Kopf und versuchte ihm die Augen auszukratzen. Er fuhr herum und hieb sie an die Wand. Sie sank auf den Boden und rang erst mal nach Atem. In diesem Augenblick stach Short Round dem Thug den Dolch ins Bein und sprang zurück. Er und der andere Angreifer umkreisten einander. Der zweite Thug kroch auf Willie zu. Als er noch einen Meter entfernt war, schaufelte sie eine Handvoll Erde hoch und schleuderte sie ihm ins Gesicht. Der Mann krallte wild in seine Augen, während Willie aufstand. »Lauf, Willie! Lauf!« schrie Short Round. Er hielt den anderen Thug immer noch auf Abstand. Willie lief zehn Meter den Tunnel hinauf, blieb stehen und drehte sich um. Shorty schwang den Dolch hin und her und hielt sich auf Abstand mit dem Mörder. Plötzlich schrie der Thug etwas auf Hindi, sprang Short Round an und riß ihn dabei nieder. Das Messer fiel zu Boden. Er packte Shorty am Fußknöchel und zerrte den zappelnden Jungen zu sich heran. Willie zögerte. Der zweite Thug raffte sich gerade auf, wobei er große Mühe hatte. »Lauf!« schrie Short Round. »Holen Hilfe!« Willie rannte durch den Tunnel zurück. Das Letzte, was sie sah, war Short Round, der am Hals hochgehoben wurde, bis seine kleinen Füße hilflos über dem Boden baumelten. Inzwischen betrat Indiana die dunkle Kammer hinter dem Altar. Deren einzige Beleuchtung rührte von zwei Quellen: Das rauchig-rote Licht vom Inferno im Tempel umströmte hier die gigantische Silhouette der Kali-Statue, und vor ihm drang außerdem ein schwach leuchtender Strahl gelblichen Lichts aus einem offenbar riesigen Loch im Boden herauf. Indy überquerte langsam eine schmale Steinbrücke, die zu dem Loch führte. Worüber sie sich spannte, verbarg die Dunkelheit. Schließlich erreichte er die andere Seite. Als er sich der großen Vertiefung näherte, hörte er Stimmen und Metall auf Gestein klirren. Der Boden lag ganz im Dunkeln. Er kroch ganz vorsichtig zu dem Abgrund, entschlossen, sofort die Flucht zu ergreifen, sollte es notwendig werden. Er erreichte den Rand und starrte hinunter. Er erblickte eine große, tiefe Grube. An der Seite führten konzentrische Pfade in zahlreiche enge Tunnels. In die Gänge hinein und aus ihnen heraus krochen abgemagerte Kinder, die Säcke mit Erdreich und Gestein schleppten. Andere hohläugige Kinder, zumeist angekettet, zerrten diese Säcke zu Loren auf Schienen, die kreuz und quer durch die Grube liefen. Dies war offensichtlich ein Bergwerk. Fackellicht warf unheimliche, tanzende Schatten auf die Wände. Hinter den fernsten Schienen in der großen Grube stürzte senkrecht ein Wasserstrom die Höhlenwand herab und füllte eine riesige Zisterne, die in einen glitzernd-dunklen Teich überfloß. Maschinen surrten; Auspuffdämpfe hingen schwer in der unbewegten Luft, schwarze Feuer brachen aus Schächten im Gestein, Funken sprühten aus Löchern, wo Eisen auf Stein knirschte. Kinder wimmerten oder waren stumm, je nach Veranlagung, aber alle sahen elend aus. Unbarmherzige Thug-Wachen hieben mit Peitschen auf sie ein oder traktierten sie erbarmungslos mit Fäusten, was manchen sogar Freude zu machen schien. Indy sah mehrere Kinder stolpern und stürzen, während sie sich abmühten, einen Sack voll Gestein auf eine der
Loren zu hieven. Sie bekamen aber nur Tritte dafür. Ein Kind stand nicht mehr auf. Glückliche Seele, es hatte endlich den einzigen Ausweg aus dieser Hölle gefunden. Indiana schob sich um die Grube herum. Es war grauenhaft, eine Szene von solcher Entsetzlichkeit, daß sie jedem Verständnis spottete. Er wußte nicht, was er tun sollte. Das ging weit über das hinaus, was sogar mit den grausigsten Riten der heidnischsten vereinbar war.Er verschob den Beutel mit den Steinen auf seiner Schulter. Sie belasteten ihn, jetzt da sich ihm verschiedene Möglichkeiten des Handelns boten. Er konnte gehen, wenn er wollte, die Sankara-Steine in seinem Besitz, unbezahlbare Kleinodien, die man jahrhundertelang untersuchen und als Kostbarkeiten schätzen würde. Aber er konnte ein Kind klagen hören. Er blickte hinunter und sah einen hünenhaften, muskulösen Thug mit nackter Brust den elenden kleinen Sklaven mißhandeln. Unbändige Wut wallte in Indiana auf. Er ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen. Der Thug schien den ungeheuren Druck von Indys Blick auf seinem Rücken zu spüren. Er hörte auf, das Kind zu schlagen, und starrte hinauf. Seine und Indys Blicke begegneten sich, hielten sich gegenseitig fest, rangen miteinander. Der Thug lächelte mit schlaffem Mund. Er genoß den Augenblick. Der brutale Koloß stand tief unter ihm. Indy konnte immer noch fliehen, wenn er das vorzog. Die Wahl fiel ihm nicht schwer. Er bückte sich, ergriff einen Steinbrocken, richtete sich auf, hob ihn über den Kopf und schleuderte ihn in das Bergwerk hinunter. Bis er unten ankam, mußte er eine schnelle Fahrt erreicht haben, aber der Thug fing ihn auf. Fing ihn einfach auf. Der Schwung drückte ihn ein wenig zusammen, dann richtete er sich auf und sah wieder zu Indy hinauf. Erneut begegneten sich ihre Blicke, erneut lächelte der Thug - aber diesmal prägte er sich Indys Gesicht ein, jede kleine Einzelheit, damit er diesen winzigen Rebellen nicht vergaß, der es gewagt hatte, ihn zu ärgern. Indy erwiderte das Lächeln, obwohl er sich darüber im klaren war, daß er in der ersten Runde nicht gut abgeschnitten hatte. Das überraschte Sklavenkind blickte erschrocken zu ihm hinauf. Er nahm eine Siegerpose ein und zog seinen Hut vor den verwirrten Thug-Wachen, die herbeieilten, um zu sehen, was es gab. Das ist erst der Anfang, ihr Halunken, dachte er. Er machte sich auf die Suche nach einem Felsblock, als etwas Aufregendes geschah. Am Rand der Grube bröckelte der Boden ab. Es wurde eine kleine Geröllawine. Und wurde, weil der Zufall es so wollte, eine große. Binnen eines Augenblicks gab der ganze Boden nach, ja, dieser ganze Teil der Umrandung kam ins Rutschen, und Indy stürzte mit ihm ab. Schutt und Indiana kippten hinunter in das Bergwerksinnere, prallten ab von Wandsimsen und lockerem Erdreich, bis Indy sich in einem Haufen Geröll am Schachtboden wiederfand. Zerschlagen und mit Schnittwunden übersät, hob er den Kopf. Thug-Wachen umzingelten ihn. Sie wirkten viel größer und zorniger als noch Augenblicke zuvor. Er lächelte den Hünen an und schüttelte den Kopf. »Wie kann einer nur so häßlich sein!«
...Traufe Die Wachen packten ihn, schlugen ihn nieder und schleppten ihn in eine kleine Zelle. Dort kettete man seine Handgelenke an die niedrige Decke. Die Handfesseln, die in sein Fleisch schnitten, weckten ihn noch so rechtzeitig, daß er die Gittertür zufallen sehen konnte. Als sie mit einem großen Schloß abgesperrt wurde, liefen drei andere Gefangene, die in der Ecke gekauert hatten, auf ihn zu. Zwei davon waren indische Kindersklaven, der dritte Short Round. Der Junge umarmte Indy unter Tränen. Wegen seiner Ketten konnte Indiana die Umarmung nicht erwidern. Er konnte hören, wie unter ihnen im Steinbruch Kinder ausgepeitscht wurden. Es war das grauenhafteste Geräusch, das er je gehört hatte. Er mußte hier heraus. Shorty trat zurück und begann mit einer Strafpredigt. »Du mir versprochen, nach Amerika mitnehmen. In Amerika das nicht passieren. Ich dir dauernd sagen: Du mehr auf mich hören, länger leben.« Es war nicht zu fassen! Indy, geschnappt wie ein Kleiner Donner! Indy nickte lächelnd. Er fragte sich, ob Shorty ihn mit Reden aus den Eisen würde befreien können. Wäre Willie hiergewesen, ihr hätte er es zugetraut. Short Round zeigte auf einen der Jungen. »Das Nainshuk aus dem Dorf. Er sprechen für Ausländer gut Englisch. Er sagen, sie ihn bringen her zu Arbeit in Bergwerk.« »Aber warum das?« fragte Indy. »Kinder sind so klein«, erwiderte Nainshuk. »Wir können in Tunnels arbeiten.« »Warum seid ihr zwei dann eingesperrt?« »Jetzt sind wir zu groß, um in die engen Tunnels zu kriechen ...« Die Kehle des Jungen schnürte sich zu. Er verstummte. »Was man jetzt mit euch machen?« fragte Short Round mit angstvoll geweiteten Augen.
»Ich bete zu Shiwa, mich sterben zu lassen«, stammelte Nainshuk, »aber ich sterbe nicht. Nun wird mich Kali ergreifen.« »Wie?« »Sie werden mich zwingen, das Blut von Kali zu trinken. Dann falle ich in den schwarzen Schlaf von Kali Ma.« »Was ist das?« fragte Indy. Der Junge starrte leer vor sich hin. »Wir werden wie sie. Wir sind am Leben, aber wie in einem Alptraum. Wenn du das Blut trinkst, wachst du nicht auf aus dem Alptraum Kali Ma.« Indy und Short Round sahen das Entsetzen, das im Gesicht des Jungen geschrieben stand. Shorty flüsterte den Namen des Gottes der Gespenstertür. Indy schwor im Namen dieser unschuldigen Kinder Rache. Plötzlich hörte er ein Klirren. Indy sah zwei Wachen die Zellentür aufsperren. Nainshuk und der zweite Junge schrien auf, rannten zur Rückwand der Zelle und zitterten im Dunkel wie gefangene Tiere, die das Unvermeidliche erwarten. Die Wachen waren aber nicht der Kinder wegen erschienen. Sie wollten Indy und Short Round holen. Sie lösten Indianas Ketten, trieben die beiden Freunde aus der Zelle, den Schlängelpfad entlang der Bergwerksgrube hinauf, durch einen langen, dunklen Tunnel. Am Ende des Tunnels öffnete sich eine dicke Holztür. Die Gefangenen wurden hineingestoßen. Sie stolperten in den Raum. Es war die Kammer des Hoheprie-sters Mola Ram. Der Ort war eine Galerie des Todes. Ritualstatuen und grauenhafte Ikonen bedeckten die Wände und starrten wie die Augen des Bösen herab. Das Gestein selbst schien mißgestaltet zu sein. Kleine Risse durchzogen den Boden. Roter Dampf quoll heraus und erfüllte die Höhle mit fauligem Gestank. Indy spürte ein Würgen im Hals. In einer Ecke war ein Eisenkessel bis zum Überquellen mit glühender Kohle und Räucherstäbchen gefüllt. Ein zwitterhafter Mann mit geschminkten Lippen, dünnen Armen, zarten Händen und einem vom Irrsinn gezeichneten Gesicht war dort beschäftigt. Er schaufelte die Kohlen um und summte ruhig vor sich hin. Auf der anderen Seite des Raumes stand die bizarrste Statue, die Indiana je gesehen hatte. Sie konnte nur einem Alptraum entsprungen sein. Es war die Verkörperung des Todes in Stein. Sie hatte doppelte Menschengröße. Ihr Kopf besaß die Form eines Totenschädels, der an der Rückseite aber viel zu groß war, mißgestaltet, ein Wasserkopf, der Unterkiefer in einer irren Grimasse viel zu weit aufgeklappt. In jeder Augenhöhle brannte eine Kerze, ebenso auf der Stirn. Der Körper war jedoch kein Skelett, sondern ein Frauenleib, aber ebenfalls verformt: Kein Hals, keine Arme, asymmetrische Brüste, Beine, die zu einem klumpigen Sockel zusammenschmolzen. Aus dem Steinschädel rann Wachs herab, aus den Augen in die Nasenhöhle, den hängenden Kiefer hinunter wie Speichel, über die verkürzten Schultern und die übergroßen Brüste -Kerzenwachs, und, wie Indy jetzt sehen konnte, eben gerinnend: frisches Blut. Neben der Scheußlichkeit stand ein riesiger, bärtiger Thug und grinste irr. Er trug Armbänder aus Menschenhaar. Es war derselbe Bewacher, auf den Indy den Steinbrocken geworfen hatte, der Mann, der ihn hatte auffangen können. Nun war Indy sein Gefangener, und er gedachte sich zu revanchieren. Und in der Mitte des Raumes saß Mola Ram, die Beine gekreuzt, die Augen geschlossen. Für Indy war es die erste Gelegenheit, den Hohepriester aus der Nähe zu sehen. Er bot einen grauenhaften Anblick. Sein Kopfschmuck in Form eines Büffelschädels reichte über die Stirn herab. In dessen Mitte war ein menschlicher Schrumpfkopf befestigt. Mola Rams Gesicht war in schreckenerregenden, okkulten Mustern bemalt. Er hatte schlechte Zähne. Seine Augen waren eingefallen. Sein Schweiß roch nach verfaulendem Fleisch. Seine Augen öffneten sich. Er lächelte. »Ich bin Mola Ram. Sie sind dabei ertappt worden, als Sie versucht haben, die Sankara-Steine zu stehlen.« »Niemand ist vollkommen.« Indy lächelte ebenfalls. Die Steine begannen zu glühen. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, aber da waren sie, am Sockel der Statue. Sie schienen als Antwort auf die Erregung des Hohepriesters aufzuleuchten. Mola Rams Augen trübten sich, während er gebannt auf die pulsierenden Kristalle starrte. »Zu Beginn waren es fünf Steine«, sagte er. »Im Lauf der Jahrhunderte wurden sie durch Kriege zerstreut oder von Dieben wie Ihnen gestohlen.« »Die Leute müssen besser gewesen sein als ich«, gab Indy bescheiden zurück. »Zwei fehlen euch immer noch.« »Nein, sie sind hier«, widersprach Mola Ram. »Irgendwo. Vor hundert Jahren, als die Briten diesen Tempel überfielen und mein Volk metzelten«, rief er, »verbarg ein treuer Priester die letzten beiden Steine hier unten in den Katakomben.« Indy begriff plötzlich die ganze Grauenhaftigkeit der Vorgänge. »Danach also laßt ihr die Sklaven schürfen, diese Kinder.« Wieder stieg grenzenlose Wut in ihm auf.
»Sie graben nach Edelsteinen, um unsere Sache zu fördern«, bestätigte Mola Ram, »gewiß, und sie suchen auch nach den beiden letzten Steinen. Bald werden wir alle fünf Sankara-Steine haben. Dann sind die Thugs allmächtig.« »Man kann Ihnen jedenfalls nicht vorwerfen, Sie hätten keine blühende Phantasie«, höhnte Indy. »Sie glauben mir nicht?« Der Hohepriester sah Indiana an. »Sie werden es, Doktor Jones. Sie werden ein wahrer Gläubiger werden.« Er gab ein Zeichen. Die Wachen ließen einen eisernen Kragen um Indianas Hals zuschnappen, zerrten ihn zur Todesstatue und ketteten ihn an. Sein Rücken war an die Vorderseite der Statue gepreßt, die Ketten spannten sich von seinem Hals und den Handgelenken um die Statue zu deren Rückseite. Er konnte das Blut riechen, das die Kinnlade der Statue befleckte. Er hatte Angst. Diese fiebernde Luft, diese wahnsinnigen Priester - hier war alles möglich. Er nahm sich trotzdem vor, seine Angst nicht zu zeigen. Eine solche Befriedigung wollte er ihnen nicht verschaffen. Diese Fanatiker lebten von Angst, von Angst und Leiden. Er gedachte ihre Gelüste nicht zu befriedigen. Und er wollte Short Round keinen Anlaß zur Verzweiflung liefern. Der Junge stand immer noch zitternd am Eingang. Er wollte ein Beispiel für Short Round geben, wollte ihm zeigen, daß Würde über Besudelung triumphierte, sogar an einem so grauenvollen Ort wie diesem... wenn man ein Herz besaß, das stark genug war. Der Hüne trat vor Indy hin. Indy grinste wild. »Hallo. Ich hasse brutale Halunken.« Der Thug grinste ebenfalls. Er hatte Maulheldentum wie dieses oft erlebt. Er wußte, daß es nutzlos war. Die Tür ging auf. Der junge Maharadscha kam herein, gefolgt von dem jungen Nainshuk, der vorher mit Indiana in einer Zelle gewesen war. Das Kind wirkte jetzt anders, wie Indy feststellte. Es war so still wie ein Segelschiff in einer Flaute. In den Händen trug es einen Menschenschädel. Mola Ram wandte sich an Maharadscha Zalim Singh. »Eure Hoheit werden die Bekehrung dieses Diebs miterleben.« Der Maharadscha blieb mit einem Ausdruck der Besorgnis vor Indiana stehen. »Sie werden nicht leiden«, versicherte er. »Ich bin vor kurzem volljährig geworden und habe das Blut Kalis getrunken.« Indiana war deshalb kaum beruhigt. Er sah, wie Mola Ram den Totenschädel von Nainshuk entgegennahm. Es war ein lachender Schädel, noch mit zerfetzter Haut bedeckt, die Nase halb weggefault, die Augen fast herausgeschält. Die ledrige Zunge hing schief heraus. Mola Ram trug den Schädel zu Indy. Der Hüne packte Indy am Gesicht, drückte seinen Kopf nach hinten an die Brust der Todesstatue und zwang ihn, den Mund zu öffnen. Bevor Indiana wußte, wie ihm geschah, bevor er reagieren konnte, kippte der Hohepriester den grausigen Schädel nach vorn und schüttete Blut aus seinem Mund, das über die Lederzunge herabrann, in Indys Mund. Shorty kreischte auf. »Nicht trinken, Indy! Ausspucken!« Er rief mit all seinen inneren Kräften nach Huan-t'ien, dem Höchsten Herrn des Dunklen Himmels, daß er die bösen Winde aus diesem Raum vertreibe; er rief nach dem >Schatten<, der wußte, was in Herzen wie diesen lauerte; er rief nach schneller Erlösung. Er weinte. Indy war einen Augenblick lang ohne Orientierung. Er hatte Folterung erwartet, magische Sprüche, aber nichts zu trinken. Die scheußliche Flüssigkeit würgte ihn, bevor er sie auf Mola Ram hinausspie. Der Hohepriester wich wutentbrannt zurück. Warmes Blut rann über sein Gesicht und seinen Mund, ehe er sich die Lippen leckte. Er sprach in Hindi zum Maharadscha. Zalim Singh zog eine kleine Puppe aus der Tasche. Die Figur trug eine lange Hose und einen winzigen Schlapphut. Ihre Haut war heller als die der meisten Puppen hier; die sorgsam aufgemalten Gesichtszüge wirkten entschieden westlich. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Indiana Jones war zu erkennen. Der Maharadscha hielt die Puppe Indy vor das Gesicht, um sie ihm zu zeigen, dann fuhr er mit ihr über Indys Körper, wo sie Schweiß, Schmutz und Hautausdünstung aufnahm. Dann begann der Maharadscha die Puppe in die Flammen zu tauchen, die aus dem Eisenkessel in der Ecke schlugen, tauchte sie tief hinein und zog sie wieder heraus. Kaum tauchte die Puppe ins Feuer... da wurde Indy von Schmerzkrämpfen geschüttelt. Sein Körper schien in Flammen zu stehen, als lodere sein Gehirn. Er schrie mörderisch auf. »Doktor Jones!« rief Shorty klagend. Eine derartige Entsetzlichkeit mit ansehen zu müssen, zerriß dem Jungen beinahe das Herz. Er stieß eine Reihe chinesischer Flüche aus, rannte hin, versetzte dem Maharadscha heftige Tritte. Der kleine Monarch fiel hin und ihm entglitt die Puppe. Indy erschlaffte sogleich. Short Round hechtete nach Indys Peitsche, wurde aber von einem der Thugs zu Boden geworfen. Mola Ram erteilte Befehle, worauf der Hüne Indys Peitsche aufhob. Indiana wurde für einen Augenblick losgemacht, herumgedreht und neuerlich angekettet, mit dem Körper an die Statue gepreßt. Sein Kinn lag an der grauenerregenden, blutglitschigen Brust, sein Blick ging direkt auf das Fratzengesicht.
Er spürte, wie ein kalter Laut in seiner Brust aufquoll. Nainshuk ging, um den Schädel neu mit Blut zu füllen. Mola Ram begann leiernd zu singen. Shorty raffte sich auf, stürzte sich auf seinen Bewacher und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein, wurde aber rasch von einigen Priestern überwältigt und an der gegenüberliegenden Wand angekettet. Dann peitschte man die beiden aus. Zuerst Indy, während Shorty beim Zusehen weinte. Dann Shorty. »Laßt ihn in Ruhe, ihr Dreckskerle«, murmelte Indiana halb betäubt. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Dafür würde er einen angemessenen Preis fordern. Sie ließen Short Round wirklich in Ruhe und hieben dafür wieder auf Indy ein. Die Lederschnur der Peitsche zerschnitt sein Hemd, riß ihm die Haut auf. Bald durchtränkte Blut die Hetzen von Stoff und Fleisch. Indy versuchte sein Denken auszuschalten. Er atmete tiefer, so daß die Kerzen in den Augen der Todesstatue erloschen. Das schien Mola Ram noch mehr zu erbosen. »Das wagst du nicht«, rief der Hohepriester. Nainshuk kam mit dem blutgefüllten Schädel zurück und gab ihn Mola Ram. Indy wurde wieder herumgedreht, so daß er die Statue erneut im Rücken hatte. Der Hüne zwängte Indys schlaffen, mißhandelten Mund auf und preßte seine Nasenflügel zusammen. Erneut schüttete Mola Ram das Blutelixier aus dem lachenden Schädel in Indianas Mund. »Erst werden die Briten niedergemetzelt«, sagte der Hohepriester währenddessen. »Dann überrennen wir die Moslems und zwingen ihren Allah, vor Kali niederzuknien. Schließlich wird der Hebräergott stürzen. Und endlich wird der Christengott besiegt werden und vergessen sein.« Das Blut war eingegossen. Der Hüne preßte Indys Mund zusammen. Indy würgte, spuckte, erstickte fast, hielt den Atem an und... schluckte endlich. »Bald wird Kali Ma die Welt beherrschen«, verkündete Mola Ram. Willie stolperte durch den Eingang zum Geheimtunnel in ihr Zimmer zurück. Sie war am ganzen Körper von Insekten bedeckt, die sich bei ihrer Flucht auf sie gestürzt hatten. Sie streifte sie ab, tat, was sie tun mußte, um sich zu retten. Und um Indy zu retten. Für einen Zusammenbruch blieb später noch Zeit -hoffentlich. Sie raffte sich mit letzter Kraft hoch, eilte zur Tür und stürmte hinaus. Sie flog durch die Korridore des verlassenen Palasts und suchte in den schwächer werdenden Schatten nach Hilfe. Die Morgendämmerung konnte nicht mehr weit sein. Im ersten Innenhof blieb sie keuchend stehen. Sie rief laut. Niemand antwortete. Verzweifelt ging sie durch den nächsten Korridor und versuchte ihr Schluchzen zu unterdrücken. Hier hingen Gemälde an den Wänden, die Porträts der Maharadscha-Ahnen. Sie schienen zu lauern, sie in dieser kalten, spätnächtlichen Stunde aus einer anderen Zeit zu bespitzeln. Mit langsamen Schritten bewältigte sie diesen unheimlichen Spießrutenlauf. An seinem Ende nahm sie aus dem Augenwinkel etwas wahr. Sie fuhr herum... eines der Gesichter! Ihr Atem stockte - es war ein Spiegel. Aber dann erschien ein Gesicht hinter ihr im Spiegel und bewegte sich erneut. Sie fuhr wieder herum, die Hand zum Schlag erhoben. Es war nur Chattar Lal, der Premierminister. »O mein Gott, haben Sie mich erschreckt!« stieß Willie erleichtert hervor. »Hören Sie, Sie müssen uns helfen. Wir haben da einen Tunnel entdeckt...« Sie griff nach seiner Schulter, teils, um sich festzuhalten, teils, um ihm die Dringlichkeit der Lage zu vermitteln. Captain Blumburtt kam in diesem Augenblick um die Ecke. Er nickte Willie höflich zu, sprach aber Chattar Lal an. »Jones ist nicht in seinem Zimmer.« Er wandte sich an Willie. »Miß Scott, meine Truppe zieht ab, wenn es hell wird, falls Sie wünschen, daß man Sie bis Delhi eskortiert.« Willie wurde bleich. »Nein, Sie dürfen nicht gehen! Es ist etwas Furchtbares passiert. Sie haben Short Round, und ich glaube, daß Indy -« »Was?« entfuhr es Blumburtt. Willie nickte erregt. »Wir haben einen Tunnel gefunden, der zu einem Tempel unter dem Palast führt! Bitte, kommen Sie mit, ich zeige Ihnen alles!« Die beiden Männer sahen einander zweifelnd an. Willie war empört, verzweifelt, ihrer Sinne kaum noch mächtig. Sie packte Blumburtts Arm und zerrte ihn mit. Chattar Lal begleitete sie. »Miß Scott, das ergibt doch alles keinen Sinn!« sagte er herablassend. Ihre Zähne begannen zu klappern. »Schnell. Ich fürchte, sie bringen die beiden um. Wir haben laienhafte Dinge dort unten gesehen - ein Menschenopfer. Man schleppte einen armen Mann heran, und dann griff ein anderer in seine Brust und riß ihm das Herz heraus.« Sie preßte eine Hand auf die Augen, um das Bild zu vertreiben. Die beiden Männer blickten einander noch skeptischer an. »Wer?« fragte Blumburtt überaus taktvoll.
»Der Priester«, stieß sie hervor. »Sie haben Short Round fortgeschleppt, und Indy ist verschwunden. Ich weiß nicht, wo Indy ist. Unmittelbar unter meinem Schlafzimmer ist diese gigantische Kathedrale - ein Tempel des Todes. Dort unten findet ein Kult statt mit den heiligen Steinen, nach denen Indy suchte.« Chattar Lal lächelte nachsichtig. »Ich spüre in alledem die Wirkung des Opiumrauchens. Vielleicht hat Miß Scott die Angewohnheit in Shanghai erworben?« Sie verlor die Beherrschung. »Wovon reden Sie? Ich bin nicht rauschgiftsüchtig! Ich habe es gesehen! Ich zeige es Ihnen!« Sie zog sie in ihr Zimmer. »Da - sie ist noch da!« Sie zeigte auf die dunkle Öffnung in der Mauer. »Da, ich sagte es doch!« zischte sie triumphierend. Blumburtt ergriff eine Öllampe und hob sie hoch, um die Öffnung des Geheimgangs zu beleuchten... als plötzlich Indiana heraustrat. Er wischte sich einen der schwarzen Käfer von seiner Kleidung. Indy lächelte schwach. »Was wird hier gespielt, Verstecken?« Sie waren durch sein unerwartetes Auftauchen alle ein wenig verblüfft. Willies Schrecken verwandelte sich aber sofort in Erleichterung. Sie lief auf Indy zu und schlang die Arme um ihn, einem Zusammenbruch nah. »Oh, Indy, du warst plötzlich fort«, schluchzte sie. »Sag ihnen, was geschehen ist, mir wollen sie nicht glauben.« Sie bebte in seinen starken Armen. Er führte sie zum Bett und setzte sich zu ihr. Körperlich und seelisch erschöpft, überließ sie ihm widerspruchslos sich und alles Handeln . »Es ist schon gut«, flüsterte er in ihr Haar. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren.« »Sie halten mich für geisteskrank«, stieß sie hervor, immer noch von Schluchzern geschüttelt. »Sag ihnen, daß ich es nicht bin, Indy! Bitte, hilf mir!« Die furchtbaren Ereignisse der vergangenen Nacht hatten ihren Tribut gefordert. Willie schluchzte an Indianas Brust. Sie war außer sich und schien untröstlich zu sein. Indy drückte sie auf die Satindecke nieder, streichelte ihre Wange und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »He, ich dachte, dich kann nichts umwerfen. Willie?« Er wischte ihr die Tränen ab. Sie hielt seine Hand umklammert. »Was?« flüsterte sie. Nun, da er hier war und sie in Sicherheit, durfte sie sich gehenlassen. ' »Du mußt jetzt schlafen.« »Ich will nach Hause«, erwiderte sie und schloß die Augen. Die Matratze fühlte sich so weich an, seine Stimme klang so tief, seine Hand war so fest... »Ich kann es dir nicht verdenken«, murmelte er beruhigend. »Erholsame Ferien waren das bestimmt nicht.« Sie lächelte unwillkürlich, während er ihre Wange weiterstreichelte. Sie fühlte sich mühelos in Schlaf versinken. Es war beinahe... ein Wunder. Indy bewahrte sie vor allem Bösen. Sie hatte noch nie ein solches Gefühl des Wohlergehens, der ungestörten Friedlichkeit erlebt. Es war, als schwebe sie auf dem Klang seiner Stimme sanft hinab wie ein verzaubertes Kind. Sie fühlte sich eingehüllt in die Sicherheit seiner Nähe. Sie fühlte sich selig. Von Frieden erfüllt. Verzaubert. Indiana stand auf. Er trat zu Blumburtt und Chattar Lal in den Korridor vor Willies Zimmer. Der Premier ging voran zur Veranda. Über den Berggipfeln wurde es hell. Orangerote Strahlen erhellten die tiefhängenden Wolken. Die Luft war frisch und parkte für den neuen Tag. Im Tal unter ihnen konnten sie die Kavallerietruppen sehen, die ihre Pferde und Lastwagen bereit-machten. Indy atmete die frische Morgenluft tief ein. »Ich bin mein Leben lang in Höhlen und Tunnels herumgekrochen.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich selbst ermahnen. »Ich hätte jemand wie Willie nicht mitnehmen dürfen.« Blumburtt nickte, als habe er die ganze Zeit so etwas erwartet. »Miß Scott geriet in Panik?« »Als sie die Insekten sah, wurde sie ohnmächtig«, gab Indy achselzuckend zurück. »Ich trug sie in ihr Zimmer zurück. Als ich wieder in den Tunnel ging, um mich genauer umzusehen, schlief sie fest.« »Und hatte vermutlich Alpträume«, meinte Chattar Lal. Indy sah den Premierminister an und nickte. »Alpträume, ja«, sagte er mit vollem Verständnis. »Das arme Kind.« Indy nickte. »Dann muß sie aus dem Schlaf hochgefahren sein, ohne zu wissen, daß sie träumte, und rannte hinaus.« Blumburtt blinzelte in die Sonne, die sanft über seinem kleinen Winkel des Britischen Empire aufging. »Haben Sie in dem Tunnel etwas entdeckt, Doktor Jones?«
Indiana starrte ebenfalls in die Sonne, aber für ihn ging sie nun über einem anderen Teil des Universums auf. »Nichts«, erwiderte er. »Ein blinder Gang. Der Tunnel ist seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden.« Tief unter ihnen schrie ein Feldwebel herauf, daß die Einheiten abmarschbereit seien. Blumburtt winkte zur Bestätigung. »Nun, Premierminister«, sagte der Captain, »mein Bericht wird festhalten, daß wir in Pankot nichts Ungewöhnliches gefunden haben.« Chattar Lal bekundete seine Achtung vor der weisen Entscheidung der Krone durch eine Verbeugung. »Ich bin sicher, der Maharadscha wird erfreut sein, Captain.« Blumburtt wandte sich ein letztes Mal an Indy. »Wie ich vorhin schon sagte, Doktor Jones, es wäre uns ein Vergnügen, Sie nach Delhi zu eskortieren.« Indiana lächelte friedvoll. »Danke, aber ich glaube, Willie ist noch nicht reisefähig.« Im Tal wirbelte Staub auf, als die britischen Einheiten über den niedrigsten Bergpaß abzogen: Infanterie, Kavallerie, Nachschubfohrzeuge. Captain Blumburtt fuhr in einem offenen Wagen voran. Den Schluß machte eine schottische Militärkapelle mit Trommeln und Pfeifen, die einen langsamen Marsch spielte. Kurze Zeit später schlängelten sich die Marschkolonnen auf der anderen Seite des Berges hinab und überließen den Palast von Pankot sich selbst. Willie erwachte durch die getragene Melodie der verklingenden Dudelsäcke aus ihrem Halbschlaf. Sie wußte nicht recht, ob sie träumte oder nicht, so fern und unheimlich klang die Musik. Durch die Moskitonetze um das ganze Bett sah sie die Tür zu ihrem Zimmer aufgehen. Da die Vorhänge noch zugezogen waren, herrschte noch Halbdunkel, aber sie konnte Indianas Gestalt leise herankommen sehen. Sie lächelte. Endlich kam er zu ihr. Sie drehte sich ein wenig herum, als er sich auf die Bettkante setzte. Er blieb in dieser Haltung, mit dem Rücken zu ihr, die Schultern herabgesunken. Der Arme. Er mußte völlig erschöpft sein. Sie blickte durch das feingewebte Netz auf seinen Hinterkopf, seine zerzausten Haare. »Indy? Hast du mit ihnen gesprochen?« »Ja«, sagte er. »Sie glauben mir also jetzt«, ergänzte sie. »Ja, sie glauben dir«, wiederholte er. Seine Stimme klang seltsam monoton. Er muß erschöpfter sein, als ich dachte, ging es ihr durch den Kopf. Jetzt muß ich zart mit ihm umgehen. »Dann werden sie die Soldaten in den Tempel hinunterschik-ken«, sagte sie laut. Er sagte gar nichts. Sie hoffte, daß er nicht im Sitzen eingeschlafen war, obwohl sie es hätte verstehen können. Sie würde ihn zu sich hinunterziehen, wo er hingehörte. »Gestern nacht, als sie dich töten wollten, stand ich Todesäng-ste um dich aus«, gestand sie. »Nein, sie werden mich nicht töten.« Sie legte die Hand auf seinen Rücken. Er fühlte sich feucht an, durch sein Hemd, durch das Moskitonetz. Sie lächelte mit zärtlichem Vorwurf. »Weißt du, seit ich dich kenne, hast du mir nichts als Probleme gebracht. Aber ich muß zugeben, ich würde dich vermissen, wenn es dich nicht mehr gäbe.« Indiana begann sich langsam umzudrehen. »Du wirst mich nicht verlieren, Willie.« Sie zog ihre Hand zurück. Ihre Finger waren voll Blut. Sein Gesicht drehte sich herum, bis es sie geradewegs anstarrte. Das Netz hing zwischen ihnen, ein dünner Schleier, aber trotzdem konnte sie die Veränderung in seinen Augen erkennen. Seine Augen, sonst so scharf, gesprenkelt mit kupferglänzendem Gold, kristallklar - seine Augen hatten eine unbeschreibliche Veränderung durchgemacht. Sie wirkten undurchsichtig. Trübe. Ihr wurde kalt. Sie fühlte sich tief in ihrem Innern elend. Sie schauderte. Sie hatte ihn verloren. Im Tempel begann das Morgenritual. Ein Meer gespenstischer Gesichter schwankte im monotonen Heulen der Winde in der unterirdischen Kathedrale. Der Opfergesang schwoll langsam, organisch an, indem er sich vom eigenen Grollen und Heulen nährte. Zwischen den Gläubigen saß der junge Maharadscha auf einem niedrigen Podium am Rand der Erdspalte und starrte über den rauchenden Abgrund hinweg auf den Altar von Kali Ma. »Jai ma Kali, jai ma Kali...« Erneut glühten die drei Sankara-Steine magisch zu Füßen der Todesgöttin. Mola Ram tauchte plötzlich aus den wirbelnden Dämpfen um den Altar auf. Auch er sang. »Jai ma Kali, jai ma Kali...« Altardienerinnen erschienen aus Nebenkammern, in wallende, rote Gewänder gehüllt. Sie gingen an der Reihe schwarzgekleideter Priester vorbei und malten Linien auf ihre Stirnen, während Mola Ram die Versammlung in Sanskrit ansprach. Chattar Lal, ebenfalls in einem langen Gewand, stand neben
Indiana links vom Altar. Ein Altardiener malte die Ritualzeichen auf Lals Stirn. Indiana starrte leer in die zuckenden Flammen, die aus dem Abgrund lohten. Er durchlebte nun einen Alptraum. Strömende Flammen am Boden des Abgrunds huschten über die Oberfläche, sprangen gekrümmt hoch, verwandelten sich in schwarze Vögel, die im Irrsinn flatterten und nach Plätzen suchten, wo sie landen konnten. Immer höher flogen sie, klatschten gegeneinander und an die Steinwände, stürzten kreischend aus dem Abgrund herauf... und in seinen Kopf. Dort war kein Gehirn mehr, nur eine riesige, schattengefüllte Höhle, durchflattert von den Riesenvögeln. Sie schienen nirgends landen zu können und klatschten unentwegt ihre Flügel an die Innenwand seines Schädels. Schatten wisperten in dieser endlosen Mitternacht. Irgendwo flackerte eine Kerze. Er bewegte sich, ohne sich zu bewegen, zurück in der Zeit, im Raum, eine Stunde, ein Verlies, einen Blutdurst, ein Lied der Finsternis, flog durch dunkle Tunnels, in denen Tod aufblitzte, schmerzerhellt und grabbeschwert, kam heraus in Willies Kammer, strömte aus der steinernen Wunde. Was wird hier gespielt, Verstecken? Willie war da, die Zauberin, wand ihre Fühler um seinen Rücken; ihre Finger waren flammende Krallen, die seine Haut zerfleischten. Oh, Indy, du bist entkommen, sagte sie, erzähl, was geschehen ist, sie wollen mir nicht glauben. Ihr Haar loderte, ihr Mund war eine verräterische Höhle ohne Boden, ihre Zunge ein Salamander, ihre Augen waren eisige Spiegel, die das Antlitz seiner eigenen dunklen Seele zeigten. Er ging zu ihrem Bett. Ihr flammendes Haar besprühte seine Wange. Die Vögel in seinem Kopf flatterten wild, wetzten ihre warfen Schnäbel am Inneren seines Schädels. Es ist schon gut, jetzt kann dir nichts mehr passieren. Sie halten mich für geisteskrank, sag ihnen, daß ich es nicht bin, Indy, bitte, hilf mir. Ihre Salamanderzunge peitschte hinaus, als sie ihren Kopf zu seinem Körper hinunterbeugte. Ihre Schluchzer übertönten die Bißgeräusche; die Echse riß große Fetzen aus seinem Fleisch, öffnete seinen Brustkorb. Er legte sie auf die Überdecke, he, ich dachte, dich wirft nichts um, Willie, Tränen strömten über ihre Wangen, Tränen aus Blut, er berührte sie, und sie wurden zu Lava, brannten seine Finger weg bis auf die Knochen, weiße Knochen, klaffend im Dunkelwind. Was? flüsterte sie. Du mußt jetzt schlafen. Die Schlange in ihrem Mund hatte sich durchgefressen zu seinen Rippen, zerknackte sein Brustbein. Ich möchte nach Hause, sagte die Schlange. Ihr Zuhause war in seiner Brust. Ich kann es dir nicht verdenken, erholsame Ferien waren das nicht. Die Schlange glitt in seine Brust, rollte sich zusammen, schlief. Die Zauberin schlief. Die Vögel flatterten. Er trat zu Blumburtt und Chattar Lal auf die Veranda. Blum-burtt hatte kein Gesicht. Die Sonne brach in blutigem Nebel über den Gipfeln hervor. Lal sprach, aber die Worte kamen aus Indys Mund, eine Gasblase. Ich bin mein Leben lang in Höhlen und Tunnels herumgekrochen, ich hätte jemand wie Willie nicht mitnehmen sollen. Der gesichtslose Captain nickte. Als sie die Insekten sah, wurde sie ohnmächtig, ich trug sie in ihr Zimmer zurück, als ich wieder in den Tunnel ging, um mich weiter umzusehen, schlief sie fest. Die Schlange in seiner Brust veränderte die Lage, rollte sich wieder zusammen, verfiel erneut in unruhigen Schlaf. Und während sie schlief, hatte sie sicherlich Alpträume. Alpträume. Ja. Das arme Kind. Zwei der lichtlosen Vögel gerieten aneinander, kämpften, stürzten auf den Boden seines Schädels, lagen dort flatternd auf dem Rücken, verwundet, entsetzt. Haben Sie in dem Tunnel etwas entdeckt, Doktor Jones? Nichts. Nur ein blinder Gang. Verlassen. Die verlassenen Höhlungen in seinem Schädel hallten; die Echos zerbrochener Federn, am Stein scharrend. Leer, verdunkelt' Die Vögel waren fort. Aber ich glaube, Willie ist noch nicht reisefähig. Er kehrte in ihr Zimmer zurück. Sie schlief noch, die Zauberin, in ihrem Bett zusammengerollt. Die Schlange in seiner Brust regte sich. Die Zauberin wurde wach. Er setzte sich zu ihr. Er saß abge-wandt, damit sie nicht das zerfetzte Fleisch seiner
Brust, nicht die Öffnung sehen konnte, durch die das Reptil hineingekrochen war, um an seinem Herzen zu liegen. Indy? Ja. Sie glauben mir also jetzt. Ja, sie glauben dir. Du läßt uns keinen Zweifel. Zauberin mit flammendem Haar, du wirst sterben, bevor ich zulasse, daß du das Untier in meiner Brust weckst. Ich dachte, sie würden dich töten. Nein, sie werden mich nicht töten. Sie fuhr mit ihren Krallen an seinem Rücken herab, zerfetzte die Haut, zog Blut heraus. Du wirst mich nicht verlieren. Er drehte sich um, starrte in ihre Spiegelaugen, sah sich selbst: Mann aus Rauch, durchtränkt von Entsetzen, blutend, bemüht, die Schlange ruhigzuhalten, auf Echos in der Dunkelheit lau-scbend, wartend auf den zersprungenen Schrei. Die Schlange verdrehte sich. Aus der Feme kam ein Flattern. Indiana surrte weiter in die lohenden Flammen des Abgrunds, fahrend Mola Ram sprach. Chattar Lal übersetzte für Indiana die Rede des Hohepriesters. »Mola Ram berichtet den Gläubigen von unserem Sieg. Er sagt, die Briten haben den Palast verlassen, was die neue Macht von Kali Ma beweist.« Indy nickte hypnotisiert. »Ja, ich verstehe.« Er verstand gut. Mola Ram beendete seine Rede. Wieder erhob sich leiernder Gesang. Der Wind heulte. Die Schwefeldämpfe quollen empor und verdünnten sich. Indiana wiegte sich auf den Absätzen und starrte zu dem göttlich inspirierten Götzenbild hinauf. Unter dem Tempel gruben im Dunkel des Bergwerks Kinder mit blutenden Fingern in der Erde, während fette Wachen Müßiggänger oder jene, die zu krank waren, um weiterzuarbeiten, mit Ledergurten peitschten. Manchmal stürzte die Erde ein, wobei Kinder lebendig begraben oder vom Geröll zerquetscht oder verstümmelt oder erstickt wurden. Short Round arbeitete nun auch dort. Er schwitzte neben den anderen, den verlorenen Kindern, krallte seine Finger ins Gestein, suchte die beiden letzten Sankara-Steine. An den Fußknöcheln angekettet, plagten sie sich ab und beteten um den Tod; sie, die dem Untergang geweiht waren. Short Round und fünf andere gruben einen neuen Tunnel. Die Endgültigkeit der Dinge begann ihm klarzuwerden. Die Last dieses Wissens - die Qual für den Rest des kurzen Lebens von Short Round - traf ihn mit voller Wucht und warf ihn in den Staub. Was konnte das alles bedeuten? Was war mit Indy geschehen? Auf Indy konnte er sich nicht mehr verlassen. Indy hatte den bösen Trunk geschluckt, durch den aus Dr. Jones ein ganz anderer, grausamer Mensch geworden war. Indy war dahin. Shorty flehte das Himmlische Ministerium der Zeit an, die Länge seines Aufenthalts an diesem Ort zu verkürzen. Er saß, den Tränen nah, auf dem Boden, griff nach einer Handvoll Erde, ließ sie durch die Finger rieseln. »Ausgeschieden«, flüsterte er. Er saß noch nicht lange, als schon eine Lederschnur seinen Rücken traf. Nur der plötzliche Schreck verhinderte, daß er vor Schmerzen aufschrie. Der Aufseher ging weiter. Shorty machte sich wieder an die Arbeit. Er und zwei andere Kinder stemmten sich gegen einen großen Felsbrocken in der Wand, der dem künftigen Tunnel den Weg versperrte. Sie zerrten, sie hebelten; endlich gab er nach. Er lockerte sich, rollte einen kurzen Abhang hinunter - und Short Round stieß unwillkürlich einen Schrei aus. Sie hatten eine Ader geschmolzener Lava freigelegt. Aufge-, staut, kaum in Bewegung, zischte sie wie eine argwöhnische Kobra. Die Kinder schrien und zeigten darauf, bis der Aufseher kam. Er peitschte sie unbarmherzig, weil sie so dumm und laut waren. Seine Augen spiegelten das glühende Gift der nahen Lava. Plötzlich spie die dünne Spalte eine kleine Dampfwolke. Sie übersprühte die Beine des Aufsehers mit fein verteilter Lava. Er kreischte, stürzte zu Boden und versuchte das schmelzende Erz von seiner Haut zu kratzen. Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte den Tunnel. Während die Kinder ihn beobachteten, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Sein Gesicht entspannte sich auf einmal und verlor seinen harten, kantigen Ausdruck. Seine Augen, die noch kurz zuvor die Blutfarbtöne in der Lava widergespiegelt hatten, trübten sich mit menschlicher Schwachheit und schienen lebendig zu werden, sich zu erinnern. Er hörte auf zu stöhnen. Sein Blick richtete sich auf Short Round. Der Mann wirkte beinahe dankbar. Er schien den Tränen nahe zu sein, so als erkenne er, daß er nur einen Alptraum erlebt hatte und wieder wach geworden
war. Er flehte Short Round um Vergebung an - zuerst in Hindi, dann auf Englisch. Plötzlich erschienen andere Wachen. Sie packten ihren hingestürzten Kameraden und zerrten ihn aus dem Tunnel. Er wehrte sich und versuchte sich zu befreien. Wollte wach bleiben. Er wollte nicht in den Alptraum von Kali zurückkehren. Short Round begann allmählich alles zu begreifen, als die Aufseher, deren Seele versklavt worden war, ihren armseligen Kameraden fortschleiften. »Das Feuer«, flüsterte Short Round vor sich hin. »Das Feuer ihn aufwecken! Ich kann sorgen, daß Doktor Jones -« Bevor er den Satz noch ausgesprochen hatte, hob er einen schweren Felsbrocken hoch. Die anderen Kinder beobachteten ihn angstvoll. Sie fürchteten, er könnte ihn dem letzten Aufseher, der eben verschwand, nachschleudern und damit allen weitere Peitschenhiebe eintragen. Er warf ihn aber nicht dem Aufseher nach, sondern hieb ihn auf die Fußketten, die ihn an die anderen Kinder fesselten. Das Knöcheleisen mußte rostig sein, sagte er sich. Sehr viele Schläge würde es nicht aushallen können. Keiner der Aufseher rechnete damit, daß eines der Kinder ernsthaft versuchen würde, die Flucht zu ergreifen. Wohin hätten sie gehen sollen? Short Round lächelte grimmig bei dieser neuen Erkenntnis. Wissen war Macht, hatte Dr. Jones ihm immer wieder eingeschärft. Mit dieser Macht würde er Dr. Jones befreien. Immer wieder ließ er den Felsbrocken auf seine rostigen Fesseln niedersausen, während die anderen Kinder ihn nervös anstarrten. Short Round war zur Flucht entschlossen. Und er hatte, wovon die Aufseher nichts ahnten, ein Ziel. Der Wind heulte an der Höhlendecke und gesellte sich zum atonalen Sprechgesang der im Tempel versammelten Menschenmenge. Mola Rams hohe Stimme schwang sich über den Chor hinaus. Der Maharadscha saß gebannt auf seinem Podest, umgeben von Rauch und Lärm. Chattar Lal stand noch immer neben Indiana. »Verstehst du, was er uns sagt?« fragte er den Neubekehrten. Indiana nickte dumpf. »Kali Ma beschützt uns. Wir sind ihre Kinder. Wir schwören Treue und verehren sie mit Opfern von Fleisch und Blut.« Chattar Lal wirkte zufrieden. Sein Schüler entwickelte sich sehr rasch. Ein Schrei hinderte ihn jedoch an der Antwort - herzzerreißend, voller Entsetzen, aus den rauchverhüllten Schatten aufsteigend. Indiana sah unbewegt zu, als man Willie herauszerrte. Sie trug jetzt Rock und Oberteil eines Radschput-Mädchens, geschmückt mit Juwelen und Blumen. Sie wurde von zwei Priestern festgehalten, während sie aufheulte, sich losreißen wollte, schweißüberströmt, weinend, fluchend, spuckend. Sie ahnte, welches Schicksal sie erwartete. Als man sie vor die Statue Kalis schleppte, entdeckte sie Indiana. »Indy! Hilf mir! Um Gottes willen, was ist mit dir?« Indy starrte sie gleichgültig an, während man ihre Handgelenke an den quadratischen Eisenrahmen kettete, der von den starken, unermüdlichen Armen der grausigen Steingöttin herabhing. Die Zauberin zischte ihn an, Indy, hilf mir, um Gottes willen, was ist mit dir, aber er konnte über ihren Verrat nur lächeln. Alles war jetzt rot, aber im Negativ, so daß hell erschien, was dunkel war, dunkel, was hell; aber alles rot. Außer der Zauberin. Sie war schwarz. Schwarz und laut summend, als bestehe sie aus zehntausend Hornissen. Sssssssshhh, kreischte sie ihn an. Psssst, dachte er, du weckst die Schlange. Aber Kali war ja hier. Kalis Inspiration allein würde das Summen zum Schweigen, die Schlange in seiner Brust zur Ruhe bringen. Nur durch Qual und Folter und Opfer für Kali Ma würde das Summen aufhören, die Schlange schlafen. Indy blickte auf seine Füße hinunter. Eine lebendige Boa constrictor glitt über den Steinboden, unterwegs zu einem dunklen Ort. Indy bückte sich, hob sie auf und streichelte ihren Kopf. Sie waren jetzt Seelengeschwister. Er hielt die Schlange an seine Brust, dorthin, wo ihre Schwester schlief- hielt sie so, daß Willie seine neue Familie sehen konnte. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. »Indy«, flehte sie. »Laß nicht zu, daß sie mir das antun. Laß das nicht zu!« Aber er rührte keinen Finger, um ihr zu helfen. Er streichelte nur immer diese verdammte Schlange. Sie mußte sterben. Sie mußte auf grauenhafte Weise sterben. Unter Qualen. Allein. Auf irgendeine Weise hatten sie ihn in ihre Gewalt gebracht, das konnte sie deutlich erkennen. Aber auf welche Weise? Er war immer schon so arrogant gewesen, aber sie hatte das ganz nett gefunden - wenigstens manchmal. Konnte Arroganz diese... Besessenheit erklären? Ja, besessen, so sah er aus.
Oder vielleicht war dies nur der letzte Akt einer mächtigen Verführung, einer Verlockung durch Reichtum und Ruhm, die er immer gesucht hatte. Verlockung konnte sie verstehen - die Diamanten waren gewiß verlockend genug -, aber das schien doch wohl zu weit zu gehen. Magie? Sie wußte es nicht und wollte es nicht wissen. Sie wußte nur, daß sie sterben mußte, und sie wußte nicht, warum, und wollte es nicht wissen; sie haßte ihn dafür und hatte Angst. Die Priester fesselten ihre Füße an den Korb. »Hört auf, ihr tut mir weh!« kreischte sie. »Du gottverdammter, lausiger Dreckaffe!« Vor Zorn stand ihr Schaum auf den Lippen, dann verlegte sie sich wieder aufs Flehen. »Seid doch nett, Leute. Macht schon.« Und als das keine Wirkung hatte, wieder der Hilfeschrei: »Indy!« Mola Ram ging um sie herum, als die Vorderseite des Rahmens zugeklappt wurde und sie mit gespreizten Armen und Beinen in dem dünnen Korb eingeklemmt war. Indiana wandte den Blick von ihr ab und betrachtete liebevoll das Gesicht der monströsen Göttin über ihnen. Er ließ seine Schlange auf den Boden fallen. Sie kroch in eine Ecke. Die Priester rissen Willies Halsketten herunter. »Ihr habt vielleicht Nerven!« brüllte sie. »Ich habe gleich gewußt, daß ihr ganz billige Saukerle seid! Ihr hebt euch das Flitterzeug für eine auf, die - na, so gut wie ich wird sie nie damit aussehen!« Sie war trotzig geworden, verächtlich. Mola Ram trat vor sie hin. Er schien ihr Aufbegehren zu genießen. Er verbeugte sich knapp, dann hob er die Hand bedrohlich zu ihrem Herzen. Eisige Kälte durchströmte sie, als sie die Finger des Hoheprie-sters auf ihre Brust zukommen sah. Das hatte sie schon einmal erlebt; das Entsetzen der Erinnerung lahmte sie. Ihre Knie waren wie Gummi. Hätten nicht Ketten und Eisendraht sie festgehalten, sie wäre zu Boden gestürzt. Ihre ganze innere Kühnheit schrumpfte angesichts der näherkommenden Hand zu nichts zusammen. Sie begann zu flehen. »Warte. Noch nicht. Bitte. Ich bin zu allem bereit. Ich kenne viele Politiker und wichtige Industrielle. Ich war zum Abendessen bei Tschiang Kai-schek eingeladen. Ich kenne Leute, die für AI Capone arbeiten.« Ein surrealer Gedanke überfiel sie, und sie lachte grell. »Hast du vielleicht einen Vetter, der Frank Nitti heißt? Er lebt in Chicago. Du könntest tatsächlich sein Bruder sein.« Mola Ram verzog höhnisch den Mund. Er führte die Hand immer näher heran. Sie spürte seine eisigen Finger am Stoff über ihrer Brust. Sie spürte einen grauenhaften Druck, als dringe ein Finger in einen Kehlkopf oder ein Daumen in ein Auge. Übelkeit erregender Druck, unbarmherzig, unaufhaltsam. Sie wurde ohnmächtig. Im halbdunklen Tunnel schlug Short Round gleichmäßig zu, Stein auf Eisen, bemüht, seine Fessel zu durchtrennen. Genau das hatte er in >Ich floh als Kettensträfling< gesehen, nur fiel dies jetzt schwerer als damals das Zusehen. Sein Arm wurde müde, seine Verzweiflung gewann die Oberhand. Was sollten Indy und Willie ohne ihn anfangen? Was, wenn das Rad der Seelenwande-rung sie im nächsten Leben trennte? Das mochte sehr wohl sein, denn die Drehung des Rades konnte niemand voraussagen. Die anderen Kinder beobachteten ihn. Er hätte gegen Hilfe nichts einzuwenden gehabt, aber sie sahen so unheimlich aus, wie sie vor ihm standen - wie Gespenster oder Schlimmeres -, 'daß er zu dem Schluß kam, es sei das Beste, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er ließ den müden Arm noch einmal hinabsausen, hieb den Felsbrocken auf das Eisen. Und die Klam-mer brach. Ganz einfach so. Er war frei. Die anderen Kinder starrten ihn dumpf an, staunend, ungläubig, mit unerwartetem neuem Glauben. Hier war Freiheit, inmitten der Gefangenschaft. Short Round spähte verstohlen in alle Richtungen. Er schien sich keine Sekunde zu früh befreit zu haben. An der Tunnelmündung näherte sich ein Aufseher. In den von Fackeln geworfenen Schatten wagte Short Round es. Er sprang kopfüber nach vorn, rollte durch den Tunnel zu einer Lore voll Gesteinsbrocken, die von zwei Sklaven die Schienen entlanggeschoben wurde. Der Aufseher stapfte ahnungslos vorbei. Verdeckt durch die Lore, erreichte Short Round geduckt das Ende des Tunnels und verließ das Bergwerk. Die anderen Kinder sahen ihm bei seiner Flucht nach, aber sie verhielten sich still. Oben im Tempel erwachte Willie aus ihrer Ohnmacht und sah Mola Ram davongehen. Er hatte ihr nicht das Herz herausgerissen, sondern nur mit ihr gespielt! Tränen der Hoffnung traten ihr in die Augen. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Sie wand sich verzweifelt, um ihre Fesseln zu zerbrechen, zog und zerrte an ihren Handgelenken - und lieber Gott, ja, es geschah: Mit all dem glitschigen Schweiß gelang es ihr, ein schmales Handgelenk aus der Handfessel zu ziehen, die sie am Opferrahmen festgehalten hatte. Sie streckte den befreiten linken Arm flehend nach Indiana aus. »Indy, hilf uns! Komm zu dir. Du bist keiner von denen. Bitte! Bitte, komm zu mir zurück. Bitte, komm zu mir zurück!« Indy trat an ihren Käfig, streckte langsam den Arm aus und ergriff ihre Hand mit der seinen. Sie umklammerte
seine Finger. Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie. Sie blickten einander tief in die Augen. Ja, ja, dachte Willie, er ist zu mir gekommen. Er hob ihre Hand zurück an den Eisenrahmen, schob die Fessel um ihr Handgelenk, klappte sie zu und sperrte die Käfigtür ab. Dann warf er Mola Ram einen vielsagenden Blick zu. Der Hohepriester lächelte, nickte und verfiel wieder in seinen Sprechgesang. war fassungslos. »Nein. Was tust du? Bist du wahnsinnig?« Er starrte sie nur an, wie aus weiter Ferne. Sie spuckte ihm ins Gesicht. Noch nie hatte sie einen Menschen so gehaßt. Sie gedachte nicht mehr zu flehen. Sie hoffte nur, er werde in der Hölle schmoren. Die Zauberdämonin spie ihn an. Aus ihrem schwarzen Mund Sprühten Funken und Flammen. Das Summen war ungeheuer laut geworden. Es übertönte beinahe das Flattern, das zurückgekehrt war. Der Speichel brannte wie Feuer, er zischte im Fleisch feines Gesichts, zischte mit der Schlange in seiner Brust, die jetzt wach war und sich entrollte... Aber Kali würde sie zur Ruhe bringen. Wenn er sich nur selbst Kali hingab, sich in Kali verlor, das summende, flatternde Zischen durch das beschwichtigende Herunterleiern des Namens Kali Ma übertönte. Ruhig, innerlich leer, wischte er ihren Speichel von seinem Gesicht und fiel in den rauschhaften Chor ein: »Mola Ram, Sunda Ram, jai ma Kali, jai ma Kali...« Ghattar Lal und Mola Ram tauschten einen zufriedenen Blick. Sie freuten sich über den Anblick des kaltblütigen Verrats. Der Sprechgesang wurde lauter. Der Wind fegte mit schreckenerregendem Geheul weiter. Short Round rannte den nächsten Tunnel hinauf und preßte sich keuchend an die Wand. Er spähte um die Ecke. Seine Erinnerung natte ihn nicht getrogen. Das war eine der Aufbewahrungshöhlen. Dort am Boden in einer Ecke lagen Indys Peitsche, Hut und Tasche. Er lief hinein und riß die Gegenstände an sich. Den Hut setzte er auf, die Viehpeitsche kam an den Gürtel, die Tasche schwang er über die Schulter... und kam sich bei Gott wie ein Kleiner Indiana Jones vor. Er richtete sich gerade auf und marschierte hocherhobenen Hauptes in den benachbarten Tunnel. Dort entdeckten ihn zwei Aufseher, die sofort hinter ihm herhetzten. Nun kam er sich wirklich vor wie Indiana Jones. Er stürzte hinaus in den Schachtbereich, lief, so schnell er konnte, wich den Aufsehern aus, ließ seine schwerfälligen Verfolger zurück und erreichte schließlich den nächsten Schacht. Vorsichtig kroch er durch einen Zugangstunnel und spähte nach hinten in die Hauptgrube. In zwanzig Meter Entfernung sah er eine hohe Holzleiter an der Wand lehnen. Die Holme berührten einen Sims vor einer Vielzahl von Gängen. Auf beiden Seiten der Leiter durchbohrten weitere Tunnels die Felswand. Aus dem untersten kam ein Kind heraus, das einen Sack voll Gestein schleppte. Es trat auf die Leiter hinaus und trug seine Last hinunter. Als der Junge den Boden erreichte, brach er vor Erschöpfung beinahe zusammen. Dann erschrak er zu Tode, als er Short Round in wildem Tempo auf sich zurennen sah. Shorty bedeutete ihm mit einer Geste stillzusein. Der Junge starrte Short Round fassungslos an, als der Flüchtling die Leiter hinaufkletterte. Ganz wie James Cagney in der letzten Szene von >Public Enemy<. Short Round hoffte nur, daß das nicht auch seine letzte Szene sein würde. Er war schon ziemlich weit oben, als ein Aufseher ihn bemerkte. Der Bewacher stieg hinter ihm die Leiter hinauf. Sieben Meter von der Wand hinaus, an der die Leiter lehnte, hing ein Seil frei vom Sims herab. Es kam aus einem kleinen Loch in der dortigen Decke. Schmutzige Gesichter starrten Short Round aus allen Winkeln und Gängen an, als er das Ende der Leiter erreichte. Der Aufseher war kaum drei Meter hinter ihm. Shorty stieg von der Leiter in den obersten Tunnel... dann nahm er Anlauf, kam zurückgerannt, sprang auf die Leiter und stieß sich mit ihr von der Wand ab. Er hielt sich eisern fest - wie der Aufseher einige Sprossen unter ihm -, als die Leiter in sanftem Bogen von der Wand hinauskippte in die offene Grube. Sicherer Selbstmord. So dachten jedenfalls die Kinder, die den Vorgängen wie gebannt folgten. Sie wünschten dem flüchtenden Jungen alles Glück. Als die oberen Sprossen der Leiter am unteren Ende des herabhängenden Seils vorbeischwangen, griff Short Round danach. Die Leiter mit dem Thug kippte weiter und krachte donnernd tief unten auf den Boden. Short Round dagegen baumelte einige Sekunden lang hilflos im Leeren, dann kletterte er am Seil empor und durch die Deckenöffnung in die Kammer darüber. Er rollte ein paar Meter über den Boden und blieb liegen. Hier war es leer und still, aber nebenan konnte er das gedämpfte Murmeln von tausend hypnotisierten Stimmen hören. Und es klang beunruhigend. Er stand auf, ging zur Tür an der anderen Seite und drückte sie einen Spalt auf. Rotes Licht umflackerte die schwarze Statue Kalis. Sein Wider-schein drang bis in den kleinen Raum hinter dem Altar im Tempel des Todes. Im Tempel klirrten Ketten und knirschten Zahnräder, als der Opferrahmen hochgehievt, dann gekippt,
hochgestellt und auf die andere Seite gedreht wurde, bis Willie, auf dem Eisenrahmen ausgestreckt, in die brodelnde Lavagrube hinabstarrte. 'n ihren eigenen Tod hinein. Wie qualvoll würde er sein, wie sinnlos. Wie einsam, das war das Schlimmste. Immer wieder sah sie sich in den schimmernden Wölbungen der roten Blasen tief unten gespiegelt, die ihr Abbild herstellten, das Licht brachen, sich verzerrten, bis sie endlich platzten. Spiegelungen ihres Lebens: verzerrt, überhitzt, nun kurz vor der Explosion, wie ein Tropfen Wasser in einem Faß voll Säure. Sie hätte gern eine neue Gelegenheit gehabt und alles anders gemächt. Aber ein nächstes Mal würde es nicht geben. Sie glaubte nicht an Karma oder Reinkarnation, nicht an den Himmel oder an Wunder. Jetzt hätte es ein Wunder gebraucht, um sie zu retten. Sie hielt den Atem an. Sie hoffte, das Bewußtsein zu verlieren, bevor es zu qualvoll wurde. Mola Ram gab Anweisung an den Henker, der langsam das riesige Holzrad drehte, mit dem der Korb hinabgesenkt wurde. Die Menge sang. Willie kreischte. Indy drehte den Kopf, um zuzusehen. Die Zauberin hing in ihrer wahren Form über der Grube, in der eines riesigen Raben. Sie schwebte auf den heißen Luftströmungen über dem Feuerloch. Jetzt flatterte sie nicht mehr, wie vorher im Inneren seines Schädels. Sie schwebte nur, lächelnd, leise summend, wissend. Sie kannte das Entsetzen. Die Leere seines Schädels. Das Gift in seiner Brust. Sie wußte. Sie wußte alles. Sie mußte sterben. Mola Ram fiel nun in den Chor ein, dessen Gesang immer wilder wurde. Auch Indiana schloß sich dem Geheul an. Willie hing im Eisenrahmen und sah das kochende Magma ihrem Körper näherkommen, als sie Zentimeter um Zentimeter tiefer hinabsank in die Opfergrube. In das Feuer.
Ausbruch in die Freiheit Short Round spähte hinter dem Altar hervor in den höhlenartigen Tempel und sah, wie man Willie hinabließ. Und dort am Kraterrand stand Indiana und sah gleichgültig zu, wie sie verschwand. Shorty flüsterte: »Indy, nein.« Der Gesang war so laut, daß er fast nicht denken konnte. Aber er wußte, was er zu tun hatte. Er mußte für Indy einspringen. Er mußte Indy aufwecken. Er mußte Willie herausholen. Er mußte nach Amerika, und das war ganz und gar kein Witz. Aber alles der Reihe nach. Er versprach den drei Sterngottheiten als Dank für den Erfolg bei diesem Vorhaben für ewig einen Schrein in seinem Herzen. Er versprach Lou Gehrig, nie mehr an seinem Wurfrekord zu zweifeln, und sollte sein Bruder Tschu in Gestalt einer ganzen Herde von Elefantenbabys zurückkommen. Er legte Indys Sachen im Schatten eines Torbogens auf den Boden. Er drehte den Schirm seiner Baseballmütze nach hinten, denn jetzt galt es zu handeln. Und er sprang hinaus auf den Altar. Er winkte Indy zu. Chattar Lal jedoch sah ihn als erster. Der Premierminister rief zwei Wachen zu, den Jungen zu packen, aber Shorty war für sie zu schnell. Als die Wachen ihn zu ergreifen versuchten, schoß er vom Altar auf Indiana zu. Einer der Priester griff ein und packte Short Round am Arm. Shorty biß in seine Hand, worauf der Priester ihn losließ. Ein anderer trat Short Round in den Weg. Der Junge traf ihn mit einem Tritt am Schienbein und huschte an ihm vorbei. Im nächsten Augenblick hatte er Indy erreicht. Er hob den Kopf und lächelte ihn hoffnungsvoll an. Vielleicht war der gute Doktor schon wach und verstellte sich nur in raffinierter Weise, um diese Narren zu übertölpeln. Indy schlug Short Round mit dem Handrücken brutal ins Gesicht. Der Junge stürzte zu Boden und verlor die Mütze. Seine Augen standen voller Tränen. »Wach auf, Doktor Jones.« Aus dem Mundwinkel Short Rounds rann Blut, als er seinen Helden ungläubig und tief empört anstarrte. Aber nur für einen Augenblick. Er bestärkte Shorty nur in dem, was er sich vorgenommen hatte. Es würde ihm schwerfallen, aber was war in diesem Leben nicht schwer? Chattar Lal hatte die ganzen Vorgänge mit offenkundiger Freude verfolgt. Der große Indiana Jones war jetzt ein Bekehrter, ein gläubiger Anhänger. Befriedigung erfüllte die Augen des Premiers, als er zusah, wie einer der Thugs das ärgerliche Kind verfolgte und wie Willie ihrem endgültigen Untergang entgegenschwebte. Willie versuchte immer noch den Atem anzuhalten, während das Eisengestell hinabsank, aber es hatte keinen Zweck. Es war unglaublich heiß, unermeßlich grell. Hitzewellen schlugen ihrem Gesicht entgegen, die ätzenden Dämpfe brannten in ihren Augen, ihrer Lunge, an ihrer Haut. Sie würde sterben. Es war einsam. Und erschreckend. Sie versuchte an ein Gebet zu denken, aber es ging nicht. Sie versuchte sich von der sengen-den Qual abzuwenden, aber sie konnte sich nicht bewegen. Und immer tiefer sank sie hinab. Inzwischen erreichte Short Round die Mauer, wo er eine flammende Fackel aus der Halterung riß und
herumfuhr. Der Feuerbrand zischte am Gesicht des Thugs vorbei. Der Mann zuckte zurück. Shorty rannte auf den Henker zu und schwang die Fackel, worauf dieser vom Rad zurückwich. Willie hing unbeweglich in der Luft. Mola Ram nahm diese Dinge nicht so gleichmütig hin, wie das Chattar Lal zu tun schien. Das kleine Ungeheuer entweihte die Riten der Kali und mußte bestraft werden. »Fangt ihn! Tötet ihn!« schrie der Hohepriester aufgebracht in der Hindisprache. Zwei andere Wachen rannten Short Round nach, der wieder geradewegs auf Indy zulief. »Indy, wach auf!« schrie er. Keine Reaktion. In der letzten Sekunde wirbelte er herum und trieb die beiden Verfolger mit der lodernden Fackel zurück. In diesem Augenblick packte Indy ihn von hinten und begann ihn zu erdrosseln. Indy hielt Shorty am Hals fest, hob ihn hoch und drehte ihn in der Luft herum, bis sie einander auf Armlänge ins Gesicht starrten. Short Round rang nach Atem und verfärbte sich blau, als Indiana ihn zu Tode würgte. Die Schlange in seiner Brust zischte und rasselte, erbost über die plötzliche Störung. Sie hatte den Angriff des Kleindämonen erfühlt, bevor Indy ihn auch nur gesehen hatte. Bis der Dämon mit der Fackel herankam, war Indy bereit, war die Schlange bereit. Bereit, zuzustoßen. Indy, wach auf! kreischte das Dämonenkind, die Wörter eingeätzt in die Flammen seiner Fackel. Die Schlange zuckte zurück. Der Dämon war vielgestaltig. Er verwandelte sich in einen rubinroten Blutklumpen, aufgebläht, bebend und dampfend in der kalten Höhlenluft, nach dem Saft des Todes riechend. Wirbelnd, flackernd... Indy packte es, das klumpige Dämonenkind. Packte und würgte es, versuchte den dunklen, quellen-den Klumpen in eine angenehmere Form zu quetschen, etwas in der Form von Kali, etwas von der Größe seiner Faust. Pressend, bildend, gestaltend, drehte er das Ding in seinen Händen, drehte es herum, ganz herum, bis es ihn ansah, seine grauenhaften Augen aus der Gallertmasse quollen, es sein Feuer schwenkte, er sein Kreischen vor sich hatte, das nach der Schlange rief. Mit letztem Atem krächzte der Junge: »Indy, ich liebe dich«, rief den Namen des Verwalters im Himmlischen Ministerium für Teufelsaustreibung an und stieß Indy die flammende Fackel in den Körper. Indiana stürzte zu Boden, während das Feuer sein Fleisch versengte. Er schrie vor Schmerzen und ließ Short Round los. Feuer füllte seinen Kopf, tobte durch die leeren Höhlen. Die Schlange kreischte, entrollte sich, wand sich in Zuckungen. Das Dämonenkind schrie sie an. Sie gellte zurück, zornig vor neuer Erinnerung. Short Round preßte die Fackel an Indianas Seite, bis endlich ein Thug ihn packte und die Fackel wegschlug. Indiana wand sich am Boden vor Schmerzen. Das Licht war blendend. Der Gesang schwoll zum Crescendo an. Der Henker kehrte an sein Rad zurück und begann Willie weiter in die Grube hinabzulassen. Chattar Lal lächelte. Mola Ram pries Kali. Der Thug zog ein Messer und hob es an Short Rounds Kehle. »Halt!« rief Indiana und stand auf. »Er gehört mir.« Indy nahm Shorty dem Mörder ab, trug ihn einige Schritte weit, hob ihn hoch und hielt ihn hinaus über den Krater. Short Round starrte voller Entsetzen in den brodelnden Schmelzofen hinab, dann, zum letzten Mal, in Indys Augen. Indy zwinkerte ihm zu. »Ich bin in Ordnung«, flüsterte er. »Bereit?« Snorty blinzelte zurück. Indy warf Short Round zu einer freien Stelle, fuhr herum und schlug den ersten Priester mit einem Fausthieb ins Gesicht nieder. Den zweiten fällte er mit einem Magenschwinger. Gleichzeitig stürzte sich ein dritter Priester auf ihn. Shorty packte den Gürtel des Mannes, warf sich auf den Rücken und schleuderte den Mann über sich hinweg, wo er mit dem Kopf auftraf. Die Menge auf der anderen Seite der Erdspalte war völlig in der Verzückung des Rituals versunken, so daß niemand wahrnahm, was rund um die steinerne Göttin vorging. Chattar Lal erkannte das, und als der Kampf so richtig entbrannte, verschwand er hinter dem Altar. Zwei Priester stürzten sich auf Indy, aber Short Round warf sich vor einen der beiden hin, so daß sie unweigerlich zusammenprallten. Indy schleuderte den nächsten Gegner auf den Henker. Beide flogen von der Plattform. Dabei löste der Henker unwillkürlich die Handbremse des Eisenkäfigs, der nun mit Willie in die Grube hinabzusausen begann. Indy sprang auf die Plattform und zog die Bremse an. Wieder war Willies Sturz in den Tod aufgehalten. Mola Ram wurde immer unruhiger. Er bewegte sich in aller Ruhe durch das Getümmel auf die Sankara-Steine auf dem Altar zu. Der nächste Priester stürzte sich mit schwingendem Weihrauchgefäß auf Indy. Jones duckte sich und stand unter dem Priester auf. Der eigene Schwung schleuderte ihn in die Spalte. Ein Aufzischen, ein Lichtblitz - der Priester war nicht mehr. Short Round stand mit dem Rücken an der Wand und wehrte mehrere Wachen ab, in der einen Hand ein Messer, in der anderen eine Fackel. Der Henker kroch zu seinem Rad und begann Willie wieder hinabzusenken. Sie war jetzt nur noch wenige Meter von den Dämpfen der brodelnden Lava entfernt. Die Hitze war so stark, daß ihre Kleidung zu schwelen begann; ihre Wimpern fingen an zu verkohlen. Ihr Bewußtsein erreichte die Grenze aller Kräfte; ihre
Lebensgeister schienen zu schwinden. Zufallsbilder schössen durch ihr überhitztes Gehirn; uralte Erinnerungen, silbern schimmernde Gefühle. Der letzte Gedanke, bevor sie ganz das Bewußtsein verlor, war: In olden days a glimpse of... Indy hieb den Henker erneut von der Plattform. Als er den Käfig aus der Grube heraufdrehte, griff ihn ein Priester mit einer Stange an. Er packte die Stange und schleuderte den Priester m den Krater hinein. Er wehrte einen Thug mit der Stange ab und schlug ihn dadurch bewußtlos. Schließlich gelangte er in die Nähe des Altars, wo Mola Ram sich über die Steine beugte. Indy hieb die Stange so hart auf Rams Rücken, daß sie zerbrach. Mola Ram stürzte nach vorn. Indy schwenkte die halbe Stange, um Rarn den Rest zu geben, als der Hohepriester den Kopf hob und lächelte ... im nächsten Augenblick war er durch eine geheime Falltür im Sockel des Altars verschwunden. Indy fluchte, warf die abgebrochene Stange weg, hetzte zum Rad zurück und begann den Käfig hochzudrehen, in dem Willies bewußtloser Körper lag. Die Kleidung schwelte immer noch. Hinter ihm tauchte Chattar Lal mit erhobenem Dolch auf. »Indy, Vorsicht!« schrie Short Round, der nach wie vor seine Fackel schwang. Indy drehte sich rechtzeitig um, um dem zustoßenden Dolch auszuweichen. Die beiden Männer rangen neben dem Rad miteinander. Unten glitt der Rahmen knarrend tiefer. Die Bremse war zwar angezogen, gab aber allmählich nach. Inzwischen konnte die Gemeinde jenseits der Erdspalte erkennen, daß nicht alles mit rechten Dingen zuging. Sie hörten mit dem Gesang auf und begannen in zunehmender Panik auseinanderzulaufen. Der kleine Maharadscha suchte als einer der ersten das Weite, umgeben von seinen Leibwächtern. Indy befreite sich von Chattar Lal und vermochte das Rad zum Stillstand zu bringen. Lal griff ihn erneut an. Indy wehrte den Dolch ab, hieb Lal dabei gegen das Rad und schlug ihn bewußtlos. Das Rad drehte sich. Chattar Lal wurde von den Speichen mitgerissen. Die Zahnräder zermalmten ihm halb das Bein, aber er konnte sich befreien und davonkriechen. Shorty sprang auf die Plattform und wehrte den letzten Thug ab, während Indy erneut die Bremse anzog, obwohl sie sich so anfühlte, als wolle sie nicht lange halten. Er stand auf, aber der Thug rannte davon. Indy und Shorty verzweifelt das Rad zu drehen und den Käfig hoch .Als der Eisenrahmen oberhalb der Grube angelangt war und in Bodenhöhe schwebte, blieb Short Round am Rad und hielt es mit aller Kraft fest, während Indy zum Kraterrand lief und den Korb über festen Boden zog. »Laß ein bißchen nach«, schrie er Shorty zu. Short Round drehte das Rad ein wenig, der Käfig sank auf den Boden herab. Indy löste Willies Fesseln und starrte sie sorgenvoll an. »Willie, Willie! Wach auf, Willie!« An die Einzelheiten seines Alptraums konnte er sich kaum erinnern, nur an ein Gefühl tiefsten Entsetzens und an ein paar flüchtige Bilder: riesige Aasvögel, hungrige Schlangen - pfui Teufel, Schlangen! - an ein Dämonenkind, das Shorty war und doch nicht war, und an Willie als bösartige Zauberin, die seine Seele verschlingen wollte. Und er hatte versucht, sie zu töten, hatte gelacht, als sie zu Kalis Vergnügen in den Krater versenkt worden war. Dem Himmel sei Dank, daß es vorbei war. Vorbei, wach, wieder unter den Lebenden. Willie stöhnte, bewegte den Kopf, ihre Lider zuckten. »Willie!« sagte er glücklich. Sie öffnete die Augen, sah ihn über sich und... schlug ihm ins Gesicht. Jedenfalls versuchte sie es. Ihre Hand war jedoch so schwach, daß sie kaum seine Wange streifte. Trotzdem zuckte Shorty zusammen. Indy grinste nur. »Willie, ich bin's. Ich bin wieder da. Ich bin wieder da, Willie!« Und dann sang er: »>Home, home on the ränge, where the deer and the antelope play.<« Willie war in ihrem ganzen Leben noch nie so froh gewesen, jemanden derart schlecht singen zu hören. Während die frische Luft und die mißtönende Stimme sie wiederbelebten, weinte und hustete und lachte sie, alles auf einmal. Sie sah Chattar Lal mit dem Dolch nicht, bis es beinahe zu spät war. »Vorsicht!« stieß sie hervor. Indy wirbelte herum. Er ließ sich nach rückwärts fallen und schlug Lal den Dolch aus der. Hand. Lal stürzte sich sofort aut ihn. Sie rollten über den Boden. Willie war zu schwach, um sich zu bewegen. Shorty blieb auf seinem Posten am Rad. Die beiden Männer gerieten an den Kraterrand, rollten wieder zurück. Sie sprangen auf, Indy stand zwischen Lal und der Grube. Willie schob sich von ihnen fort in Richtung Rad. Lal begann in der Hindisprache klagend zu singen: »Verrat, Verrat, du hast Kali Ma verraten. Kali Ma wird dich vernichten.« Dann stürzte er vorwärts. Mit der Kraft des Wahnsinns flog er Indiana entgegen, entschlossen, ihn mit sich in den Untergang zu reißen.
Beide stürzten auf den Opferkäfig. Durch den starken Schwung glitt das Gestell über den Boden, schwang hinaus über den Krater und baumelte über der glühenden Lava. Indy löste sich aus Lals Griff, sprang von dem Rahmen ab, prallte an die Innenkante des Schachts, hielt sich über dem Abgrund fest, während Willie mit neu erwachender Kraft die Bremse löste. Das Holzrad surrte beim Drehen, und der Käfig sank blitzschnell hinab. Stürzte und tauchte mit Chattar Lal als Ladung in die Glut. Schmelzlava spritzte klatschend empor. Für Willies Ohren süße Rache. Indy schaute hinunter. Chattar Lals Körper explodierte blitzschnell in den Flammen. Das Fleisch war in einem Augenblick verglüht, für einen Sekundenbruchteil sah man das Skelett, dann war alles von der Glut verzehrt und verschwunden. Indiana zog sich hinauf auf sicheren Boden. Willie setzte sich auf. Shorty lief zu ihnen hinüber. Sie kauerten kurze Zeit beieinander, still, die Arme umeinander geschlungen. Zufrieden, sich auszuruhen zu können, zusammenzusein, zu leben. Der Tempel war nun leer und stumm, abgesehen von den bewußtlosen Priestern am Boden und dem Zischen der Lavabrände. Indy ging zu den drei Sankara-Steinen am Sockel des Altars. Sie glühten nicht mehr. Shorty brachte ihm seine Sachen: Hut, Peitsche. Tasche, Hemd. Indy legte die Steine in seine Tasche, nahm die Tasche auf die Schulter und steckte die Peitsche an den Gürtel. Schließlich zog er das Hemd über den von Blutstrie-men gezeichneten Rücken. Dann ging er zu der Stelle, wo Short Rounds Mütze am Boden lag. Er hob sie auf, klopfte den Staub ab und setzte sie Short Round feierlich auf. Dann setzte er seinen Hut auf. Mit der Welt war wieder alles in Ordnung. Shorty grinste seinen alten Freund an. »Indy, mein Freund.« Gleichgültig, was noch geschehen mochte, das blieb und würde immer bleiben wie die Sterne. Willie fand die Kraft wieder, auf den Beinen zu stehen, und kam zu ihnen. »Indy, du mußt uns hier herausholen.« Indy schaute sich an diesem Ort des Bösen um, hörte das ferne Grollen voller Gesteinsloren, die Folterungen im Dunkeln, das Wimmern Unschuldiger... »Gut. Uns alle«, murmelte er. Sie gingen zu dem Raum hinter dem Altar. Im Bergwerk hatte unterdessen etwas Erstaunliches begonnen. Die Kinder hatten das Antlitz der Freiheit gesehen. Dutzende von Kindern waren Augenzeugen von Short Rounds wundersamer Flucht gewesen. Die Geschichte hatte sich rasch verbreitet. Einer war entkommen. Einer war entkommen. Man konnte entkommen. Ihre Arbeit ging schneller voran. Sie beobachteten die Aufseher unter gesenkten Lidern, statt die Köpfe tief zu senken. Sie scharrten mit den Füßen aus Trotz oder Unentschlossenheit, nicht aus Erschöpfung. Manche zählten sogar ab, wie viele von ihnen der Zahl der Aufseher gegenüberstanden. Nachdem Mola Ram bei dem Kampf am Altar geflüchtet war, hastete er zum Bergwerk hinunter. Er berichtete den Oberaursehern, was sich abspielte. Er schickte einige Wachen zurück zum Tempel, damit sie in den Kampf eingriffen; die anderen wies er an, auf die drei Ungläubigen zu achten, die vielleicht durch das Bergwerk zu flüchten versuchten. Er warnte aber keinen vor der Gefahr eines Sklavenauf stands. Fünf zusammengekettete Kinder stapften mühsam durch einen dunklen Tunnel zu einer unbeladenen Lore. Das kleine Mädchen am Schluß der Reihe fiel hin. Der Aufseher an der Tunnelmündung betrachtete das als offenkundige Faulheit und stürmte wütend hinein, riß sie hoch und hob seinen Lederriemen, um sie zu prügeln. Als er den Arm in die Höhe gerissen hatte, sah er Indy aus einem Schatten heraustreten. Indy hieb die Faust an das Kinn des Aufsehers, der sofort zusammenbrach und liegenblieb. Short Round nahm den Schlüssel vom Gürtel des Aufsehers und schloß rasch die Fußeisen der Kinder auf, die stumm und staunend zusahen. Als sie frei waren, zeigte Indy ihnen, wie sie den Aufseher an die Lore ketten konnten. So begann es. Die fünf Kinder überfielen in einem anderen Tunnel einen weiteren Bewacher. Der Mann war so überrascht, daß er nicht einmal aufschreien konnte, bevor er mit Steinbrocken bewußtlos geschlagen war. Fünf weitere Kinder waren befreit. Schon waren es zehn. Es lief ab wie eine Kettenreaktion. Dutzende von Kindern streiften nach Gutdünken durch die Tunnels, bevor die übrigen Aufseher auch nur ahnten, was sich abspielte. Dann brach das Getümmel los.
Man schlug Alarm. Aufseher versuchten angekettete Kinder in eine große Zelle zu treiben. Indy hielt viele davon auf. Er schlug einen mit der Peitsche nieder, und die befreiten Kinder hieben auf den Mann mit Steinen ein, oder er fällte einen Gegner mit der Faust, so daß Willie oder Shorty ihm die Schlüssel abnehmen konnten. Mit jedem Aufseher, der ausfiel, wurden weitere Kinder befreit. Das Ganze griff um sich wie eine Epidemie. Wachen ergriffen die Flucht. Willie schlug sie mit Spatenhieben nieder, Shorty riß sie mit Ketten zu Boden, Gruppen befreiter Sklaven stießen sie von Simsen und Leitern. Auf die Köpfe fliehender Aufseher wurden körbeweise Felsbrocken gekippt. Schließlich befanden sich die Wachen ihren ehemaligen Gefangenen gegenüber in der Minderzahl. Sie hatten keine Chance. Als alle frei und die Aufseher vertrieben waren, standen die Kinder in einer großen Menge beieinander und schauten sich begeistert und nicht wenig erstaunt um. Short Round stand vor ihnen: Er war die wahre Inspiration für diesen Aufstand. »Kommt, folgt mir!« rief er und führte sie zum Ausgang. Sie jubelten. Ein Kinderkreuzzug. Indy und Willie folgten ihnen. Unterwegs begegnete man vereinzelten Aufsehern - einige versuchten sie aufzuhalten, andere flohen -, aber die Kinder stürmten über sie hinweg und überwältigten jede Gegenwehr allein durch ihre Zahl und ihren Schwung. Hinauf den Schlängelpfad marschierten sie, endlich als ihre eigenen Herren. Durch den letzten Tunnel, hinauf zum obersten Schacht, in den Raum hinter dem Altar... Hinein in den Tempel. Er stand jetzt leer. Nur der Wind summte seine einsame Melodie, nur Kali stand noch Wache. Indy, Willie und einige der größeren Kinder rissen eine lange Holztafel vom Altar herunter, in die zahlreiche furchterregende Darstellungen Kalis und ihrer Grausamkeiten eingeschnitzt waren. Als sie auf den Boden gestürzt war, trug man sie zum Rand der Erdspalte, die den Palast vom Rest des Tempels trennte, das letzte Hindernis zur Freiheit. Sie stellten die Tafel an einem Ende fest auf die Kante, stemmten sie hoch, als wollten sie einen Fahnenmast aufrichten, und ließen sie über dem Erdriß herabsinken, bis das andere Ende an der gegenüberliegenden Seite auflag. Sie bildete einen schmalen Steg über der wallenden Lava. Immer mehr Kinder trafen ein. Die Altarseite war bereits überfüllt, so daß manche Kinder vor dem Abgrund um ihr Gleichgewicht rangen. Indy begann sie über das Brett zur anderen Seite zu schleusen. Unter ihnen brodelte Feuer. In Abständen spritzte flüssige Lava in die Höhe. Keines der Kinder stockte jedoch. Eines nach dem anderen liefen sie auf die andere Seite des Tempels, zum Palast, der Freiheit entgegen. Nach einer Weile bemerkte Indy jedoch, daß das Holz infolge der aufsteigenden starken Hitze zu rauchen begann. Die Kinder, die jetzt hinüberliefen, schrien auf, weil das heiße, ausgetrocknete Holz ihre nackten Füße versengte. Indy schickte sie immer schneller hinüber. Das Holz schwelte zunehmend stärker, sein weißer Rauch wurde jetzt schon schwarz. Schließlich ging das Holz an zwei Stellen in Flammen auf. Indy trieb die letzten Kinder an und schrie zur Eile mahnend, als sie über die Flammen sprangen. Der Steg brach, während das letzte Kind sich auf die andere Seite rettete. Als Shorty hinaustrat, brannte er völlig durch und stürzte lodernd in die Spalte. Indy und Willie packte ihn im letzten Augenblick am Kragen und zerrten ihn vom Abgrund zurück. Auf der anderen Seite drehten sich einige Kinder um und wollten auf ihre Retter warten. »Lauft! Lauft!« schrie Indy hinüber. Sie machten sich auf den Weg. Hinaus zum Hinterausgang des Tempels, über hundert gewundene Treppen empor, durch eine Vielzahl von Geheimgängen und geheimer Ausgänge in den Palast. Kinder zu Hunderten rannten durch die Palastkorridore, das Lächeln der Freiheit auf den Gesichtern. Sie durchquerten Höfe und Brücken, liefen durch Hallen und Portale und Einfahrten und Tore. Dann hinaus auf die offene Straße, den Dschungel, die Berg-pässe. Sie waren frei. "Was machen wirjetzt?« fragte Shorty, als das letzte befreite Kind den Tempel verlassen hatte. »Wir nehmen den langen Weg«, schlug Indy vor. Wie immer improvisierend. Sie gingen zurück in den kleinen Raum hinter dem Altar und hinauf zur Öffnung über dem Bergwerk. Indy starrte auf eine der kleinen, leeren Loren, die unbeaufsichtigt auf den Schienen standen. »Die Gleise müssen aus dem Bergwerk hinausführen«, meinte er nachdenklich. Er trat vor zu einem Weg, der in einer Spirale hinunterführte. »Wo gehst du hin?« fragte Willie argwöhnisch. »Ein Fahrzeug besorgen.« Ungefähr die Hälfte der Loren rollte mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf den Schienen dahin, gezogen von unterirdischen Kabeln. Manche waren vollgefüllt mit Gesteinsbrok-ken, andere leer. Indy hatte es auf eine leere abgesehen.
Als die Lore in die zentrale Station rollte, lief Indiana daneben her, hielt sich an ihr fest und versuchte sie aufzuhalten. Er wurde mitgeschleift, aber plötzlich kam das Fahrzeug scheinbar von selbst zum Stillstand. Es hielt nicht von selbst. Indy blieb wie angewurzelt stehen und hob den Kopf. Ein riesenhafter Aufseher hatte die Lore mit dem Arm aufgehalten. Ein echter Riese. Der Hüne, mit dem er schon zweimal aneinandergeraten war. Beide Male war er nicht sonderlich gut weggekommen. Nun gut, dann hatte er eben eine Rechnung zu begleichen. Indy wollte mit der Faust zuschlagen, überlegte es sich aber anders. Statt dessen suchte er sich ein Brett und hieb es dem Aufseher auf den Schädel. Das Brett zersplitterte. Der Hüne rührte sich nicht. Das sah ernst aus. Indy riß einen Vorschlaghammer aus der Lore und traf den Riesen damit links am Brustkorb. Der Kerl lächelte nur, rülpste, riß Indy den Hammer aus der Hand und warf ihn beiseite. Dann wickelte er den linken Arm um Indys Hüften und rammte seine Faust in Indys Bauch. Indy kippte um. Er sprang aber sofort wieder hoch und versetzte dem Riesen einen Tritt ins Gesicht, aber der Koloß tränkte kaum. Die Sache wurde mehr als mulmig. Der Hüne packte Indy erneut, hieb ihm die Faust zweimal auf die Brust, einmal auf die Kehle, schleifte seinen Kopf an der Innenseite der Lore entlang und stemmte den Bedauernswerten in die Luft. Shorty traf den Riesen mit Indys Peitsche, die auf den Boden gefallen war. Es gab einen Knall, dann einen Aufschrei. Der Thug ließ Indy in die Lore fallen. Shorty schlug wieder mit der Peitsche auf ihn ein, aber der Aufseher packte ihn und schleuderte ihn weit weg. Die Lore setzte sich in Bewegung, von seinem Kabel eine lange Steigung hinaufgezogen. Der Riese sprang ins Fahrzeug. Im nächsten Augenblick schlugen die beiden Männer, während sie den Berg hinauffuhren, aufeinander ein. Willie folgte dem Fahrzeug eine Strecke lang, verfolgte den Kampf, schleuderte, wenn die Wurfbahn frei war, Felsbrocken auf den Hünen oder suchte nach einer leeren, freilaufenden Lore auf Schienen, die nicht plötzlich aufhörten. Indy hatte am Hals des Aufsehers eine empfindliche Stelle entdeckt und tat sein Bestes, um sie mit einer Eisenstange zu bearbeiten. Aber jedesmal, wenn er seinen Vorteil zu nutzen versuchte, durchzuckten grauenhafte Schmerzen seinen Körper, so daß er den Fausthieben des Gegners erneut wehrlos ausgesetzt war. »Was ist mit ihm?« schrie Willie Short Round zu. Short Round erkannte das Problem. Er zeigte nach oben. Dort, auf dem nächsthöheren Sims, stand der Maharadscha. Er stieß seine Turbannadel in die Indiana Jones-Puppe. Die Lore erreichte das Ende des Hangs und kippte ihre Ladung zur Seite. Indy und der Riese wurden zusammen mit einem Haufen Geröll auf ein laufendes Transportband abgeladen. Der Riese ergriff einen Spaten. Indy hob einen Pickel, um den Schlag zuwehren, ließ ihn aber mit schmerzverzerrtem Gesicht fallen, neue Qual in ihm hochflutete. Er rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, um vom herabsausenden Spaten nicht erschlagen zu werden. Auf dem Sims hoch über den beiden stieß der Maharadscha wieder die Nadel in das Gesicht der kleinen Figur. Willie fand ein leeres Fahrzeug, das zu einem der Ausgangstunnels zu rollen schien. »Ich hab' eins, Indy, ich hab' eins! Jetzt können wir heimfahren!« Indy hörte aber nicht zu. Er wich abwechselnd Faustschlägen aus oder hieb einen Benzinkanister an den Schädel des Gegners. Inzwischen war Shorty zu einem schmalen Wasserfall gelangt, der von jener Höhe herabstürzte, wo der Maharadscha stand. Das Wasser strömte auf ein Schaufelrad mit Eimern, das dazu konstruiert war, volle Wassereimer zum obersten Schacht hin-aufzubefördern. Shorty sprang unten auf einen vollen Eimer, fuhr damit hinauf und sprang ab. Er rannte den Sims entlang und war Augenblicke später im Zweikampf mit dem Maharadscha, dessen Puppe über den Boden wegrollte. Indiana rang mit dem Hünen und rollte über das Transportband. Er konnte jetzt das Ende der Anlage erkennen, ein riesiges Eisenrad, das alle Steine und Felsbrocken zermalmte, die unter die Maschine gerieten. Das Transportband versorgte das Brechwerk ununterbrochen; es war unersättlich. Willie schleuderte Steine auf den Hünen. Der Riese schlug auf Indy ein und erwiderte manchmal die Wurfgeschosse. Indy trat nach dem Hünen oder hieb mit dem Benzinkanister auf ihn ein, während Short Round mit dem Maharadscha um Tod und Leben rang. Mit jeder Sekunde wurde Indy näher an den Rachen des Brechwerks herangetragen. Shorty packte den Maharadscha an der Kehle. Der Maharadscha stieß die Turbannadel tief in Short Rounds Bein. Shortys Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. Er rollte davon und hielt sein Bein umklammert. Der Fürst verstand vom Kampf Mann gegen Mann mehr, als man ihm ansah. Das machte aber nichts, denn auch Short Round war kein Neuling. Der Riese packte Indys Hemd, aber der Ärmel riß ab. Als er das Gleichgewicht verlor und taumelte, wurde die Schärpe des Hünen von der Eisenrolle erfaßt. Er versuchte verzweifelt, dem erbarmungslosen Zug durch Kriechen zu entkommen, aber er war eingeklemmt. Er schrie gellend, als sein Körper mit den Füßen voran in das Brechwerk gezogen und zermalmt wurde. Auf der anderen Seite kam blutiges, kleingemahlenes Geröll heraus. Oben auf dem Sims taumelte Short Round zu einer Wand und ergriff eine Fackel. Er drehte sich herum, als
Zalim Singh sich mit einem Messer auf ihn stürzte. Shorty duckte sich geschwind und streckte den Arm hinaus. Der Maharadscha prallte gegen die lodernde Fackel. Er schrie auf und stürzte zu Boden. Short Round warf Erde auf eine brennende Stelle seiner Kleidung und wollte sich erneut auf den jungen Monarchen stürzen... aber es war nicht mehr notwendig. Der Maharadscha schien wie aus einem schlechten Traum erwacht zu sein. So war es in der Tat. Short Round saß vor ihm. Er kannte diese Verwandlung nun schon. »Es war der schwarze Alptraum Kalis«, erklärte er Zalim Singh. Short Round wußte, wie der >Schatten<, was an Bösem in den Herzen mancher Menschen lauerte, Jugendliche eingeschlossen. Inzwischen war Indy zu einem Laufgang über dem Transportband hinaufgesprungen, der dorthin führte, wo Willie mit der leeren Lore wartete. Allerdings lief die Zeit ab. Mola Ram erschien mit Verstärkung. Binnen Sekunden umstellten sie das Gelände. »Komm hier runter, Shorty!« schrie Willie. »Ich hab' ein Fahrzeug!« Ein Thug stürzte sich auf sie. Sie riß den eisernen Bremshebel von der lore und schlug ihm damit den Schädel ein, dann wehrte sie einen zweiten zweiten Angreifer ab, der vorsichtiger zu Werke ging. Short Round hangelte sich am Felsvorsprung herab. Der Ma-haradscha beugte sich hinüber, um ihn zu verabschieden. "Bitte, hör zu. Ihr müßt den linken Tunnel nehmen, damit hinauskommt«, rief er warnend. Shorty starrte ihn einen Augenblick unsicher an, dann begriff er, daß er die Wahrheit sagte. »Danke.« Er kletterte hinunter. Indy war in Schwierigkeiten. Drei Aufseher sprangen auf den Laufgang hinunter und trieben ihn zurück. Er hetzte eine kurze Leiter hinauf, stieß sie weg, rannte zu einem parallel laufenden Sims. Jetzt eröffneten die Wachen das Feuer aus Pistolen. Indy suchte Deckung hinter einem Karren und schob ihn zum nächsten Laufgang. Willie begann ihre Lore das Gleis hinunterzuschieben und kletterte hinein. Der Thug, der sie beobachtet hatte, sah seine Gelegenheit gekommen und packte sie am Bein. Short Round war aber schon zur Stelle. Er hob einen Stein auf, der genau die richtige Größe hatte, stellte sich in Positur, vergewisserte sich noch einmal, schrie: »Lefty Grove!« und warf einen genau berechneten Ball, der den Aufseher hinter dem Ohr traf. Der Mann brach zusammen. Ein anderer Thug packte Shorty von hinten, während Willies Lore schneller zu rollen begann. Shorty entwand sich seinem Gegner und versetzte ihm einen Karatetritt in den Bauch. Ein Priester mit fratzenhaft verzerrtem Gesicht verfolgte Willies Fahrzeug. Shorty stürzte herbei, um den Mann abzufangen, rollte sich zusammen und warf sich ihm so in den Weg, daß sie in verschiedene Richtungen flogen. Short Round war sofort wieder auf den Beinen. Er jagte der Lore fünfzehn, zwanzig Meter weit nach und konnte endlich aufspringen, gerade als sie sehr schnell zu rollen begann. Willie half ihm herein. Sie schauten sich hastig um, bis sie Indiana entdeckten, der oben in den Laufgängen und Stützgerüsten noch immer seinen Verfolgern auswich. »Indy, komm, schnell!« brüllten sie gemeinsam. Indy schaute zu ihnen hinunter, sah, wo er sich im Verhältnis zu ihnen befand, sah, wohin sie fuhren: in einen großen Ausgangstunnel an der Vorderseite des Bergwerks. Er rannte wie ein Wilder, sprang von Sims zu Leiter zu Laufgang zu Tragbalken. Von allen Seiten wurde jetzt auf ihn geschossen. Holz- und Steinsplitter schwirrten. Mola Ram stand an einer erhöhten Stelle, schrie Befehle und zeigte erregt auf die Flüchtenden. »Sie entkommen! Tötet sie!« befahl er auf Hindi, worauf die Wachen ihre Bemühungen verdoppelten. Indy erreichte das Ende des Gerüsts. Hinter, unter und über ihm sah er Verfolger. Er sprang ins Halbdunkel und packte einen Flaschenzug, der ihn mit schwindelerregender Geschwindigkeit an einem Kabel hinabsausen ließ, das sich der dahinfegenden Lore entgegenspannte. »Folgt ihnen! Tötet sie!« wütete Mola Ram. Geschosse pfiffen. Die Lore raste dem Tunnel entgegen, Indy segelte auf die Lore zu. Als er ein paar Meter seitlich über ihr war, ließ er los und flog in weitem Bogen in die Lore. Säe jubelten und blieben tief geduckt, um nicht von den Schüssen getroffen zu werden. Indy entdeckte unten in der Lore einen bewußtlosen Aufseher. Er nahm ihm die Pistole ab und kippte den Mann hinaus, als die Lore in die Dunkelheit des Tunnels raste. Plötzlich herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Es fielen keine Schüsse mehr. Sie rasten am Boden der Lore das Gleis hinunter. Und sie würden es schaffen. Im Bergwerk sah Mola Ram die Lore den ersten Teil der Strecke entlangrasen, die ins Freie führte, und verschwinden. Wut trübte seinen Blick. Er flüsterte seinem Adjutanten zu: »Sie haben die Sankara-Steine gestohlen. Sie müssen aufgehalten werden.«
Mit Ach und Krach ... Brennende Fackeln beleuchteten den Weg der dahinsausenden Lore Indy sah die Schienen plötzlich in zwei
Richtungen ausein-andergehen. Ein Gleis führte zurück ins Bergwerk, das andere geradeaus. Er griff nach einer Schaufel am Boden der Lore und schwang sie gerade noch rechtzeitig an der Seite hinaus, um einen Weichenhebel an ihrem Gleis mit einem Knall umzustellen, so daß sie auf die Ausfahrtsschienen sausten. Diese Strecke führte bald in eine andere Höhle und verzweigte sich erneut. Bevor sie noch etwas unternehmen konnten, fegten sie auf dem nach rechts führenden Gleis in einen Tunnel. Short Round drehte besorgt den Kopf. »Nein, Indy, große Fehler. Linke Tunnel.« Aber es war zu spät. Sie konnten nichts anderes tun, als sich festhalten, während die Lore in die Dunkelheit der hallenden Höhlen raste. Es ging lange Zeit hinab und nur kurz hinauf. Indiana hatte das Gefühl, daß sie noch tiefer in den Berg eindrangen. Wenn er in den weiten Kurven den Kopf über den Rand hinausstreckte, pfiff ihm der Wind ins Gesicht. Das Fahrzeug wurde noch schneller. Willie kauerte am Boden und versuchte tief Luft zu holen. Short Round hatte Berg- und Talbahnen in mehreren Filmen gesehen, aber hinter dieser hier blieben alle weit zurück, außer vielleicht die Bahn am Ende von >King Kong<, wenn der Riesenaffe sie entgleisen ließ. Short Round hatte aber keine Angst vor Affen, egal, wie groß sie waren. Er war ja im Jahr des Affen geboren, und das nahm er nun als Vorzeichen dafür, daß die Fahrt gut enden werde. Im Inneren des Bergwerks organisierte Mola Ram die Verfolgung. Wachen mit Khyberflinten bestiegen zwei Fahrzeuge und machten sich auf den Weg in den Tunnel, wo die Ungläubigen verschwunden waren. Einen dritten Wagen, der ebenfalls die Fahrt antreten wollte. hielt Mola Ram jedoch auf. Er hatte einen besseren Plan für diee Vernichtung der Diebe, einen Plan, der keine weiteren Verluste treuer Wachen im Kampf auf Schienen vorsah. Entschlossen ging er zur großen Nachbarhöhle, wo der Hauptwasserfall in den schwarzen Kristall des unterirdischen Sees stürzte. Indy brachte den Bremshebel, den Willie beim Kampf heruntergerissen hatte, wieder an der Vorderseite des Fahrzeugs an und betätigte ihn mit unterschiedlicher Kraftanwendung, während sie dahinrasten, bemüht, ihre Geschwindigkeit zu mäßigen. Trotzdem nahmen sie die eine oder andere Kurve gerade noch auf zwei Rädern. Indy duckte sich tief, um den Schwerpunkt zu verlagern, damit sie nicht entgleisten. Short Round, der mit Schwierigkeiten rechnete, spähte hinten hinaus. Er hatte sich sein halbes Leben lang als Dieb betätigt, und es war ihm zur zweiten Natur geworden, immer über die Schulter zu schielen, wenn er mit der Beute floh. Willie saß tief unten. Sie konnte die Querbalken der Tunnel-abstützung über ihnen vorbeirasen sehen. Mit jeder Kurve schienen sie tiefer auf die Lore herabzusinken, denn der Tunnel wurde niedriger. Sie wollte das gerade erwähnen, als schlagartig das Fahrzeug hinabsauste. Willie empfand es als senkrechten Sturz, obwohl es vermutlich nur ein steiles Gefalle war. Sie wurden alle drei nach hinten geworfen. Willies Magen blieb irgendwo oben zurück. Der Wagen stellte sich wieder waagrecht. Indy kehrte an den Bremshebel zurück, Shorty auf seinen Posten als Ausguck, wo seine Bemühungen bald belohnt wurden. Ein Schuß krachte. Short Round sah weit hinter ihnen den ersten Verfolgerwagen durch eine Kurve rasen. Auf der Geraden begannen die Thugs zu feuern. Ununterbrochen heulten Querschläger von der Rückwand ihrer Lore. Sie duckten sich bis zur nächsten Kurve tief hinab. Plötzlich schrie Indy aus voller Lunge, um das Rattern der Räder zu übertönen: »Shorty, komm her und übernimm die Bremse!« "Alles klar verstanden, Indy!« Shorty eilte nach vorn, um den heftig vibrierenden Hebel von Indy zu übernehmen. Indiana schob sich nach hinten. "Langsam in den Kurven«, schrie er, »sonst fliegen wir vom Gleis!" "Alles klar verstanden, Indy!« rief der Junge. Er umklammerte den Hebel mit aller Kraft und grinste über das ganze Gesicht. Während der Mut sie wieder zu verlassen begann, begriff Willie, daß diese Katastrophe den Vorstellungen entsprach, die Short Round sich von einem lohnenden Zeitvertreib machte. In Panik und Zorn schrie sie zu ihm hinauf: »Hoffentlich kannst du das besser als Autofahren!« Sein Grinsen wurde noch wilder. »Wir Sie können hier aussteigen lassen, Lady!« Noch war sie nicht seine Mutter. Willie schloß die Augen und zählte bis zehn. Bei allen Göttern, aus diesem Kind wurde ein zweiter Indiana Jones. Mola Ram schickte einen Trupp zum Wasserfall, genauer, zu der riesigen Zisterne, die den Überlauf vom Wasserfall aufnahm. Wie ein riesiger, runder Eisenkessel stand sie auf Holz- und Felsstützen, die sie an ihrem Platz festhielten. Mola Ram ließ von seinen Leuten Vorschlaghämmer holen. Der erste Verfolgerwagen holte gegenüber den Flüchtlingen auf. Indy, Willie und Shorty mußten immer wieder in die Lore hinabtauchen, als das Abfeuern von Flintenkugeln die Wände des Tunnels um sie herum erhellte. In Abständen schoß Short Round hoch, um an einer Kurve zu bremsen, während Indy bei dieser Gelegenheit seine Schußwaffe abfeuerte. Da er aber nur sechs Patronen hatte, mußte er mit seiner Munition sparsam umgehen. Er traf sogar einen der Schützen, der aber sofort durch einen anderen ersetzt wurde. Sie schienen die Verfolger
nicht abschütteln zu können, ja, sie kamen sogar näher heran. An der nächsten scharfen Kurve zerrte Short Round mit aller Macht am Bremshebel. Der Bremsbelag an der Metallfelge kreischte, so daß Funken wie ein Kometenschweif sprühten. Die Decke wurde ebenfalls wieder niedriger. Die Stützbalken rasten so dicht über ihren Köpfen dahin, daß Indy kaum über die Oberkante der Lore blicken konnte, um zu schießen. Sem« letzte Kugel bohrte sich in einen Balken. Einer der Thugs richtete sich auf, um zu zielen, und starb als Held für seine Sache. Sein Kopf krachte an einen heranrasenden Balken. Der Mann flog in zwei verschiedenen Richtungen aus dem Fahrzeug. Der erfolgerwagen war dadurch weniger schwer beladen und beschleunigte. Indy duckte sich tief. Seine und Willies Knie berührten sich. »Alles runter«, schrie er. »Runter. Sie kommen.« Mola Rams Männer hieben mit ihren schweren Hämmern rhythmisch auf die Keile unter der riesigen, wassergefüllten Zisterne ein. Ein Gewicht von mehreren Tonnen drückte herab und hielt die Stützen an ihrem Platz. Mola Ram machte sich aber keine Sorgen. Mit jedem Schlag würden sie um einen Millimeter nachgeben, bis sie endlich ganz herausfielen. Dann würde die Zisterne umkippen und auslaufen. »Schneller«, befahl er. Der Takt der Hammerschläge beschleunigte sich. Indy brüllte Short Round an. »Laß die Bremse!« »Was!« schrie der Junge. Sie rasten jetzt schon mit überhöhtem Tempo dahin wie ein Eisenbahnzug in den Stummfilmen. »Laß los! Unsere einzige Chance ist, schneller zu sein als sie!« »Und die Kurven?« fragte Willie. »Zum Teufel mit den Kurven.« Er zog Short Rounds Hände von der Bremse. Als sie durch die Kurve rasten, hoben sie ab und fielen endlich mit donnerndem Krachen auf die Schienen zurück. »Wir fahren zu schnell!« schrie Willie. Die Verfolger im Fahrzeug hinter ihnen wurden hin- und hergeworfen. Ihre Lore kippte beinahe um. Indys Wagen ging auf zwei Rädern in die nächste Kurve. »Auf die andere Seite!« Sie preßten sich zu dritt tief geduckt an die Innenwand, während das Fahrzeug weiterbrauste. Der Verfolgerwagen dahinter nahm die Kurve ebenfalls mit voller Geschwindigkeit. Die Insassen waren jedoch schwerer -große Männer, schwere Waffen. Die Lore entgleiste. Der Wagen flog seitwärts vom Gleis. Die Köpfe der Insassen ragten wie ängstliche Nestlinge über den Rand. Lange dauerte die Ängstlichkeit nicht. Sie krachten mit einer Explosion an die Tunnelwand, daß die ganze Höhle erschüttert wurde. Indys Lore schoß davon. Der zweite Verfolgerwagen wurde von einem Hagel an Wrackteilen überschüttet. Der Fahrer zog lieber die Bremse, um das Schicksal des ersten Fahrzeugs nicht teilen zu müssen. Indy grinste jungenhaft. »Einer abgeschossen, bleibt uns noch einer.« Mola Rams Leute hämmerten weiter auf die Stützen unter der mächtigen Zisterne ein. Schließlich begann einer der Querblöcke zu splittern und zerbrach unter den nachfolgenden Hieben. Hoch über den Arbeitern begann sich die Zisterne ein wenig zu neigen. Wasser schwappte über den Rand und begann im Inneren zu wogen, als der riesige Tank in die neue, ein wenig schräge Lage kippte. Indiana hob einen Schwellenbalken vom Lorenboden. Er lehnte ihn an die Rückwand und kippte ihn nach der nächsten Gewehrsalve über die Kante hinaus auf die Schienen. Er polterte sekundenlang über das Gleis, lang genug, daß die Verfolger ihn erkennen und aufschreien konnten, bevor sie dage-genprallten. Es machte ihnen aber kaum etwas aus. Die Schwelle wurde nur ein Stück mitgerissen, überschlug sich und prallte zur Seite wie ein großes, nutzloses Streichholz. Die Thugs jubelten. Indy preßte die Lippen zusammen. »Sonst irgendwelche Vorschläge?« sagte Willie dumpf. Sie hatte eigentlich beschlossen, nicht mehr damit zu rechnen, daß sie hier lebendig herauskommen würde. Vielleicht erlebte sie doch noch eine freudige Überraschung. Sie selbst schien ohnehin nicht viel dazu beitragen zu können. »Ja. Abkürzung«, erwiderte Indy. Er hieb erneut auf einen Weichenhebel am Gleis ein. Der Wagen fetzte in einen Nebentunnel. Augenblicke später schoß das Verfolgerfahrzeug in eine andere Richtung davon und verschwand. »Böse sein fort«, stellte Short Round ein wenig argwöhnisch fest. »Wohin sie gehen?« So einfach konnte das wohl nicht sein. Das war es nicht. Der Verfolgerwagen tauchte aus einem anderen Tunnel schlagartig wieder auf - direkt neben ihnen auf einem Nachbargleis. Einer der Thugs feuerte aus nächster Nähe auf sie, verfehlte aber infolge der heftigen Schwankungen. Indy packte den Flintenlauf und riß dem Gegner das Gewehr aus der Hand. Er ließ es herumsausen und traf einen der Thugs am Kiefer. Ein dritter packte Shorty am Arm. »Indy, Hilfe!« Indy ergriff den anderen Arm. Die beiden Männer begannen ein Tauziehen um den Jungen, während Willie auf die anderen mit der Khyberflinte einhieb.
Indy gewann das Tauziehen. Shorty stürzte in ihre Lore zurück und fiel auf den Boden. Im selben Augenblick sprang einer der Verfolger herüber. Er schlang von hinten den Arm um Indy. Indiana fuhr herum, beugte sich nach hinten und drückte den Thug an die vorbeirasende Felswand. Der Mann war davon so betäubt, daß Indy den Griff lösen konnte. Er wirbelte geduckt herum und ließ die Fäuste fliegen, als er hochschnellte. Der Gegner kippte über die Rückwand hinaus. Indy drehte sich, um Willie beizustehen, die mit dem Gewehrkolben eben einen weiteren Thug niedergeschlagen hatte. Bevor er jedoch einen Schritt auf sie zutun konnte, kletterte der Thug, den er eben hinausgekippt hatte, über die Rückwand wieder herein und schlug Indy einen Felsbrocken auf den Kopf. Indiana zu Boden. Willie war sofort zur Stelle. Sie zielte und traf den Mann mit rechten Haken im Gesicht. Er flog hinaus und blieb auf Gleis liegen. Schließlich hatte sie die Zeit in Shanghai nicht hinter sich gebracht, ohne irgend etwas zu lernen, Indy stand benommen auf. "Mein Fehler.« Er lächelte. Willie gab ihm seinen Hut. In der Lore daneben griffen die Verfolger nach ihren Gewehren. Sie waren während der letzten Auseinandersetzung gut fünf Meter zurückgefallen. »Ducken!« schrie Indy. Er sah etwas Nützliches. Er packte eine Schaufel und hieb damit wuchtig auf den Hebel einer Kippvorrichtung an der Tunneldecke, dann warf er sich zu Boden. Eine Lawine von Gestein, Erde und Kies ergoß sich über die beiden Fahrzeuge, wobei der Verfolgerwagen den größten Anteil abbekam. Ein Thug wurde zermalmt, dann entgleiste die Lore durch den Schutt auf den Schienen. Sie überschlug sich in einer Staubwolke, während Indys Fahrzeug mit seinen verdreckten, durchgerüttelten Insassen weiterraste. Die Lore brauste in einen Tunnel voller Stalaktiten hinein. Indy hob den Kopf, hatte aber kaum noch Zeit für den Schrei: »Ducken!« Das Fahrzeug schoß durch die Felsausläufer, riß Spitzen ab, die zu tief herabhingen, und jagte mit nur geringem Geschwindigkeitsverlust wieder hinaus. Diesmal hob Willie den Kopf. Wieder blieb ihr nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen. Zehn Meter vor ihnen entdeckte sie eine Lücke im Gleis. Sie erreichten die Schienenunterbrechung mit einem Tempo von fast hundert Stundenkilometern. Das Gute bei der Sache war, daß dahinter der Boden um eineinhalb Meter absank. Der Wagen flog über die Kante, stürzte hinab, landete mit einem ungeheuren Krachen auf dem unteren Schienenteil... und rollte weiter. Willie kicherte leise. Anything goes. Und immer noch schlugen die mächtigen Schmiedehämmer zu. Zwei der Felsstützen gaben schon nach, dann eine dritte. Geradezu wie in Zeitlupe begann sich das riesige Gefäß zur Seite zu neigen. Dann erschallten die Rufe der Aufseher, die sich schleunigst in Sicherheit brachten. Auf einem etwas entfernten, erhöhten Felsvorsprung stand Mola Ram und überblickte die Ereignisse. Der Lärm war ohrenbetäubend - wie wenn die Erde selbst sich aus den Angeln heben wollte -, als das mächtige Becken der Zisterne zu rollen begann, sich überschlug und schließlich berstend auf der Seite liegenblieb. Mit unheimlichem Grollen stürzten Unmassen von Wasser in den Höhlenraum und ergossen sich in einer stetig anwachsenden Riesenwelle in die Tunnels des Bergwerks. Die neue Schienenstrecke verlief geradeaus, der Tunnel war hoch. Indy lächelte mit einer Lässigkeit, die Willie gleichzeitig liebte und haßte. »Bremse, Shorty, bremse!« rief er. Short Round bedauerte ein wenig, daß die Fahrt schon zu Ende sein sollte, hielt Wiederholungen aber für möglich. Er zog die Bremse lässig an. Sie funktionierte nicht. Er zerrte fester. Und hatte den Hebel in der Hand. »O je. Große Fehler«, sagte er, die Augen weit aufgerissen. Willie nickte nur. »Lag ja nahe.« Es lag auch nahe, daß sie gerade auf ein langes, sanftes Gefalle gerieten, wo es nur noch nach unten zu gehen schien. Natürlich wurden sie noch schneller. Indy beugte sich vorne hinaus, um unter die Lore zu blicken. Die ganze Bremsvorrichtung hing lose herab. Indiana zog sich wieder hinein. Die drei starrten einander an. Jeder wußte, was zu geschehen hatte. Sie hatten gemeinsam viel durchgemacht. Hier blieb ein halber Augenblick, sich daran zu erinnern. Willie dachte: Indiana Jones, du bist einer, auf den man sich verlassen kann. Hätte ich dich nur anderswo kennengelernt, Indy dachte: Hoffentlich bleibt ihr beiden zusammen, denn eine große Hilfe bin ich für keinen von euch gewesen.
Shorty dache: Wenn diese Lady der letzte Schatz ist, den Tschao-pao entdeckt hat, bevor er mich in diesem Leben verläßt, muß sie ein ein sehr wertvoller Schatz sein. Ich behalte sie lieber. Willie und Shorty drückten Indys Hände, dann kletterte err über die Vorderwand hinaus. Mit rückwärts gewandtem Gesicht ließ er sich hinunter. Willie und Short Round hielten ihn an Armen und Jacke fest, damit er einen besseren Halt hatte. Als sein Gesäß nur noch Zentimeter vom Boden entfernt war, schwang er ein Bein unter den Wagen und versuchte nach dem Bremsbelag zu treten. Der Boden war nur knapp unter ihm. Seine Füße kippten kurz herunter, er polterte dahin, stets in Gefahr, unter die Eisenräder gerissen zu werden, konnte sich aber festhalten. Es gelang ihm, ein Bein am Chassis einzustemmen, mit dem anderen fand er den Bremsbelag. Langsam und mit wachsender Kraft begann er Druck mit dem Fuß auszuüben. Der Belag preßte sich an die rotierende Scheibe. »Wir fahren zu schnell«, stellte Willie mit einem irren Grinsen fest. Sie schwitzte. Ihre Hände verkrampften sich, hielten Indy aber mit aller Macht fest. Dann hob sie den Kopf. Ein letztes Mal bot sich Anlaß. aufzulachen. Der Tunnel hörte auf. Das Gleis endete an einer nicht sehr weit entfernten Felswand. Shorty sah es ebenfalls. »Es sein aus!« schrie er. So hatte die Fahrt ganz und gar nicht zu Ende gehen sollen. Indiana blickte hinter sich. Kein Zweifel, sie rasten m» Höchstgeschwindigkeit einer Wand von der Größe eines Berge entgegen, und das erste, was dort aufprallte, würde Indiana Jones sein. Er trat mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, auf den Bremsbelag. Der Belag kreischte auf dem mißhandelten Eisen Funken schossen wie Feuerwerksraketen empor. Indianas' Schuhsohle wurde immer heißer, aber er verschloß sein Denken vor dem Schmerz und konzentrierte sich allein auf die Kraft, die sein Bein ausüben konnte, vergeudete keine Energie für Gedan-ken an die Felswand. Die Wand rückte näher. Aber nicht mehr ganz so schnell. Indy stöhnte vor Anstrengung; der Bremsbelag begann zu rauchen. Die Wand schob sich heran. Indy stemmte sich mit dem ganzen Körper gegen den Bremsbelag. Der Wagen wurde langsamer. Indy drückte dagegen. Die Lore wurde langsamer, bis sie die letzten Meter ruhig hinabrollte, sanft zum Stillstand kam und nur noch Indianas Rücken an die Wand drückte. Er stand auf, hinkte einige Schritte davon. Sein Stiefel rauchte. »Wasser«, krächzte er. Die anderen stiegen aus, standen zitternd da und lächelten unsicher. Sie konnten sehen, daß der Tunnel nach links weiterführte, diesmal ohne Schienen. Sie gingen zu Fuß weiter. Keiner sprach. Sie hatten alle noch nicht verdaut, was eben geschehen war. Bald erhob sich ein Wind und wurde rasch stärker. Dann hallte von hinten ein seltsam grollendes Geräusch durch den Tunnel. Die Wände schienen zu beben. Der Eindruck war... besorgniserregend. Sie tauschten unsichere Blicke aus, gingen achselzuckend mit ein wenig schnelleren Schritten weiter. Vor allem der Wind beunruhigte Indy. So tief unter der Erde durfte es derart starken Wind eigentlich nicht geben. Der Lärm wurde lauter. Sie blickten nach hinten. Nichts. »Indy?« fragte Willie. Er war seiner Sache nicht sicher, griff aber nach Willies Hand. Sie begannen zu laufen. Das Grollen nahm an Stärke zu. Von der Decke rieselte Kies. er Boden schien zu schwanken. Short Round fühlte sich an einen Vulkanfilm erinnert, an den er jetzt weniger gern dachte. Er fragte sich, ob der Herr des Donners aus irgendeinem Grunde mißgelaunt sein mochte. Sie rannten. Rannten, so schnell sie konnten, obwohl sie nicht wußten, warum. Noch nicht. Der Lärm war ohrenbetäubend geworden. Willie schaute sich wieder um. Plötzlich verlangsamte sie ihren Lauf und blieb stehen. Wie angewurzelt, mitten im Schritt, gelähmt von Unglauben und Furcht: Der Untergang. Heran nahte eine riesige Wand aus Wasser, die weit hinter ihnen in die Gegenböschung eines Seitentunnels krachte. Willie flüsterte: »O Scheiße!« Short Round und Indiana blieben stehen, um festzustellen, was Willie aufhielt. Was sie sahen, war eine gigantische Flutwelle, die sich mit ungeheurer Geschwindigkeit näherte und sie bald verschlingen mußte. Sie standen einen Augenblick nur da und rissen die Augen auf. Dann .packte Indy das Mädchen, und sie hetzten los. Die Flutwelle peitschte wild vorwärts und dröhnte mit jeder Sekunde näher heran. An der schäumenden Vorderseite trug sie den Schutt aus hundert Tunnels vor sich her: Felsblöcke, Äste, Tiere. Sie würden es nicht schaffen. Oder vielleicht im allerletzten Augenblick doch, in dem kleinen Seitentunnel vor ihnen... »Da!« schrie Indy, um den Lärm zu übertönen. »Springt!«
Sie sprangen zum Loch. Short Round hechtete als erster hinein, als beende er einen Siegeslauf. Indy stieß Willie hindurch und folgte ihr - in eben dem Augenblick, als die Flutwelle in den Hauptschacht hineinschoß. Dieser schmale Nebentunnel fiel steil ab. Sie rutschten hinunter, übergössen von der kleinen Nebenströmung, die von der Wasserwelle hineingeschleudert worden war. Sie kugelten die Röhre hinab zu einem größeren Tunnel. Shorty schien begeistert zu sein. »Das prima. Wartet, ich noch einmal machen.« Indy packte ihn aber am Kragen, bevor er einen Schritt tun konnte, und drehte ihn in die andere Richtung. Wo haben die Kinder das nur her? dachte er. Das Brausen der Flutwelle verklang, während sie Luft schöpften. Willie wagte daran zu glauben, daß sie tatsächlich Licht sehen konnte, ja, am Ende des Tunnels. Sie wollte gerade davon sprechen, als es hinter ihnen wie eine neue Explosion krachte. Sie drehten sich um und sahen einen anderen Arm derselben Welle in ihrem Tunnel mit erschreckender Gewalt herandonnern. Sie schrien gleichzeitig auf und begannen mit aller Kraft in die Richtung des Tageslichts zu laufen. Die hochragende Wasserwand jagte unbarmherzig hinter ihnen her. Sie rasten zum Ende des Tunnels. Die ersten Wasserzungen leckten nach ihnen. Sie stürmten hinaus ins Sonnenlicht... Und standen schwankend am Abgrund. Der Tunnel endete mitten an einer Steilklippe. Sie starrten auf einen senkrechten Absturz von hundert Metern in eine Schlucht. Mit rudernden Armen, um ihr Gleichgewicht zu halten, standen sie eine Ewigkeit dort. Dann hob Indy das Mädchen auf einen schmalen Sims neben der Tunnelöffnung und stieß Short Round hinterher. Er selbst sprang auf die andere Seite - gerade in der Sekunde, als die Flutwelle zwischen ihnen aus dem Felsloch brach. Voran der Schutt. Hinaus flogen Schwellenbalken und Fässer und alles andere, was das Wasser mitgerissen hatte. Sogar eine Lore schoß vorbei. Im brausenden Wasser wurde alles durcheinandergewirbelt. Es war eine riesige Fontäne, die aus diesem und aus vielen anderen Tunnels in der Felswand sprühte. Short Round und Willie hielten auf ihren schmalen Felsbändern mit Mühe das Gleichgewicht, Indy hielt sich auf seinem, auf der anderen Seite des sprudelnden Wasserspeiers. Willie blickte kurz hinunter, wurde aber vom Schwindelgefühl beinahe hinuntergerissen. Wasser donnerte in die Schlucht hinab. Krokodile schwammen im flachen Flußbett dort unten, zornig, da die in ihrem Nachmittagsschlaf gestört wurden. Indy blickte sich um. Die Schlucht hatte eine Breite von etwa hundert Metern. Auf der anderen Seite ragten schroffe Felsen empor zu einem ebenen Hochplateau. Soweit Indy das von seinem Platz aus erkennen konnte, schien dort der Heimweg zu verlaufen. Dann sah er eine Brücke. Es war eine dünne Seilbrücke, die zwischen den beiden Plateaus hin -und herschwang. Auf dieser Seite begann sie ungefähr sieben Meter oberhalb und noch einmal sieben Meter seitwärts der Stelle, wo Willie und Shorty sich an die Felsen klammerten. Indiana schrie zu ihnen über die dröhnende Fontäne hinüber. »Willie, zur Brücke!« Er zeigte nach oben. Sie schaute hinauf. Wandte den Blick ab. Sollte das denn nie ein Ende nehmen? »Nichts dabei«, munterte Short Round sie auf. »Mir folgen.« Er schob sich auf dem schmalen Felsband zu dem Gesteins vorsprung unmittelbar unter der Brücke. Willie folgte ihm widerstrebend. Als sie unter der Brücke standen, kletterten sie an der Felswand hinauf. Felsklettern ist eine Betätigung, bei der Zwölfjährige sich bekanntermaßen hervortun. Das zeigte sich hier ganz deutlich. Short Round kletterte wie eine Bergziege, fand Vertiefungen und Griffe, die all diese Jahrhunderte hindurch nur auf ihn gewartet zu haben schienen. Willie konnte es ihm fast in jeder Beziehung gleichtun. Immerhin war sie Tänzerin. Doch es ging überdies um ihr Leben. Und sie wäre nicht so weit gekommen, wie sie es geschafft hatte, ohne leichtfüßig zu sein. Aus diesen Gründen blieb sie nicht allzuweit hinter Shorty zurück. Indiana hatte ein wenig größere Schwierigkeiten. Zum einen war sein Fuß von der Abbremsung der rasenden Bergwerkslore noch stark lädiert, zum anderen mußte er die Felswand hinaufklettern und dabei mehrere Wasserfontänen zwischen sich und der Brücke umgehen. Der Fels war hier naß, glitschig und überaus gefährlich. Er hielt sich am kargen Grasbewuchs fest und schob sich Zentimeter um Zentimeter im Krebsgang vorwärts. Da der eine Fuß gefühllos blieb, war sein Unternehmen entschieden erschwert. Willie und Short Round zogen sich am Ende der Brücke hinauf Hinter ihnen in der Klippe führte ein dunkler Tunnel in das Bergwerk zurück. Vor ihnen war die Seilbrücke eher ein Hohn als eine Hoffnung. Sie überspannte die Schlucht wie die letzten Fäden eines Spin-nengewebes im Altweibersommer. Sie war mindestens hundert Jahre alt, und sie war schon damals nicht von Armeepionieren gebaut worden. Hunderten wurmzernagter, angefaulter Holzbrettchen zusammengehalten wurden. Dazwischen gab es Hunderte leerer Stellen, wo einmal Bretter gewesen waren. Entlang diesem Lauf gang verbanden senkrechte Stricke den
Boden mit zwei dünnen oberen Seilen, die als zerbrechlicher Handlauf über die Schlucht führten. Willie zauderte. Short Round dagegen hatte, wie man sich erinnern wird, viel Erfahrung bei Hetzja'gden über den Dächern von Shanghai, ganz zu schweigen vom Hinüberhanteln an Wäscheleinen zwischen Dachfenstern, um Verfolgern zu entgehen. Der Anblick, der sich ihnen bot, erschreckte ihn deshalb weniger. Er trat vorsichtig auf die Brücke hinaus. Sie hielt. Er drehte sich um und lächelte Willie an. »Geht ganz leicht! Kinderspiel!« Plötzlich brach das Brett unter ihm. Eigentlich zerfiel es sogar. Hätte Willie nicht mit einer solchen Möglichkeit gerechnet, wäre der Junge in den Abgrund gestürzt. Sie packte ihn am Kragen und riß ihn gerade noch zurück. Er sah ein wenig blaß aus und war nicht mehr ganz so selbstsicher. Trotzdem blieb kein anderer Weg als der nach vorn. Wieder trat er auf den schwankenden Boden und konzentrierte sich sehr stark darauf, mehr Yin als Yang zu sein. Diesmal hielten die Holzbrettchen. Nachdem Willie die Alternativen erwogen hatte, folgte sie ihm. Sie versuchte sich einzubilden, dies sei eine Solovorstellung für einen großen Theaterproduzenten. Es durfte keine Fehler geben, keinen neuerlichen Anfang. Vorsichtig, Schritt für Schritt, schoben sie sich über dem vorwärts und ließen behutsam fehlende oder offen-verfaulte Bretter aus. Sie mußten sich an den Handge-leken festhalten, weil die Brücke im Wind nicht nur stark hin-und schwankte, sondern auch unter ihren Schritten auf- und abwippte. Short Round flehte Feng-p'o, Frau Wind, an, sich an einen anderen Ort zu verfügen. Es war der längste und und zugleich mühsamste Weg, den Willie je gegengen war. Hinter ihnen zog Indy sich endlich von unterhalb der Brücke hinauf. Fast schon in Freiheit. Er blieb nur kurze Zeit stehen, um Atem zu holen. Willie und Short Round waren, wie er sehen konnte, auf halbem Weg nach drüben. Bei jedem Schritt schwankten sie. Vielleicht sollte er hier warten, bis sie drüben waren, damit sein zusätzliches Gewicht das Schaukeln nicht noch verstärkte. Hinter sich hörte er Schritte. Er huschte neben die Tunnelöffnung und nahm die Peitsche vom Gürtel. Mit einem Mal stürmten zwei Thugs heraus. Indy ließ die Peitsche knallen und erfaßte den ersten Thug um den Hals. Der Mann stürzte zu Boden und riß den zweiten mit. Als der erste aufzustehen versuchte, traf Indy ihn mit einem Tritt an den Kopf. Der zweite Mann sprang auf und schwang sein Schwert. Indy duckte sich. Beim Hochschnellen hieb er die Faust in den Bauch des Mannes. Der Thug krümmte sich vor Schmerz zusammen, während Indy nach dem Schwert des Bewußtlosen hechtete. Indiana mußte sich im nächsten Augenblick zur Seite rollen, um der herabstoßenden Klinge des Thug zu entgehen, der sich erholt hatte. Er sprang auf. Die beiden Männer standen einander duellbereit gegenüber. Indy begriff plötzlich, daß er diese Art Schwert überhaupt nicht kannte. Er wog die flache, gebogene Klinge in der Hand, hielt sie waagrecht und senkrecht, drehte sie herum, um sich mit ihr vertraut zu machen, als auch schon der wütende Thug einen Schrei ausstieß und attackierte. Indy kam schnell zu dem Schluß, daß Brüllen hier wohl dazugehörte, ließ einen eigenen lautstarken, unartikulierten Schrei hören und hob das Krummschwert, um den ersten Hieb des Angreifers abzuwehren. Das Duell war im Gange. Bei jedem klirrenden Zusammenprall der Klingen stoben Funken, während der Thug-Kämpfer zustieß und fintierte und immer wieder zustieß. Indy reagierte eher mit Abwehr und Fuchteln und schließlich mit Abwehr und Ansprin gen. Er hechtete durch die Luft und packte seinen Gegner um die Hüften. Sie rollten eng umschlungen auf dem Felsenabhang umher. Indy war oben, als sie in einem Gestrüpp zum Stillstand kamen. Er zog dem Gegner eins mit dem eisernen Schwertknauf über, und der Kampf war vorbei. Er stand auf und lief mit dem Säbel in der Hand zur Brücke zurück. Willie und Shorty waren fast schon auf der anderen Seite angekommen. Indiana trat hinaus auf die zerbrechliche Konstruktion. Er ging schnell und hielt sich an den Seitenseilen fest. Jeweils nach einigen Schritten brach sein Stiefel durch, und er mußte sich an den Spannseilen abfangen. Aus diesem Grund blickte er fast die ganze Zeit nach unten, um die brüchigen Holzplatten auszulassen. Als er sich der Brückenmitte näherte, hörte er vor sich Geschrei. Er hob den Kopf und sah am vorderen Ende der Brücke Tempelwachen auftauchen. Willie und Short Round wurden sofort, als sie festen Boden betraten, gepackt. Sie wehrten sich erfolglos. Es waren zu viele Gegner. Indy blieb unentschlossen stehen. Plötzlich schrie Willie: »Indy, hinter dir!« Indy drehte sich um. Auch aus dem Tunnel hinter ihm stürmten Wachen. Er drehte sich nach vorn. Zwei von den Kerlen, die Willie und Shorty gefangengenommen hatten, traten vor ihm auf die Brücke hinaus. Indiana stand hilflos in der Mitte der schwankenden Brücke. Von beiden Seiten näherten sich Wachen. Es gab nichts als die Felsschlucht voller Krokodile unter ihm und den strahlenden Himmel über ihm. Nun, beinahe aussichtslos. Dies war eine echte Aufgabe für Indiana Jones. Der Wind heulte auf wie ein böses Omen. Mola Kam, der Hohepriester, tauchte am anderen Brückenende auf. Er stand da seinen Priesterroben und zeigte das Lächeln eines Mannes, der alle Trümpfe in der Hand hält. Neben ihm wurden Willie und Short Round von Wachen festgehalten. Indy taumelte im böigen Wind. Er hielt sich an den Seilen fest und schrie Ram zu: »Laßt meine Freunde frei!«
Mola Ram brüllte seine Männer in der Hindisprache an. Sie gingen von beiden Seiten über die Brücke auf ihn zu. »Das ist weit genug!« rief Indiana. »Sie sind nicht in einer Lage, die es Ihnen gestatten würde Befehle zu erteilen, Doktor Jones«, erklärte der Hohepriester. Indy zeigte auf seine Schultertasche. »Wenn Sie die Steine wollen, lassen Sie sie frei und rufen Sie Ihre Leute zurück! Oder ich lasse die Steine fallen.« »Tun Sie das, Doktor Jones!« erwiderte Mola Ram. »Man wird sie leicht finden. Aber Sie nicht!« Er rief seinen Männern ein Wort zu: »Yanna!« und ließ die Hand hinabsausen. Sie traten auf der Brücke vor und näherten sich dem Wahnsinnigen in der Mitte. Warum kann nichts einfach sein? fragte sich Indy. Ohne weitere Überlegung schwang er das Schwert, das er mitgenommen hatte, und zerschnitt eines der unteren Spannseile halb. Die Brücke schwankte ziemlich. Das teilweise zertrennte Seil zerfranste unter der Spannung zunehmend. Die Wachen blieben stehen. Mola Ram nickte anerkennend. »Eindrucksvoll, Doktor Jones«, beglückwünschte er seinen Gegner. »Aber ich glaube Ihnen nicht, daß Sie sich selbst das Leben nehmen wollen.« Er machte wieder eine Handbewegung. Seine Männer traten zwar vor, aber diesmal zögernder, und gingen von beiden Seiten auf Indy zu. Indy ließ die Klinge wieder hinuntersausen, diesmal auf das gegenüberliegende Spannseil. Auch dieses wurde halb zertrenn und begann sich langsam aufzulösen. Die Brücke schwankte nun noch heftiger. Die Wachen blieben stehen und wurden wie Indy vom Wind hin- und hergeschauke Mola Ram verging das Lächeln. Er stieß Willie und Short Round auf die Brücke hinaus und folgte ihnen, wobei er ein Dolch in der Hand hielt und fest an Willies Rücken drückte. »Ihre Freunde sterben mit Ihnen!« brüllte er. Indiana blickte auf die Wachen vor und hinter sich. Er blickte auf Willie und Short Round, die drei Meter weit auf der Brücke standen, Mola Ram mit entschlossener Miene hinter ihnen. Indy blickte auf die Landschaft, schaute zum Himmel hinauf. Und er schrie mit einer Stimme, die keinen Zweifel aufkommen lassen sollte, allen zu: »Dann werden wir wohl alle einen tiefen Sturz tun!« Indys Augen trafen die von Short Round. Vieles wurde bei dieser Begegnung angerührt: Erinnerungen, Bedauern, Versprechungen, Dank und eine ganz deutliche Botschaft: Das ist keineswegs ein Spaß. Willie sah es auch. Sie blickte wehmütig auf Indy. Es hätte anders kommen können, Freund. Sie blickte angstvoll auf Short Round... und bemerkte, daß er heimlich seinen Fuß um ein lockeres Seil wickelte. Halb gelähmt, aber auch erregt, tat Willie es ihm insgeheim nach und schlang auch einen Arm um eines der Seile. Mola Roms priesterliche Wut kannte keine Grenzen. »Gib mir die Steine!« »Mola Ram« rief Indiana, »Sie werden Kali begegnen - in der Hölle!« Er ließ trotzig das Schwert hinabsausen. Es pfiff durch die Luft und durchschnitt an einer Seite der Brücke das obere und untere Spannseil. Zwei Wachen stürzten sofort hinunter und kreischten, bis sie den Tod fanden. Die anderen flohen in Panik. Freilich nicht genug, denn Indy hieb sein Schwert auf der anderen Seite und teilte die Brücke in zwei Hälften. Die beiden Hälften trennten sich, schienen einen langen, schier endlosen Augenblick in der Luft zu schweben ... und fielen auseinander. Die Thugs stießen gräßliche Schreie aus,als hundert Meter tief ins Tal stürzten. Alle versuchten verzweifelt, sich an den Resten der Seilbrücke festzuklammern, die an die Felswände zurückfiel. Nur wenigen gelang es. Auf der Seite, wo Indy sich festhielt, stürzten beim ersten Ruck drei Wachen ab. Bis die Brücke schließlich an die Felswand krachte, von der sie nun herabbaumelte, waren nur sechs Menschen übriggeblieben: Mola Ram oben, knapp unter dem Klippenrand, wo die Brücke befestigt war; unter ihm ein Thug; Willie, Short Round; ein zweiter Thug und ganz unten über einem Felsvorsprung im Leeren baumelnd, Indiana. Willie und Shorty klammerten sich an die Seile der nun senkrecht hängenden Brücke. Einige Sekunden lang rührte sich keiner von ihnen, bis sie begriffen hatten, daß sie noch lebten, daß sie sanft schwankend an den Seilen hingen, von denen keiner wußte, ob sie halten oder reißen würden. Dann begann Mola Ram hinaufzuklettern. Er kam bis fast zur Verankerung der Strickleiter, als er nach einer verfaulten Sprosse griff, die sich auflöste und zerbrach. Er rutschte drei Meter hinunter und kam zwischen Willie und Short Round zum Stillstand. Dabei stieß er einen von den Thugs herunter, der an ihnen vorbei in die Tiefe stürzte. Die Leiter schwang hin und her. Niemand bewegte sich. Dann begann Indy zu klettern. Er kletterte vorbei an dem Thug, der Augen und Fäuste fest verschlossen hielt. Er griff nach Mola Rams Beinen und versuchte den Fanatiker in den Tod zu reißen. Ram trat ihm ins Gesicht und kletterte wieder nach oben. Indy folgte ihm und packte wieder seinen Fuß. Er zerrte ruckartig daran. Mola Ram verlor den Halt und stürzte
zu Indy hinunter. Sie umklammerten einander und die Stricke, vor Haß beinahe von Sinnen. Dort kämpften sie. Indy rammte den Kopf gegen das Kinn des Hohepriesters. Ram stieß Indy sein Knie in den Körper, bog mit dem Ellenbogen seinen Hals zurück und griff nach seiner Brust. Von oben kreischte Willie: »O mein Gott! Indy, laß ihn nicht an dein Herz!« Indy war plötzlich von eisigem Schrecken erfüllt. Er blickte hinunter und sah, daß Mola Rams Hand in seinen Brustkorb eindrang - wie er es schon einmal bei dem Menschenopfer gesehen hatte. Er umklammerte Rams Handgelenk und hielt verzweifelt die bohrende Hand fest, aber langsam und teuflisch schoben sich die Finger des Zauberers durch Indys Haut - in seinen Körper. Es war ein eisiges, Übelkeit erregendes Gefühl. Eigentlich . nicht sonderlich scnmerzhaft, aber eine Verletzung seiner inner-sten Seele. Es war raubgierig, abscheulich, grauenhaft. Auf seine Stirn traten Schweißtropfen, vor seinen Augen tanzten schillernde Punkte. Er drohte das Bewußtsein zu verlieren und abzustürzen. Sein Selbsterhaltungstrieb war freilich zu stark. Er behielt doch die Nerven und zwang Rams Krallen, von seinem Herzen zu lassen, drängte sie aus seinem Brustkorb hinaus und stieß die Hand zurück gegen Rams Gesicht. Der Hohepriester kletterte wutentbrannt in die Höhe, während Indy sich einen Augenblick lang erholte. Ram stieg aber nur ungefähr einen Meter weit, bis zu seinem letzten Thug. Er schlang den Arm um den Hals des Mannes, riß ihn von den Stricken und stieß ihn hinab auf Indiana, um den Gegner von der baumelnden Leiter zu stürzen. Willie und Shorty, die weiter oben hingen, schrien im Chor: »Indy, Vorsicht!« Der herabstürzende Thug traf ihn genau auf den Schultern. Indy hielt sich verzweifelt fest. Der hilflose Mann prallte ab, überschlug sich und fiel mit einem gräßlichen Schrei in die Tiefe. Mola Ram lachte. Auf der anderen Seite der Schlucht wurde es laut. Indy blickte hinüber und sah ein Dutzend Wachen aus dem Tunnel hervorstürmen. Ohne Brücke saßen sie dort fest. Mola Rams Stimme tönte über den Abgrund zu seinen Leuten: "Tötet sie! Erschießt sie!« Die Wachen liefen einenPfad hinauf zu einem kleinen Baum-hain auf einem Hochplateua darüber, wo der Übergang gewesen war Sie griffen nach Pfeilen und Bogen und nahmen Aufstellung. Indy zog sich höher und bekam den Saum der Robe von Mola Ram zu fassen. Ringsum begannen Pfeile aufzuschlagen. Einer bohrte sich in die Sprosse, an der er hing, und streifte dabei seine Hand. Er mußte Ram loslassen. Mola Ram benützte die Gelegenheit, noch einige Stufen höher zu steigen. Diesmal waren Willie und Short Round jedoch gewappnet. Sie traten ihm auf die Hände, als er das Brett erreicht wo sie standen. Er rutschte ab und stürzte. Stürzte auf Indy und riß auch ihn los. Die beiden fielen etwa drei Meter hinab, bevor sie eine der untersten Sprossen zu fassen bekamen. Indy hielt sich nur mit den Händen fest. Ram verlor keine Zeit mehr damit, den Ungläubigen zu bekämpfen. Die Priesterpflichten hatten ihn nicht auf solche akrobatischen Anstrengungen vorbereitet; er begann zu ermüden. Er wollte nur noch entkommen. Er stieß sich von Indys Kopf ab und begann erneut mit dem Aufstieg. Shorty gelangte endlich ganz hinauf. Er stemmte sich auf den felsigen Boden, drehte sich um und half Willie herauf. Sie blieben sekundenlang keuchend liegen und preßten sich auf die Erde, während Pfeile sie umschwirrten. Zum Glück waren alle Wachen auf dieser Seite der Schlucht abgestürzt, so daß sie zumindest vorerst nur die Sorge hatten, den Pfeilen auszuweichen. Das war bei Indiana jedoch anders. Er begann die Strickleiter wieder hinaufzusteigen, als seine verwundete Hand einen Krampf erlitt. Er hakte sich mit einem Ellenbogen über eine Sprosse und schwankte sekundenlang im Wind. Was für eine An, sich sein Geld zu verdienen. Indy sank der Mut. Auf der anderen Seite der Schlucht konnte er das Dutzend Bogenschützen Pfeilsalven auf ihn abfeuern sehen. Er blickte hinunter. Der aufgeriebene Strick gab wieder eine Holzplatte frei, die sich im Wind wie ein zerbrochener Propeller drehte. Sie brauchte lange, bis sie in Spiralen bis zu Boden der Schlucht hinabgelangte. Entschlossen kletterte Indiana weiter. Mola Kam kam oben an. Er griff mit der Hand über die Randkante hinauf und suchte nach einer Stelle, wo er sich festhalten konnte... und Willie hieb ihm den scharfkantigen Stein, den sie hatte finden könnnen, auf die Finger. Der Hohepriester schrie vor Schmerzen auf und rutscht ohne Halt an den Stricken hinunter, bis ihn erneut Indys breite Gestalt aufhielt. Sie umklammerten sich, boxten und rangen miteinander und drehten sich im Wind. Auf dem Klippenrand über ihnen beobachteten Willie und Short Round, ohne eingreifen zu können, die Kämpfenden. Rechts von sich hörte Short Round ein Geräusch. Er spannte die Muskeln zu Kampf oder Flucht an.
»Willie, da!« schrie er. Sie folgte seinem Blick. Pferde galoppierten durch einen engen Paß auf sie zu. Die britische Kavallerie kehrte zurück. »Na los, beeilt euch! Es wird langsam Zeit!« fauchte sie. Captain Blumburtt und die ersten Kavalleristen zugehen ihre Pferde und sprangen ab. Ein Pfeilregen zwang alle, Deckung zu suchen , aber sie richteten sofort ihre langen Gewehre auf die Thugs gegenüber und erwiderten das Feuer. Willie und Short Round robbten zurück zum Rand des Ab-grunds, um zu sehen, ob sie Indy Hilfe leisten konnten. Indy und der Priester befanden sich nun ohne Zweifel in einem Kampf auf Leben und Tod. Sie schienen weder auf die Pfeilsalven noch auf die Gefahr durch die baumelnden Seile zu achten. Jedem ging es nur noch darum, den anderen zu vernichten. Indy schlug mit der Faust zu, Ram versuchte ihm ein Auge auszustoßen. Die Tasche mit den Steinen an Indys Schulter riß ab. Er hielt sie am Riemen fest, aber Mola Ram, dem sein Schatz wieder einfiel, ergriff die Tasche. "Nein, die Steine gehören mir!" zischte der Hohepriester "Du hats Shiwa verraten", fauchte ihn Indy an. Nur Zentime-ter von Mola Rams Gesicht entfernt, begann er Sankaras Warnung in Hindi zu intonieren, immer wieder: »Shiwe ke wishwas kate ho. WisWas kate ho. Wishwas kate ho.« Dann geschah etwas ganz Merkwürdiges. Als Indy die magi-schen Worte wiederholte, begannen die Steine durch die Tasche hindurch zu leuchten. Sie waren von schmerzhafter Helligkeit, sie durchsengten den Beutel und die Tasche. Sie begannen hinabzufallen. Verzeweifelt griff Mola Ram nach ihnen. Indy sang weiter: »Wischnu kate ho. Wishwas kate ho.« Ram fing einen der Steine auf, aber er glühte nun unglaublich heiß und verbrannte ihm die Hand. Er ließ ihn fallen und öffnete auch die andere Hand. Indy erhaschte den strahlenden Stein mitten in der Luft, als Ram ihn freigab. Aber in Indianas Hand fühlte er sich kühl an. Kurz schien die Zeit stillzustehen, als ihre Blicke sich noch einmal begegneten. Indiana hatte den Eindruck, als sei Mola Ram eben aus einem Alptraum erwacht. Obwohl es ein Alptraum war, an den Indy sich nur undeutlich entsann, würden seine Bilder ihn für immer heimsuchen. Er verspürte eine Aufwallung des Mitgefühls für Mola Ram, der am Rand des Bewußtseins in beiden Welten stand, ohne Zukunft, die Erinnerungen an seine Vergangenheit durchtränkt von Grauen. Der Hohepriester kippte nach rückwärts. Seine Hand war schwer verbrannt. Seine Füße durchbrachen die zersplitternde Sprosse, auf der er balanciert hatte. Er überschlug sich und schwebte in seinen Gewändern hinab wie ein entfliehender Flugdrachen, bis er endlich in den schroffen Felsen am Boden zerschellte. Die Krokodile zerfleischten seinen leblosen Körper rasch. Ihr Hunger wußte nichts von seinen Greueltaten. Zwei der Sankara-Steine fielen in das seichte Wasser, versanken in der schmutzigen Strömung und wurden flußabwärts getragen ... irgendwohin. Nun gab es nur noch einen. Indy steckte den letzten Sankara-Stein, der wieder dunkel geworden war, in seine Hosentasche. Er stieg die herabbau melnde Brücke hinauf, bis ihn Willie, Short Round und Blum-burtt über den Rand zogen. Auf der anderen Seite der Schlucht strömten britische Soldaten aus den Tunnels, um die verbleibenden Thug-Wachen auf jener Seite zu überwältigen. Hinter ihnen kam der junge Maharadscha heraus. Er sah Short Round bei Indy stehen. Er verbeugte sich von der anderen Seite her, um Shorty dafür zu danken, daß er ihn vor den schwarzen Alpträumen seiner eigenen Seele gerettet hatte. Short Round winkte dem Maharadscha und dankte ihm damit, daß er die Truppen zurückgeholt hatte. Der Prinz wäre offenkundig beim Baseball der ideale Ersatzmann gewesen. Willie stand am Rand des Abgrunds und blickte auf den tief unten liegenden Fluß hinunter. »Mola Ram hat wohl bekommen, was er wollte.« »Nicht ganz«, sagte Indy. Er zog den begehrten Stein aus der Tasche. »Der letzte Sankara-Stein.« Willie griff vorsichtig danach. Sie hielt ihn an die Sonne. Er funkelte und blitzte von tief innen heraus wie ein Geschöpf der Erde mit einem geheimen Herzen. Einen Augenblick lang hatten sie alle Teil an seinem Geheimnis. Sie erholten sich ein paar Tage im Palast. Die Truppen holten viele der Kinder zurück, die sich noch in den nahen Wäldern verbargen, gaben ihnen zu essen und versorgten ihre Verletzungen. Als alle kräftig genug für die Reise waren, beorderte Blum-burtt eine Abteilung Soldaten für Willie, Indy und Shorty, die die Kinder nach Hause bringen sollten. Short Round fühlte sich wie der König der Kinder. Er war viel bei ihnen und zeigte sich väterlich, lehrreich und verantwortlich. Er brachte ihnen bei, nie zu stehlen, wie Mola Ram sie gestohlen hatte. Er wies sie an, die Sterne des Glücks, der Würden und der Langlebigkeit stets in der Nähe ihrer Herzen zu bewahren. Er brachte ihnen das Baseballspiel bei- mit Stöcken und Früchten Er lehrte sie, Mumien von Draculas zu unterscheiden, eine Münze zu werfen und hart aufzutreten, aber doch
nett zu sein. Er schickte sie zu Willie, damit sie ihnen beibrachte, wie man die Seele der Männer verwirrt. Er lehrte sie die manen aller wichtigen Gottheiten, die stets auf seine Gebete hörten, - allerdings hatte Short Round inzwischen so viele Versprechungen an so viele Götter ausgesprochen, daß er bezweifelte, ob in Zukunft noch einer von ihnen auf ihn hören würde. Aber Indy hatte auf ihn gehört. Indy war hier. Und Indy würde ihn nach Amerika mitnehmen. Willie verbrachte die Zeit wie benommen. Sie hatte dergleichen nie zuvor durchgemacht. Nun, da es vorbei war, konnte sie nicht recht glauben, daß sie es wirklich überstanden hatte. Sie berührte immer wieder die Bäume, berührte Short Round und Indiana, um sich zu vergewissern, daß das Wirklichkeit war und kein Traum. Es so recht zu glauben fiel ihr noch immer ein wenig schwer. Indy ärgerte sich ein bißchen darüber, zwei der Sankara-Steine verloren zu haben - er hatte sie in den Händen gehalten! - aber wenigstens hatte er einen. Der Stein gehörte ihm, zumindest vorübergehend. Außerdem waren die Kinder befreit; das war die Hauptsache. Und die Thugs gab es nicht mehr. Zwei Tage später setzten die Soldaten eine große Gruppe von Kindern vor Mayapore ab und begleiteten die übrigen zu anderen Dörfern in der Umgebung. Indiana und seine Begleiter gingen auf der Landstraße zurück nach Mayapore, gefolgt von den Kindern des Ortes. Sie waren erstaunt, die Landschaft zu sehen. Was vorher unfruchtbar gewesen, wurde neu geboren. Neben Bächen, die klar und funkelnd strömten, wuchsen nun Bäume. Blumen begannen zu blühen. Die Berge waren nicht mehr braun, sondern grün. Auf den Feldern arbeiteten Bauern. Im Ort selbst bauten die Bewohner ihre einfachen Gebäude wieder auf. An den Wänden hing Handwerkskunst. Die Dorfbewohner waren mit einer Freude am Werk, die sich auf das ganze Land ausbreitete. Freudenschreie wurden laut, als die Dorfbewohner ihre Kin-der erblickten. Sie ließen fallen, was sie in Händen hielten, und liefen hinaus zu den Kindern, die ihnen entgegenstürmten. Es gab Tränen und Gelächter und vielerlei gute Nachrichten. Der Schamane ging auf Indiana zu, führte die Hände an die Stirn und verbeugte sich. Die drei Reisenden erwiderten seinen Gruß. Tief bewegt sprach er Indy an. »Wir wußten, daß ihr zurückkommt, als das Leben in unser Dorf zurückkehrte.« Er wies auf die Landschaft. Willie nickte. »Ich habe nie vorher ein Wunder erlebt.« Aber dies war ein Wunder, ohne jeden Zweifel. Sie lächelte strahlend. Wunder konnten nicht nur geschehen, sie geschahen manchmal auch. Der Schamane lächelte. »Jetzt seht ihr den Zauber des >Steins<, den ihr mitgebracht habt.« Indy zog den Stein aus der Tasche, wickelte ihn aus dem kleben Stück Sankara-Stoff, das noch in seinem Besitz war. »Ja, ich habe seine Macht gesehen.« Der Schamane nahm den Stein ehrfürchtig von Indy entgegen und verbeugte sich erneut, dann ging er mit den anderen Dorfältesten zum heiligen Schrein. Willie, Indy und Shorty blieben im Hintergrund. Der Schamane kniete vor dem kleinen Altar nieder, legte den Stein in seine Nische und sang: »Om siwaja nama om...« Indy und Willie gingen davon. »Sie hätten ihn behalten können«, sagte sie. »Wozu? Sie würden ihn nur in ein Museum tun, wo er wie andere Steine Staubfänger wäre.« »Sie hätten Reichtum und Ruhm damit erworben.« !ndy zog die Schultern hoch, dann grinste er listig. »Na, der Weg nach Delhi ist weit. Da kann noch alles mögliche passieren.« sie sah ihn an, als sei er wahnsinnig geworden. "O nein. Nein, danke. Keine Abenteuer mehr für mich, Dok-tor Jones.« " Aber Schätzchen, nach all dem Spaß, den wir gehabt haben ..." In ihr wallte eine rote Flut des Zorns hoch. War der Kerl völlig übergeschnappt? Sie waren am Leben - übrigens ganz zufällig! Reichte ihm das nicht? Sie konnte sich vor Empörung kaum fassen. »Wenn Sie glauben, ich ginge mit Ihnen nach Delhi oder sonstwohin, nach all den Schwierigkeiten, in die Sie mich gebracht haben, dann schminken Sie sich das ab, Freundchen« fing sie an und kam in Fahrt. »Ich fahre heim nach Missouri wo man nie Schlangen vorgesetzt bekommt, bevor sie einem nicht das Herz aus dem Leib reißen und einen in heiße Krater versenken. Ich stelle mir unter Spaß etwas anderes vor! Nichts mehr von >Anything Goes!< Nichts mehr von -« Sie verstummte, bevor ihr der Schaum vor den Mund zu treten drohte. Sie drehte sich um und ging auf einen Dorfbewohner zu, der ein Bündel auf dem Rücken trug. »Verzeihung, Sir?« rief sie. »Ich brauche einen Führer nach Delhi. Ich kann wirklich sehr gut auf einem Elefanten reiten.«
Die Peitsche knallte, die Schnur wickelte sich um Willies Taille. Indy zog sie sanft, aber unerbittlich in seine Arme. Sie wehrte sich nur kurz. Es hatte keinen Sinn, gegen das Karma anzukämpfen. Diese Umarmung war vorherbestimmt gewesen, seitdem er den Klub betreten und ihrer beider Augen den Bund besiegelt hatten. Sie küßten sich. Es war ein zärtlicher, froher Kuß, freigebig wie der Sommerregen. Wasser regnete prasselnd auf sie herab. Sie fuhren auseinander und blickten nach oben. Short Round saß auf dem Rücken seines Elefantenbabys. Das Tier besprühte sie fröhlich mit seinem Rüssel. Short Round lachte. Indy und Willie lachten. Selbst der kleine Elefant lachte. »Sehr lustig«, meinte Short Round. »Sehr lustig, großer Spaß" Sie gelangten schließlich alle drei nach Amerika. Aber das eine andere Geschichte.
Der Letzte Kreuzzug Aus dem Amerikanischen von W. M. Riegel
Titel der Originalausgabe: Indiana Jones and the Last Crusade Originalverlag:Ballantine Books, New York
»Das Problem des Helden, der auf dem Weg zu einer Begegnung mit seinem Vater ist, besteht darin, ihm furchtlos seine Seele so weit zu offenbaren, daß dieser verstehen kann, wie die krankmachenden und irrsinnigen Tragödien seines weiten und rücksichtslosen Kosmos sich ganz und gar in der Majestät des Seins bestätigen. Der Held überschreitet die Grenzen des Lebens und dessen seltsamen Blinden Fleck und erhascht so einen Moment lang einen Blick auf die Ursprünge. Er sieht das Gesicht des Vaters, begreift – und beide werden eins. * Joseph Campbell THE HERO WITH A THOUSAND FACES
Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie ich mich fühlte: in einer modernen Stadt, in der dicksten Rush-hour am Mittag, einen Kreuzfahrer auf mich zukommen zu sehen." Carl Jung
MEMORIES, DREAMS, REFLECTIONS
Utah 1912 }agd in der Wüste Der Trupp jagte über die Wüste hin. Die Hufe ihrer Pferde donnerten unter ihnen. Eine Staubwolke stieg hinter ihnen auf. Sie ritten schnell und ausdauernd, als wollten sie der Sonne entkommen, die über einen Berg hervorlugte und schon harte Schatten über die karge Landschaft warf. Bald würde die Wüste wieder glühen. Direkt vor ihnen lag eine Felsenformation mit einem Labyrinth von Höhlen darin. Die uniformierten Reiter zugehen ihre Pferde, als sie ihren Anführer vorne die Hand heben sahen. »Ab-sitzen!« rief er. Einer der ersten Reiter, die vom Pferd stiegen, war einer mit einem strohfarbenen Haarschopf. Er blickte sich unter den anderen um. Aus der Entfernung, dachte er, könnte man uns wahrscheinlich für eine Kavalleriebrigade halten. Aus der Nähe sah das allerdings anders aus. Selbst wenn er sich anstrengte, sie sich als Solda-ten vorzustellen, gelang es ihm nicht. Sie waren ziemlich eindeutig einfach nur ein Trupp Pfadfinder. Mit Ausnahme von Mr. Have-lock war nicht einer von ihnen über dreizehn. Einer der Jungen, ein kleiner Pummel, ging gerade von seinem weg. Der Blonde wußte, daß er Herman hieß, aber er kannte nicht weiter. Er hatte von anderen gehört, daß Herman zu Hause Ärger hatte. Was für Ärger, wußte er nicht, aber unver-kennbar hatte er auch hier Probleme. Herman beugte sich vor, schwankte hin und her, und sah aus, als fiele er gleich vornüber. Schließlich blieb er stehen, stützte sich mit den Händen auf seinen Knien, würgte und erbrach sich. Großes Hallo um ihn herum. Alle stießen sich an und deuteten auf den leidenden Pfadfinder. »Herman ist pferdekrank«, schrie einer. »Und er hat auch schon auf seinen Sattel geschifft«, prustete ein anderer. Der blonde Pfadfinder, der zu seiner Uniform einen Hopi-Gürtel trug, ging zu Herman hinüber und fragte ihn, ob alles okay sei. Er sah ganz ernst und besorgt aus und nicht annähernd nach Spott und Lustigmachen. Er war ganz offensichtlich reifer als die anderen. Keiner wagte auch nur ein Wort zu sagen, als er Herman beiseite führte. Mr. Havelock rief die Jungen zusammen, damit sie ihm mit den Pferden folgten. Sie führten sie bis zu den Felsen und ließen sie dort im Schatten eines großen Hügels zurück. Dann versammelten sie sich um ihren Scoutmaster, der ihnen die Höhlen erklärte. Die ursprünglichen Höhlen waren natürlichen Ursprungs und früher von primitiven Völkern bewohnt worden. Es gab auch eine Legende, daß spanische Konquistadoren die Höhlen erforscht hätten. Außerdem wußte man, daß im vorigen Jahrhundert auf der Suche nach Gold von ihnen aus neue Stollen in den Fels getrieben worden waren. »Daß mir keiner auf eigene Faust loszieht. Manche Stollen erstrecken sich über Meilen hin!«
Sie formierten sich in einer Schlangenlinie hinter ihrem Anführer, und einige murmelten etwas in sich hinein. »Hoffentlich ist das was Gescheites«, sagte einer. »Genau«, antwortete ihm ein anderer, »wo heute der Zirkus ankommt. Wir hätten zuschauen können, wie sie das Zelt aufbauen"' Sie folgten dem Pfad die Felsen hinauf. Es war heiß, staubig und steil. Alle waren bei dieser Anstrengung zu sehr mit sich selbst be-schäftigt, um noch auf Herman und den Blonden zu achten, die das Schlußlicht bildeten. Bald waren sie am Eingang der Höhle angekommen. Drinnen war es kühl und dunkel. Die Jungen beklagten sich, daß man gar nichts sähe. Mr. Havelock zündete seine Laterne an und meinte, ihre Augen würden sich in kurzer Zeit an das Halbdunkel gewöhnen Sie gingen weiter. Es gab einen ausgetretenen, deutlichen Wanderpfad. Obwohl er am Schluß ging, war der blonde Junge der Interessierteste von allen. Er schien fast zu riechen oder zu spüren, wie das einst war, als hier noch Leute lebten. An einer Biegung des Pfades faßte er plötzlich Herman am Arm. »Pst. Hör mal!« Herman hielt den Atem an. Er sah sich unsicher um und wußte nicht, was sein neuer Freund meinte. Von ihrem Pfad bog ein anderer ab, und von diesem waren, in weiter Entfernung, Stimmen zu hören. Ganz schwach, aber doch deutlich vernehmbar. . Der Blonde winkte Herman, mit ihm zu kommen. »Komm. Sehen wir mal nach.« Herman warf einen Blick zurück zur Gruppe, die bereits nicht mehr zu sehen war. Er schien sich nicht sicher zu sein, was er tun sollte, entschloß sich dann aber und folgte dem Blonden. »Also gut, Junior. Ich komme.« Immer wieder kamen ihnen Spinnweben in die Haare. Dieser Gang hier war noch kühler und dunkler als der andere und schien auch nicht oft begangen zu werden. »Wo wollen wir denn hin?« fragte Herman. Der Blonde-Junior-wandte sich um und legteden Zeigefinger den Mund. Die Stimmen waren inzwischen lauter geworden. An den Wänden vor ihnen sah man plötzlich den Widerschein von Licht Geisterhafte Schatten tanzten wie Schemen auf ihnen. Die beiden Jungen drückten sich an die Wand und hielten den Atem an, während sie sich vorsichtig und lautlos weiterarbeiteten. Dann sah Junior sie. Vier Gestalten, die mit Schaufeln und Pickelen gruben. Es war ihm sofort klar, daß es sich nicht um Geister handelte. Er war sich dessen sicher: Diebe. Und er glaubte auch zu wissen, was sie taten. Alten Legenden zutolge hatten die Spanier hier drinnen Schätze vergraben. Sein Vater war Gelehrter. Mittelalter. Er lehrte an der Universität. Er wußte alles über diese alten Geschichten und auch noch eine Menge anderer Dinge. Junior hatte sogar versucht, ihn heute hierher mitzunehmen, damit er den anderen Pfadfindern die Geschichte der Höhlen und der Leute, die einst in ihnen gelebt hatten, erzählte. Doch wie üblich hatte er keine Zeit gehabt, sich mit einer Horde Jungen abzugeben. Außerdem, hatte er erklärt, war die Archäologie Nordamerikas auch gar nicht sein Fachgebiet. Junior beobachtete die vier Männer, so gut es von ihrem Platz aus ging. Einer von ihnen war kleiner als die anderen, und dann erkannte er auch, daß er gar kein Mann war, sondern ein Junge, sicher nicht viel älter als sie selbst. Er sah aber bereits wie ein harter, zäher Bursche aus. »Halt die Laterne hoch, Roscoe«, fuhr ihn einer der Männer gerade an. Dieser Mann trug eine Lederjacke mit Fransen. Die Krempe seines Huts war auf einer Seite aufgebogen, und er sah ein wenig wie ein Rough Rider aus. Neben ihm stand einer mit dichten, schwarzen Haaren bis über die Schulter. Ein Indianer. Nein. Ein Halbblut. Der letzte der Männer stand den drei anderen gegenüber im Schatten. Von ihm waren nur seine kurze Lederjacke und ein brauner Filzhut zu erkennen. Junior schlich sich noch einige Schritte nach vorne, um mehr zu sehen. Er winkte Herman zu sich. Er hörte ihn laut atmen und warf ihm einen warnenden Blick zu. Hermans Mund stand offen. und von seiner Stirn perlte der Schweiß. Hoffentlich kotzt er nicht schon wieder. Herman rutschte auf einem losen Stein aus. Es verursachte ein leises Geräusch. Er stützte sich an die Wand, um die Balance derzuerlangen. Junior duckte sich, um sich so klein wie möglich zu machen und unbemerkt im Schatten zu bleiben. Herman machte es ebenso. »Entschuldigung«, flüsterte er. Junior gab ein Stöhnen von sich und bedeutete Herman noch einmal, still zu sein. Der Mann mit dem Filzhut drehte sich langsam um, hob die Laterne hoch und sah in ihre Richtung. Sein Gesicht war jetzt zum erstenmal zu erkennen. »Ich dachte, ich hätte was gehört«, murmelte er und ging wieder an die Arbeit. Die beiden Jungen hatten ziemliche Angst, waren aber auch wie hypnotisiert. Sie sahen mit atemloser Aufmerksamkeit zu, wie der mit dem Filzhut aus seiner Feldflasche Wasser über einen mit Erde verkrusteten Gegenstand goß. Im Schein seiner Laterne konnte Junior erkennen, was es war: ein goldenes, mit wertvollen Edelsteinen besetztes Kreuz.
Die Kumpane des Filzhuts beugten sich näher. »Schaut euch das an!« rief Roscoe. »Wir sind reich, Leute!« »Nicht so laut! Sei doch leise!« mahnte ihn das Halbblut. »Das hat Zeit. Kommt noch früh genug«, sagte auch der Rough Rider mit heiserem Flüstern. »Aber dann bringt uns das hübsche Dings da wirklich einen Haufen Dollar.« Der Filzhut drehte das Kreuz in seiner Hand herum und bewunderte seine Schönheit und seinen Wert. Er schien irgendwie anders zu sein als die anderen - überlegener. Junior tippte Herman auf die Schulter. Er konnte seine Auf-merksamkeit nicht mehr zurückhalten. »Das ist das Kreuz von Coronado!« flüsterte er. »Hernando Cortes gab es ihm 1 520! Das ist der Beweis, daß Cortes damals Francisco Coronado auf die Su-che nach den Sieben Goldenen Städten geschickt hat!« Herman war platt. »Sag mal, Junior, woher weißt du diese Sachen alle?" Junior blickte wieder zu den Schatzgräbern hinüber und beob-tete sie noch eine Weile. »Dieses Kreuz ist ein sehr bedeutendes Kunstwerk! Es gehört in ein Museum! Und übrigens, sag bitte nicht immer Junior zu mir.« »Mr. Havelock nennt dich auch immer so.« »Ich heiße Indy.« Er haßte es, Junior gerufen zu werden. Er kam sich dann immer vor wie ein Kind in kurzen Hosen. Doch sein Vater ignorierte es einfach, wenn er dieses Thema zur Sprache brachte. Sie beobachteten die Männer schweigend weiter. Indys Blick wurde immer entschlossener, als er sich einmal entschieden hatte. Er sagte: »Hör zu, Herman. Du läufst jetzt zurück und suchst die anderen. Und dann sagst du Mr. Havelock, daß hier Männer sind, die den spanischen Schatz stehlen. Er soll den Sheriff holen las- sen.« Herman sah nicht so aus, als hörte er zu. Sein Mund bewegte sich, aber es kam nichts heraus. Mit aufgerissenen Augen und ge- lähmt vor Angst starrte er hinunter auf seinen Schoß, über den eben eine Schlange kroch. »Ist doch nur eine Schlange«, sagte Indy ganz sachlich, faßte sie und schleuderte sie weg. »Hast du gehört, was ich gesagt habe, Herman? Es ist wichtig!« »Ja, ja. Zurück... und Mr. Havelock. Der Sheriff.« Er nickte und sah noch einmal hinüber zu den Männern. »Was willst du denn machen, Jun... Indy?« »Weiß ich noch nicht. Ich denke mir aber etwas aus. Geh jetzt, los!« Herman ging auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurück, während Indy sich wieder den Schatzdieben zuwandte. Sie hatten inzwischen das Kreuz beiseite gelegt und suchten eifrig nach weiteren Kunstgegenständen. Langsam schob er sich die Wand entlang weiter vor, bis er auf Armeslänge bei dem Kreuz war. Selbst in dessen jetzigem verschmutzten Zustand blitzten die Edelsteine im Licht der Laterne und ließen ihn nicht mehr los. Er griff nach vorne, bekam es zu fassen und sah im gleichen Moment, daß ein Skorpion darauf saß. Er versuchte ihn abzuschütteln, doch das tödliche Vieh schien wie angeklebt zu sein. Er fluchte unterdrückt und schüttelte weiter. Endlich fiel der Skor-pion herunter. Doch die vier Schatzsucher hatten ihn inzwischen entdeckt. »He«, rief Roscoe, »das ist unseres. Der hat unser Ding!« »Schnapp ihn dir!« schrie das Halbblut. Indy hastete bereits blindlings den Gang zurück, das Kreuz fest umklammernd. Sein Herz klopfte wie verrückt. Einmal sah er sich um. Einer der Männer stolperte und fiel, die beiden anderen hinter ihm ebenfalls, als sie in ihn rannten. Einen Augenblick stoppte er, als er einen Schacht erreichte, den die Goldgräber in die Decke geschlagen hatten. Von oben fiel schwaches Licht herein, und ein Seil hing bis knapp über seinen Kopf herab. Er sah noch einmal zurück, ob sie die Verfolgung vielleicht aufgegeben hätten. Natürlich nicht. Der Filzhut sah seine Kumpane vorwurfsvoll an und hatte sich schon wieder hochgerappelt, um weiter hinter ihm herzurennen. Mist. Er steckte sich das Kreuz in den Hosenbund und sprang hoch, um das Seil zu fassen, erreichte es nicht, versuchte es noch einmal, schaffte es mit einer Hand, dann auch mit der anderen. Er hangelte sich den Schacht hoch, Hand über Hand am Seil und von einem angestützten Fuß zum nächsten. Filzhut und die anderen rannten zu seiner Erleichterung unten vorbei. Er konnte sich also mehr Zeit lassen. Doch auch dies war ein Irrtum. Gleich danach spürte er einen Ruck am Seil. Filzhut war bereits wieder da und kam eilig ebenfalls am Seil den Schacht hochgeklettert. Wen nur Vater hier wäre! Er strengte sich heftig an, nach oben zu kommen.Dad würde mit den Kerlen schon fertig werden. Er konnte sich seinen Vater richtig vorstellen, wie er mit anklagendem Zeigefinger auf die furchtsam zurückweichenden Diebe wies. Genau. Ja, so in dieser Art würde er es machen. Das Licht wurde bereits heller, und er kam schließlich oben h aus. Er schnappte nach Luft, während er aus dem Schacht in H helle Tageslicht hinauskroch. Er verharrte, blinzelte geblend und legte sich abschirmend die Hand über die Augen, während wieder zu Atem zu kommen versuchte. Er sah sich in alle Richtun gen um. Er befand sich auf einem Hügel nicht weit von der Stelle wo sie in die Höhle gegangen waren. »Herman! Mr. Havelock! Ist irgendwer da? Wo seid ihr?« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Verdammt. Außer mir alle verirrt!« »Wir sind doch da, Junge!« Er fuhr herum. Der Rough Rider, das Halbblut und Roscoe kamen eben auf einem steinigen Pfad auf ihn zu. Er rannte bis zur Felskante. Dort fand er eine angelehnte Leiter. Doch statt auf ihr hinunterzusteigen, schätzte er
rasch die Entfernung bis zum nächsten Felsen. Er stieg auf die Leiter und stieß sich mit ihr ab. Die drei Räuber kamen bereits hinter ihm her und blieben wütend an der Felskante stehen. Sie blickten sich verwirrt nach einer Möglichkeit um, den Jungen zu kriegen. Indy war bereits drüben auf der anderen Seite der Felsspalte, wußte aber nicht recht, was er nun machen sollte. Hier war keine Leiter mehr, und es ging immerhin fast sieben Meter nach unten. Dann erblickte er die im Schatten wartenden Pferde. Er nahm die Finger in den Mund und pfiff seines heran. Es schüttelte die Mähne und kam herbeigetrottet. Ein Blick nach hinten zeigte ihm, daß Filzhut inzwischen an sei-nen Kumpeln vorbei Anlauf nahm und über den Felsspalt hinübersprang. Von dort sah er dann mißbilligend zu den anderen hinüber und stieß ihnen die Leiter zu. Indy duckte sich, um sich auf den Sattel des Pferdes hinunterfallen zu lassen, doch der Gaul wollte nicht still stehen. Er zögerte, doch da waren schon die Schritte zu hören. »Halt still, Mann!"schrie er. »Bleib doch stehen, verdammt! Sei ein braver Junge!" Dann sprang er, im gleichen Moment aber machte das Pferd einenSatz nach vorne, und er verfehlte den Sattel. Er landete auf den Beinen, rollte sich aber sofort ab, um den Sturz zu dämpfen. Der Aufprall war noch immer so heftig, daß es ihm von Kopf bis Fuß jeden einzelnen Knochen durchrüttelte. Aus seinem Hosenbund fiel das goldene Kreuz in den Sand. Er hob es eilends auf, schob es in die Satteltasche und schwang sich auf das Pferd. Im Davongaloppieren blickte er nach hinten. Filzhut stand oben « der Felsenkante und sah ihm nach. Indy grinste, drückte dem Pferd die Weichen und trieb es an. Er mußte so schnell wie mög-lich zum Sheriff, damit die Räuber nicht entkamen. Filzhut steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Doch kein Pferd erschien, statt dessen schossen plötzlich zwei Autos hinter dem nächsten Felsen hervor. Eines, ein Kabrio, fuhr einen Bogen und stoppte quietschend direkt unter Filzhut, der sofort herabsprang und eine Staubwolke aufwirbelte, als er unten auftrat. Als sie sich gesetzt hatte, fuhr das Auto los. Filzhut stand auf dem Rücksitz. Er rückte sich mit einem Ausdruck der Zufriedenheit seinen Hut zurecht und brüllte: »Na los doch, fahr zu!« Der Fahrer stieg aufs Gaspedal, der Wagen schoß förmlich nach vorne. Das zweite Auto blieb noch zurück, bis Roscoe, Rough Ri-der und das Halbblut ebenfalls da waren. Indy galoppierte quer über die Wüste und schnitt durch die trockene Luft wie ein Messer durch Butter. Die Sonne brannte gnadenlos herunter, dörrte die ganze Erde aus und buk ihn fast in den Sattel Hinter ihm verringerten die beiden Wagen den Abstand zusehhends. Der einsame Berg vor ihm wollte und wollte nicht näherkommen. Es war fast, als galoppierte das Pferd nur auf der Stelle. Sie kamen von beiden Seiten heran und nahmen ihn in die Zange. Er hatte das Gefühl., zusammen mit dem Pferd der Belag in einem Sandwich zu sein. Bei einem raschen Blick nach rechts sah er einen Mann mitei-nem Panamahut am Steuer eines beigefarbenen, luxuriösen Wa-gens. Er trug einen teuren weißen Leinenanzug. Sein Gesicht war von der breiten Krempe seines Hutes überschattet. Aus dem Rückfenster grimassierte Roscoe und schüttelte die Fäuste. Als der Fahrer sein Bein zu fassen versuchte, spornte Indy sein Pferd an und bekam kurz wieder etwas Vorsprung. Trotzdem waren alle seine Anstrengungen umsonst. Sofort hatten die beiden Autos wieder aufgeholt und hielten jetzt nicht nur Schritt mit ihm, sondern begannen, wie ein Riesenschraubstock auf Rädern ihn immer enger zwischen sich einzuzwängen. Außer der heißen Luft und dem Staub, den die rasenden Autos aufwirbelten, war nichts mehr zwischen ihm und ihnen. Indy duckte sich tief in den Sattel und versuchte, davonzukommen. Sein Herz klopfte heftig. Sein Adrenalinspiegel schoß hoch, und weiterging die Flucht. Links begann Filzhut über die Seitenwand des Kabrios zu klettern und sich auf das Trittbrett zu stellen. Indy sah ihm direkt ins Gesicht. Der Mann grinste siegessicher zu ihm herauf, als wollte er sagen, die Jagd mache ihm Spaß. Und mit einem eleganten Satz war er dann plötzlich hinter ihm auf dem Pferd. Doch Indy war nicht weniger flink und waghalsig. Ehe Filznut ihn noch greifen konnte, hatte er sich selbst bereits nach rechts au das Dach der Limousine hinunterfallen lassen. Er landete auf den Knien und krallte sich an der Dachseite fest. Von unten beugten sich Rough Rider und Roscoe sogleich aus dem Fenster, um ihn zu fassen zu kriegen. Inzwischen war Indy zu seinem Entsetzen ein-gefallen, daß er ja nun das Kreuz nicht mehr hatte. Sein Kopf fuhr zur Satteltasche des Pferdes hinüber. Aus ihr hing es halb heraus. Zum Glück sah Filzhut nicht, daß er es buchstäblich in Griff-weite hatte. Er sah vielmehr gereizt aus und sprang seinerseits her-über auf das Autodach, um ihn zu fassen. Indy aber war bereits wieder zurück auf dem Pferd und entkam Filzhuts ausgestrecktem Arm. Und den Armen von Rough Rider und Roscoe, die sich, als sie nach ihm fuchtelten, nur die Köpfe anschlugen. Indy stieg heftig in die Zügel und bremste das Pferd. Die beiden Autos schossen nach vorne vorbei. Während noch alles durch die aufgewirbelte Staubwolke verhüllt war, riß er das Pferd am Zügel herum und galoppierte jetzt zur Seite, auf die Bahnlinie zu, auf der sich eben ein Zug rasch näherte. Hinter ihm fuhren die beiden Autos bereits wieder weite Kurven, um erneut hinter ihm her zu kommen. Am Bahndamm begann er neben dem mittlerweile herangekommenen Zug herzureiten. Ein ungewöhnlicher
Zug, fand er. Statt dern üblichen Braun und Grau von Eisenbahnwagen schillerten diese hier in allen Regenbogenfarben. Doch er hatte keine Zeit, groß darüber nachzudenken. Die Verfolgerautos waren schon wieder ziemlich nahe. Er hatte nur eine einzige Wahl. Ersteckte sich das Goldkreuz wieder in den Hosenbund, stellte sich im Sattel auf und griff nach der Leiter am nächsten Zugwaggon. Er kletterte an ihr hinauf. Als er ein offenes Fenster entdeckte, besann er sich aber. Er klammerte sich wie eine Spinne an den Waggon und arbeitete sich auf das Fenster zu. Mit einem Blick über die Schulter erkannte er, daß unten auch die beiden Autos schon da waren. Er griff in das offene Fenster, hievte sich hinein und landete auf etwas Weichem und Voluminösem. Es war wie ein Bett aus Marshmallows. Ein menschlicher Marshmallow, stellte sich heraus. Er versank geradezu in wabbelndem und weichem Fleisch. Als er sich freigekämpft hatte, sah er, was es war: der gewaltig wogende Busen einer enorm übergewichtigen Frau. Erstaunt und verlegen sprang er auf. Die füllige Frau saß auf ei-ner breiten Bank und brauchte mehr als zwei Sitzplätze für ihre mindestens vierhundert Pfund Lebendgewicht. Er trat zurück und vesuchte ein entschuldigendes Lächeln. Irgend jemand lachte. Er fuhr herum , und der Mund blieb ihm offen. Hier war die seltsamste Menschenansammlung, die er in sein dreizehnjährigen Leben gesehen hatte. Die dumme Auguste, ein Frau mit Bart, Zwerge, ein Gummimensch und ein Junge mit Schwimmhautfüßen. Natürlich. Der Zirkus, der heute in der Stadt ankam. »Ah... Hallo! Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich hier so einfach hereingeturnt bin.« Er drehte sich während des Sprechens fortwährend herum. »Es ging leider nicht anders. Ich hatte ein Pferd, wissen Sie, aber...« Er unterbrach sich mitten im Satz, als einer der Liliputaner auf ihn zukam. »Willst du damit sagen, du bist von einem Pferd in den Zug gesprungen - wie eine Zirkusnummer?« Die dünne Stimme des Mannes entsprach seiner Größe. Indy sagte lächelnd: »Genau.« »Ich habe kein Pferd gesehen.« »Er lügt nur«, meldete sich ein anderer. »Wetten, du möchtest zum Zirkus?« sagte der Zwerg vor ihm und stupste ihn in den Bauch. »Sieht ja viel zu normal aus«, gab der Gummimensch zu bedenken. »Laßt den Jungen doch in Ruhe«, sagte die bärtige Frau, während sie sich mit den Fingern durch ihren Bart strich. Der Zwerg, der Indy gerade bis zum Hosenbund ging, beugte sich vor und besah sich das Goldkreuz. »Was ist das denn?« fragte er mit leichtem Stirnrunzeln. »Ach nichts.« »Kann ich es mal haben?« »Nein!« Er sagte es zu rasch und zu laut. »Das bringe ich in ein Museum. Wo es hingehört.« »Ein Museum, he?« meinte der Zwerg. »So, so, ein Museum." Indy setzte ich auf eine Schachtel am Boden, damit der Zwerg nicht weiter auf das Kreuz starren konnte. Am besten war es, wenn er in der Nähe von zu Hause vom Zug absprang. Wenn er erst einmal wieder in der Stadt war, wagten die Räuber es bestimmt nicht, sich weiter an ihn heranzumachen. Sie wollten sich gewiß nicht schnappen lassen. Und wenn sie es doch versuchen sollten, würde er einfach um Hilfe schreien. Sobald er zu Hause war, konnte er seinem Vater alles erzählen. Alles würde gut enden; er war überzeugt davon. Und sein Vater konnte dann stolz auf ihn sein. Er beklagte sich ja auch immer, daß na archäologischen Fundorten so viel gestohlen werde. Jetzt aber hatte sein Sohn, Junior Indy, ich bin Indy! - vier von solchen Räubern auf frischer Tat ertappt! Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er wandte sich um. Der Zwerg stand wieder vor ihm. »Ich hätte da noch eine Frage « »Ja?« Der Zwerg deutete über die Schulter nach hinten. »Ist der da auch zu Pferd gekommen?« Indy fuhr herum. Vom Fenster starne ihn Filzhut an.
Zirkustricks "Na, neue Freunde?« fragte Filzhut grinsend. Indy prang auf und wich zurück. »Na sicher!« Er ließ Filzhut nicht aus den Augen, sprach aber zu dem Zirkusvolk. »Vorsicht vor diesem Mann. Er ist ein Dieb." filzhut kletterte zum fenster herein und versuchte, an der fetten Dame vorbeizukommen. "Augenblick mal", sagte sie, erhob sich in ihrer ganzen Größe und vertrat Filzhut den Weg. "Leute wie sie wollen wir hier nicht im Zug haben." .Indy nützte die Gelegenheit und lief bis zur Tür am Ende des Waggons. Er rannte hinaus und sprang auf den nächsten, einen fla-hen Güterwaggon, auf dem sich eine mächtige Dampforgel mit
Reihen von Dampfpfeifen hinter einem perlmuttglänzenden Ma-nual befand. Er duckte sich dahinter. Filzhut arbeitete sich drüben bereits wild bis zur Tür vor, obwohl sich die Bartdame an ihn ge-hängt hatte. Er schleuderte sie einfach von sich und sprang dann ebenfalls herüber auf den Tiefladerwaggon. Indy faßte, um Halt zu finden, nach einem der Hebel. Plötzlich war die Dampforgel in Betrieb. Sie fauchte, und die Orgelpfeifen lärmten. Filzhuts Kumpane, die ebenfalls aus dem Auto auf den Tieflader gesprungen waren, blieben erschrocken stehen und hielten sich die Ohren vor dem entsetzlich falsch klingenden Gepfeife und Gedröhne zu. Sie wichen unwillkürlich zurück und wären in dem Inferno von Dampf fast vom Waggon gefallen. Indy war schon wieder weiter und auf dem Dach des nächsten Zugwaggons, wo er vorwärtsrobbte, bis er die Dachluke erreicht hatte. Er riß sie auf und ließ sich auf einen von der Decke hängenden Laufsteg hinab. Unter ihm standen zahlreiche Käfige, in denen sich anscheinend sämtliche existierenden Schlangenarten, Eidechsen, Alligatoren und Krokodile befanden. Die reinste Reptilien-Arche Noah. Er starrte voller Angst und Faszination in die Käfige. Hier eingesperrt zu sein, war der letzte seiner Wünsche. Seine einzige Hoffnung war, daß die anderen vielleicht die Dachluke übersahen und weiter zum nächsten Waggon liefen. Er hatte das noch nie zu Ende gedacht, als sie auch schon aufflog. Halbblut und Roscoe kamen ihm auf dem Laufsteg entgegen. Was jetzt? Er zog sich ganz in die Ecke zurück, ohne zu wissen, was er chen würde, wenn er das Ende des Laufstegs erreicht hatte. Er konnte so stark und mutig sein, wie er wollte, gegen die beiden hatte er selbstverständlich nicht die geringste Chance. Schon gegen diesen Roscoe allein nicht. Der war die Art Junge, die nie anständig kämpfte und höchstens angeblich aufgab, um einen dann von hinten anzuspringen, sobald man sich umgedreht hatte. Dann sah er oben am Ende des Lautstegs die zweite Dachluke. Wunderbar. Aus ihr konnte er hinaus, bevor sie ihn hatten. Ganz klar. Kein Problem. Doch bevor er noch einen Schritt weiter tun konnte, gab es ein quietschendes metallisches Geräusch. Der Laufsteg begann zu schaukeln. Er blickte nach oben, und Angst schnürte ihm die Kehle zu. Der Laufsteg hielt das Gewicht ihrer aller drei nicht mehr aus. Einer der Haltehaken an der Decke hatte sich gelockert. Der Laufsteg schwankte, sackte ab und drohte, sie alle drei in die Reptilienkäfige fallen zu lassen. Sie blieben alle stehen und rührten sich nicht mehr. Jeder hatte Angst, daß beim nächsten Schritt alles herunterkrachte. Indy schielte zur Luke hinauf. Sie war nur einen Schritt weg, und gleich neben ihr befand sich ein Handgriff. Wenn er hinüberfaßte, sich hinaufschwang, die Luke aufstieß und sich wieder hinauf auf das Waggonndach zog...? Na, und was dann, Hitzkopf? Da oben warten doch wahr-scheinlich die anderen beiden auf dich! Er wußte nicht, was er machen sollte. Aber es war auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Er duckte sich und sprang nach dem Handgriff. Er erreichte ihn zwar, konnte sich aber nicht festhalten und landete ohne Balance auf einem Bein. Gerade noch konnte er sich am Geländer festhalten. Unter ihm schaukelte der Laufsteg wild, knackte und ruckte. Er erkannte, daß weitere Haltehaken des Laufstegs nachgegeben hatten und herausfielen. Roscoe und Halbblut schrieen auf, aber es war Indys Seite, wo der Laufsteg hinuntergebrochen war. Er stürzte auf den Waggonboden und landete mit lautem Poltern auf einem Holzpodium. Einen Augenblick lang war er zu keiner Bewegung fähig. Er hatte Angst, sich etwas gebroche zu haben, die Beine vielleicht oder die Arme. Wenn nicht gar das Genick. Doch noch schlimmer als die Furcht, sich etwas gebrochen zu haben, war die Dunkelheit Er konnte überhaupt nichts sehen. Panik kroch in ihm hoch, und ein Schrei entfuhr ihm - bis er gewahr wurde, daß er bei seinem Sturz einfach nur die Augen zugepreßt und sie noch nicht wieder geöffnet hatte. Er mußte über sich selbst lachen. Doch das verging ihm rasch, als er die Augen öffnete. Sein Lachen erstarb und gefror ihm; er fand sich Auge in Auge mit einer riesigen Anakonda. Die Schlange hatte einen so großen Kopf, daß er ihm mehr wie der eines Tyrannosaurus Rex erschien. Sie züngelte an seiner Wange. Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Seine Augen waren schreckensweit aufgerissen. Er rollte sich herum, sprang auf die Beine und wich zurück. Er fürchtete, die Anakonda werde ihn, sobald er nur den Blick von ihr wandte, jeden Augenblick angreifen. Er wich zurück, ohne darauf zu achten, wohin er trat, und kam so mit einem Fuß vom Podium. Er kämpfte um das Gleichgewicht, verlor es aber und landete, rückwärts taumelnd, weich. Er war nicht verletzt. Dann merkte er erst, wo er war. Er war mitten in ein Knäuel Schlangen gefallen. Hunderte sich windender Reptilien schlängelten sich nun unter und über ihm, eine einzige sich bewegende Masse. Als sei er in Treibsand geraten, nur noch schlimmer. Er erstickte fast. Die Schlangen schienen ihm jeden Atemhauch auszusaugen, das Leben selbst. Als er einmal den Kopf aus dem wirren Geschlängel hob, sah er, wie oben auf dem schwankenden Laufsteg Roscoe und Halbblut verzweifelt versuchten, sich darauf zu halten. Roscoe klammerte sich an Halbbluts Bein, doch dem war das sichtlich nicht recht. Er griff nach der Dachluke und versuchte, den Jungen abzuschütteln. Roscoe schrie in heller Angst davor, ebenfalls abzustürzen -mitten hinein in das aufgesperrte Maul eines der
fleischfressen Krokodile unter ihm - wie am Spieß. Dann waren die Schlangen wieder über Indy, und er sah überhaupt nichts mehr. Doch er wollte nicht aufgeben. Er wollte um sein Leben kämpfen. Unter und über ihm waren Schlangen und hinderten ihn daran, wieder auf die Beine zu kommen. Er tat das einzige, was er überhaupt tun konnte. Er trat gegen die Gitterwand des Käfigs. Nach mehreren Tritten an die gleiche Stelle krachte der Käfig tatsächlich auf. Mit aller Kraft, die ihm geblieben war, trat er noch einmal zu. Diesmal gab das ganze Gitter nach. Die ganze Schlangenmasse floß hinaus wie Wasser nach einem Dammbruch und riß Indy mit sich. Er sprang auf, japste nach Luft und zerrte sich Schlangen von Schultern und Beinen. Mit Schlangen konnte man ihn fortan jagen. Über ihm ächzte und quietschte es metallisch. Gleichzeitig hörte er die Flüche der beiden Schatzräuber, die verzweifelt zur Luke oben hinauszukommen versuchten, ehe alles hinunterkrachte. Er selbst konzentrierte sich indessen auf eine Tür im Waggonboden, die er entdeckt hatte. Sie wurde vermutlich geöffnet, wenn der Waggon gereinigt wurde, um den Unrat hinauszufegen. Er zog sie auf. Sofort warf ihn der Lärm der unter ihm rollenden Räder fast um. Unten blitzten die Gleise und ihre Schweißnähte, Er zögerte. Sein Vater würde ihn umbringen, wenn er sähe, was er wer vorhatte. Schon schlimm genug, von einem Pferd auf einen fahrenden Zug zu klettern und dann auch noch in ein Knäuel Schlangen zu fallen! Doch schließlich auch noch das schier Un-mögliche zu versuchen...! Hier in diesem Waggon zu bleiben, zusammen mit Schlangen Krokodilen, war andererseits auch nicht das Wahre. Einmal ganz abgesehen davon, daß er diesen Räubern entkommen mußte. Er holte tief Atem und steckte den Kopf durch die Luke im Boden. Unter dem Waggon verlief eine Eisenstange. Er griff nach ihr. Sie war warm, aber nicht heiß, und gerade hoch genug über den Schienen, daß es für ihn reichte, vorausgesetzt, er klammerte sich ganz eng an sie. Keine drei Meter. Mehr mußte er nicht kriechen. Drei Meter, das ist doch nicht unmöglich, oder? Drei Meter kriechen, das kann ich. Ich weiß, daß ich das schaffe. Er ließ sich vorsichtig durch die Luke hinab und griff zuerst mit den Händen nach der Stange, um sich dann mit Armen und Beinen um sie zu klammern. Zentimeterweise arbeitete er sich vorwärts. Das Geklatter des Zuges auf den Schienen war ohrenbetäubend und rüttelte ihn so heftig durch, daß er Angst hatte, er könne sich nicht halten. O du Scheiße! Wie bin ich nur auf diese Schnapsidee gekommen? Er zwang sich zur Konzentration. Er wußte, solange er sich konzentrierte und seine ganze Kraft aufbot, konnte er es bis zum Ende der Stange schaffen. Ich schaffe das. Ich werde das schaffen. Er sagte es sich pausenlos vor, während er sich vorwärtsschob. Schließlich hatte er das Ende erreicht. Nur hatte er sich bisher keinen Augenblick lang überlegt, wie er denn von der Stange wieder herunterkommen wollte. Das vordere Ende des Wagens ragte noch einen knappen halben Meter über das Ende der Eisenstange hinaus. Vielleicht war es überhaupt am besten, wenn er einfach hier blieb, wo er war. Nur, wie lange konnte er es so aushalten, ehe ihm die Arme müde wurden? Schon jetzt schüttelte ihn dieses Poltern und Rattern bis auf die Knochen durch. Einen Moment lang dachte er an das Kreuz in seinem Hosenbund. Wenn es herausfiel, hinunter auf den Bahndamm, war alle Mühe umsonst. Er streckte vorsichtig eine Hand nach vorne zu Anfang des Waggons und versuchte Halt zu finden. Seine Finger fanden etwas, rutschten dann aber wieder ab. Er versuchte es noch einmal und bekam das Kabel zu fassen. Und nun? Nun hing er zwischen Eisenstange und Kabel und mußte sich für eines von beiden entscheiden. Die Unfähigkeit zur Entscheidung lähmte ihn einen Moment lang. Er schloß die Augen, nahm auch die andere Hand von der Stange und griff auch mit ihr nach dem Kabel. Nur seine Füße umklammerten noch die Eisenstange. Dann hingen seine Beine frei in der Luft, während er sich hangelnd vorwärtszog. Er machte die Augen wieder auf. Über ihm war die Kupplung. Er hängte sich mit den Armen in ihr ein und schwang ein Bein darüber, als würde er ein Pferd besteigen. Geschafft. Er ritt auf der Kupplung zweier Eisenbahnwaggons. Er zog sich weiter bis zum nächsten Waggon, der ebenfalls ein Käfig auf Rädern war, diesmal aber für einen riesigen bengalischen Tiger. Er stand balancierend auf der Kupplung und griff nach dem ersten Stab des Käfiggitters, ehe er sich ganz hinüberzog. Er hangelte sich an dem schmalen Außenrand des Waggons vor den Gitterstäben des Käfigs entlang. Einmal blieb er stehen, als er etwas an seinem Bein kriechen spürte. Er zog die Nase hoch, als er in die Hose griff und eine übriggebliebene Schlange herauszog. Ehe er weiterging, steckte er das Kreuz wieder fest in den Gürtel. Im Käfig strich der Tiger unablässig hin und her und beobachtete ihn. Indy ließ ihn seinerseits keinen Moment aus den Augen. Je weiter er zum vorderen Ende des Käfigs kam, desto näher kam der Tiger. Er duckte sich pausierend nieder und hoffte, die große Raubkatze würde dann das Interesse an ihm verlieren. Trotz der Gitterstäbe zwischen ihm und dem Tiger wäre ein Prankenhieb durch die Zwischenräume tödlich gewesen. Über der Sorge wegen des Tigers entging ihm, daß an der näch-sten Ecke eine andere Gefahr auf ihn wartete. Rough Rider hatte sich inzwischen auf der anderen Seite des Käfigs herangearbeitet und kam vorne um dessen
Ecke herum. Wie der Tiger behielt er seine Beute ständig im Auge. Indy starrte immer noch den Tiger an und versuchte ihn mit stummem Befehl zum Weggehen zu veranlassen, als ihn auch schon eine Hand im Genick packte. »Hab` ich dich!« rief Rougb Rider. In diesem Moment sprang der Tiger gegen die Gitterstäbe, fuhr mit der Pranke hindurch, zog Rough Rider seine Krallen über die Schulter und den Rücken und zerfetzte ihm die Jacke. Der Mann schrie vor Schmerz und Überraschung und faßte sich an die Schulter. Er schwankte, verlor das Gleichgewicht und fiel vom Zug. Indy starrte ihm nach, wie er von der Bahndammböschung kollerte und liegen blieb. Dann wandte er sich wieder nach vorne, um weiterzugehen. Doch da raubte ihm bereits ein Fausthieb in den Magen den Atem. Er stolperte nach vorne, rang nach Luft und war sicher, dies sei sein Tod. Als er aufblickte, sah er Roscoe über sich. »Mädchen-Pfadfinder!« zischte er und holte zu einem neuen Schlag aus. Doch Indy hatte Roscoe bereits mit voller Wucht mit seinem Absatz auf den Fuß getreten, kratzte ihm in die Augen und biß ihm in die Hand. Roscoe schrie vor Schmerz, und Indy war an ihm vorbei. Er floh durch einen Gerätewagen und kletterte über eine Leiter auf das Dach. Roscoe erholte sich rasch und kam ihm fluchend nach. Indy war gerade oben angelangt, als Roscoe ihn am Fußknöchel packte. Er stürzte und fiel auf das Dach. Das Rattern der Räder auf den Schienen dröhnte Indy in den Ohren, als er Roscoe ein Messer ziehen und ausholen sah. Die Klinge blitzte. Roscoe griff an. Indy warf sich gerade noch rechtzeitig herum, um dem Stoß auszuweichen. Er kroch weg, doc Roscoe kam ihm nach. Er stieß nach ihm, als er aufzustehen ver suchte. Was auch in dem Tierwagen unter ihnen war, dachte Indy, es mußte etwas Großes sein. Denn sooft er oder Roscoe sich beweg-ten, wurde von unten gegen das Dach geschlagen, daß der ganze Waggon zitterte. Jetzt war freilich keine Zeit, sich darüber, den Kopf zu zerbrechen. Er hatte genug damit zu tun, am Leben bleiben. »Gib das Kreuz her!« schrie Roscoe, und wieder blitzte seine Messerklinge über Indys Kopf. »Gib es her!« Indy bekam ihn am Handgelenk zu fassen und bog es ihm zurück. Er wollte, daß Roscoe das Messer fallen ließ. Da splitterte plötzlich das Horn eines Nashorns nur knapp neben Indys Kopf durch die Holzwand. Er rollte sich instinktiv zur Seite. Roscoe hatte seine Hand wieder frei. Indy schob ihn zwar von sich, doch Roscoe drang wild auf ihn und stach mit dem Messer auf seine Kehle ein. Indy riß den Kopf zur Seite. Das Messer fuhr krachend in das Holz, nur eine Idee neben seinem Ohr. Während Roscoe sein Messer wieder herauszuziehen versuchte, stieß das Nashorn erneut zu. Diesmal kam das Horn genau zwischen Indys Beinen durch. Roscoe zog das Messer heraus und versuchte, ihm damit in den Leib zu stoßen. Indy sah es rechtzeitig kommen. Die Klinge blitzte im Licht auf. Da waren seine Beine bereits hochgefahren, Roscoe direkt in die Brust, und warfen ihn nach hinten. Roscoe taumelte einen Augenblick mit weit ausgebreiteten Armen, um das Gleichgewicht zu behalten und konnte eben noch verhindern, daß auch er vom Zug fiel. Indy hatte sich bereits auf den Bauch herumgerollt und Roscoe rechtzeitig wieder im Blick, als dieser das Messer nach ihm warf. Es hätte ihn vermutlich mitten ins Gesicht getoffen. Aber im sel-ben Sekundenbruchteil fuhr das Rhinozeros-Horn erneut durch Holz, und das Messer prallte genau dagegen. Indy rappelte sich hoch. Er sah, daß der Zug sich einem Wasser-tank neben den Gleisen näherte. Sein Rohr zeigte auf das Gleis und ragte über den Zug herein. DAs gab Indy den rettenden Einfall. Er lief auf die Seite des Tankrohrs und schätzte die Entfernung und den Zeitpunkt ab, wann er springen mußte. Er bekam das Rohr genau zu fassen. Durch die Geschwindigkeit des Zuges begann sich der Rohrarm jedoch um den Wassertank zu drehen. Er klammerte sich mit Macht fest und schloß die Augen. Als sich die Bewegung des Rohrarms verlangsamte, ließ er los. Doch er fiel kaum einen Meter. Er hatte sich einmal vollständig um die eigene Achse gedreht und war wieder auf dem Zug gelandet diesmal weiter hinten auf dem Dach eines anderen Gerätewagens. Dort prallte er direkt mit Halbblut zusammen, der dadurch umgerissen wurde. Er wich völlig perplex zurück. Aber noch verblüffter als über seine seltsame Rückkehr auf den Zug war er über das, was als nächstes passierte. Er fiel durch eine offene Luke wieder in einen Waggon hinunter. Staub wirbelte auf, als er am Boden aufprallte. Durch die Ritzen der Waggonwände fielen Sonnenstrahlen. Er brauchte eine Weile, bis er sich an das Dämmerlicht hier unten gewöhnt hatte. Ein scharfer Tiergeruch lag in der Luft. Seine Nase kitzelte. Dann sah er die Ursache des Geruchs. Am anderen Ende erhob sich langsam ein afrikanischer Löwe, offensichtlich in der Absicht, näher zu betrachten, was da so unerwartet in sein Revier herabgeplumpst war. Er brüllte, daß die Waggonwände zu zittern schienen. Der Staub hatte sich noch nicht gesetzt. Der Löwe trieb ihn wie eine Beute in die Enge. »O Mann«, schluckte Indy schwer und wich zurück bis in die hinterste Ecke. Am Boden blitzte etwas auf. Er erkannte es sofort. Das Kreuz. Es war ihm bei dem Sturz vom Dach herunter wieder aus dem Gürtel gefallen und lag jetzt direkt vor den Tatzen des Löwen. Er sah sich um und wich immer weiter zurück, bis er die rück-wärtige Wand des Waggons in seinem Rücken spürte. Er preßte die Hände dagegen, während der Löwe ihm nachkam und zum tödlichen Sprung ansetzte.
Seine rechte Hand stieß auf einen her-vorstehenden Nagel, und darunter war etwas Ledriges. Sein Kopf fuhr erschreckt herum. Er fürchtete, schon wieder an Schlange geraten zu sein. Aber es war eine Peitsche. Die Peitsche eines Löwendompteurs. Vorsichtig ergriff er sie. Der Löwe erkannte die Peitsche und knurrte leise. Indy schluckte schwer und ließ die Peitsche rasch knallen. Es klappte nicht richtig, das Ende der Peitschenschnur flog zurück und ihm direkt ins Gesicht, ans Kinn. Der Löwe knurrte lauter. Indy faßte die Peitsche fester und versuchte es noch einmal. Diesmal knallte sie richtig laut, wie es sein sollte. Genauso, wie er es im Zirkus schon gesehen hatte, wenn der Löwendompteur die Könige der Tiere mit der Peitsche in der Hand umkreiste. Der Löwe fauchte, schlug in die Luft und knurrte, wich dann aber zurück. Er wußte aus Erfahrung, was das Knallen der Peitsche bedeutete. Indy grinste zufrieden; er war verwundert und stolz zugleich über seine Leistung. Er ließ es gleich noch einmal schnalzen, und das trieb den Löwen tatsächlich noch weiter zurück. Er folgte ihm nach, bis er vor dem Kreuz stand. Der Löwe verharrte etwa drei Meter von ihm entfernt. Vorsichtig begann er sich zu bücken. Er hob das Kreuz auf, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von dem Löwen zu lassen. Als er danach wieder rückwärts ging, zitterten ihm die Hände, und der Schweiß lief ihm vom Gesicht. Er atmete tief durch, wie stickig die Luft auch war, und begann wieder zu überlegen. Wie kam er nur endlich hier raus? Er sah hinauf zu der offenen Luke, durch die er herabgestürzt war. In ihr blickte Filzhut auf ihn herunter, nickte ihm lächelnd zu und streckte ihm die Hand entgegen. Mehr war nicht nötig. Es mit Filzhut zu tun zu haben; war am Ende immer noch dem Aufenthalt bei einem Löwen vorzuziehen. Er warf Filzhut das Ende der Peitsche hinauf. Der packte es und zog und stützte ihn, während er wie an einem Kletterseil die Seitenwand hinaufstieg. Bei einem Blick nach unten sah er, wie sich der Löwe bereits duckte, um sich sofort auf ihn zu stürzen, falls er noch einmal hinunterfiele. Er sah rasch wieder weg und konzentrierte sich darauf, zur Dachluke hinauszukommen. Als er die Lukenränder zu fassen bekommen hatte, packte ihn Filzhut am Arm und zog ihn ganz nach oben. Er kniete mit den Händen am Boden und keuchte. Er war völlig erschöpft. Der Löwe hatte ihn den letzten Nerv gekostet. »Respekt«, sagte Filzhut, »also Mumm hast du ja, Junge.« Dann jedoch deutete er auf das Kreuz in seinem Hosenbund. »Aber das da gehört mir.« Indy sah hoch. Es war noch mehr Gesellschaft da. Auch Halbblut und Roscoe hatten sich mittlerweile eingefunden. Er hielt Filzhuts Blick aus. »Nein. Es gehört Coronada.« »Coronada ist schon längst tot. Sogar schon alle seine Enkel.« Er streckte ihm fordernd die Hand entgegen. »Nun komm schon, Junge. Da ist nichts zu wollen.« »Ja, rück's raus«, belferte auch Roscoe und griff sich das Kreuz. Indy aber hielt es am anderen Ende fest und weigerte sich. Sie zogen eine Weile hin und her. Während das Tauziehen noch unentschieden stand, kam noch eine verirrte Schlange aus Indys Hemd gekrochen und ringelte sich um Roscoes Hand. »Nimm das Vieh weg!« schrie er, ließ das Kreuz los und schüttelte seinen Arm so lange, bis er die Schlange weggeschleudert hatte. Drunten brüllte der Löwe wieder. Indy nützte die Gelegenheit der momentanen Ablenkung, kroch unter Halbbluts Beinen durch und sprang auf den nächsten Waggon hinüber. Halbblut machte sich sofort daran, hinter ihm her zu kommen. Doch Filz-hut hielt ihn zurück und winkte ab. »Bleib du hier. Laß ihn nicht wieder durch, wenn er zurückkommt.« Dann drehte er sich um und kam selbst Indy nach. Indy hastete die Leiter zwischen den beiden Waggons hinunter und nach innen. Es war der Waggon mit den Kostümen. Auch die Zaubergeräte befanden sich in ihm. Indy sah sich nach einem Versteck um. Filzhut kam bereits die Leiter herab. Indy duckte sich weg. Filzhut kam gelassen und langsam in den Waggon und suchte ihn mit den Augen ab. Er ging zu einer großen Kiste und hob im Vorübergehen den Deckel leicht an. Sofort fielen sämtliche Wände der Kiste auseinander, aber nichts war in ihr. Er lächelte zuversichtlich, als er sah, wie sich der Deckel einer anderen Kiste leicht bewegte. »Okay, Junge, ich weiß, wo du bist. Ich habe dich gesehen. Komm raus.« Und er machte die Kiste auf. Tauben flatterten ihm entgegen und schwirrten verschreckt durch den Waggon. Filzhut reichte es jetzt allmählich mit der Jagd nach dem Jungen. Er bahnte sich seinen Weg durch die ganzen Kostüme und Zaubergerätschaften mit bedeutend mehr Heftigkeit, griff sich einen Stock und stocherte mit ihm in den Ecken. Aber der Stock begann zu wackeln und verwandelte sich in ein Seidentuch. »Verdammt. Wo zum Teufel ist...« Dann sah er einige der Tauben zur Hintertür hinausfliegen, die im Fahrtwind offen hin- und herschwang. Er begriff, was geschehen war, und rannte zur hinteren Plattform. Der Zug begann langsamer zu werden, weil er ankam. Und hinten, schon in der Ferne, verschwand Indy eben in
eine Straße mit einfachen Schindelhäusern.
Die Heimatfront Außer Atem, aber immer noch im Besitz des Kreuzes des Coronado eilte Indy ins Haus. Er verschloß rasch die Türen und rannte von der Küche ins Wohnzimmer, wo er aus dem Fenster spähte, Aber draußen war niemand. Er lief durch den Flur und in einen anderen Raum, um auch von dort nach draußen zu sehen. Er blinzelte in die Sonne. Noch im-mer hatte er den Staubgeschmack im Mund. Wasser, dachte er. Ein großes Glas eiskaltes, frisches Wasser, das war es. Aber das Wichtigste zuerst. Er mußte mit Vater reden. »Dad?« Er bekam keine Antwort, doch er wußte, daß sein Vater in seinem Arbeitszimmer war. Seit dem Tod seiner Mutter schien sein Vater nur noch in seinem Arbeitszimmer zu leben, unablässig über alte Folianten und Pergamente gebeugt. Die Vergangenheit war lebendiger für ihn als die Gegenwart. Man mußte sich ja auch nur das Haus ansehen, dachte er. Jedes Zimmer bewies es: nirgends ein Hauch von Weiblichkeit, nichts Weiches, keine Farben. Nur Bücher und Altertümer, wohin man blickte. Er war auch der einzige, der im Haus mal sauber machte. Manchmal hatte er das Gefühl, sein Vater habe sein Leben auf sein Arbeitszimmer eingeschränkt. Es war der einzige Ort, in dem seine Anwesenheit für ihn real war. Er öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Bücher in allen Regalen, selbst noch auf dem Boden gestapelt. Landkarten alter Gegenden an den Wänden, auch Bilder wunderschöner alter Schlösser und Kathedralen. In einer Ecke ein rostiger alter Helm, den einst ein Ritter getragen hatte. Alles in diesem Raum schien eine Bedeutung zu haben, selbst wenn er, Indy, sie nicht kannte. Auf jeden Fall spiegelte alles die Leidenschaft für das Studium des europäischen Mittelalters wider. Er räusperte sich. »Dad?« Professor Henry Jones, sein Vater, war hinter seinem schweren, dunklen Mahagonischreibtisch in seine Arbeit vergraben. Um ihn herum türmten sich Bücher und Papiere. Indy blickte au Kurve seines Rückens, wartete darauf, daß er etwas sagte oder we-nigstens nickte und ihn auf irgendeine Weise zur Kenntnis nahm. Er wußte, daß er ihn sehr wohl gehört hatte. Die Tatsache, daß seinen Sohn nicht begrüßte und sich nicht einmal umwandte, deutete, daß er nicht gestört werden wollte. Aber das wollte er ja nie. Trotzdem, dies hier war wichtig. Indy näherte sich dem Schreibtisch, war einen kurzen Blick auf das alte Pergament, über dem sein Vater eben saß, und sagte: »Dad, ich muß mit dir reden.« »Raus!« knurrte ihn sein Vater an, ohne sich auch nur umzudrehen, um ihn anzusehen. »Es ist wirklich wichtig!« Henry Jones arbeitete ohne Unterbrechung weiter. »Dann warte.. Zähle bis zwanzig.« »So hör doch...« »Junior!« warnte ihn Henry Jones mit leiser, aber drohender und ernster Stimme. Indy schluckte, nickte und trat einen respektvollen Schritt zurück. Er wußte, seine Anwesenheit störte seinen Vater. Da war nichts zu machen. Er begann mit leiser Stimme zu zählen, blickte dabei aber dem Vater über die Schulter. Die oberste Seite des Pergaments enthielt eine Illustration eines, wie es aussah, Glasmalerei-Fensters mit verschiedenen römischen Ziffern. Sein Vater skizzierte die Zeichnung eben in sein Notiz-buch. »Auch das hier ist wichtig...« murmelte sein Vater als Erklä-rung, »...es geht nicht schneller... neunhundert Jahre hat es ge-dauert, bis es seinen Weg aus einem vergessenen Pergamentbehält-nis in der Gruft der Hagia Sophia in Istanbul auf den Schreibtisch des einzigen Mannes der Welt fand, der es noch deuten kann.« "Neunzenn... zwanzig.« Es ist doch wirklich wichtig, hör jetzt endlich zu. Er holte das Kreuz des Coronado aus seinem Hemd und begann laut und rasch zu reden. »Wir waren mit den Pfadfindern im Pueblo und ..." "So, und jetzt auch noch auf griechisch«, befahl ihm Henry Jones, ohne von seiner Arbeit auch nur aufzublicken oder wirklich zuzuhören, was sein Sohn ihm zu sagen versuchte. Er hört mir einfach nie zu. Indy haßte ihn dafür. Er begann auf griechisch zu zählen, lauter und hörbar zornig Er stellte sich vor, jede Zahl sei ein Fluch, den er seinem sturen Vater entgegenschleudere. Vor dem Haus hielt ein Auto. Er lief aus dem Arbeitszimmer und zum Fenster, ohne mit dem Zählen aufzuhören. Ein Polizeiauto. Was soll ich jetzt machen? Sobald die Polizei ins Haus kam, nahm sein Vater natürlich sofort an, er habe etwas angestellt. Und gab ihm dann nicht einmal die Chance, irgend etwas zu erklären. Das wußte er aus Erfahrung. Er blickte zurück ins Arbeitszimmer des Vaters, der nach wie vor an seiner Übertragungsskizze arbeitete und dabei mit sich selbst sprach.
»Auf daß der, der dies erstrahlen ließ, auch mich erleuchte!« Indy schloß leise und mit angehaltenem Atem die Tür, ehe er nach vorne zum Eingang ging. Er schob sich das Kreuz rasch wieder in sein Hemd, während bereits die Tür aufging und Herman atemlos hereingerannt kam. »Ich habe ihn mitgebracht, Indy! Ich habe ihn mitgebracht!« Der Sheriff kam ins Haus und sah sich um. »Sheriff, Sir! Es waren fünf oder sechs. Fast kriegten sie mich, aber...« »Gut, gut, Junge, nur ruhig.« Der Sheriff streckte die Hand fordernd aus. »Hast du es noch immer?« »Ja, Sir. Hier.« Er zog das Kreuz wieder aus dem Hemd und reichte es dem She-riff, der es nachlässig entgegennahm, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, es genauer anzusehen. Sobald er es aus der Hand ggege-ben hatte, war Indy klar, daß da etwas nicht stimmen konnte. Der Sheriff benahm sich ungewöhnlich. Wenn er nur eine Ahnung hätte, was er, Indy, alles durchgemacht hatte! "Das ist brav, Junge. Und sehr gut... weil nämlich der rechtmä-ßige Besitzer dieses Kreuzes schon erklärt hat, daß er keine Anzeige gegen dich erstatten will, wenn du vernünftig bist.« Indy glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Das Kinn fiel ihm herunter. Seine Finger ballten sich zu Fäusten. »Anzeige erstatten... Wovon reden Sie denn?« Und da kam auch schon Filzhut herein. Er nahm ganz ordent-lich seinen Hut ab, nickte Indy vertrauensvoll und freundlich zu and tätschelte Herman den Kopf. .»Von Diebstahl!« sagte der Sheriff. »Er hat Zeugen. Fünf. Oder sechs,« Also steckten der Sheriff und Filzhut unter einer Decke? Oder was sonst sollte das hier bedeuten ? Nicht einmal anhören wollte er ihn! Es interessierte ihn gar nicht, was wirklich passiert war! »Und wir wollen ja auch nicht, daß sich deine Mama im Grab umdrehen muß, nicht wahr?« Der Sheriff händigte Filzhut das Kreuz aus, der es in den Leder-halter an seiner Seite steckte. Und damit ging der Sheriff wieder. Indy sah ihm durch das Fenster nach. Draußen stand ein beigefar-benes Automobil. Dasselbe, das ihn durch die Wüste gejagt hatte! Es parkte direkt hinter dem Auto des Sheriffs und war noch immer mit einer dicken Wüstenstaubschicht bedeckt. Am Steuer saß ge-duldig wartend noch immer der Mann mit dem Panamahut. Filzhut blieb noch da, nachdem der Sheriff gegangen war. Dann sagte im Ton von Mann zu Mann, wenn auch mit deutlicher Ironie: "Na ja, Junge, da hast du halt heute doch noch verloren. Das heißt natürlich nicht, daß du dich damit abfinden mußt!« Er nahm seinen Filzhut wieder ab und hielt ihn kurz oben fest. Dann kam er einen Schritt näher und streckte ihn Indy entgegen, als wolle er ihn ihm aufsetzen,aus Respekt und Bewunderung. Er verhielt jedoch, asl Indy zu reden begann. " Das Kreuz des Coronado ist 400 Jahre alt. Ich habe die Absicht, in seiner Nähe zu bleiben. Darauf können Sie sich verlassen.« Filzhut grinste, setzte den Hut nun doch auf Indys Kopf und wandte sich zum Gehen. »Ich werd's dem Boß ausrichten«, sagte er lachend. An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Du warst wirklich gut mit dieser Peitsche, Junge. Hut ab vor deinem Mumm.« Indy stieß die Tür hinter ihm wütend mit dem Fuß zu. Filzhut kicherte amüsiert, als er zum Auto hinausging. Indy rannte wieder zum Fenster und beobachtete ihn, wie er einstieg und das wertvolle Kunstobjekt dem Mann am Steuer gab. Dann fuhren sie ab. Ich werde mir das Kreuz zurückholen! schwor er sich und fuhr mit der Hand die Krempe des Filzhutes entlang. Er würde es holen. Mochte es dauern, wie lange es wollte.
Auf See, 1938 Atlantiküberquerung Zehn Meter hohe Wellen klatschten über das Deck des alten Frachters und spülten alles über Bord, was nicht niet- und nagelfest war. Von allen Seiten peitschte der Regen herab. Der Sturm heulte. Die Holzplanken des alten Schiffes ächzten in allen Fugen, ab brächen sie gleich auseinander. Es war ein unangenehmes Geräusch. Als litte jemand Schmerzen. Indy vermochte diesen Gedanken nicht aus seinem Kopf zu verdrängen. Er zog sich seinen Filzhut tief ins Gesicht und stützte sich an die Wand seiner Kabine, während das Schiff nach Steuerbord schwankte. Er war fest davon überzeugt, daß der nächste heftige Brecher den Schiffsrumpf eindrücken und ihn mit sich reißen würde. Der Sturm warf das Schiff wie eine Nußschale hin und her, nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Dann drückte er den Bug nach unten. Indy wurde nach vorn und wieder zurückgeworfen. Jetzt rollte das Schiff und stieg auf und nieder. Handle, Mann. Jetzt. Handle endlich.
Die Dunkelheit, die draußen gegen das Bullauge drückte, ermu-tigte ihn nicht besonders. Im nächsten Augenblick krachte ein schwerer Brecher gegen die Schiffsseite und über das Glas des Bullauges. So heftig, daß es ihn gegen seine Schlafkoje schleuderte, Er packte Halt suchend das Bett und kämpfte gegen die Versu-sich einfach hineinzulegen, die Decke über sich zu zie-hen und ganzen Plan zu vergessen. Nein. Ich muß es tun. Ich muß. Er stand auf, wurde aber sofort wieder von den Beinen geholt Verdammt. Er rappelte sich erneut hoch und schüttelte den Kopf wie nach einem Boxniederschlag. Vorwärts, Kamerad. Jetzt Handle, solange der Kapitän noch auf der Brücke ist. Der Kapitän und das Kreuz. Hab' ich euch. Er taumelte kurz herum wie ein Betrunkener, ehe er einigermaßen das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Mit einer Hand knöpfte er sich die Lederjacke zu und prüfte noch einmal den festen Sitz seines Filzhutes und seine Lederpeitsche am Gürtel. Dann arbeitete er sich zur Tür. Vorwärts, Kamerad. Und rechts und links und rechts. Gut. Geht ganz gut. Er schaffte es bis zur Tür. Draußen dann mußte er bis aufs Deck, und vom Deck bis zur Kapitänskajüte. Wo das Kreuz war. Er hatte eine Passage auf diesem Frachter gebucht, nachdem er einen Tip erhalten hatte, wo sich das Kreuz des Coronado befand. Ein Mann hatte ihn in seinem Büro in der Universität angerufen. Er sei doch an dem Kreuz interessiert. Dann möge er sich mit ihm treffen. In Lissabon, Portugal. Als er den Anrufer näher befragte, beschrieb ihm dieser exakt den Mann, den Indy nur ein einziges Mal in seinem Leben gesehen hatte. Damals als Kind. Es war genau der Mann, der sich das Kreuz angeeignet hatte und den er nun schon alle die Jahre verfolgte. Als er den Anrufer nach dem Preis für sein Angebot fragte, hatte dieser erklärt, es gehe ihm lediglich um eine Rache. Der Mann mit dem Kreuz sei sein Boß, und erst vor kurzem habe er erfahren, daß er ein Verhältnis mit seiner Frau hatte. Die Erklärung klang plausibel und er hatte ein paar Tage Zeit. Er war schon Spuren nachgegangen, die erheblich weniger konkret gewesen waren, und diese hier schien wirklich einmal erfolgversprechend zu sein. Der Mann, dessen Markenzeichen sein ewiger Panamahut war, war ihm schon einige Male nur äußerst knapp entkommen. Doch nun hatte er schon jahrelang keine heiße Spur mehr gehabt. Nach seiner Ankunft in Lissabon hatte ihm sein Informant erklärt, das Kreuz sei mittlerweile fortgeschafft worden. Er solle auf weitere Nachricht warten. Acht Tage vergingen, und er wollte schon aufgeben und wieder nach Amerika zurückkehren. Das Se-mester hatte auch bereits begonnen. Er mußte anwesend sein. Doch ausgerechnet an diesem Tag rief ihn der Mann wieder an. Das Kreuz werde morgen auf einem Frachtschiff nach Amerika gebracht. Und zwar sei es dem Kapitän selbst in Obhut gegeben worden. Und jetzt war er hier auf eben diesem Schiff, und dies hier war die erste Gelegenheit, die Kajüte des Kapitäns zu durchsuchen. Bei solchem Wetter und Seegang fand der Kapitän mit Sicherheit keine Zeit, die Brücke zu verlassen. Die erste und vielleicht einzige Chance, Kamerad. Erdrückte die Tür auf. Der Wind warf ihn fast um. Er stemmte sich ihm entgegen, zog mit einer Hand seinen Filzhut ins Gesicht und hielt sich mit der anderen am Türpfosten. Das Schiff schlingerte nach links. Er schlingerte mit und verlor fast den Boden unter den Füßen. Hastig klammerte er sich auch an den anderen Türpfosten und mußte dazu seinen Filzhut loslassen, unter dessen Krempe der Sturm sofort fuhr und ihn wegriß, zu-rück in seine Kabine. Er kümmerte sich nicht darum. Er stemmte sich weiter gegen den Wind, der wie eine Wand war, und kämpfte sich aufs Deck, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Eine riesige Welle nahm das Schiff wieder einmal hoch mit sich empor, und das müde Holz ächzte und knarrte. Er klammerte sich an die Reling, während er darauf wartete, daß das Schiff in das Wellental hinabfiel. Die Wasserwand, die jetzt auf ihn herniederstürzte, riß ihm fast die Hände vom Geländer. Doch schon nach einigen Sekunden kämpfte er sich, eine Hand vor die andere setzend weiter durch das Toben der Elemente. Der Sturm heulte und pfiff. Seine Lippen schmeckten salzig, und bald brann-ten ihm auch die Augen salzig. Er mußte sie zu Schlitzen zusammenmenkneifen. Der Kapitän ist auf der Brücke. Jetzt oder nie. Er kämpfte sich weiter voran. Der Sturm warf das Schiff wie ei Stück Treibholz herum. Indy konzentrierte sich auf das Kreuz Er brannte in seinem Kopf wie Feuer, der Gedanke an dieses Kreuz Heller und heißer als die Sonne. Schon bald spürte er Sturm, Wetter und das Rollen des Schiffs nicht mehr. Er bewegte sich mit dem Schiff, als sei er ein Teil davon, als gehöre er zu ihm. Seine Beine kamen ihm mittlerweile auch standfester und kräftiger vor. Er hatte neue Kraft gefunden. Und wie eingebrannt in seinem Kopf war das Bild des Kreuzes. Als er die Kapitänskajüte endlich erreicht hatte, war er bis auf die Haut durchnäßt. Wasser rann ihm in kleinen Bächen über das Gesicht. Eine ganze Salzkruste hatte sich auf seinen Lippen und seiner Zunge gebildet. Er holte ein langes, dünnes Werkzeug heraus, das fast wie ein Eiszapfen aussah, aber aus biegsamem Metall war. Ein Werkzeug, das normalerweise Diebe verwendeten, nicht Archäologen. Er faßte den Türknauf und hielt seine Hand so ruhig, wie es ging. Er versuchte die Spitze seines Dietrichs ins Schloß zu stecken, doch das Schiff
schaukelte und ließ ihn mit dem Arm in der Luft herumfuchteln wie ein Orchesterdirigent mit seinem Taktstock. Er ver suchte es noch einmal, doch nur mit dem Ergebnis, daß er sich selbst ins Handgelenk stach. Er schüttelte die Hand. Ruhe, Mann, Ruhe. . Er brauchte noch zwei weitere Versuche, ehe er den Dietrich endlich im Schloß stecken hatte. Er probierte vorsichtig, bis er richtig saß. Dann holte er tief Luft und drehte den Türknauf. Ge-schafft. Die Tür ging auf. Er lächelte. Er war kaum drinnen, als die Tür hinter ihm bereits zuknallte. und sogar das Toben des Sturm übertönte. Er sah sich um, ob auch wirklich niemand da war. Dann ging er zielsttrebig auf die Schlafkoje zu. Die Lampe an der Wand flackerte eine aus und wieder an, und das Schiff rollte wieder seitwärtss Er hielt sich an der Koje fest, bis das Schiff wieder gerade lag. Sein Informant hatte ihm gesagt, der Kapitän bewahre das Kreuz im Schiffstresor auf. Und er hatte
ihm nicht nur verraten, wo sich dieser befand, sondern ihm sogar auf einem Zettel die Kombination aufgeschrieben. Er hatte ihn gefragt, wie er an diese herangekommen sei. Aber der Mann hatte nur gelächelt und ge-meint, er solle doch sein Glück nicht in Frage stellen. Irgend etwas hatte ihn an dem Mann gestört. Ganz abgesehen davon, daß er ihm auch nicht sympathisch war. Doch schließlich war dies seine erste Spur seit Jahren gewesen. Und seit wann muß-ten einem alle Leute, mit denen man zusammenarbeitete, sympatisch sein? Jedenfalls würde sich jetzt gleich herausstellen, wieviel Glück er wirklich hatte. Konnte ja auch sein, daß die ganze Geschichte nur ein schlechter Scherz war. Er schob die Hand unter die Matratze und hob sie hoch. Tatsächlich, da war der Tresor. In den Boden eingelassen, direkt unter Bett. Er packte das Bettgestell und zog es heraus. So weit, so gut. Die nächste Frage war, ob die Kombination wirklich stimmte. Wenn nicht, war er der Lösung des Problems wieder so fern wie eh und jeh. Er drehte die Nummernscheibe vor und zurück, um ein Gefühl für sie zu bekommen. Er hatte die Nummer auswendig gelernt. Er begann, dieersteZahl einzustellen und danach die restli-
lichen fünf. Als es soweit war, verhielt er noch einmal einen Moment, um teif Luft zu holen. Dann drehte er langsam und zögernd. Der Safe ging auf. Es war dunkel in ihm. Er griff blindlings hinein, fühlte Dosen und Schatullen. Schmuckschatullen, zweifellos. Papiere. Er suchte darunter. Da war etwas. Ein Gegenstand, der in ein Tuch einge-wickelt war. Mit der Form eines Kreuzes. Er zog es heraus. Seine Aufregung wuchs. Er band den Knoten der Schnur auf, mit der das Paket zugebunden war, und faltete das Tuch auf. Das Kreuz des Coronado. Er hatte seine Schönheit in all den Jahren nicht vergessen, trotzdem überwältigte ihn der Anblick nunmehr erneut. Es fühlte sich kühl und schwer an in seiner Hand. Und echt. Er schob es unter seine Jacke in den Gürtel am Hosenbund, fast genau an die gleiche Stelle, an der er es vor sechsundzwanzig Jahren schon einmal verborgen hatte. Er verschloß den Safe wieder, drehte die Scheibe einige Male und schob das Bett zurück an seinen Platz. Als er wieder draußen war, fühlte sich das Kreuz unter seinem durchnäßten Hemd warm, massiv und geschützt an. Er war ungeheuer erleichtert. Und müde zugleich. Und genoß sein Triumphgefühl. Sechsundzwanzig Jahre, du Bastard. Sechsundzwanzig Jahre. Doch in seinem Hinterkopf nagte ein ununterdrückbarer Zweifel. Er konnte ihn nicht genau lokalisieren und begründen. Doch es schien etwas Bedeutsames zu sein. Er versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren, ihn einzukreisen, deutlich zu machen. Aber er war so müde. Und der Sturm war so laut und... Später, ich komme schon noch darauf. Er blickte auf. Vor ihm, am Ende des Korridors, stand ein bulliger Matrose und blickte ihm ernst entgegen. Er drehte sich um. Am anderen Ende stand ebenfalls einer. Er begriff sofort. Also eine Falle. Kein Wunder, daß es so verdammt einfach war. Kein Wunder, daß der Informant die Kombination wußte. Es ging alles zu leicht. Und eben dies war es, fiel ihm nun ein, was ganze Zeit beunruhigt hatte. Die Seeleute stürzten sich von beiden Seiten auf ihn. Er versuchte sich mit einem Hieb zur Wehr zu setzen, doch da kippte das Schiff wieder weg und er taumelte rückwärts, direkt in die Arme des Matrosen hinter ihm. In der nächsten Sekunde wurde ihm der Ann umgedreht. Sie schleppten ihn den Flur entlang zurück auf Deck Auf dem Wasservorhang dort erschien wie aus dem Nichts ein Dritter. Und der hieb ihm einen Schwinger in den Leib. Die Luft blieb ihm weg. Die Beine knickten ihm ein. Einer der Matrosen zog ihn sofort wieder hoch und schleuderte ihn nach rechts hinüber unter das Sturmdeck, wo man gegen Wind und Wetter einigen Schutz fand. Und da erblickte ihn Indy. Den Ba-stard, der ihm den Magenschwinger verpaßt hatte. Derselbe Mann, der damals hinter dem Diebstahl gestanden hatte. Und zweifellos auch diese Falle hier arrangiert hatte. Er war natürlich ebenfalls älter geworden, aber selbst im Dunkeln waren seine eis-blauen Augen zu sehen, die wie
kleine Zwillingsmonde glänzten. »Die Welt ist klein, Dr. Jones.« »Jedenfalls zu klein für uns beide. Wie ich sehe, sind Sie Ihrem Stil treu geblieben.« Er warf einen Blick auf den Panamahut des Mannes. »Sehr aufmerksam beobachtet! Ich glaube aber meinerseits, Ihre bevorzugte Erscheinungsweise auch schon anderswo bemerkt zu haben! Doch jetzt zum Geschäft.« Er packte Indy so heftig an der Lederjacke, daß er glaubte, er zerreiße sie ihm, faßte an seinen Gürtel und zog das Kreuz heraus. "Wie Sie wissen, ist das nun schon das zweite Mal, daß ich mein Ei-gentum von Ihnen mehr oder minder nachdrücklich zurückfordern muß. Wenn unsere Begegnung heute auch keineswegs ein Zufall ist« "Das habe ich begriffen. Sie haben mich in eine Falle gelockt." »Bei Ihnen, Dr. Jones, war das nicht schwer." Er wisse, erläuterte er ihm, sehr gut, mit welcher Hartnäckigkeit er die ganzen Jahre hinter diesem Kreuz hergewesen sei, dem Glanzstück seiner Sammlung. Seit dem Beginn der Depression, die ihm wirtschaftlich hart zugesetzt habe, versuche er nun schon zu verkaufen. Und endlich habe er auch einen Interessenten gefun-den, der einen Preis zu zahlen bereit sei, welcher alle seine finan-ziellen Bedrängnisse mit einem Schlag beende. Allerdings war ein Bedingung damit verbunden. Der lästige Dr. Indiana Jones mußte verschwinden, bevor die Transaktion besiegelt wurde. »Also habe ich mich entschlossen, Sie herbeizulocken. Ich habe durchaus fair gespielt. Ich habe Ihnen, wie Sie gesehen haben, sogar eine Gelegenheit eingeräumt, sich das Kreuz noch einmal anzueignen.« Er gestattete sich ein maliziöses Lächeln. »Zu dumm, daß Sie auch diesmal wieder geschnappt wurden.« »Dieses Kreuz gehört in ein Museum.« »Sie auch.« Er sah die Matrosen an. »Werft ihn über Bord.« Und sogleich zerrten sie ihn über das rollende Deck zur Reling. Als sie an einer Anzahl Treibstoffässer vorbeikamen, erkannte Indy seine Chance, sich den Sturm zunutze zu machen. Er stemmte sich plötzlich zwischen den Matrosen, die ihn schleppten, hoch und trat mit voller Wucht gegen die Klammer, welche das Stahlband um die Fässer hielt, so daß sie brach. Sofort begannen die Fässer auseinanderzufallen und auf Deck herumzurollen. Ehe sich die Matrosen von ihrer Verblüffung erholt hatten, rammte er ihnen die Ellbogen in den Magen und stürzte sich auf seinen Rachegott. Panamahut sah ihn kommen und versuchte, sich mit einem Satz auf die Leiter zu retten, die hinauf zur Brücke führte. Doch noch ehe er sie erreicht hatte, knallte eines der Fässer gegen die Leiter, versperrte ihm den Weg und begann sogar auf ihn zuzurollen. Er sprang beiseite. Dabei verlor er das Kreuz, das er noch immer in der Hand hielt. Es schlitterte über das Deck. Indy flog bereits darauf zu, doch nun stand ihm wieder ein Seeleute im Weg, der ihm einen Ladekranausleger in den Weg schleuderte. Er duckte sich noch rechtzeitig und kam mit gewaltigen Sprung wieder hoch, der den Mann genau unter dem Kinn erwischte; er taumelte zurück - genau in dem Moment, als ein neuer schwerer Brecher über das Schiff hereinklatschte. Indy suchte panisch nach dem Kreuz. Er entdeckte es kaum einen Meter neben sich, stürzte sich darauf und begrub es unter sich, während er mit dem ablaufenden Wasser des Brechers über das Deck hinrutschte. Gerade einen Lidschlag, ehe der nächste Bre-cher herunterkam und ihn unter Wassermassen begrub, bekam er das Kreuz endlich richtig zu fassen. Er schlitterte noch ein Stück weiter. Dann sah er eines der riesigen Fässer auf sich zurollen. Er hechtete beiseite, verlor aber dabei wieder den Boden unter den Füßen. Nur einen Lidschlag, ehe ihn das Faß traf und zerschmetterte, tauchte er weg, rollte sich herum, und das Faß donnerte vorüber. Aber schon kollerten weitere Fässer heran. Er war wieder auf den Beinen und wich ihnen allen tänzelnd aus. Das war knapp, mein Lieber. Noch war nichts gewonnen. Als er sich umdrehte, stand auch einer der beiden Matrosen wieder auf den Beinen. Er hatte sich einen Ladehaken geschnappt und kam auf ihn zuge-stürmt.. Er hatte blitzschnell seine Lederpeitsche aus dem Gürtel und schnellte sie nach vorne, um sie gleich danach wieder zurückzuziehen. Sie schnalzte laut und traf ihr Ziel - den Fußknöchel des Matrosen- genau. Im gleichen Sekundenbruchteil riß er an ihr- und was sie nicht schon schaffte, vollendete das rollende Schiff. Der Mann stürzte auf das Deck nieder. Indy verhielt einen Moment, um sein eigenes präzises Werk zu bewundern. Es war ein schlechtgewählter Moment. Ein Netz fiel von oben über ihn. Und Panamahut war bereits bei ihm und bear-beutete ihn mit seinen Fäusten- eine Tätigkeit, an der er ausgesprochenen gefallen zu haben schien. Er schlug hart und schnell zu. Und oft. Indy versuchte, die Schläge abzublocken und mit den Armen abzuwehren. Gleichzeitig bemühte er sich, aus dem Netz zu ent-kommen. Alles umsonst. Sämtliche Ölfässer, die er losgeschlagen hatte und die nach Steu-erbord gerollt waren, kamen jetzt zurück. Und genau auf ihn und einen großen Stapel Kisten zu. Auf den Kisten stand: TNT- Gefährlich. Er schrie auf, als eines der Fässer fast bei ihm war. Panamahut drehte sich herum, sah das Faß und hastete quer über das Deck Indy sauste in die andere Richtung davon und entging dem Faß eben noch. Er versuchte verzweifelt, sich aus dem Netz zu befreien, doch das Kreuz war darin ebenfalls verheddert. Der einzige Weg, zu entkommen, war, auch das Kreuz aufzugeben. Und das wollte er auf keinen Fall.
Dann sah er, wie ein Faß direkt auf die Sprengstoffkisten zurollte. Es blieb nur ein Ausweg. Er nahm ihn. Er sprang über Bord, mitten in die stürmische See. Er war kaum im Wasser, als das Schiff in einer gewaltigen Explosion in die Luft flog. Ringsumher regnete es Trümmer, als gehörten sie zum Sturm. Was vom Schiff noch übrig war, ging mit atemberaubender Geschwindigkeit unter. Der Aufprall auf dem Wasser und die Explosion hatten ihm das Netz weggerissen. Er kämpfte eine Weile unter Wasser, bis es ihn wie einen Korken nach oben trieb. Dann begann er heftig zu strampeln, um nicht wieder unterzugehen. Er griff nach etwas, um sich festzuhalten, ging dabei unter und kam wieder hoch, keu-chend und Wasser spuckend. Dann hatte er etwas in der Hand, einen Rettungsring; einen der paar winzigen Rettungsringe, die das Schiff überhaupt gehabt hatte. Er hakte sich mit dem einen Arm ein und schlüpfte danach auch mit dem anderen durch. Und dann sah er etwas vor sich treiben, das vertraut aussah. Er griff danach, packte es und besah es sich aus der Nähe.Es war ein Stück eines zerfetzten Panamahutes. In einiger Entfernung tutete das Horn eines amerikanischen Frachters. Er begann zu winken und hoffte, man sähe ihn. Er winkte und winkte. Bis er merkte, womit. Er winkte mit dem Kreuz! Und er überlegte bereits: Wie zum Teufel erkläre ich das Kreuz? Ganz einfach. Ich bin ein Priester. Ich habe das Kreuz gerettet. Und Jas Kreuz rettete mich. Na, welche Rolle spielte es schon. Ihm war zum Lachen und Heulen zugleich. Er wußte, daß er es, verdammt noch mal, schaffen würde. Und außerdem, Mann: Er hatte das Kreuz!
NEW YORK, einige Tage später Auf dem Campus Der warme Frühlingsnachmittag hatte die Studenten scharenweise ins Freie gelockt. Junge Mädchen in wadenlangen Kleidern und junge Männer mit Krawatten spazierten auf den baumbestandenen und ziegelbelegten Gehwegen, die sich, vorüber an efeubewachsenen Klinkerhäusern, durch den ganzen Campus schlängelten. Sie trugen ihre Bücher unter dem Arm und Bleistifte steckten hinter ihren Ohren. Und niemand schien es eilig zu haben. Ein schwarzer Rabe segelte lautlos über all den lustwandelnden Studenten dahin und setzte sich auf ein Fenstersims im ersten Stock eines der efeubewachsenen Klinkergebäude. Hinter dem Fenster ließ sich ein Professor mit einer Tweedjacke und einer Nickelbrille für einen Moment von dem Vogel draußen ablenken, wandte sich dann aber gleich wieder seiner Klasse zu. Seine Hörer warteten aufmerksam und schweigend darauf, daß er fortfuhr. Trotz seines professoralen Habitus war eine gewisse Rauheit an dem Mann. Er vermittelte den Eindruck, daß, sobald er nur die Tweedjacke auszog und die Krawatte und die Brille ablegte, um sich »auf eine Exkursion« zu begeben und Altertümer auszugra-ben, alles passieren konnte; und vermutlich auch tatsächlich ge-schah. Er hatte irgend etwas Mysteriöses an sich, das - zusammen mit einer gewissen Schüchternheit - vor allem auf seine Studentin-nen, die bei seinen Vorlesungen immer in der Mehrzahl schienen, offenbar äußerst anziehend wirkte. Er hatte indessen überhaupt nichts gegen diese weibliche Dominanz in seinen Kursen. Dieienigen, die ihn besser kannten, wußten, daß er mit seinen Erfahrungen gerne etwas tiefstapelte. Möglicherweise, so glaubten sie, kam es daher, daß er immer gegen den übermächtigen Schatten seines berühmten Vaters, des Mittelalterspezialisten Dr. Henry Jone, ankämpfen mußte. Wie auch immer, er pflegte, sobald er irgend etwas von sich und seiner Laufbahn erzählte, gleichzeitig durch andere Ausdrucksmittel wie Gesten, bestimmte Blicke oder ein angedeutetes Lächeln, wissen zu lassen, daß das, was er sagte, allennfalls ein kleiner Teil der Geschichte war. Er blickte über den Saal hinweg und hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »...Vergessen Sie also alle Phantasiege-geschichten von versunkenen Städten und exotischen Reisen. Vergessen Sie auch die Vorstellung, wie Sie die ganze Welt umgraben werden. Siebzig Prozent aller archäologischen Forschung findet in der hiesigen Bibliothek statt. Recherche und Lektüre - das sind die Schlüsselwörter. Wir nehmen die Mythologie nicht als gegebene Tatsache und rennen auch nicht Landkarten nach, die zu vergrabe-nen Schätzen führen. Das eingezeichnete »X« ist sowieso niemals der Ort, an dem wirklich etwas vergraben ist. Der versunkene Kontinent Atlantis! Die Ritter von der Tafelrunde! Alles nur lie-benswürdiger und romantischer Unsinn!« Er machte eine kleine Pause und spürte dem Gewicht des edel-steinbesetzten Kreuzes nach, das in seiner Jackentasche steckte. Er sah zu Boden, kratzte sich hinter dem Ohr und fuhr dann fort: »In der Archäologie suchen wir nach greifbaren Tatsachen... nicht nach Whrheit. Wenn Sie an Wahrheit interessiert sein sollten, meine Damen und Herren, dann sind Dr. Petermans Philosophie-vorlesungen dafür ein guter Anfang.« Die Klasse lachte. Professor Indiana Jones sah eine hübsche Studentin in der vordersten reihe an und lächelte.Er räusperte sich. "Nächste Woche: Ägyptologie. Wir beginnen mit den Ausgra-bungen von Naukratis durch Flinders Petrie 1885. Irene, meine Sekretärin, hat die empfohlene Lektüreliste für das Semester.« Um
einem Sturm auf sein Katheder zu entgehen, fügte er hinzu: »Für Fragen stehe ich Ihnen in meinem Büro zur Verfügung.« Während die Studenten hinausdrängten, blickte Indy nach hinten in den Hörsaal, wo Marcus Brody, der Direktor eines renommierten Archäologischen Museums und langjähriger Freund seines Vaters, auf ihn wartete. Er ging zu ihm. Brody, der unverkennbar britisch aussah, war um die Sechzig und gezeichnet von dem ewigen Kampf zwischen den Hiobsbotschaften seiner Museumsbuchhalter und den Ausreden der wohlhabenden Geldspender. Mehr als einmal hatte er Indy versichert, daß er ihn als ein Licht in der Finsternis betrachte, als einen Mann mit Überzeugungen, der sich nicht scheute, jedem auf die Zehen zu treten, der wertvolle Altertümer lediglich unter dem Blickwinkel rascher Profite sah. Er hatte ein sehr ausdrucksvolles Gesicht mit tiefen Furchen und Falten - jede von ihnen konnte eine eigene Geschichte erzählen. Er sah fast immer besorgt aus, was Indy ständig in die Versuchung brachte, ihm beschwichtigend auf die Schulter zu klopfen und ihm zu sagen, er solle sich mal keine Sorgen machen, es werde schon alles (was auch immer) gut ausgehen... »Hallo, Marcus!« begrüßte er ihn nun und klopfte auf seine Jackentasche. »Ich hab's!« Brodys Augen leuchteten auf. »Du mußt mir alles genau erzählen!« »Natürlich. Komm!« Schon auf dem Weg aus dem Hörsaal und den Flur entlang zog Indy das Kreuz des Coronado aus der Tasche und hielt es hoch. »Tatsächlich«, murmelte Brody. »Bravo, mein Lieber. Das ist großartig. Ich bin überaus erfreut. Ich bin mehr als erfreut. Ich außer mir vor Freude.« »Na, was denkst du, was ich bin ? Ist dir klar, wie lange ich hinter diesem Ding her war?« »Dein ganzes Leben lang.« »Mein ganzes Leben lang.« Sie hatten es beide gleichzeitig gesagt und lachten nun darüber. "Wirklich, ganz großartig, Indy. Ausgezeichnet, wirklich hervorragend. Jetzt erzähle mir, wie du es gekriegt hast.« »Ach, es war gar nicht schwer«, sagte Indy achselzuckend. »Es bedurfte nur etwas freundlicher Überredung, das war alles.« »So, so«, meinte Brody skeptisch. »Und das war alles?« »Nun ja, nachdem die Herzlichkeiten erschöpft waren, nahm ich notgedrungen Zuflucht zu einigen diplomatischen Arm verdrehungen.« »Verstehe«, sagte Brody. Sein Ton und sein Gesicht ließen indessen keinen Zweifel daran, daß er noch mehr hören wollte. Andererseits befürchtete er aber auch, daß gewisse Dinge, die er hören würde, nicht ganz im Einklang mit den Standards des Museums, das er repräsentierte, stehen könnten. Noch bevor Indy mit seiner Geschichte beginnen konnte, wurden sie in ihrem Gespräch von zwei Kollegen unterbrochen, die sich zu ihnen gesellten. »Na, wo haben Sie denn gesteckt, Jones?« fragte der größere der beiden. »Das Semester ist schon vor einer Wche wieder angegangen.« Der andere Kollege zeigte Indy eine Fruchtbarkeitsgöttin aus Keramik. »Wollen Sie sich das mal ansehen, Jones? Hab' ich aus Mexiko mitgebracht. Vielleicht könnten Sie's mir datieren? Was halten Sie von dem Ding?« Indy drehte die Figur in den Händen. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Datieren?« Der Kollege wurde unsicher und nestelte an seiner Krawatte. Dann sagte er mit gespielter Selbstsicherheit: »Ich habe immerhin zweihundert Dollar dafür bezahlt. Der Verkäufer hat mir ge-schworen, es sei präkolumbianisch.« "Für zweihundert Dollar? Wissen Sie, was das ist? Prä-Oktober oder- November. Das ist schwer zu sagen. Schauen wir es uns mal genauer an." Noch ehe der verblüffte Professorenkollege etwas sagte, hatte Indy die Figur bereits entzwei geschlagen. »Da, sehen Sie! An dieser Saumlinie können Sie's erkennen: Garantie wertlos.« »Wertlos?« »Ganz recht.« Er gab dem Kollegen die beiden Stücke der Figur zurück und ging mit Brody weiter. »Ich hätte denen mal zeigen sollen, was ein wirklich wertvolles altes Fundstück ist«, sagte Brody und hielt das Kreuz hoch. »Wozu die Mühe?« sagte Indy nur. Sie hatten Indys Büro erreicht. »Das Stück bekommt einen Ehrenplatz unter unseren spanischen Erwerbungen, das versichere ich dir«, sagte Brody. »Gut. Über mein Honorar können wir später bei einem Glas Champagner reden.« »Wann darf ich dich erwarten?« Indy überlegte kurz. Er war bisher noch gar nicht in seinem Büro gewesen und hatte auch gar keine große Sehnsucht nach dem Berg Papierkram, der ihn mit Sicherheit dort erwartete, nachdem er die erste Semesterwoche schon versäumt hatte. »Sagen wir, in einer halben Stunde.« Brody ließ das Kreuz lächelnd in seine Mappe gleiten und entfernte sich mit strahlendem Gesicht. Das Bürovorzimmer war vollgepackt mit Studenten, die sich sofort um ihn scharten. »Professor Jones, könnten Sie...« »Dr. Jones, ich brauche...« »He, ich war zuerst hier. Professor...« Er bahnte sich einen Weg zum Schreibtisch seiner Sekretärin. Irene, eine wissenschaftliche Hilfskraft, sah völlig
gestreßt und verstört aus. Sie blickte geistesabwesend in die Ferne, als nehme nichts mehr wahr. Vor allem die Studentenflut in ihrem Büro igno-rierte sie einfach. Erst als sie Indy sah, wurde sie lebendig. »Dr. Jones! Mein Gott, bin ich froh, daß Sie endlich da sind! Ihre Post liegt auf Ihrem Schreibtisch. Hier sind die Zettel aller Anrufe. Das ist Ihr Terminkalender. Und hier, diese Prüfungsarbeiten sind noch nicht zensiert.« Er nickte, nahm alles und versuchte, in sein Büro zu gelangen. »Dr. Jones!« »Augenblick, Dr. Jones! Meine Zensur!« »Würden Sie bitte meine Einschreibung abzeichnen?« »Dr. Jones, hören Sie. Wenn Sie mir nur...« Er hob die Hand, und rasch verstummte die ganze Meute, um zuzuhören. »Irene...«, begann er, »schreiben Sie doch eine Liste von allen in der Reihenfolge, wie sie gekommen sind. Und dann kommt jeder der Reihe nach dran.« ,Irene warf einen zweifelnden Blick von ihm auf die Studenten. Und nicht ohne Grund. Die ganze Horde drang sofort wie ein Moskitoschwarm auf sie ein. »Na, ich kann's zumindest versuchen«, murmelte sie. »Ich war zuerst da...« »Nichts da, ich war vor dir da...« »Ich bin ganz einwandfrei Nummer zwei...« »He, paß doch auf, Mensch...« Indy schlüpfte eiligst in sein Büro. Er sah ungeduldig die Post durch.. Mehr als die College-Rundschreiben, archäologische Verbandsmitteilungen und die neuesten Ausgaben von Esquire und Newsweek war nicht darunter. Doch da war etwas. Ein dicker Umschlag mit ausländischen Briefmarken. Er besah ihn näher. »Venedig...« Wen kannte er in Venedig? Fehlanzeige. Keinen Menschen. Noch ehe er den Umschlag öffnen konnte, kam Irenes gestreßte Stimme über die Sprechanlage. »dr. jones, hier scheint es gewisse Unstimmigkeiten über die Reihenfolge der Ankunft zu geben...« "Schon gut, schon gut", unterbrach er sie. »Machen Sie es, so gut es geht. Ich bin gleich soweit.« Den Teufel werde ich. Er stopfte sich die Post in die Jackentasche, sah sich rasch um öffnete das Fenster und kletterte hinaus ins Freie. Er atmete die Luft dieses späten Frühlingsnachmittags tief ein und ging in den Nachbargarten hinüber. Rosen, Gardenien, Gras. Großartig Wunderbar. »Ein wunderschöner Tag«, sagte er zu sich selbst auf dem Weg durch den Garten. Schnell und selbstsicher entfernte er sich von seinem Büro, lächelte vor sich hin, erfreute sich seiner Freiheit und wies alle Gedanken über Verantwortlichkeiten weit von sich. Nach dem, was er durchgemacht hatte, um an das Kreuz zu kommen, hatte er etwas Erholung verdient. Sollte sich irgend jemand beschweren - bitte, er hatte nie behauptet, so gewissenhaft zu sein wie sein Vater. Überhaupt - die Reputation seines Vaters; das war ein sehr zweischneidiges Schwert. Einerseits sicherte sie seine Stellung an der Universität. Andererseits jedoch war sie eine ungeheure Belastung. Ständig fühlte er sich wie ein zweitklassiger Wissenschaftler, der sich niemals mit dem wissenschaftlichen Rang seines Vaters messen können würde. Vielleicht verhielt er sich eben deshalb manchmal unverantwortlich? Und ging Risiken ein? Um auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen? Was er durch Gelehrsamkeit nicht aufwiegen konnte, glich er eben durch spektakuläre Taten aus! Und Gelegenheiten boten sich genug... Und Abenteuer. Er hatte fast das letzte Haus des Campus erreicht, als ein langer schwarzer Packard neben ihm heranfuhr. Er warf einen kurzen Blick hinein und wollte weitergehen, doch die Tür ging auf, und ein Mann stieg aus. Er trug einen dunklen Anzug mit Weste um hatte die Hutkrempe so tief ins Gesicht gezogen, daß seine Augen kaum zu sehen waren. Er hatte dieses Das hier ist kein Spaß-Ge-habe an sich. Für Indy war seine ganze Erscheinung die eines FBI-Agenten. »Dr. Jones?« Indy erwiderte den Blick. »Ja? Kann ich irgend etwas für Sie tun?" »Wir haben eine einigermaßen wichtige Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Würden Sie bitte mitkommen?« Indy zögerte und besah sich den Mann nun etwas genauer. Aus-gebuchtete Innentasche. Toll. Das hat mir gerade noch gefehlt. Wie zur Bestätigung seiner Vermutung ließ der Mann seine Jacke etwas aufgehen und einen Pistolenhalfter sehen. Indy besah sich die Pistole und die drei Mann, die im Wagen saßen und ihrem Kollegen zum Verwechseln glichen. Was konnten sie wollen? Er hatte keine Ahnung; es interessierte ihn auch gar nicht. »Eigentlich habe ich ja im Moment gar keine Zeit«, meinte er zögernd und überlegte, wie er sich am besten absetzen könnte. »Dr. Jones«, sagte der Agent jedoch ernst, »da gibt es nichts zu überlegen. Wir müssen leider ausdrücklich
darauf bestehen, daß Sie mitkommen.« So saß er die nächste halbe Stunde zwischen zwei Schränken von Bewachern auf dem Rücksitz des schwarzen Packard. Anfangs Hatte er noch ein paarmal versucht, von ihnen zu erfahren, wohin sie denn führen und warum, doch sie hatten gemeint, das werde er früh genug erfahren. Als er es dann mit einem Gespräch über das Wetter versuchte, knurrte der eine nur etwas. Der andere reagierte überhaupt nicht und blickte stur geradeaus. Wirklich freundliche Zeitgenossen. Es fiel ihm ein, daß ihm keiner von ihnen einen Ausweis gezeigt Er wandte sich an den Mann neben ihm und fragte, ob er mal Ausweis sehen könne. Dereagierte überhaupt nicht. "Sie sind wohl vom FBI, wie?" «Wir sind Ablieferer«, sagte jetzt der andere, und alle lachten. Indy mit, aber in Wirklichkeit fühlte er sich unbehaglich. Er hatte kein gutes Gefühl. Etwas komisch, das alles.
Die Tafel der Kreuzfahrer Es dämmerte bereits, als der Packard vor einem exklusiven Wohnblock mit Blick auf den Central Park in der Fifth Avenue vorfuhr Indy stieg aus und wurde von zweien der Leute ins Haus geleitet Man führte ihn durch die Lobby und zu einem Privataufzug. Als dessen Tür wieder aufging und sie heraustraten, fand er sich in luxuriöser Umgebung. »Kommen Sie schon«, drängte ihn einer seiner Begleiter - oder Wächter -, »besichtigen können Sie später.« Sie führten ihn in ein sündhaft teures Jugendstil-Penthouse und verschwanden. Er war in einem Raum mit zahlreichen Kunstgegenständen, die jedem Museum zur Ehre gereicht hätten. Er ging herum und besah sie sich genau. Erstaunlich. Der Besitzer hatte offensichtlich nicht nur viel Geld, sondern auch einen ausgezeichneten Geschmack; und Sachkenntnis. Vor allem aber wohl erste-res. Er nahm ein Keramikgefäß mit einem aufgemalten Pfau in die Hand. Griechisch. Wenn man das Alter von fünfundzwanzig Jahrhunderten bedachte, dann hatten sich die Farben unglaublich gut gehalten. Er wurde in seiner Beschäftigung mit den Museumsstücken unterbrochen, als direkt vor ihm eine Tür aufging. Leises Klavierspiel und Stimmengemurmel waren zu hören. Während der Mann eintrat, erhaschte Indy einen kurzen Blick auf eine Cocktailparty-Der Mann selbst war auch im Smoking. Er war groß und breitschultrig mit kantigem Gesicht. Das blonde Haar wurde schon schütter. Ein guter Fünfziger, vermutlich, aber fitter, trainierter und muskulöser als so mancher jüngere Mann. Es war etwas Herr-schaftliches an ihm. Er schlenderte herbei, und für Indy bestand kaum ein Zweifel daran, daß er es mit dem Besitzer dieses Penthouses zu tun hatte. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Dann wußte er auch schon wieso. Er war einer der großzügigsten Spender für Brodys Museum, den er bei gesellschaftlichen Anlässen des Museums einige Male gesehen hatte. Brody hatte sich mehrmals über ihn aufgeregt. Wie hieß er gleich noch mal? Walter... Walter Donovan. Richtig. Beachten Sie die Augen der Pfauenfedern«, sagte Donovan mit einem Nicken auf das Gefäß, das Indy eben betrachtete. Er setzte es sorgfältig ab. »Ja, hab's gesehen. Sehr hübsche Augen.« »Wissen Sie, was das für Augen sind?« Indy sagte lächelnd: »Aber gewiß. Die Argusaugen. Der Riese mit den hundert Augen. Hermes tötete ihn, und Hera setzte seine Augen dem Pfau in die Schwanzfedern.« Donovan musterte ihn kurz. »Hätt' ich mir auch denken können, daß Sie über griechische Mythologie Bescheid wissen.« »Ein bißchen schon«, sagte Indy. Das Studium der griechischen Mythen war eine der Verirrungen seiner Kindheit gewesen, wenn auch das Drängen seines Vaters den Anlaß dazu gegeben hatte. Einige dieser Geschichten hatten ihm sogar gefallen, besonders die von Herakles und seinen Taten. Doch er hatte seinem Vater sehr gegrollt, weil er ihn dazu gezwungen hatte, sie zu lesen und zu lernen. Jetzt bemerkte er zu seiner eigenen Überraschung, daß ihm trotz den dreißig Jahren Zeit, die darüber vergangen waren, noch - oder wieder - alle Helden und ihre Geschichten ohne Schwierigkeiten geläufig waren; ganz so, als habe er sie erst letzte Woche gelesen. «Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt hierher, Dr. Jones«, sagtee Donovan nun lächelnd, aber mit der Autorität eines Herrn und Gebieters. »- und daß meine Assistenten Sie nicht beunruhigt haben." Indy wollte gerade einige etwas sarkastische Anmerkungen über die lebhaften Gespräche während der Fahrt machen, als ihm Donovan die Hand hinstreckte und sich vorstellte. "Ich weiß schon ,wer wer Sie sind, Mr. Donovan«, winkte Indy ab, während ihn Donovan aus seinem sehr kräftigen Händedruck ent ließ. »Ihre Spenden für das Archäologische Museum waren über die Jahre überaus großzügig.« »Vielen Dank.« »Ein paar Stücke Ihrer Sammlung sind wirklich außerordentlich beeindruckend.« Er machte eine Geste über den Raum hin. Was zum Teufel soll ich hier? »Freut mich, daß Sie das bemerkt haben.« Donovan ging zu einem Tisch, auf dem ein in ein Leinentuch gewickelter Gegenstand lag. Indy hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn
zu betrachten. Donovan schlug das Tuch auf. Eine flache Steintafel, etwa einen halben Meter im Quadrat, kam zum Vorschein. »Würden Sie sich das hier mal etwas genauer betrachten, Dr. Jones?« Indy kam näher. Die Tafel war mit Buchstaben und Zeichen beschriftet. Er holte sich seine Nickelbrille aus der Tasche und setzte sie auf, ehe er sich dicht über den alten Kunstgegenstand beugte. »Frühchristliche Symbole. Mittelalterliche Schriftzeichen. Byzantinische Ornamente... Mitte zwölftes Jahrhundert, würde ich mal sagen.« Donovan verschränkte die Arme. »Das entspricht unseren Vermutungen.« »Woher stammt das?« »Meine Ingenieure haben es in einer Bergregion nördlich von Ankara, wo sie nach Kupfer suchten, ausgebuddelt.« Er machte eine kleine Pause und beobachtete Indy aus den Augenwinkeln-»Können Sie den Text übersetzen, Dr. Jones?« Indy trat einen Schritt zurück. Seine Augen hafteten noch im-mer auf der Tafel. Die Übersetzung der Inschriften, meinte er, sei nicht ganz einfach. Auch nicht für jemanden wie ihn, der mit dieser Zeit und ihren Sprachen vertraut war. »Aber Sie könnten es doch wenigstens versuchen, oder?« versuchte es Donovan mit all seiner Überredungskunst. Aus welchem Grund denn, verdammt noch mal? »Sie würden mir damit einen sehr großen Gefallen erweisen«, fügte er hinzu. Kann ich mir denken. Er runzelte die Stirn, als er wieder auf die Tafel starrte. Schließlich räusperte er sich und begann langsam, stockend und in einem Ton wie ein Kind, das gerade lesen lernt, vorzutragen. "... das Wasser trinkt, das ich ihm gehen werde, spricht der Herr, wird eine Quelle in sich haben... sprudeln wird für das ewige Leben. Sie sollen mich auf Euren heiligen Berg bringen ...an den Ort, wo Ihr lebt. Jenseits der Wüste und durch den Berg hindurch... zur Schlucht des Zunehmenden Mondes, die nur so breit ist, daß ein einziger Mann hindurchkommt. Zum Tempel der Sonne, der heilig ist für alle..." Er brach ab, sah Donovan verblüfft an, ohne aber eine Reaktion bei diesem erkennen zu können, und fuhr dann fort, die letzte Zeile zu übersetzen, »...und wo der Becher mit dem Blute Jesu Christi, unseres Herrn, für alle Zeiten aufbewahrt ist.« »Der Heilige Gral, Dr. Jones.« Donovans Stimme war verhalten und sogar ehrerbietig. Er war offensichtlich sehr beeindruckt von dem, was Indy übersetzt hatte. »Der Kelch, den Christus beim Letzten Abendmahl benützte. Das Gefäß, das sein Blut vom Kreuz auffing und dann Joseph von Arimatäa anvertraut wurde. Wer es findet, wird über große Macht verfügen.« Indy neb sich das Kinn und sah Donovan zweifelnd an. »Eine alte fromme Geschichte.« "Da ewige Leben, Dr. Jones.« Er betonte jedes Wort, als habe nicht gehört. »Das Geschenk der Jugend für jeden, der aus dem Gral trinkt.« Donovan, schien es, verstand den Text wörtlich und nicht etwa im mythologischem Zusammenhang. Er nickte, sagte aber nichts, um diesen Mann nicht zu einem Weg zu ermutigen, der bereits manches Leben gefordert hatte Er wußte nur zu gut, daß die Suche nach dem Gral schon für die ratio-nalsten Gelehrten zu einer Obsession geworden war. »Immerhin eine fromme Geschichte, die ich gerne erleben würde«, fuhr Donovan fort. »Der Traum eines alten Mannes.« »Jedes Menschen Traum«, entgegnete ihm Donovan. »Einschließlich der Ihres Vaters, soviel ich weiß.« Die Erwähnung seines Vaters verdroß ihn etwas. »Die Gralssage ist sein Hobby.« Er sagte es gleichmütig, um das Unbehagen zu verbergen, das er stets empfand, wenn der Gral und sein Vater in einem Atemzug genannt wurden, als gehörten sie zusammen wie die Teile eines Reims oder eines Rätsels. »Doch wohl etwas mehr als nur ein Hobby«, widersprach Donovan auch sofort. »Er hatte immerhin zwei Jahrzehnte lang den Lehrstuhl für mittelalterliche Literatur in Princeton.« »Das kommt daher, daß er Professor für mittelalterliche Literatur ist. Übrigens der, den kein Student kriegen möchte.« »Gestehen Sie ihm seinen Rang doch zu. Der Mann ist die größte lebende Autorität in Sachen Gral.« Indy setzte eben zu einer verdrossenen Bemerkung an, als die Tür aufging. Wieder drangen die Musik und das Geplauder von nebenan herein. Sie wandten sich beide um. Eine ältere, gesetzte Frau kam herein. Sie trug ein sehr teures Abendkleid. »Walter«, sagte sie mit offenem Vorwurf, »du vernachlässigst deine Gäste!« Ihr Blick wanderte zu Indy. »Ich bin gleich wieder da, Schatz.« Indy wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Steintafel zu, als klar war, daß Donovan nicht die Absicht hatte, ihn vorzuste-len. Mrs. Donovan seufzte vernehmlich, um auszudrücken, daß sie derlei durchaus gewöhnt war, und kehrte nach nebenan zur Party zurück. Ihr Kleid raschelte bei jedem Schritt.
Ungeachtet seiner skeptischen Kommentare war Indy in Wahrheit von der Steinplatte fasziniert. Er wollte nicht darauf schwören, aber er war sich fast sicher, daß sie echt war. In dem Fall war die Tatsache ihrer Existenz eine bedeutende Entdeckung, deren Tragweite er im Moment noch nicht abschätzen wollte. Er hatte seine ganze Entführung völlig vergessen. Unwichtig. Von Bedeutung war jetzt nur dieser Stein und was auf ihm stand. »Schier unwiderstehlich, nicht wahr?« sagte Donovan, dem In-dys lebhaftes Interesse keineswegs entgangen war. »Der letzte Aufbewahrungsort des Heiligen Grals, im Detail beschrieben. Absolut atemberaubend.« Indy zuckte mit den Schultern und zwang sich wieder zu skeptischer, wissenschaftlicher Distanz, wie man sie von seinen Vorlesungen kannte. »Was bringt es schon groß? Es ist die Rede von Wüste, Bergen und Schluchten. Na und? Es gibt eine Menge Wüsten auf der Welt. Die Sahara, die Arabische Wüste. Die Kalahari. Und Gebirge... Ural, Alpen, Atlas... Wo wollen Sie da anfangen?« Er machte Donovan auf den eigentlichen Schwachpunkt der Entdeckung aufmerksam: »Unter Umständen gäbe es mehr Hinweise, wenn die Tafel vollständig erhalten wäre. Aber es fehlt der gesamte obere Teil.« Doch so leicht ließ Donovan sich nicht entmutigen. Er benahm sich, fand Indy, wie jemand, der mehr weiß, als er sagen wollte. So-gar erheblich mehr. »Na wenn schon, Dr. Jones. Jedenfalls ist gegenwärtig bereits Such-Expedition nach dem Gral unterwegs.« Indy runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Das soll wohl heißen, die Tafel ist längst übersetzt?« Dovan nickte. Dann wüßte ich aber doch gern, wozu Sie mich von meinem Campus regelrecht entführen und hierherschleppen lassen; nur um eine zweite Meinung einzuholen? Ich kann Sie wegen Entführung anzeigen, ist Ihnen das klar?« Er machte seinen Ärger mit Absicht sehr deutlich. Donovan hob abwehrend die Hand. »Natürlich könnten Sie das. Aber ich glaube nicht, daß Sie es tun werden. Ich erkläre es Ih-nen sofort. Zuvor aber möchte ich Ihnen, Dr. Jones, noch eine an-dere >fromme Geschichte< erzählen. Nachdem der Gral Joseph von Arimatäa anvertraut worden war, verschwand er und blieb tausend Jahre lang verschwunden. Bis ihn drei Ritter im Ersten Kreuzzug wiederfanden. Drei Brüder, genau gesagt.« »Auch die Geschichte kenne ich«, unterbrach ihn Indy und erzählte selbst fertig. Einhundertfünfzig Jahre, nachdem sie den Gral wiedergefunden hatten, verließen zwei dieser Brüder die Wüste und machten sich auf den langen Heimweg. Doch nur einer schaffte es wirklich, und ehe er in einem extrem hohen Alter starb, vertraute er seine Geschichte noch einem Franziskaner an. Donovan nickte dazu und war sichtlich davon angetan, daß Indy die Geschichte kannte. »Richtig. Und jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen.« Er holte einen alten, ledergebundenen Folianten hervor, den er vorsichtig aufschlug. Die Seiten waren bereits sehr brüchig. »Das hier ist das Manuskript dieses Franziskanerbruders.« Er ließ das genüßlich nachwirken. »Es sagt nichts über den Ort, wo sich der Gral befindet, aber behauptet, daß der Ritter geschworen habe, sie hätten zwei >Wegweiser< zurückgelassen.« Er deutete auf die Steinplatte. »Das da, Dr. Jones, ist einer dieser beiden Wegweiser. Dieser Stein beweist, daß die >Legende< Tatsa-che ist. Allerdings hat er, wie Sie bereits festgestellt haben, Nachteil, daß er leider nicht vollständig ist.« Eine Weile war es ganz still. Fast glaubte Indy, die verstreichen-den Sekunden zu hören. Er merkte, wie sich in der Erwartung. Donovan weitersprach, alles in ihm anspannte. »Der zweite >Wegweiser< ist zusammen mit den sterblichen Überresten des Bruders des Ritters bestattet worden. Unser Projektleiter, der in diese Suche Jahre seiner Studien einbrachte -glaubt,daß dieses Grab sich in Venedig befindet.« »Was ist eigentlich mit dem dritten Bruder, den die beiden andederen in der Wüste zurückließen? Steht darüber nichts in dem Manu-script des Mönchs?« »Der dritte Bruder blieb als Hüter des Grals zurück.« Donovan klappte das alte Buch sorgsam wieder zu. »Wie Sie also sehen, Dr. Jones, sind wir im Begriff, eine sehr große Aufgabe zu vollenden, die vor fast zweitausend Jahren begonnen wurde. Und wir sind nur noch einen Schritt davon entfernt, den Gral zu finden.« Indy lächelte. »Und genau das ist üblicherweise der Zeitpunkt, wo man den Boden unter den Füßen verliert.« Donovan zog die Luft durch die Zähne ein und blies sie wieder aus. Ein Zeichen dafür, daß die Sache mittlerweile zu einer Last für ihn geworden war. »Da könnten Sie mehr recht haben, als sie vielleicht ahnen.« »Wie dies?« »Wir haben einen schweren Rückschlag erlitten. Unser Projektleiter ist verschwunden. Und mit ihm sein ganzes Material. Wir haben ein Telegramm aus seinem Mitarbeiterstab - von Dr. Schneider - erhalten. Dr. Schneider ist es ein Rätsel, wo er sein könnte oder was aus ihm geworden ist.« Donovan blickte noch einmal auf das alte Manuskript hinunter und sah dann wieder Indy an. Seine Augen schienen jetzt in weite Ferne zu blicken. Sie waren so glasig, als sei ein Teil von ihm so verirrt wie Schneiders Kollege. »Ich möchte nun gerne, daß Sie die Spur dort wieder aufnehmen, wo wir sie verloren haben. Fin-den Sie den Mann, und Sie haben den Gral. Können Sie sich eine größere Herausforderung vorstellen?« Indy hob abwehrend beide Hände, winkte ab und schüttelte den Kopf. Erl achte etwas unsicher. Herausforderungen waren eine Sache, doch Naivität eine andere. Außerdem hatte er seine Pflich-ten an der Universität. Er konnte doch nicht einfach davonrennen und alles liegen und stehen lassen. Wo er ohnehin schon
eine Woche zu spät von einer anderen »Außentätigkeit« zurückgekommen war. »Sie haben sich leider den falschen Jones ausgesucht, Mr. Donovan«, sagte er. »Wieso wenden Sie sich nicht an meinen Vater? Ihn interessiert diese Tafel ganz zweifellos über alle Maßen, und er hilft Ihnen bestimmt in jeder nur erdenklichen Weise.« »Das haben wir bereits getan, Dr. Jones. Der verschwundene Projektleiter ist Ihr Vater!«
Das Gralstagebuch Indy raste in einer alten Wohngegend einen baumbestandenen Boulevard entlang. Er riß das Steuer seines Ford Coupe herum, daß in den Kurven die Reifen quietschten. Fast hätte er einen die Straße überquerenden Mann umgefahren. »Indy, mein Herz! Rase nicht so!« schrie Brody. Einen Block weiter fuhr er rechts ran und bremste. Er warf einen kurzen Blick auf das teilweise von Bäumen und einer Hecke verdeckte Haus, vor dem sie standen. Es war zweistöckig, hatte zahlreiche Fenster und einen wohl-gepflegten Vorgarten. Es konnte einer normalen Familie mit Kindern und ein paar Haustieren gehören. Einer von den Familien, die am Wochenende Grillpartys veranstalten. Eine solche Familie hatte er nie gehabt. Es sah überhaupt nicht mehr wie das Haus aus, in dem er und sein Vater gelebt hatten, als er noch jünger war. Doch es weckte in ihm immer noch das gleiche Gefühl von Unbe-hagen und Abneigung, obwohl er doch schon seit zwei Jahren kei-nen Fuß mehr hineingesetzt hatte. Doch was immer auch zwischen ihm und seinem Vater passiert war, es spielte jetzt keine Rolle mehr. Er sprang aus dem Wagen und war bereits fast am Eingang, als Brody ihn einholte; er war von den Strapazen durch Indys Raserei noch immer ganz außer Atem, und seine Stirn war umwölkt. »Dein Vater und ich waren seit einer Ewigkeit befreundet«, sagte er. »Dich habe ich schon als Baby gekannt. Und ich habe es miterlebt, wie ihr beide euch auseinandergelebt habt.« Er stieg hinter Indy die Haustreppe hinauf. »Aber noch nie habe ich dich so besorgt um ihn gesehen.« Indy ging über die Veranda. »Er ist Akademiker. Ein Bücherwurm, kein Mann für Expeditionen, Marcus. Selbstverständlich mache ich mir Sorgen um . . .« Die Vordertür war nur angelehnt, was ihn mitten im Satz abbrechen ließ. Sie sahen einander an, dann trat Indy vorsichig und erwartungsvoll näher. Er drückte die Tür auf. Sie knarrte. Die Luft, die aus dem Haus wehte, war kühl und - leer. »Dad?« »Henry?« rief auch Brody. Aber ihre Stimmen hallten nur hohl. Indys Besorgnis wuchs. Er rief noch einmal nach seinem Vater und eilte dann den Flur entlang, blickte in leere Zimmer, die sich nicht besonders verändert hatten, seit sie, als er fünfzehn gewesen war, von Utah hierhergezogen waren. Die Möbel waren besser, überhaupt war jetzt mehr allem da, aber die ganze Atmosphäre war dennoch genauso abweisend und unpersönlich wie in dem anderen Haus nach dem Tod seiner Mutter. In der Stille tickte irgendwo eine Uhr. Und der Kühlschrank summte. EIne merkwürdige Stille WEG, dachte er Er zog den Vorhang auf, deer den Flur vom Wohnzimmer trennte. "Lieber Gott«, flüsterte Brody. Indy schnitt nur ein Gesicht. DAs Zimmer war nicht nur durchstöbert worden. Es war buchstäblich verwüstet. Sämtliche Schubladen waren herausgerissen und lagen auf dem Boden herum. Die Regale waren leergefegt, sämtliche Sofakissen weggerissen und im ganzen Raum verstreut Ein heilloses Durcheinander von Büchern, Briefen und Urnschlägen. Einen Moment lang stand Indy einfach wie angewurzelt da. Nur seine Augen huschten hierhin und dorthin, als suchten sie etwas das eine Erklärung bot. Schließlich bückte er sich und hob ein Fotoalbum auf, das achtlos beiseite geworfen worden war. Einige Fotos fielen heraus. Er suchte sie wieder aus dem Tohuwabohu am Boden heraus und betrachtete das oberste. Ein Junge mit einem ernsten Mann an seiner Seite, dessen Bart noch nicht völlig grau war. Beide, der Junge und der Mann, machten einen steifen Eindruck. Sie fühlten sich ganz offensichtlich nicht wohl und sahen so aus, als wären sie in diesem Augenblick viel lieber irgendwo anders als da, wo sie waren. Und genauso, dachte er, war es eigentlich immer mit ihm und seinem Vater gewesen. Selbst damals schon, als dieses Foto gemacht worden war. Niemals hatten sie sich in des anderen Gegenwart unbefangen gefühlt. Jetzt, da alle diese alten Empfindungen wiederkamen, verspürte er einen Stich in der Brust. Das Foto war ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter aufgenommen worden. Sein Vater war in diesem Jahr stets gedrückter Stimmung gewesen, und Indy wußte, daß er damals viel über die Frau nachgedacht hatte, die die Brücke zwischen ihm und seinem Sohn gewesen war. Nach ihrem Tod existierte auch diese Brücke nicht mehr. Niemals hatte sein Vater mit ihm über sie gesprochen, wenn er selbst seine Mutter oder irgend etwas, das mit ihr in Verbindung stand, erwähnte, hatte sein Vater ihm nur einen eisigen Blick zug werfen und das Thema gewechselt, oder ihm eine Menge Arbeit aufgetragen.
Und dann war da diese Einschüchterung. Er erinnerte sich sich sehr gut an die ständigen Erinnerungen daran, daß er den Maßstäben seines alten Herrn doch niemals gerecht werden könne. Ihm fehlten die Disziplin, hieß es, die Zielstrebigkeit, und vor allem die Intelligenz seines Vaters. Zwar räumte ihm sein Vater ein, einen gewissen. vorandrängenden Wissensdurst zu haben, aber was nützte ihm dieser? Nichts als Schwierigkeiten brachte er ihm ein! Als er dann älter geworden war, verschwanden die Differenzen und seihe Abneigung gegenüber dem Vater keinesfalls; im Gegenteil, es wurde alles nur noch schlimmer. Und eines Tages hatte er ihm dann in der Wut erklärt, er werde es ihm schon zeigen. Er werde ebenfalls Archäologe, und ein guter dazu. Seine entschlossene Überzeugung, es dem Vater durchaus gleichtun zu können, schien proportional mit dem störrischen Beharren des Vaters, aus ihm werde ja doch nie etwas, gewachsen zu sein. Das Geräusch von Brodys Schritten auf der Treppe brachte ihn in die Gegenwart zurück. Seine alten Ressentiments gegen den Vater wichen schnell den heftigen Schuldgefühlen über die Zeiten, in denen er sich geschworen hatte, er wolle ihn nie wieder sehen und ihm sogar den Tod gewünscht hatte. Bei aller Widerborstigkeit und mangelnden Bereitschaft seines Vaters, ihm auch nur einen kleinen Schritt entgegenzukommen, war doch jetzt, da er verschwunden war, mit einem Schlag alles ganz anders. In eben diesem Augenblick gab es auf der ganzen Welt nichts, was er sich sehnlicher wünschte, als ihn wiederzusehen. »Im ganzen Haus keine Spur von ihm«, sagte Brody. »Das habe ich auch nicht angenommen.« Brody sah sehr besorgt und bekümmert aus. »In was hat der alte Narr sieh da überhaupt hineinbegeben?« »Ich weiß es auch nicht. Aber was es auch ist, er steckt bis zum Hals drin." "Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Ausgerechnet Henry soll sich mit Leuten einlassen, die nicht vertrauenswürdig sind! Sieh dir das an. Sogar seine Post haben sie durchwühlt.« Indy starrte auf das Durcheinander von Papier und Umschlä-gen, und dabei fiel ihm ein, daß er noch nicht einmal seine eigene Post angesehen hatte. »Die Post! Mein Gott, Marcus, das ist es: die Post!« Er suchte hastig in seinen Taschen nach dem dicken Umschlag mit den ausländischen Marken, den er mit sich herumtrug, seit er aus seinem Büro ausgebüxt war. Er sah noch einmal nachdenklich die Briefmarken an und schüttelte den Kopf. »Venedig! Wie konnte ich so hirnvernagelt sein?« Brody verstand nicht. »Wovon sprichst du denn?« Er riß den Umschlag auf. Ein Notizbuch kam zum Vorschein. Er blätterte rasch durch einige Seiten. Es sah wie ein Journal oder Tagebuch aus. Seite um Seite war mit handschriftlichen Notizen und Skizzen gefüllt. Brody blickte ihm über die Schulter. »Von Henry?« »Ja. Das ist sein Gralstagebuch.« »Und wieso schickt er es ausgerechnet dir?« »Frag mich was Leichteres.« Er sah sich noch einmal im Zimmer um und las dann das Notizbuch weiter. »Ich vermute fast, daß sie genau hinter diesem Buch her waren! Jemand scheint es sogar überaus dringend zu benötigen.« Er strich über das Einbandleder des Tagebuchs. Er hat mir vertraut. Am Ende hat er also doch noch etwas getan, um mir zu beweisen, daß er mir vertraut und an mich glaubt. »Kann ich mal reinsehen?« fragte Brody. »Sicher. Es steht alles drin. Die Recherchen und das Wissen eines ganzen Lebens.« Während Brody die Seiten durchblätterte, wurden die Furchen in seinem Gesicht mit jeder Sekunde schärfer und tiefer. »Die For-schung war seine ganze Leidenschaft, Indy.« »Ich weiß. Aber Marcus, glaubst du etwa an dieses fromme Märchen? Glaubst du etwa, daß der Gral tatsächlich existiert?« Brody stieß auf ein in das Buch eingeklebtes Bild und hörte auf zu blättern. Es war eine Kreuzigungsszene; Joseph von Arimatäa fing das Blut aus Christi Seite in einem goldenen Kelch auf. Er blickte hoch und sagte mit Nachdruck: »Die Suche nach dem Kelch Christi, Indy, ist die Suche nach dem Göttlichen in uns.« Indy hörte ihm zu, nickte und versuchte, seine Skepsis zu verbergen. Doch sein nachsichtiges Lächeln entging Brody nicht. »Ja, ich weiß. Du willst Tatsachen. Aber die kann ich dir auch nicht anbieten. In meinem Alter ist man bereit, ein paar Dinge in Sachen Glauben einfach zu akzeptieren. Man fühlt sie auch eher, als daß man sie beweisen könnte.« Indy erwiderte nichts. Sein Blick blieb an einem Bild an der Wand hängen. Es zeigte Kreuzfahrer aus dem elften Jahrhundert, die über eine hohe Klippe in den Tod stürzten. Einer von ihnen schwebte jedoch sicher und unversehrt in der Luft, weil er den Gral in Händen hielt. Er erinnerte sich daran, wie ihn sein Vater damals gezwungen hatte, Wolfram von Eschenbachs Parzival zu lesen - die Gralsle-gende. Er war gerade erst dreizehn gewesen, und die Lektüre erschien ihm so ungefähr die langweiligste Art und Weise, die Som-menachmittage zu verbringen, die er sich vorstellen konnte. Je-denfalls bis Dad sie ihn im Jahr darauf noch einmal lesen ließ, dies-mal sogar im mittelhochdeutschen Original. Und hinterher dann noch das Libretto zu Wagners Oper Parsifal, das auf Wolfram von Eschenbach basierte. Und täglich fragte er ihn aus, um sich zu vergewissern, ob er die Geschichte auch wirklich verstanden hatte.
Wußte er auf irgendeine Frage keine Antwort, ging es zurück zur erneuten Lektüre dieser Stelle. Als Ansporn versprach er ihm Belohnung, sobald er Wagners Werk zur Zufriedenheit durchgearbeitet habe. Er hatte sich den Kopf zerbrochen, was für eine Belohnung sein Vater wohl im Sinn haben könnte. Vielleicht eine Ägyptenreise? Oder eine nach Athen zum Parthenon? Oder Mexiko? Yukatan, die Maya-Ruinen? Zuallermindest, meinte er, verdiente er aber den Besuch im Museum der Hauptstadt des Bundesstaates, wo die Mumien waren. Leider bestand die Belohnung dann lediglich in den Gralslegen-den der Artussage: zuerst Morte d'Arthur von Sir Thomas Mallory - das mußte er auf französisch und auf englisch lesen -, als nächstes kam Lord Tennysons Idylls ofthe King. Schöne Belohnung! Aber so sehr er die schwierigen Parzivalbücher auch gehaßt hatte und seinen stummen Zorn wegen der mickrigen »Belohnung« hinunterschlucken mußte, die Abenteuer der Helden der Parzival-Le-gende, die Ritter Parzival, Gawain und Feirefiz, blieben ihm unvergeßlich. Oder auch König Artus oder Lancelot oder Merlin aus den Sagen der Tafelrunde. Und wenn er es genau bedachte, hatten diese Bücher sogar sehr nachdrückliche Auswirkungen auf seine ganze Lebenseinstellung gehabt. Er sinnierte so lange schweigend, bis sich Brody endlich räus-perte und sagte: »Wenn dein Vater daran glaubt, daß es den Gral wirklich gibt, dann glaube ich es auch.« Indy war sich weniger sicher, was er glauben sollte. Allenfalls daran, daß er etwas tun mußte: handeln und mit der Suche beginnen. »Marcus, ruf doch bitte Donovan an. Sag ihm, ich nehme seine Fahrkarte nach Venedig an. Ich werde Dad finden.« »Gut. Und ich werde ihm sagen, daß wir zwei Fahrkarten brauchen. Ich komme mit.« Die Fahrt zum Flughafen hatte Stil. Sie saßen auf dem Rücksitz einer Luxuslimousine mit Chauffeur, und ihr Besitzer, Walter Do-novan, gab ihnen persönlich das Geleit. Indy hatte sich Noturlaub von der Universität geben lassen. Als er darum bat, hatte ihn der Dekan zunächst völlig verständnislos angesehen. Wie er über-haupt die Stirn haben könne, jetzt, wo er eben die erste Woche Semesters versäumt hatte, gleich wieder Urlaub zu wollen? Als ihm Indy jedoch die Gründe nannte, änderte sich seine Haltung. sobald auch nur der Name seines Vaters gefallen war. Er nickte fei-erlich, sah zum Fenster hinaus und erzählte ihm eine Geschichte über seinen Vater, die Indy zwar bereits kannte, doch die diesmal einen anderen Schluß hatte. Sie drehte sich um einen bestimmten Vorfall Ein besonders arroganter Kollege von Dr. Jones veranstaltete eine Ausstellung seiner jüngsten archäologischen Funde. Wegen seiner Prominenz und seinem Einfluß in akademischen Kreisen erschienen zu diesem Anlaß auch Gelehrte und Archäologen mehrerer Ostküsten-Universitäten; weniger, weil sie den Mann so verehrten, sondern mehr, weil sie ihn fürchteten. In dem Augenblick, als das Prunkstück der Ausstellung enthüllt werden sollte, war Dr. Jones nach vorne gekommen und hatte das Tuch selbst weggezogen. Die Keramik darunter war angeblich die älteste, die bisher in der Neuen Welt gefunden worden war. Er nahm sie, zerschmetterte sie auf dem Podium und erklärte sie als Fälschung. In Windeseile ließ man ihn von den Wächtern hinauseskortieren. Doch der Eklat war Anlaß zu Nachprüfungen, die ergaben, daß er recht gehabt hatte, und das Schreckensregiment jenes Professors war damit zu Ende. »Und dieser Professor«, sagte der Dekan, als sein Blick vorn Fenster zu Indy zurückkehrte, »war mein eigener Studienberater. Er wollte gerade meine Entlassung in die Wege leiten, weil ich wegen der Datierung eines Fundes einen heftigen Streit mit ihm gehabt hatte.. Wenn auch unbeabsichtigt, aber die Tat Ihres Vaters rettete meine Karriere. Ja, finden Sie Dr. Jones, um alles in der Welt! Männer wie er sind eine Seltenheit.« Indy blieb auf der Fahrt zum Flughafen einsilbig; er dachte wie-der und wieder darüber nach, was er über das Verschwinden seines Vaters bisher wußte. Viel war es allerdings nicht. Er befürchtete, daß das übergroße Interesse seines Vaters an dem Gral ihn dazu verführt hatte, sich auf eine Expedition einzulassen, die in keiner Weise seinem Naturell entsprach. Dazu noch sein Alter ... Er hatte sich vermutlich gesagt, eine solche Chance, den Gral zu finden und damit sein Lebenswerk zu krönen, bekomme er nie wieder. Verdammter alter Mann mit seiner Sturheit Es wäre nie passiert, hätten sie nur ein besseres Verhältnis zuein-ander gehabt. Er machte sich Vorwürfe. Schon immer hatte er allem, was seinen Vater betraf, voreingenommen gegenübergestan-den. Jetzt hatte er zumindest Gelegenheit, das auszugleichen und zu korrigieren. Sie fuhren am Eingang des Flughafens vor. Donovan schüttelte Brody die Hand. »Also, Marcus, dann viel Glück.« Dummes Geschwätz, dachte Indy. Als hätte Glück irgend etwas damit zu tun. »Danke, Walter«, sagte Brody und nickte nervös. »Also, gleich nach unserer Ankunft in Venedig...« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Donovan. »Dr. Schneider holt euch ab. Ich habe eine Wohnung in Venedig. Die steht euch zur Verfügung.« »Sehr freundlich von Ihnen, Walter.« Er stieg aus. Ehe Indy ihm folgen konnte, hielt ihn Donovan an der Schulter zurück. »Seien Sie vorsichtig, Dr. Jones. Vertrauen Sie niemandem. Niemandem, verstehen Sie?« Indy sah ihn eindringlich an. »Ich werde alles tun, was nötig ist, um meinen Vater zu finden.« Sie flogen im hellen Sonnenlicht. Unter ihnen glitten Wolken vorbei, die wie Kommas im Himmel hingen. Der Atlantik war ein endloses Blau. Eine blaue Wüste, blinkend und blendend. Indy sah ihn jedoch gar nicht. Fast den ganzen Flug über war er in das Gralstagebuch seines Vaters vertieft. Er las es systematisch und sorgfältig. Jeden einzelnen Eintrag. jede Seite. Vielleicht war irgendwo ein Hinweis.
»Das Wort Gral ist abgeleitet von graduale, das bedeutet Schritt für Schritt, Stück für Stück«, las er auf einer Seite ziemlich weit vorne. »In der Grals-legende gibt es sechs Grade oder Ebenen des Bewußtseins, die je-weils durch ein Tier symbolisiert werden.« Der Rabe war das Symbol des ersten Grades und verkörperte den Gralsboten und den »Schicksalsfinger« , der am Beginn der Suche gestanden hatte. Der zweite Grad wurde vom Pfau repräsentiert. Er stand für die Suche nach der Unsterblichkeit und war zugleich ein Sinnbild für die schillernde und fantastische Natur des Unternehmens. Der Schwan war das Zeichen des dritten Grades. Weil jeder, der sich auf die Suche nach dem Gral macht, damit aller Selbstsucht und Lauheit absagte. Für die Gralssuche mußte man jegliche Schwäche des Herzens und des Geistes hinter sich lassen und sich von kleinlichen Vorlieben und Abneigungen lossagen. Den vierten Grad symbolisierte der Pelikan, jener Vogel, der sich die eigene Brust aufreißt, um seine Brut zu nähren; Sinnbild der Selbstaufopferung und der Bereitschaft, für das Wohl der Seinen auch Gefahren auf sich zu nehmen. Der Löwe verkörperte den fünften Grad. Er stand für Füh-rungsgskraft und Eroberungswillen sowie für das Erreichen hoher Ziele. Den sechsten und höchsten Grad - für ihn stand der Adler- erreichte man erst am Ende der Suche. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Gralssucher bereits das Wissen und die Stärke gewonnen, um die volle Bedeutung seines Bemühens ganz zu verstehen. Indy sah auf. Er versuchte, sich auf dem engen Flugzeugsitz an-ders zu setzen. Es war typisch für seinen Vater, die sehr abstrakten Dinge, mit denen er es als Gelehrter zu tun hatte, in Symbolen und Methaphern uszudrücken. Wahrscheinlich war dieses Gralstagebuch eine ebenso große Mystifikation wie der ganze Gral selbst. Die Tierersymbole erinnerten ihn an etwas, das er schon fast vergessen hatte. Mit achtzehn Jahren war er noch einmal in den Südwesten zurückgekehrt und hatte dort unter der Anleitung eines alten Navajo-Indianers Studien über Visionen unternommen. Allein und ohne Nahrung war er in eine alte mesa in New Mexico geklettert, hatte sich einen Unterstand gebaut und gewartet. Der Indianer hatte ihm gesagt, er müsse so lange warten, bis sich ihm ein Tier nähere. Das sei dann fortan sein Beschützer und gei-stiger Mentor. Nach zwei Tagen hatte er ziemlichen Hunger und noch mehr Durst und wollte nur noch zum Wasser hinuntersteigen. Er stand auf und ging bis an den Rand der mesa, um nach unten zu sehen. Wie in aller Welt war ihm so etwas Verrücktes überhaupt eingefallen? Er wollte eben mit dem Abstieg beginnen, als er die Stimme des alten Indianers zu hören meinte: Warte noch. Er drehte sich verblüfft um. Aber da war niemand. Hatte er aus Hunger und Durst schon Halluzinationen? Doch statt abzusteigen, ging er tatsächlich wieder zu seinem Unterstand zurück. Er war noch kein Dutzend Schritte gegangen, als plötzlich ein Adler aus dem Himmel herabstieß und ganz niedrig über das ebene, felsige Plateau hinstrich. Und dann landete das majestätische Tier - direkt auf dem Dach seines Unterstandes. Er hatte seinen Beschützer und Mentor! Als er es dem alten Navajo erzählte, hatte dieser genickt und ihm bestätigt: Fortan werde ihn der Adler auf allen seinen Reisen schützend begleiten. Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als sich der Steward über ihn beugte und ihn fragte, ob er gerne etwas zu trinken hätte. Er nickte und setzte sich wieder zurecht. Dabei fiel ein Blatt aus dem Tagebuch. Der Steward hob es auf und reichte es ihm zusammen mit seinem Glas. Er stellte das Glas vor sich auf das ausgeklappte Tischchen und faltete das Blatt auseinander. Es war eine Skizze, die er auf den ersten Blick erkannte. Sie zeigte Donovans Grals-Steintafel. Oben war Platz freigelassen, wie um vielleicht den fehlenden oberen Teil später einzufügen. »Sieh dir das an, Marcus!« Er reichte es Brody, sah dann aber erst, daß sein Reisegefährte tief schlief. Er faltete das Blatt zusammen und wollte es wieder in das Notizbuch stecken, als ihm die Zeichnung auf der Seite, die er zufällig aufgeklappt hatte, ins Auge fiel. Ein bemaltes Glasfenster, darunter eine Serie von Zahlen. Was konnte das sein? Er sollte es bald erfahren.
Venedig Römische Zahlen »Ach, Venedig!« seufzte Indy und sah sich um. Er nickte sich selbst zu. Seine Umgebung belebte ihn. Venedig war anders als jede andere Stadt der Welt und wie geschaffen, ihm seine gedrückte Stimmung zu vertreiben. Schon auf der Fahrt in die Stadt, auf den Kanälen mit dem Motorboot, hatte sich seine umwölkte Stirn, die er gehabt hatte, seit er von dem Verschwinden seines Vaters und dessen Umständen erfahren hatte, wieder geglättet. Die Luft roch angenehm nach Wasser, der Himmel war eine weiche blaue Kuppel. Er fühlte sich wie
neugeboren. Alles wird gut enden, sagte er sich selbst. Er würde seinen Vater schon finden. Daran mußte er einfach glauben. »Wenn du dir das vorstellst«, sagte Brody, »eine mitten in eine Lagune auf hundertachtzehn Inseln gebaute Stadt!« »Und was sie da hingebaut haben«, nickte Indy. Venedigs Erbe war in jeder Straße und jedem Kanal gegenwartig. Die ganze Stadt war ein einziger Sammelplatz von Kultur und Wissen, Geschichte und Romantik - und natürlich auch von Intrige und Abenteuer. Als sie dann an einer der Bootsanlegestellen ausstiegen, zerbarst Indys Euphorie augenblicklich. Eine Schar uniformierter faschi-stischer Miliz marschierte vorbei und führte einen verdächtig Zivilisten ab, der, als er das Boot sah, zu fliehen versuchte. Aber die Miliztruppe reagierte schnell und hart. Sie schlugen und traten mit ihren Knüppeln und Stiefeln auf ihn ein. Der Mann wimmerte und schrie und versuchte weiter, zu entkommen. Schließlich blieb er mit blutigem Gesicht und reglos wie tot auf dem Kopfsteinpflaster liegen. Indy war starr vor Entsetzen. Die Milizleute hatten eine Härte und Unnachsichtigkeit an den Tag gelegt, welche übliches »militärisches Durchgreifen« weit überstiegen. Sie schienen auch ausgesprochen Gefallen daran zu finden. Es erinnerte ihn sehr an sein Erlebnis mit den Matrosen auf dem Frachter, denen er gerade noch entronnen war. »Ach, Venedig!« sagte er nun noch einmal, doch es klang ganz anders als vorhin. Er hatte ein erstes drastisches Beispiel von dem erhalten, was in Italien und ganz Europa derzeit vor sich ging. Faschisten und Nazis hatten sich des Kontinents bemächtigt. Wer wußte schon, wo das alles enden mochte! Oder wann. Oder wie. Und ein Teil seiner düsteren Stimmung kam wieder. »Sehr irritierend, solche Dinge«, sagte Brody, als sie endgültig ausgestiegen waren. »Hoffentlich begegnen wir auf dieser Reise nicht noch öfter solchen Vorfällen.« Indy warf ihm einen schnellen Blick zu. Brody war wieder einmal völlig verstört. »Ja, hoffentlich«, erwiderte er nur. Aber er hattedie dumpfe Ahnung, daß sich diese Hoffnung wohl kaum er-füllen werde. Sie sahen sich um. Indy stellte Vermutungen darüber an, ob und wie sie Dr. Schneider erkennen würden. Donovan hatte ihnen selt-samerweise den Kollegen seines Vaters überhaupt nicht beschrieben. Er hatte einfach nur versichert, Dr. Schneider erwarte sie und hole sie ab. "Vielleicht hält er eine Tafel hoch«, hoffte Brody. Plötzlich näherte sich ihnen aus der Menge eine lächelnde Frau. Es war eine attraktive, schlanke Blondine mit hohen Backenknochen. Ihre lapislazuliblauen Augen leuchteten intelligent. "Dr. Jones?« "Ja." Er lächelte sie an. Offenbar hatte Schneider seine Sekretä-rin gescickt. Er hatte nichts dagegen. »Ich wußte sofort, daß Sie es waren«, sagte sie, fast flirtend »Sie haben die Augen Ihres Vaters.« Sie gefiel ihm sofort. »Und die Ohren meiner Mutter«, erwie-derte er. »Verfügen Sie über den Rest!« Er erwartete eine kleine Verlegenheit. Statt dessen lachte sie herzhaft. Es klang leicht und sympathisch, voller Leben, und einen Moment lang glaubte er, sie lache ihn aus. Na und, dachte er, gut vielleicht war das nicht so originell. Aber wenn schon. Er hätte es sofort wieder gesagt, um sie noch einmal lachen zu hören. »Sieht so aus, als seien das schon die besten Teile gewesen«, erwiderte sie. Er konnte nicht umhin, ihre Schlagfertigkeit zu bewundern. Sie wandte sich nun an Brody. »Mr. Brody?« »Richtig.« »Ich bin Elsa Schneider.« Indys Lächeln erstarb etwas. Auch Brody versuchte seine Verblüffung zu verbergen, was ihm freilich nicht gelang. »Ach so, Dr. Schneider. Verstehe.« Er ergriff ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie. Dann räusperte er sich, äugte kurz nach Indy, als hoffe er, er werde ihm die Konversation abnehmen, und sagte: »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Walter hat uns nicht, ähm -« »Dachte ich mir schon«, erwiderte sie lächelnd. »Walter scheint Gefallen daran zu haben, die Leute zu überraschen. Hier entlang, meine Herren.« Sie betraten den riesigen Markusplatz, und Elsa Schneider brachte das Gespräch ohne Umschweife sofort auf ihr Thema. »Das letzte Mal habe ich Ihren Vater hier in der Biblioteca Mar-ciana gesehen. Und dorthin gehen wir jetzt auch gleich. Er war der Spur des Rittergrabes schon sehr nahe. Ich habe ihn noch nie so aufgeregt gesehen. Er war übermütig wie ein Schuljunge. Und er war sich ganz sicher, daß die Gruft die Karte enthält, die zum Gral führt.« Henry Jones - Attila der Professor - und »übermütig wie ein Schuljunge? Das hatte er auch noch nicht erlebt, dachte Indy. »Wissen Sie«, sagte er, »er war sein ganzes Leben nicht >übermütig<, nicht einmal, als er tatsächlich noch ein Schuljunge war.« Hatte den alten Mann am Ende die Arbeit mit Elsa Schneider so aus der Fassung gebracht? Auch er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden und mußte zugeben, daß er sich selbst ein wenig "übermütig« fühlte. Er zog im Vorübergehen an einem Blumenwagen eine Nelke aus einem Strauß. Der Blumenverkäufer war ge-
rade mit einem Kunden beschäftigt und übersah seinen flinken Finger. Er überreichte Elsa die Blume: »Fräulein, erlauben Sie mir?« Sie sah die Blume an, dann Indy. »Gewöhnlich nicht.« »Ich gewöhnlich auch nicht.« Sie musterte ihn noch einmal eingehend. »Na schön, in diesem Fall erlaube ich Ihnen.« »Es würde mich sehr freuen.« Sie nahm die Nelke, die er ihr hinhielt. »Macht mich jetzt schon traurig. Morgen ist sie verwelkt.« »Dann stibitze ich Ihnen morgen eine neue. Aber mehr kann ich nicht« versprechen.« Sie lachte wieder. Dieses herrliche Lachen, nach dem er bereits jetzt süchtig war. Er setzte an, etwas zu sagen, doch Brody kam ihm zuvor. »Also, entschuldige, wenn ich unterbreche. Aber der Grund, weshalb wir hier sind . . .« »Ja, selbstverständlich«, sagte Elsa und war sofort wieder ganz seriös. Sie griff in ihre Handtasche: »Ich muß Ihnen beiden etwas zeigen. Wie ich schon sagte, habe ich Dr. Jones zuletzt in der Bi-bliothek gesehen. Er hatte mich gebeten, in der Landkartenabtei-lung einen bestimmten alten Stadtplan zu holen. Als ich zurückkam, war er verschwunden, und sein Arbeitstisch war leer. Bis auf das da.« Sie hielt einen Zettel hoch, während sie zwischen Indy und Brody hin und her sah. »Das lag neben seinem Stuhl auf dem Boden.« Indy nahm den Zettel und faltete ihn auseinander. Es standen lediglich die römischen Zahlen III, VII und X darauf. Indy betrachtete sie grübelnd. Elsa zeigte mit ihrer behandschuhten Hand auf ein Gebäude »Da ist die Bibliothek.« Sie stiegen die Eingangstreppe hinauf. Elsa ging voran und führte sie. Ihre Schuhe klickten laut auf dem polierten Marmorboden. Das ist die Art Gebäude, dachte Indy, wo man ganz automatisch die Stimme dämpft und nur noch fast ehrerbietig spricht. »Ich habe die ganze Woche versucht, einen Sinn in diesen Zahlen zu finden«, flüsterte Elsa. »Drei, sieben, zehn. Eine Bibliotheksreferenz sind sie bestimmt nicht. Ich habe auch sämtliche in Frage kommenden Kombinationen von Bibelkapiteln und -versen nachgeprüft.« Indy blickte nach oben zu der fast zwanzig Meter hohen Decke. In den Mauern waren hohe, riesige Fenster mit Glasmalereien. Die ganze Bibliothek war riesig und lag in einem gewissen Dämmerlicht. Man konnte sich in ihr verlaufen. Vielleicht, überlegte er, war sein Vater ja noch immer hier, in irgendein altes Manuskript vergraben? Er würde gar nicht auf die Idee kommen, daß man ihn vermißte. »Im Augenblick studiere ich die Chronik des Mittelalters von Jean Froissart«, sagte Elsa. »Hier in dieser Bibliothek befinden sich Abschriften vom Original. Vielleicht bedeuten Drei, Sieben und Zehn Bandnummern?« Indy nickte. Die Bibliothek war eindrucksvoll, gleichzeitig verursachte sie ihm angesichts des Gedankens, daß sein Vater von nie verschwunden war, leichtes Unbehagen. Es war irgendwie nicht ohne Ironie. Er stellte sich Professor Henry Jones in einem Vortrag über Bibliotheken vor. Lage-häuser des Wissens, Junior. Jede Stunde in einer Bibliothek macht dich klüger. Sein Vater badete in Bibliotheken, ertränkte sich in Bücherstapeln, aber er würde sich nie darin verlieren; desen war er ganz sicher. Er konnte nur unter Zwang »verschwunden« sein, keineswegs aus freien Stücken. Er war nicht der Typ, vor Problemen davonzulaufen. Dafür war er viel zu dickköpfig. Sie gingen zwischen zwei massiven Granitsäulen hindurch in einen Raum mit hohen Reihen Bücherregalen. Elsa ging voran bis zu einem Arbeitstisch, auf dem einige kostbare, ledergebundene alte Bücher lagen, über die sie liebevoll strich. »Ihre Augen glänzen richtig«, bemerkte Indy. »Große, altehrwürdige Bibliotheken wie diese bringen mich im-mer fast zum Weinen«, sagte sie. »Schon ein einzelnes Buch. Es ist wie eine Art Heiligtum. Wie ein Baustein in dem großen Tempel der ganzen Weltgeschichte.« »Ja. Nichts geht über ein gutes Buch«, sagte er knapp. »Es ist fast wie in einer Kirche«, pflichtete nun auch Brody im selben Ton bei. »Wobei das in diesem Fall fast wörtlich stimmt. Wir stehen in der Tat auf geheiligtem Boden. Das hier war einmal die Kapelle eines Franziskanerklosters.« Elsa deutete auf einige Marmorsäulen. »Diese Säulen da wurden als Kriegsbeute während der Kreuzzüge aus Byzanz mitgebracht.« Indy sah auf die Säulen, doch noch mehr zogen ihn diese Fenster mit den Glasmalereien an. Eines der Bilder aus farbigen Glasstük-ken stellte einen Kreuzfahrer dar. Er ging näher heran und fragte Elsa:" Und dies hier ist genau der Tisch, an dem mein Vater arbei-tete und wo Sie ihn zuletzt gesehen haben?« Sie nickte und fuhr mit den Fingerspitzen über die Tischplatte. "Genau hier. Da fällt mir ein, ich muß noch zum Schalter. Ich habe da ein Foto von Henry hinterlegt. Sie versprachen mir, aufzupas-sen, ob er wieder auftaucht.« Sobald sie weg war, packte Indy Brody am Arm und deutete auf das Glasbild. »Marcus, dieses Fenster da habe ich schon mal gese-hen.« Brody runzelte die Stirn. »Wo denn?« Indy holte das Gralstagebuch heraus und schlug die Seite mit der Skizze auf, die ihm während des Fluges
aufgefallen war. Er zeigte sie Brody. »Da, hier.« Brody studierte die Skizze eingehend, verglich sie mehrmals mit dem echten Fenster oben und nickte dann langsam. »Lieber Gott, Indy, ja, das ist genau dieses Fenster.« »Du siehst es also auch, ja?« »Gewiß. Und die römischen Zahlen stehen im Fenster.« »Dad war hier also auf irgendeiner Spur.« Brody gab ihm das Notizbuch zurück. »Ja, aber auf welcher? Jetzt wissen wir, woher die Zahlen stammen, aber nicht, was sie bedeuten.« Elsa kam zurück. Indy steckte das Tagebuch schnell wieder weg. »Dad hat mir dieses Notizbuch aus irgendeinem besonderen Grund geschickt. Bis wir den herausgefunden haben, halte ich es für besser, nichts davon zu erzählen.« »Einverstanden«, sagte Brody. Elsa schüttelte den Kopf. »Keine Spur von ihm.« Sie sah zwischen Indy und Brody hin und her. »Sie sehen beide so aus, als hätten Sie gerade eine Entdeckung gemacht. Was ist es denn?« »Sieht man es uns gleich an der Nasenspitze an?« fragte IndyEr suchte mit seinen Blicken erneut die Wände und die Decke ab. Irgendwo mußte hier ein Hinweis sein; daran gab es kaum ei-nen Zweifel. Wenn er sich jemals irgendeiner Sache sicher gewesen war, dann dieser hier. Brody deutete auf das Fenster. »Drei, sieben, zehn. Dort sta-men die römischen Zahlen her.« »Tatsächlich, Sie haben recht.« »Dad suchte nicht nach einem Buch, sondern nach dem Rittergrab. Er suchte das Grab selbst!« Elsa begriff nicht. Sie sah ihn verständnislos an und schüttelte schließlich den Kopf. »Was meinen Sie?« Verstehen Sie nicht? Das Grab muß sich irgendwo in dieser Bi-bliothek befinden! Sie haben doch selbst gesagt, daß hier einmal eine Kirche war!« Sein Blick blieb an einer der Marmorsäulen hängen. »Da.« Er zeigte mit dem Finger darauf und ging hin. Elsa und Brody eilten ihm nach. »Drei.« Er zeigte auf die römische Zahl, die in die Säule eingemeißelt war, und lächelte triumphierend. »Wetten, daß sie alle drei numeriert sind? Seht nach. Sieben und zehn.« Elsa und Brody gingen zu den anderen beiden Säulen. Gleich darauf machte Brody von seiner ein Zeichen. Er hatte die VII. Doch Elsa fand an ihrer keine X. Sie suchten alle drei auf allen drei Säulen. Die römische Zahl X blieb unauffindbar. Sie standen in der Mitte des Raumes auf halbem Wege zwischen den Säulen III und VII. »Zum Teufel, sie muß hier sein«, murmelte Indy. »Sie muß. Jede Wette.« Er ging zu einer Leiter, mit der man eine der Galerien erreichte, und stieg hinauf. Vielleicht bot eine etwas erhöhte Perspektive einen Hinweis. Er brauchte tatsächlich nur einen Augenblick, es zu erkennen. Es war auch ganz offensichtlich. Der Boden unten, auf dem Elsa und Brody standen, war in einem Muster ausgelegt, das ein klares X bildete. Man erkannte es allerdings nur aus einer er-höhten Perspektive. "X, das bezeichnet die exakte Position!« sagte er laut. Er klet-terte wieder hinunter und stellte sich genau auf die Steinplatte, die den Schnittpunkt des X bildete. Dann kniete er sich hin und begann mit seinem Messer die Fugen der Platte auszukratzen. "Was machen Sie denn da?« flüsterte ihm Elsa zu und sah sich ängstlich um, ob etwa jemand den verrückten Ausländer beobach-tete, der den Fußboden aufriß. "Ich finde gerade das Rittergrab!« sagte er. Er preßte die Worte durch die Zähne, während er sich mit der Platte abmühte »Was wohl sonst?« Nach kurzer Zeit lockerte sich die Platte tatsächlich und gab direkt unter ihr ein rechteckiges Loch von etwa einem halben Qua-dratmeter frei, das ihn bestätigte. Kalte Luft und ein feuchter, ranziger Modergeruch drangen aus der Tiefe herauf. Indy blickte zu Elsa und Brody und lächelte siegesgewiß »Bingo!«
Der Sarg des Kreuzfahrers »Sie enttäuschen einen wirklich nicht, Dr. Jones«, sagte Elsa und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sie haben das gleiche Temperament wie Ihr Vater.« »Nur ist er verschwunden. Aber ich nicht.« Er spähte in das Dunkel des Lochs hinab, holte dann eine Münze aus der Tasche und ließ sie hineinfallen. Nach einer Sekunde war zu hören, wie sie sanft aufprallte. Das Loch war also knapp zwei Meter tief. »Bis gleich dann.« Er wollte sich eben in das Loch hineingleiten lassen, als ihn Elsa zurückhielt. »Ladies first, Indiana Jones! Lassen Sie mich bitte hinunter.« Er tippte respektvoll an seinen Filzhut. Donnerwetter. Sie setzte sich, senkte die Beine in das Loch und blickte zu ihm hoch. »Fertig?«
Sie hob die Arme über den Kopf und ließ sich hinabsinken. Sie hing einen Augenblick an seinen Händen in der Finsternis des Lo-ches, dann ließ er sie sanft und langsam hinab, bis sie ihm befahl, loszulassen. Gleich darauf hörte man sie unten aufplumpsen. Indy blickte Brody über die Schulter an. »Paß mal ein bißchen auf, Marcus.« Brody nickte. »Ich lege die Platte wieder an ihren Platz, damit wir keine Aufmerksamkeit erregen.« »Gute Idee.« Er griff in die Tasche, zog das Gralstagebuch heraus und entnahm ihm den gefalteten Zettel. Er steckte ihn ihn sich ins Hemd und reichte Brody das Buch. »Heb das bitte für
mich auf.« »In Ordnung.« Erblickte in das Loch hinab. »Bis gleich also. Hoffe ich.« Erließ sich selbst in das Loch hinab, und Brody deckte sogleich die Plane darüber. Pechschwarze Finsternis umgab ihn nun. Dann waren oben hastige Schritte zu hören. Was zum Teufel machte Brody da? Steppte er, oder was? »Elsa?« flüsterte er. Ihr Feuerzeug flammte auf. Die winzige, schwache Flamme sah wie ein Glühwürmchen aus. Er blinzelte und sah, daß sie ihn anblickte. »Haben Sie das gehört?« Er blickte nach oben und konnte sich nicht recht entscheiden, ob er umkehren oder weitermachen sollte. Vielleicht hatten ein Bi-bliothekar oder die Polizei Brody ertappt, wie er sich an der Platte zu schaffen gemacht hatte? Wenn sie jetzt wieder hinaufstiegen, bekamen sie vielleicht niemals wieder die Gelegenheit, nach dem Ritter und dem zweiten »Wegweiser« zu suchen. »War wohl nichts" sagte er. Er nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand. »Kommen Sie. Brin-gen wir es hinter uns.« Es war kühl und buchstäblich grabesstill. Die Luft roch wie nasse Socken. Sie tasteten sich entlang der Felswände einen Gang entlang. Indy schirmte die Feuerzeugflamme mit der Hand ab. Viel Licht spendete sie nicht und immer wieder spähte er rechts oder links an ihr vorbei nach vorne, um irgend etwas zu erkennen, Dann blieb er an einer Mauernische in der Wand stehen und inspizierte sie näher. Zuerst wollte er gar nicht glauben, was er in dem schwachen, flackernden Licht sah. Er hielt das Feuerzeug et-was zur Seite und bohrte seinen Blick in das Dunkel - und direkt in einen Totenkopf, der an geschwärzten Skelettresten hing, die teilweise noch von sich auflösenden, vermodernden Leinenstreifen bedeckt waren. »Wir scheinen auf eine Katakombe gestoßen zu sein«, sagte Elsa hinter ihm. »Hier auf dieser Seite ist noch einer.« Er blickte über die Schulter. »Sehr schön. Gehen wir weiter. Ich glaube nicht, daß einer von denen hier unser sagenhafter Ritter ist.« Sie gingen weiter und kamen noch mehrmals an ähnlichen Grabnischen vorüber, bis Elsa auf Zeichen deutete, die neben einem der Skelette in die Wand gemeißelt waren. »Sehen Sie sich das an. Heidnische Symbole. Viertes oder fünftes Jahrhundert.« Er hielt das Feuerzeug wieder hoch und trat näher, um sich die Zeichen zu besehen. »Richtig. An die sechshundert Jahre vor den Kreuzzügen.« »Die Christen haben sich Jahrhunderte später wohl ihre eigenen Gänge und Gräber gegraben«, fügte Elsa hinzu. Da hatte sie recht. Er nickte. »Falls hier unten ein Kreuzfahrer begraben liegt, dann finden wir ihn auch hier.« Sie tasteten sich immer weiter. »Auch eine Art Kreuzzug, das hier, wie?« meinte Elsa hinter ihm. Sie sprach leise und ernst. Komisch, dachte er. Sie nahm dieses Gralszeug also offensicht-lich genauso ernst wie sein Vater! »So ist es wohl«, erwiderte er höflich. »So kann man es wohl nennen.« Er machte eine kleine Pause. "Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte er dann. »Wozu?« Sehr begeistert klang das nicht, fand er, aber zum Teufel, sollte es. »Damit ich nicht hinfalle.« Sie lachte, gab ihm aber ihre Hand, und er hielt sie fest. Der unterirdische Gang verlief noch weitere hundert Meter nach links und mündete dann in einen Abschnitt, in dem die Katakomben breiter und feuchter wurden. Bald wateten sie durch knöcheltiefes Wasser. Es war dunkel und schlammig. Indy bemerkte, daß das Wasser an manchen Stellen klebrig und klumpig wurde. Er tauchte die Finger hinein und zerrieb die Masse dazwischen. »Petroleum! Ich sollte einen Bohrer hier herunterlassen und mich zur Ruhe setzen.« »Sehen Sie mal da.« Elsa deutete auf eine weitere Markierung an der Wand. »Ein siebenarmiger Leuchter; eine Menora. Im zehnten Jahrhundert gab es in Venedig ein großes jüdisches Ghetto.« »Dann sind wir wohl auf dem richtigen Weg.« Sie deutete auf ein weiteres Wandzeichen. »Das da kenne ich nicht.« Er inspizierte die Wand aus der Nähe. Er erkannte auf Anhieb, was da eingemeißelt war. Nicht nur hatte er ein
solches Symbol schon einmal gesehen, sondern er war auch der Sache, für die es stand, um den halben Erdball nachgejagt und war dabei einige Male dem Tod nur knapp entronnen. »Das ist die Bundeslade.« »Sind Sie sicher?« Er warf ihr lächelnd einen vielsagenden Blick zu. »Ja, ziemlich.« Sie drangen noch weiter in die Katakombe vor. Der Gang wurde wieder enger. Das Wasser reichte ihnen mittlerweile bis an die Knie. Indy blieb stehen. Er hörte ein Plätschern und Fiepen im Wasser. Er hielt das Feuerzeug hoch. "Ratten!« Zwei, drei oder vier huschten vorüber. Das war nicht weiter schlimm. Doch kaum waren sie weg, kamen neue. Dann noch wel-che. Dutzende, die vom Gesims herunter ins Wasser huschten. Er achtete beim Weitergehen auf jeden Schritt. Das Wasser brodelte vor Ratten. Er überschlug ihre Zahl. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende, die in den Gang hereinströmten. Langsam wurde es ungemütlich. Er sah zu Elsa hinüber. Auf ihrem Gesicht tanzten Schatten und Licht. Sie sah eher angewidert aus als furchtsam. Er war froh. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine Frau, die beim Anblick einer Ratte in Ohnmacht fiel. Er schlug ihr vor, auf dem Sims weiterzugehen. Sie war sofort einverstanden. Der aus dem Fels geschlagene Sims war gerade breit genug, daß sie auf ihm vorankamen. Allerdings war er naß und glitschig. Sie kamen nur langsam und schrittweise voran, seitwärts mit dem Rücken zur Wand und sich an der Hand haltend. Unter ihnen wurde der quirlige Strom der vorbeieilenden Ratten immer dichter. Gelegentlich mußte Indy noch einige vom Sims stoßen. Zumindest waren es keine Schlangen. Seit er damals als Junge in ein ganzes Schlangenknäuel gefallen war, hatte er eine Aversion gegen Schlangen. Und doch war er vor ein paar Jahren auf seiner Suche nach der Bundeslade wieder in einer Schlangengrube gelandet. Bis auf diesen Tag hatte er Alpträume davon. Auch jetzt begann sein Adrenalinspiegel zu steigen. Gefahr war ja immer eine zweischneidige Erfahrung. Gespannte Erwartung auf der einen Seite, Streß auf der anderen. Er drückte Elsas Hand und lächelte in sich hinein. Wenn er schon durch eine glitschige. rattenübersäte Katakombe kriechen mußte, dann war es doch immerhin ein Trost, eine Begleiterin wie Elsa Schneider zu haben. Sie war intelligent und hübsch dazu, und schien die einigermaßen anstrengenden Umstände hier mit nicht weniger Courage zu ertragen als er selbst. Das gefiel ihm schon mal. Dazu kam, daß die ge-meinsamen Erlebnisse hier auch Bindungen schufen, und diese Aussicht war ihm gar nicht unangenehm. Es konnte sich allerlei daraus entwickeln. Vorausgesetzt natürlich, sie überlebten ihre Exkursion erst einmal. Begegnungen mit schönen Frauen unter exotischen und sogar gefährlichen Umständen waren immerhin keine alltäglichErlebnisse und in seinem Beruf schon gar nicht. Sie waren freilich auch nicht geeignet, in seinen Universitäts-Vorlesungen erwähnt werden. Aber eines Tages würde er vielleicht ein Buch schreiben, in dem die interessanteren Aspekte von »Exkursionen« zu Abenteuergeschichten mit Blicken hinter die Kulissen wurden... Der Gang machte eine Biegung und öffnete sich in eine große Kammer, in der ebenfalls schwarzes, schmieriges Wasser stand, die aber immerhin rattenfrei zu sein schien. Ihre Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Das Feuerzeug war kaum noch nötig. Sie blieben kurz stehen und blickten schweigend zur Mitte der Höhle. Über den Wasserspiegel erhob sich ein steinerner Sok-kel mit einigen alten Särgen darauf. Ein »Insel-Altar«, dachte Indy. Sie wateten hinüber. Das stinkende Wasser wurde mit jedem Schritt tiefer. Es war bereits knietief, als sie immer noch gute fünfzehn Meter entfernt waren. »Seien Sie vorsichtig«, sagte Indy. »Bleiben Sie dicht hinter mir. Der Grund ist glitschig.« Er hatte es kaum ausgesprochen, als er selbst ausrutschte und hinfiel. Er kam wieder hoch, lächelte verlegen und sagte: »Sehen Sie? Das meinte ich.« Erging weiter, aber schon beim nächsten Schritt stand er bis zur Brust im Wasser. »Ist nur Wasser. Kommen Sie.« Sie bewegten sich vorsichtig weiter voran. Das Wasser blieb nun gleich tief. Es reichte Indy bis an die Brust, aber Elsa bis zu den Schulter. "Wenn es noch tiefer wird«, sagte sie, »steige ich Ihnen huckepack auf die Schultern.« "Wunderbar. Nur, wem steige ich dann selbst huckepack auf die Schultern?« Doch sie gelangten zum Sockel und kletterten hinauf. Ihr Tri-umphgefühl ließ sie alles Wasser und alle Ratten vergessen. Sie begannen, diealten, verzierten Särge zu untersuchen, die aus Eichenholz waren und von gravierten Metallbändern zusammengehalten wurden. »Einer von ihnen muß es sein«, sagte Indy. Elsa deutete auf einen. »Der da.« Er nickte stumm. Er hatte zwar seine Zweifel daran, ob sie recht hatte, aber sie schien sich ihrer Sache jedenfalls sicher zu sein »Glauben Sie mir nicht? Sehen Sie sich die Schnitzereien hier an und die Schnörkelverzierungen. Sie sind das Werk von Menschen die daran glaubten, daß Gottesverehrung und Schönheit identisch sind.« Sie legte ihre
Hand sanft und vorsichtig auf den Sarg. Er beugte sich vor und versuchte den Deckel zu öffnen. Sie half ihm dabei. Er knarrte, als er sich tatsächlich langsam hob. Dann rutschte er plötzlich ab und fiel polternd auf den Steinsockel. Im Sarg lag eine verrostete Ritterrüstung mit kunstvoll verziertem Schild. Das Visier des Helms stand offen, und aus ihm starrten die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels. »Das ist unser Ritter!« sagte Elsa fast feierlich. »Sehen Sie sich die Ornamente auf dem Schild an. Es sind dieselben wie auf Donovans Gralstafel.« Indy war überwältigt. Er packte Elsa am Arm, und die Worte sprudelten aus ihm heraus. »Und das ist der zweite Wegweiser. Wir haben ihn tatsächlich gefunden!« »Wenn er nur hier wäre und dies selbst sehen könnte!« »Donovan?« »Was denn. Ihr Vater natürlich! Stellen Sie sich vor, wie überwältigt er erst wäre!« Indy sah sich in der Kammer um und versuchte, sich seinen Vater hier vorzustellen. Es ging nicht. Er konnte sich seinen Vater nur in Bibliotheken vorstellen. Sie waren das Ziel aller seiner wis-senschaftlichen Exkursionen. Er sagte: »Ja, zu Tode überwältigt.« Dann beugte er sich wieder über den Sarg und wischte Staub und Rost vom Schild des Gralsritters. Sein Enthusiasmus war eine Sache, eine andere die nicht zu verdrängende, schwierige und pro-blematische Beziehung zu seinem Vater in der Vergangenheit. »Er wäre bei all den Ratten nie bis hierher vorgedrungen. Er haßt Rat-ten Er fürchtet sich zu Tode vor ihnen.« Ein Vorfall aus seiner Kindheit fiel ihm ein. »Das dürfen Sie mir glauben. Niemand weiß es besser als ich. Wir hatten mal eine im Keller, und was meinen Sie, wer runter mußte, um sie totzuschlagen? Und damals war ich erst sechs." Er zog das Blatt mit der Skizze der Gralstafel aus seinem Hemd, entfaltete es und legte es auf den Schild. Identisch. Sogar der obere Teil, der auf der Tafel fehlte, war auf dem Schild vorhanden. »Se-hen Sie sich das an. Es ist völlig identisch. Wir haben es.« Elsa deutete auf das Blatt. »Wo haben Sie das her?« »Geschäftsgeheimnis.« »Ah? Ich dachte, wir seien Partner?« das klang ein wenig verstimmt. Er sah sie an. Er hatte bereits be-gonnen, den fehlenden oberen Teil der Tafel auf seiner Skizze von dem Schild zu ergänzen. Er lächelte. »Nun ja, nehmen Sie es mir nicht übel. Aber wir haben uns eben erst kennengelernt.« Und er zeichnete weiter. "Dr. Jones«, sagte sie, »hier ist nicht der Zeitpunkt für profes-sionelle Rivalität. Ihr Vater ist verschwunden. Sehr gut möglich, daß er in ernster Gefahr ist. Und hier. . .« Sein Kopf fuhr hoch. »Still!« Er hob die Hand und bedeutete ihr zu warten. Er sah sich um und horchte. Irgend etwas war. Aus der Ferne kamen seltsame Geräusche. Sie wurden lauter und näherten sich. Wieder Ratten. Und da erschien bereits eine Woge von tanzenden Lichtern an den Wänden der Katakombe. Und gleich darauf waren nicht nur ihre Augen, sondern auch die Ratten selbst zu sehen. Eine wahre Sturzflut von ihnen ergoß sich aus dem engen Gang in die Kammer, in das Wasser und wie eine Sturmwelle auf ihren Sockel zu . Binnen Sekunden spülten die Ratten über den Sockel und alle Särge, ein in sich wogender, sich überstürzender Brecher. Und nun sahen sie auch, was diese panische Rattenflucht verursacht hatte. Ein gewaltiges Feuer kam um die Ecke auf sie zu. Der Petro-leumschlick auf dem Wasser nährte es, und es verschlang den gan-zen Sauerstoff. Ein elementares Ungeheuer, das alles fraß, was ihm in den Weg kam. Schon war es in ihrer Kammer und züngelte auf sie zu. Elsa schrie auf. Indy stopfte sich sein Skizzenblatt hastig ins Hemd, drückte sich mit dem Rücken gegen den Altar und stieß den Sarg mit den Füßen weg. Er polterte hinunter auf den Sockel und von dort ins Wasser, sank und kam wieder hoch. »Spring!« schrie er. Elsa war wie gelähmt. Er packte sie an der Hand und zog sie mit sich. Sie platschten nur Zentimeter von dem schaukelnden, umgekippten Sarg ins Wasser. Flammen züngelten um sie herum und versengten die quiekenden Ratten. Er hielt sich am Sarg fest. »Unter ihn runter!« keuchte er. »Schnell. Lufttasche.« Als Elsa noch immer zögerte, drückte er ihr mit der Hand den Kopf hinunter und zog sie mit sich unter den Sarg. Sie kam in dessen Lufttasche hustend und spuckend an die Oberfläche und strich sich das Haar aus dem Gesicht, um etwas zu sehen. Der Atem blieb ihr weg, als sie sich direkt dem gespenstischen Totenkopf des Gralsritters aus dem Sarg gegenüber sah, der sich abgelöst hatte, während die Rüstung noch wie festgeklebt im Sarg hing. Indy kam neben ihr hoch, schnitt eine Grimasse vor dem Toten-köpf und mühte sich dann, die Rüstung zu lösen. Er brach sie aus dem Sarg und drückte sie nach unten weg. Doch auch in ihr hatten sich Lufttaschen gebildet. Der Totenkopf trieb nach oben und starrte sie von dort aus blind an. »Hau ab!« schrie er und hämmerte mit der Faust wütend auf den Schädel, bis die Luft daraus entwich und der Totenkopf langsam unterging. Er stieß auch die Rüstung fort, die wegtrieb. Die Hitze stieg. Hunderte von Ratten hatten sich inzwischen auf den treibenden Sarg hinauf gerettet. Das Kratzen ihrer Krallen und ihr panisches Gefiepe machten einen ohrenbetäubenden Lärm Der Sarg schaukelte heftig auf und ab und begann unter dem Gewicht der Ratten zu sinken. Einige von ihnen waren auch schon
quiekend und panisch innen hereingekommen. »O mein Gott!« stöhnte Elsa und schlug nach einer Ratte, die direkt auf sie zukam, dann nach einer anderen, die von hinten her bereits auf ihrer Schulter saß. Die Ratten schienen buchstäblich überall zu sein. Ratten, soweit man sehen konnte, und kein Ende. Und sie waren in Panik und bissen nach allem, was in ihre Nähe kam. Indy hieb allen, die auf ihn eindrangen, auf die Schnauze. Über ihnen rieselten Sägespäne. Legionen von Ratten auf dem Sarg versuchten, sich nach unten durchzunagen. Eine fiel bereits durch ein Loch herab. Mehrere andere folgten und platschten auf sie herunter. Es gab brennende Ratten. Wenn sie auf das Wasser platschten, zischte es auf. Der Gestank verbrannten Rattenfleisches und von Rattenfellen füllte rasch den ganzen Sarg. Die Feuerhitze drückte auf sie herunter und saugte alle Luft an, so daß sie allmählich zu er-sticken glaubten. Indy hustete und rieb sich ein Auge. Elsa schrie auf, als sie gebissen wurde. Viel länger kann es jetzt nicht mehr dauern. Unmöglich. »Der Sarg brennt!« überschrie Elsa das Rattengequieke. "Ade, ihr Ratten!« sagte Indy und versuchte gleichmütig zu tun. Doch er wußte natürlich, daß ihre Lage verzweifelt war. » Können Sie schwimmen?« Olympiamannschaft Österreich 1932, Schwimmen. Silberme-daille, 50 Meter Freistil.« "Ganz einfach ja oder nein hätte ja genüg. Holen Sie tief Luft. Wir müssen unter dem Feuer wegtauchen.« Sie holten Atem und tauchten unter. Während er schwamm. überlegte Indy, wie das Feuer entstanden sein konnte. Vielleicht von einem Funken des Feuerzeugs? Aber das hätten sie doch viel früher bemerkt. Dreißig Sekunden. War ihnen etwa jemand gefolgt? Und wenn ja, was war dann aus Brody geworden? Fünfundvierzig Sekunden. Er tastete nach den Wänden der Kammer. Er folgte einem schwachen Lichtschein nach links. Eine Minute. Der Lichtschein kam durch einen Regenabfluß in der Seiten wand. Er verhielt und sah sich nach Elsa um. Das Licht mußte direkt vom Freien kommen. Aber konnten sie sich auch durchzwängen? Er schwamm in den Abflußkanal hinein. Nach kaum zwanzig Metern war er direkt unter einem Schacht, durch den Licht hereinfiel. Die Öffnung war gerade groß genug, um mit den Schultern durchzukommen. Er blickte noch einmal hinter sich auf Elsa, deutete auf das Loch und gab ihr zu verstehen, aufzutauchen. Sie schüttelte jedoch den Kopf und bedeutete ihm, zuerst zu gehen. Es gab keine Zeit, darüber zu diskutieren. Sie waren schon mindestens eineinhalb Minuten unter Wasser, vielleicht sogar noch länger, und seine Lungen schienen kurz vor dem Platzen zu sein. Er stieß sich heftig ab, schoß empor und kam aus dem Wasser. Er japste nach Luft. Noch nie war Luft so etwas Schönes gewesen. Gleich danach kam auch Elsa neben ihm hoch. Zu seiner Verblüffung schien sie nicht einmal besonders außer Atem zu sein. Er sah nach oben. Sie waren in einem Schacht, der etwa sieben Meter hoch direkt ans Tageslicht führte. Er stemmte sich mit Rücken und Füßen ein und begann das Kaminklettern aufwärts. Elsa kam auf gleiche Weise hinterher. »Fallen Sie nur nicht auf mich runter«, rief sie ihm zu. »Die Absicht habe ich eigentlich nicht«, antwortete er. Er sah nur ein einziges Mal zu ihr hinunter. Sie sah wie eine Art Krabbe aus, als sie sich so unter ihm hocharbeitete. Ihr blondes Haar war naß und hing ihr in Strähnen ins Gesicht. Sie spürte seinen Blick, hob den Kopf nach oben und lächelte ihm zu. Er kicherte und schob sich weiter aufwärts. Als er ganz oben war, versuchte er, den Gully anzuheben. Er hob sich nur ein wenig und fiel dann zurück. Er versuchte es noch einmal, mit ebensowenig Erfolg. Er sah Füße, die darüber hingingen, und begann zu rufen. Jemand blickte herab. Er rief dem Mann zu, den Gullydeckel hochzuheben. Der Mann tat es und reichte ihm die Hand herab. Sobald er draußen stand, beugte er sich in den Kanalschacht nach Elsa hinab und rief ihr zu, seine Hand zu fassen. Er zog sie heraus. Sie standen auf der Straße. Der Mann sah sie verwundert an und fragte auf italienisch, ob alles in Ordnung sei. Elsa antwortete ihm mit ganz überzeugender Stimme. Ja, doch, alles sei in bester Ordnung. Indy sah sich um. Sie waren an der Ecke des Markusplatzes, nur ein paar Schritte von einem Straßencafe entfernt, wo Leute saßen und sich angeregt miteinander unterhielten. Er betrachtete das Postkartenmotiv lange und lächelte dann. »Ach, Venedig!« Seine wiedergekehrte gute Laune war jedoch nur von kurzer Dauer.
Todesagenten Indy riß sich von dem Anblick der schnatternden Cafegäste los und wandte sich dem Mann zu, der ihnen geholfen hatte, um sich zu bedanken. Aber irgend etwas stimmte nicht. Im Gegensatz zu allen anderen Leuten galt dessen Aufmerksamkeit längst nicht mehr ihnen, sondern etwas anderem. Er starrte über den Platz auf die
andere Seite, wo die Bibliothek war. Als Indy seinem Blick folgte, sah er, daß von dort vier Männer in ihre Richtung gerannt kamen. Der erste trug einen Fez. Und dann sah er noch etwas. Einer von ihnen hatte eine Maschinenpistole. »Oh, verdammt.« Mit einem Schlag fügte sich das Bild zusammen. Die schnellen Schritte, die er gehört hatte, sobald Brody die Bodenplatte über ihnen wieder eingelegt hatte; seine Überlegungen über die Ursache des Feuers in den Katakomben; und die Richtung, aus der die vier Männer hier gerannt kamen. Er hatte den ganz unfehlbaren Ein-druck, daß sie selbst das Ziel ihrer Jagd waren. Er packte Elsa an der Hand und rannte mit ihr in die entgegen-gesetzte Richtung auf den Canale Grande zu. Elsa wußte nicht, was los war, und rief hinter ihm widerstre-bend: »Was ist denn? Sind Sie übergeschnappt?« Er zerrte an ihrer Hand. »Ein paar liebe Menschen sind uns auf den Fersen.« Er sprang in das nächste Motorboot und zog am Anlasser: Der Motor stotterte und starb ab. »Machen Sie schnell, Indy. Sie sind schon fast...« Er zog noch einmal. Diesmal sprang der Motor an. Er legte den Gang ein. Das Boot machte einen Satz vorwärts. Elsa schrie. Er nahm etwas Gas weg und blickte sich um - gerade rechtzeitig noch, um einen Faustschlag abblocken zu können. Einer der vier Verfolger war im gleichen Moment, als er losfuhr, noch mit einem Satz ins Boot hereingesprungen. Das Boot schwankte mächtig, als sie einen Boxkampf begannen. Elsa kroch an ihnen vorbei zum Steuer, warf es heftig herum und konnte eben noch einen Zusammenstoß mit einigen Gondeln vermeiden. Die Gondolieri hörten erschreckt zu singen auf und schüttelten Fäuste hinter ihnen her, als Sei in einer wilden Jagd durch den Kanal brausten. Eine der Gondeln kenterte sogar in ihrer scharfen Bugwelle. »Entschuldigung!« rief Elsa. Mittlerweile schlug sich Indy so gut, wie es in dem rasenden und haukelnden Boot ging. Er bekam einen mächtigen Haken in den Magen und ging, sich die Rippen haltend, zu Boden. Der Angreifer setzte sofort nach, um ihm den entscheidenden Schlag zu versetzen, doch diesmal schlug Indy zuerst. Er erwischte den Angreifer glatt und trocken am Kinn, so daß er zurücktaumelte und über Bord fiel. Er wischte sich die Hände ab. Es wäre ihm lieber gewesen, der Mann wäre nicht aus dem Boot gefallen. Dann hätte er ihn ausfragen können, nachdem er ihn überwältigt hatte. Natürlich war sehr fraglich, ob der Mann in dieser Hinsicht sehr kooperativ gewesen wäre. »Das wäre damit ja wohl erledigt«, rief er zu Elsa vor. »Darüber würde ich lieber noch einmal nachdenken!« schrie sie zurück. Hinter ihnen kamen zwei Rennboote rasch näher. Er griff nach dem Steuerrad. »Lassen Sie mich mal...« »Moment noch, bis ich...« Er blickte hoch, und das Kinn fiel ihm herunter. Direkt vor ihnen kam ein großer Dampfer auf sie zu. Er befand sich mitten im Anlegemanöver an die Pier, und der Abstand zwischen Schiff und Land wurde immer kleiner. »Sind Sie wahnsinnig?« schrie er. »Sie können doch da nicht zwischendurch! Das schaffen wir nie!« Elsa verstand ihn nur bruchstückhaft. »Zwischendurch soll ich? Sind Sie wahnsinnig?« Er schüttelte verwirrt den Kopf. Er machte noch einmal einen Schritt auf das Steuerrad zu, doch Elsa hatte das Boot bereits auf den gefährlichen Kurs zwischen Dampfer und Pier gebracht. Er winkte wild mit den Armen. »Nein, Elsa! Ich sagte, Drumherum!" »Sie sagten Zwischendurch!« »Sagte ich nicht!« Mittlerweile war die Diskussion akademisch. Sie waren bereits in der Schlucht zwischen Dampferrumpf auf der einen und Pier auf der anderen Seite. Indy duckte sich hinunter, hielt sich an der Bootsseite fest und schloß die Augen; er erwartete das Krachen jede Sekunde. Widerliches, metallisches Kreischen. Doch sie waren noch immer ganz. Er machte die Augen auf und blickte nach hinten. Eines der Verfolgerboote war dem Dampfer voll in die Seite gekracht. Er atmete erleichtert auf. Zu früh. In der nächsten Sekunde sah er das zweite Boot hinter der anderen Seite des Dampfers hervorschießen. »Lassen Sie mich jetzt machen«, sagte er und übernahm endgül-tig das Steuerrad. »Sie machen mir Angst.« Er warf das Ruder scharf nach rechts herum, um einen Ausrei-ßerhaken zu schlagen. Das Boot wendete mit einem Satz. Doch das verfolgende Rennboot machte es spielend nach. Es holte wei-ter auf und näherte sich ihnen auf der linken Seite. »Na schön, Jungs«, knurrte Indy. »Dann wollen wir doch mal sehen, aus welchem Holz ihr geschnitzt seid.« Er drehte das Steuer scharf links herum, in der Hoffnung, das andere Boot an die Kanalseite drängen zu können. Doch nun be-gann plötzlich eine MP zu knattern. Holzsplitter vom Boot flogen durch die Luft. Okay. Verstanden. Schon gut. Er begann im schnellen Zickzackkurs vor dem Verfolgerboot herzufahren. Sie wurden aber weiter beschossen. Und der Motor wurde getroffen. Er begann zu stottern und zu spucken und erstarb. Indy griff sich seine Pistole und schoß sein Magazin leer.
"Aufpassen, Indy!« »Was ist?" Elsa zeigte seitwärts. Sie trieben genau auf die riesige rotierende Schraube am Heck eines anderen Dampfers zu. Das Verfolgerboot kam heran. Einer der Männer auf ihm hatte MP im Anschlag. Der andere, der hinter dem Steuer stand, erhob sich und lächelte Indy zu. Er war dunkelhäutig, vermutlich Ende dreißig, mit Schnäuzer und schwarzen, welligen Haaren unter seinem Fez. Seine dunklen, stechenden Augen schienen Indy zu durchbohren. Sein Boot stieß gegen das ihre und trieb sie der laufenden Schiffsschraube noch näher. Indy war schon beinahe zu erschöpft zum Nachdenken. Er hatte immerhin einiges hinter sich. Er hatte einen alten Code entziffert, sich in Schlickwasser Armeen von Ratten erwehrt und war nur knapp einem Brand entgangen. Danach noch die Flucht und der anschließende Boxkampf hier auf dem Wasser. Das alles hintereinander weg, fast ohne Pause. Er starrte den Mann im anderen Boot an und wollte eigentlich nur noch wissen, was zum Teufel hier überhaupt vorging. Brody fiel ihm wieder ein. »Was ist mit meinem Freund in der Bibliothek geschehen?« Der andere lachte auf. Seine Augen waren unergründlich und verrieten nichts. »Ihrem Freund passiert nichts. Sorgen Sie sich lieber um sich selbst.« Sie waren der Dampfer-Schiffsschraube jetzt schon verteufelt nahe. »Wer sind Sie überhaupt, und was wollen Sie?« »Kazim ist mein Name. Und ich bin hinter derselben Sache her wie Sie, mein Freund.« »Freunde wie Sie haben mir grade noch gefehlt. Und wovon reden Sie eigentlich?« »Ach Gott, Dr. Jones, das wissen Sie doch sehr gut.« Das Boot begann in dem aufgewühlten Wasser nahe der Schiffsschraube heftig zu schaukeln. Indy drehte sich zu Elsa um und bedeutete ihr mit den Augen, daß es Zeit zum Handeln sei »Genug geschwatzt«, versuchte Kazim den Lärm der Schiffsschraube, die das Wasser peitschte, zu überschreien. »Mehr Glück im nächsten Leben!« Und er bedeutete dem Mann mit der Maschinenpistole, seine Arbeit zu tun. In dieser Sekunde sprang Elsa auf das andere Boot hinüber und lenkte so den Mann mit der MP für einen Augenblick ab. Da war auch Indy bereits hinübergesprungen und riß Arm unter der MP hoch, so daß deren Schüsse ins Leere nach oben gingen. Während sie noch um die Waffe kämpften, ging der Motor an. Das Boot schoß mit einem Satz nach vorne, und Indy verlor das Gleichgewicht. Er fiel über die Bordwand, konnte aber den MP-Schützen mit sich reißen. Er ließ ihn los und begann, so schnell es nur ging, aus dem gefährlichen Sog der Dampferschraube weg-zuschwimmen. Der Schütze kämpfte verzweifelt und panisch Wasser und schrie um Hilfe. Hinter ihm hörte man malmende und knirschende Geräusche Ihr Fluchtboot war von der Schiffsschraube erfaßt worden und wurde buchstäblich von ihr zermahlen. Die gewaltige Schraube schnitt es mit ohrenbetäubendem Krach mühelos entzwei, als wäre es nur ein Stück Balsaholz. Bootstrümmer wirbelten wie Sä-gespäne durch die Luft. Kazim fuhr mit seinem Rennboot einen Bogen und kam, so nahe es ging, an den Dampfer heran. Indy schwamm hin. Elsa beugte sich aus dem Boot und streckte ihm die Hand entgegen, bis er sie zu fassen bekam. Der mit der MP hatte weniger Glück. Er konnte dem unwider-stehlichen Sog der Schiffsschraube nicht mehr entkommen. Er war bereits in nächster Nähe des Maelstroms. Er schrie Kazim verzweifelt zu, doch es war zu spät. Als Indy wieder zu ihm hin-blicket, erfaßten ihn gerade die rotierenden Blätter der Schiffsschraube. Mit einem Schlag schäumte das Wasser rot. Kazim gab Gas und sauste mit dem Boot weg aus der gefährli-chen Nähe des Dampfersogs. Er fuhr im Zickzack, um Indy abzuschütteln. Aber Elsa hielt seinen Arm eisern fest und zog ihn schließlich so nahe heran, daß er sich am Boot festklammern konnte, Mit letzter Kraftanstrengung hievte er sich nach kurzem Verschnaufen in das Boot zurück und lag erstmal nach Luft japsend am Boden. Als er aufblickte, sah er Kazim seine Waffe laden, während er gleichzeitig das Boot steuerte. Er kroch vorwärts und stieß Kazim gegen das Steuer. Das Boot drehte sich um 180 Grad und fuhr wieder auf den Dampfer zu. »Wir fahren zurück, Indy...!« Noch ehe Elsa ausgeredet hatte, war er am Anlasser, schaltete ihn ab und zog den Zündschlüssel. Dann drückte er Kazim den Daumen an die Kehle. »So, Mr. Kazim, wir werden uns jetzt ein wenig unterhalten.« Als Indy den Druck auf seine Kehle etwas nachließ, stammelte Kazim: »Sie sind ein Narr, Mann!« Er versuchte ernsthaft und würdevoll zu klingen. »Was führen Sie denn da auf, Mr. Jones? Haben Sie den Verstand verloren?« »Wo ist mein Vater?« »So lassen Sie mich doch los... Bitte!« »Wo mein Vater ist?« »Wenn Sie mich nicht loslassen, Dr. Jones, kommen wir beide um. Wir treiben wieder auf den Dampfer zu.« In der Tat war das Dröhnen und Klatschen der Schraube des großen Schiffes nicht zu überhören. Indy machte
sich indessen nicht einmal die Mühe, hinzusehen. Seine Augen waren aufgerissen: »Gut, dann kommen wir eben um.« »Meine Seele ist vorbereitet, Dr. Jones.« Kazims Stimme war ruhig und glatt wie Creme. »Aber wie steht es mit Ihnen? Sind Sie seelisch darauf vorbereitet?« Indy packte ihn hart am Hemd. »Verdammt noch mal, begreifen Sie das nicht? Das hier ist Ihre letzte Chance!« Das Hemd begann zu reißen. Es entblößte eine Tätowierung auf Kazims Brust. Ein christliches Kreuz, das unten spitz wie ein Schwert zulief. Kazim starrte ihn herausfordernd und ganz ruhig an. »Was bedeutet das denn da?« fragte Indy. Kazim hob den Kopf. »Das ist ein altes Familiensymbol. Meine Vorfahren waren Fürsten eines Reiches, das sich von Marokko bis zum zum Kaspischen Meer erstreckte.« »Allah sei gepriesen«, sagte Indy gelassen. »Ich danke Ihnen«, entgegnete Kazim ganz ernsthaft "und möge Gott Sie ebenfalls erretten. Doch ich sprach von dem christlichen lbyzantinischen Reich.« Indy lächelte betont. »Aber natürlich. Und warum haberi Sie versucht mich zu töten?« Elsa tippte ihm auf die Schulter. »Hören Sie, Indy, Sie bringen uns noch alle drei um, wenn wir nicht endlich hier wegkommen!" »Seien Sie ruhig!« befahl er ungehalten. »Kommen Sie, Mr. Ka-zim. Erzählen Sie weiter. Es fing gerade an, interessant zu wer-den.« »Das Geheimnis des Grals wurde tausend Jahre lang gewahrt. Und in dieser ganzen Zeit stand die Bruderschaft des kreuzförmigen Schwertes bereit, damit es auch weiterhin so blieb.« »Die Bruderschaft des kreuzförmigen Schwertes?« fragte Elsa. Auch sie schien plötzlich die prekäre Situation, in der sie alle waren, völlig vergessen zu haben, und war ganz Interesse. Als sich Indy die Tätowierung auf der Brust Kazims noch näher besah, verengten sich seine Augen. Er blickte Kazim lange an. Das Dröhnen der Schiffsschraube war bereits wieder genauso laut wie vorhin, als er im Wasser gewesen war. "Fragen Sie sich selbst«, sagte Kazim, »warum Sie den Kelch Christi suchen. Zu seiner höheren Ehre - oder zu Ihrer eigenen?" "Ich bin nicht wegen des Kelchs Christi hier, sondern um mei-nen Vater zu finden.« Kazim nickte und blickte über Indys Schulter hinweg auf den Dampfer. »Möge Ihnen in diesem Falle Gott beistehen! Ihr Vater wird auf Schloß Brunwald an der deutsch-österreichischen Grenze gefangengehalten.« Indy stieß ihn abrupt beiseite und steckte hastig den Zündschlüssel ein. Über das Boot wehten bereits die Wasserschleier von der riesigen Schiffsschraube des Dampfers. Er ließ den Motor an, der stotterte und abwürgte. »Na los, komm schon!« Er versuchte es noch einmal, und diesmal sprang der Motor an. Nur knapp bevor die Schraubenblätter des Dampfers sich in die Bootswand gefräst hätten, jagte er das Boot davon. »Sie sind ja gemeingefährlich!« schrie ihm Elsa zu. Sie war zornrot angelaufen und sah aus, als hätte sie einen Sonnenbrand. »Sie hätten uns alle um ein Haar umgebracht!« Er lächelte. »Ja, ich weiß. Aber dafür habe ich herausbekommen, was ich wissen wollte. Fragen Sie Kazim, wo wir ihn absetzen sollen.« Er war in Gedanken bereits weit voraus.
Bei Donovan !ndy hatte heiß geduscht, gegessen und neun Stunden geschlafen. Jetzt sah er sich erst einmal in der Wohnung um, die ihnen Dono-van für die Dauer ihres Aufenthalts in Venedig zur Verfügung gestellt hatte. »Wohnung« war leicht untertrieben. Es handelte sich um einen regelrechten Palast. Die Decken waren gewölbt, die Fußböden aus dicken Marmor-platten. Die antiken Möbel mußten allein ein Vermögen wert sein. Es gab einen Innenhof, Balkone und insgesamt mindestens ein Dutzend Räume. An den Wänden hingen berühmte Gemälde aus dem 16. Jahrhundert: Veroneses, Tintorettos und Tizians, dazu eine Anzahl anderer, die vor allem von historischem Wert waren Die meisten dieser Gemälde waren offensichtlich angefertigt worden, um die Eitelkeit der Adeligen des 16. Jahrhundert zu be-friedigen, die den Großteil ihrer Zeit damit verbracht hatten, ihren hohen Besuchern ihren Wohlstand und ihre Unabhängigkei vor- zuführen. Indy lächelte. Ihm kam der Gedanke, daß Donovan aus dem gleichen Holz geschnitzt war; ein Geldadeliger des 20. Jahrhunderts... Es war schon alles sehr eindrucksvoll, wenn auch ein wenig zu prätentiös für eine Privatwohnung. Einige der Kunstwerkee wären sicher besser in Museen aufgehoben gewesen, wo sie der Allge-meinheit zugänglich sein würden. In gewisser Weise fand er es ge-radezu anstößig, daß eine solche Ansammlung bedeutender Kunstwerke nur einigen wenigen, die in diese Räume käme, vor-behalten sein sollten. Er ging in die Bibliothek. Alle vier Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Buchregalen vollgestellt. Sehr
eindrucksvoll, dachte er. Sein Vater wäre hingerissen gewesen. Er griff aufs Geratewohl irgendwo hinein und hatte einen Band mit dem Titel Das Gemein-wesen von Oceana von James Harrington in der Hand. Eine Ori-ginalausgabe von 1656. Er schlug an einer eingemerkten Stelle auf und las einen Satz mit einer Beschreibung Venedigs. »Und so ver-mochte sich kein anderes Gemeinwesen der Ruhe und desFrie-dens derart ungestört und dauerhaft erfreuen wie das gesegnete Venedig.« Richtig, dachte er leicht amüsiert. Ruhe und Frieden. Aber in drei Jahrhunderten hatten sich die Dinge doch ein klein wenig verändert. Wie zum Beispiel die Szene mit den brutalen Faschisten, die er mitangesehen hatte. Er rieb sich geistesabwesend seine mitgenommenen Rippen und versuchte, nicht allzusehr an seine eigenen. kaum geruhsamen Erlebnisse in dieser Stadt zu denken. Mochte ja sein, daß diese Stadt für manche Leute auch heute noch geruhsam war; für ihn jedenfalls nicht. es war allerdings auch erst sein zweiter Tag in Venedig. Noch erholten sie sich alle drei von den gestrigen Ereignissen, die sich geradezu überschlagen hatten. Brody hatte eine beachtliche Beule am Hinterkopf, wo er niedergeschlagen worden war, und Indy selbst brauchte Erholung von seiner Mischung aus Reise- und Kampfeserschöpfung. Sein Kinn war noch immer leicht lädiert, ebenso seine Rippen. Er hatte doch einige Hiebe abbekommen. Elsa ihrerseits hatte einige Rattenbisse auszukurieren, dazu einige Brandblasen am Arm von dem Feuer in den Katakomben. Er war stark davon beeindruckt, daß sie weder über diese Brandblasen noch über die Rattenbisse auch nur ein Wort verlor, bis sie Brody benommen in der Bibliothek herumirrend gefunden und sich mit ihm in diese Wohnung begeben hatten. Heute war sie in sich gekehrt und nachdenklich und sah ihn des öfteren an, als wollte sie etwas sagen. Doch jedesmal, wenn er versucht hatte, eine Unterhaltung anzufangen, war sie abrupt ausgewichen und hatte vorgegeben, etwas anderes zu tun zu haben. »Indy!« Brody stand in der Tür der Bibliothek. Er drückte einen Eisbeutel auf seine Kopfbeule. In der anderen Hand hielt er einen zerknüllten Zettel. »Na, wie geht's dem Kopf, Marcus?« »Jetzt, wo ich das hier gefunden habe, schon viel besser. Es ist endlich trocken. Sieh es dir mal an.« Ungeachtet des Eisbeutels schien Brody so hektisch und aufgeregt, wie ihn Indy noch nie gesehen hatte. Er kam herbei und legte den Zettel auf den massiven Mahagonitisch, der die ganze Biblio-thek beherrschte. Es war Indys eigene Skizze von dem Kreuzfah-rerschild - oder was davon übrig geblieben war. Sie war verwaschen und verblaßt, aber immer noch vollständig. Jetzt, wieder ge-trocknet, war sie einigermaßen lesbar. »Wir wissen jetzt also, daß das, was auf Donovans Gralstafel fehlt, der Name der Stadt ist, richtig?« Indy nickte. Brody deutete auf die altertümliche Schrift und konnte nicht mehr an sich halten. »Wie du siehst: Alexandretta.« »Bist du da ganz sicher?« »Aber völlig!« Indy ging zu einem der Bücherregale und suchte so lange, bis er einen alten Atlas gefunden hatte. »Was suchst du denn?« fragte Brody. »Eine Karte von Hatay.« Indy wußte, daß die Ritter des Ersten Kreuzzugs seinerseits Alexandretta über ein Jahr lang belagert hatten. Die ganze Stadt war anschließend zerstört worden. Die heutige Stadt Iskenderun an der Mittelmeerküste der kleinasiatischen Provinz Hatay war auf ihren Ruinen erbaut worden. Er fand schließlich, was er suchte, und setzte seinen Finger dar-auf. »Hier. Da ist die Wüste. Und hier die Bergkette. Exakt wie es auf der Tafel beschrieben ist. Irgendwo in diesen Bergen muß die Schlucht des Zunehmenden Mondes sein.« Er betrachtete die Karte lange. »Aber wo? Wo genau in all diesen Bergen?« »Dein Vater wüßte es«, sagte Brody ganz gelassen. »Ach ja?« »Laß mich einen Blick in sein Notizbuch werfen.« Indy reichte es ihm. »Er hat es sogar gewußt! Er wußte alles, bis auf die StadtJ der man ausgehen muß. Er hat eine Karte gezeichnet, in der nur die Namen fehlen. Hier.« Er legte das Notizbuch auf den Tisch und schlug eine mit Bleistift gezeichnete Landkarte, die über eine ganze Doppelseite ging, auf. Indy hatte sie schon beim Durchblättern im Flugzeug gesehen, aber da keine Namen eingetragen waren, nicht weiter beachtet. Brodys Finger wanderte quer darüber. »Vermutlich hat Henry sie sich aus hundert verschiedenen Quellen, die er im Laufe von vierzig Jahren ausfindig machte, zusammengesetzt.« »la, aber was stellt es dar?« fragte Indy, obwohl er bereits eine einigermaßen begründete Ahnung zu haben glaubte. »Einen Weg ostwärts, von der Stadt weg, durch die Wüste und bis zu einer Oase; dann nach Süden bis zu einem Flußlauf, der hinauf in die Berge führt, hier. Und dann in eine Schlucht hinein. Weil er aber keine Namen hatte,
konnte er auch nicht wissen, welche Stadt der Ausgangspunkt war. Oder um welche Wüste es ging. Oder welchen Fluß.« Und jetzt wußten sie es; was immer dies seinem Vater nützen mochte oder nicht. »Ich bin sicher, diese Kartenskizze reicht aus, um die Stelle zu finden. Indy, ich werde sie suchen.« Brody blickte ihn feierlich an. Seine Entdeckung hatte ihn beflügelt. »Und ich nehme doch an, du kommst mit.« Doch Indy schüttelte den Kopf und klappte das Gralstagebuch zu. »Ich suche erst Dad. Und dazu breche ich gleich morgen früh auf. Nach Österreich.« Brody nickte verständnisvoll. »Selbstverständlich. Daran hatte ich im Augenblick überhaupt nicht mehr gedacht. Ich hätte...« »Nein, nein. Zieh nur ruhig los, Marcus. Ich... wir kommen später nach.« »Sicher?« »Ganz sicher.« Brody schwieg eine Weile, als überlegte er, ob er auch alles rich-tig gemacht habe. Dann hellte sich seine Miene auf. »Na ja, da haben wir ja noch ein paar Stunden für Venedig. Wollen wir sie doch ausnützen. Ich möchte unbedingt in die Galleria dell'Accademia Sie besitzt die beste Sammlung venezianischer Malerei überhaupt. Gehen wir?« »Meinst du, du schaffst das?« Brody nahm den Eisbeutel vom Kopf. »Mir geht's soweit gut. Weißt du, daß sie dort Sachen haben wie den >Sturm< von Georgione oder den Ursula-Zyklus von Carpaccio und die >Heimsuchung Mariä< von Tizian? Die haben schlicht alles«, sagte er ehr-fürchtig, »von den ersten Meistern des vierzehnten Jahrhunderts bis zu den großen Sachen aus der Mitte des achtzehnten.«. »Also gehen wir, in Gottes Namen«, sagte Indy. »Ich frage nur noch schnell Elsa, ob sie mitkommen will.« Doch Elsa schien sich nicht recht aufraffen zu können. Es war, als litte sie an einem Schock mit verzögerter Wirkung, die erst jetzt zum Tragen kam. Oder vielleicht war es auch nur eine einfache Depression; als sei die Tatsache, daß sie alles überlebt hatten, irgendwie entmutigend. »Ich glaube, ich lasse es lieber«, sagte sie schließlich nach einiger Überlegung. »Ich gehe nachher nur ein paar Sachen zum Essen einkaufen. Einverstanden?« »Wollen Sie lieber Gesellschaft haben?« Es hätte ihm überhaupt nichts ausgemacht, den Nachmittag hier mit ihr zu verbringen und Brody allein ins Museum gehen zu lassen. Er hätte ihr sogar gerne in der Küche geholfen. Doch sie wehrte ab. »Nein, nein. Gehen Sie nur mit Marcus. Wir treffen uns dann hier wieder.« Na, das war's dann ja wohl mit dem romantischen Dinner, dachte er und ging sich anziehen. Sie hatten nur fünf Minuten zu Fuß von der Wohnung bis zum Ponte dell'Accademia, einer Holzbrücke über den Canale Grande. Es gab vierhundert Brücken in Venedig, aber lediglich drei über den Canale Grande. Diese Brücke war erst vor fünf Jahren gebaut worden, während der Wirtschaftskrise, und sollte auch nur provi-sorisch sein. Sie blieben oben auf dem höchsten Punkt stehen, um die Aus-sicht zu genießen. Links konnte man bis zur Basilica di San Marco sehen - einem byzantinischen Denkmal des 11. Jahrhunderts. Das Äußere dieser Kirche ging bis ins 13. Jahrhundert zurück - bis zur Brandschatzung von Byzanz während des Vierten Kreuzzugs. Nach rechts ging der Blick bis zum Palazzo Balbi, dessen Dach mehrere Obelisken krönten. »Ich habe es mir noch einmal überlegt, Marcus. Die Idee, dich allein losziehen zu lassen, ist vielleicht nicht so gut.« »Dein Vater würde es aber für richtig halten, Indy, da bin ich ganz sicher. Denn wenn wir noch länger warten, könnten uns am Ende diese gewalttätigen Leute von dieser seltsamen Bruderschaft zuvorkommen. Und wer weiß, was dann mit dem Gral passieren würde.« »Ich will dich nicht aufhalten. Aber ruf auf jeden Fall noch Sal-lah an, ehe du abreist. Er soll dich in Iskenderun treffen.« Dazu nickte Brody zustimmend. Mit Sallah waren sie beide seit langem befreundet. Als Indy in Ägypten auf der Suche nach der Bundeslade gewesen war, hatte ihm Sallah mehr als einmal das Leben gerettet. Ihn in der Begleitung Brodys auf der Suche nach dem heiligen Gral zu wissen, würde ihn sehr erleichtern. Sie verbrachten den Nachmittag in den Sälen der Accademia. Brody war ein enthusiastischer und kenntnisreicher Kunstführer. Er erläuterte ihm jedes Gemälde einzeln und merkte an, daß für die Venezianer die Renaissance in gewisser Weise eine paradoxe Sache gewesen sei. Im Gegensatz zum ganzen übrigen Italien hatten sie keine römische Überlieferung und Tradition. Ihre Stadt war an der Nahtstelle von Ost und West gegründet worden und auch an der von Antike und Mittelalter. Und so waren für Venedig die Traditionen der frühchristlichen Epoche bestimmend gewesen -und immer geblieben. Folglich war hier die Renaissance auch eher die Übernahme eines Stils und einer Absicht als eine Wiedergeburt. Und trotzdem entstanden ausgerechnet hier in Venedig einige der besten Werke der italienischen Renaissance.
Indy fand die Bilder durchaus interessant, war aber bei weitem nicht so begeistert wie Brody. Er pflegte seinen Studenten immer zu sagen, daß es zwischen Kunst und Archäologie gewisse Über-lappungen gebe; bei letzterer könnten aber sogar erhaltene Exkre-mente ebenso interessant und aussagekräftig sein wie bemalte Ke-ramiken oder feinziseliertes Gold. Nach Ablauf einer Stunde war Brody schon deutlich müde worden. Indy erinnerte ihn daran, daß seine Kopfbeule noch immer frisch sei und er lieber etwas kürzer treten solle. »Nein, nein, Indy, ich bin ganz in Ordnung. Das ist nur eine kleinere Gehirnerschütterung gewesen, und jetzt habe ich ein etwas längeres Kopfweh als Folge. Morgen früh bin ich wieder vollauf dem Damm.« Immerhin sah er ein, daß sie jetzt besser abbrachen. Auf dem Weg zurück wurde Indy immer unruhiger. Er hatte das zunehmende Gefühl, als piekten ihn ein Dutzend Nadeln den Nacken. Jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, diesem Alarmzeichen Beachtung zu schenken. Es war eine Art eingebautes Warnsignal, und mehr als einmal hatte es sich als zutreffend und nützlich erwiesen. Und seine Ahnungen bestätigten sich, sobald sie in Donovans Wohnung angekommen waren. Die Tür stand leicht offen. Er streckte erst vorsichtig den Kopf hindurch und trat dann erst zögernd ein, um sich umzusehen. »Elsa?« Aber nur sein eigenes Echo antwortete ihm. »Elsa?« rief er noch einmal, nun etwas lauter. Wieder keine Antwort. Genau wie bei Dad. Es lief ihm plötzlich kalt den Rücken hinunter. "Ich sehe in der Küche nach«, sagte Brody. Indy eilte zu seinem Zimmer und riß die Tür auf. Er war nicht mehr besonders überrascht. Es war durchsucht worden. Die Ma-tratze lag auf dem Boden, sämtliche Schubladen ebenso. O Gott. Was haben Sie mit ihr gemacht? Er rannte über den Flur zu Elsas Zimmer. Er blieb kurz davor stehen, holte Atem und drückte die Türklinke. Auch ihr Zimmer wa durchwühlt worden. Sämtliche Sachen waren aus den Schubladen und Schränken gezogen, Kleider von den Bügeln gerissen und die Bettlaken von der Matratze. Wo aber war sie selbst? Er verließ den Raum und hörte irgendwo in der Ferne eine gedämpfte Stimme. Er ging langsam und vorsichtig den Flur entlang. Die Stimme wurde lauter und deutlicher. Eine Frauenstimme. Sie sang. Im Bad. Er öffnete die Tür einen Spalt. »Elsa?« »Hallo, Indy.« Sie saß, als wäre nichts, in einem Schaumbad und lächelte ihn freundlich an. Um ihren Hals lagen Schaumblasen wie eine Kette durchsichtiger Perlen. Eine glatte, weiße Schulter ragte aus all dem Schaum hervor. »Nicht so laut, Kindchen, andere Leute möchten gern schlafen!« Erleichtert darüber, daß sie sichtlich unversehrt war, schloß er die Tür. Sollte sie ihr Bad noch zu Ende genießen. »Ich komme gleich«, rief sie ihm nach. Er kehrte in sein Zimmer zurück und besah die Bescherung erst einmal genauer. Offenbar war der Eindringling von Elsas Rückkehr vom Einkaufen überrascht worden und hatte sich versteckt. Vermutlich hatte er sich dann, als sie ins Bad ging, davongemacht. kr wartete, bis er sie trällernd aus dem Bad kommen und über den Flur gehen hörte. Er sah auf die Uhr und versuchte zu über schlagen, wieviel Zeit er ihr wohl geben mußte, bis sich ihr Träl-lern änderte. Er hörte sie aufschreien und lächelte. Er wartete, daß sie ange-laufen kam. Er hörte die Schritte. Sie riß seine Tür auf. Sie trug ei-nen Bademantel. Ihr Haar war noch naß. Das Kinn war ihr weit heruntergefallen. »Indy, in meinem Zimmer...« Er machte eine Geste rundum. »Genau wie meines.« Sie sah ihn kopfschüttelnd an. »Wonach haben sie gesucht?" »Danach.« Er holte das Gralstagebuch aus der Tasche und warf es Tisch. »Das Gralstagebuch Ihres Vaters! Sie also hatten es.« »Mhm.« »Und Sie haben mir kein Wort davon gesagt.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Sie vertrauen mir nicht.« Über ihre Schulter sah er Brody in der Tür stehen. Er signali-sierte ihm, daß alles in Ordnung sei. Brody begriff, daß es hier um eher persönliche Dinge ging, und zog sich eilends wieder zurück »Ich kannte Sie doch nicht.« Er blickte in ihre sanften Augen. Er verspürte großes Verlangen, mit dem Daumen; Mundlinie zu berühren und nachzuzeichnen. Verdammt, verteufelt schwer, ihr zu widerstehen. »Oder sagen wir mal so, vielleicht wollte ich Sie erst besser kennenlernen.« »Bei mir war es genauso.« Ihre Stimme war jetzt etwas belegt, sie atmete schwer. »Vom ersten Augenblick an.«
»Geht Ihnen das immer so?« »Nein. Sonst nie. Es ist ein angenehmes Gefühl.« Er kam näher und berührte ihr Gesicht. »Glauben Sie nicht daran, Elsa?« »Woran?« »Nun, an die gemeinsam durchstandenen Gefahren. Und daß wir sie überlebt haben. Das war's.« »Ach ja?« Sie lächelte merkwürdig. Er beugte sich zu ihr vor, faßte sie am Kinn, hob es empor und küßte sie sanft. Ihr Mund schrneckte entfernt nach Zahnpasta. Der Duft von Seife auf ihrer Haut war angenehm. Sie kam ihm entgegen und dann küßte er sie plötzlich sehr intensiv, und sie erwiderte es leidenschaftlich und voller Hingabe. »Paß auf mich auf, Indy«, flüsterte sie. Ihr Atem war warm an seinem Ohr. Er nestelte mit der Hand an ihrem Gürtel. »Du hast gestern ziemlich gut auf dich selbst aufgepaßt. Für eine Kunsthistorikerin.« »Sie wissen wohl nicht sehr viel über Kunsthistorikerinnen, wie, Dr. Jones?« »Aber ich weiß, was ich mag.« »Das freut mich, Indiana Jones.« Sie packte ihn am Hinterkopf an den Haaren, zog ihn zu sich herab und küßte ihn lange und innig, wobei sie sich eng an ihn preßte. Sie küßte so heftig, daß er sich seine Lippen an den eigenen Zähnen verletzte. Er wischte sich einen Tropfen Blut mit der Hand ab. »Du bist ja ganz schön gefährlich.« »Vielleicht. Genau wie du.« Ihre Augen blitzten auf. Sie atmete schwer und wartete auf ihn. Über ihre Lippen huschte ein Lächeln. Eine leichte Brise kam durch das offene Fenster und wehte durch ihr Haar. Irgendwo sang ein Gondoliere. »Ach, Venedig«, sagte er halblaut und machte die Tür zu.
Österreich/Deutschland Schloß Brunwald Der Mercedes-Benz, den Indy gemietet hatte, glitt geschmeidig durch die Haarnadelkurven der österreichischen Alpen. Als sie losgefahren waren, war der Himmel hell und klar gewesen, fast völlig blau. Doch jetzt am späten Nachmittag, als sie sich der deut-sehen Grenze und dem Grundbesitz des Schlosses Brunwald näherten, stiegen am Horizont Gewitterwolken auf. In der Ferne begann bereits Donner zu rollen. Genau das richtige für einen freundschaftlichen Besuch, dachte Indy. Er warf einen Blick zu Elsa hinüber. Sie hielt den Blick unverwandt nach vorne auf die Straße gerichtet, die hier sehr kurvenreich war. Sie hatte ihr blondes Haar hinten gesteckt. Im schwächer werdenden Licht zeichneten sich die Linien ihres Gesichts scharf ab - die hohen Wangenknochen, der Schmollmund und die gerade Nase, die jetzt von der Kälte leicht rosa angelaufen war. Er dachte an ihre leidenschaftliche Liebesstunde in Venedig und streckte die Hand aus, um ihr den Nacken leicht zu kraulen. Ihre Haut war kühl und trocken. Sie sah ihn kurz an und lächelte, aber so geistesabwesend, als sei sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Wenn sie dies hier hinter sich hatten, dachte er, würden sie gemeinsam . . . Gemeinsam was ? Er hatte keine Ahnung. Aber etwas würde ihm schon einfallen. Sie hatte ihn nach der Universität fragt und deren Aktivitäten in Archäologie und Kunstgeschichte, und angedeutet, daß sie ihn dort vielleicht einmal besuchen würde. Und wer wußte, was alles geschehen konnte. Er fuhr in den Schloßhof ein. Das Schloß sah finster und abwei-send aus. Die dunklen Fenster in den oberen Stockwerken waren tot und leer. Das ganze Gebäude war so undurchdringlich wie ein Felsblock. In welchem Raum mochte sein Vater sein? War er überhaupt in einem, oder unten in einem Verlies in Ketten? Vielleicht lebte er nicht einmal mehr. Nein. Nicht solche Gedanken. Für solche Gedanken war jetzt nicht die Zeit. Er hatte keine Ahnung, wie er herauskriegen sollte, ob sein Vater hier wirklich gefangengehalten wurde. Gar nicht davon zu reden, wie er ihn befreien konnte. Vielleicht war er ja überhaupt nicht hier. Wer garantierte ihm, daß ihm Kazim nicht einfach nur irgend etwas erzählt hatte, um ihn von der Gralsspur abzulenken? »Da waren wir also«, sagte er. In seinem Nacken kribbelte wieder einmal das nur zu vertraute Gefühl seiner Alarrnanlage. Doch, doch, sein Vater war hier. Er spürte es. »Sehr imposant, nicht?« sagte Elsa. »Weißt du irgend etwas darüber?« »Es ist seit Generationen Familienbesitz der Brunwalds. Sehr einflußreiche Leute in dieser Gegend hier, wenn auch nicht übermäßig beliebt.« An einer Seite des Schlosses war ein Teich. Ein einsamer Schwan glitt majestätisch über ihn hin, den langen
Hals graziös gebogen. Sein schneeweißes Gefieder stand hell gegen das dunkle Gewässer. Es erinnerte Indy an den Schwan im Gralstagebuch seines Vaters. Der Schwan als Verkörperung einer Bewußtseinsstufe auf der Suche nach dem Gral. Es hatte etwas mit der Überwindung der Schwäche des Geistes und des Herzens zu tun. Seine Schwäche war Elsa. Sie hatte sein Begehren geweckt wie da eines Mannes, der tagelang ohne Wasser durch die Wüste geirrt war und dann eine Oase erreichte. Er hatte sie begierig genommen, sie erfüllte ihm jeden Wunsch. Warum also sollte er, oder irgendeiner, sich wünschen, solche Freuden zu »überwinden«? »Woran denkst du?« fragte sie. »Ach, an nichts.« »Dachte ich es mir doch«, sagte sie sanft. Er runzelte die Stirn. Es war ihm nicht recht, daß seine Gefühle anscheinend so offensichtlich waren. Elsa fuhr sich unter die Haare und hob sie über den Kragen. Er spürte, daß es gleichzeitig eine Art Beendigungssignal und.ein Aufbruchszeichen war. Er griff nach hinten, wo seine Lederpeitsche lag, und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was unmittelbar bevorstand. Er steckte sie sich an den Gürtel, während er ausstieg. »Was hast du vor?« fragte sie ihn, als sie zusammen zum Schloß-tor gingen. »Weiß ich nicht. Ich lasse es auf mich zukommen.« Er klopfte an das Tor und wartete. Am Himmel zuckte ein Blitz auf, fast unmittelbar danach rollte der Donner, und es begann zu regnen. Große glitzernde Tropfen fielen auf Elsas langen, gutge-schnittenen Mantel. »Leih mir doch den Mantel.« »Frierst du etwa?« fragte sie lächelnd. »Ich habe eine Idee.« Er hängte sich rasch ihren Mantel um, so daß seine Peitsche nicht mehr zu sehen war. Gleich danach ging das Tor auf. Ein Butler sagte: »Ja, bitte?« Seine Stimme konnte Eis noch gefrieren lassen. Indy nahm die hochmütige Art eines englischen Barristers der Oberklasse an und betrachtete den Butler mit entsprechend arrogantem Gesicht. »Es wurde allmählich Zeit. Hatten Sie die Absicht, uns den ganzen Tag auf der Treppe warten zu lassen? Wir sind völlig durchnäßt.« Und während er noch sprach, schob er sich an dem verblüfften Diener vorbei nach innen und zog Elsa mit sich. »Tun Sie was! Stehen Sie nicht herum! Ich bekomme bereits einen Schnupfen« Er tupfte sich mit einem Taschentuch an die Nase. Elsa sah ihm verwundert zu. "Werden Sie erwartet?« fragte der Butler. Seine Stimme blieb unverändert frostig und scharf. »Lassen Sie das gefälligst, guter Mann. Entfernen Sie sich und melden Sie Baron Brunwald, Lord Clarence Chumley und seine Assistentin seien hier, um die Tapisserien zu begutachten.« »Die Tapisserien?« Indy sah Elsa angewidert an. »Lieber Himmel, ist der Mann taub? Glauben Sie, er hat mich überhaupt gehört?« Er sah den Butler wieder an und schnarrte: »Das ist ein Schloß hier, nicht wahr? Und es besitzt Tapisserien?« »Richtig, das ist ein Schloß hier, und es besitzt Tapisserien. Und wenn Sie ein englischer Lord sind, dann bin ich Jesse Owens.« »Was erlauben Sie sich!« antwortete Indy mit steifem englischem Falsett und schlug den Mann mit einem mächtigen Kinnhaken zu Boden. Der Butler fiel wie ein Spielzeug, dessen Feder abgelaufen ist, um. Indy wischte sich demonstrativ die Hände ab. »Welch eine Unverschämtheit!« Er sprach noch immer in seinem gestelzten Englisch. »Haben Sie das gehört, meine Liebe, wie dieser unverschämte Bursche mit mir redet und meine Erziehung, meine Ehre und mein Talent, Eindruck zu schinden, beleidigt?« Elsa lachte und schüttelte den Kopf, während sie ihm half, den Butler zu einem Abstellschrank in einer Ecke zu schleppen. »Wirklich ganz unglaublich! Sehr überzeugend, Mylord!« Er gab seine Pose auf, faßte Elsa an der Hand und zog sie mit sich den langen Gewölbekorridor entlang, in dem sie sich befanden. »Jetzt aber zur Sache!« Er nahm sich ihren Mantel im Gehen von der Schulter, und sie zog ihn selbst wieder an, während sie über das Eingangsfoyer kamen. Sie begann flüsternd etwas zu sa-gen, aber er legte den Finger an die Lippen. Stimmen. Sie blieben stehen. Er sah sich rasch um, und sie duckten sich in eine Nische hinter einer großen Statue. Ein paar uniformierte Nazis kamen vorbei. Einer lachte laut über etwas, was der andere gesagt hatte. Seine Stimme hallte durch den ganzen Korridor. »SS-Leute. Ich hätte es wissen müssen«, flüsterte Indy Elsa zu, nachdem die beiden Männer verschwunden waren. Sie kamen aus ihrem Versteck hervor und gingen weiter. "Was glaubst du, wo sie Dad gefangen halten?« »Im Verlies unten?« »Sehr komisch.« Eine Idee zu sehr dem ähnlich, was er slbst dachte.
Ein Diener tauchte auf. Er schob einen großen Servierwagen mit den Überresten eines Festmahls. Sie duckten sich unter eine Treppe und beobachteten ihn. Sie hatten schon eine ganze Zeit nichts gegessen und bekamen große Augen angesichts der Ausmaße der Überreste. Indy legte eine Hand auf seinen Magen, um zu verhindern, daß er knurrte. War dies vielleicht ein Essen für seinen Vater gewesen? Er konnte es nur hoffen. Zumindest litt er dann in seiner Gefangenschaft keinen Hunger. Sie blieben noch einige Zeit in ihrem Versteck. Indy wollte erst ein Gefühl für das ganze Haus bekommen. Er wollte nach Möglichkeit erfahren, wieviel Personal hier war, wie der übliche Ablauf der Dinge war respektive ob es überhaupt einen solchen gab; und wenn ja, wie sie ihn sich zunutze machen konnten. Draußen rollte ein schwerer Gewitterdonner. Gleich darauf trommelte heftiger Gewitterregen auf eines der Fenster über ihnen. Elsa begann der Magen zu knurren. Seiner stimmte ein. Sie sahen einander an und unterdrückten ein Lachen. Dann waren auf der Treppe über ihnen Schritte vernehmbar. Ein Diener, eskortiert von einem bewaffneten deutschen Sotdaten, kam die Treppe herab. Er trug ein billiges Tablett, auf dem sich ein Blechnapf mit einem daran gelöteten Löffel befand. Was da vorbeikam, war wohl eher Dads Essen. »Das«, flüsterte er Elsa zu, sobald die beiden verschwunden waren »sah schon eher wie eine Gefangenenmahlzeit aus.« Sie nickte. Es war Zeit, etwas zu unternehmen. Sie verließen ihr Versteck und gingen die Treppe hinauf. Sie waren noch nicht ganz am ersten Absatz, als weitere Nazis erschienen. Diesmal verbargen sie sich hinter einem massiven Pfeiler und warteten, bis die harten Stiefelschritte der Soldaten wieder verhallt waren. Sie hasteten weiter. Im nächsten Stockwerk verhielten sie und sicherten erst nach beiden Richtungen. Eine Tür in der Nähe stand leicht offen. Stimmen drangen heraus. Indy riskierte einen Blick durch den Türspalt. Nazis waren mit dem Begutachten von Kunstwerken beschäftigt. Kleine Kriegsbeute, wie? dachte er. Hitler wollte aus ganz Europa so viele Kunstwerke und Altertümer wie möglich zusammenraffen. Aber nicht allein wegen ihres Kunstwertes. Es war Indy wohlbekannt, daß Hitler besonders daran gelegen war, alte mystische Gegenstände in die Hand zu bekommen, von denen er glaubte, sie vergrößerten seine Macht und könnten ihm so bei der Ausweitung seiner Herrschaft helfen. Es waren Nazis gewesen, die ihn, Indy, bei der Suche nach der Bundeslade behindert hatten. Tatsächlich hatte er sie kaum gefunden, als schon des Führers Schergen darauf warteten, sie ihm abzu-jagen. Zuerst hatte er Hitlers Motive überhaupt nicht begriffen, bis er selbst die seltsame Ausstrahlung der Bundeslade erlebt hatte, die er sich nicht erklären konnte. Obwohl er es am Ende dann tatsächlich geschafft hatte, die Bundeslade nach Amerika zu bringen, hat-ten hm die Bürokraten die unbezahlbare und geheimnisvolle Reliquie beschlagahmt. Sie lag wohl immer noch irgendwo in einem abgelegenen Lagerhaus und verstaubte dort. Er hatte auch schon gehört, daß Hitler hinter der biblischen Lanze her war, mit der ein Legionär die Seite Christi am Kreuz aufgeschlitzt hatte. Und zweifellos würde der Führer des Dritten Reiches auch liebend gern seine Hand an den Gral legen, in dem das Blut Jesu gewesen war. Nichts anderes als dies, spürte er, war der Grund, warum sein Vater in Gefangenschaft war. Ein Knacken ließ ihn zurückfahren. Sie eilten lautlos weiter den Korridor entlang. An dessen Ende befanden sich drei Türen. Er sah von einer zur anderen und deutete schließlich entschlossen auf die linke. »Diese da.« «Warum gerade diese?« flüsterte Elsa. Er deutete auf eine elektrische Leitung. »Weil sie eine Stromlei-tung hat. Wir müssen einen anderen Weg hinein finden.« Er trat zurück und studierte die Lage einen Augenblick lang. Dann versuchte er es mit der Tür nebenan. Er drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen. Er griff in die Tasche seines Gürtels und brachte einen Dietrich zum Vorschein. Es schien bereits eine ganze Ewigkeit her zu sein, seit er ihn zum letzten Mal verwendet hatte - an der Kabinentür des Frachters, um an den Safe mit dem Kreuz des Coronado zu gelangen. Dabei war dies noch keine zwei Wochen her. Er schob den schlanken, schmalen Dietrich in das Schlüsselloch und arbeitete eine Weile. Dann war das Schloß offen. Die Tür knarrte, als er sie öffnete. Der Raum war schwach beleuchtet und bis auf ein Bett und eine Kommode leer. Sobald Elsa mit hereingekommen war, schloß er die Tür hinter ihr. »Was war das?« fragte sie, als er sein Einbrecherwerkzeug wieder in den Gürtel steckte. »Geschäftsgeheimnis.« »Ach, du meinst also, du verrätst deinen Studenten davon nichts?« fragte sie mit gespieltem Ernst. »Nur den fortgeschrittenen«, gab er im gleichen Ton zurück. Er ging zum Fenster. Draußen prasselte der Gewitterregen heftig gegen die Scheiben. Er zog die Jalousie hoch, öffnete das Fenster und steckte den Kopf hinaus. Es war schon fast dunkel. Der Regen platschte ihm ins Ge-sicht und durchnäßte ihm sofort den ganzen Kopf. Er zwinkerte, damit er sehen konnte. Unter dem Fenster des Raumes nebenan war ein schmaler Sims. Er endete einen knappen Meter neben dem Fenster, aus dem er herausschaute.
Er zog den Kopf wieder ins Zimmer zurück und lockerte seine Lederpeitsche. »Was willst du machen?« »Ich nehme eine Dusche«, sagte er. Sie sah zum Fenster. »Du willst doch wohl nicht sagen, du...?« Sie sah, wie er die Peitsche zog. »Das gibt es doch nicht!« »Paß auf. Das gibt es.« Er lehnte sich aus dem Fenster und schnalzte die Peitsche um den Wasserspeier auf dem Schloßdach über dem benachbarten Fenster. Er hatte perfekt gezielt. Die Peitschenschnur wickelte sich um den dicken Nacken des Wasserspeierkopfes. Er zog heftig und sicherte so, daß sie sein Gewicht aushielt. Er stieg auf das Fensterbrett und blickte zu Elsa hinab. »Warte hier auf mich. Es dauert nicht lange.« »Indy, das ist Wahnsinn. Du kannst nicht...« Er hob eine abwehrende Hand. »Keine Sorge. Das ist ein Kinderspiel. Ich bin gleich wieder da.« Erschwang sich aus dem Fenster. Seine Beine schaukelten frei in der Luft. Aber er hatte recht gehabt. Es war nur ein kurzer Schwung. Nur eines hatte er nicht bedacht. Der Platzregen hatte den Fenstersims glitschig gemacht und er rutschte weg, als er aufsetzte. Ein Bein hing ganz über den Sims, mit dem anderen landete er auf dem Knie und wackelte einen Augenblick bedenklich. Dann zog er rasch an der Peitsche und kam zum Stehen. Als nächstes mußte er einen Weg finden, die Fensterläden zu öffnen, die geschlossen waren. Er zog an ihnen, doch sie blieben zu. Er wollte es eben noch einmal versuchen, als er ein Geräusch hörte. Er blickte nach unten. Zwei Posten waren mit Taschenlampen und Hunden unterwegs. Sie haben den Butler gefunden! Der eine leuchtete mit der Taschenlampe die Hauswände des Schlosses ab. Ihr Strahl näherte sich seinem Standort. Er drückte sich, so flach es ging an das Fenster, und stand reglos. Die Peitsche! Er hätte sie abziehen sollen. Jetzt war es zu spät. Der Lichtstrahl glitt über ihn weg. Er wartete mit angehaltenem Atem, daß er zu-rückkam. Doch die Posten gingen weiter. Sie hatten ihn und die Peitsche glatt übersehen. Er wandte sich wieder dem Fensterladen zu. Er klemmte die Finger in den Schließspalt und zog, was er konnte. Nach wie vor bewegte sich nichts. Er versuchte es mit der Schulter, aber er stand zu unsicher, um viel ausrichten zu können. Na gut, dachte er. Dann eben etwas drastischere Maßnahmen. Es mußte jedoch genau im richtigen Moment sein. Er wartete den nächsten Blitz ab. Der Regen, merkte er, hatte etwas nachgelassen. Als der Blitz kam, zählte er die Sekunden bis zum Donner mit. Beim nächsten Blitz packte er dann die Peitsche mit beiden Händen, stieß sich von der Schloßmauer ab, rechnete eineSekunde dazu, weil er sich ausgerechnet hatte, daß das Gewitter wohl am Nachlassen sei, und schwang sich dann mit angezogenen Beinen auf das Fenster zu. Er krachte im gleichen Augenblick mit beiden Füßen durch den Fensterladen, als der Donnerschlag kam. Gut gerechnet! Er kam taumelnd in das Zimmer gestolpert und fiel zu Boden. Regen und kalte Luft fegten durch die zerbrochenen Fensterläden in den Raum. Er rappelte sich hoch und sah sich um. Er mußte sich erst orientieren. An ihm selbst schien alles noch ganz zu sein Eben als er festgestellt zu haben glaubte, daß entgegen allen Erwartungen sein Vater doch nicht hier sei, krachte etwas Schweres auf seinen Kopf herunter und zerbrach. Er stolperte und knickte in den Knien ein. Vor seinen Augen verschwamm alles. Er war sehr verblüfft und starrte hilflos dem Etwas entgegen, das aus dem Schatten trat. »Junior!« "Ja, Sir« sagte er ganz automatisch, wie immer damals in seinen Schultagen. Er hielt sich den Kopf und versuchte, wieder einen klaren Blick zu bekommen. "Bist du's wirklich, Junior?« Er kam allmählich wieder zu sich. Und sofort war er wütend. "Hör gefälligst auf, mich so zu nennen!« " »Was zum Teufel willst du denn hier?« Fr fragte sich, ob die Nazis seinem Vater vielleicht bereits den Geist verwirrt hätten. »Was glaubst du wohl? Dich hier rausholen, natürlich!« Henry Jones blickte auf seine Hand hinunter und war plötzlich von etwas ganz anderem in Anspruch genommen. Er war geradezu alarmiert von dem, was er sah. »Augenblick.« Indy hielt den Atem an und blickte sich rasch um. »Was ist?« »Spätes vierzehntes Jahrhundert, Ming-Dynastie«, murmelte sein Vater mehr zu sich selbst. Indy runzelte die Stirn, als er merkte, daß sein Vater die auf seinem Kopf zerschlagene Vase meinte. »Da kann einem ja das Herz brechen«, jammerte sein Vater. »Und der Schädel dazu«, sagte Indy vorwurfsvoll. »Dad, du hast mir das Ding auf den Kopf gehauen!« Henry Jones blickte auf die Vase und sagte nur: »Ich werde mir das nie verzeihen.« Indy mißverstand das. Er glaubte, sein Vater meinte den Schlag. Doch er sprach noch immer von der Vase.
»Keine Urache. Ich bin schon wieder in Ordnung.« Henry Jones schien erleichtert zu sein, als er eine der Scherben näher betrachtete. »Eine Fälschung, zum Glück. Da, schau her, man sieht es an...« »- den Gußlinien«, sagten sie beide gleichzeitig. Sie sahen einander verblüfft an und grinsten. »Tut mir leid wegen deinem Kopf!« sagte Henry Jones und runzelte ein wenig Stirn, als sähe er seinen Sohn zum allerersten Mal. »Ich hielt dich für einen von denen.« »Die«, sagte Indy, »kommen durch die Tür. Die haben es nicht nötig, durch das Fenster zu springen.« »Stimmt schon. Aber sicher ist sicher. Mein Gott, es war richtig, dir dieses Notizbuch zu schicken! Ich habe es gespürt, daß irgend etwas kommen würde. Du hast es doch bekommen?« Indy nickte. »Bekommen und benutzt. Ich habe auch den Ein-gang zu den Katakomben gefunden.« Henry Jones war mit einem Schlag hellwach und intere »In der Bibliothek! Und du hast ihn gefunden?« »Richtig«, sagte Indy lächelnd. Es gefiel ihm, daß er sein Vater endlich einmal richtig beeindrucken konnte. »Ich wußte es.« Er hieb die Faust in die Luft. »Ich wußte es ganz einfach. Und die Grabstätte von Sir Richard?« »Gefunden.« Seinem Vater blieb die Luft weg. »Er war tatsächlich dort! Du hast ihn selbst gesehen?« »Was noch übrig war.« Henry Jones wurde ganz aufgeregt leise und flüsterte fast Er zitterte vor Erwartung. »Und der Schild? Die Inschrift auf seinem Schild?« Indy nickte wieder, pausierte kurz und antwortete nur mit einem einzigen Wort. »Alexandretta.« Seinem Vater fiel das Kinn herunter. Er trat einen Schritt zurück, strich sich über den Bart und bedachte alles, was er soeben gehört hatte. Dann begann er gedankenversunken vor sich hinzubrabbeln. »Alexandretta, aber natürlich. Lag doch auf dem Weg Pilgerpfades des Ostreichs.« Er wandte sich Indy zu: »Junior ..." Indy wand sich und hätte ihn am liebsten wieder unterbrochen, weil er ihn schon wieder mit diesem verhaßten Namen aus seiner Kindheit belegte. Aber er ließ es sein. Jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt dafür. "...also du hast es tatsächlich geschafft!« rekapitulierte Henry Jones noch einmal. "Nein, Dad. Nicht ich. Du! In vierzig Jahren Recherche und Forschung.« Henrys Augen begannen zu glänzen. Er starrte über Indy hin-weg in eine weite Ferne. »Hätte ich doch nur dabeisein können!« Seine Augen flackerten erregt. »Wie war es?« »Eine Menge Ratten.« »Ratten?« Sein Interesse ließ merklich nach. An so detaillierten Einzelheiten war er wieder nicht interessiert. »Ja. Ziemlich große sogar.« »Aha.« »Weil wir grade von Ratten reden... wie haben dich diese Nazis hier behandelt?« »Ach, soweit ganz ordentlich. Sie haben mir noch einen Tag Zeit gegeben, um zu reden. Dann aber wollen sie ein wenig härter werden, haben sie mir versichert. Doch auch morgen hätte ich kein Sterbenswörtchen gesagt, Junior. Ich war ziemlich sicher, wenn ich umkäme, würdest du die Suche für mich fortsetzen. Ich wußte, ich konnte auf dich zählen, damit dieses Buch den Nazis so unerreichbar bleibt wie nur möglich.« Indys Hand fuhr in die Jackentasche. Seine Finger fuhren die Umrisse des Notizbuches ab. Rate mal, Dad. So unerreichbar auch wieder nicht. "Das stimmt wohl«, sagte er mit leichtem Unbehagen. »Doch jetzt los. Wir müssen raus hier.« Ein hallendes Geräusch unterbrach ihn. Sein Kopf fuhr zur Tür, die diesem Augenblick aufflog. Drei Posten marschierten her-ein- zwei mit MPs im Anschlag. Der dritte war ein SS-Offizier. »Dr. Jones!« rief er. »Ja?« antworteten Indy und Henry zur gleichen Zeit. »Ich darf um das Buch bitten.« »Welches Buch?« sagten sie beide wieder zugleich. Der Offizier wandte sich an Henry. »Sie haben das Notizbuch in der Tasche.« Henry lachte aus vollem Halse. Indy konnte ihm dabei leider nicht folgen. O Gott. Mir wird schlecht. »Sie Narr!« lachte Henry. »Sie glauben doch nicht im Ernst; daß mein Sohn so dumm ist und dieses Notizbuch wieder den ganzen Weg zurückbringt, den es...« Dann brach er abrupt ab und drehte sich langsam Indy zu. »Hast du doch nicht, oder, Junior?« Indy lächelte verlegen. »Nun ja...« »Du hast?« donnerte ihn Henry an. »Die Sache ist so...« »O Gott! Also doch!« »Können wir darüber später diskutieren, Dad? Das ist jetzt wohl nicht der richtige. . .« »Warum habe ich es nicht gleich den Marx Brothers geschickt?!« schimpfte Henry außer sich.
Indy hielt eine Hand hoch und klopfte in die Luft. »Dad, bitte, rege dich nicht auf!« »Wozu glaubst du wohl, habe ich es dir geschickt?« regte sich Henry indessen sogar sehr auf. Er deutete auf die SS-Leute; mit die da es nicht in die Finger bekommen!« »Immerhin bin ich ja hierhergekommen, um dich rauszu-hauen«, sagte Indy etwas lahm und blickte in die Mündungen MPs. »Und wer glaubst du, kommt jetzt dich raushauen, Junior??" brüllte sein Vater ihn mit rotem Kopf an. Was dann geschah, ging so schnell, daß Indy kaum begriff, was er getan hatte, als es vorüber war. Seine Augen funkelten, seine Nüstern blähten sich zornig auf. Er sah aus, als werde er seinen Va-ter im nächsten Augenblick niederschlagen so echt, daß Henry unwillkürlich zurückwich, um dem Schlag, den er kommen sah, auszuweichen. Statt dessen schoß Indys Arm plötzlich und völlig unerwartet vor und entriß einem der verblüfften Posten seine Maschinenpistole. Mit der gleichen Bewegung stieß er auch dem anderen die seine mit einem schnellen Fußtritt aus der Hand. Einige Schüsse lösten sich aus ihr und fuhren in die Decke. Dann hatte er selbst bereits den Finger am Abzug. Die drei Nazis taumelten unter der Wucht der Kugeln zurück und sanken in sich zusammen, während Indy wie von Sinnen brüllte: »Und ich habe dir nun schon tausendmal gesagt, nenne mich nicht Junior!« Henry starrte völlig ungläubig auf die drei in ihrem Blute liegenden und sterbenden SS-Leute. Er war völlig schockiert und verstört. »Was hast du da getan? Du hast sie erschossen!« Indy packte ihn nur wortlos am Arm und zog ihn mit sich zur Tür hinaus. Er hatte die Hand schon auf der Türklinke zum Raum daneben, in dem Elsa wartete. »Ich kann nicht glauben, was du da getan hast!« flüsterte Henry heiser und mit glasigen Augen. »Du hast drei Männer erschossen!« Indy blieb in der Tür stehen. »Was glaubst du eigentlich, was die mit uns getan hätten?« Sein Vater sah ihn nur an und schien zu versuchen, irgendeine Rechtfertigung für die Tat seines Sohnes zu finden. Indy öffnete die Tür ganz und hob die Hand, um Elsa zu signali-sieren, daß es Zeit war, zu fliehen. Aber sein Arm blieb mitten in der Luft stehen. Er starrte mitten in das Gesicht eines weiteren Na-zis. Er hatte einen Arm wie eine Schlange um Elsa gelegt. In der an-deren hielt er eine Luger, deren Mündung an ihrer Schläfe lag. "Das genügt jetzt, Dr. Jones.« Er war ein großer Mann. Ein SS-Oberst; Standartenführer, nannten sie das. Kantiges Kinn, kleine, dunkle Augen - Insekten-augen. Er war der Inbegriff des Wortes brutal, kein Zweifel. »Die Pistole weg! Auf der Stelle«, befahl er mit starkem, aber nicht unbeholfenem Akzent. »Sofern Sie Ihre Freundin hier nicht auch tot sehen möchten.« »Hör nicht auf ihn«, sagte Henry. »Werfen Sie sie weg!« wiederholte der Standartenführer. »Nein!« schrie Henry Jones. »Sie gehört zu denen!« »Indy, bitte«, sagte Elsa. In ihren Augen war Angst. »Sie ist ein Naziweib!« schrie sein Vater. »Was?« sagte Indy kopfschüttelnd. Er wußte nicht mehr, glauben sollte. Er sah Elsa an, dann wieder seinen Vater. Alle schrien gleichzeitig. »So glaub mir doch!« schrie sein Vater. »Indy, nein!« bat Elsa. »Ich warne Sie, ich erschieße sie!« zischte der SS-Offizier durch die Zähne. »Na, los doch!« sagte Henry Jones. »Nein, nicht schießen!« schrie Indy. »Keine Angst, das tut er schon nicht«, sagte sein Vater. »Bitte, Indy!« bettelte Elsa noch einmal. »Tu bitte, was er verlangt!« »Um Himmels willen, hör nicht auf sie!« beschwor ihn sein Vater. »Genug jetzt, dann stirbt sie eben«, sagte der Standartenführer und stieß Elsa die Mündung seiner Luger in den Nacken. Sie schrie vor Schmerz auf. »Nein!« rief Indy, ließ die Maschinenpistole fallen undsteiß mit dem Fuß zur Seite. Sein Vater stöhnte auf. Der Standartenführer ließ Elsa los und schob sie Indy zu. Er fing sie in seinen Armen auf und hielt sie fest, während sie ihr Gesicht an seiner Brust verbarg. »Tut mir leid, Indy.« Er tröstete sie. »Schon gut.« "Tut mir wirklich leid.« Sie mit der Hand in seine Jackentasche und holte das Grals-tagebuch heraus.
Sie lächelte ihn traurig an. »Aber du hättest doch lieber auf deinen Vater hören sollen.« Hat er doch noch nie«, sagte Henry Jones in verzweifeltem Ton. »Noch nie.«
Verraten Elsa machte sich von ihm frei und ging zu dem Standartenführer zurück. Indy stand einfach nur da wie vor den Kopf gestoßen. Er war sprachlos und wütend über das böse Lächeln des SS-Menschen und die harmlose Unschuld in Elsas Augen. Er hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und so lange geschüttelt, bis sie ihm alles erklärt hatte. Er mußte die Gründe wissen. Doch der SS-Mann hob drohend seine Luger, und so blieb er stehen, wo er war, und starrte nur. Wie kannst du mir so etwas antun? versuchte er ihr in Gedanken mitzuteilen. Sie lächelte ein wenig, fast, als habe sie ihn verstanden. Schließlich wandte er sich von ihr ab und sah seinen Vater an. Und bereute es sogleich. Wenn Blicke töten könnten... Kein Wunder, daß er mich immer noch Junior nennt. Er war ebenso erstaunt über die Wendung der Dinge wie ein paar Minuten zuvor sein Vater, als er nebenan die drei Posten niedergeschossen hatte. »Kommen Sie jetzt mit mir und Standartenführer Vogel.« Elsas stimme war schlagartig hart und kalt geworden. Die Stimme einer ihm völlig unbekannten Frau. Selbst ihr Gesicht sah jetzt verändert aus. Ganz anders, als er es in Erinnerung hatte. Das Kinn war jetzt kantiger, härter und entschlossener; die Haut blasser und blutlos wie Porzellan. Und ihre Augen waren Eiswürfel , welche nichts schmelzen konnte. Der SS-Mensch machte eine herrische Geste mit der Pistole. Indy sagte resigniert: »Ja, dann gehen wir wohl.« »Weil wir so viel Auswahl haben«, murmelte sein Vater Seine Stimme war ein einziger Vorwurf. Als sie mit Waffengewalt durch das Schloß geführt wurden, konnte Indy die Verachtung seines Vaters spüren. Sie entströmte ihm wie Wärme oder ein Geruch. Er konnte sie mit allen Sinnen wahrnehmen, und sie wurde nicht geringer, bis sie am anderen Ende des Flurs in einen großen herrschaftlichen Raum kamen. Die Wände waren mit alten Tapisserien und Ritterrüstungen dekoriert. In einem riesigen Kamin prasselte ein Feuer, das seine flackernden Schatten an die Decke und an alle Wände warf. Ein Hauch des Geruchs von Elsas Haut streifte ihn, als sie ihn an sich vorüberließ und den beiden Posten Platz machte, die nun kamen. Man fesselte ihnen die Hände auf dem Rücken. Jetzt wird es wirklich ernst, dachte Indy, als ihm die Schnur schmerzhaft in die Gelenke schnitt. Während die Wachen an ihnen arbeiteten und Elsa sich mit Vogel besprach, sah sich Indy verstohlen um. Es gab mehrere Fenster, sie waren im dritten Stock. Außerdem waren sie ja jetzt gefesselt, von den Wachen gar nicht zu reden. Die Flucht-chancen waren also gleich Null. Aber trotzdem konnte es nie schaden, seine Phantasie anzustrengen. Als ihm nichts mehr einfiel, dachte er an Elsa und was er gerne mit ihr tun würde, wenn er freikäme. Er folgte ihr mit seinem Blick, als sie durch den Raum zu einem Stuhl mit hoher Lehne dem Kamin ging. Sie blieb daneben stehen und hielt das Gralstage-buch hin. Das ließ ihn erst erkennen, daß in diesem Stuhl jemand saß. Er blickte unauffällig zu seinem Vater hinüber und rückte etwas näher zu ihm hin. »Woher wußtest du, daß sie zu denen gehört?« fragte er flüsternd. "Weil sie im Schlaf redet.« "Was". Es riß ihm den Kopf herum. »Du meinst, du - - du und sie -ihr..-?« "Ruhe!« bellte Vogel. Auch das noch. Sie und mein Vater... Jetzt wurde ihm alles klar. Elsa selbst hatte sein Zimmer in Venedig durchwühlt und nach dem Notizbuch gesucht. Dann hatte sie zur Tarnung auch ihr eigenes Zimmer verwüstet, damit es aus-sah, als sei ein Fremder eingedrungen! Und ich falle auch noch darauf herein. »Ich habe ihr von Anfang an nicht getraut«, sagte Henry. "Warum du?« Er hatte den Kopf etwas zu ihm hergebeugt. Der Mann auf dem Stuhl stand auf und beantwortete Henrys Frage. »Weil er meinen Rat nicht befolgt hat. Deshalb.« Indy glaubte, die Augen fielen ihm heraus. Niemand anderer als Walter Donovan kam auf sie zu, mit ebenso herrischer und aristokratischer Attitüde, wie sie den ganzen Raum beherrschte. O Gott. Auch das noch! »Oder habe ich Ihnen vielleicht nicht gesagt, Dr. Jones, sie sollten niemandem trauen, niemandem?« Er lächelte gutmütig, während er Henrys Notizbuch durchblätterte. Indy hatte keine schlagfertige Antwort zur Hand. Das war doch alles-- ! Der gleiche Mann, der ihm selbst gesagt hatte, daß sein Vater vermißt wurde, der ihm angekündigt hatte, daß er in Venedig von Dr. Schneider abgeholt würde... ausgerechnet er war dieser Bastard hinter der ganzen Schweinerei! Was gab es da noch groß geistreiche Bemerkungen zu machen, und wozu? Alles ging viel zu schnell. Allein in den letzten paar Minuten war er zweimal verraten worden - von Elsa und
Donovan. Und um allem die Krone aufzusetzen, hatte er auch noch erfahren, daß sie mit seinem Vater ins Bett gegangen war. (Und er hatte ihm, wenn auch wohl unabsichtlich, eine Vase über den Kopf gehauen...!) Henry gab ein verächtliches Knurren von sich. Als er sprach, wirkte er jedoch müde und alt. »Ich habe mich leider sehr getäuscht, Walter. Ich wußte zwar, daß Sie für eine etruskische Vase auch Ihre Mutter verkaufen würden. Aber ich hätte wirklich nicht gedacht, daß Sie Ihr Land und Ihre Seele an diesen Haufen von Verrückten da verkaufen könnten.« Donovan ignorierte ihn einfach. Die Falte auf seiner Stirn ver-tiefte sich, als er immer schneller durch das Notizbuch blätterte. Irgend etwas stimmte offenbar nicht. »Dr. Schneider!« stammelte er. Elsa kam zu ihm geeilt. »Was ist denn?« Donovan hielt ihr das Gralstagebuch vor die Nase und schüttelte es. »In diesem Buch hier befand sich eine Karte - eine Karte ohne Namen, aber mit präzisen Richtungsangaben von der unbekannten Stadt aus bis zu der geheimen Schlucht des Heiligen Grals.« »Ja«, sagte sie. »Die Schlucht des Zunehmenden Mondes." »Wo ist diese Karte?« Elsa zuckte mit den Schultern und sah etwas verlegen aus. Sie wisse es nicht, sagte sie. Sie habe gedacht, sie sei in dem Buch. Donovans Gesicht war zornesrot. Er blickte von Elsa zu Indy."Also, bitte, wo sind die fehlenden Seiten? Wir müssen sie haben!" Henry sah Indy an und sah überrascht und sehr zufrieden aus. Indy schürzte die Lippen. »Sie vergeuden nur Ihre Zeit, wenn Sie es aus ihm herausbringen wollen«, sagte Elsa. »Er wird es uns nicht sagen. Und das muß er auch gar nicht. Es ist ja völlig offensichtlich, wo die Karte ist." Sie warf Indy einen triumphierenden Blick zu und dann wieder Donovan zu. »Er hat sie Marcus Brody gegeben." Henry preßte die Augen zu, als wolle er einfach nicht zur Kenntnis nehmen, was er soeben gehört hatte. Als er sie wieder öffnete, suchte er Indys Blick. »Marcus? Du hast den armen Mar-cus mitgeschleppt? Mein Gott, Junior! Er ist doch nicht der Mann für eine solche Aufgabe!« "Wir finden ihn«, sagte Donovan und entfernte sich. "Seien Sie sich da nicht so sicher!« rief ihm Indy nach. »Er hat immerhin zwei Tage Vorsprung vor Ihnen. Das ist mehr, als er braucht. Donovan blieb stehen und dachte darüber nach. Indy sprach bereits weiter. »Brody hat Freunde in jeder Stadt und in jedem Dorf zwische hier und dem Sudan. Er spricht ein Dutzend Sprachen und ist mit sämtlichen lokalen Gebräuchen vertraut. Er bekommt überall Schutz und Hilfe. Er kann spurlos verschwinden. Sie werden ihn nie wieder sehen. Mit ein bißchen Glück hat er den Gral inzwischen ohnehin schon gefunden.« Sein Vater lächelte gequält. »Sehr eindrucksvoll«, murmelte er. »Hoffen wir nur, daß du recht hast.« Donovan kam zurück und musterte Indy so intensiv, als suche er ein Kunstwerk nach winzigen Fehlern ab. »Wirklich schade, Dr. Jones«, sagte er dann, »daß Sie nicht mehr lange genug leben werden, um es zu erfahren.« Die Art, wie er ihn ansah, gab Indy das Gefühl, Donovan wisse mehr, als er sagte. Mochte wohl sein. Plötzlich kam ihm der Gedanke, ob Donovan nicht vielleicht auch etwas mit dem Kreuz des Coronado zu tun habe. Der Mann mit dem Panamahut hatte ihm doch gesagt, sein Käufer wolle ihn, Indy, tot sehen. Vielleicht war der Grund dafür nicht allein das Kreuz gewesen, sondern auch der Wunsch, ihn von der Suche nach seinem Vater abzuhalten? Vielleicht hatte sich das erst geändert, als alles schiefgegangen und obendrein auch noch das Tagebuch verschwunden war? Doch im Moment war dies alles nur Spekulation. Er zweifelte auch nicht daran, daß Donovan, fragte er ihn danach, so tun würde, als wisse er von nichts. Der Mann war viel zu arrogant, um jemals einzugestehen, daß irgendwer ihn durchschauen könnte. »Worüber denken Sie so intensiv nach, Dr. Jones?« Indy starrte ihn an, schwieg aber. Donovan winkte die Wachen herbei. »Schafft sie fort.« Vater und Sohn wurden Rücken an Rücken auf Stühlen aneinan-dergefesselt und von zwei bulligen Posten bewacht. Man hatte sie in einen anderen Raum des Schlosses verfrachtet, in welchem schwere, bodenlange Vorhänge zugezogen waren und selbst den Blick hinaus in die Regennacht verwehrten. Auch hier befad sich ein gewaltiger Kamin, in dem freilich kein Feuer brannte. Der ganze Raum war dunkel und kalt. Nach einigen Stunden erschienen Elsa und Donovan wieder bei ihnen. Donovan fragte die Posten auf deutsch, ob die beidden Gefangenen irgendwelche Schwierigkeiten gemacht hätten. »Müssen wir hier so gefesselt sein?« beschwerte sich Henry, nachdem der Posten versichert hatte, es habe keine besonderen Vorkommnisse gegeben. »Wir sind Gentlemen und keine Kriminellen.« Donovan lachte. »Ich habe gesehen, was Ihr Sohn da oben angerichtet hat. Und die Posten hier übrigens auch. Ich würde das nicht gerade das Benehmen von Gentlemen nennen. Sie etwa, Henry?" »Sie sind ja wohl kaum zu solchen Kommentaren legitimiert, Walter. In Anbetracht Ihrer Komplizen.«
Donovan verschränkte die Arme. »Es dauert nicht mehr lange, bis Sie beide nicht mehr gefesselt sein müssen. Dann wird überhaupt alles vorbei sein.« Das klang nicht besonders verheißungsvoll. Und Donovans triumphierendes, höhnisches und irgendwie auch schon in irres Lächeln klang erst recht nicht besonders angenehm. Donovan, kam es Indy in den Sinn, paßte durchaus zu den Nazis. Es fiel ihm nicht schwer, ihn sich im angeregten Gespräch mit Hitler über Reliquien und Altertümer und deren Wert und Gebrauch vorzustellen. Er wandte seine Aufmerksamkeit Elsa zu. Sie stand im Hintergrund im Schatten. Es war gerade hell genug, um zu erkennen, daß sie ihn unverwandt anblickte. Sie schien betrübt, zurückhaltend und introvertiert zu sein. Aber vermutlich war auch dies nur Wunschdenken. Und wieso sollte ausgerechnet er sich darum kümmern, was sie dachte? Sie hatte ihn schließlich hereingelegt. Benützt Betrogen und verraten. Und sogar mit seinem eigenen Vater geschlafen. Vielleicht mag sie sich wegen all dem selbst nicht mehr? Eine Tür ging auf. Er hörte die Stimme des Standartenführers Vogel. »Dr. Schneider! Nachricht aus Berlin. Sie haben unverzüglich zurückzukehren. Morgen ist eine Sitzung im Institut für Arische Kultur.« »Und wieso - ?« »Man wünscht Ihre Anwesenheit auf dem Veranstalterpodium.« Er räusperte sich. »Von höchster Stelle.« »Vielen Dank, Standartenführer.« Ihre Augen wanderten wieder zu Indy und danach zu Donovan. »Wir treffen uns dann in Iskenderun, sobald ich wieder weg kann.« Donovan gab ihr das Gralstagebuch. »Nehmen Sie das an sich. Ohne die Karte nützt es uns überhaupt nichts, aber Sie können ihnen damit zeigen, daß wir Fortschritte machen. Übergeben Sie es dem Reichsmuseum. Es gibt ein ganz hübsches Erinnerungsstück ab." Vogel trat zwischen Donovan und die Gefangenen. »Überlassen Sie sie mir. Dann haben wir keine Zwischenfälle mehr zu befürch-ten. Wie den da oben.« »Nein«, lehnte Elsa ab. »Wenn wir Brody und die Karte nicht erwischen sollten, brauchen wir die beiden lebendig.« Donovan zögerte. Er war sich nicht sicher. Er betrachtete Indy und seinen Vater wie ganz interessante und vielleicht sogar wertvolle Kunstgegenstände. Dann sagte auch er: »Tun Sie am besten, was das Fräulein Doktor sagt. Warten wir noch. Wir kriegen sie schon.« Standartenführer Vogel zeigte deutlich Unzufriedenheit, verkniff sich allerdings einen Kommentar, obwohl seine Blicke auf Indy und dann Donovan Bände sprachen. Onne Zweifel hielt er es für das Beste, wenn die beiden Gefangenen auf der Stelle exekutiert würden. Er war vermutlich auch mehr an der sofortige Vergeltung für den Tod seiner Leute interessiert als an der Auffindung des Grals. »Kommen Sie«, sagte Donovan und ging zum Kamin, in den er hineintrat und eine Geheimtür darin öffnete. Vogel und die Wachen folgten ihm. Er ließ sie vorangehen und blickte zurück zu Elsa. »Kommen Sie?« »Ich habe vor meiner Abreise noch einige Dinge zu erledigen. Ich bin in ein paar Minuten bereit.« Donovan nickte und verabschiedete sich von Indy und Henry mit einem freundlichen Lächeln, als gingen sie ganz normal wie Freunde oder Geschäftspartner auseinander. Er muß wirklich verrückt sein, dachte Indy, als er ihn durch den Kamin verschwinden sah. ...... Elsa wartete, bis sich die Geheimtür geschlossen hatte. Dann wandte sie sich zu Indy, und ihr Gesichtsausdruck war dem in ihren intimsten Stunden in Venedig sehr ähnlich. Was zum Teufel bedeutete das? Er sah weg. »Indy«, sagte sie, »der Grund, warum ich den Standartenführer davon abhielt, euch sofort zu exekutieren, war nicht wirklich der, den ich nannte.« Er hob den Blick und schnitt ein Gesicht. »Ach wirklich? Ich höre doch immer, daß es auch gute Nazis gibt. Bist du am Ende eine davon?« »Sieh mich nicht so an. Wir wollten beide den Gral. Ich hätte alles dafür getan. Genau wie du.« »Sehr bedauerlich, Fräulein Doktor.« Seine Stimme war tot wie abgestandener Sprudel. Sie strich ihm mit der Hand über das Gesicht, doch er drehte den Kopf weg. Elsa beugte sich noch näher zu ihm. Sie sprach ganz ruhig. Er spürte ihren Atem nahe an seinem Ohr und über sein Gesicht streichen. Sie roch schwach nach Seife und Parfüm. Es erinnerte ihn an Augenblicke, an die er sich jetzt lieber nicht erinnern mochte. »Ich weiß, daß du aufgebracht bist, und es tut mir leid. Aber du sollst wissen, daß ich nie vergessen werde, wie wundervoll es mit dir war.« Henry, der Elsa nicht sehen, aber alles mithören konnte, antwortete, als spräche sie mit ihm. »Ja, es war wundervoll, danke.« Elsa beachtete ihn nicht. »Indy, du mußt meine Situation verstehen.« Indy wollte ihr eigentlich nur ins Gesicht spucken. Doch statt dessen nickte er; in der Hoffnung, daß sie vielleicht seine Fesseln lösen und ihm eine Chance zur Flucht geben werde.
Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn leidenschaftlich, während sie ihm mit der Hand den Kopf streichelte. »Dr. Schneider!« Elsa richtete sich abrupt auf und blickte über die Schulter zum Kamin. Standartenführer Vogel war noch einmal zurückgekommen. "Ja, Standartenführer?« Sie blickte ihn zwar an, blieb jedoch mit dem Rücken zu ihm stehen. »Ihr Auto wartet.« "Vielen Dank.« Sie lächelte Indy zu und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So sagen wir in Österreich Lebewohl.« Sie ging zu Vogel. »Ich bin soweit.« Und sie verschwand durch die Geheimtür im Kamin. Doch diesmal blieb der Standartenführer zurück. Er kam zu Indy marschiert, jeder Zoll ein strammer Soldat, im militärischen Schritt. Er blieb vor ihm stehen und kräuselte die Lippen. "Und so sage ich Ihnen Lebewohl, Dr. Jones.« Und er holte aus und schlug ihm hart ins Gesicht. Indys Nase begann zu bluten. Vogel verschwand ebenfalls im Kamin. »Die österreichische Art gefällt mir besser«, murmelte Indy. »Quassele nicht!« tadelte Henry. »Ich muß nachdenken." »Toll!« sagte Indy. »Aber während du denkst, kannst du nebenbei vielleicht ein bißchen Handarbeit machen. Wir müssen diese Knoten aufkriegen. Wir müssen zu Marcus, ehe die Nazis ihn sich schnappen.« »Ich dachte, du sagtest, er habe zwei Tage Vorsprung und könne so perfekt untertauchen?« »Soll das ein Witz sein? Natürlich habe ich das nur erfunden. Du kennst doch Marcus. Der hat sich schon mal in seinem eigenen Museum verirrt.« Sein Vater unterdrückte einen Fluch. »Na, ist das nicht wunderbar. Nicht genug, daß dieser Vogel uns nur zu gerneabknallen würde, sie bringen uns auch noch Marcus um und schnappen sich den Gral selbst.« »Darüber kann man in der Tat ein Weilchen ins Sinnieren kommen«, sagte Indy, während er an seinen Fesseln zerrte. Henry begann nun von seiner Seite ebenfalls zu ziehen. Doch je heftiger sie zerrten, desto enger zogen sie ihre Fesselstricke, die ihnen nun noch mehr in die Handgelenke schnitten. Schließlich gaben sie auf und entspannten die Arme. Das war besser. Tat weniger weh. Aber hier zu sitzen wie die Ölgötzen brachte auch nichts. Denke nach. Überlebe. Vermutlich standen Posten vor der Tür und auch hinter der Geheimtür im Kamin. Und wenn schon. Erst mal mußten sie die Fesseln von den Händen bekommen. Warum fiel ihm dazu einfach nichts ein? Es war ganz still im Raum, und eine Ewigkeit schien zu verge-hen. War sein Vater etwa eingeschlafen? Doch dann bewegte sich Henry auf seinem Stuhl hinter ihm und stieß ihn mit dem Kopf an. "Sag mal, Junior, was ist eigentlich aus dem Kreuz geworden, hinter dem du dauernd her warst?« Das Kreuz von Coronado war seit eh und je ein Streitpunkt zwischen Vater und Sohn gewesen. Schon als Indy noch ein Junge gewesen war. Henry hatte Indys Geschichte, wie er den Dieben das Kreuz abjagte, das er tatsächlich nach Hause brachte und dann wieder hergeben mußte, nie geglaubt. Indy aber hatte ihm damals geschworen, sich das Kreuz wiederzuholen, und wenn er sein ganzes Leben dazu brauche. Die ganzen Jahre über hatte Henry das Thema niemals ernst behandelt. Und er brauchte Indy, wenn er ihn tüchtig ärgern wollte, nur danach zu fragen, wo denn das Kreuz sei. Üblicherweise unterdrückte Indy seinen Zorn und konterte allenfalls mit der Bemerkung, so sehr viel komischer als Henrys Jagd nach dem Gral sei seine nach dem Kreuz auch nicht. Diesmal aber hatte er eine klare Antwort parat. »Ich habe es Marcus für sein Museum gegeben, bevor wir aus New York abreisten. Ich hatte es mir endlich zurückgeholt.« Er sprach ganz gelassen. »Wie ich es schon immer sagte.« Henry war sprachlos. Als er schließlich wieder etwas sagte, klang es versöhnlich. »Marcus war sehr an deiner Suche nach diesem Kreuz interessiert. Ich kann mir gut vorstellen, wie aufgeregt er gewesen sein muß. Doch jetzt... wenn Donovan ihn kriegt, hat er nicht einmal mehr Gelegenheit, sich daran zu freuen, daß es bei ihm ausgestellt ist.« »Wenn er sonst keine Sorgen hat...« Und wenn ich sonst keine Sorgen habe. Er überlegte, ob er sei-nem Vaer seine Überlegungen hinsichtlich Donovans Verbindung mit dem Kreuz mitteilen sollte. Doch das konnte wirklich warten. Im Augenblick war erst einmal wichtig, aus ihrer mißlichen Lage hier herauszukommen. Donovan und Sturmführer Vogel standen auf einem Laufgang in einem unterirdischen Lagerraum im Berg unter dem Schloß. Sie blickten dem Wagen nach, der Elsa fortbrachte. Ein zweiter fuhr bei ihnen vor. Donovan war schon am Einsteigen, als er sich noch einmal zu Vogel umwandte. »Wir finden Brody schon. Kein Problem. Sie können die beiden da oben ruhig beseitigen. Jetzt sofort.«
Brennende Wünsche Indys Kopf fuhr hoch. Plötzlich war ihm eingefallen, wie er die Fesselschnüre abbekommen konnte. Verdammt. Und die ganze Zeit hat man es vor der Nase und erkennt es nicht.
Wieso war er so hirnvernagelt? Wären seine Hände nicht immer noch gefesselt gewesen, er hätte sich selbst an den Kopf geschlagen. »Dad, kannst du mal in meine Tasche greifen?« Henry wurde lebendig. »Wozu das denn?« »Tu's einfach.« »Schon gut, schon gut.« Indy bot alle Kraft auf, um sich so weit zur Seite zu drehen seine rechte Seite der Hand seines Vaters so nahe wie nur möglich kam. Es dauerte einige Minuten, bis Henry seine Tasche überhaupt erreichte. Hineingreifen konnte er auch jetzt noch nicht. Sie mußten sich beide noch eine Weile winden, bis es ihm gelang, mit den Fingern hineinzukommen. »Wonach suche ich überhaupt?« »Nach meinem unverschämten Glück." »Fühlt sich wie ein Feuerzeug an.« Indy antwortete nicht und wartete, bis bei seinem Vater der Groschen von alleine fiel. "Lieber Himmel, natürlich! Junior, du bist nicht schlecht!« Indys Ungeduld war kaum mehr zu zähmen. »Nun mach es endlich an!« Henry mühte sich, bekam den Deckel noch nicht auf, und versuchte es noch einmal. Indy wartete und wagte kaum zu atmen. »Tu mir einen Gefallen, Dad, und laß es nicht runterfallen.« »Verlaß dich drauf, Junior. Wo hast du übrigens ein Feuerzeug her? Du rauchst doch gar nicht!« »Es gehört Elsa. Ich vergaß, es ihr zurückzugeben, als wir aus den Katakomben wieder heraus waren.« Beim nächsten Versuch sprang der Deckel auf. Henry drehte mit dem Daumen das Rädchen. Indy fühlte Funken, aber angehen wollte das Feuerzeug nicht. »Verdammtes Dings«, schimpfte Henry. »Braucht wahrscheinlich Benzin.« Na großartig.
»Na los, versuch's noch mal, Dad, verdammt!« Henry versuchte es noch einige Male. Dann brannte es plötzlich. »Brennt«, sagte er. Indy fühlte gleich darauf die Flammenhitze an seiner Hand. Die Schnur, Dad, nicht meine Hand!« Henry hielt die Feuerzeugflamme minutenlang an die Schnur. Einmal verlöschte sie, und es dauerte erneut, bis er sie wieder an hatte. Indy begann wegen der verqueren Haltung, zu der er gezwun-gen war, der Rücken zu schmerzen. Er biß auf die Zähne und ver-suchte, seine Hände ruhig zu halten. Die versengende Schnur stank. Es kitzelte in der Nase. Als sie zu schmoren und nachzugeben begann, fluchte Henry plötzlich. "Was ist?« »Runtergefallen.« Indy verrenkte den Kopf, so gut es ging, aber er konnte das Feuerzeug nicht entdecken. Die einzige Möglichkeit, es wiederzubekommen, war, wenn sie sich beide mit ihren Stühlen zu Boden fallen ließen und dann seitwärts suchend herumrobbten. Er erklärte es Henry. »Also, können wir es jetzt probieren?« Henry antwortete nicht. »Dad?« »Junior, ich muß dir was sagen.« Indy mißverstand den entschuldigenden Tonfall seines Vaters. »Werden wir jetzt nicht sentimental, Dad. Später, wenn wir hier raus sind. Ja?« Dann schnüffelte er. »He, was zum Teufel brennt da?" »Genau das wollte ich dir sagen. Der Fußboden.« »Was?« Er beugte den Kopf nach hinten und sah die züngelnden Flammen. »Na, dann aber Tempo. Los, wir schaukeln uns mit den Stühlen rüber!« Sie rutschten durch Hin- und Herbewegungen über den Fußboden an das andere Ende des Raumes, runter vom brennenden Teppich. Die Stühle kratzten auf dem Boden und fielen beinahe um. »Zum Kamin hin!« Sie arbeiteten sich zum Kamin, dem einzig sicheren Platz im ganzen Raum. Hinter ihnen schien sich das Feuer an sich selbst weiterzuentzünden. Es breitete sich sehr rasch aus und fraß sich den ganzen Teppich entlang. Indy rubbelte die ganze Zeit die Hände am Stuhl auf und ab, um die Fesselschnur ganz durchzuscheuern. Als sie sich in den Kamin ruckelten, fuhr Indys Bein unabsichtlich hoch und gegen den Riegel der Geheimtür, die sofort aufging. Der ganze Kamin drehte sich wie ein Teufelsrad. Im nächsten Moment befanden sie sich auf der anderen Seite der Wand in einem Nachrichtenraum, in dem vier Funker mit Kopfhörern an einer großen Schalttafel mit Drehhebeln und Instrumenten saßen. Sie wandten ihnen den Rücken zu und merkten gar nicht,
daß sie Besuch hatten. "Auch nicht viel besser hier«, flüsterte Henry. Doch seine Stimme war trotzdem zu laut. Einer der Funker blickte sich um und starrte verblüfft auf die Szene, die sich ihm plötzlich bot: zwei Rücken an Rücken auf Stühle gefesselte Männer. Henry stöhnte auf. »So, und was nun,Junior? Noch irgendwelche großartigen Einfalle?« Indy blickte sich in Panik nach dem Riegel um, der sie noch einmal auf die andere Seite drehen könnte. Der Funker war aber bereits aufgesprungen und alarmierte seine Kollegen. Indy erblickte den Riegelhebel direkt vor sich und trat mit dem Bein danach. Zu hoch. Es ging nicht. Blieb nur noch eine Möglichkeit. »Stoß dich mit den Füßen ab!« schrie er und ruckte sich gleichzeitig selbst so heftig nach vorne, wie es ging. Er stieß mit dem Kopf an den Hebel, und sofort drehte sich der Boden wieder mit ihnen. Keinen Lidschlag zu früh. Der Funker hatte bereits seine Pistole gezogen und schoß mehrere Male. Indy und Henry waren wieder mitten im Feuer. Inzwischen brannte nicht nur der Teppich. Auch die Vorhänge und Möbel standen bereits in hellen Flammen. Dicker schwarzer Rauch beizte ihnen die Augen. Feuer fiel selbst von der Decke. Indy hustete, er bekam kaum noch Luft. »Auf der anderen Seite wäre es immer noch besser«, versuchte Henry das Donnern des Brandes zu überschreien. Indy hatte keine Zeit, sich groß auf Gespräche einzulassen. Er hatte inzwischen weiter an seinen schon angesengten Fesselschnü-ren gezerrt, und tatsächlich rissen sie nun mit einem Ruck. Er ließ sich von seinem Stuhl fallen und begann, hastieg seinem Vater die Fesselschnüre zu lösen. Er blickte sich um. Er entdeckte eine Nische im Kamin und drückte mit der Hand dagegen. Tatsächlich rotierten sie daraufhin erneut mit dem Kaminboden. »Rasch, hier rauf!« keuchte Indy, stellte sich auf seinen Stuhl, faßte in die Nische und zog sich durch deren Öffnung in der Mitte nach oben. Er drückte sich gegen die Wände, griff nach unten und zog seinen Vater am Arm mit hoch. Er brachte ihn im gleichen Moment durch das Loch, als die vier Funker unten auf der Drehscheibe in den brennenden Raum hereineinkamen. Sie hatten ihre Pistolen gezogen und im Anschlag. Sie sahen die leeren Stühle und berieten sich einen Augenblick. Dann kehrten zwei von ihnen in den Nachrichtenraum zurück. Die anderen beiden bewegten sich mit abschirmender Hand über den Au|gen suchend auf die Flammen zu. Indy war klar, daß sie sich nicht lange oben im Kamin halten konnten. Schon unter normalen Umständen wäre es in der unbequemen Stellung, in der sie waren, schwierig gewesen. Nun aber kam auch noch die in den Kamin ziehende Hitze des Feuers dazu. Nach einer kurzen Weile kamen die beiden anderen Funker aus dem Nachrichtenraum zurück. Sobald sie den Kamin verlassen hatten, ließ sich Henry hinabfallen und Indy zog sofort wieder den Hebel für den Drehmechanismus. Während sie sich hinausdrehten, sah Indy kurz die Tür des brennenden Raumes, in dem ein verblüffter Standartenführer Vogel stand. Die Zugluft der offenen Tür ließ die Flammen auf ihn zuschießen. Er sprang zurück und entkam der Walze von Feuer und Rauch nur knapp. »Sie werden gleich wieder da sein«, warnte Henry, sobald sie im Nachrichtenraum waren. »Ich weiß ja, ich weiß.« Er schmetterte einen Holzstuhl auf den Boden und brach ihm ein Bein ab. Die Wand begann sich gerade wieder zu drehen, als er das Holzbein in das Drehgetriebe steckte und es so blockierte. Die Drehtür war erst einen Spalt geöffnet. Die Funker waren in dem brennenden Raum drüben eingeschlossen. Henry starrte auf die Tür und hörte die Schreie der der Männer. Indy sah ihm an, wie verstört er über das war, was er soeben getan hatte. Aber schließlich war die Alternative ganz einfach. Entweder das, oder sterben. So sah die Realität aus. Töten oder getötet werden. Er drehte sich um und suchte nach einem Fluchtweg. Es mußte doch einen anderen Ausweg geben, noch eine Geheimtür vielleicht. Oder ein Fenster. Irgend etwas. Er tastete und klopfte die Wände ab, ob es irgendwo hohl klang. »So finden wir nichts raus«, sagte Henry. »Setzen wir uns hin und überlegen.« »Hinsetzen?« Indy bekam ganz große Augen. »Bist du verrückt?« »Keine Panik jetzt. Ich weiß das aus Erfahrung. Wenn ich mich ruhig hinsetze, findet sich rasch der erlösende Gedanke.« Und Henry ließ sich auf ein dickgepolstertes Sofa fallen, das an einer Wand stand - so heftig, daß es ein Stück rutschte. Und dadurch öffnete sich ein Schlitz im Boden. Indy sprang rasch mit auf das Sofa. Er hatte sofort begriffen, daß sein Vater, wie unabsichtlich auch immer, den richtigen Ausgang gefunden hatte. »Jetzt weiß ich, was du meinst!« rief er ihm zu, während sie auf einer wohl hundert Meter langen Rutschbahn abwärts sausten, bis sie unten an einem Dock ankamen. Sie befanden sich in einem riesigen Kanaltunnel im Berg mit einem Laufgang daneben. Der Tunnel war offensichtlich zu einem Depot zweckentfremdet worden. Sie hasteten zu einem Stapel großer Versandkisten. »Wir müs-sen in dem Berg unter dem Schloß sein«, flüsterte Henry, Indy musterte verblüfft die ganze Ansammlung von Kanonenbooten, Rennbooten und Frachtkähnen, die sich hier befand. "Na. großartig. Schon wieder Boote.« Sie warteten, bis eine eben die Runde machende Patrouille vor-über war, und hasteten dann über das Dock auf eines der Boote zu. Indy ließ eben den Motor an, als Standartenführer Vogel am Dock erschien, stehenblieb und die Boote absuchte. Als er einen Motor aufröhren hörte, rannte er mit einigen Männern von der Wache zum nächsten Rennboot, sprang hinein und begann sofort die Verfolgung von Dr. Jones, Vater und Sohn. Indy und Henry hatten das Boot jedoch bereits wieder verlassen und und sich ein Motorrad mit Beiwagen
geschnappt, in sich Henry zwängte, während Indy fuhr. Sie rasten das Dock antlang. Henry brüllte ihm zu: " War das vielleicht auch wieder mal ein ganz stinknormaler Tag für dich?" »Mehr los als sonst war schon!« schrie Indy zurück. Er drehte das Gas auf und raste auf einen Lichtkreis zu, den er für den Tunnelausgang hielt. Wenn nicht, dann wußte er auch nicht, was als nächstes passierte. Fahrstraße und Wasserkanal liefen zum Tunnelausgang eng zusammen. Vogels Rennboot eröffnete MG-Feuer auf sie. »Runter!« schrie er seinem Vater zu, der das wilde Kommando sofort und kommentarlos befolgte. Indy duckte sich selbst tief in das Motorrad hinein. Im nächsten Augenblick schossen sie hinaus ins helle Tageslicht. Die| Fahr-straße machte einen scharfen Knick weg vom Wasserkanal und damit von der unmittelbaren Gefahr. Er warf einen schnellen Blick auf seinen Vater, der aus dem Beiwagen hervorspitzte und sich vergewisserte, daß die Luft vorerst wieder rein war. »Und dabei geht gerade erst ein neuer Tag los." Sie kamen auf eine Kreuzung zu. Er bremste kurz und und orientierte sich. Rechts ging es nach Budapest, links zeigte ein Schild nach Berlin. Er schickte sich an, nach rechts einzubiegen. »Nein, nicht!« schrie Henry. »Halt!« »Was stimmt denn nicht?« Er fuhr langsamer und sah zu seinem Vater hinüber. Henry gab ihm aber nur weiter hektische Zeichen, stehenzubleiben. Also fuhr er von der Straße herunter und in ein Gebüsch, wo sie nicht gesehen werden konnten. Fr stieg ab und streckte sich, während Henry aus dem Beiwagen kletterte. »Also, was ist, was winkst du mir dauernd?« »Die andere Richtung. Wir müssen nach Berlin.« »Dad, Marcus Brody ist in dieser Richtung!« »Und mein Notizbuch in dieser!« antwortete Henry und deutete mit dem Daumen nach links. »Wir brauchen doch dein Notizbuch gar nicht.« »Und ob wir es brauchen! Du hast nicht genug Seiten herausgerissen, Junior!« Er blickte ihn scharf an. »Also schön, worum geht es?« »Wer den Gral findet, muß auch noch das letzte Hindernis überwinden - Vorrichtungen von tödlicher Raffinesse.« »Du meinst, eine Falle?« »Vor acht Jahren fand ich die Hinweise, wie wir an diesen Fallen vorbeigekommen wären. Ich fand sie in den Aufzeichnungen des Hl. Anselm.« »Hast du sie denn nicht auch im Kopf?« »Ich schrieb alles genauestens in das Notizbuch, damit ich es eben nicht im Kopf behalten mußte.« Draußen auf der Straße donnerten zwei Motorräder der Wachmannschaft vom Schloß in Richtung Osten vorbei. »Die halbe SS und womöglich die Gestapo und was weiß ich noch alles sind hinter uns her, und du willst, daß wir ihnen direkt in den offenen Rachen fahren?« »Richtig. Für mich zählt allein der Heilige Gral.« "Und was wird aus Marcus?« "Marcus, da bin ich ganz sicher, würde mir rückhaltlos beipflichten.« Indy verdrehte die Augen. Diese Litanei hatte er schon so oft gehört, daß er sie im Schlaf aufsagen konnte. »Ach, ihr Gelehrten!« Henrys Hand klatschte ihm ins Gesicht. Nicht sehr fest, aber doch sehr überraschend. Er hatte das mehr im Spaß gesagt, doch sein Vater nahm es offensichtlich ernst und fühlte sich beleidigt. Er hielt sich stirnrunzelnd die Backe. »Das ist für deine Blasphemie!«fauchte ihn Henry an. »Hast du denn alles vergessen, was du über Parzival gelesen hast? Hast du gar nichts aus Wolfram von Eschenbach oder Richard Wagner gelernt? In den Händen des Gralsritters Parzival ist der Gral ein geheiligter Kelch mit heilender Kraft. In den Händen des bösen Klingsor ist er jedoch ein Werkzeug für schwarze Magie!« Er schüttelte mißbilligendden Kopf. »Die Suche nach dem Gral ist keine Archäologie. Es ist ein Wettlauf gegen das Böse! Wenn der Gral in die Hände der Nazis fällt und ihrem Kult einverleibt wird, werden die Armeen der Finsternis über das Angesicht der Erde marschieren!« Seine Augen funkelten. »Hast du mich verstanden?« In der versponnenen Gedankenwelt seines Vaters hatten sich Mythos und Realität schon lange untrennbar ineinander verwoben. Für ihn war auch der Mythos Wirklichkeit. »Ich habe dein Obsessionen, was dieses Thema betrifft, niemals verstanden. Und Mutter übrigens auch nicht.« Und er funkelte Henry seinerseits an. Die Erwähnung seiner Mutter war eine gewagte Herausforderung. Und tatsächlich hörte er seinen Vater nun zum ersten Mal seit über dreißig Jahren von ihr sprechen. »O doch, sehr gut sogar. Zu gut. Eben deswegen wollte sie nicht, daß ich mir ihretwegen Sorgen machte, und verschwieg mir also ihr Leiden. Solange, bis ich sie nur noch betrauern konnte.« Ihre Blicke trafen sich. Und in diesem Moment wußte Indy: Jetzt waren sie einander ebenbürtig. Endlich hatte er seinem Vater ein Wort über den Tod seiner Mutter entlocken können. Endlich hatte sein Vater über seine Gefühle für sie gesprochen und sogar Fehler eingestanden. Die Erwähnung allein heilte die alte Wunde zwischen Ihnen. Er legte Henry die Hand auf die Schulter. »In Ordnung, Papa. Fahren wir also nach Berlin.«
Feuer in Berlin Flaggen, Fahnen und Fähnchen mit Hakenkreuzen wurden wild geschwenkt, immer wieder und im gleichen Takt mit der fanatischen Bewegung der Menge. Den Mittelpunkt der Massenkundgebung bildete ein gewaltiger Scheiterhaufen aus einem drei Meter hohen Bücherberg. Rundherum standen Studenten und SA-Braunhemden, die immer neue Bücher in das Feuer warfen. Viele davon waren Klassiker, die die Nazis und ihre Sympathisanten als verwerflich und unpatriotisch verdammt hatten und die nun »dem Feuer übergeben« wurden. Indy ging auf den Platz zu. Er knöpfte sich die Jacke seiner Nazi-Uniform zu, die ihm gleich mehrere Nummern zu groß war. Nach ihrer Ankunft in Berlin waren sie mit ihrem Motorrad eine ganze Weile herumgefahren, bis sie einen einzelnen uniformierten Nazi gefunden hatten, der nicht bei seiner Einheit war. Henry hatte getan, als sei ihm schlecht geworden, und hatte sich direkt vor dem Mann auf die Straße fallen lassen. Der war stehengeblieben, um nachzusehen, was los war. Sofort war Indy herbeigeeilt und hatte ihn um Hilfe gebeten, seinen Vater an einen ruhigen Ort wegzutragen. Sie brachten ihn in einen Hauseingang, und dort hatte Indy den Mann ohne mit der Wimper zu zucken k. o. geschlagen und ihm die Uniform ausgezogen. Henry an seiner Seite trug noch seine normalen Kleider. Sie näherten sich entschlossen der aufgeheizten Kundgebung. »Mein Junge«, flüsterte Henry, »wir sind Pilger in einem unheiligenLand.« »Ja» nur leider ist das kein Kino, sondern Wirklichkeit«, sagte Indy und nickte zu einem Kameramann hin, der die ganze Szene filmte. Plötzlich blieb er abrupt stehen und starrte zu der erhöhten Tribüne hinauf.
»Was ist?« fragte Henry. Indy deutete mit dem Kopf. Das überdachte Podium war mit hohen Würdenträgern des Dritten Reichs dicht besetzt. Sie thronten über ihren Untertanen wie eine Königsfamilie. Zwei bekannte Gesichter waren darunter: Adolf Hitler und, direkt an seiner Seite, Dr. Elsa Schneider. »O Gott«, stöhnte Henry und schüttelte ungläubig den Kopf. »Zur Rechten des Satans persönlich. Glaubst du es jetzt endlich, daß sie zu den Nazis gehört?« Indy sagte nichts. Er bahnte sich weiter seinen Weg durch die Menge. Henry blieb wie ein Schatten hinter ihm. Sie näherten sich der Tribüne, so weit er es nur wagen konnte. Neben dem Kameramann, der versuchte, auch Hitler, Elsa und andere der ganz hohen Bonzen zu filmen, stand eine Frau. Indy begriff, daß sie wohl die Regisseurin war, weil sie unaufhörlich rief und winkte, um die Aufmerksamkeit der hohen Herrschaften auf der Tribüne zu erregen. Sie hatte es nicht leicht; es war ein ziemlich erregtes Durcheinander und ein allgemeines Hin und Her. »Einen Schritt vorwärts, bitte, mein Führer!« rief sie Hitler zu. Hitler trat einen Schritt zurück. »Sehr schön. Wunderbar! Sehr schön. Alle anderen ebenfalls einen Schritt zurück!« Statt dessen traten alle einen Schritt vor, und Hitler war kaum noch zu sehen. Die Regisseurin warf die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf. »Bitte! Bitte! Sie verdecken doch den Führer!« Indy verkniff sich ein Lachen. »Sieht so aus, als verstünde ich besser deutsch als die ganze Reichsführung«, sagte er zu seinem Vater, der ihn gezwungen hatte, mehrere fremde Sprachen zu lernen, noch ehe er achtzehn gewesen war. Damals hatte er ihm dies sehr übel genommen. Aber längst war er sehr froh darüber. »Dank dir«, sagte er mit einem sanften Ellenbogenstoß in Henrys Rippen. Henry war wenig erfreut. »Jetzt dankt er mir. Jetzt hört er auf mich!« Indy lachte.
Die Kundgebung war zu Ende, und Indy drängte sich durch einen Trupp Fackeln tragender Nazis. Diese Eiferer machten ihn zornig, aber nach außen hin blieb er gelassen und unbeteiligt. Er ging um die Tribüne herum und suchte sich einen Weg durch die Naziführer und ihre Dienstwagen. Er nützte die sich zerstreuende Menge aus, in der er schließlich Elsa wahrnahm. Sie ging allein. Ihr dichtes Haar schimmerte golden in der Sonne. Henry blieb in diskretem Abstand etwas zurück. Er war einverstanden gewesen, als Indy erklärt hatte, er wolle sich ihr allein nähern. In einer halben Stunde, hatten sie vereinbart, wollten sie sich an der Seite der Tribüne wiedertreffen. Er beschleunigte seine Schritte, um sie einzuholen, wurde wieder langsamer, als er direkt hinter ihr war, und wartete, bis er niemanden mehr in unmittelbarer Nähe sah. »Hallo, Fräulein Doktor.« Sie fuhr herum und brachte den Mund nicht mehr zu. »Indy!« Seine Stimme war ruhig, aber entschlossen, sein Blick hart und unversöhnlich. »Wo ist es?« »Du bist mir gefolgt.« Sie sagte das auf eine Weise, die ihn unsicher werden ließ, ob sie sich nicht noch immer zu ihm hingezogen fühlte. Es schien, daß ihre Gefühle sie in die eine Richtung zogen, ihr Verstand aber in die andere - letztere war tödlich für ihn und seinen Vater. Sie legte ihm ihre Hand auf das Gesicht, ihr Mund öffnete sich leicht, und ihre Augen glänzten sehnsüchtig.
»Du hast mir wirklich sehr gefehlt, Indy.« Er schob ihre Hand heftig von sich und begann sie am ganzen Körper abzutasten. Er suchte nach dem Notizbuch. »Wo ist es ? Ich will es wiederhaben!« Seine harte Stimme und die Grobheit, mit der er sie abgesucht hatte, brachte sie in die Realität der Situation zurück. Einen Augenblick lang glaubte er, sie werde ihn um Verzeihung für alles bit-ten. Ihr Mund bebte, ihre Beherrschung schien sich aufzulösen. Dann aber veränderte sich etwas an ihr, es war deutlich sichtbar. Ganz tief in ihrem Inneren hatte sie sich offensichtlich selbst den Befehl gegeben, sich zusammenzunehmen. Als sie antwortete, war sie kühl und spröde. »Alles ist immer noch an seinem Platz wie das letzte Mal, als du nachgesehen hast.« Er ignorierte sie jedoch und setzte seine Leibesvisitation fort. Er fuhr mit den Händen ihre Beine entlang und hielt an, als er etwas fühlte. Er blickte sich rasch um, griff dann mit schnellem Griff unter ihr Kleid und holte das Gralstagebuch hervor, das sie mit einem Gummi um ihr Bein gespannt hatte. »Entschuldigung, mußte aber sein.« Sie schüttelte nur den Kopf. Seine hektische Suche verwirrte sie doch etwas. »Ich verstehe es nicht, Indy. Nur wegen dieses Notizbuches bist du mir bis Berlin gefolgt? Warum?« »Weil mein Vater es nicht gerne sähe, wenn es bei einer eurer hübschen Partys ebenfalls verbrannt würde.« Sie musterte ihn intensiv. »Du scheinst tatsächlich zu glauben, daß ich zu diesem Braunhemdenverein gehöre?« »Was soll ich denn sonst glauben?« antwortete er kalt. »Ich glaube an den Gral, nicht an das Hakenkreuz.« »Wie man sieht!« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Tribüne hinter ihnen. »Da oben bist du doch schließlich mitten unter all denen gestanden, die die Feinde all dessen sind, was der Gral bedeutet! Wen interessiert da noch, was du glaubst oder zu glauben vorgibst?« »Dich«, sagte sie kurz. Wie im Reflex fuhr seine Hand an ihre Kehle. »Ich brauche nur zuzudrücken.« »Und ich brauche nur zu schreien.« Es war eine Pattsituation, das war ihm klar. Liebe und Haß, Hin und Her - - ein Tauziehen. Er würde natürlich niemals wirklich zudrücken, und das wußte sie genau. Ebenso wie er genau wußte, daß sie niemals schreien würde. Allem, was geschehen war, völlig ungeachtet, war die Anziehungskraft und Faszination ihrer Gegenwart so stark wie eh und je. Er ließ sie los und trat etwas zurück. Sie wechselten einen Blick, der ihnen beiden alles sagte. Es war der Blick von Liebenden, deren Leben durch Kräfte jenseits ihrer Einflußmöglichkeiten gleichzeitig zueinander führte und getrennt wurde. Und doch wußte er auch, daß es auch ihre eigenen Entscheidungen gewesen waren, die sie zusammengebracht hatten. Und auch wieder trennten. »Indy!« rief sie. Er wich noch einen Schritt zurück, drehte sich dann hastig um und rannte davon. Sein Vater wartete bereits an der Tribüne. »Los, nichts wie weg hier!« »Hast du es?« fragte Henry auf dem Weg. »Ja.« »Wunderbar. Und wie hast du es der Nazihure abgenommen?« Die Bemerkung ärgerte ihn. Irgend etwas rührte sich in ihm, das ihn zwang, sie zu verteidigen. Er wollte gerade zu einer harschen Entgegnung ansetzen, als er gewahr wurde, daß die Menge, durch die sie sich eben drängten, aus Hitler und seiner Begleitung bestand. An die fünfzig Jugendliche drängten sich mit Autogramm-buchern um Hitler herum. Hitler blieb tatsächlich stehen und gab Autogramme. Dabei fiel sein Blick auf Indy, der aus der Menge der Kleinen herausragte. Ihre Augen trafen sich einen Augenblick. Es war nur ein kurzer Moment, aber Indy verspürte mit einem Schlag die Macht von Hitlers Charisma. Zum ersten Mal verstand er, warum dieser Mann eine so ergebene und blinde Gefolgschaft hatte. Er aber wußte es doch besser! Er wußte doch, was für ein Terrorregime Hitler ausübte, welche Verwüstungen und Schrecken er anrichtete und über was für ein fürchterliches Potential für ein weltweites Chaos er verfügte! Und eben dies machte seine Anziehungskraft um so beängstigender. Hitler brach den Bann, als er ihm das Gralstagebuch aus der Hand nahm, um sein Autogramm hineinzuschreiben. Er schlug es auf, noch ehe Indy irgendwie reagieren konnte. Nur das Aufstöhnen seines Vaters hinter ihm war deutlich zu vernehmen. Aber Hitler schrieb ganz mechanisch nur seine Unterschrift und reichte das Büchlein zurück. Indy kam aus seiner Erstarrung rasch wieder zu sich. Er schlug die Hacken zusammen und grüßte mit erhobenem Arm. Gleichzeitig machte er diese Ergebenheitsadresse wieder unwirksam, indem er den anderen Arm hinter seinem Rücken nach unten hielt und die Finger kreuzte. Im nächsten Augenblick, Indy hatte kaum seine Grußhand wieder unten, war Hitler bereits in seinen herbeigerollten Wagen eskortiert worden und verschwand. Indys direkte Begegnung mit Hitler hatte inzwischen
jedoch die Aufmerksamkeit anderer Nazis erregt. Einer von ihnen, ein SS-Offizier, der sein beträchtliches Übergewicht unter einem langem Mantel versteckte, kam hinter ihm her, um den Untergebenen zur Rede zu stellen. »Was haben Sie hier zu suchen ?« belferte er ihn an. »Dies hier ist abgesperrte Zone. Begeben Sie sich sofort zu Ihrer Einheit!« Indy stand stramm und riß erneut die Hand hoch. »Heil Hitler!« Als er sah, daß sonst niemand mehr um sie herum war, holte er in der gleichen Bewegung aus, ballte die Hand zur Faust und verpaßte dem Dicken einen perfekten Haken unters Kinn. Henry stöhnte wieder auf. »So, jetzt geht es aber so, wie ich will«, erklärte Indy ihm. »Was meinst du damit?« »Nichts wie raus aus Deutschland!« Er fuhr mit dem Beiwagen-Motorrad, das sie immer noch hatten, vor dem Gebäude des Flughafens Berlin vor. Er stieg ab und richtete sich den Mantel des übergewichtigen SS-Offiziers. »Wenn du schon pausenlos anderen Leuten die Kleider abnimmst«, sagte Henry, »warum hältst du dich da nicht gleich an deine Größe?« »Nächstes Mal denke ich daran.« Sie stellten sich an einen Schalter in die Warteschlange, um Flugscheine zu kaufen. »Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde aus dem Land raus, und morgen haben wir Marcus schon gefunden«, sagte er zuversichtlich. »Wenn«, sagte Henry leise und deutete mit dem Kopf auf den Platz neben dem Flugscheinschalter. Dort wurde jeder, der Flugscheine kaufte, von Gestapobeamten befragt. Indy nahm seinen Vater am Arm und führte ihn aus der Schlange weg. Sie waren noch keine zehn Schritte gegangen, als sie neue Probleme auf sich zukommen sahen. Standartenführer Vogel betrat die Abfertigungshalle. »Sieh mal, wer da kommt.« Sie klappten beide rasch den Kragen hoch und drückten sich die Hutkrempen tiefer ins Gesicht, um sich dann rasch in die entgegengesetzte Richtung zu entfernen. Sie sahen gerade noch, wie Vogel den Gestapobeamten ein Foto zeigte. »Hoffentlich nicht gleich ein Familienporträt«, flüsterte Indy, während sie sich davonstahlen. Das Gebäude nebenan war eine weitere Flugabfertigungshalle, kleiner und neuer und mit Jugendstil-Blumenornamenten dekoriert. Er ging zu einem der Schalter und stellte sich hinter einigen gutgekleideten Männern und Frauen an. Dann muß es wohl Erster Klasse sein, dachte er. »Warum hier?« fragte Henry. »Weil man hier nicht kontrolliert wird!« Es ging nur langsam voran. Die Minuten verrannen. Indy blickte sich unablässig nervös um. Er haßte das. Warten zu müssen, bis etwas geschah. Er zog es vor, den Dingen direkt ins Gesicht zu blicken und sie sofort hinter sich zu bringen. Er begann unruhig zu werden und zwang sich, eine Weile lang einfach nur auf seine Schuhspitzen zu starren. Schließlich hob er wieder langsam die Augen und sah sich vorsichtig um; wie ein gelangweilter Reisender, der sich überlegt, wo er sitzen würde, sobald er erst im Flugzeug saß. Um sich zu zwingen, sich nicht umzudrehen, las er eine Tafel an einer der Säulen. Sie erinnerte an den Flug des Zeppelins »Hindenburg« vom 9. bis n. August 1936 von Lakehurst, New Jersey, nach Friedrichshafen in zweiundvierzig Stunden, dreiundfünfzig Minuten - Weltrekord. Er sah wieder auf seine Schuhe hinunter und klopfte ungeduldig auf den Boden. Dann hielt er es nicht mehr aus. Seine Augen wanderten neugierig und hastig durch die ganze Abfertigungshalle. Die stämmige Frau hinter ihm in der Schlange musterte ihn. Er sah wieder auf die Erinnerungstafel auf der Säule und las die letzte Zeile. »Bestätigt durch FAI/Federation Aeronautique Internationale.« »Na, was ist denn?« mahnte ihn Henry. Er schreckte auf. Die Schlange vor ihm hatte sich weiterbewegt, und sein Vater wartete bereits am Schalterfenster auf ihn. Sie kauften ihre Flugscheine und erkundigten sich nach dem nächsten Flug. Auf dem Weg zurück in die Wartehalle fragte Indy seinen Vater, ob er überhaupt wisse, wohin sie flögen. Henry verdrehte die Augen, als sei dies eine sehr seltsame Frage, erklärte dann jedoch zu seiner Verblüffung: »Also eigentlich nicht. Du?« Es war im Grunde auch von geringer Bedeutung, wohin sie flo- gen, solange sie einfach aus Deutschland herauskamen. Er sah trotzdem auf dem Flugschein nach. »Athen. Das ist nicht gerade die Umgebung von Iskenderun, aber immerhin, die Richtung stimmt.« »Athen, natürlich«, wiederholte Henry und gab nickend seine Zustimmung zu erkennen. »Das sieht schon ganz gut aus.« Indy blieb stehen, als er die Abbildung auf seinem Flugschein wahrnahm und daraus ersah, daß sie gar nicht mit
dem Flugzeug nach Athen flogen. »He, Dad.« Henry ging schon voraus und hörte nicht. Indy eilte ihm nach. Sie standen draußen auf dem Flugfeld und hatten ihr Verkehrsmittel nach Athen direkt vor sich. »Ich werd" verrückt«, sagte Henry. Ein Zeppelin, mehr als zehn Stockwerke hoch und zwei Fußballfelder lang, war am Flugfeld verankert. Sie hatten sich nicht nur keine Mühe gemacht, festzustellen, wohin sie eigentlich flogen. Alle beide hatten sie auch nicht bemerkt, daß sie für einen Zeppelin gebucht hatten. Sie waren recht verblüfft über den Stand der Dinge. »Sieh dir das an«, sagte Indy und deutete auf einige Doppeldek-ker, die unter dem riesigen Zeppelin an großen Haken hingen. »Wie würde es dir da unten in denen gefallen?« Henrys Antwort war sehr bestimmt. »Vielen Dank, nein.« Sie fanden ein leeres Abteil und machten es sich bequem, während der Zeppelin das Ablegen vorbereitete. Indy ließ sich in seinen Sitz sinken und verschränkte die Arme. »Geschafft, Dad.« Henry holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab. »Langsam! Erst mal müssen wir wirklich in der Luft sein und außerhalb von deutschem Hoheitsgebiet.« Indy blickte zum Fenster hinaus. »Was soll noch passieren? In ein paar Stunden sind wir in Athen und fahren dann gleich los nach Iskenderun und zu Marcus. Entspanne dich und genieße die Landschaft.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als er eine ihm mittlerweile nur allzu bekannte Gestalt über das Flugfeld laufen sah. Es war Standartenführer Vogel, gefolgt von einem der Gestapobeamten, die sie zuvor im Hauptabfertigungsgebäude gesehen hatten. Er fühlte sich mit einem Schlag bleischwer, als er sie an Bord kommen sah. Schien doch kein so angenehmer Flug zu werden.
Luftakrobatik »Warte hier«, sagte Indy zu seinem Vater. Er war draußen, ehe Henry etwas sagen konnte. Seine Gedanken jagten sich. Er mußte etwas tun, nur was? Sein einziger Vorteil bestand darin, daß er wußte, daß Vogel an Bord gekommen war. Wie er dieses Wissen nützen konnte, war ihm zwar noch nicht klar, aber er hegte auch keinen Zweifel daran, daß ihm rechtzeitig etwas einfallen würde. Es war ihm noch immer etwas eingefallen, wenn ihm unbedingt etwas hatte einfallen müssen, also warum nicht auch jetzt? Er war wie eine Katze mit neun Leben. Neun Leben. Aber habe ich noch eines übrig? Er war kaum aus dem Abteil, als er Vogel schon sah. Vorne im Gang. In seiner Richtung. Er drückte sich in die nächste Tür, auch wenn auf ihr stand Nur für Besatzungsmitglieder. Als Vogel draußen vorbeikam, hörte er, wie ein Steward ihm eröffnete, der Zeppelin lege gleich ab und er müsse sich deshalb setzen. Er öffnete die Tür einen Spalt. Vogel betrat eben, gefolgt von zwei anderen noch in letzter Minute an Bord gekommenen Passagieren, genau das Abteil, das er soeben verlassen hatte. »O Gott«, flüsterte er entsetzt. Wie würde sein Vater mit Vogel zurechtkommen? Noch ehe er irgend etwas unternehmen konnte, kam der Steward herein und rannte ihn fast um. »Was machen Sie denn hier drin?« fragte er laut. »Das hier ist nur für die Besatzung, können Sie nicht lesen? Außerdem legen wir jeden Moment ab.« Indy deutete vielsagend nach oben. Der Steward folgte seinem Blick automatisch. Und hatte im nächsten Moment bereits einen Uppercut am Kinn. Nicht, daß Indy gerne unschuldigen Unbeteiligten etwas zuleide tat, aber unter den gegebenen Umständen -Vogel in unmittelbarer Nähe - blieb ihm nichts anderes übrig, als den Mann schnell außer Gefecht zu setzen. Doch anders als der Butler im Schloß taumelte der Steward hier nur zurück. In seinem Bemühen, ihm nicht zu weh zu tun, hatte er zu schwach geschlagen. Jetzt blickte der Mann ihn ziemlich verblüfft an und schlug dann seinerseits zu. Indy blockte ihn leicht ab und ließ einen nachdrücklicheren Schwinger hinterherfolgen. Das reichte diesmal. Der Steward fiel um wie ein gefällter Baum. Als der Zeppelin einige Minuten danach aufzusteigen begann, kehrte Indy in das Abteil zurück - jetzt allerdings in Uniform und Mütze des Stewards. Diesmal stimmte sogar die Größe. »Die Flugscheine bitte. Flugscheinkontrolle«, verkündete er. Henrys Augen lugten über den Rand der Zeitung, hinter der er sich verschanzt hatte, hervor und wurden groß, als er sah, wer der Flugscheinkontrolleur war. Er reichte ihm wortlos sein Ticket. Indy nickte ihm zu. »Ihr Flugschein, bitte sehr!« sagte er zu Vogel und steckte fordernd die Hand aus. Der Standartenführer blickte hoch, erkannte Indy sofort und griff in seine Innentasche nach der Waffe. Indy hatte ihn aber bereits am Arm und im Schwitzkasten, holte ihm mit schnellem Griff die Luger aus der Tasche, nahm sie ihm ab und hievte ihn aus dem Sitz hoch. Mit rascher Nachhilfe seines Vaters hatte er ihn dann am Fenster, durch das sie ihn hinausstießen. Vogel landete unsanft draußen auf dem Flugfeld. Die anderen Passagiere des Abteils wichen bestürzt und erschrocken über den rauhen Umgang des Stewards mit dem ausländischen Akzent zurück. Indy lächelte sie achselzuckend an. »Kein Ticket!« Worauf sich alle beeilten, ihm ihre eigenen Flugscheine entgegenzuhalten.
Während er sie entgegennahm, warf er einen Blick aus dem Fenster nach Vogel. Er kniete mit Händen und Füßen japsend am Boden und starrte dem aufsteigenden Zeppelin nach. »Nächstes Mal«, schrie Indy zu ihm hinunter, »kaufen Sie sich gefälligst zuerst ein Ticket!« Er verließ das Abteil und eilte zurück in den Besatzungsraum. Er mußte überlegen, was er als nächstes unternehmen sollte. Vogel war ja nicht allein gewesen. Gleich darauf kam auch schon der Gestapoagent den Gang draußen entlanggelaufen. Er sah verstört und ziemlich ungemütlich aus, und der Grund dafür war nun wirklich nicht schwer zu erraten. Der arme Tölpel hatte weder ihn noch seinen Vater gefunden, und jetzt fand er nicht einmal mehr Vogel. Indy trat aus dem Personalraum hinaus in den Gang und tippte dem Mann auf die Schulter. Er holte eben aus, um ihm den Kolben von Vogels Luger überzubraten, als einer der Passagiere, die mitangesehen hatten, wie er Vogel zum Fenster hinausgeworfen hatte, aus seinem Abteil herauskam. Indy beschränkte sich hastig darauf, den Gestapoagenten nach seinem Flugschein zu fragen. »Ich brauche keinen«, schnarrte der ihn an. Der Passagier drückte sich auf dem Weg zur Toilette an ihnen vorüber. »Wird Sie teuer zu stehen kommen«, murmelte er dem Agenten zu. »Er hat recht«, sagte Indy und hieb ihm den Kolben der Luger hinter das Ohr. Der Agent sackte zu Boden. Er schleppte ihn in den Personalraum, nahm ihm seine Pistole ab und öffnete die Besenkammer, wo er schon den Steward verstaut hatte. »Sie kriegen Gesellschaft«, sagte er und packte ihm den Agenten zur Seite. Der Steward war längst wieder bei Bewußtsein und gurgelte schreiend in seinen Knebel hinein. Indy brachte ihn augenblicklich zum Verstummen, indem er ihn ebenfalls mit dem Kolben der Luger Bekanntschaft machen ließ. Er bemerkte ein Knäuel Leitungsdrähte, die in ein Radio-Funkgerät liefen. Er riß sie alle zusammen mit einem Ruck heraus. An einem Haken hing eine Lederjacke. Sie sah genau wie seine eigene aus. Er konnte der Versuchung, sie anzuprobieren, nicht widerstehen. Auch sie paßte wie angegossen. An der Bar des Gesellschaftsraums des Zeppelins hörte Indy, wie ein deutsches Flieger-As aus dem Ersten Weltkrieg von seinen großen Taten erzählte, wozu er einige Modellflugzeuge als anschauliches Hilfsmittel benützte. Er hatte eine faszinierte Zuhörergemeinde, aus deren Mitte ihm ein Drink nach dem anderen spendiert wurde, was logischerweise zur Folge hatte, daß auch die Fliegergeschichten immer verwegener wurden. Indy und Henry saßen nur wenige Tische von dem mittlerweile recht betrunkenen Flieger-As entfernt. Der Steward servierte eben ihre Getränke. Sie hatten sich beide für Nichtalkoholisches entschieden. Sie konnten sich keineswegs sicher sein, daß sie fortan von allen Nazis unbehelligt blieben. Wenn ja, dann um so besser. Aber falls es weitere Schwierigkeiten geben sollte, war es schon besser, nüchtern zu sein. Henry war so tief in sein Gralstagebuch versunken, daß er gar nicht merkte, wie die Getränke serviert wurden. Er studierte eben die Seiten, welche die »tödlichen Vorrichtungen« beschrieben, die den Gral schützten. Gelegentlich sprach er murmelnd mit sich selbst, und wie er so da saß, war es Indy, als sähe er ihn wieder in weit zurückliegenden Kindheitstagen in seinem Arbeitszimmer, absorbiert von seinen Studien, völlig versunken in uralte Vergangenheit. Es gab Dinge, fand er, die sich absolut nie änderten. Er starrte aus dem Fenster, wo gelegentlich Wolkenstreifen vorüberzogen. Er dachte an Elsa und überlegte, was sie im Augenblick wohl tun mochte. Und ob sie vielleicht ihrerseits eben an ihn dachte. Irgendwie glaubte er ihr doch: daß sie, auch wenn sie dort oben zusammen mit Hitler gestanden war, eigentlich nur am Gral interessiert war. Es war eine Obsession, die er gut verstand. Sie teilte sie immerhin mit seinem eigenen Vater. Doch er kam nicht darüber hinweg, daß sie dennoch so eng mit dem Mann verbunden war, der womöglich der schlimmste Mensch auf dieser Erde seit Dschingis Khan war... Er riß sich von seinen geheimen Sehnsüchten los. Er sah seinen Vater an und warf einen Blick in das Gralstagebuch mit Henrys winziger Handschrift in mittelalterlichem Latein. Er hatte drei komplizierte Diagramme skizziert. Sie sagten ihm nichts. Das einzig Verständliche an ihnen waren ihre Überschriften. Das Pendel hieß das erste, Pflastersteine das zweite, und Die unsichtbare Brücke das dritte. Er wollte ihn eben danach fragen, als Henry selbst den Kopf hob. »Es ist eine nicht uninteressante Erfahrung«, sagte er, »an deinen Abenteuern beteiligt zu sein.« »Das ist nicht alles, was wir gemeinsam haben«, sagte Indy, und dazu fiel ihm Elsa wieder ein. »Was übrigens sagte Elsa im Schlaf?« »Mein Führer.« »Na, wenn das nicht eindeutig ist.« Er erinnerte sich an die letzten Augenblicke mit ihr in Berlin. Er war sich eigentlich ganz sicher, daß sie ehrlich gewesen war. Und doch... »Desillusioniert, wie? Zugegeben, sie war eine sehr schöne Frau. Und ich bin in dieser Hinsicht genauso ansprechbar wie jeder andere Mann auch.« »Ja, ja. Der andere war in diesem Fall ich.« Henry lächelte versonnen, als denke er an seine eigenen Erlebnisse mit ihr. »>Schiffe, die in der Nacht vorübergleiten<, oder wie das heißt. Trinken wir darauf?«
Er hob sein Glas. Indy folgte ihm. Sie stießen miteinander an. »Schiffe, die in der Nacht vorübergleiten«, wiederholte Indy. Er überlegte etwas. »Und nachmittags auch.« Henry räusperte und straffte sich. »Schön, also wieder an die Arbeit.« Er beugte sich über sein Notizbuch und begann zu lesen. »Der Hindernisse werden ihrer drei sein. Zunächst wird sein der Atem Gottes, und nur der Büßer wird ihn passieren. Danach wird sein das Wort Gottes, und nur der wird vorankommen, der in den Fußstapfen Gottes schreitet. Als drittes wird sein der Weg Gottes, und seine Gangbarkeit wird sich nur in dem Sprung vom Haupte des Löwen erweisen.« »Und das bedeutet was?« Henry klopfte mit dem Finger auf die Seite. »Das, denke ich, werden wir erfahren, sobald wir hinkommen.« Die Sonne brach durch die Wolken. Ihr Strahl fiel zum Fenster herein und teilte ihren Tisch genau in der Mitte in gleiche Hälften von Licht und Schatten. Während Indy nach seinem Glas griff, nahm er wahr, daß der Sonnenstrahl wie ein Uhrzeiger über den Tisch hinweg wanderte. Er starrte fasziniert darauf. Dann begriff er auf einmal, was es bedeutete. »Dad.« »Ja, was ist?« »Wir kehren um. Der Zeppelin fliegt zurück nach Deutschland.« Sie standen hastig auf und eilten zum Personalraum. Die Abstellkammer stand weit offen, der Steward und der Gestapoagent waren fort. Bei einem schnellen Rundblick sah Indy, daß auch die Funkleitungen, die er abgerissen hatte, provisorisch wieder geflickt waren. »Mist.«
»Ach Gott, Junior, wir haben schon wieder ein Problem.« »Ich weiß, ich weiß. Das brauchst du mir nicht extra zu sagen." Er begann fieberhaft zu überlegen. »Nein«, sagte Henry, »ich meine etwas anderes. Mein Notizbuch. In der Hast habe ich es an dem Tisch in der Bar liegen gelassen.« »Du hast - was??« Henry lächelte schwach und schuldbewußt. »Ist leider so.« Na, wenn das keine Glanzleistung ist, Dad. »Schön. Bleib hier und rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.« Er ha-stete durch den Gang zurück zum Gesellschaftsraum und war ge-rade dabei, die Tür zu öffnen, als er Stimmen hörte, die ihn stehen-bleiben ließen. Er spähte vorsichtig hinein. Der Gestapomensch und mehrere Leute von der Besatzung standen mitten im Raum beieinander, ganz in der Nähe des Tisches, an dem sie eben noch. gesessen waren. Das Notizbuch lag noch darauf. Noch hatte es niemand entdeckt. Der Gestapomann gebot allgemeine Ruhe. »Es sind Spione an Bord dieses Luftschiffs! Wer Führer, Reich und Vaterland loyal zur Seite steht, folgt mir auf der Stelle!« Einige blasierte Passagiere blickten kurz auf und widmeten sich dann weiter ihren Cocktails und Gesprächen, ohne die Aufforderung des Beamten weiter zu beachten. Der einzige, der sofort herbeikam, war das Flieger-As aus dem Ersten Weltkrieg. Er stieg unsicher vom Barhocker und taumelte vorwärts. Jetzt hieß es sich sputen. Indy schlug den Kragen der Lederjacke, die er immer noch trug, hoch und holte ein Taschentuch heraus. Er gab vor, zu niesen, als er in den Gesellschaftsraum hineinging, was ihm den Vorwand gab, den Kopf nach unten zu halten. Doch der Gestapomensch zitierte ihn sogleich zu sich. Er zeigte mit dem Finger auf ihn und erklärte ihm: »Auch Sie kommen mit uns. Wir suchen amerikanische Spione.« Indy hielt sich weiter das Taschentuch an die Nase. »Ich habe Schnupfen«, sagte er. »Tut mir leid.« Dabei griff er unauffällig hinter sich, holte das Notizbuch vom Tisch und ließ es in seine Gesäßtasche gleiten. Der Steward neben dem Gestapomann war genau der, den er niedergeschlagen und gefesselt hatte. Er war im Unterhemd und begann ziemlich argwöhnisch zu ihm herzusehen. »Ich bleibe lieber in meinem Abteil«, sagte Indy und hastete zur Tür.« »Das ist er!« schrie der Steward plötzlich laut. »Haltet ihn!« Doch Indy war bereits draußen und rannte den Gang entlang und in den Personalraum. »Dad, wo bist du?« Henry streckte den Kopf aus der Abstellkammer. »Hast du's ?« »Ja, aber die Meute ist hinter uns her. Los, schnell!« Er sah sich suchend nach einem Versteck um. Er blickte nach oben zur Decke. »Ärger?« fragte Henry. »Nur der übliche.« Er zog sich eilig einen Stuhl heran und kletterte nach oben in die Deckenluke. Dann streckte er seinem Vater die Hand nach unten entgegen. »Nicht schon wieder in den Kamin«, protestierte Henry. Indy zog ihn durch die Luke hoch und kletterte dann weiter ganz nach oben. Sie krochen zusammen oben hinaus und fanden sich im »Bauch« des Zeppelins selbst. Dessen Außenhaut war über eine Metallgitterkonstruktion gespannt. Schmale Laufgänge verbanden die riesigen Heliumgassäcke, die dem Luftschiff seinen Auftrieb verliehen. Henry blieb in Ver- und Bewunderung stehen. Indy äugte durch die Oberluke nach unten - und direkt in die zu
ihm heraufblickenden Gesichter des Gestapoagenten und des Stewards. Er packte seinen Vater am Arm und hastete mit ihm einen der engen Laufgänge entlang. Doch sie waren nicht schnell genug. Die anderen beiden kamen ihnen bereits nachgestiegen. Der Agent zog eine kleine Pistole aus einem Handgelenkshalfter, zielte auf Indy und wollte bereits schießen, als ihm der Steward erschrocken den Arm beiseite schlug. »Nein! Nicht doch!« Er deutete entsetzt auf einen der Gassäcke und machte entspre-chende Gesten. »Peng! Das fliegt doch in die Luft!« Der Laufsteg endete an einer Doppeltür in der Außenhaut de Zeppelins. Hinter ihnen war das Trappeln der Schritte ihrer Verfolger. Indy öffnete eine der Türen und hielt sich sofort am Rahmen fest, als ihn der Wind fast umriß. Er blickte direkt in den Himmel und in die Wolken. Einige Meter unter ihnen hingen die Doppeldecker an den Haken am Stahlgitter. Er deutete auf den, der ihnen am nächsten war. Auf dessen Rumpf war das Emblem eines Pelikans mit weit geöffneten Schwingen. »Klettere hinunter, Dad! Wir machen einen Ausflug.« Henry sah etwas furchtsam aus, als er durch die Tür nach draußen blickte. »Seit wann kannst du fliegen?« Fliegen schon. Landen weniger. »Los doch!« Henry gab sich einen Ruck und kletterte auf der abwärts füh- renden Metalleiter zu dem Doppeldecker hinunter. Indy sah ihm ungeduldig zu und konnte es dann nicht mehr mit ansehen. Wenn sein Vater jetzt abstürzte, konnte er gar nichts machen. Aber we-nigstens wollte er es nicht auch mitansehen müssen. Als er wieder hinunterblickte, saß Henry schon sicher in dem Doppeldecker. Er machte sich daran, ihm zu folgen, als auch der Gestapomensch schon da war und ihn am Arm zurückzuziehen versuchte. Er kämpfte sich frei und stieß ihn weg. Er wollte eben weiter abwärts klettern, doch da schwang sich der Steward ebenfalls auf die Leiter und kam ihm nach. Er ließ sich auf ihn herabfallen und schlang ihm die Arme um den Hals. Indy klammerte sich an die Leiter und sah zu seiner Überraschung, wie sein Vater wieder nach oben geklettert kam und den Steward am Kragen packte und wegriß. Er nützte den Augenblick und stieß, so heftig er konnte, nach hinten. Der Steward verlor den Halt und fiel mit panisch ausgebreiteten Armen, als suche er irgendwo Halt in der Luft, ins Leere, bekam aber tatsächlich noch eine der Verstrebungen zu fassen, die direkt über den Flugzeughaken vom Rumpf des Luftschiffs ausgingen. Dort hing er nun. Seine Beine baumelten frei in der Luft. Indy starrte seinen Vater völlig verblüfft an. »Nun schau dir an, was du gemacht hast!« schrie er. Henry stieg wieder in das Flugzeug hinab und kletterte in den hinteren Sitz, Indy sprang einfach nach unten in den vorderen. Er suchte den Anlasser und schaltete ihn ein. Der Propeller vorne begann ein wenig zu stottern, sprang dann aber an. Er suchte noch nach dem Hebel, der die Haken löste, als er horte, wie ihm Henry von hinten etwas zuschrie. Er blickte nach oben. Dort stand der Gestapomensch in der offenen Tür und zielte mit seiner kleinen Pistole auf ihn. Er hatte Mühe, sie in dem heftigen Fahrtwind ruhig zu halten. Dann schoß er, traf aber nicht. Dafür fand Indy jetzt den Hebel und zog ihn. Ihr Doppeldecker fiel unter dem Zeppelin weg, an dem der Steward immer noch zappelnd hing, während der Gestapomensch ohne Treffer in der offenen Tür stand. Indy kreiste einmal um das Luftschiff. Das Flieger-As aus dem Ersten Weltkrieg war eben dabei, in den zweiten Doppeldecker unter dem Zeppelin zu klettern; er gab dem Gestapomenschen Zeichen, mit ihm zu kommen. Der machte es Indy nach, kletterte heraus und beendete den Abstieg mit einem Sprung in den hinteren Sitz; wohl ein wenig zu hart, denn er schlug mit den Füßen glatt durch den Rumpf und hing nun mit seiner unteren Hälfte in der freien Luft. Das Flieger-As aus dem Ersten Weltkrieg hatte nicht bemerkt, was sich da hinter ihm getan hatte und seinen Doppeldecker bereits vom Haken gelost. Er war nur leider so betrunken, daß er vergessen hatte, den Motor zu starten. Es fiel deshalb wie ein Stein nach unten, und es war klar, daß er auch bei all seiner Erfahrung keine Chance mehr hatte, den Motor zum Laufen zu bringen und seine bereits wie wild trudelnde Maschine noch abzufangen. Sie bohrte sich kurz danach in einen Berg unten. Eine Stichflamme schoß hoch. Indy hatte sich ein klares Flugziel für den Doppeldecker vorgenommen: so weit wie möglich weg von Deutschland und so nahe wie möglich auf Iskenderun zu. Vor der Landung hatte er einen gewissen Bammel. Er beschloß, lieber irgendwo auf einem freien Feld herunterzugehen als auf einem Flugplatz. Zumindest entgingen sie damit einer Menge Fragen. Jederlei Erregung von Aufmerksamkeit, mit der sie nur erneut die Nazis auf ihre Spur setzten, konnte für sie nur von Nachteil sein. Hinten schrie Henry irgend etwas. Er verstand es nicht und drehte sich zu ihm um. Henry hob einige Male den Daumen rauf und runter. Er lächelte und gab das Zeichen zurück. Sah doch wirklich alles sehr gut aus bis jetzt. Er strotzte vor Selbstbewußtsein. Doch Henry meinte offensichtlich etwas anderes. Sein heftiges Kopfschütteln signalisierte es.
Dann begriff er. Henrys Daumen war ein Deuten nach oben. Er schrie wieder etwas dazu, was unverständlich blieb. Dafür hörte er jetzt etwas anderes. Ein Geräusch, das eine Mischung aus Donnern und Heulen war. Er sah nichts über ihnen, doch das Geräusch wurde immer lauter und unheimlicher. Er beugte den Kopf weit zurück. Und dann sah er es. Aus den Wolken schossen zwei Messerschmitt-Jagdbomber durch den Himmel. Sie duckten sich beide tief in ihre Sitze, als die Flugzeuge zu beiden Seiten an ihnen vorbeidonnerten. »Schieß mit dem MG!« schrie Indy. Henry besah sich das MG und versuchte herauszufinden, wie man damit umging. Indy drehte sich nach hinten und deutete. »Diesen Hebel zurückziehen und dann den Abzug durchdrücken!« Es war jetzt ein Vorteil für sie, daß ihr Flugzeug so klein und langsam war. Die pfeilschnellen Messerschmitts konnten nichts Rechtes mit ihnen anfangen. Sie waren vorbeigebraust, ehe sie richtig zielen konnten. Und sie brauchten Meilen, bis sie umgekehrt waren und zurückkommen konnten. Selbstverständlich würden die Piloten sie wiederfinden. Bei ihrem zweiten Angriff bekam Henry einen von ihnen ins Visier und zog den Abzug durch. Das MG ratterte zu seiner Verblüffung derart heftig los, daß er fast aus seinem Sitz gefallen wäre. Die Messerschmitt wechselte nach links hinüber, Henry zog das MG mit, schoß weiter, verfehlte sein Ziel und knatterte dafür unabsichtlich ihr eigenes Seitensteuer weg. »Uups!« »Sind wir getroffen?« schrie Indy. »Mehr oder weniger«, brüllte Henry zurück. Indy blickte sich um, sah, daß das Leitwerk hinten fehlte, warf einen Blick auf seinen Vater, und das Herz fiel ihm plötzlich bis in die Zehenspitzen, um dann wie ein Aufzug bis in die Kehle hinauf-zusausen. Das sieht nicht so gut ans, Papa. Das sieht sogar verflucht ungut aus. »Tut mir leid, Junge. Jetzt haben sie uns.« Indy versuchte das rasch abwärts trudelnde Flugzeug wieder in die Gewalt zu bekommen. »Halt dich fest! Das gibt eine Bruchlandung!« In hundertfünfzig Metern Höhe sah er eine geteerte Straße. Sie war ihre einzige Hoffnung. Überhaupt ihre einzige Wahl. Weil sie ohnehin auf sie hinunterfielen. Er tat, was er konnte, um das Flugzeug einigermaßen zu stabilisieren. Und dann setzten sie mit einer vollen Bauchlandung auf. Das Flugzeug schlitterte, war nicht mehr zu halten oder zu steuern und fegte in den Parkplatz einer Autoraststätte. Indy hatte die Bruchlandung mächtig durchgeschüttelt, doch er schaffte es immerhin, sich aus dem Wrack zu arbeiten. Er half auch Henry heraus. »Geht's dir gut, Dad?« »Sieht so aus, als sei ich noch ganz«, sagte Henry, während sie von dem Doppeldecker forthumpelten. Sie mußten so rasch wie möglich weg. Ein Autofahrer war eben dabei, weiterzufahren. Indy hielt ihn winkend an. Sobald der Mann ausgestiegen war, um helfend herbeizukommen, saß Indy bereits am Steuer, trat aufs Gas, fuhr einen Kreis auf Henry zu, ließ ihn einsteigen und raste davon. Der Fahrer lief ihnen fäusteschüttelnd und schimpfend noch eine Weile hinterher. Und im nächsten Moment sah Indy im Rückspiegel die beiden Messerschmitts ganz tief und aus allen Rohren feuernd aus dem Himmel heruntergejagt kommen. Sie fegten über den Parkplatz, während der Besitzer ihres Autos sich mit einem Hechtsprung in den Straßengraben in Deckung brachte, und hackten Löcher durch die abgestellten Wagen. Indy trat das Gaspedal voll durch und packte das Steuerrad mit eisernem Griff. Er konzentrierte sich ganz auf die Straße, während Henry ächzte und stöhnte und Entsetzensschreie ausstieß. »Sind wir aus dem Schneider?« »Na hoffentlich.« Statt dessen wurde das typische Messerschmitt-Donnern wieder hörbar. Indy blickte in den Seitenspiegel. Einer der beiden Maschinen kam direkt von seitwärts auf sie zu. »O verdammt.« »Was ist?« Doch da schlugen bereits die Geschosse durch das Auto. Wie durch ein Wunder blieben sie selbst beide unverletzt. Und während die Messerschmitt über sie weg davonjagte, fielen Sonnenstrahlen durch die Einschußlöcher ins Wageninnere. »Großer Gott«, stöhnte Henry. »Bring mich nach Princeton zurück. Diese Art Leben ist nichts für mich.« Indy hörte das sich nähernde Singen der zweiten Messerschmitt. Seine Nackenhaare sträubten sich. »Aufpassen, da kommt der andere!« Vor sich sah er einen Tunnel auftauchen. Er drückte aufs Gas, um ihn zu erreichen. Doch der Jäger war bereits da und feuerte auf sie herunter. Dann waren sie doch noch im Tunnel und vor den Bordkanonen der Jäger erst einmal sicher. »Warten wir hier erst mal«, sagte Henry. Doch selbst der Tunnel war nicht sicher. Im nächsten Moment hob sie eine ohrenbetäubende Detonation fast aus den Sitzen. Die Messerschmitt hatte nicht mehr rechtzeitig hochziehen können und war voll in den Tunneleingang geprallt. An beiden Seiten riß es ihr die Tragflächen ab, der Rumpf fuhr wie ein Geschoß in den
Tunnel hinein, kratzte den Asphalt auf, scheuerte gegen die Seitenwände und ging in Flammen auf. Der flügellose Flugzeugrumpf fegte durch den Tunnel wie eine Flutwelle und jagte auf sie zu. Indy hatte längst wieder das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt und holte aus dem Wagen heraus, was nur in ihm war. Er beugte sich weit vor, als könne er so noch etwas Geschwindigkeit dazugewinnen, und umklammerte das Steuerrad so heftig, daß ihm die Knöchel weiß wurden. Die Feuerwalze hatte sie fast erreicht, als sie aus dem Tunnel heraus wieder ins Freie schössen. Indy steuerte zur Seite und versuchte bremsend, den Wagen unter Kontrolle zu halten. Der brennende Flugzeugrumpf flog förmlich an ihnen vorbei, prallte gegen einen Baum und explodierte endlich. Indy steuerte auf'die Fahrbahn zurück und jagte durch die Wand aus Flammen und öligem Rauch hindurch. Er kam hinter ihr wieder zum Vorschein, die Augen weit aufgerissen und mit heftigem Herzklopfen. Henry sah aus, als treffe ihn jeden Augenblick der Schlag. »Noch näher können sie ja wohl nicht kommen.« »Darauf schwören würde ich nicht«, bemerkte Indy trocken. Er hatte bereits die andere Messerschmitt gesehen, wie sie eben wieder aus dem Himmel auf sie herabgestürzt kam. Der Jäger warf eine Bombe. Sie traf genau die Straße vor ihnen, wo sie nur wenige Meter voraus explodierte. Indy riß das Steuer heftig herum. Der Wagen prallte gegen eine Seitenplanke, durchbrach sie und stürzte die Böschung hinab. Sekundenlang waren sie in der Luft. Jetzt ist alles aus, dachte er und preßte die Augen zu. So schnell das Auto von der Straße abgehoben hatte, so rasch landete es mit einem trockenen Plumpslaut im weichen Sand eines einsamen Strandstücks am Mittelmeer. Sie kletterten mühsam aus dem Fahrzeug. Indy hielt sich den Kopf. Er war beim Aufprall gegen das Lenkrad geknallt. Weit und breit keine Menschenseele. Dafür tausend Möwen, die den ganzen Sand mit einem Teppich aus weißen, gefiederten Leibern überzogen. Doch da war schon wieder das tödliche Singen. Noch einmal flog die zweite Messerschmitt einen Angriff auf sie. Vater und Sohn tauschten wortlos Blicke aus. Sie machten sich gar nicht die Mühe, zu rennen. Es war sinnlos. Es gab nichts, wohin sie sich hätten flüchten können. Indy prüfte die Pistole. Leer. Der Jäger kam im Tiefflug keine dreißig Meter über dem Strand herangefegt. Und Henry rannte plötzlich wie verrückt auf die Möwen zu, gestikulierend und schreiend. Die aufgescheuchten Vögel stoben massenhaft wie eine Wolke auf, ihr Flügelschlag rauschte lauter als der Motor des Jagdbombers und dessen feuerspuckende Bordkanonenrohre, deren Geschosse in den Strand fetzten und Sandfontänen hochjagten. Und dann war es passiert. Es war gespenstisch. Ein Massaker. Der Jagdbomber war in die Möwenwolke gerast. Hunderte der Vögel wurden zerschnitten oder zerfetzt. Es regnete buchstäblich gefiedertes Hackfleisch, und es klatschte auch gegen die Scheiben der Pilotenkanzel des Jägers und verstopften dessen Motor. Nur wenige Meter vor ihnen horte das Flugzeug zu schießen auf, und sein Motor begann zu stottern. Die Maschine trudelte und verschwand hinter der nächsten Biegung. Dann ließ die Explosion nach dem Absturz den Sand erzittern. Eine hohe Flammen- und Rauchsäule stieg jenseits der Bucht in den Himmel. Indy sank über und über besudelt in den Sand nieder. Henry kam herbei und setzte sich neben ihn. »Ich mußte an Karl den Großen denken. >Die Felsen und die Bäume seien meine Soldaten und die Vögel am Himmel !<« Indy blickte hinüber zu der Rauchsäule. »Nicht schlecht für damals. Für jetzt erst recht nicht.«
Hatay Aufmarsch der Fronten Am gleichen Tag, an dem Indy und Henry aus Deutschland entflohen, traf Marcus Brody mit dem Zug in Iskenderun ein. Er war total erschöpft und wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder in New York und in der Geborgenheit seines Museums zu sein. Die Probleme seines alltäglichen Lebens dort erschienen ihm mittlerweile, verglichen mit den Strapazen, die er auf dieser Reise durchgemacht hatte, als ganz unbedeutend. Und wer wußte schon, was ihm und Sallah noch alles bevorstehen mochte! Vorausgesetzt, er fand Sallah überhaupt. Eigentlich hätte er schon am Tag zuvor hier sein sollen. Doch er hatte in Venedig den falschen Zug bestiegen und sich, ehe er es recht gewahr wurde, in Belgrad befunden. Und dort hatte er in völliger Verwirrung noch einen vollen Tag zugebracht, ehe er endlich seinen richtigen Zug hatte. Die Fahrt hatte den ganzen Tag gedauert, die folgende Nacht über und noch den halben nächsten Tag, ohne Halt. Endlich waren sie angekommen, doch als er aus-stieg, hatte sich seine kühne Vorhersage, er werde den Gral schon finden, längst in die Erkenntnis verwandelt, daß dies reine Angeberei gewesen war; und völlig unrealistisch. Die Augen brannten ihm wie Feuer. Er bewegte sich fast wie in Trance über den Bahnsteig und durch die Menschenmenge aus Hatayanern und Arabern, deren farbige fließende Gewänder sich ihm zu einer einzigen
wogenden Bewegung verschmolzen. Sie schienen alle Teil einer kollektiven, geheimnisvoll koordinierten Aktivität zu sein, wie Fischschwärme. Und er allein, Marcus ßrody aus New York, gehörte nicht dazu und stand verwirrt und fremd abseits von allem. Er rieb sich die schmerzenden Augen. Was er jetzt dringender brauchte als alles, war eine heiße Dusche, eine anständige Mahlzeit und vorläufig einmal zirka zwanzig Stunden Schlaf. Er fühlte sich nicht gut. Sein Schuldbewußtsein plagte ihn. Er hatte Indy und Henry schließlich versprochen, daß er jetzt den Gral längst haben würde. Oder ihm zumindest schon sehr nahe sein würde. Statt dessen wußte er noch nicht einmal, wie er Sallah finden sollte. Nun, schließlich war er ja auch Gelehrter und Museumsdirektor. Und kein Entdecker oder Forschungsreisender. Und schon ganz gewiß kein Abenteurer. Er brauchte jetzt erst einmal einen Führer. »Mr. Brody! Mr. Marcus Brody!« Mit einem Schlag kam Leben in ihn. Tatsächlich bahnte sich dort vorne Sallah seinen Weg durch die Menge und kam auf ihn zu! Er war so erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu erblicken, daß nicht viel gefehlt hätte, und er wäre Sallah um den Hals gefallen -etwas, was er nicht einmal in New York jemals in Erwägung gezogen hätte, geschweige denn in London, wo er herstammte. »O mein Lieber, ich bin froh, Sie zu sehen!« Wenn du wüßtest, Sallah, wie sehr. Sie gaben sich die Hand, und Sallah umarmte ihn. Brody klopfte ihm verlegen auf den Rücken. Allerdings kam er mit seinen Armen kaum halb um Sallah herum. Er rang sich ein verunglücktes Grinsen ab. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie da erregten, war ihm äußerst peinlich. »Wo, um Himmels willen, sind Sie abgeblieben, Marcus?« sagte Sallah, der ihn mit ausgestreckten Armen von sich hielt und ihn betrachtete wie ein verirrtes Kind. »Ich warte hier schon ewig auf Sie! Ich habe mir schon richtige Sorgen gemacht!« Sallah war ein Bär von Mann mit kohlschwarzen Haaren und Augen und ein ausgeprägt mediterraner Typ. Seine volle Baritonstimme und sein herzhaftes Lachen trugen, zusammen mit dem Ruf seiner Loyalität, dazu bei, daß Marcus Brody sich rasch wieder sehr viel besser fühlte. Auf Sallah, das war bekannt, konnte man Häuser bauen, wenn man sein Freund war. Und wer sein Feind war, hatte nichts zu lachen. »Ich war ein wenig vom Kurs abgekommen. Ist Indy schon da?« Sallah schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte, er käme mit Ihnen?« Brody fühlte sich gleich noch etwas besser. Er hatte Indy also immer noch geschlagen, bis hierher. »Er kommt später nach. Er wurde aufgehalten.« »Ah ja. Aufgehalten.« Sallah lachte. Er nahm Brodys Gepäck mit einer Leichtigkeit, als wenn die Koffer leer wären. »Eines dieser britischen Understatements, wie?« Vor dem Bahnhof draußen kamen sie mitten in einen Straßenmarkt. Überall standen Verkaufswagen; die Verkäufer priesen mit lautem Geschrei und gestikulierend ihre Waren an. Ein schwindelerregender Geruch des von der Sonne aufgeheizten reifen Obstes und von Gemüse lag über dem ganzen Markt. Brody wurde fast übel davon. Für ihn war das alles wie auf einem anderen Planeten, Welten entfernt von der ruhigen Abgeschiedenheit seines Museums mit seinen Altertümern, die in ihrem kühlen Schweigen seiner Obhut anvertraut waren. Das hier, fand er, war gar nicht seine Welt, entsprach ganz und gar nicht seiner gewohnten Lebensart. Sallah versicherte ihm, alles, worüber sie bei Brodys Anruf in Kairo gesprochen hätten, sei besorgt, und er sei schon sehr aufgeregt und gespannt auf ihre Reise. »Sobald wir...« sagte er und hielt mitten im Satz inne. Zwei Typen in Trenchcoats verstellten ihnen den Weg. »Papiere, bitte«, forderte einer von ihnen in wenig verbindlichem Ton und streckte fordernd die Hand aus. »Papiere?« nickte Sallah. »Aber gewiß. Habe ich bei mir. Grade erst selber gelesen.« Und er holte eine Zeitung unter seinem Arm hervor und hielt sie dem Agenten vor das Gesicht. »Laufen Sie!« zischte er Brody zu. Dann wandte er sich wieder den beiden Typen zu und wedelte ihnen lächelnd die Zeitung vor dem Gesicht herum. »Die Egyptian Mail. Frühausgabe. Eine Menge guter, neuester Nachrichten drin.« Brody blickte ihn stirnrunzelnd an. »Was meinten Sie?« »Rennen sollen Sie!« wiederholte Sallah. Aber diesmal brüllte er es laut. Brody drehte sich um, kam aber nicht einmal einen Schritt weit, bis ihn der andere der beiden Typen schon am Kragen hatte und festhielt. Sallah stürzte sich auf beide mit einem wilden Gewitter von Faustschlägen. Passanten stoben erschrocken auseinander. Einige Verkaufsstände brachen zusammen, als der Kampf sich richtig entwickelt hatte und auf den Markt zukam. Obst und Gemüse fiel zu Boden und rollte herum. Ballen kostbarer Seide und Baumwollstoffe in lebhaften Farben landeten im Straßenschmutz. Brody bahnte sich einen Weg durch die aufgeregte und schnatternde Menge. Er versuchte sich etwas auszudenken, wie er Sallah helfen konnte, aber es fiel ihm absolut nichts ein. Er selbst war nicht der Mann, sich mit einem der bulligen Kerle zu messen. Außerdem hatte Sallah ihn ausdrücklich aufgefordert, wegzurennen. Er pflügte sich durch Standreihen und im Wege stehende Verkäufer, bis er schließlich in einem Haustor etwas verschnaufen konnte. Er sah, daß drüben der Kampf noch immer im Gange war. Sallah taumelte eben gegen ein Kamel - so heftig,
daß er eine Sekunde brauchte, um sich zu schütteln; genug Zeit für die beiden Kerle, sich auf ihn zu stürzen. Aber auch jetzt war Sallah noch erstaunlich schnell und beweglich. Er versetzte dem Kamel einen Schlag auf die Nase. Das störrische Tier warf den Kopf nach hinten und spuckte heftig - mitten ins Gesicht des ersten der beiden Kerle. Da war Sallah schon davongesaust. Brody winkte heftig, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Sallah hob die Hand zum Zeichen, daß er es gesehen hatte, und kam auf ihn zugestürmt, alles aus dem Weg räumend, was sich ihm entgegenstellte. Im Laufen deutete er mit dem Finger auf ein dunkles Tor oben auf einer Rampe, vor dem ein Vorhang herabhing. »Machen Sie schnell, weg! Weg!« Besondere Lust, sich dort zu verstecken, verspürte Brody nicht. Doch Sallah trieb ihn schreiend weiter an. Er trat also aus dem Tor, in dem er stand, und lief die Rampe hinauf, verbarg sich hinter dem bezeichneten Vorhang und spähte dahinter hervor. Im gleichen Moment, in dem Sallah seinetwegen die beiden Verfolger aus den Augen gelassen hatte, waren sie auch schon wieder bei ihm. Sie schlugen wie verrückt mit Fäusten und kurzen, schweren Knüppeln auf ihn ein. Sallah wehrte sich jetzt jedoch nicht mehr. Er winkte Brody nur noch heftiger zu und rief etwas, was dieser aber nicht verstand. Von hinten kam jetzt ein Trupp Nazisoldaten den beiden Typen zu Hilfe. Brody war klar, daß Sallah keine Chance mehr hatte. Er zögerte. Er wünschte, er könnte etwas für den Freund tun. Aber es war ganz offensichtlich zwecklos. Er wollte auch nicht länger zusehen. Er duckte sich hinter den Vorhang und drehte sich um. Bevor er noch recht begriff, wo er war, hörte er, wie hinter ihm eine Metalltür zugeschlagen wurde. Er war im Innern eines geschlossenen Lastautos. An einer Wand war ein rotschwarzes Nazi-Emblem. Sallah hob den Kopf. Er tat ihm überall weh, blutete, und seine Nase war voller Staub. Die beiden Typen waren verschwunden, aber sie hatten ja auch, was sie wollten. Brody hatte ihn völlig mißverstanden und war hinter den falschen Vorhang gelaufen - mitten in die Falle der Nazis hinein, statt von ihnen weg. Und jetzt war das Lastauto, in dem sich Brody selbst gefangen hatte, auch schon davon. Am nächsten Tag saß der Sultan der Gegend in der Mitte seines Hofes in Iskenderun auf seinem Herrschersitz, der purpurfarben war und eine hohe Lehne hatte. Der Thron ließ den Sultan überlebensgroß wirken. Er war ein finster blickender Mann, was irgendwie seine herrscherliche Attitüde unterstrich. Sein voller Bart war schneeweiß und hing ihm seidig bis zur Brust herab. Er trug ein tiefrotes, vorne und an den Ärmeln mit goldenen Rankenblättern besticktes Gewand. Auf den Schultern hatte es Epauletten mit Ornamentstickereien. Um den Leib trug er eine breite Schärpe in Gold und Rot, dazu eine passende flache, runde Kopfbedeckung. Um ihn herum stand sein Gefolge, vor ihm ein Amerikaner, den er auf seinen Reisen schon mehr als einmal getroffen hatte. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Donovan? Wie ich Ihnen bei unserem letzten Zusammentreffen sagte, bin ich nicht am Verkauf irgendwelcher Kunstgegenstände oder Altertümer interessiert.« Donovan nickte. »Selbstverständlich. Ich habe vollstes Verständnis dafür, Hoheit. Ich möchte Ihnen auch nur etwas zeigen.« Er überreichte dem Sultan die Seiten aus dem Gralstagebuch. »Diese Seiten sind dem Notizbuch von Professor Henry Jones entnommen. Sie enthalten auch eine Karte, die den exakten Weg zum Gral weist.« Der Sultan studierte die Karte mit kaum mehr als höflichem Scheininteresse. Die Tatsache, daß sich der Gral auf seinem Herrschaftsgebiet befand, überraschte ihn nicht weiter. Wie ihn überhaupt nichts und niemand mehr mit irgend etwas überraschen konnte, seit er als Kind herausgefunden und begriffen hatte, daß er in eine wohlhabende und mächtige Familie hineingeboren worden war - in einem Land, wo es eher üblich war, daß man in Familien mit wenig oder nichts hineingeboren wurde. Er war privilegiert und nahm das als gegebene Tatsache hin. Er faltete die Karte wieder zusammen und reichte sie gelassen zurück. »Und wie sind Sie in den Besitz dieser Karte gelangt?« Donovan wandte sich um und nickte einer Gruppe beim Ein- gang des Hofes zu, in deren Mitte sich außer Elsa Schneider und einigen Naziwächtern auch Marcus Brody befand. Es war nicht schwer, zu erkennen, wer bewacht wurde. Brody. »Der Mann dort in der Mitte ist ein Abgesandter von Dr. Jones. Er hat diese Papiere vom Sohn des Dr. Jones, Mr. Indiana Jones, bekommen.« »Und was tat er damit?« »Wir nahmen ihn in Iskenderun gefangen. Er wollte den Gral an sich bringen, ihn also aus Ihrem errschaftsgebiet entwenden.« »Aha.« Der Gral bedeutete dem Sultan nicht viel. Er wußte natürlich von ihm. Auch, daß es da eine alte Legende von seiner Wundertätigkeit gab. Aber er hielt nichts von solchem Aberglauben. Allenfalls irgendein Goldgefäß wie viele andere auch, das irgendeinem Museum oder einer privaten Sammlung einverleibt werden sollte. Er war ein moderner Mensch und sehr viel mehr an neueren, zeitgemäßeren Dingen interessiert. Objekten von wirklichem Wert und glaubhafter Macht. Allerdings war ihm auch das Gesetz von Angebot und Nachfrage geläufig. Es war ganz offensichtlich, daß Donovan selbst ein lebhaftes Interesse für den Gral hatte. Nachdem offensichtlich gleich mehrere rivalisierende Gruppen hinter diesem so geschätzten Kelch oder Gefäß oder Becher her waren,
war er für ihn auch sehr viel mehr wert, als wenn er nur einen einzigen Interessenten gehabt hätte. Er wußte ganz genau, wo er selbst in dieser Sache stand - genau in der Mitte nämlich. Wenn also Walter Donovan wirklich in die Wüste ziehen und den alten Kelch finden wollte, dann war ihm dafür sicher auch - davon konnte man ausgehen - kein Preis zu hoch. »Und was möchten Sie nun?« fragte er, als ob er es nicht längst wußte. Donovan räusperte sich. »Wie Sie sehen, ist der Gral schon so gut wie in unserer Hand. Wir würden aber selbstverständlich, Hoheit, niemals daran denken, Ihren Boden ohne Ihre ausdrückliche Erlaubnis zu betreten, noch daran, den Gral aus Ihrem Land ohne angemessene Entschädigung mitzunehmen.« Der Sultan blickte zu ihm hinab. »Was haben Sie mir mitgebracht?« Donovan drehte sich um und gab den Nazi-Soldaten ein Zeichen. »Die Kiste, bitte.« Zwei Mann schleppten einen riesigen Schiffskoffer zu Füßen des Sultans. Donovan bedeutete ihnen, den Deckel zu lüften. Sie öffneten den Verschluß und hoben den Deckel ab. Als der Sultan keine Anstalten machte, den Inhalt der Kiste in Augenschein zu nehmen, befahl Donovan den Soldaten, die Kiste zu entleeren. Minutenlang holten sie daraufhin Stück für Stück eine Sammlung der verschiedensten Gegenstände aus Gold und Silber heraus und stellten sie auf: Becher und Pokale, Kerzenständer und Schalen, Platten und Schüsseln, wertvolle Dosen und Schatullen in allen Größen, Schwerter und Dolche. »Diese Wertgegenstände, Hoheit, sind von einigen der vornehmsten Familien in ganz Deutschland gespendet worden.« Der Sultan erhob sich indessen, ging achtlos an dem Schiffskoffer und den »Spenden« vorüber und direkt zu dem Nazi-Dienstwagen, der in der Ecke des Hofes geparkt war. Er begann ihn eingehend zu begutachten. »Daimler-Benz 320 L.« Er hob die Kühlerhaube und besah sich den Motor. »Ah ja, 3,4 Liter, 120 PS, sechs Zylinder, einfacher So-lex-Ansaugvergaser. Null auf hundert in 15 Sekunden.« Er drehte sich zu Donovan um, der hinter ihm her geeilt war, und lächelte. »Sogar die Farbe gefällt mir.« Donovan begriff die Situation sofort. Der Sultan pfiff ganz klar auf Gold und Silber. Wonach ihm der Sinn stand, war deutlich ge-nug. Und nachdem sie seine Hilfe wirklich dringend brauchten, gab es da wenig zu diskutieren. Immerhin, er konnte noch ein we-nig zu feilschen versuchen. »Die Schlüssel stecken, Hoheit. Bedie-nen Sie sich. Er gehört Ihnen zusätzlich zu den anderen Schätzen. Wenn Sie uns nur einige Ihrer Leute und etwas Ausrüstung zur Verfügung stellen würden?« Der Sultan lächelte zustimmend. »Gut, Sie bekommen Kamele, Pferde, eine bewaffnete Eskorte, Proviant und ein Wüstenfahr-zeug. Und einen Panzer dazu.« Donovan nickte zufrieden. Elsa kam über den Hof auf ihn zu. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich bin sicher, daß Indiana Jones und sein Vater schon auf dem Weg sind.« Die Vorgänge im Hof des Sultans blieben nicht unbemerkt von noch jemand anderem, der an dem Gral interessiert war. Unter einem Torbogen in der Nähe stand der Mann, der Indy und Elsa in Venedig fast umgebracht hätte. Derselbe Mann, der sich als Kazim bezeichnet und Indy verraten hatte, daß und wo sein Vater gefangengehalten wurde. Kazim steckte jetzt eine Hand in seine Tunika und fuhr die Konturen des schwertförmigen Kreuzes, das ihm auf die Brust tätowiert war, nach. Niemand holte den Gral aus seinem Versteck. Niemand. Nur über seine Leiche. Der Zug traf im Morgengrauen in Iskenderun ein. So früh es auch war, der Bahnsteig war voll von ankommenden und abfahrenden Menschen. Indy sah sich um. Er suchte Marcus Brody. Vielleicht holte er sie ab. Allerdings, das wußte er selbst, war das höchst unwahrscheinlich. Selbst wenn er noch in Iskenderun war, konnte er schließlich keine Ahnung haben, daß sie so früh ankamen. Henrys Überlegungen schienen ungefähr in die gleiche Richtung zu laufen. »Ich frage mich, wie wir Marcus finden sollen.« »Keine Spur von... Sieh mal da!« Indy deutete auf die schwere, bärtige Gestalt, die sich durch die Menge zu ihnen durcharbeitete. Sallah! »Hallo, Indy!« rief er ihm schon von weitem entgegen. »Mein Gott, bin ich froh, daß Sie da sind!« Er umarmte ihn nachdrücklich und hob ihn sogar hoch. Als er ihn wieder ordentlich auf den Boden zurückgestellt hatte, wandte er sich Henry zu. »Vater von Indy?« »Ja... also... Ja!« »Sehr gut gemacht, Sir! Ihr Junge ist der Segen meines Lebens! Ein wunderbarer Mann, doch!« Und er warf seine mächtigen Pranken auch um Henry, der nicht recht wußte, wie er sich Sallah gegenüber verhalten sollte. Oder überhaupt allem gegenüber. »Ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen.« Indy bemerkte Sallahs Schrammen und Beulen. »Was ist denn mit dir passiert? Sieht ja aus, als hätte dich ein Kamel getreten. Mitten ins Gesicht.« »So ähnlich, ja. Ich erzähle es Ihnen nachher genau.« Indy schwante nichts Gutes. Fast hatte er Angst zu fragen. »Sallah, wo ist Marcus Brody?« Sallah kam mit beabsichtigter Unauffälligkeit näher und flüsterte: »Hier können wir nicht reden.« Er deutete auf
einen verbeulten und verstaubten Wagen am Rand des Straßenmarktes. »Schnell. In den Wagen dort.« Sobald sie alle eingestiegen waren, trat Sallah gewaltig auf das Gas, so daß der Wagen einen Satz nach vorne machte. Er raste durch die belebten, engen Straßen, bahnte sich einen Weg durch Tiere und Fahrzeuge, Fahrräder, Waggons und Trauben von Fußgängern. Er war pausenlos am Hupen, Schalten, Gasgeben und am Bremsen. Henry brachte kein Wort heraus, so verstört war er. Er hielt sich nur krampfhaft an der Armlehne seines Rücksitzes fest und wartete darauf, daß Sallah als nächstes in irgendeinen Karren raste oder bei seinem Pflügen durch die Menge jemanden totfuhr. Schließlich fand er die Sprache wieder und beugte sich nach vorne. »Bitte«, japste er. »Rasen Sie nicht so, ich flehe Sie an. Ich bin schon auf dem Weg hierher für den Rest meines ganzen Lebens mit Rasen eingedeckt worden.« »Tut mir leid, Vater von Indy!« Sallah winkte wie wild mit der Hand und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. »Schaff die Ziege weg!« schrie er einen an. Die Ziege wurde weggeschafft und weiter ging's. Sally warf einen Blick zu Indy hinüber. »Was Marcus betrifft. Es waren zu , viele. Ich konnte nicht mehr allen Herr werden.« »Vorsicht doch!« rief Henry vom Rücksitz. Sally stampfte auf die Bremse und stieß einen Fluch aus. Vorne war ihnen ein Mann mit einem Karren in den Weg gefahren. »Kauf dir doch ein Kamel!« rief Sallah zum Fenster hinaus. Der Mann beachtete ihn gar nicht. Sallah kurvte um seinen Karren herum und trat danach gleich wieder aufs Gas. Er kam auf das Thema Marcus zurück. »Wenn ihr mich anseht, wißt ihr, daß ich i getan habe, was ich konnte.« Er hob eine seiner verschrammten Fäuste und schüttelte sie. »Auf jeden Fall aber bin ich nicht der einzige, der was abgekriegt hat.« »Was ist nun mit Brody?« »Heute nachmittag sind sie losgezogen. In die Wüste hinaus. Nachdem sie vom Sultan Proviant, Material und Soldaten bekommen haben. Ich fürchte, sie haben Mr. Brody dabei.« Henry flog fast nach vorne. Er beugte sich hektisch über den Vordersitz. »Das bedeutet, sie haben die Karte und sind auf dem Weg! Sie finden den Gral noch vor uns!« »Beruhige dich, Vater. Wir finden sie schon«, versicherte ihm Indy. In Wirklichkeit war er keineswegs so zuversichtlich. Ganz im Gegenteil. Womöglich kamen sie nicht nur für den Gral zu spät, sondern auch für Brody. »Mein lieber Junge, in diesem Rennen hier gibt es leider keine Silbermedaille für den Zweiten.« Henry war mit einem Schlag plötzlich ganz anderer Meinung, was Sallahs Fahrstil betraf. »Los doch. Schneller. Fahren Sie doch schneller!« Sallah grinste, haute auf die Hupe und steckte den Kopf zum Fenster hinaus. »Du blinder ottomanischer Teppichhändler, geh mir aus dem Weg!« Und auch Henry kurbelte jetzt sein Seitenfenster hinten herunter und plärrte hinaus: »Lahme Ente, machen Sie ein bißchen vorwärts, Mann!« Indy überlegte. Eins war klar: Sobald Donovan und seine Nazibande sahen und wußten, daß sie auf dem richtigen Weg zum Gral waren, war das Leben von Marcus keinen Pfifferling mehr wert. »Kriegen wir sie noch?« Sallah lächelte ihn verständnisvoll an. »Es gibt schließlich Abkürzungen.« Er stürzte sich auf die Hupe und fluchte kopfschüttelnd in drei Sprachen. Zu Indy sagte er: »Warte nur ab.«
Offene Feldschlacht Marcus Brody steckte seinen Kopf aus dem Panzer - einem noch aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Tank und blinzelte in die grelle Sonne. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab und murmelte: »Verrückte Nazi-Hunde.« Sie fuhren durch eine Wüstenschlucht, die sich in nichts von der unterschied, durch die sie eben schon gefahren waren. Für ihn, der immer ein Stadtmensch gewesen war, war dies hier buchstäblic das Ende der Welt - fern von allem, rauh, häßlich und erba-mungslos heiß. Dabei entging ihm die Ironie der Situation keineswegs, es mochte sehr wohl sein, daß diese abweisende, tote Gegend an Ende der Welt wirklich das Ende seiner Welt wurde... »Na, möchten Sie sich mal die Beißerchen anfeuchten, Marcus?« Brody blickte zur Seite. Es war Donovan. Er saß in einem nen Auto, das neben den Tank gefahren war. Und neben ihm saß die Verräterin Elsa Schneider. Außerdem hatten sie noch einen Nazi im Wagen, den er Elsa schon früher Standartenführer Vogel hatte nennen hören. Hinter ihnen kam der Rest der Karawane - Reitkamele mit Sol -daten aus der Privatarmee des Sultans, die alle mit Säbel und Kara-biner bewaffnet waren und in groben Wüstenuniformen steckten. Dahinter folgten noch die
Reservepferde, ein Proviant- und ein Materialwagen, ein deutscher Wagen, ein Jeep und noch ein paar Transporter mit Nazisoldaten. Donovan reichte ihm seine Feldflasche und feixte. Brody hätte ihm viel lieber ins Gesicht gespuckt. Aber da er ohnehin so ausge-dörrt war, daß er nicht einmal mehr Speichel hatte, nahm er lieber doch die Flasche und trank einen Schluck. Vor einigen Stunden hatten sie zwar kurz an einer Oase angehalten, aber er war inzwi-sehen schon wieder halb verdurstet. Auf den Tank knallte erbar-mungslos die Sonne. Er war ein Backofen. Hier oben auf dem Turm war es sogar noch schlimmer. Als säße man direkt auf einer heißen Herdplatte. Das Wasser lief seine Kehle hinab. Er konnte sich nicht erinnern, daß jemals irgend etwas besser geschmeckt hätte. Er holte Atem, setzte die Flasche wieder an den Mund und trank noch einmal, diesmal lange und intensiv. Donovan streckte aber bereits wieder die Hand fordernd nach seiner Flasche aus. Er befürchtete wohl, Brody lasse ihm keinen Tropfen mehr übrig. »Nach Ihrer Karte, Marcus, sind wir höchstens noch drei oder vier Meilen von der Entdeckung des bedeutendsten Kunstgegenstandes der Menschheitsgeschichte entfernt.« Brody wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und überlegte ernsthaft, ob er dem Bastard die Feldflasche mitten ins Gesicht schleudern sollte. Doch das würde natürlich nur seine Uberlebenschance noch weiter verringern. Er warf sie ihm ganz normal zu. »Sie lassen sich mit Mächten ein, Walter, denen Sie unmöglich gewachsen sein können«, sagte er. Donovan setzte bereits zu einer Entgegnung an, kam aber nicht mehr dazu. Brody folgte seinem Blick. In der Ferne, irgendwo in den Bergen, blitzte etwas auf. Er glaubte zu wissen, was es war. Und er war sicher, Donovan ebenso. Die Sonne blinkte auf dem Fernglas, als Indy es hinunter auf die Karawane richtete, die sich durch eine der Schluchten bewegte. Neben ihm lagen Sallah und Henry. Den Wagen mit ihren Vorräten hatten sie in einiger Entfernung hinter einem Felsvorsprung zurückgelassen. »Sie haben einen Tank... mit einer Sechserkanone. Ich sehe Brody. Er sieht okay aus.« Henry schirmte sich mit der Hand die Augen ab und blinzelte. »Paß auf, daß wir nicht gesehen werden.« »Wir sind weit außer Reichweite.« Doch im gleichen Moment blitzte es unten auf. Der Tank hatte in ihre Richtung geschossen. Indy warf sich zu Boden und hielt sich die Arme schützend über den Kopf. Die anderen machten es ebenso. Die Granate heulte vorbei und schlug dreißig Meter hinter ihnen ein. Gleich danach regneten die Trümmer von Sallahs Wagen, den das Geschoß genau getroffen hatte, auf sie herab. Sallah stöhnte auf. »O Gott, das war das Auto meines Schwagers!« »Volltreffer!« rief Standartenführer Vogel. »Gehen wir die Leichen einsammeln!« Elsa griff zum Fernglas und sah selbst durch. Einerseits war ihr angesichts der Möglichkeit, daß Indy tot sein kannte, zum Weinen zumute, andererseits hingegen fühlte sie sich unendlich erleichtert. Wenn er tot war, war auch ihr innerer Konflikt zu Ende. Sie konnte die Jagd nach dem Gral fortsetzen, ohne dabei pausenlos im Widerstreit mit sich selbst zu liegen. Seit sie Indy begegnet war, befand sie sich in einer Achterbahn der Gefühle. Den einen Au- genblick haßte sie ihn, den anderen glaubte sie, nicht mehr ohne, ihn leben zu können. Wenn er also tot sein sollte, dann sollte es eben so sein. Schließlich, mahnte sie sich selbst, war der Gral die wahre Leidenschaft ihres Lebens. Männer und die Politik waren dabei nichts als Mittel zum Zweck. Selbst mit Donovan machte sie dafür ge-meinsame Sache. Doch auch mit ihm nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie brauchte ihn, um an den Gral zu kommen. Dann jedoch mußte sie ihn ihm irgendwie abjagen. Was der Besitz des Grals versprach, war zu verlockend, um ihm nicht zu erliegen. Sie mußte ihn haben, und wenn es ihr Leben kostete. Als sie an der Stelle, wo der Wagen in die Luft geflogen war, an-kamen, entdeckten sie nirgends Leichen. Elsa fühlte sich trotz allern gleich wieder besser. Indy lebte also noch. Vogel teilte die Leute zur Suche ein. Donovan kam zu Elsa. »Vielleicht waren sie's überhaupt nicht.« »Nein, nein. Das war schon er. Er ist hier.« Sie sah sich um undhatte das Gefühl, daß sie beobachtet wurden. »Irgendwo hier. Da bin ich ganz sicher.« Donovan spürte es offenbar ebenfalls. Er sah sich angespannt um und befahl dann einem der Soldaten, Brody in den Tank zu sperren. Dann wandte er sich wieder an Elsa. »In der Hitze hier, ohne Transportmittel, sind sie schon so gut wie tot.« Da prallte plötzlich eine Kugel singend von einem Felsen ab. Wie auf ein Zeichen war im nächsten Augenblick eine heftige Schießerei im Gange. Donovan rannte in Deckung und kümmerte sich nicht mehr um Elsa, die hinter ihm her hastete und ärgerlicher war über die Möglichkeit, daß es am Ende Indy sein konnte, der auf sie schoß, als über Donovan, der sich nur darum kümmerte, den eigenen Kopf zu retten. »Das ist Jones«, schrie Donovan. »Er hat Waffen!« Indy lag hinter einem großen Felsen in Deckung, als die Schießerei begann. Er sah Elsa und Donovan in Deckung laufen und die Soldaten das Feuer erwidern. Er tauschte verwunderte Blicke mit seinem Vater und Sallah. »Kommt. Sehen wir mal nach«, sagte er.
Sie kletterten von ihrem Versteck hinunter und erreichten nach einigen Minuten einen Felsen, von dem aus sie einen Überblick über die ganze chaotische Szene hatten. Die Nazis und die Krieger des Sultans beschossen einen unsichtbaren Gegner in den Höhlen entlang der Abhänge der Schlucht. Sallah versuchte, durch das Fernglas etwas zu erkennen und reichte es dann Indy. Aus dem Schatten einer Höhle trat eine Gestalt hervor. An seinem Hemd erkannte Indy ein Emblem. Ein Kreuz, das in die Klinge eines Schwertes auslief. Der Mann trat mit Todesverachtung ins Freie. Indy richtete das Glas auf und stellte es scharf ein. Es war Kazim. Also war die Bruderschaft vom Schwertförmigen Kreuz doch mehr als nur das Unternehmen eines einzigen Fanatikers! Er reichte das Glas wieder Sally hinüber und besprach sich mit Henry. Sie verabredeten einen Plan. Henry schlich sich zu dem al-ten Tank, in den Brody gesperrt worden war. Indy und Sallah robbten indessen in die Nähe von Donovans hastig formierter Verteidigungsstellung. Von dort sahen sie die Pferde. Indy suchte sich eines aus. Sie warteten auf den geeigneten Augenblick, in dem sie über die freie Strecke bis dorthin rennen konnten. »Da!« sagte Sallah und deutete zum Hang der Schlucht. Kazim kletterte eben abwärts. Von einer Deckung zur nächsten schoß er dabei wild um sich. »Jetzt«, sagte Indy und gab Sallah das Zeichen. Sie waren auf halbem Weg zwischen Felsen und Pferden, als einer der Nazi-Soldaten, der ebenfalls mit auf die Felshöhlen in der Schlucht gefeuert hatte, sich abwandte, um nachzuladen. Er sah sie laufen und wollte eben die anderen alarmieren, als Kazim vorstürzte, auf ihn schoß, traf und wie im Veitstanz wild schießend herumhüpfte, bis ihn selbst ein wahrer Kugelhagel auf kurze Entfernung traf. Indy und Sallah duckten sich zwischen die Pferde, während Donovan zu Kazim lief. Er war keine fünf Meter mehr von ihnen entfernt. »Wer sind Sie?« fragte er Kazim, der sterbend in seinem Blut lag. »Ein Bote Gottes. Der Gral des Lebens bringt denen, die ihn sich unrechtmäßig aneignen, ewige Verdammnis.« Es waren Kazims letzte Worte. Dann krachten wieder Schüsse aus den Höhlen. Donovan rannte eilends in Deckung, während rings um ihn her Kugeln in den Boden fuhren. Indy und Sally schwangen sich geduckt auf zwei der Pferde und ritten unbemerkt aus dem Feuergefecht davon. Brody zerfloß fast in dem heißen Tank. Sie hatten ihn allein in ihm zurückgelassen. Er suchte fieberhaft nach einem zweiten Schlüssel. Er hatte keine Ahnung, ob er diesen Tank fahren konnte, aber selbst wenn er es nur versuchen wollte, brauchte er einen Zündschlüssel. Da ging oben plötzlich die Luke auf. Er wich hastig zurück. »Marcus?« Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er blickte überrascht nach oben zur Lukenöffnung, doch noch ehe er reagieren konnte, kam Henry schon zu ihm heruntergesprungen. Er feixte Brody an und zitierte einen alten Toast-Spruch ihres Universitäts-Clubs: »Genius der Auferstehung...« »...steh uns bei, wenn wir selbst auferstehen!« vollendete Brody. Sie umarmten sich. »Hoffentlich bist du nicht ungehalten über mein formloses und unangemeldetes Eindringen«, sagte Henry übertrieben. »Aber keine Ursache, lieber Kollege. Freut mich durchaus, dich zu sehen. Was machst du hier?« »Die Sache ist die, guter Mann. Ich bin hier auf einer Rettungsmission. Oder dachtest du, ich schaue zum Tee vorbei?« »Dazu wäre es ja wohl schon ein wenig spät.« Sie hatten keine Gelegenheit zu weiteren Flachsereien. Ein Nazi war durch die Luke herabgekommen und zielte mit seiner Luger auf sie beide. Zwei weitere folgten ihm, dann kam auch noch Vogel, der befahl: »Durchsuchen.« Doch die Durchsuchung Henrys brachte nichts zutage, weder eine Waffe noch das Gralstagebuch. Vogel war wütend und schlug ihm ins Gesicht. »Was steht in dem Buch? In Ihrem blöden kleinen Buch?« Als Henry nicht antwortete, schlug ihn Vogel noch einmal ins Gesicht. »Wir haben die Karte. Ihr Buch ist jetzt ganz nutzlos. Trotzdem haben Sie den ganzen Weg bis Berlin nicht gescheut, um es wiederzubekommen. Ich wüßte gerne, warum, Dr. Jones!« Henry blieb weiterhin stumm. Dies veranlaßte Vogel zu einem dritten Schlag ins Gesicht. »Was verbergen Sie? Was sagt dieses Notizbuch Ihnen, was es uns nicht verrät?« Henry war nur flammende Verachtung. »Es sagt mir, daß Stechschritt-Bonzen wie Sie lieber versuchen sollten, Bücher zu lesen, statt zu verbrennen.« Das Resultat war lediglich, daß Vogel erneut zuschlug, diesmal aber sehr viel heftiger, so daß Henry zurücktaumelte. »Sie haben deinen Vater im Tank geschnappt«, sagte Sallah, während er Indy das Fernglas reichte. »Ich sah, wie ihn die Soldaten verfolgten.«
Indy verfluchte sich selbst. Er hätte nicht auf seinen Vater hören sollen. Er hätte Brody selbst herausholen müssen. Um die Pferde hätte er sich immer noch hinterher kümmern können. Er blickte noch einmal zu dem Tank hinüber und wandte sein Augenmerk dann Donovan und den anderen Soldaten zu. Sie waren noch immer im heftigen Gefecht mit den verbliebenen Leuten von Kazims Kampfgruppe. »Schnappen wir sie uns, ehe es zu spät ist!« »Standartenführer!« Einer der Soldaten, der sich in den Fahrersitz des Tanks gesetzt hatte, winkte Vogel zum Sehschlitz. Vogel blickte hinaus. Er sah Indy und Sallah durch eine Staubwolke zu Pferde eine Attacke auf den Tank reiten. Er wandte sich an den Bewacher Henrys und Brodys. »Bei der kleinsten Bewegung schießen Sie die beiden nieder!« Dann setzte er sich an das Bordgeschütz. »Vorsicht, Indy, die Kanone!« rief Sallah. Indy hatte bereits gesehen, daß sich die Sechspfund-Kanone des Tanks gedreht hatte und auf sie zielte. Es wurde ihm schlagartig klar, daß die Absicht, den Tank zu attackieren, eine nicht ganz so gute Idee war, wie er gemeint hatte. Er griff hart in die Zügel und galoppierte vom Tank weg in eine andere Richtung. Sallah blieb dicht hinter ihm und brüllte, was er konnte: »Gute Idee, Indy! Pferde gegen Tanks ist nicht so gut. Ich bin völlig einverstanden!« Sie jagten im Zickzack quer über die Wüste, während der Tank sie zu verfolgen begann und ihnen mehrere Schüsse hinterherschickte. Aus den Sandwolken, die die Einschläge hochstieben ließen, tauchten sie jedoch jedesmal unversehrt wieder auf. Indys Kopf fuhr herum. Der Tank holte auf. Und dann bemerkte er auch, daß er Begleitung hatte. Ein deutscher Kleinwagen mit zwei Soldaten kam ebenfalls auf sie zu. Aber um ihn zu kriegen, brauchte es schon mehr als diese zwei, soviel stand fest. Im gleichen Moment kam ihnen eine andere Granate aus dem Tankgeschütz hinterher und verfehlte sie nur knapp. »Verdammt.« »Das war knapp, Indy!« schrie ihm Sallah zu. »Reite um dein Leben!« Und er gab seinem Pferd die Sporen. Indy begann wütend zu werden. Er knurrte, warf einen Blick nach hinten und erkannte nun, daß der Tank sein Geschütz nur innerhalb eines bestimmten Winkels schwenken konnte. Das brachte ihn auf eine Idee. Er riß wieder die Zügel herum und wendete das Pferd. Der Tank drehte ebenfalls und verfolgte ihn weiter, war jetzt aber auf Kollisionskurs zu dem anderen Auto mit den beiden Soldaten. Dessen Fahrer versuchte verzweifelt, auszuweichen, doch Vogel sah ihn nicht und hatte auch nichts anderes im Sinn, als Indy im Visier der Bordkanone zu behalten. Mit ohrenbetäubendem Krachen wurde das Auto seitlich gerammt und zwischen den Raupen des Tanks zermalmt. Der Zusammenstoß brachte den Tank nicht nur zum Stehen, er blockierte auch den Fronteinstieg und den drehbaren Geschützturm. Indy zugehe sein Pferd, bückte sich nach unten und sammelte einige Steinbrocken neben einem Wasserkanal auf. Er trieb das Pferd wieder an, direkt auf das rechte Seitengeschütz des Tanks zu und warf einige der Steine in den Lauf. Dann wendete er das Pferd so, daß er direkt davor stand - scheinbar ein leichtes Ziel. »Ich sehe ihn!« rief der Bordschütze. Henry riß es den Kopf nach oben. Es war ihm klar, daß von seinem Sohn die Rede war. »Na, dann kartätschen Sie ihn schon endlich nieder!« kommandierte Vogel. »Nein!« schrie Henry und versuchte sich auf den Schützen zu werfen. Sein Bewacher aber vertrat ihm den Weg und stieß ihn unsanft zurück. Eben als der Bordschütze visierte und auf Indy schoß, zielte er ihm mit der Luger genau zwischen die Augen. Es war ein klassischer Rohrkrepierer, und der Bordschütze bekam das meiste ab. Es warf ihn rückwärts. Sein Gesicht wurde buchstäblich zerfetzt. Er war bereits tot, ehe er zu Boden gefallen war. Der ganze Tank war voller Rauch. Alle begannen zu husten und nach Luft zu schnappen. Vogel trampelte hastig über den toten Bordschützen und riß die Luke auf, um frische Luft herein und den Rauch abziehen zu lassen. »Feuern Sie mit dem Turmgeschütz!« schrie er den Fahrer an. Er selbst ging das Risiko nicht ein. Henry packte Brody am Arm. Auf Händen und Füßen krochen sie bis zur Luke. Er wollte sich eben aufrichten, um hinauszuklet-tern, als wie eine aus dem Boden gewachsene Wand ihr Bewacher wieder vor ihnen stand, den es zunächst ebenfalls umgerissen hatte. Er hob die Luger und drückte sie Henry an die Schläfe. Der Fahrer des Wagens war nach dem Zusammenstoß mit dem Tank sofort tot. Sein Beifahrer aber blieb unverletzt und versuchte sich nun durch das Stoffverdeck herauszuarbeiten. Er schaffte es, eine Krempe zu öffnen und es zurückzuschieben. Er steckte den Kopf oben heraus und starrte direkt in das Rohr des Turmgeschützes des Tanks.
Und im selben Moment feuerte es. Es pulverisierte alles, was ihm im Weg stand. Noch in fünfundzwanzig Metern Entfernung regnete es anschließend Teile des Autos. Indy war längst hinter dem Tank und hatte eben Saliah erspäht, wie er auf ihn zugeritten kam, als das Turmgeschütz das Auto zerfetzte. Die herumfliegenden Metallsplitter regneten auf Saliah herab. Sein Pferd scheute und stieg hoch, Saliah fiel aus dem Sattel. Er schwang sich eilends wieder hinauf, warf einen Blick auf den Tank und galoppierte davon. Indy hatte das Gefühl, daß er von Saliah wohl nicht besonders viel Hilfe erwarten könne. Nachdem ihm das Auto nicht mehr im Wege stand, konnte der Tank weiterfahren. Vogel hatte nun doch das Turmgeschütz übernommen und schwenkte es auf der Suche nach Indy herum. Das Geschütz war jedoch nur in einem Winkel von neunzig Grad schwenkbar. Er war ganz sicher, daß Indy hinter dem Tank sein mußte. Wenn ihm der andere Reiter zu Hilfe kam, würden sie vermutlich versuchen, hereinzusteigen. Für diesen Fall war er entschlossen, den alten Jones auf der Stelle niederzuschießen. Er brauchte jedoch Verstärkung. Er griff sich das Mikrophon des Sprechgeräts und rief Donovan. »Lassen Sie diese Verrückten in den Bergen in Ruhe«, sagte er dringlich, »und kommen Sie mit allen Leuten hierher.« Einen Augenblick war Stille, dann kam Donovans bellende Stimme. »Soll das vielleicht heißen, daß sie samt dem Tank noch immer nicht mit Jones aufgeräumt haben?« Vogel schäumte fast und antwortete nur durch die Zähne: »Noch nicht, nein.« Er starrte über das Geschützrohr nach draußen und versuchte, Indy zu entdecken. Links sah er den Eingang zu einer schmalen Schlucht und hatte einen Einfall. Er lächelte und befahl dem Fahrer, dort hineinzufahren. Dann schaltete er das Sprechgerät wieder ein. »Bis Sie hier sind, habe ich mit Jones auf jeden Fall aufgeräumt - wie Sie sich ausdrücken.« Er drehte, sobald sie in die Schlucht eingefahren waren, das Ge- schützrohr so weit herum, wie es ging, visierte direkt die Felswand an und wartete auf den richtigen Moment. Als er dann weiter oben einen überhängenden Felsen erblickte, stellte er das Zielvisier dar- auf ein und gab einen Schuß ab. Tonnen von Gestein donnerten herab. Vogel grinste. Damit sollte ja wohl »aufgeräumt« sein.
Einer gegen alle Nur wenige Augenblicke vor dem mächtigen Steinschlag war Indy noch hinter dem Tank und suchte wieder nach herumliegenden Steinen. Er wollte auch das linke Seitengeschütz verstopfen und so einen Rohrkrepierer wie auf der anderen Seite verursachen. Und diesmal würde er sofort, wenn die Luke aufging, Vogel überwältigen und sich dann des Tanks bemächtigen. Der Plan war einfach. Aber erst einmal mußte Vogel auf ihn hereinfallen. Der Tank war jedoch in diese schmale Felsenschlucht gefahren, in der er nirgends lose Steine von geeigneter Größe finden konnte. Es gab Kiesel und Felsbrocken, die meisten waren aber halb so groß wie der ganze Tank oder noch größer. Außerdem war dies nicht das einzige Problem. Er war nun auch von Sallah abgeschnitten, der schon weit voraus außerhalb der Reichweite des Tankgeschützes galoppiert war und so vermutlich auch nicht mehr mitbekam, was mit ihm oder dem Tank geschah. Er suchte den Boden ab. Steine. Ich brauche Steine. Und genau in diesem Augenblick feuerte das Bordgeschütz des Tanks auf die Felswand, und mit einem Schlag kamen mehr Steine, als er sich wünschen konnte, in einer Lawine heruntergepoltert. Genau auf ihn herunter. Er riß das Pferd herum und jagte davon. Links und rechts von ihm flogen bereits die Steine. Gefährlich nahe. Doch er entkam, ohne daß ihn auch nur einer getroffen hätte. Ein Glück nur, dachte er, daß er nicht ganz mit dem Tank hatte Schritt halten können. Andernfalls hätte er nicht so viel Glück gehabt. Und wäre tot. Das war sicher. Er hatte jetzt allerdings ein zusätzliches Problem. Der Weg durch die Schlucht war versperrt. Er mußte zurück und sie ganz umreiten, um den Tank wiederzufinden. Und das kostete wertvolle Zeit, vielleicht sogar Stunden. So viel Zeit hatte er auf keinen Fall. Dann sah er den Ausweg. Der Steinschlag hatte sich zu seinem Vorteil ausgewirkt. Er hatte eine Bresche in den Fels gerissen. Es ist Zeit, den Hohenweg zu nehmen. Er dirigierte sein Pferd, so schnell es ging, durch das Geröll nach oben. Die Bresche ermöglichte es ihm tatsächlich nicht nur, überhaupt durch die Schlucht zu kommen, sondern erwies sich oben- drein sogar als Abkürzung. Schon bald hatte er den Tank wieder vor sich, näherte sich ihm von oben und überholte ihn dort. Er überlegte eben, wie er am besten hinunterkommen sollte, als sich sein Glück unerwartet wieder wendete. Sein Weg endete abrupt vor einer Felswand. Er sah in die Schlucht hinunter, wo der Tank fuhr. Er mußte umkehren; oder... Da war er bereits aus dem Sattel, rannte, noch ehe er Zeit zum Nachdenken oder Zögern hatte, auf den Absturz des Felsens zu und sprang. Er landete auf seinen Füßen genau auf dem Tank, wo I er sich auf Hände und Knie fallen ließ. Geschafft. Aber was nun?
Der Tank erreichte bereits das andere Ende der Schlucht, wo sie sich nach rechts wieder in die Wüste hinaus öffnete. Eine Staubwolke hing über ihr. Indy blinzelte in das grelle Licht. Ein Kübelwagen kam rasch l auf sie zugefahren, hinter ihm, noch in einiger Entfernung, zwei Lastautos mit Nazitruppen. Sie bekamen Gesellschaft. »Willkommen an Bord, Jones.« Er fuhr herum. Aus der Luke blickte Vogels Kopf. Seine Augen durchbohrten ihn. Aber Indy hielt ihnen stand und starrte zurück. Er spürte, wie Wellen von Haß von diesem Mann über ihn hinfluteten. Aber er war entschlossen, sich von diesem Blick nicht niedermachen zu lassen. Vogel sollte in diesem Kampf der Willenskräfte nicht Sieger bleiben. Und dann verspürte er plötzlich wieder das Kribbeln im Nacken. Das altvertraute Warnsignal. Er wußte sofort, was es war. Vogel hatte versucht, ihn abzulenken, während einer der Soldaten behende und geschmeidig wie eine Spinne aus dem Kübelwagen auf den Tank herübersprang. Er war sofort überwältigt und wurde gegen den Tank gedrückt. Er bäumte und wand sich, um sich zu befreien, aber er lag mit dem Gesicht direkt auf dem heißen Metall und konnte sich nicht rühren. In dieser Lage konnte er nicht sehen, was vorging. Eines der Lastautos mit Soldaten war inzwischen herangekommen. Wie Piraten, die ein Schiff entern, sprang eine Anzahl der Soldaten auf den Tank. Das sah nicht gut aus. Es gelang ihm schließlich, sich aus dem Griff seines Gegners zu befreien und nach dessen Luger zu greifen. Sie rangen miteinander und rollten über den Tank. Jetzt drückte er den anderen auf den Tank. Die Luger war nach wie vor zwischen ihnen. Der andere umklammerte sie verbissen und konnte sich noch einmal herumrollen. Der Lauf seiner Pistole näherte sich Indys Schläfe bedrohlich, doch dieser nützte ein Holpern des Tanks, um die Waffe so wegzudrücken, daß sie nun auf den Soldaten selbst gerichtet war. Er drückte mit aller Macht, so heftig er konnte, und zwang den Soldaten, abzudrücken und sich selbst zu erschießen. Die Kugel fuhr ihm in den Hals, durch den Leib eines zweiten und sogar noch in die Seite eines dritten. Alle drei fielen vom Tank, der nun schon ziemlich überfüllt war. Drei raus, noch 'ne Menge mehr da. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Vogel aus der Luke geklettert war, um den anderen Nazis zu Hilfe zu kommen. »Das ist mein Junge! Mach sie fertig, Junior!« Da war unverkennbar sein Vater, dessen Kopf auch schon in der Einstiegluke erschien. Er griff nach der Peitsche an seinem Gürtel. Aber es war ein zu großes Gedränge, um sie ziehen und benützen zu können. Trotzdem war der akute Platzmangel hier oben zu seinem Vorteil. Von allen Seiten drangen sie mit Messern und Pistolen auf ihn ein, standen sich aber dabei selbst im Wege. Er war ja auch nicht gerade ein unbewegliches Ziel. Er wich gerade noch einer Messerklinge aus, die auf ihn zustieß und nun einem der anderen Nazis in den Schenkel fuhr. Im nächsten Moment traf ihn ein Kinnhaken, der ihn sich drehen ließ. Dabei schlug er ganz unabsichtlich einem weiteren Nazi die Waffe aus der Hand, der daraufhin die Balance verlor und vom Panzer stürzte. Ein dritter Mann schoß auf ihn, verfehlte ihn aber und traf einen seiner eigenen Leute. Noch einer raus. »Mach sie fertig, Junior!« schrie Henry wieder. Wie im Reflex sah Indy rot. Er schoß geradezu vorwärts, sein Zorn war wie ein mächtiger Adrenalinstoß. Er hieb seine Faust dem nächstbesten ans Kinn. Der Mann taumelte rückwärts in einen anderen. Sie purzelten beide vom Tank. Und schon hatte er dem nächsten eine verpaßt. Der fiel auf die Raupe hinunter und riß ebenfalls einen Kameraden mit. Sie stürzten beide so unglücklich auf den Boden, daß die Tankraupe sie unter sich zermalmte. In blinder Wut schrie Indy zur Luke: »Und ich habe dir jetzt schon tausendmal gesagt, nenne mich verdammt noch mal nicht Junior!« Er hatte kaum ausgeredet, als ihm eine von Vogel geworfene Kette zweimal um den Leib fuhr. Wie Weißglut durchschoß ihn der Schmerz. Er ging stöhnend in die Knie. Aber er behielt das volle Bewußtsein und seine Geistesgegenwart. Hinter ihm lag auf dem Tank noch die Luger seines ersten Gegners. Er stieß sie mit dem Fuß zur Luke. Jeder Fußballstar hätte seine Freude daran ge- habt. Er schlenzte sie im Bogen genau in Henrys Schoß. Als er wieder stand, sah er sich Vogel und dem letzten der noch verbliebenen Soldaten gegenüber. Noch immer lag die Kette um seine Schultern, aber er konnte immerhin die Arme bewegen, und keiner seiner beiden Gegner war bewaffnet. Nachdem er mit allen anderen fertig geworden war, hatte er genug Selbstbewußtsein, um sich auch diese beiden noch zuzutrauen. Vogel jedoch lächelte ihn siegessicher an. Der Grund dieser Zuversieht wurde gleich darauf offenbar. Der zweite Lastwagen mit Soldaten war herangekommen und brachte Verstärkung. Mehr als er zu schaffen hoffen
konnte. Verdammt, nicht einmal ein halbes Dutzend wie er hätten der Flut standhalten können, die hier anrollte. Als ihm die Pistole in den Schoß segelte, ergriff Henry sie sofort. Keine Sekunde zu früh. Brody schrie bereits warnend; gleich darauf sank er zu Boden. Ein Hieb hatte ihn niedergestreckt. Von unten wurde Henry von seinem Bewacher aus der Luke hinabgezogen. »Loslassen!« schrie Henry. Als ihn der andere keineswegs losließ, sagte Henry sehr entschlossen: »Ich habe Sie gewarnt, Mann!« Und hieb ihm den Pistolenkolben über den Schädel. Der Wächter sank neben Brody zu Boden. Henry kletterte wieder in die Luke hinauf, um Indy beizustehen, als er das zweite Lastauto herankommen sah. Nicht der Hauch einer Chance, mit dieser ganzen Horde fertig zu werden. Sie brauchten Hilfe. Eine ganze Menge Hilfe sogar. Er duckte sich wieder nach unten und machte sich an dem linken Seitengeschütz zu schaffen, als sein Bewacher wieder zu sich kam und sich hochrappelte. Henry zielte bereits auf das Transportauto mit der zweiten Ladung Soldaten und hatte den Finger am Abzug. Er war eben am Durchdrücken, als ihm der Wächter in den Arm fiel und ihn zurückriß. Brody kam auf Händen und Füßen gekrochen, und der Wächter stolperte über ihn. Schon hatte Henry sich wieder befreit und war erneut an der Bordkanone, zielte hastig und feuerte. Und er hatte Anfängerglück. Er traf mitten in den Benzintank. Das ganze Fahrzeug explodierte und wirbelte Trümmer und Soldaten durch die von Feuer und Rauch erfüllte Luft. Die Explosion riß sie alle drei vom Tank - Indy, Vogel und den Soldaten, der auf den Sand fiel, während Indy und Vogel auf die rollende Raupe knallten, die sie einfach mitnahm. Nur Augenblicke, ehe sie vornüber und unter sie gefallen und zermalmt worden wären, warfen sie sich beide unter die Geschützlafette. Vogels Füße rammten sich in Indy, der von dem schmalen Metallstreifen zurück auf die endlos über die Räder laufende Raupe flog. Er klammerte sich mit einer Hand am Geschützrohr fest, dann auch mit dem anderen Arm. Seine Füße baumelten in der Luft, immer nur ganz knapp neben der Raupe. Er kämpfte verzweifelt darum, nicht herunterzufallen. Vogel kam herbeigekrochen und stieß mit den Füßen nach seinen Händen. Im Tank griff der Wächter sich Brody und schleuderte ihn an die Wand, daß ihm der Kopf gegen den Sehschlitz knallte. Brody sank zu Boden, befand sich auf der Grenze zur Ohnmacht und kämpfte heftig gegen die Schwärze an, die sich in seinem Kopf breitmachen wollte und wie ein Alptraum an ihm hochkroch. Er sah undeutlich, wie sein Bewacher die Luger hob und auf ihn zielte. Er wollte es nicht mehr mitansehen und schloß die Augen. Er wartete auf den Knall und den Tod. Doch da sprang Henry schon den Wächter an und drehte ihm den Arm um, während sich der Schuß bereits löste. Die Kugel l prallte mehrmals von den Eisenwänden des Tanks ab und pfiff als Querschläger hin und her. Dann begann der Tank hin und her zu schleudern. Der Fahrer war leblos vornübergesunken. Ihn hatte die Kugel am Ende erreicht. Henry kämpfte mit allem, was er hatte. Er rang nach Atem. Der Wachmann hatte seinen kräftigen Arm um seinen Hals und drückte mächtig. Henrys Hände waren um den anderen Arm des Soldaten gekrallt und wehrten sich dagegen, daß er die Waffe auf ihn richten konnte. Er versuchte verzweifelt, bei Bewußtsein zu bleiben. Wenn er ohnmächtig wurde, war er auch gleich tot. Brody kam wieder zu sich, als der Tank heftig über einen großen Felsen holperte. Er hatte ein Gefühl, als sei er von den Toten auferstanden, obwohl ihm sein Körper eigentlich überall weh tat und sein Kopf sich anfühlte, als stecke ein Speer in ihm. Trotzdem rappelte er sich auf und sah, wie Henry mit dem Wachmann auf Leben und Tod um die Waffe kämpfte. Er trat diesem heftig an die Hand. Die Pistole entfiel ihm und schlitterte über den Boden des Tanks. Im gleichen Augenblick polterte der Tank wieder über einen Felsen. Brody fiel hin. »Wer, zum Teufel, fährt den Kasten eigentlich?« knurrte er. Im gleichen Moment, da Brody dem anderen die Pistole wegtrat, griff Henry in die Tasche. Seine Finger suchten hastig nach seinem Füllfederhalter. Mit dem anderen Arm klammerte er sich noch immer an den Wachmann, der sich mühte, ihn abzuschütteln, um sich seine Luger wiederzuholen. Er zog den Füller heraus und stach den Mann damit, doch der schien völlig unempfindlich dagegen zu sein. Endlich bekam er die Kappe ab, hob den Arm und drückte. Ein Tintenstrahl spritzte dem Wächter in die Augen. Er jaulte auf, taumelte zurück und faßte sich instinktiv an die Augen. Inzwischen hatte Henry schon nach Luft geschnappt, tief eingeatmet und dem verdutzten Wachmann die Faust ins Gesicht geschlagen. Der knallte gegen die Eisenwand, fiel wie ein Baum nach vorne und war k. o. »Du siehst«, schrie Henry triumphierend, »die Feder ist doch mächtiger als das Schwert!« Er half Brody auf die Beine. Dieser ganze Unsinn hier hatte kaum noch etwas mit dem Studium der alten Sprachen und Altertümer zu tun. Doch jetzt pumpte sein Organismus erst einmal tüchtig Adrenalin durch ihn. Sie kletterten hinauf zur Luke und hinaus auf den Tank. Weit und breit weder Indy noch Soldaten. Erst als Henry über die Seite des Tanks hinunterblickte, sah er dort am Bordkanonenrohr sei- nen Sohn hängen, allerdings in tödlicher Umklammerung mit Vogel. Alle beide waren inzwischen von Vogels Kette behindert. Indys Kopf aber war nur noch Zentimeter von der laufenden Raupe entfernt.
Henry ließ sich vorsichtig an der Seite hinab. Er war entschlossen, seinem Sohn in einer Weise beizustehen, wie er es sich nie hätte träumen lassen. Jetzt war der Moment, alle väterlichen Versäumnisse eines ganzen Lebens wettzumachen. Und wenn er Indy hinterher gegenüberstand, dann war auch Zeit und Gelegenheit, alle diese Versäumnisse endlich einmal auszusprechen, um reinen Tisch zu machen. Ich bin ein verkalkter alter Knacker, und nie habe ich mich in meiner Sturheit um ihn gekümmert. Genau das würde er ihm dann sagen. Es war endlich allerhöchste Zeit, das offen zuzugeben. Sallah war davongaloppiert, nachdem ihn die Trümmer des zermalmten Autos beinahe umgebracht hätten. Mit einem Pferd, sagte er sich selbst immer wieder, konnte man es nun einmal nicht mit einem Panzer aufnehmen. Doch wo war Indy abgeblieben? Er war genauso verschwunden wie der Panzer. Sallah war daraufhin ein Stück zurückgeritten. Er fand die schmale Schlucht und stand dort verblüfft vor dem von der Panzergranate verursachten Erdrutschgeröll. Vielleicht war Indy unter dem Gestein begraben. Er begann zu suchen. Als er schließlich ziemlich sicher war, daß Indy nicht hier lag, verfolgte er die Spur noch etwas weiter und entdeckte den Tank weiter vorne. Als er näher kam, erkannte er rasch, daß dort etwas nicht stimmte. Der Tank fuhr direkt auf eine andere Schlucht zu, die kaum noch sechzig Meter entfernt war. Und Indy war nirgends zu sehen. Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte auf den Tank zu. Als er neben ihm war, sah er Brody daran hängen und schrie ihm zu: »Springen! Spring, Mann!« Brody hörte Sallah schreien. Er blickte zur Seite und sah jetzt die Schlucht vor ihnen zum ersten Mal. Er rutschte an der Geschützlafette vorbei zu der Seite, wo Sally ritt. »Springen, hab' ich gesagt!« brüllte Sallah noch einmal. Brody war sich ziemlich sicher, daß ihn das das Leben kosten würde, aber andererseits hatte er keine Wahl. Also sprang er. Er bekam Sallah am Hals zu fassen und landete halb auf dessen Pferd, halb hing er noch in der Luft. Sallah packte ihn und zog ihm den Fuß über den Pferderücken. »Festhalten!« »Andere Seite!« rief Brody ihm zu. »Sie sind auf der anderen Seite drüben!« Indy und Vogel waren noch immer in die Kette verheddert und in einer Pattsituation. Warf der eine den anderen vom Tank hinunter, riß er den anderen unweigerlich mit. Dann sah Indy die Schlucht auf sie zukommen, keine dreißig Meter mehr entfernt. Verdammt, wer fährt diesen Tank eigent-lich? Er bemühte sich verzweifelt, die Kette abzukriegen, während Vogel, der den Abhang ebenfalls gesehen hatte, abzuspringen versuchte. Zu Indys grenzenloser Verwunderung erschien gerade in diesem Augenblick sein Vater und packte Vogels Bein. Vogel drehte und wand sich, um sich zu befreien. Dann trat er Henry heftig an den Kopf. Henry fiel auf die rollende Raupe hinab. Indy sah, wie sein Vater nach vorne gezogen wurde, und reagierte blitzschnell. Er hatte mit einer Bewegung die Peitsche aus dem Gürtel und schnalzte sie seinem Vater um das Fußgelenk, ge- rade eben, als er fast schon vorne von der Raupe fiel. Er zog heftig an der Peitsche, und Henry flog zurück wie ein riesiger Fisch am Angelhaken. Sallah war inzwischen herübergekommen und ritt neben der Raupenspur. »Schnell, Indy!« rief er. »Runter vom Tank!« Indy warf einen schnellen Blick zu ihm hinüber. »Da, helfen Sie mir!« Er reichte ihm die Peitsche hinüber. Sallah griff sie sich, zugehe sein Pferd und beugte sich nach hinten, vom Tank weg. Henry purzelte von der Raupe und fiel auf die Erde. Sallah war bereits am Absteigen, um ihm zu helfen, als er erkannte, daß Indy und Vogel gemeinsam auf dem Tank nach hinten rannten. Sie waren immer noch zusammen in die Kette verheddert und sprangen beide im gleichen Moment. Und sie hätten es auch geschafft. Doch das Ende der Kette blieb irgendwo an dem Tank hängen, und der Panzer zerrte sie beide hinter sich her auf den Absturz zu. »O nein! Indy!« schrie Sallah. Mit der letzten Kraft der Verzweiflung konnte Indy sich aus der Kette befreien, während der Panzer ihn hinter sich her zerrte. Allerdings verfing er sich gleich wieder mit dem Bein in ihr. Er riß sich einfach die Hose auf und zog sie sich herunter, über Hüften und Knie. Es sah aus wie bei einem Entfesselungskünstler, der seine todesmutigen und waghalsigen Kunststücke vorführt. Nur war das hier leider kein Bühnentrick. Auf jeden Fall keiner, den er schon einmal vorgeführt hatte.Er hatte die Hose fast runter, als der Tank am Absturz angekommen war, über die Klippe kippte und in die tiefe Schlucht hinabstürzte. Elsa sah in der Entfernung eine schwarze Rauchwolke aus der Schlucht aufsteigen. Sie setzte das Fernglas ab und befahl dem Fahrer, den Motor anzulassen. »Der Tank ist erledigt«, sagte sie zu Donovan. »Sie sind alle erledigt.« »Was ist mit Vogel?« »Was soll mit ihm sein, Mr. Donovan?« Ihre Stimme war hart und eiskalt. Sie hatte alle ihre Gefühle unterdrückt. Jetzt zählte nur noch der Gral. Sie konnte nicht erwarten, daß Indy das alles überlebt hatte. Und wenn, was dann? Was würde es ändern? Gar nichts. Donovan nickte und stieg zu Elsa in den Wagen. »Sieht so aus, als sollten wir beide am Ende gemeinsam den
Gral finden.« Elsa antwortete nicht. Sie blickte nach vorne und starrte in die über der Wüste flimmernden Hitze. Tot. Indy ist tot. Nichts ist wichtig außer dem Gral. »Kümmern Sie sich darum, daß der Materialwagen und alle anderen bereit sind«, sagte sie schließlich. »Wir haben zu tun, los!« Henry starrte auf das brennende Wrack des Tanks in der Tiefe unten. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um sich nicht von der aufsteigenden Woge seiner Gefühle überwältigen zu lassen. Er war selbst verletzt, hatte Schrammen und war total fertig. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle. Er hatte seinen einzigen Sohn verloren - gerade jetzt, wo er die Dinge mit ihm endlich in Ordnung hatte bringen wollen, um die Jahre der Mißverständnisse aus der Welt zu schaffen und zu bereinigen. »Ich muß nach ihm sehen«, sagte Sallah. »Er ist mein Freund.« Er begann, den Bergabsturz hinabzusteigen. Doch Brody hielt ihn am Arm zurück. »Das hat keinen Sinn mehr, Sallah.« Sallah machte sich sanft los, sank dann auf die Knie und verbarg. sein Gesicht in den Händen. Henry blickte von Sallah zu Brody und wußte nicht, was er sagen sollte. Er war kaum imstande, seine eigene Trauer irgendwo einzuordnen, geschweige die eines anderen. Brody versuchte ihn zu trösten. Er legte Henry den Arm um die Schulter und versicherte ihm sein Mitgefühl. In Henrys Augen standen Tränen. Sie brannten. Um sie herum war Staub und Sand in der Luft. Die Sonne brannte gnadenlos herunter. Ich habe ihn niemals auch nur umarmt, dachte Henry und fühlte sich entsetzlich elend. Nicht ein einziges Mal habe ich ihm gesagt, daß ich ihn liebe. Noch halb in Trance und verwirrt taumelte Indy hinter einem Felshaufen hervor. Er hatte seine Hose in der Hand. Sie war von oben bis unten aufgerissen. Ein paar Restfetzen von ihr hingen ihm noch um die Stiefel. Er ging zu den anderen und starrte über den Absturz hinab auf das brennende Panzerwrack. Einer nach dem anderen nahm seine Anwesenheit wahr. Zuerst Brody, dann Sallah und zuletzt Henry. Indy stieß einen leichten Pfiff durch die Zähne und sagte kopfschüttelnd: »Mein lieber Mann, das war knapp.« »Junior!!« schrie Henry, warf die Arme um ihn und drückte ihn heftig an sich. Dann sagte er ein übers andere Mal: »Und ich dachte schon, ich hätte dich verloren.« Und er plapperte ohne Unterlaß alles mögliche über Söhne und Väter und Liebe. Es dauerte eine ganze Weile, bis Indy begriff, daß ihn sein Vater wirklich und wahrhaftig umarmte und ihm versicherte, daß er ihn liebte. Seltsam, an so etwas war er nun wirklich nicht gewöhnt. Genau gesagt, er konnte sich nicht erinnern, dergleichen jemals gehört zu haben. Nicht zu reden davon, daß sein Vater ihn umarmte. Wie von selbst erwiderte er die Umarmung heftig. Wie ein kleiner Junge, den die blinde Liebe zu seinem Vater überwältigt. »Ich dachte ebenfalls, ich hätte dich schon verloren«, flüsterte er. Brody war über die unerwartete Versöhnungsszene zwischen Vater und Sohn sehr gerührt. Sallah allerdings war etwas verwirrt. »Junior?« sagte er. »Du bist Junior?« Indy schnitt ein Gesicht. Er war jetzt nicht in der Stimmung, über dieses Thema zu reden. Er trat etwas zurück und tat, was er konnte, um irgendwie das Wiederanziehen seiner Hose zu improvisieren. Henry beantwortete für ihn Sallahs Frage. »Ja, so heißt er. Henry Jones junior.« »Mir gefällt Indiana besser«, sagte Indy nachdrücklich. Henry reckte sich auf. »Indiana haben wir den Hund getauft! Dich haben wir Henry junior getauft!« Brody lächelte, und Sallah lachte laut. »Den Hund?« rief er. Selbst Indy konnte nun ein Feixen nicht unterdrücken. »Ich habe eine Menge schöner Erinnerungen an den Hund!« Sallah lachte noch lauter und schlug Indy auf den Rücken, was diesem die Hose wieder herunterrutschen ließ.
Der Weg zum Gral Die Nachmittagssonne ließ die nackten Felsen um sie herum glühen. Elsa schloß einen Moment lang die Augen, um ihren Unmut etwas zu beruhigen. Sie tat ihr Bestes, um die Hitze zu ignorieren, aber da war auch noch Donovan. Sie hatte ihre Erfahrungen mit arroganten und überheblichen Männern, die sie lieber wie ein Schmuckstück denn als Wissenschaftlerin zu behandeln beliebten, aber Donovan schoß den Vogel ab. Selbst der Führer, wie exzentrisch er sonst auch sein mochte, erkannte ihre intellektuellen Fähigkeiten an. »Genau hier müßte es sein«, sagte sie und deutete auf eine Felswand vor ihnen. »Hier ist gar nichts«, stellte dagegen Donovan abfällig und überzeugt fest. »Ich habe die Landschaftsmerkmale wiederholt überprüft, Walter«, stellte sie sachlich fest. »Wenn die Karte stimmt, befindet sich die verborgene Schlucht genau hinter dieser Felswand. Und genau dort werden wir auch den Gral finden.«
Donovan sagte wegwerfend: »Wir haben doch schon jeden denkbaren Weg versucht. Hier gibt es nirgends einen Zugang. Das hier ist alles solider Fels.« Mit jemandem, der so überlegen tat wie Donovan, hatte es wenig Sinn, zu diskutieren, wenn es an praktische Dinge ging. Für ihn wäre es klüger, dachte sie, jemanden zu beauftragen, den Gral für ihn zu finden. Dann konnte er ihn anschließend ja stehlen. »Dann schaffen wir uns eben selbst einen Zugang.« »Und wie soll das Ihrer Meinung nach geschehen?« »Sie haben wohl noch nie mit Sprengstoff gearbeitet, wie?« Er sah sie kurz mit einem eisigen Blick an, gegen den nicht einmal die Wüstenhitze aufkam. »Wohl kaum.« Wen überrascht das schon. Sie drehte sich um und ging zum Materialwagen. Sie fühlte, wie er ihr nachstarrte. Soll er doch, dachte sie. Sie führte ihn schon zum Gral. Und dann, im richtigen Moment, würde sie handeln. Der Gral mußte ihr gehören, und galt es ihr Leben! So war die Lage. Indy trug wie seine drei Gefährten ein weißes Tuch über dem Hut und versuchte sich an die Bewegungen seines Kamels zu gewöhnen. Es hatte nichts mit dem Reiten auf Pferden oder Elefanten zu tun. Es war vielmehr etwas ganz Eigenes - steil nach unten, dann nach oben, wieder nach unten, wieder nach oben. Niemals aber schien der Kamelrücken wirklich waagerecht zu sein. Er konnte sich einfach nicht an den Kamelrhythmus gewöhnen. Vermutlich, dachte er, mußte man als Nomade geboren und von Kind auf an das Wüstenleben gewöhnt sein, um sich jemals auf einem dieser Tiere wohl zu fühlen. Das weiße Tuch und der Hut halfen etwas gegen die erbarmungslose Hitze. Gegen den Durst allerdings nützten sie wenig. Er dachte unablässig an Wasser, an ganze Flaschen, kühle, endlose Flüsse von Wasser. Er träumte davon, in ein Schwimmbecken einzutauchen und die Füße in kühlen, feuchten Schlamm zu stecken. Sallah hatte sein Pferd wieder eingefangen, und sie waren zu viert - je zwei auf einem Pferd - bis zu der Stelle zurückgeritten, wo sie Donovans Karawane zuletzt gesehen hatten. Doch dort war weit und breit kein Donovan oder irgend jemand seiner Begleitung. Aber sie hatten die Reifenspuren gesehen, und es waren mehrere herrenlose Kamele dagewesen und sogar einige Feldflaschen Wasser. Indy hatte seinen Vater und Brody bedrängt, zurückzubleiben und auf sie zu warten, während er mit Sallah die weitere Verfolgung Donovans zu Pferde aufnähme. Doch alle beide hatten sie davon überhaupt nichts hören wollen. Beide bestanden darauf, sie seien wieder ganz in Ordnung und könnten weitermachen. Sie konnten doch alle vier auf Kamelen weiterziehen, hatte Henry gemeint. Sie rasteten nur kurz, bis sie ihre Schnitte und Schrammen und sonstigen Verletzungen versorgt hatten. Indy hatte bei den zurückgelassenen Sachen sogar eine brauchbare Hose für sich gefunden, und mit Tüchern, die ebenfalls dabei waren, hatten sie sich ihren Kopfschutz gemacht. Dann hatten sie die Kamele bestiegen und waren weiter durch die Wüste gezogen. Ohne die Karte würden sie freilich niemals imstande sein, die Stelle zu finden, wo sich der Gral befand, hatte Indy gedacht. Doch war ihre Route klar durch die Spuren der Karawane vor ihnen vorgezeichnet. Donovan und Elsa, vermutete er, hielten sie wohl bereits für tot. Andernfalls wären sie gewiß nicht so sorglos mit ihren Spuren gewesen. Sollten sie also in diesem Glauben bleiben. Es konnte leicht der einzige Vorteil sein, den sie nun hatten. Aus der Ferne rollte eine Detonation durch den Paß, die ihn aufmerksam werden ließ. »Was war das?« fragte auch Brody. »Die geheime Schlucht!« rief Henry. »Sie haben sie gefunden!« Indy erinnerte sich an die Worte auf der Steintafel. Jenseits der Wüste und durch den Berg hindurch zur Schlucht des zunehmenden Mondes, die nur so breit ist, daß ein einziger Mann hindurchkommt. Zum Tempel der Sonne, der heilig ist für alle. Er trieb sein Kamel an. »Kommt, wir müssen weiter!« Als sie an der Stelle der Detonation ankamen, lagen im weiten Umkreis Steinbrocken herum, und ein klaffendes Loch in der Felswand führte in eine enge Schlucht. Ihre Wände stiegen sehr steil hoch und waren ockerfarben. Indy reichte seine Wasserflasche herum. Sie waren alle müde, verschwitzt und erschöpft, aber sie wußten, daß sie keine Zeit zu verlieren hatten. Henry hatte die Jacke ausgezogen und ging voran. Er hatte das Hemd am Kragen geöffnet und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Wie ein Mittelalter-Gelehrter sah er jetzt kaum mehr aus, fand Indy leicht amüsiert. Nein, sein Vater sah jetzt aus wie der geborene Abenteurer, der gerade das tapferste Abenteuer seines Lebens besteht und insgeheim jede Minute davon genießt. Als Henry in die Schlucht eintrat, blieb sein Kamel stehen, schnaubte und versuchte zurückzuweichen. Erst als er es mit Geschrei und Schlägen antrieb, bewegte es sich wieder vorwärts. Allen anderen ging es mit ihren Kamelen genauso, als sie hintereinander einzeln in die Schlucht einritten. Brodys Kamel war am störrischsten. Indy mußte schließlich absteigen und es durchführen. Als sie dann in der Schlucht selbst waren, beruhigten sich die Tiere zusehends. Jetzt waren es dafür die vier Männer, die sich eigenartig und fremd fühlten. Je weiter sie vordrangen, desto enger und steiler wurden die Wände der Schlucht. Es war unheimlich hier. Zu heiß, zu still, zu eng. Sogar die Tritte der Kamele hallten noch. Der Klang dieses Echos kam Indy höchst
eigenartig vor, obwohl er nicht genau hätte sagen können, wieso. Die Luft schien weicher zu sein, klarer. Als wären sie in großer Höhe. Und irgendwie schien es Indy, daß sie eine Art Höhenkoller hatten, der mit einem dumpf pochenden Kopfschmerz verbunden war. Selbst das Licht war hier anders. Nicht so hart und grell. Es reflektierte golden von den Wänden der Schlucht. Indy fühlte sich unbehaglich. Die ganze Atmosphäre hier war beunruhigend. Den anderen ging es genauso. Henry ausgenommen. Er war jetzt am aufgekratztesten und lebhaftesten von ihnen allen. Und es war ja auch nur zu verständlich. Er näherte sich schließlich nichts Geringerem als dem größten Ziel seines ganzen Lebens. Noch hielt er den Gral nicht in der Hand, aber er war ihm nun nahe genug, um sich diesen Augenblick lebhaft vorstellen zu können. Er schien in der Tat sehr guter Stimmung zu sein. »Siehst du, Marcus«, sagte er zu Brody, »wir sind jetzt wie die vier Helden der Gralslegende. Du bist Parzival, die heilige Unschuld. Sallah ist Bors, der einfache Mann. Mein Sohn ist der tapfere Ritter Galahad. Und sein Vater... der alte Kreuzfahrer, Lan-celot, der abgewiesen wurde, weil er unwürdig war - so wie ich möglicherweise auch.« »Ach, weißt du«, antwortete ihm Brody, »ich bin ein alter Knacker, der besser zu Hause mit einem kleinen Whisky in der Hand aufgehoben wäre.« Er klammerte sich mit einer Hand an seinen Kamelsattel, um nicht herunterzufallen, und blickte unsicher um sich herum; die fleischgewordene Unsicherheit in Person. Doch Henry schien das gar nicht zu hören. Er nickte sich selbst Bestätigung über seinen Vergleich zu. Dann wandte er sich an Indy. »Und vergiß nicht, es war Galahad, der am Ende den Erfolg errang, nachdem dies seinem Vater nicht gelungen war.« Na großartig, dachte Indy. Die Art Verantwortung hatte ihm gerade noch gefehlt. »Dad«, sagte er abwiegelnd, »ich weiß ja nicht einmal, wie dieser Gral aussehen soll.« »Das weiß auch sonst keiner!« entgegnete ihm Henry. »Doch derjenige, der des Grals würdig ist, erlangt ihn auch.« Ja Ja. Wie König Artus und das Schwert Excalihur, wie? Als wäre dies alles wirklich eine ruhmreiche Entdeckungsfahrt und nicht ein gefährliches Wagnis. Die ganze Geschichte paßte ihm nicht. Sein Vater hatte sie hier zu Kreuzfahrern hochstilisiert. Während Henry den Blick immer erwartungsvoller nach vorne richtete, starrte Indy vorwiegend auf die Erde. Sie brauchten jetzt zwar die Fahrzeugspuren der anderen nicht mehr als Fährte, doch die Tatsache, daß sie hier waren, in dieser Schlucht, die zu beiden Seiten fast bis auf Zentimeter an sie heranreichte, ließ ihn keine Sekunde vergessen, daß sie keineswegs allein waren. »Da, seht mal!« sagte Sallah und deutete nach vorne. Sie hielten abrupt an und starrten alle Sallahs ausgestreckter Hand nach. Die enge Schlucht mündete in einen breiten, offenen Platz. Wie eine Arena. Und tatsächlich war auf der gegenüberliegenden Seite in den Felsen eine großartige griechisch-römische Fassade gemeißelt. Breite Treppen führten zu einem Sockel mit massiven Säulen, hinter denen der Eingang zu einer im Dunkeln liegenden Kammer war. Der Sonnentempel! dachte Indy. »Los, kommt!« sagte Henry ungeduldig. Die Kamele verweigerten erneut und mußten nachdrücklich angetrieben werden, ehe sie widerstrebend weitergingen, den großen Platz überquerten und vor den Treppen zum Tempel anhielten. Indy blickte verstohlen zu seinem Vater hin. Er war völlig überwältigt und hatte den Gesichtsausdruck eines Kindes, das glaubt, ein Wunder zu erleben. Nicht, daß er selbst völlig unbeeindruckt von der Szenerie gewesen wäre. Keineswegs. Aber doch nicht so total wie sein Vater. Henrys Faszination war fast mit Händen zu greifen. Und sie war ansteckend. »Monumental«, sagte Brody ganz erschlagen. »Von den Göttern selbst erbaut«, murmelte Sallah. Indy begriff. Angesichts eines Bauwerks solcher Dimensionen war es nur natürlich, sich vorzustellen, es sei für Unsterbliche errichtet worden, die doppelt so groß und kräftig waren wie sie hier. Lange Zeit brachte es keiner von ihnen fertig, einen ersten Schritt auf die Stufen der Treppe zu tun. Der Tempel übte tatsächlich eine Art verzaubernder Wirkung aus. Schließlich bewegte sich Indy als erster. Er blickte noch einmal auf den Platz hinunter, wo sich die Räder- und Reifenspuren zahllos kreuzten und häuften. Aber nicht ein einziges Fahrzeug war zu sehen. Wo waren sie alle? Er blinzelte nach Westen, wo die Sonne schon tief über der Mauer der Arena stand. Dort, im Schatten, machte er dann einen Transporter aus, einen Materialwagen, ein normales Auto und mehrere Pferde. Er deutete zum Tempel hinauf. »Nun kommt! Sehen wir es uns an. Aber seid leise!« Er ging voraus, Henry, Sallah und Brody folgten ihm. Sie stiegen langsam die Treppenstufen hinauf auf den dunklen Eingang zu. Indy blickte sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, daß ihm noch alle folgten. Dann trat er in den Tempel hinein. Es dauerte etwas, bis sich die Augen an die Dämmerung im Inneren gewöhnten. Dann erkannte er jemanden, der direkt vor ihm stand - ein Ritter in voller Rüstung; eine großartige Statue einer Herkulesfigur von doppelter, nein dreifacher Lebensgröße. Er verhielt, trat wieder etwas zurück und erfaßte die ganze Gestalt mit seinem Blick. Das Standbild war aus
einem riesigen Steinblock gehauen. Das ganze Innere des Tempels war mit genauen Nachbildungen dieses steinernen Wächters gesäumt, hinter ihnen standen ringsherum mächtige Säulen. Er entspannte sich etwas und deutete auf alle Ritterfiguren. Dann hörte er etwas. Es war ein Laut im Tempelinneren, der sofort alle seine Sinne alarmierte. Seine Muskeln spannten sich an. Er zuckte nervös. Angesichts der Faszination des Tempels hatte er einen Moment lang völlig vergessen, daß sich dort drinnen ja bereits Donovan und Elsa befanden. Er bedeutete den anderen stumm, ihm zu folgen und sich so lautlos wie möglich zu verhalten. Sie arbeiteten sich von einer Säule zur anderen vor, bis sie nahe genug waren, um zu sehen, was sich im Inneren des Tempels begab. Ein mit einem Schwert bewaffneter Soldat des Sultans stieg vorsichtig die Stufen einer Steintreppe zu einer Bogenöffnung an der Rückwand des Tempels hinauf. Unten an der Treppe standen Donovan und Elsa und beobachteten ihn. Hinter ihnen standen mehrere Nazis und noch weitere Sultanssoldaten. Elsa. Indy beobachtete sie. Er sah, wie sie sich ganz auf den hinaufsteigenden Soldaten kon- zentrierte. Vermutlich hielt sie ihn, Indy, für tot. Er war für sie einfach nur ein Mann in ihrer Vergangenheit. Abgelegt, vergessen. Was sie auch Gegenteiliges sagen mochte, es war ganz offensichtlich, daß sie nur eine Liebe und Sehnsucht kannte: diesen Gral, seine Geschichte und Legende. Männer waren ihr lediglich ein Mittel zu diesem Zweck. Aber diese einfache Erklärung befriedigte ihn nicht. Es hing wohl mehr damit zusammen. Etwas, das er nicht sah, von dem er keine Ahnung hatte. Bis ihm der Gedanke kam, daß es vielleicht alles sehr viel einfacher war, als es zu sein schien. Vielleicht glaubte sie ebenfalls an diese ganze Legende? Vielleicht hatte sie sich selbst eingeredet, daß dieser Gral wirklich Unsterblichkeit verlieh? Und wie war es mit Donovan? Er hatte mit ihm über den Grals-Mythos gesprochen. Glaubte er wirklich daran? Mußte er wohl. Warum sonst sollte er sein Leben aufs Spiel setzen? Nur um den vielen Altertümern, die er ohnehin schon hatte, noch ein weiteres hinzuzufügen? Gewiß, er arbeitete hier mit Elsa zusammen. Aber es war ja wohl klar, daß er keine Absicht hatte, ihr den Gral zu überlassen. Daran gab es ja wohl keinen Zweifel. Er sah wieder zu dem Soldaten hinauf, der mittlerweile fast ganz oben bei dem Bogen war, und erkannte nun noch etwas. Eine Gestalt. Nur einige Schritte von dem Soldaten entfernt lag ein anderer Soldat des Sultans auf der Treppe. Und daneben noch etwas. Er beugte sich vor und strengte seine Augen an. Es war der Kopf des Soldaten. »Gehen Sie weiter«, rief Donovan dem Soldaten zu. »Gehen Sie weiter! Sie haben es fast geschafft!« Elsa schüttelte den Kopf. »Es geht nicht.« Der Soldat blieb einen Schritt vor der Leiche stehen. »Gehen Sie weiter!« rief Donovan noch einmal. Der Mann ging den nächsten Schritt auf den Bogeneingang zu -und es war sein letzter. Ein lautes Luftrauschen war im ganzen Tempel zu hören, und dann fiel mit einem Schlag der Kopf des Soldaten von seinen Schultern, polterte auf die Stufen der Treppe und rollte bis ganz nach unten, Donovan und Elsa direkt vor die Füße. Donovan gab einem der anderen Soldaten einen Wink, der hinlief und den Kopf aufhob, sich umdrehte und ihn nach hinten warf, wo Indy und die anderen hinter den Säulen verborgen waren. Der Kopf rollte nun fast Indy vor die Füße. Der Mund stand weit offen, das Gesicht zeigte einen Ausdruck von eingefrorenem Horror. Indy blickte weg. »Der Atem Gottes«, sagte Henry leise. Indy war zuerst nicht sicher, was er damit meinte. Dann erin- nerte er sich an die drei Hindernisse, von denen im Notizbuch seines Vaters die Rede war. Der Atem Gottes... Und was waren die beiden anderen gleich noch einmal? Es fiel ihm im Augenblick nicht mehr ein. Er faßte an seine Tasche, wo er das Notizbuch stecken hatte. Es war noch immer da. Er brauchte es, um zum Gral zu gelangen. Doch im Augenblick war das Wichtigste, erst einmal nur an Donovan und seiner Begleitung vorbeizukommen. Donovan befahl einem der Naziwächter, einen anderen Sultans Soldaten zu schicken. »Helmut, der nächste Freiwillige!« Der angesprochene Helmut deutete auf einen der Soldaten» doch dieser schüttelte nur den Kopf und wich zurück. Zwei der Nazis packten ihn und zogen ihn nach vorne. »Nein, nein, nein!« schrie er und wehrte sich mit Händen und . Füßen. Doch sie stießen ihn vorwärts, so daß er die ersten Stufen der, Treppe hinaufstolperte. Er drehte sich jedoch wieder um. Seine Augen waren schreckgeweitet. Der Nazi Helmut zog seine Luger und zielte mit ihr auf den Soldaten, der sich zögernd umdrehte und den tödlichen Aufstieg die Treppe hinauf begann. Aus den Augenwinkeln sah Indy, wie Brody angewidert wegsah, sichtlich nicht gewillt, Augenzeuge einer weiteren Enthauptung zu werden. Nicht, daß er selbst mehr Verlangen als Brody danach gehabt hätte. Aber welche andere Wahl hatten sie schon. Sie brauchten einen Angriffsplan, aber...
Brody tippte ihn auf die Schulter. »Indy.« Die Falten in Brodys Gesicht waren scharf und tief und sahen aus wie Schatten. Indy legte den Finger an die Lippen, dann erst sah er, was Brody meinte. Hinter ihnen stand ein Nazisoldat und hatte eine Pistole auf sie im Anschlag. »Raus hier!« schrie er. »Raus!« und fuchtelte wild mit seiner Pistole herum, zum Zeichen, daß sie sich schleunigst entfernen sollten. Wie aus dem Nichts standen plötzlich drei weitere Nazis da, jeder mit einem Gewehr im Anschlag. Offenbar hatten sie schon am Eingang gelauert und sie beobachtet, seit sie den Tempel betreten hatten. Sie durchsuchten sie nach Waffen und nahmen Indy und Sallah die Pistolen ab. Man stieß sie vorwärts in die Mitte des Tempels zu den anderen und befahl ihnen, die Hände über die Köpfe hochzuheben. Die Sultanssoldaten kehrten sich ihnen ihrerseits zu und gingen mit ihren Gewehren in Anschlag. Indy sah Elsa herumfahren und ihm ungläubig entgegenstarren. Der Mund blieb ihr offen. Donovan kam ganz gelassen auf sie zu und verbarg seine Überraschung hinter einem breiten Lächeln. Er sah sie an, als empfange er Besuch von lieben Freunden, die gerade in der Stadt angekommen und bei ihm zum Essen eingeladen waren. »Ah, die Jones-Boys! Und keinen Moment zu früh. Willkommen, alle miteinander, willkommen! Wir können Ihre Erfahrung und Ihr Wissen gut gebrauchen! Ich freue mich wirklich sehr, Sie alle noch am Leben zu sehen!« »Sie kriegen den Gral niemals!« fauchte ihn Henry sofort an. »Der ist weit jenseits Ihres Verständnisses und Ihrer Fähigkeiten.« »Seien Sie sich da mal nicht zu sicher, Dr. Jones!« Donovan sprach jetzt doch merklich durch die Zähne. »Der einzige Grals-Experte der Welt sind Sie ja nun auch nicht!« Er bedeutete den Wachen, sie alle bis zur Treppe zu führen. Man stieß sie vorwärts und stellte sie vor den Sultanssoldaten in einer Reihe auf. Wie Zielscheiben in einer Schießhalle, dachte Indy. Elsa kam nach vorne und ging zu Indy. »Ich habe nicht erwartet, dich jemals wiederzusehen.« »Ich bin wie die falschen Pennys. Die tauchen auch immer wieder auf, was man auch macht.« Donovan legte seine Hand auf Elsas Schulter. Er klang etwas ungehalten. »Wenn Sie bitte zurücktreten würden, Dr. Schneider.« Es klang, als habe er Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit. »Lassen Sie Indiana doch etwas Platz!« Doch Elsa ignorierte ihn und blieb, wo sie war. Sie starrte Indy an, als glaubte sie nicht, daß er lebendig vor ihr stand. Indy sah weg. Das war nicht der Moment, alte Bekanntschaften aufzufrischen. Schon gar nicht diese hier. »Dr. Jones«, sagte Donovan, »wird uns den Gral holen.« Indy warf einen Blick nach oben zu den beiden enthaupteten Leichen und lachte. Der dritte Soldat war inzwischen auf halber Höhe der Treppe stehengeblieben und arbeitete sich bereits unauffällig schrittweise wieder nach unten, als sähe ihn niemand. »Sie halten das für komisch, wie?« sagte Donovan. »Aber hier ist Ihre Chance, unsterblich zu werden - wenn Sie Erfolg haben. Was sagen Sie dazu, Mr. Indiana Jones?« »In die Geschichte eingehen? Als was, Donovan? Als Nazimarionette wie Sie?« Donovan musterte ihn kurz, und es war nicht recht erkennbar, ob belustigt oder ärgerlich. Doch dann lächelte er und schüttelte nachsichtig den Kopf, als halte er Indy für ein Kind, das etwas ziemlich Dummes gesagt hatte. »Die Nazis!« äffte er ihn nach. »Ist das Ihr ganzer Denkhorizont?« Indy würdigte ihn keiner Antwort. »Die Nazis wollen sich selbst in das Buch der Gralslegende einschreiben und die Weltherrschaft übernehmen«, sagte Donovan. »Bitte sehr, sollen sie. Aber Dr. Schneider und ich, wir wollen den Gral selbst. Den Kelch, der das ewige Leben verleiht. Hitler mag meinetwegen die Welt haben, aber er wird sie nicht ins Grab mitnehmen können.« Er kam näher heran und schob sein eckiges Kinn vor. »Wenn er schon längst über den Jordan ist, trinke ich noch das Leben aus dem Gral!« Damit zog er eine Pistole aus der Tasche und zielte Indy zwischen die Augen. Dann trat er einen Schritt zurück. »Der Gral gehört mir. Und Sie werden ihn mir holen!« Indy lächelte ihn süffisant an. »Vergessen Sie da nicht Dr. Schneider?« Donovan lächelte zurück. »Sie ist die Zugabe zum Gral. Tut mir leid für Sie.« Indys Augen streiften Elsa. Sie stand einige Schritte hinter Donovan. Ihr Gesicht war zur Maske erstarrt- sehr schön, sehr sanft. Und sehr rätselhaft. Donovan spannte die Pistole. »Los!« Indy deutete gelassen auf die Pistole. »Was soll das? Wenn Sie mich erschießen, haben Sie doch nichts davon. Vor allem nicht den Gral!« Donovan wußte, wie richtig das war, und einen Moment lang wußte er auch wirklich keine Antwort. Dann verengten sich seine Augen aber und schossen zwischen Henry und Indy hin und her, und sein Lächeln kam ganz langsam in sein Gesicht zurück. »Wissen Sie was, Dr. Jones? Ich bin völlig Ihrer Meinung. Sie haben absolut recht.«
Und damit wandte er sich demonstrativ an Henry und richtete die Waffe auf ihn. »Nein!« riefen Elsa und Indy wie mit einer Stimme. Doch Donovan schoß. Er traf ihn auf Armabstand in den Leib. Henrys Hand fuhr an seinen Leib. Er taumelte und drehte sich zu Indy. »Dad!« Elsa stürmte nach vorne. Donovan hielt sie fest und stieß sie zurück. »Sie halten sich da raus!« Henry brach in Indys Armen zusammen. Brody und Sallah eilten dazu, als Indy ihn vorsichtig auf den Boden bettete. Sallah stützte seinen Kopf, Brody kniete sich neben ihn nieder. Indy riß seinem Vater das Hemd auf. Die klaffende Wunde würgte ihn fast. Brody drückte ihm ein Taschentuch in die Hand, das Indy auf die Schußwunde preßte, vor allem, um die Blutung zu stillen, bis er sah, daß die Kugel an der Seite wieder ausgetreten war, wo es noch stärker blutete. Er sprach leise mit ihm und sagte ihm, es werde alles gut werden. Er konnte nur zu Gott beten, daß seine Hoffnung auch erfüllt würde. »Stehen Sie auf, Jones!« befahl ihm Donovan. Indys Kopf schoß förmlich herum. In seinen Augen blitzte Haß auf. Er sprang hoch, während sich Brody weiter um Henry kümmerte. Er überlegte kurz, ob er Donovan an die Kehle springen sollte, hielt sich aber dann zurück, als Donovan die Waffe wieder durchlud. »Wenn Sie tot sind, können Sie ihn kaum mehr retten«, sagte Donovan und legte die Mündung seines Revolvers auf Indys Herz, »Die Heilkraft des Grals ist das einzige, was Ihren Vater noch retten kann.« Er wartete einen Augenblick. »Glauben Sie mir etwa nicht? Jetzt ist es allmählich Zeit, daß Sie sich die Frage stellen, was Sie glauben.« Henry stöhnte und hustete. »Indy«, rief Sallah. »Es geht ihm nicht gut.« Indy wandte sich um und kümmerte sich wieder um seinen Vater. Brody flüsterte ihm zu, daß Henry wirklich schwer verletzt sei. Indy nickte. Er wußte es ja. Er wußte es doch. Er hatte ja Augen im Kopf. »Der Gral ist seine einzige Chance«, sagte Donovan mit einem kalten Lächeln. Er war sich seiner Sache sehr sicher. Indy hatte keine andere Chance. Er kam schon zur Vernunft. Indy sah Brody an, der sagte: »Er hat recht. Der Gral kann ihn retten, Indy. Ich glaube es. Du mußt es auch glauben.« Unter anderen Umständen hätte Indy nur gelacht. Aber jetzt ging es schließlich um das Leben seines Vaters. Er nickte Brody zu und griff in seine Tasche, um das Gralstagebuch herauszuholen. Er wollte eben aufstehen, als Henrys Hand auf seinen Arm fiel. »Denke daran... Der Atem Gottes.« »Ich denke dran, Dad. Und ich hole den Gral. Für dich.«
Die drei Hindernisse Indy umfaßte das Notizbuch und warf einen Blick die Stufen der Treppe hinauf. Er konnte den Torbogen ganz oben sehen, hinter dem es dunkel war. Er holte tief Atem und stieg langsam die Stufen hinauf, auf die beiden kopflosen Leichen zu. Auf halbem Wege blieb er stehen. Die völlige Stille war durch das Geräusch des Gewehrdurchladens der Sultanssoldaten durchbrochen worden. Es hallte durch den ganzen Tempel. Donovan hatte den Soldaten befohlen, ihn beim kleinsten Fluchtversuch zu erschießen. Und es war unübersehbar, daß sie seinen Befehlen bedingungslos gehorchen würden. Er schlug das Notizbuch auf und blickte hinein. Das Licht war nur dämmrig, und die Schrift verschwamm ihm vor den Augen. Doch er mußte unbedingt einen Weg durch den Torbogen dort oben finden - dem »Atem Gottes«. Sein Vater lag unten am Boden und verblutete. Er mußte ihm helfen. Er mußte sich des Grals bemächtigen und ihn herbeibringen, so schnell es nur ging. Verstandesmäßig war ihm klar, daß kein altes Kelchgefäß, welches auch immer, eine Schußwunde heilen konnte. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle... Er hatte in seinem Leben schon die seltsamsten Dinge erlebt, die es alle eigentlich nicht geben konnte, und die doch geschehen waren. Schon möglich, daß die legendäre Heilkraft des Grals niemals bewiesen werden konnte, und unter normalen wissenschaftlichen Testbedingungen niemals wiederholbar war. Aber was konnte in seiner Lage ein Versuch schon schaden? Es mußte ja nur dieses eine Mal funktionieren. Er stieg zwei weitere Stufen nach oben. Er hörte, wie unten sein Vater nach ihm rief. Er drehte sich um. Henry blickte mit schon glasigen Augen zu ihm herauf. Er murmelte etwas. Indy versuchte es zu verstehen. Sein Vater murmelte immer wieder denselben Satz. »Nur der Büßer kommt vorbei.« »Nur der Büßer kommt vorbei.« »Nur der Büßer kommt vorbei.« Indy wiederholte den Satz für sich selbst und stieg vorsichtig die restlichen Stufen hinauf. Die beiden Leichen lagen jetzt direkt vor ihm. Die obersten Stufen waren voller Blut. Er ging noch einen Schritt auf den Torbogen zu. Dann noch einen. Er sah bereits den Gang hinter dem Bogen. Er blieb stehen. Er spürte, er war nur noch einen Schritt von seiner Enthauptung entfernt.
»Büßer... nur der Büßer kommt vorbei«, flüsterte er sich selbst vor. »Nur der Büßer kommt vorbei. Nur der Büßer kommt vorbei.« Er sprach es wie eine Beschwörung, wie ein Gebet, und mit jedem Mal, da er es sagte, wurde ihm klarer bewußt, wo er sich befand und was um ihn herum war. Er war hier nicht einfach nur auf gewöhnlicher Suche nach Altertümern. Nein, die Suche seines Vaters war nun vollends zu seiner eigenen geworden. Wie hatte sein Vater vorhin noch gesagt, als sie durch die enge Schlucht gekommen waren ? Aber es war Galahad, der am Ende den Erfolg errang, nachdem dieser seinem Vater nicht gelungen war. Er erblickte ein riesiges Spinnennetz über dem Torbogen. Es war direkt vor ihm. Wieso sah er es erst jetzt? Keiner der anderen Männer war bis zu diesem Spinnennetz gelangt. Er wußte jetzt genau, daß zwischen ihm und dieser Spinnwebe nur noch der »Der Atem Gottes« war - was immer das auch sein mochte. »Nur der Büßer kommt vorbei. Büßer... Büßer. Ein büßender, reumütiger Mann.« Er setzte zum nächsten Schritt an, aber der schon angehobene Fuß blieb ihm mitten in der Bewegung in der Luft stehen. Wie ein überlebensgroßer Storch auf einem Bein in Ruhestellung. Büßer. Reumütig. Der reuige Sünder ist demütig im Angesicht Gottes. Der reumütige Mann kniet vor Gott. Kniet! Er setzte den Fuß wieder auf den Boden und fiel auf die Knie. Er hatte es kaum getan, als das laute Luftrauschen über ihn wegzischte. Instinktiv ließ er sich flach zu Boden fallen, blieb eine Weile so liegen und rollte sich dann langsam auf den Rücken. Er blickte nach oben, und jetzt konnte er es sehen. Ein rasiermesserscharfes Schwungpendel, das noch immer nur Zentimeter über ihm hin und her schwang. Es hing an zwei im Torbogen montierten Rollen. Vermutlich wurde das Pendel beim leisesten Luftzug ausgelöst, den bereits der Atem eines Menschen verursachte, und hielt wieder an, nachdem es sein Ziel getroffen hatte. Das Pendel mußte sich wohl schon seit Jahrhunderten hier befinden, aber noch immer funktionierte es so perfekt, als stünde es unter programmierten Befehlen oder unter hypnotischem Einfluß. Bis hierher, dachte er, war dies auch verstandesmäßig durchaus begreifbar und akzeptabel. Es dauerte Jahrtausende, bis sich in absolut trockenem Wüstenklima etwas zersetzte oder auflöste. Er hatte mit eigenen Augen Tote gesehen, die jahrtausendelang unter trockenem Wüstensand begraben gewesen waren. Nicht einmal ihre Haut über den Knochen war verwest. Ihre Kleidung war noch völlig intakt, jeder einzelne Faden des Stoffes noch erkennbar, als sei er erst kürzlich gewoben worden. Von einem der Laufräder im Torbogen hing ein Seil herab. Er robbte vorsichtig hinüber. Er packte das Seil und warf das Schlingenende über eine Speiche des ersten Rades. Sofort stoppte der Mechanismus, und die Messer blieben stehen. Er war durch. Er hatte es geschafft. Er stand in dem Torbogen, mitten in der Spinnwebe, die an seinen Kleidern hängenblieb. Er gab Brody und Sallah ein Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Er sah, daß ihm Elsa zulächelte. Sie schien sich zu freuen. Kunststück. Je weiter er kam, desto näher kam auch sie dem Gral. »Wahre Liebe«, sagte er leise zu sich selbst, und es war halb Frage, halb Ironie. Sein Blick begegnete einen Moment lang dem von Donovan. Er rieb sich den Nacken und wandte sich rasch ab. Brody faßte Henry vorsichtig an der Schulter. »Er ist durch, alter Junge! Indy hat es geschafft!« Henry nickte schwach, um kundzutun, daß er verstanden hatte. Brody sah jedoch, wieviel Mühe ihn allein dieses Kopfnicken kostete. Dann murmelte er etwas vor sich hin. Brody sah Sallah fragend an, der noch immer Henrys Kopf hielt. »Was hat er gesagt?« Doch auch Sallah schüttelte nur besorgt den Kopf. »Er ist nicht mehr bei klarem Bewußtsein.« Henry murmelte wieder etwas. Diesmal verstand Brody wenigstens Bruchstücke davon. »Im lateinischen Alphabet... beginnt mit...« »Ja?« Er beugte sich ganz dicht über ihn. »...mit einem >I<.« Brody wiederholte das. »Im lateinischen Alphabet beginnt es mit einem I. Gut. Aber was bedeutet es?« Er schüttelte hilflos den Kopf. Sallah hatte wohl recht. Henry war nicht mehr bei klarem Bewußtsein. Er blickte nach oben zu dem Torbogen und wünschte Indy Glück. Dann sah er, wie Donovan und Elsa die Treppe hinaufstiegen. »Widerliche Intriganten und Schmarotzer«, knurrte er. »Widerlich.« Henry richtete sich plötzlich etwas auf und sprach mit kratzender Stimme. »Das Wort Gottes... das Wort Gottes...« »Nicht doch, Henry. Du darfst nicht sprechen«, sagte Brody. Henry wurde von einer Schmerzwelle geschüttelt. Brody sah besorgt Sallah an. War es etwa schon soweit? »Der Name Gottes...«lallte Henry. Dann entspannte er sich etwas, weil der Schmerz sichtlich abebbte. »Jehova«, murmelte er. »Aber im lateinischen Alphabet schreibt man Jehova mit I...« Eine neue Schmerzwelle fuhr durch seinen Körper. »O je«, stammelte er danach und zog heftig den Atem durch die Zähne. Sallah legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte sorgenvoll hinauf zum Torbogen. »Es ist alles okay, Henry.« Indy zündete ein Streichholz an und hielt es nahe an das Notizbuch. Er übersetzte sich die Sätze aus dem Lateinischen. »Das zweite Hindernis. Das Wort Gottes. Nur in den Fußstapfen Gottes kommt er voran.«
Das Streichholz verlöschte. Er stand in der Dunkelheit, blickte nach vorne und überlegte, was diese Worte bedeuten könnten. Er hoffte, das Hindernis rechtzeitig zu erkennen, wenn er es erreichte, um es lebend passieren zu können. Beim ersten der drei Hindernisse hatte er wenigstens die Erfahrung zweier vor ihm schon fehlgeschlagener Versuche nützen können. Von jetzt an aber tappte er buchstäblich im dunkeln. »Nur in den Fußstapfen Gottes kommt er voran«, sagte er sich wieder vor und rekapitulierte den Text. »Das Wort Gottes... Das Wort Gottes.« Was konnte das bedeuten? Er entzündete noch ein Streichholz und las den Rest des Absatzes. »Schreite voran in den Fußstapfen des Wortes. Im Namen Gottes. Jehova.« Er hörte ein Geräusch. Er sah sich um. Donovan und Elsa folgten ihm. Sie standen direkt vor dem Torbogen und warteten darauf, was er als nächstes machte. Parasiten.
»Nicht stehenbleiben, Dr. Jones«, rief Donovan mit Nachdruck. »Sie sind gerade erst am Anfang Ihres Weges.« Indy rief sich ins Bewußtsein zurück, daß er allein seines Vaters wegen hier war. Es hatte keinen Pfifferling mit Donovan zu tun. Und auch mit Elsa nicht. Er drehte sich wieder um und ging weiter durch den Gang, bis er zu einem Kopfsteinpflaster im Schachbrettmuster kam. »Pflastersteine.« Er erinnerte sich an das Wort aus dem Gralstagebuch. Auf der Seite mit den Diagrammen. Pendel. Kopfsteine. Und dann noch etwas von einer Brücke. Er strich wieder ein Zündholz an und suchte im Notizbuch nach der Seite. Das Schachbrettdiagramm im Buch es waren diese Kopfsteine! Genau wie im Diagramm trug jeder einzelne einen Buchstaben. »Das Wort Gottes. Schreite voran in den Fußstapfen des Wortes Gottes. Jehova.« Er trat prüfend auf das J. Und sein Fuß fiel plötzlich in ein Loch. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Er richtete sich wieder auf und zog den Fuß heraus. Dabei spürte er etwas an seinem Knöchel krabbeln. Er schüttelte schnell heftig den Fuß und wischte eine faustgroße, haarige schwarze Spinne ab. Sie entfernte sich rasch den Gang entlang, eine plumpe, abstoßende Kreatur. Im nächsten Augenblick schrie Elsa auf. Bei den Ratten unter der Bibliothek hat sie sich besser gehalten. Er betrachtete sich das Diagramm noch einmal und schüttelte mißbilligendden Kopf, als er seinen Fehler erkannte. Okay, Wach auf. Konzentriere dich bitte. Hier geht es nicht um unsere Sprache. Das hier ist Lateinisch. Und im Lateinischen beginnt Jehova mit I.
Er entzündete ein weiteres Streichholz und suchte die Kopfsteine hastig ab. Dann sprang er von einem zum anderen und sagte bei jedem laut den Buchstaben. Als er auf dem O war, rutschte ihm der Fuß ab. Er trat mit auf den Stein mit dem Buchstaben P, der sofort nach unten durchfiel. Er schwankte, kämpfte um die Balance und ging über die letzten beiden Buchstaben. Er hatte es geschafft. Er blickte nach hinten. Elsa und Donovan waren drüben bei den Kopfsteinen angelangt. Er würde sich hüten, ihnen Hinweise zu geben, doch Elsa hatte es auch so bereits begriffen. Sie hatte gehört, wie er sich die Buchstaben laut vorgesagt hatte, und gesehen, auf welche Weise er über die Kopfsteine gegangen war. Sie lächelte zu ihm herüber und begann über das Schachbrett zu hüpfen, als spiele sie Himmel und Hölle. »I-E-H-O-V-A. Jehova « Indy wischte sich Spinnweben vom Kopf, drehte sich um und ging weiter. Hinter ihm hörte er Donovan Elsa zurufen, weiterzugehen und Indy nicht aus den Augen zu lassen. Und daß er ihr direkt folge. Sallah sah, daß es mit Henry rasch zu Ende ging. Er sprach nicht mehr mit sich selbst und bewegte sich auch nicht mehr. Sein Atem war kaum noch wahrnehmbar, so schwach war er bereits geworden. Er fühlte ihm die Halsschlagader und blickte dann mit leichtem Kopfschütteln Brody an. »Ich glaube, er ist...« »Nein. Er darf nicht sterben!« sagte Brody. Er warf einen Blick zur Treppe. »Ich gehe Indy nach. Er muß sich beeilen. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Sallah blickte ihm nach, wie er die Treppe hinaufeilte. Er ist schon ebenso im Delirium wie Henry, dachte er. »Vater von Indy. Bleib noch eine Weile bei uns. Dein Sohn wird bald wieder da sein. Dein Sohn wird kommen.« Er richtete, ein Gebet murmelnd, den Blick zum Himmel. Eine Stimme. Henry. Er beugte sich über ihn und freute sich, daß Gott sein Gebet so prompt erhört hatte. »Was sagten Sie, Vater von Indy?« »Du mußt glauben, Junge... du mußt glauben. Du mußt glauben. Glauben... mußt glauben.« Indy stand am Rande eines Abgrunds. Er hielt sich an einem Felsen fest. Der Gang hatte hier abrupt geendet. Jenseits der Felsspalte befand sich eine dreieckig geformte Öffnung. In den Felsen darüber war ein Löwenkopf gemeißelt. »Der Pfad Gottes.« Er blickte nach oben. Über ihm war ein weiterer Löwenkopf. Er verglich mit dem Notizbuch. Nein, zu breit für einen Sprung. Niemand konnte so weit springen.
Die Seite mit den Diagrammen fiel ihm wieder ein. Er suchte sie und schlug sie auf. Das Pendel. Die Pflastersteine. Die unsichtbare Brücke. Das dritte Diagramm hatte die Form eines Keils. Quer zur Keilspitze verliefen eine ganze Reihe gestrichelter Linien. Er studierte das eine Weile, ehe er das Buch wieder schloß. Sinnlos. Es ergab keinen Sinn. Er glaubte nun einmal nicht an unsichtbare Brücken. »Indy.« Er drehte sich um, als er Brody im Gang hinten nach ihm rufen hörte. »Marcus?« rief er zurück. »Indy, du mußt dich beeilen!« Er lehnte den Kopf an die Felswand und schloß die Augen. Er konnte jetzt natürlich umkehren und zurückgehen, um seinen Vater sterben zu sehen. Oder er konnte springen, und hoffen... selbst, wenn es da nichts zu hoffen gab. Er sah sich plötzlich selbst, zehn Jahre alt, zusammen mit seinem Vater... Wie konnte sein ganzes Leben vor seinen Augen vorbeifliegen, wenn er noch nicht einmal gesprungen war...? Sein Vater hatte ihm zum zehnten Geburtstag Pfeil und Bogen geschenkt und hinten im Hof eine Zielscheibe aufgestellt. »Stelle dich hinter diese Linie hier, Junior, und übe. Und wenn du soweit bist, das Schwarze zu treffen, hole mich. Aber nicht mogeln, hörst du? Bleibe hinter dieser Linie!« »Ja, Sir.« Er war glücklich und aufgeregt gewesen, und mehr als alles andere lag ihm daran, seinem Vater zu gefallen. Er hatte den ganzen Nachmittag geübt, aber nicht ein einziges Mal ins Schwarze getroffen. Bei der Hälfte aller Schüsse verfehlte er die Zielscheibe sogar völlig und mußte sich dann die Pfeile aus dem Gebüsch am Zaun dahinter herausholen. Die Sonne war schon tief gestanden, als sein Vater wieder in den Hof herausgekommen war. »Nun, Junior?« »Ich schaffe es nicht, Dad!« Die Tränen waren ihm in die Augen geschossen. Er war wütend und frustriert. »Ich kann das Schwarze einfach nicht treffen. Es ist zu weit weg.« »Nein, das ist es nicht, Junior. Es ist nicht zu weit weg. Dein Problem ist, du glaubst nicht daran. Wenn du daran glaubst, daß du es schaffen kannst, dann schaffst du es auch. Glaube, Junior. Glaube!« Er hatte sich gewehrt. Mit glauben allein schieße er bestimmt nicht besser. Da hatte sein Vater den Zeigefinger erhoben. »Du darfst kein Zyniker werden, Junior. Zyniker sind furchtsame Menschen, die nichts zuwege bringen.« Und er hatte den Bogen sinken lassen und auf das Schwarze der Zielscheibe gestarrt. Ein übers andere Mal hatte er sich vorgesagt, gut, er glaube, er könne treffen. Er hatte den Bogen gehoben, um ihn zu spannen. Doch seine Zweifel waren sofort wiedergekommen, und er ließ den Bogen wieder sinken. Ich glaube. Ich glaube. Ich glaube, daß ich das Schwarze treffen kann. Ich treffe es. Ich kann das Schwarze treffen. Ich glaube. Ich treffe es. Und er traf tatsächlich... Er öffnete die Augen. Die Erinnerung an diese Geschichte von damals war so klar und deutlich, als sei er noch immer zehn Jahre alt. Er blickte über die Felsspalte hinweg auf die andere Seite hinüber. Als er erwachsen geworden war, hatte er sich die Sache als reinen Zufall erklärt. Jetzt aber war keine Zeit mehr, die Macht des Glaubens in Frage zu stellen. Glaube ich nicht, dann werde ich auch nicht springen. Anders jedoch geht es nicht. Ich kann es schaffen. Ich glaube es. Er steckte das Notizbuch in die Innentasche und visierte die Öffnung im Berg auf der anderen Seite der Felsenspalte. Und er sagte sich pausenlos vor, er glaube. Glaube ich nicht, dann werde ich auch nicht springen. Sobald ich glaube, springe ich auch. Er wischte seine Zweifel beiseite und konzentrierte sich intensiv darauf, zu glauben. Er wiederholte es sich pausenlos, bis er spürte, daß sich dieser Glaube in ihm zu verdichten und zu formen begann. Er atmete tief durch. Und immer schneller. Ich kann es schaffen. Ich kann es. Ich schaffe es. Er duckte sich vor dem Abgrund, sammelte jedes letzte Quentchen Kraft in sich, lief an, schnellte sich ab und sprang wie ein Löwe. Es war ein kräftiger Sprung, der beste, zu dem er imstande war. Trotzdem war er natürlich bei weitem zu kurz. Der Spalt war zu breit. Er starb jetzt, das war klar. Und trotzdem wußte er eigenartigerweise genau, daß er nicht sterben würde. Und dann landete er bereits auf Händen und Knien. Er blickte nach unten und erkannte, wo er war. Kaum mehr als einen Meter unterhalb des Ganges, durch den er gekommen war, befand sich ein Felsvorsprung. Aber warum hatte er ihn zuvor von oben nicht gesehen? Wo er doch offensichtlich die ganze Zeit schon dagewesen war. Er beugte sich etwas zurück und versuchte, diesen Vorsprung hier aus der Perspektive seines Standortes von vorhin zu betrachten. Etwas war in der Tat ungewöhnlich an dieser Felsenformation. Es war genial. Der Simsvorsprung hier war bemalt. Und zwar so genau, daß er exakt mit den Felsen dreißig Meter tiefer übereinstimmte. Von seinem vorigen Standort sah es so aus, als sei hier überhaupt kein Vorsprung. Eine perfekte Tarnung, solange man nicht sprang. Er lachte laut heraus. Er hatte »geglaubt« und tatsächlich das Unmögliche gefunden. Die unsichtbare Brücke. Hätte er nicht daran geglaubt, daß er es überleben konnte, wäre er nie gesprungen. Und hätte die Brücke nie
entdeckt... Er stand auf, schwankte kurz und sah zurück zur anderen Seite. Dort standen jetzt Elsa und Donovan mit staunend aufgerissenen Augen. Es war geradezu komisch. Von ihrem Standort aus mußten sie glauben, er stehe mitten in der Luft. Er folgte vorsichtig dem Sims, der wie ein sanfter Hügel leicht anstieg und unter dem Kopf des Löwen endete. Er befand sich nun genau unterhalb der Öffnung, die in den Felsen hineinführte. Es fiel ihm wieder etwas ein. Der Löwe war eines der Symbole auf der Suche nach dem Gral. Der fünfte Grad des Bewußtseins. Er versinnbildlichte Führungskraft, Tatendrang und den Drang zu hohen Zielen. Er hatte alle drei Hindernisse überwunden! Ein hohes Ziel war erreicht! Jetzt konnte er weiter und den Gral finden! Doch das Gefühl verließ ihn nicht, daß er trotz allem das schwierigste Hindernis noch vor sich hatte.
Der dritte Ritter Er blickte sich noch einmal um, ehe er weiterging. Elsa hatte sich Kieselsteine und Erde aufgehoben und warf sie über die Felsplatte auf die unsichtbare Brücke. Blitzgescheite Frau. Blttzgeschett und gefährlich. Der Gang wurde enger und niedriger, je weiter er kam. Mehrere Male stieß er sich oben den Kopf an und schrammte mit den Schultern seitlich an den Fels. Schließlich kam er nur noch kriechend voran. Doch auch dies half bald wenig. Auch so stieß er sich bald den Kopf an. Wenn das so weitergebt und immer noch niedriger und enger wird, muß ich bald zum Karnickel werden, zum Donnerwetter. Auch die Dunkelheit legte sich über und um ihn wie ein dicker Mantel. Er fühlte seinen Weg nur noch mit den Fingern und drang so weiter in die Finsternis vor. Wenn nun irgendwo am Ende dort vorne nur einfach eine Wand war, was dann? Hatte er die drei gefährlichen Hindernisse dazu überwunden, herauszufinden, daß es schlicht gar keinen Gral gab und statt dessen lediglich einen toten Stollen im Berg? Doch es war keine Zeit für solche Scherze. Sein Vater lag im Sterben. Er stieß mit der Stirn an. Er befürchtete das Schlimmste und fühlte mit ausgestrecktem Arm nach vorne und um sich. Er tastete die Wände ab, um sich ein Bild von der Form des Tunnels machen zu können. Er endete nicht, sondern machte eine Kurve. Langsam arbeitete er sich weiter voran und bemerkte einen schwachen Lichtschimmer. Er kroch noch drei oder vier Meter weiter. Vor ihm war jetzt irgendwo ein Licht. Er kroch rascher. Das Licht wurde heller und kräftiger. Er mußte blinzeln, als plötzlich greller Sonnenschein in den Tunnel hereinfiel. Als er sich durch eine enge Öffnung zwängte, stolperte er aus dem Tunnel hinaus ins Freie. Linde, leichte Luft umfächelte ihn. Seine Augen gewöhnten sich rasch wieder an das Tageslicht. Er wischte sich die Jacke ab und streckte Arme und Beine aus. Er befand sich in einem anderen Tempel. Er war kleiner als der erste. Sofort erregte ein Altar in der Mitte seine Aufmerksamkeit. Er war mit violettem Tuch verkleidet. Auf ihm standen ein Dutzend Kelche verschiedener Größe, einige aus Gold, einige aus Silber, einige mit wertvollen Edelsteinen besetzt, einige schlichter. Doch alle funkelten und glitzerten. Der Anblick raubte ihm den Atem. Er wußte, er war am Ziel. Er ging vorwärts, um es sich näher betrachten zu können. Dabei entdeckte er einen weiteren, etwas kleineren Altar an der Seite. Und noch etwas anderes. Eine Gestalt in einer Tunika und einer gestrickten Kopfbedeckung kniete mit dem Rücken zu ihm vor diesem kleineren Altar. Er näherte sich. Die dünnen, knöchernen Hände des Mannes waren gefaltet, der Kopf im Gebet gesenkt. Die Haut der Finger war papierdünn, durchscheinend und zeichnete die Form der Gebeine nach. Er kam noch näher. Ein Lichtstrahl schien genau auf das Kreuz, das auf die Tunika des Mannes aufgestickt war. Er begriff, wen er vor sich hatte: den dritten Gralsritter. Den einen Bruder, der hiergeblieben war, um den Gral zu hüten. Er beugte sich vor und blickte dem Ritter ins Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Die ausgetrockneten Lippen standen leicht offen, als wolle er eben etwas sagen. Bemerkenswert an dem ganzen Gesicht waren die dichten, weißen Augenbrauen und eine große Nase. Der ganze Körper war von der Zeit und der Wüste ausgedörrt und vertrocknet, aber ganz erstaunlich gut erhalten. In weitaus besserem Zustand als die gruseligen Überreste des Bruders dieses Ritters in den Katakomben von Venedig. Er beugte sich zu ihm vor und runzelte die Stirn. Einen Augenblick hatte er den Eindruck gehabt, als habe er einen Lidschlag des Ritters gesehen. Er lächelte und schüttelte den Kopf über sich selbst. Vor dem Ritter brannte indessen auf dem Altar eine Kerze. Deren flackernder Lichtschein spielte ihm wohl diesen Streich. Dann begriff er erst. Eine brennende Kerze! Wie das denn? Wer hat sie angezündet? Er blickte auf und sah sich suchend im ganzen Tempel um, ob ihn vielleicht jemand beobachtete. »Tja, mein
lieber alter Ritter, wer hat wohl die Kerze angezündet, he?« Und da hob der Ritter plötzlich den Kopf. Indy fuhr in völliger Verblüffung zurück. »Was zum Teufel...?« Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der Ritter stand langsam auf und hob dann mit beiden Händen ein mächtiges Schwert. Noch ehe Indy recht begriffen hatte, was geschah, fuhr das Schwert pfeifend durch die Luft. Der Ritter schwang es rasch und geschickt. Seine Spitze schlitzte Indy das Hemd auf und durchtrennte den Gurt seiner Gürteltasche, so daß sie zu Boden fiel. Er sprang zurück, als er den Ritter das Schwert heben und zu einem Hieb gegen ihn schwingen sah. Doch diesmal war es zuviel. Dem Ritter fehlte die Kraft zu einem zweiten Schwertstreich. Er verlor die Balance und taumelte rückwärts gegen den Altar. Das Schwert fiel laut klirrend auf den Felsboden. Indy half dem Ritter auf. Er war steinalt, besaß aber dennoch eine ganz unübersehbare Vitalität, die seine Augen funkeln ließ. Er machte den Mund auf, brachte aber kein Wort heraus. Er schien irgendwie nicht zu wissen, wie er beginnen sollte. Schließlich brachte er ein dumpfes Stöhnen hervor. »Ich wußte, Ihr würdet kommen«, sagte er schließlich und betrachtete Indy, als vergliche er ihn mit einem Bild seiner Vorstellung. »Doch mich hat meine Kraft verlassen. Ich ermüde jetzt so leicht.« »Wer sind Sie?« fragte Indy langsam. »Ihr wißt, wer ich bin. Ich bin der letzte der drei Brüder, die einen Eid geschworen haben, den Gral zu finden und zu beschützen.« »Das war vor mehr als achthundert Jahren!« »Eine lange Wartezeit.« Indy lächelte nachsichtig. Kein Zweifel, ein etwas seniler alter Knabe. »Aha. Und wann also war der erste Kreuzzug?« Zuerst glaubte er, der Alte habe ihn gar nicht gehört. Doch dann antwortete er: »Im Jahre unseres Herrn 1095, des Konzils von Clermont. Verkündet von Papst Urban II.« »Und wann endeten die Kreuzzüge?« Der Ritter sah ihn mit leichtem Tadel an. Es erinnerte ihn lebhaft an seinen Vater. »Sie sind nicht beendet. Vor Euren Augen steht der letzte Kreuzfahrer.« Indy nickte. Aber er hatte eigentlich keine Zeit, hier Befragungen abzuhalten. Er mußte vielmehr handeln. Wenn dieser Bursche hier echt war, dann konnte dieser Gral auch seinen Vater retten! Er hörte Stimmen aus dem Tunnel und wollte sich eben umdrehen, als der alte Ritter die Krempe seines Filzhutes anfaßte. »Ihr seid seltsam gekleidet für einen Ritter.« Und er betastete auch In-dys Lederpeitsche. »Ja, ich bin... nicht direkt ein Ritter.« »Doch, ich glaube, Ihr seid einer.« Indy zuckte mit den Schultern. »Ich bin auserwählt worden als der tapferste und würdigste. Mir wurde die Ehre zuteil, den Gral zu hüten, bis ein anderer Ritter käme, der mich im Zweikampf überwindet.« Er hob das Heft seines Schwertes. »Ich reiche es Euch, der Ihr mich bezwungen habt, weiter.« »Hören Sie, lassen Sie mich erklären. Ich muß mir von Ihnen den Gral ausborgen. Sehen Sie, mein Vater...« »Keine Bewegung, Jones!« Er fuhr herum. Donovan zwängte sich eben aus dem Tunnel herein und richtete die Pistole auf ihn. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Donovan sah sich um, erblickte den Altar mit den Kelchen und ging sofort hm. Elsa, die hinter ihm durch den Tunnelspalt gekommen war, folgte ihm sofort. Donovan blickte den Ritter an, die Waffe noch immer im Anschlag auf Indy. »Okay, welcher ist es?« Der Ritter tat einen Schritt vorwärts und richtete sich zu ganzer Größe auf, als er Donovan anfunkelte. »Ich bin nicht mehr der Hüter des Grals.« Er nickte Indy zu. »Dieser da ist es, der auf alle Herausforderungen antworten muß. Ich helfe weder, noch verhindere ich irgend etwas.« Donovan grinste Indy an. »Der hält mich nicht auf.« »Dann wählet weise!« riet ihm der Ritter. »Denn so wie Euch der wahre Gral das Leben bringt, so wird es Euch der falsche nehmen.« Indy machte eine grimmig lächelnde Geste zu Donovan. »Bedienen Sie sich, Donovan. Viel Glück auch.« Elsa ging näher zum Altar. »Sehen Sie ihn?« fragte Donovan sie atemlos. »Ja.« »Welcher ist es?« Elsa nahm ihren Hut ab und hob dann vorsichtig einen funkelnden Kelch hoch, der mit glitzernden Edelsteinen in allen Farben besetzt war. Donovan riß ihn ihr sofort förmlich aus der Hand und hob ihn ins Licht. »Oh, ja. Und er ist noch schöner, als ich ihn mir je vorstellen konnte. Und jetzt gehört er mir!« Indy erwartete, daß Elsa heftig protestierte. Doch sie blieb völlig still. Das Gesicht des Ritters war verschlossen und verriet nichts. Donovan sah einen Taufstein und trug den Gral dorthin. Elsa folgte ihm. Indy erinnerte sich: Der Legende nach wurde einem Unsterblichkeit verliehen, wenn man Wasser aus dem Gral
trank. Donovan bewunderte den Kelch noch einmal, »Kein Zweifel, der Kelch des Königs der Könige. Und jetzt gehört er mir!« Er füllte ihn mit Wasser und hielt ihn mit einer Hand hoch. Er blickte Indy und den Ritter triumphierend an. In der anderen Hand hielt er noch immer den Revolver. In seiner Aufregung hatte er freilich vergessen, weiter auf Indy zu zielen. »Auf das ewige Leben!« sagte er und trank in langen Zügen. Dann ließ er den Kelch bis auf seine Brust sinken. Seine Augen waren geschlossen, und über sein Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln aus. Indy hätte ihn in diesem Augenblick attackieren können, um ihm den Kelch zu entreißen. Doch irgend etwas gebot ihm, zu warten und einfach zuzusehen. Er mußte nicht lange warten. Donovans Augen wurden plötzlich groß. Die Hand, in der er den Kelch hielt, begann zu zittern. Er wandte sich ab und beugte sich über den Taufstein. Sein Gesicht verzerrte sich schmerzvoll. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Dann fiel ihm der Revolver aus der Hand. Mit Mühe stemmte er sich wieder hoch und taumelte auf den Altar zu. Wenige Schritte davor blieb er stehen, unfähig zu jedem weiteren Schritt. »Was... passiert... mit mir?« stammelte er. Sein Gesicht verzog sich zu einer bizarren Maske. Seine Haut zog sich zusammen und wurde faltig. Als er sich zu Elsa umwandte, sah er bereits zerbrechlich und alt aus. Seine Hand umklammerte den Kelch noch immer. Seine Augen schienen in seine Wangen zurückgesunken zu sein. Sie lagen wie trockene Steine in ihren Höhlen. Er stürzte auf sie zu, und seine Hände krallten sich in ihre Schultern. »Was... geht... hier vor?« Sie schrie auf und versuchte ihn wegzustoßen, während er immer wieder die gleiche Frage wiederholte, wobei seine Stimme mit jeder Sekunde schwächer und brüchiger wurde. Das rapide Altern seines ganzen Körpers war deutlich mitanzusehen. Sein Haar wuchs lang und wurde grau und schütter. Sein Gesicht sank ein. Seine Haut schälte sich. »Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein«, flüsterte er in panischem Entsetzen. Er schüttelte den Kopf. Hautfetzen flogen ihm davon. Elsa kreischte in Panik. Donovans Fingernägel rollten sich auf. Seine Augen wurden milchig. Was von seiner Haut noch übrig war, wurde braun und ledrig und spannte sich über seinem Gesicht, bis sie platzte und in Fetzen herabhing. Dann sank er zu Boden, nichts mehr als ein vom Alter bereits geschwärztes Skelett aus grauer Vorzeit. Indy hastete zu Elsa und zog sie von den noch immer zuckenden Überresten fort. Er stieß gegen den Hügel von Gebeinen und Kleidern, und Donovans skelettierter Arm zuckte, sank in sich zusammen und zerfiel zu Staub. Elsa klammerte sich an Indy und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Sie schluchzte. Plötzlich fuhr ein eisiger Windhauch durch den Tempel und erstarb dann langsam wieder. Indy starrte über Elsas Schulter hinweg auf das Häuflein Staub, das eben noch Do-novan gewesen war. Als sie sich wieder etwas beruhigte, ließ er sie los und wandte sich mit einer unausgesprochenen Frage auf den Lippen an den Ritter. »Er hat eine schlechte Wahl getroffen«, sagte der alte Ritter achselzuckend, als bedeute ihm Donovans Tod wenig. Er hatte ihn ja immerhin gewarnt. Indy sah Elsa an, hob Donovans Revolver auf und steckte ihn ein. Dann ging er hinüber zu dem Altar. Seine Gedanken waren wieder bei seinem Vater, der dort unten im Sterben lag, in seinem Blut, mit seinen Schmerzen. Er stand vor den Kelchen, atmete mehrmals tief durch und blickte in die Ferne. Ein Gefühl vollen Bewußtseins durchdrang ihn. Er fühlte sich leicht. Er schloß kurz die Augen, um sich zu konzentrieren, sagte sich vor, daß er es schaffen werde, daß er den richtigen Gral auswählen werde, den einen, der seinen Vater heilen konnte. Er öffnete die Augen und ließ seinen Blick über die Reihe der glitzernden und juwelenbesetzten Kelche gleiten. Er verhielt schließlich bei einem, der anders war. Es war ein ganz einfacher Kelch, der verglichen mit den anderen glanzlos war. Er hätte nicht sagen können, warum, aber eben dieser Kelch schien ihm der richtige zu sein. Auch wenn er sicherlich keinen Stempel trug, der dies aussagte. »Ist es dieser?« fragte Elsa. »Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.« Er nahm ihn und ging mit ihm rasch hinüber zum Taufstein, füllte den Kelch mit Wasser daraus und trank, nachdem er noch einmal tief Atem geholt hatte. Dann wartete er einen Augenblick, ob sich irgend etwas ereigne. Ob auch er die letzten Sekunden seines Lebens vor sich sähe. Doch er verspürte gar nichts. Weder zum Besseren noch zum Schlechteren. Doch dann verschleierte sich ihm auf einmal der Blick. Es schwindelte ihn. Er zwinkerte mit den Augen und preßte sie dann zu. O Gott. Er hatte falsch gewählt. Seltsamerweise konnte er nach wie vor sehen. Es war allerdings eine andere Art zu sehen. Der Kelch in seiner Hand wuchs und verwandelte sich. Er bekam Flügel, einen Kopf, einen Schnabel. Er wurde zum Adler, der seine großen Schwingen ausbreitete und sich in die Luft erhob. Es war der Adler aus seiner Vision in New Mexiko. Der Adler, der die sechste und letzte Stufe des Bewußtseins auf der Suche nach dem Gral versinnbildlichte. »Indy?«
Als er Elsas Stimme horte, blinzelte er mit den Augen und schüttelte den Kopf. Der Kelch war noch immer in seinen Händen. Er blickte Elsa an. Ihr fragender Blick sagte ihm, daß sie seine Vision nicht miterlebt hatte. Dann wanderten seine Augen zu dem Ritter, der wissend lächelte. »Ihr habt klug gewählt.« Mehr Bestätigung benötigte er nicht. Er wartete auch keine Sekunde länger. Er schlüpfte sofort in den Tunnel und kroch durch ihn zurück. Er machte so schnell, wie es mit dem wassergefüllten Kelch in seiner Hand nur ging. Er hatte Angst, irgendwo seitlich oder oben mit ihm anzustoßen und das Wasser zu verschütten. Und er hatte Angst, nicht schnell genug zu sein, um seinen Vater noch lebend zu erreichen. Als der Tunnel wieder höher wurde, begann er, zuerst noch geduckt, danach aufrecht, zu laufen. An dem Sims über dem Abgrund der Felsenspalte verhielt er kurz. Erde und Steine lagen deutlich sichtbar auf ihm. Und jetzt war auch erkennbar, daß es nicht nur ein Vorsprung war, sondern tatsächlich eine Brücke, die sich über den ganzen Abgrund zwischen den beiden Löwenköpfen erstreckte. Jetzt war es leicht. Er ging rasch über die Brücke und trug den Gral vor sich her. Er eilte in Gedanken an seinen Vater immer schneller und ließ in seiner Aufmerksamkeit etwas nach. Er war gerade mitten auf der Brücke, als er mit dem rechten Fuß auf der Erde und den Kieselsteinen, die Elsa geworfen hatte, ausglitt. Das Bein rutschte ihm weg, er taumelte nach vorne und dann zurück. Der Gralskelch schwankte bedrohlich über dem Abgrund. Und eben als er seine Balance wiederfand, rutschte er auch mit dem anderen Fuß und fand sich ganz banal auf seinem Hinterteil wieder. Wunderbarerweise waren aber nur wenige Tropfen des Wassers aus dem Kelch verschüttet. Er rappelte sich vorsichtig wieder hoch und ging weiter auf die andere Seite. Brody stand oben auf der Treppe und blickte immer wieder sorgenvoll zwischen Sallah und Henry unten und dem dunklen Gang oben hin und her. Noch immer war nichts von Indy zu sehen. Und daß Henry es nicht mehr lange machte, war offensichtlich. »Marcus!« Er blickte in den Gang. Indy kam auf ihn zugeeilt, und er hatte den Gralskelch in der Hand! Er bekam große Augen, und sein Gesicht hellte sich auf. Er trat beiseite, als Indy an ihm vorbei und die Treppe hinab stürmte. Brody wollte ihm eben nacheilen, als er fast mit Elsa zusammenstieß, die hinter Indy hergehastet kam. Als er die Treppe hinuntergelaufen war, kniete Indy bereits neben seinem Vater. Die Soldaten des Sultans hatten ihn umringt. Brody bahnte sich seinen Weg durch sie, als wären sie bereits völlig belanglos. Sie waren jetzt in der Tat führerlos und sahen nur noch aus reiner Neugier zu. Brody kauerte sich mit hinunter und half Sallah, Henrys Kopf zu heben. Indy setzte seinem Vater den Kelch an die Lippen. Henry war zu schwach, um die Augen öffnen zu können. Indy flößte ihm das Wasser ein, aber es rann Henry nur zu beiden Seiten wieder aus dem Mund. »Komm, Dad, trink. Mach schon. Bitte, trinke!« Brody sah ihn angstvoll an. Indy war besorgt. Er mußte etwas unternehmen. Er beugte sich vor und half Indy, Henrys Mund zu öffnen. Henrys Kehlkopf bewegte sich nun. Er trank tatsächlich! Er hatte wenigstens einige Schlucke des Wassers getrunken. Daran zweifelte er nicht. Indy entfernte nun den provisorischen Verband über Henrys Wunde und goß auch auf sie etwas Wasser. Gleich danach flößte er ihm wieder etwas ein. Dann konnten sie nur noch warten. Indy war sich ganz sicher: Der Atem seines Vaters kräftigte sich. Er beugte sich über ihn und horchte ihm den Herzschlag ab. Er war gleichmäßig und deutlich. Es war fast sichtbar zu erkennen, wie Henrys Bewußtsein zurückkehrte. Dann flatterten seine Augen. Sie richteten sich zuerst auf Sallah, dann auf Brody, dann auf seinen Sohn. Und am Ende blieben sie auf dem Gralskelch ruhen. Indy lächelte ihm zu. Er war sich sicher, daß sein Vater jetzt außer Gefahr war. Wenn er selbst auch jede Menge Schwierigkeiten voraussah, seine skeptischen Kollegen davon zu überzeugen, daß einfaches Wasser aus einem alten Kelch seinen Vater geheilt habe. Und natürlich würde es auch jede Menge Zweifel und Kontroversen über den Gral selbst geben. Wenn schon. Er wußte es jedenfalls. Und das allein zählte. Er hatte die Schönheit und Wundertätigkeit des Grals am eigenen Leibe erfahren. Während dieser Erlebnisse hatte sich sein Zynismus in Zweifel verwandelt und dieser in Erleuchtung und Erwachen. Die Aufgabe war erfüllt, und damit näherte sich auch der Letzte Kreuzzug seinem Ende. »Hallo, Dad. Du kommst bald wieder auf die Beine. Ich glaube es. Ach, ich weiß es.«
Aufgabe erfüllt Henrys Hand zitterte, als er nach dem Gral griff, jetzt jedoch aus Aufregung, nicht mehr aus Schwäche. Sein Gesicht hatte wieder Farbe angenommen, und seine Augen waren wieder weit offen, klar und lebhaft. Man hatte ihm seine Wunde frisch verbunden. Sie blutete nicht mehr und schien ihm auch keine großen Unannehmlichkeiten mehr zu bereiten. Mit Sallahs Hilfe hatte er sich sogar schon auf die Ellbogen hochstützen
können. Als Indy seinem Vater mit Stolz den Gral reichte, hörte er Geklapper hinter sich. Er fuhr herum. Die Soldaten des Sultans ließen ihre Waffen fallen und wichen angstvoll zurück. Ihre Neugier hatte sich in blanke Furcht verwandelt. Sie wollten nicht länger den Magier bewachen, der diese Wunderheilungen vollbrachte. Wie von einem Gedanken beseelt, flohen sie plötzlich gemeinsam aus dem Tempel. Bis auf wenige nahmen die Nazisoldaten sofort mit Geschrei und Schußdrohungen ihre Verfolgung auf. Doch es nützte wenig, sie rannten weiter. Sallah nützte die Situation am schnellsten. Während die zurückgebliebenen Nazisoldaten ihren Kameraden noch nachriefen, ging er rasch auf den ihm am nächsten Stehenden zu, schlug ihm das Gewehr nach oben weg, griff es sich und hatte es auch schon im Anschlag. »Waffen weg!« kommandierte er, und als einige zögerten, rief er noch einmal: »Und Hände hoch!« »Tut, was er sagt!« fuhr Elsa sie an. Sie zögerten noch immer, aber nicht mehr lange. Dann legten sie ihre Waffen weg und hoben die Hände. Freilich bemerkte Sallah nicht, daß noch einer der Nazis da war, der sich im Hintergrund gehalten hatte und jetzt hinter Elsa stand. Doch als er eben nach seiner Pistole griff, hechtete ihm Indy bereits an die Beine und umklammerte ihn. Der Nazi wand sich und richtete seine Waffe auf ihn. Eine Sekunde, ehe er schießen konnte, schlug ihm Elsa die Pistole aus der Hand. Indy richtete sich verwundert auf einem Knie auf und blickte Elsa ganz verblüfft an. Diesen Augenblick nützte der Nazi sofort aus und versetzte ihm einen Boxhieb. Indy knirschte mit den Zähnen, zog die Brauen zusammen, griff sich den Nazi am Kragen und versetzte ihm einen direkten harten Haken, der ihn so umwarf, daß er liegenblieb. Indy stand auf und lächelte Elsa zu. Er wußte wirklich nicht mehr, was er von ihr halten sollte. Das war auf der einen Seite mehr als ein Beweis ihrer Doppelzüngigkeit, aber nun hatte sie ihm sogar das Leben gerettet! Ihr zufriedener Blick verwandelte sich aber schon im nächsten Moment in Schrecken. Ihr Mund ging auf und zitterte. »Vorsicht, hinter dir!« Er wirbelte herum. Gerade noch im letzten Moment, ehe der Nazi, der schon wieder hochgekommen war, mit einem langen, gefährlich aussehenden Messer auf ihn einstechen konnte. Doch auch Sallah war bereits zur Stelle und hatte ein Gewehr auf den Mann im Anschlag. »Fallen lassen!« rief er. Nach einem Blick auf den Gewehrlauf und dann auf Sallah gehorchte der Nazi. Indy griff sich das Messer und stieß den Mann weg. »Rüber zu deinen Genossen, los!« Dann sah er wieder zu seinem Vater hin. Als Sallah ihn alleingelassen hatte, um ihm zu Hilfe zu kommen, war er aufrecht sitzen geblieben, den Gral an seine Brust gepreßt. Er wollte ihn fragen, wie es ihm gehe, doch Henry starrte mit verzückten Augen an ihm vorbei, einen entrückten Ausdruck im Gesicht. Was war nun los? Er drehte sich langsam um. Auf der Treppe stand der Gralsritter. »Ich kenne Euch«, rief ihm Henry zu. »Ja, ich kenne Euch!« »Waren wir Waffenbrüder?« »Nein, aber ich kenne Euch aus den Büchern. Ihr seid der dritte Gralsritter, der zurückblieb. Aber ich verstehe es nicht. Ihr hattet doch den Gral! Warum seid Ihr dann so alt?« Der Ritter kam die restlichen Strufen herab. »Viele Male wurde mein Geist unsicher, und ich ertrug es nicht, aus dem Gral zu trinken. So wurde ich allmählich alt - ein Jahr für jeden Tag ohne Trank. Doch jetzt werde ich endlich ehrenvoll abgelöst, sintemalen dieser tapfere fahrende Ritter hier erschienen ist, meinen Platz einzunehmen.« Indy blickte von dem Ritter zu seinem Vater, sein Unbehagen machte sich Luft. »Augenblick. Dad, hier liegt ein Mißverständnis vor. Ich habe doch nicht...« »Er ist kein fahrender Ritter«, sagte Henry bereits, »sondern nur mein verlorener Sohn, der ein unreines Leben geführt hat. Er ist der Ehre, die Ihr ihm verleihen wollt, nicht würdig.« Indy nickte lebhaft. »Richtig. Ein unreines Leben.« »Völlig unwürdig. Mein Sohn, tu etwas Würdiges und hilf deinem Vater auf.« Henry setzte den Gral ab und legte einen Arm um Indys Schulter. »Bist du sicher, daß du das riskieren willst, Dad?« »Selbstverständlich. Außerdem fühle ich mich mit jeder Sekunde besser.« Brody kam helfend auf die andere Seite, und zusammen zogen sie Henry vorsichtig hoch. Indy hoffte, seines Vaters Erholung sei nicht nur ein Strohfeuer infolge des Anblicks des Grals und seines Glaubens, daß dieser ihn heilen könne. Er wollte, daß es eine echte Heilung war. »Seht ihr?« Einen Augenblick noch hatte Henry zu kämpfen, doch dann stand er sicher und reckte sich auf. »War doch gar nicht schlecht, wie?« »Bist du sicher, daß es dir gutgeht, Dad?« Henry runzelte die Stirn und hatte wieder einmal diesen Blick, als sei sein Sohn noch immer ein Kind, das einfältige Fragen stellt. »Wie oft muß ich dir noch sagen, Junior, daß Glauben Realität schafft. Ich glaube - ich wußte -, daß der Gral mich heilen würde, und er hat es getan. Er hat es getan.«
Nach allem, was er heute bereits erlebt hatte, sah Indy keinen Grund mehr, daran zu zweifeln. Wieder kam ihm in den Sinn, was der alte Indianer zu ihm gesagt hatte, als er von der mesa herabgekommen war und ihm die Sache mit dem Adler erzählt hatte. Jetzt weißt du, daß du die Kraft in dir hast, alles zu erreichen, was du erstrebst, wie groß die Hindernisse auch sein mögen. Adler und Gral... Ritter und Indianer. Das ging alles ineinander über. Sein Vater war jedenfalls am Leben, und sie beide verstanden sich besser als je zuvor. Er sah zu, wie der Ritter näher kam und Henry in die Augen blickte. »Bist du es dann vielleicht, Bruder? Bist du der Ritter, der mich ablöst?« »Leider nein. Ich bin nur ein Gelehrter.« Der Ritter deutete auf Brody. »Oder bist du es, Bruder?« »Ich? Ich bin Engländer!« Der Ritter sah verwundert aus und ging zu Sallah, der die verbliebenen Naziposten abseits zusammengetrieben hatte und in Schach hielt. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und war offensichtlich davon überzeugt, daß er in ihm endlich seine Ablösung gefunden habe. »Dann werdet Ihr also die gute Wacht halten!« Sallah begriff nichts. Er sah Indy hilfesuchend an. »Er sagte: >Gute Wacht<.« Jetzt nickte Sallah dem alten Mann lebhaft zu. »Okay. Ich wünsche auch Ihnen eine gute Nacht.« Indy bückte sich, um Henrys Hut, Krawatte und Uhr aufzuheben. Er erstarrte mitten in der Bewegung, als er aus den Augenwinkeln sah, wie Elsa die Gelegenheit beim Schöpf ergriff. Sie war mit zwei schnellen Schritten beim Gral, nahm ihn mit beiden Händen und hielt ihn hoch. Sie blickte auf ihn wie in Trance. Ihre Augen waren so auf den Kelch fixiert, daß er endlich begriff: Nichts auf der ganzen Welt war dieser Frau wichtiger als der Gral. Weder er noch ihr Führer, noch irgend jemand sonst. Sie war einfach besessen von dem Gral. Der alte Ritter lenkte ihn noch einmal ab, als er vor ihn trat. »Wozu sind dann alle diese seltsamen Ritter gekommen«, fragte er etwas hilflos, »wenn nicht, um mich herauszufordern und abzulösen?« Er schüttelte verständnislos den Kopf und entfernte sich, während Indy aufstand. »Dafür natürlich, Narr!« rief Elsa dem Ritter hinterher. Sie preßte den Gral an sich und rannte zum Ausgang des Tempels, wo sie anhielt und wie eine Silhouette vor der Spätnachmittagssonne stehenblieb. Es mußte ihr plötzlich klargeworden sein, daß sie draußen in der Wüste, ganz allein, nicht sehr weit kommen würde. »Wir haben ihn doch. Kommt, gehen wir!« »Niemals!« rief der alte Ritter. »Niemals darf der Gral diesen Ort hier verlassen!« Er wandte sich an Indy und Henry. »Der Preis für die Unsterblichkeit ist, für immer hierzubleiben.« Henry sah hinüber zu Elsa. »Hören Sie auf ihn. Er weiß es. Wenn Sie den Gral von hier fortschaffen, wird er nichts weiter sein als ein altes Gefäß.« »Ich glaube ihm nicht!« »Tretet nicht über diese Schwelle!« warnte sie der Ritter. Elsa drehte sich jedoch um und ging demonstrativ einige weitere Schritte auf den Ausgang zu. »Sie wird es teuer zu bezahlen haben«, sagte der Ritter gelassen. »Warte!« rief Indy und lief Elsa nach. Noch stand ihm lebhaft Donovans Schicksal vor Augen. »Elsa, warte! Bleib stehen!« Sie hörte nicht, wollte nicht hören und näherte sich bereits der breiten Metallschwelle im Boden des Tors. Sie war von dem Gral nicht nur wie hypnotisiert, sondern buchstäblich besessen. Sie starrte ihn unverwandt an. »Elsa!« Er erreichte sie gerade noch und packte sie am Arm. Sie blickte ihn mit ihren unglaublich blauen Augen an, und augenblicklich regte sich etwas in seiner Brust. »Er gehört jetzt uns, Indy!« sagte sie ganz ruhig. »Uns. Verstehst du denn nicht? Dir und mir! Niemand sonst ist noch von Interesse. Donovan ist tot. Wir werden ihn vor dem Führer in Sicherheit bringen.« Er schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Er bleibt hier.« Mit einem plötzlichen Ruck und völlig unerwarteter Kraft machte sie sich aus seinem Griff frei. Sie barg den Gral an sich wie ein Kind sein Spielzeugtier, trat entschlossen über die Schwelle und ging rückwärts aus dem Tempel hinaus. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis ein grollendes Donnern, das ebenso zu spüren wie zu hören war, unter dem Tempel emporstieg. Die Wände der Schlucht begannen zu zittern. Staub wirbelte auf, als Steine herabzufallen begannen und die Schlucht einbrach. Elsa fuhr blaß vor Schreck herum und rannte in den Tempel zurück. Indy sprang hastig zur Seite, als der Boden unter seinen Füßen bebte. Als er sich umwandte, sah er, wie eine der großen Ritterstatuen wankte. Die Säulen barsten. Er wich aus, als sich einer der Kapitellsteine löste, herabfiel und vor seinen Füßen zerschellte. Henry hatte vor den herabstürzenden Steinen die Arme schützend über den Kopf emporgerissen. Brody fiel hin, als der Boden unter ihm wankte. Sallah griff sich beide und zog sie fort, gerade als eine der Säulen umstürzte genau dorthin, wo beide eben noch gewesen waren. Der Ritter flüchtete inzwischen eilig die Treppen hinauf und in den Gang hinter dem Torbogen, um zurück in sein inneres Heiligtum zu hasten. Indy bedeutete allen, sich ins Freie zu retten. Sein Blick fiel wieder auf Elsa. Sie stand wie versteinert mit
aufgerissenen Augen und starrte eine der schwankenden Tempelsäulen an. Die Erde bebte wieder, genau da, wo sie stand. Sie taumelte und verlor das Gleichgewicht. Der Gralskelch fiel ihr aus den Händen. Und er rollte von ihr fort bis zu einem Erdriß, der sich plötzlich mitten durch die Eingangsschwelle und quer über den Boden des Tempels öffnete. Elsa rappelte sich in Panik hoch und stand genau über der sich zusehends verlängernden Erdspalte, ein Bein hüben, eines drüben. Ein anderer Erdriß öffnete sich quer zu dem ersten im Tempelboden. Henry wankte wie eine der Säulen, und Brody taumelte wie ein Betrunkener neben ihm. Sallah und Indy standen beide starr da und wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Hinter ihnen bemühte sich der alte Ritter noch immer, die große Treppe ganz hinauf zugelangen. Die Wachmannschaften versuchten in Panik den Ausgang zu erreichen. Sie sprangen über die Erdspalte, über der Elsa noch immer wie angewurzelt stand. Jetzt entschloß sie sich, ihre seltsame Stellung zu beenden. Doch genau in dem Moment, als sie ganz auf eine Seite wechseln wollte, warf sich dort der Boden auf. Sie suchte verzweifelt mit den Händen nach einem Halt. Die Wachmannschaften waren in derselben Bedrängnis. Sie waren schon fast beim Ausgang gewesen, als sie der neue Erdaufbruch abrutschen und in die Erdspalte fallen ließ. Ihre Schreie hallten noch nach, als sie bereits in der Tiefe zu Tode gequetscht waren. Elsa hing noch an einem Steinbrocken, der aus der Seite der aufgerissenen Erdspalte ragte. Unter ihr lag der Gral auf einem Felsen im Erdriß. Doch statt nach oben zu klettern, um dem Abgrund zu entkommen, ließ sie sich auf einer Seite hinab, um nach dem Kelch zu greifen. Indy sah, in welcher Gefahr sie schwebte, und rannte zu ihr. Er schob sich bäuchlings bis zu ihr vor und streckte die Arme aus, während er ihr zurief, seine Hände zu fassen. Ihre Finger berührten sich nur. Er schob sich noch ein Stück vor und bekam nun ihre beiden behandschuhten Hände zu fassen. Er zog, was er konnte, doch es reichte nicht. Er rutschte vorwärts. »Junior, Junior!« sehne Henry. »Indy!« rief auch Sallah. Während Indy zog, zerrte Elsa eine ihrer Hände frei und griff damit nach unten zu dem Gralskelch, der bereits gefährlich am Rande des vorspringenden Felsbrockens hin und her rollte und jeden Augenblick in die grundlose Tiefe stürzen konnte. Sie erreichte ihn gerade mit einer Fingerspitze, bekam ihn aber nicht zu fassen. »Elsa!« schrie Indy. Er krallte sich mit seiner freien Hand an einem Steinbrocken fest. »Ich kriege ihn«, keuchte sie atemlos. »Ich schaffe es.« Die Hand, mit der er sie hielt, begann zu rutschen. Sie streckte sich immer mehr nach dem Kelch und hatte ihn fast, als ihr der Handschuh von den Fingern glitt. Sie hing jetzt nur noch an dem Handschuh, dessen anderes Ende Indy hielt. Mit den Händen berührten sie sich nicht mehr. Und der Handschuh begann sich zu dehnen und fing an zu reißen. »Indy!« Jetzt bekam sie es doch mit der Angst. »Bitte, laß nicht los!« Der Handschuh riß weiter. »Elsa!« Er ließ den Stein los und versuchte, ihr Handgelenk zu fassen zu bekommen. Doch es war zu spät. Ihre Finger lösten sich. Sie fiel rückwärts in den Abgrund hinab, in das tiefe, schwarze Loch in der Erde, während ihr Todesschrei in den Tempel hinaufhallte. Indy rutschte vorwärts und hieb die Hand in zorniger Verzweiflung in die offene Erde. Er mußte sich bezwingen, ihr nicht nachzuspringen. Er war fast schon selbst in das dunkle Loch gerutscht, als ihn Hände wie Schraubstöcke an den Fußknöcheln packten. »Indy!« rief Sallah hinter ihm. »Ich hab' dich. Ich zieh' dich raus!« »Warte!« Er griff nach dem Kelch, doch es reichte nicht ganz. »Laß mich noch ein klein wenig hinunter!« »Bist du verrückt, Indy?« knurrte Sallah, der ihn mit Anstrengung hielt. Seine Beine gaben schon nach und rutschten zentimeterweise vorwärts, aber nicht, weil er wirklich die Absicht hatte, Indy zum Kelch hinabzulassen. »Noch eine kleine Idee!« keuchte Indy. »Nein, Indy. Bitte!« »Junior, komm sofort hier rauf!« bellte Henry hinter Sallah. »Ich kriege ihn! Ich kann ihn kriegen!« »Indiana!« »Ja, Dad?« Es war das erste Mal, daß sein Vater ihn jemals bei seinem richtigen Namen genannt hatte. »Laß ihn«, sagte Henry ruhig. Indy gab es auf und schob sich mit Sallahs ziehender Hilfe rückwärts nach oben. Die Erde, die er abrieb, polterte auf den Gral hinab. Er blickte einmal kurz nach oben, und als er den Kopf wieder wendete, sah er den Kelch von dem Stein in den tiefen Abgrund fallen, Elsa hinterher. Sallah zog noch einmal kräftig und stöhnte laut, als er Indy endgültig über die Erdspalte hochzog. Indy blieb noch eine Weile liegen und starrte in die grundlose Tiefe, welche Elsa und den Gral verschlungen hatte. Der entsetzte Blick in ihrem Gesicht, als sie den Halt verlor und hinabfiel, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Hätte er ihr gesagt, was sein Vater zu ihm gesagt hatte, nämlich den Gral einfach sein zu lassen und heraufzukommen, hätte er sie noch retten können. Henrys Hand legte sich auf seine Schulter. Seine Stimme war drängend. »Komm jetzt. Wir müssen machen, daß wir hier wegkommen!« Indy nickte und nahm seinen Hut. Er blickte noch einmal in den Abgrund und stand dann auf. Sallah bahnte ihnen den Weg. »Wo ist Marcus?« rief Henry. »Hier bin ich«, antwortete Brody von irgendwoher in der Nähe. Immer mehr Trümmer fielen rings um sie herunter. Indy versuchte seine Schuldgefühle zu unterdrücken. Die Gewißheit, daß er Elsa hätte retten können, wenn er nur etwas energischer gewesen wäre, nagte an ihm. Immerhin stand er in ihrer Schuld. Sie hatte ihm das Leben gerettet, als sie dem Soldaten die Waffe aus der Hand geschlagen und ihn auch vor der zweiten Attacke gewarnt hatte. Aber er hatte sich nicht revanchiert. Andererseits wußte er selbst, daß sie ihren Tod selbst verschuldet hatte. Sie war davor gewarnt worden, mit dem Gral den Tempel zu verlassen, und hatte nicht darauf gehört. Er konnte nichts mehr machen. Es war besser, diese Schuldgefühle sein zu lassen und lieber sein eigenes Leben zu retten. Sie selbst, das glaubte er zu wissen, hätte es so gewollt. Er folgte den anderen und sah, daß sein Vater stehengeblieben war und auf die Treppe starrte. Dort stand der alte Ritter, nur knapp neben der Erdspalte. Staub und Steine wirbelten um ihn herum, doch er schien es überhaupt nicht zu beachten. Dann hob er wie zum Abschied die rechte Hand. Es war, als wolle er sagen, daß der Letzte Kreuzzug nun endlich zu Ende sei und der Gral für immer in Sicherheit. Indy sah durchaus einen Sinn darin. Es war ihm jetzt klar, daß der Gral mehr war als nur ein sehr alter und geheiligter Kelch. Mehr sogar als seine Wunderwirkung, Unsterblichkeit zu verleihen; mehr auch als seine heilende Kraft. Er selbst hatte das ambrosianische Wasser aus dem Kelch getrunken und dessen Bedeutung verstanden. Es war die Essenz eines höheren Bewußtseinsstandes, der in ihm war - wie in jedem, der sich die Mühe machte, nach ihm zu trachten. Er gelobte sich, fortan das Beste aus dem Verständnis und Wissen, das er erworben hatte, zu machen. Henry lächelte dem alten Ritter nickend zu. »Komm jetzt, Dad.« Er zog seinen Vater am Arm mit sich hinaus ins Freie, während überall große Stein- und Felsbrocken herunterkrachten und die letzten Säulen barsten. Die Wände begannen bereits zu brechen, aus den Erdspalten stiegen heiße Dampffontänen auf. Er war sich trotzdem ganz sicher, daß sie es schaffen würden. Sie hatten bisher alle Fährnisse überstanden, da würden sie auch den Rest unbeschadet hinter sich bringen. Sie waren draußen auf den obersten Stufen vor dem Eingangstor. Indy warf einen letzten Blick ins Innere des Tempels und glaubte, den alten Ritter noch immer unverändert und regungslos auf der Treppe oben stehen zu sehen. »Henry, Indy! Nun kommt endlich!« rief ihnen Brody zu. Er saß draußen vor dem Tempel bereits im Sattel eines Pferdes. »Ich weiß den Weg. Schnappt euch Pferde und folgt mir!« Und Brody gab seinem Pferd die Sporen, daß es stieg und losgaloppierte, einmal im Kreis um sie herum, wobei es fast Sallah umrannte. Brody hing hilflos im Sattel, doch schließlich bekam er das Pferd unter Kontrolle und galoppierte die enge Schlucht hinaus. Henry schwang sich kopfschüttelnd auf eines der Pferde. »Wir sehen besser zu, daß wir ihm nachkommen. Er hat sich schon in seinem eigenen Museum verirrt.« »Ich weiß.« Henry machte eine Geste. »Nach dir, Junior!« »Ja, Sir«, sagte Indy lächelnd. Es spielte keine Rolle mehr, wie ihn sein Vater nun nannte oder nicht. Die Suche war vollendet. Für Henry, und ganz besonders für ihn selbst. Er gab seinem Pferd die Zügel und galoppierte hinter Brody her.