Jan J.Moreno
Indianergold Gestern noch zu Tode betrübt und beute schon himmelhoch jauchzend so läßt sich das Verhalten...
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Jan J.Moreno
Indianergold Gestern noch zu Tode betrübt und beute schon himmelhoch jauchzend so läßt sich das Verhalten der Pilger am besten beschreiben. Seit dem ersten Landfall sind sie irgendwie verändert. Die Enge des Schiffes erscheint irnen plötzlich qualvoll. Und die lange Zeit des Darbens versuchen sie zu vergessen, indem sie sich die Bäuche vollschlagen. Lediglich drei Tage liegt die heilsame Bucht hinter uns, aber wir haben kein Fleisch mehr, und die Wasservorräte schwinden schnell. Dabei sind wir weiterhin gezwungen, gegen Wind und Strömung zu kreuzen. Von der Schebecke wird signalisiert, daß wir abermals Land anlaufen. Ich bin damit einverstanden, denn die „Pilgrim" zieht erneut Wasser. Aber icb hoffe auch, daß dies unser letzter Ankerplatz vor dem Ziel sein wird ... Aus dem Logbuch der „Pilgrim", Aufzeichnung des Kapitäns James Drinkwater, Ende Juli 1598.
Die Hauptpersonen des Romans: Frank Davenport - der adelige englische Abenteurer hat keine Skrupel, einen jungen Indianer niederzuschießen, um sich dessen goldene Halskette anzueignen. Benjamin Dunsay - der Sohn eines Auswanderers wird von Indianern gefangen, und es steht schlecht für ihn. Batuti - der Gambiamann muß als Bogenschütze zeigen, was er kann, um einen Totschlag zu verhindern. Anna Keybridge - eine sehr resolute, aber auch hübsche Siedlerfrau, die Haare auf den Zähnen hat. Philip Hasard Killigrew- sein Zorn gegen die drei adeligen Schnösel wächst weiter und brennt auf heißer Flamme.
1. Der Schatten des Indianers verschmolz fast mit dem sturmzerzausten Buschwerk. Er beobachtete. Gerade einen Pfeilfschuß entfernt briet Wildbret über mehreren Feuern. Der Seewind trug den verlokkenden Geruch heran, ebenso wie das Lärmen der Männer, Frauen und Kinder, die über das große Wasser gefahren waren. Nicht weit draußen ankerten ihre Schiffe auf der sonnenüberfluteten See. Eine Mischung aus Neugierde und Ablehnung bewegte den Indianer. Er hatte die seltsamen Stöcke der bleichhäutigen Fremden gesehen, die Blitz und Donner verschleuderten und die Tiere des Waldes töteten. Zwölf Sommer lag es zurück, da waren die ersten Weißen erschienen. Weit im Süden, wo der Fluß ins Meer mündet, hatten sie ihre Hütten errichtet. Sie waren wie Termiten, die alles zerstörten, wenn man sie gewähren ließ. Der Indianer faßte seinen Bogen fester. Ein Pfeil lag auf der Sehne, doch er wurde ihn nicht benutzen. Noch nicht. Er hatte genug gesehen. So lautlos
und geschmeidig, wie er erschienen war, verschwand er zwischen den knorrigen Kiefern.
„Ich pfeife auf Killigrews Anordnungen. Mir hat er überhaupt nichts zu sagen." Frank Davenport unterstrich seine Worte mit einer eindeutigen Geste, die keinerlei Zweifel daran offenließ, was Philip Hasard Killigrew ihn konnte. Alec Morris lachte glucksend. „Der Seewolf stirbt nicht im Bett", prophezeite er. „Eines Tages wird ihm jemand eine fünf Inches lange Klinge zwischen die Rippen stoßen." „Zwischen die Schulterblätter, wolltest du wohl sagen", berichtigte Sir William Godfrey, der älteste der drei adligen Abenteurer. „Warum eigentlich nicht?" Alec Morris' hervorstechendste Charaktereigenschaft war seine Hinterhältigkeit - überheblich waren alle drei. Und was ihm an Körperkraft fehlte, glich er mit seinem Schandmaul wieder aus. Nun war die Reihe an Godfrey, ein
5 heiseres Lachen anzustimmen. „Behaupte bloß, du willst das tun." Jeder von ihnen hatte Grund, Killigrew in die tiefste Hölle zu wünschen. Aber sie hatten auch schmerzhaft erfahren müssen, daß sie gegen schwielige Seemannsfäuste nichts zu vermelden hatten. „Reden wir über angenehmere Dinge", schlug Morris vor. „Gold . . . " Frank Davenport grinste übers ganze Gesicht. Bei den horrenden Schulden, die er in England hinterlassen hatte, war es kein Wunder, daß ihm nur die Suche nach dem gelben Metall im Kopf herumspukte. „ . . . und Frauen", fügte Morris hinzu. „Indianerfrauen, um genau zu sein. Ich habe gehört, sogar ihre Nachttöpfe seien aus Gold." Frank Davenports Augen begannen gierig zu glitzern. Die Hähne der Pistolen gespannt, drangen sie tiefer in den Wald vor. Viele der uralten Kiefern waren so riesig, daß sie deren Stamm nur gemeinsam hätten umfassen können. Gefahr konnte überall lauern. Um jedem Ärger aus dem Weg zu gehen, hatte Killigrew verboten, den Uferstreifen zu verlassen. Lediglich Jagdtrupps waren bisher weiter vorgedrungen. Drückende Schwüle lastete über dem Land. Ein umgestürzter Baumstamm auf einer kleinen, sonnenüberfluteten Lichtung lud Davenport zum Ausruhen ein. Ächzend zog er ein spitzenbesetztes Tuch aus seinem Ärmel hervor und tupfte sich sorgsam den Schweiß von der Stirn. „Es scheint mühsamer zu sein, dem Gold hinterherzulaufen, als es im Spiel zu gewinnen." Er seufzte ergeben. „Ein bißchen was muß jeder für sein Glück tun", erwiderte Sir William Godfrey. „Und sei es, nach einem verlausten Indianerdorf zu suchen."
„Ich denke, wir brauchen nicht mehr weit zu gehen", platzte Morris heraus. „Seht!" Keine zehn Yards entfernt, wie aus dem Nichts heraus erschienen, stand ein Indianer, ein halbes Kind noch. Er schien über das Zusammentreffen nicht minder erstaunt als die drei Halunken. „Laß die Pistole unten!" zischte Godfrey. Davenports hastige Bewegung hatte den Indianerjungen veranlaßt, den Bogen zu spannen. Mit unbewegter Miene starrte er die Fremden an. „Seht ihr, was er um den Hals trägt?" raunte Morris. „Natürlich", gab Davenport ebenso leise zurück. „Ich wußte es doch gleich." „Wir - Freunde", sagte Sir Godfrey zu dem Jungen und unterstrich seine Behauptung mit einer entsprechenden Geste. Trotzdem wurde er nicht verstanden. „Freunde", wiederholte er betont langsam und versuchte es anschließend auf französisch und spanisch. „Der Bursche kapiert nicht", sagte Davenport. „Aber irgendwie müssen wir an seinen Schmuck rankommen." Godfrey trat einen vorsichtigen Schritt auf den Indianer zu. Er nestelte seinen Kugelbeutel vom Gürtel und wog ihn abschätzend in der Hand. „Für dich", sagte er. „Ein Geschenk." Der Junge erwiderte etwas in einer seltsam klingenden Sprache. „Wenigstens bist du nicht taub", sagte Godfrey. „Hier, fang!" Er warf den Kugelbeutel. Der Indianer reagierte blitzschnell. Ohne die drei aus den Augen zu lassen oder gar den Pfeil von der Sehne zu nehmen, öffnete er den Beutel. Natürlich wußte er mit den runden Bleikugeln wenig anzufangen. Hastig steckte er eine zwischen die Zähne und kaute
6 „Dein Schmuck." Alec Morris deueine Weile darauf herum. Angewidert tete auf die Kette. spie er dann aus. Der Indianer stieß eine Reihe von William Godfrey lächelte, denn LäLauten aus, die wie eine Beschimpcheln schafft Vertrauen. Mit beiden fung klangen. Zugleich versteifte er Händen hob er seine Pistole. sich, seine Haltung wurde abweisend. „Das hier, siehst du, großes Gedich nicht, du Bastard." Morschenk. Bummbumm und Feind tot." ris„Zier warf sich auf den Jungen und verDer Indianer verzog keine Miene. suchte, ihm die Kette abzureißen. Allerdings hing sein Blick jetzt mehr Im nächsten Moment stürzte er an dem Feuerrohr als an den Frem- rücklings ins Moos. Zwei kräftige den. Und die drei wiederum taxierten Fäuste schlossen sich um seine Kehle. begehrlich seinen kunstvoll gearbei- Er fand keine Gelegenheit, sich zur teten, aus Goldplättchen bestehenden Wehr zu setzen, denn der Indianer Halsschmuck. kniete auf seinem Brustkorb. „Paß auf", sagte Godfrey. „Ich Ein Schuß fiel. zeig's dir." Morris schnappte ächzend nach Er ging auf den nächsten Baum zu und stand wieder auf. Aus allerund legte auf einen dürren Ast an. Luft nächster Nähe hatte Davenport die Dann drückte er ab. Eingehüllt in Kugel abgefeuert und dem Wilden Pulverdampf, splitterte der Ast. nicht den Hauch einer Chance gelasDer Indianerjunge ließ einen Laut sen. Den fünfundzwanzigjährigen der Überraschung vernehmen. Als Schnösel Alec Morris störte ein solGodfrey ihm die Pistole hinhielt, cher Mord keineswegs. Mit dem Fuß griff er blitzschnell zu. drehte er den Toten auf den Rücken „Bist zu verrückt?" stieß Daven- und bückte sich, um dessen Schmuck port hervor. „Was soll das?" an sich zu nehmen. „Tauschgeschäft." Godfrey grinste. Ein heftiger Stoß in die Seite hin„Was glaubst du, was der Schmuck derte ihn jedoch daran. Frank Davenwert ist?" port funkelte ihn zornig an. „Und wenn uns die Wilden auf den „Ich habe dir den Kerl vom Hals gePelz rücken?" schafft, also steht mir das Gold zu." „Wir teilen", entschied Godfrey, „Ohne Pulver?" Sie lachten spöttisch. Vor allem „Das ist gerecht." Weder Morris noch Davenport hielweil der Indianerjunge angewidert das Gesicht verzog, als er die Lauf- ten es für nötig, ihm zu antworten. mündung unter die Nase hielt. Trotz- Letzterer kniete bereits neben dem dem hatte er den Sinn des Mordwerk- Indianerjungen und zerrte ihm die zeugs begriffen, denn er legte auf die Kette über den Kopf. Fremden an und sagte: „Bumm!" Sie war in der Tat ein Meisterwerk. »Nimm ihm den Schmuck ab", Eine Vielzahl kleiner, dünn ausgedrängte Davenport ungeduldig. „Auf walzter Plättchen waren mteinander was wartest du?" verbunden, und jedes trug eingraUnbeholfen verdeutlichte Godfrey vierte Symbole. dem Indianerjungen, daß er die Pi„Heidnisches Zeug", erklärte Sir stole behalten könne, daß er aber sei- Godfrey geringschätzig. Wie seine nerseits etwas dafür hergeben müsse. Kumpane wußte auch er die vielfältiIn einer Geste, die überall verstanden gen Zeichen nicht zu deuten. wurde, breitete der Wilde die Arme Lediglich die stilisierte Sonne, halb aus. so groß wie eine Handfläche, und der
7 darunter befindliche Adlerkopf waren eindeutig. „Davon kriegen wir noch mehr", Davenport und ließ die Kette unter seinem Wams verschwinden. „Was fangen wir mit dem da an?" Godfrey deutete auf den toten Indianerjungen. „Liegenlassen", sagte Morris. „Oder hast du neuerdings Skrupel?" Der grauhaarige Abenteurer mit der Säufernase, der in seinen Kreisen stets als Spinner gegolten hatte, ließ sich nicht provozieren. „Wenn andere Indianer den Jungen finden, kann es Ärger geben." „Willst du ihn mit bloßen Händen verscharren?" „Ins Unterholz und Moos und Rindenstücke drüber." Alec Morris zögerte nur kurz. „Wenn du meinst", stimmte er dann zu. Als Davenport sich nach dem Toten bückte, hatte er das Gefühl, daß irgend etwas seine linke Schulter streifte. Fast gleichzeitig erklang hinter ihm dumpfes, trockenes Knacken. Sich umwendend, sah er den gefiederten Pfeil, der in borkiger Rinde steckte. Instinktiv warf er sich zur Seite und entging um Haaresbreite einem zweiten Pfeil. Godfrey und Morris lagen bereits der Länge nach im Moos. Während Godfrey hastig und mit zitternden Fingern die Pistole nachzuladen versuchte, visierte Morris bäuchlings und mit ausgestreckten Armen. Er drückte ab, als eine flüchtige Bewegung im Buschwerk erkennbar wurde. Ein erstickter Aufschrei bewies den Treffer. Ein Indianer torkelte aus der Deckung hervor und stürzte sich mit Todesverachtung auf die drei Kerle. In der Linken schwang er eine Art Keule, einen an einem Griff stück befestigten kantigen Stein, sein rechter Arm hing schwer nach unten, Morris'
Kugel steckte vermutlich im Schulterknochen. Frank Davenport unterlief den kraftlos wirkenden Angriff und stieß mit dem Dolch zu. Der Indianer brach lautlos zusammen. Morris und Sir Godfrey hatten inzwischen ihre Pistolen nachgeladen und sicherten nach allen Seiten. Doch kein neuer Angriff erfolgte. Langsam dämmerte ihnen, in welcher Gefahr sie sich tatsächlich befanden. Die Wilden waren wie Schemen, die man erst sah und hörte, wenn es vielleicht schon zu spät war. Gegen sie nahmen sich englische Wegelagerer und Schnapphähne wie Stümper aus. Auch dieser Indianer trug Schmuck, wenngleich seine Kette überwiegend aus bunten Steinen und Fellstreifen bestand und nur wenig Gold enthalten war. Davenport durchtrennte sie mit dem Dolch und warf jedem seiner Begleiter eine Hälfte zu. „Das ist erst der Anfang", sagte er. „Wenn wir eines Tages nach England zurückkehren, sind wir reiche Leute." „Oder so tot, wie die da, falls wir sie nicht bald verschwinden lassen." Sir Godfrey zeigte auf die beiden Eingeborenen. Kurz darauf lagen die Toten im nächsten Gebüsch und unter einem Berg aus Moos und Rindenstücken verborgen. Wenn kein aasfressendes Tier sie ausscharrte, würden sie für immer verschwunden bleiben. Erst jetzt fand Frank Davenport Zeit, seine leicht blutende Schulterwunde zu versorgen. Der Pfeil hatte das Fleisch lediglich geritzt. Er stopfte ein zusammengeknülltes Tüchlein unters Hemd, mehr gab es nicht zu tun. Vorsichtiger als zuvor kehrten die drei zum Strand zurück.
8 „Wir liegen ungefähr sechzig Seemeilen nördlich von Roanoke." Dan O'Flynn, der Navigator der Arwenacks, tippte mit dem Finger auf eine Karte, die den Küstenverlauf mehr ahnen ließ, als sie ihn tatsächlich wiedergab. „Außerdem steht der Wind schlecht. Wir werden also mindestens einen Tag brauchen, um in den Albemarlesund einzulaufen." „Und wenn schon." Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, zuckte mit den Schultern. „Auf einige Stunden mehr oder weniger kommt es gewiß nicht mehr an." „Du bist froh, wenn du die Siedler wohlbehalten ausschiffen kannst", vermutete Dan. „Nach allem, was vorgefallen ist, ja." Ruckartig hob Hasard den Kopf und lauschte. Eine leichte Brise wehte auflandig, dennoch war ihm, als hätte er aus dem Landesinneren einen Schuß gehört. Aber die Jagdtrupps, die erneut für frisches Fleisch gesorgt hatten, waren längst zurück. Und Spanier? So weit nördlich ankerten keine Dons. Hasards Aufmerksamkeit blieb geweckt. Mehr als zweihundert Männer, Frauen und Kinder lagerten im Moment auf dem steinigen Strand. Fast hätten sie sich darum geprügelt, wer als erster die qualvoll gewordene Enge an Bord der Schiffe verlassen durfte. Einige hatten gleich hier siedeln und den Wald roden wollen, um nur ja nicht auf die „Pilgrim" oder die „Explorer" zurückzumüssen. Hasard hatte seine Plage damit gehabt, ihnen den Unsinn auszureden, denn allein auf sich gestellt, konnten sie niemals in der Wildnis überleben. Inzwischen sah alles wieder ganz anders aus. Selbst Kranke waren wie durch Zauberei genesen, kaum daß sie erneut Landluft atmeten, festen Boden unter den Füßen spürten und
ein saftiges Stück Fleisch zwischen den Zähnen hatten. Die Mannschaften nutzten die Liegezeit vor der Küste, um ihre Schiffe auszubessern. Die „Pilgrim" hatte wieder geleckt, aber Werg und Pech waren hinreichend vorhanden. „Wann setzen wir Segel?" fragte Dan. Hasard warf einen prüfenden Blick zur Sonne, die langsam über den Mittag hinauswanderte. „Morgen", sagte er, „sobald es hell wird." Genügend Proviant befand sich an Bord. Der Wald war reich an Beeren und Pilzen, sogar eine kleine Süßwasserquelle lag gerade eine halbe Stunde entfernt. Lediglich ein Teil der Wasserfässer mußte neu aufgefüllt werden. Hasard schätzte, daß darüber der Abend hereinbrechen würde. Er war im Begriff gewesen, einen Arbeitstrupp zusammenzustellen, als Dan O'Flynn mit der Karte erschienen war. „Ich werde also Gelegenheit haben, die Küstenlinie zu vervollständigen", bemerkte Old Donegals Sohn zufrieden. Hasard nickte. „Hast du geglaubt, ich ließe bei Nacht Anker lichten?" Er drehte sich um und ging zu der soeben auflaufenden Jolle hinüber, die weitere Fässer von den Galeonen brachte. „Ich denke, das genügt", sagte er. „Wenn fünfzehn Mann den Weg zweimal gehen, sind wir ausreichend versorgt. An Bord haben wir auch noch." Natürlich war es eine Plackerei, die vollen Wasserfässer auf der Schulter durch den Wald zu schleppen. Deshalb wählte Hasard kräftige Kerle aus - insgesamt elf von den Mannschaften der beiden Galeonen, zwei Pilger und außerdem Big Old Shane, den Schmied der Arwenacks, und Jeff Bowie. Fast alle trugen Pistolen und Säbel im Gürtel. Zudem sollten
9 zwei Musketenschützen den Trupp Aber soviel Reichtum besaßen sie zusammen nicht. begleiten. „Wir können sehr gut auf uns auf„He!" maulte Jeff Bowie plötzlich und deutete mit seiner Hakenpro- passen", erklärte Frank Davenport these zum Wald. „Wo kommen die trotzig. Der Seewolf packte so überraBurschen her?" Hasard hatte die drei Adligen schend zu, daß dem Abenteurer sogar schon vermißt und angenommen, daß der Schmerzensschrei in der Kehle sie sich wieder einmal über seine An- stecken blieb. Und das, obwohl Haordnungen hinweggesetzt hätten. sards Finger sich fest um seine linke Wenn tatsächlich vorhin geschossen Schulter schlossen. worden war, konnten nur sie das ge„Woher stammt die Wunde?" wesen sein. Er ging ihnen entgegen. Davenport schluckte schwer. Bis er Natürlich mußten sie ihn sehen. die Antwort bereit hatte, klang sie Aber sie taten nicht danach. Offen- längst nicht mehr glaubwürdig. sichtlich wollten sie zu einer der Jol„Ich habe mich an einem verdammlen und zur Schebecke pullen. Die ten Ast gerissen." Fäuste in die Hüfte gestemmt, vertrat „Und das Blut an Ihrer rechten Hasard ihnen den Weg. Hand?" „Sir William", sagte er betont „ . . . ist mein eigenes." scharf, „darf ich fragen, wo Sie gewe„Das am Ärmel auch?" Hasard sen sind?" mußte sich zusammennehmen, um Der Angeredete zog indigniert die nicht zuzuschlagen. Was ihre ÜberBrauen hoch. Er schwitzte. Allem An- heblichkeit betraf, konnte den drei schein nach war ihm nicht gerade „Durchlauchten" in der Tat niemand wohl in seiner Haut. das Wasser reichen. „Das geht Sie nichts an", erwiderte Alec Morris entschloß sich spontan Alec Morris an seiner Stelle. dazu, Davenport seinem Schicksal zu „Genau da befinden Sie sich im Irr- überlassen und seinerseits so zu tun, tum, Gentlemen." Hasard stand wie als gäbe es den Seewolf nicht. Er ließ ein Fels in der Brandung. Falls der den hochgewachsenen, breitschultrijunge Schnösel glaubt, daß er sich zu gen Mann einfach stehen und stoleiner Unbesonnenheit hinreißen ließ, zierte weiter auf die Jolle zu; Natürhatte er sich gewaltig getäuscht. lich war er überzeugt davon, daß vie„Aus Sicherheitsgründen habe ich ler Augen auf ihm ruhten. Um so verboten, das Lager zu verlassen", mehr traf es ihn, als er unsanft am fuhr der Seewolf fort. „Das gilt auch Kragen zurückgehalten wurde. für jeden von Ihnen. Ich bin für Ihr „Wer hat geschossen?" fragte HaWohlbefinden verantwortlich - wenn sard drohend. „Und auf was?" es sein muß, lasse ich Sie in Eisen leMorris schluckte eine heftige Erwigen." derung gerade noch hinunter. Er „Das würden Sie nicht wagen", hätte sich damit einen Bärendienst brauste Morris auf. erwiesen. Der harte Zug, der sich um Hasards „Da war ein Dachs", sagte er nur. Mundwinkel abzeichnete, und der unSeine Kumpane nickten eifrig. nachgiebige Blick seiner eisblauen Der Seewolf sah ein, daß er nicht Augen verunsicherten ihn dennoch. Ein Säckchen Gold für den, der Kil- mehr erfahren würde. Zudem begann ligrew über die Klinge springen läßt, er sich zu fragen, warum er sich immer wieder genötigt sah, den drei Haschoß es ihm jäh durch den Sinn. lunken den Wind aus den Segeln zu
10 nehmen. Sobald sie im Albemarlesund anlandeten, konnte ihm ihr weiteres Schicksal herzlich gleichgültig sein. Erstaunlich war, wie schnell sie zur Schebecke hinüberpullten. Und noch erstaunlicher, daß sie sehr bald wieder abenterten. 2. Die leeren Fässer geschultert, marschierten die Mannen in Zweierreihen durch den Wald. Im Schatten der weit ausladenden Baumkronen ließ sich die Hitze leichter ertragen als am Strand, wo die Steine wie ein Backofen Wärme abstrahlten. Der Wildreichtum der Neuen Welt verblüffte. Häufig flohen Rehe und kleinere Tiere vor den Eindringlingen. Big Old Shane, der als erster die Quelle ausgekundschaftet hatte, führte den Trupp an. Ihm folgte einer der Musketenschützen, ein eher schmächtiger Bursche namens Huggley, der mit der Waffe jedoch umzugehen verstand wie kaum ein zweiter. Die Mannen von den beiden Galeonen folgten dichtauf und hinter ihnen Robert Dunsay und Meredith Field, die beiden Pilger. Dunsays Frau war beim Untergang der „Discoverer" ertrunken, er selbst und sein Sohn Benjamin, dessen vierzehnter Geburtstag sie einige Tage zuvor gefeiert hatten, hatten sich bis zuletzt an einer Planke festgeklammert und waren von der „Pilgrim" aufgefischt worden. Dunsay ließ seinen Sohn seither nicht aus den Augen, deshalb hatte sich Benjamin den Wasserträgern angeschlossen. Den Schluß bildeten Jeff Bowie, der stämmige, grauäugige Mann mit der Hakenprothese, und Abraham Brown, der zweite Musketenschütze.
Obwohl bislang niemand einen Eingeborenen gesehen hatte, hielt Hasard Vorsicht für angebracht. Immerhin hatte die junge englische Siedlung in Virginia eine bewegte Vergangenheit. Es hatte Zeiten gegeben, da war den Pilgern nicht nur auf See ein hoher Blutzoll abverlangt worden. In Sir Walter Raleighs Begleitung war 1585 John White zur Insel Roanoke gelangt, dem England eine Vielzahl selbstgefertigter Zeichnungen des Indianerlebens verdankte. Nach dem Scheitern der ersten Kolonie unternahm er 1587 eine weitere Expedition, mußte aber, um Nachschub zu beschaffen, wieder in die alte Heimat segeln. Als er über zwei Jahre später wieder auf Roanoke an Land ging, waren sämtliche Kolonisten, unter ihnen seine Tochter und Enkelin, spurlos verschwunden. Kaum ein Wort fiel. Dafür suchten um so mehr forschende Blicke den Wald ab. Doch der Trupp erreichte die Quelle, ohne von Indianern behelligt worden zu sein. Am Fuß einer sanft gewellten Hügelkette, die sich nach Westen hin fortsetzte und in sumpfiges Gebiet führte, entsprang das klare Naß. Es sammelte sich in einem seichten Tümpel, bevor es als munter plätscherndes Bächlein abfloß. Nacheinander wurden die Fässer eingetaucht und mit Pfropfen verschlossen. In der Zwischenzeit sicherte die Hälfte der Mannen nach allen Seiten. Sie legten nur eine kurze Pause ein, um sich zu erfrischen und zu trinken. In der Nähe erklang der durchdringende Schrei eines Adlers. Niemand achtete darauf. Erst als sich der Ruf aus dem Unterholz heraus wiederholte, wurde Big Old Shane aufmerksam. Doch seine Warnung erfolgte zu spät. Das Sirren von Bogensehnen erfüllte die Luft. Vier oder fünf Pfeile
11 trafen ihr Ziel und rissen Lücken in die Reihe der Wasserträger. Shane sah die Männer stürzen. Daß er selbst nicht getroffen wurde, verdankte er lediglich dem Umstand, daß er in dem Moment das Faß von der Schulter wuchtete, in dem ein Pfeil sonst seine Brust durchbohrt hätte. Einen besseren Schild konnte er sich gar nicht wünschen. Musketenschüsse krachten. Eine Verwünschung auf den Lippen, schleuderte Big Old Shane das auslaufende Faß von sich. Breitbeinig stand er da, ein Riese mit mächtigem grauen Bartgestrüpp, und riß die Pistole aus dem Gürtel. „Kommt schon!" brüllte er. „Versteckt euch nicht hinter den Bäumen!" Kampfschreie ausstoßend, hetzte ein Indianer auf ihn zu. Shane drückte ab, als der Angreifer keine drei Yards mehr entfernt war. Der Schwefelkies des Schnappschlosses wirkte zuverlässig wie immer. Mitten im Lauf von einer unsichtbaren Faust gestoppt, riß der Wilde die Arme hoch und wirbelte um die eigene Achse. Big Old Shane fand keine Zeit, die Pistole nachzuladen. Neben ihm wurde Huggley getroffen, der gerade Zündpulver in die Pfanne seiner Muskete schüttete. Die Hände um den Schaft des Pfeiles verkrampft, brach er vornüber zusammen. Die Indianer suchten den Kampf Mann gegen Mann. Ihre Tomahawks und Kriegskeulen waren nicht minder tödliche Waffen als Entersäbel und Dolche. Shane schätzte die Zahl der Angreifer auf zehn, von seinen Mannen standen höchstens noch acht auf den Beinen. Mehr konnte er nicht erkennen, weil er schon wieder attackiert wurde. Shane verließ sich auf seine bloßen Fäuste. Geschickt wich er dem gegen
ihn geführten Steinbeil mit der messerscharf geschliffenen Kante aus, bis er das Handgelenk des Angreifers zu fassen kriegte. Der Indianer versuchte, dem Riesen zu widerstehen, sein Gesicht verzerrte sich, an den Schläfen schwollen die Adern. Als Shane unvermittelt losließ, wurde die Rothaut vom eigenen Schwung vorwärtsgetragen. Krachend landeten die Fäuste des Schmieds im Nacken des fast barhäuptigen Wilden, und ein zweiter Hieb ließ ihn endgültig wegsacken. Flüchtig musterte Big Old Shane die gerade drei Finger breite Haarpracht, die sich sichelförmig über den Schädel zog. Der Rest war glatt abrasiert. Er hob Huggleys Muskete und die noch glimmende Lunte auf, die er mit geübtem Griff in den Hahn klemmte und justierte. Beim Niederdrücken mußte der Funke in die Zündpfanne fallen. Sein Schuß ging fehl, doch er packte die Waffe kurzerhand am Lauf und schlug dem nächsten Indianer den schweren Schaft um die Ohren, daß dieser glauben mußte, Himmel und Hölle hätten sich aufgetan, um ihn zu verschlingen. Big Old Shane kämpfte, als hätte er es mit einer Horde von Spaniern zu tun, bis er urplötzlich allein stand und der Wald die Eingeborenen verschluckte. Huggley und Brown waren tot, ebenso Field und fünf von den Seeleuten. Robert Dunsay atmete noch. Bis auf eine Platzwunde an der Stirn und einen Pfeil im linken Oberarm schien er glimpflich davongekommen zu sein. Shane brach den Pfeilschaft ab, mehr konnte er nicht tun. Der Kutscher würde die Spitze herausschneiden müssen. Benjamin, Jeff Bowie und noch zwei Mannen von der „Pilgrim" waren verschwunden. Die anderen vier
12 begannen sich allmählich wieder zu regen. Shane drückte ihnen Waffen in die Hände. „Laden und die Lunten sichern!" befahl er. „Wir müssen gewappnet sein, falls die Angreifer zurückkehren." Das Knacken eines trockenen Astes ließ ihn herumwirbeln. Die Pistole in seiner Rechten ruckte hoch.
Jeff Bowie sah den Mann neben sich fallen und stürmte sofort vor. Angriff war schon immer die beste Verteidigung gewesen, wenn der Gegner glaubte, leichtes Spiel zu haben. Bowie haßte jede Art von Hinterhalt. Gefechte auf See mußten schon deshalb offen geführt werden, weil es an Verstecken mangelte. Wenn die Kanonen sprachen, entschied nicht nur die Stärke der Bewaffnung, sondern auch Geschicklichkeit und Können der Mannschaft. Wie aus dem Boden gewachsen, stand jäh ein Indianer vor ihm, ein schlanker, muskulöser Bursche, der ihn um eine halbe Haupteslänge überragte. Bis auf den Lendenschurz war er nackt, doch seine Haut wies eine vielfältige, grelle Bemalung auf. Das Gesicht wurde durch aschgraue Farbe zur dämonischen Fratze entstellt. Seine Kriegskeule zuckte auf Jeff Bowie zu, aber die abwehrend vorgereckte Unterarmprothese fing den Hieb ab, und der eiserne Haken verfing sich in dem Geflecht, das die Waffe zusammenhielt. Für die Dauer eines Augenblicks starrten beide einander an. Dann ließ der Indianer seine Waffe fahren und griff mit bloßen Händen zu. Ineinander verkrallt, stürzten sie zu Boden. Jeff flog auf den Rücken. Das Gewicht des Angreifers preßte ihm die Luft aus den Lungen. Der Wilde hatte
sein Haar gepackt und zerrte ihm den Kopf nach hinten. Die andere Hand tastete nach seiner Kehle. Nicht viel anders fühlte man sich, wenn ein Schiff unter vollen Segeln auf Grund lief. Überdeutlich vernahm Jeff das Rauschen des Blutes hinter seinen Schläfen wie das Tosen der Brandung an schroffen Klippen. Gischt hüllte ihn ein. Doch das war wohl der Schweiß, der ihm aus allen Poren brach. Verzweifelt schlug er um sich, und irgendwie schaffte er es, die Hand an seiner Kehle mit dem Haken der Prothese wegzuziehen. Der Indianer war viel zu überrascht, um dem folgenden Hieb auszuweichen. Bowie rammte ihm das Eisen zwischen die Rippen und riß gleichzeitig den Entersäbel aus der Scheide. Der Wilde sprang auf und floh. Jeff setzte ihm nach. Aber der andere war gewandter, und mit einemmal schien ihn der Wald verschluckt zu haben. Zwanzig, dreißig Yards entfernt erklang ein erstickter Hilferuf. Die Stimme eines Kindes. Jeff Bowie wechselte die Richtung. Doch bis er die Stelle erreichte, war Benjamin Dunsay bereits verschwunden. Der weiche Boden war aufgewühlt. Anscheinend hatte sich der Junge verzweifelt gegen die Indianer zur Wehr gesetzt. Jeff Bowie folgte der Spur, die von der Quelle wegführte. Hinter ihm wurde noch immer gekämpft, aber darauf achtete er nicht mehr. Nach knapp hundert Yards stieß er wieder auf die Wilden. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie ihn bemerkten, fand er Deckung hinter einer Kiefer. Gegen fünf Rothäute zugleich hatte er keine Chance. Selbst wenn zwei von ihnen wie Greise wirkten und er einen der anderen mit der Pistole niederstreckte. Die Alten trugen keine Bemalung, aber die Federn im schmalen Haar-
13 schopf wiesen sie als Anführer oder gar Häuptlinge aus. Sie zogen zwei eigenartige Gestelle - aus Leder und Fellen zusammengebundene Tragen, die sie über den Boden schleiften. Auf jeder ruhte ein Indianer, und einer war fast noch ein Kind. Jeff Bowie erkannte, daß beide tot waren. Die Wilden entführten Benjamin Dunsay. Sobald sie ihn in ihr Dorf brachten, wo immer dieses sein mochte, würde er die Zivilisation nie wiedersehen. Jeff durfte nicht einfach tatenlos abwarten. Wenn er einen der Häuptlinge niederschoß, konnte er die entstehende Verwirrung vielleicht nutzen, um Benjamin zu befreien. Noch war die Entfernung nicht zu groß. Jeff legte die Pistole am Stamm an, um jedes Zittern auszugleichen. Daß er seine Umgebung sträflich vernachlässigte, wurde ihm erst klar, als er von hinten umgerissen wurde. Der Schuß entlud sich ungezielt. Bowie verspürte einen heftigen, stechenden Schmerz im Hinterkopf. Ein ganzes Pulverfaß schien in seinem Schädel zu explodieren. Dann versank die Welt um ihn her in Finsternis. Wie lange er bewußtlos gelegen hatte, vermochte er später nicht zu sagen. Als er langsam die Besinnung zurückerlangte, fühlte er sich jedenfalls, als wäre er gekielholt worden. Jede einzelne Faser seines Körpers schmerzte. Eine prächtige Beule zierte seinen Hinterkopf. Jeff ertastete Blut, das noch nicht geronnen war. Aber er lebte, und das war unter den gegebenen Umständen schon eine ganze Menge. Mühsam stemmte er sich hoch. Ihm wurde erneut schwarz vor Augen, und der Baum, an dem er sich festhalten wollte, schien zu einem lebenden, sich windenden Geschöpf zu werden.
Es bedurfte schon etlicher tiefer Atemzüge, ihn das Gleichgewicht wiederfinden zu lassen. Aber dann stand er halbwegs sicher auf den Beinen und kehrte zu den Gefährten zurück. Bevor er etwas sagen konnte, wirbelte Big Old Shane herum. Jeff Bowie blickte geradewegs in die Pistolenmündung. „He . . . " Er schluckte schwer. „Ich bin keine Rothaut, Mister Shane." „Das sehe ich", erwiderte der Schmied, ohne die Waffe zu senken. Gleich darauf herrschte er Bowie an: „Sag bloß, du bist abgehauen, während wir den Kopf hingehalten haben." Jeff fuhr sich lediglich mit der Hand in den Nacken und hielt Shane die blutverschmierten Finger unter die Nase. „Tut mir leid", gestand der Schmied zerknirscht. „Ich habe es nicht so gemeint." Jeff Bowie nickte verbissen. Die Arwenacks waren eine verschworene Gemeinschaft, in der jeder sich auf den anderen verlassen konnte. Gerade deshalb tat Sahnes unbedachte Äußerung weh. „Die Indianer haben Benjamin", stieß er hervor. „Ich wollte dem Jungen helfen, aber . . . " Er verdrehte die Augen und fiel in sich zusammen wie ein nasser Sack. Diesmal trat er für längere Zeit weg. Auf diese Weise entging ihm, daß Big Old Shane sich rührend um ihn sorgte und einer der verschwundenen Mannen zurückkehrte. Mit Quellwasser wusch der Schmied die Platzwunde. Anschließend verband er sie, so gut es ging. Jeff Bowie hatte danach allerdings verblüffende Ähnlichkeit mit einem arabischen Wüstenscheich. Er brauchte lange, um in die Welt der Lebenden zurückzufinden. Ein Stapfen und Rollen wie bei schwerer Dünung war das erste, was er wieder
14 wahrnahm. Unbewußt versuchte er, die Bewegung auszugleichen, doch seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Von irgendwoher vernahm er eine befehlende Stimme: „Alle Mann an Deck!" Die Schwäche hinderte ihn daran, aufzuspringen und zur Kuhl aufzuentern. Er brachte nicht einmal die Klüsen auf. „Klarschiff zum Gefecht!" dröhnte es lauter als zuvor in seinen Ohren. „Zeigt den verdammten Dons, wer wir sind!" „Aye, aye, Sir", drang es halb im Tran und kaum verständlich über Jeffs Lippen. Es blieb bei dem Bekenntnis. „Bowie, du Lahmarsch!" brüllte die Stimme. „Ich werde dich in die Wanten jagen, bis dir Hören und Sehen vergeht. Und dann darfst du das Deck schrubben . . . " Jeff Bowie erkannte die Stimme. Im allgemeinen war er eher zurückhaltend, aber daß sich Big Old Shane anmaßte, so mit ihm umzuspringen, das schlug dem Faß den Boden aus. „Du bist wohl vom wilden Affen gebissen . . . " Jeff richtete sich so abrupt auf, daß er ums Haar den Halt verloren hätte und außenbords gegangen wäre. Shanes hallendes Gelächter brachte ihn vollends zur Besinnung. Er hockte auf einer provisorischen Trage aus ineinandergesteckten Ästen. Shane und einer von der „Pilgrim" trugen ihn. Daher also das Empfinden starken Seegangs. „Willkommen an Bord." Der Schmied versuchte ein Grinsen, was ihm aber gründlich mißlang. „Laß mich runter", fauchte Jeff. „Ich kann gut allein gehen." „Maul halten!" erwiderte Big Old Shane. Bald darauf erreichten sie den Strand - eine geschlagene Truppe, die von den Pilgern förmlich er-
drückt wurde. Jeder wollte als erster erfahren, was geschehen war. 3. Noch ehe er Shanes Bericht anhörte, verstärkte der Seewolf die aufgestellten Wachen. Den Mannschaften auf den Schiffen wurde signalisiert, die Geschütze zu klarieren und auszurennen. Der Kutscher kümmerte sich um die Verwundeten. Über Jeff Bowies kunstvollen Turban war sogar er sprachlos. Robert Dunsays Arm eiterte bereits. Falls die Wunde weiter verdreckte oder sich entzündete, würde womöglich eine Amputation notwendig werden. Der Kutscher verzichtete deshalb darauf, Dunsay an Bord der Schebecke zu bringen. Über einem der Feuer glühte er seine Messer und die Krummskalpelle aus. Und aus seiner Arzneimitteltruhe brachte er eine volle Flasche Rum zum Vorschein. „Trink!" forderte er den Pilger auf. „Alles in einem Zug." „Die Indianer haben meinen Sohn", widersprach Dunsay. „Ich muß ihn zurückholen." „Der Pfeil ist jetzt wichtiger. Wenn du den Arm verlierst, kannst du Benjamin wenig helfen. Außerdem wird unser Kapitän nichts unversucht lassen. Trink endlich!" Dunsay gehorchte. Er leerte die Flasche allerdings nur halb. Der Kutscher nahm ihm den Rest ab, trank selbst einen gehörigen Schluck und kippte die letzten Tropfen auf die Wunde. Als Dunsay aufschrie, stopfte der Feldscher ihm ein Knäuel Werg in den Mund. „Fest zusammenbeißen", riet er. „Dann ist alles halb so schlimm." Im nächsten Moment führte er zielsicher und schnell einen Kreuzschnitt
15 aus. Der Pfeil saß tief und schien am Knochen abgeglitten zu sein. Mit einem der Krummskalpelle dehnte der Kutscher die heftig blutende Wunde auf. Dann zog er die Pfeilspitze mit einem einzigen Ruck aus dem Fleisch. Dunsay stöhnte unterdrückt. „Das war's." Der Kutscher warf seine Werkzeuge in eine bereitstehende Pütz mit Süßwasser. „Wenn du Glück hast, kannst du den Arm in einigen Tagen wieder richtig gebrauchen. Gerade rechtzeitig, um Benjamin an dich zu drücken." Er deutete zu den Jollen hinüber, wo sich mehrere Dutzend Mannen um den Seewolf geschart hatten. Daß sie den Indianerüberfall nicht hinnehmen würden, war klar. „Danke", murmelte Dunsay. „Ich gebe den Dank an den Kapitän weiter", sagte der Kutscher. Er zog das Kautarium aus dem Feuer, das flache, gebogene Eisen mit dem Holzgriff, das zum Ausbrennen oder Ausätzen von Blessuren gebraucht wurde. Es dampfte leicht, hatte also genau die richtige Hitze. Robert Dunsay zuckte zwar zusammen, doch drang kein Laut über seine Lippen. Die heftige Blutung hörte auf, sobald das Brenneisen das Fleisch berührte. „Sieh dich vor, daß die Wunde nicht wieder aufbricht", warnte der Kutscher, während er einen Verband anlegte. Bei den versammelten Mannen ging es inzwischen laut her. Einige Kerle forderten mit Nachdruck, daß man es den Wilden zeigen solle - was bedeuteten schon Pfeil und Bogen und primitive Äxte gegen moderne Feuerwaffen! Allein Hasards Radschloßdrehling wog eine Handvoll Indianer auf. Diese Burschen wollten den Kampf um des Kampfes willen. Ob sie auf solche Weise die beiden Vermißten le-
bend befreien konnten, schien sie wenig zu interessieren. Daß der Seewolf zunächst einem gewaltlosen Vorgehen das Wort redete, verstanden sie schon überhaupt nicht. „Die Indianer kennen dieses Land, während es uns allen fremd ist!" rief Hasard. „Wenn wir losstürmen wie die Verrückten, haben wir absolut nichts gewonnen." „Ihre Pflicht ist es, uns zu beschützen", begehrte einer der Auswanderer auf. „Und dazu gehört, daß Sie die Wilden in die Schranken weisen, bevor sie noch dreister werden." „Was schlagen Sie vor, sollen wir unternehmen?" fragte Hasard den Mann. „Angreifen, Kapitän Killigrew. Wenn wir nicht beweisen, wer der Stärkere ist, haben wir nie Ruhe." „Sehr richtig!" erklang es unvermittelt hinter Hasard. Frank Davenport stand auf der vorderen Ducht einer der Jollen und reckte um Aufmerksamkeit heischend die Arme hoch. Tatsächlich wandten sich immer mehr Gesichter ihm zu, in vielen stand offene Zustimmung zu lesen. „Wir haben genügend Waffen und noch mehr Männer, die entschlossen sind, für ihre Familien zu kämpfen." Davenports Stimme wurde lauter. „Es gibt nichts, was uns daran hindert, den Rothäuten zu folgen. Oder sollen wir darauf warten, daß sie uns nachts die Kehlen durchschneiden?" „Mister Davenport . . . " „O nein, Kapitän, jetzt rede ich, und Sie hören mir zu. Stellen Sie sich vor, die Wilden hätten einen Ihrer Söhne entführt. Sie würden alles daransetzen, ihn lebend zurückzuholen. Wollen Sie Robert Dunsay dieses Recht absprechen?" Von verschiedenen Seiten erklang unwilliges Murren. Der Seewolf warf einen raschen Blick in die Runde. Es waren nicht gerade wenige, die dem
16 adligen Aufschneider Davenport zustimmten. Hasard ging auf die Jolle zu und blieb keine drei Yards vor dem Burschen stehen, der unwillkürlich eine abwehrende Haltung einnahm. Dabei dachte der Seewolf gar nicht daran, sich auf eine Prügelei einzulassen. Fäuste waren in dieser Lage das denkbar schlechteste Argument, das jemand vorbringen konnte. Mit allem schien Davenport gerechnet zu haben, nur nicht damit, daß Hasard ruhig die Arme vor der Brust verschränkte und ihn abschätzend fixierte. „Wie oft waren Sie schon in der Neuen Welt?" wollte der Seewolf wissen. „Was tut das zur Sache?" erwiderte Davenport irritiert. „Wir sollten nicht noch mehr Zeit nutzlos vergeuden", ließ sich auch Sir William vernehmen. „Sehr richtig", stimmten einige Pilger zu. „Ihre Aufgabe war es, uns nach Virginia zu begleiten. Das haben Sie getan. Ab sofort müssen wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen." „Wenn ihr Affenärsche das tut", mischte sich Edwin Carberry ein, „dann habt ihr vielleicht noch zwei Tage zu leben. Wer von euch hat jemals einen Indianer gesehen?" „Vermutlich niemand", fuhr Hasard lautstark fort, ehe Davenport oder Godfrey die Pilger weiter aufstacheln konnten. „Die Eingeborenen beherrschen die Kunst der lautlosen Jagd und des Anschleichens. Ihre Pfeile sind treffsicherer als unsere Musketen und töten über eine größere Entferung als Pistolenkugeln. Fragt die Mannen, die den Angriff überlebt haben." »Holt Pulver von den Schiffen und noch mehr Waffen!" begehrte Davenport auf. „Die Wilden sind gegen Kugeln aus Blei nicht gefeit. Hundert
Mann sollten genügen, sie bis nach Indien zu jagen." „Und wer beschützt inzwischen Frauen und Kinder?" wollte Hasard wissen. „Selbst auf den Schiffen wären sie nicht sicher." „Die Galeonen dürfen eben nicht länger vor Anker liegen bleiben." „Warum sind Sie so begierig darauf, den Rothäuten zu begegnen?" Hasard packte zu und zog Davenport am Rockaufschlag zu sich herunter. „Haben Sie sich jemals um einen der Auswanderer gekümmert? Also liegt Ihnen auch nichts an Benjamin Dunsay. Sie wollen Gold, Davenport, ist es nicht so?" „Und wenn dem so wäre?" erwiderte der Kerl trotzig. „Sie erhalten Ihre Chance", versprach Hasard. An die Menge gewandt, fuhr er fort: „Ich glaube nicht, daß bislang einer von euch Grund hat, sich über mich zu beklagen. Ich verspreche, daß ich alles in meiner Kraft stehende tun werde, um die Verschleppten zurückzubringen. Aber dazu brauche ich kein Heer, mir genügen zehn zu allem entschlossene Kerle. Natürlich gehe ich davon aus, daß sich Mister Davenport in den Dienst der guten Sache stellt." Irgend jemand lachte. Andere stimmten darin ein. Davenport selbst wurde merklich blasser. Hatte er eben noch den Mund zu voll genommen, so zeigte er sich plötzlich ziemlich kleinlaut. „Was haben Sie vor, Kapitän?" „Das verklare ich Ihnen, wenn es soweit ist. Auf jeden Fall erhalten Sie Gelegenheit, einen eigenen Trupp anzuführen. Heuern Sie also vier Männer an, die Ihnen geeignet erscheinen, und vergessen Sie nicht Waffen, ausreichend Pulver und Kugeln." Wenn er jetzt zu kneifen versuchte, würde er sehr schlecht dastehen. Frank Davenport blieb keine andere Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel
17 zu machen. Tatsächlich hatte er erreicht, was er wollte. Killigrew selbst würde ihn zum Indianerdorf führen. Davenport dachte an die Nachttöpfe aus Gold . . . Mit einer fahrigen Handbewegung verscheuchte er alle aufkeimenden Befürchtungen. Die Eingeborenen waren primitiv, sie bedeuteten keine wirklich ernst zu nehmende Gefahr. Natürlich verzichtete Davenport nicht auf seine Kumpane Alec Morris und Sir William Godfrey. Außerdem wählte er zwei verwegen aussehende Burschen, die vorher für ihn Partei ergriffen hatten. Als Hasard das Zeichen zum Aufbruch gab, war jeder der Zurückbleibenden erleichtert. Am Strand durften sie sich halbwegs sicher fühlen. Hier bot sich Angreifern keine Dekkungsmöglichkeit. Die Feuer waren außerdem groß genug, um während der Nacht den Waldrand auszuleuchten. Trotzdem zogen einige ängstliche Naturen es vor, sich zu den Schiffen übersetzen zu lassen. Philip Hasard Killigrew hatte zu den zehn Arwenacks, mit denen er den Indianern folgen wollte, noch zwanzig kräftige Kerle unter sein Kommando genommen. Unbehelligt erreichten sie die Quelle. Die Toten, die Big Old Shane dort hatte zurücklassen müssen, lagen noch immer da. Lediglich die Indianer waren verschwunden. Aber Hasard hatte nichts anderes erwartet. Die zwanzig Kerle erhielten die Aufgabe, die Toten zum Lager zu schaffen. Außerdem sollten sie einige der Wasserfässer mitnehmen, an denen die Eingeborenen sich nicht vergriffen hatten. Die Schatten, soweit die Sonnenstrahlen überhaupt bis zum Waldboden durchdrangen, wurden bereits, merklich länger. Anfangs waren die Spuren der Rothäute noch gut zu erkennen, aber schon bald verloren sie
sich in dem sumpfiger werdenden Gelände. Hasard war überzeugt davon, daß die Indianer ihre Toten bestatten würden. Erst danach wuchs die Gefahr eines erneuten Überfalls. Ben Brighton hatte den Befehl, zwei Tage und zwei Nächte abzuwarten. Wenn bis dahin niemand zurückgekehrt war, sollte er mit einem weiteren Trupp aufbrechen. Doch das würde hoffentlich nicht nötig werden. Immerhin schleppte Ferris Tucker in einem Leinensack ein halbes Dutzend Flaschenbomben mit, und an ebenso viele chinesische Brandsätze hatte Hasard ebenfalls gedacht. Die Indianer würden im wahrsten Sinne des Wortes ihr Wunder erleben. Nahezu unmerklich lichtete sich der Wald. Ungefähr zwei Landmeilen von der Quelle entfernt ragten nur noch vereinzelte Kiefern auf. Den Platz zwischen ihnen nahmen Sträucher und halbhohe Gräser ein, die sich sanft im Nachmittagswind wiegten. Batuti, der schwarzhäutige Gambiamann, der zugunsten seines Langbogens auf eine Muskete verzichtet hatte, wies den Seewolf auf einen Umstand hin, der außer ihm wahrscheinlich niemandem aufgefallen wäre. Während sich normale Gräser nach einem Fußtritt bald wieder aufrichteten, wuchs auf dem Sumpfboden eine Art, deren holzige Halme rasch abknickten. „Sieh hier." Batuti demonstrierte dem Seewolf, was er meinte. „Auch nach Stunden kann man deutlich feststellen, wo jemand gelaufen ist." Hasard ließ seine Arwenacks ausschwärmen, was die drei Adligen zu spöttischen Bemerkungen veranlaßte. „Wühlen Sie ruhig im Dreck, Kapitän", erklärte Davenport grinsend. „Ich sage Ihnen, das Dorf der Wilden
18 liegt ganz in der Nähe. Wir sollten uns beeilen, wenn wir es noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollen." „Und dann?" Frank Davenport tätschelte seine Muskete, als handele es sich um seine Geliebte. „Wir umzingeln die paar lausigen Hütten und schießen die Affen über den Haufen. Sind doch ohnehin alles dreckige Heiden." Hasard verzichtete auf eine Erwiderung. Er würde weder Davenports menschenverachtende Einstellung ändern können noch die seiner Kumpane. Die Freiheit, die sie in England nicht gehabt hatten, glaubten sie offenbar in der Neuen Welt zu finden. Aber wenigstens konnten die drei im Moment keine Dummheiten anstellen. Hasard hatte nicht vor, sie zum Indianerdorf mitzunehmen, er würde sie vorher als Späher in eine andere Richtung losschicken. Es schadete bestimmt nicht, wenn den Burschen auf diese Weise ein wenig der Wind aus den Segeln genommen wurde. „Sir!" Big Old Shane hatte eine Spur entdeckt. Nahezu schnurgerade zog sie sich dahin. Allerdings nicht, wie bisher, weiterhin nach Westen. Die geknickten Halme wiesen einheitlich nach Südwest. Kleine Rinnsale durchzogen das Gelände. Sie mündeten in einen halb verlandeten, von Schilf und Binsen gesäumten See, den die Mannen erreichten, als die Sonne sich bereits der Kimm zuneigte. In der Ferne, mit dem Dunst des Abends verschmelzend, ragten Bergzüge auf. Der Himmel überzog sich mit glühenden Farbtönen. Im Osten kroch die Nacht heran. „Wir lagern am Waldrand", entschied Hasard. Es hatte wenig Sinn, in der Dunkelheit durch unbekanntes Gelände zu stolpern. Der Mond
würde wohl hinter Wolkenschleiern verborgen bleiben. „Sir Hasard", begehrte Frank Davenport auf, und zum erstenmal in letzter Zeit benutzte er wieder den Adelstitel, „ist es Ihnen egal, was aus den Gefangenen wird?" „Keineswegs." Hasard schüttelte den Kopf. „Dann lassen Sie uns weitermarschieren." „Nicht, solange ich die Verantwortung habe." „Sie sind ein Narr." „Das Kompliment kann ich zurückgeben", erwiderte Hasard ohne erkennbare Regung. „Natürlich steht es Ihnen frei, zu den Schiffen zurückzukehren." Davenport wandte sich um und spie in hohem Bogen aus. Er würde sich fügen, Hasard wußte das genau. Aus irgendeinem Grund waren die „Durchlauchten" wild darauf, endlich mit den Indianern zusammenzutreffen. Der Seewolf konnte sich den Grund auch denken: die drei glaubten all den Unfug, der in englischen Kneipen erzählt wurde - sie wollten das Gold, über das die Wilden angeblich im Überfluß verfügten. Dabei war Virginia bestimmt nicht mit den Ländereien tief im Süden zu vergleichen, von wo aus die Spanier Schiffsladungen an Gold und Silber in die Heimat schickten. Hasard dachte an das letzte Prisenschiff, die „Fidelidad", die die Arwenacks im Atlantik gekapert und allen Widernissen zum Trotz heil nach London gesegelt hatten. Der Anblick der in den Laderäumen gestauten Schätze hätte einen Kerl wie Davenport vermutlich um den letzten Rest von Verstand gebracht. Im Schutz der Bäume und des zum See hin dichter werdenden Unterholzes ließen die Arwenacks sich nieder. Ihnen bot sich ein recht guter Überblick. Falls sie tatsächlich schon in
19 der Nähe des Indianerdorfes weilten, Das dumpfe Tamtam schwoll vorwürden sie sicher entsprechende An- übergehend an. Vielleicht aber auch zeichen erkennen. nur deshalb, weil der Wind aufDunstschwaden breiteten sich über frischte. Er wehte von jenseits des dem seichten Gewässer aus, dessen Sees, doch ihm fehlte der gewohnte jenseitiges Ufer von der heraufzie- Geruch von Salz und Tang. henden Dämmerung verschluckt „Morgen laufen wir Kurs hart am wurde. Wind", sagte Hasard. „Alles weitere Hasard teilte die Wachen ein. Bob wird sich von selbst ergeben." Carberry empfahl sich mit einem Grey und Luke Morgan hatten die erste Wache und würden von Car- grollenden Schnarchen. Batuti hielt berry und Batuti abgelöst werden. Da ihm die Nase zu, und augenblicklich Hasard mit dem ersten Morgen- begann der Profos um sich zu schlagrauen aufzubrechen gedachte, gen. wurde eine dritte Wache nicht erfor„Was soll das?" herrschte er den derlich. Ferris Tucker, Big Old Shane, Gambiamann an. Stenmark, Sam Roskill, Blacky und „Du warst drauf und dran, uns die Mac O'Higgins durften somit auf eine Indianer auf den Hals zu hetzen", erruhige Nacht hoffen. klärte Batuti. „Du schnarchst, als Davenport und seine Genossen hat- wolltest du den ganzen Wald absäten zwar die Köpfe zusammenge- gen." steckt, sonst aber in keiner Weise zu „Unsinn." Carberry drehte sich auf erkennen gegeben, daß sie ihren Teil die andere Seite und reckte dem der Verantwortung übernehmen woll- Schwarzen den Achtersteven hin. Auten. Hasard ließ sie gewähren. genblicke später verkündete ein Die Nacht barg viele Geräusche. neuerliches Grollen, daß er wieder Ganz in der Nähe erklang das Fau- weggetreten war. chen eines Raubtiers, aber der großen Batuti fischte einen Pfeil aus seiKatze waren die Mannen wohl doch nem Köcher und stach den Profos ins nicht geheuer. Jedem, der gewohnt Hinterteil. Von da an hatte das war, das monotone Plätschern der Schnarchen ein Ende. See und das Knacken der Planken unEinmal schien flüchtiger Feuerter sich zu hören, fiel es schwer, rasch schein in der Ferne aufzulodern. Aber in einen tiefen Schlaf zu fallen. bevor Bob Grey und Luke Morgan Mehrmals schreckte auch Hasard sich darüber einig wurden, fiel das wieder hoch, und dann vernahm er rötliche Flackern in sich zusammen. das dumpfe, rhythmische Trommeln, Die Entfernung zu schätzen, war so das aus der Ferne heranrollte. Auf gut wie unmöglich. den Ellenbogen richtete er sich auf Carberry und Batuti traten um Mitund lauschte in die Nacht hinaus. ternacht ihre Wache an. Alles war ru„Indianer", murmelte Ed Carberry hig. Vorübergehend lugte der Mond neben ihm. „Ich will Schuster werden, durch die Wolken und ließ den See wenn die nicht ihren Sieg feiern." silbern schimmern. Die Tierwelt ver„Die Wette hast du schon verloren", stummte allmählich. Nur noch geleraunte Batuti. „Das sind Totentrom- gentlich war der Ruf eines Käuzchens meln. Vermutlich werden sie die zu vernehmen. Irgendwo im Schilf raNacht über andauern und erst in den schelte es. Batuti sah den schlanken Morgenstunden verstummen. Die Schatten eines Fischotters davonEingeborenen trauern um ihre Ver- schwimmen. Schmatzend und gluckstorbenen." send schlugen kleine Wellen ans Ufer.
20 Dumpf hallte nach wie vor das Tamtam der Indianertrommeln herüber. Den Langbogen in der Linken und den Köcher geschultert, drehte Batuti langsam seine Runde. Ein verhaltenes Stöhnen ließ ihn aufmerken. Es ertönte bei den Schlafenden. Der Gambiamann hielt inne und legte mit geübtem Griff einen Pfeil auf die Bogensehne. Sehr viel konnte er nicht erkennen. „Batuti, hilf mir!" Kaum hörbar war das Flüstern. Carberry, der dreißig Yards entfernt Wache stand, schien es nicht vernommen zu haben. „Batuti!" erklang es drängender. Der Gambiamann glaubte, Frank Davenports Stimme zu erkennen. „Was ist los?" „Sieh selbst." Der schwarze Herkules huschte zwischen den Schlafenden hindurch. Davenport hatte sich halb aufgerichtet und wandte ihm den Rücken zu. Aber im nächsten Moment wirbelte er herum, der Schaft einer Muskete krachte gegen Batutis Brust. Der Gambiamann taumelte, er war zu überrascht, um an Gegenwehr zu denken. Davenport nutzte die Schwäche mitleidlos, führte einen zweiten kräftigen Hieb gegen die Magengrube seines Opfers und ließ einen Ellenbogen in dessen Nacken krachen. Batuti brach in die Knie. Der Profos vernahm ein Ächzen und den dumpfen Klang der Schläge. „Halt!" erklang sein scharfer Ausruf. „Stehenbleiben!" Hatte er bislang die glimmende Lunte mit der hohlen Hand abgeschirmt, so tanzte der winzige Funke jetzt wie ein Glühwürmchen in der Dunkelheit. Aber noch ehe Carberry feuern konnte, krachte ein Pistolenschuß. Im flüchtigen Widerschein des Mün-
dungsblitzes glaubte er Alec Morris zu erkennen. Das tödliche Blei pfiff verdammt nahe an seinem Kopf vorbei. Der Profos stieß eine deftige Verwünschung aus. Fünf schemenhafte Gestalten verschwanden zwischen den Bäumen. Er schoß blindlings hinter ihnen her. Die abrupt aus ihren Träumen aufgeschreckten Arwenacks rissen die Waffen hoch. Da sich ihnen kein Ziel bot, bestürmten sie Carberry mit Fragen. „Ach, leckt mich doch." Anders wußte er sich der Meute nicht zu erwehren, denn als erstes lud er die Muskete nach. Also suchten sich die Mannen ein neues Opfer. Batuti, der sich schwankend wieder aufgerappelt hatte, mußte herhalten. Als dann endlich auffiel, daß Davenport, Godfrey, Morris und die beiden Burschen verschwunden waren, trat Ruhe ein. „Sie haben vorgezogen, das sinkende Schiff zu verlassen", behauptete Higgy. „Ich glaube nicht, daß sie abgehauen sind", sagte Hasard. „Die Kerle wollen zu den Indianern, weil sie Gold wittern. Und sie wollen uns zuvorkommen." „Dann Gnade ihnen Gott", murmelte Big Old Shane. Das dumpfe, einschläfernde Trommeln hatte aufgehört. Mit Sicherheit waren auch die Indianer durch die Schüsse aufgeschreckt worden. Sollten sie bislang nichts von ihren Verfolgern geahnt haben, so war dieser Vorteil für die Arwenacks nun jedoch dahin. Es galt, auf der Hut zu sein. „Wenn ich die Rübenschweine erwische, können sie auf eine gehörige Abreibung gefaßt sein", grollte Carberry. In Vorfreude auf eine angemessene Prügelei rieb er sich die mächtigen Pranken. Für den Rest der Nacht war an
21 Schlaf kaum mehr zu denken. So unruhige Stunden wie die folgenden hatten die Arwenacks schon lange nicht mehr hinter sich, denn auf einmal war der Wald voller unheimlicher Laute. Als endlich der Morgen graute und der erste Streifen silberner Helligkeit über die Kimm heraufstieg, wirkte das beinahe wie eine Erlösung. Nicht allzu weit entfernt fielen Schüsse. 4. Mehrmals hatte Benjamin Dunsey versucht, den Rothäuten zu entwischen, sobald er sich unbeobachtet fühlte. Aber die Krieger waren flinker als er. Sie hatten ihm wehgetan, ohne ihn allerdings zu verletzen. Beabsichtigten sie nicht, ihre Gefangenen zu töten? „Wenigstens vorerst nicht", raunte Poul Miller, der Decksmann von der „Explorer", den die Wilden ebenfalls erwischt hatten. „Bereite dir keine Sorgen, Junge, wir schaffen das schon." Benjamin nickte schwer. Ein Rippenstoß ließ ihn vorwärtstaumeln. Gehorsam trottete er hinter dem seltsamen Gestell her, auf dem ein Toter festgebunden war - ein Junge, fast noch jünger als Benjamin selbst. Unschwer war zu erkennen, daß ihn eine Kugel vom Leben zum Tod gebracht hatte. Benjamin mußte an seinen Vater denken, den er von einem Pfeil getroffen hatte fallen sehen. Unvermittelt, ohne es eigentlich bewußt zu wollen, blieb er stehen. „Wir haben euch nichts getan!" schrie er den hinter ihm folgenden Wilden an. „Wir sind nicht gegen euch, aber ihr habt uns überfallen und . . . " Der Indianer schlug ihm mit dem
Handrücken ins Gesicht. Er sagte Worte, die Benjamin nicht verstand, doch das Funkeln seiner Augen verriet genug. Selbst wenn du dich in ein Mauseloch verkriechen könntest, zeige nie einem anderen deine Angst, hatte Benjamins Vater einmal gesagt. Das war wohl auch die einzige Art, den Rothäuten zu begegnen. „Ich gehe nicht weiter. Keinen Schritt, versteht ihr?" Zwei Rothäute packten Benjamin an den Handgelenken und schleiften ihn hinter sich her. Er schrie auf und versuchte vergeblich, sich aus dem Griff zu befreien. In dem Moment stürzte sich Miller auf die Indianer. Obwohl seine Hände mit Hanfstricken zusammengebunden waren, schlug er zu. Der verzweifelte Angriff brachte ihm jedoch nur eine klaffende Platzwunde über der rechten Augenbraue ein. Weiter ging es durch sumpfiges Gelände und später am Ufer eines ausgedehnten Sees entlang. Wenigstens hatten die Rothäute nichts dagegen, daß ihre Gefangenen hin und wieder miteinander redeten. „Mein Vater wird nichts unversucht lassen", sagte Benjamin voller Hoffnung. „Auf den Seewolf können wir uns auch verlassen", erwiderte Miller. „Ich frage mich allerdings, warum nur wir beiden gefangen wurden." Der Junge warf ihm einen entsetzten Blick zu. „Du meinst . . . Das glaube ich nicht. Alle sind nicht tot." „Das habe ich nicht behauptet, Ben. Zwei tote Indianer, zwei Gefangene, verstehst du? Und sieh dir den Jungen an. Er war höchstens so alt wie du." „Willst du damit sagen, sie werden uns . . . ? " Benjamin schluckte krampfhaft.
22 „Ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, daß Gott mit uns ist." Felder wogten zur Linken. Kurz darauf entdeckte Benjamin Dunsay den ersten mannsdicken und gut vier Yards hohen Pfahl, von dem herab viele geschnitzte Fratzen ihn anglotzten. Er konnte sich eines Schauders nicht erwehren. Mehrere solcher Pfähle säumten den Weg. Einige waren an die acht Yards hoch und entsprechend dick. Benjamin erkannte monströs gebogene Vogelschnäbel, vielarmige Ungeheuer und Kreaturen, wie sie nur Alpträume entsprungen sein konnten. Stellten sie eine Art stummer Wächter dar? Hinter ihnen erhoben sich jedenfalls die Behausungen der Wilden - runde, aus Rindenstücken zusammengefügte Hütten, die aussahen, als könnten sie weder Wind noch Wetter lange trotzen. Sie bildeten einen großen Kreis. Drei unterschiedlich hohe, grellbemalte Pfähle erhoben sich am Rand des Platzes. Ihre Schnitzereien blickten in alle vier Himmelsrichtungen. Kindergeschrei schreckte Benjamin aus seinen Betrachtungen auf. Nicht anders als Kinder in England auch, tollten sie heran. Doch dann sahen sie die Toten und verstummten. Der Alte mit dem Federschmuck im Haar sagte einige herrische Worte. Die Kinder zogen sich daraufhin in die Hütten zurück. Vor den drei Pfählen ließen die Indianer ihre Toten auf den Boden gleiten. Von allen Seiten strömten Krieger herbei. Auch Frauen waren unter ihnen. „Der Alte scheint der Häuptling zu sein", raunte Poul Miller. „Der was?" fragte Benjamin zurück. „Häuptling. Soviel ich weiß, nennen sich die Anführer der Eingeborenen so."
Benjamin Dunsay erhielt keine Gelegenheit zu weiteren Fragen, denn die Indianer zerrten Miller davon. Anschließend begannen sie zu tanzen. Benjamin hatte nie auch nur etwas Ähnliches gesehen. Fasziniert beobachtete er die Indianer, die in gebückter Haltung abwechselnd auf dem einen und dann auf dem anderen Bein im Kreis hüpften und dabei schrille, durchdringende Schreie ausstießen. Je länger der Tanz dauerte, desto mehr Rothäute beteiligten sich daran. Sie stimmten einen rhythmischen, mitreißenden Gesang an. Benjamin ertappte sich dabei, daß er selbst begann, sich in dem Takt zu wiegen. Die Füße der Wilden stampften den Boden. Über den Knöcheln trugen sie Manschetten aus Federn und kleinen, helltönenden Klangkörpern. Trommeln fielen in den Gesang ein. Niemand schien auf Benjamin zu achten, der viel zu ergriffen war, um an Flucht zu denken. Andererseits wäre er wohl nicht weit gelangt. Sogar hinter ihm und zwischen den Hütten standen Indianer. Es waren mindestens vierzig bewaffnete Krieger und ebenso viele Frauen. Als der Häuptling die Arme hob, verstummten alle. Er hielt eine kurze, abgehackt klingende Ansprache, während der er mehrmals auf die Toten und auch auf Benjamin deutete. Dann tanzten sie wieder, und die Trommeln dröhnten hektischer als zuvor. Eine Frau sank vor dem erschossenen Indianerjungen auf die Knie, legte ihre Hände an seine Schläfen und berührte mit ihrer Stirn sanft seine Brust. Erst nach einer Weile wich sie zurück, richtete den Blick zum Zenit und stieß die gespreizten Hände hoch. Sie schrie ein Wort. Immer und immer wieder. Benjamin verstand, daß sie um ih-
23 ren Sohn trauerte. Er wehrte sich nicht, als der Häuptling ihn bei den Schultern nahm und zu der Frau führte. „Squaw", sagte der Indianer. „Squaw Nutschatschi." Offenbar bedeutete das soviel wie Frau, und Nutschatschi war ihr Name. „Dunsay." Benjamin deutete auf sich selbst. Waren die Rothäute gar nicht so wild und blutrünstig, wie es den Anschein gehabt hatte? „Dan-Seh", wiederholte der Häuptling. Er hatte beide Fäuste auf die Brust gepreßt und streckte nun die Arme blitzschnell nach außen. Die Geste bedeutete zweifellos eine Verneinung. Anschließend trat er zwischen Ben und den toten Jungen und legte jedem eine Hand auf die Stirn. „Tschawaeh." Benjamin mußte ihm in die Augen sehen und den Namen wiederholen: „Tschawaeh." Aber erst als ihn die Squaw zu einer der Hütten mitnahm, verstand Dunsay. Die Indianer hatten ihn entführt, damit der den Platz des getöteten Jungen einnahm. Er sollte für immer bei ihnen leben. Und Poul Miller? Mit ihm hatten die Rothäute offensichtlich weniger angenehmes vor. Der Tanz der Krieger war schneller geworden, als steigerten sie sich in eine Art Rauschzustand. Ununterbrochen erklangen die Glöckchen an ihren Füßen, und die Trommeln bildeten eine dumpfe Untermalung. Nutschatschi versuchte gar nicht erst, auf ihren neuen Sohn einzureden. Vielmehr hielt sie ihm eine flache Tonschüssel hin, die einen undefinierbaren Brei aus Getreidekörnern und anderen Feldfrüchten enthielt. Sie bedeutete ihm, zu essen. Das mit Wasser verquollene Gemisch schmeckte nicht übel. Zu-
dem war Benjamin hungrig. Mit den Fingern stopfte er den Brei in sich hinein. Die Squaw betastete inzwischen seine Kleidung. Besonders seine halbhohen Schaftstiefel hatten es ihr angetan. Die Indianer trugen leichte, aus Fellen genähte Schuhe. Ben stellte die leere Tonschüssel auf den Boden. Die Portion hatte gerade ausgereicht, ihn zu sättigen. „Und nun?" fragte er. „Ich will eure Gastfreundschaft nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Das verstehst du doch, oder?" Nutschatschi verstand nicht. Wie sollte sie auch. Abschätzend taxierte sie ihren neuen Sohn. „Du starrst mich an, als wären wir auf dem Viehmarkt von Westham", bemerkte Benjamin trotzig. „Ich frage mich, was du sagst, wenn ich einfach gehe." Er gelangte nicht weit. Vor der Hütte standen Krieger, die ihm den Weg versperrten. Doch die Squaw rief etwas und die Rothäute hinderten ihn nicht länger. Die Nacht war hereingebrochen. Jetzt die Flucht zu versuchen, hielt Benjamin ohnehin für sinnlos. Er würde sich in der Finsternis hoffnungslos verirren. Und ohne Poul Miller würde er sowieso nicht Fersengeld geben. In der Mitte des Platzes loderte ein großes Feuer, dessen flackernder Widerschein die Hütten umspielte. Die älteren Indianer saßen beieinander, die Beine untergeschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Gesichter wirkten wie aus Stein gemeißelt. Die jüngeren Männer tanzten noch immer zum Klang der Trommeln. Ihr Tanz wirkte bedrohlich und faszinierend zugleich. Benjamin spürte erneut, daß ihn die monotone Melodie in ihren Bann zog. Mit nach hinten gebundenen Ar-
24 men hing Miller an einem der Pfähle. brannt hatte, waren die Miller zugeSchon die Art, wie ihn die Indianer fügten Martern. Alles, was danach gefesselt hatten, mußte ihm folgte, schien keine Bedeutung gehabt zu haben. Dabei entsann er sich Schmerzen bereiten. Er trug nur noch Unterhosen, alles nicht einmal, daß die Rothäute ihn andere hatten ihm die Eingeborenen ausgezogen hatten. Jedenfalls trug er abgenommen. Und er blutete aus vie- jetzt einen ledernen Lendenschurz, len kleinen Wunden. Hin und wieder und seine eigenen Kleidungsstücke schleuderte einer der Tanzenden aus waren verschwunden. Den Tränen nahe, richtete Benjader Bewegung heraus ein Steinbeil. Die scharfen Äxte fügten Miller aber min sich auf, bemüht, jedes verrätelediglich oberflächliche Schnittwun- rische Geräusch zu vermeiden. Neben ihm schlief Nutschatschi. den zu. Immer noch hallte das dumpfe In ohnmächtigem Zorn ballte Benjamin die Hände zu Fäusten. Die bei- Tamtam durch das Indianerdorf. Verden Toten waren zwischen den Pfäh- geblich spähte der Junge durch die len aufgebahrt. Die Indianer wollten Ritzen nach draußen, er sah nicht Rache, sie würden Miller töten. Aber mehr als hin und wieder einen der Tanzenden. zuvor quälten sie ihn. Benjamins Zorn schlug in Haß um. Hatten die Rothäute Poul Miller inDabei war er eben noch drauf und zwischen getötet? Ben empfand plötzdran gewesen, die Rothäute besser lich eine schreckliche Angst davor, einzuschätzen. Daß Frank Davenport den Indianern allein ausgeliefert zu von blutrünstigen Wilden gesprochen sein. Was würde geschehen, falls sein hatte, stimmte also doch. Vater tot war und der Seewolf keinen Nach den Steinbeilen folgten Rettungstrupp aussandte, oder wenn Pfeile. Nicht einmal eine Fingerbreite ihn die Männer von den Schiffen neben Millers Gesicht bohrten sie nicht fanden? Würde er jemals seine sich ins Holz. Bald war er nicht mehr Herkunft vergessen können und so in der Lage, den Kopf zu drehen. werden wie die Wilden? Er schrie auf, als der erste Pfeil seiDie schlagartig eintretende Stille nen Arm festnagelte. Von da an zeig- schien seine schlimmsten Befürchten die Indianer Verachtung. tungen zu bestätigen, sie wirkte noch Immer öfter wurde Miller getrof- unheimlicher als das stete Trommeln. fen. Er schrie nicht mehr, er hatte zu Schemen gleich huschten die Krieger beten begonnen. davon. Irgendwann hielt Benjamin DunWar Philip Hasard Killigrew mit say den Anblick nicht mehr aus. Wie seinen Arwenacks im Anmarsch? von Sinnen hetzte er davon, und als Benjamin mußte es einfach wissen, er halbwegs wieder klar denken denn vielleicht gelang es ihm, die konnte, lag er der Länge nach hinge- Männer rechtzeitig zu warnen. streckt auf einem Lager aus Fellen Nutschatschi schien fest zu schlaund Decken. Es war dunkel um ihn fen. Ben warf ihr einen langen forher, aber undeutlich erkannte Ben schenden Blick zu, bevor er die Hütte durch Ritzen in der Hütte den von verließ. Zu seiner eigenen Überradraußen hereindringenden Feuer- schung gab es keine Wachen. schein. Die Nacht war nahezu sternenlos. Vergeblich versuchte er sich zu er- Lediglich ein fahler Hof ließ den innern. Das letzte, was sich in seinem Mond hinter den Wolken erahnen. Gedächtnis unauslöschlich einge- Tief atmete Benjamin durch. Wären
25 nicht das allmählich in sich zusammenfallende Feuer, die Rindenhütten und die geschnitzten Pfähle gewesen, deren Fratzen in der Dunkelheit zu leben schienen, er hätte an einen bösen Traum geglaubt und gehofft, sehr schnell daraus aufzuwachen. Vergeblich versuchte er herauszufinden, wohin die Indianer verschwunden waren. Der nahe Wald bildete eine schweigende, düstere Mauer. Vieles in der Neuen Welt hatte sich Benjamin Dunsay anders vorgestellt. Er fürchtete die Fremdartigkeit. „Tschawaeh", flüsterte es hinter ihm. Nutschatschi war ihm leise gefolgt. Ihre braunen Rehaugen blickten so sanft, als gäbe es weder Haß noch Mord auf der Welt. Zaghaft tasteten ihre Fingerspitzen über Benjamins nackte Schultern, berührten seine Augen, dann zog sie ihn an sich. Ben wußte selbst nicht, warum er es geschehen ließ, obwohl sich alles in ihm gegen die Berührung sträubte. Vielleicht, weil er bei der Squaw Geborgenheit fand.
Frank Davenport empfand Genugtuung, als er den schwarzhäutigen Riesen mit der Muskete niederschlug. Daß sich fünf Mann nicht still und heimlich verdrücken konnten, war ihm von Anfang an klargewesen. Aber daß Alec seine Pistole auf den Profos abfeuerte, somit alle Schläfer aufschreckte und womöglich die Wilden warnte, das hatte er nicht vorausgesehen. Ebensowenig, daß Carberry daraufhin seine Muskete benutzte. Die schwere Bleikugel schlug keine zwei Yards neben Davenport in einen Baumstamm und plattete sich auf. Augenblicke später verschluckte die Finsternis die drei „Durchlauch-
ten" und die beiden Kerls, die sich von Davenports Argumenten nur allzu leicht hatten einwickeln lassen. Wer kriegte nicht große Augen, eine trockene Kehle und schweißnasse Hände, sobald von unermeßlichen Goldschätzen die Rede war? Im Laufschritt hetzte Davenport tiefer in den Wald, bis er sicher war, daß ihn die Arwenacks nicht verfolgten. William Godfrey blieb dicht hinter ihm, die anderen hatten sich querab in die Büsche geschlagen. Mehr schlecht als recht stolperte Frank weiter. Er sah kaum die Hand vor Augen. Kräftige Äste peitschten ihm ins Gesicht oder zerrissen seine Kleidung, aber auch Godfrey erging es nicht anders, wie sein unterdrücktes Fluchen bewies. Endlich, nach einer Zeitspanne, die wie eine Ewigkeit anmutete, traten die Bäume weiter auseinander. Der See schimmerte zwischen den Stämmen hindurch. Schätzungsweise sieben- bis achthundert Yards entfernt lagerten die Arwenacks. Da von ihnen nichts zu sehen war, durfte Davenport erst einmal aufatmen. Denn ihretwegen bereitete er sich Sorgen, nicht wegen der Indianer. Killigrew, im Besitz eines Kaperbriefs Ihrer Majestät, jagte zwar den Spaniern ganze Schiffsladungen voll Gold ab, doch den Wilden gegenüber hätte er Skrupel empfunden. Für Davenport war das schlichtweg verrückt. Woher hatten denn die Spanier all das Gold und Silber? Von den Eingeborenen weiter im Süden der Neuen Welt. Ein zischender Laut durchschnitt die Stille. Davenport antwortete auf dieselbe Weise. Gleich darauf tauchten Brian O'Nelly und Darren Wall auf. Fehlte nur noch Alec. Und der ließ ebenfalls nicht mehr lange auf sich warten.
26 Als Frank Davenport den eigen„Idiot!" empfing Davenport den tümlichen Glanz bemerkte, hätte Kumpan. „Mußtest du schießen?" „Carberry hätte versucht, uns zu- nichts und niemand ihn zurückhalten rückzuhalten", rechtfertigte sich können. Ohne noch an Gefahren zu denken, hastete er zu einem der Morris. „Na und? Wenn du getroffen hät- Pfähle. Im Laufen wechselte er die test, dürften wir uns bei den Schiffen Pistole in die linke Hand und zog mit nicht mehr blicken lassen. Oder bau- der Rechten sein Messer. Er hatte sich nicht getäuscht. Über melst du gern an einer Rah?" „Ich habe danebengezielt", wider- einem kantig gebogenen Vogelschnasprach Morris. „Was willst du also?" bel glitzerten Augen aus Gold. Mit „Wenn das so weitergeht, bringen zitternden Fingern mühte er sich ab, wir uns noch selbst um jeden Reich- sie auszustechen. Daß das Gold nur in tum", brauste Godfrey auf. „Wir einer dünnen Auflage auf das Holz kämpfen gegen die Wilden, nicht ge- aufgebracht worden war, störte ihn herzlich wenig. geneinander." Sie hielten sich nahe am Ufer und „Alec, William, auf was wartet ihr gelangten auf diese Weise recht gut noch?" zischte er. voran. Nach ungefähr zwei Meilen Ein Aufschrei, der abrupt abbrach, stießen sie auf die ersten Felder. Zu- antwortete ihm. Darren Wall taugleich gewahrten sie in einiger Ent- melte, aus seiner Brust ragte plötzfernung schwachen Feuerschein. lich der Schaft eines gefiederten Eine Zeitlang beobachteten sie, bis Pfeils. Langsam sackte er in sich zusie sicher waren, daß das Feuer lang- sammen. sam erlosch. Frank Davenport triumDavenports goldumnebelter Verphierte. Wenn ihnen das Glück wei- stand brauchte einige Sekunden, um terhin treu blieb, konnten sie die Wil- zu begreifen, was sich abspielte. Aber den im Schlaf überraschen. Er voll- da stand bereits einer der Wilden vor führte die Bewegung des Halsab- ihm, als wäre er nur hinter den schneidens. Alec Morris grinste Schnitzereien hervorgetreten. verstehend. Instinktiv riß Frank den Abzug der Die Waffen schußbereit, eilten sie Pistole durch. Der Bursche vor ihm weiter. Überraschend schnell zog der wurde wie von der Faust eines Riesen Morgen herauf, im Osten zeichnete zurückkatapultiert. Er würde nie wiesich bereits ein heller Streif über den der aufstehen. Bergen ab. Die nutzlos gewordene Waffe Im Uferdickicht raschelte es, doch schleuderte Davenport dem nächsten nur ein Schwarm Enten stieg schwer- Angreifer ins Gesicht, bevor er sich fällig auf. Vor dem heller werdenden nur mehr mit dem Messer seiner Hintergrund ragten seltsame Pfähle Haut wehrte. auf. Sie trugen vielfältige, furchteinEs waren zu viele Gegner. flößende Skulpturen und sollten Zwei oder drei der Kerle konnte er wohl allein durch ihre abschreckende verletzen, bevor andere ihm die Wirkung ungebetene Besucher fern- Klinge entwanden. Frank brüllte wie halten. ein Stier, trat und schlug wild um Manche der geschnitzten Krea- sich, doch es half ihm wenig. Die Inturen wirkten wie Ausgeburten der dianer stießen ihn zu Boden, zerrten Hölle. Aus leuchtenden Augen schie- ihm die Arme auf den Rücken und nen sie jeden anzustarren, der an ih- fesselten ihn. Dann stellten sie ihn nen vorbeischritt. wieder auf die Beine. An die zweite
27 Klinge im Stiefelschaft gelangte er nicht mehr heran. „Ich weiß nicht, was ihr wollt." Davenport mußte sich anstrengen, um überhaupt ein verständliches Wort herauszubringen, so tief saß ihm der Schreck in allen Gliedern. „Wir können miteinander verhandeln. Ihr kriegt Schiffe und Gefangene, dafür laßt ihr mich laufen." Die Wilden hörten gar nicht hin. Unsanft stießen sie ihn vorwärts. Darran Wall war tot. Brian O'Nelly lag einige Dutzend Schritte entfernt, er hatte offensichtlich noch zu fliehen versucht. Sir William Godfrey war den Rothäuten ebenfalls in die Hände gefallen. „Sie verstehen dich nicht", raunte er Davenport zu. „Auch dein Spanisch nicht, denn sicher haben sie noch nie einen Spanier gesehen." Nur Alec Morris fehlte. Immer wieder blickte sich Frank suchend um, doch der junge Schnösel war und blieb verschwunden. Ob er Hilfe holte? Frank Davenport war sich dessen gar nicht so sicher. 5. Alec Morris war ein Großmaul und es entsprach ganz seinem Naturell, sich aus bedrohlichen Situationen zurückzuziehen, statt zu kämpfen und mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Diesmal hatte er den Vorteil, daß er auf die Indianer aufmerksam wurde, ehe sie angriffen. Die Gefährten starrten zu Davenport hinüber und hatten ebenfalls nur noch das Gold im Kopf. Sie bemerkten nicht einmal, daß Morris sich herumwarf und floh. Gleichzeitig griffen die Wilden an. Morris schlug Haken wie ein Hase. Etliche Pfeile verfehlten ihn nur um
Haaresbreite, und als das Wasser unter seinen Stiefeln aufspritzte, ließ er sich einfach fallen. Das hohe Schilf entzog ihn sofort allen Blicken. In gebückter Haltung, bis zur Hüfte im Wasser, hastete er weiter. Es kümmerte ihn wenig, daß sein Pulver naß wurde und nicht mehr zu gebrauchen war. Zurückzublicken wagte er nicht, er wußte auch so, daß die Indianer hinter ihm her waren. Endlich lockerte sich der Pflanzenwuchs auf. Alec Morris pumpte die Lungen voll Luft, tauchte unter und zog sich über den schlammigen Boden vorwärts. Er schaffte höchstens fünfzehn Yards auf diese Weise, bis das Rauschen hinter seinen Schläfen zum wahren Orkan anschwoll und sein Herz wie wild zu pochen begann. Schier unwiderstehlich wurde der Drang, erneut einzuatmen. Morris hatte keine andere Wahl als aufzutauchen. Er spürte, daß er die Oberfläche durchstieß, und schnappte gierig nach Luft. Hustenreiz quälte ihn. Durch Wasserschleier hindurch sah er schemenhaft die Verfolger. Sie suchten ihn noch im Ufergestrüpp. Erneut tauchte er, ließ die letzten Pflanzen hinter sich und konnte endlich frei schwimmen. Der See war nicht tief, aber die Düsternis, die nur zögernd dem beginnenden Morgen wich, half ihm. Morris strebte weiter hinaus und wechselte dann, mehr als dreihundert Yards vom Ufer entfernt, die Richtung. Er konnte erkennen, daß die Indianer abzogen und zwei Gefangene mit sich führten. Morris fror allmählich. Das Wasser war unangenehm kühl. Hinzu kam die frische Brise, die wie mit Nadeln in seine Haut stach. Trotzdem schwamm er nur zögernd ans Ufer zurück. Mehrmals hielt er inne und sicherte nach allen Seiten. Aber entweder glaubten die Wilden, daß er er-
28 trunken sei, oder ein Gefangener mehr oder weniger bedeutete ihnen nichts. Als er endlich ans Ufer watete, stieg die Sonne soeben über dem fernen Horizont herauf. Da die klamme Nässe ihm wenig behagte, wand er erst seine Kleider aus, bevor er sich um die Pistole kümmerte. Es hatte allerdings wenig Sinn, die Waffe wieder in Ordnung zu bringen, denn auch das Pulver in der Pulverflasche war naß geworden. Um die Kälte zu vertreiben, verfiel Morris in einen schnellen Laufschritt. „So schnell haben wir dich nicht zurückerwartet. Gefällt es dir bei den Indianern nicht? Und wo sind deine Kumpane?" Morris konnte zwar die Richtung feststellen, aus der die spöttische Anrede erklang, aber er vermochte beim besten Willen niemanden zu entdekken. „Keine Angst", sagte der unsichtbar bleibende Sprecher. „Diesmal sind keine Indianer in der Nähe." „Ihr müßt mir helfen." Irgendwo im dichten Jungholz des Waldrands hielten sich die Arwenacks verborgen. Zögernd ging Morris auf die Bäume zu. Es fiel ihm verdammt schwer, ausgerechnet Killigrew und dessen Mannen zu bitten. „Wer sagt, daß wir euch Halunken überhaupt helfen wollen?" erklang es prompt. „Was geschehen ist, hat sich jeder selbst zuzuschreiben." „O'Nelly und Wall sind tot", erklärte der junge Schnösel. „Sir William und Frank Davenport wurden von den Wilden verschleppt. Sie werden beide töten." Er drang in das Dickicht ein und betrat den Hochwald. Das Licht der Morgensonne vertrieb die letzten Schatten. Alec Morris drehte sich einmal um sich selbst.
„Wo steckt ihr?" rief er verhalten. Leises Lachen antwortete ihm. Er konnte es nicht lokalisieren. Augenblicke später lag er zitternd auf dem Boden, weil neben ihm etwas gegen einen Stamm gekracht war. Jemand hatte einen dürren, unterarmlangen Ast geworfen. Bevor Morris sich wieder aufraffte, kletterten zwei Arwenacks aus ihren Verstecken in luftiger Höhe hinunter. Er mußte sich eingestehen, daß er sie im Geäst wohl zuletzt gesucht hätte. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, als sich der Profos breitbeinig vor ihm aufbaute und sein mächtiges Rammkinn herausfordernd vorschob. „Sie sind am Ende mit Ihrer Weisheit", grollte Edwin Carberry. „Und nun verlangen Sie, daß wir die Suppe auslöffeln." „Die Wilden . . . " „Humbug", unterbrach der Profos mit einer heftigen Handbewegung. „Die wahren Wilden sind jene, die auf die eigenen Leute schießen." Ehe Alec Morris es sich versah oder überhaupt zu einer abwehrenden Reaktion fähig war, schlug der berüchtigte Profoshammer zu. Nicht zu fest wohlgemerkt, doch Carberrys Faust traf genau den Punkt. Der Adlige wurde zurückkatapultiert und landete unsanft auf seinem Hintern zwischen knorrigen Wurzelstrünken. Zufrieden rieb sich der Profos die Hände. „Nachdem das erledigt ist, können wir zum gemütlichen Teil übergehen", ließ er die anderen wissen, die endlich aus dem Dickicht auftauchten. Alec Morris richtete sich taumelnd wieder auf. Obwohl es in ihm brodelte wie in einem Vulkan, beherrschte er sich. Carberry übersah er jedoch geflissentlich, als er sich an den Seewolf wandte.
29 „Was ist, Sir, kann ich mit Ihrem Beistand rechnen?" Die Dinge hatten sich ein wenig anders entwickelt, als Hasard sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Aber das war den „Durchlauchten" selbst anzulasten. Der Seewolf nickte nur. „Greifen wir sofort an?" wollte Morris wissen. Burschen wie er lernten offensichtlich nie dazu. Hasard ahnte, daß sie nicht bis zum Abend warten durften, denn dann lebten die Gefangenen vielleicht nicht mehr. Doch die Entscheidung darüber lag nicht allein bei ihm. „Ein offenes Vorgehen birgt zu viele Risiken", sagte der Profos. „Selbst wenn wir in der Überzahl wären, hätten die Indianer hinreichend Zeit, ihre Opfer zu töten." „Wir sind in der Überzahl", bemerkte Ferris Tucker und klopfte vielsagend auf den Leinensack mit den Flaschenbomben und chinesischen Brandsätzen. „Bevor wir etwas unternehmen, sollten wir die ungefähre Stärke des Gegners kennen", sagte Big Old Shane, der wie Batuti seinen Langbogen aus englischer Eibe mitführte. Er wäre jede Wette darauf eingegangen, daß diese Waffe den indianischen überlegen war. „Das ist ganz meine Meinung", pflichtete Hasard bei. „Wir schlagen einen weiten Bogen und schleichen uns an das Dorf von Süden heran. Die Position dürfte durch den flüchtigen Feuerschein während der Nacht hinreichend klar sein."
Frank Davenport zerbiß einen wüsten Fluch zwischen den Zähnen, als er die Indianersiedlung endlich vor sich sah. Wütend zerrte er an seinen Fesseln, doch die Stricke schnitten
nur noch tiefer ins Fleisch. Er war den Wilden hilflos ausgeliefert. „Spar dir deine Kräfte für später", riet Godfrey zynisch. „Wer weiß, was sie mit uns vorhaben." Davenport verwünschte Gott und die Welt. Aber als die Indianer Godfrey und ihn zu den „Pfählen" zerrten und er den Bedauernswerten erkannte, der dort in den Fesseln hing, blieben ihm die Flüche in der Kehle stecken. Poul Miller, Decksmann auf der „Explorer", war tot. Davenport fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Der Anblick von Millers schrecklichen Wunden lähmte ihn. Erst als er sich selbst kaum noch bewegen konnte und begriff, daß ihm kein anderes Schicksal bevorstand, begann er wie am" Spieß zu brüllen. Die Wilden hatten den Decksmann mit Pfeilen bespickt, hatten ihm glühende Äste ins Fleisch gebohrt, seine Mundwinkel reichten jetzt fast bis zu den Ohren . . . Davenport mußte sich übergeben, so grauenvoll waren die sichtbaren Spuren der Martern. Danach schrie er zwar nicht mehr, doch er zerrte wie besessen an seinen Fesseln. „Es ist sinnlos", murmelte Sir William neben ihm. „Wir können nur hoffen, daß es schnell geht." „Wo ist Alec?" fragte Davenport und hegte eine aberwitzige Hoffnung. „Vielleicht tot", erwiderte Godfrey. „Ich weiß es nicht." „Aber Killigrew wird uns hier herausholen. Er muß es tun." Frank Davenport erhielt keine Antwort. Und das war schlimmer, als hätte sein Kumpan erklärt, daß der Seewolf nicht die geringste Veranlassung hatte, ihnen beizustehen. Die Indianer ließen sie schmoren. Niemand achtete auf sie. Lediglich Kinder erschienen und warfen mit Dreck und Steinen, zogen sich aber schnell wieder zurück. ,,Da, rechts, neben der Hütte", stieß
30 Godfrey plötzlich hervor, „das ist doch ein Weißer!" Tatsächlich stand da ein Junge, der zwar den Lendenschurz der Wilden trug, dessen helle Hautfarbe ihn aber unweigerlich verriet. Er starrte stumm zu ihnen. „He!" rief Davenport, gerade so laut, daß der Junge ihn verstehen mußte. „Komm her!" Zögernd erst und scheue, furchtsame Blicke nach allen Seiten werfend, trat dann der Bursche tatsächlich näher. „Wer bist du?" „Benjamin Dunsay, Sir." Davenport war wie vom Donner gerührt. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, den Auswanderersohn, nach dem die Arwenacks suchten, so vorzufinden. Es sah nicht aus, als hätten ihm die Indianer auch nur ein Haar gekrümmt. „Du mußt uns hier heraushelfen, Ben. Bevor die Wilden uns wie Miller erledigen." Wieder blickte sich Dunsay aufmerksam um. „Ich werd's versuchen, später, wenn . . . " „Jetzt!" schnaubte Davenport. „Sofort! In meinem linken Stiefelschaft steckt ein Messer, schneide die Fesseln durch." „Mach schon!" drängte auch Sir William. „Niemand achtet auf uns." Mit zitternden Fingern zog Ben das Messer aus Davenports Stiefelschaft und begann, die Stricke zu kappen. „Gut so, Junge, sehen wir zu, daß wir verschwinden." Urplötzlich fühlte sich Benjamin von hinten gepackt und hochgehoben. Eine kräftige Hand entriß ihm das Messer, er wurde nach vorn gestoßen und stürzte. Sich herumwälzend, begegnete er dem starren Blick des Häuptlings. Der Tonfall des Indianers offenbarte maßlosen Zorn. Aber nur ein
einziges Wort verstand Ben: „Tschawaeh." Der Häuptling sagte es mehrmals. Anschließend spie er aus. Zwei Krieger stürzten sich auf Benjamin und hielten ihn fest. Ihm war klar, daß ihn der Häuptling verstoßen hatte. Davenport nutzte das kurze Zwischenspiel, um sich ganz zu befreien. Das Messer lag neben ihm. Keiner der Wilden würde wagen, die Hand gegen ihn zu erheben, wenn er den Alten in seine Gewalt brachte. Jäh bückte er sich, seine Finger schlossen sich um den hölzernen Knauf. Doch zugleich stellte der Häuptling seinen Fuß auf die Klinge. Die Krieger umringten Davenport. Ihre Beile redeten eine deutliche Sprache. Davenport wußte, wann er verloren hatte. Jede unbedachte Bewegung würde ihm jetzt den raschen Tod einbringen. Aber er wollte nicht sterben, bevor er das Gold der Indianer wenigstens in Händen gehalten hatte. Mit dröhnender Stimme erteilte der Häuptling Anweisungen. „Was tun sie?" fragte Davenport. „Keine Ahnung", erwiderte Benjamin. Zwanzig Schritte von der Feuerstelle entfernt, schlugen die Indianer einen Pflock in den Boden. Sie banden zwei Leinen daran fest, jede ungefähr acht Yards lang, und legten sie in entgegengesetzte Richtungen aus. Davenport wurde nach vorn gezerrt. Noch hatte er keine Ahnung, was die Zeremonie bedeuten sollte, aber dann, als die Wilden ihm einen Tampen um den Leib legten und verknoteten, dämmerte ihm die Erkenntnis. Er würde kämpfen müssen. Vielleicht nicht nur um sein Leben, sondern auch um das von Godfrey und Benjamin. Sein Gegner war ein kräftiger, stämmiger Bursche, der ihn fast um
31 eine Handbreite überragte. Die Haut des Wilden glänzte ölig, als hätte er sich eben noch mit Fett eingerieben. Waffen trug er nicht. Davenport registrierte das mit Erstaunen. Immerhin durfte er sich eine gewisse Chance ausrechnen, falls der Zweikampf mit bloßen Fäusten ausgetragen wurde. Er hatte schon bei mancher Kneipenschlägerei kräftig mitgemischt und dabei üble Tricks gelernt, wie man seine Gegner wirkungsvoll aufs Kreuz legte. Auf diese Weise hatte er hin und wieder Spielschulden umgangen. Zuletzt, wenn Würfel oder Karten für ihn schlecht standen, und das war häufig der Fall gewesen, hatte er solche Schlägereien sogar vorsätzlich provoziert. Aber England lag weit zurück. Aufmerksam taxierte Davenport seinen Gegner. Die Leinen dienten nur dazu, beide innerhalb eines gewissen Areals festzuhalten. Erneut, wie schon während der Nacht, erklangen die Trommeln. Der Häuptling ging gemessenen Schrittes an Davenport vorbei und legte zwei primitive Steinbeile auf den Boden, auf jede Seite des Pflockes eins, und zwar nur jeweils zwei Schritte davon entfernt. Frank Davenport glaubte, das Herz müsse ihm stehenbleiben. Am liebsten wäre er davongelaufen, doch dazu war es längst zu spät. Er gab sich beileibe keinen Hoffnungen mehr hin. Wie sollte er mit dem Steinbeil umgehen? Ihm blieb keine Zeit für weitere selbstzerstörerische Gedanken, denn der Häuptling zog sich zurück. Davenport sah seinen Gegner losstürmen und schnellte ebenfalls vor. Der Wilde war schneller. Davenport warf sich bäuchlings in den Staub, faßte nach dem Stiel der Waffe und wälzte sich herum. Keinen Augen-
blick zu spät, denn wo er eben noch gelegen hatte, setzte der Indianer geschmeidig auf allen vieren auf. Davenport führte einen vergeblichen Streich, dem sein Gegner auswich. Die Waffe lag gut in der Hand, ein Radschloßdrehling wäre dem Adligen allerdings lieber gewesen. Nahezu gleichzeitig sprangen Davenport und die Rothaut wieder auf. Die Leine erwies sich als hinderlich, Frank mußte sich erst aus der lockeren Schlinge ausdrehen, die sich um seine Hüften geschlungen hatte. Doch dann stürmte er los, nur beseelt von dem Wunsch, erst einmal genügend Abstand zwischen sich und den Wilden zu bringen. Lauernd umkreisten sie einander. Warum sich der Indianer damit zufriedengab und keinen neuen Angriff versuchte, fiel Davenport erst nach der zweiten Umrundung auf. Die Seile wickelten sich um den Pflock und wurden zunehmend kürzer. Die Kämpfer schränkten dadurch ihre Bewegungsfreiheit ein, bis sie sich zuletzt fast auf Tuchfühlung gegenüberstehen mußten. Der Rothaut konnte das nur recht sein, Davenport fürchtete genau den Moment. Wenn er wenigstens sein Messer gehabt hätte, um den Indianer mit einem gezielten Wurf zu erledigen. Das Steinbeil war zu schwer, ganz abgesehen davon, daß Davenport seine Flugbahn kaum einschätzen konnte. Der Wilde stieß grunzende Laute aus. Nicht nur die Zuschauer wurden ungeduldig. Zehn Schritte trennten sie. Davenport wußte plötzlich, was er zu tun hatte. Offenbar überraschte es den Indianer, daß der Weiße nicht mehr davonlief. Sein Hieb ging ins Leere, als Davenport sich duckte, ihn unterlief und aushebelte. Schwer krachte er auf den Rücken, doch er war sofort wieder auf den Beinen.
32 Mit einem einzigen Schlag durchtrennte Frank sein Seil, ohne daß dies auffiel. Dem nächsten Angriff wich er deshalb mit Leichtigkeit aus. Die Wilden begannen zu toben. Aber trotz Davenports Vorteil griff keiner ein. Sein Gegner schwang das Beil mit einer Geschicklichkeit, wie sie nur im täglichen Umgang mit der Waffe zu erreichen war. Zwei Hiebe konnte Davenport parieren, dann schleuderte er dem Wilden eine Handvoll Dreck ins Gesicht. Aber selbst halbblind reagierte der Indianer noch instinktiv richtig. Ein kraftvoller Hieb, von einem heftigen Fußtritt begleitet, brachte Davenport zu Fall und wirbelte ihm das Beil aus der Hand. Schmerz und Enttäuschung ließen ihn aufschreien. Der Gegner riß die Waffe zum tödlichen Hieb hoch. Ein dumpfes, klatschendes Geräusch brachte die Entscheidung. Der Arm mit dem Steinbeil schien zu erstarren, dann stürzte der Indianer zur Seite. Zwischen seinen Schulterblättern steckte ein Pfeil. Nach Atem ringend, richtete sich Frank Davenport auf den Knien auf. Im selben Moment brach die Hölle los. 6. Fast drei Stunden hatten die Arwenacks gebraucht, um unter größter Vorsicht erst nach Osten auszuweichen und dann von Süden her vorzupirschen. Nicht einmal den Schatten eines Indianers hatten sie dabei gesehen. Man konnte meinen, das friedlichste Fleckchen von ganz Virginia entdeckt zu haben. Auch hier ragten Totempfähle auf. Dem Seewolf und seinen Mannen war diese Bezeichnung durchaus geläufig.
Von einer spärlich bewaldeten Anhöhe aus bot sich ein fast ungehinderter Ausblick auf das Dorf, das, gerade zwei Kabellängen von einem verlandeten Ausläufer des Sees entfernt, inmitten kultivierter Landschaft errichtet war. Hügel und Rundhütten lagen nur wenig mehr als eine Seemeile auseinander. Aufmerksam spähte Hasard durch das Spektiv, doch konnte er kaum Einzelheiten erkennen. „Sieh du", forderte er Carberry auf und reichte ihm den Kieker weiter. „Ich habe den Eindruck, daß drei Kerle an die Totempfähle gefesselt sind." „Das müssen Miller, Davenport und Godfrey sein", bestätigte der Profos schließlich. „Aber wo steckt Benjamin Dunsay?" Es galt, überraschend zuzuschlagen und mindestens ebenso schnell wieder zu verschwinden. Da war es wichtig, sich schon vorher einen genauen Überblick zu verschaffen. „Wir dürften es mit ungefähr vierzig bis fünfzig Kriegern zu tun haben", sagte Hasard. „Wenn der Himmel sich auftut und die Götter herabsteigen, verläßt manchen der Mut." Batuti grinste übers ganze Gesicht. „Und falls die Burschen an Dämonen glauben, die es zu bekämpfen gilt?" wandte Mac O'Higgins ein. Hasard winkte ab. Er selbst, Batuti, der Profos und Bob Grey würden die Gefangenen herausholen. Allen anderen, auch Alec Morris, fiel die Aufgabe zu, die Indianer aus der Nähe des Dorfes weg auf eine falsche Spur nach Süden zu locken. Anschließend mußten sie schnellstmöglich zu Hasard aufschließen. „Wir kriegen das schon hin", erklärte Ferris Tucker zuversichtlich. Der Seewolf blickte noch einmal durch das Spektiv, bevor er es zusammenschob. Auf dem freien Platz zwi-
Gleich noch einen zweiten Brief erhielten wir dieser Tage von M M (siehe Forum SW Nr. 628), K ,2050 Hamburg 80. Er spricht da etwas an, was über den reinen „Seeabenteuer-Roman" hinausgeht, und darum halten wir seinen Brief für lesenswert. Er schreibt: Liebe Seewölfe-Redaktion, liebe SeewölfeAutoren! Eins vorweg: Das Modell der ,,Isabella IX." habe ich mangels Zeit und Erfahrung im Bau solch komplizierter Modelle vorerst auf Eis gelegt. Immerhin konnte ich einen Generalplan im Maßstab 1:150 erstellen (er ist auch nicht besser als die Skizzen in den SW-Heften 314-317). Etwas anderes: Ich werde oft von Freunden und Bekannten darauf angesprochen, warum nur ein „erwachsener und durchaus gebildeter Mensch" „Seeabenteuerschmöker" ernst nimmt - wobei die „Seeabenteuerschmöker" von Joseph Conrad über C. S. Forester bis zu den ,,Seewölfen" reichen. Auch wenn ich „Hornblower" oder gar die ,,SSeewölfe" nicht eben für ,Hochliteratur" halte, sind sie wichtig; sie vermitteln „maritimes Bewußtsein". ,,Maritimes Bewußtsein" - das klingt irgendwie nach ,,Seegeltung", ,,der Dreizack gehört in unsere Faust'', nach Flottenrüstung im Stil der Kaiserlichen Marine und ähnlichem nationalistischen Phrasenschrott. Ich meine aber etwas anderes. Immer wieder fällt mir auf, wie gleichgültig den meisten Bundesdeutschen - oft auch jenen in den ,,Küstenländern" - alles ist, was die See betrifft. Wenn ich eine überregionale Zeitung lese, habe ich oft den Eindruck, die Bundesrepublik sei ein Binnenland wie Tibet. Werftenkrise - wenn mal gerade keine Großwerft dichtmacht, ist das nur ein Thema für die Lokalpresse (oder für den Wahlkampf, ohne daß das irgend etwas ändern würde). Ausflaggung der deutschen Handelsflotte -
nur ein Randthema, z.B. bei der ÖTV, aber den meisten politisch Verantwortlichen scheint es sowieso egal zu sein, ob es bundesdeutsche Schiffe gibt oder nicht, von der Fischereiflotte (oder deren kläglichen Resten) ganz zu schweigen. Ökologische Zerstörung der Nordsee - soll sich ja langsam rumgesprochen haben, wie „dreckig" es den Meeren geht, aber alle Kampagnen von Greenpeace und ähnlichen Organisationen gegen Giftmüllverbrennung auf See und gegen Ölbohrungen im Nationalpark (!) Wattenmeer finden zusammen nicht einmal ein Zehntel der Resonanz der an sich lobenswerten Kampagne gegen die Robbenjagd in Kanada (als ob eine Jungrobbe, die in der Deutschen Bucht an Ölverklumpung im Darm verendet, weniger grauenvoll stirbt als eine, die vor Neufundland niedergeknüpelt wird). Von der Seefahrtsgeschichte möchte ich gar nicht erst anfangen, die besteht in den meisten Geschichtsbüchern, die ich kenne, aus der Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.), Columbus' erster Atlantiküberquerung (1492) und der Tirpitzschen Marinerüstung(18981914), viel mehr steht da nicht drin. Insofern sind ,,Seeabenteuerschmöker" wichtig - wichtig dafür, daß es ein Interesse an der See, an den Menschen, die zur See fahren, und an den Lebewesen, die in der See leben, gibt, das sich nicht auf den nächsten Badeurlaub und auf verkitschte „Traumschiff'' - Episoden im Fernsehen beschränkt. Mit herzlichen Grüßen - M M Herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr M . Wir stimmen Ihnen zu, meinen jedoch, daß das „maritime Bewußtsein" einen erheblichen Aufschwung in unserem „Binnenland" genommen hat, abzulesen an der Entwicklung des Wassersports in den letzten Jahrzehnten. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Zum täglichen Handwerk des Seemanns (auf Segelschiffen) gehörten diverse Knoten und Splissungen, die wir unseren Lesern auf den beiden vorigen Seiten vorstellen wollen. 1 Eine Musing oder Mausing. Sie dient zur Sicherung eines offenen Hakens gegen das Herausrutschen eines angehängten Stropps, Auges u. ä. Dazu wird Takelgarn oder ein dünner Draht in mehreren Rundtörns über die Hakenöffnung gelegt und beigebändselt. 2 Augbändsel. Wird angewandt, wenn an einem Tau schnell eine Bucht gebildet werden soll, wobei man die beiden Enden aneinanderlegt und mit Takelgarn straff umbändselt. 3 Rundes Auge, bei dem genauso wie bei 2 verfahren wird, aber die Enden liegen nicht aneinander, sondern übereinander. 4 Hahnepot mit zwei Augen, links umtakelt, rechts ohne Takling. Die Hahnepot dient dazu, daß sich die Kraft auf mehrere (mindestens zwei) Parten verteilt und nicht nur in einem Punkt angreift. 5 Taustopper. Er kommt zur Anwendung, wenn die Buchten zweier Trossen fest miteinander verbunden werden sollen. 6 Eine Hufeisensplissung. Man wendet sie an, wenn in der Bucht einer Trosse durch Einspleißen eines kurzen Endes ein Auge gebildet werden soll. Die Größe des Auges richtet sich nach dem vorliegenden Zweck. 7 Cutsplissung. Sie hat ebenfalls den Zweck, durch Zusammenspleißen zweier Taue ein Auge zu bilden. 8 Rosenlaschung. Mit ihr wird ein Augstropp an einer Spiere fixiert, wobei ein Bändsel unter und über dem Auge durchgesteckt wird. 9 Der Kreuzknoten. Er dient zur Verbindung zweier gleich starker Enden und wird auch Reffknoten genannt, weil mit ihm üblicherweise die Reffbändsel zusammengesteckt werden. 10 Der Trompetenstek, ein Knoten, der dazu dient, ein zu langes Ende, auf dem Kraft steht, zu verkürzen. Ohne Kraft hält er nicht. 11 Achtknoten. Er wird gewöhnlich am Tampenende geschlagen, um ein Ausrauschen durch ein Auge oder eine Kausch zu verhindern. Üblich am Ende einer Schot. 12 Einfacher Schotstek. Er dient dazu, zwei verschieden starke Enden zu verbinden. 13 Trossenstek. Wird angewandt, um zwei sperrige Trossen miteinander zu verbinden. 14 Einfacher Palstek. Er bildet ein nicht zuslippendes Auge, das beim Festmachen über einen Poller oder Pfahl gelegt wird. 15 Doppelter Palstek. Wird bei starker Beanspruchung des Festmachers angewandt, jedoch auch zur Sicherung eines Mannes bei Decksarbeiten und Seegang. 16 Einfacher Hakenschlag. Er dient zum Befestigen einer Last am Kranhaken, wobei Kraft auf dem Ende stehen muß. 17 Katzenpfote oder kurze Trompete. Verwendung wie 16. 18 Rollstek oder Kneifstek. Wird beim Aufsetzen einer Talje auf ein auf Kraft stehendes Ende benutzt. Er verhindert ein Schlieren. 19 Marlschlag. Mit ihm und der Marlleine wird ein Segel an einer Spiere fixiert (angemarlt). 20 Halber Schlag. Er ist der Anfang zu einer Anzahl von Knoten, so dient z. B. ein Rundtörn mit zwei halben Schlägen dazu, ein Boot an einem Ring zu vertäuen. 21 Zimmermanns- oder Balkenstek. Er dient zum Anstecken eines Endes an Balken, Spieren, Bretter usw., um sie zu hieven. 22 Webeleinstek. Dient zum Belegen von Festmachern auf Pollern und verband früher die Wanten als „Sprossen".
37 sehen den Hütten tollten inzwischen Kinder. Es sah aus, als würden sie die Gefangenen bewerfen. Luke Morgan, Sam Roskill, Blacky und Mac O'Higgins blieben in der Nähe des Hügels zurück, um ihre Vorbereitungen zu treffen. Pulver spielte dabei eine große Rolle, Lunten und zwei von Tuckers Flaschenbomben. Der dunkelhaarige Draufgänger Roskill warf einen prüfenden Blick zum Himmel. „Mir ist alles egal", sagte er. „Nur regnen darf es nicht." Ferris Tucker, Big Old Shane, Stenmark und Alec Morris stellten die zweite Gruppe, die näher am Dorf für Aufregung zu sorgen hatte. In dieser Hinsicht liebäugelte vor allem der Schiffszimmermann mit den Totempfählen. Seine Anweisungen wurden präzise befolgt. Ein kompletter Brandsatz samt Lunte fand in einem stilisierten Vogelschnabel Platz, eine andere geschnitzte Kreatur würde mit Donnerstimme zu den Indianern sprechen. Auf einer Seite bot ein hinter dem Totempfahl wucherndes dichtes Gehölz genügend Deckungsmöglichkeit für denjenigen, der die Lunte anstecken mußte, auf der anderen wurden einfach Sträucher ausgerissen und entsprechend plaziert. Keine fünfzehn Minuten dauerten die Vorbereitungen. Als sich Ferris Tucker prüfend umsah, entdeckte er weder Stenmark noch Morris. Zusammen mit Big Old Shane ging er daran, den Rest zu erledigen. Hasard und seine Mannen kauerten inzwischen keine dreißig Yards von der ersten Hütte entfernt in einem Getreidefeld. Sie kamen gerade noch zurecht, um den Beginn des Kampfes zwischen Frank Davenport und dem Indianer mitzuerleben. Da die Aufmerksamkeit aller Rothäute abgelenkt war, konnten sie ungestört ihre letzten Vorbereitungen treffen.
Sir William Godfrey und der junge Benjamin Dunsay, der aus unerfindlichen Gründen lediglich einen indianischen Lendenschurz trug, waren an die Totempfähle gefesselt. Unwillkürlich biß Hasard die Zähne zusammen, als er durchs Spektiv erkannte, daß dem zusammen mit Ben verschleppten Seemann von der „Explorer" niemand mehr helfen konnte. Poul Miller war tot und obendrein übel zugerichtet. Vermutlich drohte den anderen ein ähnliches Schicksal. „Bob, du bleibst bei mir", bestimmte der Seewolf. „Wir holen unsere Leute raus, sobald der Tanz losgeht." Und an Batuti und Carberry gewandt, fragte er: „Alles klar?" „Aye, aye, Sir!" Der Gambiamann grinste übers ganze Gesicht. Er hatte soeben Funken geschlagen und mehrere Lunten angesteckt, die der Profos ihm hinhielt. Griffbereit lagen Brandpfeile neben ihm. Hasard und Bob Grey schlichen sich davon, während der Zweikampf einer Entscheidung zusteuerte. Vorübergehend sah es so aus, als würde Davenport siegen, doch dann wurde er von seinem Gegner entwaffnet. Der Indianer hob den Tomahawk zum tödlichen Hieb. Batuti ließ den ersten Pfeil von der Sehne schnellen. Er traf die Rothaut zwischen die Schulterblätter. Stille senkte sich über das Dorf, doch schon im nächsten Moment brachen die Indianer in wildes Geschrei aus. Da hatte Batuti bereits zwei Brandpfeile auf die Reise geschickt. Flammen züngelten aus den dürren Rindendächern. Edwin Carberry steckte die verlängerte Lunte eines Brandsatzes an. Gebückt huschte er bis an den Rand des Feldes und lockte dort mit Donnerstimme und wilden Armbewegungen die Indianer an sich heran. „He, ihr Rübenschweine, ihr rot-
38 häutigen Halunken, steht nicht so müde herum!" brüllte der Profos aus Leibeskräften. „Was ist, hat es euch die Sprache verschlagen?" Heulend stürmten die Krieger los. Natürlich sahen sie in dem Riesen mit dem Narbengesicht und dem gewaltigen Kinn den Angreifer. Drei Hütten standen schon in hellen Flammen. Carberry gab Fersengeld. Wie Batuti vorhergesagt hatte, griff keiner der Indianer zu Pfeil und Bogen. Sie hielten ihre Übermacht für schier erdrückend. Der Brandsatz orgelte in den Himmel und entfaltete sich krachend und blitzend zu einem Farbenspiel, als stürzten die Sterne vom Himmel. Zwischen Carberrys Verfolgern und dem Dorf regnete es rotes, gelbes und grünes Feuer. Die Indianer schrien auf. Etliche sanken auf die Knie und bewarfen sich mit Staub. Andere drängten weiter, aber auch sie wirkten plötzlich unschlüssig und zögernd. Das war der richtige Zeitpunkt für Batuti, sich zu zeigen. Seine schwarze Haut paßte zu dem Geschehen und verstärkte sicher den Eindruck, daß Dämonen erschienen wären. Mehr recht als schlecht ahmte der Gambiamann die Kriegsrufe der Rothäute nach - mit dem Erfolg, daß sie nun auch hinter ihm her waren. Als Waffen trugen sie lediglich Steinbeile, Kriegskeulen und einige Speere. Batuti lief gerade schnell genug, daß die Distanz zu seinen Verfolgern nicht schrumpfte. Carberry hingegen schien alles aus sich rauszuholen und wurde doch langsamer. Er war Seemann mit Leib und Seele und keine Landratte, was sein etwas breitbeiniger Lauf allzu deutlich offenbarte. „Mann, brauchst du eine Ewigkeit", keuchte er trotzdem, als Batuti zu ihm aufschloß. „Ich hatte schon Angst, dir das Ding an den Kopf zu
werfen." In der Linken hielt er eine glimmende Lunte, in der Rechten eine von Tuckers Höllenflaschen. „Dann mal los", erwiderte der Gambiamann. „Wir sind an Ort und Stelle." Weder von Old Shane, Ferris Tukker oder Stenmark, ja nicht einmal von Alec Morris war etwas zu sehen. Der Profos entzündete die Lunte der Flaschenbombe, während er an den präparierten Totempfählen vorbeihastete. Dünne Pulverspuren schlängelten sich über den Waldboden. In Gedanken zählte Carberry bis drei, dann schleuderte er die mit Pulver, gehacktem Blei und Nägeln gefüllte Flasche einfach hinter sich. „Ar-we-nack!" brüllte er und warf sich rechterhand in die Büsche. Batuti tat es ihm auf der anderen Seite gleich. Die Höllenflasche detonierte, bevor die Rothäute heran waren. Lediglich die vordersten wurden vom Schrot getroffen und von den Beinen gefegt. Ihre Wunden waren aber nicht so schlimm, daß sie nicht ein frenetisches Geheul hätten anstimmen können. Ringsum zischte und krachte es plötzlich. Keine zehn Yards hinter den Indianern zuckten grelle Entladungen zwischen den Bäumen auf, und mitten zwischen Feuer und Rauch reckte sich ein Riese mit mächtigem grauem Bartgestrüpp auf. Ein Pfeil lag auf der Sehne seines Bogens, und als sich der Pfeil vor den Indianern in den weichen Boden bohrte, sprühten erneut Blitze nach allen Seiten. Der Riese verschwand so schnell, wie er erschienen war. Keiner der Indianer hatte versucht, ihn anzugreifen. Doch damit nicht genug. Winzige, hell brennende Flämmchen huschten zwischen den Füßen der Rothäute umher. Sie waren wie Irrlichter oder
39 Die Arwenacks nutzten sozusagen kleine Waldgeister, und ein deutlicher Schwefelgeruch haftete ihnen die Gelegenheit, um unter Vollzeug davonzulaufen. Bis sich die Indianer an. „Ar-we-nack!" erklang es von allen von ihrem Entsetzen erholt hatten, waren sie hoffentlich schon meilenSeiten. Nur wenige Indianer zeigten sich weit entfernt. unter diesen Umständen noch beherzt genug, den Dingen auf den Grund zu gehen. Auch sie verließ anKeiner achtete noch auf die Gefangesichts des unerklärlichen und schrecklichen Geschehens sehr genen, als die ersten Hütten in Flammen aufgingen und der chinesische schnell der Mut. Nach einem schier ohrenbetäuben- Brandsatz seine bedrohlich wirkende den Donnerschlag und einem aus der Pracht entfaltete. Mitten in die entHöhe herabfegenden Blitz neigte sich standene Verwirrung hinein dröhnte ein uralter, morscher Baumriese. des Profos' Donnerstimme und ließ Noch ehe er dröhnend aufschlug, die Indianer ihre Verwirrung vergessprangen die in seinem Wipfel hau- sen. Augenblicke später war das Dorf senden Baumgeister heulend davon. von seinen Kriegern entblößt, weil Sogar die Totempfähle spuckten alle sich an der Hatz beteiligten. Feuer und entließen eine gräßliche „Na also." Bob Grey grinste breit. Dämonenschar, die schrill pfeifend „Man muß nur wissen, wie." Er wollte durch die Luft jagte und nacheinan- weiter, doch Hasard hielt ihn am Arm der alle Farben des Regenbogens an- zurück und deutete schweigend in nahm. Schon ein einziger roter Glut- Richtung Kampfplatz. ball zerfiel in ein halbes Dutzend Der Häuptling und ein zweiter, greller Funken, von denen jeder wie- ebenfalls schon greisenhaft wirkenderum eine Vielzahl winziger Irrlich- der Indianer hielten Frank Daventer hervorbrachte. port mit ihren Waffen in Schach. DaZwischen den Indianern und ihrem bei standen sie so, daß der AbenteuDorf wuchs eine lärmende Wand aus rer immer nur einen von ihnen angreirotierenden Spiralen und explodie- fen konnte. Er hatte somit keine renden Kugeln, und das alles wurde Chance, seine Freiheit zurückzuerlanübertönt von einem dröhnenden „Ar- gen. Sobald er es versuchte, wäre er we-nack". An manchen Stellen fing schnell ein toter Mann. das Unterholz Feuer, doch in dem Bob Grey brachte seine Muskete in vorherrschenden saftigen Grün fan- Anschlag, aber Hasard hinderte ihn den die Flammen wenig Nahrung. Sie abermals. erloschen unter dichter Rauchent„Nicht schießen", raunte der Seewicklung. wolf. „Ich versuche, sie abzulenken, Die Rothäute hatten endgültig ih- und du nimmst dein Messer. Es reicht, ren Mut und ihre Kampfbereitschaft die beiden außer Gefecht zu setzen." verloren. Die meisten lagen zitternd Grey schulterte die Muskete, die auf dem Boden, den Kopf unter den glimmende Lunte klemmte er sich in Armen verborgen und glaubten wohl, den Gürtel. Bevor er etwas erwidern das Ende der Welt sei gekommen. Mit konnte, huschte Hasard davon. Allersolchem Geschehen waren sie nie dings bedurfte es zwischen ihnen keikonfrontiert worden, ihre Furcht vor ner weiteren Absprache. In jeder Dämonen und Höllengeistern erhielt Hand ein Wurfmesser, lief Bob zur neue Nahrung. Rückseite der nächsten Hütte.
40 Niemand stellte sich ihm entgegen. Auch im Innern der einfachen Behausung blieb alles ruhig. Dennoch jeden Moment eines Angriffs gewärtig, huschte er weiter. Er sah Hasard hinter den Totempfählen auftauchen. Die beiden Indianer hatten den Seewolf noch nicht bemerkt - erst als er begann, Godfreys Fesseln zu kappen, reagierten sie. Gleichzeitig schleuderte Bob seine Messer. Gut zehn Yards betrug die Entfernung. Die eine Klinge traf den Oberarm des Häuptlings, als dieser den Tomahawk werfen wollte, die andere ging fehl, weil der zweite Indianer seinen Bogen spannte und dabei überraschend einen Schritt zurückwich. „Sir!" brüllte Bob Grey. „Vorsicht!" Der Seewolf wirbelte herum. Um Haaresbreite verfehlte ihn der Pfeil. Durch den Ruf waren aber wohl alle verbliebenen Dorfbewohner aufgeschreckt worden. Bevor der Indianer einen weiteren Pfeil auf die Sehne legen konnte, riß ihn Davenport mit sich zu Boden. Aber statt sich damit zu begnügen, den Alten mit einem gezielten Hieb ins Land der Träume zu schicken, schlug der Abenteurer mit dem Steinbeil zu. Ein Menschenleben, noch dazu das eines Indianers, schien ihm wenig zu bedeuten. Bis Grey die beiden erreichte, war Davenport schon im Begriff, sich zu erheben. „Das war nicht nötig", empörte sich Bob Grey. Gleichzeitig zuckte Frank Davenport mit den Schultern. „Einer weniger, der uns folgen kann. Na und?" Am liebsten hätte Grey jetzt zugeschlagen. Aber bevor er es sich versah, hetzte Davenport an ihm vorbei. Den Tomahawk schwingend, stürmte er in die erstbeste Hütte.
„He!" brüllte Bob hinter ihm her. „Was soll das?" Ihnen blieben nicht einmal mehr Minuten, um das Weite zu suchen. Überall erschienen Frauen und Kinder. Wer von ihnen es wagte, Pfeil und Bogen gegen die Weißen einzusetzen, wollte Bob Grey lieber nicht herausfinden. Hasard feuerte seine Muskete über die Köpfe hinweg ab und verschaffte sich so eine kurze Atempause. Die leergeschossene Waffe drückte er Godfrey in die Hände. „Verschwinden Sie mit Benjamin, Mann! Wir folgen Ihnen." Den sechsschüssigen Radschloßdrehling in der Faust, hetzte er zu der Hütte, in der Davenport verschwunden war. Bob Grey stürmte kurz vor ihm ins Innere. Wie besessen schlug Davenport auf eine Squaw ein. „Dein Schmuck", keuchte er. „Wo ist dein Schmuck? Ich will alles Gold!" Daß er keine Antwort erhielt, ließ ihn nur noch rasender werden. „Hören Sie auf!" befahl der Seewolf. Davenport dachte gar nicht daran. Er hielt erst inne, als er plötzlich in die Mündung von Hasards Radschloßdrehlings blickte. „Raus hier!" kommandierte Hasard. „Sie werden nicht auf mich schießen", stieß Davenport heftig atmend hervor. „Verstehen Sie denn nicht? Hier gibt es Gold!" „Raus!" wiederholte der Seewolf. Sekundenlang starrten sie einander an: Hasard ruhig und besonnen, mit eiskalt blickenden Augen, Davenport unruhig, zitternd und voll mühsam unterdrücktem Zorn. „Das werden Sie eines Tages bereuen, Killigrew." Der Abenteurer spie die Worte förmlich aus. Ein Fußtritt von Bob Grey beförderte ihn endgültig ins Freie.
41 „Vergessen Sie nicht, daß Sie ohne uns schon tot wären", sagte Bob wild. Ein Spießrutenlaufen begann. Daß Pfeile und Speere der Squaws nicht trafen, war in erster Linie den flakkernden Lichterscheinungen zu verdanken, die heulend und krachend nicht sehr weit entfernt aufstiegen, und Hasards Schüssen, mit denen er die Indianerfrauen auf Distanz hielt. Frank Davenport konnte plötzlich rennen. Bis Hasard und Grey ihn einholten, war der gierige Ausdruck aus seinem Gesicht gewichen. Er brachte sogar ein „Danke" heraus, und das mochte immerhin einiges bedeuten. Im Laufschritt ging es in Seenähe nach Norden. Unweit des Dorfes warteten William Godfrey und Benjamin Dunsay auf ihre Befreier. Natürlich fragte der Junge zuallererst nach seinem Vater. Hasard konnte ihn vollauf beruhigen. Sie rasteten gerade solange, wie sie zum Nachladen der Waffen brauchten. Aus der Richtung des Indianerdorfes war kein Lärm mehr zu vernehmen. Auch Schüsse fielen nicht. Hasard wertete das als gutes Zeichen, daß es seinen Mannen gelungen war, sich kampflos abzusetzen. Weiter ging es. Nicht mehr ganz so schnell wie zuvor. Benjamin bemühte sich zwar, Schritt zu halten, doch konnte er das Tempo bis zur Küste kaum durchstehen. Da die Indianer über kurz oder lang hinter ihnen hersein würden, nahm Hasard zunächst noch Rücksicht auf den Jungen. Es war besser, wenn er später ohne Hilfe weiterlief. Außerdem erhielten die Mannen dadurch Gelegenheit, rascher aufzuschließen. Etliche Meilen waren zurückzulegen, bis das Gelände allmählich wieder sumpfig wurde. Mehrmals hielt Hasard inne und sicherte nach hinten, und einmal glaubte er sogar, ei-
nen metallischen Reflex im Schein der hoch stehenden Sonne bemerkt zu haben. Aber als er das Spektiv zu Hilfe nahm, zeigte sich nichts Ungewöhnliches mehr. Nach gut zwei Stunden kräftezehrenden Laufens, kurz bevor sie die Quelle erreichten, schlossen die Arwenacks zu Hasard und seiner kleinen Gruppe auf. Schon von weitem schwenkte Big Old Shane seinen Langbogen, und als er endlich dem Seewolf gegenüberstand, brach er in schallendes Gelächter aus. Auch Stenmark, Higgy und Sam Roskill schienen sich köstlich amüsiert zu haben. „Du hättest die Indianer sehen sollen, Sir", prustete Shane. „Für die muß es gewesen sein, als hätte sich die Unterwelt aufgetan. Am Schluß lagen sie bloß noch zitternd rum." „Die werden sogar ihren Kindeskindern von den bösen Geistern berichten", sagte Batuti. „Mir ist es lieber, daß ihr alle unverletzt zurück seid", sagte Hasard. „Ich denke, wir setzen so schnell wie möglich Segel und gehen ankerauf." „Du glaubst, daß die Rothäute angreifen?" fragte Carberry. „Sobald sie den ersten Schreck überwunden haben, werden sie ihre Gefangenen wiederhaben wollen." An der Quelle legten sie eine kurze Rast ein. Das frische Naß wirkte belebend. Hasard setzte unterdessen das Spektiv nicht ab. Doch er entdeckte selbst von der Anhöhe aus keine Verfolger. In einer knappen halben Stunde würden sie es geschafft haben. Auch Batuti blickte nun häufiger zurück. Der Waldrand und damit der Strand lagen beinahe schon zum Greifen vor ihnen, als der Gambiamann den ersten Indianer sah. „Sie kommen!" rief er.
42 7. Plötzlich waren die Rothäute überall, nicht nur hinter Hasard und seinen Mannen. Sir Godfrey riß spontan die Muskete hoch und feuerte. Wilde Angriffsschreie beantworteten seinen Schuß, der irgendwo ins Leere ging. Zum Glück hatten die Indianer noch keine Zeit gefunden, Stellung zu beziehen. Aber wäre Batuti nur wenig später aufmerksam geworden, hätten sie aus größter Nähe angreifen können. Die Arwenacks schossen im Laufen. Zum Nachladen blieb ihnen keine Zeit. Auch vom Strand her erklangen nun Schüsse und lautes Rufen. „Vorwärts!" trieb Hasard die Kerls an. „Wir haben es fast geschafft." Drei Kugeln steckten noch in den Kammern seiner Pistole. Die Waffenhand mit der Linken abgestützt, jagte er sie nacheinander aus dem Lauf. Einer der Indianer, bis auf zwanzig Schritt hinter ihm, riß die Arme hoch und überschlug sich. Dann war Entsatz heran. Mannen der beiden Galeonen feuerten, was das Zeug hielt. Die Angreifer verschwanden so plötzlich, als hätte der Wald sie verschluckt, dennoch gab es keinen Grund, sich in Sicherheit zu wähnen. „Allen Bewaffneten Munition und Pulver verteilen!" brüllte Hasard, kaum daß er den Strand erreichte. „Die Siedler zu den Schiffen!" Sein letzter Befehl war überflüssig. Männer, Frauen und Kinder drängten sich bereits bei den Booten. Zwei Jollen, hoffnungslos überladen und mit entsprechendem Tiefgang, wurden schwerfällig gegen die zum Glück nur sanfte Brandung gepullt. Sogar außenbords hingen verängstigte Siedler, um sich mitschleppen zu lassen. Hasard konnte nur hoffen,
daß keins der Boote kenterte und in der dann entstehenden Wuhling wieder Pilger ertranken. Lediglich Kapitän James Drinkwater von der „Pilgrim" befand sich noch an Land. Ihm war zu verdanken, daß gut zwei Dutzend Schützen eingegriffen hatten. Neben Hasard stürzte einer von Drinkwaters Mannen. Ein Pfeil steckte in seinem Oberschenkel. Hasard brach den Schaft ab, und zwei Männer halfen dem Verwundeten auf und schleppten ihn zum Wasser. Die Indianer waren am Waldrand so gut wie nicht zu sehen. Doch ihre Pfeile trafen. „Zieht euch langsam zurück!" rief Hasard. Ununterbrochen dröhnten die Musketen. Flinke Hände luden sie sofort wieder nach, so daß kaum eine Pause entstand. Wenigstens lagen die Schiffe nicht weit draußen vor Anker, sonst wäre es unmöglich gewesen, alle Pilger in kurzer Zeit überzusetzen. Zwei Jollen hatten bereits wieder abgelegt und kehrten zurück. Auf der „Explorer" wurden die ersten Geschütze abgefeuert. Aber offenbar war der Stückmeister ein Stümper. Entweder hatte er sich bei der Pulvermenge verschätzt oder einen verdammt schlechten Winkel gewählt. Jedenfalls schlugen zwei Eisengeschosse mitten auf jenem Strandabschnitt, auf dem die Verteidiger lagen. Zum Glück richteten sie keinen Schaden an. Die restlichen Kugeln landeten ohnehin weit querab im Sand. Die Kerle brüllten sich die Seele aus dem Leib. Doch ob man sie bei den Galeonen hörte, blieb dahingestellt. Durchs Spektiv konnte Hasard erkennen, daß schon wieder Ladung gesetzt wurde. Etliche der immer ungeduldiger wartenden Pilger schienen ähnliche
43 Befürchtungen zu hegen. Jedenfalls zogen sie es vor, sich in die Fluten zu stürzen und nicht auf die Boote zu warten, die noch einige Male vom Strand zu den Schiffen mußten. Wieder rollte Kanonendonner über die See. Schon der Klang verriet dem Eingeweihten, daß Al Conroy hinter den Rohren stand. Pulverdampf hüllte die Schebecke ein. Nacheinander orgelten die Geschosse heran. Al hatte Stangen- und Kettenkugeln gewählt und vermutlich die eineinhalbfache Pulvermenge, um ja nicht die eigenen Mannen zu gefährden. Krachend fraßen sich die Geschosse durch die Baumkronen, als handele es sich um die Spieren eines spanischen Geleitzugs. Äste splitterten zuhauf, und noch etliche Yards von den Einschlagstellen entfernt prasselte ein Splitterregen aus der Höhe nieder. Vorübergehend verlor der Angriff der Rothäute an Heftigkeit. Die nächsten Breitseiten der „Explorer" und der „Pilgrim" waren zwar besser gezielt, reichten aber noch immer nicht bis an den Waldrand. Vereinzelt sprangen Felssplitter unter den Einschlägen davon. Kapitän Drinkwater ließ den Galeonen signalisieren, den Beschuß umgehend einzustellen. Die Gefahr für die eigenen Mannen war zu groß. Erneut sprachen die Culverinen der Schebecke. Al Conroy jagte die Kugeln in wahrhaft höllischem Stakkato aus den Rohren. Diesmal hatte er erhitzte Geschosse gewählt, deren Wirkung noch größer als die von gehacktem Blei war. Zwischen den mächtigen Kiefern zuckten Glutbälle auf, und an manchen Stellen griff das Feuer um sich, leckte an den Stämmen hoch und ließ sie wie Fackeln auflodern. Dichter, schwerer Qualm wälzte sich landeinwärts. Die Indianer zogen sich zurück. Ob sie Verluste erlitten hatten, war nicht
zu erkennen. Hie und da brandete Jubel auf, doch verstummte er sehr schnell wieder. Allmählich leerte sich der Strand. Es dauerte nicht mehr lange, bis auch die ersten Bewaffneten eingeschifft wurden. Bislang war das Übersetzen ohne Zwischenfälle vor sich gegangen. Ein auffrischender Südost trieb den Waldbrand vor sich her und fachte die Flammen weiter an. Lediglich ein schmaler Streifen von fünfzig Yards Länge blieb verschont. Hasard ließ dort einige Pulverfäßchen so aufstellen, daß sie mit gutgezielten Musketenschüssen zur Explosion gebracht werden konnten. Wie sich bald herausstellte, war seine Vorsicht berechtigt. Die Indianer griffen erneut an, als nur mehr eine Handvoll Musketenschützen auf Posten stand und die anderen sich anschickten, die Jollen zu bemannen. Ein Pulverfaß nach dem anderen flog mit fürchterlichem Dröhnen in die Luft. Die Rothäute kriegten ihren Teil davon ab, ihr Rückzug artete regelrecht in Flucht aus. Allmählich überzog der Himmel sich mit düsteren, schweren Regenwolken. Viel zu früh brach die Dämmerung herein. Das von den brennenden Kiefern ausgehende Prasseln und Knistern wurde lauter. Funkenregen stoben davon, als die ersten Baumriesen stürzten. Das Feuer breitete sich rascher aus. Auf halbem Weg zur Schebecke fielen die ersten schweren Tropfen. An der Kimm wetterleuchtete es - Vorbote eines heraufziehenden Gewitters. Die See ging höher und die Brandung schlug jetzt schäumend auf die Felsen. Bis auf die Haut durchnäßt, enterte Philip Hasard Killigrew endlich zur Schebecke auf. Das Schiff krängte stark leewärts.
44 „Heißt Segel!" Die Mannen standen bereit, seine Befehle auszuführen. Auch auf den Galeonen ging es zur Sache. Die Schiffe mußten hart an den Wind, um sich von dem unsicheren Küstengewässer freizusegeln. Ächzend stampften sie gegen den Seegang an. Steuerbord voraus, in der Düsternis noch deutlich zu erkennen, zeichneten sich weiße Schaumstreifen ab. „Riffe!" hallte Ben Brightons Stimme über Deck. „Ruder hart Backbord!" Bis dicht unter die Wasseroberfläche ragten zwei Felsbarrieren auf. Sie waren nichts anderes als die Fortsetzung einer auch an Land sichtbaren steinigen Hügelkette. Ächzend glitt die Schebecke aus dem Kurs, segelte mit halbem und gleich darauf leicht raumem Wind über Backbordbug. Die „Pilgrim" und die „Explorer", die zwar schwerfälliger im Wasser lagen als der Mittelmeerdreimaster der Seewölfe, keineswegs aber so hoch am Wind, fielen nahezu gleichzeitig ab. Mit Backbordschoten und Steuerbordhalsen folgten sie der Schebecke mit jeweils knapp einer Kabellänge Distanz. Jack Finnegan hatte das Lot ausgeworfen und sang die Faden Wassertiefe aus. Wegen der zunehmenden Geschwindigkeit waren die Ergebnisse zwar alles andere als genau, es zeigte sich aber doch, daß die Schebecke wieder mehr Wasser unter den Kiel bekam. Achteraus verschwand die Küste in der Dämmerung. Nur der Feuerschein des brennenden Waldes war weithin zu sehen. Selbst die tiefhängenden Wolken erglühten in einem düsteren Rot. Die Gewitterfront zog näher. Fast ununterbrochen zuckten Blitze über das Firmament, das dumpfe Donner-
grollen schien nicht mehr enden zu wollen. Prall blähte der Wind die Segel, die Schebecke kämpfte stampfend und schlingernd gegen den zunehmenden Wellengang an. Erste Brecher rauschten über die Kuhl. Während der Nacht konnte die Küstennähe gefährlich werden. Hasard hatte deshalb Befehl gegeben, Kurs auf die offene See zu nehmen. Achteraus tanzten die Laternen der Galeonen in der Dunkelheit. Der Waldbrand war die beste Orientierungshilfe. Aber als der Himmel schließlich seine letzten Schleusen öffnete und wahre Sturzbäche entließ, fiel die Glut rasch in sich zusammen. Für die Dauer von zwei Stunden war die Kimm noch in ein düster rotes Glühen getaucht, das aber letztlich der Schwärze wich.
In dieser Nacht tat wohl niemand ein Auge zu. Der Sturm wehte unvermindert heftig mit leicht wechselnder Richtung um Südost und peitschte den Regen vor sich her, der stete Donner gewann mehr und mehr Ähnlichkeit mit dem anhaltenden Geschützfeuer einer feindlichen Flotte. Philip Hasard Killigrew hockte in seiner Kammer und brütete vor sich hin, als der Profos eintrat. Hemd und Hose klebten ihm klatschnaß am Leib, aus den Haaren rann das Wasser über sein Gesicht. „Langsam wird es ungemütlich draußen", sagte er und schüttelte sich ab wie ein nasser Hund. „Ein Wetter, bei dem man höchstens Rübenschweine an Deck jagt." „Du bist sicher nicht aufgekreuzt, nur um mir das zu sagen." Hasard blickte Carberry auffordernd an. Der Profos schob sein Rammkinn
45 vor und rieb sich die Fäuste. „Es geht um diese drei Saftsäcke . . . " „Godfrey, Morris und Davenport?" fragte der Seewolf. „Saftsäcke", betonte Carberry mit Nachdruck. „Wir sollten mit ihnen endlich kurzen Prozeß machen." Es gab wohl keinen in der Crew, der diese Meinung nicht ebenfalls vertreten hätte. Auch Hasard hätte die Durchlauchten lieber heute als morgen in die Vorpiek gesperrt. Leider hatte er absolut keine Handhabe, um eine solche Maßnahme auch zu rechtfertigen. Außerdem, und das war immerhin ein Trost, würden die Burschen das Schiff bald verlassen. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen, Ed?" wollte Hasard deshalb wissen. „Laus?" Carberry brauste auf. „Du solltest mit Benjamin Dunsay reden und dir anhören, was er zu erzählen weiß." „Was hat das eine mit dem anderen . . . ? " „Sehr viel sogar. Wenn ich die Sache richtig verstehe, dann hätten wir die Kerle schon kielholen sollen, als sie Kapitän Granville befreiten." Er unterbrach sich, weil er sein Hemd über den Kopf streifte und mitten in Hasards Kammer begann, es auszuwinden. „Du hast also nicht mit Benjamin geredet?" fuhr er fort. „Nur kurz", erwiderte Hasard. „Es war kaum Gelegenheit dazu. Aber heraus mit der Sprache." Der Profos hatte seine Neugierde geweckt. Mit dem ausgewrungenen Hemd rieb sich Carberry übers Gesicht und das derzeit kurzgeschnittene dunkelblonde Haar. Er schnaubte wütend. „Paß auf, Sir, was der Junge mir erzählt hat, bevor er in die Jolle stieg. Die Indianer haben ihn entführt, um ihn in ihren Stamm aufzunehmen er sollte die Stelle eines toten Burschen einnehmen, der ungefähr in seinem Alter war. Aber der dicke Hund
folgt noch: Als die Indianer unsere Leute an der Quelle überfielen, hatten sie zwei Tote bei sich, eben diesen Jungen und einen Krieger. Für den Krieger mußte der Decksmann von der ,Explorer' sein Leben lassen." „Das klingt, als hätten die Rothäute Rache nehmen wollen", wandte Hasard ein. „Genau das will ich ausdrücken, Sir. Benjamin hatte Zeit, sich die Wunden der beiden Toten anzusehen. Die sind nicht mit Steinbeilen oder Pfeilen ins Jenseits befördert worden, sondern mit Kugeln aus Blei. Und soll ich dir sagen, welche Affenärsche . . . " Hasard winkte ab. Er erinnerte sich an die Schüsse, kurz bevor die drei Durchlauchten aus dem Wald zurückgekehrt waren. Eins paßte zum anderen. „Was wirst du unternehmen?" „Nicht viel", erwiderte Hasard. „Für eine ordentliche Verurteilung haben wir keine Beweise." „Und falls die drei gestehen? Immerhin sind sie schuld am Tod mehrerer anständiger Kerle." Demonstrativ schlug der Profos die Fäuste aneinander, daß es krachte, als hätte die Schebecke soeben ihren Hauptmast verloren. „Wenn du sie in die Mangel nimmst, kannst du jedes Geständnis aus den Burschen herausprügeln", wehrte der Seewolf ab. „Das hat keinen Zweck." „Wie du willst." Carberry ließ die Wut an seinem Hemd aus, das er walkte und zusammenknüllte, bis es fast in seine hohle Hand paßte. Anschließend stopfte er es sich in den Hosenbund und murmelte: „Soll nicht wieder naß werden." „Ich hätte dich gern dabei, wenn ich mit den Burschen rede", sagte Hasard. Der Profos, im Begriff, die Kammer zu verlassen, wandte sich noch
46 einmal um. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
Zum Morgen hin flaute der Sturm endlich ab. Trotzdem blieb ein steifer Süd- bis Südost. Virginias Küste war im Dunst des beginnenden Tages nur zu ahnen. Inzwischen hatte die Erschöpfung ihr Recht gefordert, die Mannschaften schliefen, und auch die Pilger fanden endlich die ersehnte Ruhe. Im Laufe des nächsten Tages würden die Schiffe die Kolonie erreichen. Damit ging dann für viele Auswanderer ein Traum in Erfüllung, der bald zum Alptraum geworden wäre. Als die Sonne als riesiger Glutball über dem Meer aufging, schienen alle Not und Entbehrungen plötzlich wie weggewischt. Von Deck der „Pilgrim" aus hallte ein Dankgebet aus einigen Dutzend Kehlen über die See. Irgend jemand verfiel sogar auf die aberwitzige Idee, die Kanonen abzufeuern, was an Bord der „Explorer" und der Schebecke natürlich einige Aufregung hervorrief. „Die müssen verrückt sein", sagte Don Juan de Alcazar, der sich auf der Back die Morgenbrise um die Ohren wehen ließ. „Falls in der Nähe spanische Schiffe stehen, haben wir sie mit Sicherheit am Hals." Dunst lag über dem Meer und verschluckte die Sonne, die langsam höher stieg. Aber schon bald riß der Wind den Nebel auf, und dann wurden die Wetterbedingungen besser. Achterlich an Steuerbord zeichnete sich die Küstenlinie ab. Die Schiffe kreuzten gegen den Wind, wobei Dan O'Flynn hinreichend Gelegenheit erhielt, seine Seekarten zu vervollständigen. Obwohl die Schebecke mehrmals bis auf weniger als zwei Kabellängen unter Land lief, behielt sie doch hinrei-
chend Wasser unter dem Kiel. Vorgelagerte Riffe waren nicht mehr zu erkennen. Philip Hasard Killigrew hatte lediglich eine Mütze voll Schlaf erwischt, trotzdem stand er sehr früh wieder an Deck. Er mußte lange warten, bis einer der „Durchlauchten" den Niedergang zur Kuhl aufenterte. Dafür, daß Frank Davenport noch vor weniger als vierundzwanzig Stunden dem Tod näher gewesen war als dem Leben, zeigte er sich schon wieder recht munter. Hasard trat von hinten an den Burschen heran, der, auf das Schanzkleid gestützt, seinen Blick die Küste entlangschweifen ließ. „Sie haben die Gefangenschaft recht gut überstanden." Davenport schwieg. „Was die Indianer mit ihren Gefangenen anstellen, haben Sie gesehen . . . " „Ich habe mich schon bedankt. Genügt Ihnen das nicht? Was wollen Sie mehr?" Die Arroganz, die Davenport an den Tag legte, war kaum zu übertreffen. Hasard lehnte sich neben ihm an die Verschanzung. „Ich hatte gehofft, wenigstens ein Wort des Bedauerns zu hören. Denken Sie an den Decksmann von der ,Explorer'." Davenport zuckte mit den Schultern. „Der Kerl hatte Pech. Damit müssen wir alle rechnen, ist es nicht so?" Er wollte sich abwenden, doch der Seewolf hielt ihn mit eiserner Hand zurück. Davenport war viel zu überrascht, um sofort an Gegenwehr zu denken. „Fragen Sie sich nicht, warum die Indianer angegriffen haben?" sagte Hasard betont scharf. „Es sind Wilde, und die sind unberechenbar", gab der Abenteurer gleichgültig zurück. „Zwei dieser ,Wilden', wie Sie sie
48 nennen, wurden erschossen. Deshalb." „Na und?" Endlich befreite Davenport sich aus Hasards Griff. „Kann ich etwas daran ändern?" „Sie und Ihre Kumpane waren im Wald. Entgegen meinem ausdrücklichen Befehl." „Wir gehören nicht zu Ihrer Crew, Kapitän, mit der Sie nach Belieben umspringen können." „Sie haben geschossen." „Natürlich." „Auf Indianer?" „Auf einen Fuchs. Und jetzt lassen Sie mich endlich in Ruhe." Frank Davenport wurde aufbrausend. „Mister Morris behauptete gestern, es sei ein Dachs gewesen." „Ob Fuchs oder Dachs ist doch völlig gleichgültig." Davenport versuchte, seine Unsicherheit durch Lautstärke zu überspielen. Mitunter mochte das auch zum Erfolg führen, doch Hasard ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich kriege die Wahrheit heraus, und dann gnade Ihnen Gott, Davenport." Der Abenteurer konnte schon wieder grinsen. „Sie sollten sich damit beeilen", riet er. „Denn Sir William Morris und ich werden Ihr gastliches Schiff verlassen, sobald Sie vor Fort Raleigh Anker werfen." 8. Zum Mittag des folgenden Tages sprang der Wind um und blies fortan konstant aus Osten. Die Schebecke und die Galeonen liefen unter Vollzeug und nur auf Rufweite voneinander entfernt nach Süden. Dan O'Flynn, der schon die vierte oder fünfte Peilung vornahm, verkündete lautstark, daß es nur noch wenige Seemeilen bis zum Ziel seien.
Viele Auswanderer drängten sich inzwischen an Deck, um nur ja nicht die Ankunft zu versäumen. Sie sangen, als hätte es nie die schlimme Zeit gegeben, die hinter ihnen lag. „Laßt ihnen die Freude und vor allem die Hoffnung", sagte der Seewolf, als einer der Arwenacks eine anzügliche Bemerkung fallenließ. „Vor ihnen liegen noch mehr als genug Mühsal und Anstrengung." Über die Höhe der Insel Roanoke hinaus mußten die Schiffe nach Süden segeln, bevor sie den schmalen Durchlaß erreichten, der den Albemarlesund vom Atlantik trennte. Die See wurde kabbelig. Nach einer Halse ging die Schebecke auf Nordkurs, der sie zwischen dem Festland und der Insel hindurchführte. Ausgedehnte Sümpfe beherrschten an Backbord das Bild. Durchs Spektiv entdeckte Hasard eine halb verfallene Hütte, die wohl seit Jahren nicht mehr bewohnt wurde. Von dem Kahn, der an einem wenig vertrauenerweckenden Steg vertäut war, ragte nur mehr das Dollbord aus dem brackigen Wasser. Hasard richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach Steuerbord. Roanoke war mehrere Meilen lang. An der Nordspitze der Insel erhob sich das schon im Jahr 1585 errichtete Fort, die erste englische Niederlassung in der Neuen Welt. Erst in späteren Jahren hatten die Siedler den natürlichen Schutz aufgegeben, den ihnen die Insellage bot, und tiefer im Sund ihre Blockhütten errichtet. Über dem Fort wehte eine englische Fahne. Aber nirgendwo waren Menschen zu sehen. „Wir segeln weiter", entschied Hasard. Es hatte wenig Sinn, die Siedler vor der Insel in die Boote zu schicken, wenn sie später ohnehin zum Festland gebracht werden mußten. Majestätisch glitten die Schiffe an Roa-
49 noke vorbei. Vor ihnen öffnete sich der Sund in seiner beachtlichen Ausdehnung. Auf dem achteren Grätingsdeck begannen einige Mannen zu winken. Endlich war man im Fort auf die kleine Flotte aufmerksam geworden. Nicht sehr viel später erklang Kanonendonner. Hinter den Palisaden des Forts wölkte Pulverdampf auf. „Al", rief Hasard, „die Begrüßung beantworten!" Die Culverinen schossen Salut, als Roanoke schon gut eine Seemeile achteraus lag. Die von vielen Buchten gezeichnete Uferlinie tauchte vor den Schiffen auf. Hasard ließ die Schebecke dicht unter Land gehen. Fast drei Stunden vergingen, bis die ersten Felder zu sehen waren. Entlang des Ufers hatten die Siedler den Wald gerodet. Viele Bäume lagen im Wasser und verrotteten langsam. „Rauch, Sir!" meldete Dan O'Flynn vom Fockmast her. Auch ohne Spektiv hatte er den in der nächsten Bucht aufsteigenden Qualm entdeckt, was erneut unter Beweis stellte, daß er die schärfsten Augen der Crew hatte. „Das kommt von der Siedlung", behaupteten Philip und Hasard junior, die Zwillingssöhne des Seewolfs, wie aus einem Mund. Ihr Vater suchte die Kimm mit dem Kieker ab. Der Rauch, so schien es, kräuselte sich an mehreren Stellen hoch. Zeitweise verflüchtigte er sich mit dem Wind, stieg dann aber wieder dick und schwer auf und blieb wie ein Mahnmal über den Baumwipfeln hängen. „Sieht so aus, als wäre Feuer ausgebrochen", polterte der Profos los. „Wenn da alles mit rechten Dingen zugeht, will ich unserem Bordviehzeug das Sprechen beibringen." „Auch den Ratten?" fragte Hasard junior scheinheilig.
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, wandte sich der Profos zu ihm um. „An Bord unserer Schebecke gibt es keine Ratten", erklärte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. „Höchstens zweibeinige, aber die ziehen es im Moment vor, unter Deck zu bleiben." „Glaubst du, daß du Plymmie dieselben wunderschönen Flüche beibringen kannst wie Sir John, Mister Carberry?" wollte Philip junior wissen. „Eine Wolfshündin ist zwar kein Papagei, aber immerhin . . . " Die Zwillinge konnten ihr Grinsen nicht länger verbergen. „Wenn ihr jemanden verarschen wollt, sucht euch gefälligst einen anderen", schimpfte der Profos. „Jeder an Bord weiß, daß sich dieser Geier die Ausdrücke selbst zusammenreimt." „Natürlich." Philip und Hasard nickten einhellig. „Sir John ist sozusagen ein ausgewachsenes Rübenschwein mit Federn." So hätte es noch eine Weile weitergehen können, hätte nicht der Erste Offizier, Ben Brighton, eine Reihe von Befehlen gebrüllt. Pete Ballie legte Ruder, die Segel wurden herumgeholt, killten kurz und füllten sich dann mit achterlichem Wind. Mit schäumender Bugwelle lief die Schebecke in eine ausgedehnte Bucht ein, die sich in der Tiefe noch weiter öffnete. Die Galeonen folgten beharrlich im Kielwasser. Inzwischen waren auch die ersten Pilger auf den Rauch aufmerksam geworden. Unruhe breitete sich aus. Hasard reichte den Kieker an Carberry weiter. Der Profos spähte nur kurz hindurch. „Verdammt!" war alles, was er hervorbrachte. Die Siedlung wirkte leer und verlassen. Nirgendwo zeichnete sich Bewegung ab. Einige Hütten waren niedergebrannt.
50 Hie und da loderten sogar noch Flammen auf, fanden aber kaum mehr ausreichend Nahrung. Edwin Carberry warf einen flüchtigen Blick zur Sonne, die im Westen nur mehr eine Handbreite über der Kimm stand. „Wir treffen um Stunden zu spät ein", sagte er grimmig. Hasard nickte schwer. Leider konnte er sich nur zu gut vorstellen, was jetzt auf den Pilgerschiffen lossein mußte. An ein Ausschiffen war vorerst nicht mehr zu denken. Mit auslaufender Fahrt glitt die Schebecke dem Ufer zu. Schließlich, wenig mehr als drei Kabellängen vor Land, drehte der Dreimaster in den Wind. „Fallen Anker!" Noch sackte die Schebecke achteraus. Aber dann faßte der Anker und die Segel konnten geborgen werden. An Land zeigte sich keine Menschenseele. „Wie viele Siedler mögen hier gelebt haben?" fragte Batuti. „Fünfzig, hundert oder gar mehr? Die können unmöglich alle tot sein oder von Indianern verschleppt." „Das denke ich auch." Hasard winkte Al Conroy zu sich heran. „Drei Salutschüsse!" befahl er. „Falls jemand in der Nähe ist, muß er uns hören." „Sir", sagte Dan O'Flynn, „die Region um den Albemarlesund ist, oder vielmehr war, Indianergebiet. Die ersten Siedler trieben mit den Eingeborenen von Roanoke aus bereits einen lebhaften Tauschhandel." „Die Verständigung blieb nicht immer friedlich", sagte Hasard. Die Backbordculverinen brüllten auf. In mehrfachem Echo hallte das Dröhnen durch die Bucht und war wohl meilenweit zu vernehmen. Auch die „Explorer" und die „Pilgrim" hatten inzwischen Anker geworfen. An Deck drängten sich die
Auswanderer. Die einen wollten trotz aller Widernisse übersetzen, die anderen zogen es vor, im sicheren Schutz der Schiffe abzuwarten, zumal der Einbruch der Nacht bevorstand. Vereinzelt gab es ein Handgemenge. Auf der „Pilgrim" sahen sich Kapitän Drinkwater und seine Offiziere genötigt, die Pilger mit Waffengewalt wieder unter Deck zu treiben. Schüsse fielen, waren jedoch nur als Warnung gedacht. „Lange geht das nicht gut", sagte Hasard. „Die Leute wollen endlich das Stück Land unter den Füßen spüren, von dem sie seit Monaten träumen. Da spielt es keine Rolle mehr, ob dort drüben einiges im argen liegt." „Mit anderen Worten: Fertigmachen zum Landgang", sagte Carberry. Hasard nickte. Er befahl Batuti, Ferris Tucker, Big Old Shane, Bob Grey und Stenmark zu sich und übergab das Kommando an seinen Ersten. Minuten später pullten sie mit kräftigen Riemenschlägen an Land. Ein wackliger Steg führte etwa zehn Yards weit ins seichte Uferwasser. Stenmark richtete sich von der vorderen Ducht auf und sprang auf die Planken, als das Dollbord an den Pfählen entlangschrammte. Mit wenigen Schlägen belegte er die Vorleine. Auf den Schiffen war der Brandgeruch kaum wahrzunehmen gewesen, aber an Land wurde er intensiver, je weiter die Mannen vordrangen. Vom Strand bis zu den ersten Hütten waren es ungefähr hundert Yards. Nichts regte sich, nur das Knistern und Knacken der allmählich abkühlenden verkohlten Balken war zu vernehmen. „Wo sind die Siedler?" fragte Stenmark. „Zumindest unsere Kanonenschüsse sollten sie gehört haben."
51 Big Old Shane vollführte eine umfassende Handbewegung. „Nach einem Indianerüberfall bleiben für gewöhnlich Tote zurück. Seht ihr irgendwo einen Leichnam?" Die Mannen teilten sich auf. Hasard schritt zielstrebig auf eine der unbeschädigten Hütten zu. Den Schatten hinter der Fensteröffnung sehen und instinktiv zur Seite hechten, war für ihn eins. Gleichzeitig krachte der Schuß. Eine Musketenkugel klatschte auf den steinigen Boden und jaulte als Querschläger davon. Dem Seewolf blieb gerade noch Zeit, sich herumzuwälzen, bevor der zweite Schuß auf ihn abgegeben wurde. „Aufhören!" brüllte er. „Wir sind Engländer!" Ein schrilles, hysterisches Lachen antwortete ihm. „Wir wollen euch helfen." Anstelle einer Antwort wurde erneut eine Muskete aus der Fensteröffnung geschoben. Hasard konnte ein bärtiges Gesicht erkennen, das ihn über den Lauf hinweg anvisierte. Er sah sogar die glimmende Lunte. Batuti erreichte die Hütte als erster, noch vor Carberry und Tukker, die sich von der anderen Seite näherten. Die Kugel verirrte sich sonstwohin, weil er den Lauf der Waffe nach oben rammte. Mit einem zweiten heftigen Ruck wuchtete der Gambiamann die Muskete zurück. Ein gurgelnder Schmerzensschrei ertönte, das bärtige Gesicht hinter der Fensteröffnung verschwand. Batuti packte mit beiden Händen zu und schwang sich über die Brüstung ins Innere der Hütte. Ein langanhaltendes, gellendes Kreischen empfing ihn. Das Bild, das sich Hasard und den anderen bot, trug wenig zur Steigerung ihrer Zuversicht bei. Der Kerl, der vor Batuti in den äußersten Winkel des Raumes zurückgewichen war
und zitternd und nach Luft ringend am Boden kauerte, gehörte zweifellos zu den Siedlern. Er fuchtelte mit den Händen, als gelte es, eine Schar böser Geister zu vertreiben. „Seht euch seine Augen an", sagte Carberry. „Der Bursche hat den Verstand verloren." Vor allem der Anblick des schwarzhäutigen ,Herkules' versetzte den Mann in Furcht und Schrecken. Hasard gab Batuti einen Wink, damit er sich zurückzog. „Wir sind Engländer", wiederholte er betont langsam und deutlich. Der Siedler lauschte dem Klang der Stimme, seine Lippen bewegten sich, als wolle er etwas sagen, doch übergangslos wurde er von einem heftigen Zittern befallen. „Nein!" kreischte er. „Weg - fort verschwindet!" Erschüttert blickte sich Hasard um. Unter dem Fenster lehnten acht Musketen. Alle waren geladen. Neben ihnen lagen Kugelbeutel, und zwei Schritt weiter stapelten sich Pulverflaschen, die ausgereicht hätten, eine Mannschaft auszurüsten. Es gab auch einen zweiten Raum in der Hütte, aber der war bis auf zwei provisorische Schlafstätten leer. Mit untrüglichem Gespür stöberte Big Old Shane eine halbvolle Flasche auf. Er entkorkte sie mit den Zähnen, nahm einen beachtlichen Schluck und leckte sich anschließend über die Lippen. „Rum", sagte er genießerisch. „Und kein schlechter. Der weckt sogar Tote auf." Er hielt die Flasche dem Siedler hin, der sie ihm prompt aus der Hand riß und mit einer Gier trank, die ihresgleichen suchte. Mehr als die Hälfte verschüttete er dabei. Die Arwenacks verzogen die Gesichter ob solch sinnloser Verschwendung. „Vielleicht kann man jetzt vernünftig mit ihm reden", sagte Bob Grey.
52 Der Bärtige lauschte dem Klang der Stimme. Abrupt öffnete er die Hand, die Flasche polterte zu Boden, aber sie zersprang nicht. Ein irres Kichern folgte. „Freunde?" brachte er mühsam hervor. „Ja, wir sind Freunde", sagte Big Old Shane, der offenbar besonderes Vertrauen genoß, an dem nur der Rum schuld sein konnte. Mit einer flüchtigen Kopfbewegung schickte Hasard nun auch Tukker, Grey und Stenmark nach draußen. Möglich, daß der Siedler mitteilsamer wurde, wenn er weniger Fremde um sich sah. Die schwarze Hautfarbe des Gambiamannes schien ihm einen gehörigen Schreck eingejagt zu haben. „Wir sind hier, um zu helfen", erklärte Shane. „Aber du mußt uns erzählen, was geschehen ist. Haben Indianer die Siedlung überfallen?" Blicklose Augen starrten durch ihn hindurch. Es sah nicht so aus, als hätte der Mann die Frage überhaupt verstanden. „Sein Geist ist verwirrt." Hasard seufzte schwer. „Wer weiß, was er erlebt hat. Aber wahrscheinlich haben ihn die Rothäute gerade deshalb nicht getötet." „Was fangen wir mit ihm an?" „Die Siedler auf den Galeonen müssen sich seiner annehmen. Bis er jemals den klaren Verstand zurückgewinnt, werden Wochen, wenn nicht gar Monate vergehen." „Sir", erklang es von draußen, „da kommen welche." Es waren Weiße, zehn Mann. Erschöpft ließen sie sich niedersinken, als sie die Arwenacks erreichten. ,,Wir haben die Kanonen gehört. Einen halben Tag eher hätten wir euch gebraucht." „Sind Soldaten an Bord?" fragte ein schlanker, muskulöser Bursche hoffnungsvoll. Trotz der herrschen-
den Wärme trug er einen weit fallenden Mantel aus Fell und eine ebensolche Kappe. Sein Gesicht war von Narben übersät, die aussahen, als seien sie ihm von Tierkrallen zugefügt worden. „Das Andenken stammt von zwei Berglöwen", sagte er, als er Hasards forschenden Blick bemerkte. „Der Mantel übrigens auch." „Wir bringen keine Soldaten, sondern Siedler", erwiderte der Seewolf. „Mehr als zweihundert. Sie brennen darauf, an Land gehen zu dürfen." „Ähnlich erging es uns allen einmal", sagte der Narbengesichtige. Er hieß Dan Keybridge. „Etliche haben inzwischen mit dem Leben dafür bezahlt." Er deutete über die Bucht, die sich im Schein der sinkenden Sonne allmählich golden färbte. „Ich weiß nicht, wie viele den Überfall heute nachmittag überlebt haben. Einige sind nach Fort Raleigh, um dort Schutz zu suchen, die Toten haben sie mitgenommen. Kleine Scharmützel mit den Wilden gibt es alle paar Wochen, das ist nichts Ungewöhnliches. Aber heute sind sie wie der Teufel über uns hergefallen. Wer draußen auf den Feldern war, hatte kaum eine Chance." „Frauen und Kinder wurden verschleppt", sagte ein anderer. „Wir alle haben auf diese Weise Angehörige verloren. Wir haben versucht, die Rothäute einzuholen, aber ohne Boot ist das sinnlos. Sie sind mit Kanus flußaufwärts." Hasard dachte drei Tage zurück, und seinen Arwenacks erging es nicht anders. In ihren Mienen las er Zustimmung, noch ehe er sich überhaupt äußerte. „Ich kann nichts versprechen und noch weniger für einen Erfolg garantieren", sagte er, „aber wir werden versuchen, die Verschleppten zurückzuholen." Eigentlich hätten die Siedler sich freuen sollen. Doch sie taten es nicht.
53 Ihre Niedergeschlagenheit wuchs eher. „Wir haben keine Ahnung, woher die Rothäute gekommen sind", sagte Keybridge. „Zu den Eingeborenen, mit denen wir sonst zu tun haben, gehörten sie jedenfalls nicht." „Sie waren kriegerischer", bestätigte ein anderer. „Schon ihre Kriegsbemalung wirkte furchteinflößend." Big Old Shane gab eine kurze Beschreibung der Indianer aus dem Norden. Zu seiner Verwunderung bestätigten die Zuhörer alle Details. Das mochte Zufall sein, doch konnte genausogut mehr dahinterstecken. Hasard schilderte nun so knapp wie möglich die Erlebnisse der letzten Tage. Rund sechzig Seemeilen hatten die Schiffe zurückgelegt, der Landweg war kürzer. Mit ihren Kanus hatten die Indianer ohne Schwierigkeiten innerhalb von zwei Tagen bei der Siedlung sein können. Sie hatten sich an den Siedlern für die erlittene Schmach bitter gerächt. Unter diesen Umständen war vorerst aber wohl kein weiterer Überfall zu erwarten. „Morgen früh werden die Auswanderer an Land gebracht", sagte der Seewolf. „Sie sollen mit dem Bau neuer Hütten beginnen. Eins der Schiffe wird dann nach Roanoke segeln, um die Leute zurückzuholen." „Es lohnt sich, für unsere neue Heimat zu kämpfen", bestätigte Dan Keybridge. „Virginia ist ein fruchtbares und trotz allem glückverheißendes Land." Gerne willigten die zehn Mannen ein, die Nacht auf der Schebecke zu verbringen. Noch bevor die Jolle zum erstenmal ablegte, kehrten weitere Siedler in ihr halb niedergebranntes Dorf zurück. Fünf Familien waren es, insgesamt neunundzwanzig Personen, die während des Überfalls unbehelligt in die Wälder geflohen waren. Die Kanonenschüsse hatten sie zwar
gehört, diese aber für Donnergrollen gehalten. Um so größer war ihre Freude über die neuen Siedler aus England. Hasard ließ die Familien auf beide Galeonen übersetzen. Es schadete nichts, wenn die Auswanderer auf den Schiffen aus berufenem Munde erfuhren, was sie in den nächsten Wochen erwartete. In dieser Nacht würden wieder nur sehr wenige Schlaf finden. 9. Mit dem Einbruch der Dunkelheit legte sich der Wind, aber nun breitete sich der Brandgeruch über die Bucht aus. Die Nacht war klar und nahezu wolkenlos, die Sterne funkelten verheißungsvoll. Lediglich der Wald zeichnete sich düster und drohend wie eine undurchdringliche Mauer vor dem helleren Himmel ab. Von den Galeonen aus hallte Stimmengewirr durch die Nacht. Der Schein der Hecklaternen spiegelte sich im Wasser. Auf der Schebecke der Seewölfe kehrte frühzeitig Ruhe ein. Die Mannen wußten, was ihnen bevorstand, denn diesmal würde es bestimmt nicht leichtfallen, den Rothäuten die Gefangenen wieder abzujagen. „Nahezu sechzig Meilen", hatte Batuti zu bedenken gegeben. „Wenn es sich wirklich um denselben Stamm handelt, haben die Indianer bestimmt nicht vor, in ihr Dorf zurückzukehren." Nils Larsen übernahm die erste Wache auf dem Achterdeck. Anfangs lauschte er noch den von den Galeonen herüberwehenden Gesprächsfetzen, doch verlor er bald die Lust daran. Ans Schanzkleid gelehnt, starrte er sich die Augen aus, bis er an Land huschende Schemen zu sehen glaubte. Aber schon ein Blinzeln
54 genügte, um die Schatten verschwinden zu lassen. Sie existierten nur in seiner Einbildung. Larsen gähnte unterdrückt. Er glaubte nicht, daß in dieser Nacht irgend etwas geschehen würde. Die Indianer waren mit ihren Gefangenen abgezogen. Das leise Plätschern der Wellen wirkte einschläfernd. Von irgendwo war plötzlich ein deutliches Platschen zu vernehmen, das Nils aus seiner beginnenden Lethargie aufschreckte, aber wahrscheinlich handelte es sich nur um einen größeren Fisch. Er lauschte vergeblich, das Geräusch wiederholte sich nicht. Von fast bleierner Schwärze lag das Wasser der Bucht unter ihm. Selbst der Sternenschein rief nicht mehr als ein fahles Glitzern hervor. Nils Larsen begann eine unruhige Wanderung zum achteren Grätingsdeck und zurück. Die Hecklaterne brannte mit gleichmäßiger Flamme. Er stutzte jäh, als er an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit kleine, unruhige Wellen entdeckte. „Wer da?" rief er und versuchte, mehr zu erkennen als nur Finsternis. Die Wellen verebbten, und wären nicht die Stimmen von den Galeonen gewesen, vielleicht hätte Larsen hören können, was sich querab und höchstens noch zehn Yards von der Schebecke entfernt im Wasser bewegte. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er außenbords. Er nahm die Muskete auf, die neben ihm an der Verschanzung lehnte. War da nicht ein heller Fleck, ein Haarschopf, der sich langsam näherte? „Ich schieße!" warnte Larsen. „Verdammt, Mann", erklang es aus der Dunkelheit. „Helfen Sie mir lieber an Bord." Mit allem hatte der Däne gerechnet, aber nicht damit, daß eine Frau
zur Schebecke schwamm. Eigentlich konnte sie nur von einer der Galeonen ins Wasser gesprungen sein. Er warf die Jakobsleiter außenbords und stellte gleich darauf fest, daß jemand auf enterte. Bis er die Hand ausstreckte, um der unerwartenden Besucherin behilflich zu sein, schwang sie sich bereits mit einem Satz über die Verschanzung. Sie triefte vor Nässe, und das lange Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht. Daß sie schön war, stellte Nils mit Kennerblick fest. Eng formte die nasse Bluse ihre Rundungen nach. „Wenn Sie fertig sind, mich anzuglotzen, sollten Sie mir trockenes Zeug besorgen", sagte die junge Frau spöttisch. „Ja - natürlich." Der Bootsmann nickte eifrig. „Woher kommen Sie?" „Von da." Sie streckte den Arm aus und deutete zur Siedlung. Larsen hätte sich für seine plumpe, ungeschickte Art ohrfeigen können. Da tauchte im wahrsten Sinne des Wortes eine Nixe neben ihm auf und er wußte nichts Dümmeres zu tun, als sie wie einen seltenen Fisch anzustarren. Ein Gentleman hätte ihr zuallererst aus den nassen Sachen geholfen. „Sie werden sich eine Erkältung holen", hörte Nils sich unvermittelt sagen, und er erschrak über den Klang der eigenen Stimme. „Wenn Sie Ihre Kleider ablegen . . . " Er wußte nicht, wie ihm geschah. Mit einer resoluten Drehung ihres prächtigen Achterstevens schob die Frau sich an ihm vorbei, riß seine Muskete und die glimmende Lunte hoch und hatte den Funken schon in der Pulverpfanne, ehe er sie daran hindern konnte. Der Schuß dröhnte über die Bucht. „Wenn Sie mich nicht zum Kapitän bringen, Mister, muß ich den Kapitän eben auf meine Weise wecken. Hier, nehmen Sie!" Nils Larsen war dermaßen verdat-
55 tert, daß er der Frau tatsächlich die Muskete abnahm. Vorübergehend wußte er nicht einmal, wohin mit der Waffe. Er lehnte sie ans Schanzkleid. Unter Deck wurde es lebendig. Flüche waren zu vernehmen, Schritte polterten den Niedergang hinauf. Edwin Carberry streckte als erster seine Nase in die kühle Nachtluft. Im nächsten Moment klappte sein Kinn weg und seine Augen erhielten einen merkwürdigen Glanz. Er wollte einen anerkennenden Pfiff ausstoßen, überlegte es sich aber doch anders, reckte sich statt dessen zu voller Statur auf und hakte die Daumen hinter den Gürtel, „Madam", sagte er nach einem raschen Seitenblick auf die Pfütze, die sich zu ihren Füßen gebildet hatte, „ich nehme an, Sie sind uns zugeschwommen." „Ihr Scharfblick in allen Ehren, aber Sie sind wohl nicht der Kapitän." Das Weib hatte Haare auf den Zähnen, und genau das imponierte dem Profos. So ein Frauenzimmer fehlte an Bord der Schebecke. Daß er wie angewurzelt auf dem vorletzten Tritt stehengeblieben war und den nachfolgenden Mannen, die natürlich auch etwas sehen wollten, den Weg versperrte, bemerkte Carberry erst, als ein wüstes Schimpfen anhob. „Kann mir einer den Grund für die allgemeine Heiterkeit verraten?" Hasard erschien. „Kapitän . . . ? " „Philip Hasard Killigrew. Darf ich Ihnen trockene Tücher bringen lassen?" Die Frau stieß eine Verwünschung aus, die sogar dem Profos ein achtungsvolles Grinsen abnötigte. „Ich habe das Gefühl, auf ein Schiff voller Spießer und Stutzer geraten zu sein", fügte sie hinzu. Der Erfolg dieser Feststellung war schier überwältigend. Lauthals brül-
lend, bis ihnen die Augen tränten, schlugen die Mannen sich auf die Schenkel. Und als Hasard sagte: „Sie irren, Madam", war das wie Wind nach einer langen Flaute. Niemand dachte im Moment noch an den Ernst der Lage oder gar an Indianer. Hasard ließ seine Kerle gewähren. Als die Frau aber erneut nach Larsens Schießprügel griff, diesen wie eine Keule schwang und sich damit Respekt zu verschaffen gedachte, winkte er ab. Fast augenblicklich verstummte jedes Gelächter. „Sie gehören zu den Siedlern", sagte er, denn eine andere Möglichkeit gab es nicht. „Ich nehme an, Sie konnten während des Überfalls in den Wald fliehen." „Sehe ich so aus, als würde ich vor irgend jemandem die Flucht ergreifen?" entgegnete die Frau. „Die Rothäute haben mich mitgeschleppt. Aber nicht mit mir, nicht mit Anna Keybridge, da hätten die Burschen schon besser aufpassen müssen." „Keybridge?" murmelte Big Old Shane verwirrt, als er es endlich geschafft hatte, auch einen Blick auf die triefende Schönheit zu werfen. „Sie sind den Indianern entwischt?" wollte Hasard wissen. „Ja", sagte Anna zu beiden. „Und ich habe vor, ihnen den Überfall heimzuzahlen. Mit wie vielen Bewaffneten kann ich rechnen, Kapitän? Ich weiß, wo die Rothäute lagern, nur dürfen wir nicht lange zögern. In wenigen Stunden wird es wieder hell, dann ziehen sie weiter." „Ihr Mann hat von Kanus gesprochen. Ich nehme doch an, er ist Ihr Mann . . . " „Dan? Was sucht der hier? Ich denke, er setzt längst Himmel und Hölle in Bewegung, um mich zu befreien." Die Arwenacks, eben noch auf jedes Wort lauernd, gaben endlich den
56 Niedergang frei. Einer nach dem anderen verschwanden sie unter Deck, wo Anna Keybridge ihr Feixen nicht sehen konnte. Old Donegal Daniel O'Flynn hatte sogar die Unverfrorenheit, Dan Keybridge hochzupurren, der den Schlaf der Erschöpfung schlief und nicht mitgekriegt hatte, was sich auf dem Oberdeck abspielte. „Anna", murmelte der Narbengesichtige schlaftrunken, nachdem Old Donegal ihn hinreichend aufgeklärt hatte. „Ich hätte gleich wissen müssen, daß die Indianer sie nicht behalten." Old O'Flynn dachte an Mary Snugglemouse, die auf Great Abaco auf ihn wartete, und verbiß sich eine spöttische Bemerkung. Vielleicht paßten diese Anna und Dan Keybridge ja wirklich zusammen wie die Faust aufs Auge. Beide schienen sich jedenfalls nicht unterkriegen zu lassen. Eine Lagebesprechung folgte, bei der die Frau das große Wort führte. Die Arwenacks erkannten neidlos an, daß sie verstand, wovon sie sprach. Blacky, Piet Straaten und Sven Nyberg pullten auf Hasards Geheiß zu den Galeonen hinüber, um deren Kapitäne zu informieren. Einige kampferfahrene Männer sollten mit an Land gehen. Anna Keybridge hatte vorgeschlagen, mit zwei Jollen den Kanus flußaufwärts zu folgen, während ein zweiter Trupp landeinwärts marschierte. „Wir haben es vorerst nur mit einigen Dutzend Rothäuten zu tun", sagte sie. „Mir ist jetzt noch schleierhaft, wie diese paar Krieger solchen Erfolg erzielen konnten. Es lag wohl daran, daß niemand mit einem Überfall rechnete." Lediglich eine halbe Stunde verging mit der Besprechung und dem Ausrüsten der Mannen. Neben Musketen und Pistolen wurden mehrere Pulverfäßchen in die Jollen abge-
fiert. Ferris Tuckers Höllenflaschen entlockten der Frau Anerkennung. Endlich schien sie zu begreifen, daß ihr erstes Urteil über die Crew in völliger Unkenntnis der Dinge erfolgt war.
Die Kerls pullten, daß sich die Riemen bogen. Mit aller Kraft zogen sie durch. Je näher die Ufer zusammentraten, desto stärker wurde die Strömung, die es zu überwinden galt. Nur das gleichmäßige Knarren der Riemen in den Rundsein war zu vernehmen. Niemand sprach. Was es zu sagen gab, war an Bord der Schebecke gesagt worden, jetzt starrte jeder stumm auf die vorbeiziehenden Schatten. An manchen Stellen war der Uferbewuchs ein schier undurchdringliches, verfilztes Dickicht. Bäume und Sträucher ragten sogar aus dem Wasser auf und hatten lange Luftwurzeln ausgebildet. Sehr viel war ohnehin nicht zu erkennen, denn eine dichter werdende Bewölkung sorgte dafür, daß der Mond kaum mit seinem Licht durchdrang. Die beiden Jollen hielten einen Abstand von gut fünfzehn Yards zueinander. Philip Hasard Killigrew kauerte auf der vorderen Ducht des Führungsbootes und spähte voraus ins Dunkel. Quer über seinen Beinen lag eine schußbereite Muskete, obwohl Anna Keybridge behauptet hatte, Übergriffe der Indianer würden nie zu nächtlicher Zeit erfolgen. Nahezu eine geschlagene Stunde lang pullten die Arwenacks wie die Besessenen. Die Landschaft veränderte sich unmerklich, die hohen Bäume wichen mannshohem Dickicht und einer aufgelockerten Vegetation, wie sie in Sumpf gebieten anzutreffen war. Allmählich einsetzende, Tierstim-
57 men verrieten, daß es bis zum Morgengrauen nicht mehr lange hin war. Die ersten Vögel strichen durchs Geäst oder glitten auf der Jagd nach Beute dicht über dem Wasser dahin. Ganz in der Nähe erklang das Knurren eines größeren Raubtiers. Gelegentlich weitete sich der Fluß zu verlandendem Altwasser. Anna Keybridge warnte an solchen Stellen vor Krokodilen, die zwar nicht in großer Zahl hier lebten, aber schon einigen unvorsichtigen Siedlern zum Verhängnis geworden waren. „Die Neue Welt hat ihre Tücken", raunte sie. „Doch damit werden wir fertig. Je mehr Auswanderer England verlassen, desto schneller können wir von der Küste ins Landesinnere vorstoßen. Ich bin überzeugt, daß noch manche Überraschung auf uns wartet." „Gold zum Beispiel", erwiderte Hasard im Flüsterton. Anna bedachte ihn mit einem wenig schmeichelhaften Blick. „Gold ist was für Glücksritter und Spieler", erklärte sie überzeugt. „Was soll ich mit dem gelben Zeug? Essen kann man es nicht, Waffen lassen sich nicht daraus herstellen, und wenn ich es als Schmuck trage, bin ich Tag und Nacht meines Lebens nicht mehr sicher." Vorübergehend geriet der Schlag der Riemen ins Stocken. Edwin Carberry ließ sogar den Griff fahren und bohrte demonstrativ mit beiden kleinen Fingern in seinen Ohren. „Ihre Anschauung, Madam, ist ein wenig eigenartig", sagte der Seewolf. „Die meisten Menschen sind bereit, für genügend Geld sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Außerdem können sie sich damit so ziemlich alles kaufen, von Nahrungsmitteln über Waffen bis hin zu . . . " „Rechts!" zischte Anna. „Bitte?" Hasard verstand nicht sofort, was sie meinte.
„Rechts!" wiederholte die Frau mit einer entsprechenden Geste. „Sie meint Steuerbord", erklärte Piet Straaten. „Warum sagt sie es dann nicht?" Gary Andrews grinste breit. Anna Keybridge ließ sich nicht provozieren. Die Arme verschränkt, hockte sie kerzengerade neben Piet Straaten auf der Achterducht und bedachte die Mannen mit mitleidigen Blicken. Die Jollen glitten in einen Seitenarm mit merklich schwächerer Strömung. „Leiser pullen!" warnte Anna. „Bis zu der Stelle, wo ich den Rothäuten entwischt bin, ist es höchstens eine halbe Meile." Mit Riesenschritten zog die Morgendämmerung herauf. In Kürze würde die aufgehende Sonne das noch vorherrschende fahle Grau verdrängt haben. „Wir legen an", entschied Hasard, da sich das Knarren in den Rundseln nicht ganz vermeiden ließ, ebensowenig wie das Platschen, das beim Eintauchen der Blätter entstand. Die Jollen wurden an starken Ästen belegt und mit zusätzlichen Tampen gegen ein mögliches Abtreiben gesichert. Piet Straaten und Luke Morgan blieben als Wache zurück, die anderen schulterten ihre Musketen und folgten Anna Keybridge, die ein beachtliches Tempo vorlegte. Schmatzend schloß sich der sumpfige Boden um die Stiefelsohlen, die Abdrücke füllten sich mit brackigem Wasser. Allmählich wurde es hell. Die Sicht reichte schon jetzt gut hundert Schritte weit. „Wir schlagen einen Bogen um den Lagerplatz und greifen von Norden her an", erklärte Anna Keybridge im Flüsterton. „Dan und die anderen müssen bereits in der Nähe sein, der Weg quer durch den Wald ist kürzer als auf dem Fluß."
58 Hasard blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Frau zu verlassen. Dabei sagte ihm sein klarer Verstand, daß Anna Keybridge nicht zögern würde, die Männer in den Tod zu schicken, sobald sie sich einen Vorteil davon versprach. Er konnte es ihr nicht einmal übelnehmen. Es bedurfte solcher Frauen, um der Kolonie das Überleben zu sichern. Nur wer hart durchgriff, konnte in der Neuen Welt auf Dauer bestehen. Ein heiseres Fauchen schreckte ihn aus seinen Überlegungen auf. Was eben noch reglos wie ein knorriger Baumstamm im Morast gelegen hatte, entpuppte sich jäh als angriffslustige Echse, deren gierig aufgerissener Rachen zwei Reihen spitzer Zähne erkennen ließ. „Weiter!" raunte Hasard. „Beeilt euch!" Schlamm und Wasser verspritzten nach allen Seiten, als die Echse angriff. Ausgerechnet auf Edwin Carberry ging sie los, sie sah in ihm wohl die fetteste Beute. Dem Profos blieb kaum Zeit, zu begreifen, wie ihm geschah. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er die Muskete hochreißen und feuern, dann besann er sich anders und warf sich herum. Das „Himmel, Arsch und Kichererbsen!" sagte er so leise, daß kaum einer der Kameraden es hörte. Die Echse war schnell. Dem Profos blieb nur die Flucht nach oben, er griff nach einem tief herabhängenden Ast und zog sich hoch. Unter ihm schlugen die Kiefer krachend zusammen. Das Vieh ließ ein dumpfes Grollen vernehmen. In luftiger Höhe zappelte der Profos wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihm war gar nicht wohl, weil der Ast unter seinem Gewicht bedrohlich ächzte. Zu seiner Erleichterung besann sich die gepanzerte Echse darauf, daß da noch andere Beute war. Geschmei-
dig schnellte sie herum und attakkierte den Schiffszimmermann. Hasard schaffte es dadurch, hinter das Biest zu gelangen. Er stieß mit dem Säbel zu, doch die Klinge glitt ab und bohrte sich lediglich in die Seite des Tieres. Hasard wurde von dem peitschenden Schwanz getroffen und von den Beinen gefegt. Bevor er sich aufraffen konnte, griff die Echse ihn an. Ein Schuß peitschte auf. Trotzdem hätte das Biest Hasard noch erwischt, hätte er sich nicht gedankenschnell zur Seite gewälzt. Im Todeskampf wühlte das Krokodil den Schlamm auf. Gary Andrews hatte geschossen und dem Seewolf vermutlich das Leben gerettet. Andererseits hatte er in dem Moment bestimmt nicht an die Folgen gedacht. Selbst der ahnungsloseste Indianer wußte jetzt, daß die Verfolger nahe waren. „Klarschiff zum Gefecht!" sagte Edwin Carberry halblaut, während er von dem Baum abenterte. „Ein Krokodil erledigt man mit dem Messer", herrschte Anna Keybridge den zerknirscht dreinblickenden Schützen an. „Sie hätten niemals schießen dürfen." „Was aus mir geworden wäre, ist Ihnen gleichgültig, wie?" entgegnete Hasard. „Ihr Pech." Die Frau zuckte lediglich mit den Schultern. Zwei Schüsse krachten fast gleichzeitig. Edwin Carberry hatte die Muskete von der Hüfte aus abgefeuert, Ferris Tucker war auf den Indianer ebenfalls aufmerksam geworden, der, keine dreißig Schritt entfernt, zu ihnen starrte. Beide Kugeln gingen fehl. „Das war ein Kundschafter", behauptete Anna. „Wir müssen ihn kriegen." Ohne abzuwarten, ob die Arwenacks ihr wirklich folgten, lief sie los. „Ein verrücktes Weib." Edwin Car-
59 berry sagte es mit einer seltsamen Mischung aus Ablehnung und Achtung. „Trotzdem dürfen wir sie nicht in ihr Unglück rennen lassen." Die Muskete hatte er schon wieder nachgeladen, er klemmte nur noch die Lunte fest. Der Schrei einer Frau erklang aus der Richtung, in die Anna Keybridge verschwunden war. Ständig mit einem Angriff rechnend, folgten ihr die Arwenacks. Rechts hinter ihnen waren zwei Schüsse zu vernehmen - das mußte Dan Keybridge mit seinen Mannen sein. Hasard schätzte die Entfernung auf wesentlich mehr als eine Meile. Annas Mann würde also auf keinen Fall rechtzeitig eingreifen können. Noch einmal erklang der gellende Schrei, mehr querab als zuvor. Anna hatte ihn jedoch nicht ausgestoßen. Sie stand am Rand einer kleinen Lichtung, auf der die Indianer gelagert hatten. „Sie sind fort", sagte Gary Andrews. „Natürlich sind sie das." Der Fluß war nahe. In weiten Mäandern zog er sich durch die Sumpflandschaft. Am Ufer fanden die Arwenacks die Liegespuren von fünf großen Kanus. „Weiter!" befahl der Seewolf. „Wir müssen sie einholen." Zu den Jollen zurückzulaufen und erneut gegen die Strömung zu pullen, hätte zuviel Zeit gekostet. „Wie gut kennen Sie die Gegend?" fragte Hasard die Frau. „Ziemlich gut. Warum?" „Wenn wir dem Flußlauf nicht zu folgen brauchten, sondern die Schleifen abschneiden könnten . . . " Anna Keybridge überlegte nicht lange. Entschlossen deutete sie nach Norden. „Ungefähr eine halbe Meile", sagte sie. Letztlich wurde fast die doppelte Entfernung daraus, bis die Mannen
wieder auf den Fluß stießen. Stromschnellen und eine starke Verengung des Flußbettes mit entsprechend heftiger Strömung ließen diesen Abschnitt nahezu unpassierbar werden. Von den Indianern fehlte jede Spur. Anna Keybridge stieß eine Reihe deftiger Verwünschungen aus. „Es gibt einen weiteren Seitenarm, der sich mehrfach verzweigt", gestand sie zerknirscht. „Wenn wir die Beine in die Hand nehmen, schaffen wir es vielleicht noch." Sie liefen geradewegs in die Falle. Trotz Ferris Tuckers Höllenflaschen und Batutis Pulverpfeilen hätten die Arwenacks wohl Verluste beklagen müssen, wären nicht Dan Keybridge und seine Leute kurz vor ihnen an Ort und Stelle gewesen. Bis die Seewölfe eintrafen, hatten die Pfeile aus dem Hinterhalt schon die ersten Opfer gefordert. Aber dadurch, daß die Rothäute sich plötzlich zwischen zwei Feuern sahen, verloren sie ihren entscheidenden Vorteil. „Immer drei oder vier Mann feuern!" brüllte Anna Keybridge. „Dann rücken die anderen vor, damit die ersten Zeit zum Nachladen haben." Der Vorschlag hatte einiges für sich. Inzwischen flogen Ferris Tukkers Höllenflaschen den Indianern vor die Füße. In das Krachen der Detonationen mischte sich das Kampfgeschrei der Rothäute, deren Angriff unweigerlich ins Stocken geriet. Der Fluß war nur wenige Dutzend Yards entfernt. Zum Ufer hin wucherten hohe Farne, die eine ausgezeichnete Deckung boten. Als Hasard sich vorsichtig zurückzog, wußte Batuti sofort Bescheid. Der Seewolf hatte vor, im Schutz der Uferböschung den Indianern in den Rücken zu fallen. Batuti stieß ein kurzes, scharfes Zi-
60 sehen aus, damit Hasard zu ihm blickte. Er hob die Rechte und spreizte zweimal die Finger. Hasard nickte, hatte also verstanden, daß der Gambiamann zehn Angreifer gezählt hatte. Im nächsten Moment war er zwischen den Farnen verschwunden. Batuti folgte ihm. Aber bis er das Wasser erreichte, war der Seewolf schon zwanzig Yards flußabwärts. Die Strömung war reißender als angenommen, und der schlüpfrige Untergrund ließ schnell den sicheren Stand verlieren. Mit der Linken suchte Hasard an überhängenden Grasbüscheln Halt, mit der Rechten hielt er den Radschloßdrehling über Wasser, das ihm immerhin bis unter die Achseln reichte. Batuti tat sich da leichter. Sein guter englischer Bogen vertrug die Nässe unbeschadet. Das war eben der Fluch moderner Waffen, daß Zündkies und Lunten schon bei leichter Nässe kläglich versagten. Batuti ließ sich von der Strömung ein Stück weit tragen. Ohne sich anstrengen zu müssen, trieb er an Hasard vorbei. Der Fluß beschrieb einen weiten Bogen. Auf der anderen Uferseite, wo ein Nebenarm mündete, hatte sich eine breite Kiesbank gebildet. Das Wasser schien dort nicht einmal mehr eine Elle tief zu sein. Batuti hingegen fand keinen Grund unter den Füßen. Vor ihm wurde der Uferbewuchs dichter. Er erschrak, als er die Bewegung im Dickicht bemerkte, und dachte jetzt erst an weitere Krokodile. Aber was da auf ihn zuglitt und mit raschen Bewegungen der Flußmitte zustrebte, war nur eine mannlange Schlange. Augenblicke später entdeckte Batuti das Kanu. Es wirkte schlank und äußerst zerbrechlich und hatte keinen nennenswerten Tiefgang. Der scharfgeschnittene Bug war ebenso wie das Heck hochgezogen und mit indianischen Symbolen bemalt.
Die Indianer flohen. Batuti hielt unwillkürlich den Atem an, als das Kanu unter den Schlägen leichter, schmaler Stechpaddel herumschwenkte. Die Entfernung betrug wenig mehr als fünfzig Yards. Acht Rothäute zählte der Gambiamann. Im Bug kauerte ein Bursche mit verhärmtem, zerknirschtem Gesicht. Als einziger trug er einen zotteligen Fellumhang und das Haar zu einem Knoten geschlungen, aus dem quer eine Adlerfeder ragte. Vermutlich war er ein Schamane. Haß beherrschte seinen Blick. Hinter ihm, hoch aufgerichtet, kniete ein kräftiger junger Bursche. Sein einziger Schmuck war eine Kette aus fingerlangen Raubtierzähnen und Krallen. Mit beiden Händen hielt er eine erbeutete Muskete. Offenbar durch Beobachtung hatte er herausgefunden, wie der feuerspeiende Stock funktionierte. Mit unbewegter Miene legte er auf Batuti an, aber nichts geschah, als er den Abzug betätigte. Während das Kanu unter den Schlägen der übrigen sechs Rothäute erstaunlich schnell davonglitt, hielt er die Laufmündung vor die Augen und starrte hinein. Erst jetzt wurden die Siedler aufmerksam. Mehr oder weniger ungezielt jagten sie ihre Bleikugeln hinter den Indianern her. Aber nicht ein Schuß traf. Die Distanz war bereits zu groß. „Wir haben uns zum Narren halten lassen." Anna Keybridges bittere Enttäuschung war leider zu verständlich. „Die kriegen wir nicht mehr", setzte sie hinzu. „Außerdem sollten diese Krieger uns nur aufhalten. Die anderen sind mit ihren Opfern inzwischen sonstwo." Wieder einmal war ein hoher Preis gezahlt worden. Drei Tote gab es zu beklagen, und die beiden Verwundeten würden wohl für immer unter den Folgen leiden. Daß auch zwei India-
61 ner ihr Leben gelassen hatten, wog die Niederlage nicht auf. Nicht nur Batuti hatte den Haß in den Augen des Schamanen gesehen, auch Hasard ahnte, daß neue Auseinandersetzungen mit den Eingeborenen unvermeidbar waren. Zu allem Überfluß stellten die Siedler fest, daß einer der toten Indianer mit Sicherheit zu den in der Nähe lebenden Stämmen gehörte. Die Bemalung seines Oberkörpers ließ keinen anderen Schluß zu. Der zweite hingegen unterschied sich schon durch seine Haarpracht und die aschgraue Farbe im Gesicht. „Der ist aus dem Norden", behauptete Edwin Carberry im Brustton der Überzeugung. „Es sollte mich nicht wundern, wenn den Siedlern weiterhin eine steife Brise ins Haus steht." 10. So euphorisch wie beim ersten Landfall war die Stimmung unter den Auswanderern längst nicht mehr. Die Berichte der „alten Siedler" hatten das verklärte Bild vom Leben in der Neuen Welt, das viele von England mit herübergebracht hatten, gründlich zerstört. Reichtümer gab es nicht. Wer nicht kräftig zupackte, blieb früher oder später auf der Strecke. Und die Freiheit, die manch einer zu finden gehofft hatte, entpuppte sich als große Lüge. Nur die Gemeinschaft sicherte das Überleben. Entsprechend zögernd ging das Ausschiffen vor sich. Bis die Arwenacks und Dan Keybridges Trupp zurückkehrten, lagerten erst achtzig Männer, Frauen und Kinder an Land. Allerdings hatten sich inzwischen auch weitere der versprengten Siedler eingefunden. Der Eifer, mit dem sie darangingen, die niedergebrannten Blockhäuser abzureißen und
neue Stämme zuzuhauen, steckte an. Bis zum Mittag hallten das Dröhnen der Äxte, das Singen der Sägen und ein stetes Hämmern über die Bucht. Erst jetzt setzte die „Explorer" Segel, um nach Fort Raleigh zurückzulaufen und die dorthin geflohenen Siedler aufzunehmen. Wohlweislich verzichtete Hasard darauf, die Geschütze auszurennen. Wenigstens vorerst galt es, alles zu vermeiden, was bei den Pilgern Gedanken an die Bedrohung durch die Indianer wachrufen konnte. Was nicht bedeutete, daß Al Conroy nicht die Culverinen der Backbordseite klarierte. Kurz vor dem Einbruch der Nacht kehrte die „Explorer" zurück. Als Passagiere befanden sich nur dreißig der alten Siedler an Bord. Mehr waren nicht nach Fort Raleigh geflohen. Begierig hatten sie schon darauf gewartet, daß wenigstens eins der Schiffe, die Tags zuvor mit Kurs auf die Bucht gesichtet worden waren, Roanoke anlief. Die Pilger wurden von allen überaus herzlich aufgenommen. Schließlich bildeten sie nicht nur eine willkommene Verstärkung der durch Krankheiten und Indianerüberfälle dezimierten Siedlerschar, sie brachten auch Kunde aus der Heimat. Es gab viel zu bereden. Bis weit in die Nacht hinein loderten große Feuer rund um die Siedlung. Die in Doppelposten aufgestellten Wachen wurden alle zwei Stunden abgelöst. Unter ihrem Schutz durften die Siedler sich so sicher fühlen wie an Bord der Schiffe. Selbst im Morgengrauen blieb alles ruhig. Die Bucht im Albemarlesund mutete an, als sei sie das friedlichste Fleckchen Erde überhaupt. Offenbar hatten einige Familien nur die Nacht abwarten wollen, denn bereits kurz nach Sonnenaufgang setzten sie von den Galeonen über.
62 Das Ausschiffen verlief ohne Zwi- roh zubehauene Balken aufgerichtet. Zweihundert neue Siedler wollten ein schenfälle. Philip Hasard Killigrew und seine Dach über dem Kopf und einen Ort, an dem sie sich heimisch fühlen konnArwenacks langten überall mit zu. Ireen Henford und James Bucknan, ten. Selbst wenn es sich nur um providie es an Bord der „Pilgrim" nicht ge- sorische Behausungen handelte, rade leichtgehabt hatten, suchten ge- durch deren Ritzen der Wind pfiff. Sogar die „Durchlauchten" halfen, meinsam den Platz für ihr Haus. Berge, von denen das Mädchen stets wenn sie auch mal hier und mal dort geschwärmt hatte, gab es nicht, aber waren und nichts von dem zu Ende wenigstens den Wasserlauf wollte sie führten, was sie angefangen hatten. nicht missen. Hasard wunderte sich noch darHasard ging den beiden nach, die über, bis ihm endlich auffiel, daß die Hand in Hand in der Nähe des Fluß- drei mehr auf die Siedler einredeten, ufers standen und sich ausmalten, als wirklich arbeiteten. Offenbar ging es um Dinge von großem Belang. wie ihr Haus sein würde. Der Seewolf ahnte, was William „Ah, Sir Hasard!" rief Ireen freudig. „Was sagen Sie zu diesem herrli- Godfrey, Alec Morris und Frank Dachen Stück Land? Ist es nicht wun- venport zu reden hatten. Wenn sie etwas mit einer solchen Hingabe taten, derbar?" „... und verdammt gefährlich", er- dann nur, weil sie sich einen Vorteil widerte Hasard. „Vergessen Sie die davon versprachen. Unbemerkt gelangte er in die Nähe Frank DavenIndianer nicht." „Siehst du", sagte James Bucknan ports, der heftig gestikulierend auf erleichtert zu seiner Verlobten, „wir zwei Kerle einredete und seine Umgebung dabei offensichtlich völlig versollten da bleiben, wo alle sind." „Ihr Männer seid einer wie der an- gessen hatte. dere", widersprach Ireen heftig. „ . . . ihr könnt mir nicht erzählen, „Hier ist es schöner als vorne am daß ihr euch nie um Gold gekümmert Strand. Warum bauen denn nicht alle habt." Das war Davenports Stimme. hier?" Er sprach schnell, aber doch mit ei„Komm!" James zog das Mädchen nem deutlichen Unterton. einfach mit sich. „In einigen Jahren, „Wenn du erst einmal einen Monat wenn wir mit den Eingeborenen Frie- oder zwei hier bist, vergißt du alle den haben, werde ich dir dein Haus materiellen Reichtümer", erwiderte hinstellen, wo du willst. Aber bis da- einer der Siedler. „Es gibt Dinge, die hin laß mich bestimmen. Denk an un- bedeutend wichtiger sind." sere Kinder." „Unsinn", sagte Davenport. „Die „James Bucknan, du Wüstling. Wir Indianer haben genug Gold für uns sind gerade erst gelandet und du re- alle. „Ihr wißt das, aber keiner von dest schon von . . . " Ireens Protest euch will damit herausrücken." erstickte unter den Küssen, mit de„Du kommst geradewegs aus Engnen Bucknan ihr Gesicht bedeckte. land . . . " Aber wenigstens kehrten die beiden „Na und?" zum Strand zurück. „Woher weißt du dann so genau Die Arbeiten gingen flott voran. über die Indianer Bescheid? Wir leHolz gab es schließlich im Überfluß, ben hier nicht im El Dorado der Spaund die Wege waren nicht weit. Bis nier." zum Mittag waren die abgebrannten „Ich weiß es eben", erklärte DavenHütten abgerissen und an ihrer Stelle port. „Das muß euch genügen."
63 Hasard hatte genug gehört. Überra- helos einstecken, doch dann sank er schend trat er hinter der Hütte her- langsam vornüber auf die Knie. vor, hinter der er gelauscht hatte. Der „Das war nur eine Warnung", sagte Abenteurer blickte ihn entgeistert an. Hasard. „Beim nächstenmal kriegen „Woher beziehen Sie Ihre Kennt- Sie den Wind voll ins Gesicht." nisse, Davenport?" wollte der See„Killigrew!" Wütend und hitzig wolf wissen. klang Davenports Ausruf. Er hatte „Ich weiß nicht, von was Sie reden. eine Pistole mit einer blitzschnellen Welche Kenntnisse?" Bewegung unter dem Hemd hervor„Was Gold betrifft." gerissen und auf den Seewolf gerichFrank Davenport grinste spöttisch. tet. „Ich könnte Sie jetzt erledigen. „Damit habe ich mich schon immer Wie finden Sie den Gedanken? Aber ich tue es nicht . . . " befaßt." „Auch mit Indianern?" Hasard trat zu, wirbelte dem Aben„Ich wüßte nicht, was Sie das an- teurer die Waffe aus der Hand und geht." ließ die Fäuste sprechen. Davenport „Sehr viel, Davenport. Ich hatte Mühe, seine Deckung hochzuwünsche, daß Sie die Siedler aus Ih- kriegen, er steckte mehrere Schläge ren Intrigen herauslassen. Solche ein. Sein Versuch einer Gegenwehr Spielchen können Sie bei Hofe und scheiterte, ihm blieb gar nichts andeunter Ihresgleichen austragen." res übrig, als dem Seewolf in die „An Bord Ihres Schiffes haben Sie Arme zu fallen und sich wie ein Polyp das Sagen, Killigrew, an Land nicht. an ihm festzuklammern. Sein Also kümmern Sie sich um Ihren ei- hochzuckendes Knie ahnte Hasard genen Dreck!" Frank Davenport schon im voraus und blockte es entdrehte auf dem Absatz um, aber wei- sprechend ab. ter gelangte er nicht. Davenport begann einen wahren Hasard riß ihn herum und schlug zu. Ein Knacken war zu vernehmen, Veitstanz. Sein Hemd war aufgerisals Davenports Unterkiefer sen. Er bemerkte es erst, als Hasard hochklappte. Einen Augenblick sah erneut zupackte und die Kette festes so aus, als könne er den Schlag mü- hielt, die er umhängen hatte.
64 „Was ist das?" fragte der Seewolf scharf. Frank Davenport schwieg — wenigstens so lange, bis er Hasards Handrücken im Gesicht spürte. „.. . ein Erbstück", stöhnte er. „Das ist indianischer Schmuck.'' „Meine Großmutter war . . . " Es klatschte wieder. Davenports Wangen begannen zu glühen, so gut wurde plötzlich die Durchblutung . „Sie und Ihre Kumpane haben uns die Indianerüberfäll e eingebrockt",
fauchte Hasard. „Dafür sollte ich Sie aufknüpfen." Der Abenteurer verzog das Gesicht zu einem mißglückten Grinsen. „Gar nichts werden Sie tun", sagte er, „weil Sie nichts beweisen können. Die Rothäute haben keineswegs zum erstenmal angegriffen." Wortlos wandte Hasard sich um, jeden Moment gegenwärtig, Davenports spöttisches Lachen zu hören. Aber dem Bastard war der Schreck wohl in alle Glieder gefahren . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 631
Blutige Küst e von Burt Frederick Gerade wollte Kapitän Toolan von dem gemeinsamen Mahl an der provisorischen Tafel der Siedler ein Gebet sprechen, da wurde der Braten auf dem Tisch mit einem Pfeil gespickt. Der Schaft vibrierte unter der Wucht des Einschlags. Eine Frau schrie gellend. Frauen und Männer sprangen von den grobgezimmerten Sitzbänken auf. Schreie und Gebrüll mischten sich. Auch die Kinder schrien jetzt, angesteckt von der Panik der Erwachsenen. Sie behinderten sich gegenseitig, als sie versuchten, sich aus der Enge zwischen Tischen und Bänken zu befreien. Etliche stürzten. In die Angstschreie mischten sich Laute der Wut. Kapitäne und Offiziere herrschten die Mannschaften an, sich mit Waffen zu versorgen. In diesem Augenblick setzte der Pfeilhagel ein. Ein unheimliches Schwirren brach über die Hastenden und Schreienden ein . . .
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. Mai 1988