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Christian Jungblut enträtselt in diesem Tatsachenroman das Drama einer brennenden Stadt im Meer: Binnen drei Stunden löst sich eine Ölinsel im Inferno auf, doch nur wenige Menschen suchen nach einem Ausweg.
Den Menschen von Piper Alpha
Christian Jungblut
Inferno
Chronik eines Irrtums
Roman
Eichborn.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Jungblut, Christian: Inferno : Chronik eines Irrtums ; Roman/
Christian Jungblut. - Frankfurt am Main, Eichborn, 1993
ISBN 3-8218-0278-2
© Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG,
Frankfurt am Main, September 1993.
scanned 01/2002, kostenlose Internet-Ausgabe
Umschlaggestaltung: Rüdiger Morgenweck.
Illustrator der Seite 2: Hannes Dönges.
Satz: Fuldaer Verlagsanstalt GmbH, Fulda.
Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg.
ISBN 3-8218-0278-2.
Verlagsverzeichnis schickt gern:
Eichborn Verlag, Kaiserstraße 66, D-60329 Frankfurt
Phlebas der Phönizier, einen halben Monat tot, Vergaß den Schrei der Möwen und die Dünung auf See Eine Strömung tief unten Nahm seine Knochen mit Wispern. Wie er stieg und sank Passierte er die Stadien seiner Reife und Jugend Und trieb in den Strudel Denk an Phlebas, er war einst mannhaft und schön wie du. T.S. Eliot
Eins
Welches Wesen birgst du, Chimäre? Unbekannt
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Aber Terrence Ogilvie kannte Angst - fast so lan ge, wie seine Erinnerung reichte. Nachts wachte er manchmal mit einem Schrei auf, die Zunge trocken wie ein Stück Holz, und die Lippen brannten. Er stürz te fünf Gläser Wasser herunter, um sich wieder zu be ruhigen. Als er auf der Ölinsel Kilt Delta kurz vor 22 Uhr die Tee-Bude der Bohrarbeiter betrat, summte Terrence den Yankee Doodle, wie immer, wenn er aufgeräumt war. Dann hörte er das seltsame Geräusch - als erster, was keinen der Männer im Tea-Buckie verwunderte. Er war eine Bulldogge, ihr Meister und Toolpusher, der das Bohrwerkzeug in die Tiefe treibt. Untereinan der nannten sie ihn Mr. Cautious, weil er übervorsich tig war. Er konnte sich cholerisch über die geringste Nachlässigkeit erregen und hielt seinen Kollegen vor: »Ich bin immer auf der sicheren Seite der Straße.« Seine Mutter erzählte später einem Reporter: »Seit seiner Kindheit hatte er Radarantennen für Gefahren.« »Ein wunderschöner Sonnenuntergang - eine Nacht, um die Meerjungfrau zu küssen«, habe Terrence noch in der Tür gesagt, erinnerte sich später ein BohrMechaniker, der schon eine Weile im Tea-Buckie saß. Er merkte es sich deshalb, weil Terrence Ogilvie wäh rend der Schicht selten scherzte. Doch heute war ein ruhiger Tag. Sie überholten gerade ein älteres Bohrloch. Der Meißel war auf 1500 Meter Tiefe, eine Routinear beit.
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Terrence ächzte aus Gewohnheit, als er seinen massi gen Körper auf die Holzbank zwängte. Er trug um den Overall einen breiten Ledergürtel, der seinen Bauch zurückhalten sollte. Zwei handspannenlange Hörner aus Chrom waren die Schnalle. Er wohnte jetzt in Texas. Seine safrangelben Lederhandschuhe legte er vor sich auf den Tisch. Niemals benutzte Terrence die auf der Ölinsel üblichen mit den roten und grünen Streifen, sondern nur diese aus den USA, von denen er im Spind mindestens zehn Paar verwahrte. Seine Kollegen belä chelten diese Macke. Er saß mit ausgestreckten Beinen. Auf seinem qua dratischen Schädel hatte Terrence eine silbergraue Bür ste. Er war erst Mitte Dreißig. Am linken Handgelenk hing ein schweres silbernes Armband mit einem klei nen Plättchen, in das der Name seiner Tochter Pam so wie das Datum 21.8. 1982 eingraviert waren. Es sei sein Talisman, hatte er Kollegen erzählt. Die Silberkette warf irisierende Lichtreflexe durch den Tea-Buckie. Meist trank Terrence seinen Kaffee hier und nicht wie eigentlich für einen Toolpusher vorgesehen im Bohr-Büro, weil er Schreibtische mied, wann immer er konnte. Er hielt nur schwer den Geruch von Akten aus. Obendrein schätzte er die provisorische Atmo sphäre des Tea-Buckie, da sie ihn an die Zeit als einfa cher Roughneck und an seine Jugend erinnerte. Der Pausenraum der Bohrarbeiter war ein zwei mal zwei Meter großer, mit weißem Lack gestrichener Blechkasten, in den gerade die ölverschmierte Holz bank, ein kleiner petrolgrüner Tisch und eine Spüle mit Kaffee- und Teemaschine paßten. Über Terrence hing neben dem Pin-up-Kalender ei ner Glasgower Autogesellschaft der ausgeschnittene 10
Plattentitel »Don't worry, be happy«. Darunter stand in Terrence' eckiger Schrift: »Worry and be happy.« Aus dem Bohrlärm der Ölinsel, der als verschwom menes Rauschen durch die Stahlwände des Tea-Buckie und die dicke, mit Gummi isolierte Eisentür drang, hörte Terrence plötzlich einen falsettartigen hohen Ton heraus. Er beugte sich vor und sagte: »Da macht irgend ein Idiot eine Ziege nach.« Schon als Kind hatte Terrence das Blöken von Ziegen auf dem kleinen Bauernhof seines Großvaters gehört, von dem er ein biblisches Bild in sich trug. Mit einem Stoppelbart und fleckigen, mageren Greisenhänden hauste sein Grandpa störrisch in der halbzerfallenen Crofter-Kate, die nach und nach auch die Hühner, Schweine, Hunde und Ziegen okkupiert hatten. An sei nem schwarzen Kunstledersofa knabberte eine der Ziegen. Es war wie Ziegenblöken, Terrence war sich sicher. Doch der Mann draußen mußte über enorme Puste verfügen. Terrence hielt die Kaffee-Mug in der Luft und horchte mit offenem Mund. Für einen Roughneck neben ihm auf der Bank war das Geräusch mehr ein lautes Schrammen. »Als würde je mand mit einer baumhohen Feder schreiben«, sagte er. Und dem an der Spüle lehnenden Bohrmechaniker erschien es wie der Aufschrei einer strangulierten Frau, was später zu Protokoll gegeben wurde und den ohne hin wuchernden Spekulationen eine anrüchige Note verlieh. Dann hörten Terrence und die anderen Männer ein ohrenbetäubendes Knallen, Wummern, Ballern oder Donnern und wurden von einem Stoß im Tea-Buckie durcheinandergewürfelt. Das Licht flackerte. Staub rie selte in Kaskaden auf sie herab. 11
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»Gebrauch dein Gehirn und nicht deine Hoden«, war mit dickem Filzstift auf ein ausgerissenes Stück Pappe über seiner Werkbank geschrieben. Hugh McLean arbeitete direkt unter dem Tea-Buckie in der Elektrikerwerkstatt. Er hatte das Schild mehr für seine Kollegen als für sich dort hingehängt. In seiner Kammer klebte über dem kleinen Schreib tisch zwischen den Etagenkojen die gleiche Aufforde rung. Und im Bücheregal hatte er neben die Groschen romane und Pornohefte seiner Kabinengenossen de monstrativ Broschüren über die Apartheit in Südafrika und den täglichen Rassismus in England gelegt. Hätte man ihn gelassen, wären überall auf der Plattform Spruchbänder angekleistert worden. Er hatte Damenhände und einen schwarzen Vollbart, der früher weitaus länger und filzig gewesen war. Hugh hatte ihn gestutzt, weil er es nicht mehr ertragen konn te, daß Kollegen ihn Rasputin nannten. Dieser Russe war für ihn der Inbegriff des Reaktionärs. In einem Notizbuch, das immer unter seinem Kopf kissen versteckt lag, hatte Hugh auf der Innenseite des Deckels vermerkt: »Religion ist Opium fürs Volk. Marx!« Er war aus politischer Überzeugung Atheist ge worden. Hugh nahm einen großen Starkstromschalter ausein ander, aber dachte dabei an seinen Aufsatz über Cosi fan tutte. Schon als Jugendlicher hatte er Kunstgeschichte stu
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dieren wollen. Sein Vater wischte die Idee mit abgedro schenen aber schlagenden Argumenten vom Tisch: »Das ist alles brotlose Kunst. Von einer Elektrikerlehre hast du was fürs Leben.« Er wollte seine Neigung vergessen und litt zwei Wo chen im Bett an einer mysteriösen Krankheit. Dann stand er auf, begann fröhlich die Lehre und dachte nie wieder daran. Eines Tages, er arbeitete schon längst auf Olinseln, brach nach vier an Land durchzechten Näch ten seine Neigung als Kater-Idee wieder hervor. Seiner Frau erzählte er: »Entweder bringe ich mich durch Suff um oder ich studiere Kunstgeschichte.« Noch mit dröh nenden Whiskyglocken unter der Schädeldecke trug er sich am selben Tag als externer Student bei der Universi tät von Aberdeen ein und mied fortan scharfe Getränke. Der Opernaufsatz war seine erste große Semesterar beit. Er formulierte im Kopf: »Dorabella und Fiordiligi wußten von vornherein, daß sie reingelegt werden sol len, und - indem beide auf das Spiel eingingen - nah men sie die Männer hoch.« Er verwarf den Satz, nicht wegen seiner Aussage, sondern weil er ihm in der Form zu banal, ja vulgär vorkam. Er beschloß, das nächste Mal seine Notizen mit an die Werkbank zu nehmen, um die Gedanken gleich festhalten zu können. Er träumte beim Säubern der Kontaktplättchen ein wenig davon, als linker Professor die Kunstgeschichte neu zu schreiben. Er sah sich allein im Adams-Saal der von wuchtigen Säulen gesäumten Edinburgher Biblio thek, sein Schreibtisch war umstellt von Bücher türmen. Dann zog er aber vor, nach der Revolution Kultur minister zu werden und hatte einen Hugh McLean vor Augen, der flammende Reden hielt. Er grinste über sich selbst. 13
Ein hoher, jaulender Ton von draußen unterbrach seine Betrachtungen. Irritiert wandte er sich von dem Schalter ab. Ihm schien, als werde ein riesiger Bohrer mit Jet-Antrieb in gehärteten Stahl gejagt. Er lauschte. Wie er später Kollegen erzählte, dauerte das Geräusch knapp zwanzig Sekunden, in denen er unschlüssig horchte. Es endete mit enormem Krachen. Hugh registrierte noch, daß die Werkbank sich um fast einen Meter anhob und - was ihn verwunderte daß die schweren Schalter, Zangen, Hammer und Schraubenzieher aufflogen, aber dann wie von einem Magneten gehalten in der Luft verharrten. Als Hugh wieder bei Bewußtsein war, lag er von Metallteilen und Arbeitsgerät umgeben auf dem Boden der verwüsteten Werkstatt. Er dachte: Das ist der Racheengel.
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Er war nicht zum Helden geboren, was er später noch sehr bedauern sollte. Alexander Shinwell saß im fensterlosen Bürocontainer auf einem eisernen Drehstuhl mit Plastikpolster. Die Leuchtröhren kni sterten, eine barbrüstige Mulattin blickte durch einen Autoreifen vom Goodyear-Kalender auf ihn herunter, der Malervormann Ben röchelte hinter ihm die Melo die des Kettenrauchers. Alex Shinwell fühlte sich auf dem Bürostuhl unsi cher. Er war neu für ihn. Und er saß dort in Freizeit kleidung, in Jeans, blauem Polohemd und weißen Snee kers - noch ungewohnter. Er konnte sich kaum damit abfinden, nicht wie sonst den grünen Overall und die hohen Sicherheitsstiefel des Mechanikers zu tragen. Er arbeitete über die Schicht hinaus und neigte sich über Akten, die längst durchgesehen waren. Sein rundes blankpoliertes Gesicht glänzte im Neon grünlich und stolz. Der Malervormann Ben, der gerade Schichtpläne durchging, erzählte später: »Ich sah nur seinen gebeug ten, massigen Nacken und dachte: Alex wird alt.« Es war seine vierte Schicht als Superintendent, als Di rektor für die Arbeiter der Subunternehmer. Zum x-ten Male rechnete er aus, daß nur 21 Mann an Bord bei der Ölgesellschaft Continental direkt angestellt waren. Er addierte das Küchenpersonal zur Negativbilanz, eben so die Bohrarbeiter - 42 insgesamt und geheuert von konkurrierenden Subunternehmen.
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Dann kam er zu sich selbst. Alle Maler, Kranführer, Mechaniker, Rigger, Zimmerleute, Gerüstsetzer, Schlosser und Elektriker der Ölinsel unterstanden ihm. 163 Mann insgesamt. Ihm schwindelte. Auf seine Schreibtischunterlage hatte er die magische Zahl wie der und wieder mit Bleistift und Kugelschreiber ge malt. Es war ein uferloses Ornament von Geraden und Kringeln entstanden. Die Beförderung hatte ihn unvorbereitet getroffen. Alex lief immer noch, wie sonst, zuerst zur Mechani kerwerkstatt und machte erst dann einen Schwenk zum Bürotrakt der Ölinsel. Daß er diesen Posten nur erhalten hatte, weil sein Vorgänger mit einer Lungenin suffizienz im Hospital lag, hatte Alex aus seinen Ge danken verbannt. »Doch mir graut bei der Vorstellung, daß ich als Boß von meinen Kollegen für einen Bastard gehalten wer de«, hatte er kurz nach seinem Wechsel dem Toolpu sher Terrence Ogilvie anvertraut. So saß Alex Shinwell mit dem geschwollenen Kamm des frisch gebackenen Aufsteigers auf dem ungewohn ten Stuhl, als er ein schwingendes Pfeifen vernahm und es für herabsausende Bomben hielt. Alex fiel auf, daß der Ton ihm einen kribbelnden Schauer über den Rücken jagte. Er sah aus längst vergangenen Tagen das Bild seiner Mutter, einer hochgewachsenen Frau mit stolzem, scharfgeschnittenem Gesicht und schwarzem Jabot. Während alle um sie herum liefen, beugte sie sich ruhig zu ihm herunter und sagte: »Die Fritz können uns nichts anhaben. Und außerdem - sie wollen den Eng ländern an den Kragen und nicht uns Schotten.« »Was zum Teufel ist das Heulen?«, rief der erschreckte Malervormann hinter ihm. 16
»Weiß nicht«, sagte Alex ohne eine Spur von Unsi cherheit. Er dachte nicht an Flucht. Er blieb gespannt sitzen und horchte, bis endlich das dumpfe Knallen kam. Sein Drehstuhl schwankte, und wie beim Angriff da mals fielen Deckenplatten auf ihn herab. Der Malervor mann taumelte kreidebleich durch den Raum. Alex fing ihn auf. »Obwohl es mir selbst absurd erschien, war ich über zeugt«, sagte er ihm später, »daß es ein Luftangriff ist.«
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Als das Kreischen ihn aus einem Nickerchen hoch schreckte, erkannte Edmond Roarty nicht das Omen, das in seinem Traum verborgen war. Er saß im Bordkino der Kilt Delta, wo auf der Leinwand die Gol fer-Klamotte Caddyshag lief. Fast alle fünfzig Plätze waren besetzt. Edmond Roarty war tief ins blaue Velourspolster versunken. Über die Rückenlehne ragten nur seine struppigen Haare, die dem Fell seines Terriers Charly glichen. Auch Edmonds Gesicht ähnelte ihm verblüf fend. Er hatte mal seinen Kollegen ein Bild von sich und Charly gezeigt. Seitdem witzelten sie, daß man nicht unterscheiden könne, wer Köter und wer Herr chen sei. Es gab jedoch einen frappierenden Unterschied. Im Gegensatz zu dem einfältig dreinschauenden Charly hatte Edmond flinke Wieselaugen. Sein Blick wanderte wie aufgezogen ständig herum und versuchte, jedes noch so kleine Detail seiner Umgebung zu erfassen. Außerdem hatte Edmond die seltsame Angewohn heit, Gruselgeschichten zu erfinden, die jedoch nicht in Schlössern oder auf Friedhöfen, sondern in gewöhn lichen Wohnhäusern und sogar auf Bohrinseln spiel ten. Als später Horden von Journalisten ausschwärmten und jedes noch so kleine Detail über die Männer der Kilt Delta zusammenklaubten, erzählte seine siebzig jährige Mutter einem Fernsehreporter, daß Edmond an
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einem Sonntag geboren wurde, als ein glühender Sturm über das Dorf fegte - so als habe Schottland in der Wüste gelegen. Sie saß während der Aufnahme wie ein Vögelchen in einem wuchtigen Lehnsessel mit Kamelienmotiven und goldenen Troddeln und sagte: »Deshalb, und weil er manchmal mit offenen Augen schlief und obendrein wegen seiner Phantasie, mußte er Vorahnungen gehabt haben.« Edmond hörte auf seinem Kinosessel zwar von drau ßen das ungewöhnliche Rauschen der Gasfackel. Sie ragte an einem stählernen Ausleger über das Ende der Ölinsel hinaus und war laut wie ein Sturm. Im Däm mer tanzte ihr Widerschein auf dem Bohrturm wie zur Walpurgisnacht. Aber er wußte, daß seit einigen Tagen viel überschüssiges Erdgas abgefackelt werden mußte, weil einige Anlagen überholt wurden und nur mit hal ber Kraft liefen. Wie meist achtete Edmond nicht so sehr auf den Film, sondern ließ seine Gedanken treiben. Seine Lider waren schwer, und ihm fiel durch das Fackelrauschen, wie er später erzählte, die Geschichte einer Bohrinsel ein, die von der Welt abgeschnitten im Ozean trieb. Erdgas und Öl spülten geheimnisvolle Viren aus dem Erdinneren nach oben. Sie entwichen über die Fackel und schlugen mit den Rußschwaden auf die Crew nie der. Als Fluch des flüssigen Goldes fraßen die Viren in nerhalb von drei Stunden alle Männer von den Knö cheln her vollständig auf. Er malte sich aus, wie er Kollegen die Geschichte vor tragen würde und grinste mit geschlossenen Lidern. Manchmal gelang es ihm, die hangesottenen Männer zu erschrecken. Sie riefen: »Verdammt, hör' auf. Genug. Halt die Schnauze!« 19
Schließlich nickte Edmond ein, und das Rauschen der Fackel vermischte sich mit Traumbildern. Mit einem silbrigen Damenstrumpf als Schmetter lingsnetz sprang er durch einen Bach und lief hinter ei nem palmenblattgroßen Nachtpfauenauge her. Seine Frau und beide Kinder folgten ihm. Dann saß er allein in einem Auto und fuhr mit kreischenden Bremsen ei nen Hang hinunter auf eine weiß aufragende Felswand zu. Er war sicher, daß sein Auto mit lautem Knall zer schellen und er sterben würde. Doch plötzlich fiel er aus der Wagentür und kugelte auf eine Wiese mit But terblumen. Er blieb auf dieser Wiese sitzen, die wie eine Wolke schwebte. Mit dem Duft der Sommerwiese in der Nase wachte Edmond auf, hörte aber immer noch das Kreischen der Bremsen. Er nahm an, daß im Film gerade eine Verfol gungsjagd lief. Er blinzelte zur Leinwand, sah aber nur einen einsamen Golfer. Da mündete das Kreischen in einem dumpfen, hoh len Knall. Edmond Roarty flog senkrecht hoch und fiel krachend in seinen Sessel zurück. Die zwei mal drei Meter große Leinwand brach in sich zusammen. Das Licht erlosch, und den Vorführraum füllten erschreckte und verstörte Rufe der Männer. Edmond Roarty erschien es, als hätte er das Knallen schon einmal zuvor gehört.
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Sein Name wurde später meist mit einem Zusatz er wähnt - entweder Opferlamm oder Sünden bock, manchmal auch Einfaltspinsel. David Ferguson hatte gerade geduscht und roch nach Pfirsichshampoo. Seine noch feuchten, kurzgeschorenen Haare glänzten im Kojenlicht. Er hatte dichte und düster zusammen stehende Augenbrauen und mädchenhaft kleine Oh ren. Im linken Ohrläppchen hing ein kleiner silberner Ring. Er wirkte wie ein Lederschwuler. Doch Frisur und Schmuck waren für ihn das Zeichen emanzipierter Männlichkeit. Er war 25 Jahre alt. In seiner Kabine C 27 hörte David Ferguson zwar ein gedämpftes Fauchen, aber er glaubte, es sei die Kam merdusche, unter der sein Kollege Eugene gerade stand. Die beiden unterhielten sich schon eine Weile lautstark durch die geschlossene Tür. »Ich werd' noch meine Angel über die Reeling wer fen. Es ist eine schöne Nacht wie am Mittelmeer«, hat te Eugene durch das einsetzende Rauschen des Wassers gesagt. »Mittelmeer, Mittelmeer...«, äffte David, »schön wie eine Kitschpostkarte!« Er hatte ein unwirsches, un ausgegorenes Gehabe, das ihn leicht anecken ließ. Doch sein ehemaliger Lehrer von der Berufsschule für Ma schinenbau in Aberdeen erzählte später: »Nur Tar nung. Er war sehr empfindlich und hatte die Eigenart, alles persönlich zu nehmen und auf sich zu beziehen. Damit zog er sicherlich auch sein Unglück an.«
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David Ferguson war mißgelaunt wegen eines unvoll endeten Tagewerks. Die ganze Schicht über hatten sie sich mit nur einem Sicherheitsventil der Gaspumpe Zwer beschäftigt - es ausgebaut und vollständig über holt, aber bis zu Schichtende nicht wieder einsetzen können. Das Ventil wurde später bei der Untersuchung meist nur als PSV 47 bezeichnet, wodurch es diabolisch un faßbar blieb. »Ich versteh' den Meister nicht«, rief er, »eine Über stunde, und wir hätten das Ding am Platz gehabt. War um nur?« Aus der Duschkabine kam nur ein verrausch tes Brummein. David urteilte laut für seinen Kollegen: »Der Kerl kann uns nicht leiden.« Damit traf er den Nagel auf den Kopf - doch aus ei nem völlig anderen Grund als er vermutete. Wie später die Untersuchung aufzeigte, haßte der Reparaturmei ster der Ölgesellschaft, kostspielige Überstunden anzu setzen. Besonders schlecht war er auf Arbeiter von Sub unternehmern zu sprechen, die er allesamt für Blutsau ger hielt. Seiner Aussage zufolge war David Ferguson für ihn ein Niemand gewesen, was der jedoch nicht wissen konnte. Dave war das erste Mal auf Kilt Delta und seit fünf Tagen an Bord. Gemeinsam mit seinem Kollegen sollte er für einen Subunternehmer 234 Ventile der Öl- und Gasproduktion generalüberholen. »Hörst du, Eugene? Wenn es so weitergeht, werden wir eine Woche länger als geplant bleiben müssen.« Er wippte in der Mitte der Kammer gereizt auf seinen aus gedrehten nackten Füßen, die in karierten Filzpantof feln steckten. Um die Hüften hatte er ein Handtuch ge schlungen. »Ja, und... ?« vernahm er aus der Duschkabine und 22
wurde noch übellauniger. In dem Moment tönte durch das Rauschen des Wassers ein gedehntes Fauchen. Da vid maß ihm keine Bedeutung zu. Er hatte Wut auf die Vorgesetzten der Ölgesellschaft, die er insgeheim Hornochsen nannte. Wut über die Enge der Kammer und den damit verbundenen Zwang. Seine Bettdecke lag noch zerknüllt vom Morgen auf der Koje, was sein Kammergenosse als Zumutung emp fand. Er hatte Wut auf die Abgeschiedenheit der Ölin sel, die ihm nicht erlaubte, eben mal Freunde zu treffen oder in einen Pub zu gehen. Und Wut auf sich selbst, weil er wegen des Lohns diese Arbeit angenommen hatte. Auf dem Schreibtisch zwischen den zwei Etagenko jen stand ein fünf Kilogramm schweres Ventil-Standard werk, das er in seinem Seesack stets mit sich nahm. Da neben lag ein begonnener Brief an seine Eltern. Mit rundbogiger Schrift hatte er vermerkt: »Ich war wohl verrückt, als ich den Job annahm, und bin auf einer gottverlassenen Plattform gelandet.« Manchmal hoffte Dave, daß die Kilt Delta wie ein morsches Gerüst einfach zusammenbrechen würde, und er stünde befreit an Land. Wenn aber bei Bohrar beiten die Ölinsel unter seinen Füßen vibrierte, glaubte er, daß sein ungeheuerlicher Wunsch sich erfüllen kön ne. Er bekam einen gewaltigen Schreck. Die Kilt Delta stammte aus den Pioniertagen, als die Ölproduktion in der Nordsee begann. Sie hallte wider vom lärmenden Kampf gegen den Verfall. In die vier mächtigen Hauptpfeiler und hunderte Streben hatten Salzwasser und Vibrationen braungrüne Risse gefres sen, die mit Gurgeln zu Spalten aufbrachen und immer weiter wucherten. Trupps von Tauchern hämmerten und schweißten 23
unter Wasser und versuchten, mit tonnenschweren Klammern die aufbröckelnden Löcher zu schließen. Und über der See klirrten die Rigger mit ihren ellen langen Schraubenschlüsseln. Verbissen arbeiteten sie rund um die Uhr gegen den Fraß. Doch allen war klar, daß am Ende der Rost sie gen müsse. Denn das stählerne Fundament der Platt form hatte gewaltige Ausmaße. Es ragte 187 Meter vom Seeboden bis weit über das Wasser. Es war weit höher als der Big Ben. David Ferguson stellte sich keineswegs den tosenden Zusammenbruch vor, der vielleicht mit einem ge dämpften Knistern beginnen würde. Seine Phantasie produzierte ausschließlich Bilder von sich und seinen Kollegen, wobei er jeden wie beim Schachspiel die Posi tionen wechseln ließ und auf die obskursten Konstella tionen kam. Er sah sich mit dem gelben Schlips des Plattform-Managers und kanzelte den Meister ab, der den Einbau des Ventils verhindert hatte. Dave seufzte und ließ das Handtuch von den Hüften fallen. Er war passionierter Nacktschläfer. Ohne Um schweife glitt David ins Bett. Er nahm das schwere Standardwerk als Nachtlektüre zur Hand und schimpfte vor sich hin. Von einem hoh len Wummern wurde er unterbrochen. Durch einen Stoß rutschte David aus der Koje und polterte auf den Boden. »Ich dachte zuerst nur daran, wie ich in meine Hose komme«, erzählte er später. Sein Kollege Eugene sprang triefend aus der Dusch kabine. David registrierte, daß der Luftstrom vom Deckenlüfter nach Schießpulver roch. »Eugene«, sagte er, »ein Hubschrauber ist auf die Plattform gefallen.«
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Er nannte sich North-Sea-Tiger, wofür sich alle wil den jungen Männer auf den Ölinseln der Nordsee hielten, die unter den Sprüchen von Rauhbeinen ihre dünne Haut verbargen. Aber er war ein schon angegrauter Tiger mit melan cholisch herunterhängenden Augenwinkeln und mäch tigem, fleckigem Kaiserbart, der wie eine Sturzsee sein rundes Gesicht zerteilte. Seine Arme waren die Leinwand seiner Jugendsün den. Zwei blaue Drachen mit rotem, feurigem Hauch wanden sich darauf, ein Pfeil durchbohrte ein Herz, eine Rose und ein Anker schwebten umher, ein schwar zer Panther fauchte, und eine Nixe lockte mit wippenden Brüsten. Ronny Carmichel trug einen roten Overall mit einmal aufgekrempelten Ärmeln. Nur der Fischschwanz der Meerjungfrau hing darunter heraus. Mit dem Aufschlag wischte er sich Kuchenkrümel aus dem Kaiserbart. Er hatte eine Kaffeepause gemacht und war auf dem Weg zur Gasaufbereitungsanlage. Ronny trällerte »Twist in my sobriety«, das gerade die Hitlisten anführte. Er bemerkte, daß die Fackel seitlich vom Bohrturm mit fast zehn Meter langer Flamme brannte, manchmal ruckweise etwas einschrumpfte und sich sofort wieder ungewöhnlich ausweitete. »Wer die Plattform kannte«, sagte er später einem Kollegen, »der wußte, daß irgend etwas am Gassystem falsch war. Der Operator wollte es wohl gerade ändern.«
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Über das Deck hinweg sah Ronny in einer Feuer wand die Sonne untergehen. Ihr Schein übergoß die weißen Aufbauten der Plattform wie mit Erdbeersoße. Ronny genoß den lauen Sommerabend auf See, der ihn an seine ungestüme Zeit erinnerte. Damals tanzte er akrobatisch gut Rock'n Roll und war ein standhafter Schluckspecht, der nach Sauftouren den ganzen Ort wachgröhlen konnte. Damals waren die Abende immer so wie jetzt, dachte er und stellte sich ein Schäferstündchen mit der jungen Nachbarin vor, dort, wo am Forth die Weiden direkt am Ufersaum standen. Doch es war nur ein gedankli ches Vergnügen. Denn übereinstimmend erzählten spä ter Kollegen und Nachbarn: »Ronny liebte seine Frau. Er war ihr treu wie ein Collie.« Sie hatten keine Kin der. Ronny war ihr Kind. Er lief nach unten hinein in die Plattform über stei le, ölige Stiegen, die im Mischlicht speckig glänzten. Für Ronny war es ein Wohlgefühl, wenn seine Hand flächen über das glatte Eisen von Geländern rutsch ten. Siebzehn Jahre zuvor hatte er als Stahlbauer mit Hunderten anderen Arbeitern das Fundament am Ufer der Nigg-Bay zusammengebolzt. Die Dünen waren mit Planierraupen plattgewalzt worden. Er schraubte wie im Rausch und schlief abends in wohliger Mattigkeit vor dem laufenden Fernsehgerät ein. Schließlich lag das fertige Gerüst wie ein umgefallener monströser Hoch spannungsturm auf dem Strand. Es wurde auf Schuten verladen und über dem Kilt-Ölfeld mitten in der Nord see abgesenkt. Aber Ronny wollte nicht die Plattform auf dem Fun dament errichten. Er sagte: »Ich gehöre in die Luft und nicht auf die See.« Er dachte an Hochbrückenbau. Man 26
redete ihm zu, daß doch auch Plattformen gleichsam in der Luft über dem Wasser schweben. Das Fundament ragte dreißig Meter aus der See. So war Ronny dabei, als acht Schwimmkräne die Plattform daraufsetzten. Sie war nicht nur eine einfa che Stahlebene, sondern wie ein riesiger, hoher Ponton, aber zu den Seiten hin offen. Ihre Höhe war damals eine Sensation. Es hätte bequem eine vierstöckige Häu serzeile hineingepaßt. Wieder schraubte Ronny besessen. Erst bauten er und seine Kollegen im Inneren der Plattform zahlreiche Zwischendecks und Laufstege ein, dann Kessel, Pum pen, Ventile und Rohre der Öl- und Gasproduktion und schließlich kleinere Werkstätten und den Kontroll raum. An einem regnerischen Junimontag stand er auf dem stählernen Deckel der Plattform. Die Fläche war leer und erschien ihm fast so groß wie ein Fußballfeld. End lich hatte Ronny wieder das Gefühl von freier Luft und Höhe. Er leckte die Regentropfen aus seinem Bart und sah unter sich zwei Kräne heranschwimmen. Sie hiev ten den Wohntrakt zu ihm hinauf. Der eiserne Quader nahm das nördlichste Drittel des Decks ein. Ronny lief darin herum und staunte. Der Kasten hatte auf vier Etagen endlose Flure und zahllose Kammern mit Kojen und Duschen und war wie ein be zugsfertiges Hotel. Oben auf dem Dach war ein großer Kreis mit einem Punkt in der Mitte aufgemalt - der Helikopterlandeplatz. Ronny verbolzte noch den Quader, als die Kräne auf das gegenüberliegende Ende des Decks den Bohrturm setzten. Mannshohe Eisenpfosten säumten schließlich in pa rallelen Reihen den Platz zwischen Turm und Wohn 27
trakt. In Pausen lehnte Ronny manchmal an einem die ser angerosteten Stämme und blickte dahin, wo See und Himmel ineinander verschmolzen. Dann war dieser Platz unter Stapeln von Bohrgestänge verschwunden und wurde nur noch Rohrdeck genannt. Die Produktion begann. Ronny wollte endlich Brücken bauen. Man erklärte ihm er würde einen ausgezeichneten Rigger abgeben. Der Name stamme aus der Seemannssprache und be deute soviel, wie hoch oben in den Masten arbeiten. Er krabbelte dann aber mit Ring- und Maulschlüsseln nur im Inneren der Plattform umher und baute mit der Ausweitung der Produktion neue Rohre, Krümmer, Pumpen und Kompressoren ein. Und obendrauf mon tierte er am Wohntrakt entlang immer weitere große und kleine Kästen für Quartiere, Werkstätten, Läger und Teebuden, bis die Kilt Delta verwinkelt und ver schachtelt wie eine moderne Wasserburg war. Ronny tröstete sich damit, ein North-Sea-Tiger zu sein. Er fühlte sich auch als technischer Revolutionär. Die Ölgesellschaft hatte den Männern weisgemacht, daß sie an einem zukunftweisenden Werk tätig seien. Zuletzt setzte Ronny seine Schraubenschlüssel fast nur noch gegen Rost, Bruch und Lecks ein. »Es ist eine gutmütige Plattform, aber sie wird lang sam alt«, hatte er seiner Frau ein paar Tage zuvor ge sagt. In der Gasaufbereitungsanlage sollte er einen verrot teten Kessel abflanschen. Immer noch pfeifend nahm Ronny die letzten Stufen. Auf dem Zwischendeck stieß er fast mit dem von rechts heranhastenden Instrumen tentechniker Andy Gillies zusammen. Ronny habe irgend etwas von »Traum-Nacht« hinge worfen, erinnerte sich Andy später. Er und auch Ron 28
ny trugen Lärmschützer über den Ohren. Andy rief: »Ich muß zur Gaspumpe, da gibt's ein Problem.« Er verlangsamte seine Schritte und fragte nach den letzten Spielergebnissen. Er wußte, daß Ronnys Freude des Lebens aus Fußball bestand. In den Zeitungen las er nur den Sportteil und höch stens mal Vermischtes. Im Fernsehen sah er sich jedes Spiel an, auch Wiederholungen. Er schnitt sie alle auf Video mit. Und wenn es gerade nichts Neues zu lesen oder zu sehen gab, spulte er die alten Kassetten ab. Obwohl er ein sehniges Kraftpaket von knapp 1,70 Metern Länge war, kickte er nie auf dem Fußballplatz von Bannockburn, seinem Dorf. Statt dessen stemmte er im Pub The Seven Arms gefüllte Bierkisten mit nur ei ner Hand in die Luft. Herausforderern gelang es meist gerade eben, den Kasten bis zur Brusthöhe zu lüften. »Ich vertraue nur meinen Händen«, schnurrte Ronny häufiger und hielt sie wie zum Beweis seinen Gegnern hm. Sie waren dick, schwielenbedeckt, eingerissen und vernarbt, aber rosig wie Schweinebacken. Dann stürzte er den flüssigen Wettbetrag herunter. Andy, der im Nachbaron Bowie wohnte, hatte solche Auftritte ein paar Mal miterlebt. Am nächsten Niedergang trennten sich ihre Wege. Der Instrumententechniker Andy Gillies beschleunigte seine Schritte und lief hinunter. Ronny schlenderte wieder pfeifend geradeaus. Er schwenkte zu einer auf führenden Eisenstiege ein und sah im Augenwinkel von links zwei Männer vorüberhuschen. Den einen erkannte er an seinem gedrungenen, vorn übergebeugten Oberkörper als den Produktionsleiter der Gasanlage und den anderen als dessen Assistenten, der, fast zwei Meter groß, sich aufrecht wie ein Stock hielt. Ronny dachte, die haben es ja mächtig eilig. 29
Er hatte drei Stufen genommen, als ein harter, heißer Luftzug in sein Gesicht blies. Durch seine Ohrenschüt zer drang gedämpft ein Zischen. Es schien ihm, als würde eine Eisenbahn Dampf ablassen. Er wendete sich um und hörte noch im Drehen ein hohles Rumpeln über sich, wie vom Donnerschlag eines Gewitters. Fünf Meter von der Treppe entfernt fand er sich auf dem Rücken liegend wieder. Die beiden Männer waren verschwunden, ebenso sein Helm, die Ohrenschützer und das Werkzeug. Er war über und über mit weißem Staub bedeckt. »Ich sah aus wie ein Geburtstagskuchen mit Puderzucker«, erzählte er später einem Kollegen. Von den sonst lärmenden, zischenden und heulen den Produktionsanlagen hörte er keinen Ton. »Mich umgab eine außerirdische Stille«, sagte er, »die Platt form war tot.«
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Im Kontrollraum hörte der Operator Gilbert Dobbs weder ein Fauchen, Zischen oder Pfeifen, auch kein Ballern, Donnern oder Knallen. Er fühlte nur. Er wur de von seinem Sitz angehoben und segelte vier Meter weit über den grüngestrichen Fußboden. Der Flug en dete am Armaturenschrank. Als Gilbert wenige Sekunden später wieder zu sich kam, lag er begraben unter Handbüchern, Lampenab deckungen, Computerteilen und Akten. Der Warn summer jaulte, und auf den Konsolen flackerten und blitzen in wildem Durcheinander gut hundert rote und weiße Lämpchen. Er richtete sich etwas auf. »Um meinen Kopf kreisten bunte Funken. Ich dachte, in einem Traum zu sein«, sagte er später. Seine rechte Hand hielt ein abgerissenes Mikrofon. Eine kleine Blutfontäne pulste aus dem Ge lenk. Er drückte einen Finger darauf, was den Strom versiegen ließ, nahm ihn wieder weg. Der dünne rote Strahl schoß erneut heraus. Gilbert blieb benommen auf dem Boden sitzen und versuchte, sich zu erinnern. Ein Mechaniker, der in den Kontrollraum stürzte, gab später zu Protokoll: »Gilbert saß da wie ein Kind, das in sich versunken und wie im Spiel eine Hautab schürfung untersucht. Und das erschreckte mich fast mehr als der Knall. Denn er war ein Mensch, der im mer die Übersicht behielt.« Gilbert Dobbs hatte den Faden verloren. Er war in der strengen presbyterianischen Überzeu
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gung der Selbstenthaltung und dem über drei Genera tionen von Industriearbeitern immer unerbittlicher formulierten Glauben an Disziplin erzogen worden. Er hatte als Kind erlebt, wie sein Großvater das Brot be hutsam in gleichmäßige dicke Kanten schnitt, dann Schweineschmalz darauf strich und behauptete: »Zuviel und zu gutes Essen macht dumm.« Auch den früh an Krebs gestorbenen Vater sah Gilbert in seiner Erinnerung stets am Eßtisch. Kurz vor sechs Uhr zog er seine Armbanduhr aus Golddouble auf. Dann schwenkte sein Blick zur Standuhr, die düster mit gedrechselten Eichensäulen in der Zimmerecke stand. Sie war ein Erbstück und hatte ein messingnes Zifferblatt mit schwarzen römischen Zahlen und ziselierten Zei gern. Mit einem dünnen Rattern kündigte sich das Läu ten an. Der Vater wendete den Kopf zur Tür. Mit dem ersten Glockenschlag öffnete sie sich, und die Mutter kam mit der dampfenden Suppenterrine herein. Nie hatte Gilbert erlebt, daß sie zu früh oder zu spät durch diese Tür trat. Manchmal, wenn sie am Tisch warteten, starrte Gilbert erst auf die Tür und schloß dann die Augen. Er versuchte, sich vorzustellen, daß sie sich nicht öffnete. Er sah nie ein Bild. Doch in seinem Gefühl schien es den Stillstand der Welt zu be deuten. Und danach käme ihr Untergang. »Scheißen und Pinkeln«, pflegte Gilbert zu sagen, »sind Beschäftigungen für Pausen oder den Feierabend. Ich hab auch meinen Darm unter Kontrolle.« Mit die sem geläuterten Bewußtsein hatte er zehn Jahre Dienst auf der Ölinsel getan. Seit drei Jahren war er Kontroll raum-Operator. »Vorbild an Korrektheit und Aufmerk samkeit!«, hatte der Personaldirektor der Ölgesellschaft in Gilberts Akte festgehalten und dem Ausrufungszei chen einen fast schwärmerischen Schwung verliehen. 32
Doch der Personaldirektor hatte es während seiner vie len Besuche auf der Kilt Delta nie geschafft, über Stiegen und Leitern zu Gilberts Kontrollraum herunterzuklet tern. Er lag fast zwanzig Meter unter dem Wohntrakt auf der niedrigsten Ebene des Plattformkastens und war zu den Seiten und nach hinten von kleineren Werkstätten und Produktionsanlagen umgeben. Davor verlief als Au ßenkante des Decks ein schmaler Steg. Knapp 20 Männer standen auf dieser Laufbrücke und starrten Gilbert an, als er von einem Arbeiter gestützt aus dem zerstörten Kontrollraum trat. Gilbert fragte: »Herrgott, was ist passiert?« Die Männer, die aus der Umgebung zusammengelau fen waren und eigentlich von ihm darüber Auskunft er hofften, waren so verblüfft über seine Frage, daß ihnen die Worte fehlten. Einige grinsten verlegen. In der Mitte der Gruppe stand auch der Instrumenten techniker Andy Gillies mit einer Hautabschürfung an der Stirn. Wie der Rigger Ronny Carmichel, mit dem er kurz zuvor über Fußball gefachsimpelt hatte, war auch er nach dem Knall gestürzt. Und auch er hatte Helm, Oh renschützer, Werkzeug und dazu noch seine Brille verlo ren. Deshalb blinzelte Andy und wirkte fast fröhlich. Er hatte eine zarte Statur und galt als gehemmt. Wenn er mit mehr als zwei Leuten zusammenstand, brachte er keinen Ton über die Lippen. Andy drängte sich durch die Männer nach vorn und tippte mit einer schnellen Bewegung neben die blutende Abschürfung an seine Stirn. Die Geste war so unerwartet und so be stimmt, daß sie die Zungen der Männer löste. Ein plötzlicher Schwall fragender Rufe brandete über den Kontrollraum-Operator hinweg. Gilbert Dobbs konnte den Faden nicht wieder fin den. 33
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Niemals zuvor hatte Ronny Carmichel eine derar tige, anhaltende Stille erlebt. Er hatte vergessen, den Staub von seinem Overall zu schütteln. Auch der Kaiserbart und die Haare waren noch wie gepudert. Nach dem Sturz war er, ohne sich zu besinnen, aufge sprungen und losgerannt. Sein Ziel war der Wohntrakt weit über ihm. Er woll te dahin, woher er gekommen war, und verband damit das unbestimmte Gefühl, alles rückgängig zu machen. Er fegte durch die Zwischendecks im Inneren der Plattform und polterte über Stiegen und Treppen, die unter dem Tritt seiner Sicherheitsstiefel spitz knallten. Er hörte plötzlich seinen Atem, so laut und pfeifend, daß er sich vornahm, das Rauchen aufzugeben. Ihn trieb nicht Angst. Er wollte der Stille entwischen. Absichtlich trampelte Ronny noch stärker und räus perte sich, wie er es als Kind getan hatte, wenn er allein durch dunkle Straßen mußte. Aber die Geräusche wirkten losgelöst von ihm und schienen sich nirgend wo zu verlieren. Er schloß wieder den Mund. Er sah keine Kollegen, was eigentlich nicht unge wöhnlich war. Denn in den weitläufigen Produktions anlagen mit ihren vielen Ecken und Winkeln blieben sie meist unsichtbar. Doch diesmal spürte Ronny, daß er der einzige im Inneren der Plattform war. Nur einmal hatte er sich ähnlich verlassen gefühlt: Als seine Geschwister in den Ferien und die Eltern im Kino waren und er aus seinem Kinderbett mit dem ho
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hen Sprossengitter ins Dunkel lauschte. Doch da hörte er immmerhin durch die Tür das vertraute Ticken der Küchenuhr. Ihm schien es, als würde er schon endlos lange laufen. Zwar schlängelten sich die Pfade unübersichtlich an Trennwänden vorbei und über Galerien, aber dieser Teil der Plattform war kaum größer als eine Tennis halle. Er bog zu einer Stiege ein, die im Lichtschein wie mit Grünspan überzogen aus dem Halbdunkel ragte. Ronny stutzte und spähte umher. Er hatte alle Wege schon tausende Male passiert, ja einen Teil der Anlagen und Laufbrücken selbst eingebaut. Jetzt glaubte er, die Treppe mit dem seltsam gekrümmten Geländer und den leicht durchgebogenen Stufen zum ersten Mal zu sehen. Er dachte: Ich hab' mich verirrt. Erschüttert drehte sich Ronny, um einen Anhalts punkt in dem Gewirr von Rohren, Schiebern und Kes seln zu finden, die nun schwiegen. Kein Gurgeln, kein leises Zischen - sie waren ihm jetzt vollkommen fremd. Tastend suchte er Halt. Seine Hand klammerte sich ans Geländer. Es war feucht und glitschig. Eine trans parente Flüssigkeit kroch über seine Finger. Entsetzt schüttelte Ronny die Hand. Sein Blick fiel auf ein kleines weißes Plastikschild mit der schwarz ausgelegten Gravur »Gas-Con«, und Ron ny erkannte endlich, daß er sich in der Gasrückhalt anlage befand. »Hurenkram«, brüllte er in maßlosem Ärger die An lagen an und stürmte nun doch die Stiege hoch. Ronny Carmichel wollte nicht daran denken und zählte deshalb im stillen die Sekunden. Aber immer drängte sich die Frage dazwischen: Was ist das? Er fand 35
keine Antwort. Es überstieg den Horizont seiner erd gebundenen Phantasie. Schließlich stand er vor der Schiebetür der MuddAbteilung, wo der graue, teigige, aus dem Bohrloch hochkommende Schlamm in einem Schüttelsieb von Gesteinsbrocken gereinigt und wieder hinabgepumpt wurde. Von dort waren es nur noch wenige Schritte bis zum oberen abschließenden Deck der Plattform und dem Eingang zum Wohntrakt. Er stemmte sich gegen den Riegel und riß die schwere Tür zur Seite. Auf dem Stahlboden der Mudd-Abtei lung wiegten sich Flammen wie Strandhafer im Wind. Kein Knistern, kein Rauschen, sie waren völlig stumm. »Das Feuer sah unwirklich aus. Ich wußte, daß ich durch die Flammen hätte gehen können, ohne darin zu verbrennen. Ich hatte nur Angst, daß dahinter noch et was Unheimlicheres sein könnte«, erzählte er später sei nem Kumpel und erinnerte sich dunkel an eine Bibel stelle, in der Moses von einem brennenden Busch auf gehalten wurde. »Der war wie das Feuer vor mir«, sagte er zu seinem Kumpel gebeugt. Vermutlich nur eine Minute zuvor hatte ein Maler dieselbe Tür geöffnet. Auch er habe zuerst geglaubt, daß der Stahlboden brenne, aber dann entdeckt, daß die Flammen durch Siele hochschlugen, sagte er später aus. Er lief durch. Mit einer raschen Drehung riß Ronny sich von den unheimlichen Flammen los und jagte ein Stück zurück. Über eine Rampe gelangte er in ein Zwischendeck, wo eine neblige Wand auf ihn zuflog und den Raum ver hüllte. Sie roch nach Öl, was ihn äußerst verwunderte. Es ist Rauch, stellte er teilnahmslos fest und holte kurz Luft. Er sprang durch die graue Fläche mit der Angst, in 36
einen Schlund zur stürzen, - und erreichte das Platt formtor. Links von ihm, am Ausleger hinter dem Bohrturm, brannte die Fackel mit der gleichen Flamme wie weni ge Minuten zuvor, als er hinuntergegangen war. Und rechts von ihm erhoben sich die verschachtelten Auf bauten des Wohntrakts ruhig und träge in den Abend himmel, der sich wie ein violetter Drachen ausspannte. Ronny öffnete die Seitentür des Wohntrakts. Im ge dämpften Licht des Betriebsgangs sah er weiter hinten Männer stehen. Er glaubte, alles sei eine Halluzination.
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Ihn hatte keine Alarmglocke gerufen. Als der erste Schreck vorüber war, wollte er nur seine Neugierde befriedigen. Bevor David Ferguson die Kammer ver ließ, steckte er den nicht beendeten Brief an seine El tern in die Tasche. Er betrachtete im Spiegel sein be ringtes Ohrläppchen, mit dem er beim Knall über die Kojenkante geschrammt war. Er strich einmal über das kurzgeschorene Haar. Seinem Kollegen Eugene, der noch naß vom Duschen war, rief er zu: »Ich gehe mal gucken.« Verwundert stockte er in der Tür. Auf dem Betriebs gang drängten sich dicht an dicht Arbeiter vorbei. »Ich hielt das für etwas übertrieben«, sagte er später einem Kollegen. Als sich eine Lücke auftat, reihte er sich doch in den Strom der Männer ein und ließ sich von ihm forttra gen. Einige Stimmen riefen: »Was war das?« Oder: »Was ist passiert?« Die Spekulationen blühten. Sie erschienen David jedoch so vollkommen aus der Luft gegriffen, daß sie ihn nicht weiter interessierten. Mit mürrischem Gesicht trieb er in der Menge. Nichts konnte er weniger leiden als Volksaufläufe. Des halb hielt er sich von politischen Versammlungen und selbst von vollbesetzten Kinos fern. Einem Freund hat te er mal gesagt: »Die Masse hat keinen Geschmack.« Der Betriebsgang war schmal und lang. Die maus graue Wandverkleidung glänzte seidig und war durch viele auf Mahagoni gebeizte Türen unterbrochen, aus
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denen ständig weitere Männer heraus in die Schlange traten. David hatte keine Vorstellung, wohin er mitge schleppt wurde. Auf ihn wirkte alles mehr wie der Spa ziergang zu einer zwangslosen Zusammenkunft. Nervöse Scherze flogen über ihn hinweg. Ein Hinter mann johlte: »Vielleicht werden wir heute nacht noch Sheila sehen.« Eine Stimme von vorn rief zurück: »Falls wir nach Aberdeen kommen, ist bei ihr schon dicht.« Füße steckten in Sandalen oder Pantoffeln, und Kra gen von hastig übergeworfenen Polohemden krumpel ten sich unter Gesichtern, die vom Duschen oder dem unterbrochenen ersten Schlaf rosig und entspannt glänzten. Ihn irritierte nur, daß jemand eine Schwimmweste trug. Ein Ingenieur, der neben David trottete und ihn flüchtig kannte, erinnerte sich später: »Er tippte den Mann an. Seltsamerweise fragte Ferguson ihn nicht, warum er eine Schwimmweste trage, sondern ob er ei nen Alarm gehört habe.« Der Mann schüttelte mit dem Kopf. Die Auskunft gab David Ferguson die Gewißheit, daß den Knall nicht ein Hubschrauberabsturz, sondern nur eine Lappalie verursacht haben könne. Ihn ärgerte es einmal mehr, daß er in der Menge weitergedrängt wurde. Allerdings hätte er mit einem Alarmruf nur wenig anzufangen gewußt. Seine Einweisung vor zwei Tagen deutete darauf hin, daß man sich auf der Kilt Delta äu ßerst sicher fühlte. Im Gegensatz zu anderen Ölinseln hatte sie nur zehn Sekunden gedauert. Als David bei seiner Ankunft mit dem Helikopter über eine Außentreppe hinunter zur Rezeption im 39
obersten Stock des Wohntrakts gelangte, reichte ihm der Mann hinter dem Tresen ein Kammerkärtchen. Er vertiefte sich in eine Liste und fragte Dave beiläufig: »Weißt du, welches dein Rettungsboot ist?« Es stand neben der Kabinennummer groß auf der Karte: Boot drei. »In Ordnung«, hone David, »mach' dich mit den Örtlichkeiten vertraut. Auf der Rückseite der Karte sind die Signale.« David versuchte, sie sich einzuprägen, hatte sie je doch fünf Schritt weiter schon wieder vergessen. Ein paarmal versuchte er, sie in sein Gedächtnis zurück zurufen. Doch jedesmal, wenn er das Kärtchen her vorholte, mußte er feststellen, daß er die Tonfolgen für Evakuierung und Feueralarm verwechselt hatte. So gab er ganz auf, sie sich zu merken, und beschloß, beim Läuten einer Glocke einfach den anderen zu folgen. Der Strom quoll auf die einzige Innentreppe des Wohntrakts, wo die Stufen sich in einem schmalen Ka sten über vier Etagen nach oben wanden. Es roch nach Schweiß, Palmolive-Seife, halbverdautem Blumenkohl und Erdöl - für David der endgültige Beweis, daß grö ßere Menschenansammlungen zum Kotzen waren. Im obersten Stock wurde er durch die Rezeption in die anliegende Kantine gespült, wo die Männer sich zwischen den runden Tischen und den schwarz gepol sterten Stühlen verteilten. Die Kantine war ein großer, heller Raum mit niedri ger Decke, Säulen aus Sandsteinimitation und drei Doppelfenstern, die nach innen honigfarben und blei verglast waren. Sie sollten die Atmosphäre eines Land gasthofs ausstrahlen. Über einer großen Kühlvitrine bei der Rezeptionstür rankte Efeu an einem schmiede eisernen Gitter. Dazwischen leuchtete ein tellergroßes, 40
blaurotes Conti-Schild hervor. An der fensterlosen Wand bei der Tür zum Heli-Deck hing das Bild eines Kilt-Schneiders, in Gainsborough-Manier gemalt. Und auf einer weiteren Kühlvitrine vor dem Kombüsentre sen lagen in großen weißen Plastikschüsseln Äpfel, Ba nanen und Orangen, darunter drapiert waren verschie dene Salate und ein angeschnittenes Stück Seelachs. Auf dem einzigen rechteckigen und auch größten Tisch der Kantine stand noch Geschirr mit halbver zehrten Speisen - ein halbes Rundstück mit CheddarKäse, Karamelpudding und ein Kuchen. Knapp fünfzehn Minuten zuvor hatte David aus der Kantine ein Glas Orangensaft geholt und gesehen, wie Köche, Küchengehilfen und Geschirrwäscher sich an diesem Tisch zur Kaffeepause niedersetzten. Auch ihre Kollegen von der Freischicht hatten sich für eine kleine Plauderei eingefunden. Sie alle waren erst seit zehn Stunden auf der Kilt Delta und vorher noch nie auf ei ner Ölinsel gewesen. In der Ecke zwischen Gemälde und Fenster sah Da vid Ferguson sie jetzt wieder. Am Gürtel des Kochs baumelte ein blaukariertes Handtuch. Sie standen dichtgedrängt und beobachteten die hereinlaufenden Männer. Ein Nebenmann stieß David an und raunte: »Die wirken ja wie verzagte Kaninchen.« Ansonsten war nichts Ungewöhnliches zu sehen oder zu hören. Und nichts deutete auf einen ernstli chen Zwischenfall hin. Denn David konnte weder ei nen Sicherheitsoffizier noch jemand anderen vom Conti-Führungspersonal in der Kantine entdecken. Zwischen den Fenstern lehnte er gegen die Wand, wartete und wußte nicht worauf. Jetzt war er über zeugt, daß nur ein Versorgungsschiff mit einem defti gen Knall das Fundament berührt hatte. Die nicht ab 41
reißende Flut der Männer versperrte ihm den Rückweg zur Kammer. David haderte mit sich, daß er nach dem Sturz aus der Koje nicht sofort wieder zurückgekrochen war.
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In der Luft flirrte feiner Staub, und die vergitterte Pforte zum Lager schwang leise quietschend auf. Der Elektriker Hugh McLean war noch verdattert und er wischte sich dabei, wie er nach dem heruntergefallenen Schalter greifen und mit dem Aufräumen der verwüste ten Werkstatt beginnen wollte. »Mein Gott«, stöhnte er trotz seines Vorsatzes, ihn nicht einmal beim Fluchen anzurufen. Er fuhr mit seinen Damenhänden durch den Bart. Der rote Schriftzug »Benutz dein Gehirn und nicht deine Hoden« leuchtete provozierend zwischen den Metallteilen hervor. Hugh nahm das Plakat und legte es behutsam auf die Werkbank, die schief in den Halte rungen hing. Ihn schmerzten der Hintern und der lin ke Arm. Er stand verkrümmt und lauschte. Kein Ge räusch drang von draußen herein, was seinem Wunsch entgegenkam, daß alles vorüber sei. Doch seine politische Einstellung hatte ihm Arg wohn beschert. Er hatte sich vorgenommen, niemals der Ruhe zu trauen, sondern gerade dann besonders wachsam zu sein. Einen Moment schwankte er zwi schen Anspruch und Wunsch hin und her. Die Werkstatt klebte zur Plattformmitte hin am Wohntrakt, hatte aber keinen Durchgang. Vorsichtig öffnete er die einzige Tür und spähte nach hinten über das Rohrdeck zum Bohrturm. Viele Jahre zuvor hatte er als erste Lektion auf der Ölinsel die Warnung gehört: Die Bohranlage ist der ge
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fährlichste Bereich. Wenn ein Unglück passiert, dann meist dort, was ihm dann Berichte von Kollegen und Zeitungsmeldungen bestätigten. Sie malten in grellen Farben den Schrecken eines Blow-out, bei dem Gas und Öl ungehindert aus dem Bohrloch schießen und entweder gleich mit riesiger Flamme explodieren oder als fünfzig Meter hohe schwarze Fontäne die Plattform übersprühen. Die Berichte schürten einen seltsamen Kitzel der Spannung in ihm. Besonders die Lösch- und Rettungs aktionen ließen ihn ähnlich wie die Abenteuerromane seiner Kindheit erschauern. Er schämte sich etwas des wegen. Außerdem erweckte ein Blow-out sein ästhetisches Interesse. Auf Fotos erschienen ihm die heimgesuchten Ölinseln wie monströse, technische Skulpturen. Insge heim nannte er sie sogar Work-Art, worunter er die Anklage gegen Menschenvernichtung und Umweltzer störung verstand. Das erzählte später sein langjähriger Freund James in der hallenähnlichen Criterion Bar von Aberdeen einem Fernsehreporter. Zwischen mächtigen Schlucken Stout sagte er: »Hugh war hochsensibel. Aber manchmal dachte ich, er hat einen Knall.« Hugh hatte noch nie einen Blow-out erlebt. Allein der Gedanke daran rief Beklemmung in ihm hervor. Doch der Bohrturm stand leuchtend grün und wie ausgeschnitten vor dem Perlmuttschirm des Abend himmels. Außerdem hörte Hugh von dort ein helles Surren. Er war sicher, daß normal gearbeitet wurde. Er spähte unentschlossen herum. Hinter der Reeling des Rohrdecks sah er wie greifbar nahe die Hospitalund Feuerwehrplattform »Danaos«. Sie war fast so groß wie die Kilt Delta und dümpelte leicht in der Dünung. Es wirkte, als würde sie auf eiser 44
nen Stämmen in der See stehen. Aber die »Danaos« schwamm auf zwei riesigen zylindrischen Pontons, die abgetaucht waren. Zehn Löschkanonen standen an Deck sowie eine ausfahrbare, dreißig Meter lange Ret tungsgangway. In Firmenbroschüren hatte Hugh gelesen: »Ultimati ve Lösung für Offshore-Desaster. Schnell einsatzfähig!« Denn die »Danaos« wurde zudem von starken Maschi nen angetrieben. Die Conti hatte sie ein paar Tage zu vor als Ausweichunterkunft gechartert, da es während der vielen Reparaturen auf der Kilt Delta nicht für alle Arbeiter Kammerplätze gab. Nur fünfhundert Meter entfernt lag sie an Anker. Daneben entdeckte Hugh die »Golden Hope«. Win zig schlingerte der umgebaute Fischkutter in der See. Einer staatlichen Vorschrift entsprechend mußte ein solches Rettungsschiff nahe jeder Ölinsel ständig in Po sition liegen. Es sollte im Unglücksfall die Mannschaft bergen. Hugh fühlte sich sicher und aufgehoben. Er lief zehn Schritte über das Rohrdeck zur Hintertür des Wohn trakts und sah auf der gleichen Ebene etliche Kollegen im Videoraum. Ein Teil der Männer rekelte sich abwar tend in den breiten Klubsesseln beim Fernsehgerät. Die anderen standen schweigend daneben. »Was ist passiert?«, rief Hugh. Achselzucken kam als Antwort. »Niemand machte sich ernstlich Gedanken«, gab ein Schweißer später bei der Untersuchung zu Protokoll. Sie erinnerten sich, daß es in der Vergangenheit im mer mal Brände und auch kleinere Explosionen gege ben hatte - die letzte vor knapp einer Woche. Wegen winziger Lecks in einer der Leitungen war eine kleine Gaswolke dröhnend verpufft und hatte einen Haufen 45
öliger Putzbaumwolle in Flammen gesetzt. Dichte Schwaden waren weit über die Plattform gewallt. Aber die Brandcrew, die sich aus Arbeitern mit einer Zusatz ausbildung rekrutierte, hatte das Feuer innerhalb von zehn Minuten gelöscht. »Es gab nicht einmal einen Alarm. Wir sorgen uns um Hühnerkacke«, redete der Schweißer sich und den anderen die Unsicherheit aus. »Und außerdem ist ja die 'Danaos' hier«, sagte Hugh sinnierend. Beruhigt ging er zum Tee-Automaten.
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Das Sirren der Winde wurde von hohen Blechplat ten aufgefangen, die den unteren Teil des Bohr turms umgaben. Auf dem quadratischen Holzboden widerspiegelten Öl- und Wasserpfützen trübe das Lam penlicht, die Männer schlidderten darüber wie auf Eis. In der Mitte ragte aus einem eisenumfaßten Loch der Stummel des Drillgestänges. Der Ölbrunnen war offen und deshalb wie eine frei liegende Lunte. Am Rande des Bohrflurs lauerte der Toolpusher Ter rence Ogilvie und trieb seine Crew an. Kein Rauch, kein Feuer - ihm erschien die Ruhe nach dem Knall als eine furchtbare Tücke. Sein massiger Leib war ge strafft. Unruhig streckte er mal das linke Bein und mal das rechte. Dann hielt er sich an den verchromten Stier hörnern seiner Gürtelschnalle fest. Er wollte dem unfaßbaren und verborgenen Unheil zuvorkommen. Mit einer Notfallprozedur sollten seine Leute den Brunnen verschließen, der sich vom Meeres sediment über ein dickes Rohr bis unter den Turm zog. Plötzlich vermißte Terrence seinen Talisman. Er schüttelte den Arm. Die silberne Kette rutschte nicht unter dem Ärmel hervor. Er stülpte seine safrangelben Handschuhe zurück. Im Zwielicht leuchteten sie wie losgelöst. Terrence konnte das Armband nur beim Sturz in der Teebude verloren haben. Er hielt das für ein böses Zeichen.
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Direkt unter Terrence führte der offene Brunnen durch das gefährlichste Terrain der Kilt Delta. In dem Produktionsdeck erstreckte sich auf grünen Flurplatten ein technischer Tannenwald. 35 Förderrohre für Erdöl und Gas liefen dort in ebenso vielen Ventilen zusam men. Sie waren mannshoch in vier Reihen angeordnet und wurden Christmas-trees genannt. Von ihren Stäm men verästelten sich zahllose Rohre, Schieber und wei tere Ventile, deren Hähne und Hebel im Rot von Weih nachtskugeln glänzten. »Terrence war eigentlich wie sonst«, sagten später übereinstimmend zwei der Männer. Doch er rief ihnen zu: »Macht schnell, Jungs. Aber keine Panik, bleibt ru hig!« Sie merkten es sich, da sie selbst nur leicht besorgt waren. Dann packte Terrence sogar mit an, obwohl es nicht Aufgabe des Toolpushers war. Auch das regi strierten sie. Diesmal feixte keiner seiner Crew über ihn als Mr. Cautious. Die unerklärliche Folgenlosigkeit des Knalls fügte sich in die eingefressenen Ängste, die Terrence in Träu men heimsuchten. Seine Frau, die mit den zwei kleinen Töchtern am Rande der texanischen Wüste in einem Mobilhome lebte, erzählte später einem Fernsehteam, während sie im Garten zwischen blühenden Kakteen rastlos auf und ab lief: »Terrence erinnerte niemals Ereignisse aus seinen bösen Träumen. Er sah sich immer nur als pa nisch Fliehenden oder starr, mit stimmlosen Schreien.« Terrence lief zur Bohrerkanzel, die am Rande des Flurs aufgebockt und mit wuchtigen Manometern und anderen vorsintflutlichen Instrumenten vollgestopft war. Der Driller riß an einem unförmigen Hebel und senkte das Gestänge ab. 48
»Mir wird hier der Boden heiß. Mach zu. Da brütet sich ein tolles Ding aus!«, rief Terrence ihm zu. Er stöberte in seinem Gedächtnis nach irgendeinem vergleichbaren Ereignis. Nicht nur den ziegelstein dicken Untersuchungsreport über den Blow-out auf der Ekofisk-Bravo-Plattform kannte Terrence fast aus wendig. Er hatte auch alle andere Literatur über Ölin sel-Desaster der letzten 20 Jahre, Risikoanalysen sowie Werke mit populären und wissenschaftlichen Sicher heitsstrategien verschlungen und obendrein sich durch Auszüge von Hobbes, Freud und Jonas gemüht. Er wollte herausfinden, wie Fehler und damit Kata strophen endgültig zu vermeiden seien, und welche in neren Gesetze sie steuerten. Seine Desastersammlung stapelte sich in Schubladen und Regalen des Büros, was Kollegen zuweilen zur Ver zweiflung brachte. Doch er las nur in seiner Kammer und versah die abgegriffenen Schwarten mit immer wei teren Notizen, die schließlich die gedruckten Texte bis zur Unleserlichkeit überfluteten. An ein vergleichbares Unglück konnte Terrence sich nicht erinnern. Aber er wußte: Die Zeit war immer knapp gewesen. Und meist wurde sie mit Nichtigkei ten vertan. »Schnell, schnell«, rief er wieder. Terrence hatte das Gefühl, daß das Unheil unter dem Bohrflur auf sie zu krieche. Plötzlich glaubte er sogar, es riechen zu können. Ohne Ankündigung fegte er durch die Mäuseluke in der Windschutzwand nach draußen. Rauch wand sich vor ihm aus den beiden Seiten der Plattform von unten hoch. Er trieb über das Rohrdeck, über die matten Linien des Bohrgestänges und das bun te Gekleckse von Werkzeugcontainern. Gerade erreich 49
ten die Schwaden den Wohntrakt, der noch vom Maul wurfsfell des Dämmers überzogen war. »Terrence war wie ein notorisch Eifersüchtiger, der die Bestätigung der Untreue gefunden hatte«, erzählte später der Driller, »er kam ruhig, ja fast gelöst zum Bohrflur zurück.« »Wir haben Glück«, rief Terrence, »der Wind treibt das Feuer vom Turm weg.« Er lief zum Feuermelder. Kein Alarm jaulte auf. Er drückte noch einmal. Nichts passierte. Er hämmerte gegen den roten Knopf. »Aus«, sagte er. Mit der überschäumenden Phantasie, die nur die Angst gebiert, nahm Terrence Ogilvie mögliche Ereig nisse vorweg. Im Geist sah er vom Wind getriebene Flammen den Wohntrakt verschlingen und sich mit. Ihm fiel sein Talisman ein. Er mußte ihn unbedingt finden.
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Aus der Plattformmitte quoll Rauch - schwarz und dicht, als würde er aus sich selbst heraus ver mehrt. Möwen, die entlang der Plattformseite auf der Reling rasteten, flatterten schreiend auf und flogen da von. In einem der höheren Decks schlug eine Tür mit hartem Klacken zu. Eine Welle klatschte unnatürlich laut gegen das Stahlfundament. Der Himmel wurde erst milchig, dann grau, schließlich pechdüster. Die See vor ihm verschleierte sich, bis sie völlig verschwand. Den Kontrollraum-Operator Gilbert Dobbs über kam dasselbe Gefühl wie damals, als in seiner kindli chen Phantasie die Küchentür sich nicht mit dem er sten Sechsuhrschlag geöffnet hatte. Dann hüllte der Rauch auch ihn und die zwei Dut zend anderen Männer ein. Er dämpfte alle Geräusche wie Novembernebel und roch nach Schwefel und Öl. Erschreckt wichen sie in eine kleine Nische zwischen zwei Werkstätten im untersten Plattformdeck zurück. Blut lief über Gilberts Hand. Jemand reichte ihm ein ölverschmiertes Tuch. Er preßte es auf die Wunde und sah mit leeren Augen auf. Gilbert hielt sich mit drei weiteren führenden Angestellten der Ölgesellschaft et was abseits von den übrigen Arbeitern der Subunter nehmer, um die Lage zu besprechen. Er sagte kein Wort. Die Rettungsboote und der Wohntrakt mit dem Heli-Deck lagen weit über ihnen. Der Weg dahin war durch den Rauch versperrt.
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Um den Brand niederzwingen zu können, mußten sie die Ursachen kennen. Die Conti-Angestellten frag ten Gilbert. Er hörte sie nicht. Seine Haltung war wie immer steif, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Seine Blicke gingen aber durch die Männer. Gilbert versuchte krampfhaft, den Faden wiederzufinden. Im Geist sah er wieder und wieder die Situation, als er im zerstörten Kontrollraum beim Armaturen schrank aus seiner kurzen Ohnmacht erwachte. Was war davor? Er suchte die Wände, die Decke, den Boden ab, er stöberte in den heruntergefallenen Büchern, Pa neelen und Geräten, um das Geheimnis aufzudecken. Er sah die eingestürzten Aktenborde, die Konsolen mit den flackernden Warnlichtern und das vom Operator tisch abgerissene Mikrofon in seiner blutenden Hand. Mit wem und warum hatte er gesprochen? Er zermarte te sein Gehirn, um in dem wüsten Durcheinander ei nen Anhaltspunkt zu finden. Aber Gilbert konnte sich nicht erinnern. Regungs los, wie abgestorben, stand er inmitten der nervös und ängstlich hin- und herschaukelnden Männer. Die Conti-Angestellten führten seine Abwesenheit auf die Verletzung zurück. Denn Gilbert mochte den furchtbaren Gedächtnisschwund nicht zugeben. Jedes Zeichen von Schwäche zog für ihn nach sich, daß die Arbeiter den Respekt verloren. In seiner Vorstellung glich das Meuterei. Doch Gilbert Dobbs hatte längst seine Autorität ein gebüßt. »Die Conti-Leute sabbelten und sabbelten, und er stand unbeteiligt daneben«, sagten später mehrere Zeugen aus. Aus dem Rauch schossen plötzlich riesige Flammen lanzen bis weit über die See. 52
Die Männer quetschten sich aneinander. Gilbert wurde etwas zur Seite gedrückt und schwankte wie ein loser Pfosten. Aus der Gruppe sprang der Mechaniker und ehe malige Fischer Brian Munro zu einem Feuerlösch schlauch, der ganz in der Nähe an der Reling hing. Brians Gesicht bestand nur aus Furchen und Falten, aus denen ein grünes und ein blaues Augen hervor leuchteten. Er rollte den Schlauch aus, und der sonst so gehemmte Instrumententechniker Andy Gillies schloß ihn an den Wasserstutzen. Er preßte die Hände an den Hahn und drehte auf, während Brian die Spritze hielt. Der Schlauch blieb schlaff und platt. Zurufe verflüchtigten sich im Rauch. Andy murmel te: »Zum Teufel noch mal.« Die Überraschung fror ihre Bewegungen ein. Einige der Männer dachten sogar an geheimnisvolle Zusam menhänge. Nur Gilbert Dobbs rührte sich plötzlich. Er erkann te wieder Gesichter, beendete seine Grübelei, wie er sonst ein Handbuch zuklappte, und war froh, sich überhaupt erinnern zu können. Ihm fiel immerhin ein Vorgang vom Nachmittag ein. Gilbert rief: »Die Lösch pumpen sind ausgeschaltet, weil Taucher in der Nähe der Saugstutzen arbeiteten.« Diese Pumpen wurden später bei der Untersuchung meist mit dem metaphysischen Zusatz »Verhängnis Nummer drei« bezeichnet. Sie waren häufig nicht be triebsbereit. Als Gilbert sich »Pumpe« aussprechen hörte, spürte er, daß sich sein Gedächtnis lichten würde. Doch der ehemalige Fischer Brian Munro lenkte ihn ab. »Ihr seid doch wohl bekloppt«, hallte ein irrwitziger, 53
zitternder Schrei durch den Qualm an der Plattform entlang. Die Männer schwiegen ein furchtbar regungsloses Schweigen. Gilbert wähnte sich kurz vor einer Meuterei.
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Vage spürte er, daß dies der Moment war, um sich zu beweisen. Das linke Augenlid zitterte, wie im mer, wenn er innerlich aufgewühlt war. Seinem neuen Posten als Superintendent entprechend, fand sich Alex ander Shinwell im obersten Deck des Wohntrakts in der Rezeption ein, um Notfallmaßnahmen für seine 163 Untergebenen zu koordinieren. Vor dem hohen Rezeptionstresen mit Nußbaumma serung stand schon Stan Owen auf Posten. Auch er war Superintendent. Aber er trug einen Overall mit dem Conti-Emblem und eingesticktem Namenszug. Der stahlblaue Anzug war wie eine Uniform. Alexander kam sich in Jeans und Polohemd unbedeutend vor. Er wiegte seinen ballonrunden Kopf. »Was ist pas siert, Stan?«, fragte er und verschwieg, daß er den Knall für einen Bombenabwurf gehalten hatte. »Weiß nicht«, antwortete der müde. »War es eine Explosion, Stan?« »Ay.« »Wo, Stan?« »Keine Ahnung.« Auch in Stan Owens Gesicht war keine weiterrei chende Antwort zu finden. Alex stellte verwundert fest, daß ihm Büschel von weißen Härchen aus den Ohren sprossen. Lässig, mit breiten Beinen und einer Hand in der Hosentasche, musterte Stan die aus dem Treppenhaus strömenden Männer.
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Alexander Shinwell baute sich neben ihm auf und sonnte sich in seiner neuen Macht. Er hatte ein ver bindliches Wesen und war eigentlich eine Plauderta sche. Jetzt aber blickte er ernst. Sein Mund war ein Strich. Manchmal steuerte jemand auf ihn zu, wandte sich aber an Stan. Er überragte Alexander um fast einen Kopf und war ihm vorgesetzt. Die Leitung der Kilt Delta lag ausschließlich in Händen von Conti-Angestellten. Aber Alex versetzte es einen Stich, daß seine Männer ihn übersahen. Er glaubte, daß sie ihn nicht respektie ren würden, weil er nur durch die Krankheit seines Vorgängers aufgerückt war. Dann endlich fragte ihn ein Maler. Alex' Haltung entspannte sich. Doch seine schwammigen Auskünfte verstimmten den Mann. Er rief plötzlich auf: »Was zum Teufel ist hier eigentlich los?« Alex Gesicht überzog sich für einen kurzen Mo ment. Dann sagte er: »Bleib' ruhig.« Sie warteten auf Anweisungen vom Plattformmana ger, der die Kilt Delta führte. Es kamen keine. In einem Notfall hätten die Männer sich eigentlich bei den Ret tungsbooten sammeln sollen, die außen am Wohntrakt hingen. Da sie kein entsprechendes Signal gehört hat ten, liefen sie in die Rezeption. »Warum wird kein Alarm gegeben?« wunderte sich Alex laut. »Du siehst ja, die Leute sind auch ohne hier«, antwor tete Stan Owen mürrisch. Er hielt einen Walkie-talkie in der herunterhängenden Hand. Für Alex war es ein Instrument der Macht. Er neide te es ihm und fühlte sich degradiert. Die Ölgesellschaft hatte nur für eigenes Führungspersonal solche Funkge räte angeschafft. 56
»Sind Feuertrupps unterwegs?«, forschte Alex. Denn nach einer Explosion mußte es irgendwo brennen. Er mißtraute, daß die eingeteilten Löschcrews sich ohne jeden Alarm überhaupt gesammelt hatten. »Sie tun ihr Bestes«, sagte Stan bestimmt. Er hatte die ganze Zeit über mit niemandem durch sein Walkie-tal kie gesprochen. Seine Zunge war nicht zu lösen. Alex mochte nicht weiterfragen. Ihn verunsicherte seine neue Macht und bedrückte Stan Owens wortkarges, eingefrorenes Tem perament. Mittlerweile drängelten sich die Männer in der Re zeption. Sie war eigentlich mehr ein kleiner Durch gangsraum. Zwischen den Türen zum Treppenhaus und zur Rezeption war als einziger Schmuck ein spid deliger Ficus Benjamini auf den Boden gestellt. Alexander drängte es nach Taten und wollte die Na menskarten ausgeben. Sie hingen hinter dem Tresen aufgereiht wie an der Anzeigenwand eines Super markts. Für jeden Mann der Besatzung eine. Bei einer Helikopterrettung sollten sie verteilt werden, um die Vollzähligkeit überprüfen zu können. Dann fiel ihm ein, daß noch kein Evakuierungssignal aufgejault war. Alex langweilte sich, denn er hatte ein quirliges Wesen. Zwei Männer öffneten die dicke Außentür, die von der Rezeption zum Heli-Deck führte. Rauch quoll ih nen entgegen. Sie schlugen die Türen wieder zu. »Es ist sinnlos«, sagten sie. Der Qualm erschreckte Alex. Aber er zweifelte kei nen Moment daran, nach draußen gehen zu können. »Es erschien mir wie bei den Kirchenbesuchen meiner Kindheit«, erzählte er später einem Kollegen. Er war katholisch erzogen worden. Die Kirche, die 57
sie in Glasgow jeden Sonntagmorgen zur Messe besuch ten, war muffig, und durch die Glasmalerei drang nur blaues Licht. Der Geruch von Weihrauch zog an seiner Nase entlang. Er mußte endlos warten. Aber dann öff nete sich das Tor, und er trat einfach hindurch in die Sonne. Sie kitzelte in den Augen. Alex hatte ein ähnlich feierliches Gefühl wie damals, was aber ausschließlich mit seiner neuen Macht zusam menhing. »Sein Gesicht glänzte selig, aber er gab nichtssagende Auskünfte wie ein Boß«, erzählte später ein Gerüstbau er den Reportern. »Gibt es etwas Neues?« fragte Alex, obwohl er wußte, daß Stan in der Zwischenzeit nicht über das Walkie-tal kie gesprochen hatte. »Sie rufen durch, wenn es Neues gibt«, sagte Stan. Alex neigte zu Phantasien, in denen er ins Gewand des Löwen schlüpfte. Meist war es eine weiße Uniform mit goldenen Streifen an Ärmeln und Achselklappen. Er sah sich nicht klein, wie er wirklich war, sondern gestreckt, ebenso sein rundes Gesicht. Er überragte die Menge der verzweifelten Frauen, Kinder und Männer und gab laute Befehle. Es war wie im Titanic-Film sei ner Jugend. Fünfmal hatte er ihn im Vorstadtkino von Glasgow gesehen. Das Warten paßte nicht in sein Konzept. Um etwas zu tun, begann Alex, die Männer zu zäh len. Schnell ließ er es sein. In dem kleinen Raum war ein ständiges Kommen und Gehen. An den Türen zur Treppe und Kantine ballten sich die Leiber. Auf ihren Gesichtern lag Spannung, Verdrossenheit oder Leere. Vom Treppenhaus wand sich plötzlich über ihren Köpfen eine Rauchfahne an der Decke entlang in die Rezeption. 58
»Siehst du das, Stan?« fragte Alex erregt.
»Ay.«
Alex biß sich auf die Lippen.
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Er kam durch die Tür vom Treppenhaus und ließ seinen Wieselblick neugierig durch die Rezeption schweifen. Zwischen den Männern hindurch sah er Stan Owen in Korporalshaltung am Tresen stehen und daneben unscheinbar, mit vor dem Bauch gefalteten Händen, Alex Shinwell, seinen Superintendent. Auf Edmond Roartys Gesicht spielte ein Lächeln. Er verspürte noch den Nachgeschmack seines Traums und wunderte sich, daß er den Bach ohne jede Angst durch quert hatte, obwohl er vor jedem Gewässer sonst scheu te. Er war sich ganz sicher, daß der Aufprall des Autos gegen die Felswand das Knallen der Explosion gewesen war. Doch die Bedeutung der schwebenden Sommer wiese blieb ihm unklar. Demnach muß ich nach dem Unfall tot gewesen sein, stellte er nüchtern für sich fest. Aber es war ein schönes Gefühl, dachte er, also hat Pa stor Duncan mit den Freuden des Himmels doch recht. Noch einmal huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Weitere Schlüsse zog Edmond nicht. »Viele standen da wie im Wartesaal zum Schafott. Aber ich war nicht einmal besorgt«, sagte er später sei nem Kollegen Stuart. Edmond blieb aus Erfahrung gelassen. Bei der Explo sion einer anderen Ölinsel war er schon einmal evaku iert worden. Eine halbe Stunde hatte es gedauert, bis der erste Helikopter auf der Plattform gelandet war. Wenn es hier ernst wird, kommen sie, dachte er. Schlagartig verstummte das Gemurmel in der Rezep
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tion. Die Köpfe drehten sich zum Tresen. Stan Owen hielt das Walkie-talkie ans Ohr und wiederholte laut, was ihm durchgegeben wurde. »Das Feuer ist unten in der Gasanlage... Ay Lenny... Ihr wollt ran und lö schen ... Ay, Ende.« Dann rief er den Männern in der Rezeption zu: »Kein Grund zur Aufregung, Leute. Al les ist unter Kontrolle.« »Ich hätte in dem Moment die Crew vermutlich ähn lich beruhigt«, sagte Edmond später seinem Kollegen Stuart. Doch in seiner Imagination sah Edmond eine dicke Rauchwand und nur einen einzigen Mann im Asbest anzug mit einem endlos langen Schlauch, aus dem Bla sen quollen. Er schob das Bild als eines seiner üblichen Hirngespinste zur Seite. Da er sehr klein war, wurde Edmond leicht überse hen und von den ständig herein- und herauslaufenden Männern angerempelt. Einmal drückte etwas Weiches seinen Kopf zur Seite und das Polster einer Schwimm weste rutschte an seiner Nase entlang. Gute Idee, dachte Edmond und verließ die Rezep tion, um seine aus der Kammer zu holen. Auch das Treppenhaus war inzwischen mit Männern gefüllt, die am Geländer lehnten oder auf den Stufen sa ßen. Edmond mußte sich an ihnen vorbeiwinden und über sie hinwegbalancieren. »Was passiert da oben?« fragte ein Zimmermann, der ihn kannte. »Im Moment nichts«, sagte Edmond. »Nichts... ?« fragte der Mann zurück. »Rein gar nichts.« Der Zimmermann schüttelte den Kopf. Die Tür von Edmonds Kabine stand offen. In der Mitte zwängte sich sein Kollege Stuart mit verrenkten 61
Armen und Beinen in einen Überlebensanzug. Er hatte krause Haare wie ein Bulle und schnaufte ebenso. Er mühte sich ab, seine großen Hände durch die Ärmel öffnungen zu quetschen. Edmond pfiff durch die Lippen. »Das ist ja eine noch bessere Idee.« »Als was?« fragte Stuart zurück. Er richtete sich auf und zog den Reißverschluß zu. »Als die Schwimmweste zu holen.« »Am allerbesten ist beides zusammen«, stellte Stuart trocken fest. Der Alarmsummer war wie eine hochkant gestellte graue Tasse. Er hing über der Tür der gegenüberliegen den Kammer. Von Zeit zu Zeit blickten sie hin. Rauch schlieren zogen daran vorbei. Er quäkte keine Signale. Sie hatten keine Eile. Edmond erzählte von den über die Fackel entwei chenden Viren, was ihm vor dem Knall im Bordkino eingefallen war. »Oijoijoijoi«, rief Stuart und schüttelte sich. Der vom Abendessen zurückgelegte Apfel war zwi schen Kopfkissen und Decke gerollt. Edmond griff ihn, biß hinein. Der Saft lief aus seinen Mundwinkeln am Kinn entlang. »Die Henkersmahlzeit«, sagte er und zwinkerte mit dem rechten Wieselauge. Man soll das Ungemach nicht rufen, dachte er dann und trat aus der Kammer. Graue Schwaden zogen unter der Decke des Korri dors entlang und trübten das Licht der Deckenleuchte. Sie erinnerte Edmond an einen verhangenen Mond und an seine letzte nächtliche Pirsch durch den Wald beim Dorf. Verqualmte Decken hatte er schon öfter ge sehen. Da Edmond die Ankunft von Helikoptern erst nach 62
einer halben Stunde erwartete, wollte er nicht sofort zurück zur Rezeption. »Ich sehe mich noch mal um«, sagte er zu Stuart und trennte sich von ihm. Er schlenderte auf derselben Etage zur einzigen Hin tertür, die zum Rohrdeck führte. Im Türrahmen blieb Edmond stehen und ließ den halbgegessenen Apfel fallen. Von beiden Außenseiten der Plattform schlugen durch den Qualm manchmal Flammen bis zum Wohn trakt hoch. Schräg über ihn hinweg schob sich eine dicke Rauchwand von der Mitte des Rohrdecks zu den oberen Aufbauten hin. Aus dem schwarzen Gequirle lösten sich Gestalten. Keuchend lief die Bohrcrew heran und stürmte an ihm vorbei in den Wohntrakt. Ihr Toolpusher Terrence Ogilvie war nicht dabei. Edmond ging hinterher und ahnte nicht, daß diese Tür für nur wenige Männer der einzige Ausgang zum Leben werden sollte. Er wollte endlich zur Rezeption.
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Zwei
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Der Schein seiner Taschenlampe irrte im TeaBuckie über umgekippte Stühle, Glassplitter, Pappbecher und heruntergefallene Deckenpaneele. Der Toolpusher Terrence Ogilvie krabbelte dazwischen auf dem Boden umher und stieß leise Flüche aus. Er suchte seinen Talisman. »Für deine Wiedergeburt.« Mit diesen Worten hatte seine Frau ihm das Armband umgelegt. Terrence stand steif da und dachte, welch ein Getue. Damals hatte er einen Blow-out überlebt. Er arbeitete noch als Roughneck auf einer Ölinsel im Golf von Mexico und war auf dem Bohrflur, als das Gestänge durchs Sediment in eine Gastasche stieß. Ter rence wurde durch die Explosion vom Turmboden durch die Mäuseluke aufs Deck geschleudert, erlitt je doch nur Schienbeinbrüche und Prellungen. Als einzi ger der Bohrflurcrew kehrte er nach Hause zurück. An jenem Tag wurde auch ihre erste Tochter Angela geboren. Seine Frau sprach von einem Schutzengel und einer Fügung des Herrn. Sie besuchte jeden Sonnabend die Pentecostal-Kirche, wo sie mit Inbrunst sang: »We shall overcome.« Wegen dieser wunderbaren Ereignisse über redete sie den Pastor, für Terrence und ihre Tochter eine Messe zu lesen. Terrence konnte das Jesus-Gepreise nicht ausstehen und glaubte weder an göttliche Milde noch an irgend welche Vorsehung, was ihm alles erleichtert hätte. Er
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blieb der Messe fern und studierte währenddessen in seinem Mobilhome den Unglücksreport. Er suchte nach einer Erklärung, warum er lebte und die übrigen Männer der Crew nicht. Er fragte sich, warum er nach dem Verschrauben des Gestänges fünf Schritt abseits davon gewartet hatte - nur einen halben Meter vom Driller entfernt. Und der war umgekom men. Wer hätte voraussagen können, daß der eine rich tig und der andere falsch stehe? Nach seiner Theorie steuerte jedes noch so unerklär liche Ereignis ein inneres Gesetz, das nur erkannt wer den müsse. Ebenso beschäftigte ihn die Geburt seiner Tochter. Sie wurde an dem Tag geboren, den der Arzt berechnet hatte. Aber Terrence erinnerte sich, daß er nach einer längeren Periode der Langeweile seine Frau begehrt hatte, als am Frühstückstisch ein Sonnenstrahl auf ihr Gesicht gefallen war. Ihre Sommersprossen schimmer ten plötzlich auf, und er war bestürzt über ihre elfen hafte Haut. Die Sonne war nur für einen kurzen Moment hinter düsteren Novemberwolken hervorgebrochen. Ihn überkam ein Schwindel. Er empfand es als aber witzig, daß der Grund für sein Leben und das seiner Tochter einfache Zufälle sein sollten. In den vielen Jahren danach spülten diese Gedanken immer wieder durch seinen Kopf, meist, wenn sein Blick auf das Armband fiel. Er kam niemals zu einem Schluß. Terrence hielt einen Talisman für reinen Humbug und hatte ihn zuerst nur zur Beruhigung seiner Frau umgebunden. Dann aber trug er ihn tagein, tagaus. In einem seiner gehorteten Unglücksreports fand ein Journalist dazu eine Randnotiz von ihm. Mit grünem 66
Stift hatte Terrence geschrieben: »Talisman: Weil man sich damit unverletzlich fühlt, handelt man ruhiger und ist deshalb unverletzlicher.« Ihm war jedoch klar geworden, daß seine Worte vom Wurm der Angst durchsetzt waren. Denn darunter hatte er unterstrichen vermerkt: »Jemand, der sich vollkommen geschützt fühlt, kann ohne jede Besonnenheit alles riskieren.« Ohne das Armband fühlte Terrence sich nur halb. Gereizt schlug er gegen die umgestürzte Bank. Dar unter glänzte, wie eine Natter geringelt, sein Armband. Schwer lag es in seiner Hand. Als Terrence aus dem Tea-Buckie trat, fuhr er sich mit seiner fleischigen Hand verwirrt über die Stirn. Er hatte nicht einmal zwei Minuten in der Teebude ver bracht, und doch glaubte er, daß Stunden vergangen waren und daß die Flammen aus beiden Seiten der Plattform noch höher herausschlugen. Terrence zwäng te seinen Körper die Stiege zum Rohrdeck hinunter und rannte mit kurzen Schritten zum Hintereingang des Wohntrakts, wo seine Leute warteten. »Das Feuer können wir von hier oben unmöglich lö schen. Wir müssen in die Rettungsboote«, rief er ihnen zu. »Uns wurde gesagt, daß Hilfe von draußen kommt«, wandte der Driller Peter Napier ein. Er knabberte ent spannt an einem Streichholz. Terrence' Schläfenadern schwollen an, wie immer, wenn ihm jemand widersprach. »Scheiß drauf. Hierher kommt keiner und holt uns raus«, herrschte er ihn an. Er hatte sich noch nie auf andere verlassen. Die Rettungsboote hingen in Davids an den drei Was serseiten des Wohntrakts. Wegen der Flammen beim Rohrdeck wollte Terrence die Boote über einen der Sei tenausgänge erreichen und ging seiner Crew voran. 67
Auf dem schmalen Betriebsgang kam ihnen eine andere Gruppe entgegen, in der Terrence den neuen Superintendent Alex Shinwell entdeckte »Keine Chance«, rief Alex. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Aber Terrence wollte es mit eigenen Augen sehen. Ei nen Schritt vor der Tür verspürte er plötzlich im Ge sicht die Strahlung von Wärme. Er packte den Riegel an. Die Metallstange war heiß. Erschreckt zog er die Hände zurück. »Scheiße«, brüllte er, trat gegen die Tür und bereute den Ausbruch sofort. Milchiger Rauch zog über ihre Köpfe hinweg. Der Wohntrakt war verschachtelt wie ein häufig um gebautes Hotel und hatte auf vier Etagen insgesamt acht Seitenausgänge, die an den Enden der verschlunge nen Betriebsgänge lagen. Die Männer prüften sie alle. Mit jeder Tür, an der sie vor den Flammen oder dem Rauch zurückweichen mußten, wurde das Gemurre hinter Terrence' Rücken lauter - besonders das vom Driller Peter Napier. Terrence ignorierte die Opposition. Er war überzeugt, daß in den oberen Etagen ein Aus gang war, den das Feuer nicht erreichte. Auch andere Männer, die entgegenkamen und warnend winkten, brachten ihn nicht von seinem Vorhaben ab. Sein Gaumen war trocken wie ein Stück Holz. Er kämpfte gegen ein würgendes Gefühl und wunderte sich, wie schnell die Flammen seiner Phantasie Wirk lichkeit geworden waren. Am letzten Ausgang im obersten Deck gegenüber der Kantine strahlte weder Wärme in den Flur, noch war der Griff erhitzt. Langsam öffnete Terrence die Tür. Rußiger Qualm wirbelte an ihm vorüber. Neben 68
ihm flackerte an der Außenwand des Wohntrakts der Widerschein des unsichtbaren Feuers. Einmal sprühte ein Funkenschwarm zu ihm hoch und breitete sich zu einem leuchtenden Fächer aus, bevor er verlosch. Regungslos starrte Terrence in den Rauch. Die Leute drängten sich heran. Jemand von hinten rief: »Tür zu, der Qualm kommt rein.« Terrence schwieg. Der Driller Peter Napier sagte später aus: »Wir hatten den Eindruck, daß er Löcher in die Luft starrte.« »Unmöglich hier«, sagte Terrence und wedelte unbe stimmt mit seiner Hand. »Es ist nur Rauch, wir sollten es riskieren«, entgegne te Peter Napier. Er hatte sich neben Terrence gedrängt. Später bei der Untersuchung erläuterte der Driller sei ne Kehrtwendung: »Das nächste Rettungsboot hing an der Stirnwand des Wohntrakts im Windschatten des Feuers.« »Du Idiot, wir kommen da unten um«, rief Terrence hitzig, doch keineswegs von seinen Worten überzeugt. Er zauderte und grollte über das Feuer, von dem er sich überlistet glaubte. »Hier drinnen kann es uns ebenso erwischen«, sagte Peter Napier ruhig. Aber auch er hatte Zweifel. Terrence ballte die Fäuste in den Taschen. Er ließ sich ungern unter Druck setzen, denn das rief Beklemmun gen in ihm hervor. »Man braucht nur etwas Mut«, warf Peter Napier hin, um ihn zu reizen. Terrence hatte noch nie mutige Menschen ausstehen können. Er nannte sie Hasar deure. »Drinnen bleiben«, sagte Terrence und wollte so gleich die Entscheidung widerrufen, schlug aber dann die Tür von innen zu. 69
In ohnmächtigem Zorn beugte er sich der Erkennt nis, daß sein Leben doch dem Zufall überlassen war. »Jetzt kannst du auf Hilfe von draußen warten, Pe ter«, sagte Terrence.
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Der Dunst füllte den Gang, war aber in unter schiedlich dichte Streifen zerflossen wie Morgen nebel über der Marsch. Einige Fahnen zogen sich in weichem Bogen in offene Kammertüren. Seine Stiefel quietschten über das Linoleum. Mit jedem Schritt schlugen zwei Elektrikerschraubenzieher in seiner Ta sche klackend aneinander. Hugh McLean summte das Abschiedsquintett aus Così fan tutte. Er wollte kein Kleinbürger sein und hatte seine Äng ste verbannt. »Für uns Arbeiter hat die Technik nichts Unheimliches. Ohne uns läuft nichts«, hatte er des öf teren seinen Kollegen doziert. Nur Kleinbürger hielten Industrieanlagen für unzähmbare Dämonen. Das bestä tigten ihm auch Fotos und Gemälde, wo inmitten von monströs über den Rand oder Rahmen wuchernden Maschinen winzig ein Mensch hineingesetzt war. »Kleinbürgerliche Kacke«, nannte er solche Werke. Ihn hatte bloße Besorgnis um seinen Kojennachbarn aus der Kantine getrieben. Er glaubte, daß Ken trotz des Knalls noch in den Federn liege. Denn er war phlegmatisch und schlief immer mit totenähnlicher Starre. Meist mußte er dreimal geweckt werden, bevor er in die Welt der Kilt Delta zurückkehrte. In der offenen Tür blieb Hugh stehen. Ken hatte den dürren Faden seines Körper über dem Schreibtisch geneigt und faltete auf Stößen von be schriebenem Papier gewaschene Hemden und Socken zusammen.
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Ein Deckenpaneel war auf seinen Kopf gefallen und hatte ihn hochgeschreckt. »Mann, du bringst mit deinen Klamotten meine Se mesterarbeit durcheinander«, rief Hugh und brummel te dann versöhnlich: »Laß jetzt den Unsinn und komm' mit nach oben.« Wieder drängte sich Hugh in die Kantine. Ken folgte ihm still. Qualm verdunkelte jetzt vollständig von außen die Fenster, und die Schwaden unter der Decke senkten sich bis auf die Köpfe. Plötzlich flackerte das Licht, er losch, und die Notbeleuchtung glimmte auf. Die Ge sichter waren grau. »Wir müssen von Bord«, sagte Hugh ernüchtert. Wieder, wie beim ersten Mal, fragte neben der Tür der Produktionsdirektor: »Wie heißt du?« Sein ContiOverall hatte auf der Brust Kaffeeflecken. »Immer noch McLean, wie vorhin«, sagte Hugh kopfschüttelnd und war sicher, daß die Vollzähligkeit der Mannschaft auf vermißte Explosionsopfer über prüft wurde. Wieder trug der Produktionsdirektor Hughs Namen in die Liste ein und dann auch Kens. Sein Block hatte bereits fünf vollgekritzelte Seiten. Er war sehr fahrig. »Wohl völlig überfordert!« sagte Hugh und zeigte ihm ein mitleidiges Lächeln. Beim Heli-Ausgang, wo vorher die Küchencrew sich zusammengescharrt hatte, entdeckte Hugh jetzt den Plattformmanager Irvin Parker und andere leitende Conti-Angestellte. Irvin Parker war an die Fünfzig, trug wie immer einen goldfarbenen Schlips, dazu ein veilchenblaues Hemd und schlabbrige Hosen. Auf seiner spitzen Nase klemmte ein Ray-Ban-Aviator. 72
»Die Brille ist das einzig Originale an ihm«, hatte Hugh öfter vor Kollegen gehöhnt und auch: »Wenn ich ihn sehe, kommt mir das Essen hoch. Er ist ein absolu ter Lakai der Conti.« Der Plattformmanager hatte einen hochroten Kopf und wischte sich immer wieder über die schütteren Haare. Sein Landjungengesicht war blaß. Von weitem starrte Hugh ihn an und versuchte, an den glatten Flächen von Stirn und Wangen einen An halt zu finden. Er drückte seine rechte Faust, bis die Finger knackten. Dann kraulte er seinen Vollbart an den Kinnladen und dachte laut: »Der muß doch mal was sagen. Oder wir geben ihm Dunst.« »Sicher«, antwortete Ken gelangweilt. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Hugh nach einem harm losen Zwischenfall im Delikatessengeschäft an der Uni on Street von Aberdeen sich geschworen, niemals wie der zurückzustecken und immer aufzumucken. Damals mußte er in der Schlange vor dem Verkaufs tresen eine halbe Stunde lang warten. Doch als er end lich an der Reihe war, wischte ein Mann in einem Kaschmirmantel von Dunhill vorbei und bestellte ohne Umschweife. Die Verkäuferin flitzte. Hugh wollte pro testieren. Doch er brachte kein Wort über die Lippen. Jahre später besuchte er jeden Donnerstag den politi schen Club in einem weißgetünchten, garagenähnli chen Gebäude am Rande von Aberdeen. Das Mobiliar bestand aus wackeligen Küchenstühlen und einer aus rangierten Kirchenbank. An der Wand hing ein Plakat mit den Profilen von Marx, Engels und Lenin. Er sang »Though cowards cringe and traitors sneer, we'll keep the red flag flying here«, diskutierte ohne müde zu wer den Schreckensmeldungen aus aller Welt, lernte alles über die historische Mission der Arbeiterklasse, ballte 73
auf Demonstrationen die Faust und war sicher, daß er nie zurückzucken würde. Hugh gab sich einen Ruck, ging aber zu einem Si cherheitsoffizier und ehemaligen Feuerwehrmann, den er bei den Fenstern entdeckt hatte. Der Offizier stand schief, hatte das runde Gesicht ei nes Genießers und am Kinn eine Warze. Entschuldi gend hob er die Hände und sagte: »Keine Ahnung, ob wir ausgeflogen werden.« »Verdammt noch mal, wer, wenn nicht ihr, kann es wissen?!« herrschte Hugh ihn an. Er spuckte etwas beim Sprechen. Wieder hob der Sicherheitsoffizier die Hände. Auf seinem Gesicht lag ein Schatten. Hugh nahm die Geste als Beweis, daß der Plattform manager mit der Evakuierung abwarten wollte. »Der denkt nur an den Produktionsausfall und die Helikopterkosten. Aus Angst vor der Conti. Deshalb leidet er Höllenqualen«, rief er seinem Kammergenos sen Ken zu. Irvin Parker litt wirklich Qualen, wie später nach mühseliger, Monate dauernder Zeugenbefragung ge klärt werden konnte: Er sah sich bereits von Flammen verschlungen. Als Hugh zum ersten Mal in der Kantine war und keinen Grund zur Besorgnis entdeckte, wußte Irvin Parker bereits, daß sich das Feuer in der Plattform ra send ausweitete. Dann wurde ihm gemeldet, daß die Rettungsboote nicht zu erreichen waren. Von Grauen gepackt, wollte er sich von der Ölinsel ins Wasser stürzen, wozu er auch den Funker auffor derte, der ihn jedoch zu seinen Pflichten zurückrief. Er hastete in die Kantine und gab ohne weitere Erklä rungen dem Produktionsdirektor den unsinnigen Be 74
fehl, eine Evakuierungsliste aufzustellen, obwohl nach den eingeübten Vorschriften die Namenskärtchen in der Rezeption hätten ausgeteilt werden müssen. Allein durch das Verhalten des Plattformmanagers begriff der Produktionsdirektor, wie bedrohlich die Si tuation war. Flatternd notierte er die Namen aller vor beilaufenden Männer - auch zweimal Hughs - und hätte sofort seinen Posten verlassen, wenn er nur ge wußt hätte, wohin. Im übrigen sagte er nichts von der geplanten Evakuierung. Er ging davon aus, daß es jeder wußte. Die Funkbude war ein Scherbenhaufen. Aus den Halterungen gerissen, hingen Geräte über die Tisch kante oder lagen zertrümmert auf dem Boden. Ein lo ser Kontaktpunkt blitzte auf zersplitterte Skalen und das Werk einer geborstenen Uhr. Es roch nach Ozon. »Hier geht nichts mehr. Laß uns verschwinden, du Esel«, rief Irvin Parker dem Funker zu, der ihn jedoch wortlos am Ärmel in die Funkbude zog. Doch ein Notsender funktionierte. Der Funker re gelte ein und Irvin Parker schrie aus Leibeskräften ins Mikrofon: »Explosion, Explosion auf Kilt Delta! Wir verlassen die Plattform. Wir verlassen sie, wir verlassen sie...« Mit einer Stichflamme verbrannte das vor sich hin schmorende Kontaktplättchen. Irvin Parker glaubte nicht an seine letzten Worte und auch nicht, daß ihn jemand dort draußen gehört hatte. Der ehemalige Feuerwehrmann und Sicherheitsoffi zier verkrümmte sich, als er über die Lage informiert wurde. Seine Arme hingen schlaff herunter. »In Ord nung ...«, sagte er mechanisch und stockte wegen des Unsinns seiner Worte. Die Auskunft, die er dann Hugh gab, war allerdings korrekt. Er wußte nicht, ob 75
Hilfe von draußen kommt. Doch er glaubte daran. In seiner Zeit als Feuerwehrmann war er schon etliche Male aus aussichtslosen Situationen herausgehauen worden. Der Kreis der führenden Conti-Angestellten beim Heli-Ausgang in der Kantine war von Irvin Parkers Pa nik angesteckt und deshalb sehr brüchig. Diesmal war es der Funker, der vorschlug, von der Plattform zu springen. »Wahnidee«, höhnten gleich mehrere Stim men. In Sicherheitskursen waren sie darauf gedrillt, daß beim Sturz von der Plattform das Wasser hart wie Be ton sei. Irvin Parker fiel nicht ein, der Mannschaft auch nur ein Wort mitzuteilen. Er war mit seinen Händen und Füßen beschäftigt. Er wußte nicht, wo er sie lassen sollte. Als Irvin Parker einmal durch seine Haare strich, bemerkte er, daß sie elektrostatisch aufgeladen waren. Immer wieder fuhr er darüber, doch das Knistern wollte nicht enden. »Gleich flammen sie auf wie Elmsfeuer an den Rahen von Windjammern«, sagte er plötzlich laut und entgeistert und riß die Runde aus den gegenseitigen Beschuldigun gen und Giftereien. Von weitem erschien Hugh der Plattformmanager exaltiert. »Der wird mich mit Ausflüchten hinhalten«, sagte er zu Ken und überlegte mögliche Erwiderungen. Schließlich drängte er sich zu Irvin Parker. Er schob sich mit den Armen rudernd durch die Männer. Hinter ihm blieb die Lücke seines Wegs offen. Köpfe drehten sich mit, nicht beendete Sätze klangen ins Schweigen nach. Er tippte Irvin Parker an die Schulter und sagte: »Ver dammt, worauf wartet ihr? Laßt uns hier endlich raus holen! Oder es gibt Randale.« 76
Im Gesicht von Irvin Parker lag maßloses Erstaunen. Er starrte Hugh an, als sei er ihm von irgendwoher vor die Füße gefallen. Hinter den Gläsern zuckten ganz leicht seine Lider. Und am Haaransatz entlang zog sich eine filigrane Kette von Schweißperlen. Ohne ein Wort wandte sich Irvin Parker wieder dem Kreis der Conti-Angestellten zu. Deprimiert ging Hugh zurück. Ihn quälte dasselbe Gefühl wie im Delikatessengeschäft. Er dachte, alles wiederholt sich.
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Immer noch lehnte er neben den bleiverglasten Fen stern der Kantine. Der Ventiltechniker David Fergu son war erst verärgert und dann gelangweilt gewesen. Später hatte er beklommen sein beringtes Ohrläppchen gerieben, mit dem er beim Sturz über die Kojenkante geschrammt war. Schließlich hatte er den Schmerz vergessen. David erschien die Menge vor ihm wie eine Schweiß und Öl ausdünstende dicke Mauer. Die Männer dräng ten sich in kleinen Gruppen, die sich ständig auflösten und neu zusammenfanden. Die Kantinentische waren schwarze Löcher in dem Gebrodel. Er hielt Ausschau nach seinem Kollegen Eugene, der nach der ersten Explosion und dem abrupt unterbro chenen Duschbad sofort hatte nachkommen wollen. David konnte ihn nicht entdecken. Dave kannte auch sonst keinen in dem Gewühl der Leiber. Seine Hände tasteten hinter sich an den Glas scheiben entlang. Dann stieß er seinen Körper nach vorn. Fremd und allein wanderte er durch die Kantine und folgte einem verschlungenen, unsichtbaren Pfad durch die wartenden Männer. In einer Gruppe trugen alle braune Overalls mit Ölflecken, und ihre Taschen beutelten sich von den hin eingesteckten Handschuhen. »Jetzt kriegen sie die Rechnung für ihre Schlamperei«, sagte ein Kleiner hän gendem Hosenboden. Die anderen nickten. Doch der Träger eines breiten Ledergürtels fächelte müde und
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sagte: »Wir bezahlen sie bereits. Nur wir merken das nicht.« Von einem betrachtete David nur die Hände. Die eine Hand knetete ständig die zur Faust geballte andere. Die Knöchel waren ganz weiß und die Fingerspitzen rotgeschwollen. Dann traf er auf zwei, die gedämpft miteinander spra chen. Der eine hatte weiße Wimpern und erzählte von einer Reise, zu der er übermorgen aufbrechen wolle. Er schwärmte von schneeigen Korallenstränden und Fi schen, die nachts leuchteten. Er hatte alles aus Prospek ten. Aus seiner Brieftasche zog er ein Flugticket mit ab geknickten und wieder geradegestrichenen Ecken. David versuchte, sich aus allem einen Vers zu ma chen. Er glaubte, daß jedes Wort und jede Regung eine kodierte Botschaft sei, die ihm den Sinn des Gesche hens offenbare. Doch er konnte den Schlüssel nicht finden. Er erinnerte sich, daß er als Jugendlicher durch Fen ster gestarrt hatte und die Menschen dahinter ihm selt sam fremd erschienen waren. Er lieh sich damals Bücher über Hieroglyphen und Runen aus, von denen er nur die Hälfte verstand, aber glaubte, daß sie eine universelle Sprache seien und die Wirklichkeit besser wiedergäben als jedes Wort. Er er zählte seinen Freunden von Völkern, die mit der Na tur so verbunden waren, daß sie wie ein Blatt im Baum hingen und daß die Wissenschaft mit ihrer Logik Ho kuspokus sei. Irgendwo hatte er ein Zitat von Menzel gefunden und trug ihnen vor: »Mir fehlt der Klebstoff zu dieser Welt.« Die Freunde lachten ihn kopfschüt telnd aus. Wie sie tat er selbst einige Jahre später seine Gedanken ab. Als er die Tür zur Rezeption passierte, blickte ein 79
Mann kurz herein und sagte mehr zu sich selbst: »Ich war unten im Wohntrakt. Überall Rauch und Feuer an den Türen. Wir kommen da nicht raus.« Sein Gesicht maskierte der schmierige Belag von Ruß. Einmal stieß er jemanden an. »Kannst du nicht auf passen, du Blödkopf«, rief der Mann. David betrachtete ihn schweigend. Er hatte rote Aderchen in den Augen. Je länger Dave hinsah, wechselte die Augenfarbe ins Ungewisse. Der Mann ließ die Musterung stumm über sich ergehen. Erschreckt wandte David sich ab. Dann fesselten seine Aufmerksamkeit zwei Sicher heitsoffiziere mit Atemgeräten. Sie schnauften pfeifend durch Mundstücke aus Gummi, von denen Rüssel zu ihren Oxygenflaschen auf dem Rücken führten. Sie wirkten wie Mutanten von Insekten. Neben ihnen an der Wand lehnte ein jugendlicher Bohrarbeiter, der mit dem Turnschuh immer gleiche Kreise auf dem sandfarbenen Linoleum zog. Es quietsch te stumpf, wenn er den Scheitelpunkt erreichte. Er ver folgte interessiert die eigene Fußbewegung und biß sich dabei auf die Lippen. Er blickte kein Mal zu den Si cherheitsoffizieren. Erst nahmen sie einen Feuerlöscher von der Halte rung neben der Tür. Sie schüttelten die Köpfe und stell ten ihn ab. Dann lief der eine durch die Tür zum HeliDeck nach draußen. Seine Oxygenflasche auf dem Rücken schwankte. Er kam nicht wieder. Der andere drückte den Türgriff. Er blickte sich in der Kantine suchend um. Sein Atem ging mal jaulend mal prustend. Die Tür schlug hinter ihm zu. Nur der Hahn seiner Oxygenflasche ragte aus den Schwaden heraus. Auch er kehrte nicht zurück. David glaubte, daß Qualm und Flammen nur vor den Türen und Fenstern seien. 80
Jemand rief: »Die 'Danaos' kommt.« Er hatte durch den Rauch für einen kurzen Moment die Lichter der Feuerwehrplattform gesehen. Köpfe wurden gereckt, verschränkte Arme gelöst. Die Männer schaukelten in einem entspannten Tumult. Aber schnell sickerte wieder das Gift der Hoffnungslo sigkeit in ihre Glieder. Dann beobachtete Dave einen Adamsapfel, der in ei nem mageren Hals rauf- und runterrutschte. Er konnte die Augen nicht davon lassen. Der Mann sagte: »Teufel noch mal. Ich dachte, mich hätte das Rauchen an eini ges gewöhnt.« Neben dem schmiedeeisernen Gitter bei der Kühlvi trine traf David jetzt auf die Küchencrew. Sie klebte in einem Bündel zusammen. Der Koch rieb mit dem ka rierten Handtuch über das schweißnasse Gesicht, schneuzte hinein und ließ es auf den Boden gleiten. Im nächsten Moment hob er es wieder auf. Keiner kümmert sich um mich, stellte David plötz lich mit der Betrübtheit eines vernachlässigten Kindes fest. Unmerklich hatten sich die Schwaden über die Män ner gesenkt. David sah die Gesichter weich durch einen Schleier. In seinem Hals kratzte es. Er wollte sich räus pern, unterließ es aber, weil er früher vom Kinderarzt gelernt hatte, daß es die Reizung verstärke. »Choppers kommen«, rief ein Sicherheitsoffizier aus der Ecke beim Heli-Ausgang. Er stand schief und lauschte. Ein wischendes Klappern kreiste hoch über dem Dach. Es konnte nur der Helikopter der »Danaos« sein. Das Klappern entfernte sich. »Er ist zu klein, die großen von Land kommen sicher gleich«, sagte der Of fizier. Ein Mann riß die große Kanne mit dem Himbeersaft 81
aus der Kühlvitrine und goß ihn sich über den Kopf. Rinnsale zogen sich wie Narben durch sein Gesicht. »Tu' was, Irvin Parker, hol uns hier raus«, rief er mit sich überschlagender Stimme. Der Plattformmanager regte sich nicht. »Ich hab' Angst!« schrie der Mann und biß in seine safttriefende Hand. In das Schweigen danach brummte es aus einer Ecke beruhigend: »Mach' dir keine Sorgen. Jeder hier hat Angst.« Dankbar klammerten sich die Männer an die ihnen eingetrichterte Disziplin. David glaubte, daß er das Geschehen wie im Zerr spiegel-Labyrinth auf dem Jahrmarkt wahrnahm. Schließlich hatte der Rauch sich tief über die Männer gesenkt. Von ihren Schreien begleitet, erlosch die Not beleuchtung. Einzig die Flammen warfen einen schwa chen Schein durch die Fenster. David wanderte durch Schatten. Er mußte ein Rätsel lösen. Doch nicht einmal die Frage war ihm klar. Ange spannt war er jetzt auf seine mädchenhaft kleinen Ohren angewiesen. Er versuchte, jede Äußerung aufzufangen. »Ich kann nicht atmen«, hörte er aus einem Gegurgel heraus. Und wieder brummte es beruhigend aus der Ecke: »Wenn du nicht genug Luft kriegst, dann geh' runter zum Boden, da ist es besser.« Immer wieder ging David das Bild der zu Insekten gewandelten Offiziere durch den Kopf. Dann hörte er nur das Husten und Räuspern von über hundert Männern, auch das eigene. Seine Schädel decke drohte zu zerplatzen. Dann schossen Schreie aus allen Ecken durch den Raum. Sie versickerten in Gemurmel. 82
Dann war es so still, als seien alle gegangen. Nur sein eigenes Atmen hörte er noch. Und wenn Dave einen Moment die Luft anhielt, schien es ihm, als sei er auch nicht mehr da. Schließlich begann das Husten von neuem. Alles kam in Wellen wieder und verging auch so. David war stehengeblieben. Er rieb wieder sein be ringtes Ohr und lauschte jetzt in sich hinein. Sein Mund öffnete sich etwas. Ich muß selbst für mich sorgen, stellte er mit der Er nüchterung des Herangereiften fest.
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Eine Stimme durchbrach das Dunkel und das Ge keuche: »Bleibt ruhig, Jungs. Nur Geduld. Die Choppers kommen.« »Wann endlich?« heulte jemand aus der anderen Ecke der Rezeption. »Bald. Ganz ruhig... Ruhig, Jungs.« Der Schlosservormann Edmond Roarty fuhr mit den Fingerspitzen über seine Wieselaugen. Sie brannten vom Rauch, seine Kehle auch. Wieder fiel ihm sein Traum ein. Er fragte sich, ob die Bedeutung der schwebenden Sommerwiese vielleicht ein Hubschrauber sein könne. Sein Kopf wiegte sich. Eine Taschenlampe leuchtete matt auf. Edmond Ro arty blinzelte. Endlich konnte er wieder seine Augen gebrauchen. Der Schein tastete sich durch den Dunst über die ver dunkelten Halbkreise von Köpfen, bis er die Männer vor dem Tresen traf. Sie waren gerade im Umriß zu er kennen. Stan Owen stand immer noch breitbeinig in Korpo ralshaltung und daneben, klein und zusammenge krampft, der frischgebackene Superintendent Alex Shinwell. »Huren«, stöhnte der Mann, der die Taschenlampe hielt. Alex Shinwell knickte etwas ein. Dann war wieder Dunkel in der Rezeption. Edmond Roarty wischte noch mal über seine Augen.
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Er saß auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand in einer Reihe von Männern. Sechzig weitere Arbeiter standen oder hockten, dazwischen lagen auch manche. Einmal trampelten schwere Sicherheitsstiefel über Ed monds ausgestreckte Beine. Er zog sie an und hielt die Knie umschlungen, denn ständig drängelten Männer durch den kleinen Raum zwischen dem Treppenhaus und der Kantine. Die Hintertür zum Heli-Deck war dreimal geöffnet und wegen des hereinströmenden Rauchs sofort wieder zugeschlagen worden. »Der Qualm geht bis zum Heli-Deck. Hier kommen keine Choppers. Keiner kommt«, sagte Edmond zu sei nen kaum erkennbaren Nebenmännern. »Ach, du erfindest wieder ein Schauermärchen«, warf der links von ihm hin. »Wäre es nur eines«, sagte Edmond und erzählte den beiden vom Ausgang beim Rohrdeck, der vielleicht im mer noch passierbar sei. Er hatte begriffen, daß es tödli cher Unfug war, noch länger in der Rezeption auf Hilfe zu lauern. »Wie haben Order zu warten«, sagte der Mann rechts von ihm. Aber Edmond wußte, daß es nicht stimmte. Später bei der Untersuchung wurde sogar von einem »bewuß ten Irrtum« gesprochen. Denn die ganze Zeit über hat te den Männern niemand irgendwelchen Befehl gege ben. In der Annahme, daß einer erteilt werde, so sagten mehrere Zeugen aus, seien sie aus Disziplin in der Re zeption und Kantine geblieben. Obwohl Edmond auf dem Sprung war, wippte er nur unruhig vor und zurück. Er hatte seinen eigenen Kopf. Aber niemals bisher war Einordnung für ihn Zwang. Gerade an einem so gefährlichen Arbeitsplatz wie auf 85
der Kilt Delta hatte sie sich täglich als richtig erwiesen und war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Seinem Bruder hatte er einmal gesagt: »Wenn man bei einem Unglück auf eigene Faust handelt, führt es nur ins Chaos.« Jetzt fühlte er die Disziplin als eine Fessel und wußte nicht, wie sie abzuschütteln war. Was er sich auch über legte, straffte sie noch mehr. Ihm fehlte einfach ein ver nünftiges Argument, das ihn befreite. Da fiel ihm Pa stor Duncan ein. Und auch nur, weil er an diesem Abend zufällig nach über zwanzig Jahren schon einmal an ihn gedacht hatte. Pastor Duncans Kirche war wie ein geduckter Wolf aus grauem Granit. Er bewohnte ein düsteres, von hohen Ul men umstandenes Pastorat und war weit über die Ge meindegrenzen hinweg als Querkopf bekannt. In seinen Predigten wetterte er über die aufgeblasenen Engländer mit ihrem imperialen Gehabe, rezitierte Lieder und Ge dichte von Burns und erzählte gälische Anekdoten. Seinen Schäfchen konnten die Messen nicht lang ge nug dauern. Er sprach mit beeindruckendem Baß. Auf dem mageren Körper von Pastor Duncan steckte ein marzipanfarbener Vollmond. Seine Augen glom men. Er hatte eine Vollglatze, die den Widerspruch zwischen Körper und Kopf noch hervorhob. Bei nähe rem Hinsehen entdeckten die Dorfbewohner jedoch Stoppeln. Er hatte einen blonden, borstigen Haar wuchs und rasierte sich wöchentlich die Kopfhaut. Er meinte, daß Haare die Gedanken hinderten, frei in die Luft zu steigen. Aus dem Grund lehnte er auch jeg liche Kopfbedeckung ab, selbst bei schärfstem Frost oder Regen. Sein Haupt überzog dann meist eine bläu liche Färbung. 86
Pastor Duncan war dem jungen Edmond besonders zugetan, da er dessen wache Phantasie erkannte. Ein paar Mal durfte Edmond ihn in seinem Loch besuchen. So nannte er sein Studierzimmer im Pastorat, in dem er sich meist erst einen Pfad zu seinem Schreibtisch frei wühlen mußte. Der Raum war ein Raritätenkabinett, obwohl er mit Bedacht und Strenge sammelte. Edmond sah große Zeichnungen von merkwürdigen Würmern und Tausendfüßlern, die aber keine waren. Sie hatten Saugnäpfe oder Klauen als Köpfe. Die Bilder hatte ein Studienfreund und Professor in Cambridge dem Pastor geschenkt. Dann berührte Edmond zaghaft den ellenlangen Penisknochen von einem Walroß. An den Enden glänzte er violett. Auf dem Fensterbrett stand eine Statue in weitem Mantel mit einer Maske aus Adlerfedern vor dem Ge sicht und einer Sonne auf dem Kopf. Das sei ein Geist der Hopi-Indianer, die in einen großen Wüstenstein den Weltenlauf geritzt hätten. Dann waren da Steine mit Ammonshörnern, Steine mit wuchernden Topas-, Granat- und Aquamarinkristallen und auch ganz ge wöhnliche Steine, die jedoch früher den Kelten heilig gewesen sein sollten. Edmond wunderte sich über die Glätte des Schädelfragments von einem Affen und fiel fast in einen riesigen Farn mit unzähligen Fingern. In der Sonntagsschule ließ Pastor Duncan die Kinder zwar den Katechismus vor und zurück beten, trug ih nen aber gleichzeitig die Schöpfungsgeschichte in der eigenen Vervollkommung von Darwins Version vor. Den Namen sprach er stets andächtig aus. Hinterhältig begann er mit Straßenweisheiten und er klärte den Kindern, daß Gott die Welt in einer Woche erschaffen konnte, weil ein Tag für ihn Abermillionen Menschenjahre seien. »So wie ein Menschenjahr sieben 87
Katzenjahre sind«, fügte er zur Verdeutlichung hinzu. Edmond leuchtete es ein, denn er hatte bereits drei Kat zen aufwachsen und sterben gesehen. Pastor Duncan erzählte ihnen, daß Gott jeder Krea tur auf der Erde gleich zugeneigt sei, und falls der Mensch fehle und sich zu sehr anpasse, ergehe es ihm ebenso wie den Sauriern, die sich nach einem Meteor einschlag auf der Erde nicht mehr zurechtfanden und ausstarben. Schließlich zeigte er ihnen einen kleinen Eskimo schlitten. Edmond staunte über die wunderbar schma len Holzkufen und die Lederbänder, die alle Teile zu sammenhielten. Pastor Duncan führte die Kinder auf das arktische Eis, ließ sie mit dem Schlitten über die glasige Fläche um Wasserlöcher herumrumpeln und gab ihnen einen Inuitvater, der sie, die Kleinen, re spektvoll mit Großvater anredete, wenn sie den Namen des verstorbenen Alten trugen. Und er schilderte ihnen, wie diese Menschen in der furchtbaren Natur überlebten: Jeder lenke den Schlit ten allein und suche einen eigenen Weg, auch wenn mehrere dasselbe Ziel hätten. Keiner gehorche anderen, sondern höre nur auf sich selbst. Mit triumphierend hochgezogener Stimme kam er zum Gegenbeweis: Bei der Polar-Expeditionen des Engländers Franklin kamen alle Männer um, weil sie einem folgten. »Paßt euch nicht an, denn anders wäre es euer Unter gang«, rief er zuletzt donnernd, daß alle Kinder zusam menfuhren. Edmond brannten die Ohren. Und später erinnerte er sich hin und wieder nur an Saurier, die von Meteo ren erschlagen wurden, an die schmalen Holzkufen, die über das Eis mit den blauen Wasserlöchern fegten, an den Jungen, der seine Hunde mit »Hoqua Hoqua«-Ru 88
fen antrieb und von seinem Vater mit Großvater ange redet wurde. Jetzt ging Edmond der Sinn der beschwörenden Wor te auf. Sie waren das Argument, das sein Gefühl bestä tigte. Er spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Ernüchtert dachte er: Jeder Mann für sich selbst. Aber Edmond blieb weiterhin sitzen. Er mochte nicht allein gehen. »Es kommen keine Choppers. Hier können keine landen. Und es gibt keinen Befehl. Laß' uns den Weg nach unten machen«, sagte Edmond wieder zu seinen Nebenmännern und stieß sie an. »Wir wollen abwarten«, antworteten beide. Am Tresen pfiff der Walkie-talkie. Der Conti-Super intendent Stan Owen redete mit einem Sicherheitsoffi zier weit unter ihnen im Inneren der Plattform. Der Mann versuchte, mit einem Atemgerät die Feuerlösch pumpen zu erreichen. Edmond hörte seine gepreßten, pfeifenden Worte: »Ich passiere eine Laufbrücke und...« »Er ist weg, er ist weg«, rief Edmond entsetzt, »höch ste Zeit, abzuhauen.« Er sprang hoch und quetschte sich durch das dunkle, mit Männern gefüllte Treppenhaus und fand durch die Dunkelheit sofort die Tür zum Rohrdeck. Trotz des Rauchs, der über die Plattform quoll, sog er in tiefen Zügen die Luft ein. Sie erschien ihm würzig und klar. Der Wind zerstob für Momente das schwarze Ge quirle. Edmond sah, daß eine wunderschöne Sommer nacht sich über ihm ausgebreitet hatte. Auf dem ame thystfarbenen Himmel wanderten unendlich langsam die Sterne. Er machte auf dem Absatz kehrt. Er rannte durch die Hintertür zurück in den Wohntrakt, um den Männern 89
in der Rezeption und der Kantine seine Entdeckung mitzuteilen. Noch unten, am Treppenansatz, traf er einige Arbei ter und seinen Kollegen Stuart. Das von Ruß ver schmierte Gesicht Edmonds erkannte er zuerst nicht. »Mein Gott, Edmond, dich gibt's noch. Wohin willst du?« fragte er. Obwohl sie sich berührten, schrie Edmond ihm die Nachricht zu. »Dann führ' uns«, sagte Stuart. Und wieder machte Edmond auf dem Absatz kehrt und vergaß seinen Vorsatz, die Männer in der Rezep tion zu benachrichtigen.
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Als der Qualm etwas zerstob, sahen sie weit über ihren Köpfen Flammen, deren Spitzen sich lösten und eine Weile an der weißen Wand des Wohntrakts entlangsegelten. Ein Funkenregen prasselte auf sie nie der. Sie zogen die Köpfe ein und hielten die Arme vors Gesicht. Sie bibberten und röchelten. Der Rauch und die Hitze hatten sie zur äußersten Ecke der Plattform getrieben. Nirgendwohin konnten sie mehr auswei chen. Dreißig Meter unter ihnen lag die See, in die glü hende Eisenteile wie Projektile schossen. Die Männer waren zu einer Garbe zusammengebün delt und wiegten ihre Oberkörper. Doch der Kontroll raum-Operator Gilbert Dobbs stand rigide aufrecht und wieder am Rande. Er strich mit dem Zeigefinger über den Höcker seiner Nase und stierte in den Rauch, dort, wo er den Kontrollraum vermutete. Gilbert konnte sich nicht erinnern. Ein paarmal glaubte er, ihm läge ein erlösendes Wort auf der Zunge. Doch es verflüchtigte sich sofort. Greifbar nahe sahen die Männer hin und wieder durch die Schwaden die Lichter der Feuerwehrplattform »Da naos« und schräg unter ihnen, wie von einem Spielzeug, die Silhouette des Rettungskutters »Golden Hope«. Die Lichter der »Danaos« bewegten sich plötzlich auf sie zu. Der untere Teil der Feuerwehrplattform war mit Scheinwerfern angestrahlt und leuchtete signalrot, an der Seite blinkte das Aluminium der ausfahrbaren Ret tungsgangway.
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»Sie kommt. Sie kommt, um uns zu holen!« Ihre Schreie gingen durcheinander, und gleichzeitig hatten sie Angst, ihren Augen zu trauen. Die Garbe der Män ner fiel auseinander. Einige schwenkten ihre Helme. Ei ner sprang mit ausgestreckten Armen in die Luft. Und Gilbert sagte plötzlich: »Gut, das wurde aber auch höchste Eisenbahn.« In ihm war wieder der Wille zum Führen erwacht. Er vergaß sogar, daß er sich erinnern wollte. Mit Er leichterung sah er an der Reling eine Sicherheitskiste mit Schwimmwesten und ordnete an, sie auszuteilen. Die Männer sollten zur Landung der »Danaos«-Gang way bereitstehen. Wasser sprühte aus den zehn Feuerlöschkanonen der »Danaos«, was von neuen Aufschreien der Männer be gleitet wurde. Doch dann war der Strahl flau. Wieder preßten sich die Männer aneinander. Wie ab getrennt lagen ihre Köpfe auf den Kissen der Schwimmwesten. »Sie will gar nicht landen, sondern nur näherkom men«, stellte der Mechaniker und ehemalige Fischer Brian Munro laut fest. Mit seinem grünen Auge hatte er über eine Relingstange zur »Danaos« gepeilt. Sie be wegte sich nur im Schneckentempo vorwärts. »Die hie ven sich an den Ankerketten voran. Es hat keinen Sinn, auf sie zu warten«, sagte er und duckte sich vor heran schießenden Funken. »Rede keinen Unsinn!« Gilberts Stimme war schnei dend und leicht guttural. Die Männer merkten, daß Gilben Dobbs wieder bei einander war. Doch die von Brian Munro gesäten Zwei fel nagten. Brian stieß einen Kumpel an und sagte zu ihm ge dämpft, aber so laut, daß es alle hörten: »Ich weiß 92
nicht, was du tust, Dean, aber ich hau' ab und suche ei nen Weg zum Wasser.« Dean kraulte den blassen Flaum an seinem Kinn. »Ich geh mit«, sagte er. Für Gilbert war das der Anfang einer Meuterei. Er wollte etwas sagen, gaffte aber nur mit offenem Mund. Das Tuch, das er auf die verletzte Hand gepreßt hatte, fiel zu Boden. Plötzlich hatte er den Faden seiner Erinnerung wie der gefunden. »Es war, als hätte jemand einen Schein werfer in mich gehalten«, sagte er später einem Kolle gen, »ich sah alles im Kontrollraum taghell und mit un gewöhnlich scharfen Konturen. So wie im Theater.« Der Kontrollraum hatte einen giftgrünen Eisenbo den, war fensterlos und mit Instrumentenschränken vollgestopft. Ihre Frontplatten bedeckten schematische Pläne der vielen Rohrleitungen und zahllose Staffeln von weißen und roten Warnlämpchen. Gilbert saß am Blechschreibtisch und starrte blicklos gegen die Wand mit den Eisenregalen, auf denen Hand bücher, Akten und eine abgegriffene Ausgabe des Play boy lagen. Er dachte an seinen neuen Bungalow mit den sieben hohen Pappeln. Vor erst drei Wochen war er mit seiner Frau und den zwei Kindern in den feinen Vorort von Billingham gezogen. Es war kurz vor 22 Uhr, bis sechs lief seine Schicht und zugleich Arbeits periode. Später am Tag wollte er, mit einem Helikopter ausgeflogen, zu Hause sein. Das Quäken eines Alarmsummers schreckte Gilbert hoch. Er drückte einen Knopf, unterbrach den unange nehmen Ton und drehte sich auf seinem Stuhl zum Kontrollpaneel, wo das weiße Lämpchen der Gaspum pe eins aufblitzte. Wieder drückte er einen Knopf und löschte das Licht. 93
Gilbert konnte im Kontrollraum ausschließlich die Produktion überwachen. Er nahm das Mikrofon vom Schreibtisch und rief über Funk den Produktionsarbei ter Peter Bane zu: »Gaspumpe eins ist ausgefallen, wirf sie wieder an.« Peter Bane war Mitte Dreißig, hatte fröhliche Som mersprossen und Hände wie Schaufeln. Er wurde nur Lorry Peter gerufen, weil er früher im Fuhrunterneh men seines Vaters gearbeitet hatte. »Mein Dschungel«, nannte Lorry Peter die Gasabtei lung. Er sah sie als einen wild wuchernden geheimnis vollen und zugleich vertrauten Garten - eine Täu schung, die er mit seinem Leben büßen sollte. Durch ihr Gewirr erschien die Gasabteilung un durchdringlich und ihre Dimension unendlich. Rot, weiß und gelb gestrichene Zylinder, Kessel, Pumpen und Ventile ragten dort hoch auf und versperrten den freien Blick. Ihre Stämme liefen am Boden in wulstigen Bündeln aus, die sich dann unter die Flurplatten zogen. Zahllose Rohre wanden sich kreuz und quer durch den Raum. Leitungen hingen senkrecht herunter. Es ratter te, dröhnte, brummte und zischte. Dieses eiserne Dickicht konnte Lorry Peter nur auf schmalen Pfaden passieren. Er lief meist geduckt, um mit dem Kopf nicht gegen die Leitungen zu stoßen. Manchmal mußte er über kleine Kabelgräben oder bauchige Schieber springen. Er fühlte sich dort heimisch, mehr als im Forest of Atholl, an dessen Rand er aufgewachsen war. Wie der Wald seiner Kindheit war dies eine Welt voller unsicht barer Ereignisse. Hm und wieder sagte er: »In meinen Kesseln und Rohren steckt Leben.« In seiner Täuschung bedachte er nie den einen funda mentalen Unterschied: Die Säfte in den verzweigten 94
technischen Büschen und Bäumen seines Dschungels lenkten sich nicht selbst. Sie mußten von ihm reguliert werden. Ihren Fluß konnte er nur an Skalen und Steig rohren ablesen. Niemals stellte sich Lorry Peter vor, wie in der Zen trifuge winzige Erdgasblasen aus den Öltropfen heraus geschleudert oder wie die Gasblasen im Druckkessel so zusammengequetscht wurden, daß daraus ein träger, transparenter Saft entstand. Oder wie die Tropfen gur gelnd durch die Gaspumpe gerissen und an den mit Rostblasen übersäten Wänden der Pipeline entlang auf dem schottischen Festland in eine wuchtige, blanke Kugel gespieen wurden. Oder wie der Gassaft kalt dampfend im meterhohen Vorratskübel für die Pumpe ruhte, wo er jetzt gerade einen Hebel umlegte. Und Lorry Peter sah auch nicht, ob das Gas jetzt über lange Rohre zur Fackel umgelenkt und dort mit mächtigem Fauchen verbrannt wurde. Über Funk teil te er Gilbert mit, daß die Zufuhr zum Vorratsbehälter gedrosselt sei. »Ich trabe zur Pumpe«, sagte Lorry Peter. Gilbert beugte sich wieder über Produktionslisten. Er liebte Papierarbeit. Die Zahlen zeigten, was er ge schafft hatte. Ihn schreckte ein neuer Alarm hoch. Die Lampe für den Vorratsbehälter leuchtete auf. Da die Pumpe nicht absog, war er kurz vor dem Überlaufen. Gilbert drück te den Summer und das Blinklicht aus und rief durchs Mikrofon Lorry Peter zu: »Alarm für den Vorratsbe hälter. Hast du nicht die Zufuhr vermindert?« »Aber ja doch«, quäkte Lorry Peters Stimme aus dem Lautsprecher. »Alles im Griff«, setzte er fröhlich nach. Gilbert beugte sich nicht mehr über seine Listen. Er blieb gespannt sitzen und horchte. Durch die isolierten Wände kam von draußen kein Geräusch herein. Das 95
einzige, was er zeitweilig hörte, war das Knarren seines Drehstuhls. Die Tür sprang auf. Peter Wood, der Produktionslei ter der Gasanlage, wischte herein. Er hatte schüttere, schwarze Haare, ging immer leicht vornübergebeugt und war wie eine Kugel. Deshalb wurde er von allen Peter Mouse genannt. »Pumpe eins kriegen wir nicht zum Laufen, wir müs sen Nummer zwei starten«, rief er fahrig, stöberte in einem kleinen Holzkasten und fischte einen Bogen Papier heraus. Das Din-A-4-Blatt galt als Ultima ratio der Sicher heitsvorschriften. Er war ein Erlaubnisschein für Repa raturen und sollte sicherstellen, daß während der Arbei ten alle zuführenden Gasleitungen geschlossen blieben. Er war pinkfarben - für besonders gefährliche Repara turen. Auf dem Schein war Pumpe zwei eingetragen und weiter unten vermerkt »Rep. ausgeführt«. Gilbert staunte. Er erinnerte sich dunkel, daß beim Schichtwechsel sein Vorgänger ihm von unterbroche nen Arbeiten an dieser Pumpe erzählt hatte. Er nahm an, daß er sich verhört hatte. Auch Peter Mouse war so, als hätte er bei der Schicht übernahme irgend etwas von nicht beendeten Arbeiten vernommen. Doch weil sein Vorgänger stets weit schweifig war, hatte Peter Mouse nur mit halbem Ohr hingehört und schon überlegt, wie er seine Leute ein setzen könnte. Er wedelte mit dem Papier. »Hier steht 'ausgeführt'. Niemand wird den Unsinn machen und falsch quittie ren«, sagte Peter Mouse. Außerdem drängte die Zeit. Wenn sie noch weiter zögerten, mußte die gesamte Pro duktion der Kilt Delta stillgelegt werden. »Die werden 96
uns eins auf den Hut geben«, sagte er noch. Mit »die« meinte er die Manager der Ölgesellschaft. Gilbert überlegte fieberhaft, konnte aber nicht mehr finden als zuvor. »Es ist nur für einen kurzen Moment«, sagte Peter Mouse, »dann haben wir Pumpe eins wieder flott und können schon die zwei stoppen.« »Aber...«, sagte Gilbert, und nicht mehr. Er hatte immer die Entscheidungshierarchie bedin gungslos akzeptiert. Mit hängender Unterlippe blickte er den Produktionsleiter an. »Man wird doch Peter Mouse nicht verscheißern«, rief er in der Tür selbstgefällig Gilbert zu, »bis gleich.« Später bei der Untersuchung wurde dieses pinkfarbene Papier blumig als Ursprungsverhängnis bezeichnet, das alle weiteren nach sich zog. Gilbert und Peter Mouse hatten sich nicht verhört. Durch Zeugenaussagen konnten nicht nur alle Vor gänge minutiös rekonstruiert werden, es wurde auch geklärt, daß ein zweiter Erlaubnisschein vorhanden war — einer für das Sicherheitsventil der Pumpe zwei, das David Ferguson nicht hatte einbauen können. Auf diesem Schein stand: »Arbeiten verschoben.« Aus Schusseligkeit hatte der Produktionsleiter der vorhergehenden Schicht dieses Papier nicht wie vorge sehen an das der Pumpe zwei geklammert, sondern irr tümlich in den Ordner für erledigte Reparaturen ge heftet. Als Peter Mouse hinunterlief, um die Pumpe zwei zu starten, saß Gilbert auf seinem Drehstuhl und trom melte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Er dachte, wenn nicht bald eine Pumpe läuft, muß ich den Shut-down-Button drücken. Der Knopf leuchtete groß und rot vor allen Schaltern 97
aus dem Amaturenschrank heraus. Mit ihm konnte schlagartig die gesamte Produktion der Kilt Delta un terbrochen werden. Ein ohrenschmerzender Ton jaulte auf. Gilbert drückte ihn mit einem Ruck weg und drehte sich zum Kontrollpaneel. Von den 326 roten Lämpchen, die mit Gasdetektoren verbunden waren, flackerte eins auf. Das Mikrofon schnellte zu Gilberts Mund: »NiedrigGasausbruch in Zone C. Sieh nach, was passiert ist«, rief er Lorry Peter zu. »Ay«, sagte der und hetzte durch seinen Dschungel. Der Shut-down-Button blieb unberührt. Gilbert Dobbs war in einer Welt der Beinahe-Desa ster und kleinen Unglücke aufgewachsen. Die Luft, die er seit seiner Geburt eingesogen hatte, war graubraun und teigig und geschwängert mit Methan, Clor und Ammoniak. Die Landschaft seiner Kindheit bestand aus silbrigen Hügeln und Höckern der Kühltürme, Kessel, Rohrleitungsbündel und den riesigen Tanks des Chemiezentrums Billingham. Jüngeren Kollegen hatte Gilbert manchmal gesagt: »Eine kitzlige Situation führt nicht zwangsläufig ins Chaos. Man muß nur alles unter Kontrolle behalten.« Das war ihm bisher gelungen. Während der letzten zwei Wochen war achtmal auf der Kilt Delta ein Gasalarm ausgelöst worden. Immer war Lorry Peter oder ein anderer Produktionsarbeiter losgelaufen und hatte das Übel beseitigt. Wie sollte Gilbert außerdem begründen, daß etwas passiert wäre, wenn aber nichts passiert war, weil er den Shut-down-Button gedrückt hatte. Den Vortrag des Conti-Managers hatte er sich schon zig Male vorge stellt: »Was kam Ihnen in den Sinn? Da schickt man ei nen der Arbeiter hin, um das Problem zu lösen. So wie 98
sonst.« Und dann hörte Gilbert seine kühle Stimme: »Mein Lieber, der Produktionsausfall hat uns 350 000 Dollar gekostet. Sie sind der Falsche auf dem Platz.« Gilbert war gewiß kein Duckmäuser. Aber er dachte an sein neues Haus mit den sieben Pappeln. Der Summer jaulte wieder auf. Gilbert hielt in der rechten Hand noch das Mikro fon, schlug mit der Linken auf den Knopf und unter brach das peinigende Geräusch. Blitzartig drehte er sich zum Kontrollpaneel, wo ein weiterer Niedrig-Gasaus bruch gemeldet wurde. Der Alarm sprang erneut an. Er stoppte den ohrenschmerzenden Ton. Kaum hatte er die Hand fortge zogen, setzte das Jaulen wieder ein. In schneller Folge blitzten rote Lämpchen auf. Drei mal Niedrig- und einmal Hoch-Gasausbruch konnte Gilbert noch feststellen und schrie durch sein Mikro fon nach Lorry Peter, während er gleichzeitig auf die Aus-Taste schlug, um den verdammten Ton zu unter brechen. Der Shut-down-Button blieb unberührt. Gilbert hat te keine Hand für ihn frei. Den Knall der Explosion hörte er nicht. Im Bild seiner Erinnerung sah er sich dann nur wie der im Durcheinander des Kontrollraums mit der ver letzten Hand, die das Mikrofon hielt. Sein versteinertes Rückgrat bröckelte in sich zusammen. Schlaff und krumm stand er auf der rauchumwirbelten Laufbrücke. Die Männer gafften ihn betreten an. »Was ist mit Pe ter Mouse und Lorry Peter?« rief Gilbert plötzlich. Je mand sagte: »Weg.« Der Mechaniker und Ex-Fischer Brian Munro stieß seinen milchbärtigen Nachbarn an. »Na, was ist? Ich gehe.« Er nahm eine Leine, die aufgeschossen neben der 99
Rettungskiste lag, und knotete sie in die Reling ein. Er blickte nach unten in die See. Sie war ruhig leuchtete aber rot auf. Er war sicher, daß es nur der Widerschein des Feuers war. »Was sein muß, muß sein«, sagte er. Einer nach dem anderen löste sich aus der Gruppe um Gilbert und drängte sich zur Leine. Er dachte nicht mehr an Meuterei. Gilbert plagte ein ursprünglicheres Bedürfnis, das er sich sonst im Dienst versagt hatte. »Ich glaub, ich scheiß mir gleich in die Hose«, sagte er laut und reihte sich an der Leine ein.
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Er hastete durch die menschenleere unterste Etage des Wohntrakts. Im Sportraum wand der Tool pusher Terrence Ogilvie seinen massigen Körper zwi schen einer Ruderbank und einem Fahrradtrainer hin durch, wich einem von der Decke hängenden Pun chingball aus und stolperte fast über ein Paar Hanteln. Prüfend näherten sich seine flach erhobenen Hände der erwärmten Fensterscheibe. Der Talisman rutschte über den Knöchel und verschwand unter dem Ärmel. Dann preßte er sein Gesicht gegen das Glas. In die Kantine hatte Terrence nur einen kurzen Blick geworfen und sich dann von seinen Leuten getrennt: »Ich hab' Wichtigeres zu tun, als mir hier die Beine in den Leib zu stehen.« Daß er die Rettungsboote nicht über einen der Sei tenausgänge erreicht hatte, empfand Terrence als per sönliche Niederlage. Er hatte sich darauf verbissen, doch einen Weg zu finden. Sein Gesicht rutschte an der Glasscheibe auf und ab. Sie war schwarz vom draußen vorbeiziehenden Rauch. Wenn sich die Schwaden verdünnten, leuchtete draußen etwas trübe auf. Zwei Meter von ihm entfernt mußte das Rettungs boot Nummer drei in den Davids hängen. Doch Ter rence konnte es nicht sehen. »Verdammt«, heulte er. Hinter ihm lauerte der Monkeyman Charlie. Er turnte sonst hoch oben im Bohrturm auf schmalen Ei
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senträgern herum und hakte das Gestänge an. Er hatte Warterei noch nie ausstehen können und war als einzi ger Terrence aus der Kantine gefolgt. Seine Hände um klammerten die Hantel. Er wollte die Scheibe ein schlagen. Hastig fiel Terrence ihm in den Arm. Denn hinter dem Rauch konnten sich Flammen verbergen. »Erst überlegen und dann handeln«, rief Terrence und lief ohne weiteren Kommentar raus. Ein Deck höher stürmte er durch die Hintertür zum Rohrdeck. Der Monkeyman Charlie hing an seinen Fersen. Auf die Idee, den Männern in der Kantine und Rezeption von diesem Ausgang zu berichten, kamen beide nicht, wie Charlie später aussagte. Sie dachten nur an das Rettungsboot. Der Qualm verschluckte ihre Körper. In einem Gang zwischen zwei Containern stießen sie auf Edmond Ro arty und den bulligen Stuart. Mit seinen Wieselaugen plierte Edmond in den Rauch. »Wir wollen rüber zum Bohrturm und dann runter«, rief er. »Da sind doch keine Rettungsboote«, sagte Terrence Ogilvie irritiert. »Das ist uns völlig egal. Hauptsache raus hier.« Aber Terrence wollte zur Wasserseite des Rohrdecks und nachsehen, ob das Feuer um die Ecke des Wohn trakts zum Rettungsboot schlug. Eine fünf Meter über die Reling lodernde Wand hielt ihn auf. »Hurensäue«, schrie er über diesen neuen Streich der Flammen. »Er brüllte sich fast besinnungslos«, erzählte der Mon keyman Charlie später, »und rannte dann wortlos zu rück, wohl um noch einmal in den Sportraum zu sehen.« Ein Bohrarbeiter hielt sie im Korridor auf und fragte nach dem Woher und Wohin. Terrence wollte platzen. 102
Vom Hinterausgang kam ein Ruf: »Achtung, aus dem Weg!« Zwei Männer schleppten einen Verletzten vor bei. Terrence und Charlie sahen nur seinen Kopf. Er war vollkommen schwarz. Den Ruß auf dem Ge sicht durchzogen weinrote Schlieren und Sprengsel vom durchsickernden Blut. Der Monkeyman Charlie berichtete später, daß Ter rence murmelnd festgestellt habe: »Solchen Kopf hatte ich schon mal in einem Bach beim Loch Ness gesehen.« Dann sagte Terrence höchst erstaunt: »Damals war ja auch ein Feuer. Der Kreis schließt sich.« Über zwanzig Jahre lang hatte er die Erinnerung an dieses Ereignis in sich verschlossen herumgetragen, was später seine Mutter einem Reporter bestätigte. Sie sagte: »Mir ist der Vorfall so präsent, als sei es gestern passiert. Aber Terrence schaltete damals wohl einfach ab. Er war ein sehr verspieltes Kind.« Der Junge tollte durch die Heide und kam zu einem Bach, über dem im Sonnenlicht Libellen tanzten. Er neigte sich zu den von schwarzen Flechten bedeckten Kieseln. Die Steine waren für ihn Brownies, gutmütige, aber etwas sauertöpfische Geister. Denn wer bekommt nicht schlechte Laune, wenn er ständig im Wasser lie gen muß. Der Junge strich den Brownies über die schwarzen Haare und blickte in ihre rotfleckigen Ge sichter. Er lauschte den endlosen Geschichten des Bachs und wandte den Kopf zu den Libellen, aus deren Flügeln feiner, nicht zu sehender Goldstaub rieselte. Jedes glän zende Korn prickelte auf der Haut und enthielt ein Ge heimnis, das der Junge nicht verraten durfte. Nur dann verwandelten sich Kinder in Riesen, aber so, daß die Erwachsenen es nicht sehen konnten. Er hüpfte den Bach entlang bis zum Steilufer und leg 103
te sich auf eine grasige Fläche. Sein Kopf schwirrte vom Gesumm der Bienen und dem Duft von Erika. Weit unter ihm lag das Loch, düster wie ein alter Mann mit dunklem Hut. Er träumte von den Ungeheuern mit den wunderlichen, langen Hälsen. Er hatte keine Angst und konnte mit ihnen spielen, weil er durch den Goldstaub der Libellen verwandelt war. Das wußte der Junge alles von seinem Großvater. Er überlegte einen Moment, ob er lieber hier liege oder im Gras des Friedhofs von McDuff, neben dem schiefen Grabstein der Familie, von wo er weit über die Nordsee blicken konnte. Viele Namen standen auf dem Stein. Aber er kannte nur den Großvater, der vor einem Jahr dort begraben worden war. Er hatte einen Bauernhof und große Hände gehabt. Sie hatten immer nach Erde, Torf und Rauch gerochen. Wenn der Junge auf dem Kirchplatz die Augen an strengte, konnte er unten im Hafen auf dem blauen Boot seinen Vater mit einer Holzaale die Netze flicken sehen. Immer wieder überlegte der Junge, ob er Crofter wie sein Großvater oder Fischer wie sein Vater werden wollte. Aber dann hatte er beschlossen, Olarbeiter zu werden, so wie in dem Lied, das zu jener Zeit an der Küste gesungen wurde: »My grandfather was a plow man, my father a fisherman and I'm a oil-rig worker...« Er wollte auf diesen Inseln arbeiten, weil sie groß und rot waren und wie verzaubert, und auch, weil er dahin mit Hubschraubern fliegen würde, die aussahen wie große Libellen. Er fragte sich, ob zu diesen roten Inseln auch Feen kämen. Weit über die See, wußte er, lag die Insel Tir-nan-Og. Sie war so grün, wie man es noch nie gesehen hatte, 104
und hieß »die andere Welt«. Auf ihr herrschte die Feen königin Elfhame. Sie hatte ein schmales, blasses Ge sicht und rotgoldene Haare und konnte auf ihrer milchweißen Stute auch über die Wellen und durch die Luft reiten. Ihm fiel ein, daß sein Großvater jetzt auf dieser Insel sein mußte. Denn alle Menschen, die gestorben waren, lebten dort. Ganz sicher hatte die Feenkönigin ihn mit einem Silberzweig in der Hand zu seiner Wiedergeburt empfangen. Der Junge drehte sich oben am Steilufer des Lochs auf den Rücken und blinzelte in die Sonne. Er atmete einmal tief auf, und ihm fiel ein, daß er Hunger hatte. Seine Eltern hatten in der Nähe auf dem Gras das Tischtuch für ein Picknick ausgebreitet. Er sprang hoch und entdeckte eine Wolke dicht über der Heide, dann roch er Feuer, und dann sah er Flam men, ein ganzes loderndes Band. Es knisterte und zischte und raste auf ihn zu. Es kam daher, wo seine Eltern waren. Der Junge floh zur anderen Seite und stolperte über die schwarzen Köpfe der Brownies. Sie starrten ihn furchtbar an, was ihn noch mehr erschreckte. Er lief und lief und zuletzt wußte er nicht mehr, daß er lief. Seine Mutter erzählte später: »Als wir ihn endlich zwei Kilometer entfernt fanden, war er ohnmächtig und hatte eine leichte Rauchvergiftung. Wir sagten ihm nichts vom Heidebrand, auch später nie. Denn er rede te danach nur etwas von grausigen Brownies. Diesen Spökenkram hatte er von seinem Großvater.« In ihrem Mobilhome sagte Terrence' Frau später ei nem Journalisten, daß sie von ihm nie etwas über Feen oder gar Brownies gehört habe, auch nicht vom Heide brand. Sie war sehr verwundert. 105
Als der Verletzte vorübergeschleppt war, verharrte Terrence regungslos im Korridor. »Was jetzt?« fragte der Monkeyman Charlie unge duldig. Terrence antwortete nicht. Er schob den Talisman am Gelenk auf und ab.
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Seine Hände, auf die er so stolz war, hingen untätig und schlaff über den angezogenen Knien. Er dach te, wäre ich bloß zum Brückenbau gegangen, da wäre so etwas nicht passiert. Er schürzte immer wieder die trockenen Lippen und knispelte am Ende seines Kaiser barts. Manchmal hustete der Rigger Ronny Carmichel tief von unten wie die Kühe auf den Weiden von Ban nockburn, seinem Dorf. Das Keuchen und Würgen aus über hundert Kehlen in der düsteren Kantine - auch sein eigenes - ging ihm auf die Nerven. »Bist du noch da?« rief er, weil plötzlich neben ihm Stille eingetreten war, und griff rasch zur Seite. Seine Hände fühlten durch den Stoff eines Overalls ein mage res Bein. »Mann, keine Aufregung«, brummte der Kranführer Collin, »ich hab nur mal versucht, für einen Moment ruhiger zu atmen.« Er war Ronnys Pal, was auf der Ölinsel weitaus mehr bedeutete als ein Freund. Nur wenn Collin in der Kanzel über ihm den Kran steuerte, fühlte sich Ronny unter den schwebenden Trä gern und Maschinenteilen sicher. Immer spürte er von oben den spöttischen Blick sei nes Pal, der so völlig anders war als er selbst. Collin hatte eine zarte Statur. Die Adern und Sehnen seines Halses lagen wie entblößt, und seine Finger waren dün ne Stifte.
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Einmal rutschte Collin nach dem Verlassen des Hub schraubers auf dem regennassen Heli-Deck und kippte zur Kante. Ronnys Hände langten nach ihm. Fast wä ren beide zusammen fünfzehn Meter tief auf die Turbo lüfter gestürzt. Sie nahmen immer zusammen in der Kantine die Mahlzeiten ein, und nach der Schicht saßen sie zusam men im Kino oder Gemeinschaftsraum. Auf dem Festland trafen sie sich zweimal in der Wo che im Pub. Sie konnten sich stundenlang über Fußball unterhalten. Meist redete Ronny. Er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis entwickelt. Ronny kannte nicht nur sämtliche Namen der schotti schen Oberligaspieler und außerdem die der britischen Nationalspieler sowie die der Weltmeisterschaftsteil nehmer aus allen Ländern seit 1950. Er konnte zum Beispiel genau erläutern, warum der Celtics-Abwehr spieler Tommy Gemmel während der 68er Liga-Pokal runde bei einem Elfmeter in der 73. Minute den Ball doch nicht ins Netz kriegte. Collin bewunderte Ronnys Wissen und Kraft. Und Ronny schätzte Collins Zurückhaltung und trockene Ironie. Sie sprachen über ihre Frauen nur, wenn sie Ge burtstag hatten oder krank waren. Dann ließen sie den anderen Grüße ausrichten. Häufig jedoch saßen sie zu sammen und sagten nichts, wie jetzt in der Kantine. Eine Taschenlampe flammte auf. Ihr Lichtkegel gei sterte trübe durch die Schwaden. Ronny sah, daß Fäden im feinen Schleier des Rauchs schwebten. Die gebeugten, gebückten, liegenden und hockenden Gestalten dahinter bewegten sich nicht, bis auf eine, die mit ihrer Hand über den Kopf fuhr. 108
Der Schein tastete sich durch den ganzen Raum und wischte über die Rundung einer Tischplatte, auf der das Glas eines Salzstreuers aufblitzte. Beim Heli-Aus gang streifte er eine Gruppe, die dichtgedrängt und ge beugt immer noch stand. »Der Plattformmanager will als erster weg sein, wenn die Choppers kommen«, stellte Ronny mehr für sich fest. Collin schnaufte nur. Ein Hustenanfall schüttelte Ronny. Er sprang auf und suchte im Dunkel durch das Gewühl den Weg zur Kühlvitrine. Auf ihrem Rand lagen Servietten. Seine Finger sto cherten in der Truhe herum und glitten in eine Schale mit angetautem Eis. Er befeuchtete das Papier und hielt es vor den Mund. »Da, das ist besser zum Atmen«, sag te er und gab Collin eine. Der Qualm senkte sich dichter und tiefer auf sie. Irgendwann entglitten ihnen die Servietten, und sie legten sich mit dem Bauch nach unten und den Füßen zur Wand flach auf den Boden. Ihre Nasen drückten sie seitlich gegen das Linoleum, um die verrinnende Luft unter dem Rauch aufzusaugen. Sie hatten ihre Köpfe zueinandergewandt, ihre Kör per berührten sich. Sie lagen wie ein Paar auf einer Sommerwiese. Der eine konnte vom anderen nur knapp die Konturen erkennen. Flammen tasteten sich draußen lautlos an den Eisen wänden entlang. Manchmal sahen sie gelbrote Finger über die Scheiben streichen. Von tief unten hörten sie das spitze Aufplatzen kleinerer Explosionen. Die Hitze preßte das Wasser aus ihren Poren. Salzige Rinnsale liefen an Ronnys Nase entlang und zerflossen in seinem Bart. Verwundert stellte er fest, daß er die 109
Wärme von Collins Körper verspürte. Und dessen Ge hechel kühlte ihm wie eine Brise das Gesicht. Du mußt hier raus, sagte plötzlich in Ronny eine Stimme, die nicht wie seine eigene war. Er war so er staunt, daß er kurz den Kopf hochnahm. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er die Ereignisse in der Kanti ne als Schnappschüsse in sich gesammelt und daraus immer neue Bilder zusammengestellt hatte. Auf dem letzten sah er Collin und sich regungslos nebeneinan der liegen. Du mußt raus, hörte er wieder. Ihn beschlichen Zweifel. Vielleicht erwartete ihn un ten, wo er den Ausweg finden wollte, ein Flammen schlund. Wenn alle anderen hier in der Kantine blieben und auf Rettung warteten, konnte es nicht verkehrt sein. Ihr Verstand addiert sich. Alle zusammen müssen doch mehr wissen als ich, beruhigte er sich. Dann fiel ihm wiederum ein, daß jeder für sich allein dachte so wie er, und nur annahm, daß alle es für rich tiger hielten, in der Kantine auf Rettung zu harren, ob wohl sie vermutlich lieber einen Weg nach draußen ge sucht hätten. Es gab gar keine Addition und auch keine schweigende Übereinkunft. Wir sitzen alle einem Trug schluß auf, schrie es in ihm. Er wunderte sich, daß er so weitreichende Gedanken hatte wie nie zuvor in seinem Leben. Er war stolz auf sich und hätte gern in einem Spiegel gesehen, ob er sich äußerlich verändert habe. Er dachte, so etwas Ver rücktes. Am liebsten hätte Ronny seine Entdeckung herausge brüllt. Er konnte nicht. Alle Worte, alle Sätze waren verronnen. Er glaubte nicht, sie wieder zu finden. Noch weniger glaubte er, daß es ihm jemals gelänge, solche flüchtigen Gedanken auf die Zunge zu legen. 110
Er hatte auch Angst, über seine Entdeckung zu re den. Er stellte sich Collins Antwort vor: »Was redest du für ein Zeug, Ronny. Was ist los mit dir?« Ronny Carmichel fürchtete sich selbst davor, daß er wirr sein könnte. Er sagte: »Ich hau' ab, das bringt hier nichts.« »Ich bleibe«, antwortete Collin. »Es ist besser, zu verschwinden.« Ronnys Stimme war nervös und hoch. »Ich warte auf die Choppers.« »Durch den Heli-Ausgang kann man nicht. Wie sol len überhaupt Choppers landen?« Ronny zeigte aufge regt zur Tür. »Doch. Die holen uns raus.« Ronny konnte nicht flehen. Er fühlte sich ohnmäch tig. Warum hatte er das Flehen verlernt? Warum konn te er nicht so betteln und flennen wie Frauen? Warum fürchtete er sich jetzt vor Collins spöttischem Lachen? Warum war er nicht ein Kind? Ein bellender Hustenkrampf riß Ronny zur Seite. Er japste. Rotz lief ihm aus dem Mund. »Ich verpiß mich«, sagte er. Collin rührte sich nicht. Ronny wollte ihn schütteln, unterließ es aber. Wenn ich jetzt gehe, ist es für immer, dachte er. Sie würden sich nie wiederfinden in diesen vielen dunklen, verrauchten Etagen, Fluren, Kammern und Räumen und dem Durcheinander von Leibern. Er wünschte sich, daß beschwörende Worte aus ihm sprudelten, wie in Filmen. Sein Mund blieb verschlossen. Schließlich wollte er sich von der Last der Zuneigung und selbst auferlegten Verpflichtung befreien. Seine Ge danken flatterten umher. Er wollte ihn beschimpfen. 111
Er sagte sich, wenn ich den Ausgang gefunden habe, komme ich zurück und hole ihn. Bei seiner Suche sah er sich jedoch umkommen und Collin gerettet in der Kantine. Collin lebte - weil er starb. Einen Moment schwelgte er in einem heroischen Gefühl und kostete zugleich den Geschmack von Rache. Er kam sich al bern vor. Es gibt keinen Ausweg, dachte er und verfluchte sich, weil er nicht beim Brückenbau war. Auf die Ellbogen gestützt, lauerte Ronny. Er sah ei nen Schatten von der Tür hereinwanken - wie in Zeit lupe. Ronny registrierte jede Bewegung. Der Mann sackte vor seinen Füßen zusammen. Entsetzt zog Ronny die Beine an. Er sprang hoch. »Ich gehe«, rief er und wartete nicht auf eine Antwort von Collin. Aus dem Augenwinkel sah er noch: Jemand kroch auf seinen Platz.
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Ihm war längst klar, daß er auf verlorenem Posten stand. Doch den frischgebackenen Superintendent Alex Shinwell hielt das Ehrgefühl in der Rezeption. Seine Haare lagen angeklatscht auf dem runden Schä del. Schweiß lief an seinem Hals entlang in den Kragen des Polohemds. Er drehte ein paarmal den Kopf wegen des unangenehmen Gefühls. Alex dachte, hätte ich bloß den Overall an. Er lehnte mit dem Rücken am Rezeptionstresen. Die linke Hand war gegen die glatte Fläche gepreßt und suchte Halt, wo es keinen gab. Sein rechter Fuß berühr te den vom Conti-Superintendent Stan Owen. Alex wäre noch mehr auf Tuchfühlung gegangen. Stans Breitbeinigkeit hinderte ihn daran. Sie waren die einzigen in der Rezeption, die noch standen, was besondere Willenskraft erforderte. Denn nach oben hin wurden die Schwaden immer dichter. Stan Owen überragte Alex um mehr als eine Hand spanne, doch er atmete gleichmäßig und leise. Um nicht nachzustehen, zwang sich Alex zu flachen Zügen. Dann ergab er sich jedoch dem Kratzen in sei ner Kehle. Er sah nichts, hörte nur: gedämpftes Gemur mel, Husten und Räuspern und manchmal von jeman dem, der den Weg zum Treppenhaus suchte - Schritte, dann das Rascheln des Ficus Benjamini und wieder die Schritte. Mit vorgestrecktem Kopf horchte er ihnen nach. Ein Mann öffnete den Heli-Ausgang zur Rezeption.
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Im dunstigen Gegenlicht vom Flammenschein sah Alex ihn rauskrabbeln und im nächsten Moment wie der rückwärts huschen. Die Tür knallte zu. »Entscheidet endlich«, rief eine Stimme aus dem Dunkel, »ihr Waschlappen!« »Idiot«, brummte Stan Owen, »bleib' ruhig.« Alex glaubte betroffen, der Waschlappen sei auf ihn gemünzt. Er horchte auf das Walkie-talkie von Stan Owen. Manchmal knackte es, leise. Doch keine erlösende Durchsage kam. Nur das Rauschen setzte sich fort. »Willst du nicht mal nachfragen, Stan?« fragte Alex, mit dem Gefühl, die Antwort schon zu kennen. »Sie melden sich von selbst, wenn es Neues gibt«, hörte er Stans abweisende Stimme. »Und, was denkst du über die Situation?« forschte Alex zaghaft. »Schlecht.« »Und... ?« Alex reckte den Hals. Ihm war ungemüt lich. »Nichts und!« »Denkst du, daß die 'Danaos' kommt?« »Weiß nicht.« Stan Owens Worte hatten einen gereiz ten Unterton. »Und die Choppers... ? »Die sollen kommen. Ich weiß nicht mehr als du.« »Aber wie sollen sie hier landen?« Alex' Stimme zit terte leicht. »Irgendwie wird's schon gehen.« Weiter zu fragen traute sich Alex nicht. Er wollte keine Schwäche zeigen. Er erwartete, daß Stan Owen ihm ab fällig hinwerfen würde: »Du kannst dich ja verpissen.« Alex hatte sich seine Mission anders vorgestellt. Jetzt hoffte er auf Befehle, die aber nicht kamen, und fühlte 114
sich zu Untätigkeit verdammt. Wenn er daran dachte, auf eigene Faust zu handeln, zerrte er sich selbst vor ein imaginäres Tribunal aus dem Plattformmanager und den Frauen der Arbeiter. Sie blickten ihn böse an. Der eine warf ihm vor, nicht die Order abgewartet zu ha ben, die zwar sehr spät, aber immerhin kam. Und die anderen beschuldigten ihn, daß er ihre Männer sinnlos in den Tod geführt habe. Die Bilder und Worte des Tribunals waren so stark, daß er den Kopf senkte. Alex wollte seine Ehre wahren und aushaken. Von seinem Vater hatte er zwar die Gabe der Anpas sung, wenngleich nicht dessen lichten Geist erhalten. Peter Shinwell war Maurer, Straßenbahnchauffeur, Schafscherer, Bergarbeiter, Gemüsehändler, Versiche rungsagent und Museumsführer gewesen. Er kellnerte in Pubs, spielte die Fiedel und schwirrte flötend durchs Haus, bis er eines Tages verschwand. Zuvor brachte er seinem jüngsten Sohn Alex bei, die Dinge praktisch zu nehmen, und zeigte ihm, wie man einen gebrochenen Hammerstiel mit einer Schnur schienen kann oder den Schwimmer des Toilettenka stens mit einem Stein beschwert, damit er zu tropfen aufhört. Später erinnerte sich Alex meist nur an seine völlig zerkaute Zigarre. Von seiner Mutter, der er sehr verbunden war, hatte er den Stolz. Während er auf dem mit Margeriten und Klatschmohn bemalten Kindertopf saß, lernte er von ihr, seine maisfarbenen Exkremente als die ersten von ihm geschaffenen Produkte zu bewundern. Später er zählte sie ihm: »Wir sind stolz darauf, Arbeiter zu sein. Wir schaffen alles. Die anderen rekeln sich in den Stüh len und zählen nur Geld.« Ihr Großvater hatte die er sten Eisenbahnen mitgebaut. 115
Als Alex dann bei Rolls Royce eine Lehre als Mecha niker machte, glaubte er, auf dem Gipfel der Glückse ligkeit zu sein. Er wußte den Steigungswinkel von Ge winden zu berechnen, konnte Silverlot ohne Flußmit tel zu einer glatten Naht zertreiben und kannte im übrigen 832 verschiedene Teile eines Flugzeugmotors. Er freute sich königlich darüber, wenn er einen Bolzen auf der Schraubenzieherspitze in eine schier unerreich bare Verbindung balancierte. Da wurde ihm klar, was seine Mutter immer meinte. Von ihr hatte er auch die Idee, heldisch zu sein. Als er noch in der Lehre war, gab sie ihm »Lord Jim« von Joseph Conrad mit der Bemerkung: »Das ist kein Eng länder, sondern ein Pole.« Durch die ersten sechzig Seiten quälte er sich. Dann aber bangte er um diesen Steuermann, der in das Ret tungsboot sprang und die Passagiere auf dem sinkenden Schiff zurückließ. Und der auch sonst immer wieder versagte - trotz seiner hohen moralischen Ansprüche an sich, dachte damals der jugendliche Alex. Doch jetzt glaubte er, daß Lord Jim gerade deswegen gescheitert war. Alex fiel plötzlich ein, daß er eigentlich nur zufällig zum Superintendent ernannt worden war und über haupt kein Bestätigungsschreiben erhalten hatte. Er fühlte sich einen Moment lang erlöst. Dann dachte er, du Schwein. Von tief unten hörte er ständig kleinere Explosionen und rätselte, ob seit dem ersten großen Knall zehn Mi nuten oder eine halbe Stunde vergangen seien. Auf sei ner Armbanduhr konnte er nichts erkennen und fragte deshalb Stan Owen. »Über eine Stunde«, sagte er. Fassungslos murmelte Alex: »So lange warten wir schon...« 116
Vor seinen Füßen raschelte es. Eine Taschenlampe leuchtete in sein Gesicht. Alex versuchte stillzuhalten, aber seine Augen zuckten. »Ich will euch noch mal genau ansehen. Damit ich weiß, wer Schuld hat, wenn wir alle krepieren«, sagte der Mann mit der Lampe. »Laß' den Unsinn«, herrschte Alex ihn an. Seine Stimme klang unsicher. Als gläubiger Katholik hatte er Angst vor himmli scher Rache. Er fürchtete sich auch vor Unkenrufen und bösen Prophezeiungen. Und stets begrüßte er den neuen Mond, indem er dreimal den Kopf verneigte. Als ihn sein Enkelkind einmal verwundert dabei beobach tet hatte, erklärte Alex ihm umständlich: »Man muß dem Mond dankbar sein, weil er uns Menschen durchs Dunkel führt.« Der Mond hing speckig über der glatten See und der brennenden Kilt Delta. Alex sah ihn nicht. »Ihr könnt hier schmoren, ich hau ab«, rief jemand laut aus der linken Ecke. Dann hörte Alex trampelnde Schritte. Seine Füße wollten hinterher. Er hielt sie mit Gewalt auf ihrem Platz. Alex wußte zwar nicht, wohin er laufen wollte, aber mit der Logik des Technikers sag te er sich: Rauch steigt nach oben, also kann man viel leicht im untersten Stock des Wohntrakts oder noch weiter unten in der Plattform das Feuer umgehen. Von seinen vagen Ideen erzählte er Stan Owen nichts. Hin und wieder überkam Alex ein euphorisches Ge fühl, und ihm war es fast egal, ob Hubschrauber kämen oder nicht. Er war sicher, es lag an der Rauchinhala tion, und er preßte sein Taschentuch noch fester vor den Mund. Aber er dachte: Auf keinen Fall hinlegen, sonst komme ich nicht wieder hoch. Er wollte aushalten. Jedenfalls so lange wie Stan 117
Owen. Doch der rührte sich nicht. Dann lauerte Alex darauf, daß Stan Owen in sich zusammenstürzen wür de wie eine von Wind und Regen zerfressene Säule. Alex stieß ihn einmal wie zufällig an. Stan Owen kipp te nicht. Ich fang' an zu spinnen, sagte sich Alex und schob das auch der Rauchinhalation zu. Er vertiefte sich in das Rauschen vom Walkie-talkie. Er wurde schläfrig. Plötzlich bewegten sich Alex' Füße, und sein Körper folgte ihnen. Jedermann für sich selbst, dachte er und stahl sich durch seine liegenden Untergebenen fort. Um einen Rest von Selbstachtung zu wahren, erzählte er später ei nem Kollegen: »Die Entscheidung war für mich ge macht.« Doch er meldete sich bei Stan Owen vorschriftsge mäß ab, so als müsse er kurz austreten. Schon im Ge hen murmelte er: »Stan, ich verschwinde.« »In Ordnung«, antwortete der wie selbstverständlich.
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Die Taschenlampe lag eingeklemmt zwischen An tiapartheits-Broschüren und Hustler-Magazinen und schien milchig in die Kammer B 15. Der Elektri ker Hugh McLean saß auf seiner Koje und würgte die Beine in den Überlebens-Anzug. Ihm gegenüber tat sein Kabinengenosse Ken das gleiche. Hugh knabberte immer noch daran, daß seine Aus einandersetzung mit dem Plattformmanager im Sande verlaufen war. »Dieser Kleinbürger...«, setzte er an, verschloß dann aber den Mund. Er kreidete sich selbst die Niederlage an. Er sprang hoch und riß das Oberteil des Anzugs über seine Schultern. Unentschlossen stöberte Hugh auf dem Schreibtisch zwischen Papieren und Kens zusammengefalteten Hemden herum. Er zog eine Paperback-Ausgabe von Candide hervor. »Reiselektüre«, sagte er, zwinkerte mit den Augen und steckte das Buch sowie eine Lesebrille in die Tasche des Überlebensanzugs. Seine unvollende te Examensarbeit über Così fan tutte ließ er auf dem Tisch liegen. Hugh war sicher, daß sie in ein, zwei Tagen auf die Kilt Delta zurückkehren würden. Trotz der nichtssagenden Auskünfte in der Kantine erwartete er, jeden Moment das Klappern der großen Sea-King-Helikopter zu hören. Die Crew war auf die Luftevakuierung gedrillt. Und bei noch jedem Ölinsel-Unglück, an das Hugh sich erinner te, waren die Arbeiter mit Hubschraubern gerettet wor den - selbst in schwersten Stürmen.
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»Wir brauchen unsere Pässe«, sagte Hugh. Die Kilt Delta lag in der Nordsee auf halbem Wege zwischen Norwegen und Schottland. Die Vorstellung, womög lich nach Stavanger auszufliegen, rief in ihm den Kitzel eines Ausflugs hervor. »Hast du Geld?« fragte Ken. Hugh wühlte in seinen Taschen. »Etwas über zwei Pfund.« »Das ist nichts für Norwegen.« Ken wand seinen dür ren langen Körper. »Immerhin zwei Biere für dich«, sagte Hugh, der selbst keinen Tropfen Alkohol mehr anrührte. »Nicht ausreichend als Schlaftrunk«, bemerkte Ken. Er rechnete aus, daß sie noch vor Mitternacht die Küste erreichen würden. Wieder griff Hugh in den Spind. Ein Scheckbuch flatterte vor Kens Nase. Sie befeuchteten Handtücher in der Dusche und wickelten sie wie die Tuareg um den Kopf. Nur ein schmaler Sehschlitz blieb unbedeckt. Zuletzt stülpten sie sich Schwimmwesten auf die Schultern. Auf dem Betriebsgang trafen sie den Toolpusher Ter rence Ogilvie, der ihnen im Vorbeilaufen zurief: »Man kann durch den Rauch über das Rohrdeck den Bohr turm erreichen und dann runter in die See klettern.« Hugh schüttelte den Kopf: »Absoluter Wahnsinn!« Für ihn war es Selbstmord, sich ausgerechnet jetzt in den verletzbarsten Bereich der Kilt Delta zu wagen. Ken blieb stehen. Er redete selten, aber dachte viel. »Mann, ich weiß. Terrence ist da zu Haus. Aber des halb sieht er die Gefahr wohl gar nicht mehr«, sagte Hugh ungeduldig, »ich geh' zum Heli-Deck.« Ken erzählte, daß die Bohrcrew Terrence Ogilvie Mr. Cautious nannte. 120
Widerstrebend ging Hugh mit ihm zum Hinteraus gang, der zum Rohrdeck führte. Hitzewellen schlugen ihnen entgegen, und von unten hörten sie lautes Fauchen und Knistern. Der dichte Qualm schien Hugh nicht nur von den Seiten der Plattform, sondern auch am Bohrturm hochzuwir beln. »Wahnsinn«, sagte er wieder, »da kriegen mich keine zehn Pferde hin.« Ken wies mit einer kurzen Kopfbewegung nach oben: Der Rauch quoll auch über das Heli-Deck. »Das sieht von hier unten sicher schlimmer aus, als es ist«, wehrte Hugh ab. Ken sah ihn abwartend an. »Was für ein Unsinn, sich jetzt mit Angst-Einflüste rungen zu verzetteln. Wenn man eins und eins zusam menzählt, spricht alles für das Heli-Deck«, sagte Hugh mehr zu sich selbst. Aus wissenschaftlichem Prinzip setzte er stets die Vernunft vor das Gefühl. Zögernd folgte Ken ihm in den Wohntrakt. Als Hugh im Treppenhaus sich an der Menge von sitzenden Arbeitern vorbeizwängte, begann seine Kehle zu brennen. Er stockte ein paar Male, tastete sich dann aber immer weiter und preßte mit der Lin ken ein Tuch vors Gesicht. Schließlich ließ er in der Rezeption beklommen den Strahl seiner Taschen lampe über die hockenden und liegenden Körper strei fen. »Kann man hier nicht rauskommen?« fragte Hugh ei nen Mann. »Wenn man die Tür öffnet, ist da nur Rauch«, ant wortete der. Auf dem Absatz kehrt, dachte Hugh kurz. Aber er blieb bei seinem alten Entschluß. »Prüf du die Tür der Kantine und ich die im Schal 121
terraum«, sagte Hugh zu Ken, »wir treffen uns hier gleich wieder.« Denn Hugh kannte als Elektriker noch einen dritten Ausgang, der von einer An begehbarem Armaturen schrank nach draußen führte. Er lag auf derselben Eta ge in einem doppelten Knick der Außenwand und war deshalb geschützter. Ken machte eine hilflose Geste, ging dann aber. Im Schalterraum brach Hugh in Schweißströme aus. Ein Luftstau, beruhigte er sich und öffnete die Außen tür. Der hereinströmende Rauch füllte sofort die Kam mer. Erschreckt wich Hugh zurück. Für einen kurzen Moment riß der Wind jedoch die Schwaden auf. Schräg unter ihm beim Bohrturm waren weder Qualm noch Feuer. Erschüttert über seinen Fehler sperrte Hugh zu und drehte sich hastig um. Doch die Innentür öffnete sich nicht. Wärmever spannungen, dachte Hugh. Mit Erklärungen hatte er sich schon immer Mut gemacht. Er stemmte das eine Bein gegen die Wand und zog am Griff. Sie rührte sich nicht. Er rüttelte, er trommelte dagegen, bis seine Fäu ste anschwollen. Niemand hörte ihn. Er griff zum Tele fon. Die Leitung war tot. Er brüllte, bis er heiser war, und trampelte gegen die Wände. Zuletzt sank er er schöpft auf den Boden und schnappte nach Luft. Ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken, daß Ken niemals den Schalterraum finden könnte. Hugh sah sich als einzigen auf der brennenden Ölinsel zurück bleiben. Alles zu Ende, dachte er und ergab sich über stürzenden Visionen. In das Wirrwarr der Vorstellungen drängten sich die vielen kleinen und auch sehr weitreichenden Pläne: der immer wieder verschobene Besuch seiner Eltern, seine Professur, die Revolution. Schließlich aber verharrte er 122
bei einem Bild - dem einer Frau. Ein unvollendeter Brief an sie steckte zwischen den Seiten von Candide in seiner Tasche. Schwarze Wellen flössen auf ihre Schultern herab, das Gesicht war durchscheinend, und die Augen hatten das Blau von Hyazinthen. Sie stand hinter dem Fenster ei ner Tankstelle und winkte ihm wie selbstvergessen mit erhobener Hand aber kaum wahrnehmbarer Bewegung zu. Die Tankstelle war die einzige Erhebung zwischen den flachen, nur mit Gras und Moos bewachsenen Hü geln der Insel. Ein derartiges Grün hatte Hugh niemals zuvor gesehen. Er war damals vor zehn Jahren zum er sten Mal und auch nur für einen halben Tag auf Shet land, um sich bei einem Ölterminal zu bewerben. Er löste die Bremse und fuhr mit dem Bild davon. In der Zeit danach rief er es immer wieder in sein Ge dächtnis zurück, erkannte immer neue Einzelheiten, aber fügte auch weitere hinzu, so daß er am Ende nicht mehr wußte, was davon erfunden und was Wirklich keit war. Obwohl sie nur den Tankbetrag genannt hatte, klang ihre Stimme immer wieder in seinen Ohren nach. Er fragte sich, warum sie ihm zugewinkt hatte, so als hät ten sie sich schon Ewigkeiten gekannt. Ihm erschien das Ereignis mystisch. Sie winkte ihm zu, und ihr linker Arm hing her unter. Schließlich begann er, ihr Briefe zu schreiben, die er allerdings niemals absandte, sondern in seiner Kommo de unter Hemden und Socken lagerte. Er nahm an, daß seine Frau nichts ahnte. Natürlich fand sie die Briefe. Doch sie hatte ein sehr praktisches Gemüt und verlor niemals ein Wort darüber, weil sie alles für ein Hirnge 123
spinst hielt. Ihr sei es lieber gewesen, daß er einer Idee nachjagte als einer Frau mit greifbaren Brüsten, erzählte sie einer Freundin. Wohin hätte er die Briefe auch senden sollen? Er er innerte sich nicht einmal genau, bei welchem Dorf die Tankstelle lag. Und selbst wenn er es gewußt hätte, an wen sollte er ihn richten? An die schwarzhaarige Frau an der Kasse? Sie winkte ihm zu, und die Auslage hinderte sie, di rekt an die Scheibe zu treten. Anfangs verfaßte Hugh die Briefe in der ungelenken aber ungekünstelten Weise des nicht geübten Schrei bers. Er benutzte rauhe und einfache Wendungen. Die Sätze waren wie Gekröse. Mit der Zeit, als er schon Fernstudent war, verwendete er gedrechselte Begriffe, Ausschnitte des Gelesenen, so daß daraus ein seltsames Konglomerat von altertümlichen Wendungen und der Straßensprache entstand. Doch er hielt Distanz. Er berichtete meist über sich. Nur manchmal wagte er, etwas über ihre abgründig blauen Augen oder die Wogen ihrer Haare oder die Transparenz ihrer Haut zu schreiben. Aber da hatte er schon das Gefühl, zu weit gegangen zu sein. Sie winkte ihm zu und trug einen indigofarbenen Kittel mit weißem Blütenmuster. In seinem Hinterkopf spukte von Anfang an herum, daß sie verheiratet sei. Dafür gab es jedoch nur ein sehr zweifelhaftes Indiz: In der Werkstatt der Tankstelle hat te er einen älteren, untersetzten Mann im Overall gese hen, der über einen kleinen Morris gebeugt war. Manchmal wurde in seiner Vorstellung daraus eine unglückliche Ehe. Oder er argwöhnte, daß sie in einer dubiosen Bindung gefangen sein müsse. Mit der Zeit bekam der Mann gnomhafte Züge, und sie wurde ein 124
Dornröschen von der Tankstelle, das erlöst werden wollte. Anders konnte sich Hugh das seltsame Winken und ihren Blick nicht erklären. Immer wieder nahm er sich vor, zur grünen Insel zu rückzufahren und nach ihr zu suchen. Nicht seine Ehe, die kinderlos war und die behäbige Gemütlichkeit ei nes Wohnzimmers hatte, hinderte ihn, sondern der Ge danke, daß sie vielleicht immer so am Fenster stehe und nicht eigentlich ihn gemeint habe. Sie winkte ihm zu, und ihr Blick hatte etwas Abwar tendes. Hugh starrte in das Gesicht seiner Vorstellung. Auf seinen trocknen Lippen klebte das böse Wort Versäum nis. Er sprang hoch, trommelte irre gegen die Tür, riß sich das Tuch vom Mund und brüllte, daß er den Schmerz bis in die Lungen fühlte: »Ich muß hier raus. Raus, raus... « Etwas krachte von draußen gegen die Tür. Sie flog auf. Ken stürzte hinterher und rief: »Ich bin schon da.«
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Drei
Ach, sind wir nur Erdengewürm! Unbekannt
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1
Er hing zwischen der brennenden Plattform und der See und hatte den Blick auf die Leine vor sich geheftet. Sie war aus schwarzem Propylen, und einge rissene Garne krümmten sich zu kleinen Dornen her aus. Sie war fast zwei Zoll stark, aber dem Kontroll raum-Operator Gilbert Dobbs erschien sie wie ein Fa den. Über und unter ihm hingen noch fünf weitere Männer daran. Manchmal drängte sich zwischen Gilbert und das Stück Leine das Bild des Shut-down-Button, den er nicht gedrückt hatte. In seiner Vorstellung wirkte der Knopf wie das Rad eines Spielzeugautos. Gilbert wollte nicht glauben, daß wegen eines solchen Schalters die Welt aus den Fugen geraten war. Aber er wußte jetzt, was passiert, wenn die Küchentür seiner Kindheit sich nicht mit dem ersten Sechsuhrschlag öffnet. Funkenschauer prasselten auf ihn herab. Manchmal sausten weißglühende Metallteile wie Sternschnuppen an ihm vorbei. Gilbert pendelte zwanzig Meter über dem Wasser und klammerte sich mit nur einer Hand an der Leine fest. Die verletzte Rechte, mit der er nach dem Sturz im Kontrollraum noch das abgerissene Mi krofon gehalten hatte, konnte Gilbert nicht mehr be wegen. Er hatte den Arm um das Tau gelegt und preßte es gegen das Brustteil seiner Schwimmweste. Er ließ sich ein Stück rutschen, und seine Füße fan den Halt auf einem der Knoten, die alle paar Meter in die Leine eingeschlagen waren. Gilbert ertappte sich
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beim Wimmern. Als er zum Abstieg über die Reling der Plattform gestiegen war, hatte er auf dem Wasser ei nen Rettungsring gesehen. Die Strömung trieb ihn un ter das Stahlfundament der Kilt Delta, wo das Wasser rot vom Feuer leuchtete. Er rutschte wieder ein Stück, und das Bändsei, das seine Schwimmweste zusammenschnürte, verfing sich im Knoten der Leine. Das sperrige Polster rutschte un ter seine Achseln. Hilflos pendelte Gilbert hin und her und hielt sich nur mit der einen Hand. Er dachte, wie absurd, wenn ich jetzt wegen der Schwimmweste ab stürze und umkomme. In Sicherheitskursen hatte er gelernt, daß ein Fall aus dieser Höhe mit schweren Knochenbrüchen oder gar tödlich ausgehe. Mit den Füßen versuchte er, sich an der Leine hoch zuschieben. Sie glitten immer wieder ab. Die Schwimm weste drückte sein Kinn nach oben. Er konnte nicht schreien. Ein glühendes Metallstück schoß auf ihn zu. Gilbert strampelte, wollte den Kopf einziehen. Plötz lich glitt die Leine durch seine Hand, und er verlor fast den Halt. Das Bändsei war über den Knoten gerutscht, aber der nächste hielt seine Füße auf. »Gott sei Dank«, flüsterte er und meinte es auch so. Dann flog völlig lautlos ein Körper an ihm vorbei. Erschaudernd sah Gilbert ihn aufs Wasser schlagen. Die Oberfläche schloß sich. Und die See schien wieder spiegelglatt. Gilbert quiekte kurz und gurgelnd. Der Mann tauchte wieder auf und begann, mit kurzen Armschlägen zu paddeln, um nicht zwischen das Fun dament zu treiben. Zentimeter um Zentimeter trotzte er der Strömung ab. Zwei Hände packten Gilbert und halfen ihm über die Reling der Laufbrücke, die sich zwei Meter über dem Wasser zwischen den Pfeilern spannte. Er blickte 128
das erste Mal nach oben und drehte erschreckt den Kopf weg. Die Unterseite der Plattform stand in Flammen, als würde der Himmel lichterloh brennen. Gilbert konnte nicht glauben, daß er eben noch die Männer dazu brin gen wollte, dort zu warten. Und er war überzeugt, daß der Wohntrakt jetzt ein riesiger Scheiterhaufen sei. Das Eisen knisterte wie Zunder. Er wischte das sich aufdrängende Bild des Shut down-Button mit einer schüttelnden Kopfbewegung fort. Gilbert war dem Mechaniker und Ex-Fischer Brian Munro dankbar, daß er das Kommando über nommen hatte. Im stillen rechtfertigte sich Gilbert, daß ihn seine Verletzung von allen Pflichten entbinde. Ein dicker Ölstrahl von oben schoß zehn Meter ne ben den Männern ins Wasser. Es ging sofort in Flam men auf, die an der flüssigen Säule hochzischten. Doch die Strömung verhinderte, daß die brennende Fläche sie erreichte. Glühende und rauchende Eisenstücke sau sten wie Flakgeschosse kreuz und quer an ihnen vor bei. Krachend öffneten sich schräg über ihnen die Stahlplatten zu einem torgroßen Loch, und ein Kessel stürzte in die See. Für Momente wallte eine Dampfwol ke über dem Wasser auf. Die Plattform quietschte und knackte. Doch das schlimmste war das markerschüt ternde Röhren des Feuers. Es ging über Gilberts Vorstellungskraft, es mitverur sacht zu haben. »Wie konnte so etwas passieren?« rief er einem Maler zu, der es später zu Protokoll gab. Eines der kleinen Motorboote vom Rettungskutter »Golden Hope« rauschte unter die Laufbrücke. Die Männer sprangen ins Wasser und wurden von der Crew an Bord gezogen. »Schluß«, rief der Matrose am Ruder, als Gilbert sich gerade fallen lassen wollte. 129
Gilbert tigerte auf der Laufbrücke hin und her. Er dachte, daß die Plattform jeden Moment über seinem Kopf zusammenkrachen und ihn mit enormem Aufzi schen in die Tiefe reißen müsse. Einmal rempelte er ei nen Arbeiter an, der fast ins Wasser gestürzt wäre. »Ich bitte um Entschuldigung«, rief Gilbert, was dem Mann in dieser Situation so sonderbar vorkam, daß er es spä ter zu Protokoll gab. Ein zweites Motorboot tanzte auf die Männer zu. Es ist aus Gummi, stellte Gilben fest und überlegte einen kurzen Moment, ob er überhaupt einsteigen solle. Dann sprang er aber doch und kauerte sich als letzter seiner Gruppe neben den luftgefüllten Wülsten nieder. Durch die Fahrt flatterte der Gummiboden gegen sei ne Waden. Gilbert schielte über die Seite und hoffte, daß ihn seine Phantasie getrogen hatte. Doch die Flam men schlugen wirklich am Wohntrakt hoch. Er wollte sich hinter dem Wulst verkriechen, als schräg über ih ren Köpfen, dort, wo sie noch vor ein paar Minuten ge wartet hatten, ein Feuerball aufplatzte. Der Schein überstrahlte die ganze Kilt Delta. Eine Flammenwalze raste auf das Gummiboot zu. Gilbert sackte hinter den Wulst und schloß die Augen.
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An der Schwelle zum Treppenhaus nahm er sich die Sicht. Er wollte seine Hände frei haben, auf die er so vertraute. Der Rigger Ronny Carmichel strich kurz den Kaiserbart glatt, zerrte unter dem Overall das Vorderteil seines Unterhemds hervor und stülpte es über den Kopf. So wollte er im verrauchten Wohntrakt den Ausgang zum Leben finden. In dem Moment zitterte der Boden unter seinen Fü ßen. Die Männer in der Rezeption riefen durcheinan der. Ronny überlegte, noch einmal in der Kantine ne benan seinen Pal Collin zu beknien. Dann verklangen die Schreie. Doch nicht so schlimm, dachte Ronny und wollte nur noch raus. »Verhängnis Nummer vier« bezeichnete später der untersuchende Richter diese neuerliche große Ex plosion, die von einer aufplatzenden Pipeline ausge löst wurde. Sie führte fünfhunderttausend Kubikmeter Erdgas von der Grant-Ölinsel über dreißig Kilometer weit zur Kilt Delta, von wo es weiter zur Küste ge pumpt werden sollte. Jetzt aber ragte das abgerissene Rohr wie ein riesiger Bunsenbrenner unter die Platt form. Durch den zwei Meter dicken Flammenstrahl schmolzen Träger und Unterdecks langsam weg. Die Männer im Wohntrakt hatten nicht die leiseste Ah nung davon. Ronny stieg mal in der Hocke und mal auf allen vie ren das enge Treppenhaus hinunter und kroch über die Leiber von Männern, die auf den Stufen verteilt saßen
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oder lagen. Er tastete sich über sie hinweg und zog dann die Beine nach. Einmal fuhr er mit der Hand durch die Haare. Der Mann wendete müde den Kopf. Ein anderes Mal drückte Ronny auf einen Bauch, der immer weiter nachgab. Er hörte, wie der Atem pfeifend entwich. Dann streifte er einen feuchten, säbrigen Mund, und der sagte: »Huch!« Schweißtropfen liefen in Ronnys Augen. Die Treppe nahm kein Ende. Plötzlich packte eine Hand seine Fessel und hielt Ronny fest. Erschreckt hörte er auf zu atmen. Er be wegte das Bein langsam vor und zurück, um sich zu entwinden. Die Hand schloß sich fester. »Nimm mich mit«, krächzte eine Stimme. Ronny stieß mit aller Wucht nach hinten aus und entriß sich den Klauen. »Jedermann für sich selbst«, flüsterte er mehr sich zu und krabbelte vorsichtig über den nächsten. »Ist hier jemand von Scott Drilling?« hörte Ronny von rechts hinter sich. »Warum willst du das wissen?« fragte jemand zurück. »Weil ich auch von Scott bin. Und wenn ich sterben muß, dann nicht allein.« Die Stimme klang sehr jung. Ronny sprang über die Treppen. Endlich berührte seine Hand die Schwelle. Er bog nach links zur Seitentür ein, durch die er nach der er sten Explosion in den Wohntrakt gelangt war. Seine Knie schurrten über das Linoleum des Korridors. Am Ende des Gangs schlug ihm Hitze entgegen. Er wand sich an den Seiten hin und her und duckte sich noch tiefer. Ronny erreichte nicht die Tür. Er machte kehrt, um es beim Hinterausgang zum Rohrdeck zu versuchen, der im selben Stock wie die Seitentür lag, durch die er hineingekommen war. In der 132
Mitte des Korridors, das wußte er genau, mußte er nach links in einen Nebengang biegen. Ronny drückte einen Griff - und tastete sich an einer Koje entlang. Mit herunterhängendem Kopf verharrte er. Sein Atem pfiff durch das Hemd vorm Gesicht. Er dachte, du bist etwas zu weit gelaufen, und öffnete die Tür da neben - wieder glitten seine Hände über eine Koje. Er rutschte im Korridor auf und ab, öffnete jede Tür. Dann glaubte er, beim Treppenhaus falsch eingebo gen zu sein. Er klapperte die Gegenseite des Gangs ab und betastete die Griffe, befühlte die Form der Schwel len und fingerte an den Wänden entlang. Er wendete vor und zurück und stieß kleine Schreie aus. Ronny Carmichel kauerte sich hin. Er prustete flach und kurz durch den Stoff vorm Mund. In seinem ver hüllten Kopf war nur ein Rauschen. Monate später lag er auf dem Teppich seiner Stube neben dem Kamin mit Kohleimitation. Er beugte sich über den Plan des Wohntrakts, fuhr wieder und wieder mit dem Finger die Korridore entlang und versuchte herauszufinden, wo er umhergeirrt war. Seine Frau bemerkte, daß er plötzlich keuchte und hustete. Als sie ihn darauf ansprach, wußte er nicht davon. Ronny wollte das Rätsel des Überlebens entschlüs seln. Um immer neue Fluchtwege auszuknobeln, besorgte er sich weitere Zeichnungen und fertigte schließlich selbst welche an. Die fliegenden Blätter verdeckten die Rosenmotive des Teppichbodens. Seine Frau glaubte, daß er eine Zeitlang seine Erleb nisse verarbeiten müsse, schließlich aber alle Blätter in den Mülleimer werfen und fast wieder der alte sein würde. 133
Doch dann stellte er eine ausgediente Rechenmaschi ne auf den Nußbaum-Rauchtisch. Ein Nachbar und Hausmakler hatte sie ihm überlassen. Sie spuckte end lose Tabellenstreifen aus. Er setzte die Ausbreitung des Feuers in Relation zu den Fluchtmöglichkeiten. Nach seinen Berechnungen waren bis zur elften Minute nach dem ersten Knall noch neun Ausgänge des Wohntrakts passierbar, bis zur zwanzigsten Minute noch sechs und bis zur sechsund zwanzigsten Minute noch drei. Dann, nach der zweiten großen Explosion, nur zwei. Mindestens zwei Ret tungsboote hätten bis zur vierzehnten Minute erreicht werden können, eines sogar bis zur zweiundfünfzigsten Minute. »Ich werd' verrückt«, rief er immer wieder. Während der Untersuchung hörte er die Aussage des Kapitäns der »Danaos«: »Ich hatte zu keinem Zeit punkt vor, an der Kilt Delta zu landen.« Mehrere Män ner der Besatzung bestätigten: Aus Angst um seine na gelneue Feuerwehrplattform warf er nicht die Maschi ne an, sondern hievte die Hilfsinsel an den Ankerket ten langsam näher zur brennenden Ölinsel - um sie einzig mit Wasser zu besprühen. Ronny baute auf dem Rauchtisch einen Computer auf. Durch das Wohnzimmer zogen sich jetzt Kabel. Und in der Mitte stand ein Drucker auf dem Küchen hocker. Ein Lokalreporter schoß Fotos, als Ronny mit seinen groben Fingern die Tastatur bearbeitete. Auf dem Tisch lagen Strömungskarten und Fachbücher über Propel lerschübe, Maschinenleistungen und Manövriereigen schaften. Ein pensionierter Kapitän aus dem Nachba rort saß neben Ronny und beriet ihn. Er berechnete, daß die Crew der »Danaos« nur 134
zehn Minuten gebraucht hätte, um die Ankerketten zu slippen, und weitere zehn Minuten, um zum nicht brennenden Teil an die weit über das Wasser hängen den Fackelausleger heranzufahren und dort aus gefahr loser Position den gut vierzig Meter langen Arm ihres großen Krans als Notgangway abzusenken. Eine halbe Stunde nach der ersten Explosion hätten die Männer in Sicherheit auf der Feuerwehrplattform sein kön nen. Erregt lief Ronny in die Küche und stürzte einen ganzen Pott Milch herunter. Manchmal dachte er daran, endlich zum Brückenbau zu gehen. Aber da seine Forschungen schon so weit ge diehen waren, wollte er die Hauptfrage lösen: Wie viele Opfer hätten es höchstens sein müssen? Anfangs schätzte er und kam auf zwanzig. Doch mit dem Umfang seiner Berechnungen wuchsen die Zwei fel. Er brauchte nur die Parameter bei der Computersi mulation geringfügig zu ändern, und mal explodierte die Zahl der Opfer oder sie schmolz gegen null hin ein. Da fand er im Scottsman einen Artikel über die Chaos-Wissenschaft, die gerade in Mode kam, und ließ sich vom überfordeten Buchhändler in Stirling alle maßgeblichen Werke besorgen. Mit dem Finger über die Zeilen fahrend, las Ronny das erste Axiom der Chaos-Forschung: Unbedeutende Auslöser rufen im mense Wirkung hervor - so kann der Flügelschlag ei nes Schmetterlings in China einen Wirbelsturm in Amerika auslösen, oder ein kleiner Anfangsirrtum ver mag außerordentlich weitreichende Irrtümer nach sich zu ziehen. Ronny kratzte sich am Kinn. Ihm fiel die falsch abgelegte pinkfarbene Reparaturerlaubnis für das Sicherheitsventil ein. Dann stockte sein Finger bei dem Lehrsatz, daß viele 135
komplexe Systeme einem kritischen Zustand zustre ben. Fast täglich hatte Ronny solche Situationen auf der Kilt Deka erlebt, bis sie beim letzten Mal ins Chaos umschlugen. Er war enttäuscht über die neue Wissen schaft. Alles olle Kamellen, dachte er. Aber er machte sich daran, die Formel der Überle benschancen zu finden. Seiner Frau wurde es zu bunt. Sie überredete ihn, ei nen Psychiater aufzusuchen. Da Ronny alle Fragen mit verblüffender Klarheit beantwortete, beugte sich zu gu ter Letzt auch der Arzt über Ronnys Aufzeichnungen. Angeregt versorgte er ihn schließlich mit psychologi scher Literatur, um die Parameter seiner Formel besser setzen zu können. So beschäftigte Ronny, warum der etwas schwächli che Francis Connally nicht einmal Brandblasen davon trug, während sein Freund Sam umkam. Sam hatte als ehemaliger Pioniersoldat gelernt, gefährliche Situatio nen durchzustehen. Anfangs führte er auch seinen Freund. Dann sprang aber Francis durch den Heli-Ausgang der Rezeption ins Freie, stellte fest, daß er trotz des Rauchs besser atmen konnte als drinnen, und rief Sam nach draußen. Schließlich kletterte er aber allein über ein Gerüst zum Rohrdeck und sprang vom Fackelaus leger in die See. Der Ex-Pioniersoldat Sam blieb auf der Laufbrücke des Wohntrakts zurück. Lag es daran, daß er dem neuen Führungsvermögen von Francis nicht traute, oder wollte er die plötzlich umgekehrten Rollen nicht akzeptieren und fühlte sich in seiner Ehre ge kränkt? Ronny setzte die Fitness in Relation zum Wissen und Verhalten jedes einzelnen Mannes, rückte die einzelnen Ereignisse während des Desasters in den Exponenten 136
und stellte proportional dazu die Crewstärke sowie die Rettungsmöglichkeiten, bis sein Drucker die vorläufige Formel:
Ü (v) = F (Mwv) E CR
ausspuckte. Sein geflügelter Satz bei all seinen Forschungen war: »That puzzles me«, das beschäftigt mich. Freunde und Nachbarn nannten ihn deshalb nur noch Puzzle, auch der Wirt seines Stammpubs. Er nahm es seinem Gast anfangs krumm, daß er die Tischplatten mit einem Filzstift vollkritzelte. Doch sie waren aus Resopal. Der Wirt tilgte die Forschungsergebnisse einfach mit einem Wischtuch. Mit der Zeit aber war er angetan von Ronnys Obses sion und erzählte anderen Gästen: »Puzzle wird noch einmal Nationalheld und löst das Rätsel des Lebens.« Sein Ausspruch wurde in der Lokalzeitung abgedruckt. Er erklärte daraufhin Ronnys Kritzeleien zur bildge wordenen Wissenschaft, zur Hieroglyphe der Moder ne, und achtete darauf, daß sich sein Gast immer an einer frischen Resopalfläche niederließ. Die Platten be sorgte er sich mit Mengenrabatt von einem Holzhänd ler in Glasgow. Die vollgeschmierten stapelte er im Schuppen. Der Wirt war überzeugt, daß sie ihm eines Tages enormes Geld einbringen würden. Schließlich vernetzte Ronny vier Computer miteinan der, um die umfangreichen Rechenoperationen über haupt noch bewältigen zu können. Der Kabelsalat zog sich bis auf den Dachboden. Seine monatlichen Über weisungen, die er aus einem Fonds für Unglücksopfer er hielt, gingen zum Großteil für seine Forschungen drauf. Während seiner Überlegungen kaute er beständig an seinem Bart. Da er auf Dauer zu sehr nach Stroh schmeckte, schnitt Ronny ihn eines Tages ab. Seine 137
Oberlippe war wie blankpoliert, und der Wirt erkann te ihn erst nicht wieder. Seine Frau redete als letztes Mittel vom Brückenbau. Ronny hörte nicht hin, weil er gerade in seine Formel den Überlegenheitswahn und das Sicherheitsgefühl als weitere Parameter einfügte. Dann brannte sie mit einem Highlander durch und wurde zuletzt von einem Nach barn in der plüschigen Lounge vom Westend Hotel in Edinburgh gesehen. Die spindeldürre Gehilfin des Buchhändlers begann, sich um Ronny zu kümmern. Sie ging sehr zartfühlend mit seinem Durcheinander um und staubsaugte nie mals zwischen seinen Papieren. Sie hatte feuerrote Haa re und liebte leichte Viskosekittel, aus denen ihre Beckenknochen herausragten. Doch Ronnys Beziehung zu ihr blieb immer platonisch. Manchmal lagen sie allerdings nebeneinander auf dem Teppich vor dem Kamin. Sie blickte ihn stumm an. Ronny nahm die abgegriffenen Zeichnungen des Wohntrakts und legte die Fingerspitze auf das Treppen haus. Er schloß die Augen und schrammte über das Pa pier, um einen Ausweg zu finden. In seinem Kopf war wieder das merkwürdige Rauschen. Plötzlich wußte Ronny, wo er war - vor seiner Koje. Ohne zu überlegen, hatte er das Treppenhaus im drit ten Stock verlassen, wo seine Kammer lag, und nicht, wie er es vorhatte - im zweiten. Ronny riß sich das Hemd vom Kopf, schrie laut, »ich Idiot«, und stülpte es zurück.
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Er flog aus dem Rauch durch die offene Pforte des Turms, schlidderte über den ölverschmierten Bohrboden und blieb an der gegenüberliegenden Luke wie angenagelt stehen. Der Malervormann Edmond Roarty wischte sich über die Wieselaugen. Vor ihm lag die See. Sie war tintenblau und schillerte im Mondlicht wie der Leib eines Dorschs. Nur selten hatte er sie so friedlich gesehen. Ihm erschien es, als stünde er auf ei ner Klippe am Mittelmeer und nicht auf der brennen den Kilt Delta. Wieder fiel ihm sein Traum ein: Er lief ohne jede Angst durch einen reißenden Bach, bevor er auf der Sommerwiese schwebte. »Laß uns hier runterspringen«, rief rauh sein Kam mergenosse Stuart, der neben ihm stand. Edmond wich einen Schritt in den Turm zurück. Er konnte nicht schwimmen. Die See war ihm unheimlich geblieben, obwohl er schon viele Jahre auf Ölinseln ar beitete. Doch Plattformen standen mit dem Fundament auf festem Boden. Niemals wäre Edmond in ein Boot ge stiegen. Einem Kollegen hatte er mal erklärt: »Ich kom me vom Bauernhof, deshalb.« Auch Lochs, Flüsse oder Teiche empfand er als tückisch und verschlingend. »Ich bin nur 1,70 Meter lang und die See ist so groß und so tief«, sagte Edmond. »Mann, red' keinen Unsinn. Du hast einen Überle bensanzug und eine Schwimmweste«, regte sich Stuart auf.
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»Die halten mich nicht oben«, sagte Edmond treu herzig, »ich buddel trotzdem ab.« Ihm erschien es glaubhafter, mit den vergoldeten Pappflügeln eines Weihnachtsengels in die Luft zu steigen. Hilflos rieb Stuart sich die Stirn. Edmond wollte auch nicht von geringerer Höhe ins Wasser springen, ja nicht einmal seine Füße benetzen. Er hatte die Idee, durch die Stahlkonstruktion bis nach unten zur See zu klettern und dort auf ein Rettungs boot zu warten. »Mit Verrückten ist nicht zu reden«, fluchte Stuart und ergab sich Edmonds Plan. Sie stiegen durch die Luke und dann zum Produk tionsbereich hinunter, wo die Förderrohre in den Ven tilen der Christmas-trees endeten. Sie brannten. Wie bengalisches Feuer züngelten an Hähnen und Flan schen rote, gelbe und blaue Flammen. »Da willst du durch?«, rief Stuart entsetzt. Er hatte schon im normalen Betrieb nur zögernd die Christ mas-trees passiert. »Nicht weiter schlimm«, sagte Edmond beruhigend, »gleich dahinter ist eine Treppe.« Hoch auflodernde Flammen versperrten ihnen den Weg am Niedergang. Doch Edmond wollte nicht ins Wasser springen. Er lotste den fassungslosen Stuart zur äußersten Ecke der Plattform beim Fackelausleger und rutschte über eine schräge Strebe ins nächste Deck hinunter. Sie liefen an den Förderrohren vorbei. Die Luft flirr te von der Hitze. Brennendes Öl tropfte herunter und flackerte auf den Flurplatten in Feuerinseln weiter. Wei ter hinten war eine fauchende, lohende Wand, die sich quer über die Plattform zog und vom Gas der geborste nen Pipeline angefacht wurde. 140
»Nur ein paar Schritte ran«, drängte Edmond, »da ist die Treppe.« Ein Kessel explodierte. Orangefarbene Wolken fauch ten durch das Deck. Die beiden versteckten sich hinter einem kleinen Container. »Schon vorbei«, rief Edmond und kam hinter der Ki ste hervor, »und jetzt zur Treppe.« Er dachte nur an den Schrecken des Wassers. Ein paar Schritte von ihm entfernt riß knarrend das Deck darüber auf. Glühende Eisenstücke polterten her unter und tanzten auf den Blechplatten. Die beiden sprangen zurück hinter den Container. Edmond sah kurz über die Kante der Plattform zur See. Eine Schule von sechs Tümmlern durchbrach aufund abtauchend mit kleinen schäumenden Wellen die glatte Oberfläche. »Seltsam«, dachte Edmond laut, »wenn die Menschen in Not sind, kommen diese Tiere.« Er erinnerte sich an eine alte gälische Volksweisheit, die er früher von sei nem Klassenlehrer gehört hatte: Das Gute kommt von der See - womit hilfreiche Feen gemeint waren. Aber Edmond glaubte nicht an Geister. Er wollte auf keinen Fall ins Wasser. »Wir gehen von der anderen Seite zur Treppe heran«, sagte er. Stuart hatte sich Edmonds Angst ergeben. Er wun derte sich über seine Willenlosigkeit und daß sie nicht schon längst umgekommen waren. Sie liefen ein Stück zurück und schlugen dann bei den Förderrohren einen großen Bogen. Stuart sah we der nach links noch nach rechts. Sein Blick hielt sich an den Hacken von Edmond fest. Sie flogen hoch, als würde er ständig ausrutschen. Stuart glaubte, in einer von den Geschichten seines Kammergenossen zu sein. 141
»Ich bin wahnsinnig, ich bin wahnsinnig«, stammelte er vor sich hin. Das Deck über ihnen knackte und krachte. Funken sprühten auf Spiralbahnen umher. Und Rohre platzten mit dem spitzen aber weitaus durchdringenderen Klang von aneinandergestoßenen Gläsern und loderten an den Bruchstellen auf. Doch Edmond dachte nur ans Wasser. Man konnte so unendlich tief sinken. Leicht gebückt hastete er voran. Seine Wieselaugen erfaßten selbst so unbedeutende Details wie die schmel zende Fassung einer Leuchte, und gleichzeitig überlegte er, warum er im Traum ohne jede Angst den Bach hatte durchqueren können. Er nahm auch das glühende Gasrohr wahr. Edmond glaubte sogar zu sehen, wie es zackig und kranzförmig einriß. Dann blitzte es, und ein gelber Wirbel fegte auf die beiden zu. Mit einem Satz huschten sie zwischen zwei kleine Werkstattbuden, um Deckung zu finden. Stuart rief noch: »Das war's.« Und Edmond schrie durch das Heulen: »Gleich geht's weiter nach unten.«
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Die safrangelben Handschuhe steckten hinter den verchromten Stierhörnern seiner Gürtelschnalle. Er schüttelte unruhig die Hand, wodurch sein silbernes Armband wie eine Klapperschlange rasselte. Der Tool pusher Terrence Ogilvie starrte auf den Verletzten, der auf dem Sofa des Videoraums lag. Im trüben Funzel licht der Taschenlampe tastete er mit den Augen über den schwarzen Kopf. Jeden Quadratmillimeter des ver rußten, von Blutschlieren durchzogenen Gesichts such te er ab. »Wirklich wie ein Brownie«, dachte Terrence laut. Die zwei Mechaniker, die ihn hereingeschleppt hat ten, blinzelten verlegen. »Was war passiert?« fragte er schnell. Zusammenhanglos berichteten die Mechaniker über unerreichbare Rettungsboote und einen geplatzten Die seltank, und daß sie ihren Kollegen erst nach einer gan zen Weile an den Beinen wegziehen konnten. »Und jetzt?« schnitt ihnen Terrence die weiteren Worte ab. »Wir warten auf Choppers«, antwortete der eine. Spä ter gab er zu Protokoll, daß er sich unbehaglich, wie in einem Verhör, gefühlt habe, und daß ihm Terrence' Äußerungen und Interesse schleierhaft gewesen seien. »Die Choppers kommen nicht.« Terrence blickte wieder auf den Kopf. »Wir müssen ihn über das Rohr deck rausschaffen.« »Wenn du meinst, daß es einen Weg über das Deck
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gibt, kannst du ihn ja gehen«, rief der eine gereizt. Und sein Kollege setzte nach: »Wir warten auf Choppers. Anders kann man wohl kaum einen Verletzten wie ihn transportieren.« »Hier können keine Choppers landen«, sagte Terren ce mit Nachdruck. »Ihr Bohrarbeiter wißt wohl immer alles und fühlt euch wie die Könige des Geschäfts«, rief der eine Me chaniker. Er fuchtelte mit seiner Taschenlampe herum. Ihr Schein geisterte durch den rauchverhangenen Raum und blieb sekundenlang auf dem Gesicht des Monkey mans Charlie hängen. Er war weiterhin Terrence gefolgt und stand geduckt und sprachlos hinter ihm. Später bei der Untersuchung erzählte er: »Sie waren komplett verrückt. Sicherlich war der Streit für sie ein Blitzableiter, andernfalls wären sie wohl in Panik ausgebrochen.« Besonders aus Terrence' Verhalten habe er sich kei nen Vers machen können, sagte Charlie: »Er war wie ausgewechselt. Gerade in dieser Situation, in der man an sich selbst denken sollte, zeigte er so etwas wie Mit gefühl. Das war ihm sonst völlig fremd.« Terrence war immer hart gegen sich und andere ge wesen. Nur einmal während seiner fünfzehn Jahre auf Ölinseln hatte er zwei Tage im Bett verbracht - mit ei ner Salmonellenvergiftung und hohem Fieber. Wenn Untergebene mit Schnittwunden an den Händen zum Bordsanitäter gingen und nicht sofort zurück auf den Bohrflur kamen, tat er sie als Memmen ab. Einmal war Terrence deswegen als Nazi beschimpft worden. Das al lerdings hatte ihn getroffen. Er beugte sich vor, um den Puls des Verletzten zu fühlen. Doch der eine Mechaniker mißverstand die Bewe 144
gung und dachte, Terrence wollte ihn sich schnappen. Er stellte sich dazwischen und drohte: »Faß' ihn nicht an.« Auch der andere bezog Stellung und rief: »Spiel' hier nicht die gute Fee.« »Das wäre schön. Aber ich habe keinen Silberzweig als Talisman«, sagte Terrence spitz. Die beiden staunten ihn blöde an. »Was hat das mit einem Silberzweig zu tun?« fragte der eine irritiert. Er glaubte, daß Terrence ihn provozieren wollte, um Char lie einen Grund zum Eingreifen zu liefern. Denn er hatte den Ruf eines erfolgreichen Pubraufbolds. Doch Charlie dachte nicht daran, den beiden an den Kragen zu gehen. Er wartete mit hängendem Kiefer und ver stand nichts mehr. »Ihr könnt euch selbst helfen, aber der arme Kerl nicht. Er wird hier umkommen«, sagte Terrence. Un schlüssig verharrte er neben dem Verletzten. Die Mechaniker spannten ihre Arme. »Zieh Leine, du Prophet«, brüllten sie. Doch sie wagten nicht, Ter rence anzugehen, da hinter ihm Charlie lauerte. »Alles sinnlos«, sagte Terrence und wandte sich ab. »Er wird umkommen«, bekräftigte er noch einmal zu Charlie, während sie den Videoraum verließen. Er schmatzte ein paar Mal, als hätte er einen schalen Ge schmack im Mund, und meinte dann: »Vielleicht besser so, sonst wird er ewig von Angst verfolgt.« Charlie brummelte beunruhigt vor sich hin. »Was hast du eigentlich mit dem Verletzten am Hut?« fragte er schließlich. »Oh je, Charlie«, antwortete Terrence geplagt. »Das war ich.« Charlie glotzte ihn an. Nach einem späteren Interview mit ihm schrieb ein Reporter: »Der Anblick des Verletzten hatte Terrence 145
Ogilvie mit der Kraft einer Offenbarung getroffen.« Der untersuchende Richter übernahm die Bemerkung in seine Aufzeichnungen, notierte aber dahinter: »Zweite Offenbarung - im Videoraum!« Dann standen sie am Hinterausgang des Wohntrakts und starrten in den Rauch. »Lauf jetzt über das Rohr deck«, entließ Terrence seinen Monkeyman Charlie. »Und du?« »Ich komm nach.« Terrence erklärte nicht, was er vorhatte. »Unsinn«, rief Charlie und mochte nicht nach dem Grund fragen. Trotz seiner Vorliebe für körperliche Arbeit hatte Terrence immer auf seine Kollegen herab gesehen und sich als Eingeweihter gefühlt. »Er saß auf hohem Roß«, sagte später ein Bohrarbeiter aus, »und gehörte eigentlich nirgendwo hin - weder zu uns Ar beitern noch zu den Bossen.« Charlie zögerte und blickte mal in den Rauch und mal zu Terrence, der fast gelangweilt neben ihm stand. Plötzlich begriff Charlie, daß Terrence jegliche An triebskraft fehlte und überhaupt nicht mehr versessen war, die Ölinsel zu verlassen. »Ich hatte das Gefühl, ihn vor sich selbst schützen zu müssen«, erzählte er später. Er stieß Terrence mit dem Ellenbogen an und sagte: »Ich warte hier auf dich.« Doch Terrence bemerkte sofort Charlies Sinneswan del. »Gib dir keine Mühe«, wies er ihn zurecht. Charlie dammelte unentschlossen herum. »Lauf los«, sagte Terrence väterlich, obwohl er nur neun Jahre älter als Charlie war, und schob ihn aus der Tür.
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Wie ein Schatten verließ der Ventiltechniker David Ferguson die Kantine. Den Schmerz an seinem beringten Ohr hatte er vollkommen vergessen. Auch der Refrain seiner inneren Stimme, 'keiner kümmert sich um mich', war verstummt. Doch er grollte, daß er so plötzlich ins Leben geworfen war. Seine unfreiwilli ge Initiation war noch nicht abgeschlossen. Er machte sich im Labyrinth des Wohntrakts auf die Suche nach der Tür ins Freie. Gebückt und mit einem Taschentuch vor dem Mund tastete er sich durch Rauch und Düster an den Wänden des obersten Stocks entlang. Er passierte eine kleine Treppe, die zum Anbau führte, bog scharf nach rechts und stieß gegen einen Büroschreibtisch. Er schwenkte um und wenig später nach links in einen engen Gang. Er endete vor einem großen Wäschespind. Wieder zu rück. Endlich konnte er beide Arme fast zur Seite aus strecken und wußte, daß er auf einem Hauptkorridor lief. Seine Finger glitten abwechselnd über Resopal und Kammertüren. Eine Hitzewelle von vorn zwang ihn umzukehren. Dann eben im nächsten Stock, redete er sich Mut zu, da Wärme aufsteigt, wird weiter unten eher ein passier barer Ausgang sein. Sich mal am linken und mal am rechten Handlauf festklammernd, kletterte er über Lei ber durch das Treppenhaus. David Ferguson versuchte, nicht an die regungslosen Männer zu denken, sondern nur an sein Ziel. Er hatte keine Ahnung, daß von den
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über sechzig Fluren und Passagen des Wohntrakts nur elf in Außentüren endeten. Wieder schrammten seine Fingerspitzen an einer Wand entlang. Ihn erschreckte die Gleichförmigkeit der Gänge. David wurde bewußt, daß er sich wie in ei ner Höhle verlaufen konnte. Er begann die Schritte zu zählen. Doch als er bei der nächsten Kreuzung über den weiteren Weg nachdachte, geriet er durcheinander. Dave bekam feuchte Hände. Um ihn herum war Stille. Nur manchmal quietschten seine Finger auf dem Resopal. Plötzlich leuchtete ein ver hangener Mond vor ihm auf. Dave glaubte, zu halluzi nieren. Er atmete auf, als der Schein schwankte und dann trübe auf sein Gesicht fiel. Eine Stimme dahinter fragte erstaunt: »Wie machst du das bloß ohne Licht?« Der Mann riß eine Kammertür auf, klabasterte darin herum und gab David eine Taschenlampe, eine Schwimmweste und zwei feuchte Handtücher, die er sich vor Mund und Nase wickelte. Ohne daß Dave sein Gesicht gesehen hatte, war der Mann plötzlich wieder verschwunden. Der Strahl seiner Lampe durchdrang die Schwaden nur um Zentimeter, gab David aber Zuversicht und ein Gefühl von Wärme. Er tappte durch eine Passage und wischte mit dem Schein über ein verschwommes Häuf chen. Er glaubte, daß es ein Wäschesack sei, und be rührte ihn im Gehen mit der Schuhspitze. Es war ein hingekauerter Mann. Er zuckte zusammen und krab belte auf allen vieren weg, ohne sich umzublicken. Deprimiert dachte David daran, die Lampe auszu schalten. Er fürchtete, daß solche Erlebnisse ihn davon ablenkten, die Tür ins Freie zu finden. Dreimal hintereinander schwenkte er in Flure ein, die in einer Wand endeten. »Alles nur Sackgassen«, 148
dachte er verstört. Der Schein streifte auf dem Boden eine lange, schwarze Schramme, die er Minuten zuvor schon gesehen hatte. »Verhext«, murmelte David und drehte sich ein paar mal um seine eigene Achse. Wahllos lief er einige Schritte und stand plötzlich vor einem Ausgang. Seine Haltung lockerte sich. Er pustete durch die Zähne und belächelte seine Unruhe. Flammen und Rauch versperrten die Tür. David kämpfte gegen ein rauhes Gefühl im Hals, das ihm während seiner Kindheit Tränen angekündigt hat te. Es muß doch einen Weg geben, hörte er seine innere Stimme flehen. Schwankend lief er weiter. Der Schein seiner Lampe wanderte in den zum Flur hin wandlosen Video-Raum und streifte über einen Körper, der auf dem Sofa lag. Der Mann wimmerte leise. Sein Kopf war wie ein Brocken Kohle. Unsicher blickte David sich um und war auf dem Sprung. Aber dann legte er dem Mann eines seiner Handtücher über das Gesicht und sagte: »Wir holen dich hier raus.« Er hoffte, daß der Verletzte die Lüge nicht bemerkte. Einen Moment später dachte er jedoch daran, ihn sich auf die Schulter zu packen und mit herumzu schleppen. Trostlosigkeit kroch in David hoch. Schnell lief er davon. Zwei Stockwerke blieben noch, um eine Tür ins Freie zu finden. Obwohl er wußte, daß es falsch war, sagte er sich, nach den Mißerfolgen steigt die Wahr scheinlichkeit, einen passierbaren Ausgang zu finden. Manchmal hielt er die Lampe kurz in die offenste henden Kammern. In einer saß ein Arbeiter im Überle bensanzug und mit Schwimmweste auf seiner Koje, so als würde er gerade eine Pause machen. In einer anderen riß ein Mann alle Schubladen auf, 149
leuchtete darin herum und nahm etwas heraus. Der Mann bemerkte, daß er beobachtet wurde, und kam langsam hoch. »Mein Kumpel hatte seine Papiere ver gessen«, nuschelte er, rempelte David zur Seite und ver schwand im Dunst. Ein Tuch verhüllte sein Gesicht. David beschloß, in keine Kammer mehr zu sehen. Er watete durch den Dunst eines Hauptkorridors und war sicher: Am Ende lag eine Tür. Sein Fuß stieß gegen et was Weiches - ein Bein. Der Mann war der letzte einer ganzen Schlange von Arbeitern, die ausgestreckt auf dem Linoleum lag. Dave beugte sich runter und fragte ihn: »Was macht ihr hier?« »Weiß nicht, ich bin nicht der erste«, antwortete er. David schwenkte ab und sagte sich: Nicht denken, sonst verliere ich. Irgendwann stand er vor dem Gang, der über zwei scharfe Biegungen zum Hinterausgang beim Rohrdeck führte. Er kam ihm bekannt vor. Dave ging ein Stück hinein und suchte nach einem Anhaltspunkt. Dann sah er vor sich im Dunst eine Wand. »Wieder eine Sackgas se«, stöhnte er und kehrte um. Als David den letzten und ersten Stock betrat, sagte er sich: Ich zeig es euch. Er meinte damit die Plattformlei tung, seine Eltern, alle und alles, auch die Wände. Sie knackten und knisterten. Der Boden war so heiß, daß die Sohlen seiner Schuhe anklebten. Direkt darunter lag die Gasabteilung mit der Pumpe, in die er das Sicher heitsventil nicht hatte einbauen können. Ihm blieb nicht die Zeit, daran zu denken. Dave hör te das Klirren von Scherben. Vorsichtig pirschte er nä her und peilte am Türrahmen vorbei doch noch einmal in eine Kammer. Zwischen den Kojen stand ein Arbeiter im roten Overall und hieb mit einem Feuerlöscher auf den Spie 150
gel über dem Schreibtisch ein. Wieder und wieder stieß er das Eisen gegen das Glas. Er keuchte und schlug in besinnungsloser Rage. Dann lief er, ohne Dave zu be achten, in den anliegenden Raum und hämmerte auf den nächsten Spiegel ein. Er ging in jede Kabine und stampfte mit der Metallflasche auch noch die Scherben auf dem Boden zu Grus. David floh. Er wetzte durch Korridore und Passagen und beschwor währenddessen laut sein Glück. Er machte es wie früher m der Schule, wo er bei der Abga be des Diktats sich eingeredet hatte - die Arbeit ist verhauen. Immer wieder stieß er jetzt heraus: »Ich fin de den Ausgang nicht.« Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Dave fuhr herum. »Ich brauche mal kurz dein Licht«, sagte ein Sicher heitsoffizier. »Wofür?« »Weil ich es brauche.« Die Stimme hatte einen dro henden Unterton. Der Mann verschwand mit der Lam pe und kam nicht zurück. Benommen stand David wieder im Dunkel. Er dach te, ich hab' meine Chance wahrgenommen, aber sie vertan und geh' zurück nach oben. Der Rauch in der Kantine war mittlerweile wie grau er Schlamm in jeden Winkel und jede Ritze gedrungen und umschloß Gegenstände und Menschen. Dave schossen Tränen in die Augen. Er würgte und japste und kroch über Arme, Rücken und Beine, die moosar tig unter ihm nachgaben. Die Männer lagen dicht an dicht allesamt auf dem Boden. Stille hatte sich über sie gesenkt. Und nur noch vereinzelt hustete oder keuchte jemand. Aus der Ecke hörte Dave einen jammernden Schrei 151
wie von einem Kind. Seine Hand berührte ein Tuch. Und er erkannte an der Struktur, daß es dem Koch ge hören mußte. Sein Knie quetschte sich neben einen Kopf und drückte ihn zur Seite. Der Mann wollte sich aufrichten, sank zurück und fragte quiekend: »Kom men die Choppers?« David graute. Wie ein Krebs, seitwärts krabbelnd und im Düster um sich blickend, als könne ihn jemand verfolgen, huschte er zum Treppenhaus, riß den Ficus Benjamini um und polterte mit fühllosem Entsetzen über die Kör per hinweg nach unten. Und diesmal, als habe ihn jemand geführt, fand er auf direktem Weg den Hinterausgang beim Rohrdeck. Doch als er den Qualm und die Flammen sah, sprang er mit einem Aufschrei zurück in den Wohntrakt.
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Wie eine Fahne leuchtete die frische Binde an der Hand, mit der er das abgerissene Mikrofon ge halten hatte. Und sein Gesicht war gelb vom Schein der hoch lodernden Ölinsel. Der Kontrollraum-Opera tor Gilbert Dobbs kniete auf dem Deck des Rettungs kutters »Golden Hope« nieder und dankte seinem Herrgott für das Wunder, daß beim Bruch der Gaspi peline die rasende Feuerwalze das Schlauchboot nicht erreicht hatte. Er bat auch um Milde für seine Kollegen auf der Kilt Delta. Noch während er stumm betete, sah er das Bild sei nes Großvaters beim Abschneiden der dicken Brotkan ten, dann seinen Vater am Eßtisch mit dem Blick auf die Armbanduhr und schließlich sich selbst, aber nur seinen gebeugten Rücken und den angespannten Hin tern auf dem Bürostuhl. »Scheiße noch mal«, dachte er am Ende des Gebets laut und setzte schnell hinzu, »Amen.« Er hatte seit dreißig Jahren nicht mehr zu seinem Gott gesprochen. Der Steuermann, der sich manchmal über Gilberts rigide Haltung mokiert hatte, strich über das Deck vor bei. »Ich erkannte den Kontrollraum-Operator kaum wieder«, erzählte er später einem Reporter. Gilbert stand zusammengesunken und schief an der Reling und starrte zur Kilt Delta. Sein Gesicht war wie Stein. »Was ist explodiert?« rief ihm der Steuermann zu.
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»Weiß nicht genau«, wich Gilbert aus und dachte, hätte ich mich doch nicht erinnert. Das Schlauchboot rauschte mit drei Geretteten her an. Ihre Gesichter waren verrußt, und schwarzer Spei chel lief ihnen aus dem Mund. Sie hatten nicht mehr die Kraft, an den Enternetzen aufs Deck zu klettern. Gilbert beugte sich runter und reichte dem einen seine gesunde Hand. Mit der verletzten stemmte er sich ab und brüllte innerlich vor Schmerzen. Einen nach dem anderen zog er an Bord. Zum letzten sagte er: »Es tut gut, euch zu helfen.« Die Maschine der »Golden Hope« begann, hohl zu rattern. Dann schluckte sie zweimal tief. Eine Rauchwolke stob aus dem Schornstein. Sie blieb ste hen. Das Schiff war klein und alt. Die Ölgesellschaft hatte die Wartungskosten für rausgeworfenes Geld gehalten, wurde später bei der Untersuchung festgestellt. Mit der Strömung trieb der Rettungskutter auf die Ölinsel zu. Gilbert erschien die Drift rasend. Schräg über seinem Kopf konnte er schon Türgriffe und Lei tungen erkennen. Er verkroch sich hinter der Luke und dachte, jetzt werde ich doch geholt. Eine Woche später grübelte Gilbert auf dem Sofa sei nes neuen Bungalows über die furchtbare Drift nach. Er fragte sich, ob Gott seinen wiedererweckten Glau ben habe prüfen wollen. Er schlug das Buch Hiob auf, zog Vergleiche und stellte fest, daß sie vorn und hinten nicht paßten. Besonders wurmte ihn, daß er nicht wie Hiob ge zweifelt, sondern erst durch das Unglück wieder zum Glauben gefunden hatte. Aber der Herr gewährt jedem Zuflucht - klang in seinem Ohr, worauf ihm sogleich bitter einfiel, daß sie 165 seiner Kollegen verwehrt wor 154
den war. Er tröstete sich damit, daß es eher bedeute jeder sei bei Gott aufgehoben. Er betete viel und verdingte sich nach zwei.Monaten wieder auf einer Ölinsel. »Irgendwie muß das Leben weitergehen«, erklärte er seiner Frau. Doch als er im Kontrollraum die vielen Lämpchen und Schalter sah, verschränkten sich seine Hände im Schoß. Ihn überfiel ein inneres Zittern. Er wurde sofort abgelöst. Niemandem, auch nicht seiner Frau, erzählte er von Schuldgefühlen gegenüber den umgekommenen Kolle gen. Er war der einzige der Überlebenden, der allem Anschein nach frei davon war. Gilbert wurde vor seinen Richter zitiert. Lord Morten, der Vorsitzende der Untersuchungs kommission, war hager, hatte große Füße und ein Buchhaltergesicht. Er bevorzugte altmodische Anzüge von undefinierbarem Grün. Normalerweise reiste er kreuz und quer durch Schottland, um bei Gerichtster minen in kleineren Städten über Fahrraddiebstähle, Pubraufereien und Weidezaunstreitigkeiten zu urteilen. Er war von der Tory-Regierung eingesetzt worden, weil sie von ihm eine ruhige und zielstrebige Verhandlung erhoffte, wie sonst in seinen Verfahren. Die aufgebrach ten Gemüter sollten schnell besänftigt werden. Niemand traute Lord Morten zu, daß er sich mit den komplizierten Produktionsprozessen und Arbeitspro zeduren der insularen Öl- und Gasfabrik zurechtfinden könne. Die Gewerkschaft nahm an, er werde kurzen Prozeß machen, um sich nicht in Details zu verhed dern. Und einer ihrer Sekretäre sagte noch vor Ver handlungsbeginn im Fernsehen: »Die Ölbarone und die Überlebenden der Plattformleitung werden ge schont.« Als aber Kameras und Mikrofone sich auf ihn richte 155
ten, sah der ehrenwerte Lord Morten die Chance, aus der Langeweile seines bisherigen Lebens herauszutre ten. Er bestellte beim Schneider einen zwar grauen aber dezent modischen Einreiher und nahm sich vor, die Anatomie eines Desasters zu erstellen. Das machte er gleich zu Verhandlungsbeginn allen klar. »Eigentlich habe ich nichts zu befürchten«, sagte Gil bert dem schottischen Direktor der Ölgesellschaft. Er hatte nur etwas Bammel, irrtümlich verurteilt zu wer den, und präparierte sich. Denn er wollte korrekt sein, wie im Leben zuvor. Da die Conti sich wegen ihres An gestellten nicht Schuld anhängen lassen wollte, drängte sie Gilbert einen Anwalt auf. Widerwillig ließ sich Gil bert dabei helfen, mögliche Aussagen ein wenig zu prä zisieren. Am 126. Untersuchungstag trat Gilbert vor LordRichter Morten. Seine Frau erzählte einem Reporter: »Gilbert ging völlig rein in die Verhandlung.« Für ihn stand unverrückbar fest, daß eine höhere Ge walt alles kontrollierte. »Der Mensch denkt, aber Gott lenkt«, war sein geflügelter Ausspruch geworden. Daß er reichlich abgedroschen war, bestätigte Gilbert nur die Richtigkeit: Er faßte sein neues Weltbild zusam men. Da der Richter häufiger ironisch hochsah und sich ständig Notizen machte, war Gilbert anfangs verunsi chert und fürchtete sich vor einer Falle. Er dachte einen kurzen Moment an sein neues Haus mit den sieben Pappeln. Dann zögerte er aber nicht, es als völlig nor mal darzustellen, daß der Shut-down-Button unberührt geblieben war. Mehr denn je, war er davon überzeugt. Auch seine übrigen Aussagen machte er laut und präzi se, was dem Richter gefiel. 156
Nichts haßte Lord Morten mehr als umständliche Redeweise oder Genuschel. Nach seiner Erfahrung steckte dahinter meist eine Halbwahrheit, wenn nicht sogar eine Lüge. »Und hätte man durch das Drücken des Knopfes das Unglück abwenden können?« fragte er plötzlich, ohne von seinen Aufzeichnungen hochzusehen. »Das hängt vom Zeitpunkt ab«, antwortete Gilbert wahrheitsgemäß. »Ich meine«, sagte Lord Morten und blinzelte hoch, »beim ersten Gasalarm?« Gilbert spannte sich und stand aufrecht wie vor dem Unglück: »Sicher. Aber es gab alle Tage solchen Alarm. Und wenn man dann jedesmal abschaltet, kann man es gleich bleibenlassen, eine Ölinsel zu betreiben.« Lord Morten nickte und schüttelte dann den Kopf und war unfähig, einen Menschen zu verurteilen, der sich dermaßen schuldlos fühlte. Das weltliche Tribunal sprach Gilbert frei, der damit die Angelegenheit für erledigt hielt und sie auch nicht vor seinem höchsten Richter erwähnte. Selbst wenn er beim Vaterunser »Vergib uns unsere Schuld« betete, meinte er das ganz allgemein und verband damit nie mals die Ereignisse auf Kilt Delta. Gilbert war von der Allmacht Gottes so sehr durch drungen, daß er in den Dienst der Kirche eintrat. Er machte die Kollekte und führte die Bücher. Einmal durfte Gilbert den Pastor vertreten, der mit einer Grip pe niederlag. Von der alten Eichenkanzel hielt er eine eindrucks volle Predigt über die Qualen der Verdammten und das Fegefeuer. Die Gemeinde rückte auf den Bänken ängst lich zusammen. Hinterher war Gilbert völlig entkräftet und mußte gestützt werden, als er die Kanzel verließ. 157
Er kasteite sich, indem er kalt duschte, und sagte, es diene der Fitness. Wenn das kühle Wasser auf seine Haut prasselte, fühlte er sich wohler. Seiner Frau er zählte er eines Tages: »Das ist so anders als die pißwar me See bei der Kilt Delta.« Seine Gemeinde war überzeugt, daß Gilbert mit sich und der Welt völlig in Einklang lebte. Aber manchmal schreckte er schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. In seinen Träumen sah er immer wieder die Standuhr sei ner Kindheit. Sie war hoch wie ein riesiger Glockenturm, nur das Kirchenschiff fehlte. Sie wirkte mehr wie ein Obelisk. Und Gilbert beobachtete, wie ganz weit oben die zise lierten Zeiger rückwärts über die Messingziffern wan derten. Auch alles Leben um ihn herum lief rückwärts, aber nicht wie beim Zurückspulen eines Films. Es lief so, als sei es ganz normal. »Zurück, zurück«, brüllte Gilbert sich heiser. Die »Golden Hope« trieb bereits in den Funkenregen der Kilt Delta. Gilbert meinte nicht nur das Rettungs schiff. Er sah über sich einen Mann auf einer Lauf brücke der Ölinsel fliehen, und plötzlich loderte er und fiel. »Mein Gott«, rief Gilbert. Die Maschine sprang wie der an.
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Das Rohrdeck vor ihm war eine Ebene aus feuer speienden Schlünden. Rußflocken fingen sich in seinem Kaiserbart und breiteten sich auf dem Gesicht wie Ekzeme aus. Der Rigger Ronny Carmichel sog die verrauchte Luft ein, als sei sie eine frische Brise, und dachte: Ich komm hier weg, ich schaff es. Doch sein Pal Collin war noch in der Kantine. Ronny lief in den Wohntrakt und gleich wieder raus. Er zwirbelte das eine Ende seines Barts und kaute dar auf herum. Wegen des Rußgeschmacks spuckte er aus. Nochmals wendete er um und blieb drinnen hinter der Tür stehen. Er blickte ins Dunkel des Korridors und ballte seine Faust, bis die Nägel sich schmerzhaft ins Fleisch drückten. Schließlich ließ er seine Schultern hängen und ging endgültig nach draußen. Die Leiter führte an der Außenwand des Wohntrakts bis zum Heli-Deck. Ronny wollte sich Übersicht ver schaffen. Endlich fühlte er wieder seine Hände. Er zog sich an den Sprossen nach oben und benutzte kaum sei ne Beine. An einem Vorsprung der Aufbauten sprang er von der Leiter und blickte über die Ölinsel, so wie früher beim Bau. Für Ronny war die Kilt Delta nicht nur Me tall. »Bleib ruhig«, hatte er ihr manchmal zugerufen, wenn sie durch Bohrarbeiten geschüttelt wurde, oder Kollegen gesagt, »sie wird langsam müde«. Für ihn hat te sie ein Wesen. Jetzt wurde ihm klamm, und er dach te: Sie löst sich auf.
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An den Seiten loderten die Flammen bis zum HeliDeck. Träger rissen qualmend und mit aufstiebenden Funken los. Unter dem Rauch quietschte, knarrte und krachte es, als würden ständig riesige Tore aufgezogen und zugeschlagen. Doch beim Bohrturm war die Luft klar. Rechts davon sah er den westlichen Fackelausleger weit über das Wasser ragen. Da will ich hin, beschloß Ronny, da hab' ich einen freien, sauberen Fall in die See. Auf der Leiter kamen ihm drei Zimmerleute entge gen. »Runter, runter!«, rief Ronny. Und sie schrien: »Rauf, rauf!« Sie wollten zum Heli-Deck und wichen nicht zurück. »Aus dem Weg! Choppers kommen nicht. Man muß übers Rohrdeck«, rief Ronny dem ersten zu, einem Highlander. Sein Fuß schwebte über dem Kopf des Mannes. »Bist du des Teufels«, erhitzte sich der Highlander, der das als Drohung mißverstand, und zog an Ronnys Bein. Der andere Fuß rutschte von der Sprosse. Sein Körper pendelte hin und her, aber seine Hände hielten ihn. »Du bringst mich um«, rief Ronny. Endlich faßte er wieder Fuß auf einer Sprosse. Feindselig blickte der Highlander hoch. Und Ronny überlegte fieberhaft, wie er ihn beruhigen könne. Ihm fiel nichts ein. »Hau' endlich ab«, schrie der Highlander in Rage und machte eine Bewegung, als wolle er wieder nach Ronnys Bein greifen. »Keine Aufregung«, sagte Ronny schnell, und seine Stimme wurde ganz hell, »ein Rigger ist ja ein Artist. Ich hänge mich an die Seite und ihr kommt vorbei.« Langsam kletterte der Highlander an Ronny vorüber. Jeder behielt den anderen in den Augen. Seine Kollegen folgten ihm. Doch beim Vorsprung sahen sie über das 160
Deck und stiegen wieder zurück. Ronny beobachtete sie mit Genugtuung. »Wenn du die Hand ausstreckst, siehst du sie nicht mehr«, wiegelte der Higlander mürrisch ab und führte es vor. »Wir schaffen es«, rief Ronny und hielt die Luft an. Er lief den anderen voran. In Bocksprüngen den Flam menschlünden ausweichend, flog Ronny durch die schwarze Wand. Sie landeten auf dem Bohrflur des Turms, wo die Luft nach Salz und Tang schmeckte und sie eine Stille umgab, als befänden sie sich auf einem längst verlasse nen Wrack. Nur sehr dumpf und wie von weit entfernt hörten sie den Brandlärm der Plattform, aber überna türlich laut ihre Worte und das Knallen ihrer Stiefel auf dem ölglänzenden Boden. Nochmals dachte Ronny an seinen Pal Collin. Er er schien ihm schon sehr weit weg. Es war so, als habe Ronny einen Zeitsprung gemacht. Einen winzigen Mo ment sah er in seiner Vorstellung auch sich. Aber er war jung und unbändig, noch Ronny-Tiger. Er wurde etwas traurig und wußte nicht warum. »Nicht hinsehen«, rief Ronny, als sie an den Christ mas-trees vorbeiliefen, und richtete seine Augen seitlich auf die See. Er befürchtete, daß die Sicht ins Produk tionsdeck sie erschrecken und von dem Plan abbringen könne, den westlichen Fackelausleger zu erreichen. »Oh, oh, oh..« schrie plötzlich der letzte, der sich nicht an Ronnys Warnung gehalten hatte und die mächtigen Ventile der Christmas-trees brennen sah. An einigen Flanschen begann das Metall schon zu glühen. Er kehrte um. Endlich hatte Ronny den Fackelausleger vor sich, der wie ein Finger zu den Sternen wies. Er sprang zum 161
handspannenbreiten Mittelträger, lief aber wie über eine breite Straße und vergaß für Momente, daß er sich auf der brennenden Ölinsel befand. Der Highlander rief: »Wir kommen nicht mit.« Ronny hörte nichts mehr. Er rannte weiter - bis zum äußersten Punkt. Und plötzlich nahm er wieder um sich herum die Welt wahr. Er sah die Lichter der Feuerwehrplattform »Danaos« und des Rettungskutters »Golden Hope« und auch die von anderen Schiffen ein Lichtermeer. Ronny wunderte sich still: Worauf warten die? Ihm erschien es, als habe sich eine Flotte mit Schaulustigen eingefunden. Und die brennende Ölinsel, auf der er immer noch stand, kam ihm ent fernt wie ein Planet vor. Weit unten flitzte ein Motorboot heran. Es tanzte über die sanfte Dünung. Ronny stürzte vierzig Meter tief. Aber er hatte nicht das Gefühl zu fallen. Die See kam zu ihm hoch. Er tauch te tief ein und glaubte, unendlich lange zu dem hellen Fleck wieder aufzusteigen. Sein Körper war sehr leicht, das Herz klopfte in den Ohren. Als er die Oberfläche durchbrach und die Kilt Delta über sich sah, tauchte er schnell wieder unter und blickte mit weit aufgerissenen Augen in das zunehmende Dunkel der Tiefe. Prustend kam er hoch und wollte den Kopf sofort wieder ins Wasser senken. Doch neben ihm schaukelte ein Boot. Schweigend zog ihn die Crew an Bord. Ronny setzte sich auf die Planken und sah nicht zur brennenden Ölinsel. Mit gebeugtem Rücken strich er über die Ma serung der Bodenbretter und zählte die Knäste. Dann begann er jämmerlich zu flennen. »Du brauchst nicht zu weinen«, sagte der Matrose, »du bist gerettet.« 162
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Die Leiter führte im Inneren des Bohrturms senk recht nach oben. Seine Stiefel ratterten über die ölverschmierten Sprossen, rutschten manchmal zur Sei te und hingen wie Blei an den Füßen. Der Elektriker Hugh McLean hechelte beim Ausatmen die drei Eröff nungsakkorde von Così fan tutte vor sich hin. »Tümm döh döööh, tümm döh döööh«, immer wieder, um den Rhythmus beim Klettern zu halten und die Schmerzen in Armen und Beinen zu übertönen. Sein Kammerge nosse Ken kam kaum hinterher. Auch nach dem Verlassen des Wohntrakts hielt Hugh beharrlich an der eingeimpften Luftrettung fest. Er wollte sich von der Spitze des Turms aufnehmen lassen. Doch die Leiter endete in einem tischgroßen Rost zehn Meter unterhalb der Spitze. »Verflucht, wir müs sen wieder runter und die an der anderen Seite des Turms nehmen«, schrie Hugh. »Glaubst du überhaupt noch an Choppers?« rief Ken von weiter unten und begann mit dem Abstieg. »Es sind immer welche gekommen«, versteifte sich Hugh und blickte zum ersten Mal an den Streben vor bei zum Wohntrakt. Flammen schlugen um die Kante des Heli-Decks, das er Minuten zuvor unbedingt hatte erreichen wollen. Seine Knie wurden noch weicher. »Spute dich, Ken«, schrie er und klapperte über die Sprossen seinem Kammergenossen hinterher. 'Zu spät!' hörte Hugh seine innere Stimme. Er hatte noch nie Bus, Bahn oder Flug versäumt und war im
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mer beizeiten zur Stelle gewesen. Während wir noch auf dem Weg sind, dachte er, fliegt ein Chopper vorbei und dreht wieder ab. Hugh war überzeugt, daß nur ein einziger kommen würde, und stöhnte vor Wut: Ihm könnten jetzt dreißig oder nur zehn Sekunden fehlen - ein Bruchteil der Zeit, die er im Wohntrakt vertrö delt hatte. Um nicht ganz bis zum Bohrflur hinunterzuklet tern, schwangen sie sich zur Windschutzwand, die den unteren Teil der Turms verkleidete, und rannten auf der simsähnlichen Oberkante um ihn herum. Unter ihnen lief gerade eine Gruppe von Männern an Containern vorbei über das Rohrdeck. »Die wollen auch in den Turm« rief er Ken zu und stellte sich das Gedrängel auf der Leiter vor, »rasch, rasch!« Da blitzte an der Plattformseite zwischen Turm und Wohntrakt etwas wie ein großer Knallkörper auf, und eine brennende Säule schoß aus dem Deck. Sie verbargen sich hinter den Windschutzwall auf den glatten Streben. Über ihre Köpfe heulte ein Flam menorkan hinweg und schüttelte den Turm mit unbän diger Gewalt. Ihre Hände verkrallten sich im Eisen. Sie wurden fühllos weiß. »Scheiß Choppers, Scheiiiß...« brüllte Hugh und dachte, wären wir doch sofort ins Wasser gesprungen einfach geflohen. Er knirschte mit den Zähnen und hätte sie am liebsten im Mund zerbröselt. Als der Ansturm nachließ, lugte Hugh vorsichtig über die Kante. Unter sich auf dem Rohrdeck sah er die Männer hinter dem Container liegen. Um sie herum Feuerschlünde. Keiner rührte sich mehr. Rauch stieg aus ihrer Kleidung auf. Er schloß die Augen und stellte plötzlich mit Entset zen fest - er selbst roch auch verbrannt. 164
Noch Jahre später litt er unter diesem Geruch. Zu nächst glaubte er, daß nur seine Hände davon betroffen seien. Er wusch sie so lange, bis das Seifenstück aufge braucht war. Dann bemerkte er, daß sein ganzer Kör per den Brodem von angesengtem Haar und verkohlter Haut ausströmte. Er nahm Rosmarinbäder und Ma gnolienshampoo und schüttete sich beim Duschen Ro senöl über den Kopf. Später griff er zu schärferen Mit teln und setzte dem Wasser Sagrotan hinzu. Aber es brachte nur für Momente Erlösung. Manchmal, wenn der Geruch besonders intensiv war, sah er in seiner Vorstellung die Kollegen: Ein großer Haufen von Leibern. Sie lagen dort mit ihren roten, grünen und blauen Overalls, den weißen und grünen Helmen, gelben Sicherheitsstiefeln und gestreiften Handschuhen. Sie brannten nicht. Sie schwelten. Und die Glut verzehrte sie nicht. Sie schmorten vor sich hin bis in alle Ewigkeit. Ihn packte dann der Wunsch, das Feuer anzufachen und mit einem Stock in der Glut zu stochern, daß auf lodernde Flammen endlich die Körper auffräßen und nur noch ein Häufchen weißer Asche nachbliebe, die der Wind zerstäube, und daß die Vorstellung beendet sei. Aber keine Geistesanstrengung vermochte diesen Schwelbrand in ein Feuer zu verwandeln. Er glaubte so gar, daß der Haufen der Männer ständig wachse. Schließlich ergab sich Hugh diesen Bildern, die ihn überall und zu jeder Stunde überfielen, sei es, wenn er vor dem Küchenherd stand oder mit dem Auto an ei ner roten Ampel stoppen mußte. Anfangs wollte er sofort zur Frau auf der grünen In sel fahren. Aber schnell verließ ihn der Mut. Hugh war überzeugt, daß sie ihn schon von weither riechen kön 165
ne und sich vor dieser Ausdünstung des Todes er schreckt zurückziehen werde. Schlimmer noch. Wie sollte er sie mit seinen Händen je berühren - ihre wei ße Haut, die für ihn so sehr nach Moos und Salzwasser duftete. Ihm erschien es, als könne er mit nur einem flüchti gen Streifen seiner Finger die Krankheit auf sie übertra gen. Und sie würde verwelken und austrocknen und schließlich zerfallen. Also schrieb er ihr wieder Briefe, die nie abgesendet wurden. Seine Frau trennte sich von ihm. Sie hatte er kannt, daß seine Leidenschaft für diese Frau auf der fer nen Insel weitaus tiefer war, als die für eine mit wirkli chen Brüsten jemals hätte sein können. Um ihm zu zei gen, daß sie sein Geheimnis kannte und der unfaßbaren Rivalin gewichen sei, verschnürte sie thea tralisch seine Briefe mit einem roten Band und legte sie aufs Bett. Hugh fühlte sich von der Last ihrer Zuneigung be freit. Die neuen Briefe stapelten sich jetzt auf dem Kü chenschrank neben alten Batterien, Topflappen und Schlüsselbunden. Er hatte längst aufgegeben, nach wohlklingenden Wendungen zu suchen, und schrieb einfach und ehrlich und daher mit Gewalt seinen Schmerz von der Seele: »... Aber warum hatte ich nicht gemeutert? Da es kei ne Befehle gab, wäre es noch nicht einmal das gewesen. Revolution und Aufstand - da war für mich doch nur das Gefühl, der gute, der bessere Mensch zu sein, die Selbstbeweihräucherung eines Toren. Ich trug das große Banner ›Courage‹ vor mir her - für die ande ren. Und ich selbst war ein erbärmlicher Feigling...« Und: »... Ich war verblendet. Durch die Anbetung der 166
Technik steigerte ich mich in einen Überlegenheits wahn. Ich vertraute Zeigerausschlägen, Skalen, der meßbaren Vernunft und mißachtete das simple präzi se Instrument des Gefühls. Der Grund war sicherlich: Ich hatte Angst, mir selbst zu vertrauen. Deshalb hat te ich die Verantwortung für mich und die anderen an ein Rettungssystem delegiert. Könnte ich nur alles rückgängig machen...« Manchmal blieb Hugh Stunden um Stunden bis in die Nacht unter der Tiffany-Lampe seiner Ehe sitzen und brütete. Er wußte oft nicht einmal, worüber. Die Ge danken perlten an ihm herab wie Regen. Und zu ganz später Stunde schaltete er den Plattenspieler ein, dröhn te sich mit Opernmusik voll und badete in einem Meer von Melancholie. Solche Tage nannte er lost days. Es gab viele davon. Unter Menschen zu gehen, kostete ihn jedesmal Überwindung. Sporadisch und nur mit innerem Zwang besuchte er die Versammlungen der Gewerk schaft. Er schlug eine Reihe von Forderungen für Ret tungssysteme auf Ölinseln vor, die von der Presse auf gegriffen wurden. Aber hinterher erschien ihm alles hohl. Einmal hielt Hugh eine längere Rede. Jede Verbesse rung des Sicherheitsnetzes, legte er dar, mache es zu gleich auch gefährlicher, da sich die Menschen zu sehr darauf verließen. »Das beste Rettungsmittel sind die in neren Impulse und die Crux unsere Köpfe«, rief Hugh. Er wurde niedergeschrien und gefragt, ob er Agent der Ölbarone geworden sei. Nach mehreren Anläufen gelang ihm auch, eine Neufassung seiner Arbeit über Così fan tutte zu been den. 78 Seiten lang schäumte er - streckenweise auch 167
ironisch - über die Liebesweisheit des Schlußquintetts: »Glücklich ist, wer alles von der rechten Seite sieht und sich in allen Dingen von der Vernunft leiten läßt.« Bei der Abgabe lernte er im Universitätsbüro eine junge Frau von spatzenhaftem Wuchs aber mit rauher Stimme kennen und nahm sie mit nach Haus. Er legte sich mit diesem zerbrechlichen Wesen ins Bett, vermied aber, es zu berühren. Sie nahm an, daß er einfach schüchtern sei, betastete ihn zaghaft und schlief schließlich mit dem Kopf auf seiner Brust ein. Hugh blieb wach und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie ging nicht wieder, heiratete ihn und gebar schließ lich eine Tochter. Wenn er im Schaukelstuhl saß und von dort mit einer Hand ihren Korb wiegte, vergaß Hugh zeitweilig sogar den furchtbaren Geruch und dachte an die Frau auf der Insel. Sein Schreibzwang war ungebrochen. Die Briefe sta pelten sich wieder in der Kommode zwischen Hemden und Socken. Einer endete: »Warum habe ich überlebt, wenn ich es nicht fertigbringe, dich zu suchen?« Und plötzlich stand sie vor ihm , so nahe und ohne die Tankstellenscheibe, daß Hugh glaubte, er könne sie berühren. Ihre blauen Augen leuchteten noch eindring licher als jemals zuvor. Sie hielt mit dem Winken inne, und ihre Lippen wollten sich öffnen. Hugh wurde von diesem Bild seiner Vorstellung überwältigt. Er rüttelte im Bohrturm an der Strebe, die ihn trug. Sein Körper schwankte in der Luft. »Ihr kriegt mich nicht, ihr kriegt mich nicht«, brüllte Hugh die Flam men an. »Beruhig' dich«, rief Ken, »du fällst gleich runter.«
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Wie ein Kainsmal verlief über seiner Stirn eine blutende Schramme. Der frischgebackene Super intendent Alex Shinwell war zu einem Häufchen Elend zusammengesunken und stierte an der Türfassung vor bei aufs Rohrdeck. Immer weitere Vulkane brachen knisternd und fun kensprühend vor ihm auf. Gasflaschen, Tanks und auch Kessel zerplatzten. Splitter schwirrten durch die Gegend. Und die Blitze warfen einen fahlen Schein auf Alex' runden Kopf. Vor Mund und Nase hielt er ein Handtuch gepreßt. Alex zog am kurzen Ärmel seines Polohemds. Er wur de nicht länger. Da er die Kluft des insularen Büromen schen und nicht den gewohnten unbrennbaren Mecha nikeroverall und die Sicherheitsstiefel trug, fühlte er sich nackt. Als Nachbeben gerade durchstandener Todessangst durchlief seinen Körper in kurzen Wellen ein Zittern. Auf dem Weg vom Hinterausgang zum Bohrturm war er nur durch drei mächtige Sprünge der himmelanstei genden Feuersäule entwischt und hatte mit zwei Dut zend anderen Männern im White House Zuflucht ge funden. Das White House der Kilt Delta war ein flacher Stahlkasten von der Größe zweier nebeneinanderge stellter Container und stand auf dem Rohrdeck direkt neben den Aufbauten. Es barg schwere Werkzeuge und Bohrköpfe, die in Halterungen hingen. Auf dem Boden
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war Spezialgestänge gestapelt. Zum Hinterausgang des Wohntrakts hin war an der Seite der quadratische Aus schnitt einer großen Schiebetür. In ihrem Schatten drängten sich in zwei Gruppen die Männer. Alex sah keine Gesichter. Er wußte nur: Ich bin nicht allein. Erst jetzt dämmerte ihm seine Tat. Als erwache er aus tiefem Schlaf, wurde ihm langsam bewußt, daß er seinen Posten verlassen hatte. Im Geiste sah er von Taschenlampen erhellte Gesich ter, Stan Owens wuchtigen Körper und dann seine ei genen Füße, die sich durch die liegenden Männer aus der Rezeption bewegten. Sie warteten weiter auf Heli kopter, und er schlich sich davon. Alex kniff die Lider zusammen, das Bild verschwand nicht. Vom Bauch her stieg die Scham bis in seine klopfenden Schläfen. Er senkte seinen Kopf. Aber dann dachte er wieder: Die Entscheidung war für mich gemacht. Die kleineren Explosionen ließen etwas nach, die Feuersäule schrumpfte zusammen. Ein Mann sprang an Alex vorbei durch die Türöffnung hinaus, kam aber so fort wieder zurück. Dann versuchte es ein zweiter. Er verschwand im Rauch, und Alex hörte einen langgezo genen Schrei. Er kroch ins Innere des White House, um nicht an zusehen, wie mit dem Rohrdeck auch die Hoffnung auf Flucht zerplatzte. Er kauerte in einer Ecke auf den Rohren und hielt die Hände über die Ohren. Er dach te, das ist das Jüngste Gericht, und fragte sich, warum jetzt? Dann betete er: »Heilige Königin, Mutter der Gnade, laß' Vergebung walten.« Er horchte und hörte dumpf nur den Lärm der Zerstörung. Alex Shinwell bat seine Mutter, die schon längst ge storben war und die er im Himmel wähnte, um Hilfe. Er rief nach ihr und sah sie wie in seiner Kindheit, mit 170
ihrem schwarzen Jabot und dem stolzen Gesicht. Und wie damals beugte sie sich zu ihm herunter. Aber dies mal fühlte er nicht ihre Hand. Wieder dachte Alex an seine schändliche Tat. Er wurde wütend und sagte sich, so ein Scheiß, ihr ganzes Ehre- und Moralgesabbel. Sie hat mir das eingebrockt. Sofort bereute Alex seine Gedanken. Er weinte. Das White House bebte von einer größeren Explo sion. Alex schreckte hoch und glaubte, daß er einge schlafen sei und nur geträumt habe. Neben dem offe nen, mit schwefelgelbem Rauch gefüllten Quadrat kau erten wie im Scherenschnitt die lauernden Männer. Alex schloß wieder die Augen. Die Rohre unter ihm wurden heiß. Er würgte die stickige Luft in Brocken durch den Hals. Seine Zunge schwoll an und lag wie ein Stück Gummi quer im Mund. Sein Fleisch siedete. Aber über die Haut kroch Kälte. Er phantasierte von einem Gewitter mit Ozea nen von Regen. Dann sah er die Männer der Feuerwehrplattform »Danaos« um die Türfüllung ins White House einbie gen. Sie trugen weite, metallisch glänzende Asbestanzü ge, und ihre rundherum geschlossenen Kapuzen hatten vorn ein Fenster, in dem ein Ausschnitt ihrer Gesichter zu erkennen war. »Komm', steh auf«, sagte der erste, »wir holen dich jetzt hier raus.« Sie hielten Alex an bei den Armen und führten ihn durch die Flammen zur Gangway der »Danaos«. Seinen Körper durchlief ein Zucken. Er schluckte ein paarmal, begann wieder still zu weinen und dachte: Wie einfach ist es, Held zu sein, wenn man Retter und nicht Fliehender ist. Schließlich trat Ruhe in ihm ein. Er spürte die Hitze nicht mehr und empfand es als angenehm, dort zu 171
hocken. Weglaufen wollte er nicht mehr. Alex wartete auf Erlösung und sah ein sehr schönes, lichtes Blau. Die zweite Gaspipeline barst. Mit einem gewaltigen, hohlen Knall zündete die größte Explosion, die bis da hin die Ölinsel heimgesucht hatte. Der Feuerball über stieg weit den Wohntrakt. Die Druckwelle und die Flammen rissen und schmolzen Pfeiler, Streben und Stützen der Plattform weg, Stahlsegmente wurden ei nen Kilometer weit in die See geschleudert. Die Kilt Delta schüttelte sich, als sei sie aus Draht. Mit einem Ruck senkte sich das Rohrdeck in die Schräge. Das taghell erleuchtete White House sackte nach und kippte zur Seite. Die Männer fielen durchein ander und die schweren Bohrköpfe und hochgestapel ten Rohre rollten und stürzten mit wüstem Poltern auf sie herab. Alex wurde gegen die Wand geschleudert, eine meter lange Zange schrammte an ihm vorbei. Und dann drückte ihn etwas Weiches, Schweres zwischen das rut schende Gestänge. Ein Mann lag auf ihm. Alex stram pelte und zerrte und wuchtete den Körper zur Seite. Lautlos huschten Gestalten durch das helle Quadrat ins Freie. Alex richtete den Oberkörper etwas auf, kam nicht hoch. Sein Arm streckte sich aus, und sein Mund form te sich zum Schrei. Aber er sagte nur: »Ach.« Schwärze überzog das Licht im Rahmen der Tür.
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Bevor der Bohrkopf mit den diamantbewehrten Zähnen ihn erreichten konnte, flog er aus dem White House ins Freie. Besinnungslos wollte er weiter stürzen und wurde durch einen lodernden Graben in den Stahlplatten aufgehalten. Der Ventiltechniker Da vid Ferguson drehte sich zu den Seiten, schwankte vor und zurück. Sein Atem pfiff in scharfen Stößen. Er wußte nicht weiter und fuhr sich verstört mit der Hand über die Augen. Das Rohrdeck war ein Sumpf aus glühendem und zerfließendem Eisen. Wie Palisaden ragten umlohte Gestänge kreuz und quer in den Rauch, glitten plötz lich ab, verschwanden nach unten. Container lagen durcheinandergewürfelt und in Spalten gesackt auf ih ren Kanten und Ecken. Laufbrücken hingen über den Rohren in der Luft und waren in sich verdrillt. Losge rissene, verbogene Geländerteile schwangen umher, und ständig brachen Decksegmente zu weiteren Feuer schlünden auf. Doch hinter einem Gestängestapel beim Wohntrakt sah David einige Köpfe. Er zog sich an der Barriere hoch, erklomm den dampfenden Eisenberg und rutsch te auf der anderen Seite den Männern vor die Füße. »Mann, du, Dave!« rief sein Kollege Eugene, der ihn nur am Ohrring wiedererkannte. Brandblasen entstellten David Fergusons Gesicht. An Stirn und Wangen war Haut abgeschürft, das Blut hatte sich mit Ruß vermischt. Und Flecken seiner
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kurzgeschorenen Haare waren bis zur Kopfhaut wegge sengt. Seit der ersten Explosion, als Eugene beim Duschen mit David über das Sicherheitsventil gesprochen hatte, trafen sie sich jetzt zum ersten Mal wieder. Eugene fiel auf, daß ein anderer David Ferguson vor ihm stand. »Er war zwar am Rande der Panik wie wir alle, wirkte aber nicht mehr unausgegoren wie sonst«, erzählte Eu gene später einem Reporter. »Wir müssen ins Wasser«, schrie Dave, »sofort!« Die Männer zögerten. Denn im Schatten des Gestän gestapels fühlten sie sich im Moment sicher. »Es regnet«, stellte einer erstaunt fest und wischte über seine Wange. Auch die anderen spürten plötzlich, daß mit dem Ruß Feuchtigkeit auf ihrer Haut nieder schlug und sie kühlte. Sie drehten ihre Köpfe zum Himmel. Er war sternenklar. Eugene streifte wieder mit der Hand übers Gesicht, um sich zu überzeugen, daß es Wasser war. Die Männer schwiegen ratlos. »Das kommt sicher von der 'Danaos«, sagte Dave in die Pause hinein. Der Strahl ihrer Löschkanonen erreichte endlich die Ölinsel. Doch, wie die Untersuchung später erwies, gab der Kapitän kurz darauf den Befehl zum Zurück zug, da er um seine Feuerwehrplattform fürchtete. Die Männer verharrten unschlüssig. David stieg über den Stapel und winkte sie heran. Er wollte zur Westsei te der Ölinsel, wo auch die »Danaos« lag. Es war der kürzeste Weg zum Wasser und führte über das geneigte Deck bergab. Einer nach dem anderen folgte. Sie liefen wieder am Eingang des White House vorbei. »Vielleicht ist noch jemand drin«, rief Dave, sah kurz durch die Tür ins Dunkel und schüttelte den Kopf. 174
Auf dem Deck waren die Rohre zu Fußangeln und Fallen zusammengestürzt. Einige lagen wie Wippen. Schon durch eine kleine Berührung polterten ganze Haufen mit tonnenschwerem Eisen auseinander. David balancierte voran und war gerade um die Ecke des Whi te House verschwunden, als die Männer seinen gellen den Schrei hörten: »Weg, weg!« Der an der Plattformseite verankerte westliche Kran schwankte sekundenlang und stürzte in die See. Doch der Ausleger krachte aufs Rohrdeck. Die Männer stoben hinter den Gestängestapel zu rück. Durch die Erschütterung rutschte David von den Rohren in eine Senke. Der Rauch und das verdampfen de Wasser von der »Danaos« nahmen ihm jede Sicht. Er rappelte sich hoch, fiel fast in einen Spalt, kroch über einen eingedrückten Container, endete vor einer Flam menwand, stellte sich aufrecht, sprang auf einen abge rissenen Träger, verbrannte seine Hände an dem heißen Metall und stolperte und kletterte und krabbelte und hatte nicht mehr die Kraft, sein Ungemach zu verflu chen, das ihn vor immer neue Hindernisse trieb. In ihren Träumen sah seine Frau noch Jahre später, wie er blind von Rauch und Dampf versuchte, den furchtbaren Fallen auszuweichen und mit jedem Schritt zur Seite oder zurück auf eine neue traf. Und sie blick te in seine vor Angst und Schrecken aufgerissenen Au gen, die milchig beschlagen waren. Manchmal streckte sie ihre Arme über einen Spalt zu ihm aus. Die Flammen schlugen daraus, hoch wie ihre Hüften. Nie gelang es ihm, ihre Hände zu greifen, seine Füße glitten immer wieder zurück. Hinter ihm war ein großes Loch mit gezackten Rändern, die weiß glühten. Das Metall tropfte in einen flirrend gelben Brei. Milli 175
meter um Millimeter rutschte er rückwärts darauf zu, bis sie schließlich erwachte. Doch der Traum setzte sich über viele Stunden, oft bis zum Abend, im Gefühl fort. Eileen Ferguson war am Tag des Desasters gerade ein Vierteljahr mit David verheiratet und gebar zwei Wochen darauf eine Tochter, was die Boulevardpresse gleich als schlechten Roman erkannte und gehörig ausschlachten wollte. Doch die Reporter mußten sich diesmal alles aus den Fingern saugen. Weder Photos noch Interviews erhielten sie von ihr. Eileen war eine selbstbewußte, nicht sentimentale junge Frau. Sie trug hohe Hacken und die schwarzen Haare kurz. Der Rummel um Opfer und Überlebende widerte sie an. Als im Fernsehen Bilder des Conti-Eigentümers Louis Nagel gezeigt wurden, sah sie sich die allerdings an - um ihren Haß auf diesen Mann zu schüren. Louis Nagel war der Sohn eines Bukarester Schnei ders und hatte in den Vereinigten Staaten den amerika nischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär ver wirklicht. Er lebte in einer schloßähnlichen Anlage bei Pasadena, Kalifornien, und war in allen globalen Kreuzzügen ums Öl mit seiner Conti dabei. Wegen sei ner zerbrechlichen Statur und einer Nickelbrille wirkte er wie der nette Opa von nebenan. Die Bilder, die Eileen sah, zeigten ihn, wie er gebeugt seinem Privatjet in Aberdeen entstieg. Noch auf der Treppe drückte er mit belegter Stimme sein Bedauern aus und schneuzte sich kurz. Die Finger seiner rechten Hand spielten am Knauf des Regenschirms. Dann war er im Hospital und drückte den Arm eines Überlebenden, der bis auf das von Schorf und Brand wunden entstellte Gesicht vollständig einbandagiert war. Louis Nagel blickte mitfühlend in die Kamera. 176
Eileen spuckte gegen den Bildschirm und war hinter her von sich überrascht. Sie mied auch die Untersuchungstermine, erlebte aber trotzdem mit, wie David zum Sündenbock ge macht wurde. In ihrer Vorstellung sah sie ihn vor dem Richter stehen. Er knabberte Erdnußkerne, die er hau fenweise in der Tasche hatte, und verstand die Welt noch weniger als jemals zuvor. Sie dachte, daß er dort weitaus feindseligeren Mächten ausgeliefert sei als beim Desaster. Um eine möglichst reine Weste zu behalten, verfolg ten die Conti-Manager die Strategie, Arbeitern eines Subunternehmers die Schuld in die Schuhe zu schie ben. Also hielten die Anwälte der Ölgesellschaft sich zurück, als über die falsch abgelegte Arbeitserlaubnis für das Sicherheitsventil und den nicht gedrückten Shut-down-Button gesprochen wurde. Dann aber ritten sie darauf herum, daß die beiden Rohrflansche, zwischen denen das Sicherheitsventil hätte sitzen müssen, nicht ordnungsgemäß von David Ferguson abgedeckelt und verschlossen sein konnten. Andernfalls wäre nach ihrer Meinung kein Gas entwi chen, und es hätte nie eine Explosion gegeben. Die Anwälte machten während ihrer Ausführungen recht häufig bedeutungsvolle Pausen. Daß die Pumpe wegen des fehlenden Ventils überhaupt nicht hätte ge startet werden dürfen, ließen sie in einem verquasten soziologisch-technischen Wortschwall über Verantwor tung, Sicherheitsprinzipien und Auslöserfunktionen untergehen. Der ehrenwerte Richter Lord Morten bemerkte sehr wohl die Strategie. Er hatte versucht, sich in dem Wust von Gutachten, Widersprüchen, wohl auch Lügen, sowie den Bruch 177
stücken von Erinnerungen, die ihm vorgetragen wur den, zurecht- und auch damit abzufinden. Aber schon vor diesem 316. Verhandlungstag war ihm klar, daß es ihm auch wegen der vielen Mißlichkeiten und unseli gen Zufälle niemals gelingen würde, den Schuldigen zu ermitteln. Auch seine Tätigkeit kam ihm immer zufälliger vor. Er benutzte jetzt sehr häufig metaphysische Wendun gen, wie »das schicksalhafte PSV 47«, womit das Si cherheitsventil gemeint war. Und er flüchtete sich in verhaltene Ironie, weil er es immer unerträglicher emp fand und auch immer weniger verstand, daß so viele Menschen umgekommen waren. Er litt zeitweilig an der Galle, was sein etwas unge schlachter Stenograph einmal laut bemerkte: »Mein Gott, Euer Ehren, Sie sehen ja plötzlich aus wie eine Quitte.« Auf seinem hohen Sitz notierte der Richter bitter: »Nachlässigkeit und Schlamperei - Urübel allen Un glücks, aber wie Schleim.« Und darunter fügte er noch bitterer hinzu: »Kostensparen der Conti und Never mind-Haltung der Arbeiter - alles Schleim.« Doch Lord Morten wollte das eigene Vertrauen in das hohe Amt des Richters nicht vollends ad absurdum führen und jedenfalls äußerlich Gerechtigkeit walten lassen. Er hatte schon mehrere Male zuvor wegen schwerer und kleinerer Vergehen die Ölgesellschaft mit harschen Worten verurteilt und ebenso die aufsichts führenden Behörden. Jetzt verdammte er David Ferguson. Als Eileen davon hörte, stand sie in ihrer Altbauwoh nung vor dem Fenster und sah hinter einem Park und den grauen Häusern von Edinburgh weit entfernt das Schloß. Darüber jagten schwarze Wolken. Ihr Blick ver 178
lor sich. Sie legte eine Platte auf, eine von David, und ging zurück ans Fenster. Immer wieder hone sie das Stück »A new Standard by which to measure infamy«, in dem William Burroughs mit brüchiger und sarkasti scher Stimme einen Kapitän besingt, der in Frauenklei dern als erster das Schiff verläßt. Zwei Stunden lang blickte sie über die Stadt, ohne sie zu sehen. Eines Tages, während ihre Tochter schlief, zog sie aus dem Einbauschrank Davids Schatzkiste hervor. Sie war ein großer blaugestrichener Würfel mit aufgemalten weißen Sternen. Während seiner Kindheit hatte David häufig mit baumelnden Beinen darauf gesessen, aus dem Fenster in den Hafen von Fraserburgh gesehen und geträumt. Er träumte damals viel und erlebte dabei unzählige Abenteuer. Nie zuvor hatte Eileen die Schatzkiste geöffnet. Be rührt zog sie ein Stück nach dem anderen heraus: den Ausriß einer Illustriertenseite mit einer zeitgenössischen Darstellung des jungen Dichters Burns; ein Heringsmes ser, wie es früher die Filettiererinnen an der Küste be nutzten; einen kleinen Stein von Bannockburn, wo die Schotten ihren einzigen großen Sieg über die Engländer erkämpften; ein in fleckiges Butterbrotpapier eingeschla genes Bilderbuch mit gälischen Sagengestalten, die er mit ungelenken Tuschestrichen ausgemalt hatte; eine An sichtskarte des Holyrood-Palace in Edinburgh mit lie ben Grüßen von seiner Mutter; Schrauben, Muscheln, Bänder, Moosflocken, einen Reißverschluß. Hochkant an der Seite steckten Davids Diplome. Greif und Einhorn waren im Wappen auf dem Kopf zueinander gewandt. Darunter stand: »Coram Deo La boramus« - im Angesicht Gottes arbeiten wir. Sie las es, warf die Diplome zurück und klappte die Kiste für immer zu. 179
Nachts spürte sie manchmal, wie Davids narbenrau he und immer noch schwärende Hand sich nach ihr ausstreckte. Eileen tastete über seine zerschundenen Schultern und Beine, über die schorfige Stirn und die rissigen Lippen und wendete sich plötzlich weinend zur Seite, weil die Bilder seiner Verzweiflung sie wieder überfielen. Aber nie hörte Eileen ihn schreien. Er quälte sich lautlos durch den verrauchten und glü henden Sumpf aus Eisen. Die Schwaden rissen für einen Moment etwas auf, und David erkannte, daß er sich unter einer losgerisse nen Laufbrücke befand. Er sprang hoch, klammerte sich ans schartige Bruchstück des Geländers und zog sich hinauf. Aus seiner Hand strömte Blut. Ihm war speiübel, und seine Augen sahen nicht mehr. Er torkelte gegen eine Wand. Benommen drehte er sich ein paarmal um die eigene Achse und stellte fest, daß die Wand einen Griff hatte. Vorsichtig, als könne ihm dahinter noch weitaus Schlimmeres begegnen, drückte er ihn und öffnete die Tür einer Teebude. Alle sind weg, aber hier bin ich erst mal sicher, dach te er. »Schließ die Tür«, rief ihm ein Mann zu.
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Eine kleinere Explosion puffte nahe der Teebude auf. Von Flammen verfolgt, platzte ein wuchtiger Schatten durch die Tür, die sofort wieder zufiel. Im Schein seiner Taschenlampe wischte der Toolpusher Terrence Ogilvie sich das klebrige Gemisch aus Ruß und Schweiß vom Gesicht und stöhnte. Sein Blick blieb an der Silberkette seines erhobenen Arms hängen. Er nahm ihn sofort herunter, band den Talisman ab und steckte ihn in die Tasche. Darauf preß te er ein Tuch. Dann packte er die Schnalle mit den Stierhörnern und schob den Gürtel über seinen Bauch. Wieder stöhnte er. »Wir müssen hier so schnell wie möglich wieder raus«, sagte Terrence zu dem Dutzend Männern und wartete nicht auf die Antwort. Er öffnete die Tür einen Spalt breit. »Geht noch nicht«, stellte er fest, »aber gleich.« Terrence brummelte etwas über einen kleine ren Tank, der hochgegangen sei. »Tür zu!« rief wieder der Mann aus der Ecke, diesmal gereizt. »Spiel dich nicht auf«, sagte Terrence ruhig. Er hatte es noch nie leiden können, wenn ihm jemand vorschreiben wollte, was er zu tun und zu lassen habe. Um die Stim mung nicht weiter anzuheizen, schloß er die Tür. In der Teebude war Stille. Nur von draußen hörten die Männer gedämpft das Rauschen des Feuers und das Grollen der Destruktion. David Ferguson saß ver krümmt auf dem Boden und versuchte, etwas zu sagen.
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Er kämpfte gegen Ohnmachtsanfälle, und immer wieder sackte sein Kopf vornüber. Schließlich hielt er ihn wackelnd aufrecht. »Hast du mir vorhin die Lampe und die Schwimmweste gegeben?« fragte er Terrence, Er hatte Statur und Stimme des Mannes, der David im Wohntrakt geholfen hatte und dann plötzlich verschwunden war. Terrence Ogilvie antwortete nicht. Er blickte kurz hinaus und schlug die Tür wieder zu. Bis auf Terrence hockten oder saßen die Männer auf dem scherbenbedeckten Boden dicht zusammen, jeder für sich allein und gefangen in seinen Gedanken. Plötz lich flüsterte ein Mechaniker neben David: »Ich will meine Kinder wiedersehen.« Seine Frau erwähnte er nicht. Und dann fragte er mehr sich selbst aber laut in den Raum: »Und was kommt danach?« Ein Mann, der gerade das Bein strecken wollte, ver harrte. Andere hörten auf, sich zu räuspern. Sie atme ten nur noch flach, was nur noch lauter schien. Das Wummern draußen war wie verebbt. »Nichts, absolut nichts«, rief plötzlich der in der Ecke. Seine Stimme klang brüchig. Terrence senkte den Schein der Lampe zum Boden. »Ein anderes Leben«, sagte er wie selbstverständlich. Der Mechaniker drehte erstaunt den Kopf. Aus der Ecke kam ein Auflachen. Es schwankte zwischen Hohn und Zweifel. Wieder brüteten die Männer vor sich hin. »Und ich hab' Karten in der Tasche für das Heimspiel Rangers gegen Manchester United am Freitag. Was mach' ich jetzt damit?« dachte einer laut. »Da gehst du hin«, rief Terrence, der wieder hinaus lugte, »los jetzt, der Tankbrand hat sich etwas gelegt.« »Hier sind wir erst mal sicher«, sagte der Mann mit den Fußballkarten. 182
David wollte sich aufrichten, rutschte aber wieder zu rück. Terrence peilte um die Ecke. »Zur Ostseite des Rohr decks schafft man es und dann - runter ins Wasser.« Niemand stand auf. Nur Davids Oberkörper schwankte. »Verdammt, Tür zu«, rief der in der Ecke. Terrence sprang hinaus. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er hätte sich längst retten können und hatte sogar mehrmals Männern zur Flucht verholfen. Das bestätig ten später mehrere Zeugen, als der ehrenwerte Lord Mor ten versuchte, für Terrence Ogilvies mysteriöses Verhal ten eine rationale Deutung zu finden. Denn ihm er schien Terrence der einzige unter den 226 Männern, der einen Exodus von der Kilt Delta hätte leiten können. Noch vor der letzten großen Explosion hatte der Driller Peter Napier mit mehreren Männern der Bohr crew im Hinterausgang gewartet und sich nicht über das verrauchte Rohrdeck getraut. Plötzlich stand Ter rence, sein Meister, neben ihm und sagte: »Es geht.« Peter Napier schüttelte den Kopf, erklärte, daß der Rauch zu undurchdringlich sei und sie sich auf dem kurzen Stück Deck verirren würden. Ihm fiel zu seiner Verwunderung auf, daß Terrence keine Spur der frühe ren Angst und Übervorsicht zeigte. »Ich lauf vor«, instruierte Terrence, »immer an der weißen Stange entlang.« Sie lag am Rand der geländer losen Laufbrücke. Peter Napier hatte das Gefühl, daß Terrence ihnen so beiläufig helfe, wie man jemanden über die Straße führt. Angesicht der gefährlichen Situation erschien dem Driller dieses Verhalten dermaßen rätselhaft, daß er jede weiteren Überlegung abbrach. 183
Terrence holte tief Luft und setzte seinen massigen Körper in Bewegung. Als die fünf Männer der Gruppe auf dem Bohrflur angelangt waren, verschwand er wie der im Rauch des Rohrdecks. Kurz darauf traf ein Schlosser im Korridor beim Hin terausgang auf Terrence Ogilvie. Der Schlosser rannte und versuchte währenddessen, seinen Überlebensanzug über die Schultern zu ziehen. Es gelang ihm nicht und er blieb stehen. Das sperrige Gummimaterial wollte nicht hochrutschen. Terrence Ogilvie sah ihm einen Moment zu, dann packte er den Kragen des Anzugs und zog ihn über die Schultern des Schlossers. »Es war alles so, als käme ich von einer Kaffeepause und müsse wieder die Schicht fortsetzen. Seine Art der Hilfe entspannte mich völlig«, erklärte später der Schlosser. Auf Terrence traf dann der Elektriker Hugh McLean, der nach seiner Befreiung aus der Schalterkammer mit seinem Kammergenossen Ken beim Hinterausgang ei nen günstigen Moment abwartete, um dann das Rohr deck zu passieren. Er beobachtete, wie Terrence am Rande eines Schlunds den Overall aufknöpfte und seinen Strahl in das weiß orange Gebrodel darunter lenkte. Er tat es ohne jede Hast, so als pinkelte er in einen Teich. Hinterher ver schloß er wieder sorgsam seinen Anzug und zog seinen Gürtel an der Stierhornschnalle über den Bauch. Warum ist er so verrückt, dachte Hugh erst und dann, er hat seine Würde nicht verloren, anders als wir. Während der Untersuchung sagte Hugh aus: »Terren ce verhielt sich, als sei alles um ihn herum völlig nor mal. Also muß er sich jenseits der Realität bewegt ha ben. Während wir uns in den Resten des Sicherheits 184
netzes verheddert hatten, war er offensichtlich frei davon und zum Überleben bestimmt.« Dem ehrenwerten Lord Morten erschien das Rätsel unlösbarer als jemals zuvor. Wie viele Richter hatte er als Ausgleich zum täglichen Umgang mit der gestelzten Juristensprache einen Hang zur Poesie und verzehrte sich in Gedichten vom Stile Byrons und auch Shelleys. Burns war ihm etwas zu ordinär. »Folgt den Träumen«, trug er in die Notizen mit sei ner geraden hohen Schrift ein. Und darunter: »Aber nach dem Untergang gibt es keine Träume mehr.« Das Puzzle der Aussagen verschleierte Terrence Ogil vies Wege mehr als sie zu offenbaren. Später lief Terren ce durch den Wohntrakt, jedoch für andere Männer ohne erkennbares Ziel. Das verführte den ehrenwerten Lord Morten zu der Randnotiz: »Er vagabundierte.« Doch der Gerüstsetzer James McGregor erzählte: »Er tauchte wie ein Geist hier und da auf.« Auf der Suche nach einem Fluchtweg aus dem Wohntrakt traf er mindestens zehnmal in verschiede nen Stockwerken auf Terrence Ogilvie. James McGre gor machte das wahnsinnig. Er glaubte zunächst, stän dig im Kreis gerannt zu sein, was jedoch gegen alle an deren Tatsachen sprach. Dann war er überzeugt, daß Terrence Ogilvie ihn verfolgte, obwohl er meist von vorn kam oder wartete. Der Gerüstsetzer schrie ihn an: »Was willst du von mir?« »Ich kenne dich überhaupt nicht«, antwortete Ter rence Ogilvie erstaunt. »Wenn er mir nicht folgte, heißt das ja, daß er gleich zeitig an mehreren Orten war«, sagte James McGregor dann aus. Als der Kranführer Francis Connelly und sein Kum pel Sam aus dem für unpassierbar gehaltenen Heli-Aus 185
gang der Rezeption ins Freie gesprungen waren, dann aber einen Stock tiefer auf einem Außengang nicht mehr weiter wußten, sahen sie ein paar Meter entfernt von sich eine Gestalt vorüberwischen. Sie sprang über das Gelän der auf ein Gerüst und kletterte darauf zum Rohrdeck. Aus Statur, weißem Helm und dunklem Overall schloß Francis Connelly, daß es nur Terrence Ogilvie sein konnte und setzte ihm nach. Sein Kumpel blieb zurück. »Die geisterhafte Erscheinung wies mir den Weg«, er zählte er später bei der Untersuchung. Manche Arbeiter sprachen davon, daß Terrence sich mit vollkommener Sicherheit bewegt und ihn eine Au ra der Unverletzlichkeit umgeben habe. Etliche Zeugen sagten, von ihm sei eine Art Strahlen ausgegangen. An dere wiederum bezeichneten es mehr als Schein. Der ehrenwerte Lord Morten führte das jedoch auf Reflexionen der Flammen und den überreizten Ner venzustand der Männer zurück. In seinen Notizen ver merkte er aber dick umrahmt: »Der Mensch ist Geist.« Und darunter: »Kann die Transformation schon vor dem Tod eintreten?« Und noch weiter darunter, sehr hoffnungslos: »Was ist dann der Tod?« Nach den Zeitberechnungen sah der Sicherheitsoffi zier Andrew Watt als letzter im Bohrbüro beim Hin terausgang Terrence Ogilvie, kurz nachdem er aus der Teebude gesprungen war. Terrence stand vor dem Fenster und blickte hinaus auf das eruptierende Rohrdeck. »Komm, Terrence!« rief der Sicherheitsoffizier vom Korridor ins Büro und bekam dann eine unverständ lich gemurmelte Antwort. Im Weiterlaufen hörte ihn klarer sprechen. »Ich bin es müde«, sagte Terrence zuletzt.
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Aus Angst vor dem Wasser wollte er durchs Feuer laufen. Seine Augenbrauen waren runtergeschmor te Stoppeln. Die Hitze hatte das scharlachrote Gesicht zu einer schiefen Fratze verzogen. Der Malervormann Edmond Roarty kauerte mit seinem Kammergenossen Stuart an der Reling der Plattform. Ihre Zuflucht war ein kurzer Gang zwischen zwei senkrechten Stahlplat ten, gegen die von beiden Seiten die Flammen in Schü ben anstürmten. Er mied den Anblick der See. Unverwandt starrte Edmond durch den Gang ins Deck. Dorthin wollte er entwischen und dann über die Streben des Fundaments in die Nähe des Wassers klettern. Er kniff seine Wiesel augen zusammen und sang aus: »Jetzt geht's... jetzt nicht... jetzt wieder...« »Mann, bist du verrückt?« herrschte Stuart ihn an, »da kommen wir niemals durch. Brennt doch alles.« Er stöberte in einer großen Werkzeugkiste. »Das ist unsere Rettung«, sagte er und hielt eine Leine hoch. Während Stuart sie in die Reling einknotete, dachte Edmond an den Bach seines Traums. Er sprudelte über Kiesel mit Algenbärten und war sehr heiter. Edmond preßte die Handflächen aneinander. Dann ließ er sie hängen. Vor seinen Füßen ruckelte die Leine. »Jetzt könnten wir nach hinten raus«, rief er schnell. »Unsinn«, schnauzte Stuart. »Wir brauchen nur um die Ecke zu laufen...« »Uns schnappen die Flammen!«
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»Wir rennen dran vorbei.« »Fertig«, sagte Stuart und prüfte den Knoten. Geschlagen wandte sich Edmond um zur Reling. Rechts schwamm die Feuerwehrplattform »Danaos«. Sie zog sich unmerklich zurück, aber ihre Löschkano nen besprühten noch die Kilt Delta. Vor Edmond lag eine indigoblaue, fast spiegelglatte See. Ihm schauderte. »Wir warten, bis ein Boot vorbeikommt.« Seine Wor te waren wie abgehackt. »Wenn wir unten sind, wird eins kommen.« Stuart wunderte sich über die eigene Geduld. Er glaubte, die panische Angst seines Kumpels sogar riechen zu kön nen. Edmond Roarty kam auf die Idee, sich im Wasser weiterhin an der Leine festzuhalten. »Oh, nein«, stammelte Edmond, als er über die Re ling gebeugt nach unten sah. Die über 40 Meter Tiefe bis zur See erschreckten ihn nicht. Aber das Tau endete in der Luft. Der Tampen pendelte zwei Körperlängen über der leicht gekräuselten Fläche. »Unmöglich«, sag te er und wich zurück. »Du Kindskopf«, heulte Stuart auf, dem der Gedulds faden riß, »dann geh' ich allein.« »Ja, kletter' du vor«, sagte Edmond schnell, »ich komm' nach.« Die Metallplatten seiner Zuflucht glühten bereits in der Mitte. Aber Edmond sah nur Stuart nach, der das Leinenende erreicht hatte und sich ins Wasser fallen ließ. Edmond wandte sich von der Reling ab und schlinger te wie ein gelöster Reifen. Dann suchte seine Hand den Knoten. Er schloß für einen kurzen Moment die Augen und stieg ab. Edmond glitt sehr langsam, sah nichts, hör te nichts. Im Geist versuchte er, die Lücke zwischen dem Tampen und dem Wasser zu überbrücken. 188
Abgerissene Streben sausten an ihm vorüber. Er sah nur die Lücke. Dann traf ihn der Löschstrahl der »Danaos«. Das Wasser rauschte auf ihn nieder und schwang ihn weit ausholend hin und her. Er dachte: Jetzt ertrinke ich auch noch in der Luft. Am Ende der Leine umschlossen seine Finger fest die Kardeele. Er hielt still. Das Tau drehte ihn im Kreis. Mal sah er die »Danaos«, mal die brennende See unter der Ölinsel, mal Stuart, der ihm zufuchtelte, damit er endlich springe. Edmond wollte sich so lange festklammern, bis ein Boot unter ihm lag. Mit ausholenden Stößen schwamm Stuart zurück, winkte und schrie. Ein glühender Träger schoß auf ihn zu. Stuart paddelte hin und her. Die Schwimmweste und der Überlebensanzug hinderten ihn wegzutau chen. Zischend schlug das Rohr nur eine Armeslänge von ihm entfernt ins Wasser. Dann konnte Edmond sich nicht mehr halten. Er stürzte in die See. Noch lange danach sah er immer wieder das Bild, wie seine Finger erst langsam, dann immer schneller am Tau entlangglitten. Er sah jedes Kardeel, ja jedes Ka belgarn der Leine mit außerordentlicher Schärfe und spürte schon das Wasser auf seiner Haut hochsteigen, bevor er es erreichte. Dann tauchte er wirklich ein und wunderte sich über die lauten Geräusche, die nicht über die Ohren, son dern an den Schläfen in seinen Kopf drangen. Er dach te, daß lange Fäden ihn nach unten ziehen würden. Doch plötzlich durchbrach er prustend die Oberfläche und hatte Stuarts knotiges, rotes Gesicht direkt vor sich. 189
Wenn ihn diese Wasserbilder überfielen, klammerte er sich meist an den Sessellehnen fest. Schnell entspann ten sich seine Hände wieder. Einmal danach sagte Ed mond zu seiner Frau Lizzy: »Die See ist grausam, aber am Ende des Tages ist sie der beste Ort.« Daß er nach Haus zurückgekehrt war, hielt Edmond Roarty für ein Wunder. Viele kraftvolle und erfahrene Männer hatten nicht einmal einen Fluchtversuch un ternommen, während er und andere, denen Edmond weitaus weniger Uberlebenschancen eingeräumt hätte, dem Desaster entkommen waren. Manchmal saß er stundenlang im Ledersessel mit den Füßen auf der grünen Marmoreinfassung des Kamins und dachte über diesen Widersinn nach. Wenn die Dämmerung kam und er schon aus der Küche das Kla bastern seiner Frau beim Zubereiten des Abendessens hörte, quälte ihn, daß er statt der vielen anderen lebte. Und er lauerte darauf, daß seine Frau ihn zu Tisch rief und erlöste. An einem solcher Grübelnachmittage erinnerte er sich, daß ihm der längst verstorbene, kinderlose Pastor Duncan einige Gegenstände vermacht hatte. Edmond erschien es wie ein Fingerzeig des Himmels. Pastor Duncans Erbe lag in 47 verschnürten Kartons auf dem Dachboden von Edmonds schon sehr tattrigen Eltern. Die Beute der Sammelwut war nach dem Able ben des Pastors dorthin geschafft worden, während Ed mond gerade auf einer Bohrinsel arbeitete. Er hatte in der Zwischenzeit nie die Muße gehabt, sich darum zu kümmern. Zum ersten Mal sah Edmond jetzt sein Erbe, das sich wie ein düsterer Berg zwischen den Dachschrägen un ter staubigen Baldachinen von Spinnennetzen auftürm te. Erschreckt wollte er sofort den Boden verlassen. 190
Doch seine Neugier und ein unbestimmtes Gefühl der Spannung, das er später ironisch »Forscher-Zerren« nannte, hielten ihn. Einen Karton nach dem anderen öffnete er und stöberte beim funzeligen Schein der Bo denlampe in Büchern, Aufzeichnungen, Steinen und Artefakten herum. Um Mitternacht kramte er das Modell des Eskimo schlittens heraus. Edmond hielt ihn vorsichtig gegen das Licht, war berührt und sah in seiner Vorstellung Pa stor Duncan, der donnerte: »Paßt euch nicht an, anders wäre es euer Untergang.« »Was willst du mit dem Plünnenkram und Gammel?« fragte seine ansonsten verständnisvolle Frau Lizzy am nächsten Morgen, als er sich zeitig zum Boden auf machte. Seine Wieselaugen blinzelten sie an. Er suchte die Zeichnungen der seltsamen Tiere, die es ihm in der Jugend so angetan hatten. Im untersten Kar ton fand er sie schließlich, verpackt in einer vergilbten Ausgabe des Scottsmann. Mit einem Schauer rollte er sie aus. Die mit dünnem Strich dargestellten Tiere waren wie Produkte der Utopie und manchmal so, als habe sie ein Alptraum gezeugt. Eines sah aus wie ein dicker geriffelter Lappen mit ei nem gebogenen Kamm als Maul und nannte sich Odontogriphus. Ein anderes hatte die Form einer Blu me mit zwanzig Blütenblättern am Rand und einem knolligen Stielende und hieß Dinomischus. Und die Aysheaia war wie ein geringelter Schlauch mit zwanzig kurzen Elefantenbeinen und einem Kopf, in dem klei ne Pfähle steckten. Lebende Lustkähne mit neun gepolsterten Stuhlrei hen, zwei großen, runden beweglichen Lampen und ei nem astähnlichen Ruder schwebten als Sarotrocercus 191
durchs Wasser, und auf dem Meeresboden krochen Wi waxias, mit Kiwifedern besetzte Helme, aus denen Schilfblätter sprossen. Ausgeburten der Phantasie, dachte Edmond verzau bert von diesen Wesen, schon wegen ihrer unaussprech lichen Namen und bizarren Formen. Aber er war unsicher. Von seinem Forscher-Zerren mitgerissen, grub Edmond sich dann durch den Nach laß, legte Aufsätze, Bücher und Handschriften frei und schälte nach und nach heraus, was es mit diesen Wesen auf sich hatte. Durch das Giebelfenster fielen sechs staubflirrende Lichtbalken auf ihn. Edmond saß zwischen aufgerisse nen Kartons, Bücherstapeln, Hopi-Krügen, Wal-Barten und Ashanti-Speeren. In den Zeiten verloren, hielt er eine der Zeichnungen in den Händen und konnte nicht den Blick davon wenden. Auf dem Papier schlängelte sich eine durchsichtige Quappe, deren Kopf mehr wie der Schwanz wirkte und die Pikaia hieß. Sie war mickrig, unscheinbar, ja langweilig. Deshalb hatte Edmond sie sogar lange Zeit übersehen. Diese nichtssagend erscheinende Pikaia hatte im Kam brischen Zeitalter vor über 500 Millionen Jahren mit all den anderen Fabeltieren die riesigen Ozeane der Erde be völkert, aber eher ein Schattendasein zwischen ihnen ge führt. Und nur vier von diesen zig phantastischen Wesen setzten sich in unseren heutigen Tierstämmen fort auch die wie ein schlaffer Plastikschlauch aussehende und recht eigenschaftslose Pikaia, auf deren Überleben Edmond nicht einmal einen Pence gesetzt hätte. Gebeugt saß er dort auf dem Boden, bis das schwach hereindringende letzte Sonnenlicht kaum noch etwas auf der Zeichnung erkennen ließ. Manchmal schüttelte 192
er leicht den Kopf. Wieder und wieder fuhr er mit dem Finger über die Mitte dieser Quappe, wo sich als feiner Faden die Andeutung einer Wirbelsäule entlangzog sie war der Urahne der Menschen. Als Edmond mit den Aufräumarbeiten des Dachbo dens begann, fand er das letzte Notizbuch von Pastor Duncan. Mit stockendem Atem schlug Edmond es auf. Er hatte Schwierigkeiten, die Schrift zu entziffern. Schon sehr krakelig und zittrig stand dort: »Die Vorzü ge eines Wesens während normaler Zeiten können in Krisen zum tödlichen Nachteil umschlagen.« Edmond dachte an den Ex-Seemann und Mechaniker Bobby, der in sich ruhend die kompliziertesten Arbei ten gelöst und mit derselben Ausgeglichenheit den Männern in der Kantine die Angst genommen hatte und schließlich mit ihnen dort umgekommen war. Dann fand Edmond eine Bemerkung des Pastors über den von ihm sonst sehr geschätzten Darwin. Der Schwung des Zorns hatte die Hand geführt: »Erst die Geschichte scheidet Tüchtige in Untüchtige, also ist Darwins Idee der Vorhersagbarkeit der Überlebensge winner ausgesprochener Mist!« Und darunter noch einmal sehr groß: »Mist!« Genau, dachte Edmond. Die letzte schriftliche Äußerung, auch mit Schwung, war sehr zuversichtlich, fast jubelnd: »Aber die Wege Gottes sind wunderbar.« Edmond lächelte, und in seiner Vorstellung sah er Pa stor Duncan mit seiner kahlen Schädelplatte, die nicht mehr rasiert werden mußte, und mit tief in den Höh len liegenden Augen, die aber immer noch glommen. »Die Mickermänner sind die Sieger«, wurde dann Ed monds geflügelter Ausspruch, den er meist mit humo rigem Blick vortrug. Doch er meinte ihn ernst und ver riet damit auch ein gewisses inneres Nagen, weil er sich 193
selbst dazuzählte und weil man lieber kraftvollen Ge schöpfen zuklatscht als blutleeren, und weil es schlimm ist, wenn die Ideale stürzen. Die Zeichnungen wurden in seiner Wohnstube aufge hängt. Zum Leidwesen seiner Frau stellte Edmond so gar einige Bilder auf den Teppichboden neben die Hei zung. Steine, Artefakte, Muscheln, den Eskimoschlit ten und Notizbücher des Pastors legte er auf das Mahagyoni-Vertiko und auf die Fensterbänke. Der WalBarten kam über den Kamin. Umgeben von einer scharfen Auswahl seines Erbes saß Edmond häufig und lange auf seinem Ledersessel und gab sich der Kontemplation hin. Er las in den Bü chern - 536 an der Zahl. Meist aber driftete er mit seinen Gedanken durch Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen. Das Rau schen der Vergänglichkeit verebbte. Und er schwebte in zeit- und grenzenlosen Räumen. Wurde Edmond von Bekannten nach seinem Tun ge fragt, antwortete er meist: »Ich führe ein anderes Le ben.« Manchmal auch: »Ich lebe in einer anderen Welt.« Sie glaubten, er wiche aus. Allerdings hatte Edmond zunächst daran gedacht, sich zum Elektroinstallateur umschulen zu lassen. Da aber die Ölgesellschaft und die Versicherungen nach zahlreichen Klagen ihm wie auch den anderen Überle benden eine Abfindung zahlen mußten und sie als mo natliche Rente überwiesen, gab es keinen Grund, sich anstellen zu lassen. Er nahm das Ehrenamt eines Wildhüters an und durchstreifte als Ausgleich zur Stubenhockerei mit sei nem Terrier Charly die Mischwälder in der Umgebung von Cairnie und erfreute sich an den geringfügigsten Seltsamkeiten der Natur. 194
Niemals wieder erfand er Schauermärchen über Bohrinseln. Doch seinen Enkelkindern erzählte er im mer neue Schöpfungsgeschichten, in denen Hallucige nia heißende Wesen aus der Ursuppe des kambrischen Meeres aufs Land stiegen und es bevölkerten. Sie hatten einen langen rohrförmigen Körper, einen kahlen Kopf mit hoher Stirn und sieben samtweiche Rüssel auf dem Rücken. Sie gingen mit sieben Paar stel zenartigen Beinen, die etwa so hoch wie die Bäume wa ren, von denen sie grasten. Und ähnlich wie Blatt schneiderameisen spuckten sie das zerkaute Grün aus und düngten damit riesige Pilzplantagen. Sie lebten in wabenförmigen Wohnungen, die zu eiffelturmhohen Gebäuden zusammengesetzt waren. Und ihre Sprache klang ähnlich wie das Zwitschern der Drosseln. Men schen gab es auf der Erde nicht. Nur ein einziges Mal erzählte er seinen Enkelkin dern über die Flucht von der Ölinsel. Er hatte Ge burtstag, und sie saßen auf dem moosgrünen Teppich boden um ihn geschart. Edmond schilderte, wie er mit den anderen in der verrauchten Rezeption wartete, dann aber rauslief. Er sagte: »Ich war immer etwas ein Rebell.« Doch er beschönigte nichts und stand ebenso wie die Kinder vor dem Rätsel seiner Taten und Wege. Sie gingen mit ihm durchs Inferno, weil das Wasser noch furchtbarer war. Sie klapperten über Stiegen, schlidderten über Decks, fegten über Laufbrücken. Und irgendwann war es keine Geschichte mehr. Er hastete wieder mit Stuart durch die Kilt Delta. Lang sam kam das Grauen von den Zehen hoch bis zum Hals. Er klammerte sich an die Lehnen des Sessels. Die Kinder blieben zurück, und er stürzte in die See. In Augenhöhe erstreckte sich das Wasser endlos weit 195
vor ihm, und nur das knorrige, rote Gesicht von Stuart schwamm darin. Plötzlich war es weg. Edmond platschte aufgeregt mit den Händen aufs Wasser. Er zappelte wie ein Fisch an Land und dachte, jetzt saufe ich endgültig ab. In dem Moment packte ihn etwas am Kragen seines Überlebensanzugs. Er strampelte, um sich loszureißen. Aber der Griff ließ nicht los. »Mal ganz ruhig«, hörte Edmond eine Stimme über sich und wurde ins Motorboot gezogen.
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Die Christmas-trees brannten. An den Stämmen der Hauptventile und davon abzweigenden Roh ren, an schräg herausragenden Hähnen und den Ver dickungen der Flansche flackerte es geräuschlos blau, grün und gelb auf. Das Metall glühte manchmal schon weiß, schmolz dann wie Kerzenwachs, tropfte auf die Flurplatten und stob in Lichtpunkten wieder hoch. Hugh McLean glaubte, er sei in einem surrealisti schen Gemälde. Nicht beachten, dachte er. Sein Blick war starr nach vorn auf die flitzenden Beine seines Kammergenossen Ken gerichtet. Das Produktionsdeck mit den Christmas-trees hatte Hugh schon in Normal betrieb immer nur mit mulmigem Gefühl betreten. Doch hinter dem brennenden technischen Wald war eine Treppe, die zur nächsttieferen Ebene und dann zum Wasser führte. Hugh war es gewohnt, mit seiner leisen aber ein dringlichen Stimme unter Kollegen den Ton anzuge ben. Und Ken hatte sich immer zurück und im zweiten Glied gehalten. Aber nach dem fast tödlichen Unter nehmen im Bohrturm hatte Ken sein Phlegma abge worfen und war wortkarg und spröde wie immer losge fegt. Er führte nicht. Er lief einfach voran und Hugh wohl oder übel hinterher. Quer über ihren Pfad schlängelten sich zahlreiche Leitungen. Hinter einer blieb Hughs Fuß hängen. Er taumelte, rannte vornübergebeugt an Ken vorbei, um wieder die Balance zu gewinnen, stolperte noch einmal,
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stürzte auf die glitschigen Flurplatten und schlidderte zu einer offenen Luke im Deck. Darunter waren Flammen. Ein Rohr am Boden hielt ihn auf. Er rappelte sich hoch, und seine Reiselektüre Candide rutschte aus der Tasche. Beim Versuch, das Buch aufzufangen, stieß Hugh es in das Loch. Aufflackernd versank es im zi schenden Gebrodel. Zwischen den Seiten eingeklemmt lag ein langer Brief an die Frau auf der grünen Insel. Hugh hatte nie an Omen geglaubt. Aber diesmal dachte er: ein böses Zeichen. Schwarzer Schleim rann über sein Kinn. Hugh huste te, bis ihm die Lungenflügel schmerzten. Auch Ken keuchte, und aus seiner Nase lief Blut. Er zeigte auf die offene Luke im Boden und rief: »Sieht unter uns nicht gut aus.« »Aber die Treppe ist weiter längs«, sagte Hugh. Ken antwortete nichts. Seit er Hughs schnellzüngig vorgetragene Argumente überhörte und ihm nicht mehr von einer gefährlichen Situation in die nächste folgte, hatte sich die steile Falte zwischen seinen Brauen geglättet. Jetzt schob sie sich wieder scharf über dem Nasenansatz zusammen. Ken öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann aber wandte er sich ab und wetz te los - zurück zur westlichen Ecke der Plattform. Wieder folgte ihm Hugh und murrte innerlich dar über. Aber er wollte nicht allein bleiben. Das Produktionsdeck war ringsum mit Blechplatten verkleidet. Vor der kleinen Außenpforte beim Träger des Fackelauslegers drängte sich eine Gruppe von Män nern. Einige warfen ihre sperrigen Rettungswesten ab, um dann durch die schmale Öffnung zu kriechen und über die Streben ins Deck darunter zu klettern. Auch Ken ließ das ungetüme Schwimmpolster auf 198
den Boden fallen. Hugh riß seines zwar herunter, zog es aber hinter sich her und kroch als letzter durch die Luke. Als er ins Deck darunter blicken konnte, griff er zum Stahlträger über sich und schrie: »Halt, halt, da hinten brennt alles!« Ken stockte, winkte dann verärgert ab und rutschte weiter auf der Strebe den anderen Männern nach. Sie nahmen den kürzesten Weg zum Wasser. Als einziger blieb Hugh zurück. Seine Füße glitten etwas abwärts, aber seine Hände hielten ihn nach oben fest. Dann entschied er gegen die Einflüsterungen der Vernunft und gab zum ersten Mal dem Drängen eines Impulses nach. Er kletterte zurück aufs Produktions deck. Ein Fehler, ein Fehler, rief es in Hugh, als er jetzt al lein zur Pforte an der anderen Ecke beim östlichen Fackelausleger rannte. Da er nicht mehr Kens Schnau fen und seine Tritte auf den Flurplatten hörte, kamen ihm die eigenen um so lauter vor. Die Pforte fiel hinter ihm ins Schloß. Das leise Klacken hatte eine solche Endgültigkeit, als seien alle Türen hinter ihm zugeschlagen. Über ein Rohr kroch er ins Deck darunter und konnte an der anderen Ecke der Plattform den hochaufragenden Ken in der Gruppe erkennen. Hugh machte einen Schritt vorwärts in ihre Richtung und hielt inne. Tiefer im Deck brannte alles. Glühende Rohrleitun gen kühlten durch das Löschwasser der Feuerwehrplatt form »Danaos« plötzlich ab und zerplatzten. Ihn er schreckte der ungeheuere Lärm. Vornübergebeugt preßte Hugh sich an die Reling und stierte. Alles ist falsch, alles stimmt nicht, dachte er, irgend jemand muß den Gashahn zudrehen und alles ist okay. 199
Wieder wollten sich seine Beine zu den anderen Män nern bewegen. Ein vom Löschwasser abgeschreckter Kessel zerplatz te. Schmutzigrote Schwaden flogen auf die Gruppe zu und hüllten sie ein. Als sie sich verzogen hatten, war keiner der Männer mehr zu sehen. Hugh wollte schrei en, konnte aber nicht. Wegen der enormen Hitze riß er die Arme vors Gesicht und fröstelte zugleich. Mit zitternden Händen schwang er sich über die Re ling, griff nach irgend etwas, klammerte sich an einen Wasserschlauch, der am Eckpfeiler des Fundaments hing, und rutschte blind an ihm hinunter. Eine Kör perlänge über der See fand er auf dem breiten Wulst ei nes Fenders Halt. Jetzt schüttelte er sich wie bei einem Veitstanz und riß an seinen Fingern und schrie nie hervorgebrachte Laute. Seine Stimme ging im Lärmen des Zusammen bruchs unter. Irgendwann bemerkte er, daß die Wasserfläche zwi schen der Kilt Delta und der »Danaos« sich weitete. Be ständig wurde die Feuerwehrplattform an den Anker ketten weggehievt, und ihr Löschstrahl erreichte kaum noch die Ölinsel. In seiner Vorstellung lag die »Danaos« schon zurück auf ihrem ehemaligen Ankerplatz. Seltsam, dachte er, die Gefahr ist vorbei. Aber nach einer Weile rief er: »Warum, warum, war um?« Und er sah abwechselnd das durchscheinende Ge sicht von der Frau auf der grünen Insel und einen be sessenen Nebel, der Ken und die anderen Männer ver schlang. Ein Motorboot mit Geretteten flitzte zwischen den Streben hervor und drehte in Hughs Richtung ein. Er zählte die Männer an Bord - sechs. Es fuhr in einem 200
flachen Bogen und hatte bereits die Hälfte des Wegs ge schafft, als ein riesiges Deckteil sich von der Plattform löste. Flammensäulen breiteten sich zu allen Seiten aus. Hugh sprang hinter den Pfeiler in Deckung und sah noch, wie das Motorboot in einem blendenden Wirbel verschwand. Ohne zu überlegen, ließ er sich vom Fender ins Was ser kippen und paddelte auf dem Rücken wild um sich schlagend von der Kilt Delta fort. Doch wegen der hemmenden Rettungsweste kam er nur langsam voran. Plötzlich spürte Hugh, daß seine Finger glitschig wa ren. Er trieb in Öl. Seine Schwimmjacke war ölig, sein Bart und die Haare, auch das Gesicht, alles. Wieder blitzten Explosionen, und eine helle Spirale schraubte auf ihn zu. Hugh wollte wegtauchen. Die Schwimmweste und der Überlebensanzug hielten ihn oben. Er schlug hilflos auf das Wasser. Er drehte den Kopf. Hugh blickte weg, damit die Flammen ihn nicht mehr sehen konnten. In ihm wurde alles weiß, und er hörte ein Summen. Aber seine Arme ruderten unaufhörlich weiter - bis er plötzlich fühlte, daß seine Finger nicht mehr glit schig waren. Und erst da wandte er sich um und sah greifbar nahe, gegen die rote Bordwand eines Versor gungsschiffs. Ein Leinenende platschte neben ihm ins Wasser. Aber Hugh schaffte es nicht, sich hochzuziehen. Das Schiff schlingerte und dümpelte in der Dünung. Kraft los schlug Hughs Körper wieder und wieder gegen den stählernen Rumpf. Er dachte, jetzt bin ich so weit gekommen, um hier zu sterben. Da packte eine Hand sein Gelenk und zog ihn hinauf. 201
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Als er wieder zu sich kam, tastete sein Blick erst durch Finsternis, dann über schwach glänzende Rohre, Bohrköpfe und Wände und stockte schließlich am hellen Quadrat einer geöffneten Tür. Endlich wuß te der frischgebackene Superintendent Alex Shinwell, daß er im White House war. »Heh«, rief er krächzend und hörte als Antwort nur sehr schwach das Echo seiner eigenen Stimme. Dann tastete er über seinen Körper. Er streifte mit den Fingern am Hals entlang über den Kragen seines Polohemds, die bloßen Arme und den rauhen Stoff sei ner Jeans bis zu den Knöcheln. Dort verharrte er. Mit seinen Füßen stimmte irgend etwas nicht. Sein steifer Rücken hinderte ihn, sich weiter vorzubeugen. Er wollte die Füße heben. Sie bewegten sich nicht. Er zog mit den Händen an den Beinen. Sie bewegten sich nicht. Ihm wurde klar, daß sie eingeklemmt waren. »Oh, Gott« stöhnte er und wollte aufspringen. Ihm fiel rechtzeitig ein, daß er sofort hinstürzen würde. Er versuchte, die Zehen zu bewegen. Sie ließen sich ganz leicht krümmen, und Alex atmete einmal tief durch. Nochmal zog er an den Beinen, doch ohne Erfolg. Seine Hände tasteten über die Knöchel und dann über ein Rohr. Es war armdick, und er erreichte es nur mit den Fingerspitzen. Alex rutschte vor, zog dabei die Knie an und konnte das Rohr umfassen. Er drückte, aber es rührte sich nicht. Er versuchte, es etwas anzuheben, er ächzte, schrie »Scheiße«, ruckelte,
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würgte es ein paar Millimeter hoch, und plötzlich war es ganz leicht. Rumpelnd fiel das Rohr zur Seite. Seine Füße schmerzten, doch er konnte stehen. Er machte einen vorsichtigen Schritt und wollte über das Gestänge rausbalancieren. Ihm fehlte sein Handtuch, das er als Schutz gegen den Rauch um den Kopf ge schlungen hatte. Alex bückte sich und spähte im Halb dunkel umher. Nur zwei Schritte von den Rohren entfernt leuchtete ihm das Handtuch entgegen. Beruhigt griff er danach. Doch es war irgendwo verhakt. Alex beugte sich tiefer und hörte auf zu atmen. Eine Hand quetschte sich zwischen den Rohren her vor und hielt verkrampft das Tuch. Alex' Entsetzensschrei hallte durchs White House, während er weiter am anderen Zipfel zerrte. Noch viele Jahre danach wurde er vom Bild dieser Hand heimgesucht. Im Geiste sah er sie in allen Einzel heiten, mit ihren Falten und schwarzen Fingernägeln, der Schnittwunde beim Daumen und der dicken Brandblase an den Knöcheln. Die Hand war rund und fleischig, aber nicht sehr groß, und der kleine Finger bog sich seltsam ab. Wieder und wieder versuchte Alex, sich den dazuge hörigen Mann vorzustellen. Er mußte ein Arbeiter sein. Aber es war nicht die Hand eines Drillers oder Roughnecks, weil die wegen ihrer Handschuhe meist saubere Nägel hatten, auch nicht die eines Elektrikers, dafür hatte sie zuviele Risse, für einen Rigger war sie et was zu fein, und für einen Maler, der oft mit Lösungs mitteln arbeitet, nicht hell genug. Sie konnte eigentlich nur zu einem der Mechaniker gehören, einem von Alex' direkten Kollegen auf der Kilt Delta. Im Geiste ging er alle Gesichter durch, aber zu nie 203
manden wollte sich die Hand fügen. Sie blieb immer nur dort, wo er sie gesehen hatte: Verkrampft, ja ge ballt, hielt sie durch die Rohre hindurch sein Hand tuch. Die Vorstellung drückte ihn nieder. Und Alex rutsch te mit dem Hintern auf dem sandfarbenen Velours-Ses sel immer weiter vor, so daß er fast lag. Als endlosen inneren Refrain stellte er sich die Frage: Warum habe ich nicht wenigstens den Versuch unter nommen, ihn freizuwühlen? Weil mich die Angst um mein Leben nach draußen getrieben hatte, war jedesmal seine Antwort. Sie befriedigte ihn nicht. Nicht nur diesem einen Arbeiter galt die Scham über sein Versagen und die Schuld, die er sich nicht, nie mand ihm vergeben konnte, und die sich zwischen sei ne Gedanken schob. 137 Tote griffen nach ihm. Weil Alex als ihr direkter Vorgesetzter ihnen in der Rezeption nicht gesagt hatte, daß keine Helikopter kämen. Weil er ihnen schließlich nicht die Begründung für sein eigenes Fortstehlen als Anweisung zugerufen hatte: »Ab jetzt, jedermann für sich selbst!« Sie waren nicht Widergänger, keine Draculas mit si chelartigen Fingernägeln, nicht Vampire mit Blut in den Mundwinkeln. In seiner Imagination trugen sie Overalls oder Jeans und Polohemden wie damals. Alle standen vor ihm und alle stumm. Meist sah er nur ihre Augen. Sie waren eine einzige Anklage. Im Bad, in der Küche, auf der Straße, überall hielt er mit ihnen Zwiesprache. Da sie gezwungen waren, stumm zu lauschen, fragte oder antwortete Alex auch für sie. Dadurch hatte er einen Vorteil, doch nutzte ihn nicht aus. Aber er versuchte, von sich abzulenken. 204
Alex erzählte seiner Zuhörerschaft aus dem Schatten reich die Geschichte vom Wolf und den Kindern. »Der Wolf kommt, der Wolf kommt«, riefen die Erwachse nen eines Dorfs häufiger, wenn keiner in Sicht war, um die Kinder aus Spaß zu erschrecken. Eines Tages er schien aber wirklich der Wolf. Wieder riefen die Er wachsenen. Keines der Kinder lief weg. »So war das auch mit den häufigen Gasausbrüchen und dem Shut down-Button«, erklärte Alex seinen Zuhörern, »als es wirklich gefährlich war, hatte der Kontrollraum-Opera tor Gilbert ihn nicht gedrückt.« Meist trug er ihnen jedoch einfach die Ergebnisse der Untersuchung vor. Er wollte die Schuld der Ölgesell schaft gebührend darstellen, um seine im Vergleich zu mindern. Alex zählte ihnen die Verfehlungen auf: falsch angebrachte Rettungsboote, mangelhafte Sicher heitsübungen, ausgeschaltete Löschpumpen, defekte Sprinklersysteme und vieles mehr. Die Liste war sehr lang. Ein Schlendrian sondergleichen, der aber allen be kannt war. Auch sie hätten nichts dagegen unternom men, warf er seinen Zuhörern vor. Hilflos zappelte Alex auf seinem Stuhl. Er glaubte, daß er zu weit gegangen war, und daß sie sich augen blicklich rächen würden. Wie wußte er nicht genau. Aber er verband damit seinen Tod. Schnell versicherte Alex, daß der Lordrichter Morten niemals von einer Mitschuld der Arbeiter gesprochen und nur einen einzigen Kollegen gerügt, dagegen aber immer wieder die Ölgesellschaft und die Behörden ver urteilt habe. Um seine Zuhörer vollends zu beruhigen, sagte Alex schließlich: »Es passierte nur wegen Contis Profitsucht.« Er gab ihnen ein eigenes Erlebnis preis, das er bis da hin wohlweislich für sich behalten hatte. Es ging um 205
den defekten Schieber einer Gasleitung, den Alex über holen wollte. Der zuständige Superintendent hielt ihm vor, daß man für den zweistündigen Produktionsausfall während der Reparatur hundert solcher Schieber ein fliegen lassen könne, und sagte schließlich: »An dem Ding wird nichts gemacht.« Alex zählte die Gefahren auf, und der Superintendent bemerkte wie nebenbei, daß am Nachmittag der nächste Helikopter an Land fliege und er für ihn einen Platz reservieren könne. Alex sprach nicht mehr von Reparatur. Seine stummen Zuhörer besänftigten solche Ge schichten nicht. Trotz aller Mißstände hätte er das Heft in der Hand behalten und eine Rettungsaktion einlei ten können, sagten ihm ihre Blicke. Dann verstummte Alex, neigte den Kopf und versank in Scham. Er weinte viele innerliche Tränen, weil er so schändlich versagt hatte. Die in Pastell- und Erdtönen gestrichenen Wände sei nes Hauses beengten ihn. Er weißte sie. Ein haner Kü chenstuhl wurde der Platz seiner Gespräche. Auch er war weiß und hatte eine Sitzfläche aus Linoleum mit hasel- und walnußfarbenen Punkten. Früher einmal hatte Alex ihn gegen einen mit Kunstlederpolster aus tauschen wollen. Wenn seine Frau Susan, die als Sekretärin des Anzei genblatts »The Weekly Lowlander« arbeitete, morgens aus dem Haus ging, saß er dort. Und wenn sie zurück kam, immer noch. Meist stützte er den einen Ellenbo gen auf die marmorierte Tischfläche, und in der Hand fläche lag schief sein Kopf. Susan glaubte, er habe sich die ganze Zeit nicht gerührt. Sie wußte nichts von diesen Gesprächen und nahm an, daß Alex nur still vor sich hingrübelte. Und er mochte ihr nichts darüber erzählen, da sie ihm womög 206
lich hätte bestätigen können, was er schon längst be fürchtete - er werde langsam verrückt. Der entfernte Bekannte, zu dem sie ihn schließlich schickte, war ein netter aber gehetzter Autor von psy chologischen Ratgebern. Er saß auf einem antiken Bü rostuhl aus Eiche, schielte an einem großen Computer vorbei und nahm Alex' Schuldbekenntnis ab. Dann trug der Autor ihm alle Argumente vor, die Alex selbst schon gebracht hatte. Schließlich fügte der Mund ne ben dem Computer noch hinzu: »Es ist schön, ein Held zu sein. Aber Heldentum ist reiner Romantizis mus. Ich fürchte, Sie sind ein Schwärmer.« Er schob Alex wieder hinaus. Alex gab seinen Zuhörern aus dem Schattenreich die Worte des Autors wieder. Sie empfanden die Äußerung als blasphemisch. Schließlich wußte Alex selbst, daß es keines Helden, sondern einfach eines Mannes mit kla rem Kopf und lauter Stimme bedurft hätte. Da alle diese Gespräche stets fruchtlos endeten, be schloß Alex, durch Taten die Toten mit sich gut zu stel len. Er wurde Retter bei der Feuerwehr von Glasgow. Kollegen lobten ihn wegen seiner Kaltblütigkeit. Doch Alex kämpfte jedesmal mit der Angst - ob er nun einen Haus- oder Industriebrand bezwingen sollte. Wenn er Rauch oder Flammen nur von weitem sah, schmolz seine Einsatzbereitschaft zusammen. Er hätte sich am liebsten verkrümelt. Aber dann griff er wie be sinnunglos die Löschpritze und stellte sich nach vorn. Anfangs hatte er nur den Gedanken, seine Schuld ir gendwie wieder gut zu machen. Doch nach einer Weile war seine Sühne konkreter. Er wollte 137 Menschen retten, soviele wie die umgekommenen direkten Unter gebenen. Alex hatte keine Vorstellung, wie lange er da 207
für brauchen würde. Er hoffte, daß sein Leben dafür ausreicht. Seine kühnsten Erwartungen wurden schnell über troffen. Einmal befreite er auf einen Schlag 43 Arbeiter, die beim Großfeuer im Chemiewerk PPC in einer Werk halle eingeschlossen waren. Ein anderes Mal, bei einem Hochhausbrand, kämpfte er sich über das verrauchte Treppenhaus zu den Familien in den oberen Etagen durch und führte 62 Kinder, Frauen und Männer wohl behalten nach draußen. Der Bürgermeister von Glasgow zeichnete ihn bei Festakten im Rathaus mit zwei Tapferkeitsmedaillen aus. Sie landeten im Schuppen hinter dem Haus in einem verbeulten Blechkasten zwischen rostigen Nägeln, Schrauben, abgebrochenen Schlüsseln und sonstigem Krimskrams. Alex hatte sie nur angenommen, um kein Aufsehen zu erregen. Als seine Frau einmal den Schup pen ausmistete, gab sie nichtsahnend auch das Blech kästchen fort. Später lagen die Medaillen in der Auslage eines Ge brauchtwarenhändlers. »50 Pence das Stück. Die gehör ten dem legendären Alex Shinwell«, pries er Kunden die Medaillen an und glaubte, Alex sei schon längst un ter der Erde. Aber der trug noch seine Schuld ab. Penibel führte er Buch und hütete sich davor zu schummeln. Zweimal hatte er jedoch Gewissensbisse. Er rechnete einen Fah rer dazu, der von ihm aus seinem brennenden Taxi her ausgeschnitten wurde und dann im Hospital starb. Und bei einem Wohnhausfeuer rettete er einen Mann, der sich selbst hätte befreien können, aber auf dem Sofa wartete. Alex tippte auf Schock. Später jedoch kam ihm 208
der Gedanke, daß der Mann ein Lebensmüder war. Die Brandursache wurde niemals ermittelt. Alex ließ beide in seiner Bilanz, weil es schwer ist, sich von bereits verbuchten Haben-Posten wieder zu trennen. Am Vorabend zu seiner 137. Rettung fühlte er sich äußerst schlecht und dachte daran, sich für eine Woche krankzumelden. Aber er wollte seiner Pflicht nach kommen. Also stand er auf der Spitze der ausgefahrenen Feuer leiter, und ihm schwindelte so, daß er sich erbrach. Eine Frau sprang aus dem Fenster auf ihn zu und rutschte fast aus seinen Händen. Von unten sah es so aus, als würden beide miteinander ringen, und jeder rechnete damit, daß sie abstürzen würden. Aber Alex konnte mit einer Hand das Geländer packen und wun derte sich ganz kurz, daß es nicht heiß wie das Metall der Kilt Delta war. Während er noch mit der Geretteten nach unten kletterte, drängten sich ihm die stummen Gesichter auf. Zu Haus ergab er sich ihnen vollends. Seine Frau hielt seine Schweigsamkeit für wohlige Abgespanntheit nach einer guten Tat. Er hatte sich angewöhnt, bei sol chen Gelegenheiten sein Gesicht zu einem angedeute ten Lächeln zu verziehen. Aus den anklagenden Blicken las Alex eine Frage: Warum sie und nicht wir? Er kannte viele Antworten. Aber er sagte sie nicht. Weil die eine richtige nicht da bei war. Er entdeckte auch Zorn in ihren Augenwin keln und verstand: Sie waren so tot wie zuvor. Lange schwieg er und sah sie die ganze Zeit über an. Er wußte, daß es niemals eine Versöhnung geben könn te. Und daß er mit ihnen leben müsse, bis in alle Ewig keit. 209
Doch einen Gedanken sprach Alex aus, einen, den er seit dem Verlassen der Kilt Delta mit sich herumgetra gen hatte: »Auch ich bin nicht gerettet.« Er fühlte, daß er nie angekommen, nie wieder zurückgekehrt war zu den Menschen, die er liebte, obwohl sie um ihn waren. Alex stand immer noch vor der Hand, die sich zwi schen den Rohren heraus an das Tuch klammerte. Sein Mund war offen vom Schrei. Er stieß den Zipfel von sich und floh durch das helle Quadrat. Alex taumelte über das eruptierende Deck und wußte nicht, wohin. Sein Kopf drehte sich zurück zum White House und flog sofort wieder herum. Als eine Bö die Schwaden aufriß, sah er den Bohrturm und dachte, dahin. Sein Fuß tastete sich vor und stockte im nächsten Moment. Der Bohrturm schwankte. Sehr langsam drehte die Spitze kleine Kreise in der Luft. Alex sprang in eine Nische außen am Wohntrakt und preßte sich gegen die Wand.
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Das Getöse konnte nur das Ende einer Welt bedeu ten. Die Männer in der Teebude neigten sich noch dichter zusammen. Doch seine schwindenden Sinne nahmen es nur als gedämpftes Poltern und Rumpeln wahr. Immer wieder fiel sein von Brandblasen und Ab schürfungen zerschundener Kopf zur Seite. Und im mer wieder schob sein Nebenmann ihn hoch. Einmal blieb er dabei mit der Uhrkrone hinter seinem Ohr ring hängen. Der Ventiltechniker David Ferguson at mete vor Schmerz pfeifend aus. »Wir müssen hier weg«, murmelte er ins Dunkel des Raums. Er wollte aufstehen, preßte seine Handflächen gegen die Wand hinter seinem Rücken und schob sich langsam nach oben. Stöhnend sank er zurück. Die Teebude zitterte, die zusammengedrängten Män ner schwiegen und lauschten nach draußen. Seine alles überragende Position gab der Bohrturm still auf. Er war das weithin sichtbare Wahrzeichen der Ölinsel, der Ansteuerungspunkt für Schiffe, das Zen trum aller Tätigkeiten auf der Kilt Delta. Er war im Emblem der Ölgesellschaft das Symbol für Fortschritt und verwirklichte Utopien. Der Bohrturm stürzte lautlos. Erst als seine Spitze ge gen die Teebude schlug, hörten ihn die Männer. Für die meisten war es zu spät. Krachend und knirschend zer quetschte er ihre Zuflucht. Durch die aufplatzende Vorderfront wurden David Ferguson und zwei, drei Arbeiter ausgespieen und über
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Bruchstücke von dampfendem Metall gekegelt. Das herunterhängende Geländer einer zerborstenen Lauf brücke fing David auf. Er taumelte nach links und rechts, schwankte dann über verbogene Rohre und zer splitterte Streben zu den Überresten der Teebude zu rück und rief: »Kommt raus, kommt raus...« Zwei Schatten lösten sich aus dem Blechklumpen und flogen zu ihm hinunter. Der Sturz des Bohrturms hatte zwei Dutzend Männer aus ihren Verstecken getrieben. Auf dem geneigten und sich vollends auflösenden Rohrdeck sprangen sie ziellos zwischen den lodernden Schlünden durcheinander. Es gab keine Gedanken mehr. David griff nach irgend etwas über seinem Kopf. Denn unter ihm entschwand der Boden. Er baumelte an einer Strebe des umgestürzten Ostkrans. Seine Beine schwangen hin und her. Er packte fester und schrie wie noch nie zuvor. Er schrie in maßloser Wut über sein Pech und seine geschwundenen Kräfte und über die er schreckenden, feindlichen Elemente. Er schrie, um alles Lärmen zu übertönen. Sein Körper wurde plötzlich leichter und schwang sich wie von selbst nach oben. Nach all seinen Irrwegen wies der Kranarm unter ihm als eine gerade Brücke zur rettenden See. Sie hatte wenig Lauffläche und viele Lücken, doch David sah an ihrem Ende nur das Wasser. Auf ihm spiegelte sich das Mondlicht als eine breite, helle Straße wider. »Hier... hier... hier...«, rief er den anderen Män nern auf dem Rohrdeck zu und fuchtelte mit den Ar men. Einzig der Superintendent Alex Shinwell schwankte und stolperte und kroch heran und ließ sich, mal gegen Streben und mal in die Luft strampelnd, von David nach oben ziehen. 212
David balancierte ein Stück auf den schmalen Trä gern, dann rutschte er auf dem Hintern voran. »Halt, halt«, rief Alex Shinwell. Um ein Haar wäre er zurück in das Brodeln des Rohrdecks gestürzt. Er hockte auf dem Metallband und klammerte sich fest. Ihn schüttel ten Krämpfe. David kroch zurück und stieß ihn an. »Mein Gott«, sagte Alex erschüttert und löste sich. Die Träger, auf denen sie sich entlangschoben, waren erst heiß, dann glühten sie. Flammen wischten von un ten hoch. Ihre Hosen wurden am Gesäß durchsengt, ihre Schuhe schmolzen von den Füßen. Aber sie spürten nicht mehr ihr verschmorendes Fleisch, und sie hatten keine Schmerzen. Einzig der Schwung trieb ihre Arme und Beine zu weiterer Bewe gung voran. Sie blickten nur nach vorn auf die See. Die sahen sie. Alles andere rund herum und auch in ihnen war weg. Schließlich richtete David sich auf. Vor ihm lag nur noch das Wasser. Er sah sich kurz zu Alex um. Ihre Blicke trafen sich für einen winzigen Moment, der für sie jedoch alle Zeit verloren hatte. David ließ sich kippen. Er flog durch die Flammen. Er trudelte mit ausgestreckten Armen und Beinen wie früher als Kind auf einer Wiese. Dann schlug sein Rücken stumpf auf ein herausragendes Rohr. Die See unter ihm war rot. Die Hände von Alex ruderten eine Weile in der Luft. Schließlich sprang er mit einem Satz. Sein Körper pen delte und schraubte sich durch die Flammen, glitt durch kältere Luft und klatschte schließlich aufs Wasser. Als er wieder auftauchte, war David direkt neben ihm. Die Rettungsweste wölbte sich wie ein Kissen auf seiner Brust. Er schwamm auf dem Rücken, als schliefe 213
er. Alex griff seinen Arm. Er war schlaff. David beweg te sich nicht. Alex blickte sich um. Sie waren allein. Kleine Strudel quirlten auf, als Alex nach Davids Schwimmweste griff. Denn er hatte keine. Seine Beine tauchten einmal kurz aus dem Wasser und platschten zurück, seine Hände verkrallten sich in Davids Hals ausschnitt und drückten sein Kinn zur Seite. Sie trieben durch die Weite und Ruhe der See - an einandergepreßt, wie nur ein Mann. Doch der eine war die Jugend und der andere der Zenith. Die Wellen spül ten an ihren Körpern entlang. Das Tuckern der »Golden Hope« war hohl und setz te manchmal aus. In einem sanften Bogen schwoite sie an die Männer im Wasser heran. Erst zogen die Matro sen den regungslosen David Ferguson an Bord. Und dann Alex Shinwell - als letzten Überlebenden der Kilt Delta. Sie wollten ihn über das Deck zur Kabine führen. Er blieb plötzlich stehen. Seine Augen weiteten sich, ein schwebendes Zittern durchlief ihn. Alex sah zur Öl insel hinüber. Der Wohntrakt schwankte. Dann kippte er auf Alex zu. Drei Stunden und acht Minuten nach dem Aus bruch des Desasters rutschte er mit den vielen, die nicht den Ausgang zum Leben gesucht oder gefunden hatten, in die Tiefe. Als es dämmerte, war die See wie geschrubbt. An die Kilt Delta erinnerten nur noch drei schiefe, brennende Rohre, die aus der Eintönigkeit der Dünung in einen gläsernen Himmel wiesen.
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Glossar Chopper Christmas-tree Crofter-Kate Davids Drift Driller Fender Kabelgarn Kardeel Monkeyman Offshore Rigger Roughneck Schwoien Slippen Superintendent Tampen Tau
Tea-Buckie Toolpusher
Helikopter Hauptventil der Öl- und Gasförde rung Kleines Haus eines Nebenerwerbs bauern Kleine Kräne für Rettungsboote Treiben Vorarbeiter bei Bohrvorgängen Breites Gummipolster zum Abfan gen von Stößen Siehe Tau Siehe Tau Bohrarbeiter der oben im Bohrturm das Gestänge anhängt oder in eine Halterung schiebt Ölproduktion auf See Stahlbauer auf Ölinseln Einfacher Bohrarbeiter Zur Seite treiben Ankerkette oder Leine lösen Direktor Ende einer Leine Leine, besteht aus ineinander ge schlagenen Kardeelen, die wiederum aus Kabelgarnen verdrillt sind Teebude, Pausenraum Meister der Bohrarbeiter
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Christian Jungblut, geboren 1943, lebt in Hamburg. Er war Seemann, Radartechniker und studierte Physik, bevor er zu schreiben begann. Der Kisch-Preisträger und langjährige GEO-Reporter provoziert in seinen spannungsreichen, abenteuerhaften Geschichten zu neuen Sichtweisen über den industriellen Fortschritt. Seine Stories zeichnen sich durch hochgradige Authentizität aus, da er häufig ungewöhnliche RecherchierMethoden anwendet: So arbeitete er eine Zeitlang auf Ölinseln. Ausgedehnte Reisen führten ihn in alle Kontinente. Weltweites Aufsehen erregte Jungblut mit seiner Reportage-Erzählung “Die riskierte Katastrophe. Als falscher Steuermann auf einem Supertanker”; und in seinem Story-Band “Es war einmal ein Fluß” schildert er den Niedergang und Ausverkauf der Unterelbe. “Inferno” ist sein erster Roman.
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