Information - Wahrnehmung - Emotion: Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung

Thorsten Faas · Kai Arzheimer · Sigrid Roßteutscher (Hrsg.) Information – Wahrnehmung – Emotion

Schriftenreihe des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) Herausgegeben von Kai Arzheimer, Mainz Thorsten Faas, Mannheim Sigrid Roßteutscher, Frankfurt a. M.

Thorsten Faas Kai Arzheimer Sigrid Roßteutscher (Hrsg.)

Information – Wahrnehmung – Emotion Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

. .

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17384-9

Inhaltsverzeichnis

1

Einleitung

Thorsten Faas, Kai Arzheimer, Sigrid Roßteutscher Information – Wahrnehmung – Emotion Marco R. Steenbergen The New Political Psychology of Voting 2

7 13

Politische Kommunikation und politische Kognitionen

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer Wahlkampf 2005: Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Inszenierung von Angela Merkel und Gerhard Schröder in den Fernsehnachrichten unter Berücksichtigung des Geschlechterstereotyps

33

David Nicolas Hopmann Vom emotionalen Underdog zur bewussten Strategie: Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

51

Stephanie Geise, Frank Brettschneider Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten: Ergebnisse einer Eyetracking-Studie

71

Jan Kercher Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker anhand quantitativer Textmerkmale

97

3

Heuristiken und die Verarbeitung von Informationen

Thorsten Faas, Harald Schoen Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung: Lassen sich die Einstellungen der Bevölkerung durch Framing verschieben?

123

Sascha Huber Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen: Eine experimentelle Untersuchung zur Rolle von Ideologie-Hinweisen

145

6

Inhaltsverzeichnis

Tatjana Rudi Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa: „Super-Issue“ oder bedeutungslos?

169

Florian Bader, Joachim Behnke Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

191

Bettina Wagner Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa: Die Rolle nationalstaatlicher Einstellungen als Heuristiken

215

Carsten Reinemann, Marcus Maurer Leichtgläubig und manipulierbar? Die Rezeption persuasiver Wahlkampfbotschaften durch politisch Interessierte und Desinteressierte

239

4

Informationen, Emotionen und ihre Effekte

Thorsten Faas, Jochen Mayerl Michigan reloaded: Antwortlatenzzeiten als Moderatorvariablen in Modellen des Wahlverhaltens

259

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes Kognitive und affektive Einflüsse auf Einstellungen in direktdemokratischen Kampagnen

277

Marc Debus Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen auf die individuelle Wahlentscheidung: Mehr als nur eine Nebensache?

291

Evelyn Bytzek Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005: Leihstimmen oder Koalitionswahl als Ursache?

315

Paul W. Thurner „Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen? Das Beispiel Kernenergie (1987-2005)

333

Bettina Westle, David Johann Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

353

Autorenverzeichnis

375

Information – Wahrnehmung – Emotion Thorsten Faas, Kai Arzheimer, Sigrid Roßteutscher

1

Einleitung

„Democracy requires an active citizenry because it is through discussion, popular interest, and involvement in politics that societal goals should be defined and carried out in a democracy“, so hat es Dalton (1996: 40) formuliert und weiter pointiert zugespitzt: „Democracy should be a celebration of an involved public”. Man könnte hinzufügen, dass diese Öffentlichkeit nicht nur eine involvierte, sondern auch eine informierte sein sollte. Zwar mit viel Enthusiasmus, aber basierend auf faktisch falschen Grundlagen – so sollte Demokratie wohl auch nicht funktionieren. Daltons Ideal allerdings steht eine empirische Realität gegenüber, die den formulierten Anforderungen bestenfalls teilweise gerecht wird. Dies gilt für das Interesse an wie auch das Wissen und das Informationsniveau über Politik. Nach van Deths (2000) Typologie gibt es einerseits „Involvierte“ und „Zuschauer“ mit stark ausgeprägtem politischem Interesse. Ihnen stehen die Gruppen der „Betroffenen“ und „Distanzierten“ mit eher geringem Interesse gegenüber. Noch knapper hat Converse (1990: 372) die Verteilung des Informationsniveaus in der Bevölkerung beschrieben: „the mean is low and the variance is high“. Interesse und Informationen sind dabei nicht nur aus normativen Gründen wünschenswert, sondern haben auch handfeste Konsequenzen für die Produkte des politischen Prozesses. Deutlich wird dies etwa im Bereich deliberativer Demokratietheorien, wo der Deliberationsprozess keineswegs nur um seiner selbst willen betrachtet wird, sondern aus der Überzeugung heraus, dass damit der Output des Prozesses verbessert wird. Auch das (einfache) Modell des rationalen Wählers sieht vor, dass dieser sich umfassend informiert, um darauf aufbauend eine für sich optimale Entscheidung (mit optimalem Policyergebnis) zu treffen. In dieser Logik sind politische Informationen und Policies untrennbar miteinander verbunden und bilden den Kern des demokratischen Regelkreislaufs. Gleichwohl hat sich die Politikwissenschaft allgemein, die Wahl- und Einstellungsforschung im Speziellen lange Zeit nur am Rande mit Fragen der politischen Information und ihrer Verarbeitung beschäftigt. Wie sieht das Informationsumfeld in modernen Demokratien aus, mit dem sich Menschen konfrontiert sehen? Welche Informationen nehmen Menschen aus dem vorhandenen Angebot wahr und wie verarbeiten sie diese? Wie prägen solche Informationen dann ihre Einstellungen – auch und gerade zu politischen Sachfragen, die häufig der Gegenstand der Informationen sind? Welche Verhaltenskonsequenzen gehen damit einher? Und wie schaffen es Bürger, denen polische Informationen mitunter fehlen, trotzdem politisch zu denken und vor allem zu handeln? Welcher Preis ist mit dem Rückgriff auf einfache Heuristiken gegebenenfalls verbunden? Erst mit dem „cognitive turn“ in der Politikwissenschaft und dem Aufkommen der modernen politischen Psychologie rück-

8

Thorsten Faas, Kai Arzheimer, Sigrid Roßteutscher

ten solche Fragen wieder stärker in den Fokus des Interesses, zunächst vor allem in den USA, mehr und mehr aber auch in Deutschland und Europa. 2

Die Jahrestagungen 2007 und 2008 des Arbeitskreis „Wahlen und politische Einstellungen“ und die Beiträge dieses Bandes

Ausdruck dieser Neuorientierung waren nicht zuletzt die Jahrestagungen des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), die dem Thema „Policy-Präferenzen und Einstellungen zu Policies“ (2007 in Mainz) bzw. dem Thema „Information – Wahrnehmung – Emotion: Die Bedeutung kognitiver und affektiver Prozesse für die Wahl- und Einstellungsforschung“ (2008 in Duisburg) gewidmet waren. Aufhänger der Mainzer Tagung war V.O. Keys Diktum „Voters are no fools!“ aus seinem Werk „The Responsible Electorate“ (Key 1966). Dieses Werk repräsentiert den Anfang einer Debatte über die empirische Relevanz von Modellen des rationalen, d.h. an Politikpräferenzen und -resultaten orientierten Wählerverhaltens. Wie rational sind Wähler wirklich? Wie strukturiert sind ihre Policypräferenzen? Wovon werden sie geprägt und was prägen sie? Ausgangspunkt der Duisburger Tagung, die damit an die vorangegangene Veranstaltung anknüpfte, war die von Cassino et al. (2007) in der Politischen Vierteljahresschrift aufgeworfene Frage „How do people who do not know or care much about politics wind up creating a responsive democracy?“. Kristallisationskern der Tagung war somit der Begriff der „Information“ – vom Informationsangebot über die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen bis hin zu ihren Konsequenzen. Im Vorfeld beider Tagungen wurden auch explizit methodisch innovative Beiträge eingeladen, in deren Rahmen etwa Metadaten, Eyetracking- oder Real-Time-Response-Verfahren sowie allgemein verstärkt experimentelle Designs zum Einsatz kommen. Aus Beiträgen zu diesen beiden Tagungen ist der vorliegende Sammelband entstanden, der entlang der skizzierten Prozesse der Informationsverarbeitung gegliedert ist, auch wenn dies nie perfekt trennscharf sein kann: Die Beiträge des ersten Blocks haben gemein, dass sie alle einen Fokus auf das Informationsumfeld haben, in dem sich Bürger bewegen. Im zweiten Block stehen die Bürger dann selbst im Mittelpunkt: Wie gehen sie mit Informationen um? Auf welche Hilfsmittel greifen sie zurück? Im letzten Schritt geht es schließlich verstärkt um Effekte und politische Konsequenzen: Welche Effekte von Informationen gibt es auf politische Einstellungen und vor allem politisches Verhalten? Und erzeugen Informationen bei den Empfängern auch Wissen? Im Anschluss an diese Einleitung steht allerdings zunächst ein Überblicksartikel von Marco R. Steenbergen zum „State of the Art“ im Feld der politischen Psychologie und ihrer Bedeutung für die Wahl- und Einstellungsforschung: „The New Political Psychology of Voting“. Wir haben Marco R. Steenbergen nach seiner Teilnahme an der Tagung in Duisburg eingeladen, einen solchen Übersichtsartikel zu verfassen, und sind froh und dankbar, dass er dieser Einladung nachgekommen ist! Der Beitrag zeigt auf, welche neuen Perspektiven sich für die Wahl- und Einstellungsforschung durch die psychologische Erweiterung ihrer Perspektive (um Kognitionen, aber auch Emotionen) ergeben – theoretisch, aber auch

Information – Wahrnehmung – Emotion

9

methodisch, etwa durch den Einsatz von Verfahren aus der Neurowissenschaft. Der Beitrag ist höchst hilfreich für alle, die sich mit dem neuen Feld der „Political Psychology“ vertraut machen wollen, aber auch sehr lesenswert für alle Fortgeschrittenen. Die verschiedenen Studien zum Informationsumfeld, die den ersten Block der Tagungsbeiträge bilden, beschäftigen sich mit den Informationen, die von Medien, Meinungsumfragen, Wahlplakaten und Spitzenpolitikern ausgehen, teils unter Rückgriff auf höchst innovative Methoden der Datenerhebung. Astrid Jansen, Gary Bente und Nicole C. Krämer gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, inwieweit die Berichterstattung von ARD und RTL über den Bundestagswahlkampf 2005 (und seine Hauptkontrahenten Gerhard Schröder und Angela Merkel) geschlechterstereotypische Eigenschaften aufweist. Basierend auf inhaltsanalytischen Daten zu den Hauptnachrichtensendungen der beiden Sender in der heißen Phase des Wahlkampfs und unter Einsatz eines „Interaktiven Videoanalysesystem“, mit dessen Hilfe formale, verbale und optische Stimuli erfasst wurden, finden sie in der Tat einige Unterschiede in der Berichterstattung über Schröder und Merkel, vor allem aber zwischen den Sendern. Bei David Nicolas Hopmann steht demgegenüber nur ein Teilausschnitt der Medienberichterstattung im Fokus des Interesses, der allerdings in heutigen Wahlkämpfen zunehmend an Bedeutung gewinnt: Politische Meinungsumfragen. Sein Übersichtsartikel über den Forschungsstand zur Frage von Effekten solcher Umfragen auf die Parteipräferenzen von Wählern zeigt, dass die einschlägige Forschungslandschaft sehr unübersichtlich und nicht durch kumulative Forschung geprägt ist – nicht zuletzt auch aufgrund des Fehlens eines Überblicksartikels. Diese Lücke füllt Hopmann. Er schlägt dabei vor, stringenter zwischen affektiven und kognitiven Prozessen zu unterscheiden und einen stärkeren Fokus auf Wirkungsmechanismen zu legen. Mit Wahlplakaten (stellvertretend für die Werbung von Parteien in Wahlkämpfen insgesamt) rücken bei Stephanie Geise und Frank Brettschneider die gezielten Kommunikationsbemühungen von Parteien in den Mittelpunkt. Sie gehen dabei vor allem der Frage nach, welchen Beitrag visuelle Elemente von Plakaten bei der Wahrnehmung und Verarbeitung der präsentierten Informationen leisten und ob dies weiterhin auch die Erinnerungsleistung beeinflusst. Hervorzuheben ist dabei insbesondere auch die Erhebungsmethode, die hier zum Einsatz kommt: Eyetracking- oder Blickverlaufsanalysen, die insbesondere zur Frage der Wahrnehmung von Plakaten neue Einblicke liefern. Insgesamt finden Geise und Brettschneider deutliche empirische Hinweise auf die große Macht von Bildern. Auch Jan Kercher erschließt mit seiner Analyse zur Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker – aus methodischer wie inhaltlicher Sicht – neues Terrain. Kercher zeigt dabei, dass sich Verständlichkeit von Politikern anhand von quantitativen Merkmalen valide messen lässt; so deckt sich beispielsweise die gemessene Verständlichkeit mit den subjektiven Wahrnehmungen der Probanden. Mit der vergleichsweise einfachen (und doch validen) Messung von Verständlichkeit eröffnen sich interessante Perspektiven, die Verständlichkeit von Politikern als unabhängige Variable in zukünftige Studien zu integrieren. Im Anschluss an diese Betrachtungen des Informationsumfelds in seinen verschiedenen exemplarischen Facetten rückt im zweiten Block stärker die Frage des Umgangs mit Informationen in den Mittelpunkt des Interesses. Wie gelingt es Menschen, mit den vielen auf sie einströmenden Informationen in sinnvoller und effizienter Weise umzugehen? Welche Hilfsmittel, die den Umgang mit neuen Informationen erleichtern, kommen dabei zum

10

Thorsten Faas, Kai Arzheimer, Sigrid Roßteutscher

Einsatz? Auch die Beiträge dieses Blocks zeigen dabei eine breite Palette möglicher Ansätze und Forschungsfragen auf – inhaltlich, aber erneut auch methodisch. Thorsten Faas und Harald Schoen prüfen in ihrer auf Survey-Experimenten basierenden Studie, ob sich (bestimmte) Bürger durch die Art, wie politische Sachfragen präsentiert werden, wie sie geframt werden, beeinflussen lassen. Am Beispiel von Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung zeigen sie, dass in der Tat eine gewisse Frame-Anfälligkeit besteht, dass Bürger also auf die ihnen präsentierten Informationen in theoretisch erwartbarer Art und Weise reagieren. Zugleich aber zeigt sich, dass die Größenordnung dieser Effekte moderat bleibt. Die in der Literatur formulierte Sorge, Bürger ließen sich durch die Wahl eines bestimmten Frames nahezu beliebig manipulieren, erscheint demnach weit überzogen. Sascha Huber und Tatjana Rudi gehen in ihren jeweiligen Beiträgen der Frage nach, inwieweit die gute, alte „Links-Rechts-Skala“ Bürgern bei der Orientierung im politischen Raum hilft. Huber tut dies zunächst experimentell mit fiktiven Parteien und Parteipositionen, um allgemein zu prüfen, inwieweit Menschen dazu in der Lage sind, Hilfsmittel wie die Links-Rechts-Skala, aber auch andere allgemeine Politikdimensionen überhaupt (und losgelöst vom konkreten Fall) zu verwenden. Darauf aufbauend prüft er für die deutschen Bürger und Parteien, ob die Bürger tatsächlich von dieser Fähigkeit Gebrauch machen und welche (zusätzliche und potenziell verzerrende) Rolle dabei der Motivation zukommt. Tatjana Rudi dagegen untersucht, inwieweit die Links-Rechts-Skala – deren Sinnhaftigkeit vor allem für Westeuropa wiederholt gezeigt worden ist – auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern als strukturierendes Hilfsmittel dienen kann. Tatsächlich können die Bürger auch in diesen Ländern mit der Begrifflichkeit „links“ und „rechts“ etwas anfangen: Sie können sich selbst auf dieser Dimension verorten; zudem ist die Dimension in sinnvoller Art und Weise mit zahlreichen anderen Politikinhalten verknüpft. Florian Bader und Joachim Behnke gehen noch eine Abstraktionsstufe weiter und betrachten Werte und deren Einfluss auf politische Einstellungen und politisches Verhalten. Werte stellen dabei einen Proxy dar, um die Vertrauenswürdigkeit von Parteien und Politikern zu bewerten: Stimmt die Wertehierarchie der Menschen mit der wahrgenommenen Wertehierarchie bei Politikern überein, ist dies eine effiziente Basis für Vertrauen. Kommt es allerdings zu einem Wertedefizit, kann dies die Basis für Verdrossenheit sein – wie auch die Ergebnisse von Bader und Behnke zeigen. Ihr Maß für ein wahrgenommenes Wertedefizit ist eng verknüpft mit der allgemeinen Bewertung von Politikern und Parteien, der Wahlbeteiligung und auch der Neigung, nicht-etablierte Parteien zu wählen. Gegenüber diesen aus einer Hierarchie von Einstellungen abgeleiteten Heuristiken prüft Bettina Wagner, ob Bürger auch Verfügbarkeitsheuristiken anwenden. Konkret geht sie der Frage nach, ob Bürger Einstellungen zur Performanz von Nationalstaaten (von denen mit gutem Grund angenommen werden kann, dass sie verfügbar sind) dazu nutzen, um sich ein Bild über die (vermutete) Performanz der EU zu machen. Sie testet dies – ähnlich wie Tatjana Rudi – am Beispiel der Staaten Mittel- und Osteuropas. Tatsächlich findet sie solche Zusammenhänge und dies sowohl für eine generalisierte als auch eine spezifischere ökonomische und demokratische Performanz. Carsten Reinemann und Marcus Maurer schließlich gehen einer Frage nach, die auch in den Beiträgen von Faas und Schoen sowie Huber enthalten ist: Lassen sich Hinweise dafür finden, dass sich der Umgang mit Informationen nach bestimmten Drittvariablen – allen voran dem politischen Interesse – unterscheidet. Pointiert zugespitzt heißt es dazu bei

Information – Wahrnehmung – Emotion

11

ihnen: „Sind politisch weniger Involvierte leichtgläubiger und manipulierbarer?“. Während sich bei Faas und Schoen, aber auch Huber Hinweise für solche Interaktionseffekte mit dem politischen Interesse finden (und auch Reinemann und Maurer diese erwarten), finden sich in der empirischen Analyse, die sich mit der Wahrnehmung des TV-Duells 2005 zwischen Schröder und Merkel beschäftigt, kaum Hinweise dafür. Den Beiträgen des dritten Blocks ist – wie oben bereits skizziert – gemein, dass ihr Fokus vor allem auf den Effekten von Informationen und ihrer Verarbeitung liegt. Der Beitrag von Thorsten Faas und Jochen Mayerl ist dabei, was die inhaltlichen Grundlagen betrifft, ein „alter Hut“: Für die Bundestagswahl 2005 wird ein einfaches Michigan-Modell geschätzt. Gleichwohl gilt: „Michigan Reloaded“ – die entsprechenden Modelle werden nämlich um Antwortreaktionszeiten aus Umfragen ergänzt. Es zeigt sich sehr robust, dass eine Parteiidentifikation, die im Rahmen eines telefonischen Interviews sehr schnell geäußert wird, eine höhere Prägekräft für das Wahlverhalten hat, als eine Parteiidentifikation, die eher zögerlich geäußert wird. Gleiches gilt für Wahlabsichten, die vor der Wahl schnell geäußert werden: Sie übersetzen sich mit höherer Wahrscheinlichkeit in ein korrespondierendes Wahlverhalten als Vorwahlabsichten, die zögerlich geäußert werden. Auch Christian Schemer, Werner Wirth und Jörg Matthes betreten mit ihrem Beitrag Neuland, allerdings weniger aus methodischer Sicht als vielmehr aus substanzieller Sicht: Sie beschäftigen sich mit Faktoren, die die Entscheidungen von Schweizer Bürgern in direktdemokratischen Verfahren beeinflussen – per se ein Gebiet, auf dem vergleichsweise wenig geforscht wird. Ihre Innovation besteht darin, dass sie explizit kognitive und affektive Einflüsse in ihre Modelle einbeziehen und dabei – ganz im Sinne von Steenbergens Überblicksartikel – für beide Faktoren eigenständige Effekte finden. Die explizite Aufnahme von Affekten in Entscheidungsmodelle ergänzt solche Modelle offenkundig um neue, ansonsten unberücksichtigte Faktoren. Sympathie und ihr Einfluss auf Wahlentscheidungen ist der Gegenstand des Beitrags von Marc Debus. Dabei zieht er einerseits die Bundestagswahlen 1976, 1983 und 2005 heran (die er als eher sachfragenorientiert versteht), andererseits die Wahlen 1980, 1998 und 2002 (die er als eher personenorientiert betrachtet). Bemerkenswerterweise findet er für beide Typen von Wahlen (und dies noch dazu in Ost- wie Westdeutschland seit 1990) und unter Kontrolle von zahlreichen weiteren erklärenden Variablen eigenständige Effekte von Sympathiewerten von Parteien und Kandidaten. Je sympathischer einem Wähler die politischen Akteure – egal ob Parteien oder Kandidaten – sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, sich für diese zu entscheiden. Debus wie Schemer, Wirth und Matthes liefern mit ihren Analysen starke Argumente dafür, künftig solche affektiven Aspekte stärker in Modellen des Wahlverhaltens zu berücksichtigen. Evelyn Bytzek widmet sich in ihrem Beitrag dem „überraschenden Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005“. Sie diskutiert dabei einerseits, inwieweit Wähler Parteiund/oder Koalitionspräferenzen haben, geht andererseits der Frage nach, ob sich Wähler von taktischen Überlegungen leiten lassen und dabei auf Umfrageergebnisse und Koalitionssignale zurückgreifen. Insgesamt findet sie wenig Hinweise dafür, dass Wähler gezielt Leihstimmen an die FDP vergeben haben und folgert daher, dass das Abschneiden der FDP eher durch eine gezielte Koalitionswahl (mit dem Ziel einer schwarz-gelben Koalition) erklärt werden kann – auch wenn diese Strategie zumindest 2005 noch erfolglos blieb.

12

Thorsten Faas, Kai Arzheimer, Sigrid Roßteutscher

Auch Paul W. Thurner beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Wahlentscheidungen bei Bundestagswahlen, wählt aber eine längsschnittliche Analyse, die den Zeitraum von 1987 bis 2005 umfasst. Kern seines Beitrags sind Einstellungen zum Thema Kernenergie. Diesbezüglich diskutiert Thurner zunächst, inwieweit Einstellungen dazu erstens überhaupt in der Bevölkerung vorhanden sind und zweitens im Einklang mit den jeweiligen Parteilinien stehen. Abschließend prüft er, ob vor allem „Issue-Inkonsistenz“ zu Stimmenthaltung oder gar -entzug führen kann: Wie also reagieren Wähler, deren Einstellungen zur Atomenergie im Widerspruch zur Linie der Partei steht, mit der sie sich eigentlich verbunden fühlen? Im anschließenden Beitrag des Bandes geht es schließlich um das (mögliche) Endprodukt von politischen Informationen: politisches Wissen. Bettina Westle und David Johann gehen der Frage nach, wie es um das Wissen der Europäer zur Europäischen Union bestellt ist. Die Deskription liefert zunächst deutliche Hinweise dafür, dass das Wissensniveau bestenfalls mäßig ist; zudem können die Unterschiede hinsichtlich des politischen Wissens nur bedingt erklärt werden. Soweit zu den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Bandes in der Kurzübersicht. Abschließend gilt es noch, verschiedenen Personen und Institutionen zu danken, ohne deren finanzielle und/oder tatkräftige Unterstützung weder die beiden Tagungen noch dieser Sammelband zustande gekommen wären. Für die Jahrestagung des Arbeitskreises 2007 in Mainz gilt dies für Maja Schwob und das ganze Hilfskraftteam der Abteilung Innenpolitik; ebenso zu danken ist dem „Abteilungsleiter“ Jürgen W. Falter für seine Unterstützung der Tagung. Die Jahrestagung 2008 wäre ohne den Einsatz von Inge Fischer, Ansgar Wolsing und Sebastian Holler nicht möglich gewesen; auch Rüdiger Schmitt-Beck sowie der Universität Duisburg-Essen sei herzlich für ihre Unterstützung der Tagung gedankt. Auch am Zustandekommen dieses Sammelbandes haben keineswegs nur Herausgeber und Autoren mitgewirkt: Simon Henckel in Frankfurt, Eva Frischmann in Mainz sowie Daniela Hohmann, Patrick Kraft und Charlotte Petrik in Mannheim haben durch gründliches Kontrollieren, Korrigieren und Formatieren aus einzelnen Beiträgen erst einen Sammelband werden lassen. Auch ihnen an dieser Stelle ein herzliches „Dankeschön“! Dies gilt zu guter Letzt auch für Frank Schindler vom VS Verlag für Sozialwissenschaften, mit dem gemeinsam wir die Reihe der Bände des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ beim VS Verlag hiermit fortsetzen können. Literatur Cassino, Dan/Taber, Charles/Lodge, Milton (2007): Information Processing and Public Opinion. In: Politische Vierteljahresschrift 48, 205-220. Converse, Philip E. (1990): Popular Representation and the Distribution of Political Information. In: Ferejohn, John A./Kuklinski, James H. (Hrsg.) (1990): Information and Democratic Processes, Urbana: University of Illinois Press, 369-388. Dalton, Russell J. (1996): Citizen Politics. Chatham: Chatham House. Key, Valdimer O./Cummings, Milton C. (1966): The Responsible Electorate: Rationality in Presidential Voting, 1936-1960, Cambridge: Belknap Press. Van Deth, Jan (2000): Das Leben, nicht die Politik ist wichtig. In: Niedermayer, Oskar/Westle, Bettina (Hrsg.) (2000): Demokratie und Partizipation, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, 115-135.

The New Political Psychology of Voting Marco R. Steenbergen

1

Introduction

Psychological approaches have played a central role in electoral research at least since the publication of The American Voter (Campbell et al. 1976). The early work drew from the then dominant currents in social psychology. In the 1960s, this meant a heavy emphasis on beliefs and attitudes. Thus, the Michigan voting model gave a central place to partisan attachments, perceptions of the issues, and appraisals of political candidates. It also took a close look at the manner in which voters reasoned about political parties, candidates, and issues, demonstrating for the United States that ideological constraint played a relatively minor role. While the early attempts at psychologizing the vote choice were not without detractors, their success and impact can be measured by their continued appeal and the large volume of studies that have been produced in this framework.1 The psychological insights that gave rise to The American Voter remain of considerable importance. But psychology has undergone dramatic change since the 1960s and this has begun to leave its mark on electoral research. While psychology remains an important source of inspiration and theory in electoral research, it is a very different psychology than that studied by Campbell and his colleagues. The new political psychology of voting, as I shall call it, draws from the cognitive and, more recently, the affective “revolutions” in (social) psychology. It also builds, however, on the cognate field of political communication, which has begun to reconsider the minimal effects thesis that came to dominate the field in the 1950s and 1960s (e.g., Klapper 1960). These developments not only produced new theoretical insights but also new methodologies that complement the old work horse of electoral research, survey sampling. Like the early psychological approaches, the new political psychology of electoral research found its origins in the United States. There, the approach has existed since the 1980s and has gained a firm footing in both political science and psychology. In Europe, the movement to incorporate cognition, affect, and political communication into models of voting behavior is of more recent date. But as the papers in this volume demonstrate, interesting work is beginning to emerge, which will add some much-needed institutional variation to the new political psychology of electoral research. For having been focused almost exclusively on American elections, research so far has been unable to address whether psychological processes play out differently across different electoral systems. In this essay, I shall provide an overview of the major developments in psychological approaches to electoral behavior, focusing in particular on the areas of cognition and affect. Many of these developments are reflected in the articles included in this volume. Some go 1

A particularly cogent criticism of the Michigan model of voting behavior can be found in Natchez (1984) who considers the normative implications of the model for democratic political theory.

14

Marco R. Steenbergen

beyond what is presented in these articles and may provide avenues for future research. I shall also discuss the challenges that lie ahead, in particular in linking psychology with institutions. 2

Cognition and Vote Choice

2.1 Theoretical Premises The cognitive approach to electoral behavior came into its own in the 1980s, when a number of scholars began asking what goes on in voters’ minds during an election. Rather than treating mental processes as a black box, these scholars were interested in the question of how voters transform the inputs of a campaign (news reports, political advertisements, television appearances by political candidates, and televised debates) into outputs (impressions of candidates and parties and, ultimately, vote choice). The guiding assumption was that information processing could explain a great deal about electoral behavior. This included resolving empirical questions such as the persistence of party and candidate preferences during campaigns (which had been documented already by Lazarsfeld and his colleagues (Berelson et al. 1986; Lazarsfeld et al. 1968)). It also related to normative questions, however. Normative concerns had taken center place since the publication of several influential papers, first by Berelson (1958) and then by Converse (1964), that showed rather low levels of interest, knowledge, and sophistication among members of the American electorate. Thus, a central question became how it was that citizens decided on their vote and whether such decisions contained any information that could serve as an input to the political system. A central tenet of the cognitive approach is that the same sets of inputs can be received and perceived very differently and hence, lead to dramatically different outputs. To understand this, one should envision information processing as a sequence of stages (see Lodge/Stroh 1993; Ottati/Wyer 1990; Steenbergen/Lodge 2003; Wyer/Ottati 1993). The first stage is attention. A central premise in the cognitive approach is that voters cannot and do not want to attend to all available inputs. They cannot because of build-in limitations in the human mind, what has commonly become known under the rubric “bounded rationality” (e.g., Simon 1955). They do not want to because politics is rarely the highest priority of citizens. With a limited motivation to process political information, citizens become “cognitive misers” ready to take shortcuts wherever possible, including the ultimate shortcut: not attending to any information (Fiske/Ruscher 1989). Attention, then, is a scarce resource and, being in limited supply, the question becomes what do voters attend to? The campaign environment has a role to play here. For example, novel information is more likely to draw attention than routine stories (e.g., Fiske/Taylor 1991). Individual differences, however, play a role as well. For example, issues that are personally important are likely to be attended to (Krosnick 1990). Citizens may also be motivated to attend to certain inputs because they are reinforcing their existing beliefs and attitudes (Lazarsfeld et al. 1968; Taber/Lodge 2006). The upshot is that attention is selective (Frey 1986) and as such can cause different voters to be exposed to completely different campaign signals.

The New Political Psychology of Voting

15

The second stage of information processing is encoding – making sense of what is being attended to. In their standard work on social cognition, Fiske and Taylor (1991) make it very clear that encoding is an elaborative process. Making sense of information means interpreting it in light of what is already known, filling in gaps, and omitting details that do not appear to fit. Thus, the mind does not make a carbon copy of the inputs to which one is attending. Instead a better metaphor would be that of an impressionist painter who renders his or her impression of a person or landscape. Sometimes the original inputs can still be readily recognized, as when a voter is motivated to engage in piecemeal information processing. At other times, the inputs are hardly recognizable because the voter’s existing preconceptions have added new aspects that were not part of the stimulus and removed other aspects that were (e.g., Fiske 1986; Fiske/Neuberg 1990). Important is again, however, that two voters who attend to the same information may come away with very different impressions because they elaborate in completely different ways (on this point see Steenbergen/Lodge 2003). Encoding is not just an elaborative process but also an evaluative process. That, at least, is the claim of advocates of the on-line model of candidate evaluation (Lodge et al. 1989, 1995). These scholars believe, with considerable evidence on their side, that voters distill an evaluative tally from the information they attend to and encode. That tally is attached to the object that is being evaluated and it is updated as new information is processed. Importantly, the evaluative tally influences both attention and encoding (Lodge/Taber 2005; Taber/Lodge 2006). For example, a prior negative evaluation of a political party may increase the likelihood of attending to negative messages about that party (e.g., Sweeney/Gruber 1984). At the same time, it may decrease the likelihood that positive messages are elaborated positively, with a voter discounting and possibly counter-arguing such inputs (e.g., Fischle 2000). Two further stages are of importance in information processing. The first is storage, the second retrieval. In associative network models of memory, these two stages are intricately related (Anderson 1983).2 Such models depict memory for a party or candidate as a node-link structure, whereby the nodes represent concepts and the links express beliefs. An example of such a structure would be Die Grünen – Environment – Global Warming. This structure contains three concepts (Die Grünen, Environment, and Global Warming) and two links. The link between Die Grünen and the Environment expresses the belief that the German Greens are an environmental party. The link between the Environment and Global Warming expresses the belief that global warming is a significant threat to the environment. In the associative network model, links vary in strength, with stronger beliefs resulting in stronger links. Link-strength has implications for retrieval. In one of the most widely used retrieval models, the so-called spreading-activation model (Collins/Loftus 1975), a limited amount of activation energy is activated into a node. That energy comes about because a person is attending to the object that is represented in the node. It is limited because of the cognitive limitations discussed earlier. The activation energy then spreads to other nodes, flowing 2

Associative network models are not the only models of memory, but they have gained considerable prominence in the political cognition literature. For a discussion of some alternatives see Steenbergen and Lodge (2003).

16

Marco R. Steenbergen

first to the nodes that are most strongly associated with the initially activated node. As the energy spreads, additional concepts and beliefs are attended to, a process that continues until the activation energy runs out. The retrieval process has several important implications. First, retrieval plays a central role in encoding: We make sense of new information in light of that portion of extant knowledge that is retrieved from memory at the time of encoding. Second, the likelihood of future retrieval of information depends to a large extent on the recency and frequency of past retrievals (Fiske/Taylor 1991). One can think of this in terms of strengthening the links. If two nodes are thought of together, then their linkage is strengthened, making it more likely that the spreading-activation process will ‘think’ of these two nodes again in the future. 2.2 Influences on Electoral Research 2.2.1 Theoretical Contributions The influences of the cognitive approach on electoral research have been plentiful, not just in theoretical terms but also methodologically. At a theoretical level, the cognitive approach left a particularly strong mark in three areas: memory for political candidates and parties, the role of heuristics in electoral decisions, and the impact of political sophistication. The earliest work on political memory, dating back to the 1980s, was concerned with schemata. In those days, not the associative network model but the schema concept dominated in social psychological discussions of memory organization. In the definition of Fiske and Taylor (1991: 98), a schema is “a cognitive structure that represents knowledge about a concept or type of stimulus, including its attributes and the relations among those attributes”. Students of voting behavior became interested in the content of the schemata voters brought to bear on an election. Of particular interest here was the role of partisan schemata, candidate schemata, and ideological schemata (see e.g., Conover/Feldman 1984; Lodge/Hamill 1986; Miller et al. 1986; Sharp/Lodge 1985). More recently, these topics have been approached from the perspective of the associative network model. This shift occurred due to severe criticism of the schema concept (see Kuklinski et al. 1991) and growing awareness that the associative network model results in more precise predictions. Thus, McGraw and Steenbergen (1995) and Rahn (1995) took up the question of whether voters organize their memory around evaluations of candidates or attributes of those candidates. Content aside, scholars have been interested in political schemata because they provide the basis for filling in information gaps (see Conover/Feldman 1986; Lau 1986). In a world where parties and candidates may not speak to all issues, or may speak of them in vague and ambiguous terms, voters may feel a deep need to impute the missing links. This can be done by relying on existing beliefs about parties or candidates and drawing inferences about their positions on certain issues. For example, the environment does not have to be an explicit campaign issue for German voters to infer that the Greens will favor proenvironmental policies more than, say, the CDU/CSU.

The New Political Psychology of Voting

17

Schema-based inferences are not always correct. For example, the inference that Democrats in the United States are opposed to capital punishment may once have been true but seems to belie contemporary political discourse. From a normative perspective, then, schematic processing raises interesting questions. However, in light of bounded rationality and cognitive miserliness, schematic processing provides an easy shortcut, one that seems widely used by voters. The alternative would be to build knowledge structures from the ground up, something that is time-consuming and effortful. Such piecemeal processing is likely to occur only when motivation is extremely high and information readily available. This brings me to a second topic that has received considerable attention in the literature: heuristic processing. While schemata can serve a heuristic function, the concept of heuristics is more general and, in electoral research, has come to mean any information shortcut.3 Such shortcuts include party (Rahn 1993), ideology (Sniderman et al. 1986), but also group likes and dislikes (Sniderman et al. 1991), endorsements (McDermott 2006), race, gender, occupation and other demographics (Cutler 2002; McDermott 1998, 2005), and cues from others (Lupia/McCubbins 1998). Voters employ shortcuts precisely because they reduce effort and simplify the task of voting. Rather than processing vast stores of decision-relevant information, they employ simple cues that produce a decision with relative ease. For example, a voter may decide to vote for someone simply because they share the same party label. In this case, there is no great need to pay attention to who the candidates are or what issues are at stake. The only information that is needed is readily available and easily processed, namely the party to which a candidate belongs. The present volume contains one article that explicitly references the topic of heuristics. Bettina Wagner’s article starts from the premise that the European Union is relatively unknown to citizens of Central and Eastern Europe, yet these same citizens render opinions about the European political system. At an earlier time, such opinions would quickly be classified as expressions of non-attitudes (Converse 1964). The heuristics literature (and Wagner as well) tends to take a more optimistic view. They believe that shortcuts are the devices that allow citizens – that may not be perfectly informed but are not uninformed either – to express their opinions (see Sniderman et al. 1986). This view of heuristics is considerably more benign than that conventionally expressed in psychology. When psychologists speak of heuristics, a discussion of biases is never far behind. For the longest time, the political science literature on heuristics made no reference to bias at all. That has begun to change, with several authors pointing to the “seedy” side of heuristics (Kuklinski/Hurley 1994; Lau/Redlawsk 2001), showing that they can easily cause voters to make decisions they would not have made had they been fully informed. Lau and Redlawsk (2001) show that this problem occurs especially among less-sophisticated voters, an ironic finding because the concept of heuristics was proposed with that segment of the electorate in mind (see also Huber, this volume). With this point, I have come to the third core theme coming out of political cognition: political sophistication. This is widely considered to be the most important stratifying variable in electoral behavior and public opinion alike. The idea that some voters bring to bear 3

This conception of heuristics is considerably broader than found in psychology, where the concept has been used mostly in the context of probability judgments in decision making. Consequently, the catalogue of heuristics in political psychology is much larger than in psychology.

18

Marco R. Steenbergen

a large store of political information while others know relatively little found one of its earliest expressions in the work of Fiske and Kinder (1981; Fiske et al. 1983), who demonstrated the importance of such differences for political information-processing. In a way, however, the importance of sophistication had already been foreshadowed in the works of Berelson (1958) and Converse (1964), who both demonstrated that the American mass public was not particularly sophisticated and in this sense failed to live up to normative standards of citizenship. What followed, in the 1980s and 1990s, was a virtual political sophistication cottage industry with considerable effort being spent on documenting sophistication levels (Delli Carpini/Keeter 1996; Gordon/Segura 1997; Jerit et al. 2006) and their consequences (e.g., Gomez/Wilson 2001; Goren 2003, 2004; Hamill/Lodge 1986; Lau/Redlawsk 2006; Macdonald et al. 1995; McGraw et al. 1990; McGraw/Pinney 1990; Rahn et al. 1994; Zaller 1991, 1992).4 In the present volume, the topic of sophistication is particularly visible in the paper by Carsten Reinemann and Marcus Maurer. The overall picture that emerges from the various papers on political sophistication is that political sophisticates possess larger stores of political information, organize this information in denser node-link structures, organize it along potentially different dimensions, are more likely to receive information, use heuristics more effectively, and are more inclined to engage in on-line processing then their less sophisticated peers. Many of these would seem like desirable attributes of democratic citizenship. But there is a downside to sophistication. As both Zaller (1991, 1992) and Taber and Lodge (2006) have pointed out, sophisticates may be highly resistant – perhaps too resistant – to messages that challenge prior beliefs and attitudes. They are well-equipped to discount and counter-argue such messages and will happily do so, even if those messages appear to be quite convincing. 2.2.2 Methodological Contributions The cognitive approach has done more than to offer new concepts and ideas to electoral research. It has also broadened the methodological horizons of electoral researchers. While survey research remains an important tool, it has lost its hegemony. In particular, experimental studies, often in non-representative samples but sometimes also taking the form of survey experiments, have become commonplace in electoral research. The methodological advantages of randomized experiments are well-known (e.g., Rubin 1974). In addition to offering high internal validity, they allow researchers to manipulate information and other aspects of the environment. Thus, it is possible to simulate conditions that do not always arise in the real world of electoral campaigns. In the present volume, a nice example of randomized experimentation can be found in the paper by Thorsten Faas and Harald Schoen. The cognitive approach has also produced a range of new measures for probing decision processes in voters’ minds. Thus attention can be gauged through information boards 4

There has been considerable debate about the measurement of political sophistication. Measures have ranged from education and interest to general or domain-specific political knowledge (e.g., McGraw/Pinney 1990; see also Westle and Johann this volume). Of considerable interest, too, is the work of Rosenberg (1988), who conceptualizes and measures sophistication in terms of patterns of reasoning and problem solving.

The New Political Psychology of Voting

19

(Herstein 1981; Lau/Redlawsk 2006) or through eye-tracking (Geise/Brettschneider, this volume).5 Memory organization can be gauged through adjusted ratios of clustering in free recall (McGraw/Steenbergen 1995). Response latencies can be used to gauge a number of elements of cognition, including the accessibility and strength of attitudes (see the contribution of Thorsten Faas and Jochen Mayerl in this volume) and the nature of information processing (Hertel/Bless 2000). All of these measures provide insights about cognitive processing and, ultimately, about electoral choice. 2.3 Recent Developments The most recent developments in the cognitive approach to electoral behavior can be described in terms of four themes: dual process models, motivation, automaticity and ambivalence. Dual process models stress the possibility that not all voters at all times process information in the same manner but can employ different processing modes depending on their goals and circumstances. Such models have a long history in social psychology (see Moskowitz et al. 1999). They include the elaboration likelihood model (e.g., Petty/Wegener 1999), the systematic-heuristic model (e.g., Chen/Chaiken 1999a, b), and several other models. Of these, the elaboration likelihood model has been the most explored in electoral and public opinion research (e.g., Alvarez/Brehm 1995; Mondak 1993). Less well-known, but highly relevant, is the systematic-heuristic model, which postulates that decision makers may either engage in systematic processing of information or in heuristic processing (cf. Ottati 1990). This model has found a recent application in research on ambivalence, which will be discussed below. The manner in which information is being processed by voters depends highly on their motivations.6 A critical distinction here is between directional and accuracy goals (see Kunda 1990; Lodge/Taber 2000). Accuracy-motivated individuals want to make the right decision. This disposes them to open-minded information processing. Relevant information is attended to and interpreted in an even-handed manner, even if it runs counter to prior beliefs. Consequently, these individuals are responsive to evidence and update their prior beliefs accordingly. By contrast, directionally motivated individuals want to protect their existing beliefs. This disposes them to a rather closed-minded style of information processing, which is characterized by both confirmation and disconfirmation biases (Taber/Lodge 2006). The confirmation bias disposes them to seek out belief-congruent information. The disconfirmation bias implies that they discount and counter-argue any 5

6

The work of Lau and Redlawsk (2006) is particularly promising. It renders static information boards (Herstein 1981) dynamic so that they better mimic a political campaign. By considering information search patterns, Lau and Redlawsk deduce types of decision making. While there may be some slippage between search and decision making (see Taber/Steenbergen 1995), the dynamic information board technology is an important advance in studying electoral behavior. Noteworthy, too, is the normative interest of Lau and Redlawsk, which is reflected in the question of whether voters vote “correctly” (e.g. Lau/Redlawsk 1997). The emphasis on motivation implies a shift away from earlier conceptualizations of information processing, which frequently relied on the metaphor of the mind as a computer. That metaphor has some advantages, for example in describing the role of various memory systems. It is misguided, however, in that computers, unlike human beings, do not have motivations.

20

Marco R. Steenbergen

belief-incongruent information they happen to be confronted with. Such individuals, then, are not particularly responsive to information streams, unless they happen to be consistent with prior attitudes. Motivated reasoning – the idea that political reasoning depends on one’s motives – fits the dual processing logic in that people are not always accuracy- or directionally-motivated but may possess different motives at different times, depending on circumstances and needs. It is an idea that could prove of great importance in understanding electoral behavior, for example, in the area of economic voting. The idea that voters reward and punish incumbents based on economic performance depends on willingness to perceive economic conditions for what they are. That is much more likely when voters are guided by accuracy motivations than by directional goals, in particular when these goals are partisan. Someone who strongly identifies with a party in power may find it hard to believe that the economy could perform poorly under the government. Likewise, someone who identifies with an opposition party may find it difficult to swallow that the economy could actually be doing well under the government (see Bartels 2000). Related to the topic of motivated reasoning is that of automaticity. Many social psychologists now believe that attitudes, beliefs, and stereotypes may be automatically activated, upon mere exposure to some object. Such automaticity implies that a person is often unaware of the attitude, belief, or stereotype, even if it has a real impact on subsequent information processing.7 From this perspective, confirmation and disconfirmation biases may reflect less a conscious choice for directional goals as reactions triggered by automatically triggered attitudes and beliefs (see Lodge/Taber 2005; Morris et al. 2003; Taber/Lodge 2006). For example, strong identifiers with the opposition may automatically experience disdain for the government and this may color the interpretation of news about government performance, whether it be positive or negative. The themes of dual-process models, motivation, and automaticity have come together in the literature on ambivalence. Attitudinal ambivalence arises when a voter experiences intense likes and dislikes toward the same object at the same time (see, e.g., Lavine/Steenbergen 2005). Political psychologists are interested in ambivalence in large part because they suspect that conflicted individuals process information and make decisions differently than their non-conflicted peers (see also Alvarez/Brehm 1995; Basinger/Lavine 2005; Lavine 2001; Meffert et al. 2003). Recently, Lodge and Taber (2005) have demonstrated that one of the things setting apart ambivalent citizens is that their attitudes toward the object about which they feel conflicted are not triggered automatically. This stands in stark contrast to univalent citizens, whose attitudes are automatically triggered. Thus, it stands to reason that ambivalent voters are much more likely to engage in deliberated choice than their univalent brethren. An explicit test of this implication can be found in Basinger and Lavine (2005), who look at the effect of partisan ambivalence on voting behavior in U.S. congressional elec7

There has been extensive debate in social psychology of two questions. First, exactly how many attitudes, beliefs, and stereotypes are automatic? Fazio et al. (1986) have argued that only strong attitudes possess this quality, while Bargh et al. (1992) believe that many more things are automatic. Second, to what extent can someone develop awareness of automatically activated attitudes and cognitions and correct their impact? Here Devine (1989) has been far more optimistic than Bargh, who pretty much believes that control is impossible.

The New Political Psychology of Voting

21

tions. Partisan ambivalence arises when a person simultaneously experiences positive pulls toward both the Democratic and Republican parties. Using the heuristic-systematic model, Basinger and Lavine argue that such ambivalence alters voters’ motivations. Specifically, voters are generally driven by two motivations: (1) a least-effort principle and (2) a sufficiency principle. The least effort principle pushes them to rely on heuristics such as partisanship. If heuristic processing generates sufficient confidence in a decision, then voters forego more effortful processing. If heuristics do not yield sufficient confidence, then they will engage in systematic processing. Basinger and Lavine show that univalent partisans can drive sufficient confidence from relying on partisan heuristics. This is not true, however, of ambivalent partisans. These voters will rely on more than partisanship alone, with the nature of additional considerations depending on political sophistication as well as the cost of acquiring decision relevant information. The emphasis on dual processing, motivation, automaticity, and ambivalence presents one of the latest developments in the new political psychology of voting behavior. One can see this development as a call to study inter-individual differences in information processing (due to ambivalence or sophistication) as well as intra-individual differences (due to dual processing). Simultaneously, it is a call to move beyond deliberate decision making and to study the impact of automatic cognition. In the process, the cognitive approach becomes increasingly aware of the role of affect, which presents a second pillar of the new political psychology of voting behavior. 3

Affect and Vote Choice

3.1 Theoretical Premises It is probably fair to say that political scientists have always looked at emotions with some suspicion. Politics is supposed to be about rational choices and voting is no exception. This attitude, however, appears to be changing, with emotions receiving ever more attention. In addition, neuroscience provides us with plenty of reason to take emotions seriously, also in the political domain. Neuroscience has brought many important insights into the human mind, but two are of particular importance to students of voting behavior. First, any sharp distinction between affect and cognition is inconsistent with the architecture of the human brain (see e.g., Damasio 1994; Marcus 2003; Marcus et al. 2000). The so-called intermediate and rational brains, i.e., the limbic system and the neocortex, are intricately connected, for instance through the cingulate and parahippocampal gyri. Second, cognition requires emotion, as has become evident from a wide range of studies comparing individuals with intact and damaged limbic systems (e.g., bilateral damage to the amygdala; see e.g., Adolphs 2003; Damasio 1994; see also Marcus 2003; Marcus et al. 2000). In the context of electoral behavior, one simple reason for this is that attitudes and preferences, the very bases of “rational” behavior, are rooted ultimately in some form of somatic response that allows one to distinguish between what is pleasant and what is not. It would be difficult to see how one could develop such a response in the absence of emotion.

22

Marco R. Steenbergen

While there is growing recognition among political psychologists that a purely cognitive approach to voting behavior is at best incomplete and quite possibly misleading, there is no consensus on the exact conceptualization of affect. This is no great surprise, given that the term takes on different meanings in psychology and neuroscience as well. One potential confusion is that between emotions, feelings, and moods. All affect involves feelings, in the sense of positive or negative sensations. It is generally believed that emotion and mood go beyond feeling in that certain cognitive and behavioral responses may accompany the feelings. Emotions differ from moods in that they can be attributed to some concrete object or experience (see Isbell/Ottati 2002; Isbell et al. 2006). Thus feeling angry about some politician or event can be considered an emotion, whereas feeling blue would be a mood state. Most political psychologists focus on the role of emotions in electoral behavior (for an exception, see Isbell/Ottati 2002).8 Even with the focus on emotions, however, unclarity remains. Should emotions be conceived of as discrete experiences, each serving a specific function, as functionalist theorists have argued (e.g., Izard 1977)? Or should we think of emotions as being instances of broader categories such as positive and negative affect, as the circumplex model has argued? In the first case, feeling uneasy is to be distinguished from feeling anxious, for example. In the second case, both of these emotions are viewed as exemplars of negative emotions. Many political psychologists have taken the latter approach, but there are also examples were functional theory has been used to understand political phenomena (Nabi 2003). Even the circumplex model is not entirely clear. In its original conception, the model argued that emotions have both a valence (positive or negative) and an arousal component (Watson/Tellegen 1985). Through simple rotation, one can then create two dimensions: positive and negative affect, each with a particular intensity associated (e.g., Marcus et al. 2006). But more recently, scholars have begun to argue that it is necessary to sub-divide the category of negative emotions into anxiety and aversion (Morgan/Heise 1988). While some political psychologists have begun to do so (Steenbergen/Ellis 2006; Valentino et al. 2008), others argue that aversion is rare in the electoral domain and therefore of less importance than anxiety (Marcus et al. 2000). It is clear, then, that the importance of affect for politics is now more readily recognized than it once was. How to conceptualize affect, however, remains a topic of lively discussion. Despite these conceptual debates, affect has become an ever more central theme in electoral research, as I shall describe below.

8

In general, approaches that focus on affect as information (e.g., Schwarz/Clore 1988) tend to be concerned with moods rather than emotions. In this paradigm, it has been demonstrated, for example, that putting people in a good mood may enhance the evaluations of politicians, an effect that ceases to exist, however, when individuals are made aware of the fact that their mood has been manipulated.

The New Political Psychology of Voting

23

3.2 Influences on Electoral Research 3.2.1 Theoretical Contributions The early research on the role of affect in elections was concerned mostly with establishing its importance. Abelson et al. (1982) published a seminal paper on this topic, demonstrating that emotional reactions played a central role in the evaluation of U.S. presidential candidates and were not redundant with beliefs about those candidates. It was one of the first demonstrations of the independent role of emotions in voting behavior. This was followed by a range of other papers replicating this result across a variety of contexts and measures (e.g., Conover/Feldman 1986; Granberg/Brown 1989; Ottati et al. 1992; Ragsdale 1991; Rahn et al. 1990). The chapter by Christian Schemer, Werner Wirth, and Jörg Matthes in the present volume follows a similar pattern in a direct democratic setting. This line of research remains of considerable importance, but has been superseded by a focus on the way emotions influence cognition and decision-making. The dominant model here is the Affective Intelligence Model (Marcus et al. 2000). This model may be viewed as an affectively-mediated dual-process model of political behavior. It argues for the existence of two systems – a disposition and a surveillance system. The disposition system captures the idea that much of political behavior is habitual. Citizens form habits such as always voting for the same party (for example, based on partisanship). These habits allow citizens to make decisions effortlessly. In a U.S. presidential election, for example, a voter needs to know no more than a candidate’s party to guide his vote choice. He or she does not need to know anything else about the candidate – whether he/she is short or tall, has blond or dark hair (or no hair at all), what previous office he/she held, etc. The voter also does not need to know where the candidate stands on all of the issues. He or she can just vote for the candidate if that person shares the voter’s partisanship. At least, the voter can get away with such a minimalist strategy if politics unfolds as usual, i.e., if Democrats behave like Democrats and Republicans like Republicans. And how does the voter know whether politics operates as usual? The affective signal for this is the emotional experience of enthusiasm toward one’s own candidate. Sometimes, however, politics is not as usual. It may be that one’s own candidate is an atypical partisan, coming from an unusual background and/or holding unusual positions on issues. This novelty may catch one’s attention. And sometimes it is more than novelty – it is a threat. For example, the candidate may come from a questionable background or hold certain issue positions that are particularly egregious to the voter. Such threats should cause the voter to suspend his or her habits and take a second look at the candidates, based on the available information. This suspension of habits comes about when the voter feels anxious about his or her own candidate. This anxiety-mediated process is referred to as the surveillance system. A key piece of evidence for the Affective Intelligence Model is the relative impact of candidate qualities, policy preferences, and partisan cues on vote intention. Using the 1980-96 American National Election Studies, Marcus et al. (2000) divide the electorate into complacent and anxious voters. Complacent voters are those who do not experience anxiety toward the presidential candidate from their own party; anxious voters do experience such anxiety. For complacent voters, 44 percent of the variance is explained by partisan cues.

24

Marco R. Steenbergen

This goes down dramatically (to eight percent) for anxious voters. Put differently, whereas partisanship dominates the explanation of vote intentions for complacent voters, it is policy preferences that dominate for anxious voters.9 Thus dispositions are downplayed and contemporary information about issues (and candidates) carries the day. The Affective Intelligence Model is not the only model to stress the influence of affect on cognition. Lodge and Taber’s work on hot cognition also argues that prior affect toward an object colors subsequent information-processing about this object, precisely because affect is triggered automatically. The hot cognition model consists of three pillars. First, voters are deemed to be on-line processors, which means they immediately derive the evaluative implications of information as part of the encoding process. These evaluative implications are placed in an on-line tally that is stored as part of the associative network node for a party or political candidate. This means that political cognition is hot cognition, i.e., cognition plus affect. Finally, the how-do-I-feel heuristic entails to the retrieval of the on-line tally, which often occurs automatically and beyond conscious awareness but has a powerful influence on subsequent information processing (Lodge/Taber 2000, 2005; see also Lodge et al. 2006). With the Affective Intelligence and hot cognition model, the new political psychology of voting behavior has begun to explore how affect interacts with cognition. Rather than looking at the main effects of affect and cognition, as the earlier literature did, the push is now to understand how affect moderates cognition. 3.2.2 Methodological Contributions Like the cognitive approach, the study of political affect has brought considerable methodological innovation, often in the form of methods incorporated from psychology and neuroscience. This includes traditional psychophysiological measures such as electrodermal responses, changes in heart rate and blood pressure, and changes in facial musculature. It also includes event-related potentials (ERPs; see Morris et al. 2003) and functional magnetic resonance imaging (fMRI; see Heberlein et al. 2003; Phelps/Thomas 2003). Of considerable interest is also the use of affective primes (Burdein et al. 2006) and of implicit association tests (Arcuri et al. 2008) to study implicit affect in the political domain. Taken together, these methods open up interesting new avenues for research on the role of emotions in electoral behavior. 3.3 Recent Developments Two recent developments in the affect literature are of considerable interest. The first is concerned with the sources of emotional reactions and crosses into political communication. It calls attention to the role of mass media, in particular political advertising, in shaping emotional reactions about candidates. Brader’s (2005, 2006) work demonstrates that 9

See Ladd and Lenz (2008) for a criticism of these empirical claims that stresses the endogenous nature of emotional responses.

The New Political Psychology of Voting

25

political advertisements can induce emotions such as anxiety through the manipulation of audiovisual cues. In carefully crafted experiments, he shows that the same message with audiovisual cues evokes much stronger emotional reactions than it does without these cues. He also shows that these emotions produce effects that are consistent with the Affective Intelligence Model. In earlier work, Nelson and Boynton (1997) also emphasized the importance of pathos in what they call “video rhetorics,” i.e., televised political advertising. They, too, emphasize the importance of audiovisual cues in producing such pathos. For example, working with grainy black-and-white images, horror style music, and grave-sounding voice-overs can do a lot to induce anxiety in voters. As Nelson and Boynton document, these styles of advertising have become a central aspect of American elections at many levels. A second development that is of interest is a growing concern with the role of aversion in politics. As discussed earlier, many scholars now believe that it is insufficient to distinguish only between positive and negative emotions, and that it is necessary to sub-divide the class of negative emotions into anxiety and aversion. Although Marcus, Neuman and MacKuen (2000) have argued that aversion toward political figures is rare, at least in American politics, and that it is often impossible to discriminate between anxiety and aversion, this may be somewhat of a measurement artifact. For instance, in the 1995 American National Election Studies, when a large battery of affect items was administered, aversion clearly broke apart from anxiety in appraisals of then president Bill Clinton (Marcus et al. 2000; Steenbergen/Ellis 2006). And a sizable group of Americans, consisting mostly of Republicans, experienced aversion toward him. Aversion, then, may be much more common and distinct as has sometimes been assumed. Yet empirical studies of aversion in the electoral domain are only now starting to appear. Steenbergen and Ellis (2006) focused on the causes of anxiety and aversion, arguing that the latter typically involves an element of blame. For example, when the economy fares poorly under a particular president this may cause voters to become anxious about this person. But the anxiety may turn into aversion if these voters believe the economy is doing poorly because of the actions (or inaction) of the president. Aversion may also come about when a political figure is considered to violate values and moral standards deemed very important by the voter. This would explain the aversion felt toward Clinton by people who held traditional moral values. A second study by Valentino et al. (2008) inquires into the consequences of aversion vis-à-vis anxiety. It argues and finds that anxiety has a somewhat unique status among the emotions, in that it is the only emotion to trigger deep information search. Neither enthusiasm nor aversion have this effect, with aversion actually depressing information search. This finding raises interesting questions about depth of information processing, as it stands to reason that aversion may not just cause people to seek out less information but also process this information more shallowly. Both of these developments – the emphases on political communication and on aversion – raise important questions about the role of emotions in elections. Their intersection is also of great interest, for if emotions can be manipulated through carefully crafted media messages, then aversion may also be under the control of political campaigns. This could help us understand not just the electoral fortunes of one party or the other, but also the rise of movements of mass-hatred against certain groups.

26 4

Marco R. Steenbergen Conclusion: The Challenges Ahead

The new political psychology of voting has allowed us to peer inside voters’ minds. It has opened what hitherto was a black box (Lodge/Stroh 1993). With every advance in theory and measurement, we have come to understand better the way in which voters process information and make up their minds. These are welcome developments for anyone who is interested in more than electoral outcomes and who would like to understand how these outcomes come about. There has been one major liability, however. Much of the new political psychology of voting has focused on the American context. This is no surprise, given that political psychology, in general, is more institutionalized in the United States than elsewhere in the world. One cannot but wonder, however, whether results that apply to the U.S. electoral system transport so easily to other parts of the world. The chapters in this volume are a welcome correction to this problem. Not only do they demonstrate a growing interest in political psychology in Germany. They also reveal that the theories and methods of political psychology can be fruitfully applied in other parts of the world. This is a first necessary step in correcting the U.S.-centric bias in the new political psychology of voting. It cannot, however, be the last step. The nature of elections is fundamentally different in, for example, Europe as compared to the United States. U.S. elections are much more candidate-centered than European elections, although this may be changing. The number of viable alternatives is much smaller in the U.S. than in any political system in Europe. In most European countries, governments are not formed by one party but by a coalition, thus adding additional complexity. Few European democracies use the plurality system that is prevalent in the U.S., thus altering the nature of, for example, strategic voting. The ultimate challenge that lies ahead is to make these institutional features an integral part of psychological explanations of the vote. As Stone and Schaffner (1988) argued, political psychology is about the two-way street between politics and psychology. The new political psychology of voting has managed to cover one side of the street – that from psychology to politics – doing so in an ever more sophisticated manner. The other side – that from politics to psychology – remains under-developed. But the growing interest in political psychology by scholars outside the U.S. means that there are now excellent opportunities to develop this aspect as well. References Abelson, Robert P./Kinder, Donald R./Peters, Mark D. (1982): Affective and Semantic Components in Political Person Perception. In: Journal of Personality and Social Psychology 42, 619-630. Adolphs, Ralph (2003): Cognitive Neuroscience of Human Social Behaviour. In: Nature Reviews Neuroscience 4, 165-178. Alvarez, Michael R./Brehm, John (1995): American Ambivalence towards Abortion Policy. Development of a Heteroskedastic Probit Model of Competing Values. In: American Journal of Political Science 39, 1055-1082. Anderson, John R. (1983): The Architecture of Cognition. Hillsdale, NJ: Erlbaum.

The New Political Psychology of Voting

27

Arcuri, Luciano/Castelli, Luigi/Galdi, Silvia/Zogmaister, Cristina/Amadori, Alessandro (2008): Predicting the Vote. Implicit Attitudes as Predictors of the Future Behavior of Decided and Undecided Voters. In: Political Psychology 29, 369-387. Bargh, John A./Chaiken, Shelly/Govender, Rajen/Pratto, Felicia (1992): The Generality of the Automatic Attitude Activation Effect. In: Journal of Personality and Social Psychology 62, 893-912. Bartels, Larry M. (2000): Partisanship and Voting Behavior, 1952-1996. In: American Journal of Political Science 44, 35-50. Basinger, Scott J./Lavine, Howard (2005): Ambivalence, Information, and Electoral Choice. In: American Political Science Review 99, 169-184. Berelson, Bernard (1958): Democratic Theory and Public Opinion. In: Public Opinion Quarterly 16, 313-330. Berelson, Bernard R./Lazarsfeld, Paul F./McPhee, William N. (1986): Voting. A Study of Opinion Formation in a Presidential Campaign. Chicago: University of Chicago Press. Brader, Ted (2005): Striking a Responsive Chord. How Political Ads Motivate and Persuade Voters by Appealing to Emotions. In: American Journal of Political Science 49, 388-405. Brader, Ted (2006): Campaigning for Hearts and Minds. Chicago: University of Chicago Press. Burdein, Inna/Lodge, Milton/Taber, Charles S. (2006): Experiments on the Automaticity of Political Beliefs and Attitudes. In: Political Psychology 27, 359-371. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E. (1976): The American Voter. Chicago: University of Chicago Press. Chen, Serena/Chaiken, Shelly (1999a): The Heuristic-Systematic Model in its Broader Context. In: Chaiken, Shelly/Trope, Yaacov (Hrsg.) (1999): Dual-Process Theories in Social and Cognitive Psychology. New York: Guilford. Chen, Serena/Chaiken, Shelly (1999b): Motivated Heuristic and Systematic Processing. In: Psychological Inquiry 10, 44-49. Collins, Allan M./Loftus, Elizabeth F. (1975): A Spreading-Activation Theory of Semantic Processing. In: Psychological Review 82, 407-428. Conover, Pamela J./Feldman, Stanley (1984): How People Organize the Political World. A Schematic Model. In: American Journal of Political Science 28, 95-126. Conover, Pamela J./Feldman, Stanley (1986): The Role of Inference in the Perception of Political Candidates. In: Lau, Richard R./Sears, David O. (Hrsg.) (1986): Political Cognition. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Converse, Philip E. (1964): The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In: Apter, David E. (Hrsg.) (1964): Ideology and Discontent. New York: Free Press. Cutler, Frank (2002): The Simplest Shortcut of All. Sociodemographic Characteristics and Electoral Choice. In: Journal of Politics 64, 466-490. Damasio, Antonio R. (1994): Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: G.P. Putnam. Delli Carpini, Michael X./Keeter, Scott (1996): What Americans Know about Politics and Why It Matters. New Haven, CT: Yale University Press. Devine, Patricia G. (1989): Stereotypes and Prejudice. Their Automatic and Controlled Components. In: Journal of Personality and Social Psychology 56, 5-18. Fazio, Russel H./Sanbonmatsu, David M./Powell, Martha/Kardes, Frank R. (1986): On the Automatic Activation of Attitudes. In: Journal of Personality and Social Psychology 50, 229–238. Fischle, Mark (2000): Mass Response to the Lewinsky Scandal. Motivated Reasoning or Bayesian Updating? In: Political Psychology 21, 135-159. Fiske, Susan T. (1986): Schema-Based Versus Piecemeal Politics. A Patchwork Quilt, but Not a Blanket, of Evidence. In: Lau, Richard R./Sears, David O. (Hrsg.) (1986): Political Cognition. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Fiske, Susan T./Kinder, Donald R. (1981): Involvement, Expertise, and Schema Use. Evidence from Political Cognition. In: Cantor, Nancy/Kiglstrom, John (Hrsg.) (1981): Personality, Cognition, and Social Interaction. Hillsdale, NJ: Erlbaum.

28

Marco R. Steenbergen

Fiske, Susan T./Kinder, Donald R./Larter, W. Michael (1983): The Novice and the Expert. Knowledge-Based Strategies in Political Cognition. In: Journal of Experimental Social Psychology 19, 381-400. Fiske, Susan T./Neuberg, Steven (1990): A Continuum Model of Impression Formation from Category-Based to Individuating Responses. Influences of Information and Motivation on Attention and Interpretation. In: Advances in Experimental Social Psychology 23, 1-75. Fiske, Susan T./Ruscher, Janet B. (1989): On-Line Processes in Category-Based and Individuating Impressions. Some Basic Principles and Methodological Reflections. In: Bassili, John N. (Hrsg.) (1989): On-Line Cognition in Person Perception. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Fiske, Susan T./Taylor, Shelley E. (1991): Social Cognition. 2. Auflage. New York: McGraw-Hill. Frey, Dieter (1986): Recent Research on Selective Exposure to Information. In: Advances in Experimental Social Psychology 19, 41-80. Gomez, Brad T./Wilson, J. Matthew (2001): Political Sophistication and Economic Voting in the American Electorate. A Theory of Heterogeneous Attribution. In: American Journal of Political Science 45, 899-914. Gordon, Stacy B./Segura, Gary M. (1997): Cross-National Variation in the Political Sophistication of Individuals. Capability or Choice? In: Journal of Politics 59, 126-147. Goren, Paul (2003): Race, Sophistication, and White Opinion on Government Spending. In: Political Behavior 25, 201-220. Goren, Paul (2004): Political Sophistication and Policy Reasoning. A Reconsideration. In: American Journal of Political Science 48, 462-478. Granberg, Donald/Brown, Thad A. (1989): On Affect and Cognition in Politics. In: Social Psychology Quarterly 52, 171-182. Hamill, Ruth/Lodge, Milton (1986): Cognitive Consequences of Political Sophistication. In: Lau, Richard R./Sears, David O. (Hrsg.) (1986): Political Cognition. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Heberlein, Andrea S./Adolphs, Ralph/Pennebaker, James W./Tranel, Daniel (2003): Effects of Damage to Right-Hemisphere Brain Structures on Spontaneous Emotional and Social Judgments. In: Political Psychology 24, 705-726. Herstein, John A. (1981): Keeping the Voter's Limits in Mind. A Cognitive Process Analysis of Decision Making in Voting. In: Journal of Personality and Social Psychology 40, 843-861. Hertel, Guido/Bless, Herbert (2000): ‘On-line’ und erinnerungsgestützte Urteilsbildung. Auslösefaktoren und Empirische Unterscheidungsmöglichkeiten. In: Psychologische Rundschau 51, 19–28. Isbell, Linda M./Ottati, Victor C. (2002): The Emotional Voter. In: Ottati, Victor C./Tindale, Scott/Edwards, John/Bryant, Fred B./Heath, Linda/O'Connell, Daniel C./Suarez-Balcazar, Yolanda/Posavac, Emil J. (Hrsg.) (2002): The Social Psychology of Politics. New York: Kluwer. Isbell, Linda M./Ottati, Victor C./Burns, Kathleen C. (2006): Affect and Politics. Effects on Judgement, Processing and Information Seeking. In: Redlawsk, David P. (Hrsg.) (2006): Feeling Politics. Emotion in Political Information Processing. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Izard, Carroll E. (1977): Human Emotions. New York: Plenum. Jerit, Jennifer/Barabas, Jason/Bolsen, Toby (2006): Citizens, Knowledge, and the Information Environment. In: American Journal of Political Science 50, 266-282. Klapper, Joseph T. (1960): The Effects of Mass Communication. Glencoe, IL: Free Press. Krosnick, Jon A. (1990): Government Policy and Citizen Passion. A Study of Issue Publics in Contemporary America. In: Political Behavior 12, 59-92. Kuklinski, James H./Hurley, Norman L. (1994): On Hearing and Interpreting Political Messahes. A Cautionary Tale of Citizen Cue-Taking. In: Journal of Politics 56, 729-751. Kuklinski, James H./Luskin, Robert C./Bolland, John (1991): Where Is the Schema? Going beyond the “S” Word in Political Psychology. In: American Political Science Review 85, 1341-1356. Kunda, Ziva (1990): The Case for Motivated Reasoning. In: Psychological Bulletin 108, 480–498. Ladd, Jonathan McDonald/Lenz, Gabriel S. (2008): Reassessing the Role of Anxiety in Vote Choice. In: Political Psychology 29, 275-296.

The New Political Psychology of Voting

29

Lau, Richard R. (1986): Political Schemata, Candidate Evaluations, and Voting Behavior. In: Lau, Richard R./Sears, David O. (Hrsg.) (1986): Political Cognition. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Lau, Richard R./Redlawsk, David P. (1997): Voting Correctly. In: American Political Science Review 91, 585-598. Lau, Richard R./Redlawsk, David P. (2001): Advantages and Disadvantages of Cognitive Heuristics in Political Decision Making. In: American Journal of Political Science 45, 951-971. Lau, Richard R./Redlawsk, David P. (2006): How Voters Decide. Information Processing during Election Campaigns. Cambridge: Cambridge University Press. Lavine, Howard (2001): The Electoral Consequences of Ambivalence toward Presidential Candidates. In: American Journal of Political Science 45, 915-929. Lavine, Howard/Steenbergen, Marco (2005): Group Ambivalence and Electoral Decision-Making. In: Craig, Stephen C./Martinez, Michael (Hrsg.) (2005): Ambivalence, Politics, and Public Policy. New York: Palgrave Macmillan. Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel (1968): The People’s Choice. How the Voter Makes up His Mind in a Presidential Campaign. New York: Columbia University Press. Lodge, Milton/Hamill, Ruth (1986): A Partisan Schema for Political Information Processing. In: American Political Science Review 80, 505-520. Lodge, Milton/McGraw, Kathleen M./Stroh, Patrick (1989): An Impression-Driven Model of Candidate Evaluation. In: American Political Science Review 83, 399-419. Lodge, Milton/Stroh, Patrick (1993): Inside the Mental Voting Booth. An Impression-Driven Model of Candidate Evaluation. In: Iyengar, Shanto/McGuire, William J. (Hrsg.) (1993): Explorations in Political Psychology. Durham, NC: Duke University Press. Lodge, Milton/Taber, Charles S. (2000): Three Steps toward a Theory of Motivated Political Reasoning. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew D./Popkin, Samuel L. (Hrsg.) (2000): Elements of Reason. Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality. New York: Cambridge University Press. Lodge, Milton/Taber, Charles S. (2005): The Automaticity of Affect for Political Leaders, Groups, and Issues. An Experimental Test of the Hot Cognition Hypothesis. In: Political Psychology 26, 455-482. Lodge, Milton/Steenbergen, Marco R./Brau, Shawn (1995): The Responsive Voter. Campaign Information and the Dynamics of Candidate Evaluation. In: American Political Science Review 89, 309-326. Lodge, Milton/Taber, Charles S./Weber, Christopher (2006): First Steps Towards a Dual-Process Accessibility Model of Political Beliefs, Attitudes, and Behavior. In: Redlawsk, David P. (Hrsg.) (2006): Feeling politics. Emotion in Political Information Processing. New York: Palgrave Macmillan. Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew D. (1998): The Democratic Dilemma. Can Citizens Learn What They Need to Know? Cambridge: Cambridge University Press. Macdonald, Stuart/Rabinowitz, George/Listhaug, Ola (1995): Political Sophistication and Models of Issue Voting. In: British Journal of Political Science 25, 453-483. Marcus, George E. (2003): The Psychology of Emotion and Politics. In: Sears, David O./Huddy, Leonie/Jervis, Robert (Hrsg.) (2003): Handbook of Political Psychology. New York: Oxford University Press. Marcus, George E./MacKuen, Michael B./Wolak, Jennifer/Keele, Luke (2006): The Measure and Mismeasure of Emotion. In: Redlawsk, David (Hrsg.) (2006): Feeling Politics. Emotion in Political Information Processing. New York: Palgrave Macmillan. Marcus, George E./Neuman, W. Russell/MacKuen, Michael B. (2000): Affective Intelligence and Political Judgment. Chicago: University of Chicago Press. McDermott, Monika L. (1998): Race and Gender Cues in Low-Information Elections. In: Political Research Quarterly 51, 895-918. McDermott, Monika L. (2005): Candidate Occupations and Voter Information Shortcuts. In: Journal of Politics 67, 201-219.

30

Marco R. Steenbergen

McDermott, Monika L. (2006): Not for Members Only. Group Endorsements as Electoral Information Cues. In: Political Research Quarterly 59, 249-257. McGraw, Kathleen M./Lodge, Milton/Stroh, Patrick (1990): On-Line Processing in Candidate Evaluation. The Effects of Issue Order, Issue Importance, and Sophistication. In: Political Behavior 12, 41-58. McGraw, Kathleen M./Pinney, Neil (1990): The Effects of General and Domain-specific Expertise on Political Memory and Judgment. In: Social Cognition 8, 9-30. McGraw, Kathleen M./Steenbergen, Marco R. (1995): Pictures in the Head. Memory Representations of Political Candidates. In: Lodge, Milton/McGraw, Kathleen M. (Hrsg.) (1995): Political Judgment. Structure and Process. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press. Meffert, Michael/Guge, Michael/Lodge, Milton (2003): The Good, the Bad, and the Ambivalent. In: Sniderman, Paul/Saris, Willem (Hrsg.) (2003): Studies in Public Opinion. Gauging Attitudes, Nonattitudes, and Measurement Error. Princeton, NJ: Princeton University Press. Miller, Arthur H./Wattenberg, Martin P./Malanchuk, Oksana (1986): Schematic Assessments of Presidential Candidates. In: American Political Science Review 80, 521-540. Mondak, Jeffery (1993): Source Cues and Policy Approval. The Cognitive Dynamics of Public Support for the Reagan Agenda. In: American Journal of Political Science 37, 186-212. Morgan, Rick/Heise, David R. (1988): Structure of Emotions. In: Social Psychology Quarterly 51, 19–31. Morris, James P./Squires, Nancy K./Taber, Charles S./Lodge, Milton (2003): Activation of Political Attitudes. A Psychophysiological Examination of the Hot Cognition Hypothesis. In: Political Psychology 24, 727-745. Moskowitz, Gordon B./Skurnik, Ian/Galinsky, Adam D. (1999): The History of Dual-Process Notions, and the Future of Preconscious Control. In: Chaiken, Shelly/Trope, Yaacov (Hrsg.) (1999): Dual-Process Theories in Social Psychology. New York: Guilford Press. Nabi, Robin L. (2003): “Feeling” Resistance. Exploring the Role of Emotionally Evocative Visuals in Inducing Inoculation. In: Media Psychology 5, 199-223. Natchez, Peter B. (1984): Images of Voting/Visions of Democracy. New York: Basic Books. Nelson, John S./Boynton, G. R. (1997): Video Rhetorics. Televised Advertising in American Politics. Chicago: University of Illinois Press. Ottati, Victor C./Wyer, Robert S. (1990): The Cognitive Mediators of Political Choice. Toward a Comprehensive Model of Political Information Processing. In: Ferejohn, John A./Kuklinski, James H. (Hrsg.) (1990): Information and Democratic Processes. Urbana, IL: University of Illinois Press. Ottati, Victor C. (1990): Determinants of Political Judgments. The Joint Influence of Normative and Heuristic Rules of Inference. In: Political Behavior 12, 159-179. Ottati, Victor C./Steenbergen, Marco R./Riggle, Ellen (1992): The Cognitive and Affective Components of Political Attitudes. Measuring the Determinants of Candidate Evaluations. In: Political Behavior 14, 423-442. Petty, Richard. E./Wegener, Duane T. (1999): The Elaboration Likelihood Model. Current Status and Controversies. In: Chaiken, Shelly/Trope, Yaacov (Hrsg.) (1999): Dual-Process Theories in Social Psychology. New York: Guilford. Phelps, Elizabeth A./Thomas, Laura A. (2003): Race, Behavior, and the Brain. The Role of Neuroimaging in Understanding Complex Social Behaviors. In: Political Psychology 24, 747-758. Ragsdale, Lyn (1991): Strong Feelings. Emotional Responses to Presidents. In: Political Behavior 13, 33-65. Rahn, Wendy M. (1993): The Role of Partisan Stereotypes in Information Processing about Political Candidates. In: American Journal of Political Science 37, 472-496. Rahn, Wendy M. (1995): Candidate Evaluation in Complex Information Environments. Cognitive Organization and Comparison Process. In: Lodge, Milton/McGraw, Kathleen M. (Hrsg.) (1995): Political Judgment. Structure and Process. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press.

The New Political Psychology of Voting

31

Rahn, Wendy M./Aldrich, John H./Borgida, Eugene/Sullivan, John L. (1990): A Social-cognitive Model of Candidate Appraisal. In: Ferejohn, John A./Kuklinski, James H. (Hrsg.) (1990): Information and Democratic Processes. Urbana, IL: University of Illinois Press. Rahn, Wendy M./Aldrich, John H./Borgida, Eugene (1994): Individual and Contextual Variations in Political Candidate Appraisal. In: The American Political Science Review 88, 193-199. Rosenberg, Shawn W. (1988): Reason, Ideology, and Politics. Princeton, NJ: Princeton University Press. Rubin, Donald B. (1974): Estimating Causal Effects of Treatments in Randomized and Nonrandomized Studies. In: Journal of Educational Psychology 66, 688-701. Schwarz, Norbert/Clore, Gerald (1988): How Do I Feel About It? Informative Functions of Affective States. In: Fiedler, Klaus/Forgas, Joseph (Hrsg.) (1988): Affect, Cognition, and Social Behavior. Toronto: Hofgrefe International. Sharp, Carol/Lodge, Milton (1985): Partisan and Ideological Belief Systems. Do They Differ? In: Political Behavior 7, 147-166. Simon, Herbert A. (1955): A Behavioral Model of Rational Choice. In: Quarterly Journal of Economics 69, 99-118. Sniderman, Paul M./Brody, Richard A./Tetlock, Philip E. (1991): Reasoning and Choice. Explorations in Political Psychology. Cambridge: Cambridge University Press. Sniderman, Paul M./Hagen, Michael G./Tetlock, Philip E./Brady, Henry E. (1986): Reasoning Chains. Causal Models of Policy Reasoning in Mass Publics. In: British Journal of Political Science 16, 405-430. Steenbergen, Marco R./Ellis, Chris (2006): Fear and Loathing in American Elections. Context, Traits, and Negative Candidate Affect. In: Redlawsk, David P. (Hrsg.) (2006): Feeling Politics. Emotion in Political Information Processing. New York: Palgrave Macmillan. Steenbergen, Marco R./Lodge, Milton (2003): Process Matters. Cognitive Models of Candidate Evaluation. In: MacKuen, Michael B./Rabinowitz, George (Hrsg.) (2003): Electoral Democracy. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press. Stone, William F./Schaffner, Paul E. (1988): The psychology of politics. 2. Auflage. New York: Springer-Verlag. Sweeney, Paul D./Gruber, Kathy L. (1984): Selective Exposure. Voter Information Preferences and the Watergate Affair. In: Journal of Personality & Social Psychology 46, 1208-1221. Taber, Charles S./Lodge, Milton (2006): Motivated Scepticism in the Evaluation of Political Beliefs. In: American Journal of Political Science 50, 755-769. Taber, Charles S./Steenbergen, Marco R. (1995): Computational Experiments in Electoral Behavior. In: Lodge, Milton/McGraw, Kathleen M. (Hrsg.) (1995): Political Judgment. Structure and Process. Ann Arbor: University of Michigan Press. Valentino, Nicholas A./Hutchings, Vincent L./Banks, Antoine J./Davis, Anne K. (2008): Is a Worried Citizen a Good Citizen? Emotions, Political Information Seeking, and Learning via the Internet. In: Political Psychology 29, 247-273. Watson, David/Tellegen, Auke (1985): Toward a Consensual Structure of Mood. In: Psychological Bulletin 98, 219–235. Wyer, Robert S./Ottati, Victor C. (1993): Political Information Processing. In: Iyengar, Shanto/McGuire, William J. (Hrsg.) (1993): Explorations in Political Psychology. Durham, NC: Duke University Press. Zaller, John R. (1991): Information, Values, and Opinion. In: The American Political Science Review 85, 1215-1237. Zaller, John R. (1992): The Nature and Origin of Mass Opinion. Cambridge: Cambridge University Press.

Wahlkampf 2005: Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Inszenierung von Angela Merkel und Gerhard Schröder in den Fernsehnachrichten unter Berücksichtigung des Geschlechterstereotyps Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

1

Einleitung

Im Rahmen wachsender beruflicher Möglichkeiten von Frauen mehren sich zunehmend auch die Situationen, in denen sie mit Männern um die höchsten politischen Ämter im Staat konkurrieren. Dies eröffnet eine neue Forschungsdimension innerhalb des ohnehin brisanten Spannungsverhältnisses von Medien und Politik im Allgemeinen sowie für die mediale Inszenierung von Wahlkämpfen im Besonderen. Die vorliegende explorative Untersuchung befasst sich demzufolge mit der unterschiedlichen Darstellung von Angela Merkel und Gerhard Schröder in der Berichterstattung der Prime-Time-Nachrichten der Fernsehsender ARD und RTL im Wahlkampf 2005 im Hinblick auf eine mögliche geschlechterstereotype Präsentation durch die Medienschaffenden. Diese Wahl war nicht nur außergewöhnlich, weil es eine vorgezogene Neuwahl war, die vom damaligen Amtsinhaber Gerhard Schröder mittels der Vertrauensfrage bewusst herbeigeführt wurde, sondern vor allem auch, weil sich erstmals in der deutschen Geschichte ein Mann und eine Frau gegenüberstanden. Der seit einigen Legislaturperioden einsetzende Trend zur Amerikanisierung des Wahlkampfes (vgl. Schulz 1997) geht mit einer zunehmenden Personalisierung einher. Insgesamt werden somit die Kandidierenden selbst und damit die Frage nach ihrer Kompetenz immer mehr zur Grundlage für eine politische Wahlentscheidung herangezogen, was dazu führt, dass das Fernsehen als Wahlkampfplattform an Bedeutung gewinnt (vgl. Maurer/Reinemann 2003). Daraus folgt letztendlich, dass jegliche intendierte oder nicht intendierte Färbung der Berichterstattung durch das Geschlechterstereotyp im Hinblick auf erzeugte Status-, Kompetenz- und Machtunterschiede sowohl ethisch als auch bezüglich demokratischer Prinzipien problematisch ist und der Chancengleichheit von Männern und Frauen im Weg steht. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, vor diesem Hintergrund zu analysieren, inwieweit eine unterschiedliche Darstellung der beiden Kandidierenden erfolgt ist. Im ersten Teil des Beitrags werden die theoretischen Vorannahmen erläutert: Entsprechend werden zunächst Überlegungen zum Charakter von Fernsehnachrichten und Techniken zu deren Inszenierung vorgestellt. Es wird argumentiert, dass bei der Produktion von Fernsehnachrichten neben bewussten auch weniger bewusste Auswahlentscheidungen getroffen werden. Der Einbezug einer kognitionspsychologischen Sichtweise erlaubt hier eine Analyse der Fernsehnachrichten im Hinblick auf eine solche, wenig bewusste Inszenierung, durch das Geschlechterstereotyp, dem das anschließende Kapitel gewidmet wird. Es wird

34

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

neben den Unterschieden zwischen den Personen im nächsten Abschnitt erörtert, ob es Differenzen zwischen der Inszenierung des öffentlich-rechtlichen und des Privatfernsehens gibt. So stellt sich die Frage, ob die Medienschaffenden der unterschiedlichen Sender ihre Einstellungen in unterschiedlichem Ausmaß in ihren Produkten reproduzieren. Einer Veranschaulichung der angewandten Methoden folgt die Darstellung der Ergebnisse und deren kritische Diskussion. 2

Theoretischer Hintergrund

2.1 Fernsehnachrichten Als wichtigste Form der Informationsmöglichkeit erreichen Fernsehnachrichten statistisch jede Bundesbürgerin und jeden Bundesbürger einmal täglich (vgl. Maurer 2007), zudem genießen sie ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit (vgl. Unz/Schwab 2004). So kommt ihnen bei politischen Ereignissen sowie insbesondere bei Wahlkämpfen eine herausragende Stellung zu (vgl. Unz/Schwab 2004). Zwar wird von Nachrichten landläufig erwartet, dass sie einen realistischen „Schnappschuss der Welt“ (Unz/Schwab 2004: 497) vermitteln, jedoch wird als definierendes Merkmal auch der zeitlich knappe Präsentationsrahmen mit immanentem Zwang zur Selektion angeführt (vgl. Kamps 1998), welcher mit einer potenziellen Gefahr der Verzerrung einhergeht. Die Annahme einer Eins-zu-eins-Abbildung der Realität muss der Vorstellung von durch die Medienschaffenden konstruierten Wirklichkeitsentwürfen weichen. Der Begriff gatekeeping beschreibt, dass Journalistinnen und Journalisten stets nach bestimmten Kriterien eine Auswahl aus einem Angebot treffen (vgl. Unz/Schwab 2004). Zu den Auswahlkriterien zählen neben objektiven Eigenschaften von Ereignissen (vgl. Staab 1998) auch subjektive und intransparente Auswahlmechanismen in Form von Berufsriten und Institutionsnormen (vgl. ARD 2007; Deutscher Journalisten Verband 2007) oder subjektimmanente Faktoren. Unz und Schwab (2004) verweisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf diese personenbezogenen Faktoren wie individuelle Vorlieben, subjektive Urteile und Vorurteile. Während Vorurteile die affektive Komponente von Einstellungen bezeichnen, sind Stereotype als deren kognitives Pendant zu verstehen. Hierzu zählen nicht zuletzt Geschlechterstereotypen als generalisiertes Wissen über die vermeintlichen Eigenschaften einer Gruppe von Menschen eines bestimmten Geschlechts. Es werden praktisch allen Mitgliedern der Gruppe unter Vernachlässigung gegebener Unterschiede identische Eigenschaften zuschrieben (vgl. Aronson 2004). Bei der Nachrichtenproduktion werden unterschiedliche „Kunstgriffe“ angewandt, die die Aufmerksamkeit der Rezipientinnen und Rezipienten auf bestimmte Aspekte des Geschehens lenken. Personalisierung bezeichnet die Bezugnahme auf Personen bei der Konstruktion von Realität. Komplexe, unüberschaubare und schwer darzustellende Sachverhalte werden an Einzelakteuren festgemacht, wobei diese dann zu Repräsentanten des gesamten Problemkreises gemacht werden (vgl. Bennett 2006). Es stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Ziel dieser Präsentationsform, im Rahmen derer bestimmte „affektive Ansprachemodi“ (Brosda 2002: 112) genutzt werden, um emotionale Aspekte zu unterstrei-

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten

35

chen, ebensolche Reaktionen bei den Rezipientinnen und Rezipienten hervorzurufen und Sachaspekte zu vernachlässigen (vgl. Bente/Fromm 1997). Inwieweit persönliche Merkmale der Kandidierenden für eine Gesamtbewertung herangezogen werden und wie stark ihr Einfluss ist, wird kontrovers diskutiert. Einige Stimmen sagen, dass die Wahrnehmung beispielsweise von Problemlöse- oder Führungskompetenz (vgl. Brettschneider 2002) einen größeren Einfluss auf die Gesamtbewertung von Kandidierenden hat als „unpolitische“ persönliche Merkmale der Kandidierenden wie physische Attraktivität, Privatleben oder Alter, welche von anderen Autoren (vgl. Klein/Ohr 2000) stärker betont werden. Den Überlegungen von Klein und Ohr (2000) folgend wird in diesem Beitrag angenommen, dass die Medienschaffenden mehr oder weniger bewusst „unpolitische“ persönliche Aspekte der Person und hier insbesondere das Geschlecht der Kandidierenden betonen. Letztendlich erfüllt die Personalisierung von Information, die in Teilen auch durch gestaltungstechnische Variablen wie Kameraeinstellung oder Schnitttechnik evoziert wird, eine wichtige Funktion in Bezug auf die Generierung, Akzentuierung, Vermittlung sowie Rezeption von Nachrichtensendungen. Im Weiteren werden die Annahmen zur Selektion bei der Produktion von Fernsehnachrichten um Überlegungen aus der kognitionspsychologischen Perspektive ergänzt: Vorgestellt wird das bereits oben erwähnte Geschlechtsstereotyp und die möglichen Auswirkungen auf die Gestaltung von Fernsehprodukten. 2.2 Das Geschlechterstereotyp Das Geschlechterstereotyp ist in den Köpfen der meisten Menschen hochgradig salient (vgl. Fiske/Neuberg 1990) und in Reichweite und Persistenz unübertroffen (vgl. Deaux/LaFrance 1998). Das Geschlecht und die ethnische Herkunft einer Person sind die zentralen Dimensionen, die eingesetzt werden, um Individuen zu kategorisieren. Generell werden Stereotype ausgesprochen schnell, innerhalb weniger Millisekunden und automatisch, also ohne elaborierte kognitive Bearbeitung, aktiviert (vgl. Bargh 1997). Insbesondere physische Merkmale werden als besonders diagnostisch wahrgenommen (vgl. Deaux/Lewis 1984). Sie werden als Informationsquelle verwendet, mit deren Hilfe Schlussfolgerungen über Eigenschaften von Personen gezogen werden, die mit dem Wissen, das der beurteilenden Person zur Verfügung steht, unter logischen Gesichtspunkten eigentlich nicht gezogen werden können. Bezogen auf Geschlechterstereotype findet sich zumeist die Übereinstimmung, dass die typische Frau als warmherzig, fürsorglich, sozial, passiv und um das Wohlergehen anderer besorgt, der typische Mann hingegen als durchsetzungsfähig, leistungsorientiert, aggressiv und unabhängig angesehen wird (vgl. Szillis 2007). Kahn und Goldenberg (1991) zeigten in ihren Daten zur Berichterstattung über Wahlkampfkandidatinnen und -kandidaten, dass männliche Eigenschaften als unabhängig, objektiv, wettbewerbsorientiert, unsensibel, aggressiv, unemotional, ehrgeizig und „tough“ definiert sind. Weibliche Eigenschaften werden als abhängig, nicht wettbewerbsorientiert, passiv, sanftmütig, emotional und mitfühlend beschrieben. Zudem werden Frauen als schwache Führungskräfte betrachtet. Übernehmen Politikerinnen „männliche“ Eigenschaften oder Verhaltensmuster und weichen damit in ihrem beobachtbaren Verhalten von „Weiblichem“ ab, hat das mit hoher

36

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

Wahrscheinlichkeit Sympathieverluste zur Folge, denn gemäß dem stereotype-fit model (vgl. Heilman 1983) werden Personen, die dem Stereotyp entsprechen, als sympathischer empfunden als diejenigen, die das nicht tun. Kahn und Goldenberg (1991) zeigten, dass Frauen häufiger als nicht wettbewerbsfähig – also dem Geschlechterstereotyp entsprechend – dargestellt werden, und insbesondere ihre Kompetenz häufig in Frage gestellt wird (vgl. Erfurt et al. 2007). So titelt der Spiegel beispielsweise am 11. Juli 2005: „Was will (kann) Angela Merkel?“ (vgl. Spiegel 2005). Die Anforderungen zweier konträrer Verhaltensentwürfe – einerseits dem weiblichen Stereotyp und gleichzeitig der Rolle des Staatsoberhauptes zu entsprechen – erfordern von Kanzlerkandidatinnen im Wahlkampf einen schwierigen Spagat. Festzuhalten ist, dass die Medienschaffenden das Geschlechterstereotyp mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen bzw. internalisiert haben und entsprechend in ihrem Handeln davon beeinflusst sind. Im Folgenden werden Unterschiede zwischen den Sendertypen dargestellt, da im Rahmen der Studie auch festgestellt werden soll, inwieweit verschiedene Sender der subtilen Beeinflussung durch Geschlechtsstereotype in unterschiedlichem Ausmaß unterliegen. 2.3 Senderunterschiede Angesichts der fortschreitenden Expansion des Mediensystems und der sich zunehmend verschärfenden Wettbewerbssituation zwischen den Sendern wurde in der Nachrichtenforschung die Frage nach einer möglichen ein- bzw. beidseitigen Angleichung des Programmangebots zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern aufgeworfen (vgl. Schatz et al. 1989). Auch besteht die Annahme, dass es weiterhin deutliche Unterschiede zwischen den Sendern und in der Folge auch zwischen deren Nachrichtenangebot gibt (Krüger 2006). Für den vorliegenden Beitrag stellt sich die Frage, ob diese Unterschiede auch mit einer voneinander verschiedenen Nutzung stereotyper Rezeptionsschemata durch die Medienschaffenden einhergehen. Die Tagesschau der ARD genießt weithin den Ruf, interessant, sachlich, aktuell und unparteiisch zu informieren (vgl. Meckel/Kamps 1998). Der Wert der Medienmarke ARD wird am stärksten von der Qualität, zufrieden stellende Informationen zu vermitteln, bestimmt (vgl. Huber et al. 2006). Die Nachrichten der privaten Sender dagegen gelten weithin als „flach und unterhaltungslastig“ (Unz/Schwab 2004: 503), sie folgen Strömungen wie Infotainment, Emotainment und Boulevardisierung (vgl. Kamps 1998) und ihre Beiträge weisen häufiger explizite Wertungen auf (vgl. Rettich 2005). Die Nachrichtensendungen von RTL enthalten weniger Informationen zu Sachpositionen, dafür berichten sie häufiger über das Auftreten der Politikerinnen und Politiker, ihre Führungsstärke und ihren Rückhalt in der eigenen Partei, über Wahlprognosen und über Persönliches. Zudem stellen sie den politischen Wettbewerb eher mittels eines horserace frame (Boomgaarden/Semetko 2007: 188) dar, was besonders für Kandidatinnen erhebliche Nachteile birgt, da Wettbewerbsfähigkeit einerseits dem weiblichen Stereotyp zuwider läuft und andererseits Personen, die vom Stereotyp abweichendes Verhalten zeigen, negativer bewertet werden, als diejenigen, die sich dem Stereotyp entsprechend Verhalten. Auf der Ebene der gesamten Programmstruktur wurden wiederholt Differenzen zwischen den öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern in etwa im Hinblick auf die The-

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten

37

menverteilung gezeigt (vgl. Krüger 2006). Ob diese Unterschiede weiterhin Bestand haben, soll in dieser Arbeit eruiert werden. Um dieser Phänomene habhaft zu werden, erfolgt die Analyse anhand von Kategorien, deren theoretische Erläuterungen im Folgenden beschrieben werden. 3

Forschungsfragen

Aufgrund der zuvor beschriebenen theoretischen Überlegungen einerseits zum Geschlechterstereotyp und andererseits zu den Senderunterschieden werden unter Berücksichtigung bekannter empirischer Befunde folgende Forschungsfragen aufgeworfen: 1.

Wird Angela Merkel entlang des weiblichen Geschlechtsstereotyps insgesamt anders dargestellt als Gerhard Schröder? Wird Angela Merkel im Vergleich zu Gerhard Schröder… … im Zusammenhang mit anderen Themen gezeigt? … mit unterschiedlicher Dauer in den Prime-Time Nachrichten dargestellt? … mit einer anderen Kopfgröße dargestellt? … aus anderen Kameraperspektiven gefilmt? … mit einer anderen Anzahl an Personen im Bild präsentiert? … mit einer anderen Verteilung statusreicher/-armer Personen dargestellt? … in einem anderen Handlungsrahmen gefilmt? … mit quantitativ unterschiedlicher sprachlicher Aktivität inszeniert?

2.

Stellt der Sender RTL Merkel und Schröder entlang des Geschlechterstereotyps anders dar als der Sender ARD? Prinzipiell sind für diese Forschungsfrage die gleichen Aspekte bedeutsam wie beim Vergleich der Kandidierenden, jedoch wird der Fokus hier auf die differenziellen Unterschiede zwischen den Sendern gelegt.

3.1 Theoretische Begründung der untersuchten Kategorien Entlang theoretischer Annahmen wurden Inszenierungstechniken und Situations- bzw. Personenkomponenten herausgearbeitet, die zur Personalisierung beitragen. Gemeint sind diejenigen variierbaren Größen, die Handwerkszeuge der Medienschaffenden sind (vgl. Schwab et al. 2005) und möglicherweise senderabhängig die Präsentation der Akteurinnen und Akteure maßgeblich beeinflussen. Zur Erfassung einer medienspezifischen Verhaltensvariation wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Bente und Frey (1991) auf einige als bedeutsam erachtete Kommunikationsaspekte in der Fernsehberichterstattung zurückgegriffen. Dazu zählen: Der Inhaltsaspekt (z.B. Thema), der Personalisierungsaspekt (z.B. Nennung und visuelle Präsentation politischer Akteure), der Situationsaspekt (z.B. sozialer, räumlicher Kontext) und der Darstellungsaspekt (z.B. Kameraeinstellung).

38

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

Thematisches Framing Huddy und Terkildsen (1993) fragten ihre US-amerikanischen Untersuchungsteilnehmer, anlässlich welcher Themen „gute“ Politiker und Politikerinnen mit großer Wahrscheinlichkeit gezeigt würden. Die Antwort lautete, dass diese angesichts von Themen wie Militär oder Wirtschaft und mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit angesichts von Themen wie Fürsorge für Kinder, Probleme von alten oder armen Menschen gezeigt werden (vgl. Huddy/Terkildsen 1993). Die Autorinnen zeigten zudem, dass Frauen als weniger kompetent eingestuft wurden, militärische Auseinandersetzungen und Kriege zu bewältigen, jedoch werden ihnen Kompetenzen im Bereich Kunst/Geisteswissenschaften, Bildung und Gesundheit zugetraut. Verschiedenen Arten thematischen Framings konnten auch für den europäischen Raum gezeigt werden (vgl. z.B. Schenk 2002). Vor diesem Hintergrund wurde erhoben, im Zusammenhang mit welchen Themen die Kandidierenden gezeigt wurden. Dauer der Sichtbarkeit im Bild „Seeing is remembering“ – auf diese simple Formel bringt Graber (1990: 87 zitiert nach Kamps 1998: 45) die Tatsache, dass die Visualisierung bekannter Politiker und Politikerinnen die Erinnerungsquote an eine Meldung insgesamt steigert. Laut Kahn und Goldberg (1991) wird über Wahlkampfkandidatinnen im Allgemeinen quantitativ weniger berichtet als über ihre männlichen Pendants, jedoch ist ebenfalls bekannt, dass der Regierung ein Amtsbonus, also mehr Raum in der medialen Berichterstattung zugestanden wird, als den anderen Parteien (vgl. Wagner 2007). Entsprechend wird in der vorliegenden Untersuchung die Dauer der Zeit erhoben, in der Merkel bzw. Schröder im Bild sichtbar sind. Abbildungsgröße des Kopfes Vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass durch die relative, journalistisch gewählte Abbildungsgröße der medial gezeigten Personen räumliche Eindrücke vermittelt werden und dass Objekte auf dem Bildschirm den Rezipierenden einen Eindruck von Distanzen und Intimität vermitteln, bezeichnet Meyrowitz den Bildschirm als „erweiterte Netzhaut“ (Meyrowitz 1979: 79). Archer et al. (1978) demonstrierten darüber hinaus, dass eine hohe Abbildungsgröße des Gesichtes im Verhältnis zum Körper häufiger bei männlichen Personen zu finden ist und mit der Zuschreibung von Kompetenz einhergeht. Mithilfe dieser Kategorie wird erörtert, wie nah und mit welcher Intimität Merkel und Schröder von den Medienschaffenden im Wahlkampf präsentiert wurden. Kameraeinstellung: Vogel oder Frosch? Kepplinger (1987) fand in seinen Untersuchungen heraus, dass diejenigen, die eine Aufnahme aus Augenhöhe gesehen hatten, den Redner besser beurteilten als jene, die aus star-

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten

39

ker Drauf- oder Untersicht zuschauten. Die Aufnahme aus starker Untersicht vermittelt bei Weitem den schlechtesten Eindruck (vgl. Kepplinger 1987). Allerdings stellt sich die Frage, was die Kameraperspektive mit dem Geschlecht zu tun hat. Das Stereotyp für Frauen ist eng verknüpft mit dem gesellschaftlichen Schönheitsideal. So ist es für Frauen viel bedeutsamer als für Männer, schön auszusehen (Swazina et al. 2004). Somit würden Politikerinnen vermutlich von einer unvorteilhaften Inszenierung, wie sie Kepplinger für die starke Drauf- oder Untersicht zeigen konnte, einen größeren Schaden nehmen als ihre männlichen Kollegen. Die Inhaltsanalyse der Einzelbilder beleuchtet, inwiefern die Kandidierenden aus den mehr oder weniger vorteilhaften Perspektiven gefilmt werden. Anzahl der Personen im Bild Senokozlieva et al. (2006) zeigten, dass sich verschiedene Kulturen insofern unterscheiden, als dass die Anzahl der im Bild gezeigten Personen in kollektivistisch geprägten Kulturen (Vereinigte Arabische Emirate) höher ist als in individualistisch geprägten (USA). Dies ist für diese Arbeit insofern relevant, als dass Frauen vermehrt mit Kollektivismus und Männer mit Individualismus assoziiert sind (vgl. Szillis 2007). Hier stellt sich die Frage, ob Merkel im Sinne des Geschlechterstereotyps, das von Frauen kollektivistisches Verhalten fordert, über die Sendeteile hinweg mit einer größeren Anzahl von Personen gezeigt wird als Schröder. Art der Personen im Bild Anwesende Personen werden in dieser Arbeit ebenso wie Orte als Kontextfaktoren verstanden, anhand derer Menschen korrespondierende Schlussfolgerungen über in der Situation befindliche Menschen knüpfen. Auf einem ähnlichen Prinzip baut auch die Theorie von Cialdini des basking in reflected glory (Cialdini et al. 1976) auf. Sie beschreibt, dass Personen aus der überlegenen Leistung einer anderen Person einen Gewinn für ihren persönlichen Selbstwert ziehen können und dass sie mit dem „Ruhm“ der anderen Person „glänzen“ können, obwohl sie selber nichts zu deren Leistung beigetragen haben. Nimmt man an, dass den Medienschaffenden dieses soziale Phänomen zumindest implizit bekannt ist, läge es nahe, dass die Kandidierenden vermehrt mit mächtigen und durchsetzungsstarken Menschen gezeigt würden, so dass deren Attribute auf sie „abstrahlen“. In dieser Arbeit werden somit die Personen, die mit Merkel und Schröder im Bild gezeigt werden anhand ihrer beruflichen oder privaten Funktion bzw. Rolle aufgeschlüsselt. Handlungsrahmen Auch Orte, an denen Menschen gezeigt werden, dienen als Kontextfaktoren (vgl. Augoustinos 2001), denen man Hinweise zur Kategorisierung entnehmen kann, entsprechende Einstellungen und Meinungen werden aktiviert und mit korrespondierenden Schlussfolgerungen verknüpft. Gespräch oder Verhandlung legen eine Deutung im Sinne von Teamorien-

40

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

tierung und Kollektivismus nahe, das Halten einer Rede vor dem Bundestag legt vermutlich eher Individualismus und Macht nahe. Verbale Aktivität Weithin werden Menschen, die große Redeanteile haben, unabhängig vom Inhalt kompetenter bewertet, da eine lange Rede als Hinweis auf gute Argumente interpretiert wird (vgl. Chen/Chaiken 1999). Die charakteristischen Merkmale des „männlichen Registers“ (vgl. Groeben et al. 1993) sind u.a. die höhere Anzahl und die längere Dauer von Redebeiträgen. Ein Augenmerk dieser Arbeit liegt somit auf der Zeit, während der Schröder und Merkel sprechend gezeigt werden. 4

Methoden

4.1 Datenmaterial Datenbasis dieser Arbeit sind die Prime-Time-Nachrichten der Sender ARD und RTL in der Zeit vom 20. August 2005 bis zum 17. September 2005, dem Tag vor dem Wahltermin. Die Sender sind jeweils repräsentativ für das öffentlich-rechtliche bzw. das privatrechtliche Fernsehen und werden beide als SPD-nah eingestuft (vgl. Hagen et al. 1998), so dass kein verzerrender parteipolitischer Einfluss zu erwarten ist. Spezielles Augenmerk im Sinne einer differenzierteren Mikroanalyse liegt auf den Sequenzen, in denen Merkel oder Schröder im Bild sind. Thematische Besonderheiten des gewählten Zeitraums sind der Hurrikan Katrina in den USA sowie der Papstbesuch in Deutschland und machen – verglichen mit anderen Themen – einen verhältnismäßig großen Anteil des Materials aus. Ein spezifischer Einfluss auf die Fragestellungen kann allerdings nicht festgestellt werden. 4.2 Zeitreihen-Notationsverfahren Im Bereich der deskriptiven Inhaltsanalyseverfahren profitiert man von den Möglichkeiten moderner computergestützter Kodierverfahren. Ein solches Programm ist das hier verwendete „Interaktive Videoanalysesystem“, kurz: INVAS (vgl. Bente et al. 1997). Es erlaubt die zeitreihenbasierte Notation und Analyse formaler Angebotsweisen (wie z.B. der Kameraperspektive) ebenso wie die Erfassung inhaltlicher Merkmale (wie beispielsweise Personenzahl und Handlungssituation). Es wird eine integrierte Verlaufsdokumentation inhaltlicher und formaler Angebotsweisen geleistet und es werden sowohl verbale als auch nonverbale Interaktionsmuster der gezeigten Akteure in Form von Prozessdaten festgehalten. In der vorliegenden Untersuchung wurde das speziell weiterentwickelte computergestützte Notationssystem INVAS 6.0 eingesetzt, das auf Basis digitalisierten Videomaterials arbeitet und über eine Reihe spezieller Kodiertools verfügt (vgl. Bente et al. 1997).

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten Abbildung 1:

41

Abbildung der Benutzeroberfläche INVAS (vgl. Bente et al. 1997) mit der Ellipse zur Erfassung der Kopfgröße

In der linken oberen Hälfte der Benutzeroberfläche befindet sich das Videofenster, in das das digitalisierte Bildmaterial eingeladen werden kann. Neben dem Videofenster befindet sich auf der rechten Seite das Datenfenster. Die Spalten der Datenmatrix enthalten die einzelnen Dimensionen des Kategoriensystems, die Zeilen präsentieren die Zeitachse. Am linken unteren Bildrand der Benutzeroberfläche befindet sich eine Variablenliste, die frei definierbar ist. Zwischen Variablenliste und Datenmatrix besteht eine Referenz, so dass durch die Selektion einer Variable im Listenfeld die entsprechende Spalte im Datenblatt ausgewählt wird und umgekehrt. Unterhalb der Datenmatrix werden die zugeordneten Kategorien oder Skalierungsoperationen in Form von Schaltflächen eingeblendet, deren Auswahl lediglich durch einen Mausklick zum entsprechenden Eintrag in der Datenmatrix führt. Die Zeitadresse des jeweils gerade im Videofenster sichtbaren Standbilds wird dabei automatisch in die Datenmatrix übernommen bzw. an der richtigen Stelle in die Zeitreihe eingefügt. So gilt die Messung mit INVAS als wenig störanfällig und ermöglicht besonders reliable Messungen (Bente et al. 1997). Die Interraterreliabilität für diese Arbeit wurde für Teile des Materials und für repräsentative Kategorien berechnet und kann als zufriedenstellend (Kappa-Werte von N = 0,43 bis N = 0,88) bewertet werden.

42

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

4.3 Kategoriensystem Das Kategoriensystem wurde zum Teil deduktiv in Anlehnung an psychologische Theorien bzw. in Anlehnung an ähnliche Untersuchungen (Pöhls 1989; Haferkamp 2006; Senokozlieva et al. 2006), zum Teil induktiv anhand des Materials erstellt. Exklusivität, Exhaustion und Saturiertheit wurden angestrebt. Es enthält die folgenden Kategorien: Thematisches Framing, Dauer der Sichtbarkeit im Bild, Abbildungsgröße des Kopfes, Kameraeinstellung, Anzahl und Art der Nebenpersonen, Handlungsrahmen und verbale Aktivität; das vollständige Kategoriensystem findet sich bei Jansen (2008). 4.4 Datenanalyse Die Verarbeitung der Daten erfolgte inferenzstatistisch unter Zuhilfenahme des „Statistical Package for Social Sciences“ (SPSS für Windows, Version 15.0) mit dem SPSS-Modul „Allgemeines lineares Modell“ multivariat varianzanalytisch. Die abhängigen Variablen waren Häufigkeit und relative Dauer für die jeweiligen inhaltsanalytischen Kategorien. Als Faktoren wurden die Sender ARD und RTL bzw. die Personen Schröder und Merkel verglichen. Für die inferenzstatistischen Tests wurde das Į-Fehlerniveau auf 5 Prozent festgelegt. Da es sich um eine in weiten Teilen explorative Untersuchungsanlage handelt, werden zusätzlich auch Tendenzen und marginal signifikante Ergebnisse (p<0,1) berichtet. Aus ähnlichen Gründen wurde auch auf eine Į-Fehleradjustierung verzichtet, so dass dies bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden muss. Das Eta-Quadrat (Ș2partiell) nach Cohen (1988) wurde berechnet, um die praktische Bedeutsamkeit der Effekte zu beurteilen. 5

Ergebnisse

Die Struktur der Ergebnisdarstellung erfolgt in Anlehnung an die bisherige theoretische Strukturierung. Für jede Kategorie werden zunächst die Unterschiede zwischen den Personen aufgezeigt, erst danach werden jene zwischen den Sendern referiert. Interaktionen von Sender und Person wurden für alle Variablen berechnet, jedoch kann in keinem Fall ein signifikantes Ergebnis berichtet werden. Für alle abhängigen Variablen wurden die prozentuale Dauer in Sekunden sowie die Auftretenshäufigkeit berechnet. Im Folgenden werden aufgrund der Komplexität des Datenmaterials und unter dem Aspekt der Lesbarkeit nur diejenigen Analysen berichtet, die einen Wert von p<0,1 erreichen. An wenigen Stellen werden deskriptive Daten aufgeführt. Es ist anzumerken, dass die kritische Betrachtung von Stichprobeneigenschaften, Kategoriensystem sowie Messinstrument gewisse Probleme offenbart, die aber nicht so schwer wiegen, dass eine vorsichtige Interpretation des Datenmaterials ungerechtfertigt erschiene.

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten

43

Thematisches Framing Merkel (Mittelwert M = 22,02, Standardabweichung SD = 25,90) und Schröder (M = 20,34, SD = 34,52) wurden im Mittel am längsten (absolute Dauer in Sekunden) präsentiert während das Thema Politik Gegenstand der Sendung war. Merkel wurde bei den Themen Medizin/Gesundheit/Soziales, Kriminalität, Sport und Kultur gar nicht gezeigt. Schröder war bei diesen Themen eher selten zu sehen. Eine Präsentation im Sinne geschlechterstereotyper Themen, wie dies bei Boomgaarden und Semetko (2007) der Fall war, konnte nicht gezeigt werden. Bezogen auf den Sendervergleich wurden die Kandidierenden bei RTL im Hinblick auf die prozentuale Sendedauer statistisch signifikant länger unter dem Thema Politik gezeigt als bei der ARD (ARD M = 51,66, SD = 49,21 vs. RTL M = 76,26, SD = 42,03, F(1,114) = 30,42, p<0,01**, Ș2partiell = 0,069**). In dieselbe Richtung läuft eine Tendenz ohne statistische Absicherung: Das Thema Politik kommt bei RTL häufiger vor als bei der ARD (ARD M = 0,59, SD = 0,59 vs. RTL M = 0,78, SD = 0,42, F(1,114) = 30,42, p<0,1). Die Befunde deuten darauf hin, dass die Kandidierenden insgesamt nicht in unterschiedlichen Themenzusammenhängen gezeigt wurden, bei der ARD aber thematisch vielschichtiger eingebettet wurden. Eine mögliche Wirkgröße ist der Einfluss der Rolle. Besetzen Männer und Frauen die gleiche soziale Rolle, so werden beiden Geschlechtern aufgrund ihrer Rolle ähnliche Eigenschaften zugeschrieben und der Effekt der Geschlechterstereotype schwächt sich ab (vgl. Eagly et al. 2000). Für Angela Merkel könnte dies bedeuten, dass ihr aufgrund ihrer Rolle als Kanzlerkandidatin entsprechende Eigenschaften zugeschrieben worden sind, die geschlechterstereotype Zuschreibungen überdeckt haben und somit keine geschlechterstereotype Präsentation z.B. im Sinne einer längeren Präsentation bei den Themen Medizin/Gesundheit/Soziales durch die Medienschaffenden erfolgt ist. Dauer der Sichtbarkeit im Bild Die Kategorie „Sichtbarkeit“ erfasst die Präsenzzeiten der Akteure auf dem Bildschirm. Untersucht wurden die relative Dauer und die Auftretenshäufigkeit der Unterkategorien „keine Person im Bild“, „Merkel im Bild“, „Schröder im Bild“ sowie – in wenigen Fällen – „beide im Bild“. In der Summe betrug die absolute Zeit, in der Merkel im Untersuchungszeitraum in den Nachrichtensendungen „Tagesschau“ und „RTL aktuell“ zu sehen war, 393,86 Sekunden, Schröder war im gleichen Zeitraum 572,40 Sekunden zu sehen. Der augenscheinliche Unterschied erlangt – vermutlich aufgrund der großen Standardabweichung – keine Signifikanz. Merkel war insgesamt in 177 Einstellungen eingeblendet, Schröder wurde 165 Mal gezeigt. Gemeinsam waren sie 35 Mal im Bild. So kann eine Übervorteilung bezogen auf die Visualisierungsdauer und die damit verbundene gesteigerte Erinnerungsquote ausgeschlossen werden. Einigen, ursprünglich als SPD-nah eingestuften Printmedien, wurde während des Wahlkampfes jedoch nachgesagt, sie haben den damaligen Amtsinhaber Schröder „herunter geschrieben“ und ihm den Amtsbonus versagt (vgl. Wagner 2007, Boomgaarden/Semetko 2007). Auch Schröder selbst betonte dies bisweilen in Fernsehauftritten (vgl. ZDF Berliner

44

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

Runde 2005) und Interviews. Die gefundenen Ergebnisse festigen die Annahme, dass der übliche Amtsbonus, im Sinne einer längeren Visualisierung, Schröder nicht gewährt wurde. Vor diesem Hintergrund ist es vorstellbar, dass die Medienschaffenden intentional handelten und absichtlich Inszenierungstechniken einsetzten, um den damaligen Kanzler weniger Präsenz und damit weniger Zeit im Bild, von der man annimmt, dass sie sich positiv auf seine Darstellung auswirkt, zur Verfügung zu stellen. Beim Vergleich der beiden Sender wurde festgestellt, dass beide signifikant häufiger gemeinsam bei RTL als bei der ARD gezeigt wurden (ARD M = 1,09, SD = 0,87 vs. RTL M = 3,54, SD = 0,87, F(1,114) = 3,92, p<0,001, Ș2partiell = 0,033). Abbildungsgröße des Kopfes Für den Vergleich der Abbildungsgröße des Kopfes wurde die Fläche des Kopfes mit der Ellipse (siehe Abbildung 1) erhoben. Es stellte sich heraus, dass die Durchschnittsgröße der Ellipse, die die Kopfgröße von Schröder (M = 33,05, SD = 48,65) bemaß, nicht signifikant größer war, als diejenige, die Merkel (M = 31,43, SD = 42,07) abbildete. Insbesondere bezogen auf die Inszenierung der Person Merkel stellt sich die grundlegende Frage, inwieweit Merkel von den Medienschaffenden als eine typische Vertreterin der Kategorie „Frau“ wahrgenommen wird. Als Physikerin schreibt man ihr mutmaßlich vorrangig „männliche“ Attribute wie Rationalität, Klugheit oder Zielstrebigkeit zu, so dass sie möglicherweise einer stereotypen Subgruppe wie beispielsweise den Naturwissenschaftlerinnen oder Karrierefrauen zugeordnet wird und somit nicht mit einer kleineren Kopfgröße als Schröder dargestellt wurde. Im Sendervergleich war ersichtlich, dass die Akteure bei RTL mit durchschnittlich relativ größerer Kopfgröße abgebildet sind als bei der ARD (ARD M = 26,42, SD = 48,35 vs. RTL M = 38,06, SD = 41,62, F(1,224) = 0,05, p<0,05*, Ș2partiell = 0,022*). Gemäß der Befunde von Bischoff-Krauthäuser und Bente (1994; siehe auch Haferkamp 2006) wurden die Kandidierenden den Rezipienten auch in dieser Untersuchung kameratechnisch signifikant näher, d.h. in größerer Abbildung und intimer präsentiert. Die Inszenierung von Schröder und Merkel erfolgte bei RTL offensichtlich entsprechend ihres Images – emotionalisierend und personalisierend. Kameraeinstellung: Vogel- oder Froschperspektive Die Berechnungen zeigten, dass sich die Mittelwerte der Kameraeinstellungen bezogen auf die Kandidierenden nicht nennenswert unterschieden. Die prozentuale Dauer der „Kameraführung von unten“, d.h. aus der Froschperspektive, wurde im Vergleich der beiden Sender bei RTL signifikant länger eingesetzt als bei der ARD (ARD M = 22,32, SD = 33,1 vs. RTL M = 35,27, SD = 32,99, F(1,112) = 4,4, p<0,05*, Ș2partiell = 0,038*). Filmtheoretiker nehmen an, dass Aufnahmen aus der Froschperspektive die gezeigte Person bedeutender, überlegener, aber auch dämonischer erscheinen lassen (vgl. Kepplinger 1987). Eine Inszenierung in dieser Weise entspricht eher dem tendenziell boulevardesken Charakter von RTL.

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten

45

Anzahl der Nebenpersonen Im Personenvergleich wird ersichtlich, dass Merkel tendenziell häufiger ohne Nebenpersonen (Merkel M = 0,948, SD = 1,369 vs. Schröder M = 0,57, SD = 0,96, F(1,112) = 3,05, p<0,1) gezeigt wurde als Schröder. Dieser Befund steht den Erwatungen einer Inszenierung als kollektivistisch entgegen. Bei RTL wurden beide signifikant häufiger ohne Nebenpersonen, d.h. alleine, gezeigt als bei der ARD (ARD M = 0,53, SD = 0,73 vs. RTL M = 0,98, SD = 1,49, F(1,112) = 4,26, p<0,05*, Ș2partiell = 0,037*). Tendenziell wurden Schröder und Merkel bei RTL auch länger mit einer Nebenperson gezeigt (ARD M = 14,87, SD = 21,97 vs. RTL M = 23,78, SD = 27,31, F(1,114) = 3,75, p<0,1). Schröder und Merkel wurden bei RTL jeweils signifikant länger mit zwei bis fünf Nebenpersonen gezeigt (ARD M = 10,56, SD = 18,99 vs. RTL M = 18,85, SD = 23,43, F(1,114) = 4,38, p<0,05*, Ș2partiell = 0,038*). Eine Interpretation dieser uneinheitlichen Befunde fällt jedoch schwer. Art der Nebenpersonen Aus den vorliegenden Daten war ersichtlich, dass Merkel statistisch signifikant länger im Kreise von Ministern, Ministerinnen sowie Ministerpräsidenten präsentiert wurde als Schröder (Merkel M = 13,91, SD = 23,02 vs. Schröder M = 5,91, SD = 12,97, F(1,112) = 5,32, p<0,05*, Ș2partiell = 0,045*). Eine mögliche Interpretation legt nahe, dass sie, wenn sie mit Ministerinnen, Ministern oder Ministerpräsidenten präsentiert wird, im Gegensatz zum obigen Befund, der besagt, dass sie eher alleine dargestellt wird, zumindest in Bezug auf die Zusammenkunft mit ihnen im Einklang mit dem weiblichen Geschlechterstereotyps als „teamorientiert“ und „kollektivistisch“ dargestellt wurde. Die Anwesenheit mehrerer gleichgestellter Personen im Bild kann als Hinweis auf soziale Orientierung (vgl. Szillis 2007) und Kollektivismus (vgl. Senokozlieva et al. 2006) interpretiert werden und entspricht somit der zu erwartenden Inszenierung im Rahmen des weiblichen Geschlechterstereotyps. Im Sendervergleich gab es keine Unterschiede. Handlungsrahmen Für den Personenvergleich können nur marginale Befunde berichtet werden. Merkel wurde tendenziell länger als Schröder im Gespräch und in Verhandlung (Merkel M = 0,92, SD = 2,13 vs. Schröder M = 0,362, SD = 1,092, F(1,112) = 3,2, p<0,10) sowie bei Konferenzen (Merkel M = 1,4, SD = 3,81 vs. Schröder M = 0,44, SD = 1,95, F(1,112) = 2,9, p<0,10) präsentiert. Diese marginalen Befunde können ebenfalls im Sinne des Geschlechterstereotyps interpretiert werden, welches von Frauen u.a. Eigenschaften wie Teamorientierung und soziales Verhalten fordert. Im Sendervergleich gab es keine Unterschiede.

46

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

Verbale Aktivität Im Personenvergleich sind keine Unterschiede zu berichten. Bei RTL wurden sowohl Schröder als auch Merkel signifikant länger gezeigt, wenn sie nicht gesprochen haben („Kein Sprechakt“) (ARD M = 26,96, SD = 30,90 vs. RTL M = 49,74, SD = 36,65, F(1,112) = 13,1, p<0,001, Ș2partiell = 0,10). Es scheint, als trete der Inhalt des Gesagten hinter die visuelle Präsentation der Akteure zurück, was einer heuristischen Verarbeitung Vorschub leistet. Die Annahme, dass die Kandidierenden bei RTL anders, also mehr oder weniger entlang des Geschlechterstereotyps gezeigt wurden, konnte nicht bestätigt werden. Sämtliche Interaktionen zwischen dem Geschlecht der Kandidierenden und den Sendern zeigten keinen signifikanten Unterschied. Das bedeutet, dass weder ARD noch RTL im Vergleich mit dem anderen Sender eine extrem geschlechterstereotype Inszenierung wählten. 6

Diskussion

Generell kann festgehalten werden, dass die Anzahl signifikanter Befunde sehr gering ist. Für den Vergleich zwischen Schröder und Merkel konnten nur wenige Unterschiede gefunden werden. Merkel wurde lediglich länger im Kreise von Ministerinnen und Ministern sowie im Gespräch, in Verhandlungen und in Konferenzen gezeigt. Die Ergebnisse sind an einigen Stellen uneindeutig und werfen neue Forschungsfragen auf. Die Ergebnisse des Sendervergleichs sind erwartungskonform und deuten auf eine bestehende Unterschiedlichkeit der beiden Nachrichtensendungen hin, indem sie das seriöse Image der ARD und den eher „boulevardesken“ (vgl. Kamps 1998) Charakter der Nachrichten von RTL unterstreichen. Im Lichte der erzielten Resultate erfolgt nun eine kritische Betrachtung des methodischen Vorgehens. Anstatt aufgrund der sehr geringen Zellenbesetzung der unabhängigen Variable Geschlecht in der Stichprobe auf die Untersuchung des Gegenstands zu verzichten, wurden entlang einer theoretischen Fundierung Forschungsfragen „geprüft“. Damit gültige Aussagen getroffen werden können, bedürfen die Fragen jedoch einer systematischen Hypothesentestung mit mehr als einem Vertreter bzw. einer Vertreterin pro Kategorie Geschlecht, die unter gegebenen Voraussetzungen nicht geleistet werden kann. Eine größere Zellenbesetzung bezüglich der Sender, die auf Grund ökonomischer Restriktionen nicht geleistet werden konnte, wäre ebenfalls wünschenswert. Die Messung des Analyseinstruments INVAS kann als reliabel (Bente et al. 1997) gelten. Zur Sicherung der Reliabilität wurde die Größe des Videofensters des Programms fixiert, so dass eine ungewollte Adaption der Ellipse an die Größe des Bildschirms verhindert wird. Die Komprimierung der sehr großen Datenmenge erfolgte mit einem speziellen Programm.

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten 7

47

Ausblick

Die gefundenen Ergebnisse sind uneindeutig und tragen nur in Teilen zur Beantworten der Forschungsfragen bei. Vielmehr deuten sie darauf hin, dass weitere Forschung – insbesondere experimenteller Art – von Nöten ist, auch um auszuschließen, dass das Ergebnis durch andere Einflussgrößen wie z.B. dem „Kanzlerbonus“ verursacht wurde. In einer Replikation der vorliegenden Untersuchung zur Bundestagswahl 2009, wäre es interessant, die Inszenierung von Angela Merkel, die dann die Rolle der Amtsinhaberin hat, im Hinblick auf einen „Kanzlerinnenbonus“ zu analysieren. Dringend notwendig wäre die Analyse der geschlechterstereotypen Darstellung von Kanzlerkandidatinnen anhand einer größeren Stichprobe. Letztendlich steht diese derzeit nicht zur Verfügung, so dass – in Ermangelung der Stichprobe der Kanzlerkandidatinnen – Politiker und Politikerinnen verschiedener Hierarchiestufen in eine Untersuchung einzubeziehen wären. Auch wenn es sich bei den Kanzlerkandidatinnen um Einzelfälle handelt, sollte auf diese Analyse nicht verzichtet werden. Von besonderem Interesse wäre neben einer großflächigen Untersuchung der Medienschaffenden die Auswertung der Fernsehdaten des Wahlkampfes in Frankreich, bei dem Ségolène Royal Nicolas Sarkozy knapp unterlegen war. Eine inhaltsanalytische Auswertung der angewandten Inszenierungsweisen erscheint besonders bedeutend unter Rückbezug auf die Annahme, dass Ségolène Royal äußerlich eine wesentlich typischere Vertreterin der Kategorie Frau ist und somit möglicherweise stärker stereotype Darstellungsmuster bei den Medienschaffenden evoziert haben könnte. Vor dem Hintergrund, dass mehr und mehr politische Duelle zwischen Männern und Frauen ausgetragen werden (vgl. auch den Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Barack Obama 2008 um die Vormacht unter den US-Demokraten), werden die hier aufgeworfenen Fragen und ihre Beantwortung in Zukunft noch relevanter. Literatur Archer, D./Kimes, D. D./Barrios, M. (1978): Face-ism. In: Psychology Today, 65-66. ARD (2007): Programme und Quoten. Verfügbar unter: http://www.daserste.de/Programm/quoten.asp (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Aronson, Eliot/Wilson, Timothy D./Akert, Robin M. (2004). Sozialpsychologie (4. Aufl.). München: Pearson Studium. Augoustinos, Martha (2001): Social categorization. Towards theoretical integration. In: Deaux, Kay/Philogène, Gina (Hrsg.) (2001): Representation of the social. Bridging theoretical traditions. Oxford: Blackwell Publishers, 201-216. Bargh, John A. (1997): The automaticity of everyday life. In: Wyer, Robert S. (Hrsg.) (1997): Advances in social cognition. Mahwah: Lawrence Erlbaum, 1-61. Bennett, W. Lance (2006): News: The Politics of Illusion. New York: Longman. Bente, Gary/Frey, Siegfried (1991): Visuelle Zitate als Mittel der Fernsehberichterstattung in Deutschland, Frankreich und den USA. In: Schulz, Winfried (Hrsg.) (1991): Medienwirkungen. Einflüsse von Presse, Radio und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. Weinheim: DFG Forschungsbericht, 191-222. Bente, Gary/Fromm, Bettina (1997): Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen: Leske+Budrich.

48

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

Bente, Gary/D’Alessandro, Maria/Fürtjes, Miriam/Krämer, Nicole (1997): Formale Angebotsweisen und interpersonelle Kommunikationsmuster im Affekt-Talk. In: Gary Bente/Fromm, Bettina (Hrsg.) (1997): Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen: Leske+Budrich, 186-242. Bischoff-Krauthäuser, Karin/Bente, Gary (1994): Zur visuellen Kommunikationskultur von Fernsehnachrichten. Struktur und Wirkung formaler Angebotsweisen öffentlich-rechtlicher und privater Sender. In: Pawlik, Kurt (Hrsg.) (1994): Bericht über den 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Hamburg: Schnell, 67. Boomgaarden, Hajo G./Semetko, Holli A. (2007): Duell Mann gegen Frau?! Geschlechterrollen und Kanzlerkandidaten in der Wahlkampfberichterstattung. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Analyse des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS Verlag, 171-197. Brettschneider, Frank (2002): Spitzenkandidat und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Brosda, Carsten (2002): „Emotionalisierung“ als Merkmal medialer Politikvermittlung. Zur Diskursivität emotionaler Äußerungen und Auftritte von Politikern im Fernsehen. In: Schicha, Christian/Brosda, Carsten (Hrsg.) (2002): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster: LIT Verlag, 111-133. Chen, Serena/Chaiken, Shelly (1999): The Heuristic-Systematic Model in Its Broader Context. In: Chaiken, Shelly/Trope, Yaavoc (Hrsg.) (1999): Process Theories in Social Psychologie. New York: Guilford Press. Cialdini, Robert B./Borden, Richard J./Thorne, Avril/Walker, Marcus Randall/Freeman, Stephen/Sloan, Lloyd Reynolds (1976): Basking in reflected glory. Three (football) field studies. In: Journal of Personality and Social Psychology 34, 366-375. Cohen, Jacob (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences. Hillsdale: Erlbaum. Deaux, Kay/LaFrance, Marianne (1998): Gender. In: Gilbert, Daniel T./Fiske, Susan T./Gardner, Lindzey (Hrsg.) (1998): The handbook of social psychology Vol. I. New York: Oxford University Press, 788-827. Deaux, Kay/Lewis, Laurie L. (1984): Structure of gender stereotypes. Interrelationships among components and gender label. In: Journal of Personality and Social Psychology 46, 991-1005. Deutscher Journalisten Verband (2007): Präambel der Berufsrichtlinien. Verfügbar unter: http://www.djv.de/DJV-Grundsatzprogramm.840.0.html (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Eagly, Alice H./Wood, Wendy/Diekman, Amanda B. (2000): Social role theory of sex differences and similarities. A current appraisal. In: Eckes, Thomas/Trautner, Hanns M. (Hrsg.) (2000): The developmental social psychology of gender. Mahwah, NJ: Erlbaum, 123-174. Erfurt, Philine/Haase, Anja/Roßhart, Julia (2007): Mediale Geschlechterkonstruktion im Bundestagswahlkampf 2005. In: Scholz, Sylka (Hrsg.) (2007): „Kann die das?“ Angela Merkels Kampf um die Macht. Berlin: Karl Dietz Verlag, 25-36. Fiske, Susan T./Neuberg, Steven L. (1990): A continuum model of impression formation, from category-based to individuating processes. Influence of information and motivation on attention and interpretation. In: Zanna, Mark P. (Hrsg.) (1990): Advances in experimental social psychology. New York: Academic Press, 1-74. Groeben, Norbert/Schreier, Margit/Christmann, Ursula (1993): Fairness beim Argumentieren. Argumentationsintegrität als Wertkonzept einer Ethik der Kommunikation. Linguistische Berichte 147, 355-382. Haferkamp, Nina (2006): „Human Touch“ – eine kulturvergleichende Untersuchung medialer Inszenierungstechniken in den Fernsehnachrichten von Deutschland, den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität zu Köln. Hagen, Lutz M./Zeh, Reimar/Berens, Harald (1998): Kanzler und Kontrahent. In: Klaus Kamps/Meckel, Miriam (Hrsg.) (1998): Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 39-48.

Wahlkampf 2005: Inszenierung in den Fernsehnachrichten

49

Heilman, Madeline E. (1983): Sex bias in work settings. The lack of fit model. In: Cummings, Larry L./Staw, Barry M. (Hrsg.) (1983): Research in organizational behavior. An annual series of analytical essays and critical reviews. Greenwich, CT: Jai Press Inc., 269-298. Huber, Frank/Regier, Stefanie/Aboulzahab, Mona (2006): Was ist ein Fernsehsender wert? – Zum Einfluss der Markenpersönlichkeit auf den Markenwert bei Medienmarken. Wissenschaftliche Arbeitspapiere Management P8, Center of Market Oriented Product and Production Management Mainz. Huddy, Leonie/Terkildsen, Nayda. (1993): The Consequences of Gender Stereotypes for Women Candidates at Different Levels and Types of Office. In: Political Research Quarterly 46, 503-525. Jansen, Astrid (2008): Wahlkampf 2005 – Inhaltsanalytische Untersuchung der Inszenierung von Angela Merkel und Gerhard Schröder in dem Prime-Time Nachrichten von ARD und RTL. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität zu Köln. Kahn, Kim F./Goldenberg, Edie N. (1991): Women Candidates in the News. An Examination of Gender Differences in U.S. Senate Campaign Coverage. In: The Public Opinion Quarterly 55, 180-199. Kamps, Klaus (1998): „Zur Politik nach Bonn…“. In: Kamps, Klaus/Meckel, Miriam (Hrsg.) (1998): Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 39-48. Kepplinger, Hans-Mathias (1987): Darstellungseffekte. Experimentelle Untersuchungen zur Wirkung von Pressefotos und Fernsehfilmen. München: Verlag K. Alber. Klein, Markus/Ohr, Dieter (2000). „Gerhard oder Helmut? ‚Unpolitische’ Kandidateneigenschaften und ihr Einfluss auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 1998“. In: Politische Vierteljahresschrift 41, 199-224. Krüger, Udo M. (2006). Fernsehnachrichten bei ARD, ZDF, RTL und SAT.1. Strukturen, Themen und Akteure. In: Media Perspektiven 2, 50-73. Maurer, Marcus/Reinemann, Carsten (2003): Schröder gegen Stoiber. Nutzung, Wahrnehmung und Wirkung der TV-Duelle. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Maurer, Torsten (2007): Das Nachrichtenangebot deutscher Fernsehvollprogramme im Tagesverlauf. In: ALM Programmbericht 2006. Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) (2007): Fernsehen in Deutschland 2006. Berlin: Vistas, 60-81. Meckel, Miriam/Kamps, Klaus (1998): Fernsehnachrichten. Entwicklung in Forschung und Praxis. In: Kamps, Klaus/Meckel, Miriam (Hrsg.) (1989): Fernsehnachrichten, Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 11-32. Meyrowitz, Joshua (1979): Television and interpersonal behaviour. Codes of perception and response. In: Gumpert, Gary/Cathcart, Robert (Hrsg.) (1979): Inter Media. Oxford: Oxford University Press, 56-76. Pöhls, Uwe (1989): Politik im Fernsehen. Zur Personalisierung in den Fernsehnachrichten der USA, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland. Politische Öffentlichkeit und massenmediale Politikvermittlung im Wandel. Opladen: Westdeutscher Verlag. Rettich, Marcus (2005): Medien durchkreuzen den Plan der SPD. Fernsehberichterstattung und öffentliche Meinung 2005. In: Medien-Tenor-Institut für Medienanalyse (Hrsg.) (2005): Bonn: Medientenor. Schatz, Heribert/Immer, Nikolaus/Marcinkowski, Frank (1989): Der Vielfalt eine Chance? Empirische Befunde zu einem zentralen Argument für die Dualisierung des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland. In: Rundfunk und Fernsehen 37, 6-24. Schulz, Winfried (1997): Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung zur Rolle der Massenmedien in der Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag. Schenk, Michael (2002). Medienwirkungsforschung. Tübingen: Mohr. Schwab, Frank/Unz, Dagmar/Winterhoff-Spurk, Peter (2005): Psychologische Methoden. Mediascope – Ein System zur Inhalts- und Formalanalyse medialer Angebote. In: Zeitschrift für Medienpsychologie 17, 110-117.

50

Astrid Jansen, Gary Bente, Nicole C. Krämer

Senokozlieva, Maria/Fischer, Oliver/Bente. Gary/Krämer, Nicole C. (2006): Of Frames and Cultures – A Cross-Cultural Comparison of TV Newscasts. In: Zeitschrift für Medienpsychologie 18, 160-173. Spiegel Titelblatt (2005) „Was will (kann) Angela Merkel?“. 28/2005. Swazina, Karl Ralf/Waldherr, Karin/Maier, Kathrin (2004): Geschlechtsspezifische Ideale im Wandel der Zeit. In: Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie 25, 165-176. Staab, Joachim Friedrich (1998): Faktoren aktueller Berichterstattung. Die Nachrichtenwerttheorie. In: Kamps, Klaus/Meckel, Miriam (Hrsg.) (1998): Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH, 49-64. Szillis, Ursula. (2007): Untersuchung der zugrunde liegenden Prozesse des Face-ism Effects und des Face-ism-Phänomens. Inauguraldissertation an der Universität Mannheim. Unz, Dagmar/Schwab, Franz (2004): Nachrichten. In: Mangold, Roland/Vorderer, Peter/Bente, Gary (Hrsg.) (2004): Lehrbuch der Medienpsychologie. Göttingen: Hogrefe, 493-525. Wagner, Bettina (2007): „Bild – unabhängig – überparteilich“? Die Wahlberichterstattung der erfolgreichsten Boulevardzeitung Deutschlands. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Analyse des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS Verlag, 147-171. Zweites Deutsches Fernsehen (2005): ZDF/ARD Berliner Runde. [Film]. Mainz. ZDF.

Vom emotionalen Underdog zur bewussten Strategie: Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen David Nicolas Hopmann

1

Einleitung1

Um Wahlergebnisse zu verstehen, konzentriert sich die Forschung wieder zunehmend auf die Bedeutung der Medien, die diese für die politischen Einstellungen der Wähler haben. Insgesamt ist eine zunehmende Anzahl von Forschungsartikeln über agenda-setting, framing und priming in den letzten Jahren erschienen (Weaver 2007). Auch das Interesse für eventuelle Effekte der Berichterstattung über Meinungsumfragen zu künftigen Wahlergebnissen ist seit den achtziger Jahren deutlich gestiegen. Meinungsumfragen sind besonders interessant, weil in mehreren Ländern die Veröffentlichung von Umfragen über politische Parteien oder Kandidaten während bestimmter Zeiträume verboten ist. In den letzten Jahren sind die Vorschriften in einigen Ländern liberalisiert worden (z.B. in Frankreich), in anderen Ländern sind sie restriktiver geworden (z.B. in Griechenland). Zur Begründung des Verbotes wird oft angeführt, die „Würde“ des demokratischen Prozesses müsse beschützt werden (Spangenberg 2003: 7). Aber kann dieses Argument theoretisch und empirisch gerechtfertigt werden? Welche Effekte haben Meinungsumfragen auf die politischen Einstellungen der Bürger? „I suspect that research on other less intuitively compelling hypotheses would have died out from a similar lack of systematic evidence“, schreibt Diana Mutz (1994: 160) in einem Artikel über die Wirkung von Meinungsumfragen auf politische Einstellungen und das Verhalten von Wählern. Dabei sind Erklärungsmodelle und Methoden der relevanten Studien höchst unterschiedlich. Die Forschungsliteratur präsentiert sich insgesamt gesehen nicht als Ergebnis kumulativen Fortschritts. Das liegt vermutlich daran, dass keine ausführliche und systematische Übersicht über mögliche Ursachen für Effekte von Umfragen in den letzten Jahren veröffentlicht wurde. Erklärungen für potenzielle oder fehlende Effekte variieren so stark von Analyse zu Analyse, dass der Leser schnell den Eindruck bekommt, es handle sich bei vielen Erklärungsmodellen um ad hoc konstruierte Modelle und nicht um Weiterentwicklungen vorheriger Forschungsansätze. Für viele Studien gilt zudem, dass kaum näher erläutert wird, durch welche Prozesse Meinungsumfragen die Parteipräferenz von Wählern eigentlich beeinflussen. 1

Danken für ihre hilfreichen Kommentare möchte ich Lise Togeby, Erik Albæk, Christian ElmelundPræstekær, Sarah Keppler und Robert Klemmensen sowie den Teilnehmern der Tagung „Information – Wahrnehmung – Emotion“ des Arbeitskreises Wahlen der DVPW in Duisburg (15.-16. Mai 2008), insbesondere Kai Arzheimer, Astrid Jansen, Thorsten Faas, Rüdiger Schmitt-Beck und Bernhard Weßels. Dank für die Hilfe beim Übersetzen aus dem Dänischen gilt auch Tina Guldbrandt Jakobsen.

52

David Nicolas Hopmann

In diesem Artikel wird eine systematische Übersicht über den Stand der Forschung gegeben: Welche theoretischen Erklärungsansätze gibt es, zu welchen empirischen Ergebnissen ist die Forschung gekommen? Grundlage für die folgende Literaturdurchsicht sind Publikationen über die Effekte von Umfragen auf die Parteipräferenz einzelner Wähler. Grundvoraussetzung aller diskutierten Prozesse ist natürlich, dass Wähler direkt oder indirekt von Meinungsumfragen erfahren, was hier aber nicht weiter diskutiert werden soll. Forschung über den Einfluss von Umfragen auf Volksabstimmungen oder die Wahlbeteiligung2 wird ebenfalls nicht mit einbezogen. 2

Stand der Forschung

Meinungsumfragen zur Parteipräferenz, wie wir sie heutzutage kennen, hatten 1936 ihren Durchbruch in den USA: George Gallup konnte – im Gegensatz zur Zeitschrift Literary Digest, die mehr als zwei Millionen Fragebögen auswerten ließ – aufgrund einiger tausend, aber repräsentativer Antworten das Ergebnis der US-Präsidentenwahl voraussagen (Gallus 2002). Schon damals gab es in den USA eine lebhafte Debatte über die Effekte der Veröffentlichung von Meinungsumfragen und über die Frage, ob sie verboten werden sollten (vgl. Gallup/Rae 1940; Hardmeier/Roth 2001: 2; Pierce 1940). Seit damals sind Veränderungen in der wissenschaftlichen Betrachtung deutlich erkennbar, wie zwei nicht veröffentlichte zusammenfassende Manuskripte zum Thema von Hardmeier und Roth (2001) sowie Irwin und van Holsteyn (2000) hervorheben. Seit der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 1980 sind erheblich mehr Studien zu Effekten von Meinungsumfragen veröffentlicht worden. Vermutlich ist der Grund hierfür eine Änderung der Nominierungsverfahren bei den Präsidentschaftswahlen und ein Interesse daran, das Stimmverhalten der Wähler nach diesen Änderungen zu erklären (vgl. Bartels 1988). Außerdem zeigen Studien nach 1980 insgesamt größere Effekte von Meinungsumfragen als frühere Studien (Hardmeier/Roth 2001: 17; Irwin/van Holsteyn 2000: 3). Wie die nachfolgende Übersicht zeigen wird, beruht dies auf veränderten Forschungsansätzen. Zajonc (1980) fordert, in Studien zu Präferenzen und Einstellungen zwischen affektiven und kognitiven Prozessen zu differenzieren. Diese Prozesse können zwar nicht vollkommen voneinander getrennt werden, aber eine solche Differenzierung wird hier als heuristischer Leitfaden der folgenden Diskussion dienen (siehe Tabelle 1).3 Meine Einteilung der bisherigen Forschung ist also vor allem als eine analytische Distinktion zu sehen. Außerdem werde ich in der Diskussion zeigen, dass sich die Mehrheit der Erklärungsmodelle 2

3

Offenbar existieren in nennenswertem Umfang nur amerikanische Untersuchungen zu den Effekten von Umfragen auf die Wahlbeteiligung: Zusammenfassend deuten die Ergebnisse nicht auf einen Zusammenhang zwischen Umfragen und Wahlbeteiligung (siehe die Diskussionen in Brettschneider 2000: 492; Gallus 2002: 33; Hardmeier/Roth 2001: 20f.). Es gibt verschiedene formale Ansätze, deren Ziel es ist, Reaktionen auf Umfragen mathematisch-ökonometrisch zu modellieren, sich aber zumeist denselben generellen Annahmen zu Individualverhalten bedienen (für eine Übersicht, siehe Irwin/van Holsteyn 2000: 6). Aubert (1987: 5) weist darauf hin, dass diese Modelle empirisch schwer zu testen sind. Abgesehen von den oft unrealistischen Vermutungen über den Wissensstand der Wähler (vgl. Abschnitt 4) zeigt eine Durchsicht der verschiedenen Artikel, dass deren Modelle nur sehr selten empirisch getestet werden – und wenn, dann mit sehr geringem Erfolg. Deshalb werden diese Modelle im Folgenden nicht mit einbezogen.

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

53

typischerweise entweder auf affektive oder kognitive Faktoren konzentriert, weshalb eine solche Unterscheidung in diesem Artikel nahe liegend ist. Tabelle 1: Reaktionsprozesse, die Meinungsumfragen bei Wählern auslösen können Affektive Prozesse

Kognitive Prozesse

Konformitätswunsch/Isolationsfurcht

Signalempfang

Der Wunsch zu gewinnen

Signalverarbeitung

Mitleid und Zynismus

Strategisch-taktisches Wählerverhalten

3

Affektive Prozesse

Wenn in der Forschungsliteratur von affektiven Prozessen die Rede ist, geht es weniger um den politischen Inhalt oder die politischen Konsequenzen, die aus dem von Meinungsumfragen abgebildeten Stimmungsbild resultieren können, sondern um andere Faktoren wie etwa die emotionale Beziehung der Wähler zu ihrer sozialen Umgebung. Den von Meinungsumfragen möglicherweise ausgelösten affektiven Prozessen ist also gemein, dass diese nicht von der politischen Bedeutung der Meinungsumfragen dominiert werden, sondern primär von den sozialen Gefühlen, die Meinungsumfragen verursachen können (vgl. Bartels 1988; Zajonc 1980: 157). 3.1 Konformitätswunsch und Isolationsfurcht Der am häufigsten diskutierte Effekt von Umfragen zu Parteipräferenzen ist wahrscheinlich der Bandwagon-Effekt (Irwin/van Holsteyn 2000: 11; Schoen 2004: 12). Allerdings existieren viele verschiedene Definitionen eines Bandwagon-Effekts (vgl. z.B. de Bock 1971: 175ff.; Irwin/van Holsteyn 2000). Bandwagon beschreibt im Wesentlichen, dass der vermutliche Wahlgewinner als eine Reaktion auf Umfragen noch mehr Stimmen bekommt. Obwohl solch ein Effekt natürlich nicht ausschließlich von affektiven Prozessen ausgelöst werden kann, wird der Bandwagon-Begriff generell als affektiver Prozess beschrieben (vgl. Irwin/van Holsteyn 2000: 3ff.; Mutz 1998: 207ff.).4 Die Zeitschrift Public Opinion Quarterly publizierte bereits 1940 mehrere Artikel über mögliche Effekte der Veröffentlichung von Umfragen. In einem der Artikel schreibt George Gallup, mit dem Begriff bandwagon sei gemeint, dass Meinungsumfragen den vermeintlichen Verlierer benachteiligen, da sie zweifelnde Wähler dazu bewegen, für den gewinnenden Kandidaten zu stimmen (Gallup/Rae 1940: 244). Gallup geht jedoch nicht von einem solchen Effekt aus, weshalb er vermutlich auch die zugrundeliegenden Prozesse nicht näher beschreibt. In derselben Ausgabe der genannten Zeitschrift beschreibt der Sozialpsychologe Floyd Allport Bandwagon-Verhalten als einen Wunsch nach Konfor4

Der Begriff bandwagon existiert auch in der Mikroökonomie, wo er von Leibenstein (1950) als Begriff für nicht funktionelles Verbraucherverhalten eingeführt wurde.

54

David Nicolas Hopmann

mität. Der Mensch möchte Teil einer Gemeinschaft sein, und dieser Wunsch dominiere eine Entscheidung mehr als rationale Überlegungen (Allport 1940: 250). Viele Studien beziehen sich auf das etwas später erschienene Buch The People’s Choice von Lazarsfeld et al. ([1944] 1968). Hier wird ein geringer Bandwagon-Effekt gefunden und damit erklärt, dass es zwar Menschen gebe, die gegen den Strom schwimmen wollen – aber die seien wohl nur eine Minderheit. Der Grund hierfür sei, dass der Mensch bereits aufgrund früher Kindheitserfahrungen nicht von gesellschaftlichen Normen abweichen wolle. Mit Hinweis auf das genannte Buch beschreibt Lupri (1969: 100) den Bandwagon-Effekt als „Mitläufereffekt“; Holmberg und Petersson (1980: 224) sprechen von einem „Überlegenheitseffekt“. Granberg und Holmberg (1986: 360) erläutern, dem BandwagonGedanken nach sei die grundlegende Annahme über Wähler eine, der zufolge der Mensch selbstständige Entscheidungen nicht treffen kann und will: „Humans are viewed as heteronomous, either incapable of making, or disinclined to make, rational decisions on their own“. Menschen haben den Wunsch „to avoid isolation and to be on the side of the majority or with a successful social movement“. Eine ähnliche Erläuterung wird von Schoen verwendet (2004: 12). Skalaban (1988: 137) erklärt den Bandwagon-Effekt damit, dass Massenmedien und ihre Meinungsumfragen sozial akzeptables und erwünschtes Verhalten definieren. De Bock (1971: 176) begründet den Trend, für den in Umfragen führenden Kandidaten zu stimmen, mit einer „zunehmenden psychischen Vereinsamung des Individuums“ und einem „starken Konformitätsdrang“ des Menschen. 3.2 Der Wunsch zu gewinnen Obgleich ebenfalls bei Lazarsfeld et al. ([1944] 1968: 108) als eine mögliche Erklärung für Bandwagon-Effekte erwähnt, wurde erst später, in den achtziger Jahren, weniger der Wunsch nach Konformität, sondern verstärkt der Wunsch des einzelnen Wählers, auf der gewinnenden Seite stehen zu wollen, hervorgehoben (vgl. Irwin/van Holsteyn 2000: 7, 11; Sudman 1986: 333). So argumentiert etwa Abramowitz (1989: 980), dass Wähler zu den Siegern zählen wollen, da Gewinnen an sich angenehmer als Verlieren sei. Das entspricht auch Ansolabehere und Iyengars (1994: 414) Begründung für affektive Prozesse. West (1991: 153) spricht vom „rally-around-the-winner effect“, der dadurch entsteht, dass Wähler Meinungsumfragen nutzen, um zu sehen, wohin der Wind weht. 3.3 Mitleid und Zynismus In der Forschungsliteratur wird komplementär zum Bandwagon- der Underdog-Effekt diskutiert. Auch hier wird in der Regel angenommen, dass er von einem affektiven Prozess ausgelöst wird (vgl. Irwin/van Holsteyn 2000: 3ff.): Ein Kandidat oder eine Partei bekommt mehr Stimmen, weil er oder sie den Wählern „leid tut“. Die Wähler haben also Mitleid mit dem vermutlichen Verlierer einer Wahl (Kirchgässner 1986: 236). Fleitas (1971: 435f.) etwa versucht in einer experimentellen Studie diesen Effekt auszulösen, indem der Underdog in fingierten Umfragen als ein relativ unbekannter Kandidat vorgestellt wird, dessen

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

55

fehlende Finanzen ihn dazu zwangen, eine Kampagne direkter Wähleransprache vor Ort zu führen, um Wähler zu erreichen. Sein Gegenkandidat wurde als reich mit angesehenem Familienhintergrund beschrieben. Beide Beschreibungen liegen fernab von politisch-inhaltlichen Argumenten. Buch (2001: 133) spricht von der in Dänemark oft zitierten Ermahnung „Glaube nicht, du seist jemand“, weshalb manche Wähler angeblich lieber den vermeintlichen Verlierer anstelle des erwarteten Gewinners wählen. Holmberg und Petersson (1980: 224) sprechen von einem „Unterlegenheitseffekt“, allerdings ohne näher zu erläutern, wieso Meinungsumfragen solche Effekte auslösen könnten. West (1991: 153) erwägt, Wähler könnten Mitleid mit einem Kandidaten haben, der in Umfragen schlecht dasteht. Dieses Mitleid könne auch daher rühren, dass Wähler den Eliten gegenüber zynischer geworden sind. Schoen (2004: 13) bezieht sich sowohl auf „Mitleid“ als auch auf eine „Trotzhaltung“ als mögliches Motiv. Im Allgemeinen nehmen jedoch nur vereinzelte Studien über einen Underdog-Effekt Bezug auf Theorie oder Empirie, die die postulierten Beweggründe für das angenommene Wählerverhalten substanziell unterstützen (Irwin/van Holsteyn 2000: 5). Viele Studien sowohl zu Underdog als auch zu Bandwagon diskutieren insbesondere nicht, welche Wählergruppen im Einzelnen beeinflusst werden können oder welche Moderatoren einen Einfluss auf Effektstärken haben können. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Studien, die affektive Reaktionen untersuchen, typischerweise auf mit Studenten durchgeführten Experimenten basieren. Damit besteht keine große Varianz bei einer Reihe sonst wesentlicher Hintergrundvariablen. Aber auch andere Studien liefern kein klares Bild. West (1991) etwa, der Surveydaten verwendet, findet keinen Zusammenhang mit dem Bildungsfaktor. Lazarsfeld et al. ([1944] 1968) erwähnen, dass besonders zweifelnde Wähler beeinflusst werden können – allerdings ohne erläuternde Diskussion. Auch der genannte Artikel von Gallup erwähnt dies, ungeachtet seiner Schlussfolgerung, wonach Umfragen keinen nennenswerten Einfluss auf das Wählerverhalten haben. Skalaban (1988) resümiert, besonders zweifelnde Wähler könnten von Umfragen beeinflusst werden, legt sich aber nicht fest, ob dies aufgrund affektiver oder kognitiver Reaktionen erfolgt. Schoen (2004: 12) dagegen erwähnt sowohl entschlossene als auch zweifelnde Wähler gleichermaßen. Generell scheint es aber in der Tat Effekte zu geben, die als Bandwagon und Underdog beschrieben werden können (Mutz 1998). Wie Metaanalyen zeigen, sind die Forschungsergebnisse zu Bandwagon- und Underdog-Effekten recht uneinheitlich, einige Studien finden diese Effekte, andere nicht (Hardmeier/Roth 2001; Irwin/van Holsteyn 2000). Empirisch ist die Wirksamkeit der postulierten Effekte also nicht eindeutig belegt. Im Folgenden werden wir außerdem sehen, dass die Annahmen zu den Prozessen hinter den Effekten wenig einleuchtend sind. 3.4 Affektive Prozesse: Diskussion Zunächst fällt auf, dass sehr unterschiedliche Prozesse hinter Bandwagon- und UnderdogEffekten angenommen werden. Das allein bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese Prozesse nicht von Meinungsumfragen ausgelöst werden können. Aber es bedeutet, dass nicht beide Effekte mit demselben Reaktionsmodell erklärt werden können (Mutz 1992:

56

David Nicolas Hopmann

98). Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass Erklärungsansätze kognitiver statt affektiver Prozesse verschiedene Effekte in einem Ansatz erklären können (Mutz 1998: 213f.). Zweitens scheint ein großer Teil der präsentierten Analysen die politische „Mehrheit“ oder „Minderheit“ als eine eindeutige Größe zu definieren. Offensichtlich basieren die Annahmen hinter Bandwagon und Underdog auf Erfahrungen aus politischen Systemen mit zwei Parteien oder mit Einerwahlkreisen (Irwin/van Holsteyn 2000; vgl. Hardmeier/Roth 2001, 2003; Holmberg/Petersson 1980: 224). Dies wird besonders dadurch deutlich, dass die skizzierten Effekte vor allem beschreiben, wen die Wähler wählen werden, und nicht, wen die Wähler nicht wählen werden – bei nur zwei kandidierenden Parteien zwei Seiten einer Medaille. Die Lage in Mehrparteiensystemen ist aber komplizierter (Blais et al. 2002: 13; Holmberg/Petersson 1980: 224f.; van Holsteyn/Irwin 2003). Ein Bandwagon-Effekt ausgelöst von z.B. „supporting the winner“ ist als Annahme in einem Mehrparteiensystem wenig aussagekräftig. Wer ist der Gewinner: Die Partei mit dem größten Zuspruch oder die Partei mit dem größten Zugewinn? Oder die Partei des Regierungschefs? Drittens sind die dominierenden Erklärungsansätze für die Prozesse hinter Bandwagon und Underdog nicht sehr plausibel, sofern sie überhaupt (und nicht nur die Effekte) diskutiert werden. So wird wie erwähnt in der Literatur zum Underdog-Effekt nur in sehr wenigen Fällen erklärt, warum die Wähler mit einem Kandidaten Mitleid haben sollten. Dasselbe gilt für die Annahme von Zynismus oder der erwähnten „Trotzhandlung“ als Wählermotivation.5 Nicht besser fundiert sind die Annahmen affektiv ausgelöster Bandwagon-Effekte. Mutz (1992: 96f., 1997: 105) hebt hervor, der angebliche Wählerwunsch, auf der Seite des Siegers stehen zu wollen, werde selten begründet und habe den Status eines Allgemeinplatzes. Wenn allerdings zum Bandwagon-Effekt auf ausführlichere Argumente hingewiesen wird, wird in der Regel die Forschung von Solomon Asch oder Elisabeth Noelle-Neumann genannt (für Übersichten siehe Irwin/van Holsteyn 2000: 5; van Holsteyn/Irwin 2003: 11; Mutz 1998: 182ff., 197ff.). Asch wurde in den fünfziger Jahren durch verschiedene Studien zu Konformität in Gruppenverhalten bekannt (vgl. Friend et al. 1990). Am bekanntesten ist vermutlich eine Reihe von Experimenten, in denen untersucht wurde, ob Probanden der Mehrheit einer Gruppe folgten, auch wenn deren Antwort – bezüglich der Einschätzung der Länge verschiedener Linien – offensichtlich falsch war. Die spätere Auslegung von Aschs Ergebnissen fokussierte hauptsächlich auf jenen Aspekt seiner Ergebnisse, der Konformität belegte, auf diejenigen Fälle also, in denen sich die Versuchspersonen der falschen Antwort der Mehrheit anschlossen. Dies wurde damit erklärt, dass die Versuchspersonen offenkundig einen entsprechenden sozialen Druck empfanden. In Bezug auf die Effekte von Meinungsumfragen wird argumentiert, ein Bandwagon-Effekt entstehe, weil Menschen wegen negativer sozialer Konsequenzen nicht auf der Verliererseite stehen möchten.

5

Zum Beispiel bezieht West (1991: 153) sich auf Ceci und Kain (1982), die zögernd u.a. eine ähnliche Interpretation ihrer Ergebnisse vorschlagen, aber genauso wenig wie West (1991) weiter erläutern, warum und wie Zynismus gegen politische Eliten und Reaktionen auf Meinungsumfragen verbunden sein können. Schoen (2004: 13) bezieht sich auf Gallus (2002: 33). Aber auch die bei Gallus angeführten Referenzen erklären die mögliche Rolle von Zynismus oder Trotz nicht näher (Brettschneider 2000; Daschmann 2000; Donsbach 1984; Engel 1987).

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

57

Die unausgewogene Darstellung der Ergebnisse von Asch führt allerdings dazu, dass sowohl die Bedeutung konformen Verhaltens überschätzt wird, als auch unterschätzt wird, wie selbstständig Menschen sind (vgl. Granberg/Holmberg 1986: 390). In einer Studie, die die Diskussion von Aschs Ergebnissen in fast einhundert US-amerikanischen Lehrbüchern untersucht, wird geschlussfolgert: „Ironically, many accounts of Asch’s work draw from it the very assertion he was intending to refute… These portrayals have minimized or ignored what Asch particularly stressed and considered his major finding, namely, the capacity of most individuals to resist group pressure despite severe stress and doubt… However, it has become a widespread, even fantastic misconception, that Asch was attempting to demonstrate the prevalence of conformity“ (Friend et al. 1990: 30, 43, Kursivschrift hinzugefügt).

Ein Hinweis auf Aschs Forschungsergebnisse alleine unterstützt daher nicht die Argumentation für einen affektiv ausgelösten Bandwagon-Effekt (vgl. Lang/Lang 1996: 73). Außerdem wird darauf aufmerksam gemacht, das Besondere der Asch-Experimente sei gewesen, dass die Antwort der Mehrheit offensichtlich falsch war, die Versuchspersonen folglich Schwierigkeiten hatten, eine plausible Erklärung für das Antwortverhalten der anderen Gruppenmitglieder zu finden. Das bedeutete erhöhten Stress für die Versuchspersonen (Huckfeldt et al. 2004: 22, 96f., 123). Für politische Fragen ist es aber typisch, verschiedene Argumente für die Standpunkte anderer zu benennen, weshalb Diskussionen über Politik für den Einzelnen wesentlich unproblematischer sind: „[The] Asch experiments showed not the tyranny of the group over the individual, but the consequence of unresolved and irresolvable problems of interpersonal perception and attribution“ (Ross et al. 1976: 156; vgl. Huckfeldt/Sprague 1995: 163). Ein verbreitetes Argument für Konformität ist die sogenannte Schweigespirale, zuerst beschrieben von Elisabeth Noelle-Neumann (1974, 1980). Hier wird angenommen, dass Personen, die eine Minderheitenmeinung haben, sich nicht trauen, diese offen zu äußern, weshalb die Meinung der Mehrheit eine noch stärkere Bedeutung erhält: „Wer feststellt, dass sich seine Meinung ausbreitet, fühlt sich dadurch gestärkt und äußert seine Meinung sorglos, redet, ohne Isolation zu fürchten. Wer feststellt, dass seine Meinung Boden verliert, wird verunsichert und verfällt in Schweigen… bis in einem Prozess der ‚Schweigespirale’ die eine Meinung die ganze Öffentlichkeit beherrscht…“ (Noelle-Neumann 1989: 419f., Kursivschrift hinzugefügt).

Jedoch ist es zweifelhaft, ob die Hypothese über die Schweigespirale für die Analyse der Effekte von Meinungsumfragen von Nutzen ist. Erstens ist der Wahlakt an sich geheim. Falls ein Wähler soziale Isolation fürchtet, kann er oder sie trotzdem eine Stimme für die bevorzugte Partei abgeben und sich dann entscheiden, öffentlich nicht zu dieser Parteienwahl zu stehen (Mutz 1998: 183). Zweitens weist Noelle-Neumann als eine empirische Bestätigung für ihr Erklärungsmodell auf die Experimente von Asch hin (Noelle-Neumann 1974: 43, 1980: 59ff.). Noelle-Neumanns eng gefasste Auslegung der Forschungsergebnisse von Asch ist besonders problematisch, weil seine Ergebnisse einen zentralen Platz in ihrer Begründung für eine „Isolationsfurcht“ einnehmen (Joslyn 1997: 340). Drittens kommt eine Metaanalyse von mehreren Studien zu dem Ergebnis, dass sich in der For-

58

David Nicolas Hopmann

schungsliteratur kaum empirische Belege für die Schweigespirale finden (Glynn et al. 1997: 461). Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass sich die Forschungsliteratur besonders auf zwei Effekte konzentriert, Bandwagon und Underdog, die normalerweise als affektive Reaktionen erklärt werden. Wie erwähnt werden beide Effekte in einigen Studien gefunden, in anderen nicht. Die Diskussion der Annahmen affektiver Prozesse hinter diesen Effekten zeigt außerdem Lücken auf, da die Erklärungsansätze oft von einer Fehldeutung früherer sozialpsychologischer Experimente abgeleitet werden – falls überhaupt näher erläutert wird, wieso eine der beiden Effekte auftreten könnte. Hinzukommt, dass (zumeist implizit) angenommen wird, Sieger oder Verlierer stünden praktisch fest, was der Komplexität von Mehrparteiensystemen nicht gerecht wird. 4

Kognitive Prozesse

Im Gegensatz zu affektiven Prozessen wird bei kognitiven Prozessen davon ausgegangen, dass Wähler auf die politischen Konsequenzen reagieren, die die Informationen einer Meinungsumfrage implizieren. Allgemein ausgedrückt bedeutet das: „When we evaluate an object or an event [affectively], we are describing not so much what is in the object or in the event, but something that is in ourselves. Cognitive judgments deal with qualities that reside in the stimulus“ (Zajonc 1980: 157). Ferner haben wir im letzten Abschnitt gesehen, dass der Ausgangspunkt für die Diskussion über affektive Modelle die Frage ist, wie Bandwagon- oder Underdog-Effekte erklärt werden können. Anders verhält es sich bezüglich kognitiver Prozesse: Obwohl nicht explizit hervorgehoben, konzentriert sich die Forschung weniger auf Effekte, sondern eher auf Prozessebene (Irwin/van Holsteyn 2000). Auch werden in diesen Studien, wie wir sehen werden, moderierende Faktoren detaillierter untersucht und besprochen. Überdies sind die wenigen Studien, in denen mit kognitiven Erklärungsansätzen gearbeitet wird, relativ neu: Nur ungefähr ein Drittel der in Hardmeier und Roth (2001) sowie Irwin und van Holsteyn (2000) aufgeführten Studien arbeitet mit kognitiven Ansätzen, fast keine von ihnen ist vor Mitte der achtziger Jahre veröffentlicht worden. Offenbar hat ein grundlegender Wechsel stattgefunden: Während Wähler einst als überwiegend irrational und wenig reflektierend dargestellt wurden, geht man heute davon aus, dass sie Informationen aus Umfragen aufnehmen und verarbeiten können (Irwin/van Holsteyn 2000: 6). 4.1 Signalempfang Der erste in Tabelle 1 genannte kognitive Prozess wird „Signalempfang“ genannt. Er umfasst mehrere ähnliche Analysebegriffe, denen die Annahme gemein ist, dass Wähler Meinungsumfragen als Hinweis nutzen, um sich die Informationsbeschaffung zu vereinfachen (Skalaban 1988: 137). In Überlegungen inspiriert von Downs (1957; vgl. Engel 1987) wird angenommen, Wähler wollten ihre Wahl mit so wenig Aufwand wie möglich treffen. Wähler werden mit vielen Botschaften und Meinungen konfrontiert und deshalb versuchen sie, diese komplizierte Situation zu handhaben, indem sie Meinungsumfragen nutzen, um

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

59

ohne perfekte Informationen sinnvolle Entscheidungen treffen zu können (Schmitt-Beck 1996: 267). Meinungsumfragen können folglich zu einer Informationsquelle für eine Vereinfachung der Wahl werden, was Schmitt-Beck (1996: 285) als majority-led proxy voting beschreibt. Ansolabehere und Iyengar (1994: 414) erwähnen, alternativ zu einem affektiv ausgelösten Bandwagon-Effekt könnten Wähler Meinungsumfragen als grobe Indikatoren für die Stärken und Schwächen von Kandidaten verwenden. Mutz (1998) spricht von „Konsensheuristik“. Wenn ein Kandidat Unterstützung erfährt, müssen die politischen Haltungen des Kandidaten relevant sein (Mutz 1998: 209). Mit einer ähnlichen, aber „negativen“ Formulierung sprechen Lau und Redlawsk (2001: 954) von Konsensinformationen, die eine Wahl für Wähler einfacher macht: Meinungsumfragen können helfen, Wahlmöglichkeiten auszuschließen.6 4.2 Signalverarbeitung Der zweite kognitive Prozess, mit dem Begriff „Signalverarbeitung“ beschrieben, baut auf dem Ansatz auf, der in der sozialpsychologischen Literatur als cognitive-response-Modell beschrieben wird (vgl. Cacioppo/Petty 1996: 225ff.). Im Gegensatz zum Phänomen „Signalempfang“, der nur begrenzt Überlegungen vom Wähler fordert, wird mit dem Begriff „Signalverarbeitung“ die Annahme bezeichnet, dass die Empfänger von Informationen aktiv überlegen, ob sie die Meinungen teilen, mit denen sie konfrontiert werden. Als Ausgangspunkt wird die „mediating role of the idiosyncratic thoughts or ‚cognitive responses’ that recipients generate – and, thus, rehearse and learn – as they receive and reflect upon persuasive communications“ (Eagly/Chaiken 1993: 281) hervorgehoben. Informationen über die Einstellungen anderer lösen einen Prozess aus, bei dem Wähler Überlegungen für und gegen einen Standpunkt anstellen: „Thus knowledge that others’ choices are discrepant from his own may induce the person to reconstruct a line of reasoning which he thinks could have produced such choices“ (Burnstein et al. 1973: 244). Es ist also nicht die Kenntnis von Einstellungen anderer Wähler allein, die eine Einstellungsänderung mit sich bringen kann, sondern auch der Prozess des eigenen Räsonierens über verschiedene Standpunkte (vgl. Burnstein/Vinokur 1975: 414f., 422ff.). Diana Mutz (1992, 1997, 1998) arbeitet diesen Ansatz in Studien zu Effekten von Umfragen ein. Der kognitive Prozess „Signalverarbeitung“ basiert bei ihr dementsprechend auf der Annahme, dass eine Konfrontation mit Umfragen Überlegungen für und wider den eigenen Standpunkt auslösen kann. Hierbei können Wählern Argumente einfallen, die zu einem neuen Standpunkt führen, aber natürlich auch überwiegend Argumente für ihren bisherigen Standpunkt (Mutz 1997: 106ff., 1998: 212ff.). Im Gegensatz zu dem mit dem Begriff „Signalempfang“ bezeichneten kognitiven Prozess kann der als „Signalverarbeitung“ bezeichnete Prozess verschiedene Effekte erklären. So kann „Signalempfang“ nur schlecht einen Underdog-Effekt erklären, demgemäß einige Wähler sich dafür entscheiden, eine Partei oder einen Kandidaten zu unterstützen, der in 6

Die Begriffe ähneln auch Erklärungsansätzen in Studien zu US-amerikanischen Vorwahlen (vgl. Hopmann 2008).

60

David Nicolas Hopmann

Meinungsumfragen schlecht dasteht (Mutz 1998: 213). Angenommen wird ja, dass Wähler die Haltungen der Mehrheit als richtige oder beste Wahl interpretieren. Das impliziert auch, dass Wähler keine Argumente für oder gegen das Stimmungsbild in Meinungsumfragen haben – genau deshalb folgen sie ja angeblich der Mehrheit (Mutz 1998: 235). „Signalverarbeitung“ hingegen kann einen Underdog-Effekt erklären. 4.3 Strategisch-taktisches Wählerverhalten Der letzte in Tabelle 1 genannte kognitive Prozess steht für strategische und taktische Überlegungen: „Strategic or tactical voting is one of the ways in which voters can make use of information from public opinion polls in a cognitive or instrumental way to help decide how they will cast their vote“ (van Holsteyn/Irwin 2003: 15, Kursivschrift hinzugefügt).7 Ausgangspunkt für diesen Ansatz ist, dass Wähler ihre Einstellungen nicht ändern, dass sie aber anstatt der eigentlich bevorzugten Partei aus taktischen Gründen ihre Stimme für eine andere Partei abgeben (Holmberg/Petersson 1980: 231; Mutz 1998: 207; Schoen 2000: 3). In der Forschungsliteratur werden zahlreiche Argumente genannt, warum Wähler mit strategischen Überlegungen auf Umfragen reagieren können (vgl. Donsbach 2001; Irwin/van Holsteyn 2000). Eines der bekanntesten Argumente ist, dass Wähler ihre Stimme nicht „vergeuden“ oder „verschenken“ wollen. Dazu ein Beispiel: In Großbritannien kann eine Situation entstehen, in der nur ein Kandidat – entweder von der Labour-Partei oder den Liberalen – die Möglichkeit hat, den konservativen Kandidaten eines Wahlkreises zu besiegen (McAllister/Studlar 1991). Wenn aus einer Umfrage in diesem Wahlkreis hervorgeht, dass ein liberaler Kandidat vielleicht den konservativen Gegenkandidat besiegen kann, während der Labour-Kandidat kaum eine Chance hat, wäre es möglich, dass Anhänger der Labour-Partei taktisch für die Liberalen stimmen, um die Konservativen daran zu hindern, das Mandat zu gewinnen (Irwin/van Holsteyn 2003).8 Somit vermeiden Wähler, dass ihre Stimmen vergeudet werden. Gleichzeitig schwächen sie die Konservativen. Diese Taktik wird auch preventive tactics genannt, indem die Wähler bewusst versuchen, eine oder mehrere Parteien daran zu hindern, an die Macht zu kommen (Donsbach 2001: 22). Ein ähnlicher Effekt wird als horror majoritatis beschrieben: Wenn eine Partei in Meinungsumfragen in einer starken Position ist, können einige Wähler taktisch stimmen, um zu eindeutige Machtverhältnisse zu verhindern, etwa damit eine Partei nicht alleine die absolute Mehrheit erhält (Brettschneider 2000: 495; Elklit 1989: 97, 101; Kirchgässner 1986: 236; Klein/Heinze 1999: 16; Schoen 2000: 6, 2004: 15). Obwohl das bundesdeutsche Wahlsystem als Ausgangspunkt eine proportionale Mandatsverteilung vorsieht, haben aufgrund der Fünfprozenthürde viele der aufgestellten Parteien keine Chance, im Bundestag repräsentiert zu werden. Deshalb wird auch in der Bundesrepublik diskutiert, inwiefern Wähler vermeiden möchten, ihre Stimme zu „vergeuden“, indem sie eine Partei wählen, die vermutlich keinen Platz im Parlament bekommen wird: „[Erwiese] sich eine Gruppierung… als nicht aussichtsreich in dieser Hinsicht, so würden 7 8

Die Begriffe „strategisch“ und „taktisch“ werden hier synonym verwendet. Zu einem ähnlichen Argument für Deutschland siehe Schoen (1999); für Vorwahlen in den USA siehe Abramson et al. (1992).

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

61

[der wasted-vote-These folgend] dies deren Anhänger mit Stimmentzug bestrafen“ (Schoen 1999: 565, vgl. 2000: 4). Dieser Effekt wird auch der „Guillotine“- oder „Fallbeil“-Effekt genannt (Brettschneider 2000: 494; Donsbach 1984: 405f., 2001: 22; Schoen 2000: 5). Oder bildlich gesprochen: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ (Elklit 1989: 101). Diese Sperrklausel könnte allerdings auch einen umgekehrten Effekt haben. Angenommen wird nämlich ebenfalls, dass deutsche Wähler ihre Stimme einer kleineren Partei „ausleihen“, um eine bestimmte Koalition zu sichern: Dies wird auch facilitating tactics (Donsbach 2001: 22) oder „Leihstimmen“-Effekt (Brettschneider 2000: 495) genannt (siehe auch Bytzek in diesem Band). In der Bundesrepublik Deutschland hatte die FDP oft einen Wählerzuspruch nahe der Fünfprozenthürde. Die Möglichkeit für eine Koalition mit der Union wäre natürlich verloren, wenn die FDP nicht in den Bundestag oder ein Landesparlament einzöge. Deshalb ist es denkbar, dass Anhänger der Union ihre Stimmen der FDP „leihen“, falls Meinungsumfragen ein Scheitern der FDP an der Fünfprozenthürde voraussagen (Klein/Heinze 1999: 15; Schoen 2000: 6). Anlass müssen aber nicht nur Überlegungen über mögliche Koalitionen sein. Einige Wähler könnten unabhängig von ihren generellen Parteipräferenzen eine andere Partei wählen, weil sie einen bestimmten Standpunkt im Parlament repräsentiert oder verstärkt sehen möchten (Schoen 2000: 6, 2004: 15). Wenn die bevorzugte Partei vermutlich ohnehin eine hohe Anzahl Stimmen bekommen wird, kann die eigene Stimme für eine andere Partei genutzt werden (Irwin/van Holsteyn 2000: 17f.). Wähler können laut einer anderen Interpretation auf diesem Weg auch eine Botschaft an ihre normalerweise bevorzugte Partei senden: So wäre es denkbar, dass Wähler die Partei „Die Linke“ wählen, weil sie der Meinung sind, die Sozialdemokratie hätte sich zu weit nach rechts bewegt (vgl. Irwin/van Holsteyn 2000: 18). Ein weiterer Zusammenhang zwischen der Größe einer Partei und taktischem Abstimmungsverhalten könnte ein Phänomen sein, das in schwedischen Analysen als „instrumentalisiertes Wahlverhalten nach Parteigröße“ beschrieben wird (Holmberg/Oscarsson 2004: 11f.). Demnach wollen Wähler eher für eine größere als für eine kleinere Partei stimmen, weil sie annehmen, dass größere Parteien bessere Möglichkeiten haben, ihre Politik durchzusetzen. Viele der beschriebenen strategisch-taktischen Reaktionen können als Trendeffekte verstanden werden: Es ist nicht nur eine Frage, ob die FDP nahe an der Fünfprozenthürde ist, sondern sich auch kontinuierlich auf diese hinzubewegt (Irwin/van Holsteyn 2000). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Literatur von drei übergeordneten kognitiven Prozessen die Rede ist, die mit den Begriffen „Signalempfang“, „Signalverarbeitung“ und „strategisch-taktisches Wählerverhalten“ bezeichnet werden. Nun stellt sich die Frage, inwiefern diese Prozesse theoretisch plausibel und empirisch erklärungsstark sind. 4.4 Kognitive Prozesse: Diskussion Irwin und van Holsteyn (2000: 18) diskutieren zwar verschiedene Studien zum kognitiven Prozess „Signalempfang“, kommen aber zu keinem Schluss über die Ergebnisse, weder zur Frage, ob die Annahmen zu „Signalempfang“ theoretisch plausibel, noch, ob sie empirisch feststellbar sind. Mutz (1998: 210) betont, dass empirische Belege für diesen Prozess eher

62

David Nicolas Hopmann

selten sind. Skalaban (1988) präsentiert zwar einen Erklärungsansatz, interpretiert aber (ohne es näher zu erklären) seine Ergebnisse als ein Resultat von affektiven Prozessen. Ansolabehere und Iyengar (1994) erläutern weder die Prozesse hinter den Effekten von Meinungsumfragen, noch diskutieren sie ihre Ergebnisse im Verhältnis dazu. Schmitt-Beck (1996: 285) erklärt einen begrenzten Bandwagon-Effekt als „Signalempfang“. Lau und Redlawsk (2001: 962) stellen in Experimenten fest, dass Wähler Meinungsumfragen als Informationsquelle nutzen, untersuchen aber nicht, in welchem Ausmaß Meinungsumfragen dazu dienen, die Verarbeitung von Informationen über Kandidaten zu vereinfachen. Um zu testen, ob der Prozess „Signalempfang“ tatsächlich stattfindet, hat Mutz (1998) mehrere Experimente mit verschiedenen Themen in unterschiedlichen Kontexten durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass Umfragen einen solchen Prozess auslösen können, d.h. dass die Befragten sich in erster Linie an den Antworten der Mehrheit orientieren.9 Allerdings zeigt sich auch, dass Umfragen hauptsächlich eine Wirkung auf diejenigen Wähler haben, die als Reaktion auf Umfragen über die Wahl räsonieren (Mutz 1998: 245). Dies spricht eher für „Signalverarbeitung“ als „Signalempfang“. Mutz fasst zusammen (1998: 245), dass „Signalempfang“ vermutlich ein seltenes Phänomen ist: Hierfür muss das Informationsniveau „extrem niedrig“ sein. Außerdem stellt sich die Frage, ob extrem unwissende Bürger überhaupt zur Wahl gehen (Mutz 1998: 260) und ob zu Nebenwahlen, bei denen „Signalempfang“ besonders nahe liegend sein kann (z.B. Lokalwahlen), tatsächlich Umfragen in Medien veröffentlicht werden (Mutz 1998: 236, 260). Obgleich sozialpsychologische Ergebnisse zu „Signalempfang“ die theoretische Plausibilität dieses Erklärungsansatzes unterstützen (Mutz 1998: 209), sprechen die wenigen empirischen Ergebnisse nur in begrenztem Umfang für diesen Erklärungsansatz; mehrere Ergebnisse sprechen sogar dagegen und wie erwähnt eher für „Signalverarbeitung“ (vgl. Mutz 1992: 109, 1998: 226ff., 245). So deuten außerdem etwa dänische Forschungsergebnisse nicht darauf hin, dass das Informationsniveau bei Wahlen zum dänischen Parlament oder bei Kommunalwahlen extrem niedrig ist. Dänische Wähler können sich im Allgemeinen gut in der politischen Landschaft orientieren, was auch für weniger politisch interessierte Wähler gilt (Andersen et al. 1999: 287; vgl. Andersen/Clement 2003: 426). Auch schwedische, deutsche und niederländische Untersuchungen zeigen, dass Wähler für und gegen ihre Parteienwahl argumentieren können (Holmberg 1994: 316; van Holsteyn 1994; Klingemann 1986a, 1986b). Die entscheidende Voraussetzung für den Prozess „Signalempfang“ ist also selten gegeben. Insgesamt ist die Annahme über „Signalempfang“ zwar theoretisch plausibel, empirisch aber selten belegt. Wie in der Diskussion des mit dem Begriff „Signalverarbeitung“ bezeichneten Erklärungsansatzes erwähnt, wurde dieser insbesondere von Diana Mutz erarbeitet (vgl. Mutz 1998: 214). Eine Reihe von sozialpsychologischen Untersuchungen hat gezeigt, dass die Annahmen dazu plausibel sind; Mutz hat diese daraufhin mehrmals empirisch untermauert (Mutz 1992, 1997: 133ff., 1998: 219ff.). So findet sie, dass das Räsonieren der Wähler über die Wahl durch die Konfrontation mit Meinungsumfragen stimuliert wird. Allerdings werden die Überlegungen der Befragten nicht einseitig in die Richtung gelenkt, die als Präferenz der Mehrheit präsentiert wird. Befragte, die mit einer Umfrage konfrontiert wur9

Allerdings erläutert Mutz nicht, wie empirisch untersucht werden kann, ob die Rede von „Signalempfang” oder affektiven Reaktionen ist.

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

63

den, nennen mehr Argumente für und gegen einen Politiker als jene, die in einer Kontrollgruppe waren und nicht mit einer Meinungsumfrage konfrontiert wurden. Zweitens zeigen ihre Ergebnisse, dass Wähler der Empfehlung der Mehrheit folgen, wenn ihnen primär Argumente einfallen, die die Einstellung der Mehrheit unterstützen. Erinnern sie sich jedoch vor allem an Gegenargumente, stimmen sie auch dementsprechend. Drittens zeigen die Ergebnisse, dass Befragte, die sich nicht an Argumente erinnern können, ihre Präferenz nur selten ändern, also nicht blind dem Signal der Mehrheit folgen. Schlussfolgernd schreibt Mutz (1997: 118): „The cognitive response model provides by far the best explanation for these results“. Nun bleibt zu erörtern, welche empirischen Ergebnisse zu strategisch-taktischem Wählerverhalten in der Literatur vorliegen. Die vermutlich häufigste kritische Anmerkung ist, der einzelne Wähler habe keinen nennenswerten Einfluss auf das Wahlergebnis (Bartels 1988: 109; Irwin/van Holsteyn 2000: 15ff.; Mutz 1998: 207). Allerdings stellt sich dann die Frage, warum Wähler überhaupt zur Wahl gehen: „Der rational denkende Wähler wird auch erkennen, dass die Chance, dass genau seine/ihre Stimme für die Mandatverteilung ausschlaggebend ist, unendlich klein ist… Der rational denkende Staatsbürger wäre Nichtwähler“ (Mouritzen 1997: 262). Aber er geht ja trotzdem zur Wahl. Eine andere Frage in der Debatte ist, ob Wähler die politische Lage überhaupt gut genug kennen (Mutz 1998: 207; Schoen 2000: 8ff.); es wurde bereits auf mehrere Studien hingewiesen, die zeigen, dass diese Annahme plausibel ist. Auch die Ergebnisse zu den beschriebenen einzelnen Taktiken weisen grundsätzlich Anzeichen für entsprechendes Wahlverhalten auf. Überlegungen zu „Stimmenvergeudung“ haben in Skandinavien vermutlich keine große Bedeutung (Gschwend 2005). Dagegen zeigen schwedische Untersuchungen, dass die Größe einer Partei und die dadurch abgeleiteten Erwartungen an ihren politischen Einfluss eine Rolle für die Parteipräferenzen der Wähler spielen (Holmberg/Oscarsson 2004: 12). Forschungsergebnisse zur Vermeidung von „Stimmenvergeudung“ in anderen westeuropäischen Ländern zeigen verschiedene Ergebnisse. In einigen deutschen Studien wird diese Frage eher positiv beantwortet (Brettschneider 1992; Donsbach 2001), in anderen eher zweifelnd (Schoen 1999, 2000). Nach Irwin und van Holsteyn (2000: 17) deuten die Forschungsergebnisse allerdings darauf hin, dass Wähler sich in der politischen Landschaft gut orientieren können, und viele aufgrund der durch Meinungsumfragen vermittelten Informationen strategisch wählen (können), um etwa bestimmte Koalitionen zu unterstützen (Faas/Schmitt-Beck 2007; van Holsteyn/Irwin 2003; Irwin/van Holsteyn 2003). Es erscheint also plausibel, dass Wähler – wenn überhaupt! – eher nachdenklich auf Meinungsumfragen reagieren. Dieses Räsonieren kann dazu führen, dass ein Wähler seine ‚eigentliche’ Parteipräferenz ändert, weil ihm mehr positive Argumente für eine Partei einfallen, die er bisher nicht wählen wollte. Ebenso scheint es glaubwürdig, dass einige Wähler ihren Standpunkt zwar nicht ändern, aber aus strategisch-taktischen Gründen eine andere Partei wählen. Die Prozesse „Signalverarbeitung“ und strategisches Verhalten schließen einander zudem nicht aus, da „Signalverarbeitung“ dazu führen kann, dass sich der Wähler an strategisch-taktische Argumente erinnert. Eher unwahrscheinlich ist hingegen, dass Wähler aufgrund von Meinungsumfragen entscheiden, welchen Standpunkt sie für politisch richtig halten: Dafür sind Wähler doch zu gut über politische Verhältnisse informiert.

64 5

David Nicolas Hopmann Ausblick

In diesem Beitrag wurde vorgeschlagen, Studien zu den Effekten von Meinungsumfragen danach einzuteilen, ob sie primär affektive oder kognitive Reaktionsprozesse erwarten. Diese Einteilung macht zunächst deutlich, dass viele Studien sich auf affektive oder kognitive Prozesse, aber nicht Kombinationen, konzentrieren. Zweitens wurde deutlich, dass sich die Forschungsansätze in den letzten Jahrzehnten deutlich weg von eher affektiven hin zu eher kognitiven Prozessen verändert haben. Drittens sind so Stärken und Schwächen deutlich geworden: Bei der Betrachtung affektiver Prozesse zeigte sich zunächst, dass die theoretischen Argumente für die angenommenen Reaktionen der Wähler entweder fehlen oder auf problematischen Interpretationen sozialpsychologischer Studien fußen. Das Problem der Erklärungsansätze, deren Ausgangspunkt kognitive Prozesse sind, liegt anderswo: Die Annahmen zu den zwei erweiterten kognitiven Prozessen erscheinen generell plausibel, allerdings haben wir nur wenige empirische Studien dazu. Das führt uns zu folgenden sechs Ansatzpunkten für die weitere Untersuchung zu den Effekten von Meinungsumfragen. Ob die Annahmen über kognitive Prozesse wirklich stichhaltig sind, muss erstens näher untersucht werden (vgl. Donsbach 2001: 23; Hardmeier/Roth 2001:22). Zweitens und in unmittelbarer Ergänzung hierzu: Wie eingangs erläutert, wird nicht angenommen, dass Reaktionen entweder affektiv oder kognitiv sind. Die Literatur deutet daraufhin, dass kognitive Reaktionen immer auch affektive Komponenten umfassen (Kuklinski/Quirk 2000: 164; Rahn 2000; Zajonc 1980). So steht weiterhin die Frage im Raum, wie gut die diskutierten Erklärungsmodelle sowohl affektive als auch kognitive Reaktionen einfangen. Es ist also zu untersuchen, in welchem Maße politisch-inhaltliche Argumente oder andere, z.B. soziale Reaktionen im privaten Umfeld, eine Rolle für Wähler spielen. So ist denkbar, dass affektive Prozesse eher am Anfang von Wahlkämpfen stattfinden, wenn Wähler noch wenig über die kandidierenden Parteien wissen, kognitive Reaktionen aber Überhand gewinnen, je näher der Wahltag rückt. Mutz (1997: 112) zeigt u.a., dass Wähler immer mehr Argumente für und gegen Politiker hervorbringen, je weiter der Wahlkampf fortgeschritten ist. Andere Wissenschaftler weisen darauf hin, dass kognitive Reaktionen im Verhältnis zu affektiven Reaktionen in der Politik überschätzt werden (Kuklinski/Quirk 2000). Wenn dies korrekt ist, dann müssen als Konsequenz für die Forschung zu Meinungsumfragen und die Erarbeitung von Erklärungsansätzen neue Modelle für affektive Reaktionen erarbeitet werden, da wir gesehen haben, dass die existierenden wenig plausibel sind. Des Weiteren muss mehr Aufmerksamkeit auf die Analyse der Verarbeitung von Meinungsumfragen gerichtet werden (vgl. Hardmeier/Roth 2001), denn möglicherweise werden die kognitiven Kapazitäten der Wähler überschätzt. Drittens wäre es für die zukünftige Forschung hilfreich, Ergebnisse etwa aus der Wahlforschung oder der Sozialpsychologie einzubeziehen: Erwähnt wurde unter anderem, dass einige Studien zum Underdog-Effekt diesen als Protestreaktion erklären. In Wahlstudien wird ebenfalls Protestverhalten diskutiert, z.B. in Verbindung mit der Wahl rechtsradikaler Parteien (z.B. Bergh 2004). Außerdem kann nach nationalen Wahlen beobachtet werden, dass die Gewinnerpartei oft in Meinungsumfragen und bei weniger bedeutungsvollen Wahlen – offenbar als Reaktion auf das Ergebnis der „wichtigeren Wahl“ – größere Unter-

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

65

stützung erfährt. Der Effekt wird in der Literatur als honeymoon effect oder post electoral euphoria beschrieben (z.B. Jeffrey/Hough 2001: 76; Reif 1984, 1997: 115). Dieser Effekt erinnert unmittelbar an die erhöhte Zustimmung einer Partei, die wir gelegentlich als Reaktion auf Meinungsumfragen beobachten können. Schlussendlich können Modelle aus der Sozialpsychologie Ausgangspunkt für Erklärungsmodelle sein, die eine ganze Reihe von Aspekten – Emotionen, Kognitionen, Moderatoreffekte – in einem Ansatz vereinen (wie etwa das sogenannte Elaboration Likelihood Model, vgl. Eagly/Chaiken 1993). Viertens ist es auch denkbar, dass nicht so sehr Meinungsumfragen selbst analysiert werden sollten, sondern die Art und Weise, wie über sie in den Medien berichtet wird. Das hieße, Meinungsumfragen nicht isoliert, sondern als Teil komplexerer Zusammenhänge zu betrachten (Elmelund-Præstekær/Hopmann 2008; Frankovic 1998). So könnte es etwa relevant sein, wie Meinungsumfragen die Berichterstattung über Politik generell beeinflussen und welche Wirkung dies auf die Bürger hat – also die Betrachtung von Meinungsumfragen und deren Anwendung als Teil von Medienwirkungsstudien zu z.B. framing und agenda-setting. Sicherlich können in diesem Zusammenhang auch Trendeffekte gefunden werden: Während sich vermutlich die wenigsten Wähler an Langzeitverläufe in Meinungsumfragen erinnern können, dürfte dieser sicherlich eine Rolle für die Berichterstattung der Medien spielen. So könnten kontinuierliche Verluste eher als einmalige Verluste zu Medienberichten mit negativem Blickwinkel führen – erstere haben gegebenenfalls einen größeren Nachrichtenwert. Mit anderen Worten: Die Frage ist, ob Effekte ausgelöst von Trends in Meinungsumfragen indirekte Effekte sind, die durch die Aufmachung der Medien ausgelöst werden. Außerdem stellt sich die Frage, welche Rolle Meinungsumfragen in der gesamten Berichterstattung spielen: Inhaltsanalysen britischen und US-amerikanischen Fernsehens zeigen u.a., dass nur in einem sehr geringen Teil der Beiträge zur „öffentlichen Meinung“ tatsächlich auf konkrete Meinungsumfragen verwiesen wird (Lewis et al. 2004). Fünftens sollte der nächste Schritt nach der Zusammenfassung der Erklärungsansätze sein, frühere Forschungsergebnisse im Lichte dieser Zusammenfassung neu zu bewerten. So stellt sich die Frage, ob Ergebnisse, die als affektive Effekte präsentiert wurden, nicht in vielen Fällen eher als kognitive Effekte verstanden werden können und sollten. Sechstens zeigt diese Zusammenfassung, dass große Unterschiede in den Forschungsansätzen, der Definition und der Anwendung von Begriffen existieren. Ungeachtet des jeweiligen Fokus eines Forschungsprojekts sollte deshalb in Studien zu den Effekten von Meinungsumfragen eine einigermaßen gemeinsame Sprache gefunden werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um kumulativen Fortschritt in der Forschung zu erleichtern. Ungeachtet dieser offenen Fragen ist eines jedoch sicher: Falls ein Verbot gegen die Veröffentlichung von Meinungsumfragen mit dem Schutze der Würde der Demokratie begründet wird, fußt dieses Verbot nicht auf einem sicheren, wissenschaftlichen Fundament.

66

David Nicolas Hopmann

Literatur Abramowitz, Alan (1989): Viability, Electability, and Candidate Choice in a Presidential Primary Election. In: Journal of Politics 51, 977-992. Abramson, Paul/Aldrich, John/Paolino, Phil/Rohde, David (1992): ‚Sophisticated’ Voting in the 1988 Presidential Primaries. In: American Political Science Review 86, 55-69. Allport, Floyd (1940): Polls and the Science of Public Opinion. In: Public Opinion Quarterly 4, 249-257. Andersen, Johannes/Borre, Ole/Andersen, Jørgen Goul/Nielsen, Hans-Jørgen (1999): Mod år 2000. In: Borre, Ole/Andersen, Jørgen Goul/Nielsen, Hans-Jørgen (Hrsg.) (1999): Vælgere med omtanke. Århus: Systime, 283-287. Andersen, Jørgen Goul/Lund Clement, Sanne (2003): Engagerede og kompetente vælgere? In: Andersen, Jørgen Goul/Borre, Ole (Hrsg.) (2003). Politisk forandring. Århus: Systime, 411-426. Ansolabehere, Stephen/Iyengar, Shanto (1994): Of Horseshoes and Horse Races: Experimental Studies of the Impact of Poll Results on Electoral Behavior. In: Political Communication 11, 413-430. Aubert, Karl (1987): Fixed-Point Theorems and Public Prediction of Social Behavior. In: Advances in Applied Mathematics 8, 1-7. Bartels, Larry (1988): Presidential Primaries and the Dynamics of Public Choice. Princeton: Princeton University Press. Bergh, Johannes (2004): Protest Vote in Austria, Denmark, and Norway. In: Scandinavian Political Studies 27, 367-389. Blais, André/Vowles, Jack/Aarts, Kees (2002): Does the impact of polls vary across electoral systems? Paper, MPSA-Konferenz. Bock, J. Harold de (1971): De invloed van verkiezingsvoorspellingen op het stem- en kiesgedrag. In: Acta Politica 6, 172-193. Brettschneider, Frank (1992): Der taktische und rationale Wähler. In: Politische Vierteljahresschrift 33, 55-72. Brettschneider, Frank (2000): Demoskopie im Wahlkampf, Leitstern oder Irrlicht? In: Klein, Markus/Jagodzinski, Wolfgang/Mochmann, Ekkehard/Ohr, Dieter (Hrsg.) (2000): 50 Jahre empirische Wahlforschung in Deutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 477-505. Buch, Roger (2001): Kommunalvalgene i perspektiv. Odense: Odense Universitetsforlag. Burnstein, Eugene/Vinokur, Amiram (1975): „What a Person Thinks Upon Learning He Has Chosen Differently from Others. In: Journal of Experimental Social Psychology 11, 416-426. Burnstein, Eugene/Vinokur, Amiram/Trope, Yaacof (1973): Interpersonal Comparison Versus Persuasive Argumentation. In: Journal of Experimental Social Psychology 9, 236-245. Cacioppo, John/Petty, Richard (1996): Attitudes and Persuasion. Boulder: Westview Press. Ceci, Stephen/Kain, Edward (1982): Jumping on the Bandwagon with the Underdog. In: Public Opinion Quarterly 46, 228-242. Daschmann, Georg (2000): Vox pop/polls: The Impact of poll results and voter statements in the media on the perception of a climate of opinion. In: International Journal of Public Opinion Research 12, 161-181. Donsbach, Wolfgang (1984): Die Rolle der Demoskopie in der Wahlkampf-Kommunikation. In: Zeitschrift für Politik 31, 388-407. Donsbach, Wolfgang (2001): Who’s Afraid of Election Polls? Amsterdam: Foundation for Information. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York: Harper & Row. Eagly, Alice/Chaiken, Shelly (1993): The Psychology of Attitudes. Orlando: Harcourt Brace College Publishers. Elklit, Jørgen (1989): Opinionsmålinger og valgresultater. In: Elklit, Jørgen/Tonsgaard, Ole (Hrsg.) (1989): To folketingsvalg. Århus: Politica, 84-106.

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

67

Elmelund-Præstekær, Christian/Hopmann, David Nicolas (2008): Teflon og bullshit? Odense: Syddansk Universitetsforlag. Engel, Andreas (1987): Demoskopie als Instrument der Politikvermittlung. In: Sarcinelli, Ulrich (Hrsg.) (1987): Politikvermittlung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 251-274. Faas, Thorsten/Schmitt-Beck, Rüdiger (2007): Wahrnehmung und Wirkungen politischer Meinungsumfragen. In: Brettschneider, Frank/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 233-267. Fleitas, Daniel (1971): Bandwagon and Underdog Effects in Minimal-Information Elections. In: American Political Science Review 65, 434-438. Frankovic, Kathleen (1998): Public Opinion and Polling. In: Graber, Doris/McQuail, Denis/Norris, Pippa (Hrsg.) (1998): The Politics of News – The News of Politics. Washington DC: CQ Press, 150-170. Friend, Ronald/Rafferty, Yvonne/Bramel, Dana (1990): A puzzling misinterpretation of the Asch ‚conformity’ study. In: European Journal of Social Psychology 20, 29-44. Gallup, George/Rae, Saul (1940): Is there a bandwagon vote? In: Public Opinion Quarterly 4, 244-249. Gallus, Alexander (2002): Demoskopie in Zeiten des Wahlkampfs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16, 29-36. Glynn, Carroll/Hayes, Andrew/Shanahan, James (1997): Perceived Support for One’s Opinions and Willingness to Speak Out. In: Public Opinion Quarterly 61, 452-463. Granberg, Donald/Holmberg, Sören (1986): Preference, expectations, and voting in Sweden’s referendum on nuclear power. In: Social Science Quarterly 67, 379-392. Gschwend, Thomas (2005): Comparative Politics of Strategic Voting, PDF des Verfassers. Hardmeier, Sibylle/Roth, Hubert (2001): Towards a Systematic Assessment of the Impact of Polls on Voters. Paper, WAPOR-Konferenz in Rom. Hardmeier, Sibylle/Roth, Hubert (2003): Die Erforschung der Wirkung politischer Meinungsumfragen: Lehren vom ‚Sonderfall’ Schweiz. In: Politische Vierteljahresschrift 44, 174-195. Holmberg, Sören/Oscarsson, Henrik (2004): Väljartrender. Stockholm: Statistiska centralbyrån. Holmberg, Sören/Petersson, Oscar (1980): Inom felmarginalen. Stockholm: Liber. Holmberg, Sören (1994): Election studies the Swedish way. In: European Journal of Political Research 25, 309-322. Holsteyn, Joop van/Irwin, Galen (2003): Polls and the undecided. Paper, WAPOR-Konferenz in Zürich. Holsteyn, Joop van (1994): Het woord is aan de kiezer. Leiden: DSWO Press. Hopmann, David Nicolas (2008): Politisk information og politiske holdninger. In: Statsvetenskaplig Tidskrift 110: 161-183. Huckfeldt, Robert/Sprague, John (1995): Citizens, Politics, and Social Communication. Cambridge: Cambridge University Press. Huckfeldt, Robert/Johnson, Paul/Sprague, John (2004): Political Disagreement. Cambridge: Cambridge University Press. Irwin, Galen/Holsteyn, Joop van (2000): Bandwagons, Underdogs, the Titanic, and the Red Cross, The Influence of Public Opinion Polls on Voters. Paper, IPSA-Konferenz. Irwin, Galen/Holsteyn, Joop van (2003): They say it can’t be done? Strategic voting in multi-party proportional systems: the case of the Netherlands. Paper, APSA-Konferenz in Philadelphia. Jeffrey, Charlier/Hough, Daniel (2001): The Electoral Cycle and Multi-Level Voting in Germany. In: German Politics 10, 73-93. Joslyn, Mark (1997): The Public Nature of Personal Opinion. In: Political Behavior 19, 337-363. Kaplowitz, Stan/Fink, Edward/D’Alessio, Dave/Armstrong, Blake, (1983): Anonymity, Strength of Attitude, and the Influence of Public Opinion Polls. In: Human Communication Research 10, 5-25.

68

David Nicolas Hopmann

Kirchgässner, Gebhard (1986): Der Einfluß von Meinungsumfragen auf das Wahlergebnis. In: Klingemann, Hans-Dieter/Kaase, Max (Hrsg.) (1986): Wahlen und politischer Prozeß. Opladen: Westdeutscher Verlag, 232-250. Klein, Markus/Heinze, Thomas (1999): Die Wähler der Partei der zweiten Wahl: Die Entwicklung der Wählerschaft der Freien Demokratischen Partei Deutschlands zwischen 1949 und 1996. In: ZA-Information 44, 6-38. Klingemann, Hans-Dieter (1986a): Der vorsichtig abwägende Wähler. In: Klingemann, Hans Dieter/Kaase, Max (Hrsg.) (1986): Wahlen und politischer Prozeß. Opladen: Westdeutscher Verlag, 385-410. Klingemann, Hans-Dieter (1986b): Der ‚mündige’ Wähler? Ein Ansatz zur Erklärung des Wählerverhaltens, dargestellt am Beispiel der Bundestagswahl 1983. In: Politische Bildung 19, 45-58. Kuklinski, James/Quirk, Paul (2000): Reconsidering the Rational Public: Cognition, Heuristics, and Mass Opinion. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew/Popkin, Samuel (Hrsg.) (2000): Elements of Reason. Cambridge: Cambridge University Press, 153-182. Lang, Kurt/Lang, Gladys (1996): Off the bandwagon: Some reflections on the influence of perceived public opinion. In: Kwan, Kian (Hrsg.) (1996): Individuality and social control. Greenwich: JAI Press, 69-90. Lau, Richard/Redlawsk, David (2001): Advantages and Disadvantages of Cognitive Heuristics in Political Decision Making: In: American Journal of Political Science 45, 951-971. Lazarsfeld, Paul/Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel [1944] (1968). The People’s Choice. New York: Columbia University Press. Leibenstein, Herbert (1950): Bandwagon, Snob, and Veblen Effects in the Theory of Consumers’ Demand. In: Quarterly Journal of Economics 64, 183-207. Lewis, Justin/Wahl-Jorgensen, Karin/Inthorn, Sanna (2004): Images of Citizenship on Television News. In: Journalism Studies 5, 153-164. Lupri, Eugen (1969): Soziologische Bedeutung der Wahlprognose. In: Hartmann, Klaus- Dieter (Hrsg.) (1969): Politische Beeinflussung. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsgesellschaft, 99-116. McAllister, Ian/Studlar, Donley (1991): Bandwagon, Underdog, or Projection? Opinion Polls and Electoral Choice in Britain, 1979-1987. In: Journal of Politics 53, 720-741. Mouritzen, Poul Erik (1997): I stemmeboksen: Hvem kommer dér – og hvorfor? In: Elklit, Jørgen/Buch Jensen, Roger (Hrsg.) (1997): Kommunalvalg. Odense: Odense Universitetsforlag, 262-278. Mutz, Diana (1992): Impersonal Influence. In: Political Behavior 14, 89-122. Mutz, Diana (1994): The Political Effects of Perceptions of Mass Opinion. In: Research in Micropolitics 4, 143-167. Mutz, Diana (1997). Mechanisms of Momentum. In: Journal of Politics 59, 104-125. Mutz, Diana (1998) Impersonal Influence. Cambridge: Cambridge University Press. Noelle-Neumann, Elisabeth (1974): The Spiral of Silence. In: Journal of Communication 24, 43-51. Noelle-Neumann, Elisabeth (1980): Die Schweigespirale. München: Riper. Noelle-Neumann, Elisabeth (1989): Die Schweigespirale als Instrument der Medienwirkungsforschung. In: Kaase, Max/Schulz, Winfried (Hrsg.) (1989): Massenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 418-440. Pierce, Walter (1940): Climbing on the bandwagon. In: Public Opinion Quarterly 4, 241-243. Rahn, Wendy (2000): Affect as Information: The Role of Public Mood in Political Reasoning. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew/Popkin, Samuel (Hrsg.) (2000): Elements of Reason. Cambridge: Cambridge University Press, 130-150. Reif, Karlheinz (1984): National Electoral Cycles and European Elections 1979 and 1984. In: Electoral Studies 8, 244-255. Reif, Karlheinz (1997): European elections as member state second-order elections revisited. In: European Journal of Political Research 31, 115-124.

Wie Meinungsumfragen die Parteipräferenzen der Wähler beeinflussen

69

Ross, Lee/Bierbrauer, Gunter/Hoffman, Susan (1976): The Role of Attribution Processes in Conformity and Dissent, Revisiting the Asch Situation. American Psychologist 31, 148-157. Schmitt-Beck, Rüdiger (1996): Mass Media, the electorate, and the bandwagon. In: International Journal of Public Opinion Research 8, 266-291. Schoen, Harald (1999): Mehr oder weniger als fünf Prozent – ist das wirklich die Frage? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51, 565-582. Schoen, Harald (2000): Appelle zu taktischem Wahlverhalten – effektive Werbung oder verfehlte Wahlkampfrhetorik? In: Falter, Jürgen/Gabriel, Oscar W./Rattinger, Hans (Hrsg.) (2000): Wirklich ein Volk? Opladen: Leske+Budrich. 641-673. Schoen, Harald (2004): Wirkungen von Wahlprognosen auf Wahlen. In: Berg, Thomas (Hrsg.) (2004): Moderner Wahlkampf. Opladen: Leske+Budrich. 171-191. Skalaban, Andrew (1988): Do the polls affect elections? In: Political Behavior 10: 136-150. Spangenberg, Frits (2003): The Freedom to Publish Opinion Polls. Amsterdam: ESOMAR. Sudman, Seymour (1986): Do Exit Polls Influence Voting Behavior? In: Public Opinion Quarterly 50, 331-339. Weaver, David (2007): Thoughts on Agenda Setting, Framing, and Priming. In: Journal of Communication 57, 142-147. West, Darrell (1991): Polling effects in election campaigns. In: Political Behavior 13, 151-163. Zajonc, Robert (1980): Feeling and Thinking. In: American Psychologist 35: 151-175.

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten: Ergebnisse einer Eyetracking-Studie Stephanie Geise, Frank Brettschneider

1

„Der Mensch, das Augenwesen, braucht das Bild“ (Leonardo da Vinci)

Politik braucht Vermittlung. Die demokratietheoretische Relevanz dieser Erkenntnis ist nicht erst im Medienzeitalter Anlass für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rezeption politischer Informationen und ihrer Wirkung auf politische Einstellungen und politisches Handeln. Doch wird im Medienzeitalter ein Wandel in der Art der Politikvermittlung diskutiert. Schlagworte wie „Inszenierung“ und „Theatralisierung“ stehen dafür ebenso wie die viel zitierte Entwicklung zum „Politainment“. Eng damit verbunden ist die zunehmende Bedeutung visueller politischer Kommunikation. Vor allem auf „praktischer“ Ebene führt die Erkenntnis, dass Bilder früher, schneller und unmittelbarer wahrgenommen werden als Texte, über ein höheres Aktivierungspotenzial verfügen, bessere Gedächtnisleistungen erzielen sowie nachhaltiger und emotionaler beeinflussen können (vgl. KroeberRiel 1993: 13f.; Pepels 2001: 3), zu einer verstärkten Integration von Visualisierungen in das Feld der politischen Kommunikation. Insofern kann durchaus von einem „revival of the image“ (Paivio 1979: 6) gesprochen werden. Auch in Formulierungen wie pictorial turn (Mitchell 1992: 89), iconic turn (Boehm 1994: 13), imagic turn (Fellmann 1997: 147) oder visualistic turn (Sachs-Hombach 2003: 10) kommt die zunehmende Bedeutung der visuellen Kommunikation im Kontext der veränderten Medienrealität zum Ausdruck. Doch der Prozess der Visualisierung der Gesellschaft, der in seinen gesellschaftlichen Konsequenzen mit Prozessen wie der Individualisierung, der Differenzierung von Lebensformen oder der Pluralisierung von Werten vergleichbar ist (vgl. Beck 1986: 116ff.), wird durchaus mit Skepsis betrachtet. Die „diffuse Allgegenwart des Bildes“ (Boehm 1994: 11) geht mit einer spürbaren Besorgnis einher. So lässt sich mit Meckel (2001: 29) feststellen, dass unsere Kultur „unter einer historischen Bildstörung“ leidet, die sich im Alttestamentarischen Bilderverbot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ (Exodus 20,4) ebenso begründet wie in der „Instrumentalisierung des Bildes als Symbol kulturell-nationaler Entartung im Nationalsozialismus“. Bis heute halten sich Positionen, die Schriftkultur mit Literarität, Intellekt und Rationalität verbinden, Bildkommunikation dagegen als populär, trivial und manipulativ einstufen (vgl. Meckel 2001: 29). Für Boehm (1994: 35) sind visuelle Informationen als kritisch zu bewerten, weil „deren Grundtendenz auf Suggestion zielt“. Und wenn Meyer (2001: 107) formuliert, dass „der Stil der visuellen Eindrücklichkeit die diskursive Erfahrung der sozialen Welt, die rationale Verständigung und den kritischen Diskurs“ verdrängt, legt er damit den Kern der Kritik an Visualisierungsprozessen offen: Die Visualisierung der Politik scheint aus dieser Perspektive dem Paradigma der deliberativen Demokratie entgegenzustehen (vgl. Habermas 1990: 104). Der demokratische Anspruch an einen „wahrhaftigen“ Diskurs lässt sich, so die Kritik, mit zunehmender Visualisierung

72

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

immer weniger erfüllen. Visuelle Informationen, so wird unterstellt, wirken emotional, nicht sachlich, sie basieren auf einer emotional-assoziativen, nicht auf einer rational-analytischen Argumentationslogik (vgl. Müller 2003) – und erscheinen damit für einen „aufgeklärten“ politischen Diskurs ungeeignet. Politik werde im Zuge zunehmender Visualität sinnentleert; Themen würden durch visuelle Inszenierungen und emotionale Assoziationen überlagert, Sachentscheidungen und Argumente gerieten in den Hintergrund. Träfen diese Annahmen zu, führte Visualität zu einer „Entpolitisierung“. Möglicherweise ist dies auch ein Grund dafür, dass sich die Politik- und die Kommunikationswissenschaft nur zögerlich mit der Bedeutung von Bildern für die Politikvermittlung beschäftigen. Visuellen politischen Informationen kommt im Rahmen der politischen Kommunikationsforschung „nach wie vor [eine] unterbelichtete Rolle“ zu (Sarcinelli 2005: 100; vgl. auch Müller 2003). Dabei wäre auch eine positive Sicht denkbar: Die Visualisierung komplexer politischer Sachverhalte könnte nämlich mitunter einen potenziellen Weg aus der Krise politischer Repräsentation bieten, denn diese Sachverhalte lassen sich visuell nachhaltiger, verständlicher und wirksamer kommunizieren als mit rein textlichen Zeichen. Zudem sind sie auch Personen mit geringer formaler Bildung zugänglich. Tatsächlich liefern Ansätze zur Rezeptions- und Kognitionsforschung für diese Argumentation ebenso deutliche Hinweise wie Theorien zu Wahrnehmung, Lernen und Erinnern. Die in diesen Forschungsbereichen gewonnenen Erkenntnisse belegen recht übereinstimmend den so genannten picture superiority effect, der sich wie folgt zusammenfassen lässt: Bilder wecken mehr Aufmerksamkeit als Texte, sie werden schneller entschlüsselt, länger und besser erinnert, besser und schneller wiedererkannt, können Informationen damit schneller transportieren und mental fixieren, werden nahezu automatisch aufgenommen und mit geringerer kognitiver Kontrolle verarbeitet (vgl. Kroeber-Riel 1993: 14; Lachmann 2002: 130). Im Gedächtnis visuell verankerte Erinnerungen, Einstellungen und Verhaltensdispositionen sind dauerhafter und nachhaltiger wirksam als solche, die lediglich begrifflich-verbal rekonstruiert werden. Visuelle Kommunikation besitzt also ein eigenes Kommunikationsprinzip, das erheblich von der sprachlich-textlich dominierten Kommunikation abweicht. Zudem werden Bilder in größeren Sinneinheiten aufgenommen als Sprachinformationen. Um ein Bild mittlerer Komplexität so intensiv aufnehmen zu können, dass es auch langfristig erinnert werden kann, muss es nur etwa eine bis zwei Sekunden betrachtet werden (Kroeber-Riel 1993: 53). In derselben Zeitspanne können dagegen nur etwa fünf bis sieben einfache Worte decodiert werden. Tachistoskoptests, mit denen die Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit nach kurzer Darbietung optischer Reize getestet wird, belegen, dass Rezipienten bereits nach nur einer Hundertstelsekunde in der Lage sind, visuelle Inhalte thematisch zu erkennen, grob zu erinnern und grundsätzlich zu beschreiben (vgl. KroeberRiel 1993: 63; von Rosenstiel 1990: 64). Visuelle Inhalte können also wesentlich schneller als Textinformationen aufgenommen werden, was Kroeber-Riel (1993: 53) zu der bekannt gewordenen Formulierung „Bilder sind schnelle Schüsse ins Gehirn“ veranlasste. Die Informationsaufnahme bei Texten erfolgt dagegen eher in gebrochenen „Sprüngen“ und führt damit zu einer sequentiell-analytischen Verarbeitung (vgl. Leven 1991: 55). Mit Paivio (1979: 33) erfolgt die Textwahrnehmung in einem sequential processing system schon deshalb different zur Bildwahrnehmung, weil die Grammatik der Sprache eine temporale Ordnung der Kommunikationselemente voraussetzt. Insofern determiniert oft bereits die zeitliche Vor- oder Nachordnung der verbalen Informationen die inhaltliche Bedeu-

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

73

tungszuweisung. Visuelle Informationsaufnahme dagegen kann als parallel processing system interpretiert werden (Paivio 1979: 34), die Informationsverarbeitung visueller Inhalte erfolgt ganzheitlich-analog und damit sehr rasch. Gegen diese Erkenntnisse aus der Wahrnehmungspsychologie könnte eingewendet werden, dass sie sich oft auf Untersuchungen aus dem Bereich der (Produkt-)Werbung beziehen. Die dort ermittelten Wahrnehmungsmuster und Wirkungen visueller Kommunikation könnten sich nicht ohne weiteres auf den Bereich der politischen Kommunikation übertragen lassen, da in der politischen Kommunikation der Wahrnehmungsfilter „politische Prädispositionen“ berücksichtigt werden muss. Bereits Lazarsfeld et al. (1968) wiesen in ihrer Studie The People’s Choice die Filterwirkung politischer Prädispositionen nach: Menschen wenden sich vor allem jenen Informationen zu, die ihren politischen Voreinstellungen entsprechen. Sie meiden hingegen dissonante Informationen – und dies umso mehr, je stärker die Prädispositionen (z.B. die Parteineigung) ausgeprägt sind. Aus diesem Grund könne die wertende Berichterstattung über eine Partei oder über einen Spitzenpolitiker die vorhandenen Einstellungen der Rezipienten nicht in ihrer Richtung verändern, sondern könne sie lediglich verstärken (Verstärkerhypothese; vgl. Klapper 1960). Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet daher die Frage, inwieweit sich Erkenntnisse der Wirkung visueller Kommunikation (vor allem der Bildüberlegenheitseffekt) auf politische Kommunikation übertragen lassen, für die traditionell eine starke Bedeutung individueller Prädispositionen, allen voran der Parteiidentifikation, angenommen wird (vgl. etwa Brettschneider 2005). Sind also die aus der sozialpsychologischen Wahrnehmungsforschung bekannten und für die Werbewirkung bereits bestätigten Erkenntnisse zur Wahrnehmung visueller Kommunikation auch im Bereich der Politik gültig? Die visuelle Kommunikation ist unter dem Aspekt der selektiven Wahrnehmung besonders interessant. Zum Einen werden visuelle Wahrnehmungen von den Rezipienten während des Wahrnehmungsprozesses deutlich seltener abgebrochen als dies bei der Wahrnehmung textlicher Informationen der Fall ist (vgl. Schierl 2001; Lachmann 2002), zum anderen werden Bilder weitaus weniger selektiv wahrgenommen als Textinformationen, denen sich der Rezipient erst bewusst analytisch-sequentiell zuwenden muss. Entsprechend wies Donsbach (1991) nach, dass die selektive Wahrnehmung politischer Informationen umgangen werden kann: So führen alleine schon eine prominente Platzierung sowie eine auffällige Aufmachung (Überschriftengröße, Bebilderung, Farbe) von Zeitungsartikeln dazu, dass deren (textliche) Inhalte wahrgenommen werden, obwohl sie den Prädispositionen der Rezipienten widersprechen. Es spricht also einiges dafür, die Wahrnehmung visueller politischer Informationen eingehender zu untersuchen. Der Fokus unserer Untersuchung liegt auf der Wahrnehmung von Wahlplakaten in Abhängigkeit von der Gestaltung und dem Inhalt der Plakate bei Berücksichtigung individueller Merkmale der Betrachter (vgl. Abbildung 1). Ausgehend von der Erkenntnis, dass „die visuelle Wahrnehmung nun einmal eine unabdingbare Voraussetzung dazu [ist], dass es überhaupt zu einer anschließenden kognitiv-emotionalen Interpretation oder Wirkung des Wahrgenommenen kommt“ (Raab et al. 2004: 140), sehen wir die tatsächlichen Betrachtungsverläufe der Rezipienten als einen Indikator für das grundsätzliche Wirkungspotenzial eines Kommunikationsmediums an. Da neben individuellen Prädispositionen und situativen Faktoren vor allem stimulusspezifische Eigenschaften den Blickverlauf steuern (vgl. Leven 1991: 15), ist die Gestaltung des Stimulusmaterials bzw. des Trägers politischer

74

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Informationen höchst bedeutsam. Entscheidend für die grundsätzliche Möglichkeit, eine wie auch immer intendierte Medienwirkung zu erreichen, wird damit die visuelle Beschaffenheit des Mediums. Die These lautet: Je höher die visuelle Prägnanz einer Botschaft, desto relevanter wird die Botschaft für den Wahrnehmungsprozess des Rezipienten. Denn auf Basis dieser Eigenschaften strukturiert sich der Blickverlauf – kognitiv eher unkontrolliert, spontan und stark reflexartig (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 267). Unterschiede in der Beschaffenheit des Kommunikationsträgers – zum Beispiel visueller versus textlicher Kommunikationsmodus – müssten sich folglich in ihrer Wirkung auf die Wahrnehmungsund Informationsverarbeitungsphase der Rezipienten messen und nachweisen lassen. Abbildung 1:

Wahrnehmung und Wirkung von Wahlplakaten

Quelle: Eigene Darstellung

2

Untersuchungsdesign

Methodisch erfordert die von uns untersuchte Fragestellung den Einsatz einer EyetrackingTechnologie, die es erlaubt, den Blickverlauf der Rezipienten präzise aufzuzeichnen, die aber gleichzeitig auf eine störende, auffällige Apparatur verzichtet. Eine solche Technologie steht mit dem Tobii Eyetracker 2150 zur Verfügung. Der optische Eindruck der Apparatur ist der eines modernen PC-Monitors; der in den Monitor integrierte Eyetracker ist für den Probanden nahezu „unsichtbar“. Nach jeweils individueller Kalibrierung des Eyetrackers (d.h. individuelle Analyse der Pupillenposition, der Pupillengröße und des Pupillenmittelpunktes) erfassen Infrarot-Leuchtdioden die Augenbewegungen über eine millisekundengenaue Messung des Cornealen Reflexes (Reflexionen der Infrarot-Leuchtdioden in den Augen). Auf diese Weise wird eine hohe Genauigkeit bei der Analyse von Blickverlauf, Blickfixationspunkten und Blickirritationen erreicht. In der Analyse der Daten lässt sich erkennen,

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten x x x x

75

welche Inhalte bzw. Informationen Rezipienten tatsächlich betrachten, in welcher Intensität sie sich den betrachteten Inhalten bzw. Informationen zuwenden, welche Bereiche keine Aufmerksamkeit binden können – und damit welche Inhalte bzw. Informationen die stärkste Aktivierung hervorrufen.

Derartige Eyetracking-Analysen können alleine oder in Kombination mit anderen Verfahren eingesetzt werden. Für eine komplexe Wahrnehmungs- und Wirkungsanalyse empfiehlt sich die Kombination von Rezeptions- und Befragungsdaten. Für die hier vorgestellte Studie wurde eine Kombination aus quantitativer Rezeptionsanalyse (Eyetracking-Messung) und einer unmittelbaren, kaum kognitiver Kontrolle unterliegenden nonverbalen Bewertungsmessung (RTR-Messung), sowie mit einer schriftlichen Vorher-Nachher-Befragung (Befragungsdaten) gewählt (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2:

Aufbau zur Untersuchung der Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

Wahlplakate aus den Landtagswahlkämpfen 2008 in Hessen und in Niedersachsen stellen das Stimulusmaterial dar. Die Studie wurde kurz vor den Landtagswahlen durchgeführt, um mögliche Störeffekte einer nachträglichen Bewertung von Strategien, Kandidaten oder Themen im Zusammenhang mit Analysen des Wahlergebnisses zu vermeiden. In einem experimentellen Versuchsaufbau wurden 107 überwiegend studentischen Probanden am Eyetracking-Monitor jeweils 20 Plakatmotive präsentiert. Die Motive waren den Probanden nicht bekannt und wurden in randomisierter Reihenfolge gezeigt. Auf eine Gleichverteilung der Anzahl von Plakaten der einzelnen Parteien bzw. Bundesländer (Hessen und Niedersachsen) wurde geachtet. Die Motive wurden in einem zweistufigen Selektionsprozess ausgewählt: Zunächst wurden die jeweiligen Landesgeschäftsstellen der Parteien gebeten, uns die „Top 10“ der bei ihnen meistbestellten (und damit meistgeklebten) Plakatmotive zu

76

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

nennen. Damit sollte verhindert werden, eine inhaltlich sowie gestalterisch willkürliche Auswahl zu testen. Jedes Thema wurde in zwei Stimulusvarianten getestet: als Bildplakat und als Typoplakat (Textplakat). Da nicht alle Wahlplakate in beiden Stimulusvarianten zur Verfügung standen, wurden die fehlenden Stimulustypen in Übereinstimmung mit der gestalterischen Linie der jeweiligen Partei selbständig erzeugt. Die Professionalität der manipulierten Plakatmotive wurde in einem Experteninterview von einem Wahlkampfberater der renommierten Agentur „Butter“ überprüft. Abbildung 3 zeigt exemplarisch die Entsprechung eines Wahlkampfthemas als Bild- und als Typoplakat (rechts das originale Wahlkampfplakat, links die Eigenkreation). Abbildung 3:

Exemplarisches Stimulusmaterial

Eigenes Layout: Bildplakat (Bildquelle: Thomas Kerzner: „Pretty W_oma_n“; photocase.com)

Original: Typoplakat (Quelle: SPD Niedersachsen)

Für die Testdurchführung wurden die Probanden zufällig einer von vier Experimentalgruppen zugeordnet. Den Gruppen wurden unterschiedliche Stimuli präsentiert: Während in Gruppe 1 ausschließlich Bildplakate präsentiert wurden, sahen die Probanden aus Gruppe 2 ausschließlich Typoplakate. In Gruppe 3 und Gruppe 4 wurden sowohl Text- als auch Bildplakate präsentiert, allerdings jeweils in unterschiedlicher Stimulusvariante, d.h. dem präsentierten Bildplakat zu Thema A in Gruppe 3 stand in Gruppe 4 ein Typoplakat mit identischer Aussage zu Thema A gegenüber; dafür wurde in Gruppe 4 Thema B als Bildplakat getestet, was wiederum in Gruppe 3 als Typovariante dargeboten wurde. Im Überblick ergab sich damit folgende Gruppeneinteilung: x x x x

Gruppe 1: nur Bildplakate Gruppe 2: nur Textplakate Gruppe 3: Bild- und Textplakate (Bildplakate: Themengruppe A; Typoplakate: Themengruppe B) Gruppe 4: Bild- und Textplakate (Bildplakate: Themengruppe B; Typoplakate: Themengruppe A).

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

77

Zum Versuchsablauf: Nach einer schriftlichen Ersterhebung der subjektiven Wichtigkeit aktueller politischer Themen wurden die Probanden nacheinander vor den EyetrackingMonitor gebeten. Während die individuelle Kalibrierung des Eyetrackers durchgeführt wurde, wurde den Probanden ein kurzer Überblick über den bevorstehenden Ablauf gegeben; hierbei konnten sich die Probanden auch mit der Funktionsweise des RTR-Dials vertraut machen. Nachdem die Versuchsanweisung auf dem Monitor gelesen und mit Mausklick als bestätigt ausgewiesen war, wurden den Probanden 20 Plakatmotive aus den Wahlkämpfen in Hessen und in Niedersachsen in zufälliger Reihenfolge präsentiert. Zunächst sahen die Teilnehmer die Plakate in der „Flash-Phase“, d.h. die Motive wurden den Teilnehmern für einen peripheren Erstkontakt nur 0,5 Sekunden lang dargeboten. Jeweils nach diesem kurzen Erstkontakt bewerteten die Probanden mit Hilfe des RTR-Dials den Ersteindruck des gerade gesehenen Plakats affektiv und nonverbal durch spontane Einstellung des Drehreglers; die hinterlegte Skala von eins bis zehn war den Probanden weder bekannt noch ersichtlich. Als Versuchsanweisung wurde hierzu formuliert: „Wie wirkt dieses Plakat auf Sie? Bitte antworten Sie nach jedem Plakat so spontan wie möglich. Für die Antwort nutzen Sie den kleinen Drehregler, der vor Ihnen liegt. Das ist ganz einfach: Je negativer Ihr erster Eindruck ist, desto weiter drehen Sie das Rädchen nach links. Je positiver Ihr erster Eindruck ist, desto weiter drehen Sie das Rädchen nach rechts“. Nach der Darbietung der 20 Plakatmotive folgte eine kurze Entspannungsphase. Dann wurde eine neue erklärende Versuchsanweisung aufgerufen. Daraufhin wurden die Plakate den Teilnehmern erneut randomisiert präsentiert und zwar nun in der „Long-Phase“, das heißt mit einer Betrachtungszeit von fünf Sekunden. Nach Beendigung der Präsentation wurden die Probanden schließlich gebeten, einen kurzen Fragebogen auszufüllen (NachherBefragung). Im Fragebogen wurden – neben der Wiederholung der Frage zur subjektiven Wichtigkeit aktueller politischer Themen – individuelle Merkmale der Probanden erfasst, wie etwa: politisches Interesse, Parteiidentifikation, Alter, Bildungsgrad. Daneben wurden Fragen zur aktiven und passiven Erinnerungsleistung der präsentierten Plakatmotive bzw. Wahlkampfthemen (Recall und Recognition) gestellt. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie. 3

Theorien visueller Kommunikation und Ergebnisse der Studie

Wie oben dargestellt, wurde in der ersten Phase der Versuchsanordnung eine EyetrackingMessung bei peripherer Wahrnehmung (0,5 Sekunden Betrachtungszeit) mit einer affektiven, nonverbalen Bewertung des Ersteindrucks des Stimulusmaterials kombiniert. Als theoretischer Hintergrund dieser Testung dienen die so genannte präselektive Sympathie und die Aktivierungswirkung eines Stimulus. Beide Phänomene sind für den Bereich der Werbewirkung belegt (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2004; Lachmann 2002; Schierl 2001), ihre Bedeutung für den Anwendungsbereich politischer Kommunikation ist bislang allerdings nur bruchstückhaft erforscht. Zusammengefasst lässt sich folgender Zusammenhang postulieren: Bereits bei erster, peripherer Reizaufnahme entsteht beim Rezipienten eine emotionale Einstimmung auf die nachfolgende Wahrnehmung, die schon in der vorbewussten Phase zu einer ersten Bewertung der Botschaft führt. Dieser „emotionale Einstieg in den Wahrnehmungsvorgang“ (Kroeber-Riel 1993: 63) – und die damit verbundene affektive

78

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Bewertung – beeinflusst die anschließende Kommunikationswirkung insofern, als dass sie „den Empfänger emotional prädisponiert“ (Schierl 2001: 88). Entsprechend folgt die Affekt-Kognitions-Theorie der grundsätzlichen Annahme, dass Rezipienten im Rahmen ihrer selektiven Informationsaufnahme einen Zuwendungsprozess durchleben, bei dem sich ein Übergang von emotionaler zu kognitiver Wirkung vollzieht. Dabei beeinflusst die erste, unbewusste Bewertung des Stimulus das nachfolgende Wahrnehmungs- und Bewertungsverhalten deutlich. Insbesondere ist davon auszugehen, dass eine positive Bewertung beim peripheren Erstkontakt zu einer intensiveren Informationswahrnehmung und -verarbeitung führt und damit auch die Erinnerungsleistung erhöht. Neuere Ansätze der Kognitionsforschung belegen diese präselektive Sympathie (vgl. Guski 2000: 78). Bereits von Rosenstiel (1990: 64ff.) weist auf die „Macht des ersten Eindrucks“ hin: „Häufig erfolgt bereits eine Bewertung, bevor man bewusst weiß, was man bewertet“. So kann er zeigen, dass Personen schon bei kurzer Darbietung angeben, den Eindruck zu haben, dass etwas Bedrohliches, Unangenehmes gezeigt worden sei, ohne dagegen sagen zu können, um was es sich dabei handelt (von Rosenstiel 1990: 64). Besonders stark sind in diesem frühen Stadium der Wahrnehmung die Reaktionen auf schemakongruente Motive, Farben und Formen; diese Reize „passen“ zu den vorhandenen Wissens- und Wahrnehmungsstrukturen eines Menschen, sodass sie schnell erfasst werden können. Lachmann (2002: 63) fasst die Konsequenzen der Affekt-Kognitions-Theorie wie folgt zusammen: 1. 2. 3. 4. 5.

„Es gibt im Wahrnehmungsprozess frühzeitige Eindrücke (nach wenigen Millisekunden). Diese sind eher unbewusst. Sie können aber bereits positiv oder negativ besetzt sein. Diese frühen Eindrücke können zum Abbruch bzw. zur Fortsetzung der Betrachtung führen. Sie können auch die spätere bewusste Bewertung der Vorlage beeinflussen.“

Vor diesem Hintergrund wurde die RTR-Messung eingesetzt, um den spontanen, affektiven Ersteindruck der Probanden zu erfassen. Aus den oben skizzierten Überlegungen lassen sich für diesen Untersuchungsaspekt folgende Thesen ableiten: 1. 2.

3.

Die Besonderheiten visueller Kommunikation haben (über Prozesse der präselektiven Sympathie) Auswirkungen auf die kurzfristige emotionale Einstimmung des Rezipienten beim ersten visuellen Kontakt. Je prägnanter positiv-konnotierte schemakongruente Motive (d.h. Motive, die – der Schematheorie entsprechend – mit bereits bestehenden kognitiven Grundmustern übereinstimmen), Farben und Formen in der Gestaltung eingesetzt werden, desto positiver ist die Wahrnehmung des Stimulus’ (Wahlplakats) im ersten Eindruck. Je positiver der erste Eindruck ist, desto positiver ist die emotionale Prädisposition des Rezipienten für den folgenden Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozess und desto stärker sind die aktiven und passiven Erinnerungsleistungen.

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

79

3.1 Der Bildüberlegenheitseffekt beim „ersten Eindruck“ Es ist davon auszugehen, dass Motivplakate durch die Besonderheiten visueller Kommunikation grundsätzlich ein höheres Potenzial einbringen, präselektive Sympathie auszulösen. So sind Bilder als Kommunikationsträger „besser als Sprache dazu geeignet, Emotionen zu vermitteln“ (Kroeber-Riel 1993: 14). Auch die wirksame Vermittlung von emotionalen Erlebnissen ist weitgehend an die Verwendung von Bildern gebunden, die bei den Rezipienten prägnante innere Erlebnisbilder erzeugen. „Bilder eignen sich vorzüglich dazu, etwas auszulösen, weil sie unmittelbar emotional wirken“, formuliert daher Doelker (1997: 76; vgl. auch Gombrich 1984: 135f.) und nennt Bilder, die eine appellative Funktion erfüllen, entsprechend „Pushbilder“. Zudem können Bilder in größeren Sinneinheiten – und damit wesentlich schneller – aufgenommen werden als Textinformationen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, die intendierten Assoziationen bzw. Kognitionen schon bei peripherer Betrachtung auszulösen. Abbildung 4:

Die am besten bewerteten Plakate der Flash-Phase

Tatsächlich weisen die Ergebnisse der RTR-Messung in diese Richtung: So liegt der aggregierte Mittelwert für die Bewertung aller Bildplakate über alle Gruppen hinweg leicht über dem Ergebnis der Bewertung aller Textplakate (5,74 auf der Skala von 1 bis 10 für Bildplakate vs. 4,95 für Textplakate). Insgesamt werden Bildplakate also in der Phase der ersten peripheren Wahrnehmung etwas besser bewertet als Textplakate; sie rufen in der Regel einen eher positiven ersten Eindruck hervor. Dieses Ergebnis zeigt sich unabhängig vom

80

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

kommunizierten Thema: So werden in den Gruppen 3 und 4 jeweils die als Bildplakate kommunizierten Stimuli besser bewertet als die Textplakate; in diesen beiden „gemischten“ Gruppen – die der tatsächlichen Rezeptionssituation am nächsten kommen – zeigt sich dabei sogar die größte Bewertungsdifferenz (5,93 für Bildplakate vs. 4,81 für Textplakate). Zudem ist die Ausprägung der positivsten Bewertung bei den Bildplakaten (8,08) deutlich größer als bei Typoplakaten (6,13). Offenbar verfügen Bildplakate über das größere Potenzial, spontan intensive positive affektive Reaktionen auszulösen. Dieses Ergebnis deckt sich mit den oben zitierten Befunden Kroeber-Riels (1993: 14). Noch deutlicher wird dieser Überlegenheitseffekt bildhafter Kommunikation, wenn man sich die absoluten „Gewinner“ und „Verlierer“ der Flash-Phase anschaut: Die „Top 5“ des Ersteindrucks der Plakatmotive werden allein durch Bildplakate gestellt, dagegen finden sich in den „Flop 5“ ausschließlich Typoplakate wieder (vgl. Abbildungen 4 und 5); auch dies gilt unabhängig vom kommunizierten Thema. Die „Flop 5“ stammen alle von der Linkspartei und sind durchweg ähnlich gestaltet. Ihre schlechte Platzierung erhalten diese Plakate unabhängig von den politischen Prädispositionen der Betrachter, so dass sie vor allem auf die Gestaltung – und nicht auf den Absender – zurückzuführen ist. Abbildung 5:

Die am schlechtesten bewerteten Plakate der Flash-Phase

Insgesamt finden sich hier also einige Indizien für die These, dass der Bildüberlegenheitseffekt über die präselektive Sympathie Auswirkungen auf die kurzfristige emotionale Einstimmung des Rezipienten beim ersten visuellen Kontakt hat. Hierbei decken sich die Ergebnisse der Bewertung des spontanen Ersteindrucks mit den bisherigen Erkenntnissen zur peripheren Werbewirkung. Analysiert man die Plakatmotive mit den besten und schlechtesten Ergebnissen, wird deutlich, dass die besonders positiv bewerteten (Bild-)Plakate in ihrer Gestaltung einige Charakteristika aufweisen, die auch in der werblichen Kommunikation als prominente „Gestaltungsregeln“ gelten: Verwendung von assoziationsreichen, positiv-emotionalen, klaren und schemakongruenten Motiven, eine „gefällige“ Gestaltung, d.h. ein ausgewogenes Kontrast- und Farbverhältnis, der Einsatz einer „freundlichen“ und „leuchtenden“ Farbtonality, eine klare optische Gliederung sowie eine harmonische Gesamtkomposition der Gestaltung (vgl. Bruhn 2003; Kroeber-Riel 1993; KroeberRiel/Esch 2004; Schierl 2001; Schweiger/Schrattenecker 2001). Umgekehrt weisen die als besonders negativ bewerteten Plakate Gestaltungskomponenten auf, die im Kontext einer effizienten Kommunikation vermieden werden sollten: eher dunkle, negativ-konnotierte, optisch „unklare“ Motive, eine „grelle“ Gestaltung, d.h. ein unausgewogenes Kontrast- und Farbverhältnis (hier: Reinfarben, Primärfarbkontraste), eine „aggressive“ Farbtonality sowie eine suboptimale, optisch fragmentierte Gesamtkomposition. Auf die Bewertung des

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

81

Ersteindrucks politischer Plakate wirken offenbar gleichartige Gestaltungs- bzw. Wahrnehmungsfaktoren wie dies bei kommerziellen Werbeträgern der Fall ist. Der „erste Eindruck“ ist also bei Bildplakaten besser als bei Textplakaten. Er ist bei gut gestalteten Plakaten besser als bei schlecht gestalteten Plakaten. Und beides gilt unabhängig von dem Thema, das Gegenstand des Plakats ist. Aber gilt es auch unabhängig von der Parteiidentifikation der Rezipienten? Oder wirkt deren langfristige Parteibindung als Filter? Statistisch überprüft wurde der Zusammenhang zwischen der Parteiidentifikation und der ersten spontanen, affektiven Bewertung nach der Flash-Phase mittels einer einfaktoriellen Varianzanalyse in Form einer klassischen Varianzzerlegung nach Fischer. Die Nullhypothese, dass die Verteilung der abhängigen Variable (Plakat-Bewertung) für alle Faktorstufen identisch ist, also kein Zusammenhang zwischen der spontanen Bewertung und der politischen Prädisposition besteht, konnte für alle getesteten Plakatmotive der Bewertungsränge 1 bis 10 bestätigt werden; es lässt sich somit kein Einfluss der Parteiidentifikation auf die affektive Bewertung nachweisen. Veranschaulichen lässt sich dieses Ergebnis an der Bewertung des oben vorgestellten manipulierten „Respekt“-Plakats der SPD. Dieses Plakat belegt im Gesamtranking der affektiven Bewertung den zweiten Platz. Bereits der einfache Mittelwertvergleich der jeweiligen Partei-Anhänger deutet an, dass die affektive Bewertung nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Parteiidentifikation steht. So bewertet die Gruppe der CDU-nahen Probanden dieses Plakat besser als die SPD-nahen Probanden (7,44 vs. 6,74 auf der Skala von 1 bis 10; vgl. Tabelle 1). Umgekehrt wird beispielsweise das CDU-Bildplakat „Bildungschancen“ (im Gesamtranking auf Platz drei) von den CDU-nahen Probanden etwas schlechter bewertet als von den SPD-nahen Teilnehmern (6,46 vs. 7,43). Ähnliche Befunde ergeben sich für die übrigen getesteten Plakate, wobei sich insgesamt feststellen lässt: Die „absoluten“ Gewinner der affektiven Bewertung finden sich entsprechend als am besten bewertete Plakatmotive in allen Parteigruppen wieder; und die absoluten „Verlierer“ werden auch in allen Identifikationsgruppen am schlechtesten gerankt. Tabelle 1: Plakat-Bewertung nach Parteiidentifikation (durchschnittliche Bewertung nach der Flash-Phase auf einer Skala von 1 „negativ“ bis 10 „positiv“) Parteiidentifikation CDU SPD FDP Die Grünen Keine PI

SPD-Bildplakat „Respekt“ 7,44 6,74 6,60 6,94 7,00

CDU-Bildplakat „Bildungschancen“ 6,46 7,43 4,33 7,42 6,25

Dieses Ergebnis deckt sich mit den bisherigen Erkenntnissen zur vorbewussten Wahrnehmungsphase, in der vor allem schemakongruente Motive, Farben und Formen – nicht kognitive Einordnungen oder Bewertungen – besonders wirkungsstark sind. Auch wenn grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass die Bewertung politischer Informationen vor allem durch die Parteiidentifikation beeinflusst wird, scheint dies nicht im selben Maße für den unmittelbaren, affektiven Ersteindruck zu gelten, der durch Bildplakate ausgelöst

82

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

wird. Dies verweist – aller selektiven Wahrnehmung zum Trotz – auf ein recht großes Wirkungspotenzial visueller Gestaltung, vor allem, weil dem ersten Eindruck für die weitere Aufnahme und Verarbeitung der Information eine zentrale Bedeutung zukommt. 3.2 Aufmerksamkeit und Aktivierung Bislang wurde lediglich der direkte, kurzfristige Bildüberlegenheitseffekt betrachtet. Es bleibt nun zu prüfen, welche anschließenden Konsequenzen für Prozesse politischer Kommunikation sich aus den bisherigen Erkenntnissen ergeben. Im Folgenden sind daher Erkenntnisse zu den Aufmerksamkeits- und Aktivierungswirkungen bildhafter Inhalte und ihre „Verstärkerwirkungen“ für den Rezeptionsprozess in die Betrachtung einzubeziehen. Während Aufmerksamkeit als „momentane, bewusst selektive Zuwendung einer Person zu einem dargebotenen Reiz oder Reizbündel“ (Steffenhagen 1984: 86) interpretiert werden kann, lässt sich Aktivierung ganz allgemein als „Zustand vorübergehender oder anhaltender innerer Erregung oder Wachheit“ beschreiben, der dazu führt, dass sich Rezipienten einem Reiz intensiv zuwenden (Kroeber-Riel/Esch 2004: 166). Am Anfang des Wahrnehmungsprozesses steht die Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist ein Konstrukt, mit dem die Bereitschaft eines Individuums umschrieben wird, Kommunikationsinhalte bzw. Reize aus der Umwelt aufzunehmen. „Dies ist ein Vorgang, bei dem der permanente Fluss unbewusst registrierter Reize (scanning) durch Zuwendung zu einem Reiz unterbrochen wird“ (Lachmann 2002: 21; vgl. auch Zimbardo/Gerrig 1999: 243). Anders ausgedrückt dient Aufmerksamkeit also dazu, sich aus einer großen Menge an unbewusst einströmenden Informationen einer kleinen Menge an bewusst werdenden Informationen zuzuwenden. Damit verbunden ist eine zentrale Doppelfunktion von Aufmerksamkeit: Bei erhöhter Aufmerksamkeit für eine bestimmte Menge an Informationen wird die Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung für andere Informationen gezielt unterdrückt („selektive Aufmerksamkeit“; Felser 2001: 125). Aufmerksamkeit ist also einerseits begrenzt und selektiv, andererseits aber mit einer vorübergehenden Erhöhung der Aktivierung verbunden. Aktivierung wiederum führt zur Sensibilisierung des Individuums gegenüber bestimmten Reizen (Kroeber-Riel 1993: 61). Oder konkreter formuliert: Aufmerksamkeit führt zu Aktivierung. Aktivierung wiederum regt die gedankliche und emotionale Verarbeitung der Reize an und hat damit auch Auswirkungen auf die Tiefe der Verarbeitungsleistung. Diese Verstärkerwirkung der Aktivierung führt beispielsweise dazu, dass stark aktivierende Reize besser und länger erinnert werden; daher lässt sich die Aktivierungswirkung – neben der Messung der physiologischen Erregungsaktivitäten im Gehirn oder auf körperlicher Ebene (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 63) – indirekt auch über aktive und passive Erinnerungsleistungen (Recall und Recognition) nachweisen. Aktivierung ist vor allem durch Bilder möglich: Bilder erzeugen Kontakt, sie aktivieren stärker und werden schneller wahrgenommen als Texte. „Bilder können aus diesem Grunde bevorzugt dazu eingesetzt werden, um den ersten Kontakt mit … Werbemitteln herzustellen“ (Kroeber-Riel/Esch 2004: 152). Die Betrachtung von derartigen Aktivierungstechniken erscheint vielleicht trivial, ein Blick auf den Großteil der politischen und werblichen Kommunikation ver-

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

83

deutlicht jedoch, dass die mit den Erkenntnissen zur Aktivierung einhergehenden Gestaltungsregeln oft vernachlässigt werden. Aufmerksamkeit und Aktivierung lassen sich über die Messung des Blickverlaufs operationalisieren, spezieller noch über die Zeit bis zum fovealen Erstkontakt (time to first fixation) als Zeit bis zum „ersten Blickkontakt“ mit dem jeweiligen Objekt und über die Intensität der Betrachtung (observation length). Die Zeit bis zum Erstkontakt gibt Auskunft über das Aktivierungspotenzial (und damit auch über die Aufmerksamkeitsstärke) eines Plakatbereichs; bei kurzer Zeit bis zum Erstkontakt liegt folglich ein hohes Aktivierungspotenzial vor. Die Betrachtungszeit lässt erkennen, wie intensiv bzw. wie lange das Auge einen bestimmten Bereich fixiert hat. Aus Untersuchungen zur Wahrnehmung werblicher Plakate ist bekannt, dass bei längerer Blickverweildauer ein höherer Grad der Informationsaufnahme wahrscheinlich ist – und damit ein höherer Grad an Aufmerksamkeits- und Aktivierungswirkung. Legt man hierbei zu Grunde, dass „individual-, stimulusspezifische und situative Faktoren den Blickverlauf steuern“ (Leven 1991: 15), müssten Wahrnehmungsunterschiede bei verschiedenen Stimuli (visuell vs. textlich) anhand des Blickverhaltens nachweisbar sein. Zwar muss hierbei auf eine methodisch-analytisch „saubere“ Trennung der beiden Konstrukte „Aktivierung“ und „Aufmerksamkeit“ verzichtet werden; diese ist hinsichtlich der Wirkungen aber auch nur zweitrangig. Entsprechend lässt sich für diesen Untersuchungsabschnitt folgende These formulieren: Bilder erzielen eine größere Aufmerksamkeit und Aktivierungswirkung als Texte; bildhafte Kommunikationselemente werden im Wahrnehmungsprozess also schneller und länger betrachtet. Die Eyetracking-Analyse der Zeit bis zur Betrachtung einzelner bedeutsamer Plakatelemente (so genannter areas of interest: Headline (Haupttextzeile), Subline (Untertextzeile), Logo, Bild, inhaltlicher Bildmittelpunkt usw.) zeigt sehr deutlich, dass die Bildbereiche über das höchste Aktivierungs- und Aufmerksamkeitspotenzial verfügen (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Aufmerksamkeit – Durchschnittliche time to fixation (in Sekunden) Plakatelement (Nur Bildplakate) Bild Bildmittelpunkt Claim Headline Subline Parteilogo

Flash-Phase (0,5 Sekunden Betrachtungszeit) 0,043 0,118 0,175 0,176 0,186 0,319

Long-Phase (5 Sekunden Betrachtungszeit) 0,278 0,805 2,684 0,521 1,546 2,725

Die Tabelle gibt die durchschnittliche Zeit bis zur ersten Fixation ausgewählter areas of interest (AOIs) bei Betrachtung der Bildplakate an. In die Mittelwertberechnung fließen dabei nur diejenigen Rezeptionen ein, bei denen die jeweiligen AOI auch tatsächlich betrachtet wurde. Auf dem Plakatmotiv überschneiden sich die extrahierten AOIs teilweise (z.B. wenn die Headline ohne Font direkt auf dem Bildmotiv platziert ist). Dies hat zur Folge, dass mehrere Plakatelemente gleichzeitig fixiert werden können.

84

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Während die durchschnittliche Zeit bis zum Erstkontakt für die Bildbereiche in der FlashPhase bei nur 0,04 Sekunden liegt, dauert es viermal so lange, bis die Headline betrachtet wird (0,176 Sekunden). Dieses höhere Aktivierungs- und Aufmerksamkeitspotenzial der Bildbereiche zeigt sich unabhängig vom kommunizierten Thema oder vom verwendeten Motiv: In der jeweiligen „Kontrollgruppe“ lassen sich strukturell identische Ergebnisse dieser „Bildüberlegenheitswirkung“ finden. Und auch bei längerem Kontakt mit dem Stimulus verändert sich dieser Befund nicht; das Ergebnis lässt sich bei einer Betrachtungszeit von fünf Sekunden noch ebenso deutlich nachweisen. Hierbei liegt die durchschnittliche Zeit bis zu ersten Fixation insgesamt etwas höher, weil der Blickverlauf über einen längeren Zeitraum über das Motiv „verteilt“ wird; insofern fließen in die 5-Sekunden-Messung auch diejenigen Rezeptionen ein, die einzelne AOIs erst etwas später erfassen. Wahrscheinlich ist zudem, dass sich das Blickverhalten der Probanden an die Rezeptionsbedingungen – Präsentation über nur eine halbe versus fünf Sekunden – anpasst und die Geschwindigkeit der ersten Orientierungsreaktionen entsprechend zunimmt. Ebenso prägnant sind die strukturellen Wahrnehmungsunterschiede zwischen Bildund Textelementen bei der Analyse der Betrachtungszeiten. So zeigen die EyetrackingDaten, dass in der Flash-Phase fast 70 Prozent der Betrachtungszeit auf die Bildbereiche entfallen (0,338 Sekunden) – hier können also mit Abstand die meisten Informationen vermittelt werden. Textelemente erreichen dagegen nur einen Bruchteil dieser Betrachtungsdauer (0,082 Sekunden; vgl. Tabelle 3). Auch dieses Ergebnis bleibt bei Verlängerung der Betrachtungszeiten in der Tendenz stabil: Bei einer Betrachtung von fünf Sekunden entfallen noch fast 50 Prozent der Betrachtungszeit auf die Bildbereiche (2,342 Sekunden). Tabelle 3: Aufmerksamkeit – Durchschnittliche Dauer der Betrachtungszeit (in Sekunden) Plakatelement Bild Bildmittelpunkt Claim Headline Subline Parteilogo Erläuterung siehe Tabelle 2.

Flash-Phase (0,5 Sekunden Betrachtungszeit) 0,338 0,174 0,013 0,197 0,037 0,015

Long-Phase (5 Sekunden Betrachtungszeit) 2,342 1,231 0,482 1,648 1,325 0,321

Tabelle 4: Ignored areas (Anteil der vollkommen unbeachteten Plakatelemente, über die getesteten 20 Plakate und 107 Probanden hinweg, in Prozent) Plakatelement Bild Headline Claim Subline Parteilogo

Flash-Phase (0,5 Sekunden Betrachtungszeit) 0,0 0,0 62,5 30,6 37,5

Long-Phase (5 Sekunden Betrachtungszeit) 0,0 0,0 37,5 11,1 37,5

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

85

Analog zu den betrachteten Bildbereichen können auch die überhaupt nicht betrachteten Bildbereiche, die ignored areas, analysiert werden. Hier zeigt sich, dass die Bildbereiche in keinem Fall bei der Betrachtung vollkommen ignoriert werden. Dagegen zählen Claim, verbale Zusatzinformationen (Subline) und das Logo zu den am häufigsten ignorierten Bereichen (vgl. Tabelle 4). Die eingangs formulierte These, dass der Einsatz von Bildkommunikation die Aufmerksamkeits- und Aktivierungswirkungen eines Stimulus erhöht, weil bildhafte Kommunikationselemente im Wahrnehmungsprozess schneller und länger betrachtet werden, kann durch die Ergebnisse also als bestätigt angesehen werden. Und dies gilt unabhängig von der Parteiidentifikation der Probanden, was erneut auf allgemeine Wahrnehmungsmuster verweist, wie sie aus der Werbewirkungsforschung bekannt sind. Ob sich solche personenübergreifenden Wahrnehmungsmuster auch noch an anderer Stelle zeigen, kann mittels der Identifizierung der typischen Einstiegsbereiche in die Betrachtung untersucht werden. Generell lässt sich jeder Blickverlauf in Fixationen untergliedern, in denen der Blick etwa 300 Millisekunden verweilt und sich dann mit hoher Geschwindigkeit in Saccaden weiterbewegt, in denen der Blick „springt“, um wieder eine andere Stelle zu fixieren (vgl. Leven 1991: 14). Dieser Prozess wird sichtbar, wenn die Fixationspunkte und Saccadenlinien nachgezeichnet werden (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6:

Beispiel für einen typischen Blickverlauf

Erläuterung: Jede Gruppe miteinander verbundener Fixationspunkte stellt den Blickverlauf eines einzelnen Probanden dar. Die Ziffern geben die Reihenfolge der Fixationen an. Die Größe der Punkte symbolisiert die Verweildauer (Quelle des Originalplakats: Von Mannstein Werbeagentur).

86

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Das in Abbildung 6 dargestellte Blickschema zeichnet einen recht typischen Blickverlauf bei Betrachtung eines Plakats nach. Identifiziert man die typischen Einstiegsbereiche in die Betrachtung, die sich über die ersten Fixationen im Scanpath gut abbilden lassen, zeigen die Ergebnisse deutlich: Der überwiegende Anteil der Einstiegszonen in den Blickverlauf liegt im Bildbereich; im Durchschnitt fällt erst die dritte Fixation auf die Headline. Außer auf die bereits dargestellten, starken Aktivierungs- und Aufmerksamkeitswirkungen bildhafter Elemente verweisen die Eyetracking-Analysen damit auch noch auf ein weiteres Ergebnis: Die Bildmitte wird am häufigsten als Startareal der Betrachtungsverläufe aufgesucht. Die sich hieraus ergebenden Optimierungspotenziale einer Wahrnehmungserleichterung bzw. Informationsvermittlung sind klar: Für den Wahrnehmungsprozess optimal ist es, relevante Informationen in der Bildmitte zu positionieren. Abbildung 7:

Beispiel für eine typische Aufmerksamkeitslandschaft

Erläuterung: Die eingefärbten Plakatbereiche wurden am häufigsten und am intensivsten betrachtet. (Quelle des Originalplakats: Von Mannstein Werbeagentur).

Anschaulich werden diese Ergebnisse bei der Betrachtung der Eyetracking-Visualisierungen: Abbildung 7 zeigt die „Aufmerksamkeitslandschaft“ eines getesteten Plakats; das Ergebnis ist beispielhaft für die übrigen (Bild-)Plakate im Test. Besonders interessant ist die Gegenüberstellung der Aufmerksamkeitslandschaften aus den verschiedenen Gruppen und Phasen: Hier zeigen sich nahezu identische Ergebnisse; es werden ausgeprägte übergeordnete Muster im Blickverlauf sichtbar – die sich über alle Gruppen und Phasen hinweg strukturell wiederholen. Dies gilt auch für die Betrachtungsverläufe bei Wiedervorlage (vgl. Abbildung 8).

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

87

Neben der Erkenntnis, dass der Blickverlauf eher kognitiv unkontrolliert, spontan und reflexartig abläuft (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 267), legen diese Befunde damit insgesamt nahe, dass sich der Blickverlauf als ein physiologisches, übergeordnetes Wahrnehmungsmuster strukturiert. Gleichzeitig deuten die Analysen darauf hin, dass von den individual-, stimulusspezifischen und situativen Faktoren, die den Blickverlauf steuern, vor allem den stimulusspezifischen Faktoren eine zentrale Bedeutung zukommt. Dass insbesondere die kommunikative Gestaltung zu stimulusspezifischen Wirkungen führt, die den Blickverlauf beeinflussen, wird auch an prägnanten Rezeptionsunterschieden zwischen den verschiedenen Layout-Typen der getesteten Parteien-Designs deutlich. Abbildung 8:

Aufmerksamkeitslandschaften in verschiedenen Test-Gruppen

(Quellen der Originalplakate: Von Mannstein Werbeagentur; Liberalverlag; Eigenes Layout (s.o.)).

Die visuelle Beschaffenheit stellt also einen entscheidenden Einflussfaktor auf die grundsätzliche Möglichkeit dar, eine wie auch immer intendierte Medienwirkung zu erreichen. Die Stärke der visuellen Prägnanz hat direkte Auswirkungen auf die Beachtung der Botschaft im Wahrnehmungsprozess, weil sich auf eben dieser Basis der Blickverlauf strukturiert. Aus diesem Grund zeigen die Eyetracking-Analysen, dass Unterschiede in der Beschaffenheit des Kommunikationsträgers – insbesondere die Differenz visuell versus textlich – zu unterschiedlichen Wirkungen auf die Wahrnehmungsabläufe führen. 3.3 Erinnerung Es ist davon auszugehen, dass diese Wahrnehmungsunterschiede nicht ohne Konsequenz für den nächsten Wahrnehmungsschritt bleiben – für die Erinnerung. Daher lässt sich für diesen Untersuchungsabschnitt folgende These formulieren: Je stärker die erzeugte Aufmerksamkeit und die Aktivierungswirkung des Stimulus beim Rezipienten, desto stärker ist die Tiefe seiner Verarbeitungsleistungen und damit seiner aktiven und passiven Erinnerung.

88

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Demnach müssten Inhalte, die mit bildhaften Elementen kommuniziert werden, besser erinnert werden als textlich vermittelte Inhalte. Die Erwartung einer besseren Erinnerung an visuelle Kommunikation lässt sich vor allem durch eine hohe Realitätsübereinstimmung zwischen Bild und Abgebildetem erklären, weil Bilder in diesem Fall annähernd „die gleiche Wahrnehmungsqualität“ haben wie die Wirklichkeit (Kroeber-Riel 1993: 36). Kognitionspsychologisch erklärt werden kann die bessere Erinnerungswirksamkeit visueller Informationen durch den Ansatz der Dualen Kodierung (vgl. Paivio 1979: 233ff.; Paivio 1986: 53) sowie die Grundlegung der Schematheorie (vgl. Bartlett 1967: 197ff.). Beide Modelle gelten in der Kommunikations- und Werbeforschung als anerkannt (vgl. Felser 2001: 310ff.; Schweiger/Schrattenecker 2001: 176ff.; Stahlberg/Frey 2001: 328). Ohne die theoretischen Ansätze hier zu vertiefen, lässt sich zusammenfassen: Die Schematheorie ist eine kognitive Lerntheorie, nach der der Aufbau von Wissensstrukturen durch Lernprozesse erfolgt, die wiederum den Aufbau bzw. die Ergänzung oder Veränderung der Wissensstrukturen bedingen (vgl. Bredenkamp 1998: 66, 95). Konkret geht die Schematheorie davon aus, dass im Gedächtnis „genormte“ Vorstellungen gespeichert sind, die so genannten Schemata (Bartlett 1967: 201), die typische Eigenschaften eines Sachverhaltes verketten und eine rasche Wahrnehmung und Verarbeitung der aufgenommenen Informationen ermöglichen (vgl. Hochberg/Peterson 1989: 45). Die damit verbundene Selektion und die Abstraktion von Informationen führen zu einer enormen Reduktion der zu speichernden Inhalte, weshalb Bredenkamp (1998: 85) von einer „sehr ökonomischen Form der Informationsverarbeitung“ spricht. Damit ermöglichen Schemata eine effiziente Selektion, Interpretation und Speicherung von aufgenommenen Informationen. Dies gilt insbesondere, da – der Theorie der Dualen Codierung folgend (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2004: 149ff.; Lachmann 2002: 52ff.; Paivio 1979: 8, 27; Paivio 1986: 53ff.; Ruge 1988: 47ff., 140ff.) – visuelle und sprachlich-numerische Information in zwei divergenten Codiersystemen verarbeitet werden: Sprachliche und numerische Informationen werden vom sprachlichen System verarbeitet, das die aufgenommenen Reize in einen inneren „Sprachcode“ übersetzt, während die Verarbeitung im nicht-sprachlichen System anhand eines inneren „Bildercodes“ erfolgt. Die differente Codierung der Bildinformationen geht dabei mit einer besseren Gedächtnisleistung einher, weil der im Gedächtnis benutzte Bildercode gegen gedächtnisreduzierende Einflüsse resistenter ist als die sprachliche Codierung (Kroeber-Riel 1993: 355). Zudem können Bilder besonders leicht doppelt codiert werden, was die Gedächtnisrelevanz zusätzlich stärkt. Die überlegene Wirkung des Imagerysystems wird entsprechend als Imagerywirkung beschrieben (oder: picture superiority effect; vgl. Kroeber-Riel/Esch 2004: 150). Methodisch operationalisieren lassen sich die aktive und die passive Erinnerungsstärke eines Stimulus über die beiden Größen Recall und Recognition. Während der Recall als aktive Erinnerungsleistung die Fähigkeit beschreibt, in der Vergangenheit liegende Wahrnehmungen oder Erlebnisse ohne Gedächtnisstützen aktiv zu reproduzieren, spiegelt die Recognition als gestützte Erinnerungsleistung die Wiedererkennung oder Fähigkeit wider, in der Vergangenheit liegende Wahrnehmungen oder Erlebnisse mit Hilfe einer Gedächtnisstütze passiv zu reproduzieren (vgl. Felser 2001: 164). In der vorliegenden Studie wurden beide Erinnerungsleistungen abgefragt.

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten Abbildung 9:

89

Aktive Erinnerung an Plakatinhalte (Zahl der Nennungen aus den Gruppen 3 und Gruppe 4, in denen die Probanden sowohl mit Bild- als auch mit Textplakaten konfrontiert wurden) 300 250

328Nennungeninsgesamt 200 150

276

100 50

52 0 Bildplakate

Textplakate

Im Ergebnis zeigt sich auch hinsichtlich dieser beiden Wahrnehmungsdimensionen eine deutliche Überlegenheit visuell kommunizierter Inhalte: So fallen auf die insgesamt 328 von den Probanden genannten ungestützten Erinnerungen in den beiden „gemischten“ Gruppen 3 und 4 in summa 276 Erinnerungsaussagen auf die präsentierten Bildplakate, dies entspricht einem Anteil an allen aktiven Erinnerungen von 84 Prozent. Auf die dargebotenen Textplakate entfallen dagegen insgesamt nur 52 Aussagen (vgl. Abbildung 9). Zur Erinnerung: Text- und Bildplakate wurden in jeweils identischer Anzahl und Betrachtungszeit präsentiert. Und obwohl in den Gruppen 3 und 4 jeweils „entgegengesetzte“ Stimuli als Bild- bzw. Textplakat verwendet wurden, ist das Ergebnis in beiden Gruppen identisch. Die höhere Erinnerungsstärke der kommunizierten Bildplakate stellt sich also unabhängig vom kommunizierten Thema ein. Und sie gilt unabhängig von der Parteiidentifikation. Es verwundert daher nicht, dass die Top Five der „Recall-Sieger“ in beiden Gruppen vollständig durch Bildplakate gestellt werden, während unter den Flop-Plakaten der aktiven Erinnerung kein einziges Bildplakat vertreten ist. Zudem führen Bildplakate auch in der Präzision und Detailgenauigkeit der Erinnerung zu einer höheren „Erinnerungsqualität“ als Textplakate – was eine längere Verhaltenswirksamkeit der Eindrücke wahrscheinlich macht. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei der Analyse der passiven Erinnerungsleistung: Hier werden die über Bildplakate übermittelten Aussagen der kommunizierenden Partei in höherem Maße wieder erkannt und dem Absender richtig zugeordnet. So können rund 40 Prozent der Probanden die Wahlkampfbotschaften richtig der kommunizierenden Partei zuordnen, wenn diese mit einem Bildplakat transportiert wurden. Wird die Aussage über ein Textplakat kommuniziert, liegt die „Trefferquote“ der Probanden lediglich bei 30 Prozent. Dabei zeigen sich im Zuordnungsvergleich deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Plakatgestaltungen: Tendenziell verfügen die Plakatmotive mit den stärksten Zuordnungsquoten (Platz 1: Bildplakat „Klimaschutz“ mit 77 Prozent; zum Vergleich: Platz 20: Bildplakat „Bildungschancen fördern und fordern“ mit 11 Prozent) über eine besonders „prägnante“ und der kommunikativen Positionierung der Partei entsprechende

90

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Aufmachung. Einhergehend mit der Konzeption einer „integrierten Kommunikation“ (vgl. Bruhn 2003) scheint es sich also auszuzahlen, eine konsistente Kommunikationslinie zu verfolgen. Umgekehrt ist es für die richtige Zuordnung seitens der Probanden offenbar kontraproduktiv, bereits durch andere Kommunikatoren besetzte Stilelemente – wie etwa der Einsatz leuchtend roter Farbtöne als „Headline-Bühne“ im „Bildungschancen“-Plakat der CDU – zu adaptieren, da dies eine Fremdzuordnung erhöht (hier: 21 Prozent Zuordnungen zur SPD). Es wird eine spannende Frage weiterer Forschungsprojekte sein, inwiefern sich einzelne Stil- und Kompositionselemente (Formen, Anordnungen, Farbtöne) sowie möglicherweise auch Gruppen von Bildmotiven als bereits „politisch-kommunikativ besetzt“ erweisen. Setzt man nämlich voraus, dass sich politische Parteien auf Seiten der Rezipienten mit einem bestimmten Image ihrer politischen Positionen und Werte verbinden lassen und verknüpft man diese Überlegung mit der Idee Müllers (2003: 27), dass ein Image „vor allem eine visuelle Vorstellung“ ist, so könnte die hiermit angedeutete Erkenntnis, dass bestimmte visuelle Gestaltungsmuster assoziativ mit bestimmten politischen Identitäten, Positionen und Wertorientierungen einhergehen, eine neue Betrachtung der Funktion visueller Kommunikation für den Prozess politischer Informationsvermittlung nahe legen. Insgesamt konnte also belegt werden, dass die durch die Eyetracking-Analysen aufgezeigten Wahrnehmungsunterschiede nicht ohne Konsequenz für die Erinnerung der Wahlplakate bleiben. Insbesondere konnte gezeigt werden, dass Inhalte, die mit bildhaften Elementen kommuniziert wurden, zu besseren und – wahrscheinlich auch längerfristigeren – aktiven und passiven Erinnerungsleistungen führen. Für die visuelle Gestaltung ergibt sich in diesem Kontext vor allem die Erkenntnis, dass besonders realitätsnahe Abbilder dazu geeignet sind, die volle Bildüberlegenheitswirkung zu entfalten, weil Abbilder die gleiche Wahrnehmungsqualität haben wie das Abgebildete in natura. Entsprechend kommt auch Schierl (2001: 206) zu dem Ergebnis: „Bilder, damit sie besonders gut gespeichert werden können, [sollten] zwei grundlegende Bedingungen erfüllen: Sie müssen möglichst konkret und möglichst emotional und allein stehend, also ein Blickfang sein“. 3.4 Akzeptanz Ergänzend kann zum Abschluss noch bemerkt werden, dass die Bildplakate in der bewussten kognitiv-gestützten Bewertung – die durch eine schriftliche Befragung nach der LongPhase erhoben wurde – insgesamt ebenfalls besser gerankt wurden als die Typovarianten. Der ersten affektiven RTR-Messung ähnlich wurden ausschließlich Bildplakate zu „Ranking-Siegern“ gewählt; die absoluten Verlierer der bewussten Bewertung sind dagegen ausschließlich Textplakate. Wie schon in der Flash-Phase lässt sich auch in der Long-Phase kein nennenswerter Einfluss der Parteiidentifikation auf die Plakatbewertung feststellen. Auch dieses Ergebnis ist im Hinblick auf die Logik der Informationsverarbeitung höchst relevant: Denn in der bewussten Bewertung eines Kommunikationsmittels durch den Rezipienten drückt sich letztlich dessen Akzeptanz aus. Diese kann nach Kroeber-Riel und Esch (2004: 236) verstanden werden als „die Zustimmung der Umworbenen zur Werbemittelgestaltung, das Gefallen an der Art und Weise, wie die Werbebotschaft präsentiert wird“. Akzeptanz wird vor allem durch eine glaubwürdige und den Sehgewohnheiten ent-

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

91

gegen kommende Gestaltung erreicht. Durch Auslösung von Irritationen, negativen Emotionen oder inneren Gegenargumenten wird die Akzeptanz der Rezipienten dagegen gemindert. Die hiermit einhergehende Vermutung zum Untersuchungsbereich liegt auf der Hand: Aufgrund der Bildüberlegenheitswirkungen sollten (positive) Bildplakate beim Rezipienten ganz grundsätzlich eine höhere Akzeptanz auslösen; diese sollte – analog zur peripheren Wahrnehmungsphase – höher sein, je stärker die Gestaltung auf assoziationsreiche, positivemotionale, klare und schemakongruente Motive, auf ein ausgewogenes Kontrast- und Farbverhältnis sowie den Einsatz einer „freundlichen“ und „leuchtenden“ Farbtonality setzt und eine klare optische Gliederung durch eine harmonische Gesamtkomposition ergänzt (s.o.). Dabei ist davon auszugehen, dass „die Akzeptanz der Werbemittelgestaltung … für den Beeinflussungserfolg der Werbung immer wichtiger“ wird; es kommt daher in zunehmendem Maße „auf einen gefälligen Auftritt an, d.h. auf die äußere Gestaltung der Botschaft in allen Kommunikationsbereichen“ (Kroeber-Riel/Esch 2004: 237). Die Bedeutung einer prägnanten visuellen Kommunikation gewinnt durch diese Erkenntnis zusätzlich an Bedeutung. Tatsächlich kann auch die These einer höheren Akzeptanzwirkung visueller Stimuli im Ergebnis grundsätzlich bestätigt werden; auch hier lassen sich bei den Bildplakaten höhere Akzeptanzwerte nachweisen. 4

Fazit und Ausblick

Den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Untersuchung bildete die Fragestellung, inwieweit sich Erkenntnisse zur Wirkung (werblicher) visueller Kommunikation auf die politische Kommunikation übertragen lassen, für die traditionell eine starke Bedeutung individueller Prädispositionen angenommen wird. Dabei lag der Fokus unserer Analyse auf der Wahrnehmung und der Bewertung von Wahlplakaten in Abhängigkeit von ihrer Gestaltung und ihrem Inhalt – und dies unter Berücksichtigung individueller Merkmale der Betrachter. Die Arbeitsthese lautete: Je größer die visuelle Prägnanz einer Botschaft, desto größer ist die Prägnanz der Botschaft für den Wahrnehmungsprozess des Rezipienten. Dementsprechend sollten Unterschiede in der Beschaffenheit des Kommunikationsträgers – wie visueller versus textlicher Kommunikationsmodus – zu messbaren Wahrnehmungsunterschieden führen. Spezifiziert wurden die mit dieser Arbeitshypothese einhergehenden Annahmen anhand der Darstellung und theoretischen Fundierung von vier höchst relevanten Rezeptionsstufen im Wahrnehmungsprozess: der vorbewussten peripheren Wahrnehmung und Bewertung eines „ersten Eindrucks“, der Aufmerksamkeits- und Aktivierungswirkungen eines Stimulus und ihre Verstärkereffekte, der aktiven und passiven Erinnerungsleistungen sowie der eher kognitiv bewerteten Akzeptanz des Kommunikationsmittels. Für diese Rezeptionsstufen wurden folgende Erkenntnisse gewonnen: 1.

Periphere Wahrnehmung: Für die Bewertung des affektiven „ersten Eindrucks“ wurde vermutet, dass die Besonderheiten visueller Kommunikation über Prozesse der präselektiven Sympathie Auswirkungen auf die kurzfristige emotionale Einstimmung des Rezipienten beim ersten visuellen Kontakt haben und dass diese umso positiver sind, je positiver der Stimulus wahrgenommen wird. Dies wurde in unseren Untersuchungen bestätigt: Der „erste Eindruck“ zeigte sich bei Bildplakaten positiver als bei Textpla-

92

2.

3.

4.

Stephanie Geise, Frank Brettschneider katen, bei gut gestalteten Plakaten besser als bei schlecht gestalteten Plakaten; beides konnte unabhängig vom kommunizierten Thema festgestellt werden. Ein Einfluss der Parteiidentifikation konnte nicht nachgewiesen werden. Dagegen decken sich die Ergebnisse mit bisherigen Erkenntnissen zur peripheren Werbewirkung, was nahelegt, dass auf die Bewertung des Ersteindrucks politischer Plakate gleichartige Gestaltungsbzw. Wahrnehmungsfaktoren wirken wie dies bei kommerziellen Werbeträgern der Fall ist. Dieser Befund legt ein recht großes „visuelles“ Wirkungspotenzial nahe, da der erste Eindruck für die weitere Aufnahme und Verarbeitung der Information von zentraler Bedeutung ist. Aufmerksamkeit und Aktivierungswirkungen: Hierzu wurde postuliert, dass der Einsatz von Bildkommunikation die Aufmerksamkeits- und Aktivierungswirkungen eines Stimulus ganz grundsätzlich erhöht; folglich sollten bildhafte Kommunikationselemente im Wahrnehmungsprozess schneller und länger betrachtet werden. Die Eyetracking-Analysen haben diese Annahmen bestätigt: Bildelemente werden nicht nur sehr viel schneller, sondern auch sehr viel intensiver betrachtet. Dabei lassen sich über alle Gruppen und Plakatmotive hinweg ausgeprägte übergeordnete Muster im Blickverlauf erkennen. Auch dieses Ergebnis zeigt sich unabhängig von der Parteiidentifikation der Probanden; es gilt auch bei längerer Betrachtung oder Wiedervorlage. Der Blickverlauf gestaltet sich also eher als ein physiologisches, übergeordnetes Wahrnehmungsmuster, das insbesondere durch stimulusspezifische Faktoren modifiziert wird. Aktive und passive Erinnerungsleistungen: Die oben skizzierten Wahrnehmungsunterschiede legen nahe, dass sie mit Unterschieden in der Informationsverarbeitung und -speicherung einher gehen. Inhalte, die mit bildhaften Elementen kommuniziert werden, müssten zu tieferen aktiven und passiven Erinnerungsleistungen führen. Auch diese These konnte in unserer Untersuchung belegt werden: Tatsächlich führten Bildplakate zu einem höheren Erinnerungsniveau und einer höheren Erinnerungsqualität bei den Rezipienten – und zwar wieder unabhängig vom kommunizierten Thema oder der individuellen Parteiidentifikation. Akzeptanz des Kommunikationsmittels: Analog zu den Einflussfaktoren in der peripheren Wahrnehmungsphase sollte eine „gefällige Gestaltung“ zu höheren Akzeptanzwerten führen; die Höhe des Akzeptanzniveaus ist eine den Beeinflussungserfolg des Kommunikationsmittels modifizierende Größe. Aufgrund der Bildüberlegenheitswirkungen kann davon ausgegangen werden, dass (positive) Bildplakate beim Rezipienten ganz grundsätzlich eine höhere Akzeptanz auslösen. Die Untersuchungsergebnisse legen dies nahe, da die Bildplakate auch im Rahmen der bewussten kognitiv-gestützten Bewertung bessere Ergebnisse erzielen und damit ein höheres Akzeptanzniveau aufweisen.

Zwar weicht die Rezeptionssituation in unserer Studie – Plakate wurden an einem Eyetracking-Gerät betrachtet – von der üblichen Rezeptionssituation beim Betrachten von Wahlplakaten am Straßenrand ab. Da die Wahrnehmungen in der üblichen Betrachtungssituation durch äußere Einflüsse stärker „gestört“ werden als in unserer Studie, müssten die hier ermittelten Ergebnisse dort in noch stärkerem Maße auftreten. In realen Betrachtungssituationen müsste also erst recht gelten: Die visuelle Beschaffenheit des Mediums ist ein entscheidender Einflussfaktor auf die grundsätzliche Möglichkeit, eine wie auch immer intendierte Medienwirkung zu erreichen. Die Befunde belegen, dass die Höhe der visuellen

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

93

Prägnanz direkte Auswirkungen auf die Stärke der Prägnanz der Botschaft für den Wahrnehmungsprozess des Rezipienten hat, weil sich auf eben dieser Basis der Blickverlauf strukturiert. Dementsprechend verdeutlichen die Eyetracking-Analysen, dass Unterschiede in der Beschaffenheit des Kommunikationsträgers – insbesondere die Differenz visueller versus textlicher Kommunikationsmodus – zu unterschiedlichen Wahrnehmungsabläufen der Rezipienten führen. Dabei zeigt sich, dass der Einsatz von bildhaften Elementen den Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozess auf allen Stufen deutlich positiv beeinflusst. Die Ergebnisse unserer Untersuchung werfen zahlreiche weiterführende Fragen auf. Zum Einen ist zu überprüfen, ob der „fehlende“ Einfluss der Parteiidentifikation auf die kurzfristige Wahrnehmung ausschließlich physiologischen Wahrnehmungsmustern geschuldet ist. Denkbar wäre auch, wie bereits angedeutet, dass er auf politisch-sozialisierten visuellen Gestaltungsmustern beruht, die assoziativ mit bestimmten politischen Identitäten, Positionen und Wertorientierungen einhergehen. So könnte die Verwendung roter Schrift in CDU-Plakaten zu einer Zuordnung dieser Plakate zur SPD führen – erst recht, da das Parteilogo häufig nicht wahrgenommen wird. Zum anderen ist zu beachten, dass unsere Analysen nur einen Ausschnitt aus der Wirkungskette „Stimulus – Wahrnehmung – Wirkung“ beleuchtet hat (vgl. Abbildung 1). In folgenden Studien wird untersucht, welche langfristigen und indirekten Wirkungen von visueller politischer Kommunikation ausgehen und welche individuellen, situativen und stimulusspezifischen Faktoren diese Wirkungen beeinflussen. So ist anzunehmen, dass sich an den Wahrnehmungsprozess zahlreiche Wirkungen anschließen, die für das Wählerverhalten relevant sind. Beispielsweise müssten jene Themen, die wirksam mittels Bildplakaten kommuniziert und daher häufiger wahrgenommen wurden, von den Rezipienten tendenziell als wichtiger eingestuft werden als andere Themen (agenda-setting). Diese visuell vermittelten Themen könnten dann auch von den Rezipienten in der Rezeption von Medienberichten stärker beachtet werden. Schließlich müsste dies dazu führen, dass die Kompetenzzuschreibungen in den visuell vermittelten Themenfeldern für die Gesamtbewertung der Parteien relevanter werden (priming). Und schließlich werfen die hier präsentierten Ergebnisse ganz grundsätzlich die Frage auf, ob Bilder stärker für die Politikvermittlung genutzt werden sollten. Ihre Vorteile gegenüber textlich vermittelten Botschaften sind im Wahrnehmungsprozess jedenfalls unverkennbar. Literatur Bartlett, Frederic Charles (1967): Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. London: Cambridge University Press. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Boehm, Gottfried (1994): Was ist ein Bild? München: Wilhelm Fink Verlag (Reihe Bild und Text). Bredenkamp, Jürgen (1998): Lernen, Erinnern, Vergessen. München: C. H. Beck. Brettschneider, Frank (2005): Massenmedien und Wählerverhalten. In: Falter, Jürgen W./Schoen, Harald (Hrsg.) (2005): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS Verlag, 473-500.

94

Stephanie Geise, Frank Brettschneider

Bruhn, Manfred (2003): Integrierte Unternehmens- und Markenkommunikation. Strategische Planung und operative Umsetzung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Doelker, Christian (1997): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der MultimediaGesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. Donsbach, Wolfgang (1991): Medienwirkung trotz Selektion. Einflußfaktoren auf die Zuwendung zu Zeitungsinhalten. Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Felser, Georg (2001): Werbe- und Konsumentenpsychologie. Stuttgart: Spektrum Akademischer Verlag. Fellmann, Ferdinand (1997): Wovon sprechen die Bilder? Aspekte der Bildsemantik. In: Recki, Birgit/Wiesing, Lambert (Hrsg.) (1997): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München: Wilhelm Fink Verlag, 147-159. Gombrich, Ernst Hans (1984): Bild und Auge: neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart: Klett-Cotta. Guski, Rainer (2000): Wahrnehmung. Eine Einführung in die Psychologie der menschlichen Informationsaufnahme. Stuttgart: Kohlhammer. Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Nachdruck von 1971). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hochberg, Julian/Peterson, Mary (1989): Bildanalyse in der menschlichen Informationsverarbeitung. In: Schuster, Martin/Woschek, Bernard P. (Hrsg.) (1989): Nonverbale Kommunikation durch Bilder. Stuttgart: Verlag für Angewandte Psychologie. Klapper, Joseph T. (1960): The Effects of Mass Communication. Glencoe: The Free Press. Kroeber-Riel, Werner (1993): Bildkommunikation. The New Science of Imagination. München: Vahlen. Kroeber-Riel, Werner/Weinberg, Peter (2003): Konsumentenverhalten. München: Vahlen. Kroeber-Riel, Werner/Esch, Franz-Rudolf (2004): Strategie und Technik der Werbung. Verhaltenswissenschaftliche Ansätze. Stuttgart: Kohlhammer. Lachmann, Ulrich (2002): Wahrnehmung und Gestaltung von Werbung. Hamburg: Gruner und Jahr. Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel (1968): The People’s Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Campaign. 3. Auflage. New York/London: Columbia University Press (Erstauflage 1944). Leven, Wilfried (1991): Blickverhalten von Konsumenten. Grundlagen, Messung und Anwendung in der Werbeforschung. Heidelberg: Physica-Verlag. Meckel, Miriam (2001): Visualität und Virtualität. Zur medienkulturellen und medienpraktischen Bedeutung des Bildes. In: Knieper, Thomas/Müller, Marion G. (Hrsg.): Kommunikation visuell. Das Bild als Forschungsgegenstand – Grundlagen und Perspektiven. Köln: Herbert von Halem Verlag, 25-36. Meyer, Thomas (2001): Mediokratie. Die Kolonialisierung der Politik durch das Mediensystem. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mitchell, William James Thomas (1992): The Pictorial Turn. In: Art Forum 3/1992, 89-95. Müller, Marion G. (2003): Grundlagen der visuellen Kommunikation. Konstanz: UTB. Paivio, Allan (1979): Imagery and Verbal Processes. New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates. Paivio, Allan (1986): Mental Representations. A Dual Coding Approach. Oxford u.a.: Oxford University Press. Pepels, Werner (2001): Kommunikations-Management. Marketing-Kommunikation vom Briefing bis zur Realisation. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag. Raab, Gerhard/Unger, Alexander/Unger, Fritz (2004): Methoden der Marketing-Forschung. Grundlagen und Praxisbeispiele. Wiesbaden: Gabler. Rosenstiel, Lutz von (1990): Die Macht des ersten Eindrucks. In: Absatzwirtschaft 33, 64-72. Ruge, Hans-Dieter (1988): Die Messung bildhafter Konsumerlebnisse. Entwicklung und Test neuer Meßmethoden. Heidelberg: Physica-Verlag.

Die Wahrnehmung und Bewertung von Wahlplakaten

95

Sachs-Hombach, Klaus (2003): Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Herbert von Halem. Sarcinelli, Ulrich (2005): Politische Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im demokratischen System. Wiesbaden: VS Verlag. Schierl, Thomas (2001): Text und Bild in der Werbung. Bedingungen, Wirkungen und Anwendungen. Köln: Herbert von Halem. Schweiger, Günter/Schrattenecker, Gertraud (2001): Werbung. Eine Einführung. Stuttgart: UTB. Stahlberg, Dagmar/Frey, Dieter (2001): Das Elaboration-Likelihood-Modell von Petty und Cacioppo. In: Frey, Dieter/Irle, Martin (Hrsg.) (2001): Theorien der Sozialpsychologie. Band I. Kognitive Theorien. Bern u.a.: Hans Huber, 327-361. Steffenhagen, Hartwig (1984): Kommunikationswirkung. Kriterien und Zusammenhänge. Band 5 der Schriften der Heinrich Bauer Stiftung. Hamburg: Heinrich Bauer Stiftung. Zimbardo, Philip George/Gerrig, Richard (1999): Psychologie. Berlin/New York: Springer.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker anhand quantitativer Textmerkmale Jan Kercher

1

Einleitung

Die Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker ist nicht erst seit den berühmten sprachlichen Fehltritten des einstigen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber Anlass für öffentliche und wissenschaftliche Kritik. Immer wieder wird in den Medien ein Zusammenhang zwischen dem wachsenden Vertrauensverlust der Bürger in die Politik und der Sprache der politischen Repräsentanten nahe gelegt (vgl. z.B. Lehnartz 2008; Müller 2007). Auch von wissenschaftlicher Seite wird die Politik(er)verdrossenheit teilweise auf die mangelnde Verständlichkeit der Volksvertreter zurückgeführt (vgl. Klein 1996; Sarcinelli 1996). Die Beweiskette wirkt dabei auf den ersten Blick durchaus schlüssig: Wenn Politiker nicht (mehr) in der Lage sind, dem Volk auf verständliche Weise zu vermitteln, wofür sie gewählt worden sind und in Zukunft gewählt werden sollen, dann ist es nur allzu gut nachvollziehbar, warum sich ein zunehmender Teil der Gesellschaft von der Politik und ihren Repräsentanten abwendet und entfremdet.1 Die Schwäche solch einer Argumentationslogik offenbart sich erst bei einem genaueren Blick auf die Forschungslage: Während die „Politikverdrossenheit“ mittlerweile einen eigenständigen Zweig der politischen Einstellungsforschung darstellt, gibt es für die These der Unverständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker kaum wissenschaftliche Belege. Politik-, Sprach- und Kommunikationswissenschaft haben das Thema bisher weitgehend ignoriert. Die Fragen, ob und wann Politiker (un)verständlich sprechen und wie sich dies messen lässt, sind nahezu unerforscht. Angesichts der Bedeutung der angesprochenen Forschungsfragen überrascht diese Forschungslücke. Denn aus demokratietheoretischer Sicht ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Verständlichkeit und Legitimität (und damit auch der Integrationskraft) politischer Prozesse (vgl. z.B. Habermas 1992: 151ff.). Aus der individuell-rationalen Sicht des Politikers hingegen drängt sich die Frage nach der strategisch-persuasiven Bedeutung der Verständlichkeit auf. Im Folgenden sollen deshalb vorhandene Konzepte und eigene Untersuchungen vorgestellt werden, die dazu beitragen können, das bislang vernachlässigte Konstrukt der Politikerverständlichkeit definitorisch und messtechnisch fassbar zu machen.2

1 2

Aus Gründen der Einfachheit und Lesbarkeit werden die Begriffe Politiker und Politikerverständlichkeit in diesem Beitrag sowohl in Bezug auf Politiker als auch in Bezug auf Politikerinnen verwendet. Die vorgestellten Untersuchungen sind Teil eines durch die Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojektes. Für die Förderung sei der Stiftung an dieser Stelle vielmals gedankt.

98 2

Jan Kercher Verstehen, Verständnis, Verständlichkeit – eine Abgrenzung

Nach Schnotz kann das Verstehen allgemein als „der aktuelle Aufbau einer konsistenten und kohärenten mentalen Repräsentation eines Sachverhalts“ (1994: 35) definiert werden. In Bezug auf das Verstehen sprachlicher Botschaften (Texte) spricht Schiefele ganz ähnlich von einem Prozess, bei dem der Leser oder Rezipient „die Bedeutung des Textes erkennt und mental repräsentiert“ (1996: 91).3 Der Begriff des Verstehens umfasst jedoch nicht nur den so beschriebenen „prozeduralen Aspekt“, sondern auch einen „repräsentationalen Aspekt“ (Schnotz 1987: 3). Der repräsentationale Aspekt bezeichnet dabei das Produkt des Verstehens, d.h. die Struktur der inneren Repräsentationen, die als Ergebnis des Verstehensprozesses aufgebaut wird und hier im Folgenden als Verständnis bezeichnet werden soll. Die Verständlichkeit hingegen kann zunächst – im weiteren Sinne – als Oberbegriff für alle Merkmale eines Kommunikationsprozesses angesehen werden, die das Verständnis einer Mitteilung beim jeweiligen Rezipienten beeinflussen. Hierzu zählen demnach potenziell Merkmale des Kommunikators, der Mitteilung, des Übertragungskanals sowie des Rezipienten selbst und zwar immer in der jeweils spezifischen Kommunikationssituation. Dadurch wird klar: Verständlichkeit ist eine relative Größe (vgl. Bayer/Seidel 1979: 14). Denn genau genommen kann dieselbe Botschaft unendlich viele Verständlichkeiten annehmen, je nachdem zwischen welchen Kommunikationsteilnehmern sie ausgetauscht wird, über welchen Kanal und in welcher Situation dies geschieht. Engt man den Betrachtungswinkel auf sprachliche Botschaften ein, so lässt sich diese Bedeutung von Verständlichkeit als „Beziehungsgröße zwischen einem Text und einem Individuum“ (Bayer/Seidel 1979: 14) bezeichnen. Mit solch einem Verständlichkeitsbegriff ist jedoch ein bedeutender messtechnischer Nachteil verbunden: Die Verständlichkeit ist so immer für jede Mitteilung in Relation zu jedem Rezipienten und dessen spezifischer Rezeptionssituation neu zu bestimmen, überindividuelle Messungen und Vorhersagen der Verständlichkeit werden unmöglich. Es ist deshalb für wissenschaftliche Untersuchungen unabdingbar, eine zweite, operationale Bedeutung von Verständlichkeit einzuführen. Diese bezeichnen Bayer und Seidel als „Konstrukt, das sich allgemeingültig aus Merkmalsausprägungen von Texten ergibt, die überindividuell den Verständlichkeitsgrad beeinflussen“ (ebd.). Um zu solch einem überindividuell gültigen Maß gelangen zu können, soll der hierfür zugrunde gelegte Verständlichkeitsbegriff zunächst wie bei Bayer und Seidel auf eine sprachzentrierte Betrachtungsweise eingeschränkt werden. Als zentrale Erklärungsvariable werden also Merkmale sprachlicher Botschaften untersucht, während nonverbale Aspekte aus der Betrachtung ausgeklammert und die sonstigen Eigenschaften des Kommunikationsprozesses als gegeben betrachtet werden. Ein auf diese Weise spezifizierter Verständlichkeitsbegriff lässt sich mit Groeben als „Anpassung des Texts an den Leser“ (1982: 148) bzw. allgemeiner als Anpassung einer sprachlichen Botschaft an die Rezipienten bezeichnen. Diese Spezifizierung erscheint auch angesichts des hier untersuchten Verständlichkeitsbereichs als angemessen. Denn genau die damit beschriebene Anpas3

In Anlehnung an Bayer und Seidel (1979: 14) wird der Begriff „Text“ im Folgenden gleichbedeutend mit dem Begriff „sprachliche Botschaft“ verwendet, unabhängig vom verwendeten Übertragungskanal bzw. Modus. Texte sind demnach sowohl geschriebene als auch gesprochene Mitteilungen.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

99

sungsleistung ist es, die von Politikern wohl auch deshalb immer wieder verlangt wird, weil eine direkte bzw. kurzfristige Veränderung der relevanten Kommunikator-, Rezipienten-, Kanal- und Situationsmerkmale kaum möglich ist. Um auf der Grundlage dieser Textverständlichkeitsdefinition zu einer tragfähigen Definition der Politikerverständlichkeit zu gelangen, soll der Betrachtungswinkel weiter auf sogenannte „Breitbandtexte“ (Langer et al. 1974: 27) eingegrenzt werden, also auf Botschaften, die sich – zumindest dem Anspruch nach – an das gesamte Wahlvolk richten. Die dabei charakteristische disperse Adressatensituation hat gravierende Konsequenzen für das hier zu untersuchende Verständlichkeitskonstrukt. Denn bei der geforderten Anpassung dieser Breitbandtexte müssen zwangsläufig jene Textmerkmale im Vordergrund stehen, die die Verständlichkeit möglichst unabhängig von den individuellen Rezipientenmerkmalen beeinflussen. Politikerverständlichkeit soll deshalb hier als Ausprägung derjenigen Textfaktoren bezeichnet werden, für die sich ein möglichst überindividueller Einfluss auf die Textverarbeitung der Rezipienten nachweisen lässt. Welche Aspekte dieser Textverarbeitung dabei zu unterscheiden sind und wie diese gemessen werden können, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden. 3

Forschungsstand

3.1 Verarbeitungsintensität, Verarbeitungswahrnehmungen und erreichte Verarbeitungsziele als messbare Wirkungen der Textverständlichkeit Im Rahmen der Forschung zur Textverständlichkeit können drei zentrale Dimensionen messbarer Textverarbeitungsreaktionen unterschieden werden, die einen Rückschluss auf die relevanten Verständlichkeitsfaktoren erlauben (vgl. z.B. Klare 1976: 136ff.). Bei der Erfassung der erreichten kognitiven Verarbeitungsziele wird eine möglichst objektive Messung des – je nach Untersuchung – Textverstehens oder Textbehaltens angestrebt.4 Ebenso wichtig ist bei vielen Untersuchungen jedoch auch eine möglichst objektive Messung der Verarbeitungsintensität, die aufgewendet wurde, um den Text verstehen bzw. behalten zu können. Wichtig ist diese Unterscheidung u.a. deshalb, da beide Dimensionen durchaus unterschiedliche Auswirkungen auf die dritte Dimension, die subjektiven Verarbeitungswahrnehmungen der Rezipienten haben können. Die gebräuchlichste Methode, die erreichten Verarbeitungsziele zu erfassen, stellt ihre Messung anhand unterschiedlicher Formen von Verständnistests dar. Verbreitet sind hierbei insbesondere offene und/oder geschlossene Fragen zu bestimmten Fakten, Zusammenhängen oder Schlussfolgerungen, die im jeweiligen Text beschrieben oder nahegelegt werden. Eine neuere Form dieser Verständnistests stellen sogenannte Verifikations- oder Paraphrasentests dar. Hierbei werden den Probanden paraphrasierte Zitate aus dem eben rezipierten Text vorgelegt, die jedoch teilweise so verändert wurden, dass der Textinhalt nicht mehr korrekt wiedergegeben wird. Aufgabe der Probanden ist es nun, zu entscheiden, welche Sätze dem Textinhalt entsprechen und welche nicht. Diese Verifikationstests bieten einige wichtige Vorteile gegenüber den lange Zeit dominierenden Verständnisfragen. Zunächst 4

Im Rahmen dieses Beitrags soll die Betrachtung jedoch auf das Verstehen fokussiert bleiben.

100

Jan Kercher

lässt sich mit Mrazek (1979: 23) feststellen, dass Paraphrasentests ein sehr viel „reineres“ Verständnis erfassen als offene Textfragen, die zwangsläufig immer auch Gedächtnisleistungen mit erfassen. Durch die Nähe zum Text wird gleichzeitig das Problem vermieden (oder zumindest stark gelindert), dass die Schwierigkeit der Verständnisfragen selbst einen Einfluss auf die Beantwortung der Fragen hat (ebd.: 22f.). Schließlich messen insbesondere die Verifikationstests eine Form von Textverständnis, die der Verständnisdefinition Schiefeles (adäquate mentale Repräsentation des Textinhalts) sehr viel näher kommt als alle anderen Formen von Verständnistests. Die Verarbeitungsintensität hingegen kann nur anhand von Echtzeit-Methoden wie der Messung der Lesegeschwindigkeit oder des Blickverlaufs beim Lesen gemessen werden. Diese Messmethoden eignen sich im Vergleich zu den Verständnistests auch sehr viel besser, um auf punktuelle Verarbeitungsschwierigkeiten im Text zu stoßen und deren Ursachen zu ergründen. Dieser Vorteil ist jedoch mit der schwerwiegenden Einschränkung verbunden, dass Instrumente zur Messung der Verarbeitungsintensität bei auditiver oder audiovisueller Textrezeption bislang fehlen. Ein weiterer Nachteil insbesondere der Blickaufzeichnung ist der relativ große Erhebungs- und Auswertungsaufwand, der die Ermittlung signifikanter überindividueller Ergebnisse erheblich erschwert. Die Erfassung von Verarbeitungswahrnehmungen erfolgt durch Schätz- oder Ratingverfahren. Je nach Erkenntnisinteresse werden hierbei, im Anschluss an die Textrezeption, die subjektive Einschätzung des Textverständnisses der Probanden oder deren Bewertung der Textverständlichkeit abgefragt. Neben der Erhebung auf der Basis einer möglichst repräsentativen Stichprobe aus der Zielgruppe der jeweiligen Textsorte (z.B. Schüler bei Schulbuchtexten) wird dabei teilweise, insbesondere aus forschungspraktischen Gründen, auch auf die Schätzurteile einiger weniger Experten (z.B. Lehrer) zurückgegriffen. Moderne Erhebungsinstrumente ermöglichen es weiterhin, ähnlich wie bei der Messung der Verarbeitungsintensität, die Schätzurteile nicht nur im Anschluss, sondern auch simultan zur Textrezeption zu erfassen (Echtzeit-Messung). So können Probanden im Rahmen von sogenannten Real-Time-Response-Analysen (RTR-Analysen) anhand eines Drehreglers sekundengenau bewerten, wie verständlich sie beispielsweise die Aussagen in einem Fernsehbeitrag zum jeweiligen Zeitpunkt wahrnehmen.5 3.2 Bestimmungsfaktoren der Verständlichkeit Auf der Grundlage der Messung der beschriebenen Textverarbeitungsreaktionen ist es möglich, in einem zweiten Schritt zu untersuchen, welche Faktoren diese Reaktionen bestimmen. Diesem Anliegen widmet sich die Verständlichkeitsforschung, deren zentrales Forschungsanliegen sich mit folgenden Teilfragen umreißen lässt: Anhand welcher Bestimmungsfaktoren können Textverarbeitungsreaktionen (1) vorhergesagt und (2) optimiert werden? Bei der Beantwortung dieser Fragen bedient sich die Verständlichkeitsforschung der Konzepte und Methoden unterschiedlicher wissenschaftlicher Forschungsbereiche, insbesondere der Psycho- und Soziolinguistik sowie der quantitativen Linguistik, zuneh5

Solch eine Messung der Verständlichkeitsbewertungen wurde in den diesem Beitrag zugrunde liegenden Untersuchungen nach Kenntnis des Autors zum ersten Mal durchgeführt.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

101

mend aber auch der Motivations- und Kognitionspsychologie. Im Verlauf der Entwicklung der Verständlichkeitsforschung haben sich sehr unterschiedliche Vorgehensweisen und Schwerpunkte bei der Beantwortung der oben genannten Forschungsfragen ergeben. Die wichtigsten dieser Ansätze sollen im Folgenden kurz dargestellt werden, um ihre unterschiedliche Eignung für die hier untersuchten Fragestellungen prüfen zu können. Den ältesten Ansatz der Verständlichkeitsforschung stellt die Lesbarkeitsforschung dar, die sich bereits in den 1920er-Jahren in den USA entwickelte. Anlass waren insbesondere die Bestrebungen, Schulbücher im Hinblick auf ihre Lesbarkeit objektiv und ökonomisch einschätzen zu können, um sie den jeweils angemessenen Klassenstufen zuordnen zu können (vgl. Klare 1963: 91ff.). Für diesen Zweck wurde der Zusammenhang zwischen zahlreichen Textmerkmalen und dem Leseverstehen von Texten untersucht. Auf der Grundlage dieser Untersuchungen wurden ab Ende der 1920er-Jahre sogenannte Lesbarkeitsformeln entwickelt, die anhand der Auswertung und Verrechnung ausgewählter quantifizierbarer Textmerkmale den Schwierigkeits- bzw. Lesbarkeitsgrad eines Textes vorhersagen.6 Diese Vorgehensweise kann damit auch als spezifische, quantitative und prognostische Variante der Inhaltsanalyse bezeichnet werden. Nach den Ergebnissen zahlreicher Lesbarkeitsstudien kommt der Wortschwierigkeit bei der Vorhersage des Leseverstehens die größte Bedeutung zu (vgl. Chall/Dale 1995: 5). Als sehr vorhersagestark erwies sich zudem die Messung der Satzschwierigkeit. Fast alle Formeln greifen bei der Berechnung der Lesbarkeit deshalb mindestens auf eine Variable der Wortschwierigkeit (v.a. Worthäufigkeit, Wortbekanntheit, Wortlänge) und mindestens eine Variable der Satzschwierigkeit (v.a. Satzlänge, Satzkomplexität) zurück. Die bekannteste und am häufigsten verwendete Lesbarkeitsformel ist der Reading Ease Index (REI) von Flesch (1948), der Wort- und Satzlänge als Variablen einbezieht.7 Ab Ende der 1960erJahre wurden auch zunehmend speziell für die deutsche Sprache ausgelegte Formeln entwickelt, die allerdings häufig auf den Formeln der amerikanischen Forschung aufbauen (vgl. z.B. Amstad 1978: 77ff.; Bamberger/Vanecek 1984: 77ff.; Björnsson 1968; Dickes/Steiwer 1977; Jussen 1983: 104ff.). Erst in den 1970er-Jahren kam es sowohl in Deutschland als auch in den USA zur Entwicklung komplexerer Ansätze, deren Ziel es war, ein umfassenderes Modell der Verständlichkeit zu entwickeln als es die Lesbarkeitsforschung bis dahin vermocht hatte. Nicht nur Wort- und Satzmerkmale, sondern beispielsweise auch Merkmale der Textgliederung und -organisation sowie der inhaltlichen Redundanz der Texte sollten miterfasst werden. In Deutschland erlangte insbesondere das sogenannte Hamburger Verständlichkeitsmodell von Langer et al. (1974) große Bedeutung für Theorie und Praxis. Auf der Grundlage von Untersuchungen, bei denen zahlreiche Probanden unterschiedliche Texte anhand einer Reihe von Gegensatzpaaren beurteilen mussten (z.B. interessant/langweilig, stark geglie6

7

Für die Validierung der Lesbarkeitsformeln wurden unterschiedliche Kriterien verwendet. Die am besten belegten Zusammenhänge bestehen zwischen den untersuchten Wort- und Satzfaktoren und der Lesegeschwindigkeit sowie der subjektiven Schätzung der Lesbarkeit durch Experten oder Laien (vgl. z.B. Klare 1963: 121ff.). Dieser wird folgendermaßen berechnet: REI = 206,835 – 0,846wl – 1,015sl mit wl (word length) = Anzahl der Silben pro 100 Wörter, sl (sentence length) = durchschnittliche Anzahl der Wörter pro Satz. Die Konstante wurde von Flesch hierbei so gewählt, dass die Ergebnisse im Englischen in den meisten Fällen im Bereich zwischen 0 (praktisch unlesbar) und 100 (sehr leicht lesbar) liegen.

102

Jan Kercher

dert/wenig gegliedert, weitschweifig/aufs Wesentliche beschränkt) gelangten die Forscher zu vier zentralen Merkmalsdimensionen der Verständlichkeit (Langer et al. 1974: 13ff.): Einfachheit (syntaktisch-semantische Einfachheit), Gliederung/Ordnung (innere Folgerichtigkeit und äußere Übersichtlichkeit), Kürze/Prägnanz (inhaltliche Beschränkung auf das Wesentliche), zusätzliche Stimulanz (Auslösung persönlicher Anteilnahme und Anregung).8 Die Hamburger Forscher schließen aus diesem Ergebnis, dass die Verständlichkeit eines Textes über die Einschätzung der Ausprägungen dieser vier „Verständlichkeitsmacher“ (Ballstaedt et al. 1981: 214) bestimmt werden kann. Im Gegensatz zu den Lesbarkeitsanalysen handelt es sich hierbei also um eine qualitative Inhaltsanalyse, die auch semantische und satzübergreifende Textmerkmale einbezieht. Die zwangsläufig mit solch einem Ansatz verbundene Subjektivität lässt sich nach Langer et al. (1974: 19) auf zweifache Weise auf ein vertretbares Maß senken. Erstens kann die Intercoder-Reliabilität der Beurteiler durch ein eigens hierfür entwickeltes Wahrnehmungstraining maximiert werden. Zweitens sollten immer mehrere Beurteiler gleichzeitig für die Einschätzung der Textschwierigkeit herangezogen werden, wodurch sich etwaige Ausreißer bei den Ratings nach Ansicht der Hamburger Forscher im Durchschnitt der Beurteiler ausgleichen. Das aktuellste und umfassendste Verständlichkeitskonzept stammt von einer amerikanischen Forschergruppe um Walter Kintsch (vgl. z.B. Kintsch/van Dijk 1978; van Dijk/Kintsch 1983; Kintsch 1998). Textverstehen wird in diesem Modell als ein Prozess der aktiven Konstruktion einer kohärenten Bedeutungsstruktur angesehen, der auf der Interaktion zweier paralleler Verarbeitungsrichtungen beruht: der textgeleiteten und der wissensgeleiteten Verarbeitung. Der Leser konstruiert demnach aus den Sätzen bzw. Satzteilen eines Textes innere Repräsentationen, sogenannte Propositionen. Diese propositionale Repräsentation eines Textes umfasst den unter der Textoberfläche (Buchstaben, Wörter, Satzzeichen) liegenden Bedeutungsgehalt einer Mitteilung, die sogenannte Tiefenstruktur des Textes oder Textbasis. Ob es dem Leser nun gelingt, die Inhalte des Textes in einer kohärenten und textadäquaten Struktur zu repräsentieren, hängt nach Kintsch und Vipond (1979) sowie Miller und Kintsch (1980) nicht nur von Textmerkmalen wie der Kohärenz der Textbasis, der Propositionsdichte und der Satz- oder Phrasenlänge ab, sondern auch von Lesermerkmalen wie der Verarbeitungsstrategie und der Kapazität des Arbeits- und Kurzzeitgedächtnisses. Betrachtet man die vorgestellten Ansätze der Verständlichkeitsforschung zusammenfassend, stößt man schnell auf ein zentrales Dilemma: Die Praktikabilität sinkt mit zunehmender Komplexität. Insbesondere im Falle des kognitionspsychologischen Ansatzes von Kintsch und Vipond, aber auch beim Hamburger Verständlichkeitsmodell führt dies zu äußerst aufwändigen Messverfahren, die zusätzlich durch ihre mangelnde Objektivität in Frage gestellt werden (vgl. z.B. Ballstaedt et al. 1981: 219; Tergan 1980: 26). Auch die Validität und damit der Ertrag beider Verfahren ist keineswegs unumstritten (vgl. z.B. Grabowski 1991: 179ff.; Tergan 1980: 22ff.). Eine objektive und ökonomische Messung der 8

Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis gelangt – trotz stark abweichender Methodik – auch Groeben (1972, 1976, 1982). Groeben interpretiert die Übereinstimmung seiner Ergebnisse mit denen von Langer et al. als Beleg dafür, dass „es sich bei den genannten vier Dimensionen um die relevantesten und relativ umfassenden Merkmalsbereiche der Textstruktur handelt“ (1976: 131).

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

103

Textverständlichkeit und eine darauf basierende Vorhersage der Textverarbeitungsreaktionen (ohne den Einsatz von Probanden) bleibt somit den Formeln der Lesbarkeitsforschung überlassen. Einen Großteil der Kritik gegenüber deren Instrumenten richtet sich zudem gegen Ansprüche, die auch von den meisten Lesbarkeitsforschern abgelehnt werden. So wiesen namhafte Lesbarkeitsforscher bereits früh darauf hin, dass die Beziehung zwischen Lesbarkeitsformeln und Verständlichkeit eine rein statistisch-probabilistische, aber keine kausale ist (vgl. z.B. Dale/Chall 1948: 20; Bormuth 1966: 129; Klare 1974: 97f.). Dies stellt zwar eine Verwendung bei Prognosen auf der Individualebene und für die Textoptimierung in Frage, beeinträchtigt aber nicht ihre Eignung für Prognosen auf der Aggregatebene. Dazu kommt im vorliegenden Forschungskontext, dass die zentrale Einschränkung der Formeln, die Konzentration auf überindividuell relevante Textmerkmale, angesichts des hier zugrunde gelegten Verständlichkeitsbegriffs kein Problem, sondern eher einen Vorteil darstellt. Es überrascht daher umso mehr, dass eine Überprüfung ihrer Validität für den Bereich der Politikersprache bislang aussteht, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. 3.3 Untersuchungen zur Verständlichkeit politischer Kommunikation Nur drei Studien beschäftigten sich bislang explizit mit der Messung der Verständlichkeit von Politikersprache. Siegel und Siegel (1953) untersuchten die Verständlichkeit zweier US-amerikanischer Präsidentschaftskandidaten (Stevenson und Eisenhower) im Wahlkampf 1952. Hierfür wurden sechs Reden beider Kandidaten anhand einer Lesbarkeitsformel bewertet. Grund für die Untersuchung war der im Wahlkampf immer wieder geäußerte Vorwurf, dass Stevensons Reden in ihrer Verständlichkeit das Publikum überforderten. Die Formelmessung konnte jedoch keine deutlichen Sprachunterschiede zwischen beiden Politikern feststellen. Siegel und Siegel schlossen daraus, dass der Vorwurf an Stevenson nicht gerechtfertigt war. Kintsch und Vipond (1979: 360ff.) analysierten mehr als zwei Jahrzehnte später jeweils eine der sechs Reden beider Kandidaten noch einmal bezüglich ihrer Textorganisation (der sogenannten Makrostruktur des Textes). Im Gegensatz zur Analyse von Siegel und Siegel konnten Kintsch und Vipond dabei tatsächlich Unterschiede in der Verständlichkeit beider Politikerreden nachweisen. Demnach mangelte es dem Aufbau von Stevensons Rede im Gegensatz zur Rede Eisenhowers deutlich an Kohärenz, was den im Wahlkampf erhobenen Vorwurf einer geringeren Verständlichkeit erklären könnte. Niecke (2006) schließlich untersuchte die Verständlichkeit der „Großen Regierungserklärungen“ der deutschen Bundeskanzler seit dem zweiten Weltkrieg (Adenauer bis Merkel), d.h. die jeweils erste Regierungserklärung nach dem Regierungsantritt. Hierfür griff er wie Siegel und Siegel (1953) auf eine Lesbarkeitsformel als Messinstrument zurück. Die Studie kam zu zwei zentralen Ergebnissen (vgl. Niecke 2006: 131ff.): Bundeskanzler(innen) verwenden immer dann relativ einfache Wörter und kurze Sätze, wenn sie eigene Erfolge und Leistungen betonen, wenn sie Vorhaben verkünden, die im Einklang mit der öffentlichen Meinung stehen, oder wenn sie die Opposition kritisieren. Muss ein Kanzler bzw. eine Kanzlerin der Bevölkerung hingegen Probleme oder negative Bilanzen erklären, unpopuläre Maßnahmen verkünden oder eigene Misserfolge, Fehler und Versäumnisse

104

Jan Kercher

einräumen, dann verwendet er bzw. sie tendenziell eher schwierige Wörter und lange Sätze. Die Vermutung eines strategischen Einsatzes der Verständlichkeit durch die Bundeskanzler(innen) (z.B. zur Beeinflussung journalistischen Auswahlverhaltens) liegt angesichts dieses Ergebnisses nahe, insbesondere, da versehentliche (Un)Verständlichkeiten angesichts der beträchtlichen Vorbereitungszeiten für die großen Regierungserklärungen eher unwahrscheinlich sind. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die erwähnten Studien zwei miteinander verbundene Schwachpunkte aufweisen: Erstens klammern sie die Frage aus, welche spezifischen Ansprüche die Verständlichkeit politischer Kommunikation erfüllen muss. Dass Politiker sich – angesichts ihres dispersen Publikums – in einem besonders deutlich ausgeprägten Verständlichkeitsdilemma bzw. auf einer Gratwanderung zwischen Sach- und Adressatenangemessenheit befinden, ist unbestreitbar, wird aber in allen drei vorliegenden Studien nicht entsprechend gewürdigt. Damit verbunden ist eine zweite Schwäche der Studien von Siegel und Siegel (1953) und von Niecke (2006), nämlich die unveränderte Übernahme der Messinstrumente aus der Lesbarkeitsforschung. Nieckes plausibler Befund eines möglicherweise strategischen Einsatzes der Sprachschwierigkeit durch die Bundeskanzler kann aus Sicht des Verfassers dabei lediglich als erstes Indiz für die Validität der verwendeten Lesbarkeitsformel aufgefasst werden. Entwickelt wurden diese Formeln ursprünglich aber für die Bewertung der Lesbarkeit von Schulbüchern und Unterrichtstexten. Eine Übertragung auf mündlich übermittelte politische Kommunikationsinhalte erfordert daher zweifellos eine neuerliche Validierung dieser Prognoseinstrumente am Rezipienten. Gleiches gilt für die Untersuchung von Kintsch und Vipond (1979): Bei deren makrostruktureller Analyse handelte es sich um einen Ansatz der Verständlichkeitsprognose, dessen Validierung am Rezipienten ebenfalls noch ausstand. Im Folgenden sollen deshalb zwei eigene Untersuchungen vorgestellt werden, die einen ersten Versuch darstellen, diese Mängel der erläuterten Forschungsdesigns auszugleichen. 4

Untersuchungsdesign

4.1 Forschungsfragen, verwendete Variablen und Forschungshypothesen Zentrales Ziel der in diesem Beitrag vorgestellten Erhebungen war die Beantwortung der Frage, ob und wie es möglich ist, anhand quantitativ, objektiv und ökonomisch messbarer Textmerkmale von Politikersprache zu überindividuell gültigen Prognosen bezüglich der Verständlichkeit zu gelangen. Warum? Nur diese Fragestellung bietet die Möglichkeit, aus dem bislang rein theoretischen Konstrukt Politikerverständlichkeit auch ein valides und textbasiertes Prognoseinstrument abzuleiten, das ohne aufwändige Laboruntersuchungen auskommt. Nur solch ein valides und zugleich ökonomisches Messinstrument böte wiederum die Möglichkeit, Politikerverständlichkeit zukünftig auch als unabhängige Variable in Folgestudien zu untersuchen, die größere Textmengen analysieren. Neben dem methodischen Aspekt einer angemessenen operationalen Erfassung von Politikerverständlichkeit geht es also zwangsläufig auch um den inhaltlichen Aspekt, inwiefern sprachstilistische Oberflächenmerkmale (z.B. Wort- und Satzlänge) im komplexen Kommunikationsbereich der Politik für die Verständlichkeit eine Rolle spielen.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

105

Eine wichtige Voraussetzung für die Erreichung beider Forschungsziele ist die Untersuchung des Einflusses der ausgewählten unabhängigen Variablen (d.h. der Lesbarkeitsformeln) an einer oder mehreren relevanten abhängigen Variablen. Für die vorliegende Untersuchung wurden hierbei sowohl erreichte Verarbeitungsziele (Textverständnis) als auch Verarbeitungswahrnehmungen (Verständlichkeitsbewertung) erfasst.9 Denn: Politische Kommunikation lässt sich – im Normalfall – als Persuasionskommunikation bezeichnen. Wie hoch die angestrebte Persuasionswirkung der Überzeugungsbotschaften ist, hängt nach den Ergebnissen der Persuasionsforschung (vgl. Janis/Hovland 1959; McGuire 1969) zum einen davon ab, wie gut die Botschaften vom Rezipienten verstanden werden, zum anderen davon, wie der Kommunikator und seine Argumente subjektiv bewertet werden. Langfristig und kumulativ beeinflussen beide Variablen zudem möglicherweise die grundlegende Einstellung gegenüber Politikern. Für die Erhebung des Textverständnisses spricht schließlich auch die demokratietheoretische Dimension der Politikerverständlichkeit: Denn von einer selbstbestimmten Ausübung demokratischer Entscheidungsfreiheit kann nur dann ausgegangen werden, wenn die zur Auswahl stehenden politischen Alternativen auch verstanden wurden. In Bezug auf die zentrale Forschungshypothese kann, wie bereits erläutert, auf die Ergebnisse der Lesbarkeitsforschung zurückgegriffen werden. Die Grundannahme lautet demgemäß, dass bestimmte quantitativ und objektiv messbare Textmerkmale zu einer überindividuellen Beeinflussung der Verarbeitungsziele und Verarbeitungswahrnehmungen führen.10 So sollte z.B. eine zunehmende durchschnittliche Wort- und Satzlänge im Allgemeinen ein abnehmendes Textverständnis und sich verschlechternde Verständlichkeitsbewertungen zur Folge haben. 4.2 Methode 4.2.1 Beschreibung der Untersuchungsgruppe und des Untersuchungsablaufs Zur Prüfung der Forschungshypothese wurden zwei quasi-experimentelle Untersuchungen mit insgesamt 96 Probanden durchgeführt. An der ersten Untersuchung nahmen insgesamt 50 Hohenheimer Studierende der Kommunikationswissenschaft im dritten Semester teil. Das Alter der Probanden lag zwischen 20 und 30 Jahren (Durchschnittsalter: 21,9 Jahre), 34 der Teilnehmer waren weiblich, 16 Teilnehmer männlich. Die Probanden wurden zunächst anhand eines ausführlichen Fragebogens zu ihren politischen Einstellungen, zu ihrem politischen Wissen (vgl. den Anhang) und Interesse sowie zur Häufigkeit ihrer (informationsorientierten) Mediennutzung befragt. Anschließend nahmen die Probanden an einem C-Test teil, mit dem die individuelle Sprachkompetenz abgeschätzt werden kann (zum 9

10

Für die Erfassung des Textverständnisses wurde dabei aufgrund deren zahlreicher Vorzüge auf Paraphrasentests zurückgegriffen. Die Verständlichkeitsbewertungen wurden sowohl simultan (RTR-Messung) als auch verzögert (Rating-Frage im Anschluss an die Stimulusdarbietung) erfasst (vgl. den Anhang für die genaue Operationalisierung dieser Variablen). Auf eine zusätzliche Messung der Verarbeitungsintensität (Lesezeit, Blickbewegungen) musste aufgrund der Verwendung audiovisueller Stimuli verzichtet werden. Eine Erläuterung des Versuchsablaufs erfolgt im nächsten Abschnitt. Vgl. den Anhang für eine Auflistung aller hierfür verwendeten Lesbarkeitsformeln und Textmerkmale.

106

Jan Kercher

Instrument des C-Tests vgl. Raatz/Klein-Braley 1983). Danach bewerteten die Teilnehmer mit Hilfe von RTR-Geräten die Verständlichkeit von drei (audio-visuellen) Stimuli auf einer Drehregler-Skala von „0“ (überhaupt nicht verständlich) bis „10“ (sehr verständlich). Im Anschluss an die Betrachtung jedes Stimulus wurde den Studierenden ein kurzer Fragebogen ausgehändigt, anhand dessen sie die Gesamtverständlichkeit der Stimuli bewerten sowie mögliche Gründe für die Unverständlichkeit der Sprecher angeben sollten. Die Teilnehmer der zweiten Untersuchung waren Schüler einer Erzieherfachschule in Tübingen im Alter von 18 bis 29 Jahren (Durchschnittsalter: 20,6 Jahre). Es wurden drei Klassen mit jeweils 14 bis 17 Schülern in die Untersuchung einbezogen. Auf diese Weise wurden insgesamt 46 Schüler befragt (42 Frauen, 4 Männer). Der größte Teil der Schüler (30 Personen) gab als höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss die mittlere Reife an, fünf Schüler Fachabitur, neun Schüler Abitur, zwei Befragte verweigerten die Angabe. Der Aufbau der Untersuchung war bis auf zwei Ausnahmen identisch mit der ersten Untersuchung. Die Aufteilung der Schüler in drei Gruppen ermöglichte erstens eine Variation der Darbietungsreihenfolge der Stimuli, wodurch Reihenfolgeneffekte ausgeglichen werden konnten. Zudem wurden den Schülern im Anschluss an die Darbietung der Stimuli neben den Fragen zur Bewertung der Gesamtverständlichkeit der Stimuli zusätzlich Paraphrasentests vorgelegt, um auch das objektive Verständnis der rezipierten Inhalte überprüfen zu können. Von den insgesamt 96 teilnehmenden Probanden bezeichneten 88 Deutsch als ihre Muttersprache. Nur diese 88 Muttersprachler wurden in die Datenauswertung einbezogen, um Verständnisschwierigkeiten auszuschließen, die lediglich auf mangelnden Kenntnissen der deutschen Sprache beruhten. Das Durchschnittsalter in der bereinigten Stichprobe betrug 21,3 Jahre, 20 dieser Teilnehmer waren männlich, 68 Personen waren weiblich. 29 Personen gaben die mittlere Reife als höchsten Bildungsabschluss an, vier Fachabitur und 54 Personen Abitur (einer der Befragten verweigerte die Angabe zum höchsten Bildungsabschluss). Damit waren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in der Untersuchungspopulation junge, weibliche und hoch gebildete Personen deutlich überrepräsentiert. Dieser Umstand spielt für die Aussagekraft der vorliegenden Untersuchungen jedoch deshalb keine entscheidende Rolle, da hier keine repräsentativen, sondern relative Aussagen getroffen werden sollen. Voraussetzung hierfür sind keine repräsentativen Stichproben, sondern lediglich eine ausreichende Varianz bei den Variablenausprägungen. 4.2.2 Auswahl und Merkmale der Stimuli Bei der Auswahl der experimentellen Stimuli wurden unterschiedliche Kriterien berücksichtigt. Zunächst sollten möglichst aktuelle Beispiele politischer Kommunikation berücksichtigt werden, um Verständnisschwierigkeiten auszuschließen, die sich aus mangelnder Aktualität der behandelten Themen ergeben könnten. Weiterhin sollten möglichst kurze, in sich abgeschlossene Politikerbeiträge ausgewählt werden, die sich (zumindest dem Anspruch nach) an die breite Masse des politischen Wahlvolks richteten (sog. Breitbandtexte) und nicht an spezifische Zielgruppen wie beispielsweise Eliten aus Wissenschaft oder Wirtschaft. Ein weiteres wichtiges Kriterium war zudem eine gewisse Varianz der Stimuli in Bezug auf ihre (vermutete) Verständlichkeit. Aus forschungspraktischen Gründen spielte

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

107

schließlich die technische Verfügbarkeit der Politikerbeiträge in audiovisueller Form eine Rolle bei der Auswahl. Auf der Grundlage dieser Auswahlkriterien wurden schließlich zwei Video-Podcasts von Angela Merkel sowie die Weihnachtsansprache von Horst Köhler vom 25. Dezember 2007 als experimentelle Stimuli ausgewählt.11 Alle drei Beiträge waren relativ aktuell, nicht zu lang (zwischen etwa vier und etwas über fünf Minuten) und richteten sich an die Gesamtheit der deutschen Internet-Nutzer. Auf der Grundlage einer Lesbarkeitsanalyse der Texte konnte zudem sichergestellt werden, dass in Bezug auf die zu untersuchenden Variablen eine ausreichende Varianz zwischen den Stimuli vorlag (vgl. Tabelle 1).12 Zudem waren alle drei Beiträge in einer für die Untersuchung angemessenen ton- und bildtechnischen Qualität verfügbar. Tabelle 1: Lesbarkeitsanalyse der experimentellen Stimuli (Auswahl) Lesbarkeitswerte13 Amstad (0-100) Dickes/Steiwer (0-100) Flesch (0-100) Jussen (KVIS, 0-100) Björnsson (Lix, 70-20) Bamberger/Vanecek (15-4)

Merkel-Podcast „Indienreise“ 47 51 23 36 51 9,55

Merkel-Podcast „Kinder in Not“ 57 60 37 59 47 7,96

Weihnachtsansprache Köhler 65 64 50 65 44 7,21

Bei den Video-Podcasts von Angela Merkel handelte es sich zum einen um den Podcast vom 27. Oktober 2007 zum Thema „Indienreise“ der Bundeskanzlerin. Beim zweiten Podcast handelte es sich um die Ausgabe vom 15. Dezember 2007, die sich mit den damals aktuellen Fällen verwahrloster und verhungerter Kinder in Deutschland beschäftigte. Gemäß der einhelligen Prognose unterschiedlicher Lesbarkeitsformeln wies der Merkel-Podcast zum Thema Indienreise die geringste Verständlichkeit, die Weihnachtsansprache von Horst Köhler die höchste Verständlichkeit und der Merkel-Podcast zum Thema „Kinder in Not“ eine mittlere Verständlichkeit auf (vgl. Tabelle 1). Die Formelprognosen bezüglich der absoluten Höhe der Textverständlichkeit weisen demgegenüber eine etwas höhere Varianz auf, liegen jedoch für alle drei Stimuli im unteren bis mittleren Verständlichkeitsbereich der Skalen. Als einzige Ausnahme kann hier die Formel von Bamberger und Vanecek (1984) bezeichnet werden, die für die Weihnachtsansprache von Köhler und einen MerkelPodcast eher eine leichte Verständlichkeit vorhersagt (verständlich für die Klassenstufe sieben bzw. acht).

11 12 13

Auf mögliche Probleme, die trotz der angelegten Auswahlkriterien mit dieser Stimulus-Auswahl verbunden sind, wird weiter unten noch einzugehen sein. Diese Lesbarkeitsanalyse wurde mit Hilfe der Software „TextLab“ durchgeführt, die gemeinsam mit einem externen Dienstleister hierfür entwickelt wurde (vgl. hierzu den Anhang). Die meisten der verwendeten Lesbarkeitsformeln messen die Lesbarkeit von 0 (sehr schwer verständlich) bis 100 (sehr leicht verständlich). Die Lix-Formel von Björnsson hingegen misst die Lesbarkeit von 70 (sehr schwer verständlich) bis 20 (sehr leicht verständlich) und die dritte neue Wiener Sachtextformel von Bamberger und Vanecek von 15 (sehr schwer verständlich) bis 4 (sehr leicht verständlich).

108 5

Jan Kercher Untersuchungsergebnisse

Ziel der im Folgenden vorgestellten Analysen ist die Beantwortung der zentralen Forschungsfrage des vorliegenden Beitrags: Ist es möglich, anhand quantitativ und objektiv messbarer Merkmale von Politikersprache zu überindividuell gültigen Aussagen bezüglich der Politikerverständlichkeit zu gelangen? Hierfür wurden die Daten auf zwei Analyseebenen und in drei Analyseschritten untersucht. Der erste Analyseschritt stellte eine einfache Betrachtung der Verständlichkeitsbewertungen und der Verständnistest-Ergebnisse der Probanden auf der Aggregatebene dar. Hierfür wurden die Mittelwerte der abhängigen Variablen (simultane und verzögerte Verständlichkeitsbewertungen sowie VerständnistestErgebnisse) mit den Prognosen der Lesbarkeitsformeln in Bezug auf die drei Stimuli verglichen. Im zweiten Schritt wurde eine weitere Aggregatanalyse durchgeführt, die Mittelwerte der abhängigen Variablen wurden nun jedoch nicht mehr für die gesamte Probandengruppe berechnet, sondern für jeweils zwei Kontrastgruppen. Grundlage für die Einteilung dieser Kontrastgruppen war die Ermittlung der verständlichkeitsrelevanten Rezipientenmerkmale, d.h. der Probandeneigenschaften mit einem nachweisbaren Einfluss auf die untersuchten abhängigen Variablen. Für jedes dieser Merkmale wurden zwei Kontrastgruppen gebildet (Merkmalsausprägungen unterhalb des Mittelwertes vs. Merkmalsausprägung gleich und oberhalb des Mittelwerts) und die Mittelwertsausprägungen der drei abhängigen Variablen zwischen beiden Gruppen verglichen. Dieser Analyseschritt entspricht noch immer dem Anspruch der Formelprognosen (Vorhersagen auf der Aggregatebene), ermöglicht jedoch gleichzeitig eine Kontrolle von relevanten Rezipienteneigenschaften. Im dritten Analyseschritt wurde die Validität der Formelprognosen schließlich auch auf der Individualebene untersucht. Die Validitätsprüfung der Prognoseinstrumente wurde also mit jedem Analyseschritt strenger und überstieg im letzten Schritt dadurch sogar den Anspruch der Lesbarkeitsformeln, Vorhersagen für die Aggregatebene zu liefern. Auf diese Weise war es möglich, (anhand der beiden ersten Analyseschritte) zu prüfen, ob die Formeln ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden und wo darüber hinaus potenziell die Grenzen ihrer Prognosekraft liegen (dritter Analyseschritt). Bezüglich des ersten Analyseschritts lässt sich zunächst noch einmal wiederholen, dass alle bei der Auswahl der Stimuli verwendeten Lesbarkeitsformeln zur selben Prognose bezüglich der Verständlichkeitsrangfolge der drei Stimuli gelangten. Betrachtet man nun die durchschnittlichen Verständlichkeitsbewertungen der drei Stimuli (Verarbeitungswahrnehmungen), so lässt sich die von den Formeln vorhergesagte Stimulus-Rangfolge tatsächlich anhand der empirischen Daten bestätigen (vgl. Abbildung 1). Dies gilt sowohl für die durchschnittlichen RTR-Bewertungen der Stimuli als auch für die durchschnittlichen (verzögerten) Gesamtbewertungen. Der Abstand zwischen den Mittelwerten des MerkelPodcasts „Kinder in Not“ und der Weihnachtsansprache von Köhler ist hierbei deutlich geringer als der Abstand zwischen den beiden Merkel-Podcasts, was ebenfalls der Prognose der meisten verwendeten Lesbarkeitsformeln entspricht. Es kann somit festgehalten werden, dass die Rangfolge der Verständlichkeitsbewertungen der Stimuli im Durchschnitt aller Probanden korrekt vorhergesagt wurde. Dies kann angesichts sechs möglicher Rangfolgen der drei Stimuli bereits als bemerkenswert bezeichnet werden. Auch die relativen Unterschiede der durchschnittlichen RTR-Bewertungen wurden von den meisten der Formeln relativ gut vorhergesagt.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker Abbildung 1:

109

Vergleich von Formelprognose und gemessenen Verständlichkeitsbewertungen14

59

65

7,0 (1,7)

8,4 (1,5)

4,4 (0,9)

8,5 (1,4)

4,6 (0,6)

3,8 (0,9)

36

KVIS (0-100) Merkel-PC "Indienreise"

RTR (0-10) Merkel-PC "Kinder in Not"

Gesamtbewertung (1-5) Weihnachtsansprache Köhler

Anmerkung: N = 75 (RTR), N = 88 (Gesamtbewertungen), Standardabweichungen in Klammern

Weniger gut gelingen hingegen die Formelprognosen bezüglich der absoluten Höhe der Verständlichkeitsbewertungen. Während fast alle Formeln Lesbarkeitswerte der Stimuli im unteren oder mittleren Bereich vorhersagen, liegen die subjektiven Bewertungen aller Stimuli deutlich im oberen Bereich der Bewertungsskalen. Dieses Ergebnis verwundert jedoch nicht, da die Lesbarkeitsformeln ursprünglich für die Bewertung von Schulbüchern entwickelt und geeicht wurden. Diese Eichung wurde zumeist auf der Grundlage objektiver Verständnis- oder Behaltenstests vorgenommen. Für eine Vorhersage subjektiver Bewertungen der Verständlichkeit, die aufgrund sozialer Erwünschtheitseffekte meist höher ausfallen dürften als die objektiven Tests, wäre also, wie bereits weiter oben vermutet, eine Neu-Eichung dieser Formeln nötig. Betrachtet man die Ergebnisse bezüglich des Verarbeitungsziels Textverständnis, so kann auch hier festgestellt werden, dass die Lesbarkeitsformeln die Rangfolge der Stimuli gemäß der durchschnittlichen Verständnistestergebnisse erfolgreich vorhersagen (vgl. Abbildung 2).15

14

15

Hierbei wurde beispielhaft die Prognose des Kölner Verständlichkeitsindexes für Sprache (KVIS) abgetragen, der sich im Verlauf der Untersuchung als vorhersagestärkste Formel erwies. Er bezieht als Textfaktoren die durchschnittliche Wortlänge in Buchstaben, die durchschnittliche Satzlänge in Wörtern sowie den Anteil der Adjektive an allen Wörtern mit ein (vgl. Anhang 6.2 für sonstige Formeln). Als Grundlage dienten hierbei lediglich die Daten der Schülergruppe, da nur bei diesen Paraphrasentests durchgeführt wurden. Hier waren zudem, aus denselben Gründen wie bei den Gesamtbewertungen der Verständlichkeit, ausschließlich Makro-Analysen durchführbar (häufiges Auftreten gleicher Ränge). Dieses Problem sollte in zukünftigen Untersuchungen durch eine höhere Anzahl an Verständnisfragen abgeschwächt werden.

110

Jan Kercher

Abbildung 2:

Vergleich von Formelprognosen und gemessenem Textverständnis (Durchschnittliche Ergebnisse der Verständnistests)

64 59

3,1 (1,0)

3,3 (1,1)

3,6 (1,2)

36

KVIS (0-100) M erkel-PC "Indienreise"

Durchschnittl. Verständnistest-Ergebnisse (0-5) M erkel-PC "Kinder in Not"

Weihnachtsansprache Köhler

Anmerkung: N = 41, Standardabweichungen in Klammern

Im Gegensatz zu den Verständlichkeitsbewertungen liegen jedoch die Werte der beiden Merkel-Podcasts deutlich näher beieinander. Zudem ist das Niveau der durchschnittlichen Verständnisleistungen im Vergleich zu den Verständlichkeitsbewertungen niedriger. Nimmt man das objektive Textverständnis als Maßstab, überschätzen die Probanden die Verständlichkeit der Politiker im Durchschnitt also etwas.16 Mögliche Erklärungen hierfür wären zum einen, wie bereits weiter oben erwähnt, Effekte der sozialen Erwünschtheit, d.h. eine mangelnde Bereitschaft einiger Probanden, Nichtverstehen gegenüber den Studienleitern zuzugeben. Eine weitere naheliegende Erklärung wäre, dass manche Probanden ihre politische Expertise tatsächlich überschätzen und deshalb auch ihr politisches Textverständnis. Eine Aussage darüber, welcher dieser beiden Effekte eine größere Rolle spielt, ist aufgrund der in dieser Untersuchung erhobenen Daten leider nicht möglich. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass über alle Probanden hinweg eine Kombination von beiden Effekten zu den genannten Ergebnissen führt. Die Folge ist, dass das vergleichsweise niedrige absolute Niveau des Textverständnisses von den Formelwerten etwas besser, die relativen

16

Standardisiert man alle Skalen bzw. Indizes der abhängigen Variablen auf einen Wertebereich von null bis eins, so liegen die Durchschnitte der Verständlichkeitsbewertungen zwischen 0,70 und 0,85 bzw. 0,95, die Durchschnittswerte der Verständnisleistungen jedoch nur zwischen 0,62 und 0,72.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

111

Unterschiede der Verständniswerte hingegen schlechter vorhergesagt wird als bei den Verständlichkeitsbewertungen.17 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Verarbeitungswahrnehmungen und die erreichten Verarbeitungsziele, wie erwartet, keineswegs identisch ausfallen, zwischen beiden Arten von Verarbeitungsreaktionen aber trotzdem große Übereinstimmungen bestehen. Für die weitere Forschung bedeutet dies, dass Formeln für die Vorhersage von objektivem Verständnis und subjektiven Verständlichkeitsbewertungen zumindest unterschiedlich geeicht, wenn nicht sogar unterschiedlich konstruiert werden sollten. Für den zweiten Analyseschritt musste zunächst geklärt werden, welche Merkmale der Rezipienten Einfluss auf die Verarbeitung von Politikersprache haben. Hierfür wurden biund multivariate Regressionsanalysen sowie Mittelwertvergleiche durchgeführt.18 Die hierfür aus der Forschung abgeleiteten Annahmen bezüglich der relevanten Rezipientenmerkmale (vgl. z.B. Bamberger/Vanecek 1984: 20ff.; Campbell et al. 1960; Teigeler 1968: 14ff.; Zaller 1992: 333ff.) konnten großteils bestätigt werden.19 So hatten die Merkmale Bildung, Sprachkompetenz, objektives und subjektives politisches Wissen, politisches Involvement sowie die (informationsorientierte) Mediennutzung in den bivariaten Regressionsanalysen ausnahmslos einen signifikant positiven Einfluss auf die durchschnittlichen verzögerten Verständlichkeitsbewertungen der Probanden (d.h. die Bewertungen im Anschluss an die Rezeption). Auch die signifikanten Einflüsse der PolitikverdrossenheitsIndikatoren (Kompetenzwahrnehmung, Systembewertung, beste Parteienbewertung, wahrgenommene politische Sinnhaftigkeit) fielen erwartungsgemäß aus: Je höher die Politikverdrossenheit, desto schlechter die durchschnittliche Bewertung der Politikerverständlichkeit.20 Ganz ähnlich fielen die Ergebnisse in Bezug auf die RTR-Bewertungen aus, allerdings konnte hier für das subjektive Wissen, die Mediennutzung, das politische Involvement und die beste Parteienbewertung kein signifikanter Einfluss ermittelt werden.21 Bei der Analyse des Textverständnisses fielen die bivariaten Regressionsanalysen aufgrund der geringeren Fallzahl (Verständnistests wurden nur bei der Untersuchung mit den Schülern durchgeführt) und der damit verbundenen geringeren Varianz bei den Erklärungsvariablen noch deutlich seltener signifikant aus. Lediglich für das politische Involvement und die Kompetenzwahrnehmung konnten signifikante Einflüsse auf das Textverständnis nachgewiesen werden. Obwohl es sich bei diesem Ergebnis ganz offensichtlich um ein Stichprobenproblem handelt, überrascht der relativ starke Einfluss der (affektiven) Einstellungsvariable Kompetenzwahrnehmung (R2 = 0,25, p < 0,001) auf das (kognitive) Textverständnis dennoch. In zukünftigen Untersuchungen sollte dem Vergleich von kognitiven und affekti17 18 19 20

21

Die standardisierten Vorhersagewerte des KVIS liegen beispielsweise zwischen 0,36 und 0,64. Aus Platzgründen können die Analysen und Ergebnisse in Bezug auf den Einfluss der Rezipientenmerkmale hier nur in einer kurzen Zusammenfassung referiert werden. Vgl. den Anhang für die Operationalisierung aller hier untersuchten Rezipientenmerkmale. In einer schrittweisen multivariaten Analyse erwies sich das objektive politische Wissen als der zentrale Erklärungsfaktor (R2 = 0,26, p < 0,001), der jedoch wiederum stark von der Bildung beeinflusst wird (R2 = 0,63, p < 0,001). In Bezug auf die Politikverdrossenheit und das politische Involvement stellt sich allerdings die Frage, ob es sich tatsächlich um unabhängige Variablen handelt oder ob die nachgewiesenen Zusammenhänge nicht vielmehr dadurch zu erklären sind, dass eine als mangelhaft empfundene Politikerverständlichkeit langfristig zu sinkendem politischen Involvement und steigender Politikverdrossenheit führt. Aufgrund des Querschnittsdesigns der vorliegenden Untersuchung muss diese Frage jedoch vorerst offen bleiben.

112

Jan Kercher

ven Einflussfaktoren in Bezug auf das Textverständnis deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Nicht bestätigt werden konnte in der weiteren Analyse der angenommene kommunikatorspezifische Einfluss der Parteiidentifikation und der Politikerbewertungen auf die Verarbeitungswahrnehmungen: Weder Anhänger des konservativen Parteienlagers (Anhänger von CDU, CSU und FDP), noch Personen, die Angela Merkel und Horst Köhler überdurchschnittlich positiv beurteilten, bewerteten auch ihre Verständlichkeit positiver als die übrigen Probanden. So fiel insbesondere bei den Gesamtbewertungen der Verständlichkeit auf, dass viele Anhänger des gegnerischen politischen Lagers sowie parteiungebundene Probanden die Podcasts von Angela Merkel und die Weihnachtsansprache von Horst Köhler als verständlicher bewerteten als deren eigene Anhänger. Gerade bei den im Anschluss an die Stimulusdarbietung abgegebenen und deshalb vermutlich stärker reflektierten Gesamtbewertungen der Verständlichkeit wäre aber ein deutlicher Einfluss der Voreinstellungen zu erwarten gewesen. In zukünftigen Untersuchungen wird deshalb zu klären sein, ob dieser Befund nur eine Folge der spezifischen Auswahl der Stimuli bzw. der Probanden in den beschriebenen Untersuchungen war oder ob der Einfluss der Voreinstellungen auf die Verständlichkeitsbewertungen tatsächlich weniger stark ist als vermutet. Tabelle 2: Verständlichkeitsrelevante Rezipientenmerkmale nach abhängiger Variable Abhängige Variable Verzögerte Bewertungen

RTR-Bewertungen Verständnistests

Verständlichkeitsrelevante Rezipientenmerkmale22 Bildung, Sprachkompetenz, objektives politisches Wissen, subjektives politisches Wissen, politisches Involvement, informationsorientierte Mediennutzung, Kompetenzwahrnehmung, Systembewertung, beste Parteienbewertung, wahrgenommene politische Sinnhaftigkeit Bildung, Sprachkompetenz, objektives politisches Wissen, Kompetenzwahrnehmung, Systembewertung, wahrgenommene politische Sinnhaftigkeit politisches Involvement, Kompetenzwahrnehmung

Für die Kontrastgruppen-Analyse wurden die Probanden nun in Bezug auf alle ermittelten verständlichkeitsrelevanten Rezipientenmerkmale (vgl. Tabelle 2) in jeweils zwei Gruppen eingeteilt: je eine Gruppe mit eher niedrigen Ausprägungen des betreffenden Merkmals (d.h. unterhalb des Mittelwerts) und je eine Gruppe mit eher hohen Ausprägungen (d.h. gleich oder größer als der Mittelwert). Für all diese Kontrastgruppen wurde dann die Rangfolge der Stimuli gemäß der drei abhängigen Variablen ermittelt. Auf diese Weise war es möglich zu überprüfen, ob die Ausprägungen bestimmter Probandenmerkmale eventuell zu einer anderen Rangfolge als der im ersten Analyseschritt ermittelten führten. Das eindeutige Ergebnis: In 18 der insgesamt 20 sich ergebenden Kontrastgruppen wurde die von den Formeln vorhergesagte Rangfolge bestätigt.23 Nicht ganz 22 23

Für die Operationalisierung dieser Rezipientenvariablen vgl. den Anhang. Bei den beiden „Ausreißern“ handelte es sich einerseits um die Gruppe mit den überdurchschnittlichen Bewertungen des politischen Systems sowie die Gruppe mit überdurchschnittlichen Werten bei der wahrgenommenen politischen Sinnhaftigkeit. Hier fiel jeweils der Mittelwert der Köhler-Ansprache geringfügig niedriger aus als der Mittelwert des Merkel-Podcasts „Kinder in Not“. Der Merkel-Podcast „Indienreise“ wurde aber auch in diesen Gruppen im Durchschnitt am schlechtesten von allen drei Stimuli bewertet.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

113

so deutliche Befunde ergeben sich bei einer Betrachtung der Stimulusrangfolgen gemäß den mittleren RTR-Bewertungen. Hier bestätigt sich die vorhergesagte Rangfolge aber immer noch in acht der insgesamt zwölf Kontrastgruppen.24 Teilt man schließlich noch die Schüler-Population anhand der für das Textverständnis relevanten Rezipientenmerkmale in jeweils zwei Kontrastgruppen ein und ermittelt in jeder Kontrastgruppe die Rangfolge der Stimuli (gemäß der durchschnittlichen Paraphrasentest-Ergebnisse), so lässt sich auch hier in allen vier sich ergebenden Kontrastgruppen die Formelprognose bestätigen. Abbildung 3:

Anteil der erfolgreichen Formelprognosen bei den individuellen Verständlichkeitsbewertungen (mittlere RTR-Bewertungen)

100

85,4

57,4 50,0

50

Ränge richtig vorhergesagt Erwartungswert (Zufall)

16,7

0 Studierende (N=47)

Schüler (N=41)

Im dritten Analyseschritt sollte schließlich überprüft werden, ob die Lesbarkeitsformeln möglicherweise nicht nur für Prognosen auf der Aggregatebene, sondern auch für Prognosen auf der Individualebene geeignet sein könnten. Zur Beantwortung dieser Frage wurde auf die mittleren RTR-Bewertungen der Probanden zurückgegriffen, da es bei den verzögerten Bewertungen anhand der eher groben, fünfstufigen Rating-Skala häufig zu gleichen Rängen der Stimuli kam.25 Zwei unterschiedliche Arten von Berechnungen wurden vorgenommen: Zunächst wurde überprüft, bei wie vielen Probanden die Rangfolge der mittleren RTR-Bewertungen der Stimuli erfolgreich anhand der Lesbarkeitsformeln vorhergesagt werden konnte. Das Ergebnis: Bei 57,4 Prozent der Studierenden (die alle drei Stimuli per RTR-Regler bewerteten) und bei 85,4 Prozent der Schüler (die nur zwei Stimuli per RTR24

25

„Ausreißer“ waren hier jeweils die Gruppe mit den niedrigeren bzw. unterdurchschnittlichen Ausprägungen von Bildung (kein Abitur), Sprachkompetenz, objektivem politischen Wissen und Kompetenzwahrnehmung. Auch hier fiel jeweils der Mittelwert der Köhler-Ansprache geringfügig niedriger aus als der Mittelwert des Merkel-Podcasts „Kinder in Not“, während der Merkel-Podcast „Indienreise“ überall die schlechteste Durchschnittsbewertung erhielt. In zukünftigen Untersuchungen sollte versucht werden, diese Problematik zu vermeiden, indem beispielsweise breitere Ratingskalen eingesetzt werden. Auf diese Weise könnten dann auch auf der Mikroebene feinere Verständlichkeitsunterschiede bei den Gesamtbewertungen ermittelt werden, wie es bei den RTR-Messungen bereits möglich war.

114

Jan Kercher

Regler bewerteten) stimmte die individuelle Rangfolge der Verständlichkeitsbewertungen mit den Formelprognosen überein. Stellt man diese Zahlen den Erwartungswerten einer rein zufälligen Verteilung der Ränge gegenüber (16,7 Prozent bei den Studierenden, 50 Prozent bei den Schülern), lässt sich feststellen, dass die Formelwerte zu einer deutlichen Verbesserung der Prognosen führen (vgl. Abbildung 3). 6

Zusammenfassung und Ausblick

Die vorgestellten Untersuchungen sind als erster Schritt auf dem Weg der Erforschung einer bislang wissenschaftlich kaum untersuchten Thematik zu verstehen. Ziel war deshalb insbesondere die Erfüllung einiger zentraler Aufgaben der Grundlagenforschung, genauer: die Definition der zentralen Begrifflichkeiten und Bestimmungsfaktoren des zu untersuchenden Phänomens und eine erste Überprüfung der Validität vorhandener Messinstrumente für den Untersuchungsbereich der Verständlichkeit von Politikern. Die hierbei verwendete Datengrundlage kann, wie bereits weiter oben festgestellt wurde, weder als repräsentativ noch als ausgewogen bezeichnet werden. Allerdings bestand, durch die Zusammensetzung der Probanden aus zwei unterschiedlichen Teilpopulationen (Studierende und Berufsschüler), in der Gesamtpopulation eine als durchaus zufriedenstellend zu bezeichnende Varianz in Bezug auf viele der zentralen Rezipientenmerkmale (Bildung, Sprachkompetenz, Politisierung, Politikverdrossenheit). Als sehr begrenzt muss hingegen die Varianz der Merkmale Parteiidentifikation und Politikerbewertungen sowie die Varianz der kognitiven Rezipientenmerkmale (Bildung, politisches Wissen) innerhalb der Schülerpopulation bezeichnet werden. Gleiches gilt für die Auswahl der untersuchten Kommunikatoren bzw. Politiker. Diese Umstände machen sich vermutlich in den teilweise kaum oder nur knapp signifikanten Ergebnissen bemerkbar und überdecken möglicherweise den Einfluss von Parteiidentifikation und Politikerbewertungen. Die zukünftige Forschung sollte deshalb versuchen, diese Schwächen des vorliegenden Untersuchungsdesigns zu überwinden.26 Vor dem Hintergrund dieser Merkmale der Untersuchungsbasis kann die sehr erfolgreiche Prognose der Stimulus-Rangfolge durch die Lesbarkeitsformeln als durchaus überraschend bezeichnet werden. Der Erfolg dieser Prognose konnte auf der Aggregatebene (durchschnittliche Verarbeitungsreaktionen aller Probanden) für alle drei abhängigen Variablen (RTR-Bewertungen, verzögerte Bewertungen, Verständnistestergebnisse) bestätigt werden. Dass es sich hierbei tatsächlich um den Ausdruck überindividueller Einflüsse auf die Verarbeitungsreaktionen der Probanden handelte, konnte durch zwei weitere Ergebnisse untermauert werden: Zum einen bestätigte sich die Stimulus-Rangfolge der Formelprognose in der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Kontrastgruppen. Dies gilt für alle drei abhängigen Variablen, besonders deutlich jedoch in Bezug auf die verzögerten Bewertungen der Verständlichkeit. Darüber hinaus ermittelte der dritte Analyseschritt auch eine gewisse Prognosekraft der Lesbarkeitsformeln auf der Individualebene (individuelle 26

In diesem Zusammenhang sollte auch noch auf die möglichen Reihenfolgeneffekte bei der StudierendenErhebung hingewiesen werden. Angesichts der Ergebnisse in der Schüler-Erhebung (bei der Reihenfolgeneffekte methodisch ausgeglichen wurden) scheinen solche Effekte jedoch unwahrscheinlich.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

115

Verarbeitungsreaktionen jedes Probanden), wobei hier aufgrund der verwendeten Erhebungsinstrumente nur aussagekräftige Ergebnisse in Bezug auf die RTR-Bewertungen möglich waren. Dennoch handelt es sich hierbei um ein bemerkenswertes Ergebnis, da es über den eigentlichen Anspruch der Formeln (Prognosen auf der Aggregatebene) hinausgeht. Zusammenfassend ergeben sich also eine ganze Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass objektiv messbare Textmerkmale, wie sie von den Formeln erfasst werden, für eine Messung der Politikerverständlichkeit durchaus geeignet sind.27 Diese Ergebnisse sind umso wichtiger, vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass bislang fraglich war, ob die Annahmen der Lesbarkeitsforschung überhaupt auf die auditive bzw. audiovisuelle Rezeption von Sprache übertragbar sind (vgl. z.B. Segui 1994; Urban 1977: 173ff.). Dass alle Stimuli im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen audiovisuell rezipiert wurden, bestätigt die wenigen bislang vorhandenen Belege für solch eine Übertragbarkeit der Prognoseinstrumente der Lesbarkeitsforschung. So stellt beispielsweise Trenaman (1967: 79) fest: „Readability formulae have been shown to predict listening comprehension, and factors that operate in these two media of print and radio have been shown to apply also to television and film“ (vgl. ähnlich auch Fleck et al. 1976: 71ff.). Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Selbst Lesbarkeitsforscher schränkten den Gültigkeitsbereich ihrer Grundannahmen teilweise dahingehend ein, dass die Prognosen der Lesbarkeitsformeln insbesondere bei Rezipienten mit eher geringer Lese- bzw. Sprachkompetenz zutreffend seien (vgl. Chall/Dale 1995: 111f.). Die vorliegenden Ergebnisse lassen jedoch darauf schließen, dass zumindest die Verständlichkeitsbewertungen bei Rezipienten mit außergewöhnlich hoher Sprachkompetenz von denselben Textmerkmalen beeinflusst werden wie bei Rezipienten mit deutlich geringerer Sprachkompetenz.28 Offensichtlich scheinen die Rezipientenmerkmale Bildung, Sprachkompetenz, politisches Wissen, politisches Involvement und Politikverdrossenheit v.a. einen Einfluss auf das mittlere Niveau der individuellen Verständlichkeitsbewertungen bzw. der Verständnisleistungen zu haben, während die Textmerkmale eher für die Verarbeitungsunterschiede zwischen den Stimuli verantwortlich sind. Sollten sich diese Ergebnisse in zukünftigen Untersuchungen bestätigen, so könnte dies zu einer „Versöhnung“ der älteren und neueren Ansätze der Verständlichkeitsforschung führen: Denn offensichtlich scheint der Einfluss von Rezipientenmerkmalen auf die Verständlichkeit, anders als vielfach behauptet, nicht unbedingt im Widerspruch zur These überindividueller Texteinflüsse zu stehen. Es stellt sich abschließend die Frage, wie man die beachtliche Prognosekraft eines solch schlichten Instruments wie der Lesbarkeitsformeln angesichts der Komplexität des Phänomens Verständlichkeit erklären kann. Nach Best (2006: 22ff.) lässt sich belegen, dass die meisten Variablen der Wort- und Satzschwierigkeit eine hohe Korrelation untereinander aufweisen (vgl. ähnlich auch Amstad 1978: 49; Bamberger/Vanecek 1984: 39ff.; Chall/Dale 1995: 82f.; Mrazek 1979: 39ff.). Die Folge: „Lesbarkeitsformeln, die sich auf Satz- und Wortlänge stützen, messen also aufgrund der vielen Interaktionen zwischen sprachlichen Entitäten indirekt wesentlich mehr, als in den Formeln direkt enthalten ist. 27

28

In Folgestudien könnten zudem weitere, anspruchsvollere Textparameter analysiert werden, die von der jüngeren Lesbarkeitsforschung entwickelt wurden und den Textvariablen der klassischen Lesbarkeitsforschung möglicherweise überlegen sind. Beispiele hierfür wären der Anteil der Inhaltswörter und die Länge der Satzpakete bzw. -phrasen (vgl. Harrison/Bakker 1998). Zu ähnlichen Befunden gelangen auch schon Bormuth (1966: 125f.) und Früh (1980: 218).

116

Jan Kercher

Dies dürfte das eigentliche Geheimnis für den Erfolg der Lesbarkeitsformeln sein“ (Best 2006: 28). Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommen Bamberger und Vanecek (1984: 47) auf der Grundlage einer sehr umfangreichen Studie zur Textverständlichkeit: Demnach sind die Lesbarkeitsformeln nicht nur ein Indikator für die syntaktische Schwierigkeit eines Textes, sondern auch für seine (semantische, thematische, und gliederungsbedingte) Gesamtschwierigkeit.29 Sollten sich die Befunde der hier beschriebenen Analysen also in weiteren Untersuchungen replizieren lassen, könnten die Bedenken bezüglich der Validität eines textbasierten und damit objektiven und ökonomisch einsetzbaren Instruments zur Prognose der Politikerverständlichkeit (als Ersatz für die sehr aufwändige direkte Messung an Probanden) ausgeräumt und so die Voraussetzung für eine weitere Instrumententwicklung und -optimierung geschaffen werden. Auf diese Weise könnte schließlich ein valides „Proxy-Messinstrument“ entstehen, das es ermöglichen würde, Politikerverständlichkeit als unabhängige Variable in größer angelegten Folgestudien zu untersuchen; ein Ausblick, der angesichts der eingangs erläuterten Problemstellungen nicht nur für Politik- und Kommunikationswissenschaft, sondern auch für die politische Praxis von Bedeutung sein dürfte. Literatur Amstad, Toni (1978): Wie verständlich sind unsere Zeitungen? Zürich: Studenten-Schreib-Service. Ballstaedt, Steffen-Peter/Mandl, Heinz/Schnotz, Wolfgang/Tergan, Sigmar-Olaf (1981): Texte verstehen, Texte gestalten. München u.a.: Urban & Schwarzenberg. Bamberger, Richard/Vanecek, Erich (1984): Lesen – Verstehen – Lernen – Schreiben. Die Schwierigkeitsstufen von Texten in deutscher Sprache. Wien: Jugend und Volk. Bayer, Klaus/Seidel, Brigitte (1979): Verständlichkeit. In: Praxis Deutsch 36, 12-23. Best, Karl-Heinz (2006): Sind Wort- und Satzlänge brauchbare Kriterien der Lesbarkeit von Texten? In: Wichter, Sigurd/Busch, Albert (Hrsg.) (2006): Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Frankfurt a.M. u.a.: Lang, 21-31. Björnsson, Carl H. (1968): Lesbarkeit durch Lix. Stockholm: Pedagogiskt Centrum. Bormuth, John R. (1966): Readability. A New Approach. In: Reading Research Quarterly 1, 79-132. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller Warren E./Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York u.a.: Wiley. Chall, Jeanne S./Dale, Edgar (1995): Readability Revisited. The New Dale-Chall Readability Formula. Brookline: Brookline Books. Chen, Kevin (1992): Political Alienation and Voting Turnout in the United States, 1960-1988. San Francisco: Mellen Research University Press. Dale, Edgar/Chall, Jeanne S. (1948): A Formula for Predicting Readability. In: Educational Research Bulletin 27, 11-20. Dickes, Paul/Steiwer, Laure (1977): Ausarbeitung von Lesbarkeitsformeln für die deutsche Sprache. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie IX, 20-28. Fleck, Florian H./Bosshart, Louis/Anderau, Willi/Pfister, Christoph (1976): Die Wahlsendungen zu den Nationalratswahlen vom Herbst 1971. Eine Aussagen-Analyse der deutschsprachigen Sendungen des Fernsehens der deutschen und rätoromanischen Schweiz. Freiburg: Universitätsverlag Freiburg (2. Aufl.). Flesch, Rudolf (1948): A New Readability Yardstick. In: Journal of Applied Psychology 32, 221-233.

29

Die Gesamtschwierigkeit eines Textes wurde anhand eines Lesbarkeitsprofils gemessen, das 35 sprachlichsyntaktische, inhaltliche und organisatorische Merkmale erfasste.

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

117

Früh, Werner (1980): Lesen, Verstehen, Urteilen. Untersuchungen über den Zusammenhang von Textgestaltung und Textwirkung. Freiburg/München: Karl Alber. Grabowski, Joachim (1991): Der Propositionale Ansatz der Textverständlichkeit. Kohärenz, Interessantheit und Behalten. Münster: Aschendorff. Groeben, Norbert (1972): Die Verständlichkeit von Unterrichtstexten. Dimensionen und Kriterien rezeptiver Lernstadien. Münster: Aschendorff. Groeben, Norbert (1976): Verstehen, Behalten, Interesse. Übereinstimmende Antworten und kontroverse Fragen zur Beziehung von Textstruktur, Textverständnis und Lerneffekt. In: Unterrichtswissenschaft 4, 128-142. Groeben, Norbert (1982): Leserpsychologie. Textverständnis – Textverständlichkeit. Münster: Aschendorff. Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (2. Aufl.). Harrison, Sandra/Bakker, Paul (1998): Two New Readability Predictors for the Professional Writer. Pilot Trials. In: Journal of Research in Reading 21, 121-138. Janis, Irving L./Hovland, Carl I. (1959): An Overview of Persuasibility Research. In: Janis, Irving L./Hovland, Carl I. (Hrsg.) (1959): Personality and Persuasibility. New Haven u.a.: Yale University Press, 1-26. Jussen, Martin J. (1983): Verstehen geschriebener Sprache. Ein Beitrag zur empirischen Sprachdidaktik. Berlin: Carl Marhold. Kintsch, Walter/van Dijk, Teun A. (1978): Toward a Model of Discourse Comprehension and Production. In: Psychological Review 85, 363-394. Kintsch, Walter/Vipond, Douglas (1979): Reading Comprehension and Readability in Educational Practice and Psychological Theory. In: Nilsson, Lars-Göran (Hrsg.) (1979): Perspectives on Memory Research. Hillsdale, NJ: Erlbaum, 329-365. Kintsch, Walter (1998): Comprehension. A Paradigm for Cognition. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Klare, George R. (1963): The Measurement of Readability. Ames, IA: Iowa State University Press. Klare, George R. (1974): Assessing readability. In: Reading Research Quarterly 10, 62-102. Klare, George R. (1976): A Second Look at the Validity of Readability Formulas. In: Journal of Reading Behavior 8, 129-152. Klein, Josef (1996): Dialogblockaden. Dysfunktionale Wirkungen von Sprachstrategien auf dem Markt der politischen Kommunikation. In: Klein, Josef/Diekmannshenke, Hajo (Hrsg.) (1996): Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation. Berlin/New York: de Gruyter, 3-29. Langer, Inghard/Schulz von Thun, Friedemann/Tausch, Reinhard (1974): Verständlichkeit in Schule, Verwaltung, Politik und Wissenschaft. München/Basel: Reinhardt. Lehnartz, Sascha (2008): Wir müssen reden. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 23 (8. Juni), 55. McGuire, William J. (1969): The Nature of Attitudes and Attitude Change. In: Lindzey, Gardner/Aronson, Elliot (Hrsg.) (1969): Handbook of Social Psychology, Vol. III. The Individual in a Social Context. Cambridge, MA: Addison-Wesley, 136-314. Miller, James R./Kintsch, Walter (1980): Readability and Recall of Short Prose Passages. A Theoretical Analysis. In: Journal of Experimental Psychology: Human Learning and Memory 6, 335-354. Mrazek, Joachim (1979): Verständnis und Verständlichkeit von Lesetexten. Frankfurt a.M.: Peter D. Lang. Müller, Ulrich (2007): Ohne Vertrauen geht es nicht. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 18 (6. Mai), 15. Niecke, Marco (2006): Wer versteht den Bundeskanzler? Die Verständlichkeit der Großen Regierungserklärungen. Stuttgart: Ibidem.

118

Jan Kercher

Raatz, Ulrich/Klein-Braley, Christine (1983): Ein neuer Ansatz zur Messung der Sprachleistung. Der C-Test: Theorie und Praxis. In: Horn, Ralf/Ingenkamp, Karlheinz/Jäger, Reinhold S. (Hrsg.) (1983): Tests und Trends. Jahrbuch der Pädagogischen Diagnostik (Bd. 3). Weinheim/Basel: Beltz, 107-138. Sarcinelli, Ulrich (1996): Politische Kommunikation in der Medienöffentlichkeit. Kommunikationsstrukturelle Bedingungen politischer Realitätsvermittlung. In: Klein, Josef/Diekmannshenke, Hajo (Hrsg.) (1996): Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation. Berlin/New York: de Gruyter, 31-47. Schiefele, Ulrich (1996): Motivation und Lernen mit Texten. Göttingen u.a.: Hogrefe. Schnotz, Wolfgang (1987): Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (Forschungsbericht Nr. 43). Schnotz, Wolfgang (1994): Aufbau von Wissensstrukturen. Untersuchungen zur Kohärenzbildung beim Wissenserwerb mit Texten. Weinheim: Beltz. Segui, Juan (1994): Language Perception in Visual and Auditory Modalities. Similarities and Differences. In: d’Ydewalle, Géry/Eelen, Paul/Bertelson, Paul (Hrsg.) (1994): International Perspectives on Psychological Science, Vol. 2. The State of the Art. Hove/Hillsdale: Erlbaum, 119-134. Siegel, Arthur I./Siegel, Estelle (1953): Flesch Readability Analysis of the Major Pre-election Speeches of Eisenhower und Stevenson. In: The Journal of Applied Psychology 37, 105-106. Teigeler, Peter (1968): Verständlichkeit und Wirksamkeit von Sprache und Text. Stuttgart: Nadolski. Tergan, Sigmar-Olaf (1980): Ist Textverständlichkeit gleich Textverständlichkeit? Überprüfung der Vergleichbarkeit zweier Verständlichkeitskonzepte. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (Forschungsbericht Nr. 7). Trenaman, Joseph M. (1967): Communication and Comprehension. London: Longmans. Urban, Klaus S. (1977): Verstehen gesprochener Sprache. Düsseldorf: Schwann. Van Dijk, Teun A./Kintsch, Walter (1983): Strategies of Discourse Comprehension. New York u.a.: Academic Press. Vetter, Angelika (1997): Political Efficacy. Alte und neue Messmodelle im Vergleich. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, Heft 1, 53-73. Zaller, John R. (1992): The Nature and Origins of Mass Opinion. Cambridge: Cambridge University Press.

Anhang: Operationalisierung der Untersuchungsvariablen Abhängige Variablen (Textverarbeitungsreaktionen) Mittlere RTR-Bewertungen Durchschnitt aller während der Betrachtung eines experimentellen Stimulus per RTR-Gerät abgegebenen Bewertungen anhand der über den Drehregler bestimmbaren elfstufigen Skala (0 „überhaupt nicht verständlich“ bis 10 „sehr verständlich“). Die Bedienung des Drehreglers wurde dabei sekundengenau gemessen, d.h. für jeden Stimulus standen ca. 200 (Merkel-Podcasts) bzw. 300 (Weihnachtsansprache von Köhler) Einzelwerte zur Verfügung. Die Probanden waren vorab sowohl mündlich als auch schriftlich (zusätzliche Erleichterung durch schematische Darstellung des RTR-Geräts) in die Bedienung der RTR-Geräte eingewiesen worden und konnten diese an einem kurzen, neutralen Test-Video (Ausschnitt aus der Sendung „Quarks & Co“) einüben. Die zentrale Bedienungsanweisung lautete, mit Hilfe des Drehreglers anzugeben, wie verständlich die Probanden den jeweiligen Sprecher/die jeweilige Sprecherin gerade fanden. Zudem wurden die Probanden explizit darauf hingewiesen, eine möglichst subjektive Bewertung der Verständlichkeit vorzunehmen: „Nach welchen Kriterien Sie die Verständlichkeit des Sprechers bewerten, ist allein Ihnen überlassen. Wichtig ist nur, dass Sie immer bewerten, wie verständlich der Sprecher für Sie ganz persönlich ist. Nicht bewerten

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

119

sollen Sie hingegen, wie verständlich der Sprecher sein sollte oder wie verständlich der Sprecher vermutlich für viele andere Zuschauer ist.“ (Hervorhebungen im Original) Gesamtbewertungen der Verständlichkeit Fragewortlaut: „Wie verständlich fanden Sie den Video-Podcast von Angela Merkel/die Weihnachtsansprache von Horst Köhler insgesamt?“; Antwortausprägungen (endpunktbenannte 5er-Skala): 1 „überhaupt nicht verständlich“ bis 5 „sehr verständlich“. Verständnistests Zur Erstellung der Paraphrasentests wurden zunächst alle Stimulustexte Satz für Satz paraphrasiert, wobei zu jeder echten Paraphrase immer auch eine „falsche“ Paraphrase gebildet wurde, die den Inhalt des Textes verfälscht wiedergab. Jedem Nachbefragungsbogen wurden dann zufällig fünf dieser echten bzw. falschen Paraphrasen zugeordnet. Die Probanden wurden dann im Fragebogen gebeten, bei jeder Paraphrase zu beurteilen, ob diese Aussage in anderen Worten so im jeweiligen Stimulus vorgekommen war oder nicht.

Unabhängige Variablen: Quantitative Textparameter Die Stimulustexte wurden mit Hilfe der Analyse-Software „TextLab“ (siehe auch www.comlab-ulm.de) auf die von den ausgewählten Formeln verwendeten Textparameter hin untersucht. Folgende Textparameter werden dabei von den Formelgleichungen berücksichtigt: Amstad (1978): durchschnittliche Wortlänge in Silben, durchschnittliche Satzlänge in Wörtern; Bamberger/Vanecek (1984): Anteil der Drei- und Mehrsilber, durchschnittliche Satzlänge in Wörtern; Björnsson (1968): Anteil der Wörter mit mehr als sechs Buchstaben, durchschnittliche Satzlänge in Wörtern; Dickes/Steiwer (1977): durchschnittliche Wortlänge in Buchstaben, durchschnittliche Satzlänge in Wörtern, Type-Token-Ratio (unterschiedliche Wörter/alle Wörter); Flesch (1948): durchschnittliche Wortlänge in Silben, durchschnittliche Satzlänge in Wörtern; Jussen (1983): durchschnittliche Wortlänge in Buchstaben, durchschnittliche Satzlänge in Wörtern, Anteil der Adjektive.

Unabhängige Variablen: Rezipientenmerkmale Bildung Fragewortlaut: „Welchen höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss haben Sie?“; Antwortausprägungen: 1 „kein Schulabschluss“, 2 „Hauptschule“, 3 „Realschule/mittlere Reife“, 4 „Fachabitur“, 5 „Abitur“. Sprachkompetenz Grundlage waren die Ergebnisse des C-Tests, der im Ausfüllen dreier Lückentexte bestand, bei denen jedes zweite Wort nicht vollständig angegeben war und deshalb ergänzt werden musste. Auf diese Weise mussten insgesamt 60 (3 x 20) Lücken ausgefüllt werden, auf der Grundlage der richtig ausgefüllten Lücken wurde ein additiver Index mit dem Wertebereich 0-60 erstellt (1 Punkt pro richtig ausgefüllter Lücke). Politisches Wissen Das objektive politische Wissen wurde anhand von insgesamt 15 Fragen zum politischen Begriffswissen, fünf Fragen zum Politiker-Wissen, drei Fragen zum Parteien- und Issuewissen sowie sechs

120

Jan Kercher

Fragen zum politischen Faktenwissen getestet. Das subjektive politische Wissen wurde durch jeweils eine Frage zur Sicherheit bei der Beantwortung der oben aufgeführten Wissensfragen erhoben („Wie sicher sind Sie sich bei Ihrer Antwort?“ 1 „überhaupt nicht sicher“, 2 „eher unsicher“, 3 „eher sicher“, 4 „sehr sicher“). Politisches Involvement Für die Operationalisierung des politischen Involvement wurden zwei Fragen zu einem additiven Index verrechnet: zum einen die Frage nach dem allgemeinen politischen Interesse („Einmal ganz allgemein gesprochen: Wie stark interessieren Sie sich für Politik?“ 1 „überhaupt nicht“ bis 5 „sehr stark“), zum anderen die Stellungnahme zur Aussage „Was in der Politik vorgeht, ist mir sehr wichtig.“ (Bewertung durch endpunktbenannte Skala: 1 „stimme überhaupt nicht zu“ bis 5 „stimme voll und ganz zu“). Informationsorientierte Mediennutzung Die informationsorientierte Mediennutzung wurde durch die Frage erhoben, wie häufig bestimmte Quellen (Fernsehen, Internet, Radio, Zeitung, Gespräche) genutzt werden, um sich über das aktuelle politische Geschehen zu informieren (1 „nie/selten“, 2 „gelegentlich“, 3 „häufig“, 4 „täglich/fast täglich“). Politikverdrossenheit Grundlage für die Messung der Politikverdrossenheit war zum einen das Konzept der political efficacy. Diese wurde anhand der durchschnittlichen Bewertung von insgesamt sechs Aussagen erhoben (vgl. deutsche Items bei Vetter 1997), wobei drei dieser Aussagen sich auf die internal efficacy (Kompetenzwahrnehmung) und die übrigen drei sich auf die external efficacy (Reponsivitätsüberzeugung) bezogen. Darüber hinaus wurde die Bewertung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland bzw. die Systemverdrossenheit („Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – ganz allgemein gesprochen – mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland?“ 1 „überhaupt nicht zufrieden“ bis 5 „sehr zufrieden“) sowie die Bewertung der im Bundestag vertretenen Parteien (11er-Skala) und einiger prominenter Politiker dieser Parteien (Merkel, Köhler, Steinmeier, Beck, Lafontaine, Westerwelle, Künast, Oettinger) abgefragt (7er-Skala). Die jeweils beste dieser Parteienund Politikerbewertungen diente dann als Indikator der Parteien- bzw. Politikerverdrossenheit. In Anlehnung an Chens Verdrossenheitsdimension political meaninglessness (vgl. Chen 1992) wurde zudem ein Index der „wahrgenommenen politischen Sinnhaftigkeit“ erstellt. Hierfür wurde der Mittelwert der Bewertungen der drei Aussagen „Die Mechanismen der Politik sind mir häufig ein Rätsel.“, „Die ganze Politik ist so kompliziert, dass jemand wie ich nicht versteht, was vorgeht.“ und „Wenn Politiker reden, versteht man als normaler Bürger fast nichts.“ berechnet (Bewertung durch endpunktbenannte Skala: 1 „stimme überhaupt nicht zu“ bis 5 „stimme voll und ganz zu“). Parteiidentifikation Hier wurden die Standardfragewortlaute verwendet: „Viele Leute in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher?“ sowie (bei positiver Beantwortung): „Wie stark oder wie schwach neigen Sie, alles zusammengenommen, dieser Partei zu?“ (Antwort durch endpunktbenannte Skala: 1 „sehr schwach“ bis 5 „sehr stark“). Für die Variablenkonstruktion wurden die Parteianhänger in konservatives Lager (CDU, CSU, FDP) und linkes Lager (SPD, Grüne, Linkspartei) eingeteilt. Anhänger des konservativen Lagers erhielten, je nach Stärke der Parteiidentifikation Werte zwischen 1 (sehr

Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker

121

schwach) und 5 (sehr stark), Anhänger des linken Lagers Werte zwischen -1 (sehr schwach) und -5 (sehr stark). Ungebundene und Anhänger sonstiger Parteien erhielten den Wert 0. Politikerbewertungen Gesamtbewertungen: Bewertungen von Angela Merkel bzw. Horst Köhler auf einem siebenstufigen Sympathieskalometer (1 „Halte überhaupt nichts von diesem Politiker“ bis 7 „Halte sehr viel von diesem Politiker“). Image-Bewertungen: Durchschnittliche Bewertung der folgenden sechs Eigenschaften von Angela Merkel und Horst Köhler auf einer endpunktbenannten Skala von -3 (trifft überhaupt nicht zu) bis +3 (trifft voll und ganz zu): kompetent, glaubwürdig, kann gut reden, volksnah, drückt sich verständlich aus, sympathisch.

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung: Lassen sich die Einstellungen der Bevölkerung durch Framing verschieben? Thorsten Faas, Harald Schoen

1

Einleitung

Eine der am häufigsten und heftigsten diskutierten Streitfragen des Wahlkampfes 2005 war die künftige Höhe des Mehrwertsteuersatzes. Die Unionsparteien zogen mit dem Vorhaben einer Mehrwertsteueranhebung in die Kampagne: „Wir werden die Lohnzusatzkosten dauerhaft senken und verbinden dies mit zukunftsträchtigen Strukturveränderungen in den sozialen Sicherungssystemen. Im Gegenzug erhöhen wir die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent“ (CDU/CSU 2005: 13). Die SPD mit Bundeskanzler Schröder an der Spitze lehnte diesen Plan entschieden ab, und zwar mit folgender Begründung: „Eine Anhebung der Mehrwertsteuer würde angesichts der derzeit schwachen Binnennachfrage in die falsche Richtung weisen und die sich abzeichnende wirtschaftliche Erholung gefährden“ (SPD 2005: 39). Doch nicht nur die SPD, sondern auch der seinerzeit von der Union gewünschte liberale Koalitionspartner mochte sich der Forderung von CDU und CSU nicht anschließen: „Die FDP spricht sich gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Reform der direkten Steuern oder anderer indirekter Steuern aus. (…) Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer würde den Verbrauch und das Wachstum dämpfen und damit die Arbeitslosigkeit weiter erhöhen“ (FDP 2005: 9). In dieser Sachfrage wurde die Auseinandersetzung also nicht entlang, sondern quer zu den im Wahlkampf propagierten koalitionären Fronten geführt. Doch nicht allein das ist bemerkenswert, vielmehr zeigen die Zitate auch, dass Verfechter und Gegner einer Mehrwertsteuererhöhung sich verschiedener Argumentationsmuster bedienten: Während die Befürworter sie als Mittel zum Umbau der Sozialversicherungssysteme beschrieben, stellten sie die Gegner als eine Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung dar.1 Die konkurrierenden Parteien gingen also weniger auf die Argumente der Gegenseite ein, sondern versuchten in erster Linie, eine bestimmte (nämlich ihre) Sichtweise auf die Mehrwertsteuerfrage durchzusetzen. Am Ende, so die implizite Annahme der Parteien und ihrer Strategen, würden Wahlberechtigte, die ihre Problemdefinition akzeptierten, auch ihr daraus abgeleitetes Votum zur Höhe des zukünftigen Mehrwertsteuersatzes unterstützen. Damit bedienten sich die Parteien im Wahlkampf 2005 einer sogenannten FramingStrategie. Wie im Beispiel dargestellt, fußt eine solche Strategie auf der Prämisse, dass eine politische Frage unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann und das Urteil über einen Policy-Vorschlag mit dem gewählten Blickwinkel variiert. Politische Akteure 1

Nur am Rande sei auf die bemerkenswerte Tatsache verwiesen, dass die Unionsparteien – entgegen den weit verbreiteten Parteiimages – sozialpolitisch, die Sozialdemokraten dagegen wirtschaftspolitisch argumentierten.

124

Thorsten Faas, Harald Schoen

betten eine Sachfrage in einen bestimmten Interpretationsrahmen ein, der beispielsweise eine Problembeschreibung, Aussagen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge oder einschlägige moralische Normen umfassen kann, und versuchen diese Sichtweise in der Öffentlichkeit durchzusetzen (vgl. etwa Entman 1993; Gamson/Lasch 1983; Gamson/Modigliani 1987, 1989). Ziel dieser Strategie ist es, mit der Akzeptanz des Interpretationsrahmens die öffentliche Zustimmung für damit verknüpfte Policy-Vorschläge zu steigern. Solche Versuche gelten als ausgesprochen wirkungsvoll (vgl. etwa Zaller 1992: 96) und haben in der Folge zu ernsthaften Bedenken geführt, politische und andere Eliten könnten mit Hilfe der richtigen Strategie die öffentliche Meinung oder die Ergebnisse von Wahlen beinahe beliebig manipulieren und damit das Demokratiepostulat ad absurdum führen (vgl. etwa Entman 1993; Riker 1986). Gleichwohl sind gerade in jüngerer Zeit die Stimmen lauter geworden, die diese Strategie als wesentlich voraussetzungsreicher ansehen, als es euphorische Verfechter und kulturkritische Skeptiker postulieren (vgl. etwa Chong/Druckman 2007a; Kinder 2007). Demnach ist der Erfolg solcher Strategien keineswegs garantiert, sondern hängt von verschiedenen Faktoren ab, weshalb in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen ist, wie erfolgreich ein Framing-Versuch sein kann und letztlich tatsächlich ist. An dieser Stelle setzt unser Beitrag an. Wir untersuchen Framing-Effekte in Deutschland am Beispiel zweier Themen, bei denen aus theoretischen Gründen Framing-Strategien unterschiedlich erfolgreich sein sollten. Dazu greifen wir zunächst das Framing-Argument allgemein auf und diskutieren den Forschungsstand. Auf dieser Grundlage entwickeln wir Hypothesen zu den ausgewählten Beispielen. Anschließend untersuchen wir anhand von experimentellen Daten, inwieweit Framing-Effekte tatsächlich in einem experimentellen Setting zu beobachten sind. Abschließend fassen wir die Ergebnisse kurz zusammen und diskutieren sie. 2

Framing und Framing-Effekte

Die Forschung zu politischen Einstellungen hat reichlich Evidenz gegen die Vorstellung zusammengetragen, Bürger besäßen zu jeder beliebigen politischen Frage Einstellungen, die in Interviews lediglich erhoben werden müssten. Converse (1964, 1970) zeigte, dass die Interviewangaben zu Policy-Fragen über die Zeit hinweg erheblich variieren. Er folgerte daraus, dass wohl doch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung auskristallisierte Einstellungen besitze, während die übrigen Personen spontan Antworten konstruierten und damit eher non-attitudes denn fundierte Einstellungen zu Protokoll gäben. Diesen Gedanken radikalisiert die jüngere Forschung, indem sie annimmt, dass praktisch kein Mensch zu politischen Fragen auskristallisierte Einstellungen besitze, die er aus seinem Langzeitgedächtnis abrufen und äußern könne (vgl. etwa Zaller 1992; siehe auch Alvarez/Brehm 2002). Vielmehr besäßen Menschen zahlreiche Eindrücke und Überlegungen, aus denen sie Einschätzungen zu politischen Fragen, sei es in einem Interview, sei es in Alltagssituationen, momentan konstruierten. In dieser Logik kann man eine geäußerte Meinung als Summe der einzelnen Bewertungen der mit dem Einstellungsobjekt subjektiv verknüpften Attribute auffassen (etwa Fishbein 1965; Chong/Druckman 2007a). Beispielsweise wird eine Person, die mit einer Mehrwertsteuererhöhung eine negativ bewertete Einbuße an persönlicher Kaufkraft,

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

125

eine Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums oder eine Verletzung des hochgeschätzten Werts „soziale Gerechtigkeit“ verbunden sieht, diese Idee negativ bewerten. Unterschiede in der Gesamtbewertung des Objekts „Mehrwertsteuererhöhung“ würden auf diesem Wege aus Differenzen in der Bewertung von einzelnen damit verbundenen Attributen resultieren. Dies ist aber nicht der einzig mögliche Mechanismus, der geäußerten Einstellungen (einschließlich möglicher intra- wie interindividueller Unterschiede) zugrunde liegen kann. Vielmehr können auch Unterschiede in der Stärke der Verknüpfungen zwischen einzelnen Bewertungsdimensionen und dem Einstellungsobjekt zu Unterschieden in der Gesamtbilanz führen. Um im oben skizzierten Beispiel zu bleiben: Personen mögen der Auffassung sein, dass die Mehrwertsteuererhöhung schädlich für den Konsum ist und Spielräume für die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen schaffe. Gleichwohl werden sich ihre Gesamteinstellungen dazu fundamental in Abhängigkeit davon unterscheiden, ob sie dem einen oder dem anderen Aspekt mehr Bedeutung beimessen. Das wirft unmittelbar die Frage auf, welche Bewertungsdimensionen eine Person im konkreten Fall wie stark berücksichtigt. Zunächst hängt dies natürlich von ihrer individuellen kognitiven Architektur ab. Menschen erwerben im Laufe der Zeit Vorstellungen davon, welche Objekte zusammengehören und wie sie zu bewerten sind. Ohne weitere äußere Anreize wird eine Person die Bewertungsdimensionen entsprechend dieser Gewichtung, also ihrer persönlichen Definition der Situation (vgl. etwa Goffman 1974), in ihre Bewertung einfließen lassen. So wird eine Person, der gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge fremd sind, die aber aus ihrem Alltagsleben weiß, dass die Mehrwertsteuer ihre Konsummöglichkeiten einschränkt, allein diesen Gesichtspunkt berücksichtigen, wenn sie sich ein – im Ergebnis negatives – Urteil über die Mehrwertsteuererhöhung bildet. Diesem Argument folgend unterscheiden sich Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen in den verwendeten Bewertungsdimensionen über die Zeit hinweg stabil. Wäre allerdings alles dauerhaft stabil, könnte es keine sinnvollen Framing-Strategien von politischen Akteuren geben. Die Tatsache aber, dass es entsprechende Versuche gibt, deutet darauf hin, dass auch kurzfristige Änderungen von Bewertungsdimensionen (und ihrer Gewichtung) und letztlich der Meinungen bei ein- und derselben Person erwartet worden sind. Der Einfluss von Bewertungsdimensionen kann situativ variieren. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet interpersonale oder massenmediale Kommunikation. Sie kann die Verknüpfung einer Bewertungsdimension mit einem Objekt im Langzeitgedächtnis etablieren oder verstärken, sie dadurch leichter zugänglich machen und damit deren Gewicht bei der Beurteilung des Einstellungsobjekts steigern (vgl. etwa Zaller 1992). Wird eine Person darauf aufmerksam gemacht, dass die Anhebung des Mehrwertsteuersatzes mit einem positiv bewerteten Rückgang der Lohnzusatzkosten einhergehen und ihren Arbeitsplatz sichern werde, wird dieser Gesichtspunkt im Langzeitgedächtnis leichter zugänglich und daher bei der Bewertung über eine Mehrwertsteuererhöhung eine größere Rolle spielen.2 Im Ergebnis wird das Urteil über diesen Policy-Vorschlag positiver ausfallen. In einer anderen Argumentation wirkt Framing nicht allein dadurch, dass es Konzepte im Langzeitgedächtnis leichter zugänglich macht, also zum „Top of the Head“ fördert. Sie nimmt vielmehr an, dass Personen bei der Urteilsbildung bewusst die Wichtigkeit der zu2

An dieser Stelle wird die enge Verwandtschaft des Framing- zum Priming-Konzept deutlich.

126

Thorsten Faas, Harald Schoen

gänglichen Argumente abwägen und eine entsprechende Gewichtung vornehmen. Dementsprechend könnte Framing dazu führen, dass die subjektive Relevanz der zugänglichen Überlegungen zu einer Frage verändert wird (vgl. etwa Chong/Druckman 2007a; Nelson et al. 1997; Scheufele 2000). Wenngleich beide Argumentationsmuster unterschiedliche Annahmen über den Mechanismus der politischen Urteilsbildung treffen, so stimmen sie doch darin überein, dass Kommunikationsinhalte die subjektive Definition der relevanten Bewertungsstandards und damit das Gesamturteil über ein Einstellungsobjekt beeinflussen können. Solche Möglichkeiten wiederum sprechen für ein erhebliches Einflusspotenzial von politischen Eliten, Massenmedien und anderen gesellschaftlichen Akteuren. Sie können bestimmte Interpretationsrahmen oder Frames propagieren, die etwa mit historischen Analogien, Annahmen über Ursachen und Wirkungen oder einschlägigen Normen und Symbolen zu definieren versuchen, worum es bei einer politischen Frage „tatsächlich“ geht (vgl. etwa Entman 1993; Gamson/Modigliani 1987: 143, 1989: 3f.). Letztlich soll so bestimmten Überlegungen zu größerem Einfluss auf die Meinungsbildung verholfen werden. Da eine bestimmte Problemdefinition dazu passende Lösungsvorschläge favorisiert, können Eliten so im Endeffekt die Entscheidung für oder gegen Policy-Vorschläge und damit auch die öffentliche Meinung steuern. Die Forschung hat zahlreiche Beispiele für gelungenes Issue-Framing vorgelegt.3 So konnten in den USA Framing-Effekte auf die Haltung zu den Staatsausgaben, zu affirmative action sowie zu den Schusswaffengesetzen nachgewiesen werden (vgl. etwa HaiderMarkel/Joslyn 2001; Jacoby 2000; Kinder/Sanders 1990). Überdies zeigen Berinsky und Kinder (2006), dass bereits Veränderungen in der argumentativen Struktur eines Textes merkliche Effekte auf policy-bezogene Einschätzungen haben können. In ihrer Gesamtheit trugen diese Framing-Analysen zu dem Eindruck bei, Bürger seien politisch hochgradig manipulierbar und praktisch Marionetten an den Fäden politischer und medialer Eliten, was das Demokratiepostulat eher als eine Karikatur denn als eine Beschreibung der politischen Willensbildung in modernen Demokratien erscheinen lässt (vgl. etwa Bartels 2003; Entman/Herbst 2001). Allerdings scheint die Forschung mit diesen weitreichenden Schlussfolgerungen über das Ziel hinausgeschossen zu sein, wird doch in jüngerer Zeit die Aussagekraft früherer Arbeiten erheblich relativiert. Sieht man einmal von der Verzerrung zugunsten statistisch signifikanter Ergebnisse in wissenschaftlichen Publikationen ab (Druckman 2004), wird zunächst auf die moderierende Rolle von Individualmerkmalen hingewiesen: Nicht alle Personen sind für Framing-Effekte gleichermaßen anfällig. Eine zentrale Voraussetzung für die Wirksamkeit von Elitenframes ist deren Rezeption durch die Bürger. Sie kann in der sozialen Realität nicht als selbstverständlich angenommen werden, wird aber in vielen Untersuchungen als gegeben betrachtet (Kinder 2007). Zudem ist fraglich, ob ein von Eliten offeriertes Interpretationsangebot mit der Vorstellungswelt einer Person vereinbar ist und nahegelegte Kriterien tatsächlich auch von den Rezipienten als relevant erachtet werden (vgl. etwa Brewer 2001; Chong/Druckman 2007a: 109; Druckman/Nelson 2003; Edy/Meirick 3

Das hier untersuchte issue framing ist zu unterscheiden vom sogenannten equivalency framing, bei dem logisch äquivalente Sachverhalte unterschiedlich formuliert werden (vgl. Druckman 2004: 672; Tversky/Kahneman 1981).

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

127

2007; Haider-Markel/Joslyn 2001; Hwang et al. 2007; Nelson et al. 1997; Price et al. 1997; Shen/Edwards 2005; Sniderman/Theriault 2004). Aus diesen Befunden kann man auch folgern, dass die Wahrscheinlichkeit von Framing-Effekten themenspezifisch variiert. Ein für viele Bürger obskures Thema, etwa ein Militäreinsatz in einem ihnen wenig vertrauten Land, ist demnach wesentlich anfälliger für Framing-Effekte als eine Frage, zu der viele Bürger Alltagserfahrungen besitzen oder dem entsprechenden Themenpublikum zuzurechnen sind (Sniderman/Theriault 2004). Der Erfolg einer Framing-Strategie hängt somit auch vom jeweiligen Issue ab. Ferner muss die Struktur des kommunikativen Umfelds beachtet werden. Dies betrifft zunächst den Aspekt sozialer Interaktion im persönlichen Umfeld, der ein möglicher „Störfaktor“ sein kann. Gespräche in politisch heterogenen Umgebungen – und damit der Kontakt zu anderen Sichtweisen (d.h. Bewertungsdimensionen und Bewertungen) – schwächen Framing-Effekte ab (Druckman/Nelson 2003; Druckman 2004). Auf systemischer Ebene muss analog der Wettbewerbscharakter der politischen Auseinandersetzung in der Demokratie bedacht werden. In der Regel versucht nicht eine monolithische Elite einen Interpretationsrahmen durchzusetzen; vielmehr strebt eine Vielzahl miteinander konkurrierender Eliteakteure danach, jeweils einem Deutungsmuster Akzeptanz zu verschaffen. Berücksichtigt man die Angebotskonkurrenz, scheinen sich Framing-Effekte – zumindest bei etablierten Themen – abzuschwächen (Brewer/Gross 2005; Chong/Druckman 2007b; Sniderman/Theriault 2004). Die Bedeutung politischer Eliten wird zusätzlich relativiert, wenn man die wichtige eigenständige Rolle der Journalisten in der politischen Kommunikation bedenkt.4 Mit diesen potenziellen Wirkungen von Kommunikation dürfte auch zu erklären sein, dass sich Framing-Effekte häufig als nicht sehr langlebig erweisen (Druckman/Nelson 2003). Diese Relativierungen sprechen dagegen, durchschlagende Erfolge elitenseitigen Framings in der politischen Kommunikation als unausweichlich anzusehen. Vielmehr scheinen erfolgreiche Framing-Strategien voraussetzungsreicher zu sein, als es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Entsprechend sollte man die Ergebnisse einzelner Analysen sorgfältig auf ihre Aussagekraft hin prüfen. Zugleich können die einschränkenden Bedingungen dazu dienen, vor unserer Analyse von Framing-Effekten nach der Bundestagswahl 2005 die einzelnen Themen sorgfältig zu diskutieren und differenzielle Erwartungen zu formulieren, was wir nun angehen wollen. 3

Framing-Effekte im Umfeld der Bundestagswahl 2005: Hypothesen, Datengrundlage und Operationalisierung

Wir untersuchen Framing-Effekte am Beispiel zweier Themen, die nach der Bundestagswahl 2005 öffentliche Aufmerksamkeit fanden. Zum einen betrachten wir die von der Großen Koalition beschlossene Erhöhung des (regulären) Mehrwertsteuersatzes von 16 auf 19 Prozent, zum anderen das von der Regierung propagierte Ziel, die Staatsverschuldung einzudämmen. Beide Themen waren in der Argumentation der Regierungsakteure miteinander 4

Dabei ist auch an differenzierende Faktoren bei den Anbietern von Interpretationsrahmen zu denken, etwa die zugeschriebene Glaubwürdigkeit eines Anbieters (Druckman 2001).

128

Thorsten Faas, Harald Schoen

verwoben, scheinen aber unterschiedlich gut geeignet zu sein, Framing-Effekte zu erzielen. In Bezug auf die Mehrwertsteuer sind generell schwache Effekte zu erwarten, da es sich um ein konkretes, Bürgern aus ihrem Alltagsleben bekanntes Konzept handelt, und bereits im Wahlkampf 2005 (und damit vor der von uns verwendeten Umfrage) – wenn auch mit anderen Argumenten und anderer Rollenverteilung – über deren Höhe diskutiert wurde. Mit erfolgreichem Framing ist eher im Hinblick auf die Staatsverschuldung zu rechnen, denn hierbei handelt es sich grundsätzlich um eine relativ abstrakte, vom Alltagsleben weit entfernte Frage, die überdies in der politischen Auseinandersetzung vor der Wahl 2005 keine derart prominente Rolle wie die zukünftige Höhe der Mehrwertsteuer spielte. Diese generellen Erwartungen sind weiter zu differenzieren, nachdem unser Datenmaterial vorgestellt worden ist. Basis der folgenden empirischen Analysen sind nämlich Experimente, die in der Zeit vom 21. Dezember 2005 bis zum 30. Januar 2006 in eine Online-Umfrage integriert waren. Insgesamt haben 862 Personen an dieser Online-Befragung von Anfang bis Ende teilgenommen, die als offene Webumfrage anlässlich des Starts der Großen Koalition 2005 realisiert wurde. Diese 862 Personen wurden zufällig auf insgesamt sechs verschiedene Versionen der Umfrage verteilt, in denen die verschiedenen experimentellen Bedingungen enthalten waren (vgl. auch Faas 2009). Dass diese zufällige Verteilung erfolgreich war, zeigt Tabelle 1: Die Teilnehmerzahl in den einzelnen Versionen weicht nicht signifikant von einer Gleichverteilung ab; zudem unterscheidet sich die Verteilung der Bildungsabschlüsse, des Familienstandes, des Alters sowie – nicht ausgewiesen – der Religionszugehörigkeit und der Haushaltsgröße nicht signifikant zwischen den verschiedenen Abläufen. Einzig für das Geschlecht finden sich signifikante Abweichungen, die allerdings in ihrer Größenordnung bescheiden bleiben. Tabelle 1: Teilnehmerzahl und Sozialstruktur nach Fragebogenversion Anteil Anteil Mittleres Alter Teilnehmer Männer 1 16,5 74,8 30,0 2 18,2 65,2 31,7 3 16,1 65,2 27,8 4 14,5 68,6 31,2 5 16,6 76,8 29,0 6 18,1 77,6 28,9 Ȥ2/F 4,9 11,6* 1,8 Signifikanzniveaus: # p<0,1, * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001 Version

Anteil Abitur 75,0 77,4 80,0 70,8 76,3 85,0 9,1

Anteil Ledige 78,3 73,6 78,5 72,7 79,0 83,4 6,6

Wie der Tabelle ebenfalls zu entnehmen ist, handelt es sich bei unseren Probanden nicht um ein repräsentatives Sample aus der Grundgesamtheit der deutschen Bevölkerung. Vielmehr ist die Stichprobe deutlich verzerrt. Angesichts der Tatsache, dass es sich um eine OnlineUmfrage im universitären Umfeld handelt, kann es nicht verwundern, dass jüngere, formal hochgebildete Personen in der Stichprobe deutlich überrepräsentiert sind. Was bedeutet dies? Natürlich ist ein repräsentatives Sample auch für diese Studie wünschens- und erstrebenswert. Angesichts der experimentellen Logik, die ihr zugrunde liegt, ist aber das Fehlen von Repräsentativität nicht gleichbedeutend mit Wertlosigkeit der

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

129

Ergebnisse. Für Experimente ist die interne Validität das „sine qua non“, ein „basic minimum without which any experiment is uninterpretable: Did in fact the experimental treatments make a difference in this specific experimental instance?“ (Campbell/Stanley 1966: 5). Die externe Validität – im Sinne der Repräsentativität, also der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf weitere Kontexte – ist ihr eindeutig nachgeordnet, worauf auch McDermott (2002: 336) hinweist: „Experiments should not be evaluated based on the appearances of broader generalizability, but rather on the merit of their underlying theoretical constructs“. Ungeachtet dessen sind natürlich die Stichprobenzusammensetzung wie andere Spezifika der Erhebung zu berücksichtigen, wenn die Aussagekraft der Ergebnisse beurteilt werden soll. Auf dieser Basis können wir uns nun den hier interessierenden Experimenten im Detail widmen. Beide Experimente funktionieren nach einer identischen Logik: Den Befragten werden zunächst zur Einstimmung auf den jeweiligen Themenkomplex einschlägige Informationen zur Verfügung gestellt. Allerdings – und hier kommen verschiedene Frames ins Spiel – unterscheiden sich diese Informationen zwischen den verschiedenen experimentellen Abläufen, um anschließend prüfen zu können, ob und gegebenenfalls wie sich die unterschiedlichen Informationen auf das Urteil der Befragten ausgewirkt haben, ob es also zu Framing-Effekten gekommen ist. Konkret bezieht sich das erste Experiment auf die von der Großen Koalition beschlossene Erhöhung des Mehrwertsteuerregelsatzes um drei Punkte von 16 auf 19 Prozent. Diese Information wurde in der Hälfte der Fälle um den Hinweis ergänzt, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent, der vor allem für Güter des täglichen Bedarfs gilt, unverändert bleibt. Befragten in beiden Varianten wurde zusätzlich eine graphische Darstellung zur relativen Position der (neuen) deutschen Mehrwertsteuer im europäischen Vergleich gezeigt. In einer ersten Variante wurde Deutschland (durch die gezielte Auswahl bestimmter Vergleichsländer) als Spitzenreiter dargestellt, in einer zweiten auf einem Mittelplatz und in einer dritten am Ende des Feldes. Aus der Kombination beider Manipulationen ergibt sich ein 3x2-Design mit insgesamt sechs experimentellen Bedingungen. Nach der Präsentation der jeweiligen Informationen wurden die Respondenten dann gebeten anzugeben, ob sie die Mehrwertsteuererhöhung für angemessen halten5 und ob sie für eine europaweite Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze eintreten (siehe zum Design und insbesondere zum genauen Wortlaut auch den Anhang). Zweitens nutzen wir ein Experiment zum von der Großen Koalition (damals noch) anvisierten Ziel der Reduzierung der Staatsverschuldung. Um die Staatsverschuldung zu bekämpfen, habe die Große Koalition ein Sparpaket aus Steuererhöhungen und Kürzungen staatlicher Leistungen und von Steuervergünstigungen beschlossen. Diese Vorhaben wurde von uns durch gezielt ausgewählte Informationen kontextualisiert: In einer ersten Variante wurde den Befragten dazu mitgeteilt, dass die Staatsverschuldung in Deutschland bei 1,4 Billionen Euro liege, was einer Pro-Kopf-Verschuldung von über 17.000 Euro entspreche. In einer zweiten Version wurde – ohne Nennung der Absolutzahlen zur deutschen Staatsverschuldung – auf die deutsche „Schuldenstandsquote von 65 Prozent des Bruttoinlands5

Zudem wurde noch eine Frage nach der (wahrgenommenen) sozialen Ausgewogenheit gestellt. Da diese aber hoch mit der wahrgenommenen Angemessenheit korreliert und sehr ähnliche Ergebnisse für beide Aspekte resultieren, weisen wir diese Ergebnisse in diesem Beitrag nicht separat aus.

130

Thorsten Faas, Harald Schoen

produkts“ hingewiesen, die im internationalen Vergleich im Mittelfeld liege, jene Japans etwa betrage 150 Prozent, Italiens 120 Prozent und jene der USA ebenfalls 65 Prozent. Die dritte Variante schließlich beinhaltete im Sinne eines counterframings beide Informationen – die absolute Verschuldung Deutschlands einschließlich der Umrechnung auf eine ProKopf-Verschuldung, aber auch die relative Schuldenstandsquote (siehe auch hierzu den Anhang).6 Im Anschluss an diese Informationspräsentation sollten die Befragten angeben, für wie dringlich sie persönlich die Haushaltskonsolidierung halten und ob sie das Vorhaben der Großen Koalition befürworten. Was sind nun unsere Erwartungen zur Wirksamkeit der Frames in diesen beiden Sachfragen? Für die Mehrwertsteuer erwarten wir eher schwache Framing-Effekte, insbesondere bezogen auf die wahrgenommene Angemessenheit der Erhöhung. Lediglich die Erwähnung des konstanten ermäßigten Mehrwertsteuersatzes als reasoning device (Gamson/Modigliani 1989: 3) könnte die Zustimmung zur Anhebung des regulären Steuersatzes steigern. Ähnlich könnten sich die verschiedenen Hinweise auf die relative Position Deutschlands im europäischen Mehrwertsteuervergleich auswirken. Demgegenüber ist die Frage der europaweiten Harmonisierung der Mehrwertsteuer eher abstrakt und nicht aus dem Wahlkampf bekannt, weshalb hier mit deutlicheren Effekten zu rechnen ist. Es ist zu erwarten, dass die Platzierung Deutschlands auf einem hinteren Platz die wahrgenommene Angemessenheit steigern, den Ruf nach europaweiter Vereinheitlichung dagegen bremsen sollte. Das Umgekehrte sollte gelten, wenn Deutschland an der Spitze Europas (was die Höhe der Mehrwertsteuer betrifft) präsentiert wird. Bezogen auf das Experiment zum Thema „Staatsverschuldung“ rechnen wir grundsätzlich mit deutlicheren Effekten. Sie sollten von zwei (simultan gesetzten) Stimuli ausgehen: Erstens wird durch den internationalen Vergleich zu anderen Ländern die Höhe der Verschuldung Deutschlands relativiert, was die wahrgenommene Dringlichkeit des Vorhabens abschwächen sollte. Dies gilt für die zweite Variante, die Deutschland als relativ wenig verschuldet erscheinen lässt, noch stärker als für die dritte, in der auch die absolute Höhe der Verschuldung Deutschlands thematisiert wird. Zweitens wird die absolute Höhe nicht nur als Volumen von 1,4 Billionen Euro insgesamt, sondern auch als Pro-Kopf-Verschuldung (in Höhe von 17.000 Euro) angegeben. Gerade Letzteres sollte aus dem abstrakten Gegenstand (und auch aus der letztlich unvorstellbaren Summe von 1,4 Billionen Euro) ein konkret erfahrbares (und damit potenziell auch bedrohliches) Szenario machen, was die wahrgenommene Dringlichkeit des Schuldenabbaus ebenfalls erhöhen sollte. Von zentraler Bedeutung wird vor diesem Hintergrund insbesondere die Effektstärke des dritten Frames sein, der einerseits international vergleichende (und dabei relativierende) Informationen zur Verschuldung Deutschlands präsentiert, andererseits auch die Pro-Kopf-Verschuldung erwähnt. Nach dieser ersten Suche nach Effekten der experimentellen Stimuli (im Sinne von Haupteffekten) fragen wir in einem zweiten Schritt, ob bestimmte Personen für FramingEffekte besonders anfällig sind. Erstens nehmen wir an, dass Personen mit wohlstruktu6

Die beiden Experimente waren fest in bestimmte Abläufe – von denen es insgesamt sechs gegeben hat – integriert. Allerdings wurde bei der Verteilung darauf geachtet, dass die einzelnen experimentellen Bedingungen nicht perfekt übereinstimmen. Die sechs Abläufe sind auch bei simultaner Betrachtung der Experimente unterschiedlich.

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

131

rierten und kognitiv fundierten politischen Orientierungssystemen vergleichsweise immun gegen Framing-Strategien sein sollten. Um dies zu prüfen, verwenden wir das politische Kompetenzgefühl und das mittels Selbstauskunft erhobene politische Interesse als ProxyVariablen. Zweitens könnten die vorgestellten Fragen bei den Respondenten grundlegende politische Dispositionen ansprechen und aktivieren, die anschließend die Reaktionen auf die verschiedenen Szenarien beeinflussen. Dazu betrachten wir die Selbsteinstufung auf der Links-Rechts-Dimension sowie die Haltung der Befragten zum Sozialstaat. Linke und Befürworter des Sozialstaats sollten vor allem die Mehrwertsteuer als ein eher unfaires Instrument ansehen, da keine Kopplung an die Höhe der Löhne und Gehälter besteht; zugleich könnte die Erwähnung des konstanten ermäßigten Satzes diese Sorge entkräften. Drittens schließlich könnten Befragte ihr materielles Eigeninteresse als Heuristik nutzen, um sich eine Meinung zu den vorgeschlagenen Policies zu bilden. In Bezug auf die Mehrwertsteuererhöhung nehmen wir an, dass vor allem Menschen, die entweder selbst oder deren Nahestehende aktuell arbeitslos sind, besonders sensibel darauf reagieren sollten, da sie – stellvertretend für alle Gruppen mit geringem Einkommen – überproportional stark betroffen wären.7 Auch hier könnte der Hinweis auf die Konstanz des ermäßigten Satzes diese Sorgen zerstreuen. Hinsichtlich der Staatsverschuldung könnte das Lebensalter der Respondenten eine Rolle spielen, da eine hohe Staatsverschuldung tendenziell die mittelund langfristigen Möglichkeiten junger Menschen am stärksten beeinträchtigt. Wegen ihrer stärkeren persönlichen Betroffenheit könnten sie besonders sensibel auf die Nennung des absoluten (Pro-Kopf-)Schuldenstandes reagieren. Diese Experimente gilt es nun im Folgenden zu analysieren. Dabei werden wir schrittweise vorgehen. Zunächst werden wir prüfen, ob sich pauschale Unterschiede (im Sinne von Haupteffekten) in den Antworten der Befragten zwischen den verschiedenen experimentellen Bedingungen nachweisen lassen. Anschließend werden wir die Analyse verfeinern und mittels entsprechender Interaktionsterme prüfen, ob sich für bestimmte Subgruppen (im Sinne der skizzierten Differenzierungen) Unterschiede ergeben, ob also bestimmte Personen eher (oder in anderer Art und Weise) auf die experimentellen Stimuli reagiert haben als andere. Für beide Herangehensweisen verwenden wir regressionsanalytische Verfahren; die experimentellen Stimuli modellieren wir über entsprechende dichotome Indikatorvariablen. Da es sich zumindest im ersten Fall um ein 3x2-Design handelt, in dem zwei Variablen gleichzeitig variiert werden, sind natürlich beide Variationen simultan im Modell zu berücksichtigen.8 Die statistische (In-)Signifikanz dieser dichotomen Variablen wird anzeigen, ob die Einstellungen der Befragten tatsächlich auf die von uns selektiv präsentierten Frames reagiert haben. Die verschiedenen unabhängigen Variablen haben wir dabei alle auf einen Wertebereich von null bis eins codiert, um die Vergleichbarkeit der Effekte zu erhöhen und gerade auch die möglichen Interaktionseffekte leichter interpretierbar zu machen. Bei den abhängigen Variablen handelt es sich im Falle der Mehrwertsteuerthematik um eine dreistufige Skala (Angemessenheit der Erhöhung) bzw. um eine dichotome Option 7

8

Andere Variablen (etwa zum Einkommen oder zur wahrgenommenen eigenen Wirtschaftslage) stehen im Datensatz nicht zur Verfügung. Eine Fokussierung nur auf die selbst Betroffenen scheidet aufgrund der geringen Fallzahl von nur 24 ebenfalls als Möglichkeit aus. Auch eine mögliche Interaktion zwischen beiden Variationen wäre grundsätzlich zu berücksichtigen, erweist sich aber im vorliegenden Fall als wirkungslos. Bei der Darstellung wird daher darauf verzichtet.

132

Thorsten Faas, Harald Schoen

(europaweite Harmonisierung der Mehrwertsteuer); im Falle der Staatsverschuldung kamen sowohl bei der wahrgenommenen Dringlichkeit als auch der Befürwortung des Vorhabens fünfstufige Skalen zum Einsatz. 4

Ergebnisse

4.1 Haupteffekte Betrachten wir zunächst die Ergebnisse zur Mehrwertsteuererhöhung, so bestätigt sich unsere skeptische Erwartungshaltung (Tabelle 2). Die Urteile der Probanden über die Angemessenheit der Erhöhung hängen nicht davon ab, ob in der Darstellung des Sachverhalts auf den konstanten Satz für Güter des täglichen Bedarfs hingewiesen wird oder nicht. Auch von Effekten der verschiedenen internationalen Vergleichsszenarien lässt sich nur dann sprechen, wenn man ein weiches Signifikanzkriterium (mit einem Niveau von zehn Prozent) anlegt. Wird der deutsche Satz als im internationalen Vergleich besonders hoch dargestellt, halten die Probanden die Erhöhung eher für unangemessen; der Tendenz nach gilt das allerdings auch für den Fall, dass Deutschland am Ende des internationalen Vergleichsfeldes dargestellt wird. Tabelle 2: Direkte Framing-Effekte zum Thema Mehrwertsteuererhöhung (Regressionskoeffizienten) Referenz: Mittelfeldplatz, ohne Nennung des ermäßigten Satzes

Angemessenheit der Erhöhung b Deutschland auf Spitzenplatz -0,124# Deutschland auf hinterem Platz -0,096 ermäßigter Satz genannt -0,018 Konstante -0,195*** 2 0,005 R N 845 Signifikanzniveaus: # p<0,1, * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001

Europaweit Standardisierung b (Logit) 0,368* -0,074 -0,183 0,025 0,008 842

Im Einklang mit unseren Vermutungen finden wir hinsichtlich der Frage, ob die Mehrwertsteuer europaweit vereinheitlicht werden sollte, einen statistisch signifikanten Effekt: Wenn Deutschland mit überdurchschnittlich hoher Mehrwertsteuer präsentiert wird, erhöht dies die Zustimmung zur europaweiten Harmonisierung; in Wahrscheinlichkeiten übersetzt, beläuft sich der positive Effekt auf immerhin zehn Prozentpunkte.9 Umgekehrt ist die Zustimmung tendenziell niedriger, wenn Deutschland auf einem hinteren Platz dargestellt wird, aber auch, wenn der ermäßigte Satz erwähnt wird10 – beide Male scheint mit der Harmonisierung in den Augen der Befragten die Gefahr einer (weiteren) Erhöhung verbun9 10

Die Einstellungen zur europaweiten Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer sind dabei über alle Befragten hinweg geteilt: 50 Prozent sind dafür, 50 Prozent dagegen. In Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt belaufen sich die Effekte auf zwei bzw. rund fünf Punkte.

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

133

den zu sein; allerdings erreichen diese Effekte nicht die herkömmlichen Schwellen statistischer Signifikanz. Tabelle 3: Direkte Framing-Effekte zum Thema des Abbaus der Staatsverschuldung (Regressionskoeffizienten) Referenz: keine absoluten, Dringlichkeit nur internationale Vergleichszahlen b mit absoluten, ohne internationale Vergleichszahlen 0,288*** mit absoluten und internationalen Vergleichszahlen 0,221** Konstante 0,878*** 2 R 0,015 N 842 Signifikanzniveaus: # p<0,1, * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001

Bewertung b 0,009 -0,069 0,445*** 0,001 843

Kommen wir damit zu unserem zweiten Experiment, also der Thematik des Schuldenabbaus (vgl. Tabelle 3). Erwartungsgemäß hängt die wahrgenommene Dringlichkeit des Schuldenabbaus stärker von den präsentierten Frames ab. Dabei erweist sich die Nennung der absoluten Höhe der Verschuldung in Deutschland als das entscheidende Moment – diese Bewertungsdimension, so könnte man folgern, dominiert also mit Blick auf die Dringlichkeit des Schuldenabbaus. Beide Bedingungen, in denen dieser Aspekt genannt wird, unterscheiden sich von der Version ohne diese Informationen. Man könnte folgern, dass – gerade im Vergleich zu den abstrakteren Informationen zur „Schuldenstandsquote“ – eine Verschuldung von 17.000 Euro pro Kopf leicht vorstellbar ist und offenbar bedrohlich wirkt: Diese Zahl verleiht dem abstrakten Thema eine persönliche, individuelle Dimension. Allerdings geht die höhere Dringlichkeit im zweiten Schritt nicht mit einer höheren Zustimmung zu den verabschiedeten Maßnahmen einher. Wie die letzte Spalte von Tabelle 3 zeigt, bleiben die Frames hier ohne Effekt; es handelt sich vermutlich eher um eine (partei-)politische Frage, in der sich die Einstellung zur Regierung allgemein widerspiegelt – unabhängig von den präsentierten Frames. 4.2 Interaktionseffekte Im nächsten Schritt wollen wir prüfen, ob unsere Überlegungen zu möglichen Interaktionseffekten zutreffen: Lässt sich für bestimmte Personengruppen eine stärkere Anfälligkeit für Frames nachweisen? Wir prüfen dazu, wie oben skizziert, mögliche Effekte politischer Involvierung, politischer Prädispositionen sowie persönlicher Betroffenheit, indem wir das Grundmodell von oben jeweils um einen zusätzlichen Faktor (samt zugehöriger Interaktionsterme) ergänzen. Beginnen wir bezüglich der Erhöhung der Mehrwertsteuer mit der Frage der wahrgenommenen Angemessenheit dieser Erhöhung (Tabelle 4). Politisches Interesse und die selbst zugeschriebene politische Kompetenz moderieren hier tatsächlich die Wirkung der experimentellen Variation. In dem Szenario mit Deutschland auf einem hinteren Platz sind es jeweils die politisch interessierten bzw. die politisch selbstbewussten Personen, die die Mehrwertsteuererhöhung für weniger angemessen halten. Um die Substanz der Ergebnisse

134

Thorsten Faas, Harald Schoen

aber vollständig erfassen zu können, sind auch die Haupteffekte zu berücksichtigen, was am einfachsten durch grafische Inspektion gelingt. Abbildung 1 zeigt im linken Teil, wie sich die Interaktion aus politischem Interesse und der Positionierung Deutschlands im europäischen Mehrwertsteuervergleich auswirkt. Daraus wird ersichtlich, dass es insbesondere politisch weniger interessierte Personen sind, die auf die präsentierten Frames reagieren: Bei ihnen stellt sich eine klare Reihung der wahrgenommenen Angemessenheit der Mehrwertsteuererhöhung ein: Wenn Deutschland an der Spitze steht (und somit der Eindruck entsteht, in Deutschland müsse man am meisten bezahlen), ist die wahrgenommene Angemessenheit am geringsten, während sie am relativ höchsten ist, wenn Deutschland einen hinteren Platz einnimmt. Dieser statistisch signifikante Einstellungsunterschied zwischen den beiden Extremszenarien liegt bei etwa einem halben Skalenpunkt und ist damit substantiell relevant. Tabelle 4: Angemessenheit der Mehrwertsteuererhöhung (Regressionskoeffizienten) Internal Efficacy b

Politisches Interesse b

LinksRechts b

Sozialstaat

Arbeitslos

b

b

Spitzenplatz

0,139

-0,230

-0,138

0,056

-0,160#

Hinterer Platz

0,587*

0,241

-0,114

-0,153

-0,106

-0,047

0,058

0,184

-0,087

-0,158*

-0,368

0,144

0,046

-0,343

0,098

-0,948**

-0,479#

0,070

0,136

0,015

0,057

-0,080

-0,478*

0,121

0,328**

Ermäßigter Satz genannt Interaktionsvariable * Spitzenplatz Interaktionsvariable * hinterer Platz Interaktionsvariable * ermäßigter Satz Interaktionsvariable Konstante 2

0,695**

0,406#

0,870***

-0,700***

-0,487**

-0,567***

R 0,021 0,018 0,048 N 843 843 841 Signifikanzniveaus: # p<0,1, * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001

-0,785***

-0,322**

0,189

-0,058

0,071 841

0,022 841

Bei politisch interessierten Personen dagegen reduzieren sich die Unterschiede – wie die Abbildung zeigt – auf (dann nicht mehr statistisch signifikante) 0,15 Skalenpunkte. Ein sehr ähnliches Muster resultiert bezogen auf das politische Selbstbewusstsein. Politisches Interesse und subjektive Kompetenz schwächen also den Framing-Effekt, der von den europäischen Vergleichsszenarien ausgeht, ab. Das spricht für unsere Vermutung, dass Personen, die auf diesen beiden Dimensionen eine hohe Position einnehmen, relative fundierte und schwer veränderbare Haltungen zur Mehrwertsteuer besitzen. Möglich ist auch, dass sie die relative Position Deutschlands in der europäischen Mehrwertsteuerrangliste kennen und deshalb nicht auf Manipulationsversuche reagieren. Eine Interaktion dieser Variablen

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

135

mit der (Nicht-)Erwähnung des konstanten Mehrwertsteuersatzes ist dagegen nicht (oder doch nur mit sehr viel Wohlwollen) festzustellen. Abbildung 1:

Wahrgenommene Angemessenheit der Mehrwertsteuererhöhung als Ergebnis der Interaktion aus …

Mehrwertsteuererhöhung angemessen? -.5 0 .5 1

… Links-Rechts-Einstufung und der (Nicht-)Erwähnung der Konstanz des ermäßigten Satzes

-1

-1

Mehrwertsteuererhöhung angemessen? -.5 0 .5 1

… politischem Interesse und der Positionierung Deutschlands im europäischen Vergleich

niedrig

Politisches Interesse Spitzenplatz

Mittelplatz

hoch Hinterer Platz

links

rechts

Links-Rechts mit Nennung

ohne Nennung

Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz ist auch – wie oben ausgeführt – eher eine Frage politischer Prädispositionen im Sinne der Links-Rechts-Skala. Tatsächlich finden sich dort entsprechende Effekte dieses Frames, während hier die angeführte relative Position Deutschlands ohne Effekt bleibt. Wie wirkt sich nun der Hinweis auf die Konstanz des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes substanziell aus? Dabei ist zu berücksichtigen, dass die LinksRechts-Selbsteinstufung selbst einen starken Haupteffekt hat: Je weiter rechts sich eine Person einstuft, desto eher findet sie die Mehrwertsteuererhöhung angemessen. Vor diesem Hintergrund ist der negative Interaktionseffekt zu sehen: Die Erwähnung des konstanten ermäßigten Satzes reduziert den Zusammenhang zwischen Links-Rechts-Einstufung und wahrgenommener Angemessenheit. Dies bestätigt auch ein Blick auf die rechte Hälfte von Abbildung 1: Der Hinweis auf den ermäßigten Satz schwächt den Zusammenhang ab, die Linie wird entsprechend flacher. Es scheint, als ob dieser Hinweis ein für die Links-RechtsBewertung konstitutives Argument, etwa soziale Gerechtigkeit, entkräfte. Ein sehr ähnliches Muster findet sich auch mit Blick auf die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit: Dort wird der Haupteffekt von Arbeitslosigkeit durch den Hinweis auf die Konstanz des ermäßigen Satz vollständig nivelliert. Die Mehrwertsteuererhöhung verliert dadurch anscheinend für die Betroffenen ihren Schrecken. Bei der Frage zur europaweiten Harmonisierung der Mehrwertsteuer schneiden die potenziellen Moderatorvariablen unterschiedlich ab (Tabelle 5): Die Sozialstaatsorientierung entfaltet ebenso wenig wie die Links-Rechts-Einstufung und die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit Wirkung. Das dürfte daran liegen, dass mit der europäischen Harmonisierung ein Aspekt angesprochen wird, der in den Augen der Befragten keinen direkten Bezug dazu aufweist. Deutliche Interaktionseffekte sind dagegen für die internal efficacy und das politische Interesse zu erkennen. Demnach schwächen hohe Ausprägungen auf beiden Merkmalsdimensionen die – im Vergleich zum Mittelplatz – positive Wirkung der Erwähnung

136

Thorsten Faas, Harald Schoen

eines Spitzen- oder hinteren Platzes auf die Unterstützung für die europäische Harmonisierung ab. Tabelle 5: Europaweite Harmonisierung der Mehrwertsteuer (Regressionskoeffizienten) Internal Efficacy b

Politisches Interesse b

LinksRechts b

b

b

0,254

0,528*

Spitzenplatz

1,462

0,856

Hinterer Platz

1,562*

0,852

0,530

-0,170

0,151

-0,128

-0,263

-0,489#

0,005

-0,154

-1,497#

-0,691

-1,124

0,224

-0,405

-2,251**

-1,321#

-1,391#

0,226

-0,579#

0,157

0,708

-0,426

-0,052

0,898

0,250

-0,209

0,226

-1,280*

-0,612

-0,093

0,128

-0,067

0,018 840

0,012 840

0,013 838

0,009 838

0,011 839

-0,049 1,785**

Interaktionsvariable Konstante 2

R N

0,862

*

Arbeitslos

*

Ermäßigter Satz genannt Interaktionsvariable * Spitzenplatz Interaktionsvariable * hinterer Platz Interaktionsvariable * ermäßigter Satz

#

Sozialstaat

Signifikanzniveaus: # p<0,1, * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001

Befürwortung einer europaweiten Harmonisierung der Mehrwertsteuer als Ergebnis der Interaktion aus politischem Interesse und der Positionierung Deutschlands im europäischen Vergleich Mehrwertsteuererhöhung europaweit anpassen? 0 .5 1

Abbildung 2:

niedrig

Politisches Interesse Spitzenplatz

Mittelplatz

hoch Hinterer Platz

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

137

In der Gesamtschau, die Abbildung 2 nochmals grafisch zeigt, ergibt sich daraus ein interessantes Muster: Bei politisch weniger interessierten (oder weniger selbstbewussten) Personen ragt der Frame, wonach Deutschland auf einem mittleren Platz rangiert, heraus: Dann nämlich geht die Unterstützung einer europaweiten Harmonisierung zurück, während eine Extremposition Deutschlands – in beide Richtungen! – die Zustimmung steigen lässt. Politisch interessierte und subjektiv kompetente Personen dagegen reagieren eher rational im Sinne des angestrebten Framings. Sie scheinen eher einen höheren Steuersatz vermeiden zu wollen und unterstützen eine Harmonisierung vor allem dann, wenn Deutschland nicht auf einem hinteren Platz präsentiert wird. Kommen wir damit zu unserem zweiten Experiment zur Frage des Schuldenabbaus. Wir beschränken uns dabei angesichts der Ergebnisse zum Schuldenabbau von oben auf die Diskussion der Ergebnisse zur wahrgenommenen Dringlichkeit (Tabelle 6). Insgesamt finden sich hier nur wenige signifikante Interaktionseffekte. So erweist sich die politische Involvierung an dieser Stelle als wirkungslos – die Effekte unterscheiden sich nicht zwischen den verschiedenen Szenarien. Auch die Links-Rechts-Orientierung interagiert nicht mit den verschiedenen gesetzten Stimuli. Tabelle 6: Dringlichkeit des Schuldenabbaus (Regressionskoeffizienten) Internal Efficacy b mit absoluten, ohne Vergleichszahlen (1) mit absoluten und Vergleichszahlen (2)

Politisches Interesse b

LinksRechts B

Sozialstaat

Alter

b

b

*

-0,254

0,449***

-0,149

0,344**

0,423

0,149

0,368

0,256

0,172

0,363*

Interaktionsvariable * (1)

-0,197

0,172

-0,168

1,038**

-0,763#

Interaktionsvariable * (2)

-0,058

0,062

-0,304

0,676*

-0,587

Interaktionsvariable

0,580*

0,310

1,237***

-1,975***

0,990**

Konstante

0,463*

0,668***

0,348**

1,880***

0,663***

R2 N

0,026 841

0,025 839

0,080 839

0,132 840

0,028 830

Signifikanzniveaus: # p<0,1, * p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001

Anders verhält es sich bezüglich der Haltung der Befragten zum Sozialstaat. Werden die Respondenten nach der Präsentation der relativierenden Schuldenstandsquoten nach der Dringlichkeit von Ausgabenkürzungen zum Schuldenabbau gefragt, spielt diese Sozialstaatsorientierung sehr wohl eine moderierende Rolle. Befürworter eines expansiven Sozialstaats zeigen sich – was den direkten Effekt betrifft – wesentlich skeptischer als dessen Kritiker: Mit dem Wunsch nach einem umfassenden Sozialstaat geht eine geringere Dringlichkeit des Schuldenabbaus einher.11 Werden die Befragten jedoch nur oder auch mit absoluten Angaben zum Schuldenstand konfrontiert, vermindern sich die Effekte deutlich, 11

Dieses Muster findet sich auch für die Links-Rechts-Skala.

138

Thorsten Faas, Harald Schoen

wie auch Abbildung 3 zeigt. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Erwähnung der absoluten Werte bei den Befragten andere Prädispositionen oder auch Machbarkeitserwägungen aktiviert, in deren Folgen die Skepsis gegenüber dem Schuldenabbau sinkt. Oder anders formuliert: Mit dem Hinweis auf die hohe Pro-Kopf-Verschuldung akzeptieren auch Befürworter des Sozialstaats, dass dieser finanzielle Grenzen hat. Abbildung 3:

Wahrgenommene Dringlichkeit des Schuldenabbaus als Ergebnis der Interaktion aus verschiedenen Schuldenszenarien mit … … dem Alter Dringlichkeit Senkung Staatsveschuldung? -2 -1 0 1 2

Dringlichkeit Senkung Staatsveschuldung? -2 -1 0 1 2

… Einstellungen zum Sozialstaat

gering

Ausmaß Sozialstaat mit absoluten, ohne Vergleichszahlen ohne absolute, mit Vergleichszahlen mit absoluten und Vergleichszahlen

hoch

min

Alter des Befragten

max

mit absoluten, ohne Vergleichszahlen ohne absolute, mit Vergleichszahlen mit absoluten und Vergleichszahlen

Schließlich zeigen sich auch beim Alter nennenswerte Effekte. Allerdings ist dabei, wie auch Abbildung 3 zeigt, zunächst zu konstatieren, dass die wahrgenommene Dringlichkeit des Schuldenabbaus mit dem Alter steigt, was so nicht erwartet worden war.12 Die Eigennutzheuristik hatte ja eher erwarten lassen, dass vor allem junge Menschen den Abbau der Staatsverschuldung unterstützen – dem ist aber nicht so. Gleichwohl zeigt sich, dass die Befragten in Abhängigkeit vom Lebensalter unterschiedlich sensibel auf die Nennung der absoluten (Pro-Kopf-)Verschuldung reagieren. Junge Menschen sehen den Schuldenabbau gerade dann eher entspannter, wenn ihnen keine absoluten Zahlen (und auch keine ProKopf-Verschuldung) präsentiert werden. Ist dies der Fall, steigt auch bei jüngeren Menschen die wahrgenommene Dringlichkeit des Schuldenabbaus. Insoweit finden unsere Erwartungen eine Bestätigung in der empirischen Evidenz, wenngleich die Effekte vergleichsweise schwach ausgeprägt sind. 5

Fazit

Ziel dieses Beitrags war es, Framing-Effekte auf die Haltung zu staatlichen Policies zu untersuchen. Generelle Framing-Effekte lassen sich bei der Bewertung der umstrittenen Mehrwertsteuererhöhung nur in Bezug auf den eher abstrakten Aspekt einer europäischen Harmonisierung der Umsatzsteuer nachweisen. Deutlich reagierten die Probanden ebenfalls auf die verschiedenen Frames bei der Frage nach Ausgabenkürzungen zum Zwecke des Schuldenabbaus, nicht jedoch, wenn es darum ging, die diesbezüglichen Maßnahmen der 12

Das könnte darauf hindeuten, dass junge Menschen vergleichsweise risikofreudig sind.

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

139

Regierung zu bewerten. Cum grano salis sprechen die Befunde dafür, dass abstrakte und vergleichsweise unbekannte Themen für erfolgreiches Framing besonders geeignet sind. Dies deutet darauf hin, dass es vor allem darauf ankommt, zu Beginn einer öffentlichen Debatte über ein dann noch neues, für viele Bürger unbekanntes Thema die eigene Lesart zu lancieren und durchzusetzen, wenn man die öffentliche Meinung für seine Seite gewinnen möchte. Aus einer allgemeinen Perspektive bedeuten diese Ergebnisse, dass die öffentliche Meinung zu staatlichen Policies nicht beliebig mit geschickten Framing-Strategien beeinflusst werden kann. Vielmehr scheinen die Erfolgschancen themen- und situationsspezifisch zu variieren. Im zweiten Schritt haben wir gezeigt, dass die Anfälligkeit für Framing-Strategien durchaus zwischen Personen variiert. Politische Kompetenz und Interesse erwiesen sich in einigen, aber nicht allen Fällen als einflussreiche Moderatorgrößen. Vor allem im Falle der Mehrwertsteuer traten die erwarteten Immunisierungseffekte auf. Auch politische Prädispositionen interagierten in einigen Fällen mit den Frames. Im Hinblick auf die Mehrwertsteuererhöhung gilt dies jedoch nur für die Links-Rechts-Selbsteinstufung, während mit Blick auf die Ausgabenkürzungen zum Zwecke des Verschuldungsabbaus die Sozialstaatsorientierung eine Rolle spielte. Schließlich hat auch das materielle Eigeninteresse der Respondenten in einigen Fällen als Heuristik bei der Meinungsbildung gedient. Dabei sind bei der Interpretation unserer Ergebnisse die Spezifika der Datenerhebung zu beachten. Unserer Untersuchung liegt keineswegs eine repräsentative Stichprobe zugrunde. Vielmehr zeichnen sich die Befragten durch ein hohes Bildungsniveau, niedriges Alter und ausgeprägte politische Involvierung aus. Vor dem Hintergrund der moderierenden Wirkung politischer Involvierung, die wir an verschiedenen Stellen nachgewiesen haben, könnten wir daher in der Summe die Framing-Effekte etwas unterschätzt haben. Zudem haben wir den Respondenten die Interpretationsrahmen nur einmal (kurz) präsentiert, nicht aber wiederholt, wie es in der Realität eher der Fall sein dürfte. Ferner haben wir lediglich bestimmte Informationen variiert, nicht jedoch mit ausführlichen Argumentationsmustern, Appellen an Vorurteile oder emotionalisierenden Symbolen operiert. Setzte man solche stärkeren Frames ein, könnte man vermutlich noch deutlichere Effekte erzielen. Damit würde man im Übrigen nicht die externe Validität der Analyse schwächen, da Politiker und Massenmedien durchaus solche Instrumente einsetzen. Allerdings sind auch einige Argumente zu bedenken, die eher in die entgegengesetzte Richtung deuten. Erstens haben wir die Realität des politischen Wettbewerbs nicht zutreffend abgebildet, weil wir den Befragten nicht widerstreitende Argumente präsentiert haben, was zu veränderten Effekten führen könnte. Zweitens haben wir die Respondenten – vermutlich – sozial isoliert an ihrem Rechner befragt. Da soziale Interaktion Framing-Effekte abschwächt, ist auch dies ein Gesichtspunkt, der eher für eine Über- als eine Unterschätzung der Effekte spricht. Drittens haben wir die Effekte nur zu einem Zeitpunkt untersucht, nicht aber deren Dauerhaftigkeit. Da diese begrenzt ist, überschätzt eine Momentaufnahme wohl die Wirkung von Frames. In diesem Lichte sind unsere Ergebnisse zu sehen. Ingesamt ist abschließend aber nochmals festzuhalten, was auch schon am Beginn der Ausführungen stand: Framing-Effekte sind jeweils im konkreten Einzelfall zu analysieren, sowohl was die Hypothesen als auch die Ergebnisse betrifft. Angesichts der offenen Fragen, die noch ausstehen (etwa zur Frage der Dauerhaftigkeit von Effekten), ist daher zu appellieren, weitere Analysen mit an-

140

Thorsten Faas, Harald Schoen

deren Designs und Daten anzugehen, um die Prozesse politischen Meinungsbildung im Zusammenspiel von Eliten, Medien und Bürgern noch besser verstehen zu können. Literatur Alvarez, R. Michael/Brehm, John (2002): Hard Choices, Easy Answers. Values, Information, and American Public Opinion. Princeton: Princeton University Press. Bartels, Larry M. (2003): Democracy with Attitudes. In: MacKuen, Michael B./Rabinowitz, George (Hrsg.) (2003): Electoral Democracy. Ann Arbor: University of Michigan Press, 48-82. Berinsky, Adam J./Kinder, Donald R. (2006): Making Sense of Issues Through Media Frames: Understanding the Kosovo Crisis. In: Journal of Politics 68, 640-656. Brewer, Paul R. (2001): Value Words and Lizard Brains. In: Political Psychology 22, 45-64. Brewer, Paul R./Gross, Kimberly (2005): Values, Framing, and Citizens’ Thoughts about Policy Issues: Effects on Content and Quantity. In: Political Psychology 26, 929-948. Campbell, Donald T./Stanley, Julian C. (1966): Experimental and Quasi-Experimental Designs for Research. Chicago: Rand McNally. CDU/CSU (2005): Deutschlands Chancen nutzen. Wachstum. Arbeit. Sicherheit. Regierungsprogramm 2005-2009, Berlin. Chong, Dennis/Druckman, James N. (2007a): A Theory of Framing and Opinion Formation in Competitive Elite Environments. In: Journal of Communication 57, 99-118. Chong, Dennis/Druckman, James N. (2007b): Framing Theory. In: Annual Review of Political Science 10, 103-126. Converse, Philip E. (1964): The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In: Apter, David E. (Hrsg.) (1964): Ideology and Discontent. New York: Free Press, 206-261. Converse, Philip E. (1970): Attitudes and Non-Attitudes. In: Tufte, Edward R. (Hrsg.) (1970): The Quantitative Analysis of Social Problems. Reading: Addison-Wesley, 168-189. Druckman, James N. (2001): On the Limits of Framing Effects: Who Can Frame? In: Journal of Politics 63, 1041-1066. Druckman, James N. (2004): Political Preference Formation: Competition, Deliberation, and the (Ir)relevance of Framing Effects. In: American Political Science Review 98, 671-686. Druckman, James N./Nelson, Kjersten R. (2003): Framing and Deliberation: How Citizens’ Conversations Limit Elite Influence. In: American Journal of Political Science 47, 729-745. Edy, Jill A./Meirick, Patrick C. (2007): Wanted, Dead or Alive: Media Frames, Frame Adoption, and Support for the War in Afghanistan In: Journal of Communication 57, 119-141. Entman, Robert M., 1993: Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm, in: Journal of Communication 43, 51-58. Entman, Robert M./Herbst, Susan (2001): Reframing Public Opinion as We Have Known It. In: Bennett, W. Lance/Entman, Robert M.(Hrsg.) (2001): Mediated Politics. New York: Cambridge University Press, 203-225. Faas, Thorsten (2009): Das Experiment – ein unbekanntes Wesen? In: Schnapp, Kai-Uwe/Behnke, Nathalie/Behnke, Joachim (Hrsg.) (2009): Datenwelten. Datenerhebung und Datenbestände in der Politikwissenschaft. Baden-Baden: Nomos: 72-93. FDP (2005): Arbeit hat Vorfahrt. Deutschlandprogramm 2005, Berlin. Fishbein, Martin (1965): A Consideration of Beliefs, Attitudes, and their Relationships. In: Steiner, Ivan D./Fishbein, Martin (Hrsg.) (1965): Current Studies in Social Psychology. New York: Holt, 107-120. Gamson, William A./Lasch, Kathryn E. (1983): The Political Culture of Social Welfare Policy. In: Spiro, Shimon E./Yuchtman-Yaar, Ephraim (Hrsg.) (1983): Evaluating the Welfare State: Social and Political Perspectives. New York: Academic Press, 397-415.

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

141

Gamson, William A./Modigliani, Andrew (1987): The Changing Culture of Affirmative Action. In: Braungart, Richard G./Braungart, Margaret M. (Hrsg.) (1987): Reseach in Political Sociology 3. Greenwich: JAI, 137-177. Gamson, William A./Modigliani, Andrew (1989): Media Discourse and Public Opinion on Nuclear Power: A Constructionist Approach. In: American Journal of Sociology 95, 1-37. Goffman, Erving (1974): Frame analysis: An Essay on the Organization of Experience. New York: Harper and Row. Haider-Markel, Donald P./Joslyn, Mark R. (2001): Gun Policy, Opinion, Tragedy, and Blame Attribution. In: Journal of Politics 63, 520-543. Hwang, Hyunseo/Gotlieb, Melissa R./Nah, Seungahn/McLeod, Douglas M. (2007): Applying a Cognitive-Processing Model to Presidential Debate Effects: Postdebate News Analysis and Primed Reflection. In: Journal of Communication 57, 40-59. Jacoby, William G. (2000): Issue Framing and Public Opinion on Government Spending. In: American Journal of Political Science 44, 750-767. Kinder, Donald R. (2007): Curmudgeonly Advice. In: Journal of Communication 57, 155-162. Kinder, Donald R./Sanders, Lynn M. (1990): Mimicking Political Debate With Survey Questions. In: Social Cognition 8, 73-103. McDermott, Rose (2002): Experimental Methodology in Political Science. In: Political Analysis, 10, 325-342. Nelson, Thomas E./Oxley, Zoe M./Clawson, Rosalee A. (1997): Toward a Psychology of Framing Effects. In: Political Behavior 19, 221-246. Price, Vincent/Tewksbury, David/Powers, Elizabeth (1997): Switching Trains of Thought: The Impact of News Frames on Readers’ Cognitive Responses. In: Communication Research 24, 481-506. Riker, William H. (1986): The Art of Political Manipulation. New Haven: Yale University Press. Scheufele, Dietram (2000): Agenda-setting, priming, and framing revisited: Another look at cognitive effects of political communication. In: Mass Communication & Society 3, 297-316. Shen, Fuyuan/Edwards, Heidi H. (2005): Economic Individualism, Humanitarianism, and Welfare Reform: A Value-based Account of Framing Effects In: Journal of Communication 55, 795-809. Sniderman, Paul M./Theriault, Sean M. (2004): The Structure of Political Argument and the Logic of Issue Framing. In: Saris, Willem E./Sniderman, Paul M. (Hrsg.) (2004): Studies in Public Opinion. Princeton: Princeton University Press, 133-165. SPD (2005): Vertrauen in Deutschland. Wahlmanifest der SPD, Berlin. Tversky, Amos/Kahneman, Daniel (1981): The Framing of Decisions and the Psychology of Choice. In: Science 211: 453-458. Zaller, John R. (1992): The Nature and Origins of Mass Opinion. Cambridge: Cambridge University Press.

Anhang Experiment zur Mehrwertsteuererhöhung (3x2-Design, Hervorhebungen nicht im Original) Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht vor, zum 1. Januar 2007 die Mehrwertsteuer um 3 Punkte auf 19 Prozent zu erhöhen.

Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD sieht vor, zum 1. Januar 2007 die Mehrwertsteuer um 3 Punkte auf 19 Prozent zu erhöhen. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent, der vor allem für Güter des täglichen Bedarfs gilt, bleibt unverändert.

142 Der allgemeine Mehrwertsteuersatz in Deutschland nimmt damit im Vergleich zu anderen europäischen Staaten einen Spitzenplatz ein, wie die folgende Abbildung zeigt:

Thorsten Faas, Harald Schoen Der allgemeine Mehrwertsteuersatz in Deutschland nimmt damit im Vergleich zu anderen europäischen Staaten einen mittleren Platz ein, wie die folgende Abbildung zeigt:

Der allgemeine Mehrwertsteuersatz in Deutschland nimmt damit im Vergleich zu anderen europäischen Staaten einen hinteren Platz ein, wie die folgende Abbildung zeigt:

Im unmittelbaren Anschluss daran wurden den Befragten folgende Fragen gestellt. x Einmal ganz allgemein gesprochen – finden Sie die Beschlüsse der Großen Koalition zur Mehrwertsteuererhöhung angemessen, teils angemessen, teils aber auch nicht oder unangemessen? x Und sollte die Mehrwertsteuer Ihrer Meinung nach europaweit vereinheitlicht werden – ja oder nein? Experiment zur Staatsverschuldung Ein weiteres Thema, über das derzeit viel diskutiert wird, ist die Staatsverschuldung.

Aktuell liegt die Staatsverschuldung bei etwa 1,4 Billionen Euro. Pro Kopf ist damit jeder Deutsche statistisch mit über 17.000 Euro verschuldet.

Ein weiteres Thema, über das derzeit viel diskutiert wird, ist die Staatsverschuldung.

Die deutsche Staatsverschuldung liegt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Die Schuldenstandsquote (also das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt) liegt bei etwa 65 Prozent. Zum Vergleich: In Japan liegt die Quote bei über 150 Prozent, in Italien bei 120 Prozent, in den USA ebenfalls bei etwa 65 Prozent.

Ein weiteres Thema, über das derzeit viel diskutiert wird, ist die Staatsverschuldung. Aktuell liegt die Staatsverschuldung bei etwa 1,4 Billionen Euro. Pro Kopf ist damit jeder Deutsche statistisch mit über 17.000 Euro verschuldet. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland damit im Mittelfeld. Die Schuldenstandsquote (also das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt) liegt bei etwa 65 Prozent. Zum Vergleich: In Japan liegt die Quote bei über 150 Prozent, in Italien bei 120 Prozent, in den USA ebenfalls bei etwa 65 Prozent.

Mehrwertsteuer und Staatsverschuldung

Vor diesem Hintergrund hat die Große Koalition ein umfassendes Sparpaket – bestehend aus Steuererhöhungen und dem Streichen von Steuervergünstigungen und staatlichen Leistungen – beschlossen. Damit sollen die Staatsfinanzen konsolidiert werden.

Dennoch hat die Große Koalition ein umfassendes Sparpaket – bestehend aus Steuererhöhungen und dem Streichen von Steuervergünstigungen und staatlichen Leistungen – beschlossen. Damit sollen die Staatsfinanzen konsolidiert werden.

143

Die Große Koalition hat ein umfassendes Sparpaket – bestehend aus Steuererhöhungen sowie dem Streichen von Steuervergünstigungen und staatlichen Leistungen – beschlossen. Damit sollen die Staatsfinanzen konsolidiert werden.

An dieser Stelle gibt es zwei interessierende Folgefragen: x Für wie dringlich halten Sie die Konsolidierung der Staatshaushalte in Deutschland – sehr dringlich, ziemlich dringlich, mittelmäßig, weniger dringlich oder überhaupt nicht dringlich? x Finden Sie dieses Vorhaben der Großen Koalition sehr gut, eher gut, teils gut, teils schlecht, eher schlecht oder sehr schlecht?

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen: Eine experimentelle Untersuchung zur Rolle von Ideologie-Hinweisen Sascha Huber

1

Einleitung

„A people who mean to be their own governors, must arm themselves with the power which knowledge gives. A popular government, without popular information, or the means of acquiring it, is but a prologue to a farce or a tragedy; or, perhaps both“ (zitiert in Lupia/McCubbins 1998:1). Dieser Ausspruch eines der Gründungsväter der modernen Demokratie, James Madison, beschreibt ein Hauptproblem von Demokratien. Demokratie als Herrschaft des Volkes basiert auf den Entscheidungen der Bürger. Nur wenn Bürger fähig sind, informierte politische Entscheidungen gemäß ihrem Interesse zu treffen, kann sinnvollerweise von einer Herrschaft des Volkes gesprochen werden. Die Idee der Demokratie impliziert, dass souveräne Bürger wissen was sie wollen und fähig sind, ihre Wünsche an politische Repräsentanten zu kommunizieren. Oder anders ausgedrückt, sie sollten beim Urnengang erstens über die Positionen der zur Wahl stehenden Parteien informiert sein, zweitens sollten sie sich eigene Positionen zu politischen Sachfragen gebildet haben und drittens sollten sie in der Lage sein, die Positionen der Parteien sinnvoll mit den eigenen Positionen in Verbindung zu setzen und zu einem Urteil über die zur Wahl stehenden Parteien bzw. Kandidaten zu integrieren. Diese Untersuchung beschäftigt sich mit dem ersten dieser drei Punkte, ohne den auch die anderen beiden keinen Sinn ergeben: Wie gut sind Wähler in der Abschätzung der politischen Positionen der unterschiedlichen Parteien und welche Rolle spielen dabei Ideologie-Hinweise und der Kontext des Parteienwettbewerbs? Im Idealzustand der Demokratie würden Wähler keine Zeit und Aufwand scheuen und sich über alle Sachthemen, die politisch verhandelt werden, und die jeweiligen Positionen aller Parteien zu diesen Themen genau informieren. Der reale Bürger, der mit seinem Beruf, seiner Familie und unterhaltsameren Dingen als Politik beschäftigt sein wird, wird das allerdings kaum tun. Schon die Autoren des American Voter konstatierten: „many people know the existence of few if any of the major issues of policy“ (Campbell et al. 1960: 170). Nicht besser fällt das aktuelle Urteil von Luskin (2002: 284) aus: „The verdict is stunningly, depressingly clear: most people know very little about politics“. In der Literatur wird erstens betont, dass Wähler in einem Großteil der Fälle über nicht ausreichend politisches Wissen verfügen (vgl. Converse 1964, 1966; Delli Carpini/Keeter 1996; Jerit et al. 2006). Zweitens wird auf die Tatsache verwiesen, dass Menschen immer nur beschränkte Verarbeitungskapazitäten haben und deshalb, unabhängig von der Fülle der Informationen, immer nur begrenzt rational entscheiden werden (vgl. z.B. Simon 1990, 1995; Kahneman et al. 1982).

146

Sascha Huber

In neuerer Forschung zur politischen Meinungsbildung wird dagegen darauf verwiesen, dass Wähler ihren Mangel an politischem Wissen und Verarbeitungskapazität durch einfache Heuristiken substituieren können und dadurch häufig so handeln, als ob sie nach einem rationalen Kalkül mit vollständiger Information entschieden hätten. Nach der Argumentation dieser Literatur braucht es für sinnvolle Bürgerentscheidungen und eine funktionierende Demokratie also nicht unbedingt den Idealbürger, der über sämtliches politisches Geschehen informiert ist und sich über alle Politikvorschläge Meinungen gebildet hat. Viele Studien konnten zeigen, dass einfache Heuristiken unwissenden Wählern helfen, vernünftige, ihren eigenen Interessen angemessene Entscheidungen, zu treffen (z.B. Sniderman et al. 1991; Popkin 1991; Lupia 1994; Lau/Redlawsk 1997; Gerber/Green 1999; Lupia/McCubbins 2000; Denzau/North 2000; Sniderman 2000; Alvarez/Brehm 2002). Gleichzeitig kamen aber auch Zweifel an diesem durchweg positiven Grundton auf. So konnten andere Studien zeigen, dass die Verwendung von Heuristiken für politische Entscheidungen systematisch in die Irre führen kann (z.B. Quattrone/Tversky 1988; Zaller 1992; Kuklinski/Hurley 1994; Baron 1997; Kuklinski 2001; Bartels 2002, 2003; Barker/Hansen 2005). Das verwundert nicht, schaut man auf die Forschung zu Heuristiken in der Psychologie. Dort wurde immer auch und im besonderen Maße auf die Dysfunktionalitäten von Heuristiken hingewiesen. Ganz allgemein wird der Begriff der Heuristik in der Psychologie für Faustregeln in der Urteilsbildung verwendet, die einen relativ geringen Verarbeitungsaufwand benötigen und sich auf in der Entscheidungsumgebung vorhandene Hinweise bezüglich des Beurteilungsobjektes stützen. Sie werden als nützliche Beurteilungshilfen für ansonsten überforderte Akteure beschrieben, die aber gleichzeitig zu systematischen Urteilsfehlern führen können (z.B. Kahneman et al. 1982). In der neueren psychologischen Literatur wurde dabei eine frühe Erkenntnis von Simon (1956) wieder aufgenommen, wonach eine rationale Wahl – neben den geistigen Fähigkeiten und dem Wissen der Akteure – vor allem von der Entscheidungsumgebung abhängt. Die Frage nach der Qualität von (heuristischen) Urteilen kann danach nicht allgemein und losgelöst von der jeweiligen Entscheidungsumgebung beantwortet werden (vgl. Gigerenzer 1999). Je nach Struktur der Entscheidungsumgebung werden Menschen mit ihren Urteilsstrategien zu mehr oder weniger guten Urteilen kommen: Je einfacher strukturiert die Entscheidungsumgebung, je besser die Hinweise sind, die der Kontext dem Entscheider zur Verfügung stellt, und je besser der Entscheider diese Hinweise nutzen kann, desto besser wird auch die Entscheidung sein. Will man untersuchen, wie gut Wähler in der Abschätzung von Parteipositionen sind und ob Ideologie-Hinweise dabei hilfreich sein können, sind neben den kognitiven aber immer auch motivationale Prozesse zu beachten. Die Psychologie hat auf den unterschiedlichsten Feldern motivationale Verzerrungen der Urteilsbildung nachgewiesen (vgl. Kunda 1990). Menschen sind danach nicht immer und ausschließlich daran interessiert, das bestmögliche Urteil zu bilden und dabei alle Informationen und Hinweise in objektiver Art und Weise einzubeziehen. Vielmehr kommt es teilweise zu systematischen Verzerrungen hin zu Urteilen, die dem Entscheider angenehm sind, da sie mit vorhandenen Weltanschauungen, Stereotypen oder früheren Urteilen übereinstimmen. Zu den zuvor ausgeführten kognitiven Schwierigkeiten bei der Abschätzung von Parteipositionen kommen also unter Umständen noch motivationale Verzerrungen hinzu, die eine vernünftige politische Urteilsbildung zusätzlich erschweren (vgl. z.B. Taber/Lodge 2006). Bevor in Abschnitt 1.2 auf diese

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

147

motivationalen Verzerrungen eingegangen wird, soll im nächsten Abschnitt die Verwendung von Ideologie-Hinweisen aus rein kognitiver Sichtweise behandelt werden. 1.1 Kognition und Ideologie-Hinweise im zweidimensionalen Parteienwettbewerb Als zentrale Heuristik bei der Abschätzung von Parteipositionen kann das Nutzen von Ideologie-Hinweisen angesehen werden (vgl. z.B. Downs 1957; Hinich/Munger 1994; Denzau/North 2000; Lau/Redlawsk 2006). Statt sich über jeden einzelnen Standpunkt der Parteien oder Kandidaten zu informieren, kann der Wähler deren Position auf einer ideologischen Dimension als zusammenfassenden Hinweis für einzelne politische Streitfragen nutzen. Aus den relativen Positionen der Parteien auf der ideologischen Dimension kann der Wähler auf die relativen Politikpositionen der Parteien schließen. Die Qualität des Ideologie-Hinweises ist dabei davon abhängig, wie gut die relativen Politikpositionen durch die relativen Positionen der Parteien auf einer allgemeinen Ideologie-Dimension bestimmt werden können. Die vereinfachende Wirkung von Ideologien nimmt mit der Zahl der zu ihrer Abbildung notwendigen Dimensionen ab. Der Idealfall für den Wähler ist, dass sich die relativen Positionen der Parteien zu politischen Streitfragen aus einer einzigen ideologischen Dimension ableiten lassen. Analysen der Parteikonstellationen in westlichen Demokratien haben ergeben, dass sich die relativen Parteipositionen bei verschiedenen politischen Fragen tatsächlich auf ein bis zwei Dimensionen zurückführen lassen (vgl. Benoit/Laver 2006; Laver/Hunt 1994; McDonald/Mendes 2000). In vielen Ländern lassen sich sogar alle Themenfelder auf eine einzige Links-Rechts-Dimension zurückführen. In Deutschland sind dagegen zwei Dimensionen nötig, um den Parteikonstellationen gerecht zu werden. Die FDP ist beispielsweise bei gesellschaftspolitischen Themen wie etwa staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre deutlich links von der CDU anzusiedeln, bei wirtschaftspolitischen Themen aber rechts von ihr. Verkürzt man den Parteienwettbewerb in Deutschland dennoch auf eine allgemeine und abstrakte Links-Rechts-Dimension, gehen also Informationen verloren und das Nutzen dieser allgemeinen Dimension wird zu Fehlern bei der Abschätzung der Parteipositionen führen. Allerdings ist die Links-Rechts-Dimension die vorherrschende Dimension in der politischen Diskussion in Deutschland. Die räumliche Anordnung der Parteien auf nur einer Dimension erlaubt eine einfache Kommunikation über die Positionen der Parteien. Das Verständnis der Links-Rechts-Dimension in Deutschland wurde in verschiedenen Studien allgemein untersucht. Klingemann (1979) zeigte schon früh, dass ein großer Teil der Wähler zu einem „passiven“ Erkennen und Verständnis der Links-Rechts-Dimension fähig ist, zur aktiven Konzeptionalisierung allerdings deutlich weniger. Fuchs und Klingemann (1990) weisen für die Wähler in Westdeutschland ein relativ breites Verständnis für verschiedene Bedeutungselemente von linker und rechter Politik nach.1 Auch für die Anordnung der Parteien auf der Links-Rechts-Dimension konnte gezeigt werden, dass Wähler in Deutschland zum großen Teil die Parteien konstant – und mit relativ geringen Standardab-

1

Arbeiter, Gleichheit, soziale Fortschrittlichkeit werden z.B. mit „links“ in Verbindung gebracht; Unternehmer, Kapitalismus und christliche Werte mit „rechter“ Politik.

148

Sascha Huber

weichungen – entsprechend anordneten, von links nach rechts: Grüne-SPD-FDP-CDU/CSU (siehe z.B. Klingemann 1972; Pappi et al. 2000). In einer der wenigen Untersuchungen zu möglichen Auswirkungen dieser Einordnung konnte Pappi (2002) mit Hilfe von Faktorenanalysen zeigen, dass sich die Wahrnehmung von Issue-Positionen der Parteien bei so unterschiedlichen Themen wie „Finanzierung der Pflegeversicherung“, „Erhöhung der Mineralölsteuer“ und „Änderung des Asylrechts“ auf eine latente allgemeine Links-Rechts-Dimension zurückführen lassen. Auf der individuellen Ebene blieb die Rangfolge der (großen) Parteien für jedes Thema gleich. Die FDP blieb bei jeder der Fragen links von der CDU/CSU, obwohl sie bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Themen der „Finanzierung der Pflegeversicherung“ und der „Erhöhung der Mineralölsteuer“ nach Expertenmeinung rechts von der CDU/CSU liegt. Diese Rangfolge suggeriert, dass ein Teil der Wähler den Hinweis der allgemeinen Links-Rechts-Dimension tatsächlich anzuwenden scheint, auch in Fällen, in denen der Hinweis zu keinen optimalen Urteilen führt. Hier zeigt sich deutlich die Schwierigkeit für Wähler in einem zweidimensionalen Parteienwettbewerb, wie er in Deutschland vorliegt. In dieser recht komplexen Entscheidungsumgebung kann der Ideologie-Hinweis der allgemeinen Links-Rechts-Dimension in die Irre führen. In einer einfacheren Entscheidungsumgebung, in der der Parteienwettbewerb auf eine einzige Dimension zurückzuführen ist, wäre er dagegen auf jeden Fall sinnvoll und würde zu guten Einschätzungen der Parteipositionen führen. Die bisherigen Studien zur Bedeutung von Ideologie für die Wahrnehmung von Parteipositionen durch die Wähler in Deutschland haben zu wichtigen Erkenntnissen geführt. Stellt man sich jedoch die konkrete Frage, ob Wähler Ideologie-Hinweise tatsächlich nutzen können und dies gegebenenfalls auch tun, erscheint die Evidenz noch sehr unvollständig. Für die Anwendung von Ideologie-Hinweisen auf das Abschätzen von Parteipositionen gibt es zunächst zwei notwendige Bedingungen. Erstens müssen Wähler die ideologischen Dimensionen auf entsprechende spezifische politische Sachfragen anwenden können: Hat der Wähler also eine Relation von Parteien auf einer ideologischen Dimension im Kopf, muss diese Relation auch korrekt auf die spezifischen Sachfragen übertragen werden können. Die zweite notwendige Bedingung für ein sinnvolles Nutzen von Ideologie-Hinweisen ist, dass Wähler die tatsächliche Relation der Parteien auf der Ideologie-Dimension kennen. Nur dann lässt sich diese Relation auch auf Sachfragen übertragen. Während die zweite Bedingung – zumindest für die Links-Rechts-Dimension – recht gut erforscht ist, gilt dies weniger für die erste Bedingung. Die Schwierigkeit bei der Erforschung der ersten Bedingung ist allerdings, dass man die Übertragung der ideologischen Dimensionen auf politische Sachfragen bei realen Parteien schwer beobachten kann: Wenn die CDU beim Thema Kriminalität von einem Wähler die strikteste Haltung von allen Parteien zugewiesen bekommt, ist unklar, ob dieser Wähler auf substanzielles Wissen bezüglich der Parteipositionen beim Thema Kriminalität zurückgreift oder ob er – in Abwesenheit solch substanzieller Information – die Positionen der Parteien auf der Links-Rechts-Dimension erfolgreich auf das Thema Kriminalität anwendet. Hier soll versucht werden, dieses Problem zu umgehen, indem in einem experimentellen Kontext die ideologischen Positionen von fiktiven Parteien gegeben werden, über die Versuchspersonen keine substanziellen Informationen haben können. Wenn sie dann fähig sind, die Positionen der fiktiven Parteien bei spezifischen politischen Sachfragen korrekt einzuschätzen, kann davon ausgegangen werden, dass sie die ideologische Relation

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

149

korrekt auf die Sachfrage übertragen haben. So kann herausgefunden werden, welche Wähler tatsächlich die erste Bedingung zur Nutzung von Ideologie-Hinweisen erfüllen (Abschnitt 3.1). In einem zweiten Schritt kann dann untersucht werden, ob Wähler, die diese Bedingung erfüllen, einen Vorteil bei der Abschätzung der Positionen der realen deutschen Parteien bei Sachfragen haben (Abschnitt 3.2). Nicht genügend berücksichtigt in der bisherigen Forschung wurde außerdem die Zweidimensionalität des deutschen Parteienwettbewerbs. Nimmt man die Erkenntnisse aus der Heuristiken-Forschung in der Psychologie ernst, wonach der Entscheidungskontext eine zentrale Rolle für das Nutzen von Hinweisen und die Qualität der Urteilsbildung spielt, dann muss auch die Dimensionalität des Parteienwettbewerbs berücksichtigt werden. Es ist zu vermuten, dass ein Teil der Wählerschaft sich darüber bewusst ist, dass der Parteienwettbewerb in Deutschland zweidimensional ist und deshalb auch weniger auf die LinksRechts-Dimension vertraut, sondern die besseren Hinweise der inhaltlich definierten Ideologie-Dimensionen der Wirtschafts- und Sozialpolitik bzw. der Gesellschaftspolitik nutzt, um politische Positionen der Parteien abzuschätzen. In dieser Studie soll systematisch untersucht werden, wie gut Wähler verschiedene ideologische Dimensionen auf politische Sachfragen anwenden können. Im experimentellen Design werden entweder die ideologischen Dimensionen der Wirtschafts- und Sozialpolitik bzw. der Gesellschaftspolitik vorgegeben oder aber die Links-Rechts-Dimension. Dabei wird vermutet, dass die Versuchspersonen sich darüber bewusst sind, dass die Links-Rechts-Dimension, trotz ihrer Salienz in der öffentlichen Diskussion, in einem zweidimensionalen Parteienwettbewerb nicht immer gut auf verschiedene Politikfelder anzuwenden ist. Es wird deshalb erwartet, dass die inhaltlich definierten Dimensionen der Wirtschafts- und Sozialpolitik bzw. der Gesellschaftspolitik stärker auf politische Sachfragen angewendet werden als die abstrakte Links-RechtsDimension (Abschnitt 3.1). Um mögliche Schwierigkeiten von Wählern mit dem zweidimensionalen Parteienwettbewerb zu untersuchen, wird außerdem experimentell variiert, ob sich die ideologischen Positionen der präsentierten fiktiven Parteien auf eine Dimension zurückführen lassen (eindimensionaler Parteienwettbewerb) oder nicht (zweidimensionaler Parteienwettbewerb). Hier wird erwartet, dass Versuchspersonen in der zweidimensionalen Bedingung größere Schwierigkeiten haben, die ideologischen Rangordnungen der fiktiven Parteien auf Sachfragen anzuwenden, als Versuchspersonen in der eindimensionalen Versuchsbedingung. 1.2 Motivation und die Projektion der eigenen Positionen auf bevorzugte Parteien Das Nutzen von Ideologie-Hinweisen bei der Abschätzung von Parteipositionen setzt voraus, dass Wähler tatsächlich an den „wahren“ Positionen von Parteien interessiert sind und entsprechend die bestmöglichen Informationen und Hinweise nutzen, um die Positionen abzuschätzen. In der Psychologie wird aber immer auch auf motivationale Verzerrungen der Urteilsbildung aufmerksam gemacht. In der Politikwissenschaft wurden wiederholt stabile Projektionseffekte bei der Einschätzung von Partei- und Kandidatenpositionen festgestellt. Wähler projizieren demnach häufig ihre eigenen Positionen auf die von ihnen bevorzugten Kandidaten oder Parteien.

150

Sascha Huber

Hinweise auf Projektionseffekte lieferten zahlreiche Studien, die im Querschnitt eine Korrelation zwischen den Positionen der Wähler und den wahrgenommenen Positionen der bevorzugten Kandidaten oder Parteien festgestellt haben (z.B. Page/Brody 1972; Judd et al. 1983; Granberg/Holmberg 1988; Granberg 1993). Auch in Längsschnittstudien konnten Projektionseffekte wiederholt nachgewiesen werden (Markus/Converse 1979; Conover/Feldman 1986). Theoretisch bezogen sich diese Studien meist auf das Modell kognitiver Dissonanz von Festinger (1957). Danach bevorzugen Menschen den Zustand kognitiver Konsistenz.2 Übertragen auf das Wählerverhalten bedeutet das: Eine Inkonsistenz von Kognitionen tritt auf, wenn ein Wähler wahrnimmt, dass eine von ihm positiv bewertete Partei eine Position vertritt, die er ablehnt. Um den unangenehmen Zustand der Inkonsistenz zu beenden, muss er eine der Kognitionen verändern. Er kann dann erstens seine Bewertung der Partei überdenken oder zweitens seine eigene Position ändern oder drittens seine Wahrnehmung der Parteiposition ändern. Die Annahme ist nun, dass die Änderung der Wahrnehmung den geringsten Widerstand auslöst. Wähler werden also ihre eigene Position auf positiv bewertete Kandidaten und Parteien projizieren. Allerdings lassen sich Projektionseffekte nicht nur motivational erklären, es ist auch eine andere – kognitive – Interpretation möglich. Danach würden Wähler ihre bereits getroffenen Urteile und Bewertungen über Parteien nutzen, um – in Abwesenheit substanzieller Informationen – auf die Positionen der Parteien zu schließen. Der Hinweis funktioniert dann zum Beispiel folgendermaßen: Ich finde die FDP gut und ich möchte einen niedrigen Spitzensteuersatz, folglich ist es wahrscheinlich, dass die FDP die Position einer Verringerung des Spitzensteuersatzes vertritt. Bei dieser Konzeption wird angenommen, dass Wähler ohne substanzielle Information und ohne verfügbare andere Hinweise lediglich einen möglichen Anhaltspunkt für die Abschätzung der Parteipositionen suchen. Und dieser Anhaltspunkt liegt in der eigenen Position und den Bewertungen der Parteien. Wie das oben genannte Beispiel zeigt, muss der Gebrauch einer solchen Heuristik nicht unbedingt zu einer falschen Einschätzung führen, es kann aber und wird auf jeden Fall zu beobachtbaren Projektionseffekten führen. Der zu Grunde liegende Mechanismus ist hier rein kognitiv und nicht auf eine motivationale Verzerrung zurückzuführen. In den empirischen Studien zur Projektionsthese lassen sich einige Hinweise für eine kognitive Interpretation finden: Projektionseffekte sind größer, wenn Kandidaten bewusst eindeutige Aussagen vermeiden (z. B. beim Thema des Vietnam-Krieges, vgl. Page/Brody 1972), wenn Wähler Kandidaten schlechter kennen (z.B. in den USA Carter im Vergleich zu Reagan, vgl. Conover/Feldman 1986), wenn es sich um „untypische“ Themenfelder handelt, auf die andere „externe“ Hinweise nicht angewendet werden können (z.B. in den USA das für Demokraten untypische Thema der Verteidigungsausgaben im Vergleich zum Thema der Arbeitspolitik, vgl. Conover/Feldman 1986), oder wenn die Entscheidungsumgebung insgesamt weniger strukturiert ist, was sich beim Vergleich von Projektionseffekten in Schweden (stark strukturiertes Parteiensystem) und den USA (wenig strukturiertes Parteiensystem) zeigte (Granberg/Holmberg 1988). Aus einer kognitiven Perspektive ergibt dieses unterschiedliche Ausmaß der Projektion durchaus Sinn. Wenn die Projektion eigener 2

Eine Inkonsistenz von Kognitionen tritt auf, wenn diese nicht miteinander vereinbar sind. Um den unangenehmen Zustand inkonsistenter Kognitionen zu beenden, werden Menschen versuchen, eine Kognition zu ändern. Sie werden dabei die Kognition wählen, die einen geringeren Änderungswiderstand – das heißt weniger mit ihr verbundene, sie unterstützende Kognitionen – hat.

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

151

Positionen auf Kandidaten und Parteien als Rückfalloption von Wählern dient, denen der politische Prozess nicht ausreichend valide Hinweise zur Verfügung stellt, dann sollte das Ausmaß der Projektion eine recht hohe Varianz haben. In Entscheidungsumgebungen, in denen wenige andere Hinweise verfügbar sind, sollte die Varianz steigen, in Entscheidungsumgebungen mit besseren Hinweisen sollte sie dagegen zurückgehen. Aus einer motivationalen Perspektive lässt sich die Varianz bei Projektionseffekten dagegen weniger gut erklären. Danach sollte der Wunsch nach kognitiver Konsistenz in den verschiedenen Entscheidungsumgebungen gleich hoch sein. Entsprechend sollte ein relativ konstantes Maß an Projektionseffekten zu beobachten sein. Die angeführten empirischen Beispiele für eine Varianz der Projektionseffekte können aber natürlich nur Hinweise auf einen kognitiven Mechanismus liefern. Schließlich wurde nicht systematisch untersucht, ob Wähler tatsächlich nur ihre eigenen Positionen auf die Positionen ihrer bevorzugten Parteien projizieren, wenn sie keine valideren Hinweise zur Verfügung haben. Es ist deshalb offen, inwieweit Projektionseffekte stärker auf einen motivationalen oder einen kognitiven Mechanismus zurückzuführen sind. Im hier vorgestellten Experiment soll versucht werden diese Frage zu untersuchen, indem in den unterschiedlichen Versuchsbedingungen unterschiedlich hilfreiche Ideologie-Hinweise gegeben werden. Daneben erlaubt das Design, wie oben ausgeführt, die Unterscheidung in Versuchspersonen, die Ideologie-Hinweise nutzen können und solche, die dazu eher nicht in der Lage sind. Aus einer kognitiven Perspektive ist dann zu erwarten, dass in Bedingungen mit hilfreichen Ideologie-Hinweisen Projektionseffekte schwächer sind und dass dieser Zusammenhang besonders für die Versuchspersonen gilt, die keine Schwierigkeiten haben, Ideologie-Hinweise anzuwenden. Aus einer motivationalen Perspektive sollte es dagegen nicht von Bedeutung sein, wie gut die salienten Ideologie-Hinweise sind und wie gut diese von den Versuchspersonen angewendet werden können. Die Projektionseffekte sollten insgesamt relativ konstant sein. 2

Daten und experimentelles Design

Das Experiment wurde mit insgesamt 733 in Deutschland wahlberechtigten Personen durchgeführt.3 Dabei konnte ein breites Spektrum aus der Bevölkerung rekrutiert werden. 40 Prozent der Befragten hatten einen Haupt- oder Realschulabschluss, knapp 50 Prozent hatten Abitur, knapp 10 Prozent verfügten über keinen Abschluss oder machten keine Angabe. 45 Prozent der Befragten waren jünger als 36 Jahre, knapp 45 Prozent zwischen 36 und 65 Jahren und 8 Prozent waren älter als 65 Jahre. 44 Prozent der Befragten waren Frauen. Den Versuchspersonen wurde nach der Beantwortung einiger Fragen zu politischen Sachfragen eine hypothetische Situation mit den vier Parteien A, B, C und D vorgestellt. Als unabhängige Variable wurde dabei die Verortung der fiktiven Parteien im ideologi3

Die Rekrutierung für die Teilnahme an der paper-and-pencil Studie erfolgte an öffentlichen Plätzen, in Einkaufszentren und am Flughafen Frankfurt. Die Erhebung fand im Zeitraum vom 18. März bis zum 5. April 2008 statt. Bei Dominique Papousado, Tina Baier und den Teilnehmern der Übung „Politische Psychologie“ an der Universität Mannheim im Frühjahr-Sommersemester 2008 bedanke ich mich herzlich für ihre Hilfe bei der Durchführung der Erhebung.

152

Sascha Huber

schen Raum variiert. Die Parteien wurden entweder auf einer Links-Rechts-Dimension verortet oder auf einer wirtschaftspolitischen Dimension oder auf einer gesellschaftspolitischen Dimension oder auf der wirtschaftspolitischen und der gesellschaftspolitischen Dimension.4 Das experimentelle Design besteht also zunächst aus vier verschiedenen Versuchsbedingungen (links-rechts vs. wirtschaftspolitisch vs. gesellschaftspolitisch vs. wirtschafts- und gesellschaftspolitisch). Bei der letzten Bedingung mit der Verortung der Parteien auf den zwei verschiedenen Dimensionen wurde zudem variiert, ob die Parteien auf den beiden Dimensionen jeweils in gleicher Reihenfolge angeordnet waren (Verkürzung auf einen eindimensionaler Politikraum ist dann möglich) oder ob die Parteien in unterschiedlicher Reihenfolge auf den beiden Dimensionen angeordnet waren (eine Verkürzung auf einen eindimensionalen Politikraum ist dann nicht möglich). Insgesamt ergeben sich damit also fünf verschiedene Versuchsbedingungen. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Versuchsbedingungen.5 Tabelle 1: Ideologische Dimensionen in den verschiedenen Versuchsbedingungen Bedingung

Ideologische Verortung der fiktiven Parteien

N

1

Links-Rechts-Dimension

121

2

Wirtschaftspolitische Dimension

126

3

Gesellschaftspolitische Dimension

117

4a

Wirtschaftspoltische und gesellschaftspolitische Dimension – Rückführbar auf eindimensionalen Parteienwettbewerb

182

4b

Wirtschaftspoltische und gesellschaftspolitische Dimension – Nicht rückführbar auf eindimensionalen Parteienwettbewerb

187

Im Anschluss an die Beschreibung der Parteien und deren Verortung auf den entsprechenden Dimensionen wurden die Versuchspersonen gebeten abzuschätzen, welche Positionen die fiktiven Parteien bei drei verschiedenen politischen Sachfragen einnehmen würden: der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes, der Erhöhung des Arbeitslosengeldes II und bei Online-Durchsuchungen von Computern zur Verbrechensbekämpfung. Die Einschätzungen der Positionen dienten als erste abhängige Variable, die angibt, wie gut Wähler von den ideologischen Positionen auf Sachthemen schließen können. Danach wandte sich der Fragebogen den realen Parteien in Deutschland zu. Entsprechend der jeweiligen Versuchsbedingung wurden die Befragten gebeten, die Parteien auf der jeweils vorgestellten

4

5

Um den Versuchspersonen die inhaltlichen Dimensionen auch tatsächlich zu verdeutlichen, wurden sie notgedrungen auch detaillierter beschrieben als die allgemein bekannte Links-Rechts-Dimension (vgl. Anhang 1). Im Anhang finden sich die genauen Formulierungen der ideologischen Dimensionen, die sich an den Fragen der Experten-Umfrage von Benoit und Laver (2006) orientieren. Um die Auswirkungen der Dimensionalität zu testen, wurden in den Bedingungen 4a und 4b jeweils mehr Personen als in den anderen Bedingungen befragt.

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

153

Dimension einzuordnen.6 So sollte die unterschiedliche Salienz der Dimensionen in den verschiedenen Bedingungen sichergestellt werden. Am Ende sollten dann auch Positionen der realen deutschen Parteien bei den drei Sachthemen eingeschätzt werden. 3

Ergebnisse

3.1 Wie gut können Wähler verschiedene ideologische Dimensionen auf spezifische politische Sachfragen anwenden? Mit Hilfe des Experiments kann getestet werden, wie gut Wähler von verschiedenen ideologischen Dimensionen auf spezifische Sachthemen der Politik schließen können. Während in der Forschung bisher ausschließlich die allgemeine Links-Rechts-Dimension als mögliche Hilfe für Wähler untersucht wurde, um auf spezifische Parteipositionen zu schließen, sollen hier auch die stärker inhaltlich definierten ideologischen Dimensionen der Wirtschafts- und Sozialpolitik bzw. der Gesellschaftspolitik analysiert werden. Abbildung 1 zeigt den Anteil der Versuchspersonen in der jeweiligen Bedingung, der die vorgegebene Anordnung der fiktiven Parteien auf einer ideologischen Dimension korrekt auf die verschiedenen politischen Sachfragen übertragen konnte. Notwendig hierfür war, dass die Versuchsperson einerseits die Endpunkte der vorgegebenen Dimension auf die Endpunkte der Sachfrage übertragen konnte und andererseits die Reihenfolge der Parteien auf der ideologischen Dimension beachtete. Wenn also Partei A am weitesten rechts auf der LinksRechts-Skala angeordnet war, sollte sie beim Thema Einführung eines Mindestlohnes die am stärksten ablehnende Position einnehmen, wenn Partei D am weitesten links auf der Links-Rechts-Skala angeordnet war, sollte sie die Position mit der größten Zustimmung zu einem Mindestlohn einnehmen. Die Parteien dazwischen sollten entsprechend angeordnet werden.7 Wie sich zeigt, schließen Versuchspersonen in den Bedingungen mit den stärker inhaltlich definierten Dimensionen der Wirtschaftpolitik bzw. Gesellschaftspolitik besser auf die Sachfragen, wenn die jeweilige Dimension auch auf die Sachfragen passt. Das ist zunächst wenig erstaunlich. Wenn die Position der Parteien auf der wirtschafts- und steuerpolitischen Dimension gegeben wurde, waren 42 Prozent der Befragten in der Lage, die Positionen der Parteien zu einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes II vollständig korrekt einzuschätzen. Wenn dagegen die gesellschaftspolitische Dimension gegeben war, konnten das

6

7

Das heißt, wer die Rangordnung der fiktiven Parteien auf der Links-Rechts-Dimension erhalten hat (Bedingung 1), sollte auch die realen Parteien nur auf der Links-Rechts-Dimension einordnen, wer eine Beschreibung der fiktiven Parteien auf der wirtschaftspolitischen Dimension erhalten hat (Bedingung 2), sollte die realen Parteien auch nur auf dieser Dimension einordnen. Wer die Rangordnungen der fiktiven Parteien auf beiden Dimensionen erhielt (Bedingung 4a und 4b), sollte auch die realen Parteien auf beiden Dimensionen verorten. Die Kategorisierung als „korrektes Schließen“ erfolgt hier ausschließlich für die Versuchspersonen, die die exakte Reihenfolge aller vier fiktiven Parteien bei den politischen Sachfragen vornehmen konnten. Wer fehlende Angaben zu einzelnen Parteien oder Fehler bei nur einer Partei aufwies, wurde als nicht korrekt kategorisiert. Das ist eine sehr strikte Definition, weniger strikte Definitionen ändern an den folgenden Ergebnissen jedoch nichts.

154

Sascha Huber

nur 17 Prozent.8 Bei der Frage nach den Positionen der Parteien bei Online-Durchsuchungen waren 27 Prozent zu einer korrekten Einschätzung in der Lage, wenn die gesellschaftspolitischen Positionen der Parteien gegeben waren, aber nur 13 Prozent, wenn die wirtschafts- und steuerpolitischen Positionen gegeben waren.9 Die Unterschiede zwischen der inhaltlich passenden ideologischen Dimension und der unpassenden Dimension sind dabei jeweils für alle drei politischen Sachfragen statistisch signifikant (zweiseitiger t-Test: p <0,01). Abbildung 1:

Korrektes Schließen von gegebenen ideologischen Dimensionen auf Positionen bei politischen Sachfragen

50

Wirtschaftspolitische Dimension (Bed. 2) Gesellschaftspolitische Dimension (Bed. 3) Links-Rechts-Dimension (Bed. 1)

40

30

20

10

%

0 Mindestlohn

Arbeitslosengeld II

Online-Durchsuchungen

Interessanter ist der Vergleich der inhaltlich bestimmbaren Dimensionen der Wirtschaftsbzw. Gesellschaftspolitik mit der Links-Rechts-Dimension. Dabei zeigt sich, dass die Links-Rechts-Dimension weniger auf die spezifischen Sachfragen angewendet wurde als die jeweils passende inhaltliche Dimension. Befragte, denen die wirtschaftspolitische Dimension vorgelegt wurde, schlossen häufiger auf die korrekten Parteipositionen bei den Fragen des Mindestlohnes und des Arbeitslosengeldes. Befragte, denen die gesellschaftspolitische Dimension vorgelegt wurde, schlossen etwas häufiger auf die korrekten Positionen bei der Frage der Online-Durchsuchungen als die Versuchspersonen in der Links-

8

9

Als korrekt wurde hier kategorisiert, wenn die Versuchspersonen einer Partei, die als die konservativste in der Gesellschaftspolitik positioniert wurde, auch die konservativste Haltung – also am stärksten ablehnende Haltung – bei einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes II zuwiesen, und wenn sie der liberalsten Partei in der Gesellschaftspolitik die am stärksten befürwortende Position zuwiesen. Das ist natürlich nicht zwingend korrekt. Vor dem Hintergrund, dass die meisten realen deutschen Parteien sich tatsächlich auf eine solche einheitliche Dimension zurückführen lassen, erscheint das aber die beste Vermutung für Personen, die nur die unpassende inhaltliche Dimension erhielten. Als korrekt wurde hier kategorisiert, wenn die Versuchspersonen einer Partei, die links auf der sozioökonomischen Dimension verortet wurde, die am stärksten ablehnende Haltung zu Online-Durchsuchungen zuwiesen, etc. (vgl. Fußnote 8).

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

155

Rechts-Bedingung. Bei Arbeitslosengeld und Mindestlohn sind diese Unterschiede statistisch signifikant (t-Test: p<0,05), bei der Frage der Online-Durchsuchungen nicht. Vergleicht man zusätzlich zu diesen Zahlen verschiedene Bildungsschichten, ergeben sich deutliche Unterschiede sowohl im allgemeinen Niveau des Schließens als auch zwischen den Versuchsbedingungen. In den Versuchsbedingungen mit den jeweils passenden inhaltlichen ideologischen Dimensionen schlossen die Befragten mit höherer Bildung (Abitur oder Studium) ungefähr doppelt so häufig korrekt auf die Parteipositionen als die Befragten mit geringer Bildung (weniger als Abitur).10 Für die inhaltlich nicht passende ideologische Dimension ergeben sich insgesamt noch größere Unterschiede. Während nur sehr wenige gering Gebildete – sechs bis neun Prozent in den verschiedenen Versuchsbedingungen – von der nicht passenden Dimension auf die Politikpositionen schließen konnten, waren es bei den höher Gebildeten immerhin 19 bis 23 Prozent.11 Die insgesamt geringsten Unterschiede für das Bildungsniveau ergeben sich beim Gebrauch der LinksRechts-Skala. So schlossen z.B. 32 Prozent der Befragten mit hoher Bildung korrekt von der Links-Rechts-Dimension auf die Positionen der Parteien beim Thema des Mindestlohns. Das taten aber auch 22 Prozent der Befragten mit geringer Bildung. Das lässt sich auf zwei Arten interpretieren. Zum einen kann man vermuten, dass die geringer Gebildeten mit den inhaltlich definierten Dimensionen größere Probleme hatten, andererseits dass die höher Gebildeten sich, vor dem Hintergrund des zweidimensionalen deutschen Parteiensystems, weniger auf die einfachere Links-Rechts-Dimension verlassen wollten. Interessant ist zudem, dass selbst die geringer Gebildeten insgesamt häufiger auf die Parteipositionen schlossen, wenn sie die inhaltlich passenden Dimensionen an Stelle der Links-Rechts-Dimension zur Verfügung hatten. Bedenkt man die in der öffentlichen Diskussion deutlich höhere Salienz der LinksRechts-Skala, erstaunt dieses Ergebnis etwas. Versuchspersonen sollten eher an die LinksRechts-Skala und ihre Anwendung auf verschiedene Politikfelder gewöhnt sein. Allerdings ist offensichtlich, dass die Links-Rechts-Dimension als oberste Generalisierungsebene sehr abstrakt ist. Von den spezifischeren Politikdimensionen der Wirtschafts- bzw. Gesellschaftspolitik lässt sich möglicherweise leichter die Verbindung zu spezifischen Sachfragen schlagen.12 Daneben ist der reale politische Kontext der Versuchspersonen zu bedenken. Wenn Versuchspersonen im realen politischen Leben an den zweidimensionalen deutschen Parteienwettbewerb gewöhnt sind, in dem die eindimensionale Links-Rechts-Skala häufig in die Irre führt, erscheint es plausibel, dass die Links-Rechts-Skala auch im Experiment weniger häufig auf die Parteipositionen bei spezifischen Sachfragen angewendet wird als wenn eine passende inhaltliche Dimension vorliegt. Es kann vermutet werden, dass die

10

11

12

Beispielsweise schlossen 56 Prozent der Versuchspersonen mit höherer Bildung von der in Bedingung 2 gegebenen wirtschaftspolitischen Dimension korrekt auf die Positionen der Parteien beim Arbeitslosengeld II, bei den Versuchspersonen mit geringerer Bildung waren es dagegen nur 28 Prozent. Unter den Versuchspersonen mit geringer Bildung waren beispielsweise beim Thema des Mindestlohnes nur sechs Prozent in der Lage, von der gesellschaftspolitischen Dimension auf die Parteipositionen beim Mindestlohn zu schließen (Bedingung 3), unter den Versuchspersonen mit höherer Bildung war das immerhin bei 23 Prozent der Fall. Das gilt insbesondere für die notgedrungen spezifischere Erklärung der inhaltlichen Dimensionen im Experiment.

156

Sascha Huber

Links-Rechts-Skala häufiger zur Anwendung kommen würde, wenn das Experiment in einem Land mit einem eindimensionalen Parteienwettbewerb durchgeführt werden würde. Die Dimensionalität des tatsächlichen Parteienwettbewerbs kann im Experiment natürlich nicht variiert werden, in den Versuchsbedingungen 4a und 4b wurde allerdings versucht, die Dimensionalität der fiktiven Parteikonstellationen zu variieren, um Anhaltspunkte für mögliche Schwierigkeiten von Wählern im Umgang mit einem zweidimensionalen Parteienwettbewerb zu finden. Dabei wurden jeweils die beiden inhaltlichen ideologischen Dimensionen präsentiert, variiert wurden die Positionen der Parteien auf diesen Dimensionen: In Bedingung 4a war die Reihenfolge der Parteien auf den Dimensionen jeweils gleich (und damit rückführbar auf einen eindimensionalen Politikraum), in Bedingung 4b unterschied sich die Reihenfolge der Parteien auf den ideologischen Dimensionen voneinander (und war damit nicht rückführbar auf eine Dimension: zweidimensionaler Politikraum). Vergleicht man zunächst den Anteil der Versuchspersonen, die keine Angaben machten oder die Option „Weiß nicht“ ankreuzten, zeigt sich ein sehr deutlicher Unterschied. Waren es in Bedingung 4a mit ihrem eindimensionalen Parteienwettbewerb 17 Prozent, so waren es in Bedingung 4b mit ihrem zweidimensionalen Parteienwettbewerb immerhin 26 Prozent (T-test: p<0,05). Der zweidimensionale Parteienwettbewerb in dem fiktiven Beispiel schien also einen beträchtlichen Anteil der Versuchspersonen so zu verwirren, dass sie sich kein Urteil über die Positionen der Parteien zutrauten. Noch relevanter erscheint jedoch der Vergleich korrekter Einschätzungen in den verschiedenen Versuchsbedingungen. In Abbildung 2 wird der Anteil der Versuchspersonen mit korrekten Einschätzungen angegeben.13 Abbildung 2:

50

Anteil der Versuchspersonen mit korrekten Einschätzungen in den zweidimensionalen Versuchsbedingungen Zw eidimensionaler Parteiw ettbew erb (Bed.4b) Eindimensionaler Parteiw ettbew erb (Bed. 4a)

40

30

20

10 %

0 alle Befragte

13

Befragte mit niedrigem Bildungsgrad

Befragte mit hohem Bildungsgrad

Dabei wurden Werte über alle drei Sachfragen gebildet, da sich bei Einzelbetrachtung der Sachfragen jeweils sehr ähnliche Unterschiede fanden.

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

157

Betrachtet man zunächst die Ergebnisse für alle Befragten, zeigt sich der erwartete Unterschied. Wenn der Parteienwettbewerb auf eine Dimension zurückzuführen ist (Bedingung 4a), fällt die Einschätzung der Parteipositionen leichter als wenn er nicht auf eine Dimension zurückzuführen ist (Bedingung 4b). Der Unterschied erreicht hier allerdings keine statistische Signifikanz. Deutlich größer ist die Diskrepanz zwischen den Versuchsbedingungen, blickt man nur auf die Befragten ohne Abitur. Während im zweidimensionalen Parteienwettbewerb nur zehn Prozent die Positionen der Parteien richtig einschätzen konnten, konnten es im eindimensionalen Parteienwettbewerb mehr als doppelt so viele (t-Test: p<0,05). Für Befragte mit hohem Bildungsgrad (Abitur bzw. Hochschulabschluss) ergab sich durch die Dimensionalität des Parteienwettbewerbs dagegen so gut wie kein Unterschied. Der zweidimensionale Parteienwettbewerb scheint also einem Teil der Wähler die Abschätzung der Parteipositionen aufgrund gegebener ideologischer Dimensionen zu erschweren. Das zeigt sich deutlich bei dem Anteil der Versuchspersonen, die kein Urteil abgaben. Es zeigt sich auch bei dem Anteil der korrekten Einschätzungen und hierbei insbesondere für Befragte mit geringem Bildungsgrad. Geht man davon aus, dass Wähler mit geringer Bildung auch über weniger substanzielle Informationen bezüglich der Parteipositionen verfügen, dann scheint die Zweidimensionalität des deutschen Parteienwettbewerbs gerade denjenigen Wählern das Nutzen ideologischer Hinweise zu verbauen, die am meisten darauf angewiesen wären, da ihnen häufig substanzielle Informationen fehlen. 3.2 Ideologie und das Schließen auf die Positionen der deutschen Parteien Nachdem in Abschnitt 3.1 untersucht wurde, inwieweit Wähler grundsätzlich dazu in der Lage sind, verschiedene ideologische Dimensionen auf politische Sachfragen zu übertragen, kann nun untersucht werden, ob die Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, tatsächlich bei der Abschätzung spezifischer Parteipositionen hilft. Eine zweite notwendige Bedingung neben der Fähigkeit, ideologische Dimensionen auf Sachfragen zu übertragen, ist es dabei, die Positionen der deutschen Parteien auf den entsprechenden ideologischen Dimensionen zu kennen. Während die ideologischen Positionen in dem fiktiven Beispiel oben gegeben waren, müssen Wähler die ideologischen Positionen der tatsächlichen Parteien selbst zuordnen können, um von diesen Positionen auch auf Issue-Positionen schließen zu können. Hierfür wurden die Befragten gebeten, die Positionen der deutschen Parteien auf den jeweiligen ideologischen Dimensionen einzuschätzen, die im fiktiven Beispiel genutzt wurden. Für die Links-Rechts-Dimension wird das häufig in Umfragen abgefragt, für die stärker inhaltlich definierten Dimensionen der Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie der Gesellschaftspolitik hingegen weniger. Deshalb ist zunächst unklar, ob Wähler die Parteien auf diesen Dimensionen überhaupt sinnvoll anordnen können und wie valide das Messinstrument ist. In den Anhängen 2 und 3 sind die Werte dargestellt, die die Versuchspersonen den Parteien auf den jeweiligen Dimensionen im Mittel zugewiesen haben. Ein Vergleich mit den Werten der Expertenbefragung von Benoit und Laver (2006), auf deren Fragen zu den ideologischen Positionen auch die hier verwendeten Fragen basieren, zeigt eine relative gute Übereinstimmung der Einschätzungen der Versuchspersonen und der Experten. Ent-

158

Sascha Huber

scheidend für unsere Fragestellung ist dabei, ob die jeweilige Versuchsperson die Reihenfolge der Parteien auf der Ideologie-Dimension richtig zuordnen kann.14 Zusammen mit der oben untersuchten Fähigkeit, die ideologischen Positionen auf Sachfragen anzuwenden, kann dann aus diesen beiden notwendigen Bedingungen die Gruppe der Versuchspersonen gebildet werden, die auf jeden Fall dazu fähig sein sollte, Ideologie-Hinweise zu nutzen. Diese Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, bildet die zentrale unabhängige Variable15 der Modelle in Tabelle 2. Tabelle 2: Korrektes Einschätzen der realen Parteipositionen bei politischen Sachfragen Modell 1 ***

Modell 2

Modell 3

***

1,25*** (,17)

Politisches Wissen allgemein

1,33 (0,17)

1,26 (0,17)

Bildung Mind. Abitur: 1; Sonstige: 0

0,87*** (0,12)

0,72*** (0,12)

0,70*** (0,12)

0,88*** (0,13)

0,23 (0,24)

Fähigkeit zur Nutzung von Ideologie-Hinweisen Salienz hilfreicher ideologischer Dimensionen Interaktionsterm: Salienz hilfreicher ideologischer Dimension X Fähigkeit zur Nutzung von Ideologie-Hinweisen

-0,05 (0,14) 0,56** (0,22)

Pseudo-R²

0,06

0,08

0,09

N (Werte)

2199

2199

2199

N (Befragte)

733

733

733

Alle Variablen wurden auf ein Intervall von 0 bis 1 standardisiert. Zellen enthalten Koeffizienten der logistischen Regression. Robuste Standardfehler (korrigiert für die Cluster) in Klammern. Signifikanzniveaus: * p<0,05 ** p<0,01 ***p<0,001

Zur Bildung der abhängigen Variablen wurden die Einschätzungen der Positionen der deutschen Parteien bei den drei Sachfragen Mindestlohn, Erhöhung des Arbeitslosengeldes II und Online-Durchsuchungen erhoben. Als abhängige Variable in den Modellen in Tabelle 2 diente dann, ob die Versuchspersonen die relativen Positionen der deutschen Par14

15

Wie zu erwarten, waren mehr Versuchspersonen mit der Links-Rechts-Anordnung der deutschen Parteien vertraut (67%) als mit deren Anordnung auf der wirtschaftspolitischen Dimension (32%) oder der gesellschaftspolitischen Dimension (44%). Das mag einerseits an der höheren Salienz der Links-Rechts-Dimension liegen, andererseits liegt es auch an der Codierung. Da die Anordnung auf der Links-Rechts-Skala im zweidimensionalen deutschen Parteiensystem nicht vollständig eindeutig ist, wurde die Anordnung sowohl als korrekt definiert, wenn die Versuchspersonen die FDP links von der CDU einstuften als auch umgekehrt. Bei den inhaltlichen Dimensionen galt dies nicht. Die Variable wurde als Dummy folgendermaßen codiert: Wenn Versuchspersonen dazu in der Lage waren, sowohl die realen Parteien auf den ideologischen Dimensionen richtig anzuordnen als auch ideologische Dimensionen auf die jeweilige Sachfrage anzuwenden, wurde ihnen der Wert eins zugeordnet. Alle anderen Versuchspersonen erhielten den Wert null.

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

159

teien bei der jeweiligen Sachfragen richtig eingeschätzt haben oder nicht. Da die Logik für alle drei Sachfragen die gleiche ist, wurde der Datensatz dreifach gestapelt, in jeder „Stapelung“ befindet sich die Einschätzung zu jeweils einem Issue. Im Basismodell 1 ohne Einbezug der Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, zeigen sich signifikante positive Effekte für das allgemeine politische Wissen16 und den Bildungsgrad der Befragten. In Modell 2 wurde die Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, mit einbezogen. Es zeigt sich ein deutlicher, signifikant positiver Effekt. Dabei bleiben die Effekte für allgemeines politisches Wissen und der Bildung bestehen, das Pseudo-R² erhöht sich von 0,06 auf 0,08. Die Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, erhöht also, unabhängig vom substanziellen Wissen über Politik und vom Bildungsgrad die Wahrscheinlichkeit, Positionen von Parteien richtig einschätzen zu können. Bürger scheinen tatsächlich Ideologie-Hinweise zu nutzen, um auf politische Positionen der Parteien zu schließen. Im zweidimensionalen deutschen Parteienwettbewerb sollte sich dieser Effekt aber vor allem dann einstellen, wenn auch die passenden ideologischen Dimensionen salient sind. Im Experiment waren in den verschiedenen Versuchsbedingungen unterschiedliche ideologische Dimensionen salient. Während in Bedingung 1 nur die Links-Rechts-Dimension salient war, in den Bedingungen 2 und 3 entweder die wirtschaftspolitische oder die gesellschaftspolitische, waren es in den Bedingungen 4a und 4b sowohl die wirtschafts- als auch die gesellschaftspolitische. Geht man davon aus, dass im zweidimensionalen Parteienwettbewerb Wähler im Vorteil sind, wenn die jeweils für die Sachfrage passende ideologische Dimension salient ist, kann man folgende Einteilung in hilfreiche und weniger hilfreiche Versuchsbedingungen vornehmen. Bedingung 4a und 4b sind für alle Sachfragen hilfreich, da beide Dimensionen salient waren. Bedingung 3 ist für die Frage nach den Positionen bei Online-Durchsuchungen hilfreich, aber nicht für die Frage nach dem Mindestlohn und des Arbeitslosengeldes, Bedingung 2 verhält sich dazu genau umgekehrt. Bedingung 1 mit der Links-Rechts-Dimension sollte im zweidimensionalen Parteienwettbewerb für alle Fragen weniger hilfreich sein. Anhand dieser Überlegungen und dank des gestapelten Datensatzes lässt sich die Variable „hilfreiche ideologische Bedingung“ konstruieren. Entscheidend für unsere Überlegungen ist aber weniger der Haupteffekt dieser Variable sondern die Interaktion mit der Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen. Modell 3 enthält sowohl die Variable „hilfreiche ideologische Bedingung“ als auch den Interaktionsterm. Während der Haupteffekt der hilfreichen ideologischen Bedingung klein und nicht signifikant ist, zeigt sich für den Interaktionsterm ein positiver signifikanter Effekt. Das heißt, die Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, hilft besonders dann, wenn auch hilfreiche ideologische Dimensionen zur Verfügung stehen. Versuchspersonen mit den entsprechenden ideologischen Kenntnissen waren – auch unter Kontrolle von generellem politischem Wissen – besser dazu in der Lage, die politischen Positionen der deutschen Parteien bei politischen Sachfragen einzuschätzen, wenn nützliche Ideologie-Hinweise salient waren. Umgekehrt bedeutet das: Wenn in einem zweidimensionalen Parteienwettbewerb nur die Links-Rechts-Skala oder eine nicht passende ideologische Dimension salient ist, hilft die grundsätzliche Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen wenig. 16

Diese Variable wurde aus drei Fragen gebildet, bei denen die Versuchspersonen die Funktionen unterschiedlicher deutscher Politiker angeben sollten. Das waren: Frank-Walter Steinmeier, Volker Kauder und Norbert Lammert.

160

Sascha Huber

3.3 Kognition und Motivation bei der Einschätzung der Parteipositionen Das Wissen um die ideologischen Positionen der Parteien und die Fähigkeit, diese Positionen auf Sachfragen anzuwenden, kann also manchen Wählern helfen, die Parteipositionen bei spezifischen Sachfragen korrekt abzuschätzen, besonders wenn dafür passende ideologische Dimensionen salient sind. Wenn diese Wähler ausschließlich daran interessiert sind, möglichst korrekt die Positionen der verschiedenen Parteien bei verschiedenen Sachfragen abzuschätzen, aber nicht das notwendige substanzielle Wissen haben, können sie IdeologieHinweise nutzen, um trotzdem zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. Im Folgenden wird sich abschließend möglichen gegenläufigen motivationalen Verzerrungen und Projektionseffekten gewidmet. In der Einleitung wurden unterschiedliche Mechanismen vorgestellt, die für das Auftreten von Projektionseffekten verantwortlich sein können. Wenn Projektionseffekte rein kognitiv zu erklären sind, also Wähler in Abwesenheit von substanzieller Information auf die (fehlerhafte) Heuristik verfallen, die eigene Position auf die bevorzugte Partei zu übertragen, sollten diese Projektionseffekte deutlich zurückgehen, sobald eine besser funktionierende Heuristik – das Nutzen von Ideologie-Hinweisen – verfügbar ist. Wenn aber Projektionseffekte motivationale Ursachen haben, d.h. wenn Wähler versuchen, ihre kognitive Dissonanz zu minimieren, indem sie ihren bevorzugten Parteien die eigenen Positionen bei politischen Sachfragen zuschreiben, dann sollte für das Ausmaß der Projektionseffekte unbedeutend sein, ob eine gute kognitive Heuristik für das Abschätzen der Parteipositionen vorliegt. Dank des experimentellen Designs lässt sich hier testen, ob die Größe der Projektionseffekte variiert, wenn unterschiedlich hilfreiche ideologische Dimensionen salient sind und ob es dabei jeweils einen Unterschied macht, inwieweit die Versuchspersonen die nötige Fähigkeit besitzen, um die Ideologie-Hinweise auch zu nutzen. In Abbildung 3 ist das Ausmaß der Projektion für die Sachfrage der Online-Durchsuchungen dargestellt. Als abhängige Variable dient jeweils die zugeschriebene Position der bevorzugten Partei, als unabhängige Variable die eigene Position. Bei sehr starker Projektion verliefe die Regressionsgerade in den Abbildungen sehr steil von links unten nach rechts oben, bei keinerlei Projektion wäre sie flach. In der rechten Hälfte der Abbildung wurden die Regressionsgeraden für die Versuchspersonen dargestellt, die über das Potenzial verfügen, Ideologie-Hinweise zu nutzen. Das sind solche, die einerseits fähig sind, Ideologie-Hinweise auf Sachfragen anzuwenden und andererseits die relativen ideologischen Positionen der deutschen Parteien auch kennen. In der linken Hälfte der Abbildung sind die Regressionsgeraden für die Versuchspersonen dargestellt, die weder über die Fähigkeit noch das nötige Wissen verfügen, um Ideologie-Hinweise zu nutzen. Vergleicht man die Steigungen der Geraden zwischen der linken und der rechten Grafik, zeigen sich nur geringe Unterschiede. Versuchspersonen mit der Fähigkeit, IdeologieHinweise zu nutzen, zeigten nur geringfügig kleinere Projektionseffekte. Der Vergleich der verschiedenen Versuchsbedingungen ergibt dagegen für beide Gruppen von Versuchpersonen einen recht deutlichen Unterschied. Wenn die Links-Rechts-Dimension salient war (Bedingung 1), kam es zu größeren Projektionseffekten als wenn die beiden inhaltlichen ideologischen Dimensionen salient waren (Bedingungen 4a und 4b). Dabei erreichen die

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

161

Effekte der eigenen Position auf die Position der bevorzugten Partei auch nur in Bedingung 1 statistische Signifikanz. Projektionseffekte bei der Sachfrage „Online-Durchsuchungen“ 6

Links-Rechts (Bed.1)

5 4 3 2 1

2

3

4

5

Zwei Dimensionen (Bed.4a u.4b)

1

Einschätzung der Position der bevorzugten Partei

6

Abbildung 3:

1

2

3

4

5

6

1

2

3

4

5

6

Eigene Position zu Online-Durchsuchungen Vpn ohne Wissen, um Ideologie aktiv zu nutzen

Vpn mit Wissen, um Ideologie aktiv zu nutzen

Folgt man der kognitiven Sichtweise von Projektionseffekten, war ein solcher Unterschied zu erwarten: Wer sich mit den relativen Positionen der Parteien auf den zwei inhaltlichen ideologischen Dimensionen beschäftigt hat, sollte eher Ideologie-Hinweise zur Abschätzung der Parteipositionen nutzen – und damit den schlechteren Hinweis der eigenen Position substituieren, als wenn er sich nur mit der sehr viel abstrakteren Links-RechtsDimension befasst hat, von der er geringere Hilfe bei der Abschätzung der Parteipositionen erwartet und deshalb womöglich weiterhin auf den Hinweis der eigenen Position vertraut. Überraschend ist dabei jedoch, dass sich dieser Effekt nicht nur für die Versuchspersonen zeigt, die das nötige Wissen haben, um die Ideologie-Hinweise auch aktiv zu nutzen. Eine mögliche Erklärung ist, dass die relativ strikte Kategorisierung, die anhand der Anwendung der Ideologie-Dimensionen bei den fiktiven Parteien vorgenommen wurde, etwas zu anspruchsvoll war und so auch Versuchspersonen, die als ideologisch „unwissend“ kategorisiert wurden, zumindest als latente Dimension etwas mit den inhaltlich definierten ideologischen Dimensionen anfangen konnten. Ein insgesamt ähnliches, aber weniger eindeutiges Bild ergibt sich bei den Themen der Erhöhung des Arbeitslosengeldes II und der Einführung von Mindestlöhnen, die hier aus Platzgründen nicht detailliert dargestellt werden können. Bei diesen Themen zeigten sich die größten Projektionseffekte jeweils für Versuchspersonen ohne ideologische Kenntnis, was auf einen kognitiven Mechanismus hinweist. Allerdings waren die Unterschiede zwischen den Versuchsbedingungen nicht sehr groß, was auf einen eigenständigen motivationalen Faktor hindeutet. Zusammenfassend ergibt sich also ein gemischtes Bild aus der Analyse der Projektionseffekte. Einerseits zeigte sich die erwartete Varianz zwischen den Versuchsbedingungen, besonders beim Thema der Online-Durchsuchungen. Andererseits waren die Effekte

162

Sascha Huber

nicht beschränkt auf die Versuchpersonen, die zweifelsfrei Ideologie-Hinweise nutzen konnten. Im Fall des Arbeitslosengeldes II und der Einführung von Mindestlöhnen zeigte sich zudem, dass beträchtliche Projektionseffekte selbst in den kognitiv hilfreichen Versuchsbedingungen bestehen bleiben. Die Analyse scheint also auf einen eigenständigen motivationalen Mechanismus bei Projektionseffekten hinzudeuten, der jedoch bei nicht hilfreichen Entscheidungsumgebungen von einem kognitiven Mechanismus verstärkt wird. 4

Fazit und Ausblick

Die hier präsentierten Analysen haben gezeigt, dass Wähler bei der Abschätzung von Parteipositionen tatsächlich auf ideologische Hinweise zurückgreifen. Versuchspersonen im Experiment konnten von verschiedenen ideologischen Dimensionen auf spezifische Sachthemen der Politik schließen. Während in der Forschung bisher ausschließlich die allgemeine Links-Rechts-Dimension als mögliche Hilfe für Wähler untersucht wurde, um auf spezifische Parteipositionen zu schließen, wurde hier gezeigt, dass Wähler auch die weniger salienten, dafür inhaltlich präziseren ideologischen Dimensionen der Wirtschafts- und Sozialpolitik bzw. der Gesellschaftspolitik auf spezifische Sachthemen anwenden können. Dabei war auffällig, dass die Links-Rechts-Dimension von weniger Versuchpersonen angewendet wurde als die jeweils passende inhaltliche ideologische Dimension. Neben der höheren Abstraktion der Links-Rechts-Dimension könnte eine mögliche Erklärung für diese Tatsache im zweidimensionalen deutschen Parteienwettbewerb liegen. Ein Teil der Wählerschaft scheint die Links-Rechts-Dimension als möglichen Hinweis für politische Sachfragen zu verwerfen, da er – wegen der Zweidimensionalität des Wettbewerbs – zu systematisch falschen Urteilen führen würde. Schwierigkeiten der Wähler im Umgang mit einem Parteienwettbewerb, der nicht auf eine einzige Dimension zurückzuführen ist, zeigten sich außerdem beim Umgang der Versuchpersonen mit den Positionen der fiktiven Parteien in Bedingung 4b. In dieser Bedingung zweidimensionalen Wettbewerbs fühlten sich weniger Versuchspersonen in der Lage, die Parteipositionen der fiktiven Parteien einzuschätzen als in der Bedingung 4a, in der der Parteienwettbewerb auf eine Dimension zurückzuführen war. Das galt insbesondere für Versuchspersonen mit geringerer Bildung. Die komplexe Entscheidungsumgebung eines zweidimensionalen Parteienwettbewerbs, wie sie in Deutschland anzufinden ist, scheint also nicht nur die Handhabung des einfachen und salienten Links-Rechts-Hinweises zu entwerten, sie bereitet den Wählern auch dann noch Probleme, wenn die passenden inhaltlichen Dimensionen verfügbar sind. In Abschnitt 3.2 konnte dann gezeigt werden, dass die Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, tatsächlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, die Positionen der realen deutschen Parteien richtig einzuschätzen – unabhängig vom substanziellen Wissen über Politik und des Bildungsgrades des Wählers. Dabei half die Fähigkeit, Ideologie-Hinweise zu nutzen, vor allem, wenn die passenden ideologischen Dimensionen zur Verfügung standen. Im zweidimensionalen deutschen Parteienwettbewerb half die Fähigkeit zur Nutzung von Ideologien dagegen wenig, wenn nur die Links-Rechts-Skala oder eine nicht passende ideologische Dimension salient war. Für den Wähler erschwert die komplexe Entscheidungsumgebung des zweidimensionalen Parteienwettbewerbs das Nutzen von Ideologie-

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

163

Hinweisen zur Abschätzung des politischen Angebotes also deutlich. Die in der öffentlichen Diskussion saliente Links-Rechts-Dimension ist unterkomplex und scheint deshalb von vielen Wählern nicht auf Sachfragen angewendet zu werden. Sofern sie trotzdem notgedrungen angewendet wird, führt sie nicht zu optimalen Ergebnissen. Für die öffentliche politische Diskussion wäre es deshalb wünschenswert, wenn stärker auf die inhaltlichen ideologischen Dimensionen und die unterschiedlichen Positionen der Parteien auf diesen Dimensionen verwiesen würde. Zu erwarten ist dies nicht. Links und rechts lassen sich im Gegensatz zu inhaltlich definierten Dimensionen des Parteienwettbewerbs ungleich leichter kommunizieren. Die Wahlforschung sollte sich deshalb aber nicht, wie in der Vergangenheit, ausschließlich auf die einfache Links-Rechts-Dimension beschränken. Wenn untersucht werden soll, wie gut Wähler mit begrenztem politischem Wissen die Positionen der Parteien in einem zweidimensionalen Wettbewerb abschätzen können, reicht es nicht aus, nur die Hinweise einer einzigen Ideologie-Dimension zu untersuchen. Wenn Wähler zu guten Einschätzungen der Parteipositionen bei politischen Sachfragen kommen möchten, sind sie in Deutschland auf die Hinweise von zwei ideologischen Dimensionen angewiesen. Für die Erforschung heuristischer Prozesse politischer Urteilsbildung erscheint es deshalb erfolgsversprechend, in Zukunft stärker auch die verschiedenen inhaltlichen ideologischen Dimensionen im Blick zu behalten. Auch wenn man weniger an der Qualität der politischen Urteilsbildung per se und mehr am politischen Entscheidungshandeln der Bürger interessiert ist, sollte die unterschiedliche Verwendung verschiedener ideologischer Dimensionen relevant sein. Wenn Wähler unterschiedliche ideologische Dimensionen im Kopf haben und diese unterschiedlich stark auf verschiedene Politikfelder anwenden, sollte das auch einen Einfluss auf die Wahlentscheidung haben. Mit dem hier berichteten Experiment konnte das nicht untersucht werden, weitere Forschung auf diesem Gebiet könnte gezielt versuchen, verschiedene ideologische Dimensionen noch stärker als hier salient zu machen und die Auswirkungen auf Wahlentscheidungen zu testen. Neben der Bedeutung unterschiedlicher ideologischer Dimensionen für das Abschätzen von Parteipositionen versuchte diese Studie auch, zwei Mechanismen zu untersuchen, die zu verzerrenden Projektionseffekten führen können. Dabei zeigte sich, dass nichtmotivationale Prozesse bei der Projektion der eigenen Meinung auf die Position der bevorzugten Partei durchaus eine Rolle spielen. Die eigene Position kann – bei fehlenden Informationen – als Hinweis gesehen werden für die Position der bevorzugten Partei. Wenn bessere ideologische Hinweise verfügbar waren, gingen die Projektionseffekte im Experiment zum Teil deutlich zurück. Allerdings war das nicht bei allen Sachfragen der Fall und es zeigten sich auch in den für die Versuchspersonen „hilfreichen“ Bedingungen noch deutliche Projektionseffekte. Das spricht für eine motivationale Basis von Projektionseffekten. Die hier präsentierten Ergebnisse können aber nur ein erster Schritt bei der Analyse der unterschiedlichen Mechanismen der Projektion sein. Zur weiteren Erforschung der verschiedenen Mechanismen könnte versucht werden, experimentell noch stärker als hier gezielt Entscheidungsumgebungen zu kreieren, die unterschiedlich valide Hinweise für die Abschätzung von Parteipositionen enthalten. In der Umfrageforschung könnte auf der anderen Seite versucht werden, Maße für die tatsächliche Verfügbarkeit von verschiedenen Heuristiken bei den Wählern zu finden und so zu untersuchen, ob Wähler, die über bessere

164

Sascha Huber

Hinweise als die eigene Position verfügen, geringere Projektionseffekte zeigen als Wähler, die keine validen Hinweise nutzen können. Literatur Alvarez, R. Michael/Brehm, John (2002): Hard Choices, Easy Answers. Princeton: Princeton University Press. Baron, Jonathan (1997): Biases in Quantitative Measurement of Values for Public Decisions. In: Psychological Bulletin 122, 72-88. Bartels, Larry M. (2002): Beyond the Running Tally. Partisan Bias in Political Perceptions. In: Political Behavior 24, 117-150. Bartels, Larry M. (2003): Democracy with Attitudes. In: MacKuen, Michael B./Rabinowitz, George (Hrsg.) (2003): Electoral Democracy. Ann Arbor: University of Michigan Press, 48-82. Barker, David C./Hansen, Susan B. (2005): All Things Considered. Systematic Processing and Electoral Decision-making. In: Journal of Politics 67, 319-344. Benoit, Kenneth/Laver, Michael (2006): Party Policy in Modern Democracies. London: Routledge. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York: John Wiley & Sons. Conover, Pamela J./Feldman, Stanley (1986): The Role of Inference in the Perception of Political Candidates. In: Lau, Richard/Sears, David O. (Hrsg.) (1986): Political Cognition. Hillsdale: Lawrence Erlbaum, 127-158. Converse, Phillip E. (1966): Information Flow and the Stability of Partisan Attitudes. In: Campbell, Angus (Hrsg.) (1966): Elections and the Political Order. New York: Wiley. Converse, Philip E. (1964): The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In: Apter, David E. (Hrsg.) (1964): Ideology and Discontent. Glencoe: Free Press. Delli Carpini, Michael X./Keeter, Scott (1996): What Americans Know about Politics and Why It Matters. New Haven: Yale University Press. Denzau, Arthur T./North, Douglass C. (2000): Shared Mental Models. Ideologies and Institutions. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew/Popkin, Samuel L. (Hrsg.) (2000): Elements of Reason. Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality. New York: Cambridge University Press, 23-46. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York: Harper Collins. Festinger, Leon (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press. Fuchs, Dieter/Klingemann, Hans-Dieter (1990): The Left-Right Schema. In: Jennings, M. Kent/Deth, Jan W. van (Hrsg.) (1990): Continuities in Political Action. Berlin: Walter de Gruyter, 203-235. Gerber, Alan/Green, Donald P. (1999): Misperceptions about Perceptual Bias. In: Annual Review of Political Science 2, 189-210. Gigerenzer, Gerd/Todd, Peter M./The ABC Research Group (1999): Simple Heuristics That Make Us Smart. Oxford: Oxford University Press. Granberg, Donald (1993): Political Perceptions. In: Iyengar, Shanto/McGuire, William J. (Hrsg.) (1993): Explorations in Political Psychology. Durham: Duke University Press, 70-113. Granberg, Donald/Holmberg, Sören (1988): The Political System Matters. Social Psychology and Voting Behavior in Sweden and the United States. Cambridge: Cambridge University Press. Hinich, Melvin J./Munger, Michael C. (1994): Ideology and the Theory of Political Choice. Ann Arbor: The University of Michigan Press. Jerit, Jennifer/Barabas, Jason/Bolsen, Toby (2006): Citizens, Knowledge, and the Information Environment. In: American Journal of Political Science 50, 266-282. Judd, Charles M./Kenny, David A./Krosnick, Jon A. (1983): Judging the Positions of Presidential Candidates. Models of Assimilation and Contrast. In: Journal of Personality and Social Psychology 44, 952-963.

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

165

Kahneman, Daniel/Slovic, Paul/Tversky, Amos (1982): Judgment under Uncertainty. Heuristics and Biases. Cambridge: Cambridge University Press. Klingemann, Hans-Dieter (1972): Testing the Left-right Continuum on a Sample of German Voters. In: Comparative Political Studies 5, 93-106. Klingemann, Hans-Dieter (1979): Measuring Ideological Conceptualizations. In: Barnes, Samuel H./Kaase, Max (Hrsg.) (1979): Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly Hills: Sage, 215-255. Kuklinski, James (2001): Citizens and Politics. Perspectives from Political Psychology. New York: Cambridge University Press. Kuklinski, James/Hurley, Norman L. (1994): On Hearing and Interpreting Political Messages. A Cautionary Tale of Citizen Cue-Taking. In: Journal of Politics 56, 729-751. Kunda, Ziva (1990): The Case for Motivated Reasoning. In: Psychological Bulletin 108, 480-498. Lau, Richard R./Redlawsk, David P. (1997): Voting Correctly. In: American Political Science Review 91, 585-598. Lau, Richard R./Redlawsk, David P. (2006): How Voters Decide. Information Processing during Election Campaigns. Cambridge: Cambridge University Press. Laver, Michael/Hunt, Ben W. (1994): Policy and Party Competition. New York: Routledge. Lupia, Arthur (1994): Shortcuts versus Encyclopedias. Information and Voting Behavior in California Insurance Reform Elections. In: American Political Science Review 88, 63-76. Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew (2000): The Institutional Foundations of Political Competence: How Citizens Learn What They Need to Know. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew/Popkin, Samuel L. (Hrsg.) (2000): Elements of Reason: Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality. New York: Cambridge University Press, 47-67. Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew (1998): The Democratic Dilemma. Can Citizens Learn What They Need to Know? New York: Cambridge University Press. Luskin, Robert C. (2002): From Denial to Extenuation (and Finally Beyond). Political Sophistication and Citizen Performance. In: Kuklinski, James H. (Hrsg.) (2002): Thinking about Political Psychology. Cambridge: Cambridge University Press, 187-216. Markus, Gregory B./Converse, Philip E. (1979): A Simultaneous Equation Model of Electoral Choice. In: American Political Science Review 73, 1055-1077. McDonald, Michael/Mendes, Sylvia M. (2000): Der Politikraum von Parteiprogrammen. In: van Deth, Jan/König, Thomas (Hrsg.) (2000): Europäische Politkwissenschaft. Ein Blick in die Werkstatt. Frankfurt: Campus, 22-56. Page, Benjamin/Brody, Richard A. (1972): Policy Voting and the Electoral Process. The Vietnam War Issue. In: American Political Science Review 66, 979-995. Pappi, Franz U. (2002): Die Wahrnehmung der politischen Standpunkte der Parteien durch die Wähler. In: Fuchs, Dieter (Hrsg.) (2002): Bürger und Demokratie in Ost und West. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 394-414. Pappi, Franz U./Hinich, Melvin J./Shikano, Susumu (2000): Ideologie und Wählerverhalten am Beispiel der Bundestagswahl 1998. In: Keynes, Edward (Hrsg.) (2000): Willensbildungsprozesse und Demokratie. Frankfurt am Main: Peter Lang, 27-61. Popkin, Samuel L. (1991): The Reasoning Voter: Communication and Persuasion in Presidential Campaigns. Chicago: The University of Chicago Press. Quattrone, George A./Tversky, Amos (1988): Contrasting Rational and Psychological Analyses of Political Choice. In: American Political Science Review 82, 719-736. Simon, Herbert A. (1995): Rationality in Political Behavior. In: Political Psychology 16, 45-61. Simon, Herbert A. (1990): Invariants of Human Behavior. In: Annual Review of Psychology 41, 1-19. Simon, Herbert A. (1956): Rational Choice and the Structure of the Environment. In: Psychological Review 63, 129-138.

166

Sascha Huber

Sniderman, Paul (2000): Taking Sides. A Fixed Choice Theory of Political Reasoning. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew/Popkin, Samuel L. (Hrsg.) (2000): Elements of Reason. Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality. New York: Cambridge University Press, 67-84. Sniderman, Paul/Brody, Richard A./Tetlock, Phillip E. (1991): Reasoning and Choice. Explorations in Political Psychology. New York: Cambridge University Press. Taber, Charles S./Lodge, Milton (2006): Motivated Skepticism in the Evaluation of Political Beliefs. American Journal of Political Science 50, 755-769. Zaller, John R. (1992): The Nature and Origins of Mass Opinion. Cambridge: Cambridge University Press.

Anhang 1: Beschreibungen der ideologischen Dimensionen in den verschiedenen Versuchsbedingungen

Kognition und Motivation bei der Wahrnehmung politischer Positionen

167

Bedingung 3: Gesellschaftspolitik

Bedingungen 4a und 4b: Gesellschaftspolitische und Wirtschaftspolitische Dimension Hier wurden die Parteien auf beiden Dimensionen beschrieben (siehe oben), wobei sich Bedingungen 4a und 4b folgendermaßen unterschieden: Während in Bedingung 4a die Parteien auf der wirtschaftspolitischen und der gesellschaftspolitischen Dimension jeweils in gleicher Reihenfolge angeordnet waren (die zwei Dimensionen sind folglich auf eine allgemeine Links-Rechts-Dimension zurückzuführen), unterschieden sich die Reihenfolgen in Bedingung 4b (die zwei Dimensionen sind nicht auf eine Links-Rechts-Dimension zurückzuführen).

Anhang 2: Einschätzungen der Positionen der Parteien auf der Dimension der Wirtschafts- und Sozialpolitik durch Experten und Versuchspersonen Wirtschafts- und Sozialpolitik Expertenbefragung (Benoit/Laver 2006)

Wirtschafts- und Sozialpolitik: Einschätzung der Parteipositionen durch die Versuchspersonen (N=423)

168

Sascha Huber

Anhang 3: Einschätzungen der Positionen der Parteien auf der Dimension der Gesellschaftspolitik durch Experten und Versuchspersonen Gesellschaftspolitik: Expertenbefragung (Benoit/Laver 2006)

Gesellschaftspolitik: Einschätzung der Parteipositionen durch die Versuchspersonen (N=411)

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa: „Super-Issue“ oder bedeutungslos? Tatjana Rudi

1

Einleitung

Ideologien sind Heuristiken, die es Bürgern ermöglichen (sollen), auch unter den Bedingungen unvollständiger Information und begrenzter Informationsverarbeitungskapazitäten rationale, das heißt an Politikpräferenzen orientierte Entscheidungen zu treffen (siehe z.B. Downs 1968; Sniderman et al. 1991: 19). In diesem Sinne lässt sich die ideologische Einstellung auch als „Super-Issue“ konzeptualisieren (siehe hierzu z.B. Inglehart/Klingemann 1976: 244), die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Haltung gegenüber einer Vielzahl von spezifischen politischen Fragen strukturiert. Prominentestes Beispiel in Westeuropa ist die Links-Rechts-Dimension. Vergleichende Studien haben gezeigt, dass sich die Mehrzahl der relevanten politischen Streitfragen durch die Links-Rechts-Dimension abbilden lässt (siehe z.B. Warwick 2002). Während die Links-Rechts-Dimension in all ihren Facetten in Westeuropa vergleichsweise gut untersucht ist, trifft dies nur bedingt auf die Links-Rechts-Dimension in Mittelund Osteuropa zu. Zwar findet das Konzept mittlerweile auch dort breite Anwendung in der empirischen Forschung (siehe z.B. Colton 2000; Freire et al. 2007; Korzeniowski 1999; Marsh 2007; MatČju/Vlachová 1998; Tworzecki 2003; van der Brug et al. 2008) – nicht zuletzt als Folge der weiten Verfügbarkeit der Links-Rechts-Skala in international vergleichenden Umfragen –, was sich hinter der Links-Rechts-Dimension im Einzelnen in diesen Staaten verbirgt, bleibt in der Regel jedoch unklar. Diese geringe Bedeutung, die der Erforschung des Inhalts der Links-Rechts-Dimension zugesprochen wird, ist erstaunlich, weil sich die mittel- und osteuropäischen Staaten mit ihrer sozialistischen Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Transformationssituation durch Eigentümlichkeiten auszeichnen, die eine „Übernahme“ der westeuropäischen Links-Rechts-Terminologie erschweren, wenn nicht sogar unwahrscheinlich werden lassen. Dieser Beitrag möchte die skizzierte Forschungslücke etwas schließen, indem der Frage nach der inhaltlichen Bedeutung der Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa nachgegangen wird. Konkret wird untersucht, ob die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa insofern einen Schlüssel zu den Politikpräferenzen der Bürger darstellt, als sie in einem systematischen Verhältnis zu einzelnen Politikpräferenzen steht, sodass sie auch dort als „Super-Issue“ angesehen werden kann. Die Beantwortung dieser Fragestellung ist nicht nur von genuinem Interesse für Mittel- und Osteuropaforscher, sondern erst die Beantwortung dieser Fragestellung schafft das empirische Fundament für die gegenwärtig so zahlreichen europaweiten Analysen, in denen die Links-Rechts-Dimension als eine unabhängige Variable vorkommt (siehe z.B. Freire et al. 2007; Marsh 2007; van der Brug et al. 2008). Die folgende Untersuchung beschränkt sich auf die Ebene der Bürger und

170

Tatjana Rudi

blendet den (ideologischen) Parteienraum aus. Folglich ist die Frage nach der Kongruenz von Angebots- (Parteienebene) und Nachfrageseite (Bürgerebene) und damit die Frage nach der Repräsentation der Politikpräferenzen der Bürger durch die Eliten (siehe hierzu für Ungarn, Polen, Bulgarien und die Tschechische Republik Kitschelt et al. 1999 sowie für Ungarn Todosijeviü 2004) nicht Gegenstand des Aufsatzes. Vielmehr soll – als Voraussetzung für weitergehende Untersuchungen – analysiert werden, ob sich einzelne Politikpräferenzen der Bürger durch die Links-Rechts-Selbsteinstufung abbilden lassen und damit die Kenntnis der Links-Rechts-Selbsteinstufung der Bürger Informationen über deren Politikpräferenzen liefert.1 Bisherige Analysen des Inhalts der Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa beschränkten sich entweder auf sehr wenige Länder, in der Regel auf die mitteleuropäischen Staaten sowie die Russische Föderation (siehe z.B. Markowski (1997, 2006) für Polen, Ungarn, Slowakei und die Tschechische Republik; Colton (1998) und Evans/Whitefield (1998) für Russland, Ramonaite (2002) für Litauen, Tworzecki (2003) für Polen, die Tschechische Republik und Ungarn; Todosijeviü (2004) für Ungarn sowie Todosijeviü (2005) für Serbien) oder berücksichtigten nur sehr wenige Politikpositionen (siehe zum Zusammenhang zwischen der Links-Rechts-Dimension und der Rolle des Staates Weßels/Klingemann 2006). Um die aufgeworfene Frage, ob sich die Politikpräferenzen der Bürger durch die Links-Rechts-Dimension abbilden lassen, beantworten zu können, werden im nächsten Kapitel zunächst einige konzeptionelle und theoretische Überlegungen zur Links-RechtsDimension formuliert. Dabei werden unter anderem Bedingungen aufgestellt, deren Erfüllung Voraussetzung dafür ist, dass die Links-Rechts-Dimension auch in Mittel- und Osteuropa als ein „Super-Issue“ angesehen werden kann, womit sie einen Schlüssel zu den Politikpräferenzen der Bürger darstellen würde. Hieran schließen sich die empirischen Analysen mit der Überprüfung der drei aufgestellten Bedingungen an. Datengrundlage der empirischen Analysen bildet die Post-Communist Publics Study II, die im Zeitraum von 1998 bis 2001 erhoben wurde. Im Einzelnen werden die Länder Bulgarien (BG), Polen (PL), Rumänien (RO), Slowenien (SI), die Tschechische Republik (CZ), Ungarn (HU) und die Ukraine (UA) analysiert, sodass innerhalb des mittel- und osteuropäischen Kontexts ein most dissimilar systems design vorliegt. 2

Konzeptionelle und theoretische Überlegungen zur Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

Im Zuge des Aufkommens kognitionspsychologischer Ansätze in den Sozialwissenschaften werden Ideologien, also mehr oder weniger kohärente Systeme von generalisierten politischen Überzeugungen (siehe hierzu Harrop/Miller 1987: 117; klassisch Campbell et al. 1960: 192) als Heuristiken, also als einfache Faustregeln beschrieben, die es Bürgern ermöglichen sollen, auch unter den Bedingungen unvollständiger Information und begrenzter 1

Dieser Vorgehensweise liegt die Prämisse zugrunde, dass es eine empirische Frage ist, ob und welche spezifischen Politikpositionen in einem Zusammenhang mit der Links-Rechts-Dimension stehen. Im Unterschied hierzu legt die Party Manifesto Gruppe den Inhalt der Links-Rechts-Dimension a priori fest und prüft anschließend per Augenschein die Plausibilität (siehe Klingemann et al. 2006: 5ff.; vgl. zu dieser Unterscheidung auch Gabel/Huber 2000: 95f.).

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

171

Informationsverarbeitungskapazitäten rationale, d.h. an Politikpräferenzen orientierte Entscheidungen zu treffen (siehe z.B. Downs 1968; Sniderman et al. 1991: 19). In diesem Zusammenhang wird die ideologische Einstellung häufig als das wichtigste „Super-Issue“ in Westeuropa angesehen (siehe hierzu z.B. Gabel/Anderson 2002: 896; Inglehart/Klingemann 1976: 244), das heißt sie stellt eine Dimension dar, die einzelnen Politikpräferenzen übergeordnet ist und diese dementsprechend strukturiert. Als wichtigstes „Super-Issue“ hat sich in Westeuropa die Links-Rechts-Dimension etabliert.2 Sie steht dort in einem systematischen Verhältnis zu einzelnen Politikpräferenzen: Sie strukturiert viele politische Streitfragen sowohl auf der Parteien- als auch auf der Bürgerebene, sodass sich zahlreiche Politikpräferenzen durch einen Wert auf der Links-Rechts-Skala abbilden lassen. Welche konkreten Politikinhalte die Links-Rechts-Dimension im Einzelnen abdeckt, ist jedoch umstritten. Es scheint sich aber dahingehend ein Konsens herauszukristallisieren, dass die Links-Rechts-Dimension mindestens zwei Unterdimensionen enthält, nämlich eine wirtschaftspolitische und eine gesellschaftspolitische (vgl. Arzheimer 2005; Evans/Whitefield 1998: 1023, siehe hierzu z.B. auch Benoit/Laver 2006; Knutsen 1995; Warwick 2002). Die wirtschaftspolitische Unterdimension bezieht sich auf die Organisation der Wirtschaft (Planwirtschaft vs. Marktwirtschaft) bzw. den Grad an Staatseingriffen (vollständige Planung vs. keine Staatseingriffe). Die gesellschaftspolitische Dimension ist schwieriger zu fassen, „sie bezieht sich auf die inhaltlich heterogeneren Fragen, nach welchem Modus gesamtgesellschaftliche verbindliche Entscheidungen getroffen werden, welchen Gruppen Bürgerrechte zugesprochen werden und wie weit der Staat in das Privatleben der Bürger eingreifen darf“ (Arzheimer/Rudi 2007: 169). Die Gewichtung, d.h. die Bedeutung dieser beiden Unterdimensionen für die Links-Rechts-Dimension variiert dabei von Land zu Land. Ebenso können in einzelnen Ländern weitere Unterdimensionen hinzukommen. Ob und inwieweit sich diese Zusammenhänge und damit auch dieses Bedeutungsverständnis in mittel- und osteuropäischen Staaten reproduzieren lassen, ist eine offene Frage. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich diese Länder mit ihrer sozialistischen3 Vergangenheit durch ein gemeinsames Erbe sowie durch ihre jetzige (mehr oder weniger doppelte) Transformationssituation von den etablierten Demokratien in Westeuropa unterscheiden, erscheint dies durchaus unwahrscheinlich (vgl. Markowski 2006: 121ff.). Insbesondere zu Beginn der Transformation existierten große Zweifel, ob die mit den Begriffen „links“ und „rechts“ assoziierten Politikinhalte auch dem westlichen Gebrauch entsprächen: Bedingt durch die sozialistische Vergangenheit wurden, um an dieser Stelle nur das markanteste Beispiel zu nennen, die „alten“ staatssozialistischen Parteien als Folge ihres (reaktionären) Festhaltens an der alten Staatsordnung als „rechts“ bezeichnet, während „links“ 2

3

Erstaunlich unterbeleuchtet geblieben ist jedoch der konzeptuelle Status der Links-Rechts-Dimension. Ob es sich bei der Links-Rechts-Dimension um ein „reines“ Messinstrument für die ideologische Einstellung handelt oder ob sie nicht vielmehr als eine spezifische Form bzw. Ausprägung der ideologischen Einstellung (wie beispielsweise die Liberalismus-Konservatismus-Dimension) zu begreifen ist, wurde bislang nicht thematisiert. Für die folgenden Ausführungen ist der konzeptuelle Status jedoch von untergeordneter Bedeutung, sodass auf nähere Ausführungen hierzu verzichtet werden kann. Die Begriffe Sozialismus, Kommunismus und Staatssozialismus werden synonym verwendet. Während im angloamerikanischen Sprachraum der Begriff Kommunismus dominiert, finden sich im deutschen Sprachgebrauch häufiger die Begriffe Sozialismus und Staatssozialismus (vgl. Gaber 2007: 19).

172

Tatjana Rudi

mit mehr sozialer Ungleichheit assoziiert wurde (vgl. Colton 1998: 170; Evans/Whitefield 1998: 1024; Markowski 1997, 2006: 123): „During perestroika the terms ‚left’ and ‚right’ were inverted: the ‚left’ came to denote the free market democrats and liberals, and the ‚right’ the devotees of socialism and the communist system“ (Sakwa 1996: 44). Zwar wurde die Vermutung geäußert, dass im Verlauf der Transformation diese „Anomalie“ verschwinden sollte (vgl. Colton 1998: 171; Evans/Whitefield 1998: 1025; Sakwa 1996: 44), die empirischen Ergebnisse hier sind bislang aber gemischt. Während eine Reihe von Studien das Verschwinden dieser „Anomalie“ für einige Länder nachzuweisen versucht (siehe z.B. Colton 1998 und Evans/Whitefield 1998 für Russland; Weßels/Klingemann 2006: 29), sprechen andere Studien dafür, dass diese „Bedeutungsverdrehung“ nach wie vor für einige Politikpositionen in einigen Ländern existent sei (siehe z.B. Dieringer 1998; Thorisdottir et al. 2007; Todosijeviü 2004). Da – gemäß den Ergebnissen der Party Manifesto Gruppe  auf der Parteienebene auch heute noch solche „Bedeutungsverdrehungen“ existieren (vgl. Klingemann et al. 2006), ist es von großer Bedeutung zu untersuchen, wie die Verwendung auf der Bürgerebene derzeit tatsächlich aussieht. Sollte nämlich eine (nicht wahrgenommene) Diskrepanz in der Verwendung der Links-Rechts-Terminologie zwischen Parteieliten und Bürgern bestehen, so wäre die angemessene Repräsentation der Politikpräferenzen der Bevölkerung durch die Parteieliten und damit auch „korrektes“ sachfragenorientiertes Wählen zumindest in Frage zu stellen. Eng mit der eben angesprochenen Thematik hängt die Frage zusammen, welche spezifischen Politikpräferenzen denn die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa abbilden könnten. Bisherige empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich zumindest die Unterdimensionen nicht fundamental von denen in Westeuropa unterscheiden. Beispielsweise unterscheidet Markowski (1997) eine ökonomische von einer soziokulturellen Dimension. Dagegen dürften die spezifischen Politikpositionen, die diesen Unterdimensionen zugrunde liegen und mit der Links-Rechts-Dimension in Verbindung gebracht werden, zum Teil andere sein. Schließlich stehen in Mittel- und Osteuropa mit der Transformationsproblematik und dem Umgang mit sozialistischen Altlasten andere Probleme auf der Tagesordnung der Politik (vgl. auch Benoit/Laver 2006). Folglich ist zu erwarten, dass vor allem die Einstellungen zur kommunistischen Vergangenheit sowie zur wirtschaftlichen wie zur politischen Transformation von Relevanz sind. Zudem scheinen die Einstellungen zur Kirche sowie Positionen zum Beitritt in „westliche“ Bündnisse (z.B. Europäische Union) eine Rolle zu spielen (vgl. Benoit/Laver 2006; Markowski 2006; Todosijeviü 2004; Tóka/Henjak 2007). Damit die Links-Rechts-Dimension als „Super-Issue“ und damit als Schlüssel zu den Politikpräferenzen der Bürger betrachtet werden kann, müssen mehrere Voraussetzungen gegeben sein. Erstens müssen Bürger die Links-Rechts-Dimension auch verwenden. Diese Bedingung impliziert unter anderem, dass Bürger in der Lage sein sollten, sich selbst bzw. die eigene ideologische Position auf dieser Skala einzustufen. Nur wenn dies gegeben ist, besteht überhaupt die Option, dass die Links-Rechts-Dimension Hinweise auf die spezifischen Politikpräferenzen der Bürger liefert. Stufen sich in einem Land insgesamt nur sehr wenige Bürger auf der Links-Rechts-Dimension ein, so gibt die Dimension wenig Auskunft über die Politikpräferenzen der Bevölkerung. Zweitens sollte  zumindest innerhalb der Länder, idealerweise aber auch länderübergreifend  ein einheitlicher Gebrauch der Terme „links“ und „rechts“ vorherrschen. Ist dies nicht der Fall, werden also unterschiedliche

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

173

Dinge mit den Termini „links“ und „rechts“ verbunden, so kann die Links-Rechts-Dimension die ihr in der Literatur zugeschriebene Kommunikationsfunktion nicht ausfüllen (siehe hierzu Fuchs/Klingemann 1989) und damit auch keinen Aufschluss über einzelne Politikpositionen liefern. Für die Ausfüllung der Kommunikationsfunktion ist es allerdings nicht zwingend, dass die in Mittel- und Osteuropa verwendete Links-Rechts-Terminologie der in etablierten Demokratien entspricht. Solange die Links-Rechts-Terminologie zumindest in einem politisch eindeutig abgrenzbaren Gebiet, wie z.B. in einem Nationalstaat, eindeutig verwendet wird, kann die Links-Rechts-Dimension als Kommunikationsmittel und damit auch als „Super-Issue“ fungieren.4 Eine Kommunikation über diese Grenzen hinweg wäre aber mit Schwierigkeiten verbunden und würde die Brauchbarkeit des Konzepts der LinksRechts-Dimension für die vergleichende Forschung in Frage stellen. Drittens müssen Zusammenhänge zwischen (mehreren) spezifischen Politikpräferenzen und der Links-RechtsSelbsteinstufung gefunden werden. Die Interpretation der Links-Rechts-Dimension als strukturierende Einstellung ist nur gerechtfertigt, wenn die Links-Rechts-Dimension zu mehreren spezifischen Politikpräferenzen in einem systematischen Verhältnis steht; unsystematische Zusammenhänge zu ein oder zwei Sachfragenpositionen sind hierfür nicht ausreichend.5 Darüber hinaus ist das Wissen, welche spezifischen Politikpräferenzen mit der Links-Rechts-Dimension zusammenhängen, Voraussetzung dafür, dass die Kenntnis von Links-Rechts-Positionen Rückschlüsse auf einzelne spezifische Politikpräferenzen erlaubt. Schließlich ist zu erwarten, dass die Links-Rechts-Dimension nicht einen Schlüssel zu allen spezifischen Politikpräferenzen darstellt, sondern nur zu einigen ausgewählten Politikpräferenzen.6 3

Operationalisierung und empirische Analysen

Als Datengrundlage für die folgenden empirischen Analysen wird die „Post-Communist Publics Study II“ (PCP II) verwendet.7 Im Mittelpunkt dieser von 1998 bis 2001 durchgeführten Meinungsumfragen stand die Ermittlung des Konsolidierungsstandes 4

5

6

7

Bei einer Erfüllung der Bedingung wären beispielsweise Parteieliten in der Lage, aus der durchschnittlichen Links-Rechts-Selbsteinordnung der Bürger auch deren Positionen zu spezifischen Sachfragen zumindest ansatzweise zu bestimmen. Für die Frage, ob die Links-Rechts-Dimension in systematischen Zusammenhängen zu einzelnen Politikpräferenzen steht, ist die Dimensionalität der Links-Rechts-Dimension von untergeordneter Bedeutung. Gemäß dem Alltagsverständnis reicht eine vage Vorstellung der mit den Begriffen „links“ und „rechts“ bezeichneten Vorstellungsinhalte sowie ein tendenziell einheitlicher Gebrauch der Termini vollkommen aus. Folglich muss keine Eindimensionalität der Links-Rechts-Dimension unterstellt werden (siehe hierzu auch Pappi et al. 2000: 28). Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass in einigen Ländern die Links-Rechts-Dimension nur eine geringe Salienz hat, weil die Politikpositionen, die mit der Links-Rechts-Dimension in Verbindung stehen, nur von geringer Bedeutung für den politischen Wettbewerb und die Entscheidungen der Wähler sind (siehe hierzu das Beispiel Litauen von Ramonaite 2002). Consolidation of Democracy in Central and Eastern Europe 1998-2001: A Fifteen Country Study (Continuation of the 1990-92 Post-Communist Publics Study in Eleven Countries) coordinated by Edeltraud Roller, Dieter Fuchs, Hans-Dieter Klingemann, Bernhard Weßels (Social Science Research Center Berlin, WZB) and János Simon (Hungarian Academy of Sciences, Budapest). ZA-Nummer 4054. Weder die Primärforscher noch das Datenarchiv tragen die Verantwortung für die Interpretation der Daten.

174

Tatjana Rudi

zahlreicher mittel- und osteuropäischer Staaten. Die empirischen Analysen beziehen sich dabei im Folgenden auf Bulgarien, Polen, Rumänien, Slowenien, die Tschechische Republik, die Ukraine und Ungarn.8 Diese Länder unterscheiden sich in zahlreichen Kontextbedingungen, sodass es sich bei dieser Auswahl innerhalb des mittel- und osteuropäischen Kontexts (ca. 20 Staaten) um ein „most different systems design“ nach Przeworski und Teune (1970) handelt. Wichtige Kontextmerkmale, in denen sich die Länder voneinander unterscheiden und die einen Einfluss auf die Verwendung der Links-Rechts-Dimension in diesen Ländern haben könnten, sind beispielsweise der Konsolidierungsstand der Demokratie, der Fragmentierungsgrad des Parteiensystems, das Regierungssystem, das kulturelle Erbe (z.B. Religion), das politische Erbe sowie der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung.9 3.1 Verwendung der Links-Rechts-Dimension Als erste Voraussetzung dafür, dass die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa als „Super-Issue“ angesehen werden kann, wurde im letzten Kapitel festgehalten, dass die Bevölkerung die Links-Rechts-Dimension auch verwenden sollte. Diese Bedingung impliziert unter anderem, dass die meisten Bürger bereit, willens und auch in der Lage sein sollten, die eigene ideologische Position entlang der Links-Rechts-Dimension zu verorten. Abbildung 1:

Verwendung der Links-Rechts-Selbsteinstufung in Mittel- und Osteuropa

100 91,23 90

89,77 85,61

80 70,84 70

73,38 68,44

64,12

Prozent

60

50

40

30

20

10

0

BG

CZ

HU

PL

RO

SI

UA

Staat

8 9

Die in Polen und Bulgarien vorhandenen Gewichte zur Korrektur der unterschiedlichen Auswahlwahrscheinlichkeiten der Individuen aus Haushalten wurden angewendet. Die Erklärung von möglichen Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Verwendung der Links-RechtsDimension in diesen Ländern durch Rückgriff auf diese Kontextfaktoren ist nicht Gegenstand des Aufsatzes, weil hierzu eine höhere Länderanzahl vonnöten wäre. Stattdessen dient die vorgenommene Thematisierung

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

175

Gemäß den empirischen Ergebnissen, die aus Abbildung 1 ersichtlich sind, ist diese Bedingung weitgehend erfüllt. Damit stehen die Ergebnisse im Einklang mit anderen Studien (siehe z.B. Badescu/Sum 2005; Tworzecki 2003), die ebenfalls zum Ergebnis gelangt sind, dass eine große Mehrheit der Wähler in Mittel- und Osteuropa fähig und willens ist, sich auf der Links-Rechts-Skala selbst zu verorten. Nichtsdestotrotz ist die Variation innerhalb der Gruppe der mittel- und osteuropäischen Länder bemerkenswert. Während sich in der Tschechischen Republik und Ungarn etwa 90 Prozent der Wähler auf der Links-RechtsSkala verorten, tun dies in Bulgarien „nur“ knapp 65 Prozent. Folglich ist der Umfang der potenziellen Prognosefähigkeit der Links-Rechts-Dimension hinsichtlich spezifischer Politikpositionen in einigen Ländern stärker eingeschränkt als in anderen Ländern. 3.2 Konsistenz in der Verwendung der Links-Rechts-Terminologie Die zweite aufgestellte Bedingung, wonach ein einheitliches Verständnis von „links“ und „rechts“ nachweisbar sein sollte, lässt sich nur indirekt untersuchen. Zwar enthält der PCP II offene Fragen nach dem Verständnis von „links“ und „rechts“, mit deren Hilfe die Konsistenz in der Terminologie direkt untersucht werden könnte (siehe zu einer solchen Vorgehensweise z.B. Fuchs/Klingemann 1989). Leider sind im Datensatz aber nur die generellen Kategorien wie Werte, Einstellungen, Ideologien, Regime, Parteien usw. festgehalten, nicht aber die spezifische Bedeutung bzw. Richtung, die mit diesen Kategorien assoziiert wird. So könnte zwar analysiert werden, ob die Bürger mit den Termini „links“ und „rechts“ eher Parteien oder Ideologien verbinden. Welche Parteien und Ideologien jedoch als „links“ zu bezeichnen sind, also ob „links“ beispielsweise mit Sozialismus oder eher Konservatismus verbunden wird, darüber sind keine Informationen im Datensatz verfügbar. Aus diesem Grund wird bei den Analysen ein in der Literatur oft verfolgter indirekter Weg eingeschlagen, indem die Richtung des Zusammenhangs zwischen spezifischen Politikpositionen und der Links-Rechts-Selbsteinstufung analysiert wird (siehe hierzu Colton 1998; Evans/Whitefield 1998; Markowski 1997, 2006; Tóka/Henjak 2007; Tworzecki 2003).10 Hierzu werden paarweise Korrelationskoeffizienten zwischen der Links-RechtsSelbsteinstufung und den verschiedenen Politikpositionen berechnet. Dabei kommt der Signifikanz der Koeffizienten eine entscheidende Bedeutung bei der Interpretation zu. Ein signifikanter Korrelationskoeffizient zwischen Politikpositionen und der Links-RechtsSelbsteinstufung lässt sich dahingehend interpretieren, dass zumindest das Vorzeichen gegenüber Zufallsschwankungen „gesichert“ ist. Folglich kann bei einem signifikanten Zusammenhangs davon ausgegangen werden, dass ein einheitlicher Gebrauch der Termini „links“ und „rechts“ in der Gesamtbevölkerung bezüglich dieses Politikfelds vorherrscht.11

10

11

von möglichen Kontextfaktoren allein der Sicherstellung einer gewissen Varianz der Kontextfaktoren und damit der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse im mittel- und osteuropäischen Raum. Mit dieser Vorgehensweise ist der (oft verkannte) Nachteil verbunden, dass nicht festgestellt werden kann, ob ein gegebenenfalls vorliegender Zusammenhang zwischen der Links-Rechts-Selbsteinstufung und spezifischen Politikpositionen von den Bürgern auch registriert und entsprechend der Links-Rechts-Terminologie verwendet wird (siehe hierzu auch Jagodzinski/Kühnel 1994). Im weiteren Verlauf wird von dieser Problematik – einfachheitshalber – abstrahiert (vgl. dazu Huber in diesem Band) Ein insignifikanter Zusammenhang zwischen einer spezifischen Politikposition und der Links-RechtsSelbsteinstufung muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass diese Politikposition für die Selbsteinschätzung

176

Tatjana Rudi

Die Auswahl der in den folgenden eher explorativen Analysen zu berücksichtigenden Politikpositionen orientiert sich an bisherigen Studien (siehe z.B. Colton 1998; Markowski 1997; Todosijeviü 2004). Es werden erstens Politikpositionen berücksichtigt, die die aus etablierten Demokratien bekannte klassische wirtschaftspolitische Dimension der LinksRechts-Dimension abdecken. Hierzu gehören Einstellungen zur Rolle des Staates in verschiedenen Bereichen, die Haltung zu Einkommensdifferenzen sowie die Bewertung der Freiheit im Vergleich zur Gleichheit.12 Höhere Werte auf einer Variablen dieser Dimension implizieren eine geringere Verantwortungszuweisung an den Staat, eine stärkere Befürwortung von Einkommensdifferenzen sowie von Freiheit gegenüber Gleichheit. Zweitens werden Positionen berücksichtigt, die auf die klassische gesellschaftspolitische Dimension abzielen.13 Hierzu zählen Positionen zur Rolle der Frau, zum Schwangerschaftsabbruch, zur Homosexualität sowie Einschätzungen der Wichtigkeit einer freien Meinungsäußerung und einer staatsfreien Privatsphäre. Die Variablen wurden jeweils so kodiert, dass höhere Werte traditionelle Moralvorstellungen sowie eine geringere subjektive Wichtigkeit der angesprochenen Politikfelder anzeigen. Zudem wird die Religiosität als Proxy für die Haltung zur Rolle der Kirche, für die es im PCP II kein besser geeignetes Item gibt, herangezogen. Dabei zeigen höhere Werte eine höhere Religiosität an. Neben diesen klassischen Politikpositionen, die sich in etablierten Demokratien als relevant für die Links-Rechts-Selbsteinstufung erwiesen haben, werden drittens auch stärker kontextspezifische Politikpositionen berücksichtigt. Hierbei handelt es sich zum einen um Positionen, die sich auf die kommunistische Vergangenheit beziehen, wie die Einstellung zur Idee des Sozialismus oder die Haltung zum früheren Regime. Zum anderen werden Positionen berücksichtigt, die die besondere momentane Transformationssituation widerspiegeln. Hierzu zählen einerseits die Haltung zur Marktwirtschaft im eigenen Land und andererseits die Position zur Demokratie. Schließlich wird in den Analysen noch berücksichtigt, inwiefern eine demokratische Entwicklung nach westlichem Vorbild gewünscht wird. Dieses Item wurde aufgenommen, weil die Einbindung in „westliche“ Bündnisse wie der Europäischen Union eine wichtige politische Streitfrage darstellt (siehe z.B. Benoit/Laver 2006; Todosijeviü 2004), im PCP II aber kein besserer Indikator vorhanden ist. Die kontextspezifischen Politikpositionen wurden so kodiert, dass höhere Werte eine stärkere Ablehnung der kommunistischen Vergangenheit, eine Befürwortung der neuen Institutionen wie Demokratie und Marktwirtschaft sowie den Wunsch nach einer Entwicklung nach westlichem Vorbild indizieren.14

12

13 14

des einzelnen Bürgers auf der Links-Rechts-Skala ohne Bedeutung ist. Vielmehr könnte es auch daran liegen, dass die Bürger unterschiedliche Links-Rechts-Werte mit dieser Politikposition verbinden, die sich dann im Aggregat aufheben. Zudem misst der Korrelationskoeffizient natürlich nur einen linearen Zusammenhang. Ob die Frage nach der Befürwortung von Freiheit oder Gleichheit tatsächlich der wirtschaftspolitischen Dimension zugeordnet werden kann, ist sicherlich diskutabel. Die Zuordnung wurde allein aus pragmatischen Gesichtspunkten vorgenommen, weil es sich hierbei auch um eine klassische Dimension der LinksRechts-Dimension handelt, die aus etablierten westlichen Demokratien bekannt ist. In Slowenien wurden Items, die dieser Dimension zuzuordnen sind, nicht erhoben. An dieser Stelle sind zwei kritische Bemerkungen zu den folgenden Analysen angebracht. Erstens handelt es sich bei manchen der oben erwähnten Politikpositionen (z.B. Einstellungen zur Idee des Sozialismus) im strengen Sinne eher um Wertorientierungen als um spezifische Politikpositionen. Aufgrund eines Mangels an spezifischen Politikpositionen muss dies jedoch in Kauf genommen werden. Eine klare Trennung zwi-

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

177

Die Ergebnisse, die Tabelle 1 entnommen werden können, deuten alles in allem auf konsistente Zusammenhänge hin, sodass von einem relativ einheitlichen Gebrauch der Termini „links“ und „rechts“ in Mittel- und Osteuropa gesprochen werden kann, der zudem dem westlichen Gebrauch weitgehend entspricht. Nichtsdestotrotz sind Ausnahmen sowie Unterschiede erkennbar. Betrachtet man zunächst die Politikpositionen, die die klassische wirtschaftspolitische Dimension widerspiegeln, so zeigen sich im Wesentlichen die Zusammenhänge, die aus etablierten westlichen Demokratien bekannt sind: Je weniger Verantwortung dem Staat in einem Bereich zugewiesen wird, je stärker Einkommensdifferenzen und Freiheit befürwortet werden, desto weiter rechts stuft sich jemand ein. Eine Ausnahme hiervon stellt in erster Linie Slowenien dar, wo sich kein einziger signifikanter Korrelationskoeffizient findet. Auch in Ungarn und Rumänien sind einige der Koeffizienten nicht signifikant. Gänzlich anders fällt das Ergebnis bei den Politikpositionen aus, die die klassische gesellschaftspolitische Dimension abbilden. Positionen zur Wichtigkeit einer freien Meinungsäußerung oder zu einer staatsfreien Privatsphäre stehen in der Regel in keinem signifikanten Zusammenhang zur Links-Rechts-Selbsteinstufung. Etwas differenzierter muss dagegen die Haltung zur traditionellen Moral betrachtet werden. Zwar zeigt sich hier für die eine oder andere Politikposition gelegentlich ein signifikanter Zusammenhang, allerdings nicht immer in der erwarteten Richtung. In einigen Ländern wie in Bulgarien oder der Tschechischen Republik gehen traditionelle Moralvorstellungen mit einer linkeren Selbsteinstufung einher. Ein konsistenter Zusammenhang, der auch den westlichen Vorstellungen entspricht, findet sich allein in Ungarn. Festzuhalten bleibt also, dass traditionelle Moralvorstellungen in mittel- und osteuropäischen Ländern nicht konsistent mit den Termen „links“ und „rechts“ verbunden sind. Dagegen geht in vielen Ländern eine höhere Religiosität mit einer rechteren Selbsteinstufung einher. Betrachtet man als nächstes die Zusammenhänge der Links-Rechts-Selbsteinstufung mit den kontextspezifischen Politikpositionen, so stellt man fest, dass die Haltung zur sozialistischen Vergangenheit mit der Links-Rechts-Selbsteinstufung konsistent zusammenhängt. Eine Ablehnung des alten Regimes impliziert fast immer eine rechtere Selbsteinstufung. Eine Ausnahme stellt die Zufriedenheit mit dem alten kommunistischen Regime in dem Postsowjetstaat Ukraine dar, wo eine höhere Zufriedenheit mit dem alten System gleichzeitig eine Rechtseinstufung auf der Links-Rechts-Dimension bedeutet. Auch die Befürwortung der Marktwirtschaft hängt  mit Ausnahme Sloweniens  signifikant positiv mit der Links-Rechts-Selbsteinstufung zusammen, sodass ebenfalls von einem konsistenten Gebrauch gesprochen werden kann. Was die Zusammenhänge zwischen der Links-RechtsSelbsteinstufung auf der einen Seite und der Haltung zur Demokratie auf der anderen Seite betrifft, so geht auch hier tendenziell eine rechtere Selbsteinstufung mit einer stärkeren schen Wertorientierungen und Sachfragenpositionen mittels Indikatoren ist ohnehin sehr schwierig (vgl. Aardal/van Wijnen 2005: 195). Zweitens sind nicht alle Indikatoren für die Politikpositionen metrisch skaliert. Einige Variablen sind lediglich dichotom oder weisen nur eine dreistufige Skala auf. Dennoch wird im Folgenden auf den Korrelationskoeffizienten zurückgegriffen und zwar aus folgendem Grund: Um die Konsistenz in der Verwendung der Begriffe „links“ und „rechts“ beurteilen zu können, wird ein Zusammenhangsmaß benötigt, das die Richtung angibt. Insofern wäre beispielsweise der Rückgriff auf ein nominalskaliertes Zusammenhangsmaß wie Cramers V keine Alternative. Für Gamma – ein anderes, ordinalskaliertes Zusammenhangsmaß – weist das verwendete Statistikprogramm Stata wiederum keine Signifikanzen auf, die für die Beurteilung jedoch von wesentlicher Bedeutung sind.

178

Tatjana Rudi

Befürwortung der Demokratie einher. In Polen und Rumänien sind allerdings keine signifikanten Zusammenhänge erkennbar. Letzteres gilt auch für die Korrelation zwischen der Befürwortung einer Entwicklung nach westlichem Vorbild und der Links-Rechts-Selbsteinstufung. In den übrigen Ländern geht die Befürwortung einer Entwicklung nach westlichem Vorbild jedoch Hand in Hand mit einer rechteren Selbsteinstufung. Tabelle 1: Zusammenhänge zwischen der Links-Rechts-Selbsteinstufung und Politikpositionen (paarweise Korrelationskoeffizienten) BG

CZ

HU

PL

0,28***

0,38***

***

***

0,06

0,11**

0,05 0,09

RO

SI

UA

0,12**

0,02

0,13**

0,07

0,04

0,16***

-0,02

0,13**

Staatsverantwortung … Job Gesundheit

0,26

0,24

Lebensstandard Alte

0,13***

0,25***

***

***

0,30

0126*** **

0,07 **

Lebensstandard Arbeitsl.

0,19

0,06

0,12

-0,02

---

Abbau Einkommensuntersch.

0,27***

0,41***

0,13***

0,13***

0,15***

-0,08

0,20***

Freiheit vs. Gleichheit

0,36***

0,46***

0,13***

0,13***

0,05

-0,02

0,23***

Einkommensdifferenzen

0,26***

0,32***

0,04

0,03

0,10*

-0,04

0,11*

***

Frau für Haushalt zuständig

-0,01

-0,14

Schwangerschaftsabb. möglich

-0,06

-0,03

Akzeptanz Homosexualität Wichtigkeit: Stimme in öff. Angelegenh. Wichtigkeit: Staatsfreie Privatsphäre Religiosität Position Marktwirtschaft Sozialistische Idee Zufriedenheit mit altem Regime

***

-0,18

0,09

*

0,17***

0,29***

-0,01

---

0,08*

-0,02 0,12*

---

0,04

-0,07

---

0,15***

0,01

0,06

-0,002

---

0,08

-0,01

0,09*

0,06

-0,11**

0,06

---

0,002

0,07

0,17***

***

0,44

***

0,39

***

0,61

***

0,43

***

0,52

***

0,52

*** ***

Demokratie beste Regierungsform

0,35

0,36

Westliche Entwicklung

0,38***

0,37***

0,09

*

0,08

*

0,08 0,13**

-0,12

**

0,11

0,09

*

0,12

**

0,27

***

0,28

***

0,22*** 0,23

***

0,30

***

0,46

***

-0,06

0,25***

0,22***

0,09

*

0,01

0,26***

0,17

***

0,06

0,21

***

0,06

0,40***

0,19

***

-0,25***

**

0,17*** 0,37***

0,07

0,05

0,07

0,15

0,10**

0,05

0,06

0,16**

Signifikanzniveaus: *** p < 0,001; ** p < 0,01; * p < 0,05

Insgesamt deuten die Ergebnisse also darauf hin, dass in Mittel- und Osteuropa ein konsistentes Verständnis der Termini „links“ und „rechts“ vorherrscht. Linke und rechte Selbsteinstufungen gehen also mit prognostizierbaren Politikpositionen einher. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Haltung zur kommunistischen Vergangenheit sowie für die klassische wirtschaftspolitische Dimension. Aber auch die Haltungen zur Demokratie, die Religiosität sowie die Position zur Entwicklung nach westlichem Vorbild hängen weitgehend konsistent mit den Begriffen „links“ und „rechts“ zusammen. Aus vergleichender Perspektive ist dabei besonders erfreulich, dass die Richtung des Zusammenhangs in der Regel auch dem westeuropäischen Gebrauch entspricht. Allenfalls die Haltung zur Demokratie spiegelt nicht ganz das westeuropäische Verständnis wider, weil in Westeuropa die Befürwortung einer stärkeren Demokratisierung aller Lebensbereiche eher mit linken Positionen verknüpft ist. Die Verbindung mit einer rechten Selbsteinstufung im postsozialisti-

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

179

schen Kontext ist vor dem Hintergrund der Vergangenheit aber plausibel. Insgesamt ist damit die zu Beginn der Transformationsphase festgestellte Begriffsverdrehung der Termini „links“ und „rechts“ heute eher die Ausnahme denn die Regel. Keine signifikanten Zusammenhänge zeigen sich in der Regel aber zwischen Politikpositionen, die der gesellschaftspolitischen Dimension zuzuordnen sind, und der Links-Rechts-Selbsteinstufung. Nur in Ungarn gehen traditionelle Moralvorstellungen konsistent mit einer rechteren Selbsteinstufung einher. 3.3 Spezifische Politikpositionen und die Links-Rechts-Dimension Da sich im letzten Kapitel ein weitgehend konsistenter Gebrauch der Termini „links“ und „rechts“ im mittel- und osteuropäischen Raum nachweisen ließ, kann als nächstes die dritte Bedingung in Augenschein genommen werden. Gemäß dieser sollten systematische Beziehungen zwischen der Links-Rechts-Selbsteinstufung und mehreren Politikpositionen vorhanden sein. Hierzu werden im Folgenden multivariate Regressionsanalysen durchgeführt. Diese erlauben erstens die Einschätzung der Gesamterklärungskraft der Politikpositionen für die Links-Rechts-Selbsteinstufung. Zweitens kann auf diese Art und Weise festgestellt werden, welche Politikpositionen in einer simultanen Analyse die größere Relevanz besitzen. Dabei werden die folgenden Regressionsanalysen nur als ein statistisches Werkzeug verstanden, um Aufschlüsse über diese zwei Fragen zu erhalten. Die Verwendung der Regressionsanalyse impliziert nicht, dass ein eindeutig kausaler Einfluss der Politikpositionen auf die Links-Rechts-Selbsteinstufung angenommen wird. Vielmehr wird von einer eher interdependenten Beziehung zwischen Politikpositionen und der Links-Rechts-Selbsteinstufung ausgegangen. Von vorneherein ausgeklammert werden in den Regressionsanalysen die Einschätzungen hinsichtlich der Wichtigkeit einer freien Meinungsäußerung sowie einer staatsfreien Privatsphäre, weil sich diese Positionen bereits bei den bivariaten Betrachtungen im letzten Kapitel in keinem einzigen Land als relevant für die Links-Rechts-Selbsteinstufung erwiesen haben. Dagegen werden die Einstellungen zur traditionellen Moral, die zumindest für die Links-Rechts-Selbsteinstufung in Ungarn bedeutsam waren, berücksichtigt. Da die Analysen separat für die einzelnen Länder erfolgen, stellt die Inkonsistenz in der Verwendung in den einzelnen Ländern auch kein Problem dar. Zudem werden Variablen, die auf einer dreistufigen Skala beruhen und damit offensichtlich nicht metrisch skaliert sind, in Dummy-Variablen aufgelöst.15 Zwecks Vermeidung von Multikollinearität werden jeweils die verschiedenen Positionen zur Rolle des Staates sowie zur traditionellen Moral zusammengefasst. Dass dies zulässig ist, zeigen die in Tabelle 2 abgebildeten Faktorenanalysen zur Rolle des Staates in verschiedenen Bereichen. Die einzelnen Items messen in der Tat 15

Hierbei handelt es sich um die Haltung zu Einkommensdifferenzen, zur Idee des Kommunismus sowie zur Demokratie. Die Referenzkategorien stellen dabei die Ablehnung von Einkommensdifferenzen, die Befürwortung der Idee des Kommunismus sowie die Präferenz für eine der Demokratie alternativen Regierungsform dar. Ebenfalls als Dummy-Variablen konzeptualisiert sind die Position zur Marktwirtschaft im eigenen Land mit der Referenzkategorie Ablehnung der Marktwirtschaft im eigenen Land, die Beurteilung der Freiheit vs. Gleichheit mit der Gleichheit als Referenzkategorie sowie die Befürwortung der Entwicklung nach westlichem Vorbild mit der Ablehnung einer Entwicklung nach westlichem Vorbild als Referenzkategorie.

180

Tatjana Rudi

alle dieselbe Dimension, sodass sich die Haltung zur Rolle des Staates in den Analysen durch eine Variable abbilden lässt. Zwecks Indexkonstruktion wird für jeden Befragten der Mittelwert aus den verfügbaren Items (fünf bzw. in der Ukraine vier) zur Rolle des Staates in verschiedenen Bereichen berechnet. Tabelle 2: Faktorenanalyse für die Haltung des Staates in verschiedenen Bereichen Faktorladungen BG CZ HU Job 0,82 0,82 0,80 Gesundheit 0,81 0,76 0,84 Abbau Einkommensunters. 0,75 0,67 0,68 Lebensstandard Arbeitslose 0,79 0,72 0,69 Erklärter Varianzanteil 0,60 0,57 0,60 Anmerkungen: Hauptkomponentenanalyse, Eigenwertkriterium

PL 0,80 0,74 0,75 0,78 0,59

RO 0,76 0,78 0,65 0,73 0,55

SI 0,67 0,72 0,74 0,69 0,49

UA 0,85 0,90 0,58 --0,65

Weniger eindeutig fallen dagegen die Ergebnisse der Faktorenanalysen für die Haltung zur traditionellen Moral aus, die aus Tabelle 3 ersichtlich sind. Zwar wird auch hier – mit Ausnahme Bulgariens – immer ein Faktor extrahiert.16 Nichtsdestotrotz verrät ein Blick auf die Faktorladungen, dass nicht nur in Bulgarien, sondern auch in der Tschechischen Republik, in Ungarn und der Ukraine dasjenige Item, das sich auf die Rolle der Frau bezieht, offensichtlich nur wenig mit den anderen beiden Indikatoren und damit auch mit dem extrahierten Faktor zu tun hat. Dieses Ergebnis ist nicht wirklich überraschend. Die sozialistische Vergangenheit, in der der Berufstätigkeit und Selbstständigkeit der Frauen große Bedeutung zugemessen wurde, legt vielmehr nahe, dass die Rolle der Frau im Haushalt kein geeigneter Indikator zur Abbildung traditioneller Moralvorstellungen ist. Folglich wird dieses Item bei der Indexbildung (in allen Ländern) nicht berücksichtigt. Aus den zwei verbliebenen Variablen wird – in Analogie zum Index zur Abbildung der Rolle des Staates – ein Mittelwertindex gebildet. Tabelle 3: Faktorenanalyse für die Haltung zur traditionellen Moral BG 0,18

CZ 0,47

HU 0,24

Faktorladungen PL RO 0,69 0,65

SI ---

UA 0,30

0,78

---

0,77

0,72 0,52

-----

0,74 0,41

Frau soll für Haushalt zuständig sein Schwangerschaftsabbruch soll 0,81 0,78 0,80 0,77 möglich sein Akzeptanz von Homosexualität 0,83 0,76 0,77 0,66 Erklärter Varianzanteil 0,46 0,47 0,43 0,50 Anmerkungen: Hauptkomponentenanalyse, Eigenwertkriterium

16

Die Ergebnisse für den zweiten Faktor in Bulgarien wurden nicht ausgewiesen.

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

181

Zwecks Vermeidung verzerrter und ineffizienter Parameterschätzer werden in den folgenden Regressionsanalysen fehlende Werte durch multiple Imputationsverfahren ersetzt (siehe hierzu Allison 2002: 5ff.; King et al. 2001: 51f.). Konkret wird dabei das von van Buuren und Oudshoorn (1999) entwickelte Verfahren Multiple Imputation by Chained Equation, das von Royston (2004, 2005a, 2005b) in Stata implementiert wurde, verwendet.17 Alle nachfolgend aufgeführten Schätzungen basieren jeweils auf fünf imputierten Datensätzen. Die Ergebnisse der Imputationen wurden dabei nach den Regeln von Rubin zusammengeführt (vgl. Allison 2002: 29f.; Rubin 1987).18 Alle Schätzungen basieren auf robusten Standardfehlern. Zudem wurden durch Inspektion der bivariaten Zusammenhänge, der Toleranzwerte und der Varianzinflationsfaktorenwerte alle Schätzungen auf Multikollinearität überprüft. Wie Tabelle 4 entnommen werden kann, variiert die Gesamterklärungskraft deutlich zwischen den Ländern. Auf der einen Seite finden sich die Regressionsanalysen zur Tschechischen Republik, zu Bulgarien und zur Ukraine, bei denen Politikpositionen einen großen Anteil der Gesamtvarianz der Links-Rechts-Selbsteinstufung erklären können. Eher bescheiden sind dagegen die Ergebnisse in den übrigen Ländern, wo die Politikpositionen insgesamt relativ wenig zur Erklärung der Links-Rechts-Selbsteinstufung beitragen. Nichtsdestotrotz existieren in allen Ländern signifikante Koeffizienten, die für Einflüsse der Politikpositionen auf die Links-Rechts-Selbsteinstufung sprechen. In allen Ländern beeinflusst die Haltung zum alten Regime die Links-Rechts-Selbsteinstufung. Allerdings zeigt sich bei der Zufriedenheit mit dem alten Regime in der Ukraine wieder der unerwartete negative Effekt auf die Links-Rechts-Selbsteinschätzung. Neben diesem Faktor ist auch die Haltung zur Wünschbarkeit einer Entwicklung nach westlichem Vorbild in Bulgarien, der Tschechischen Republik, Slowenien und der Ukraine ein bedeutsamer Einflussfaktor. Die Position zur Marktwirtschaft beeinflusst nur die Links-Rechts-Selbsteinschätzung in der Tschechischen Republik und Polen. Dagegen ist von den kontextspezifischen Faktoren die Haltung zur Demokratie in einer multivariaten Betrachtung vollkommen bedeutungslos. Politikpositionen, die sich auf die klassische wirtschaftspolitische Dimension beziehen, sind in erster Linie in der Tschechischen Republik bedeutsam, was im Einklang mit den Ergebnissen bisheriger Studien steht (siehe Markowski 1997, 2006).19 Gewisse Effekte auf die Links-Rechts-Selbsteinstufung finden sich aber auch in der Ukraine. Die traditionelle Moral weist, wenig überraschend und ebenfalls übereinstimmend mit bisherigen 17

18

19

Das Imputationsmodell entspricht weitgehend dem folgenden Analysemodell mit der abhängigen Variable „Links-Rechts-Selbsteinstufung“. Zwecks präziserer Schätzungen der fehlenden Werte wurde das Analysemodell jedoch noch um einige weitere Variablen (z.B. Parteiskalometer) ergänzt, die mit der Links-RechtsDimension zusammenhängen. Die Werte für das R2-Maß werden dabei nach einem von Donald Rubin (2005) vorgeschlagenen Verfahren berechnet und zwar durch die Berechnung von logarithmierten R-Werten und anschließender Rücktransformation. Vor dem Hintergrund der bivariaten Ergebnisse im letzten Kapitel überrascht, dass die Politikpositionen der klassischen Dimension in Bulgarien keinen Effekt auf die Links-Rechts-Selbsteinschätzung aufweisen – zumal die Gesamterklärungskraft hoch ist. Dies hängt damit zusammen, dass diese Politikpositionen in Bulgarien stark mit denjenigen Variablen zusammenhängen, die sich auf die kommunistische Vergangenheit sowie die Einschätzung der Marktwirtschaft beziehen. Zwar gibt es keine Hinweise auf Multikollineariät des Schätzmodells für Bulgarien, nichtsdestotrotz dürften die höheren Zusammenhänge die präzise Schätzung der Koeffizienten erschwert haben.

182

Tatjana Rudi

Ergebnissen (siehe Todosijeviü 2004), nur in Ungarn Effekte auf die Links-Rechts-Selbsteinstufung auf. Im Unterschied hierzu ist die Religiosität wieder in mehreren Ländern für die Links-Rechts-Selbsteinstufung von Bedeutung und zwar in Ungarn, Polen, Slowenien und der Ukraine. Tabelle 4: Regressionsanalysen zur Links-Rechts-Selbsteinstufung BG

CZ

HU

PL

RO

SI

UA

0,02 (0,19) 0,37 (0,23) -0,03 (0,25) 0,13 (0,38) -0,09 (0,11) 0,11 (0,12) 0,24 (0,22) 0,51* (0,21) 0,32*** (0,04) 0,61*** (0,17) 0,10 (0,21) 0,49 (0,27) 0,97** (0,26) 1,70** (0,55)

0,66*** (0,16) 0,75*** (0,20) 0,48* (0,25) 0,64* (0,33) -0,10 (0,11) 0,11 (0,06) 0,39 (0,29) 0,93*** (0,23) 0,19*** (0,04) 0,28 (0,20) -0,001 (0,28) 0,31 (0,23) 0,66*** (0,20) 1,00* (0,46)

0,06 (0,12) 0,14 (0,15) -0,16 (0,24) -0,21 (0,34) 0,18* (0,09) 0,27*** (0,06) ----0,82*** (0,18) 0,15*** (0,03) 0,14 (0,16) ----0,02 (0,17) 0,52 (0,33) 2,30*** (0,51)

0,11 (0,16) 0,11 (0,18) -0,29 (0,29) -0,55 (0,35) 0,37*** (0,10) 0,54*** (0,14) 0,30 (0,23) 0,67*** (0,20) 0,31*** (0,03) 0,59*** (0,18) 0,03 (0,30) -0,44 (0,24) -0,01 (0,28) -0,43 (0,78(

0,31 (0,16) -0,19 (0,17) -0,08 (0,21) 0,12 (0,29) 0,14 (0,10) 0,10 (0,13) -0,21 (0,32) 0,61*** (0,16) 0,11*** (0,03) 0,23 (0,20) -0,07 (0,47) 0,27 (0,21) 0,18 (0,68) 2,95*** (0,68)

0,02 (0,19) -0,08 (0,18) 0,11 (0,29) -0,05 (0,37) ----0,37*** (0,08) -0,12 (0,25) ----0,12** (0,04) -0,20 (0,24) 0,34 (0,36) 0,46 (0,25) 0,67* (0,29) 2,07*** (0,61)

0,66* (0,27) 0,55* (0,22) 0,23 (0,25) -0,33 (0,41) 0,03 (0,12) 0,28** (0,11) 0,38 (0,30) 1,38*** (0,27) -0,19*** (0,04) 0,35 (0,26) -0,07 (0,39) 0,29 (0,23) 1,17*** (0,27) 2,21** (0,81)

Korrigiertes R2

0,41

0,46

0,15

0,28

0,09

0,1

0,29

N

837

604

753

806

871

621

695

Staatsverantwortung Freiheit vs. Gleichheit Teils-Einkommensdif. Pro-Einkommensdif. Traditionelle Moral Religiosität Teils-Sozialismus Pro-Sozialismus Altes Regime Position Marktwirtsch. Teils-Demokratie Pro-Demokratie Westliche Entwicklung Konstante

Signifikanzniveaus: *** p < 0,001; ** p < 0,01; * p < 0,05

Fasst man die Ergebnisse der empirischen Analysen zur Links-Rechts-Selbsteinstufung zusammen, so lässt sich, bei allen Unterschieden zwischen den Ländern, die Schlussfolgerung ziehen, dass die Links-Rechts-Dimension durchaus als ein Schlüssel zu den Politikpräferenzen der Wähler angesehen werden kann. Die meisten Wähler sind willens und in der Lage, sich auf der Links-Rechts-Skala einzuordnen. Zudem sind mit den Termini

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

183

„links“ und „rechts“ relativ konsistent Politikinhalte verbunden. Dies gilt in erster Linie für die Haltung zu kontextspezifischen Sachfragenpositionen sowie zu Politikpositionen, die der klassischen wirtschaftspolitischen Dimension zuzuordnen sind. Schließlich lassen sich auch Zusammenhänge zwischen mehreren spezifischen Politikpositionen und der LinksRechts-Selbsteinstufung ausmachen. Als besonders wichtig erweisen sich  über die Länder hinweg  die Haltungen zur sozialistischen Vergangenheit sowie zur Beurteilung einer Entwicklung nach westlichem Vorbild. Daneben finden sich in jedem Land noch weitere Politikpositionen, die mit der Links-Rechts-Selbsteinstufung zusammenhängen. Folgt man diesen Ergebnissen, so spricht nichts dagegen, die Links-Rechts-Selbsteinstufung auch in Mittel- und Osteuropa als ein „Super-Issue“ anzusehen. Allerdings dürfen dabei weder die Unterschiede in der inhaltlichen Bedeutung der Dimension in den einzelnen Ländern noch die Varianz, die in den Ergebnissen zu beobachten war, in Vergessenheit geraten. 4

Schlussbemerkungen

Ziel dieses Aufsatzes war es, zu untersuchen, ob die Links-Rechts-Dimension in Mittelund Osteuropa in einem systematischen Verhältnis zu spezifischen Politikpositionen steht und insofern ein „Super-Issue“ darstellt. Hierzu wurden zunächst drei Bedingungen aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit davon gesprochen werden kann, dass die Links-RechtsSelbsteinstufung Auskunft über die Politikpräferenzen der Bürger liefert. Erstens müssen die Bürger die Links-Rechts-Skala verwenden. Dies impliziert unter anderem, dass sie fähig sind, ihre eigene Position auf dieser Skala anzugeben. Zweitens sollte über die mit den Begriffen „links“ und „rechts“ assoziierten Politikinhalte ein Konsens herrschen, was vor dem Hintergrund der kommunistischen Vergangenheit als keine Selbstverständlichkeit in den mittel- und osteuropäischen Staaten anzusehen ist. Damit zusammenhängend sollten sich drittens mehrere Politikbereiche ausfindig machen lassen, die mit der Links-RechtsDimension zusammenhängen. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Links-Rechts-Dimension durchaus als ein Schlüssel zu den Politikpräferenzen der Bürger betrachtet werden kann, weil die drei aufgestellten Bedingungen als erfüllt gelten können. Die meisten Bürger sind willens und in der Lage, sich auf dieser Skala einzuordnen. Zudem sind mit den Termini „links“ und „rechts“ relativ klare Politikinhalte verbunden. Dies gilt zumindest für Sachfragen, die der wirtschaftspolitischen Dimension zuzuordnen sind oder kontextspezifischer Natur sind. Drittens lassen sich auch Zusammenhänge zwischen mehreren spezifischen Politikpositionen und der Links-Rechts-Selbsteinstufung ausmachen. Als besonders wichtig erwiesen sich hier die Einstellung zur Idee des Sozialismus sowie die Befürwortung einer Entwicklung nach westlichem Vorbild. Auch wenn die Ergebnisse insgesamt darauf hindeuten, dass die Links-Rechts-Dimension als ein Schlüssel zu den Politikpräferenzen der Bevölkerung betrachtet werden kann, sind die Unterschiede zwischen den Ländern auffallend – auch wenn diese Unterschiedlichkeit durchaus aus etablierten Demokratien bekannt ist. Die einzelnen Länder unterscheiden sich deutlich hinsichtlich der Zahl der Bürger, die sich auf der Links-Rechts-Skala verorten als auch hinsichtlich der Zahl und Art der Politikpositionen, die mit der LinksRechts-Dimension zusammenhängen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die üblichen

184

Tatjana Rudi

monokausalen Erklärungsversuche hierfür nicht greifen. Weder die Unterschiede in der Entwicklung der „alten“ staatssozialistischen Partei (siehe Markowski 1997), noch die Distanz und Kontakte zum Westen (siehe Klingemann et al. 2006) und auch nicht der Konsolidierungsgrad (siehe Evans/Whitefield 1998) können die Unterschiede innerhalb dieser Ländergruppe zufriedenstellend erklären. Vielmehr scheint es zur Aufklärung dieses Sachverhalts notwendig, sich den politischen Wettbewerb in den einzelnen Ländern im Detail anzusehen. Die Ergebnisse dieser Studien haben auch weitreichende Konsequenzen für die vergleichende Forschung. Einerseits deuten die Ergebnisse zwar darauf hin, dass die Bürger – sieht man einmal von gesellschaftspolitischen Politikfeldern ab – in Mittel- und Osteuropa weitgehend dieselben Politikinhalten mit den Termini „links“ und „rechts“ verbinden wie westeuropäische Bürger. Andererseits handelt es sich gerade bei denjenigen Politikpositionen, die besonders stark mit der Links-Rechts-Selbsteinstufung zusammenhängen, um kontextspezifische Politikpositionen. Folglich muss bei kontextübergreifenden Analysen, also Studien, die sowohl westeuropäische als auch mittel- und osteuropäische Staaten beinhalten, diese Diskrepanz im Auge behalten werden. Das für die vergleichende Forschung an und für sich erfreuliche Ergebnis, wonach die mit den Begriffen „links“ und „rechts“ assoziierten Politikinhalten prinzipiell dem westeuropäischen Gebrauch entsprechen, ist schließlich nicht ohne Brisanz für die Politikformulierungsprozesse in Mittel- und Osteuropa. Im Unterschied zu den hier durchgeführten Analysen auf der Ebene der Bürger haben die Party Manifestos nämlich gezeigt, dass die „westeuropäische“ Verwendung der Links-Rechts-Terminologie in den Parteiprogrammen nicht immer nachweisbar ist (siehe Klingemann et al. 2006: 9ff.). Sollte diese Diskrepanz im Gebrauch tatsächlich bestehen und von der Bevölkerung nicht wahrgenommen werden, was im Detail noch zu erforschen ist,20 so wäre die angemessene Repräsentation der Politikpositionen der Bevölkerung durch die Parteienelite und „korrektes“ Policy-Voting in Frage zu stellen. Literatur Aardal, Bern/van Wijnen, Pieter (2005): Issue Voting. In: Thomassen, Jacques (Hrsg.) (2005): The European Voter. A Comparative Study of Modern Democracies. Oxford: Oxford University Press, 192-212. Allison, Paul D. (2002): Missing Data, Thousand Oaks. London, New Delhi: Sage. Arzheimer, Kai (2005): „Freiheit oder Sozialismus?” Gesellschaftliche Wertorientierungen, Staatszielvorstellungen und Ideologien im Ost-West-Vergleich. In: Gabriel, Oscar W./Falter, Jürgen W./Rattinger, Hans (Hrsg.) (2005): Wächst zusammen, was zusammen gehört? Baden-Baden: Nomos, 285-313. Arzheimer, Kai/Rudi, Tatjana (2007): Wertorientierungen und ideologische Einstellungen. In: Rattinger, Hans/Gabriel, Oscar W./Falter, Jürgen W. (Hrsg.) (2007): Der gesamtdeutsche Wähler. Stabilität und Wandel des Wählerverhaltens im wiedervereinigten Deutschland. Baden-Baden: Nomos, 167-187. 20

Im Unterschied zur „empirischen“ Vorgehensweise dieses Beitrags legen die Party Manifestos a priori fest, welche Politikpositionen die Links-Rechts-Dimension ausmachen, weswegen mit Vergleichen vorsichtig umgegangen werden muss.

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

185

Badescu, Gabriel/Sum, Paul E. (2005): The Importance of Left-Right Orientations in the New Democracies. Paper prepared for Presentation at the International Conference on „Elections and Democratic Governance” organized by the Institute of Political Science, Academia Sinica (IPSAS), Taipei. Benoit, Kenneth/Laver, Michael (2006): Party Policy in Modern Democracies. London, New York: Routledge. Brug, Wouter van der/Franklin, Mark/Tóka, Gábor (2008): One electorate or many? Differences in party preference formation between new and established European democracies. In: Electoral Studies 27 (2008), S. 589-600. Buuren, Stef van/Oudshoorn, Karin (1999): Flexible multivariate imputation by MICE, Leiden: TNO Prevention and Health, http://web.inter.nl.net/users/S.van.Buuren/mi/docs/rapport99054.pdf (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald (1960): The American Voter. New York: John Wiley & Sons. Colton, Timothy (1998): Ideology and Russian Mass Politics: Uses of the Left-Right Continuum. In: Wyman, Matthew/White, Stephen/Oates, Sarah (Hrsg.) (1998): Elections and Voters in Postcommunist Russia. Northampton, Mass.: Edward Elgar, 167-189. Colton, Timothy J. (2000): Transitional Citizens. Voters and What Influences Them in the New Russia. Cambridge, London: Harvard University Press. Dieringer, Jürgen (1998): Die ungarischen Parlamentswahlen 1998. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29, 648-660. Downs, Anthony (1968): Ökonomische Theorie der Politik. Tübingen: Mohr. Evans, Geoffrey/Whitefield, Stephen (1998): The Evolution of Left and Right in Post-Soviet Russia. In: Europe-Asia Studies 50, 1023-1042. Freire, André/Lobo, Marina Costa/Magalhães, Pedro (2007): Left-right and the European Parliament vote in 2004. In: Marsh, Michael/Mikhaylov, Slava/Schmitt, Herrmann (Hrsg.) (2007): European Elections after Eastern Enlargement. Preliminary Results from the European Election Study 2004. Connex Report Series No 01. Mannheim: Mannheim Centre for European Social Research, 97-139. Fuchs, Dieter/Klingemann, Hans-Dieter (1989): The Left-Right Schema. In: Jennings, M. Kent/Deth, Jan W. van/Barnes, Samuel H./Heunks, Felix J./Inglehart, Ronald/Kaase, Max/Klingemann, Hans-Dieter/Thomassen, Jacques J.A. (Hrsg.) (1989): Continuities in Political Action. A Longitudinal Study of Political Orientations in Three Western Democracies. Berlin, New York: de Gruyter, 203-234. Gabel, Matthew/Anderson, Christopher J. (2002): The Structure of Citizen Attitudes and the European Political Space 35, 893-913. Gabel, Matthew/Huber, John D. (2000): Putting Parties in Their Place: Inferring Party Left-Right Ideological Positions from Party Manifestos Data. In: American Journal of Political Science 44, 94-103. Gaber, Rusanna (2007): Politische Gemeinschaft in Deutschland und Polen. Zum Einfluss der Geschichte auf die politische Kultur. Wiesbaden: VS Verlag. Harrop, Martin/Miller, William L. (1987): Elections and Voters. Comparative introduction. Houndmills, Basingstoke, Hamsphire: Macmillan Education. Inglehart, Ronald/Klingemann, Hans-Dieter (1976): Party Identification, Ideological Preference and the Left-Right Dimension among Western Mass Publics. In: Budge, Ian/Crewe, Ivor/Farlie, Dennis (Hrsg.) (1976): Party Identification and Beyond. Representations of Voting and Party Competition. London: John Wiley & Sons, 243-273. Jagodzinski, Wolfgang/Kühnel, Steffen M. (1994): Bedeutungsinvarianz und Bedeutungswandel der politischen Richtungsbegriffe „links“ und „rechts“. In: Rattinger, Hans/Gabriel, Oscar W./Jagodzinski, Wolfgang (Hrsg.) (1994): Wahlen und politische Einstellungen im vereinigten Deutschland. Frankfurt am Main: Peter Lang, 317-367.

186

Tatjana Rudi

King, Gary/Honaker, James/Joseph, Anne/Scheve, Kenneth (2001): Analyzing Incomplete Political Science Data: An Algorithm for Multiple Imputation. In: American Political Science Review 95, 49-69. Kitschelt, Herbert/Mansfeldova, Zdenka/Markowski, Radoslaw/Tóka, Gábor (1999): Post-Communist Party Systems. Competition, Representation, and Inter-Party Cooperation. Cambridge: Cambridge University Press. Klingemann, Hans-Dieter/Volkens, Andrea/Budge, Ian/Bara, Judith/McDonald, Michael D. (2006): Mapping Policy Preferences II. Estimates for Parties, Electors, and Governments in Eastern Europe, European Union, and OECD 1990-2003. Oxford: Oxford University Press. Knutsen, Oddbjorn (1995): Value orientations, political conflicts and left-right identification: A comparative study. In: European Journal of Political Science 28, 63-93. Korzeniowski, Krzszysztof (1999): Psychological Predictors of Voting Behaviour in Poland. In: Journal of Mental Changes 5, 119-135. Markowski, Radosáaw (1997): Political Parties and Ideological Spaces in East Central Europe. In: Communist and Post-Communist Studies 30, 221-254. Markowski, Radosáaw (2006): Political Parties, Spaces of Competition and Emerging Cleavages in Poland in the Early 1990s. In: Jasiewicz, Krzysztof/Markowski, Radosáaw (Hrsg.) (2006): The 1991 and 1993 Elections to the Polish Sejm. Analyses, Documents and Data. Berlin: Edition Sigma, 120-150. Marsh, Michael (2007): Vote Switching in the European Parliament Elections: Evidence from June 2004. In: Marsh, Michael/Mikhaylov, Slava/Schmitt, Herrmann (Hrsg.) (2007): European Elections after Eastern Enlargement. Preliminary Results from the European Election Study 2004. Connex Report Series No 01. Mannheim: Mannheim Centre for European Social Research, 71-95. MatČju, Petr/Vlachová, Klára (1998): Values and Electoral Decisions in the Czech Republic. In: Communist and Post-Communist Studies 31, 249-269. Pappi, Franz Urban/Hinich, Melvin H./Shikano, Susumu (2000): Ideologie und Wählerverhalten am Beispiel der Bundestagswahl 1998. In: Keynes, Edward (Hrsg.): Willensbildungsprozesse und Demokratie. Werner Kaltefleiter zum Gedenken. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 27-59. Przeworski, Adam/Teune, Henry, 1970: The Logic of Comparative Social Inquiry. New York: Wiley Interscience. Ramonaite, Aine (2002): The End of the Left-Right Discourse in Lithuania? In: Jankauskas, Algimantas (Hrsg.) (2002): Lithuanian Political Science Yearbook 2002. Vilnius: Institute of International Relations and Political Science, 22-37. Royston, Patrick (2004): Multiple imputation of missing values. In: The Stata Journal 4, 227-241. Royston, Patrick (2005a): Multiple imputation of missing values: Update. In: The Stata Journal 5, 188-201. Royston, Patrick (2005b): Multiple imputation of missing values: Update of ice. In: The Stata Journal 5, 527-536. Rubin, Donald B. (1987): Multiple Imputation for Nonresponse in Surveys. New York: Wiley. Rubin, Donald B. (2005): Re: [Impute] R-square combining and df, unter: http://www.mail-archive.com/[email protected]/msg00102.html (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Sakwa, Richard (1996): Russian Politics and Society. 2. Auflage. London, New York: Routledge. Sniderman, Paul M./Brody, Richard A./Tetlock, Philip E. (1991): Reasoning and Choice. Explorations in Political Psychology. Cambridge: Cambridge University Press. Thorisdottir, Hulda/Jost, John T./Liviatan, Ido/Shrout, Patrick E. (2007): Psychological Needs and Values Underlying Left-Right Political Orientation: Cross-National Evidence from Eastern and Western Europe. In: Public Opinion Quarterly 71, 175-203. Todosijeviü, Bojan (2004): The Hungarian Voter: Left-Right Dimension as a Clue to Policy Preferences. In: International Political Science Review 25, 411-433.

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

187

Todosijeviü, Bojan (2005): Structure, Determinants and Political Consequences of Political Attitudes: Evidence from Serbia. Doctoral Dissertation. Budapest: Central European University. Tóka, Gábor/Henjak, Andrija (2007): Party Systems and Voting Behaviour in the Visegrad Countries 15 Years After the Transition. In: Šaradin, Pavel/Bradová, Eva (Hrsg.) (2007): Visegrad Votes: Parliamentary Elections 2005-2006. Olomouc: Palacky University Press, 210-244. Tworzecki, Hubert (2003): Learning to Choose. Electoral Politics in East-Central Europe. Stanford: Stanford University Press. Warwick, Paul V. (2002): Toward a Common Dimensionality in West European Policy Spaces. In: Party Politics 8, 101-122. Weßels, Bernhard/Klingemann, Hans-Dieter (2006): Parties and Voters – Representative Consolidation in Central and Eastern Europe. In: International Journal of Sociology 36, 11-44.

Anhang – Frageformulierungen Links-Rechts-Selbsteinstufung „Many people think of political attitudes as being on the ‚left’ or the ‚right’. This is a scale stretching from the ‚left’ to the ‚right’. When you think of your own political attitudes, where would you put yourself? Please mark the scale in the box ‚X’.” (1 Left … 10 Right) Staatsverantwortung: Job „On the whole do you think it should or should not be the government’s responsibility to provide a job for everyone who wants one.” (Definitely should be, Probably should be, Probably should not be, Definitely should not be) Staatsverantwortung: Gesundheit „On the whole do you think it should or should not be the government’s responsibility to provide health care for the sick.” (Definitely should be, Probably should be, Probably should not be, Definitely should not be) Staatsverantwortung: Lebensstandard Alte „On the whole do you think it should or should not be the government’s responsibility to provide a decent standard of living for the old.” (Definitely should be, Probably should be, Probably should not be, Definitely should not be) Staatsverantwortung: Lebensstandard Arbeitslose „On the whole do you think it should or should not be the government’s responsibility to provide a decent standard of living for the unemployed.” (Definitely should be, Probably should be, Probably should not be, Definitely should not be) Staatsverantwortung: Abbau Einkommensunterschiede „On the whole do you think it should or should not be the government’s responsibility to reduce income differences between the rich and poor.” (Definitely should be, Probably should be, Probably should not be, Definitely should not be) Freiheit vs. Gleichheit „Which of these two statements comes closest to your own opinion? 1 – I find that both freedom and equality are important. But if I were to choose one or the other, I would consider personal freedom more important, that is, everyone can live in freedom and develop without hinderance. 2 – Certainly

188

Tatjana Rudi

both freedom and equality are important. But if I were to choose one or the other, I would consider equality more important, that is, that nobody is underprivileged and that social class differences are not so strong.” (Freedom, Neither, Equality) Einkommensdifferenzen „Considering the money people earn from their work, do you think that there should be…” (Large differences, Some differences, No differences) Frau für den Haushalt zuständig „Tell me if you are completely in agreement, partially in agreement, partially in disagreement, or completely in disagreement with the following statements: The best thing for a woman to do is to take care of the house.” (Agree completely, Agree partially, Disagree partially, Disagree completely) Schwangerschaftsabbruch möglich „Tell me if you are completely in agreement, partially in agreement, partially in disagreement, or completely in disagreement with the following statements: Abortions should be allowed for every woman.” (Agree completely, Agree partially, Disagree partially, Disagree completely) Akzeptanz von Homosexualität „Tell me if you are completely in agreement, partially in agreement, partially in disagreement, or completely in disagreement with the following statements: Homosexuals are people who should be accepted like anybody else.” (Agree completely, Agree partially, Disagree partially, Disagree completely) Wichtigkeit: Stimme in öffentlichen Angelegenheiten „Please, put the items on this card into three groups according to their importance in life. In the first group please put the most important items, into the second the rather important ones and into the third group those, which are not important. Everybody can have a voice in public matters.” (Very important, Rather important, Not Important) Wichtigkeit: Staatsfreie Privatsphäre „Please, put the items on this card into three groups according to their importance in life. In the first group please put the most important items, into the second the rather important ones and into the third group those, which are not important. The state should not interfere with people’s private lives.” (Very important, Rather important, Not Important) Religiosität „Of the following statements which do you think applies to you most closely: 1 – I am religious and follow the teachings of the church. 2 – I am religious in my own way. 3 – I cannot say if I am religious or not. 4 – I am not religious and am not interested in such things. 5 – I am not religious because the teachings of the churches are wrong” (I am religious and follow the teachings of the church, I am religious in my own way, I cannot say if I am religious or not, I am not religious and am not interested in such things, I am not religious because the teachings of the churches are wrong) Position Marktwirtschaft „Do you personally feel that the creation of a free market economy, that is one largely free from state control, is right or wrong for (country’s e.g. Hungary’s) future?” (Right, Wrong)

Die Links-Rechts-Dimension in Mittel- und Osteuropa

189

Sozialistische Idee „Do you consider [employ „Socialism” or „Communism” depending on the national usage of the terms] to be a good idea that was badly carried out?” (Yes, Undecided, No, Other) Zufriedenheit mit dem alten Regime „Taking everything into account, in general, were you completely satisfied or completely dissatisfied with the (the state-socialist/communist regime: Gorbachev, or Kadar, or Zsivkov, or Ceausescu etc.)?” (1 Completely dissatisfied … 2 Completely satisfied) Demokratie beste Regierungsform „Do you believe that democracy is the best form of government or is there another form of government which is better?” (Best, Undecided, Other better) Westliche Entwicklung „Please tell me whether you agree with the following statements or not. Our country needs a kind of development typical of the western countries.” (Agree, Disagee)

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern Florian Bader, Joachim Behnke

1

Einleitung

Das Thema „Werte“ stellt sicherlich einen Dauerbrenner auf der gesellschaftspolitischen Agenda dar. Politische Skandale sowie mutmaßlich skrupelloses Verhalten großer Wirtschaftsunternehmen führen zu Klagerufen über den Verfall von Werten in Gesellschaft und Politik. In der empirischen Wissenschaft hingegen wurde das Thema Werte immer etwas stiefmütterlich behandelt. Die Forschung, die es zu diesem Thema gab, konzentrierte sich vor allem auf die Veränderungen von Einstellungen zwischen den Generationen, die unter dem Schlagwort „Wertewandel“ bekannt wurden (vgl. u.a. van Deth 2001; Inglehart 1977; Klages 2001). In dieser Arbeit soll ein anderer Ansatz verfolgt werden. Im Zentrum des Interesses stehen Werte, die sich auf das gesellschaftliche Zusammenleben beziehen. Explizit handelt es sich bei diesen Werten um Fairness, Verantwortung für andere, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Respekt vor anderen, Anstand, Verantwortung für das eigene Handeln, Mitgefühl und Courage. In dieser Arbeit wird ein Ansatz vorgestellt, der darauf abzielt, Einstellungen gegenüber Objekten des politischen Raumes mit Hilfe der genannten Werte zu erklären. Dabei geht es allerdings nicht so sehr um die Einstellungen der Individuen selbst, sondern vor allem um das Verhältnis der wahrgenommenen Werte von Politikern zu den eigenen. Insbesondere gilt dabei das Interesse der Frage, in welchem Maße die Politiker diese Werte überhaupt besitzen und inwieweit die wahrgenommenen Werte der Politiker mit den eigenen übereinstimmen bzw. von diesen abweichen. Da es uns hierbei um die Erhebung „diffuser Unterstützung“ des politischen Systems als Ganzem im Sinne Eastons (vgl. Easton 1975) geht, werden nicht konkrete Politiker oder Parteien evaluiert, sondern deren Wahrnehmung als Stereotypen. Die Auswertungen dieser Arbeit basieren auf Daten des Ethik-Monitors, einer neu eingeführten, bundesweit angelegten, repräsentativen Studie rund um das Thema Werte und Gerechtigkeitsfragen, die im zweijährigen Rhythmus erhoben werden soll. Der Ethik-Monitor wurde 2006 im Auftrag der Hamburger Stiftung „Wertevolle Zukunft“ von TNS Emnid durchgeführt. Bei der Erhebung der Wichtigkeit der einzelnen Werte für die Befragten wurde dabei mit einem Chipspiel auf ein wenig verbreitetes Instrument in der Werteforschung zurückgegriffen. Die wahrgenommene Wichtigkeit einzelner Werte für die Politiker im Allgemeinen hingegen wurde mit konventionellen Ratingskalen erhoben. Um nun zu ermitteln, ob die wichtigen Werte der Politiker auch diejenigen sind, die von den Bürgern als wichtig erachtet werden, wurde über alle neun Werte ein Index ermittelt, der ein aus der Sicht der Bürger wahrgenommenes Wertedefizit bzw. eine Wertelücke der Politiker abbildet. Dieses

192

Florian Bader, Joachim Behnke

Wertedefizit stellt das zentrale theoretische Konzept der Untersuchung dar. Im Rahmen der theoretischen Diskussion des Konzepts werden mehrere relativ einfach formulierte Hypothesen abgeleitet, deren Bewährung im Sinne der Konstruktvalidierung (Behnke et al. 2006: 121ff.) als Indiz dafür gesehen werden kann, dass dieses Konzept tatsächlich die theoretisch postulierte Bedeutung besitzt. Wichtiger aber ist vielmehr, dass damit offensichtlich wird, dass das von uns eingeführte Konzept nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch fruchtbar gemacht und zur Erklärung diverser politischer Phänomene mit Erfolg herangezogen werden kann. 2

Theoretische Grundlage und Hypothesenbildung

2.1 Werte und Einstellungen Mit dem Themenkomplex „Werte“ liegt eines der wichtigsten Konzepte der Sozialwissenschaften vor. Allerdings gibt es schon bei der Definition des Begriffes sowie bei der empirischen Umsetzung große Unterschiede. Im Folgenden wird auf einige Definitionen des Begriffs eingegangen, um eine Arbeitsgrundlage für die darauf folgenden theoretischen Überlegungen und empirischen Auswertungen zu schaffen.1 Eine Vielzahl der empirischen Arbeiten zum Thema Werte bezieht sich in Anlehnung an Kluckhohn auf die Vorstellung des gesellschaftlich Wünschenswerten. Er schreibt: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action” (Kluckhohn 1951: 395).

Obwohl es auch vorstellbar ist, dass es Werte gibt, die nur von individueller Bedeutung sind, so sind doch Werte in erster Linie Objekte der Makroebene und damit einer Gruppe zuzuordnen (vgl. Klein/Arzheimer 2000: 560). Werte können als kultureller Bestand einer Gesellschaft betrachtet werden, gewissermaßen als das gemeinsame Erbe, an dem alle Mitglieder durch Sozialisation partizipieren (vgl. Wegener/Liebig 1998: 26). Werte abstrahieren über Einstellungen, Handlungen sowie Ziele und manifestieren sich im menschlichen Verhalten (vgl. Kluckhohn 1951: 394f.). Zum höheren Abstraktionsgrad von Werten im Vergleich zu Einstellungen schreibt Rokeach: „While an attitude represents several beliefs focused on a specific object or situation, a value is a single belief that transcendently guides actions and judgements across specific objects and situations, and beyond immediate goals to more ultimate end-states of existence” (Rokeach 1979: 158).

Newcomb et al. (1965) hingegen sehen in Werten einen Spezialfall des Einstellungskonzeptes, unterscheiden aber dennoch zwischen den Einstellungen im klassischen Sinne und Werten:

1

Einen umfangreichen Definitionsversuch unternimmt Lautmann (1971).

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

193

„…values can be considered as the ultimate development of those processes of selection and generalization that produce long-range consistency and organization in individual behaviour” (Newcomb et al.: 1965).

Werte sind im individuellen Überzeugungssystem Einstellungen gegenüber konzeptionell übergeordnet. Einer kleinen Anzahl von Werten steht eine große Menge von Einstellungen gegenüber, die um die Werte herum in Einstellungsmustern angeordnet sind (vgl. van Deth 1995: 41). Es ist also davon auszugehen, dass Werte Einstellungen gegenüber kausal vorgelagert sind. 2.2 Hypothesenbildung Der Ansatz dieses Artikels ist es, Einstellungen gegenüber Objekten des politischen Raumes mit Werten zu erklären. Konkret sollen Einstellungen gegenüber Politikern, Parteien sowie die Wahlbeteiligung und das Wahlverhalten mit Werten in Beziehung gesetzt werden. Einstellungen gegenüber diesen Objekten können auch als Indikatoren für die Unterstützung eines politischen Systems im Sinne Eastons betrachtet werden. Easton geht davon aus, dass die Aufgabe eines Systems in der autoritativen Allokation von Werten (im Sinne der Bereitstellung von öffentlichen Gütern) für die Gesellschaft liegt. Ein System kann nur dann diese Aufgabe wahrnehmen, wenn es ihm gelingt, ein bestimmtes Ausmaß an Unterstützung aus der Bevölkerung zu erhalten. Diese Unterstützung lässt sich als die Einstellung eines Individuums gegenüber einem Objekt des politischen Raumes2 verstehen, die zu einer positiven oder negativen Orientierung gegenüber diesem Objekt führt (vgl. Easton 1975). Easton unterteilt die Unterstützung für ein politisches System in spezifische und diffuse Unterstützung. Während es sich bei der spezifischen Unterstützung um eine Bewertung des aktuellen Outputs des Systems handelt, ist die diffuse Unterstützung eine tiefe affektive Bindung, die zum einen auf langfristiger Performanz (Identifikation durch Outputzufriedenheit) basiert, aber auch auf der Übereinstimmung der individuellen Werte und Normen mit den Werten und Normen, die dem System und seinen Objekten zugeordnet werden (Identifikation durch Legitimität). Für die Persistenz eines Systems ist vor allem die diffuse Unterstützung notwendig, da sie bei kurzfristigen Performanzschwächen dafür sorgt, dass das System nicht kollabiert. Damit sind Einstellungen gegenüber den Objekten des politischen Raumes zwar auch von kurz- und langfristiger Performanz abhängig, aber auch in großem Maße von der Repräsentation individuell bedeutsamer Werte durch das System. Negative Einstellungen gegenüber den zentralen Akteuren des politischen Systems werden in der Literatur gewöhnlich unter dem Stichwort „Politikverdrossenheit“ (vgl. u.a. Arzheimer 2005) abgehandelt. In dieser Arbeit wird argumentiert, dass die Unterstützung eines politischen Systems bzw. eine negative Bewertung von Objekten des politischen Raumes Folge eines wahrgenommenen Wertedefizits bei den Politikern sein kann.

2

Objekte des politischen Raumes sind laut Easton die politische Gemeinschaft, das politische Regime und die politischen Herrschaftsträger.

194

Florian Bader, Joachim Behnke

Politiker sind diejenigen Akteure des politischen Systems, die direkt oder via Medien für die Individuen erfahrbar sind. Als Repräsentanten der Bürger, in deren Auftrag sie handeln, stehen sie unter besonderer Beobachtung. Der Politiker übernimmt im Sinne eines Prinzipal-Agenten-Schemas die Ausführung eines Auftrags, wobei der Bürger als Wähler den Auftraggeber, den Prinzipal, darstellt. Wie in jeder Prinzipal-Agenten-Beziehung ist das Verhältnis vor allem durch ein Kontrollproblem geprägt. Der Politiker ist zwar grundsätzlich verpflichtet, seinen Auftrag im Interesse des Prinzipals, also des Bürgers, auszuführen. Dem Bürger mangelt es aber an den wesentlichen Ressourcen, um zuverlässig überprüfen zu können, ob der Agent denn tatsächlich vertrauenswürdig ist, d.h. ob er denn wirklich im wohlverstandenen Interesse des Wählers handelt. Werte spielen dabei in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Stimmen die Werte des Politikers mit denen des Bürgers überein, dann fällt es ihm nicht nur leichter, sich mit diesem zu identifizieren, sondern er kann dies auch als hilfreichen Hinweis auf gleichartige Interessenkonstellationen begreifen. Je weniger nun aber die Interessen des Politikers von denen des Bürgers abweichen, desto geringer ist die Gefahr, dass ersterer seinen Informationsund Kompetenzvorsprung zum Schaden des Bürgers einsetzt. Er mag – wie es das pragmatische Misstrauen des Bürgers auch voraussetzen wird – durchaus eigennützige Ziele verfolgen, nur werden diese dann nicht zu sehr von den Zielen, die die Bürger selbst verfolgen würden, abweichen. Je größer die Deckungsgleichheit der Werte der beiden Akteure, desto geringer der Unterschied zwischen den angestrebten Zielen – im optimalen Fall entsprechen die eigennützigen Ziele des Politikers denen des Wählers. Die Auswahl vorgegebener Werte in einer Umfrage ist zwangsläufig immer auch Ermessenssache. Wir legten bei unserer Auswahl den Fokus auf Werte, die sich auf das soziale Zusammenleben beziehen, also auf das Verhalten anderen Menschen der Gemeinschaft gegenüber. Dies entspricht der im Rahmen der Sozialkapitalforschung gemachten Annahme, dass für die Ausbildung von Vertrauen vor allem die gemeinschaftsbezogenen Werte maßgeblich sind. Andere ansonsten für die befragten Personen natürlich sehr zentrale Wert (wie z.B. Freiheit) fehlen daher, da uns aufgrund unserer theoretischen Perspektive nicht daran lag, eine „vollständige“ Liste von Werten zu erheben (wie z.B. in Form des Wertekreises von Schwartz (1992)), sondern diejenigen, die für die Bewertung politischer Objekte vornehmlich relevant sind. Bei den von uns untersuchten Werten handelt es sich daher um Werte, die sich auf das Verhalten gegenüber „dem und den Anderen“ in der Gesellschaft beziehen. Diese Werte sind durchweg positiv konnotiert, d.h. je wichtiger diese Werte für eine Person sind, desto „prosozialer“ wird auch ihr Verhalten sein. Werden diese Werte allgemein in einer Gesellschaft anerkannt, so können sie als „soziales Kapital“ (vgl. Coleman 1990) dieser Gesellschaft, bzw. genauer ihrer Mitglieder, verstanden werden. Diese Werte eignen sich daher weniger, um eine Gesellschaft in verschiedene spezifische Wertegruppen aufzuteilen. Diese tief in der Gesellschaft verwurzelten und allgemein geteilten Werte eignen sich aber sehr wohl dafür, Akteure des politischen Raums policyunabhängig, d.h. in einem diffusen „ethischen“ Sinn, zu evaluieren. Um Missverständnisse zu vermeiden soll an dieser Stelle betont werden, dass es sich beim Evaluationsobjekt nicht um spezifische und konkrete Politiker bzw. Parteien handelt, sondern dass diese in der Befragung bewusst in der Form als Stereotypen eingeführt wurden. Somit wird entsprechend die politische Unterstützung eines Systems und seiner Akteure erklärt und nicht die individuelle Performanz spezifischer Politiker oder Parteien.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

195

Wenn diese prosozialen Werte in einer Gesellschaft allgemein akzeptiert werden, dann erleichtert es den Mitgliedern, untereinander Tausch- und Handelsbeziehungen einzugehen, wodurch sie in die Lage versetzt werden, größere gemeinsame Kooperationsgewinne zu erzielen. Aber auch wenn diese Werte nicht allgemein geteilt werden, so können sie für den Einzelnen von Nutzen sein. Ein Agent etwa, der als vertrauenswürdig gilt, weil von ihm bekannt ist, dass er diese Werte internalisiert hat, wird sich aufgrund dieser erworbenen Reputation („Kauf beim ehrlichen Jim“) leichter Aufträge verschaffen. Die Reputation, diese Werte zu besitzen, stellt also ihrerseits wieder eine Form von Humankapital dar. Ein Politiker, dem Menschen vertrauen, wird wahrscheinlicher wiedergewählt. Allerdings kann dieser Reputationsmechanismus nur funktionieren, wenn diese Werte derart stark internalisiert sind, dass es dem Akteur nicht mehr willentlich freisteht, sich ihnen gemäß oder ihnen entgegengesetzt zu verhalten (Frank 1988). „Der gestirnte Himmel über und das moralische Gesetz in ihm“ zwingt denjenigen, der diese Werte stark internalisiert hat, sich in den durch diese abgesteckten Schranken zu verhalten. Wir gehen dabei im Weiteren davon aus, dass der Grad der Internalisierung eines Wertes mit der Wichtigkeit des Wertes korreliert, die dieser für ein Individuum besitzt, zumindest dann, wenn die Wichtigkeit auf eine Weise erhoben wird, die das Bekenntnis zu einem Wert nicht zu „cheap talk“ (Farrell 1987) werden lässt.3 Je größer also die vom Bürger wahrgenommene Wertelücke der Politiker, desto größer das subjektiv empfundene Risiko des Bürgers, dass sein Agent seinen ursprünglichen Auftrag missachten und gegen seine Interessen handeln wird. Das Wertedefizit kann also gewissermaßen als eine Art von Heuristik betrachtet werden, die dem Bürger als Wähler hilft, sich einen Eindruck über die Vertrauenswürdigkeit (bzw. das Fehlen derselben) der von ihm gewählten Politiker zu machen. Die Vertrauenswürdigkeit aber ist wieder einer der zentralen Faktoren, auf die sich die Evaluation von Politikern und Parteien stützt. Ganz ähnlich wie die Parteiidentifikation als Heuristik benutzt werden kann, um die programmatischen Positionen von Parteien mit geringen Informationskosten zu schätzen (vgl. u.a. Behnke 2001), so kann der Abgleich des Wertemusters der Politiker mit dem der Bürger durch dieselben ganz wie die Parteineigung eine grobe inhaltliche Einordnung der zu erwartenden Politik leisten. Dies gilt, soweit die Werte ideologischer Natur sind. Wenn es beim „Werteabgeich“ um auf breiter Basis geteilte Werte geht, so kann dieser Abgleich auch darüber hinaus eine von spezifischer Policy unabhängige Gesamteinschätzung über 3

Wir müssen an dieser Stelle allerdings zugeben, dass es sich bei der Annahme, dass die untersuchten Werte auch bei Politikern als wünschenswert vorausgesetzt werden, um eine theoretische Setzung handelt. So ist es durchaus denkbar, dass Eigenschaften und Wertorientierungen, die man sich bei persönlichen Interaktionen durchaus als bei dem Interaktionspartner vorhanden wünscht, nicht diejenigen sind, die man von einem Politiker im Rahmen der professionellen Ausübung seines Mandats erwartet bzw. von ihm erhofft, so wie man bei einem Scheidungsanwalt wahrscheinlich Großzügigkeit auch nicht gerade als reputationsfördernde Wertorientierung empfinden würde. Daher werden sich die Bürger zwar einerseits einen Politiker wünschen, der ihnen gegenüber z.B. ehrlich ist; in Ausübung seines politischen Geschäfts hingegen kann Ehrlichkeit möglicherweise aus Sicht des Bürgers verzichtbar, unter gewissen Umständen möglicherweise sogar schädlich sein. Diese Differenzierungen wären daher durchaus sinnvoll und erhellend, können von uns aber mit Hilfe des vorliegenden Datensatzes nicht vorgenommen werden. Wir gehen daher also von der Vermutung der grundsätzlichen Erwünschtheit dieser Eigenschaften aus, was der generellen Tendenz nach sicherlich als sinnvolle Annahme angesehen werden kann. Im eben erwähnten Sinn differenziertere Untersuchungen sollen Gegenstand weiterer Forschung mit Hilfe des „Ethikmonitors“ sein.

196

Florian Bader, Joachim Behnke

die Seriosität des Politikers in seiner Rolle als Agent liefern. Und wie für jede gute Heuristik gilt auch hier, dass die Informationskosten gering sind. Denn die Informationen, die der Bürger benötigt, um sich ein Bild von den Werten seiner politischen Repräsentanten zu machen, fallen, noch mehr als bei der politischen Ideologie, gewissermaßen als Abfallprodukt der ihn permanent umgebenden Medienwelt an, ohne dass er sie also aktiv suchen müsste.4 Denn im Sinne des Prinzipal-Agenten-Schemas kann nur ein vertrauenswürdiger Agent ein guter Agent sein. Daraus folgt Hypothese 1a: Hypothese 1a: Mit steigendem Wertedefizit zwischen Politikern und Individuum sinkt die Bewertung der Politiker im Allgemeinen. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal bemerken, dass sich das wahrgenommene Wertedefizit in unserer Untersuchung auf das von „Politikern allgemein“ oder den „Parteien allgemein“ bezieht. Wir beziehen uns also bewusst nicht auf den „durchschnittlichen“ Eindruck ausgewählter konkreter Politiker und Parteien, sondern auf die Wahrnehmung von Politikern und Parteien als Stereotypen. Denn die weiter oben erwähnte „diffuse Unterstützung“ des politischen Systems, bzw. im Fall von Politikverdrossenheit die Entziehung derselben, lässt sich gerade auf die stereotype Wahrnehmung von zentralen Akteuren logisch stringenter zurückführen als auf die Wahrnehmung konkreter Parteien (vgl. Aronson 1994: 151ff.). Um es etwas zugespitzt zu formulieren: Jeder hat seinen „guten Politiker in der Nachbarschaft“, ohne dass ihn das hindern würde, von „den Politikern“ ein schlechtes Bild zu haben, das seine Erwartungen in die Politik maßgeblich prägt. Für die politischen Parteien in der Bundesrepublik soll analog zur allgemeinen Politikerbewertung ebenfalls eine Hypothese formuliert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass Politiker als Repräsentanten ihrer Parteien das Bild und damit die Bewertung dieser nachhaltig verändern können. Daher wird vermutet, dass ein negativer Zusammenhang zwischen einem Wertedefizit bezogen auf die Politiker und der Parteienbewertung besteht. Daraus folgt Hypothese 1b: Hypothese 1b: Mit steigendem Wertedefizit zwischen Politikern und Individuum sinkt die Bewertung der Parteien. Wenn die Politiker nicht mehr positiv evaluiert werden, unter anderem weil ihr Wertesystem nicht mit dem der Bürger übereinstimmt, so ist es nahe liegend zu vermuten, dass das wahrgenommene Wertedefizit auch die Wahrnehmung der Fähigkeit der Politik, Lösungen für bestimmte Probleme anzubieten, beeinflusst. Doch je weniger man sich von der Politik erwartet, desto irrelevanter wird es, wer regiert. Außerdem kann die Wahlbeteili4

Dass diese Informationen nicht immer unbedingt zuverlässig und zutreffend sind, schmälert den Wert der auf Basis dieser Informationen gebildeten Heuristik in keiner Weise. Heuristiken, die auf wenigen oder sogar fehlerhaften Informationen beruhen, müssen nicht schlechter sein als informationshaltige (Gigerenzer/Todd 1999). Außerdem besteht der Wert einer Heuristik nicht so sehr darin, zum richtigen Urteil zu kommen, sondern darin, überhaupt zu einem Urteil zu kommen. Gerade Urteile über Politiker sind natürlich oft eher Vorurteile als wohl abgewogene Urteile. Dennoch erfüllen sie ihre wesentliche Funktion als „cognitive map“ (Neisser 1979) ganz und gar, indem sie dem Bürger helfen, sich im politischen Raum zu orientieren und seine Wahlentscheidung zu treffen.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

197

gung als Indikator für die Unterstützung eines politischen Systems begriffen werden. Sollte ein zu großes Wertedefizit bezogen auf die Werte der Politiker, als Repräsentanten des Systems, empfunden werden, so wird der Bürger dem System die Unterstützung in Form einer Wahlbeteiligung entziehen. Die Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, sollte also mit einem steigenden wahrgenommenen Wertedefizit bei den Politikern abnehmen. Daraus folgt Hypothese 2: Hypothese 2: Mit steigendem Wertedefizit zwischen Politikern und Individuum sinkt die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung. Neben der Möglichkeit der Wahlenthaltung als Kritik am politischen System besteht eine weitere Möglichkeit der Regimekritik am Wahltag. Der Wähler hat die Möglichkeit, durch seine Stimme das politische System zu verändern. Mit der Wahl einer Partei, die für einen radikalen Politikwechsel steht, kann er seiner Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Es wird davon ausgegangen, dass vor allem die Politiker der etablierten und großen Parteien, auch wegen ihrer deutlich größeren Medienpräsenz als „der typische Politiker“ wahrgenommen, und damit auch als Evaluationsobjekt für ein Wertedefizit herangezogen werden.5 Es gibt nun zwei Gründe, eine Partei am Rande des Parteienspektrums zu wählen. (1) Man wählt die Partei, weil deren Spitzenpolitiker sich bewusst radikal gegen den Rest der politischen Klasse abgrenzen („Da traut sich endlich mal einer die Wahrheit zu sagen“), also gerade nicht als „typische Politiker“ wahrgenommen werden, oder (2) das Individuum kann, wenn es ein zu hohes Wertedefizit zu den Politikern im Allgemeinen feststellt, versuchen, das System durch die Wahl einer radikalen Partei am Rand des Parteienspektrums zu verändern, indem es auf diese Weise Druck auf die etablierten Parteien ausübt. Diese Form der „Protestwahl“ (Falter/Schumann 1993) kann dementsprechend lediglich auf taktischen Motiven beruhen: Man wählt die radikale Partei nicht wegen einer zu ihr bestehenden Affinität, sondern um den Parteien, denen die eigentliche Loyalität gehört, „eins auszuwischen“. Daraus folgt Hypothese 3: Hypothese 3: Mit steigendem Wertedefizit zwischen Politikern und Individuum steigt die Wahrscheinlichkeit der Wahl einer extremen Partei am Rande des Parteienspektrums. 3

Datenbasis und Untersuchungsdesign

3.1 Daten und Gewichtung Die Daten, denen die folgenden Auswertungen zugrunde liegen, stammen aus dem Ethikmonitor. Diese Studie wurde im Auftrag der Stiftung „Wertevolle Zukunft“ und in Zusammenarbeit mit dem Institut TNS-Emnid erhoben. Die Konzeption des Fragebogens sowie 5

Auch wenn diese Vermutung mit dem vorliegenden Datensatz nicht überprüft werden kann, so scheint es plausibel, darüber hinaus anzunehmen, dass gerade in den Wählerschichten, die zur politischen Apathie neigen, die politisch eher weniger informiert und formal weniger gebildet sind, Medien bevorzugt genutzt werden, in denen die stereotype Darstellung von Politikern besonders wenig schmeichelhaft für diese ausfällt.

198

Florian Bader, Joachim Behnke

die wissenschaftliche Betreuung der Auswertungen erfolgten durch Joachim Behnke, Stefanie Hergert und Florian Bader. Beim Ethikmonitor handelt es sich um eine bundesweit angelegte Studie. Die Grundgesamtheit bilden die in Privathaushalten lebenden, deutschsprachigen Personen in der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren. Die Größe der Stichprobe umfasst 1003 Befragte. Da in die Befragung das für diese Arbeit bedeutende Chipspiel integriert war, wurde die Befragung Face to Face durchgeführt. Die Befragung durch die Interviewer erfolgte computergestützt (CAPI). Die Feldzeit erstreckte sich vom 15. April bis zum 18. Mai 2006. Insgesamt wurden 258 Sample Points in Anlehnung an das ADM-Mastersample ausgewählt. Dabei wurden alle Bundesländer und Ortsgrößen abgedeckt. Die Befragungshaushalte wurden per systematischem Random-Route-Auswahlverfahren innerhalb der Sample Points ausgewählt. Innerhalb der Haushalte wurde dann die Befragungsperson zufällig ausgewählt. Eine Gewichtung nach den Faktoren Bundesland, Geschlecht, Alter (klassiert), Schulbildung und Umfang der Erwerbstätigkeit wird in dieser Arbeit nur verwendet, wenn deskriptiv Aussagen über die Verteilung verschiedener Variablen in der Grundgesamtheit gemacht werden. Zusammenhangsanalysen und Testverfahren erfolgen ausschließlich mit ungewichteten Daten. 3.2 Auswahl und Erhebung der Werte Wie bereits in der Einleitung erwähnt, stehen diejenigen Werte im Mittelpunkt dieser Untersuchung, die das soziale Zusammenleben betreffen. Die Auswahl der verschiedenen Werte beruht neben theoretischen Überlegungen auch auf qualitativen Voruntersuchungen. Dabei handelte es sich um Leitfadeninterviews, die im Vorfeld der Studie getätigt wurden. Dabei stellte sich heraus, dass die Befragten, wenn sie nach den für sie persönlich wichtigsten Werten gefragt wurden, neben Werten wie Freiheit oder Gleichheit am häufigsten eben jene Werte des sozialen Miteinanders genannt haben. Da die Wichtigkeit der Werte sowohl für das Individuum selbst, aber auch für drei weitere Bezugsgruppen, eine davon eben die Politiker, abgefragt werden sollte, konnten nur solche Werte aufgenommen werden, deren semantische Bedeutung zwischen den Personengruppen nicht variierte. Aus fragebogenökonomischen Gründen wurde die Auswahl auf die folgenden neun Werte beschränkt: x Fairness x Verantwortung für andere x Pflichtbewusstsein x Ehrlichkeit x Respekt vor anderen, damit meinen wir Achtung vor anderen x Anstand, damit meinen wir Manieren/Umgangsformen x Verantwortung für das eigene Handeln x Mitgefühl x Courage, damit meinen wir z.B. den Mut einzugreifen

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

199

Bei der endgültigen Auswahl wurde auch auf eine möglichst gute theoretische Abgrenzung der Werte voneinander geachtet. Der Wert Verantwortung wurde zweimal abgefragt, auf der einen Seite als Verantwortung für andere und auf der anderen Seite als Verantwortung für das eigene Handeln. Bei den anderen Werten wurde teilweise auf kurze Erklärungen zurückgegriffen, um die beabsichtigte Konnotation des Wortes deutlich zu machen. Eine offene Frage nach den persönlich wichtigsten Werten, die ebenfalls im Ethikmonitor installiert wurde, unterstützt die gewählte Vorgehensweise, kann aber aus Platzgründen hier nicht wiedergegeben werden. Die in dieser Arbeit verwendeten Werte erfahren eine gesamtgesellschaftliche Zustimmung. Für die Messung bedeutet dies, dass sich die Befragten unter den Werten selbst etwas vorstellen können. Man kann den Probanden also die Werte als Liste zur Bewertung vorlegen. Auf der anderen Seite steht die alte Frage, ob nun Rating- oder Rankingverfahren besser geeignet sind, diese Werte zu erheben.6 Die Befürworter des Rankingverfahrens führen ihre Wahl vor allem auf die theoretische Annahme zurück, dass Werte zueinander in einer hierarchischen Beziehung stehen und dass Rankingverfahren sich besonders gut eignen, Hierarchien abzubilden (vgl. Rokeach 1973). Als ein großer Nachteil des Rankingverfahrens wird die Ipsativität der Messung angesehen. Ipsative Messung bedeutet, dass die Summe der vergebenen Ausprägungen, in diesem Fall Ränge, eine Konstante bildet und damit die Items, bei ansonsten zufälliger Verteilung der Ränge, untereinander negativ korreliert sind.7 Eine gravierende Auswirkung dieses Verfahrens ist, dass die Items untereinander nur schlecht zusammenhangsanalytisch untersucht werden können. Als ein weiterer Nachteil des Rankingverfahrens kann angesehen werden, dass es eine Entscheidung zwischen zwei Items erzwingt, auch wenn der Befragte diesen beiden Items indifferent gegenübersteht. Der große Vorteil des Ratingverfahrens wird vor allem darin gesehen, dass es leichter in Bevölkerungsumfragen durchzuführen ist. Außerdem werden die ökonomischen Vorteile des Ratingverfahrens sowie die Möglichkeit der Erfassung mittels Telefoninterviews als Argumente für das Ratingverfahren angeführt. Des Weiteren wird der höhere Informationsgehalt von Ratingskalen hervorgehoben (Klein/Arzheimer 1999). Allerdings sind auch Ratingskalen mit Nachteilen behaftet. Ein wichtiges Problem vor allem bei der Erhebung von Werten ist die soziale Erwünschtheit. Alle in dieser Arbeit gewählten Werte werden auf breiter gesellschaftlicher Basis geteilt, weswegen davon auszugehen ist, dass es eine starke Tendenz gibt, die angegebene individuelle Wichtigkeit aller Werte als sehr hoch einzustufen und wenig zwischen den Werten zu differenzieren. Es ist daher zu vermuten, dass das Ratingverfahren nicht geeignet ist, um die relative Wichtigkeit von politisch nicht stark umstrittenen Werten zu erheben. Es wird eine Art von „Trade Off“ benötigt, der die Befragten dazu animiert, zwischen den Werten zu differenzieren. Die Wahl eines Rankingverfahrens würde die Befragten allerdings zwingen, sich zwischen Werten zu entscheiden, denen sie womöglich indifferent gegenüberstehen. Außerdem wäre durch ein Rankingverfahren keine Information über den Abstand zwischen den Werten zu gewinnen, der die relative Wichtigkeit der Werte zueinander abbildet. Aus diesem Grund wurde im Ethikmo6 7

Für eine Auseinandersetzung in der jüngeren Vergangenheit siehe z.B. Klein und Arzheimer (1999, 2000) und Sacchi (2000). Für eine kurze und kompakte Zusammenfassung siehe Klein und Arzheimer (1999).

200

Florian Bader, Joachim Behnke

nitor mit einem so genannten Chipspiel eine dritte Erhebungsmethode verwendet. In diesem Chipspiel wurden den Probanden alle neun Werte vorgelegt. Dazu bekamen sie vom Interviewer folgende Anweisung: „Wir haben Ihnen nun neun Werte aufgeschrieben und bitten Sie, jeden einzelnen zu bewerten. Ich gebe Ihnen dazu Wichtigkeitspunkte, genau 30 Stück. Bitte verteilen Sie diese Wichtigkeitspunkte auf die einzelnen Werte. Dem Wert, der Ihnen am wichtigsten ist, geben Sie bitte die meisten Wichtigkeitspunkte. Dem Wert, der Ihnen am unwichtigsten ist, geben Sie bitte die wenigsten Wichtigkeitspunkte. Wie viele Wichtigkeitspunkte Sie jedem Wert zuordnen, bleibt Ihnen überlassen.“

Die Interviewer wurden dazu angehalten, die Anzahl der vergebenen Chips zu überprüfen und gegebenenfalls die Probanden dazu aufzufordern, alle 30 Chips zu verteilen. Auf diese Weise waren die Befragten auf der einen Seite gezwungen, „Trade Offs“ zwischen den einzelnen Werten einzugehen, auf der anderen Seite konnten sie aber auch mehreren Werten gleich viele Punkte zuordnen und so Indifferenz (Bindungen) zwischen einzelnen Werten zulassen. Der Nachteil der Ipsativität ist bei dieser Art der Erhebung allerdings vorhanden. So sind natürlich auch in einem Chipspiel die einzelnen Items nicht unabhängig voneinander. Bei neun Werten steht die Verteilung der Chips spätestens nach der Bewertung von acht Werten fest. Oder anders gesagt, jeder Wert kann durch die Bewertung der anderen acht Werte erklärt werden. Bei der Abfrage der Einschätzung der Wichtigkeit für die einzelnen Bezugsgruppen wurde auf Ratingskalen zurückgegriffen. Hier konnte man auf erzwungene Trade Offs zwischen den einzelnen Bewertungen verzichten, da für den Befragten kein Anreiz besteht, den Politikern ein positives Wertesystem zu unterstellen (was er auch nicht macht). Bezogen auf die Politiker lautet der Stimulus daher wie folgt: „Und was meinen Sie, als wie wichtig sehen die Politiker im Allgemeinen diese Werte an? 1 bedeutet, dass diese als überhaupt nicht wichtig erachtet werden, 7, dass diese als sehr wichtig erachtet werden. Mit den Zahlen dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen.“

Auf die Frage nach der Wichtigkeit der Werte für die Politiker im Allgemeinen antworteten 973 Probanden bei allen neun Werten mit einer gültigen Antwort. Die Anzahl der gültigen Werte bezüglich der einzelnen Werte variierte zwischen 984 und 991. Nachdem die Erhebungsinstrumente vorgestellt wurden, soll im Folgenden die Konstruktion des Indexes für das Wertedefizit erläutert werden. Hierzu stellten wir folgende Überlegungen an: Es existiert aus nachvollziehbaren Gründen kein Wertedefizit, wenn die Befragten der Meinung sind, dass die Politiker alle Werte als sehr wichtig erachten, also alle den Wert sieben erhalten. In diesem Fall erhielte das Defizit seinen minimalen Wert von Null. Das Defizit gibt ansonsten die (absolute) Differenz zum theoretisch maximal möglichen Wert an. Das Defizit nimmt daher selbst immer einen positiven Wert oder den Wert Null an. Ein Defizit entsteht nun aufgrund zweier Effekte, einem Niveaueffekt und einem Gewichtungs- oder Korrelationseffekt. Unter dem Niveaueffekt verstehen wir Folgendes: Je größer die durchschnittliche Abweichung der Wichtigkeit des Wertes vom Maximalwert sieben, desto größer das Wertedefizit. Wenn nun aber die wahrgenommene Wichtigkeit eines Wertes für die Politiker z.B. vier beträgt, also drei weniger als möglich

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

201

wäre, dann ist dieses mangelnde Wertebewusstsein aus Sicht der Bürger vermutlich desto dramatischer, je wichtiger dieser Wert für sie selbst ist. Bei gleicher durchschnittlicher Wichtigkeit der Werte muss sich also ein größeres Wertedefizit ergeben, wenn insbesondere die Werte besonders schlecht abschneiden, die für die Wähler als besonders wichtig gelten (Korrelationseffekt). Aufgrund dieser Überlegungen ergibt sich folgende Konstruktionsvorschrift: k

7 * GWPi  ¦ Wijindividuell *WijPolitiker * d ij WDi

j

7 * GWPi  GWPi

*100

Mit: WDi GWPi j k Wijindividuell WijPolitiker dij

Wertedefizit des Individuums i Anzahl der von i vergebenen Wichtigkeitspunkte auf die Werte, für die eine gültige Antwort bezüglich der eingeschätzten Wichtigkeit für die Politiker vorhanden ist Index der Werte Anzahl der Werte Individuelle Wichtigkeit des Wertes j für i Von i wahrgenommene Wichtigkeit des Wertes j für die Politiker Dummyvariable, die den Wert 1 annimmt, wenn i für den Wert j bei Wichtigkeit dieses Wertes für die Politiker einen gültigen Wert angegeben hat, ansonsten 0.

Der Defizitindex wird durch einen gewichteten und normierten Summenindex dargestellt. Grundlage des Indexes sind die gültigen Antwortpaare aus individueller Wichtigkeit eines Wertes und der Einschätzung der Wichtigkeit dieses Wertes für die Politiker im Allgemeinen. Zunächst wird die Wichtigkeit eines Wertes j für die Person i mit der Einschätzung der Person i über die Wichtigkeit dieses Wertes j für die Politiker im Allgemeinen multipliziert. Hat Person i also die Wahrnehmung, dass die Politiker im Allgemeinen den Wert „Ehrlichkeit“ als eher weniger wichtig ansehen, vergibt sie z.B. den Skalenwert zwei. Persönlich ist Person i der Wert „Ehrlichkeit“ aber sehr wichtig. Sie entscheidet sich also im Chipspiel, dem Wert „Ehrlichkeit“ neun Punkte zu geben. Person i gewichtet damit den Wert „Ehrlichkeit“ mit neun Punkten, womit das Produkt beider Werte 18 beträgt. Diese Gewichtung erfolgt nun für alle Werte. Die Summe über alle Produkte kann für eine Person maximal sieben mal der Anzahl der von dieser Person vergebenen Wichtigkeitspunkte auf die Werte, für die eine gültige Antwort bezüglich der eingeschätzten Wichtigkeit für die Politiker vorhanden ist (GWPi), betragen. (Bei einer Person, die alle relevanten Fragen gültig beantwortet hat und den Werten bezüglich der Politiker jeweils den höchstmöglichen Wert von sieben zuordnet, beträgt der Wert der Produktsumme also 7*30 = 210). Minimal kann die Summe GWPi betragen (Bei einer Person, die alle relevanten Fragen gültig beantwortet hat und den Werten bezüglich der Politiker jeweils den geringstmöglichen Wert von eins zuordnet, beträgt der Wert der Produktsumme also genau 1*30). Um das Wertedefizit auf einen für alle Befragten einheitlichen Bereich zu skalieren, wird von der maximal möglichen Produktsumme die tatsächlich erzielte Produktsumme abgezogen. Die Differenz aus beiden Größen wird dann anschließend durch die Division

202

Florian Bader, Joachim Behnke

mit der Differenz aus maximal und minimal möglicher Produktsumme und durch Multiplikation mit 100 auf den Bereich zwischen 0 und 100 normiert. 3.3 Die abhängigen Variablen der Untersuchung Allgemeine Politiker- und Parteibewertung Die allgemeine Parteienbewertung wurde in Anlehnung an die verschiedenen Sympathieskalometer für Parteien und Politiker konstruiert. Im Gegensatz zu diesen Sympathieskalometern wird aber nicht nach einer spezifischen Partei oder einem bestimmten Politiker gefragt. Vielmehr wird eine Bewertung der Parteien im Allgemeinen abgefragt, die innerhalb einer Itembatterie von weiteren allgemeinen Bewertungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen eingebunden ist. Den Probanden wurde vom Interviewer folgende Frage gestellt: „Wie bewerten Sie ganz allgemein die Politiker, Wirtschaftsführer, politischen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland? Ich lege Ihnen nun eine Skala von 1 bis 11 vor. 1 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von dieser Gruppe oder Institution halten, 11 bedeutet, dass Sie sehr viel von dieser Gruppe oder Institution halten. Ganz allgemein: Was halten Sie von... „

Die Befragten konnten auf einer Skala von eins (überhaupt nichts) bis elf (sehr viel) antworten. Dieses Vorgehen ermöglicht eine diffuse Bewertung der beiden gesellschaftlichen Gruppen Politiker und Parteien, ohne dass auf eine Indexbildung mit klassischen Sympathieskalometern zurückgegriffen werden muss. In dieser Arbeit werden die Variablen „Allgemeine Politikerbewertung“ und „Allgemeine Parteienbewertung“ in ihrer Fragebogenform verwendet, d.h. eine Ausprägung von eins bedeutet, dass der Befragte überhaupt nichts von den Politikern bzw. Parteien im Allgemeinen hält, während elf bedeutet, dass er sehr viel von ihnen hält. 990 Befragte gaben auf diese Frage eine gültige Antwort ab. Wahlbeteiligung Die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung wird im Ethik-Monitor fünfstufig abgefragt. Der Fragestimulus lautet: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würden Sie dann zur Wahl gehen?“ Die Befragten erhielten die Antwortmöglichkeiten „auf keinen Fall“ (1), „wahrscheinlich nicht“ (2), „vielleicht“ (3), „wahrscheinlich“ (4), „auf jeden Fall“ (5) zur Beantwortung der Frage. 912 Probanden konnte eine Wahlbeteiligungswahrscheinlichkeit zugewiesen werden.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

203

Wahl extremer Parteien Die Wahl extremer Parteien wird über die klassische Sonntagsfrage als Dummy-Variable operationalisiert. Alle Befragten, die angaben, mit ihrer Zweitstimme Die Linke.PDS, die Republikaner, die DVU oder die NPD zu wählen, wurden als Wähler extremer Parteien klassifiziert und mit dem Wert eins codiert. Alle anderen bekamen die Ausprägung null zugewiesen. Antwortverweigerer und Nichtwähler wurden aus dieser Analyse ausgeschlossen. 4

Empirische Untersuchung

In Tabelle 1 ist die mittlere Punktzahl aller neun Werte bezogen auf das Individuum selbst und die mittleren Skalenwerte bezogen auf die Politiker abgebildet. Außerdem werden in der Tabelle noch der Rangplatz und die Anteile der Befragten in Prozent angegeben, die den jeweiligen Wert als wichtigsten Wert betrachten. Tabelle 1: Wichtigkeit von Werten für Individuum und Politiker Individuum Wert MW Rang Max %* MW Fairness 3,40 5 21% 3,22 Verantwortung für andere 2,82 8 12% 3,69 Pflichtbewusstsein 3,46 4 27% 3,92 Ehrlichkeit 4,44 1 55% 3,07 Respekt vor anderen 3,51 3 25% 3,63 Anstand 2,88 7 13% 3,84 Verantwortung für das eigene Handeln 3,67 2 29% 3,65 Mitgefühl 2,82 9 9% 3,14 Courage 3,02 6 16% 3,68 * Basis für Prozentuierung N=993 bzw. N=987 (mind. ein Wert beantwortet)

Politiker Rang Max %* 7 32% 3 42% 1 52% 9 28% 6 39% 2 49% 5 45% 8 28% 4 43%

Der von den Individuen mit Abstand mit am meisten Wichtigkeitspunkten versehene Wert mit durchschnittlich 4,44 von 30 ist Ehrlichkeit, es folgen Verantwortung für das eigene Handeln mit 3,67 und Respekt vor anderen mit 3,51 durchschnittlichen Wichtigkeitspunkten. In der Mitte des Rankings befinden sich Pflichtbewusstsein und Fairness mit 3,46 bzw. 3,40 mittleren Wichtigkeitspunkten. Danach tut sich eine kleine Lücke auf. Es folgt Courage mit 3,02 durchschnittlichen Wichtigkeitspunkten. Wiederum mit Abstand folgen dann die drei Schlusslichter Anstand, Verantwortung für andere und Mitgefühl mit 2,88 bzw. 2,82 durchschnittlichen Wichtigkeitspunkten. In Abbildung 1 sind Boxplots für jeden Wert abgetragen. Vergleicht man die einzelnen Boxplots, so lässt sich der „Trade Off“ zwischen den Werten schön erkennen. Vor allem beim Wert Ehrlichkeit machen relativ viele Befragte von der Möglichkeit Gebrauch, mehr als drei Wichtigkeitspunkte zu vergeben. 50 Prozent der Befragten geben dem Wert Ehrlichkeit vier und mehr Wichtigkeitspunkte, 25 Prozent sogar fünf und mehr. Ähnlich verhält es sich beim Wert Verantwortung für das eigene Handeln. Hier fallen allerdings Me-

204

Florian Bader, Joachim Behnke

dian und das 75-Prozent-Quantil auf dem Wert vier zusammen, so dass der Interquartilsabstand lediglich eins beträgt. Die durchschnittlich höheren Bewertungen dieser beiden Werte geht vor allem auf die Kosten der Werte Mitgefühl, Anstand, Courage und Verantwortung für andere, denen über 50 Prozent der Befragten drei und weniger Punkte zukommen lassen. Bei den Werten Ehrlichkeit, Anstand und Courage streut die Anzahl der vergebenen Chips etwas mehr als bei den andern Werten. Der Interquartilsabstand beträgt zwei Wichtigkeitspunkte, bei allen anderen Werten lediglich einen. Abbildung 1:

Boxplots für die Verteilung der individuellen Wichtigkeit der neun Werte

Eine Alternative zur vergleichenden Betrachtung der Mittelwerte ist die Überprüfung, welche Werte die meisten Wichtigkeitspunkte beim einzelnen Individuum erzielt haben, welche Werte dem Individuum somit also am wichtigsten sind. Der Unterschied zwischen der Bedeutung der Werte tritt auf diese Weise noch deutlicher hervor. 55 Prozent der Befragten geben dem Wert Ehrlichkeit die meisten Wichtigkeitspunkte. Sehr deutlich abgeschlagen dahinter liegt Verantwortung für das eigene Handeln mit 29 Prozent. Die Werte Pflichtbewusstsein und Respekt haben im Vergleich zum Ranking nach Mittelwerten die Positionen getauscht. Ansonsten bleibt die Rangfolge allerdings erhalten. Das „Schlusslicht“ bildet auch bei dieser Betrachtungsweise der Wert Mitgefühl, den immerhin noch 9 Prozent der Befragten unter den individuell wichtigsten Werten führen.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern Abbildung 2:

205

Verteilung des Wertedefizits

Interessant ist ein Vergleich der so erhaltenen Wertestruktur mit der Bezugsgruppe Politiker. Grundsätzlich liegen die Beurteilungen der einzelnen Werte dort etwas näher beisammen. Dies liegt daran, dass hier kein Zwang zum Trade Off wie beim Verteilen der Wichtigkeitspunkte bestand, d.h. eine hohe Bewertung bezüglich eines Wertes schränkt die Bewertungen bezüglich der anderen Werte nicht ein. Dennoch lassen die Ergebnisse an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Es kommt nahezu zu einer Umkehrung der zuvor berichteten Wertestruktur. Insbesondere der für die Bevölkerung wichtigste Wert, die Ehrlichkeit, wird von ihr als der für die Politiker am wenigsten wichtige wahrgenommen (3,07). Die Ergebnisse bleiben auch annähernd erhalten, wenn man statt der Mittelwerte die Anteile vergleicht, mit denen jeweils ein Wert als der wichtigste für die Politiker angesehen wurde. 52 Prozent geben dem Pflichtbewusstsein bezüglich ihrer Einschätzung der Politiker den höchsten Wert, aber von nur 28 Prozent wird die Ehrlichkeit für denjenigen Wert gehalten, der aus ihrer Sicht von den neun Werten bei den Politikern die höchste Wichtigkeit besitzt. Auch die beiden anderen Werte, die für die Bevölkerung selbst noch vorne rangieren, Verantwortung für das eigene Handeln und Respekt vor anderen Personen, werden von ihnen als Werte angesehen, die in der Wertestruktur der Politiker eine eher untergeordnete Bedeutung haben. (Dies gilt für Respekt noch stärker als für die Verantwortung für andere.) In Abbildung 2 ist die Verteilung des Wertedefizits grafisch in Form eines Histogramms wiedergegeben. Dabei ist zu erkennen, dass die Verteilung einen linksschiefen Charakter besitzt, dass sich also die Befragten in den oberen Wertebereichen stärker massieren als in den unteren.

206

Florian Bader, Joachim Behnke

4.1 Überprüfung der Hypothesen In Abbildung 3 ist die Häufigkeitsverteilung der allgemeinen Politikerbewertung abgebildet. Bezeichnenderweise ist die Modalkategorie die schlechteste Bewertung, d.h. die meisten Befragten halten „überhaupt nichts“ von den Politikern im Allgemeinen. Die Häufigkeit nimmt mit zunehmender Bewertung fast kontinuierlich ab. Der Mittelwert beträgt 3,53. Insgesamt kann dieser Befund als sehr schlechte Evaluation der Politiker bewertet und als ein weiteres Indiz für Politikerverdrossenheit herangezogen werden. Abbildung 3:

Bewertung der Politiker im Allgemeinen

Um Hypothese 1a zu überprüfen, wird auf eine Regressionsanalyse zurückgegriffen. Dabei muss noch auf die Art des vermuteten Zusammenhanges eingegangen werden. Es gibt in der Literatur eine rege Diskussion (vgl. Westle 1989) über die Intensität der mindestens notwendigen Werteübereinstimmung für die Unterstützung politischer Objekte. Es scheint plausibel, dass das Individuum einen gewissen Grad an Übereinstimmung „verlangt“, aber eine vollkommene Übereinstimmung als nicht möglich und damit nicht notwendig erachtet. Es wird also von einem abnehmenden Grenznutzen der Werteübereinstimmung ausgegangen. Dieser Annahme wird Rechnung getragen, indem die Zusammenhänge zwischen Wertedefizit und abhängigen Variablen neben linearen auch quadratischen Regressionsanalysen unterzogen werden. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse der Regressionsanalysen dargestellt.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

207

Tabelle 2: Regression Politikerbewertung in Abhängigkeit des Wertedefizits Unstandardisierte Standardisierte Koeffizienten Koeffizienten b Standardfehler beta

Modell

1

2

p

(Konstante)

6,122

0,147

WD

-0,043

0,002

(Konstante)

4,722

0,251

WD

0,019

0,009

0,219

0,046

WD²

-0,001

0,000

-0,746

0,000

R2

0,000 -0,504

0,000

0,254

0,000 0,287

Mit dem linearen Regressionsmodell können gut 25 Prozent der Streuung der Politikerbewertung erklärt werden. Der Anstieg des Wertedefizits um eins führt zu einer Abnahme der Politikerbewertung um 0,043 Skalenpunkte. Die Modellgüte lässt sich allerdings noch mal um drei Prozentpunkte steigern, wenn man zusätzlich zum linearen Regressor noch eine quadratische Komponente einführt. Tatsächlich erweist sich die quadratische Komponente sogar als erklärungskräftiger als die lineare, d.h. eine lediglich lineare Modellierung hätte zu einer Fehlspezifikation des zugrunde liegenden Zusammenhangs geführt. Abbildung 4:

Streuungsdiagramm Wertedefizit und Politikerbewertung

208

Florian Bader, Joachim Behnke

In Abbildung 4 ist das dazugehörige Streuungsdiagramm inklusive der Regressionsgeraden für das lineare bzw. des Parabelzweigs für das quadratische Modell zu sehen. Um eine bessere Interpretierbarkeit der Streuungsdiagramme bei diskreten abhängigen Variablen zu ermöglichen, wurden die wahren Datenwerte mit einer zwischen -0,5 und +0,5 gleich verteilten Zufallsvariable auf der Y-Achse verzerrt. Wie vermutet ist die negative Steigung in den Bereichen, in denen ein geringes Defizit vorliegt, gering, nimmt aber mit zunehmendem Wertedefizit (absolut) immer weiter zu. Es lässt sich also ein starker Zusammenhang in der vermuteten Richtung diagnostizieren. Dieser Zusammenhang bleibt auch bestehen, wenn man für diverse sozialstrukturelle Variablen kontrolliert.8 Als nächstes soll der Einfluss des Wertedefizits auf die allgemeine Parteienbewertung untersucht werden. Für die Erklärung der allgemeinen Parteienbewertung wird ebenfalls auf lineare und quadratische Regressionsanalysen zurückgegriffen. In Tabelle 3 sind die Ergebnisse der Regressionsanalysen abgetragen. Tabelle 3: Regression Parteienbewertung in Abhängigkeit des Wertedefizits Unstandardisierte Standardisierte Koeffizienten Koeffizienten b Standardfehler beta

Modell

1

2

p

(Konstante)

6,087

0,151

WD

-0,039

0,002

(Konstante)

4,778

0,259

WD

0,019

0,010

0,225

0,048

WD²

-0,001

0,000

-0,702

0,000

R2

0,000 -0,455

0,000

0,207

0,000 0,237

Auch bei der abhängigen Variable Parteienbewertung lässt sich eine gute Modellgüte erzielen. Knapp 21 Prozent der Varianz der Parteienbewertung lassen sich durch eine lineare Regression mit dem Wertedefizit als unabhängige Variable erklären. Der Regressionskoeffizient ist höchst signifikant. Eine Steigung des Wertedefizitindex um eins hat ein Absinken der Parteienbewertung um 0,039 zur Folge. Auch bei dieser abhängigen Variablen lässt sich durch eine quadratische Modellierung noch an Erklärungskraft gewinnen. Das Varianzaufklärungspotential steigt um drei Prozentpunkte auf knapp 24 Prozent. In Abbildung 5 ist wiederum das Streuungsdiagramm mit eingezeichneten Regressionsfunktionen abgebildet. Auch hier lässt sich wieder der vermutete Steigungsverlauf beobachten. Im niedrigen Defizitbereich ändert sich das Niveau der Parteienbewertung mit zunehmendem Defizit kaum. Je größer das Wertedefizit aber wird, desto stärker wird auch die Parteienbewertung davon beeinflusst. Auch diese Regressionsanalyse wurde multivariat durchgeführt. Kontrolliert für diverse soziodemographische Variablen ändert sich aber auch hier nichts hinsichtlich der Stärke und Richtung des Zusammenhangs9. Es lässt sich also auch Hypothese 1b bestätigen. 8 9

Kontrolliert wurde für Religiosität, Geschlecht, Ost-West, Alter, Bildung und Haushaltsnettoeinkommen. In diesem Modell wurde für die identischen Variablen wie zuvor kontrolliert.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern Abbildung 5:

Streuungsdiagramm Wertedefizit und Parteienbewertung

Abbildung 6:

Verteilung der Wahlteilnahmeabsicht

209

210

Florian Bader, Joachim Behnke

Die nächste abhängige Variable bildet die Wahlteilnahmeabsicht dar. In Abbildung 6 ist deren Häufigkeitsverteilung abgebildet. Die meisten Befragten (52 Prozent) gaben an, auf jeden Fall zur Wahl gehen zu wollen. Aber immerhin 13 Prozent gaben an, wahrscheinlich nicht oder auf keinen Fall zur Wahl gehen zu wollen. Da man bei dieser Variablen kaum noch von Intervallskalenniveau ausgehen kann, wurde die Variable dichotomisiert, um den Zusammenhang mittels logistischer Regression zu untersuchen. Die neue Variable wurde im Sinne einer „Wahlmüdigkeit“ codiert. Alle Personen, die wahrscheinlich nicht oder auf keinen Fall zur Wahl gehen, bekommen den Wert eins zugewiesen. Alle anderen, die eine gültige Antwort bei der Frage abgegeben haben, bekommen den Wert null zugewiesen. Tabelle 4 zeigt die Ergebnisse einer logistischen Regression, in der das Wertedefizit auf die binäre „Nichtwahl-Variable“ regrediert wurde. Nagelkerkes R2 beträgt 0,013. Das bedeutet, dass 1,3 Prozent der Devianz der abhängigen Variable durch das Modell erklärt werden können. Der Effektkoeffizient beträgt 1,01. Es besteht also ein leicht positiver Zusammenhang zwischen Wertedefizit und Wahlmüdigkeit. Weder die niedrige Modellgüte noch der „niedrige“ Effektkoeffizient sollten dazu verleiten, den Effekt zu unterschätzen. Die niedrige Modellgüte ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Wert eins immer sehr stark besetzt ist, also auch dort noch, wo sie am wenigsten vertreten ist, immer noch den mit Abstand häufigeren Wert darstellt. In solchen Fällen ist das Devianzaufklärungspotenzial naturgemäß beschränkt. Der niedrige Effektkoeffizient ist wiederum lediglich ein Skalierungseffekt. Hätten wir das Wertedefizit auf einen Bereich von 0 bis 1 normiert, würde der Effektkoeffizient ungefähr 2,5 betragen. Tabelle 4: Logistische Regression Wahlteilnahme und Wertedefizit b

Standardfehler

Wald

Sig.

Exp(B)

(Konstante)

-2,524

0,279

81,582

0,000

0,080

WD

0,010

0,004

6,036

0,014

1,010

Nagelkerkes R2 0,013

In Abbildung 7 ist die dazugehörige Regressionsfunktion graphisch dargestellt. Zusätzlich wurde die Variable Wertedefizit in zehn Gruppen aufgeteilt, die durch zehn gleich breite Intervalle den gesamten theoretischen Wertebereich des Wertedefizits abbilden. Neben der bedingten Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung, wie sie durch das Modell prognostiziert wird, ist daher in der Abbildung außerdem noch für jede der zehn Gruppen der Anteil der Personen ausgewiesen, die angeben zur Wahl zu gehen. Bei einem Wertedefizit von Null sagt das Modell eine „Nichtwahl-Wahrscheinlichkeit“ von gut sieben Prozent voraus. Bei einem Defizit von 50 sind es schon zwölf Prozent und bei einem maximalen Defizit von 100 liegt die Wahrscheinlichkeit, (wahrscheinlich) nicht an der Wahl teilzunehmen, bei gut 18 Prozent. Dieser Zusammenhang bleibt auch bestehen, wenn für verschiedene soziodemographische Variablen kontrolliert wird.10 Hypothese 2 kann also trotz der eher schwachen Modellgüte ebenfalls als bewährt angesehen werden. 10

Kontrolliert wurde für Religiosität, Geschlecht, Ost-West, Alter, Bildung und Haushaltsnettoeinkommen.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern Abbildung 7:

211

Wertedefizit und Wahlmüdigkeit

Als nächstes ist die abhängige Variable „Wahl einer extremen Partei“ von Interesse. Neun Prozent der gesamten Stichprobe und ungefähr 15 Prozent derjenigen, die bei der Sonntagsfrage explizit die Wahl einer Partei angeben, werden als Wähler einer Partei am Rand des Spektrums klassifiziert.11 Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse einer logistischen Regression des Wertedefizits auf die Radikalwahl. Der Effektkoeffizient ist größer als eins, d.h. die Richtung des Zusammenhangs ist wie vermutet. Tabelle 5: Logistische Regression Radikalwahl und Wertedefizit b

Standardfehler

Wald

Sig.

Exp(B)

(Konstante)

-3,235

0,339

91,202

0,000

0,039

WD

0,026

0,005

28,329

0,000

1,026

Nagelkerkes R2 0,080

In Abbildung 8 ist wieder die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für die Wahl einer Partei am Rand des Spektrums bedingt auf das Wertedefizit dargestellt. Bei einem Defizit von null beträgt die vom Modell vorausgesagte Wahrscheinlichkeit knapp vier Prozent. Steigt das Wertedefizit auf 50, so beträgt die Wahrscheinlichkeit schon knapp 13 Prozent. Eine Person mit einem maximalen Wertedefizit von 100 wählt, laut Modell, schon mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 35 Prozent eine radikale Partei. Mit steigendem Wertedefizit steigt also auch die Wahrscheinlichkeit, eine radikale Partei zu wählen. Nagelkerkes R² 11

Der überwiegende Teil dieser Wählerschaft besteht dabei aus den Anhängern der Partei „Die Linke“.

212

Florian Bader, Joachim Behnke

beträgt 0,080, d.h., dass acht Prozent der Devianz der abhängigen Variable durch das Wertedefizit erklärt werden können. Die Ergebnisse zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen einem Wertedefizit und der Wahl von Parteien am Rand des Parteienspektrums gibt. Dies gilt auch für ein logistisches Modell, in dem für diverse soziodemographische Variablen kontrolliert wird.12 Auch die Hypothese 3 kann daher als bewährt angesehen werden. Abbildung 8:

5

Wertedefizit und Radikalwahl

Fazit

Ohne Zweifel spielen Werte im politischen System eine entscheidende Rolle. Auch in der Beziehung zwischen Wählern und politischen Mandatsträgern gilt noch immer das Lenin’sche Diktum „Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser“, aber dort, wo Kontrolle faktisch nicht möglich ist, bleibt Vertrauen oft die einzige Basis, auf deren Grundlage der politische Repräsentant ausgewählt werden kann. In diesem Fall ist die Qualität des Vertrauens, d.h. das Ausmaß, in dem das Vertrauen als rational und aus wohlüberlegten Gründen gegeben wird und nicht „blindes Vertrauen“ ist, von entscheidender Bedeutung. Das Problem des Wählers besteht also darin, zu einem Urteil bezüglich seines Abgeordneten zu kommen, inwiefern und mit welchen guten Gründen er ihm vertrauen sollte. Werte stellen hier als eine Art von Proxy-Variable eine wichtige Sammlung von cues dar, die dem Wähler in seiner Rolle als Prinzipal helfen, sich ein Bild über die vermutliche 12

Kontrolliert wurde für Religiosität, Geschlecht, Ost-West, Alter, Bildung und Haushaltsnettoeinkommen.

Politische Einstellungen und das wahrgenommene Wertedefizit bei Politikern

213

Vertrauenswürdigkeit des Agenten zu schaffen. Werte geben einerseits einen Hinweis darauf, inwiefern den politischen Aussagen und Versprechen zu trauen ist, d.h. inwiefern davon ausgegangen werden kann, dass der durch die Wahl geschlossene implizite Vertrag zwischen Wähler und Politiker auch von letzterem eingehalten werden wird – und zwar, weil es dem Politiker Kosten in Form eines schlechten Gewissens oder des Verlustes seiner Reputation entstehen. Werte schaffen aber andererseits auch Vertrauen, indem sie die Identifikation mit Politikern ermöglichen, wenn diese dieselben Werte vertreten. In diesem Fall kann der Prinzipal dem Agenten vertrauen, weil er von einer Gleichgerichtetheit der Interessen ausgehen kann. In Paraphrasierung von Easton könnte man auch von einer „Legitimation durch Identifikation“ sprechen. Im vorliegenden Artikel konnte nachgewiesen werden, dass Werte, genauer die Übereinstimmung von Wertemustern von politischen Repräsentanten und Wählern, in der Tat eine große Rolle für die Einstellungen der Bürger zum politischen System spielen. Je weiter die Wertestruktur der politischen Repräsentanten von denen ihrer Wähler entfernt ist, desto mehr schwindet das Vertrauen, dass Politik im Interesse der Wähler handelt, was sich dann einerseits in einer schlechten Evaluierung der politischen Akteure und andererseits in einem Rückgang politischer Partizipation auswirkt. Möglicherweise sollte daher ein Ratschlag an Politiker sein, Glaubwürdigkeit nicht allein durch politische Programme und deren Umsetzung gewinnen zu wollen, denn hier fällt es den Wählern schwer, zu überprüfen, inwiefern die Politiker tatsächlich ihrer Aufgabe, für die sie gewählt wurden, gerecht werden. Vielmehr sollte die politische Klasse versuchen, politisches Vertrauen herzustellen und zurückzugewinnen, indem sie glaubwürdig für Werte eintritt. Literatur Aronson, Elliott (1994): Sozialpsychologie. Heidelberg. Arzheimer, Kai (2005): „Politikverdrossenheit”- eine Frage der Persönlichkeit? Der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsfaktoren und Verdrossenheitseinstellungen. In: Schumann, S./Schoen, H. (Hrsg.) (2005): Persönlichkeit – eine vergessene Größe der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag, 193-207. Behnke, Joachim (2001): Parteineigung als Fakt oder Parteineigung durch Fakten. Der Einfluss von Issues auf das Wahlverhalten. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53, 521-546. Behnke, Joachim/Baur, Nina/Behnke, Nathalie (2006): Empirische Methoden der Politikwissenschaft. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Coleman, James S. (1990): Foundations of Social Theory. Cambridge. Deth, Jan W. van/Scarbrough, E. (1995): The Impact of Values. Oxford: Oxford University Press. Deth, Jan W. van (2001): Wertewandel im internationalen Vergleich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 29, 23-30. Easton, David (1975): A Re-Assessment of the Concept of Political Support. British Journal of Political Science 5, 435-457. Falter, Jürgen W./Schumann, Siegfried (1993): Nichtwahl und Protestwahl. Zwei Seiten einer Medaille. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 11, 36-49. Farrell, Joseph (1987): Cheap Talk, Coordination, and Entry. In: Rand Journal of Economics 18, 34-39. Frank, Robert (1988): The Passions Within Reason. New York.

214

Florian Bader, Joachim Behnke

Gigerenzer, Gerd/Todd, Peter M. (1999): Simple Heuristics that Make Us Smart. New York, N.Y.: Oxford University Press. Inglehart, Ronald. (1977): The Silent Revolution. Princeton: Princeton University Press. Klages, Helmut (2001): Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 29, 7-14. Klein, Markus/Arzheimer, Kai (1999): Ranking- und Rating-Verfahren zur Messung von Wertorientierungen, untersucht am Beispiel des Inglehart-Index. Empirische Befunde eines Methodenexperiments. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51, 550-564. Klein, Markus/Arzheimer, Kai. (2000): Über die adäquate Messung von gesellschaftlichen Wertorientierungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51, 553-563. Kluckhohn, Clyde (1951): Values and Value-Orientations in the Theory of Action. In: Parsons, Talcott/Shills, Edward A. (Hrsg.) (1951): Toward a General Theory of Action. Cambridge: Harvard University Press. Lautmann, R. (1971): Wert und Norm. Begriffsanalysen für die Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag. Neisser, Ulric (1979): Kognition und Wirklichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta. Newcomb, Theodore M./Turner, Ralph H./Converse, Philip E. (1965): Social Psychology – The Study of Human Interaction. London: Lowe and Brydone. Rokeach, Milton (1979): Understanding Human Values. New York: The Free Press. Sacchi, Stefan (2000): Messung von Wertorientierungen. Ranking oder Rating? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 52, 541-552. Schwartz, Shalom H. (1992): Universals in the Content and Structure of Values: Theoretical Advances and Empirical Tests in 20 Countries. In: Advances in experimental social psychology, 1-65. Wegener, Bernd/Liebig, Stefan (1998): Gerechtigkeitsideologien 1991-1996. In: Meulemann, H. (Hrsg.) (1998): Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung. Opladen: Leske+Budrich. Westle, Bettina (1989): Politische Legitimität. Theorien, Konzepte, empirische Befunde. Baden-Baden: Nomos.

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa: Die Rolle nationalstaatlicher Einstellungen als Heuristiken Bettina Wagner

1

Einleitung

Im Mai 2004 traten acht mittel- und osteuropäische Länder der Europäischen Union bei, einem supranationalen politischen System, das zusammen mit den Mitgliedstaaten in einem Mehrebenensystem die Politik der Nationalstaaten und Europas mitbestimmt. Da die Europäische Union nicht mehr ausschließlich ein Eliteprojekt ist (als Beispiel seien die Referenden zum EU-Beitritt in allen neuen Mitgliedstaaten genannt), ist dieses System, wie alle anderen demokratischen Systeme auch, auf die Unterstützung der Bürger angewiesen. Mit Bezug zur politischen Kulturforschung (Almond/Verba 1963) kann festgehalten werden, dass die Stabilität des europäischen politischen Systems auch von den Einstellungen der Bürger zu diesem supranationalen Gebilde abhängt. Das heißt, die Einstellungen der Mittelund Osteuropäer bestimmen die Zukunft des europäischen Kontinents mit und die Unterstützung des neuen politischen Systems ist essenziell für eine erfolgreiche Zukunft der EU. Die umfangreiche Forschung zur Unterstützung der EU in Westeuropa hat Determinanten herausgearbeitet, die sich verschiedenen Erklärungssträngen zuordnen lassen. Determinanten, die sich explizit auf spezifische Aspekte der EU beziehen, können in drei Gruppen zusammenfasst werden: (1) utilitaristische Einstellungen, bei denen die EU aufgrund von Kosten-Nutzen-Überlegungen beurteilt wird, (2) Bewertungen des demokratischen Systems der EU und (3) Einstellungen zur europäischen Gemeinschaft. Darüber hinaus führt die Forschung einen allgemeinen Ansatz an, der aus der Kognitions- und Sozialpsychologie herrührt und sich mit Einstellungen zu mutmaßlich fremden Objekten, wie auch die EU eines ist, befasst. Dort wird herausgearbeitet, dass political cues aus der nationalen Politik, also Einstellungen zum nationalen politischen System, zu politischen Parteien oder Ideologien, bei der Einstellungsgenerierung zur EU als Heuristiken eine Rolle spielen (vgl. z.B. Anderson 1998; Gabel 1998; Hooghe/Marks 2005; Schoen 2008). Fuchs stellt ein Modell der Unterstützung der Europäischen Union vor, welches Determinanten der EU-Unterstützung beinhaltet, die sowohl in der Literatur zur Unterstützung politischer Regime als auch in der Forschung zur EU als relevant eingestuft werden. Erklärungsfaktoren sind die Performanz der EU, beleuchtet sowohl aus utilitaristischer als auch aus normativer Perspektive, und die affektive Bindung an eine europäische Gemeinschaft. Darüber hinaus werden nationalstaatliche Einstellungen als Determinanten in das Modell integriert. Dieses Modell kann aus zwei Gründen auch für eine Untersuchung der Einstellungen zur EU in Mittel- und Osteuropa herangezogen werden. Erstens spricht für eine Passung des Modells, dass in der Literatur zu Mittel- und Osteuropa ähnliche Unterstützungsdeter-

216

Bettina Wagner

minanten ausgemacht wurden wie in Westeuropa (vgl. Christin 2005; Cichowski 2000; Ehin 2001; Tverdova/Anderson 2004). Zweitens ist eine systematische Einbindung nationalstaatlicher Einstellungen insbesondere in diesen Ländern sinnvoll, da die Zeit der Interaktion mit der EU und vor allem die Zeit der Mitgliedschaft bislang zu kurz gewesen ist, um vielfältige Kenntnisse über die EU in der Bevölkerung zu verankern. Gerade die Phase einige Jahre nach dem Beitritt ist dabei interessant, da die Zeit, in der die EU als etwas Neues, Aufregendes gesehen wurde, vorbei ist, aber gleichzeitig die bisherige Dauer der EU-Mitgliedschaft zu kurz ist, um Kenntnisse über den Alltag in der EU zu verfestigen. Deshalb kann angenommen werden, dass in dieser Situation ganz besonders Einstellungen, die sich auf den Nationalstaat beziehen, Einfluss auf die Bewertung europäischer Aspekte und das Niveau der EU-Unterstützung haben. Daraus leitet sich die zentrale Forschungsfrage dieses Beitrags ab: Welche nationalstaatlichen Einstellungen beeinflussen die Einstellungen zur Europäischen Union und insbesondere die Unterstützung der EU in den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten? Um diese Frage zu beantworten, wird zunächst das Modell der Unterstützung der Europäischen Union von Fuchs detailliert beschrieben, weil es den Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen bildet. Danach werden Annahmen zum Stellenwert und zur Wirkung nationalstaatlicher Einstellungen auf die Unterstützung der EU herausgearbeitet, die zum einen aus kognitionspsychologischen Überlegungen zur Meinungsbildung zu fernen politischen Objekten herrühren und zum anderen aus der Komplexität des institutionellen Designs der EU abgeleitet werden. Diese Annahmen werden dann im Hinblick auf ihre Bedeutung im mittel- und osteuropäischen Kontext diskutiert. Es werden ein Modell der Unterstützung der EU in Mittel- und Osteuropa spezifiziert, die Effekte einzelner Determinanten auf die EU-Unterstützung erörtert und dazu Hypothesen aufgestellt. Das Modell und die Hypothesen werden anschließend auf der Basis von Eurobarometerdaten aus dem Frühjahr 2006 empirisch getestet. Dabei werden Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn in die Untersuchung eingeschlossen, also alle acht mittel- und osteuropäischen Staaten, die im Mai 2004 der EU beigetreten sind. 2

Modell der Unterstützung der Europäischen Union nach Fuchs

Um sich dem Thema systematisch zu nähern, schlägt Fuchs vor, die Einstellungen zur EU in einen theoretischen Rahmen der Einstellungs- und Unterstützungsforschung einzubetten. Da die Europäische Union ein demokratisches politisches Regime ist, können Unterstützungsmodelle, die für nationale Demokratien konzipiert wurden, als Ausgangspunkt zur Entwicklung eines EU-Unterstützungsmodells herangezogen werden. Fuchs (2003) stellt ein Modell der Unterstützung der Europäischen Union vor, das auf seinem allgemeinen Unterstützungsmodell eines politischen Regimes aufbaut, welches wiederum an Eastons Überlegungen anknüpft (vgl. Easton 1965, 1975). Im Folgenden werden zuerst die Grundzüge des allgemeinen Unterstützungsmodells beschrieben, um im Anschluss das für die Untersuchung der EU konzipierte Modell vorzustellen.

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

217

Das allgemeine Unterstützungsmodell von Fuchs befasst sich mit der Unterstützung auf drei Ebenen: der Kultur-, der Struktur- und der Prozessebene. Die Kulturebene wird bestimmt durch die Bindung der Bürger an demokratische Werte. Diese Ebene wird durch einen normativen Bewertungsstandard ausgezeichnet. Auf der Strukturebene wird die Unterstützung für das demokratische Regime in seiner strukturellen, institutionellen und verfassungsmäßig festgeschriebenen Form abgebildet. Die Prozessebene bezieht sich auf die Realität in einem Land und umfasst die Unterstützung der politischen Entscheidungsträger auf der Basis der Performanz, also der Bewertung der Handlungen der Entscheidungsträger und der Ergebnisse dieser Handlungen. Dabei werden zwei Dimensionen unterschieden: erstens systemische Performanz als instrumentelle Bewertung eines jeglichen Outputs eines Systems und zweitens demokratische Performanz als Bewertung des Systems aus moralischer Sicht, bei der die Wirklichkeit mit den persönlichen Werten in Beziehung gesetzt wird (Fuchs 1998; Roller 2005). Die Unterstützungsebene, die hier interessiert, ist die Strukturebene, denn es ist die Unterstützung dieser Ebene, die für die Stabilität eines politischen Systems von Bedeutung ist. Nach Fuchs wird die Unterstützung dieser Ebene von den Einstellungen auf der Kulturebene (abstrakteste Ebene) und der Prozessebene (konkreteste Ebene) beeinflusst. Anders als in den theoretischen Überlegungen von Easton ordnet Fuchs die relevanten Faktoren im Hinblick auf ihr Abstraktionsniveau hierarchisch an und verbindet sie durch kausale Strukturen (Fuchs 1999).1 Die Kulturebene steht in Beziehung zur Strukturebene, weil angenommen wird, dass die Bürger die Regimestruktur unterstützen, wenn sie glauben, dass das Regime mit ihren Wertvorstellungen kongruent ist. In Bezug auf den Einfluss der Prozessebene auf die Strukturebene wird angenommen, dass sich generalisierte Bewertungen der politischen Entscheidungsträger auf die Bewertung der Regimestruktur auswirken. Die Regimestruktur wird also befürwortet, wenn die Bürger erkennen, dass die Struktur mit den eigenen demokratischen Prinzipien übereinstimmt und wenn die politischen Outputs des Regimes als sinnvoll und vorteilhaft für die Bürger angesehen werden (Fuchs 2003). Neben diesen Einflussfaktoren identifiziert Fuchs bei Easton eine weitere Determinante, die Einfluss auf die Regimeunterstützung ausüben kann: die Identifikation mit der politischen Gemeinschaft. Die affektive Bindung eines Individuums an eine bestimmte politische Gemeinschaft kann sich regimeunterstützend auswirken, wenn diese Gemeinschaft mit dem Regime assoziiert wird (Easton 1975; Fuchs 2003). Dieses allgemeine Modell kann aus einem theoretischen und aus einem praktikablen Grund nicht ohne Modifikation auf die EU übertragen werden. Als theoretisches Argument führt Fuchs die Besonderheiten der Europäischen Union an, die sie von einem Nationalstaat unterscheiden und die die EU zu einem speziellen Einstellungsobjekt machen. Die EU ist 1

Die hier vorgestellten Kausalrichtungen im Modell sind die relevanten Richtungen, wenn es um die Erklärung der Unterstützung der Regimestruktur geht. Im ursprünglichen Unterstützungsmodell von Fuchs läuft die dominante Kausalrichtung von der abstraktesten zur konkretesten Ebene, also von der Werteebene über die Strukturebene auf die Prozessebene, und die umgekehrte Richtung wird als zeitversetzte Rückkopplung angenommen. Wenn es aber das Ziel ist, die Unterstützung der Struktur eines Regimes zu analysieren, so kann, wie Fuchs darlegt, die hier angenommene Kausalrichtung theoretisch modelliert und empirisch überprüft werden (Fuchs 2002; Fuchs/Rohrschneider 2001). Das Testen eines komplexen Modells, d.h. das simultane Testen mehrerer Einflussrichtungen, wäre mit den hier verwendeten Daten und dem statistischen Handwerkszeug nicht möglich.

218

Bettina Wagner

für die Bürger nur ein vages Objekt, aber trotzdem ein Objekt, das den Bürgern als eigenständiges politisches Objekt bewusst ist. Deshalb beinhaltet sein EU-Unterstützungsmodell EU-spezifische Einstellungen als direkte Determinanten einer generalisierten EU-Unterstützung. Diese Einstellungen umfassen, analog zum allgemeinen Modell, die systemische und demokratische Performanz der EU als auch die Bindung an die europäische Gemeinschaft. Daneben spielen Einstellungen zum Nationalstaat bei der Bewertung der EU eine Rolle, weil durch das institutionelle Design des europäischen Systems und durch seine Verquickung mit den Nationalstaaten diese Nationalstaaten in der Wahrnehmung der Bürger der primäre Bezugspunkt bei politischen Überlegungen bleiben. Dies ist vor allem wahrscheinlich, da die EU ein komplexes System ist, das aufgrund kognitiver Ressourcen und mangelndem Interesse im Bewusstsein der Bürger keine zentrale Rolle spielt. Somit tragen generalisierte Einstellungen zu diesem bekannten Objekt, nämlich dem Nationalstaat, zur Erklärung der EU-Unterstützung bei (Fuchs 2003) (siehe Abbildung 1). In der empirischen Umsetzung des Modells konkretisiert Fuchs den Einfluss der generalisierten nationalstaatlichen Einstellungen. Dabei führt er die EU-spezifischen Einstellungen jeweils auf „bedeutungsähnliche Variablen“ aus dem nationalstaatlichen Kontext zurück (Fuchs 2003: 48). Während im theoretischen Modell die nationalstaatlichen Einstellungen noch unter ein Konstrukt subsumiert wurden, erfolgt bei der empirischen Analyse eine Ausdifferenzierung, bei der den einzelnen nationalstaatlichen Einstellungen nur Einfluss auf die jeweiligen äquivalenten EU-Einstellungen zugesprochen wird, z.B. wird von der systemischen Performanz des Nationalstaats auf die systemische Performanz der EU geschlossen. Abbildung 1:

Modell der Unterstützung der Europäischen Union nach Fuchs Systemische Performanz der EU

Generalisierung nationalstaatlicher Einstellungen

Demokratische Performanz der EU

Unterstützung der EU

Selbstbeschreibung als Europäer Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Fuchs (2003: 34).

Neben der theoriegeleiteten Modifikation des Modells muss Fuchs aus einem praktikablen Grund, nämlich aufgrund der vorliegenden Indikatoren im von ihm verwendeten Eurobarometer 42 (1994), zwei weitere Modifikationen vornehmen: Weil das Konzept „Bindung an demokratische Werte“ nicht sinnvoll gemessen werden kann, ist diese Ebene nicht im

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

219

Modell enthalten. Ferner kann das Konzept der Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft nur näherungsweise operationalisiert werden, da sich der vorhandene Indikator nur darauf bezieht, ob sich jemand zukünftig als Europäer sieht. Damit kann das Modell nur eine Vorstufe dieser affektiven Bindung als Determinante enthalten, obwohl die direkte Modellierung der europäischen Identität theoretisch plausibler wäre (Fuchs 2003).2 3

Überlegungen zur Einbindung nationalstaatlicher Einstellungen in ein Modell der Unterstützung der EU in Mittel- und Osteuropa

Bei der Spezifikation eines Modell der Unterstützung der EU in Mittel- und Osteuropa auf der Basis des vorgestellten Modells von Fuchs liegt im Folgenden das Augenmerk auf dem Stellenwert nationalstaatlicher Einstellungen, da die Relevanz der EU-spezifischen Einstellungen – systemische und demokratische Performanz der EU sowie europäische Identität – aufgrund der theoretischen Basis des allgemeinen Unterstützungsmodells als gegeben angenommen wird. So stehen zunächst die zentralen Argumente, die bisher in der EU-Literatur zur Einbindung nationalstaatlicher Einstellungen als Determinanten der EU-Unterstützung formuliert wurden, im Mittelpunkt. Diese Argumente werden ausführlich betrachtet und anschließend hinsichtlich ihrer Bedeutung für ein mittel- und osteuropäisches EUUnterstützungsmodell bewertet. In der Forschung zu den Einstellungen zur EU in etablierten Mitgliedstaaten wurden zwei zentrale Argumente für die Einbindung nationalstaatlicher Einstellung als Determinanten der EU-Unterstützung herausgearbeitet (vgl. Anderson 1998; Hooghe/Marks 2005; Kritzinger 2003). Das erste Argument bezieht sich auf die Ferne der EU zur Lebenswirklichkeit der Bürger und der daraus folgenden Annahme, dass bei der Meinungsbildung zu einem solchen fernen politischen System Einstellungen zu dem bekannten nationalstaatlichen System als Heuristiken eine Rolle spielen. Das zweite Argument zielt auf den Charakter der Europäischen Union als Mehrebenensystem ab und sieht die Verquickung der nationalen und der europäischen Ebene als Grund für die Wichtigkeit nationalstaatlicher Einstellungen bei der Bewertung der EU an. Da die Europäische Union ein fernes politisches Objekt ist, greifen bei der Meinungsbildung und Einstellungsgenerierung zu diesem politischen System bestimmte kognitionspsychologische Annahmen. Es liegt nahe, dass Bürger beim Nachdenken über solche fremden Objekte Informationen zu bekannten Objekten heranziehen, da diese Informationen leichter zugänglich sind, um dann von dem Bekannten auf das Unbekannte zu schließen (vgl. z.B. Anderson 1998; Bartels 1996; Lupia et al. 2000). Bei dieser Art der Meinungsbildung brauchen Bürger Heuristiken, also „common judgmental shortcuts […] to draw complicated inferences from simple environmental cues” (Lupia et al. 2000: 17), um fremde Objekte bewerten zu können. Tversky und Kahneman schlagen eine Systematisierung allgemeiner Heuristiken vor. Dabei definieren sie drei Arten von Heuristiken, die 2

Da dieser Beitrag aufgrund der Verwendung des Eurobarometers 65.2 (2006) auch der erstgenannten Indikatorenproblematik unterliegt, wird auf den Versuch verzichtet, das Konstrukt „Bindung an demokratische Werte“ nachträglich in das Unterstützungsmodell zu integrieren. Die Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft kann dagegen angemessen operationalisiert werden und wird deshalb als solche in das Modell eingebaut.

220

Bettina Wagner

Menschen nutzen können, wenn sie Entscheidungen treffen wollen, ohne umfassend informiert zu sein. Diese Heuristikarten sind die Verfügbarkeitsheuristik, die Repräsentativitätsheuristik und der Ankereffekt und Justierung. Verfügbarkeit bedeutet, dass die Einfachheit, sich einen Gegenstand ins Gedächtnis zu rufen, entscheidend bei der Entscheidungsfindung ist. Repräsentativität sagt aus, dass die Ähnlichkeit einer Sache mit einem typischen Beispiel hilfreich ist. Drittens dient beim Ankereffekt eine bekannte Vergleichsgröße als Ausgangspunkt für Bewertungen oder Entscheidungen, die mit dieser Vergleichsgröße zu tun haben (Tversky/Kahneman 1974; Lau/Redlawsk 2006). Im Falle der EU-Unterstützung können Einstellungen zum Nationalstaat als mögliche und wahrscheinliche Heuristiken angesehen werden. Die vorgestellte Systematik der Heuristiken liefert zum einen ein Argument, warum gerade diese Einstellungen als Heuristiken bei der Bewertung der EU dienen und zum anderen gibt sie einen Hinweis darauf, wie diese nationalstaatlichen Einstellungen in ein Unterstützungsmodell eingebunden werden können. Der Grund, warum nationalstaatliche Einstellungen als shortcuts genutzt werden, ist, dass sie leicht verfügbar sind. Sie fallen also in die erste Kategorie der vorgestellten Heuristiken. Einstellungen zum Nationalstaat sind leichter zu erinnern und leichter abzurufen als Einstellungen zur EU, weil die Bürger mit dem Nationalstaat vertrauter sind. Daher können die Bürger zwar Meinungen zur EU generieren, aber diese sind beeinflusst von den Einstellungen zum bekannten nationalen System. Deshalb liegt es nahe, einfach zugängliche Einstellungen zum Nationalstaat systematisch in das Unterstützungsmodell der EU zu integrieren und zwar so, dass diese Einstellungen den EU-Einstellungen vorgelagert sind. Mit Rückgriff auf die Untersuchung von Fuchs wird angenommen, dass beim Transfer nationalstaatlicher Einstellungen auf die EU die gleichen Einstellungsobjekte relevant sind, die generell zur Erklärung der Regimeunterstützung beitragen. D.h. die Bürger nutzen Einstellungen zur systemischen bzw. demokratischen Performanz des Nationalstaats und zur nationalen politischen Gemeinschaft als Heuristiken zur Generierung von EU-Einstellungen. Wie nationalstaatliche Einstellungen zu den EU-Einstellungen in Bezug gesetzt werden können, um dann als Heuristiken nutzbar zu sein, ist aus der Beschreibung der Repräsentativitätsheuristik abzuleiten. Wenn man diese verallgemeinert, kann daraus gefolgert werden, dass die wahrgenommene Ähnlichkeit eines zu beurteilenden Objekts mit einem schon bekannten Objekt dazu verleitet, von dem bekannten Objekt auf das zu beurteilende Objekt zu schließen. Folgender kognitiver Mechanismus liegt dabei zugrunde: Menschen versuchen, wenn sie mit fremden oder neuen Objekten in Berührung kommen, diese zu kategorisieren, wobei diese Objekte möglichst in eine Kategorie mit schon bekannten, ähnlichen Objekten gruppiert werden (vgl. Lau 2003). Wenn nun eine Aussage zu einem neuen Objekt getroffen werden soll, dann werden Einstellungen zu einem bekannten Objekt aus derselben Kategorie zur Bewertung des neuen Objekts herangezogen. Auf den Fall der Unterstützung der EU übertragen, bedeutet das, dass bei der Bewertung eines Objekts auf der EU-Ebene auf ein äquivalentes oder ähnliches nationalstaatliches Einstellungsobjekt zurückgegriffen wird. So ist die Einschätzung der systemischen Performanz des Nationalstaats eine mögliche Heuristik zur Beurteilung der systemischen Performanz der EU, die demokratische Performanz des Nationalstaats kann als Heuristik zur Bewertung der demokratischen Performanz der EU dienen und die nationale Identität bildet einen möglichen shortcut für die europäische Identität.

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

221

Die Komplexität der EU und ihre Ausgestaltung als Mehrebenensystem stellt einen weiteren Grund dar, warum Einstellungen zur nationalen politischen Ebene auch im europäischen Kontext eine Rolle spielen können. Die EU selbst und das Funktionieren ihres politischen Systems sind für die Bürger nicht leicht zu verstehen, da sich das Gebilde schwerlich in bekannte Raster einordnen lässt. Auch die ständige Wandelbarkeit der EU, seien es neue Vertragswerke, Erweiterungsrunden oder die Vertiefung der Integration, erschwert die Meinungsbildung zu diesem politischen Objekt und macht die Nutzung von Heuristiken wahrscheinlich. Durch die Ausgestaltung der EU als Mehrebenensystem, charakterisiert durch die Verbindung zwischen der europäischen politischen Ebene und den Nationalstaaten, befassen sich dieselben politischen Akteure auf beiden Ebenen mit europäischen und nationalen politischen Problemen. So arbeiten beide Ebenen an der Erreichung ähnlicher Ziele, wie der Wahrung von Frieden, Sicherheit und demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen. Durch das Zusammenspiel der europäischen und nationalstaatlichen Ebene kann der Bürger oftmals kaum erkennen, welche Ebene für welche politischen Outputs verantwortlich ist, sodass eine getrennte Beurteilung der Leistungsfähigkeit beider Ebenen schwerfällt. Zudem erfüllen führende nationale Politiker relevante Aufgaben in den Institutionen der EU und bestimmen insbesondere durch ihre Aufgaben im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union die Geschicke der EU mit. Somit wird nach außen das Bild transportiert, dass die Nationalstaaten und ihre regierenden Politiker auch dominante Akteure auf der europäischen Bühne sind. Dadurch wird es den Bürgern erschwert, zwischen den beiden politischen Ebenen zu unterscheiden (vgl. Anderson 1998; Fuchs 2003; Kritzinger 2003). Da diese Verquickung der politischen Entscheidungsträger im Mehrebenensystem eine zentrale Rolle bei der Bewertung der supranationalen Ebene spielt, sollte dieser Aspekt explizit in einem Unterstützungsmodell der EU repräsentiert sein. Dieser Punkt findet sich aber nur implizit im Modell von Fuchs, indem er den Einfluss nationalstaatlicher Performanzen auf EU-Performanzen annimmt. Diese Betrachtungsweise erscheint nicht ausreichend differenziert, da angenommen werden kann, dass eine Bewertung nationaler Entscheidungsträger, also eine Einschätzung der konkreten nationalstaatlichen politischen Institutionen, einen direkten Einfluss auf die Evaluation europäischer Institutionen hat, die wiederum die Unterstützung der EU determiniert. Um der angenommenen Relevanz der Bewertung der Entscheidungsträger in der Einstellungsstruktur der Bürger gerecht zu werden, bedarf es einer direkten Modellierung nationaler Akteure als Heuristik zur Bewertung europäischer Akteure. Die Bewertung von Entscheidungsträgern ist eine generalisierte Art der Performanz, die einen instrumentellen Charakter aufweist und eher als langfristige Einstellung zu betrachten ist. Daher spiegelt sie sich explizit weder in der demokratischen noch der systemischen Performanz wider. Daraus folgt, dass das Modell von Fuchs um eine weitere Dimension der Performanz erweitert wird. Diese generalisierte Performanz bildet eine direkte Bewertung der politischen Akteure ab. Ihr Stellenwert im Modell gleicht dem der anderen beiden Performanzen. Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass die Bewertung nationaler Akteure (generalisierte Performanz des Nationalstaats) als Heuristik zur Bewertung europäischer Akteure (generalisierte Performanz der EU) dient, welche wiederum Einfluss auf die Unterstützung der EU hat. Die vorgestellten, aus dem westeuropäischen Kontext stammenden Argumente zur Einbindung nationalstaatlicher Einstellungen in ein EU-Unterstützungsmodell greifen in

222

Bettina Wagner

Mittel- und Osteuropa ebenfalls und erhalten zudem größere Relevanz aufgrund der Kürze der EU-Mitgliedschaft und der innenpolitischen Lage dieser Länder. Das Besondere an der Situation in Mittel- und Osteuropa ist, dass die Bürger weder in der EU sozialisiert wurden noch lange Erfahrungen als EU-Mitglieder aufweisen können. Deshalb sind gefestigte, von anderen politischen Objekten unabhängige Einstellungen und profundes Wissen zur EU bei den meisten Bürgern nicht zu erwarten. Zwar könnte der erst kürzlich erfolgte Beitritt zur EU das Interesse an diesem neuen System geweckt haben, sodass der EU ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit zukommt, doch ist es wahrscheinlich, dass einige Zeit nach dem Beitritt diese Neugierde schon wieder versiegt ist. Die EU hat damit ihren anfänglichen Reiz verloren und ist gleichzeitig in der Gesellschaft noch nicht so tief verankert wie das bei langjährigen Mitgliedern der Fall sein könnte. Zudem ist die Geschichte der Staaten Mittel- und Osteuropas in den letzten beiden Jahrzehnten von der politischen und wirtschaftlichen Transition der nationalen Systeme geprägt, die dem EU-Beitritt zeitnah voranging. Für die Bürger Mittel- und Osteuropas war die EU seit der Abkehr vom staatssozialistischen System zwar ein Thema und der Beitritt wurde schnell als eine Option für die Zukunft gesehen, aber die Transition im eigenen Land dürfte das zentrale politische Ereignis gewesen sein, sodass die Innenpolitik die Außen- und Europapolitik stets überwölbte. Daher besitzt die EU im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern, die langjährige EU-Mitglieder sind, in den mittel- und osteuropäischen Staaten eine andere Wertigkeit. Für die Bürger in Mittel- und Osteuropa ist die EU noch ferner, noch unbekannter und diese Tatsache muss bei der Modellierung eines Einstellungsmodells zur EU berücksichtigt werden, wenn Länder dieser Region im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. 4

Modell zur Erklärung der Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

Aus den vorangegangenen Überlegungen lassen sich folgende Schlussfolgerungen in Bezug auf den Stellenwert nationalstaatlicher Einstellungen in einem Unterstützungsmodell der EU ziehen: Die vorgestellten Annahmen zur Meinungsbildung zu fernen politischen Objekten und zur komplexen Natur des europäischen Systems zielen darauf ab, dass Einstellungen zum Nationalstaat gerade in solchen Kontexten relevant sind, in denen der Bekanntheitsgrad der EU gering ist. Daher wird von einer zentralen Rolle nationalstaatlicher Einstellungen in der Einstellungsstruktur mittel- und osteuropäischer Bürger ausgegangen. Die Art und Weise, wie Heuristiken genutzt werden, spricht für einen vermittelten Effekt der nationalstaatlichen Einstellungen auf die Unterstützung der EU. Die kognitionspsychologischen Annahmen legen nämlich nahe, dass nur ähnliche Objekte zur Bewertung ihnen verwandter Objekte herangezogen werden. Damit ist ein direkter Effekt von nationalstaatlichen Einstellungen, die in einer sehr konkreten Form in der Einstellungsstruktur der Bürger vorliegen, auf eine generelle Unterstützung der EU unplausibel. Es wird daher nur von einem durch ähnliche EU-spezifische Einstellungen vermittelten Effekt der nationalstaatlichen Einstellungen auf die Unterstützung der EU ausgegangen. Auch die Natur des europäischen Systems spricht für die beschriebene Einbindung nationalstaatlicher Einstellungen in ein EU-Unterstützungsmodell. Somit eignet sich das Modell von Fuchs – ergänzt durch die Ausdifferenzierung nationalstaatlicher Einstellungen im theoretischen Modell, aber

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

223

ohne Modellierung direkter Einflüsse nationalstaatlicher Einstellungen – für eine Analyse der EU-Unterstützung in Mittel- und Osteuropa. Es ergibt sich folgendes Modell (siehe Abbildung 2): Die abhängige Variable „generalisierte Unterstützung des Regimes der Europäischen Union“ wird von acht Determinanten beeinflusst. Vier dieser Determinanten beziehen sich auf die EU selbst und messen generalisierte, systemische und demokratische Performanz der EU sowie europäische Identität. Jeder dieser Prädiktoren wird von seinem nationalstaatlichen Äquivalent beeinflusst. Damit kommt den Einstellungen zur generalisierten, systemischen und demokratischen Performanz des Nationalstaats sowie der nationalen Identität ein indirekter Einfluss auf die EU-Unterstützung zu. Abbildung 2:

Modell zur Erklärung der Unterstützung der Europäischen Union in Mittelund Osteuropa

Nationalstaat: generalisierte Performanz

EU: generalisierte Performanz

Nationalstaat: systemische Performanz

EU: systemische Performanz

Nationalstaat: demokratische Performanz

EU: demokratische Performanz

Nationale Identität

Europäische Identität

Unterstützung der Europäischen Union

Die Richtung der dargestellten Zusammenhänge und die relative Bedeutung der einzelnen Determinanten muss noch genauer erörtert werden. Dazu werden im Folgenden Hypothesen entwickelt, die vor dem Hintergrund kognitionspsychologischer Annahmen und der Ausgestaltung des europäischen Systems die Situation in Mittel- und Osteuropa abbilden. Dabei wird explizit auf den Stellenwert der nationalstaatlichen Einstellungen als Heuristiken im Kontext Mittel- und Osteuropas eingegangen.

224 5

Bettina Wagner Hypothesen

Bevor die Hypothesen bezüglich des Einflusses nationaler Einstellungen auf die Unterstützung generiert werden, muss darauf hingewiesen werden, dass zwar sowohl die Performanz des Nationalstaats als auch die nationale Identität als Heuristiken genutzt werden können, dass aber die Nutzung von unterschiedlichen Logiken geleitet wird. Der Einfluss generalisierter, systemischer und demokratischer Performanz auf EU-Einstellungen unterliegt einem kognitiven Prozess, der vornehmlich auf Wissen und rationalen Urteilen beruht. Dagegen ist die Identität auf der Gefühlsebene angesiedelt, was bedeutet, dass in diesem Zusammenhang eine affektive Einstellung als Heuristik wirkt und dass das Vertrauen auf das Gefühl bei der Meinungsbildung mitentscheidend ist. Daraus folgt, dass eine separate theoretische Diskussion zum Stellenwert der Konzepte im Modell sinnvoll ist. 5.1 Generalisierte, systemische und demokratische Performanz des Nationalstaats Wenn die Argumente aus der Heuristik-Literatur auf den Einfluss nationalstaatlicher Performanzen auf die EU-Unterstützung zutreffen, dann bedeutet das, dass die Akteure und die Leistungsfähigkeit beider politischer Systeme im Gleichklang bewertet werden und entweder gleichzeitig positiv oder gleichzeitig negativ gesehen werden. Bei einem einfachen Transfer der Kenntnisse über das bekannte System auf das unbekannte Regime werden die politischen Ebenen nicht scharf voneinander getrennt und nationalstaatliche Einstellungen undifferenziert übertragen. Für einen gleichgerichteten Zusammenhang spricht im mittel- und osteuropäischen Kontext, dass die EU als eine Chance zur Einigung Europas und zur Sicherung und Stärkung der eigenen Demokratie und Marktwirtschaft gesehen wird – Ziele, die auch mehrheitlich von den führenden Eliten in Mittel- und Osteuropa befürwortet werden. Die Entscheidungsträger beider politischer Ebenen verfolgen also die gleichen übergreifenden Ziele und werden deshalb generell zusammen positiv bewertet, wenn die Bürger der Überzeugung sind, dass die Ziele erreicht werden. Andererseits werden die Entscheidungsträger zusammen abgestraft, wenn dies nicht der Fall ist (vgl. Kritzinger 2003). Weiterhin schlägt sich die Zufriedenheit mit den politischen Akteuren oder der demokratischen und ökonomischen Lage im eigenen Land in einem generellen Vertrauen in die Politik auf anderen politischen Bühnen, wie beispielsweise der EU, nieder. Ebenso führen Unzufriedenheit und Misstrauen in das nationale politische Geschehen zur Entfremdung auch auf der EU-Ebene. Dies gilt insbesondere, weil die nationalen politischen Akteure auch auf der EU-Ebene aktiv sind und die Bürger den gleichen Akteuren politische Kompetenzen zuschreiben oder nicht (vgl. Sanchez-Cuenca 2000). Daraus leitet sich folgende Hypothese ab: Hypothese 1: Die generalisierte, die systemische und die demokratische Performanz des Nationalstaats haben jeweils einen positiven Effekt auf die jeweils äquivalente Performanz der EU und vermitteln darüber auch einen positiven Effekt auf die Unterstützung der EU.3 3

Verschwiegen werden soll nicht, dass sich in der Literatur auch Argumente für einen negativen Effekt der Einstellungen zur Performanz des Nationalstaats auf die Einstellungen zur EU finden (vgl. Christin 2005; Kritzinger 2003; Sanchez-Cuenca 2000). Das Hauptargument für eine gegensätzliche Bewertung der beiden

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

225

5.2 Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft Die Forschung zum Einfluss der Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft auf die Einstellungen zur EU hat gezeigt, dass sich nationales und europäisches Verbundenheitsgefühl nicht gegenseitig ausschließen. Multiple Identitäten sind dann möglich, wenn die Identifikationsobjekte, also die nationale und die europäische Gemeinschaft, nicht in einem inkompatiblen Verhältnis zueinander stehen, sondern, wie in diesem Fall, hierarchisch angeordnet sind (Westle 2003). Duchesne und Frognier fassen zusammen, dass sowohl Hoffmann (1966) als auch Inglehart (1970) festgestellt haben, „that national identity is the springboard, not the gravedigger, of European identity, with national identity providing a model of what it is to belong to a remote political community” (1995: 194). Somit kann die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft beispielhaft für jegliches Zusammengehörigkeitsgefühl mit einer vorgestellten Gemeinschaft stehen, weshalb die affektive Einstellung auch leicht auf die europäische Gemeinschaft übertragen werden kann. Als affektive Komponente der Einstellungsstruktur kann nationale Identität somit Informationsdefizite kompensieren. Ob diese Einstellung aber zu einer positiven oder negativen Bewertung der EU führt, hängt vom Kontext ab und zwar je nachdem, ob die EU als Bedrohung oder als Chance für den Nationalstaat und die nationale Gemeinschaft angesehen wird. In der Literatur zu Westeuropa wird oftmals das Argument angeführt, dass eine ausgeprägte nationale Identität die EU als eine Bedrohung für die eigene Nation erscheinen lässt, weil die eigene Sprache, Nationalität oder Religion durch fremde Kulturen in ihrer Existenz bedroht werden (McLaren 2002) und die nationale Souveränität auf dem Spiel steht (Martinotti/Stefanizzi 1995). Dagegen sehen die Bürger Mittel- und Osteuropas in der EU-Mitgliedschaft eher eine Stärkung der nationalen Gemeinschaft, insbesondere gegenüber anderen außereuropäischen Ländern. Gerade die kleinen mittel- und osteuropäischen Staaten versprechen sich durch die Zugehörigkeit zur europäischen Gemeinschaft und durch die EU-Mitgliedschaft ein höheres Ansehen und mehr Gehör in der Weltgemeinschaft. Zudem wird in dieser Region die Mitgliedschaft in der EU mit einem returning to Europe gleichgesetzt, einem Platz, an dem sich die mittel- und osteuropäischen Nationen sowohl historisch als auch kulturell sehen. Somit scheint die nationale Identität in diesem Kontext nicht im Widerspruch zu einer europäischen Identität oder zur Unterstützung der EU zu stehen. Sie kann vielmehr als Heuristik dienen, indem sie beispielhaft für die Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft steht, die wiederum, wenn sie denn ausgeprägt ist, eine positive Beurteilung der EU nach sich zieht. Daraus lässt sich folgende Hypothese ableiten: politischen Systeme, also für einen negativen Zusammenhang, ist, dass die Europäische Union als eine Bedrohung für einen gut funktionierenden Nationalstaat angesehen werden kann. Wenn die Bürger mit der Performanz des Nationalstaats zufrieden sind, d.h., wenn die Demokratie im eigenen Land gut funktioniert und das System Leistungen und Wohlstand bringt, dann soll der Nationalstaat nicht von einem unbekannten supranationalen System überwölbt werden, dessen Leistungsfähigkeit nicht eingeschätzt werden kann. Umgekehrt wird die EU als Hoffnungsträger oder als Retter gesehen, wenn Probleme des nationalen Systems oder eine schlechte Leistungsbilanz identifiziert werden. Diese Argumentation scheint aber im Hinblick auf den mittel- und osteuropäischen Kontext unplausibel, weil sie voraussetzt, dass die Bürger zwischen den beiden politischen Ebenen und deren Kompetenzen und Performanzen separieren, was aufgrund der Ferne des Gegenstands und der Ausgestaltung des Mehrebenensystems unwahrscheinlich ist. Aufgrund dieser theoretischen Überlegungen wird in diesem Beitrag – wie in Hypothese 1 formuliert – von einem gleichgerichteten Zusammenhang der Einstellungen zum Nationalstaat und zur EU ausgegangen.

226

Bettina Wagner Hypothese 2: Die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft hat einen positiven Effekt auf die Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft und vermittelt darüber auch einen positiven Effekt auf die Unterstützung der EU.

5.3 EU-spezifische Einstellungen Damit die nationalstaatlichen Einstellungen ihre Wirkung als Heuristiken bei der Bewertung der EU-Unterstützung entfalten können, muss ein Effekt der vier EU-spezifischen Determinanten – generalisierte, systemische und demokratische Performanz der EU sowie europäische Identität – auf die generalisierte Unterstützung der EU vorliegen. Gemäß den theoretischen Annahmen bezüglich der Kausalität im Unterstützungskonzept nach Fuchs wird von diesen ein direkter positiver Effekt auf die Unterstützung des Regimes der EU erwartet, wobei in Bezug auf ihre Erklärungskraft Unterschiede wahrscheinlich sind. Die Annahmen zu diesen Unterschieden sind auch für die Relevanz der Heuristiken als Determinanten der EU-Unterstützung von Bedeutung, da die Stärke der Effekte der nationalstaatlichen Einstellungen auf die EU-Unterstützung auch von der Erklärungskraft der EUspezifischen Determinanten abhängt. Aufgrund der kurzen EU-Mitgliedschaft und der zeitlich nahen Transition der mittelund osteuropäischen Staaten ist anzunehmen, dass instrumentelle, ökonomische oder demokratiestabilisierende Gründe bei einer generellen Beurteilung der EU noch im Vordergrund stehen. Damit wird angenommen, dass die Konstrukte, die sich auf die europäische Performanz beziehen, einen höheren Beitrag zur Erklärung der Varianz der EU-Unterstützung leisten als die Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft. Die Erwartung einer geringen Erklärungskraft der affektiven Komponente kann dadurch erklärt werden, dass verschiedene Aspekte der Integration unterschiedlich schnell vollzogen werden, wobei sich instrumentelle Akzeptanz schneller entwickelt als eine affektive Involvierung (Duchesne/Frognier 1995). Bei der Bewertung der EU zwei Jahre nach dem Beitritt spielt also die Leistungsbilanz dieses Systems wohl eine große Rolle, während der Prädiktor europäische Identität sein Erklärungspotenzial erst mit der Zeit entwickeln sollte. Daraus ergibt sich folgende Hypothese: Hypothese 3: Der Einfluss der einzelnen Determinanten bezüglich der Performanz der EU auf die generalisierte Unterstützung der EU ist jeweils größer als der Einfluss des Prädiktors europäische Identität.

Vergleicht man die mögliche Einflussstärke der EU-Performanzen, so ist zu vermuten, dass der systemischen Performanz die höchste Erklärungskraft zukommt, weil unter ihr die ökonomische Leistungsfähigkeit subsumiert wird. Da die wirtschaftliche Dimension der Europäischen Union im Bewusstsein der Bürger immer noch im Vordergrund stehen dürfte, ist anzunehmen, dass Beurteilungen in Bezug auf die ökonomische Leistungsfähigkeit die generelle Unterstützung am stärksten prägen.

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

227

Hypothese 4: Der Einfluss der systemischen Performanz auf die generalisierte Unterstützung der EU ist höher als der Einfluss der generalisierten oder der demokratischen Performanz.

Gemäß den dargelegten Hypothesen wird von einem jeweils positiven Effekt der acht Determinanten auf die Unterstützung der EU ausgegangen. Es wird also erwartet, dass alle direkten und indirekten Effekte im Modell positiv sind. Im Folgenden werden die Hypothesen empirisch getestet. Dabei werden die Relevanz und die relative Wichtigkeit der einzelnen nationalstaatlichen Einstellungen zweifach analysiert. Zum ersten wird darauf eingegangen, welchen Effekt die nationalstaatlichen Einstellungen auf die äquivalenten EUEinstellungen haben, womit gezeigt wird, welche Heuristiken genutzt werden. Zum zweiten wird geklärt, welche Bedeutung den verschiedenen nationalstaatlichen Einstellungen in Kombination mit den EU-spezifischen Aspekten in Bezug auf die Unterstützung der EU zukommt. 6

Operationalisierung

Zur Beantwortung der Forschungsfrage und zum Testen der Hypothesen werden die Daten des Eurobarometers vom Frühjahr 2006 (Eurobarometer 65.2) herangezogen. Die Analyse umfasst die acht postkommunistischen Staaten, die im Mai 2004 Mitglieder der Europäischen Union wurden: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn. Der Zeitpunkt der Analyse wurde so gewählt, dass der Beitritt einige Zeit zurückliegt, sodass angenommen werden kann, dass die Mitgliedschaft zum Alltag geworden ist und die Bürger die Möglichkeit hatten, generelle Informationen über die EU aufzunehmen, bei denen nicht der Erweiterungsprozess und der Beitrittsgesuch im Mittelpunkt stehen. Wie in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben, werden acht Determinanten der EU-Unterstützung identifiziert, die in einem Kausalmodell angeordnet sind. Dieses Modell wird mit Hilfe eines Strukturgleichungsmodells getestet, weil diese Methode gegenüber der normalen OLS-Analyse einige Vorteile besitzt. Erstens ist es möglich, ein Messmodell zu testen, wobei die Qualität der Messung der latenten Konstrukte kontrolliert werden kann, wenn multiple Indikatoren für die einzelnen Konstrukte vorliegen. Zweitens, wenn das Strukturmodell, d.h. die Beziehungen zwischen den Konstrukten, getestet wird, erhält man Schätzer, die um Messfehler bereinigt sind. Drittens werden mit dieser Methode alle theoretischen Annahmen simultan getestet, weshalb das Modell einfacher zu falsifizieren wäre. Alles in allem erscheint diese Methode geeignet, die Einstellungsstruktur, die hinter der Unterstützung der EU steht, zu analysieren. Das hier dargestellte Modell wird mit dem Statistiksoftwarepaket AMOS 16 geschätzt. Dabei wird die ADF (asymptotically distribution-free)-Schätzmethode4 angewendet. Dies ist eine geeignete Schätzmethode, wenn 4

Diese Schätzmethode setzt die Nutzung von ungewichteten Rohdaten ohne fehlende Werte voraus. Die Länder gehen daher gleichgewichtet in die Analyse ein (ca. 1000 Befragte pro Land). Zudem wurde eine Imputation der fehlenden Werte mit dem Regressionsverfahren in AMOS auf der Basis des Strukturgleichungsmodells vorgenommen. Das Modell wurde zusätzlich mit der Maximum-Likelihood-Schätzmethode (auf der Basis des Originaldatensatzes sowie des imputierten Datensatzes) überprüft. Es wurden keine nennenswerten Unterschiede in den Ergebnissen festgestellt.

228

Bettina Wagner

schiefe Verteilungen in den Daten vorliegen. Die Methode verlangt eine hohe Fallzahl, die aber hier problemlos erreicht wird (vgl. Arbuckle 2007; Curran et al. 1996). Um die abhängige Variable, also das Konstrukt „generalisierte Unterstützung der Europäischen Union“, zu messen, wird die bekannte Mitgliedschaft-Frage genutzt: „Ist die Mitgliedschaft (unseres Landes) in der Europäischen Union Ihrer Meinung nach… (1) eine gute Sache, (2) eine schlechte Sache, (3) weder gut noch schlecht?“ Der Indikator erfüllt zwei wesentliche Anforderungen, die an einen Indikator, der Unterstützung messen soll, gestellt werden: erstens ist das Referenzobjekt das System selbst und zweitens ist es möglich, eine generelle Bewertung des Systems (gut/schlecht) auszudrücken (Fuchs et al. 1998; Niedermayer 1995). Leider ist dieses Item der einzige brauchbare Indikator im Datensatz, der Unterstützung adäquat misst. Die generalisierte Performanz des Nationalstaats und die generalisierte Performanz der EU, also die explizite Bewertung politischer Entscheidungsträger, die auf einer oder beiden politischen Ebenen agieren, werden mit Fragen nach dem Vertrauen in verschiedene nationale und europäische Akteure gemessen.5 Dabei umfasst die generalisierte Performanz des Nationalstaats die Frage nach dem Vertrauen in die Regierung und das Parlament im eigenen Land. In Bezug auf die europäische Ebene wird nach dem Vertrauen in folgende fünf zentrale Institutionen gefragt: Rat der Europäischen Union, Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäische Zentralbank und Europäischer Gerichtshof. Da in allen Fragen das Vertrauen in die Institutionen beurteilt werden soll, bieten die Fragen den Vorteil, dass die generalisierte Performanz auf beiden Ebenen mit Fokus auf den gleichen Aspekt beurteilt wird. Die Konstrukte „demokratische Performanz des Nationalstaats“ und „demokratische Performanz der EU“ werden mit den Fragen nach der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie im Nationalstaat bzw. in der EU abgebildet. Diese beziehen sich auf die Prozessebene im Unterstützungsmodell, denn durch das Augenmerk auf das Funktionieren der Demokratie heben diese Fragen auf eine generalisierte, zusammenfassende Bewertung der Entscheidungsträger ab. Auch hier bringt die Verwendung des identischen Fragewortlauts bei der Messung demokratischer Performanz auf den beiden politischen Ebenen den Vorteil, dass die gleichen Aspekte der Performanz ins Blickfeld der Befragten rücken. Um die systemische Performanz des Nationalstaats zu messen, werden Erwartungen zur nationalen ökonomischen Lage und zur Arbeitsmarktsituation genutzt. Es liegen keine Indikatoren zur Beschreibung weiterer Dimensionen systemischer Performanz vor, aber da die ökonomischen Einstellungen bei der instrumentellen Bewertung der Leistungsfähigkeit eines Systems dominieren, stellt es kein Problem dar, dass nur dieser Aspekt gemessen werden kann. Zur Verdeutlichung wird im empirischen Modell der treffendere Ausdruck der ökonomischen Performanz verwendet. Da es das Ziel ist, die einzelnen Konstrukte beider politischen Ebenen möglichst ähnlich zu messen, beschränkt sich die Messung der systemischen Performanz der EU ebenfalls auf die ökonomische Dimension und wird dementsprechend im Folgenden auch unter diesem Begriff geführt. Das Konstrukt „ökonomische Performanz der EU“ wird durch zwei Indikatoren beschrieben, die den erwarteten 5

Der genaue Fragelaut der einzelnen Indikatoren findet sich im Anhang. Alle Indikatoren wurden so recodiert, dass die höhere Ausprägung mit einer höheren Unterstützung der EU einhergehen sollte und zwar in dem Sinne, wie es im theoretischen Teil beschrieben wurde.

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

229

Einfluss der EU auf die Ökonomie bewerten und damit eine Performanzbewertung der EU widerspiegeln. Die beiden Konstrukte „nationale und europäische Identität“ können jeweils nur mit einem Indikator gemessen werden. Diese beiden Indikatoren fragen nach der gefühlten Verbundenheit mit dem Nationalstaat bzw. der EU. Aufgrund der Zentralität des affektiven Moments in diesen Fragen eignen sich die Indikatoren zur Messung der Identifikation mit einer vorgestellten Gemeinschaft. Ein weiterer Vorteil besteht auch hier darin, dass die beiden Identitätskonstrukte mit dem gleichen Fragelaut gemessen werden können. Wenn multiple Indikatoren zur Messung eines latenten Konstrukts vorliegen, kann die Stärke der Beziehung zwischen den latenten Konstrukten und den dazugehörigen Items mittels einer konfirmatorischen Faktorenanalyse simultan geschätzt werden. Das Ergebnis führt zu dem Schluss, dass die genutzten Items die latenten Konstrukte zufriedenstellend repräsentieren, weshalb die vorgestellten Indikatoren im folgenden Strukturgleichungsmodell verwendet werden (Ergebnisse nicht ausgewiesen). Die Faktorladungen des Strukturgleichungsmodells, die auch die Beziehung zwischen latentem Konstrukt und den dazugehörigen Indikatoren darstellen, lassen die gleiche Schlussfolgerung zu (siehe Anhang Tabelle 2). 7

Ergebnisse

Eine Betrachtung der Entwicklung der Unterstützung der EU anhand der MitgliedschaftFrage zeigt, dass es vor und nach dem Beitritt eine hohe Zustimmung zur Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa gab und dass das europäische System seit Beginn der Umfragen (Candidate Countries Eurobarometer 2001 bis 2004; Eurobarometer ab 2004) von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird (Ergebnisse nicht ausgewiesen). Im Durchschnitt befürworten rund 50 Prozent der Mittel- und Osteuropäer die Europäische Union. Der Anteil der Bürger, die die Mitgliedschaft als schlechte Sache sehen, umfasst durchschnittlich ungefähr zehn Prozent. Zum Zeitpunkt, der hier interessiert (Frühjahr 2006), unterstützten 52 Prozent die EU, neun Prozent verweigerten die Unterstützung und 37 Prozent waren unentschieden. Der Zeitpunkt eignet sich für eine detaillierte Analyse zur Erklärung der EU-Unterstützung, da dieser Moment ein durchschnittliches Bild der Situation in den acht Staaten Mittel- und Osteuropas nach dem EU-Beitritt beschreibt und somit angenommen werden kann, dass das Ergebnis nicht durch besondere politische Ereignisse verzerrt worden ist. Abbildung 3 zeigt das Ergebnis des Strukturgleichungsmodells.6 Die Schätzer, die für eine Analyse der Struktur zwischen den latenten Konstrukten relevant sind, sind die Regressionsgewichte, die auf den Pfaden abgetragen sind. Die Abbildung zeigt die standardisierten Regressionsgewichte, weil diese leichter zu interpretieren sind. Die Zusammenhänge sind alle statistisch signifikant (p<0,001). Alle Regressionskoeffizienten im Modell besitzen ein positives Vorzeichen und bestätigen die in den Hypothesen theoretisch dargelegten Erwartungen, dass alle Konstrukte einen positiven Effekt auf die Unterstützung der 6

Das Ziel der Analyse ist die Erklärung der EU-Unterstützung in Mittel- und Osteuropa. Daher wird die empirische Analyse mit gepoolten Daten durchgeführt.

230

Bettina Wagner

EU haben und dass die nationalstaatlichen Determinanten die äquivalenten EU-Einstellungen positiv beeinflussen. Abbildung 3:

Strukturgleichungsmodell der Unterstützung der Europäischen Union (standardisierte Schätzer) (N=8238)

Nationalstaat: generalisierte Performanz

0,36

EU: generalisierte Performanz

Nationalstaat: ökonomische Performanz

0,60

EU: ökonomische Performanz

0,19 0,50

Nationalstaat: demokratische Performanz

0,56

EU: demokratische Performanz

0,05

Unterstützung der Europäischen Union

0,10 Nationale Identität

0,43

Europäische Identität

Signifikanzniveau: p < 0,001; Gütemaße: RMSEA: 0,043; p-close: 1,00; GFI: 0,986; AGFI: 0,980 Quelle: EB 65.2.; Analysierte Länder: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn.

Da den EU-spezifischen Einstellungen sowohl als direkte Determinanten der Unterstützung als auch durch ihre Vermittlung nationalstaatlicher Effekte eine zentrale Rolle im Modell zukommt, wird deren Einfluss zuerst beleuchtet. In Bezug auf die Einstellungen zur Performanz des europäischen Systems bedeutet der festgestellte positive Effekt, dass die Bürger, die die generalisierte, ökonomische oder demokratische Performanz der EU als gut befinden, das europäische System auch allgemein unterstützen. Umgekehrt heißt das auch, dass Bürger, die die Performanzen der EU negativ bewerten, das Regime der EU nicht unterstützen. Damit bestätigt sich die Annahme von Fuchs, dass Einstellungen zur Performanz eines Systems die generalisierte Unterstützung dieses Regimes determinieren. Die Unterstützung der EU hängt also von der positiven Bewertung der Performanzen des EUSystems ab. Mit Blick auf die Höhe der Determinationskoeffizienten zeigt sich, dass der ökonomischen Performanz die größte Erklärungskraft (standardisiertes Regressionsgewicht 0,50) zugesprochen werden kann. Die generalisierte Performanz, also das Vertrauen in die europäischen Institutionen, erweist sich ebenfalls als erklärungskräftig (0,19), während der demokratischen Performanz nur ein marginaler Einfluss zukommt (0,05). Damit bestätigt

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

231

sich die Hypothese, dass der Einfluss der ökonomischen Performanz auf die generalisierte Unterstützung der EU höher ist als der Einfluss der generalisierten oder der demokratischen Performanz. D.h. die wirtschaftliche Dimension der Europäischen Union steht im Bewusstsein der Bürger im Vordergrund und die Beurteilung der ökonomischen Leistungsfähigkeit der EU spielt bei der generellen Bewertung der EU die größte Rolle. Der Zusammenhang zwischen europäischer Identität und EU-Unterstützung weist das erwartet positive Vorzeichen auf, ist aber relativ schwach (0,10) und trägt damit weniger zur Erklärung der generalisierten Unterstützung bei als die ökonomischen und generalisierten Performanzbewertungen. Damit bestätigt sich generell – aber nicht im Hinblick auf die demokratische Performanz der EU – die dritte Hypothese, dass der Einfluss einzelner EU-Performanzdeterminanten auf die Unterstützung der EU größer ist als der Einfluss des Prädiktors europäische Identität. Dieser Sachverhalt kann mit der zügigeren Entwicklung instrumenteller Einstellungen im Vergleich zu einer affektiven Involvierung begründet werden. Da die mittel- und osteuropäischen Staaten zum Zeitpunkt der Untersuchung erst zwei Jahre Mitglieder der EU waren, könnte sich das Verbundenheitsgefühl der Bürger dieser Länder mit der supranationalen Gemeinschaft noch nicht herausgebildet haben. Zudem ist es plausibel, dass die EU-Unterstützung stärker auf Performanzbewertungen beruht, weil die EU, gerade zu Beginn der Interaktion zwischen der EU und den Kandidatenländern, primär in ihrer wirtschaftsfördernden Dimension wahrgenommen wurde. Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse der Modellschätzung in Bezug auf den Einfluss der nationalstaatlichen Determinanten eruiert. Dabei wird empirisch die Frage geklärt, ob die nationalstaatlichen Determinanten die EU-spezifischen Einstellungen beeinflussen und ob sie neben diesen einen Beitrag zur Erklärung der EU-Unterstützung leisten können. Alle modellierten Einstellungen zur Performanz des Nationalstaats haben einen starken positiven Effekt auf die äquivalenten EU-spezifischen Performanzen. Das bedeutet, dass diese leicht verfügbaren Einstellungen als Heuristiken herangezogen werden, wenn die Leistungsfähigkeit der EU bewertet werden soll. Somit transferieren die Bürger Informationen über die ökonomische Leistungsfähigkeit des Nationalstaats auf die ökonomische Leistungsfähigkeit der EU (0,60). Bewertungen nationaler politischer Institutionen determinieren die Bewertungen europäischer Institutionen (0,36) und Einstellungen zum Funktionieren der nationalen Demokratie haben einen Effekt auf Einstellungen zum Funktionieren der europäischen Demokratie (0,56). Dies entspricht den theoretischen Überlegungen, denn aufgrund der Ferne der EU und der Komplexität des europäischen institutionellen Designs ist es unwahrscheinlich, dass viele Bürger unabhängige Einstellungen zu diesen konkreten Aspekten der europäischen Integration entwickeln und deshalb auf verfügbare und repräsentative Heuristiken zurückgreifen müssen. Somit bestätigt sich der erste Teil der Hypothese 1, dass die Performanzen des Nationalstaats einen positiven Effekt auf die Performanzen der EU haben. Es bleibt zu klären, ob sich die bisher identifizierten positiven Effekte – von den nationalstaatlichen Performanzen auf die EU-Performanzen und von den EU-Performanzen auf die Unterstützung der EU – auch in einem deutlich positiven Effekt der Performanzen des Nationalstaats auf die EU-Unterstützung niederschlagen. Bei diesen indirekten Effekten zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Performanzen (vgl. Tabelle 1).

232

Bettina Wagner

Tabelle 1: Effekte der Einstellungen zum Nationalstaat auf die Unterstützung der EU (standardisierte Schätzer) Nationalstaat: generalisierte Performanz

Nationalstaat: demokratische Performanz

Nationalstaat: ökonomische Performanz

Nationale Identität

Indirekte 0,07 0,03 0,30 0,04 Effekte Ergebnisse des Strukturgleichungsmodells der Unterstützung der Europäischen Union; Signifikanzniveau: p<0,001; Quelle: EB 65.2; Analysierte Länder: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, N=8238.

Während ein relativ starker indirekter Einfluss der ökonomischen Performanz des Nationalstaats auf die Unterstützung der EU auszumachen ist (0,30), sind die indirekten Effekte der beiden anderen Performanzen marginal, was in den schwächeren direkten Effekten der generalisierten und der demokratischen EU-Performanz begründet liegt. Es zeigt sich wiederholt, dass der ökonomische Bewertungsaspekt am erklärungskräftigsten ist. Zusammenfassend im Hinblick auf den zweiten Teil von Hypothese 1 heißt das, dass die Performanzen des Nationalstaats einen positiven indirekten Effekt auf die Unterstützung der EU haben und sich dieser besonders deutlich in Bezug auf die ökonomische Performanz zeigt. Es bestätigt sich also, dass die Einstellungen zur Performanz des Nationalstaats, vermittelt über EU-spezifische Einstellungen, Einfluss auf die Unterstützung der EU haben und somit als Heuristiken fungieren. Des Weiteren zeigt die Analyse, dass die nationale Identität einen starken Einfluss auf das europäische Verbundenheitsgefühl besitzt (0,43). Dies bestätigt, dass nationale Identität als Vorbild für die Identifikation mit einer anderen vorgestellten Gemeinschaft dienen kann und dass das Vorhandensein einer nationalen Identität eine europäische Identität nicht ausschließt. Somit fungiert der affektive Aspekt unter den Einstellungen zum Nationalstaat ebenfalls als shortcut zur Bewertung ferner affektiver EU-Einstellungen. Der indirekte Effekt nationaler Identität auf die Unterstützung der EU ist nur schwach positiv (0,04), was der Tatsache geschuldet ist, dass die europäische Identität lediglich einen schwachen Effekt auf die EU-Unterstützung hat. Trotzdem kann die Hypothese 2 bezüglich der Richtung des Effekts nationaler Identität bestätigt werden: Die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft hat einen positiven Effekt auf die Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft und dass sie vermittelt darüber auch einen positiven Effekt auf die Unterstützung der EU. Da die Untersuchung einen Zeitpunkt betrachtet, der noch relativ nah am Datum des EUBeitritts der mittel- und osteuropäischen Staaten liegt, kann aufgrund des positiven Zusammenhangs zwischen den beiden Identitäten angenommen werden, dass die nationale Identität an Einfluss auf die EU-Unterstützung gewinnen könnte, sollte sich das affektive Verbundenheitsgefühl mit Europa in diesen Ländern mit der Zeit stärker herausbilden. Über die dargestellten Beziehungen im Modell hinaus zeigt sich, dass das Modell 42 Prozent der Gesamtvarianz des Konstrukts „Unterstützung der Europäischen Union“ erklären kann. Zudem ist die Güte des Strukturgleichungsmodells zufriedenstellend. Das konventionelle Gütemaß RMSEA (root mean square error of approximation) liegt unter der Grenze von 0,05 und p-close ist größer als 0,50. Außerdem übertreffen der GFI (goodness of fit index) und der AGFI (adjusted goodness of fit index) den geforderten Wert von 0,95

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

233

(vgl. Abbildung 3). Dies belegt, dass das vorgestellte Unterstützungsmodell die Einstellungsstruktur der Bürger in den Ländern Mittel- und Osteuropas nach dem Beitritt zur EU angemessen abbildet. 8

Zusammenfassung

Das vorgestellte Modell der Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa versucht die Konsequenzen aufzugreifen, die sich aus der Ferne der EU zur Lebenswelt der mittel- und osteuropäischen Bürger und aus der Verknüpfung der EU mit den Nationalstaaten in einem Mehrebenensystem für die Einstellungsstruktur der Bürger ergeben. Es wird aufgezeigt, dass Einstellungen zum Nationalstaat Einstellungen zur Europäischen Union beeinflussen und als zusätzliche Determinanten – neben EU-spezifischen Prädiktoren – die Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa erklären können. Die empirischen Befunde zeigen, dass die Einstellungen zur Performanz des Nationalstaats – differenziert nach generalisierter, ökonomischer und demokratischer Performanz – jeweils einen positiven Effekt auf die äquivalenten Performanzen auf der EU-Ebene, also auf die generalisierte, ökonomische und demokratische Performanz der EU, haben. Vermittelt über diese EU-Performanzen besitzen die nationalstaatlichen Performanzen einen mehr oder minder starken positiven Effekt auf die Unterstützung der EU (Bestätigung der Hypothese 1). Aufgrund dieser positiven Zusammenhänge kann geschlussfolgert werden, dass die Bürger diese Einstellungen zum Nationalstaat als Heuristiken oder kognitive shortcuts nutzen, um zum einen konkrete Einstellungen zur Performanz der EU zu generieren und zum anderen, um zu einer allgemeinen Bewertung des Regimes der EU zu gelangen. Daneben wurde gezeigt, dass die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft einen positiven Effekt auf die Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft hat und vermittelt darüber auch einen schwachen positiven Effekt auf die Unterstützung der EU ausübt (Bestätigung der Hypothese 2). D.h. auch im Hinblick auf diesen affektiven Bewertungsaspekt fungiert eine nationalstaatliche Einstellung als kognitiver shortcut. Somit kann die zentrale Frage dieses Beitrags, nämlich welche nationalstaatlichen Einstellungen die Einstellungen zur Europäischen Union und insbesondere die Unterstützung der EU in den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten beeinflussen, beantwortet werden: Einstellungen zur generalisierten, ökonomischen und demokratischen Performanz des Nationalstaats sowie die Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft beeinflussen jeweils die äquivalenten Einstellungen zur EU. Sie tragen darüber vermittelt zur Erklärung der Unterstützung der EU bei. Wenn man das empirische Ergebnis differenziert betrachtet, werden Unterschiede in der relativen Stärke der Effekte der nationalstaatlichen Einstellungen auf die EU-Unterstützung deutlich. Dies hängt insbesondere von der relativen Bedeutung der EU-spezifischen Einstellungen für die Erklärung der Unterstützung ab. Es hat sich gezeigt, dass mit Ausnahme des Einflusses der demokratischen Performanz, der Einfluss der EU-Performanzen auf die generalisierte Unterstützung der EU größer ist als der Einfluss des Prädiktors europäische Identität (Bestätigung der Hypothese 3) und dass unter den Performanzen die Erklärungskraft der ökonomischen Performanz der EU am größten ist (Bestätigung der Hypothese 4). Daraus folgt, dass auch unter den Einstellungen zum Nationalstaat die öko-

234

Bettina Wagner

nomische Performanz den stärksten Effekt auf die Unterstützung hat, während die anderen Performanzen und die nationale Identität weit weniger zur Erklärung der EU-Unterstützung beitragen. Die Ergebnisse zur Relevanz der einzelnen Determinanten im Unterstützungsmodell müssen vor dem Hintergrund der erst kurzen EU-Mitgliedschaft der Länder Mittel- und Osteuropas gesehen werden. In dieser Phase der EU-Mitgliedschaft wird die EU in erster Linie aus ökonomischer Perspektive betrachtet. Es ist zu vermuten, dass die Wichtigkeit anderer Aspekte des europäischen Systems mit der Zeit der Mitgliedschaft ansteigt und die ökonomischen Aspekte in den Hintergrund gedrängt werden. Insbesondere ist anzunehmen, dass die Relevanz der affektiven Komponente, also der Identifikation mit der europäischen Gemeinschaft, zunimmt, da die Entwicklung affektiver Orientierungen zu einer neuen Gemeinschaft Zeit benötigt und diese Zeit seit dem EU-Beitritt möglicherweise noch nicht verstrichen ist. Mit einer veränderten Einflussstärke der EU-spezifischen Einstellungen würde sich dann auch die Relevanz der einzelnen nationalstaatlichen Heuristiken verschieben. Deshalb wird vermutet, dass auch die Erklärungskraft der ökonomischen Performanz des Nationalstaats zugunsten anderer Erklärungsfaktoren im Modell abnimmt. Dass die Relevanz nationalstaatlicher Einstellungen gänzlich verschwindet und damit Heuristiken bei der Bewertung der EU keine Rolle mehr spielen, ist mit Blick auf den westeuropäischen Kontext unwahrscheinlich. Selbst in langjährigen EU-Mitgliedstaaten sind nationalstaatliche Aspekte bei der Erklärung der Einstellungen der Bürger zur EU von großer Bedeutung, sodass die Nutzung solcher Heuristiken bei der Bewertung des europäischen Systems durch die Bürger Mittel- und Osteuropas auch mit zunehmender Mitgliedschaftsdauer evident bleiben wird. Literatur Almond, Gabriel A./Verba, Sidney (1963): The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Princeton University Press. Anderson, Christopher J. (1998): When in Doubt, Use Proxies: Attitudes toward Domestic Politics and Support for European Integration. In: Comparative Political Studies 31, 569-601. Arbuckle, James L. (2007): Amos 16.0 User’s Guide. Amos Development Corporation. Bartels, Larry M. (1996): Uninformed Votes: Information Effects in Presidential Elections. In: American Journal of Political Science 40, 194-230. Christin, Thomas (2005): Economic and Political Basis of Attitudes towards the EU in Central and East European Countries in the 1990s. In: European Union Politics 6, 29-57. Cichowski, Rachel A. (2000): Western Dreams, Eastern Realities: Support for the European Union in Central and Eastern Europe. In: Comparative Political Studies 33, 1243-1278. Curran, Patrick J./West, Stephen G./Finch, John F. (1996): The Robustness of Test Statistics to Nonnormality and Specification Error in Confirmatory Factor Analysis. In: Psychological Methods 1, 16-29. Duchesne, Sophie/Frognier, André-Paul (1995): Is there a European Identity? In: Niedermayer, Oscar/Sinnott, Richard (Hrsg.) (1995): Public Opinion and Internationalized Governance. Oxford: Oxford University Press, 193-226. Easton, David (1965): A Framework for Political Analysis. Englewood Cliffs: Prentice-Hall. Easton, David (1975): A Re-Assessment of the Concept of Political Support. In: British Journal of Political Science 5, 435-457.

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

235

Ehin, Piret (2001): Determinants of public support for EU membership: Data from the Baltic countries. In: European Journal of Political Research 40, 31-56. Fuchs, Dieter (1998): Kriterien demokratischer Performanz in Liberalen Demokratien. In: Greven, Michael Th. (Hrsg.) (1998): Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongress der DVPW. Opladen: Leske+Budrich, 152-179. Fuchs, Dieter (1999): Soziale Integration und politische Institutionen in modernen Gesellschaften. In: Friedrichs, Jürgen/Jagodzinski, Wolfgang (Hrsg.) (1999): Soziale Integration. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 39. Opladen: Westdeutscher Verlag, 147-178. Fuchs, Dieter (2002): Das Konzept der politischen Kultur: Die Fortsetzung einer Kontroverse in konstruktiver Absicht. In: Fuchs, Dieter/Roller, Edeltraud/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2002): Bürger und Demokratie in Ost und West: Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozess. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 27-49. Fuchs, Dieter (2003): Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die politische Integration Europas: Eine Analyse der Einstellungen der Bürger in Westeuropa. In: Brettschneider, Frank/Deth, Jan W. van/Roller, Edeltraud (Hrsg.) (2003): Europäische Integration in der öffentlichen Meinung. Opladen: Leske+Budrich, 29-56. Fuchs, Dieter/Guidorossi, Giovanna/Svensson, Palle (1998): Support for the Democratic System. In: Klingemann, Hans-Dieter/Fuchs, Dieter (Hrsg.) (1998): Citizens and the State. Oxford: Oxford University Press, 323-353. Fuchs, Dieter/Rohrschneider, Robert (2001): Der Einfluss politischer Wertorientierungen auf Regimeunterstützung und Wahlverhalten. In: Klingemann, Hans Dieter/Kaase, Max (Hrsg.) (2001): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1998. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 245-282. Gabel, Matthew (1998): Public Support for European Integration: An Empirical Test of Five Theories. In: The Journal of Politics 60, 333-354. Hoffmann, Stanley (1966): Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation State and the Case of Western Europe. In: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 95, 862– 915. Hooghe, Liesbet/Marks, Gary (2005): Calculation, Community and Cues: Public Opinion on European Integration. In: European Union Politics 6, 419-443. Inglehart, Ronald (1970): Cognitive Mobilization and European Identity. In: Comparative Politics 3, 45-70. Kritzinger, Sylvia (2003): The Influence of the Nation-State on Individual Support for the European Union. In: European Union Politics 4, 219-241. Lau, Richard R. (2003): Models of Decision-Making. In: Sears, David O./Huddy, Leonie/Jervis, Robert (Hrsg.) (2003): Oxford Handbook of political psychology. Oxford: Oxford University Press, 19-59. Lau, Richard R./Redlawsk, David P. (2006): How voters decide: information processing during election campaigns. Cambridge: Cambridge University Press. Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew D./Popkin, Samuel L. (2000): Beyond Rationality: Reason and the Study of Politics. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew D./Popkin, Samuel L. (Hrsg.) (2000): Elements of reason: cognition, choice and the bounds of rationality. Cambridge: Cambridge University Press, 1-22. Martinotti, Guido/Stefanizzi, Sonia (1995): Europeans and the Nation State. In: Niedermayer, Oscar/Sinnott, Richard (Hrsg.) (1995): Public Opinion and Internationalized Governance. Oxford: Oxford University Press, 163-191. McLaren, Lauren M. (2002): Public Support for the European Union: Cost/Benefit Analysis or Perceived Cultural Threat? In: The Journal of Politics 64, 551-566. Niedermayer, Oskar (1995): Trends and Contrasts. In: Niedermayer, Oscar/Sinnott, Richard (Hrsg.) (1995): Public Opinion and Internationalized Governance. Oxford: Oxford University Press, 53-72.

236

Bettina Wagner

Roller, Edeltraud (2005): The Performance of Democracies: Political Institutions and Public Policy. Oxford: Oxford University Press. Sanchez-Cuenca, Ignacio (2000): The Political Basis of Support for European Integration. In: European Union Politics 1, 147-171. Schoen, Harald (2008): Identity, Instrumental Self-Interest and Institutional Evaluations: Explaining Public Opinion on Common European Policies in Foreign Affairs and Defence. In: European Union Politics 9, 5-29. Tverdova, Yuliya V./Anderson, Christopher J. (2004): Choosing the West? Referendum choices on EU membership in east-central Europe. In: Electoral Studies 23, 185-208. Tversky, Amos/Kahneman, Daniel (1974): Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. In: Science 185, 1124-1131. Westle, Bettina (2003): Universalismus oder Abgrenzung als Komponente der Identifikation mit der Europäischen Union. In: Brettschneider, Frank/Deth, Jan W. van/Roller, Edeltraud (Hrsg.) (2003): Europäische Integration in der öffentlichen Meinung. Opladen: Leske+Budrich, 115-152.

Anhang – Frageformulierungen Generalisierte Unterstützung der EU – Mitgliedschaft in der EU Generally speaking, do you think that (our country)’s membership of the European Union is …? 1 a good thing (2), 2 a bad thing (0), 3 neither good nor bad (1), 4 DK/no opinion (spontaneous) (8) EU: generalisierte Performanz – Vertrauen in europäische Institutionen And, for each of them, please tell me if you tend to trust it or tend not to trust it? 1) The European Parliament, 2) The European Commission, 3) The Council of Ministers of the European Union 4) The Court of Justice of the European Communities 5) The European Central Bank. 1 tend to agree, 2 tend to disagree (0), 3 DK/no opinion (8) EU: ökonomische Performanz – Rolle der EU für die nationale Ökonomie And for each of the following issues in (our country), do you think that the EU plays a positive role, a negative role or neither positive nor negative role? Economic situation. 1 positive role (2), 2 negative role (0), 3 neither positive nor negative role (1), 4 DK/no opinion (8); EU stabilisiert die Ökonomie: Please tell me for each statement, whether you agree or tend to disagree? I feel we are more stable economically because (our country) is a member of the European Union. 1 tend to agree, 2 tend to disagree (0), 3 DK/no opinion (8) EU: demokratische Performanz – Zufriedenheit Demokratie in der EU And how about the way democracy works in the European Union? 1 very satisfied (4), 2 fairly satisfied (3), 3 not very satisfied (2), 4 not at all satisfied (1), 5 DK/no opinion (8) Europäische Identität – Verbundenheit mit Europa/EU People may feel different degrees of attachment to their town or village, to their region, to their country or to Europe. Please tell me how attached you feel to Europe/the EU? 1 very attached (4), 2 fairly attached (3), 3 not very attached (2), 4 not at all attached (1), 5 DK/no opinion (8)

Unterstützung der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa

237

Nationalstaat: generalisierte Performanz – Vertrauen in nationale Regierung und Parlament I would like to ask you a question about how much trust you have in certain institutions. For each of the following institutions, please tell me if you tend to trust it or tend not to trust it? The (nationality) Government/The (nationality) Parliament. 1 tend to trust, 2 tend not to trust (0), 3 DK/no opinion (8) Nationalstaat: ökonomische Performanz – Erwartungen What are your expectations for the next twelve months: will the next twelve months be better, worse or the same, when it comes to…? The economic situation in (our country)/The employment situation in (our country). 1 the same (1), 2 worse (0), 3 better (2), 4 DK/no opinion (8) Nationalstaat: demokratische Performanz – Zufriedenheit Demokratie im Land On the whole, are you …with the way democracy works in (our country)? 1 very satisfied (4), 2 fairly satisfied (3), 3 not very satisfied (2), 4 not at all satisfied (1), 5 DK/no opinion (8) Nationale Identität – Verbundenheit mit eigenem Land People may feel different degrees of attachment to their town or village, to their region, to their country or to Europe. Please tell me how attached you feel to (our country)? 1 very attached (4), 2 fairly attached (3), 3 not very attached (2), 4 not at all attached (1), 5 DK/no opinion (8)

Tabelle 2: Standardisierte Faktorladungen im Strukturgleichungsmodell der Unterstützung der Europäischen Union Konstrukte Generalisierte Unterstützung der EU EU: generalisierte Performanz

EU: ökonomische Performanz EU: demokratische Performanz Europäische Identität Nationalstaat: generalisierte Performanz Nationalstaat: ökonomische Performanz Nationalstaat: demokratische Performanz Nationale Identität

Indikatoren Mitgliedschaft in der EU Vertrauen: EP Vertrauen: Kommission Vertrauen: Rat Vertrauen: Gerichtshof Vertrauen: Zentralbank Rolle der EU für die nat. Ökonomie EU stabilisiert die Ökonomie Zufriedenheit Demokratie: EU Verbundenheit mit Europa/EU Vertrauen: nationale Regierung Vertrauen: nationales Parlament Erwartungen: Ökonomie Erwartungen: Arbeitsmarkt Zufriedenheit Demokratie: Land Verbundenheit mit eigenem Land

Faktorladungen 1,00 0,89 0,92 0,94 0,88 0,88 0,50 0,72 1,00 1,00 0,85 0,78 0,77 0,65 1,00 1,00

Leichtgläubig und manipulierbar? Die Rezeption persuasiver Wahlkampfbotschaften durch politisch Interessierte und Desinteressierte Carsten Reinemann, Marcus Maurer

1

Die Rolle des politischen Interesses in Demokratien

Normative Demokratietheorien und frühe empirische Studien zu den Ursachen des Wahlverhaltens konstatieren gleichermaßen, dass die Bürger in Demokratien am politischen Leben teilhaben sollten. Sie sollten sich für Politik interessieren, sich über die Ziele und Entscheidungen der Parteien informieren und ihre Wahlentscheidungen aufgrund dieser Kenntnisse treffen. Interessierte und informierte Wähler seien in diesem Sinne die besseren Staatsbürger (vgl. z.B. Habermas 1981; Berelson et al. 1954). Begründen kann man dies auf mindestens zweierlei Arten: Zum einen kann man davon ausgehen, dass interessierte und informierte Bürger eher Wahlentscheidungen treffen, die ihre tatsächlichen Präferenzen widerspiegeln. Ob dies zutrifft, wird allerdings seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Neuere theoretische Ansätze und empirische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass es aus Sicht der Wähler rationaler ist, statt umfangreiches Wissen zu erwerben, leicht zugängliche Entscheidungskriterien wie die langfristige Parteibindung oder den Eindruck von den Kandidaten für ihre Wahlentscheidungen heranzuziehen (vgl. z.B. Popkin 1991). Für die Demokratie sei dies weitgehend unproblematisch, weil sich die daraus resultierenden individuellen Irrtümer uninformierter Wähler im Aggregat wieder aufheben würden (vgl. Page/Shapiro 1992). Diese Annahme lässt sich bei näherer Betrachtung aber nicht aufrecht erhalten: Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass sich die Fehleinschätzungen, die die Wähler über die Positionen und Ziele der Parteien haben, systematisch auf ihr Wahlverhalten auswirken. Uninformierte Wähler wählen demnach keineswegs die Partei, die sie gewählt hätten, wenn sie z.B. über die Parteiziele informiert gewesen wären. Uninformierte Entscheidungen führen demnach in die Irre (vgl. z.B. Bartels 1996; Kuklinski/Quirk 2000). Zudem kann man davon ausgehen, dass politisch interessierte und informierte Bürger maßgeblich zur Stabilität politischer Systeme beitragen. Sie verfügen über vergleichsweise stabile Einstellungen und sind folglich resistenter gegenüber Persuasionsversuchen demokratiefeindlicher oder populistischer Parteien, aber auch anderer Parteien des demokratischen Spektrums. Politisch Interessierte sollten im Verlauf eines Wahlkampfs folglich selten ihre wahlrelevanten Einstellungen verändern und tendenziell einmal getroffene Wahlentscheidungen beibehalten (vgl. zuerst Lazarsfeld et al. 1944: 94ff.). Desinteressierte – häufig zugleich Wähler ohne Parteibindung – gelten dagegen als leichtgläubig und manipulierbar. Ihre Stimmen, so häufig zu hörende Urteile aus Wissenschaft, Politik und Medien, gelte es im Wahlkampf zu gewinnen. Da sie in der Regel über wenig Vorwissen und kaum gefestigte Einstellungen verfügen, stünden Persuasionsversuchen bei ihnen nur geringe Widerstände entgegen.

240

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

Wir wollen uns an dieser Stelle mit der Frage befassen, ob politisch Desinteressierte durch persuasive Wahlkampfbotschaften tatsächlich einfacher zu überzeugen sind als politisch Interessierte. Wir tun dies mithilfe eines komplexen Untersuchungsdesigns anhand der kurzfristigen Eindrücke während und der längerfristigen Urteile politisch interessierter und desinteressierter Rezipienten nach dem Ansehen des Fernsehduells zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005. Zunächst wollen wir jedoch versuchen, den Einfluss des politischen Interesses auf die Wahrnehmung und Verarbeitung persuasiver Botschaften theoretisch herzuleiten. 2

Die Rolle des politischen Interesses im Informationsverarbeitungsprozess

Die Vorstellung, dass bestimmte Menschen unabhängig vom Inhalt einer persuasiven Botschaft grundsätzlich leichter beeinflussbar sind als andere, ist keineswegs neu (vgl. Janis/Hovland 1959). Glaubte man zunächst noch, dass vor allem Persönlichkeitsmerkmale wie die Intelligenz und das Selbstbewusstsein die generelle Überredbarkeit beeinflussen (vgl. zusammenfassend Rhodes/Wood 1992), gerieten relativ bald eher motivationale Faktoren in den Blickpunkt (vgl. Converse 1962; McGuire 1968). Demnach ist die Frage, ob Persuasionsversuche erfolgreich sind, vor allem davon abhängig, ob sich der Adressat für das jeweilige Thema interessiert, wie hoch sein Involvement (persönliche Relevanz) ist und über welches Vorwissen er verfügt. Zwar sind Interesse, Involvement und Vorwissen grundsätzlich unterschiedliche Konzepte. Weil alle drei jedoch in erheblichem Maße korrelieren, werden sie in der Literatur oft als mehr oder weniger austauschbar behandelt oder mit weiteren Indikatoren zu Konstrukten wie „politische Aktivierung“ zusammengefasst. Obwohl die meisten Untersuchungen davon ausgehen, dass hohes Interesse, Involvement und Vorwissen eher zu einer Resistenz gegenüber Persuasionsversuchen führen, kommen empirische Studien zur Wirkung politischer Botschaften zu unterschiedlichen Ergebnissen. So zeigen zwar einige Untersuchungen zur Agenda-Setting-Funktion der Massenmedien, dass politisch Desinteressierte ihre Themenprioritäten stärker in Richtung der in der Medienberichterstattung dominierenden Themen verändern als politisch Interessierte (vgl. Tardy et al. 1981; Iyengar/Kinder 1987: 118). Andere Studien zeigen jedoch keinen (vgl. Williams/Semlak 1978) oder sogar einen umgekehrten (vgl. McLeod et al. 1974; MacKuen 1981) Zusammenhang. Einige Studien zum Priming-Effekt zeigen, dass sich die Urteilskriterien von Wählern mit geringem politischem Vorwissen stärker an den in der Medienberichterstattung dominierenden Themen orientieren (vgl. Iyengar et al. 1984; Krosnick/Kinder 1990). Andere Studien finden wiederum keinen (vgl. Iyengar/Kinder 1987) oder einen umgekehrten (vgl. Krosnick/Brannon 1993; Miller/Krosnick 2000) Zusammenhang. Einige Studien zur Stabilität von politischen Einstellungen zeigen, dass politisch Desinteressierte und Uninformierte ihre Einstellungen gegenüber Politikern oder Sachfragen eher verändern als politisch Interessierte und Informierte (vgl. Haider-Markel/Joslyn 2001; Hwang et al. 2007). Andere Studien finden diese Effekte nur sehr begrenzt und nur unter bestimmten Bedingungen (vgl. Maurer 2003). Einige Studien zur Stabilität des Wahlverhaltens zeigen, dass politisch Desinteressierte und Uninformierte häufiger ihre Wahlentscheidung verändern und dabei eher von der Medienberichterstattung beeinflusst werden (vgl. Finkel/Schrott 1994; Zelle 1995). Andere Studien finden auch hier keine entsprechen-

Leichtgläubig und manipulierbar?

241

den Zusammenhänge (vgl. Schoen 2004; Weßels 2007) oder kommen zu umgekehrten Befunden (vgl. Kleinhenz 1995; Schmitt-Beck 2000: 345). Wieder andere Studien legen die Annahme von Interaktionseffekten aus politischem Interesse und Parteibindung nahe. Demnach sind vor allem politisch interessierte Parteianhänger weitgehend resistent gegenüber persuasiven Wahlkampfbotschaften (vgl. Hillygus/Jackman 2003). Schließlich zeigen einige Studien zum politischen Wissenserwerb, dass Wähler mit geringem politischem Interesse und wenig Vorwissen im Verlauf von Wahlkämpfen mehr über die Kandidaten und Standpunkte der Parteien lernen (vgl. Holbrook 2002; Maier 2007). Allerdings zeigen auch hier andere Studien keine (vgl. Maurer 2007) oder umgekehrte (vgl. Holbrook 1999; Lemert 1993) Zusammenhänge. Um diese widersprüchlichen Befunde zu erklären, ist es erforderlich, den Informationsverarbeitungsprozess näher zu betrachten. Dabei kann man vier Stufen unterscheiden (vgl. zuerst Klapper 1960), auf denen sich jeweils unterschiedliche Einflüsse des politischen Interesses vermuten lassen: Die erste Stufe bildet die Auswahl bestimmter Kommunikationsinhalte (selektive Nutzung). Dabei kann man annehmen, dass politisch Interessierte deutlich häufiger politische Informationen nutzen als politisch Desinteressierte (vgl. z.B. Maurer 2007). Ferner kann man annehmen, dass die Wirkung einer Botschaft umso größer ist, je häufiger sie rezipiert wird (vgl. z.B. Noelle-Neumann 1973). Aus beidem folgt, dass das Wirkungspotenzial persuasiver Botschaften bei politisch Interessierten deutlich größer ist – allein deshalb, weil sie solchen Persuasionsversuchen wesentlich häufiger ausgesetzt sind. Dieser Sachverhalt wird allerdings in allen experimentellen Untersuchungen ignoriert, weil hier Interessierte und Desinteressierte den Botschaften gleichermaßen ausgesetzt werden. Die unterschiedlichen Befunde lassen sich folglich zumindest teilweise mit dem Untersuchungsdesign (experimentell vs. nicht experimentell) begründen. Die zweite Stufe im Informationsverarbeitungsprozess ist die Wahrnehmung der tatsächlich genutzten Kommunikationsinhalte (selektive Wahrnehmung). Hier kann man zum einen annehmen, dass politisch Interessierte die Bedeutung einer Botschaft eher verstehen als politisch Desinteressierte. Dies gilt umso mehr, je komplexer die Botschaft ist, und spricht erneut dafür, dass politisch Interessierte leichter überzeugt werden können. Zum anderen kann man annehmen, dass politisch Interessierte auf andere Botschaftsinhalte achten und folglich andere Botschaftsinhalte zur Meinungsbildung heranziehen als politisch Desinteressierte. Hier wurde beispielsweise vermutet, dass Rezipienten mit hohem Involvement eher verbale, Rezipienten mit niedrigem Involvement eher visuelle Botschaftsinhalte wahrnehmen (vgl. z.B. Forrest/Feldman 2000). Dies spricht dafür, dass es auch vom Inhalt einer Botschaft abhängt, welche Rezipienten leichter zu überzeugen sind. Allerdings kann die Wahrnehmung von Kommunikationsinhalten in den üblichen experimentellen Designs nur unzureichend untersucht werden. Da es um die Eindrücke der Rezipienten während der Rezeption geht, müssten diese mit kontinuierlichen Realtime-Response-Messungen (RTR) erfasst werden (vgl. Maurer/Reinemann 2009). RTR-Untersuchungen, die die Wahrnehmungen persuasiver Botschaften durch politisch Interessierte und Desinteressierte vergleichen, liegen bislang allerdings noch nicht vor. Die dritte Stufe im Informationsverarbeitungsprozess ist die Informationsverarbeitung selbst (selektive Verarbeitung). Auf dieser Stufe werden die rezipierten Informationen mit den bestehenden Einstellungen und dem vorhandenen Vorwissen verglichen. Dabei kann man annehmen, dass die Informationen, die nicht zu den bestehenden Einstellungen passen,

242

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

eine deutlich geringere Wirkungschance haben. Das Persuasionspotenzial ist folglich bei Rezipienten am größten, die über wenig politisches Wissen und kaum ausgeprägte Voreinstellungen verfügen. Politisch Interessierte und Informierte haben dagegen vergleichsweise stabile Einstellungen, die durch neue Informationen nur schwer zu erschüttern sind (vgl. z.B. McGraw/Ling 2003). Wenn politisch Interessierte und Desinteressierte dieselben Informationen nutzen und sie zumindest ähnlich wahrnehmen, sollten die Wirkungen auf Desinteressierte folglich größer sein. Ähnlich verhält es sich schließlich auch auf der vierten Stufe der Informationsverarbeitung, der Erinnerung an die genutzten Informationen (selektive Erinnerung). Rezipienten neigen dazu, Informationen, die nicht zu ihren bestehenden Einstellungen passen, relativ bald wieder zu vergessen (vgl. z.B. Kepplinger/Daschmann 1997). Dies spricht dafür, dass unmittelbare Wirkungen persuasiver Botschaften bei politisch Interessierten, die zu den Botschaften konträre Voreinstellungen haben, relativ bald wieder nachlassen. Das gleiche dürfte auch für politisch Desinteressierte ohne ausgeprägte Voreinstellungen gelten. Ein Nachlassen unmittelbarer Effekte kann zudem durch nachfolgende Informationen gefördert werden, die inkonsistent zur vorherigen Botschaft sind. Nachfolgende konsistente Informationen dürften dagegen die Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften Einstellungsänderung erhöhen. Die aufgezeigten Zusammenhänge lassen sich in zwei unterschiedlichen theoretischen Modellen systematisieren: Zallers RAS-Model und Petty und Cacioppos Elaboration Likelihood Model (vgl. Petty/Cacioppo 1986; Zaller 1992, 1996). Im RAS-Model ist die Wahrscheinlichkeit einer Einstellungsänderung eine Funktion aus der Wahrscheinlichkeit, eine Information zu erhalten, und der Wahrscheinlichkeit, sie zu akzeptieren. Dabei werden Menschen mit hohem politischem Interesse einerseits aufgrund ihrer umfangreichen Informationsnutzung mit größerer Wahrscheinlichkeit im Verlauf eines Wahlkampfs die unterschiedlichen Argumente aller Parteien rezipieren. Rezipienten, die nur wenige Informationen nutzen, werden dagegen eher nur mit der in der Öffentlichkeit dominierenden Sichtweise konfrontiert. Andererseits weisen politisch Involvierte eine starke ideologische Prägung und ein umfangreiches politisches Vorwissen auf. Die starke ideologische Prägung führt dazu, dass mit der eigenen Einstellung inkonsistente Informationen nicht akzeptiert werden. Das umfangreiche Vorwissen führt dazu, dass selbst wenn gewisse neue Informationen akzeptiert werden, diese mit größerer Wahrscheinlichkeit von ihnen widersprechendem Vorwissen überlagert werden. Zaller kommt folglich zu dem Schluss, dass die Einstellungsänderung in Richtung einer dominierenden persuasiven Botschaft bei mittelmäßig Interessierten und Involvierten am größten ist (vgl. Zaller 1992, 1996). Der Vorteil von Zallers Modell besteht darin, dass es sich mit Feldstudien unter realistischen Bedingungen überprüfen lässt. Die unterschiedliche Mediennutzung von politisch Interessierten und Desinteressierten kann folglich in die Untersuchung einfließen. Allerdings wird die Komplexität der Prozesse bei der Informationsverarbeitung erheblich unterschätzt. Auf der Seite der Informationen vernachlässigt die – in der Regel zudem ungeprüfte – Annahme einer dominierenden Botschaft, die von einzelnen Bevölkerungsgruppen nur mehr oder weniger häufig rezipiert wird, die Erkenntnisse über die Vielzahl von Botschaftsmerkmalen, die die Wirkung der Informationen beeinflussen (Tendenz, Menge, Quelle, Darbietungsmodus usw.). Auf der Seite der Rezipienten wird versucht, die Vielzahl von für die Informationsverarbeitung relevanten Rezipientenmerkmalen (Informationsnutzung, Nutzungsmotive,

Leichtgläubig und manipulierbar?

243

Voreinstellungen, Vorwissen, individuelle Informationsverarbeitungsmuster usw.) mit sehr wenigen Variablen (politisches Involvement; gelegentlich auch die Parteiidentifikation) abzugreifen. Die Befunde bleiben folglich zwangsläufig weitgehend holzschnittartig. Das Elaboration Likelihood Model (ELM) geht davon aus, dass Informationen auf zwei unterschiedlichen Wegen verarbeitet werden: der zentralen und der peripheren Route. Welcher Weg genutzt wird, hängt von Merkmalen des Kommunikators, Merkmalen der Botschaft und Merkmalen des Rezipienten ab. Demnach verarbeiten interessierte und involvierte Rezipienten persuasive Botschaften eher auf der zentralen Route. Während der Rezeption achten sie vor allem auf die Stärke der präsentierten Argumente. Dabei setzen sie sich intensiv mit dem Botschaftsinhalt auseinander (elaborierte Informationsverarbeitung). Aufgrund ihres hohen Interesses und Involvements verfügen sie zugleich über relativ gefestigte Voreinstellungen. Entsprechen die neuen Informationen den eigenen Ansichten, werden diese verstärkt. Die Wahrscheinlichkeit einer Einstellungsänderung ist dagegen prinzipiell gering. Einstellungen können allenfalls durch starke, überzeugende Argumente erreicht werden. Ist dies allerdings einmal geschehen, sind auch die geänderten Einstellungen längerfristig relativ stabil. Desinteressierte und gering Involvierte verarbeiten Informationen dagegen mit größerer Wahrscheinlichkeit auf der peripheren Route. Sie achten dabei eher auf periphere, emotionale Reize wie visuelle Signale oder die Glaubwürdigkeit des Kommunikators und setzen sich deutlich weniger mit dem Botschaftsinhalt auseinander. Weil die neuen Informationen aufgrund fehlender Voreinstellungen und geringer Motivation zur Elaboration auf relativ geringen Widerstand treffen, treten Einstellungsänderungen zunächst mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit auf als bei Rezipienten, die Informationen auf der zentralen Route verarbeiten. Allerdings halten Einstellungsänderungen, die über die periphere Route erzielt wurden, meist nicht lange an. Dies kann man einerseits darauf zurückführen, dass die Rezipienten die genutzten Informationen relativ bald wieder vergessen. Andererseits sind die neu gewonnenen Überzeugungen durch nachfolgende Informationen erneut leicht zu erschüttern (vgl. Petty/Cacioppo 1986). Das ELM kommt folglich zu ähnlichen Schlüssen, wie Zallers RAS-Model, ist jedoch weit präziser, weil es die Merkmale der Botschaft und die individuellen Merkmale der Rezipienten berücksichtigt und Annahmen darüber formuliert, wie beide zusammenwirken. Die unterschiedlichen Einflüsse des politischen Interesses auf den verschiedenen Stufen im Informationsverarbeitungsprozess können nicht nur theoretisch modelliert, sondern auch unabhängig voneinander getestet werden. Der Nachteil des Modells besteht allerdings darin, dass es nur experimentell untersucht werden kann. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass dies dazu führt, dass die erste Stufe im Informationsverarbeitungsprozess, die selektive Mediennutzung, meist unberücksichtigt bleibt. Mit Hilfe des ELM kann man relativ gut erklären, warum Redner bei wissenschaftlichen Vorträgen starke Argumente benutzen sollten und warum Fernsehwerbung eher erfolgreich ist, wenn sie auf emotionale Reize setzt. Wenn es um persuasive Wahlkampfbotschaften geht, verhält es sich allerdings weniger eindeutig. Wahlkampfbotschaften richten sich häufig an ein heterogenes Publikum aus eigenen Anhängern, Unentschiedenen und Anhängern des Gegners. Dies gilt besonders bei herausragenden Wahlkampfveranstaltungen wie Fernsehduellen, die zudem auch von vielen Wählern gesehen werden, die sich sonst wenig für Politik interessieren. Welche Unterschiede zwischen politisch interes-

244

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

sierten und desinteressierten Wählern kann man hier erwarten? Zunächst einmal legt das ELM den Schluss nahe, dass politisch interessierte Zuschauer beim Ansehen von persuasiver Wahlkampfkommunikation eher auf Sachargumente achten, durch das Duell seltener ihre wahlrelevanten Einstellungen verändern, eventuelle Einstellungsänderungen aber auch längerfristig stabil bleiben. Desinteressierte Zuschauer sollten dagegen eher auf personalisierte Aussagen, Floskeln und die Körpersprache der Kandidaten reagieren. Ihre Einstellungen sollten sich folglich durch Persuasionsversuche deutlich häufiger verändern. Die Wirkungen sollten jedoch nach wenigen Tagen wieder nachgelassen haben, sofern sie nicht von ähnlichen Folgeinformationen aktualisiert werden. Auf der anderen Seite kann man annehmen, dass gerade politisch weniger Interessierte, die sonst kaum politische Informationen nutzen, herausragende Wahlkampfereignisse besonders aufmerksam verfolgen, weil sie sich hiervon Informationen und Eindrücke von den Kandidaten als Hilfe für ihre Wahlentscheidung erhoffen. Dies würde bedeuten, dass sich das grundsätzliche politische Interesse als überdauernde Rezeptionsmotivation und die situationale Rezeptionsmotivation hier gegenläufig verhalten. Dies erscheint nicht unwahrscheinlich, da aus der Rezeptionsforschung hinlänglich bekannt ist, dass das Aktivitätsniveau bei der Mediennutzung generell nicht nur interpersonal, sondern auch intrapersonal in Abhängigkeit von z.B. Stimmungen, Nutzungsmotiven und sozialen Konstellationen variiert (im Überblick Schweiger 2007: 162ff.). Dies bedeutet: Gerade weil die politisch Interessierten besser informiert sind, festere Einstellungen haben und den Wahlkampf auch bislang schon intensiv verfolgt haben, könnte das TV-Duell für sie weniger wichtig sein und von ihnen daher weniger konzentriert verfolgt werden. Im Gegensatz dazu könnten die weniger Interessierten hier sehr viel eher die Chance sehen, sich einen Eindruck von Personen und Positionen zu verschaffen und das TV-Duell dementsprechend mit hoher Aufmerksamkeit verfolgen. Dieser mögliche Kontrast von generellem und situationalem Involvement macht Wirkungsprognosen schwierig. Wir wollen im Folgenden untersuchen, ob politisch interessierte und politisch desinteressierte Zuschauer persuasive Wahlkampfkommunikation unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten. Wir tun dies anhand einer umfangreichen quasi-experimentellen Untersuchung zur Wahrnehmung und Wirkung des Fernsehduells zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005 (vgl. Maurer et al. 2007). Wir untersuchen dabei erstmals die spontanen Eindrücke politisch interessierter und desinteressierter Zuschauer mit Hilfe von kontinuierlichen Realtime-Response-Messungen während des Duells. Zudem haben wir die kurzfristigen und längerfristigen Urteile der Zuschauer im Zuge einer Panelerhebung erfasst, so dass wir ihre individuellen Einstellungsänderungen verfolgen können. Als theoretische Basis verwenden wir das ELM, weil es uns hier nicht auf die Wirkung der alltäglichen Mediennutzung ankommt, sondern auf die Wirkung einer einzelnen Sendung, die sowohl von politisch Interessierten als auch von politisch Desinteressierten gesehen wurde. Die selektive Mediennutzung spielt für unsere Überlegungen folglich keine Rolle.

Leichtgläubig und manipulierbar? 3

245

Methode und Stichprobe

3.1 Anlage der Untersuchung Unsere Untersuchung kombiniert eine Realtime-Response-Messung während des TVDuells am 4. September 2005 mit einer Panelbefragung vor, unmittelbar nach und einige Tage nach dem Duell. Die 121 Probanden – 72 in Mainz und 49 in Jena1 – wurden über Zeitungsanzeigen rekrutiert. Dabei wurde ein Quotenverfahren angewandt: Geschlecht, Alter und Bildung wurden in etwa an die tatsächliche Verteilung dieser Merkmale in den beiden Städten angepasst. Die Mainzer Stichprobe bestand zu etwa gleichen Teilen aus Anhängern von SPD und Grünen, Anhängern von CDU und FDP sowie Unentschiedenen. In Jena gab es vier etwa gleich große Gruppen – zu den drei genannten kam noch eine Gruppe von PDS-Anhängern hinzu. Aufgrund des Auswahlverfahrens und der relativ kleinen Stichprobe sind die Probanden nicht im statistischen Sinne repräsentativ, wie es beispielsweise für eine Wahlprognose erforderlich wäre. Darum geht es hier aber auch nicht. Es geht um ihre Eindrücke während des Duells und um die Veränderungen ihrer Meinungen durch das Duell und in den Tagen danach. Wie bei allen (Quasi-)Experimenten stehen also weniger die absoluten Werte als vielmehr die grundsätzlichen Mechanismen der Urteilsbildung der Rezipienten im Mittelpunkt der Analyse. Die Prädispositionen der Teilnehmer wurden etwa zwei Stunden vor Beginn der Debatte mit einer schriftlichen Befragung erhoben. Abgefragt wurden unter anderem das allgemeine politische Interesse, das Interesse an der bevorstehenden Bundestagswahl und ob sich die Probanden vom TV-Duell eine Hilfe für ihre Wahlentscheidung erwarteten. Ferner wurden unter anderem die längerfristige Parteibindung, die Erwartung, wer das Duell gewinnen wird, die Meinungen über die Kandidaten, die Kanzlerpräferenz und die Wahlabsicht erfragt. Die Probanden sahen das Duell jeweils in einem Hörsaal auf einer Großbildleinwand. Dies entspricht zwar nicht der normalen Rezeptionssituation, war aus technischen Gründen aber nicht vermeidbar. Die Probanden wurden deshalb mehrfach darauf hingewiesen, von Unterhaltungen oder lauten Reaktionen auf das Gesehene hin abzusehen. Um die kurzfristigen Wahrnehmungen während des Duells zu messen, erhielt jeder der Teilnehmer einen siebenstufigen Drehregler. Die Probanden wurden gebeten, ihren spontanen Eindruck von der Debatte mithilfe der Geräte wiederzugeben. Den Probanden wurde die Funktionsweise der Geräte zunächst anhand eines neutralen Talkshow-Auftritts („Zwei bei Kallwass“) ausführlich erläutert, wobei die Teilnehmer auch die Gelegenheit bekamen, mit den Geräten zu üben. Dies sollte sie zugleich von der Vorbefragung ablenken. Der Skalenmittelpunkt vier wurde als neutraler Punkt definiert, den die Teilnehmer dann wählen sollten, wenn sie keinen besonders guten oder schlechten Eindruck von den Kandidaten hatten. Werte unter vier sollten dann gewählt werden, wenn die Teilnehmer einen guten Eindruck von Schröder oder einen schlechten Eindruck von Merkel hatten. Werte über vier bedeuten dementsprechend einen guten Eindruck von Merkel oder schlechten Eindruck von Schröder. Die Extrempositionen (eins und sieben) waren für einen äußerst guten oder schlechten Eindruck reserviert. Auf präzisere Anweisungen wurde bewusst verzichtet, um das Untersuchungsziel – die Messung subjektiver Wahrnehmungen – nicht zu gefährden. 1

Die Untersuchung in Jena wurde von Jürgen und Michaela Maier durchgeführt.

246

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

Die Messungen erfolgten kontinuierlich in jeder Sekunde des etwa 95-minütigen Duells – also auch dann, wenn die Befragten nicht schalteten. Für jeden Befragten liegen folglich 5568 Messwerte vor. Die Verlässlichkeit und Gültigkeit dieses Messverfahrens haben wir an anderer Stelle belegt (vgl. Reinemann et al. 2005). Unmittelbar nach Ende des Duells wurde den Probanden erneut ein Fragebogen vorgelegt, der mit dem ersten nahezu identisch war, jedoch zusätzlich Fragen zum Duell enthielt. Außerdem wurde statt nach dem erwarteten Duellsieger danach gefragt, wen die Befragten für den Sieger der Debatte hielten. Vier Tage nach dem Duell erhielten die Probanden schließlich den dritten, erneut größtenteils identischen Fragebogen, den sie umgehend ausgefüllt zurückschicken sollten. Er war lediglich um ihr Mediennutzungs- und Diskussionsverhalten in den Tagen nach dem Duell ergänzt. Durch die Kombination der RTRMessung (selektive Wahrnehmung) mit der Befragung unmittelbar nach (selektive Verarbeitung) und vier Tage nach dem TV-Duell (selektive Erinnerung) wollen wir den Einfluss des politischen Interesses auf die Veränderungen der individuellen Urteile der Zuschauer im Verlauf des Informationsverarbeitungsprozesses nachzeichnen. Die selektive Mediennutzung ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung, weil es uns um die unterschiedliche Wahrnehmung und Wirkung einer Sendung geht, die alle Probanden gesehen haben. 3.2 Struktur der Stichprobe Betrachtet man die Teilnehmer unserer Untersuchung, dann waren Männer im Vergleich zur Gesamtheit der Duellzuschauer etwas überrepräsentiert (56%). Zudem waren die Teilnehmer im Durchschnitt etwas älter und besser gebildet als die Duellzuschauer insgesamt (vgl. dazu im Detail Maurer et al. 2007). Dies dürfte im Wesentlichen auf die Rekrutierung über Zeitungsanzeigen zurückzuführen sein. Im Hinblick auf die Parteiidentifikation, die sich als bedeutsamster Prädiktor für die Wahrnehmung der Kandidaten erwiesen hat, bilden wir für die folgenden Analysen drei Gruppen: Die Anhänger der damaligen Bundesregierung aus SPD und Bündnis90/Die Grünen (33%), die Anhänger der damaligen Opposition im Bundestag aus CDU/CSU und FDP (32%) sowie die nicht oder an andere Parteien (vor allem die Linkspartei) gebundenen Zuschauer (35%). Das politische Interesse bzw. Involvement der Teilnehmer haben wir vor dem TVDuell mit mehreren Fragen ermittelt, die sich vor allem darin unterschieden, wie konkret sie auf die besondere Situation des TV-Duells abzielten. So haben wir nach dem allgemeinen politischen Interesse, dem Interesse an der damaligen Bundestagswahl sowie danach gefragt, ob sich die Teilnehmer von dem TV-Duell eine Hilfe für ihre Wahlentscheidung erwarteten. Diese letzte Frage ist zwar kein klassischer Indikator für politisches Involvement, aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht erscheint sie aber als valider Indikator für das situationale Involvement bei der Rezeption des TV-Duells. Wir werden die möglichen Effekte dieses Merkmals deshalb in unseren Analysen untersuchen. Das politische Interesse haben wir ursprünglich mit einer fünfstufigen Skala erhoben, die wir für die folgende Analyse zusammenfassen. So ergibt sich, dass zwei Drittel unserer Teilnehmer ein sehr starkes oder starkes Interesse für Politik hatten, ein Drittel interessierte sich mittelmäßig oder weniger stark für Politik. Überhaupt kein Interesse für Politik hatte keiner der Probanden. Aus theoretischer Sicht wäre es sicher besser gewesen, auch völlig

Leichtgläubig und manipulierbar?

247

uninteressierte Probanden im Sample zu haben. Allerdings entspricht unsere Verteilung sehr viel eher der tatsächlichen Struktur der Zuschauerschaft bei einem TV-Duell und der Struktur der tatsächlichen Wähler. Völlig Desinteressierte schauen in der Regel weder das TV-Duell noch gehen sie zur Wahl. Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Parteibindung und Indikatoren für das Involvement der Zuschauer bei der Rezeption des TV-Duells (Spaltenprozent) Regierungsanhänger

Anhänger keiner/anderer Partei (n=42)

Oppositionsanhänger

Gesamt

(n=39)

(n=121)

60 41

69 31

66 34

67 33

85 15

78 22

(n=40) Politisches Interesse sehr stark / stark 70 mittel / weniger / gering 30 Interesse an Bundestagswahl sehr stark / stark 83 mittel / weniger / gering 17 TV-Duell als Hilfe bei der Wahlentscheidung stimme (eher) zu 20 stimme (eher) nicht zu 80 Anmerkung: Keine signifikanten Unterschiede zwischen gen im Anhang

38 39 32 62 61 68 den politischen Lagern; Frageformulierun-

Noch etwas höher als das allgemeine Interesse an der Politik war das Interesse an der Bundestagswahl ausgeprägt: 78 Prozent der Teilnehmer interessierten sich sehr stark oder stark für die Bundestagswahl, 22 Prozent eher nicht. Zudem erwarteten sich immerhin 31 Prozent der Teilnehmer vom TV-Duell eine Hilfe für ihre Wahlentscheidung. Vergleicht man die unterschiedlichen Indikatoren, so stellt man einen relativ hohen positiven Zusammenhang zwischen dem allgemeinen politischen und dem Interesse an der Bundestagswahl fest (Phi = 0,287; p < 0,001). Kein Zusammenhang besteht zwischen dem Interesse an der Bundestagswahl und der Erwartung an eine Entscheidungshilfe durch das TV-Duell. Ein signifikant negativer Zusammenhang ist zwischen dem allgemeinen politischen Interesse und der Beurteilung des TV-Duells als Entscheidungshilfe erkennbar (Phi = -0,219; p < 0,001): Die weniger politisch Interessierten erhoffen sich vom TV-Duell eher eine Hilfe für ihre Wahlentscheidung als die stärker Interessierten. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich das generelle politische Involvement und das situationale Involvement bei einem konkreten Einzelfall unterscheiden können. Vergleicht man die Anhänger der verschiedenen politischen Lager, dann zeigen sich keine signifikanten Differenzen. Regierungs- und Oppositionsanhänger sind nur etwas stärker politisch und an der Bundestagswahl interessiert. Etwas deutlicher, aber ebenfalls nicht signifikant, sind die Differenzen bei der Frage, ob das TV-Duell als Hilfe für die Wahlentscheidung gesehen wird. Von den Anhängern der Opposition (38 Prozent) und den nicht oder an einer andere Partei Gebundenen (39 Prozent) erhofften sich immerhin doppelt so viele eine Hilfe für ihre Wahlentscheidung wie unter den Regierungsanhängern (20 Prozent) (Phi = 0,184; p < 0,129) (vgl. Tabelle 1).

248

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

3.3 Analysestrategie In den folgenden Analysen suchen wir nach Unterschieden zwischen unterschiedlich involvierten Zuschauern im Hinblick auf ihre Wahrnehmung, Verarbeitung und Erinnerung des TV-Duells im Bundestagswahlkampf 2005. Wir betrachten dazu zunächst die unmittelbaren Reaktionen der Zuschauer anhand unserer RTR-Daten (Wahrnehmung). Dann untersuchen wir anhand eines Vergleichs der Vor-, der unmittelbaren Nachbefragung und der Befragung einige Tage später, ob bei weniger interessierten Zuschauern stärkere Diskrepanzen zwischen den vorherigen Erwartungen an den Ausgang des Duells und den nachträglichen Urteilen über den Duellsieger bestehen (Verarbeitung/Erinnerung). Als Indikator für die Verarbeitung des TV-Duells kann man das Urteil über den Duellsieger deswegen heranziehen, weil es sich dabei im Gegensatz zu den mit dem RTR-System erfassten unmittelbaren Reaktionen um ein summarisches Urteil über das gesamte TV-Duell handelt. Schließlich untersuchen wir ebenfalls im Vergleich der drei Befragungswellen, ob die weniger interessierten Zuschauer häufiger ihre Meinungen von den Kandidaten geändert haben als die stärker Interessierten (Verarbeitung/Erinnerung). 4

Befunde

4.1 Die Wahrnehmung des TV-Duells Wie wirken sich nun das politische, wahlbezogene und sendungsbezogene Interesse der Zuschauer auf die unmittelbare Wahrnehmung des TV-Duells aus? Wir haben dies für alle drei genannten Indikatoren geprüft. Ein erstes wichtiges Ergebnis ist, dass sich die generelle Tendenz der Befunde für die einzelnen Indikatoren nicht wesentlich unterscheidet. Aus diesem Grund beschränken wir uns auf die Ergebnisse eines Indikators und vergleichen generell politisch Interessierte mit den weniger Interessierten. Ein erster globaler Indikator für die Wahrnehmung der TV-Diskussion ist der Mittelwert aus allen 5568 einzelnen RTR-Messwerten. Dieser Mittelwert ist für beide Gruppen fast identisch (Interessierte: 3,99; Uninteressierte: 3,98). Betrachtet man die Schwankungen der Reaktionen, dann zeigt sich ein erster Unterschied: In der Gruppe der Uninteressierten liegt die Standardabweichung der Reaktions-Zeitverläufe mit 0,48 etwas höher als unter den Interessierten (0,39). Obwohl diese Differenz nicht dramatisch ist, würde sie der These, dass Uninteressierte stärker auf die Kandidaten reagieren, zumindest nicht widersprechen. Das Spektrum an positiven und negativen Reaktionen war also offenbar breiter (vgl. Tabelle 2). Im nächsten Schritt bewegen wir uns von der Aggregatebene der Zeitreihen-Mittelwerte hin zu den Reaktionsverläufen der Zuschauer. Denn auch bei identischen Gesamtmittelwerten und Standardabweichungen könnten im Verlauf des TV-Duells an einzelnen Stellen durchaus gravierende Differenzen in den Reaktionen von Interessierten und Uninteressierten bestehen, die in der Gesamtbetrachtung von mehr als 5000 Messwerten aber verloren gehen. Doch auch dies scheint nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang der Fall zu sein: Die Korrelation der Reaktionsverläufe beträgt nicht weniger als 0,932 (p < 0,01).

Leichtgläubig und manipulierbar?

249

Analysiert man die Reaktionsverläufe noch etwas genauer, dann findet man zehn Situationen unterschiedlicher Länge, an denen sich die Reaktionen von Interessierten und Uninteressierten um einen Betrag von mindestens einem halben Skalenpunkt unterscheiden. Die größte Differenz beträgt 0,65 Punkte. In fünf der Situationen sprach Merkel, in den übrigen fünf Schröder. In allen Fällen reagierten die Uninteressierten stärker auf den Kandidaten, der gerade sprach. Und in allen Fällen fielen die Reaktionen der Uninteressierten auf dessen Aussagen positiver aus. Allerdings unterscheiden sich Themen, Formen und visuelle Elemente der jeweiligen Kandidatenaussagen sehr stark und es gibt keinen Hinweis, dass beispielsweise die Stärke von Argumenten eine wesentliche Rolle spielen würde. Dementsprechend lässt sich auch keine Systematik erkennen, die erklären könnte, warum die Uninteressierten nun ausgerechnet auf diese Statements stärker reagiert haben, nicht aber auf andere. Die Ursachen für die punktuell stärkeren Differenzen zwischen den Gruppen lassen sich hier also nicht aufklären (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1:

Unmittelbare Wahrnehmung des TV-Duells 2005 durch politisch Interessierte und Uninteressierte

7 Uninteressierte Interessierte

6

4 6

2

5

10 006

3

4 9

3

1

8

7 5

2

01:31:42

01:28:58

01:26:14

01:23:30

01:20:46

01:18:02

01:15:18

01:12:34

01:09:50

01:07:06

01:04:22

01:01:38

00:58:54

00:56:10

00:53:26

00:50:42

00:47:58

00:45:14

00:42:30

00:39:46

00:37:02

00:34:18

00:31:34

00:28:50

00:26:06

00:23:22

00:20:38

00:17:54

00:15:10

00:12:26

00:09:42

00:06:58

00:04:14

00:01:30

1

Basis: RTR-Messung, 5568 Messzeitpunkte. Anmerkung: Ausgewiesen sind die Gruppenmittelwerte auf einer Skala von eins bis sieben zum jeweiligen Zeitpunkt. Markiert sind die zehn Stellen im Verlauf des TV-Duells, an denen sich Interessierte und Uninteressierte um mindestens 0,5 Skalenpunkte unterscheiden.

Die Beobachtung, dass die Gruppe der Uninteressierten in den beschriebenen Situationen jeweils eher dazu neigt, den gerade sprechenden Kandidaten positiver zu beurteilen, führt zu der Frage, ob dies für die Uninteressierten der verschiedenen politischen Lager jeweils in gleicher Weise gilt. Um dies zu prüfen, haben wir für die drei politischen Gruppen jeweils die Reaktionsmuster der politisch Interessierten und Uninteressierten verglichen. Dabei ergibt sich, dass Interessierte und Uninteressierte in keinem der drei politischen Lager signifikant unterschiedlich reagiert haben. Allerdings zeigen die Standardabweichungen der Reaktionszeitreihen, dass die Wahrnehmungen der Uninteressierten in allen drei

250

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

Gruppen etwas stärker schwankten als die der Interessierten. Ihre Eindrücke waren also offenbar weniger stark von Prädispositionen determiniert und der Korridor an möglichen negativen und positiven Reaktionen auf die Aussagen der Kandidaten war dementsprechend breiter als bei den Interessierten. Unter den Regierungsanhängern reagierten die Uninteressierten dabei gleichermaßen stärker in beide Richtungen – also pro Schröder und pro Merkel. Unter den Oppositionsanhängern schwankten die Uninteressierten dagegen vor allem stärker in Richtung Schröder. Und unter den Unabhängigen wiederum waren die Schwankungen in Richtung Merkel stärker. Allerdings sind diese Differenzen innerhalb der politischen Lager relativ gering. Es ist deshalb mehr als fraglich, ob sie beispielsweise einen Einfluss auf den Gesamteindruck von den Kandidaten gehabt haben können. Denn die mittlere Wahrnehmung hat sich in verschiedenen Analysen stets als bester Prädiktor für den Gesamteindruck von den Kandidaten erwiesen (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2: Wahrnehmung des TV-Duells durch politisch Interessierte und Uninteressierte der verschiedenen politischen Lager Regierungsanhänger (n=40)

Anhänger keiner/anderer Partei (n=42)

Oppositionsanhänger

Gesamt

(n=39)

(n=121)

Mittlere Wahrnehmung Uninteressierte 3,45 3,98 4,55 Interessierte 3,46 3,77 4,70 Standardabweichung Uninteressierte 0,61 0,45 0,57 Interessierte 0,49 0,34 0,50 Basis: RTR-Messung, 5568 Messzeitpunkte. Keine signifikanten Differenzen.

3,99 3,98 0,48 0,39

4.2 Verarbeitung und Erinnerung Die bisherigen Analysen haben kaum Hinweise darauf erbracht, dass Interessierte und Uninteressierte die Kandidaten im TV-Duell 2005 unterschiedlich wahrgenommen haben. Dennoch wäre es möglich, dass sich die Gruppen in ihrer Verarbeitung dieser unmittelbaren Eindrücke unterscheiden und deshalb nach dem TV-Duell andere Schlussfolgerungen ziehen. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass Interessierte die Qualität von Argumenten oder konkrete Aussagen bei ihrem Urteil über den Sieger des TV-Duells im Nachhinein stärker gewichten, wohingegen Uninteressierte bei ihren nachträglichen Urteilen möglicherweise eher die rhetorische Brillanz oder Gemeinplätze berücksichtigen. Wir werden deshalb prüfen, ob sich die Urteile und Meinungen der Interessierten durch das TV-Duell stärker verändert haben als die der weniger Interessierten. Wir werden das für alle drei Indikatoren anhand der Entwicklung der Urteile über den Ausgang des Duells und anhand der Entwicklung der Meinungen über die Kandidaten untersuchen. Als Indikator für die erstmalige summarische Verarbeitung der vielen Einzeleindrücke, die sie während des TV-Duells gewonnen haben, zu einem Gesamteindruck ziehen wir die Ant-

Leichtgläubig und manipulierbar?

251

worten der Zuschauer unmittelbar nach der Sendung heran. Als Indikator für mögliche Unterschiede in der Erinnerung an das TV-Duell betrachten wir die Ergebnisse der Befragung vier Tage später. Zwar haben wir dabei nicht explizit nach der Erinnerung an verschiedene Elemente der Diskussion gefragt. Sollten jedoch tatsächlich Prozesse selektiver Erinnerung stattfinden, sollte sich dies auch in den Siegerurteilen und Meinungen von den Kandidaten zeigen. Dabei wird es jeweils um die Frage gehen, ob ein höheres bzw. niedrigeres Interesse dazu geführt hat, dass sich die Urteile der Zuschauer durch das TVDuell und in den Tagen danach weniger bzw. stärker verändert haben. Die Richtung möglicher Veränderungen und die möglicherweise differenziellen Einflüsse der Nachberichterstattung und interpersonaler Kommunikation lassen wir unberücksichtigt, da dies den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Tabelle 3: Veränderungen von Sieger-Erwartungen bzw. Siegerurteilen bei Interessierten und Uninteressierten (Spaltenprozente) Uninteressierte (n=41) Verarbeitung: Erwartung vor und Urteil unmittelbar nach dem TV-Duell Keine Veränderung Veränderung Erinnerung: Urteil unmittelbar nach dem TV-Duell und einige Tage später Keine Veränderung Veränderung Anmerkung: Keine signifikanten Unterschiede.

Interessierte (n=80)

Gesamt (n=121)

49 51

55 45

53 47

67 33

79 21

75 25

Urteile über den Ausgang des TV-Duells Betrachtet man zunächst die Siegerwahrnehmung, so ergeben sich auch hier keine Hinweise darauf, dass politisch Interessierte und Uninteressierte das Duell unterschiedlich verarbeitet haben oder die Uninteressierten gar beeinflussbarer waren als die Interessierten. Vergleicht man die Erwartungen an den Ausgang des Duells vor und die Urteile unmittelbar nach dem TV-Duell, so haben von den Uninteressierten 51 Prozent einen anderen als den von ihnen erwarteten Ausgang gesehen. Bei den Interessierten revidierten 45 Prozent ihre Erwartungen an den Ausgang des Duells. In den Tagen nach dem Duell veränderten 33 Prozent der Uninteressierten und 21 Prozent der Interessierten ihre Ansichten. Allerdings sind die Beziehungen in keinem Fall statistisch signifikant und ihre Stärke liegt nahe Null (vgl. Tabelle 3). Dies gilt auch, wenn man statt des allgemeinen politischen Interesses das spezifische Interesse an der Bundestagswahl oder die Hoffnung auf eine Entscheidungshilfe durch das TV-Duell heranzieht.

252

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

Meinungen über die Kandidaten Wir wollen jetzt prüfen, ob die weniger Interessierten eher dazu geneigt waren, ihre Meinungen über die Kandidaten zu ändern als die stärker Interessierten. Die Meinung über die Kandidaten haben wir mit elfstufigen Skalen erhoben, die von -5 bis +5 reichten. Um nur substanzielle Veränderungen zu erfassen, wollen wir von einer Veränderung nur dann sprechen, wenn die Einschätzungen der Zuschauer zu zwei Zeitpunkten um mindestens zwei Skalenpunkte voneinander abwichen. Erneut ergeben sich für keinen der Indikatoren signifikante Differenzen, auch wenn der Anteil derjenigen, die ihre Meinungen verändern, unter den Uninteressierten stets etwas größer ist als unter den Interessierten. Dies gilt vor allem für die Ansichten über Angela Merkel. Durch das TV-Duell veränderten 32 Prozent der Uninteressierten ihre Meinung, aber nur 20 Prozent der Interessierten. In den Tagen danach war bei 22 Prozent der Uninteressierten eine neuerliche Veränderung festzustellen, aber nur bei 14 Prozent der Interessierten. Auch die Analyse möglicher Effekte des Interesses an der Bundestagswahl oder der Suche nach Hilfe für die Wahlentscheidung ergibt keine anderen Befunde (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Veränderungen der Meinungen über die Kandidaten bei Interessierten und Uninteressierten (Spaltenprozente) Uninteressierte (n=41) Verarbeitung: Meinungen vor und unmittelbar nach dem TV-Duell Schröder Keine Veränderung Veränderung Merkel Keine Veränderung Veränderung Erinnerung: Meinungen unmittelbar nach dem TVDuell und einige Tage später Schröder Keine Veränderung Veränderung Merkel Keine Veränderung Veränderung Anmerkung: Keine signifikanten Unterschiede.

Interessierte (n=80)

Gesamt (n=121)

66 34

73 27

70 30

68 32

80 20

68 32

88 12

86 14

87 13

78 22

86 14

84 16

Leichtgläubig und manipulierbar? 5

253

Fazit

Wir sind in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, ob politisch Interessierte bzw. Involvierte persuasive politische Botschaften anders wahrnehmen und verarbeiten als politisch weniger Involvierte. Sind also politisch weniger Involvierte leichtgläubiger und manipulierbarer? Dass solche Unterschiede bestehen, kann man theoretisch erwarten, wenn man beispielsweise das Elaboration Likelihood- oder das RAS-Modell als Basis heranzieht. Ob sie sich aber in einer konkreten Rezeptionssituation wirklich zeigen, haben wir am Beispiel des TV-Duells im Bundestagswahlkampf 2005 untersucht. Zur Analyse der Wahrnehmung persuasiver Botschaften haben wir eine Echtzeitmessung der Zuschauerreaktionen auf das TV-Duell herangezogen. Dies ermöglichte uns, Effekte des politischen Interesses im Verlauf eines Rezeptionsprozesses zu untersuchen. Dies wurde unseres Wissens nach bislang noch in keiner anderen Untersuchung versucht. Zur Analyse der Verarbeitung und Erinnerung haben wir eine diese Messung begleitende Panelbefragung ausgewertet. Als Indikatoren für politisches Interesse bzw. Involvement haben wir das vor dem TV-Duell gemessene allgemeine politische Interesse, das Interesse an der Bundestagswahl sowie die Beurteilung des TV-Duells als Hilfe für die eigene Wahlentscheidung herangezogen. Unsere Befunde können wir wie folgt zusammenfassen: (1) Die Wahrnehmung des TV-Duells durch politisch stärker und schwächer Interessierte unterscheidet sich kaum. Zwar gibt es schwache Hinweise darauf, dass die Reaktionen der schwächer Involvierten etwas stärker schwankten und es fanden sich einzelne Stellen, an denen auch etwas größere Unterschiede in den Reaktionen auftraten. Allerdings erscheinen diese vor dem Hintergrund der gesamten Dauer des TV-Duells, der ansonsten auftretenden Reaktionsschwankungen und der Wahrnehmungsunterschiede zwischen anderen Gruppen (z.B. den Anhängern der verschiedenen politischen Lager) vergleichsweise gering. (2) Die Analyse der Verarbeitung und der Erinnerung des TV-Duells ergab ebenfalls keine Hinweise darauf, dass sich politisches Interesse, das Interesse an der Bundestagswahl oder die Suche nach einer Hilfe für die Wahlentscheidung auf die Stabilität bzw. Veränderlichkeit der Siegerurteile oder der Meinungen von den Kandidaten ausgewirkt hätte. Die durchaus überraschenden Befunde werfen zunächst die Frage nach Defiziten der Untersuchungsanlage, der externen Validität der Studie und der Übertragbarkeit der TVDuell-Situation auf andere Situationen politischer Kommunikation auf: Im Hinblick auf die Untersuchungsanlage muss man darauf hinweisen, dass wir nur die Effekte der motivationalen, nicht aber der Wissenkomponente von Involvement untersucht haben. Möglicherweise würden sich bei einem Vergleich von Rezipienten mit mehr oder weniger politischem Wissen deutlichere Unterschiede ergeben. Wie bei jeder Laborstudie stellt sich darüber hinaus auch hier die Frage, ob die Rezeptionssituation zu einer Erhöhung der Aufmerksamkeit oder sogar zu einer Nivellierung der Aufmerksamkeitsunterschiede bei sehr und weniger Interessierten geführt hat. Dies ist letztlich nicht auszuschließen, da wir keinen externen Vergleichmaßstab zur Einschätzung des Aufmerksamkeitsniveaus haben. Allerdings ist davon auszugehen, dass das TV-Duell auch außerhalb des Labors mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wird. Denn kein anderes politisches Kommunikationsereignis erregt bereits im Vorfeld eine derartige öffentliche Aufmerksamkeit. Der Hype um die TV-Duelle ist so groß, dass sich ihm auch politisch weniger Interessierte nicht entziehen können, sich die

254

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

TV-Duelle ansehen und diese dann besonders oft als Hilfe für ihre Wahlentscheidung betrachten. Und diese höhere Motivation der weniger Interessierten ist vermutlich dafür verantwortlich, dass sie die persuasiven Botschaften der Kandidaten ähnlich wahrnehmen wie die stärker Interessierten. Dies bedeutet allerdings auch, dass man unsere Befunde zur TVDuell-Rezeption unter Umständen nur bedingt auf die Wahrnehmung und Verarbeitung alltäglicher politischer Kommunikation übertragen kann. Unsere Überlegungen und Befunde sind also aus mehreren Gründen theoretisch bedeutsam. Gerade weil sich in unseren Analysen keine signifikanten Differenzen zwischen Interessierten und weniger Interessierten zeigen, sollte man bei der Analyse des Zusammenhangs von politischer Persuasion und politischem Involvement künftig bedenken, dass es unter Umständen deutliche Unterschiede zwischen allgemeinem politischem Involvement und dem situationalen Involvement in einer konkreten Rezeptionssituation geben kann. Unsere Befragungsdaten zeigen dies. Es ist also nicht unbedingt immer gerechtfertigt, ein niedriges allgemeines politisches Interesse per se als Indikator für eine niedrigere Rezeptionsmotivation oder eine periphere Verarbeitung von Informationen anzusehen. Gerade in den wichtiger werdenden Endphasen von Wahlkämpfen sind die generell weniger Interessierten unter Umständen auf der Suche nach Informationen und haben deshalb eine hohe Rezeptionsmotivation, die ansonsten bestehende Wahrnehmungsunterschiede zu generell interessierten Rezipienten einebnet. Außerdem sollte man die verschiedenen Phasen des Rezeptions- und Verarbeitungsprozesses stärker in den Blick nehmen, da dies möglicherweise Erklärungsansätze für sich widersprechende Befunde der bisherigen Forschung liefern kann. Schließlich werfen unsere Befunde ein neuerliches Schlaglicht auf die Bedeutung der Inhalte politischer Kommunikation. Denn sie sind es offenbar, die ein Großteil der unmittelbaren Wahrnehmungen und Reaktionen der Zuschauer erklären können – und nicht etwa die politische Involviertheit der Zuschauer. Die Ergebnisse sollten deshalb auch daran erinnern, dass Erklärungen politischer Kommunikationsprozesse ohne die Beachtung der konkreten Inhalte immer unvollständig sein werden. Literatur Bartels, Larry M. (1996): Uninformed Votes. Information Effects in Presidential Elections. In: American Journal of Political Science 40, 194-230. Berelson, Bernard/Lazarsfeld, Paul F./McPhee, William N. (1954): Voting. A Study of Opinion Formation in a Presidential Campaign. Chicago: University Press. Converse, Philip E. (1962): Information Flow and the Stability of Partisan Attitudes. In: Public Opinion Quarterly 26, 578-599. Finkel, Steven E./Schrott, Peter R. (1994): Wählerstimmen durch Wahlkämpfe? Eine Analyse der Bundestagswahl 1990. In: ZUMA-Nachrichten 34, 7-34. Forrest, James A./Feldman, Robert S. (2000): Detecting Deception and Judge’s Involvement. Lower Task Involvement Leads to Better Lie Detection. In: Personality and Social Psychology Bulletin 26, 118-125. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haider-Markel, Donald P./Joslyn, Mark P. (2001): Gun Policy, Opinion, Tragedy, and Blame Attribution. The Conditional Influence of Issue Frames. In: Journal of Politics 63, 520-543.

Leichtgläubig und manipulierbar?

255

Hillygus, D. Sunshine/Jackman, Simon (2003): Voter Decision Making in Election 2000. Campaign Effects, Partisan Activation, and the Clinton Legacy. In: American Journal of Political Science 47, 583-596. Holbrook, Thomas M. (1999): Political Learning from Presidential Debates. In: Political Behavior 21, 67-89. Holbrook, Thomas M. (2002): Presidential Campaigns and the Knowledge Gap. In: Political Communication 19, 437-454. Hwang, Hyunseo/Gotlieb, Melissa R./Nah, Seungahn/McLeod, Douglas M. (2007): Applying a Cognitive-Processing Model to Presidential Debate Effects. Postdebate News Analysis and Primed Reflection. In: Journal of Communication 57, 40-59. Iyengar, Shanto/Kinder, Donald R. (1987): News that Matters. Television and American Opinion. Chicago: University Press. Iyengar, Shanto/Kinder, Donald R./Peters, Mark D./Krosnick, Jon A. (1984): The Evening News and Presidential Evaluations. In: Journal of Personality and Social Psychology 46, 778-787. Janis, Irving L./Hovland, Carl I. (1959): An Overview of Persuability Research. In: Hovland, Carl I./Janis, Irving L. (Hrsg.) (1959): Personality and Persuability. New Haven: Yale University Press. Kepplinger, Hans Mathias/Daschmann, Gregor (1997): Today’s News, Tomorrow’s Context: A Dynamic Model of News Processing. In: Journal of Broadcasting & Electronic Media 41, 548565. Klapper, Joseph T. (1960): The Effects of Mass Communication. New York: Free Press. Kleinhenz, Thomas (1995): Die Nichtwähler. Ursachen der sinkenden Wahlbeteiligung in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag. Krosnick, Jon A./Brannon, Laura A. (1993): The Impact of the Gulf War on the Ingredients of Presidential Evaluations. Multidimensional Effects of Political Involvement. In: American Political Science Review 87, 963-975. Krosnick, Jon A./Kinder, Donald R. (1990): Altering the Foundations of Support for the President through Priming. In: American Political Science Review 84, 497-512. Kuklinski, James H./Quirk, Paul J. (2000): Reconsidering the Rational Public: Cognition, Heuristics, and Mass Opinion. In: Lupia, Arthur/McCubbins, Mathew D./Popkin, Samuel L. (Hrsg.) (2000): Elements of Reason. Cognition, Choice, and the Bounds of Rationality. Cambridge: University Press, 153-182. Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel (1944): The People’s Choice. How the Voter Makes Up His Mind in a Presidential Campaign. New York: Duell, Sloan & Pearce. Lemert, James B. (1993): Do Televised Presidential Debates Help Inform Voters? In: Journal of Broadcasting & Electronic Media 37, 83-94. MacKuen, Michael (1981): Social Communication and the Mass Policy Agenda. In: MacKuen, Michael/Coombs, Steven L. (Hrsg.) (1981): More than News. Media Power in Public Affairs. Beverly Hills/London: Sage, 19-146. Maier, Jürgen (2007): Eine Basis für rationale Wahlentscheidungen? Die Wirkungen des TV-Duells auf politische Kenntnisse. In: Maurer, Marcus/Reinemann, Carsten/Maier, Jürgen/Maier, Michaela (Hrsg.) (2007): Schröder gegen Merkel. Wahrnehmung und Wirkung des TV-Duells 2005 im Ost-West-Vergleich. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 129-143. Maurer, Marcus (2003): Politikverdrossenheit durch Medienberichte. Eine Panelanalyse. Konstanz: UVK. Maurer, Marcus (2007): Wissensvermittlung im Wahlkampf – Ursachen und Folgen politischen Wissenserwerbs im Bundestagswahlkampf 2005. In: Wünsch, Carsten/Früh, Werner/Gehrau, Volker (Hrsg.) (2007): Integrative Modelle in der Rezeptions- und Wirkungsforschung: Dynamische und transaktionale Perspektiven. München: Verlag Reinhard Fischer, 65-80. Maurer, Marcus/Reinemann, Carsten (2009): RTR Measurement in the Social Sciences. Applications, Benefits, and Some Open Questions. In: Maier, Jürgen/Maier, Michaela/Maurer, Mar-

256

Carsten Reinemann, Marcus Maurer

cus/Reinemann, Carsten/Meyer, Vincent (Hrsg.) (2009): RTR-Measurement in the Social Sciences. Frankfurt a.M. (im Erscheinen). Maurer, Marcus/Reinemann, Carsten/Maier, Jürgen/Maier, Michaela (2007): Schröder gegen Merkel. Wahrnehmung und Wirkung des TV-Duells 2005 im Ost-West-Vergleich. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. McGuire, William J. (1968): Personality and Susceptibility to Social Influence. In: Borgatta, Edgar F./Lambert, William W. (Hrsg.) (1968): Handbook of Personality Theory and Research. Chicago: University Press, 1130-1187. McGraw, Kathleen M./Ling, Cristina (2003): Media Priming of Presidential and Group Evaluations. In: Political Communication 20, 23-40. McLeod, Jack M./Becker, Lee B./Byrnes, James E. (1974): Another Look at the Agenda-Setting Function of the Press. In: Communication Research 1, 131-165. Miller, Joanne M./Krosnick, Jon A. (2000): News Media Impact on the Ingredients of Presidential Evaluations. Politically Knowledgeable Citizens are Guided by a Trusted Source. In: American Journal of Political Science 44, 301-315. Noelle-Neumann, Elisabeth (1973): Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt. Ein neuer Ansatz zur Analyse der Wirkung der Massenmedien. In: Publizistik 18, 26-55. Page, Benjamin I. /Robert Y. Shapiro (1992): The Rational Public. Chicago: University of Chicago Press. Petty, Richard E./Cacioppo, John T. (1986): Communication and Persuasion. Central and Peripheral Routes to Attitude Change. New York: Springer. Popkin, Samuel L. (1991): The Reasoning Voter: Communication and Persuasion in Presidential Campaigns. Chicago: University Press. Reinemann, Carsten/Maier, Jürgen/Faas, Thorsten/Maurer, Marcus (2005): Reliabilität und Validität von RTR-Messungen. Ein Vergleich zweier Studien zur zweiten Fernsehdebatte im Bundestagswahlkampf 2002. In: Publizistik 50, 56-73. Rhodes, Nancy/Wood, Wendy (1992): Self-Esteem and Intelligence Affect Influenceability. The Mediating Role of Message Reception. In: Psychological Bulletin 111, 156-171. Schmitt-Beck, Rüdiger (2000): Politische Kommunikation und Wählerverhalten. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Schoen, Harald (2004): Wechselwähler in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland. Politisch versiert oder ignorant? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 34, 99-112. Schweiger, Wolfgang (2007): Theorien der Mediennutzung. Eine Einführung. Wiesbaden. Tardy, Charles H./Gaughan, Billie J./Hemphill, Michael R./Crockett, Nan (1981): Media Agenda and Political Participation. In: Journalism Quarterly 58, 624-627. Weßels, Bernhard (2007): Re-Mobilisierung oder „Floating Voters“? Wahlentscheidungswechsel 2002 und 2005 im Vergleich. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Analysen aus Sicht der Wahlforschung, der Kommunikationswissenschaft und der Parteienforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 395-419. Williams, Wenmouth/Semlak, William (1978): Campaign ’76: Agenda-Setting During the New Hampshire Primary. In: Journal of Broadcasting 22, 531-540. Zaller, John R. (1992): The Nature and Origins of Mass Opinion. New York: Cambridge University Press. Zaller, John R. (1996): The Myth of Massive Media Impact Revived: New Support for a Discredited Idea. In: Mutz, Diana C./Sniderman, Paul M./Brody, Richard A. (Hrsg.) (1996): Political Persuasion and Attitude Change. Ann Arbor: University of Michigan Press, 17-76. Zelle, Carsten (1995): Der Wechselwähler. Politische und soziale Erklärungsansätze des Wählerwandels in Deutschland und den USA. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Leichtgläubig und manipulierbar?

257

Anhang – Frageformulierungen Politisches Interesse: „Einmal ganz allgemein gesprochen – interessieren Sie sich für Politik?“ Interesse an der Bundestagswahl „Wie stark interessieren Sie sich für den Bundestagswahlkampf 2005? Sehr stark, stark, mittelmäßig, weniger stark, überhaupt nicht.“ TV-Duell als Hilfe bei der Wahlentscheidung „Über das Fernsehduell zwischen Schröder und Merkel gibt es ja unterschiedliche Meinungen. Hier stehen einige. Bitte geben Sie jeweils an, ob Sie diesen Meinungen zustimmen. -3 bedeutet, Sie stimmen überhaupt nicht zu, +3 bedeutet, Sie stimmen voll und ganz zu. Mit den Zahlen dazwischen können Sie Ihr Urteil abstufen. ‚Das Fernsehduell hilft mir bei meiner Wahlentscheidung.’“

Michigan reloaded: Antwortlatenzzeiten als Moderatorvariablen in Modellen des Wahlverhaltens Thorsten Faas, Jochen Mayerl

1

Einleitung

Dass der Wähler an sich früher einmal eine feste politische Heimat hatte, inzwischen aber wechselwilliger und sein Wahlverhalten in der Folge volatiler geworden ist, gehört mittlerweile zur Folklore der Wahlforschung. Die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, lassen sich etwa am Beispiel von Umfragen und den daraus häufig abgeleiteten „Prognosen“ im Vorfeld von Wahlen verdeutlichen: Ganz offenkundig wird es zunehmend schwieriger, das Wahlverhalten von Menschen aufgrund von Aussagen, die sie einige Zeit vor dem eigentlichen Wahlgang treffen, vorherzusagen – mit der für die vorhersagenden Institute bitteren Konsequenz, dass ihre Prognosen der großen Gefahr unterliegen, falsch zu sein. Eklatant trat dies im Umfeld der Bundestagswahl 2005 zu Tage: Ganz gleich, ob man der letzten Umfrage aus Allensbach, von Emnid, Forsa, Infratest dimap oder der Forschungsgruppe Wahlen Glauben schenken mochte, sie alle sahen den Stimmenanteil, den die Union bekommen würde, bei über 40 Prozent. Entsprechend groß war die Überraschung, als der Balken der Union am Wahlabend schon bei 35 Prozent aufhörte zu wachsen, und harsch die Kritik an den Meinungsforschern nach der Wahl. Wieder einmal wurde den Demoskopen ein „Debakel“, wenn nicht gar ein „Desaster“ attestiert, sie wurden als die „eigentlichen Wahlverlierer“ identifiziert (siehe FTD 2005; NZZ 2005; Spiegel 2005), während sich die SPD am Ende ihres Wahlkampfes als „Umfragesieger-Besieger“ (Das Parlament 2005) brüsten konnte. Die Bundestagswahl ist dabei keineswegs ein Einzelfall, wie in jüngerer Vergangenheit die bayrische Landtagswahl erneut gezeigt hat. „50 plus x“ oder doch „50 minus x“ für die CSU – das war die Frage, die die Diskussion im Vorfeld dominierte – gestützt auf entsprechenden Umfragen. Mindestens 47, teilweise sogar 50 Prozent wurden für die CSU vorausgesagt – tatsächlich waren es am Ende allerdings nur rund 43 Prozent. Als Reaktion auf solche Entwicklungen hat die ARD zwischenzeitlich ihre Berichterstattung über Vorwahlprognosen erweitert. Im Vorfeld der Hessenwahl 2008 oder der Europawahl 2009 sollte ein nach oben und unten ausschlagender Pfeil signalisieren, dass das „Meinungsklima sehr schwankend“ sei, dass man also der nur Sekunden zuvor gesendeten Prognose nur bedingt trauen könne. Bedenkt man, dass im Bundestagswahlkampf 2005 noch rund fünf Wochen vor der Bundestagswahl nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten in der Lage war anzugeben, welcher Partei sie ihre Stimme geben wollten und selbst am Vorabend der Wahl noch rund ein Viertel der Wahlberechtigten unentschlossen war (Schmitt-Beck 2009; Schmitt-Beck/Faas 2006), so erscheinen solche Vorsichtsmaßnahmen mehr als angebracht. Nun könnte man das Problem als ein vor allem die kommerzielle Wahlforschung (und ihre Prognosebemühungen) betreffendes betrachten – würde damit wohl aber zu kurz grei-

260

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

fen. Auch die akademisch orientierte und stärker um Erklärungen bemühte Wahlforschung sieht sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert – nicht zuletzt wegen der logischen Äquivalenz von Erklärung und Prognose. Das klassische „Michigan-Modell“ von Campbell et al. (1960, siehe auch Schoen/Weins 2005) ist zweifelsohne bis heute das dominierende Modell zur Erklärung der Richtung individueller Wahlentscheidungen, was nicht zuletzt auch in seiner bestechenden Einfachheit begründet liegt. Ein langfristiger – nämlich die Parteiidentifikation – und zwei kurzfristige Faktoren – nämlich Einstellungen gegenüber den aktuellen Kandidaten und Sachfragen – genügten lange Zeit, um individuelle Wahlentscheidungen mit hoher Präzision erklären zu können. Allerdings hat auch die Erklärungskraft dieses Modells nachgelassen – und dies aus zwei Gründen: Weniger Wähler identifizieren sich heutzutage mit einer Partei, zudem hat die Parteiidentifikation selbst für jene Wähler, die noch angeben, eine solche zu haben, an Prägekraft verloren. Auch dies war im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 deutlich erkennbar: Weite Teile der Anhängerschaft der SPD – also der Personen, die sich mit der SPD identifizieren – waren lange Zeit überaus zögerlich, dieser Partei auch ihre Stimme zu geben (Schmitt-Beck 2009). Dem letzten Aspekt – also der Prägekraft vorhandener Parteiidentifikationen – wollen wir uns im Rahmen des vorliegenden Beitrags widmen. Wir wollen der Frage nachgehen, ob es sich lohnt, vorhandene Modelle des Wählerverhaltens um Indikatoren der „Stärke“ von sozialen Options- und Objektbewertungen zu erweitern, um so etwa stärker prägende von weniger einflussreichen Parteiidentifikationen zu unterscheiden (siehe hierzu auch Petty/Krosnick 1995). Grundsätzlich kämen dazu verschiedene Möglichkeiten in Frage. An anderer Stelle (Faas et al. 2000) wurden zu diesem Zwecke subjektive Sicherheitsindikatoren – Sicherheit der Wahlteilnahme, Sicherheit der Wahlabsicht – betrachtet. Im vorliegenden Beitrag wollen wir einen anderen Weg einschlagen und stattdessen nicht-reaktive, „operative“ Indikatoren heranziehen. Aus der Gruppe der implicit attitudes wollen wir die Antwortlatenzzeit – d.h. die Zeit, die eine befragte Person zur Beantwortung von Fragebogenitems benötigt – als Maß der kognitiven chronischen Zugänglichkeit von Parteiidentifikationen und Wahlabsichten in Modelle des Wahlverhaltens integrieren. Konkret wollen wir der Frage nachgehen, ob eine chronisch hoch zugängliche (und damit auch schnell(er) geäußerte) Parteiidentifikation stärker die Kandidatenorientierungen, Kompetenzzuschreibungen und letztlich die Wahlabsicht prägt als eine weniger zugängliche (d.h. langsamer geäußerte); außerdem wollen wir in einem zweiten Schritt prüfen, ob sich eine chronisch hoch zugängliche Vorwahlabsicht in stärkerem Maße auf das in einer Nachwahlwelle erfasste tatsächliche (berichtete) Wahlverhalten auswirkt als weniger hoch zugängliche. Der Aufbau des Beitrags ist dabei wie folgt: Zunächst wollen wir – in aller Kürze – das sozialpsychologische Modell des Wählerverhaltens, vulgo „das Michigan-Modell“ vorstellen; es dann aber sogleich in zweierlei Hinsicht erweitern, nämlich erstens um die explizite Verbindung zwischen (Vorwahl-)Intention und tatsächlicher Entscheidung, zweitens um Latenzzeiten. Da die Erfassung und Verwendung von Latenzzeiten bislang kaum zu den standard operating procedures der Wahlforschung gehört, wollen wir im nächsten Schritt darauf im Detail eingehen, ehe wir schließlich unsere Datenbasis sowie unsere Ergebnisse vorstellen. Wir schließen mit einem Fazit und einer Handlungsempfehlung für zukünftige Wahlstudien.

Michigan reloaded 2

261

Modelle des Wählerverhaltens

2.1 Das sozialpsychologische „Michigan-Modell“ des Wählerverhaltens Das sozialpsychologische Modell des Wählverhaltens – in der Literatur zuweilen auch unter dem Label „Michigan-“ oder „Ann-Arbor-Modell“ firmierend – gehört zu den einflussreichsten Modellen in der Wählerforschung. Zu resümieren, es habe in der Folge seiner Veröffentlichung „erhebliche Resonanz“ (Schoen/Weins 2005) gefunden, klingt immer noch wie eine Untertreibung. Die gängigste Stilisierung des Modells – auch wenn das nicht eins zu eins der ursprünglichen Variante von Campbell et al. (1960) entspricht, wie Schoen und Weins (2005) zeigen – findet sich in Abbildung 1. Kern des Modells ist die Parteiidentifikation – eine langfristig stabile, affektive Bindung eines Bürgers an eine Partei, deren Wurzeln in frühkindlicher Sozialisation vor allem im Elternhaus und dem sozialen Milieu liegen und die sich im Zeitverlauf in der Regel weiter verfestigt. Die Parteiidentifikation ist die langfristig wirksame Komponente des Modells. Im Normalfall wird ihre Richtung im Sinne einer standing decision mit der Richtung der Wahlentscheidung übereinstimmen – sowohl durch eine direkte Verbindung zwischen Identifikation und Wahlentscheidung, als auch indirekt über die beiden kurzfristigen Faktoren, die das Modell umfasst, nämlich Einstellungen gegenüber Kandidaten und Sachfragen. Diese werden – im Sinne eines Wahrnehmungsfilters – durch eine vorhandene Parteiidentifikation „eingefärbt“: Anhänger der SPD werden sozialdemokratischen Kandidaten gegenüber positiver eingestellt sein, sie werden auch eher die inhaltlichen Positionen der SPD teilen. Somit ergibt sich zusätzlich zum bereits skizzierten direkten Effekt noch ein indirekter Effekt der Parteiidentifikation auf die Wahlentscheidung der Bürger. Gleichwohl – auch darauf ist hinzuweisen – können die kurz- und langfristigen Faktoren im Widerspruch zueinander stehen (die norddeutsche Reaktion auf die Kandidatur Stoibers bei der Bundestagswahl 2002 dient hierfür als gutes Beispiel) – mit der möglichen Folge eines von der Parteiidentifikation abweichenden Wahlverhaltens. Abbildung 1:

Das „Michigan-Modell“ des Wahlverhaltens

Kandidaten Parteiidentifikation

Wahlentscheidung Issues

262

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

2.2 Zwei Erweiterungen: Verhaltensintentionen und Antwortlatenzzeiten Obwohl die amerikanischen Wahlstudien der Jahre 1952 und 1956 jeweils aus einer Vorund einer Nachwahlbefragung derselben Personen bestanden haben, spielt die Frage, inwieweit eine vor der Wahl geäußerte Wahlabsicht sich auch tatsächlich in eine entsprechende Wahlentscheidung übersetzt, bei Campbell et al. (1960) nur eine untergeordnete Rolle. Auch in der Folgezeit wurde dieser Frage nur wenig Beachtung geschenkt. Vielmehr wurde – je nach Datenverfügbarkeit – das oben skizzierte Modell entweder mit Wahlabsichten (im Falle von Vorwahlbefragungen) oder berichtetem Wahlverhalten (im Falle von Nachwahlbefragungen) geschätzt. Dabei ist der Zusammenhang zwischen beiden Größen von großem Interesse – nicht zuletzt auch für an Prognosen interessierte Umfrageinstitute. Wir wollen diese Verbindung zwischen Wahlabsicht und tatsächlichem Wahlverhalten im Rahmen des vorliegenden Beitrags explizit in unseren Analysen berücksichtigen. In der Einstellungsforschung ist die Unterscheidung von Verhaltensintentionen und tatsächlichem Verhalten spätestens seit der Theory of Reasoned Action (Ajzen 2005; Ajzen/Fishbein 1980) gängig. Die Intention wird dabei als alleiniger direkter Prädiktor des Verhaltens spezifiziert und nimmt damit eine zentrale Mediatorrolle für Effekte von Einstellungen, Normen und weiteren sozialen Urteilen ein. Übertragen auf den Kontext von Wahlen ließe sich also argumentieren, dass die vorgelagerten Größen des Michigan-Modells – Parteiidentifikation sowie die Einstellungen zu Kandidaten und Sachfragen – die Vorwahlabsicht eines Befragten (im Sinne einer Verhaltensintention) beeinflussen, welche dann wiederum im nächsten Schritt das tatsächliche Verhalten (am Wahltag) bestimmt. Abbildung 2 veranschaulicht dieses erweiterte Modell. Abbildung 2:

Das „Michigan-Modell“ des Wahlverhaltens mit expliziter Unterscheidung zwischen Wahlabsicht und tatsächlichem Wahlverhalten Kandidaten

Parteiidentifikation

Wahlabsicht

Wahlverhalten

Issues

Außerdem wollen wir eine zweite Erweiterung berücksichtigten: In der Einstellungsforschung wird spätestens seit den 1970er-Jahren der Moderatoransatz der Einstellungsstärke diskutiert, mit dem die Hoffnung verbunden war und ist, etwas mehr Licht ins Dunkel der schwankenden und zumeist eher schwachen Einstellungs-Verhaltens-Relation zu bringen. Der Grundgedanke der Einstellungsstärkeforschung ist, dass Einstellungen in ihrer Stärke intra- und interindividuell variieren und dass dies mit erheblichen Konsequenzen verbunden ist. Je stärker eine Einstellung ist, so die zentrale Annahme, desto mehr Einfluss übt sie auf Verhalten und Informationsverarbeitungsprozesse aus, desto persistenter (im Sinne zeitlicher Stabilität) ist diese, und desto resistenter gegenüber Persuasion ist sie (siehe etwa Krosnick/Petty 1995).

Michigan reloaded

263

Im Zusammenhang mit der Stärke von Options- und Objektbewertungen werden eine Reihe von potenziell einschlägigen Dimensionen und Indikatoren diskutiert und empirisch angewendet: In der Literatur finden sich unter anderem Urteilssicherheit, Wichtigkeit, Interesse und Wissen (siehe Abelson 1988; Bassili 1993, 1996a; Krosnick et al. 1993; Petty/Kronsick 1995; Prislin 1996; Raden 1985; Mayerl 2009; Mayerl/Urban 2008). Bassili (1993, 1996a) bezeichnet diese Indikatoren, die auf Selbsteinschätzungen von Befragten basieren, als „Metamaße“. Diesen stellt er „operative“, nicht-reaktive Maße gegenüber. Zu den operativen Maßen zählt die mentale chronische Zugänglichkeit (accessibility) von Urteilen, in der Regel operationalisiert über Antwortlatenzzeiten. Unter der chronischen Zugänglichkeit mentaler Objekte wird dabei ihre „readiness to be used in information processing“ (Eagly/Chaiken 1993: 131) und „the ease with which information is retrieved“ (Shrum/O’Guinn 1993: 440) verstanden. Für Bassili haben operative gegenüber Metamaßen einige entscheidende Vorteile: Metamaße sind erstens nicht im Gedächtnis repräsentiert und damit auch nicht direkt abrufbar, was zur Folge hat, dass sie erst ad hoc generiert und dadurch stärker von situativen Umständen beeinflusst und verzerrt werden können. Zweitens beruhen sie – und dies im deutlichen Unterschied zu operativen Maßen – nicht direkt auf dem zugrunde liegenden kognitiven Prozess von sozialen Urteilen. Schließlich können die operativen Maße sowohl im Prozess der Datenerhebung als auch im Prozess der Datenauswertung ohne größere Probleme erfasst und berücksichtigt werden. Empirisch gemessene Antwortreaktionszeiten sind eine gute Operationalisierung der kognitiven chronischen Zugänglichkeit beliebiger sozialer Urteile. Zumeist wird dies in der Literatur für Einstellungen vorgenommen (siehe etwa Bassili/Fletcher 1991; Brömer 1999; Fazio 1989, 1990; Huckfeldt/Sprague 2000; Stocké/Langfeldt 2003), ebenso möglich ist dies aber auch bei Verhaltensintentionen (siehe etwa Bassili 1995; Doll/Ajzen 1992; Goschke/Kuhl 1993; Mayerl/Urban 2007; Stein/Johnson 2001) und ganz konkret der Parteiidentifikation (Grant et al. 2000; Huckfeldt et al. 1999). Letzteres steht auch im Fokus der nachfolgenden Analysen. Die Annahme dabei lautet, dass Respondenten umso weniger Zeit zwischen der Fragepräsentation und der Äußerung ihrer Parteiidentifikation bzw. Verhaltensintention benötigen, je kognitiv chronisch zugänglicher die Parteiidentifikation bzw. Verhaltensintention für sie ist (siehe hierzu ausführlich Mayerl/Urban 2008). Abbildung 3:

Das „Michigan-Modell“ des Wahlverhaltens mit expliziter Unterscheidung von Wahlabsicht und tatsächlichem Wahlverhalten und zusätzlicher Berücksichtigung von Antwortlatenzzeiten Kandidaten LZ

L Z

Parteiidentifikation

L Z

Wahlabsicht

LZ

Issues

Wahlverhalten

264

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

Angewandt auf das Modell des Wahlverhaltens, wie es oben hergeleitet worden ist, bedeutet dies für die einzelnen spezifizierten Kausaleffekte der Parteiidentifikation und der Wahlabsicht, dass die jeweilige chronische Zugänglichkeit – gemessen über Latenzzeiten (in der Abbildung abgekürzt mit „LZ“) – als Moderator wirkt (Abbildung 3). Die Parteiidentifikation sollte daher einen signifikant höheren Einfluss auf Kandidatenbewertungen, Issue-Einschätzungen und die Wahlabsicht ausüben, wenn sie mental tief verankert (d.h. chronisch hoch zugänglich) ist und daher schnell in der Vorwahlstudie geäußert wird; dies im Unterschied zu einer wenig zugänglichen und daher zögerlicher geäußerten Parteiidentifikation. Entsprechend gilt für die Wahlabsicht, dass sich diese als verhaltensrelevanter erweisen sollte, wenn sie (in der Vorwahlwelle) kognitiv hoch zugänglich ist. Setzt man diese Überlegungen in Hypothesenform um, so können folgende Hypothesen formuliert werden, die nachfolgend in der empirischen Analyse statistisch überprüft werden sollen: H1: Kognitiv hoch zugängliche individuelle Parteiidentifikationen beeinflussen Kandidatenbewertungen, Issue-Einschätzungen und Wahlabsichten stärker als nicht oder weniger hoch zugängliche Parteiidentifikationen. H2: Kognitiv hoch zugängliche individuelle Wahlabsichten beeinflussen tatsächliches Wahlverhalten stärker als nicht oder weniger hoch zugängliche Wahlabsichten. Auf operationaler Ebene lassen beide Hypothesen also jeweils stärkere Effekte bei kurzen Antwortlatenzzeiten erwarten. Statistisch-methodisch betrachtet handelt es sich dabei um Moderatoreffekte, die nachfolgend empirisch mittels Interaktionseffekten in OLS- und logistischen Regressionsmodellen geschätzt werden – allerdings erst, nachdem einige notwendige Erläuterungen zur Methode der Antwortreaktionszeitmessung vorgestellt wurden. 3

Zur Erfassung und Verwendung von Latenzzeiten

Die Messung von Reaktionszeiten zur Erhebung latenter mentaler Prozesse hat in der (Sozial-)Psychologie eine bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition (siehe Bassili 2000; Faust et al. 1999).1 Für den Einsatz von Antwortreaktionszeitmessungen in CATISurveys sind die Arbeiten der Forschergruppe um Bassili von zentraler Bedeutung (Bassili 1993, 1995, 1996a, 1996b; Bassili/Fletcher 1991), die auch dem Einsatz von Antwortreaktionszeitmessungen in repräsentativen Bevölkerungsumfragen den Weg bereitet haben. Bisher haben sich jedoch bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Mayerl/Urban 2008; Urban/Mayerl 2007)2 fast ausschließlich Studien der angelsächsischen Surveyforschung mit der Erhebung von Reaktionszeiten in CATI-Surveys beschäftigt (z.B. Bassili/Krosnick 2000; Fletcher 2000; Grant et al. 2000; Huckfeldt et al. 1998; Johnson et al. 2002; Lavine et al. 2000; Mulligan et al. 2003; Stein/Johnson 2001). Der Standard in CATI-Surveys mit 1 2

Die nachfolgenden Ausführungen können nur grob in die Reaktionszeitmethode einführen. Detaillierte Angaben finden sich z.B. bei Mayerl und Urban (2008). Stocké (2002, 2003, 2006) hat solche Messungen auch bei CAPI-Studien eingesetzt.

Michigan reloaded

265

Reaktionszeitmessungen ist die so genannte „aktive Zeitmessung“. Hierbei lösen die Interviewer unmittelbar nach dem Vorlesen der Frage die Zeitmessung in der CATI-Software aus. Beginnt die befragte Person zu antworten, wird die Zeitmessung (üblicherweise in Hundertstel- oder Millisekunden)3 durch den Interviewer beendet. Die so erfassten Daten sind allerdings nur das Rohmaterial. Antwortreaktionszeiten hängen von vielen Bestimmungsfaktoren ab, die nicht im theoretischen Interesse des Forschers liegen und stattdessen die Interpretation erschweren (siehe Fazio 1990; Mayerl/Urban 2008). Die Identifikation und letztlich Kontrolle dieser Störfaktoren ist bei der Analyse von Antwortreaktionszeiten von zentraler Bedeutung. Der wichtigste post-hoc statistisch zu kontrollierende Störfaktor ist die individuelle Basisgeschwindigkeit eines jeden Befragten, definiert als die (vom Frageinhalt unabhängige) mentale Grundgeschwindigkeit eines Individuums. Begrifflich wird daher die Reaktionszeit von der Latenzzeit unterschieden: Letzteres bezeichnet die statistisch um die individuelle Basisgeschwindigkeit bereinigte Antwortreaktionszeit. Die Notwendigkeit der Basisgeschwindigkeitsbereinigung kann leicht verdeutlicht werden: Würde diese nicht kontrolliert, dann wären manche Befragte generell bei allen Fragen langsamer als andere Befragte, auch wenn die Person in Relation zu ihrer eigenen Grundgeschwindigkeit durchaus an bestimmten Stellen deutlich schneller und an anderen wiederum deutlich langsamer geantwortet hat. Zur statistischen Kontrolle der Basisgeschwindigkeit wurden mehrere Verfahren vorgeschlagen (z.B. Fazio 1990; Mayerl/Urban 2008). Eine Möglichkeit ist die Anwendung einer einfachen bivariaten Regression der Ziel-Reaktionszeit auf die Basisgeschwindigkeit, bei der die Residuen abgespeichert werden. Diese werden sodann als Latenzzeit in weiteren statistischen Analysen verwendet (sog. „Residual-Index“, siehe auch Mayerl et al. 2005). Als Maß der Basisgeschwindigkeit werden idealiter Reaktionszeiten zu Items verwendet, die nicht Teil der inhaltlich interessierenden Analyse sind. Liegen diese nicht vor, so kann als Proxy-Variable auch die befragtenspezifische Gesamtdauer des Interviews als Maß der Basisgeschwindigkeit verwendet werden. Die Reihe der notwendigen Bereinigungen ist damit allerdings noch nicht beendet. Weitere Maßnahmen bestehen erstens in der Identifikation ungültiger Reaktionszeiten und zweitens in der möglichen statistischen Behandlung von Verteilungsproblemen und der Aggregierung der Daten. Zur Identifikation von ungültigen Zeitmessungen können sowohl Validierungsangaben der Interviewer verwendet (sofern solche erfasst wurden) als auch statistische Outlier bestimmt und aus der Analyse ausgeschlossen werden (z.B. mittels des in der empirischen Sozialforschung geläufigen Schwellenwerts „arithmetisches Mittel plus/minus zwei Standardabweichungen“, siehe etwa Amelang/Müller 2001; Bassili/Fletcher 1991). Da Reaktionszeiten typischerweise rechtsschief verteilt sind, können eventuelle Verteilungsprobleme per Logarithmierung behandelt werden, was insbesondere dann an Bedeutung gewinnt, wenn die Reaktionszeit als abhängige Variable modelliert wird. Schließlich bietet es sich der Einfachheit halber an, die Reaktionszeiten zu gruppieren (z.B. „kurz versus lang“). Dafür hat sich die Anwendung eines Mediansplits etabliert. Dies 3

In CATI-Surveys sind Hundertstelsekunden ausreichend. Gröbere Auflösungen (z.B. Zehntelsekunden oder Sekunden) sind im Normalfall nicht zu empfehlen, da z.B. Einstellungsfragen zumeist im Bereich von ein bis zwei Sekunden beantwortet werden und dadurch Reaktionszeitmessungen in Sekunden zu wenig Varianz liefern. Bei komplexeren sozialen Urteilen (z.B. Verhaltensintentionen) können hingegen durchaus auch weniger genaue Auflösungen sinnvoll verwendet werden, wie wir im Weiteren auch zeigen.

266

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

hat darüber hinaus den Vorteil, dass sich erst nach der Aggregierung Effekte ergeben können, wenn dadurch nämlich arbiträre Unterschiede im Millisekunden- oder Hundertstelsekundenbereich verschwinden (siehe hierzu Fazio 1990). 4

Daten und Operationalisierung

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen können wir nun zu unserer eigenen empirischen Analyse kommen. Grundlage ist eine anlässlich der Bundestagswahl 2005 durchgeführte Studie, deren Kernelement eine zweiwellige Panelerhebung – bestehend aus einer Vorwahlund einer Nachwahlerhebung – ist.4 Die Vorwahlwelle wurde in der Zeit vom 8. August bis zum 17. September 2005 als CATI-Erhebung realisiert und umfasst 3583 zufällig ausgewählte Befragte aus der Grundgesamtheit der deutschsprachigen, in Privathaushalten mit mindestens einem Festnetzanschluss lebenden Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, die zur Bundestagswahl 2005 wahlberechtigt war. Die Erhebung der zweiten Panelwelle begann am Montag nach der Bundestagswahl (also dem 19. September); insgesamt 2420 Befragte konnten in ihrem Rahmen erneut interviewt werden.5 Aus den obigen Ausführungen folgt, dass aus der Vorwahlwelle die Parteiidentifikation, Einstellungen zu Kandidaten und Sachfragen sowie die Wahlabsicht benötigt werden. Der Nachwahlwelle ist schließlich das berichtete Wahlverhalten der Befragten zu entnehmen. Da sich die genauen Frageformulierungen im Anhang des Beitrags finden, genügen hier einige grundsätzliche Anmerkungen zu unserem weiteren Vorgehen. Alle Modelle – sowohl die vorwahlimmanenten Modelle zur Erklärung der kurzfristigen Einstellungen sowie der Wahlabsicht als auch das wellenübergreifende Modell mit Intention und Verhalten – werden jeweils getrennt für SPD und Union geschätzt. Dies hat Implikationen für die Codierung der Variablen: Die Parteiidentifikation wurde mit der in Deutschland üblichen Frage erhoben; darauf aufbauend wurden zwei dichotome Variable gebildet, die anzeigen, ob sich ein Befragter mit der SPD (bzw. der Union) identifiziert oder aber einer anderen oder keiner Partei zuneigt.6 Was Kandidatenorientierungen betrifft, greifen wir auf elfstufige Sympathieskalometer für Gerhard Schröder bzw. Angela Merkel zurück. Um (parteibezogene) Einstellungen zu Sachfragen zu erhalten, wird auf eine Batterie von drei Valenzissues zurückgegriffen, zu denen die Befragten jeweils angeben sollten, welche Partei ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage sei, die jeweiligen Politikziele (weniger Ar4

5 6

Die Studie „Kampagnendynamik 2005“ wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert, Primärforscher der Studie sind Rüdiger Schmitt-Beck und Thorsten Faas. Die Vorwahlwelle der Studie wurde dabei als Rolling Cross-Section durchgeführt. Mit diesem Design eignet sie sich in besonderem Maße für die Analyse dynamischer Prozesse der Kristallisierung und Veränderung von Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensabsichten von Wählern, da ihr Ziel ist, dass nicht nur alle Befragten zusammen, sondern auch die Befragten jedes einzelnen Tages jeweils in sich eine Zufallsstichprobe aus der Grundgesamtheit konstituieren (siehe Johnston/Brady 2002, Schmitt-Beck et al. 2006). Im Rahmen des vorliegenden Beitrags spielt dieser Aspekt allerdings nur eine untergeordnete Rolle; wir verwenden die Daten hier als ein herkömmliches Panel mit einer Vorwahl- und einer Nachwahlwelle. Die Feldarbeit für beide Wellen oblag dem Institut Ipsos (Mölln). Für weitere Details der Studie siehe Schmitt-Beck et al. (2006). Auch Personen, die „weiß nicht“ angeben, zählen wir zu dieser Kategorie. Einzig Personen, die eine Antwort verweigern, werden ausgeschlossen.

Michigan reloaded

267

beitslosigkeit, familienfreundlichere Gesellschaft, besseres Bildungssystem) zu erreichen. Wir verwenden eine Zählvariable für SPD bzw. Union, die anzeigt, in wie vielen dieser Politikfelder die jeweilige Partei als kompetent angesehen wird (und die damit einen Wertebereich von null bis drei hat). Vorwahlabsichten wurden schließlich anhand der Frage, welche Partei die Befragten am Wahltag wählen wollen, codiert, wiederum einmal für SPD, einmal für Union.7 Aus der Nachwahlwelle wird analog dazu die Wahlentscheidung codiert. SPD-Modelle werden dabei mit den SPD-bezogenen Variablen geschätzt, UnionsModelle analog mit Unions-bezogenen Variablen. Im Rahmen der Studie wurden auch für bestimmte Fragen Reaktionszeiten erfasst – von den hier interessierenden Fragen trifft dies auf die Parteiidentifikation sowie die Vorwahlabsicht zu.8 Die technische Umsetzung sah vor, dass der Interviewer nach dem Vorlesen der Frage unmittelbar eine Taste drücken sollte, um die Zeitmessung zu starten, die dann mit der Eingabe der Antwort des Befragten wieder gestoppt wurde. Diese Reaktionszeiten wurden sekundengenau erfasst, was keinesfalls optimal, aber bei der Latenzzeitanalyse von komplexen Fragen wie Verhaltensintentionen und Parteiidentifikationen immer noch für ausreichend Varianz sorgt.9 Da – wie oben skizziert – die so gewonnenen Zeiten nicht als solche verwendet werden können, wurden sie für die folgenden Analysen aufbereitet. Dies beinhaltete zunächst die Bereinigung von Ausreißern. Sowohl bezogen auf einzelne, fragebezogene Reaktionszeiten als auch bezogen auf die Dauer des Interviews insgesamt wurden Befragte aus Analysen ausgeschlossen, die um mehr als zwei Standardabweichungen vom jeweiligen Mittelwert abweichen.10 In einem zweiten Schritt wurden die Reaktionszeiten standardisiert, um sie interpersonal vergleichbar zu machen. Dazu wurden die fragespezifischen Reaktionszeiten per bivariater Regression ins Verhältnis zur Dauer des Interviews insgesamt gesetzt. So wurde die Basisgeschwindigkeit der Befragten kontrolliert. Die verbleibenden Residuen zeigen im Sinne des oben skizzierten Residual-Index‘ die fragespezifische Latenzzeit. Diese wiederum wurde anhand des Median dichotomisiert. Es werden also Personen, die – relativ zu ihrer jeweiligen Basisgeschwindigkeit – überdurchschnittlich lange zur Beantwortung der Frage nach der Parteiidentifikation bzw. der Vorwahlabsicht gebraucht haben, jenen Personen gegenüberstellt, die dabei (für ihre jeweiligen Standards) überdurchschnittlich schnell waren.

7 8 9

10

Befragte, die angeben, „wahrscheinlich nicht“ oder „bestimmt nicht“ zur Wahl gehen zu wollen, erhalten dabei den Wert null. Gleiches gilt erneut für Befragte, die mit „weiß nicht“ antworten. Unser Dank gilt an dieser Stelle Rüdiger Schmitt-Beck, auf dessen Idee und Initiative hin die Latenzzeiten erfasst wurden, ohne die der vorliegende Beitrag nicht möglich gewesen wäre. Für die Reaktionszeiten bei der Parteiidentifikation ergeben sich (unbereinigte) Werte zwischen 0 und 121 Sekunden; der Median liegt bei vier Sekunden. Die analogen Werte für die Vorwahlintention betragen 1, 175 sowie 6 Sekunden. Zeitvalidierungsangaben durch Interviewer stehen im vorliegenden Datensatz nicht zur Verfügung. Die zuvor angegebenen Medianwerte verändern sich durch die skizzierte Bereinigung nicht, lediglich die Spanne reduziert sich auf den Bereich von 0 bis 22 (Parteiidentifikation) bzw. 1 bis 28 (Vorwahlintention). 179 (Parteiidentifikation) bzw. 140 (Vorwahlintention) Fälle werden dadurch ausgeschlossen.

268 5

Thorsten Faas, Jochen Mayerl Empirische Ergebnisse

5.1 Der Einfluss der Parteiidentifikation … 5.1.1 … auf Kandidatenorientierungen und Kompetenzeinschätzungen Kommen wir damit zu den empirischen Ergebnissen, zunächst mit Blick auf die Funktion der Parteiidentifikation als Filter, der die Wahrnehmung der kurzfristigen Faktoren – Kandidaten, Sachfragen – beeinflusst. Tabelle 1 zeigt die entsprechenden Ergebnisse für die jeweiligen Spitzenkandidaten von SPD und Union, jeweils in zwei Modellschritten einer OLS-Regression. Modell A bestätigt nochmals den bekannten Befund, dass eine Parteiidentifikation als Wahrnehmungsfilter fungiert: Mit einer Parteiidentifikation zugunsten der SPD steigt auch das Ansehen von Gerhard Schröder um rund 2,6 Skalenpunkte (auf einer elfstufigen Skala), das Umgekehrte gilt für die Union und ihre Spitzenkandidatin. Tabelle 1: Einfluss der Parteiidentifikation auf Kandidatenorientierungen (unstandardisierte Regressionskoeffizienten einer OLS-Regression) SPD Parteiidentifikation (PI) Kurze Latenzzeit PI (kLZ) PI * kLZ Konstante N Korr. R2

Modell A 2,58*** 0,63*** 3192 0,18

Modell B 2,16*** -0,45*** 0,81*** 0,84*** 3192 0,19

Union Modell A Modell B 2,63*** 2,38*** -0,19# 0,47* *** 0,20 0,29*** 3192 3192 0,18 0,18

Signifikanzniveaus: # p < 0,1, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001 Hinweis: Die Kandidatenorientierungen wurden auf elfstufigen Skalen von –5 bis +5 erfasst; SPD-Kandidat Schröder wird im Mittel mit einem Wert von 1,4 bewertet, Unions-Kandidatin Merkel mit 0,9, dies jeweils bei einer Standardabweichung von 2,8.

Interessanter im hiesigen Kontext sind die Ergebnisse des Modells B – weniger hinsichtlich der direkten Effekte der dichotomisierten Latenzzeiten,11 sondern vielmehr mit Blick auf den Interaktionseffekt. Sowohl im SPD- als auch im Unions-Modell werden unsere Erwartungen gemäß Hypothese H1 bestätigt: Wer rasch eine SPD-Identifikation angibt und damit eine kognitiv stark verankerte Parteiidentifikation besitzt, bewertet Schröder statistisch hoch signifikant besser (um 0,81 Skalenpunkte), dies bei Kontrolle für die beiden Haupteffekte. Im Merkel-Modell ist der Effekt etwas kleiner (0,47 Skalenpunkte), aber nichtsdestotrotz gegeben und statistisch hoch signifikant. Insgesamt ist somit an dieser Stelle festzuhalten: Wenn wir die Modelle um Latenzzeiten erweitern, lernen wir mehr über die Einstellungswelt unserer Befragten.

11

Solche direkten Haupteffekte der Latenzzeiten treten in Interaktionsmodellen häufig auf (z.B. Mayerl/Urban 2008: 107f.), sind aber zumeist inhaltlich nicht von Interesse. Stattdessen dient die Schätzung der Haupteffekte vornehmlich der statistischen Kontrolle, sodass geprüft werden kann, ob der Interaktionseffekt selbst bei Kontrolle der beiden Haupteffekte statistisch signifikant ist.

Michigan reloaded

269

Tabelle 2 liefert die analogen Befunde für die Kompetenzzuschreibungen – mit analogen Ergebnissen. Auch hier zeigt sich, dass die Parteiidentifikation dazu führt, dass die jeweils zugehörige Partei auf mehr Politikfeldern als kompetent angesehen wird: Bei der SPD sind dies im Durchschnitt 1,10 Politikfelder, bei der Union sogar 1,45 – erwartungsgemäß. Bemerkenswerter sind auch hier die Befunde in den erweiterten Modellen. Sie bestätigen erneut gemäß Hypothese H1 für Union und SPD, dass zugänglichere Identifikationen (die in der Folge schneller geäußert werden) eine höhere Prägekraft haben – beide Interaktionsterme haben ein positives Vorzeichen und erweisen sich als statistisch signifikant. Tabelle 2: Einfluss der Parteiidentifikation auf Kompetenzzuschreibungen (unstandardisierte Regressionskoeffizienten einer OLS-Regression) SPD Parteiidentifikation (PI) Kurze Latenzzeit PI (kLZ) PI * kLZ Konstante N Korr. R2

Modell A 1,10*** 0,56*** 3189 0,25

Modell B 0,93*** -0,10** 0,31*** 0,60*** 3189 0,25

Union Modell A Modell B 1,45*** 1,35*** -0,01 0,17* *** 0,75 0,75*** 3189 3189 0,34 0,34

Signifikanzniveaus: # p < 0,1, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001 Hinweis: Die Kompetenzzuschreibungen wurden als Zählvariable über drei Sachfragen hinweg erfasst und haben daher einen Wertebereich von null (Partei bei keiner Sachfrage kompetent) bis drei (Partei in allen Sachfragen kompetent). Für die SPD resultiert hier ein Mittelwert von 0,9, für die Union von 1,1, dies bei Standardabweichungen von 1,0 bzw. 1,1.

5.1.2 … auf die Vorwahlabsicht Betrachten wir im nächsten Schritt die Wahlabsicht der Befragten als abhängige Variable; die entsprechenden Ergebnisse zeigt Tabelle 3 (aufgrund der dichotomen abhängigen Variablen Wahlabsicht handelt es sich nunmehr um logistische Regressionen). Modell A schafft lediglich einen Referenzwert, trägt aber ansonsten nur bekannte Eulen nach Athen: Parteiidentifikation, Kandidatenorientierungen und Kompetenzeinschätzungen – all diese Faktoren wirken sich in signifikanter Art und Weise auf die Wahlabsicht von Befragten aus. Interessanter ist erneut die Antwort auf die Frage, wie sich die Modelle verändern, wenn man sie um Latenzzeiten ergänzt. Gemäß Hypothese H1 ist auch hier zu erwarten, dass ein signifikanter Interaktionseffekt zwischen Parteiidentifikation und ihrer kognitiven Zugänglichkeit auftritt. Tatsächlich geht erneut von diesen Latenzzeiten (in Interaktion mit den zugehörigen Parteiidentifikationen) ein signifikanter Effekt aus: Schnelle PIs prägen Vorwahlintentionen in stärkerem Maße als langsame, so könnte man etwas salopp formulieren. Dies gilt erneut in beiden Fällen – sowohl für SPD als auch Union. Allerdings steht die Frage noch aus, wie bedeutsam der resultierende Unterschied tatsächlich ist. Um diese Frage zu beantworten, sind die ausgewiesenen Logit-Koeffizienten nur bedingt hilfreich. Deutlicher wird das Ausmaß des Einflusses, wenn man die Logit-Koeffizienten in zuge-

270

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

hörige Wahrscheinlichkeiten übersetzt (und dabei die Kompetenzeinschätzungen und Kandidatenorientierungen auf ihren jeweiligen Mittelwerten fixiert). Tut man dies, ergibt sich für eine zögerlich geäußerte SPD-Parteiidentifikation eine Wahrscheinlichkeit einer Wahlabsicht zugunsten der Sozialdemokraten von rund 30 Prozent. Für eine schnell geäußerte Identifikation dagegen ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit von 42 Prozent. In den Unions-Modellen ergeben sich analoge Werte von 41 zu 59 Prozent. In beiden Fällen also führt die Berücksichtigung der Antwortgeschwindigkeiten zu erheblichen Unterschieden in den vorhersagten Wahrscheinlichkeiten der zugehörigen Wahlabsichten. Tabelle 3: Einfluss von Parteiidentifikation, Kandidatenorientierung und Kompetenzzuschreibung auf die Wahlabsicht (Logit-Koeffizienten) SPD Parteiidentifikation (PI) Kandidatenorientierung Kompetenzzuschreibung Kurze Latenzzeit PI (kLZ) PI * kLZ Konstante N R2 (McKelvey/Zavoina) R2 (McFadden)

Modell A 2,14*** 0,37*** 0,85***

Modell B 1,73*** 0,36*** 0,84***

Union Modell A Modell B 2,47*** 1,90*** *** 0,36 0,36*** *** 0,91 0,91***

-3,97*** 3010 0,62 0,46

-0,30 0,84*** -3,83*** 3010 0,62 0,46

-0,48** 1,22*** -3,64*** 3010 0,67 0,54

-3,85*** 3010 0,67 0,53

Signifikanzniveaus: # p < 0,1, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

5.2 Einfluss der Vorwahlabsicht Vertreter von Umfrageinstituten, deren Herzensanliegen Wahlprognosen (oder -projektionen) sind, mögen die bisherigen Befunde mit wohlwollendem Interesse zur Kenntnis nehmen. Wirklich interessieren sollte sie dagegen der letzte Schritt unserer Analyse: Können wir durch die Berücksichtigung von Latenzzeiten etwas darüber lernen, welche Vorwahlabsichten mehr Vertrauen genießen als andere? Zur Beantwortung dieser Frage überprüfen wir empirisch Hypothese H2, wonach kognitiv hoch zugängliche Wahlabsichten einen stärkeren Einfluss auf das tatsächliche Wahlverhalten haben sollten als nicht oder weniger hoch zugängliche. Wie Tabelle 4 zeigt, ist auch dies der Fall, d.h. der Interaktionseffekt einer kurzen Latenzzeit mit der Wahlabsicht ist statistisch hoch signifikant und wirkt in erwarteter Richtung. Die Geschwindigkeit, mit der Vorwahlabsichten geäußert werden, besitzt also zusätzlichen Informationsgehalt. Schneller geäußerte Vorwahlabsichten übersetzen sich mit größerer Wahrscheinlichkeit in ein dazu passendes Wahlverhalten als langsamer geäußerte. Dies gilt erneut sowohl für Vorwahlabsichten zugunsten der SPD als auch für solche zugunsten der Union.

Michigan reloaded

271

Tabelle 4: Einfluss der Wahlabsicht auf das Wahlverhalten (Logit-Koeffizienten)

Wahlabsicht Kurze Latenzzeit Absicht (kLZ) Wahlabsicht * kLZ Konstante N R2 (McKelvey/Zavoina) R2 (McFadden)

SPD Modell A Modell B *** 2,48*** 2,97 -0,60*** 1,04*** *** -1,66 -1,41*** 2103 2103 0,34 0,36 0,27 0,28

Union Modell A Modell B *** 3,48 2,77*** -0,36* 1,27*** *** -2,22 -2,08*** 2103 2103 0,42 0,44 0,37 0,38

Signifikanzniveaus: # p < 0,1, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

Die Effektstärke wird erneut besser ersichtlich, wenn man die Koeffizienten in entsprechende Wahrscheinlichkeiten einer tatsächlichen Wahl von SPD bzw. Union übersetzt. Für die SPD gilt dabei, dass sich eine zögerlich geäußerte Vorwahlabsicht mit einer Wahrscheinlichkeit von 74 Prozent in entsprechendes Wahlverhalten übersetzt. Im Falle einer schnell geäußerten Intention steigt der Wert auf 82 Prozent! Noch stärker sind die Effekte im Falle der Union: Von 67 Prozent steigt der Wert auf 83 Prozent.12 6

Fazit

Mit dem vorgestellten Beitrag haben wir das Ziel verfolgt, das klassische „Michigan-Modell“ zur Erklärung von Wahlverhalten um neuere Erkenntnisse aus der Einstellungs-Verhaltens-Forschung zu erweitern. Außer der expliziten Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Wahlabsichten und tatsächlichem Wahlverhalten stand dabei insbesondere die kognitive chronische Zugänglichkeit von Objekt- und Optionsbewertungen – d.h. in unserem Fall: von Parteiidentifikationen und Wahlabsichten – im Blickpunkt. Die chronische Zugänglichkeit wurde dabei mittels statistisch aufbereiteter Antwortreaktionszeiten bei der Beantwortung der Fragen nach Parteiidentifikationen und Wahlabsichten operationalisiert. Im methodisch-statistischen Sinne fungiert die kognitive Zugänglichkeit im Erklärungsmodell des Wahlverhaltens als Moderatorvariable, derzufolge jeweils eine höhere Prädiktorstärke von der Parteiidentifikation (auf Kandidatenorientierungen, Kompetenzeinschätzungen und Wahlabsichten) und der Wahlabsicht (auf tatsächliches Wahlverhalten) ausgeht, wenn diese kognitiv hoch zugänglich sind und demnach ihre Antwortreaktionszeiten kurz ausfallen. Diese Annahmen konnten wir in unseren empirischen Analysen bestätigen, und dies zur Absicherung der Ergebnisse für Wahlmodelle sowohl der SPD als auch der Union.

12

Man kann an dieser Stelle zusätzlich den zeitlichen Abstand zwischen der Messung der Vorwahlintention und des berichteten Verhaltens (in der Nachwahlwelle) in die Modelle aufnehmen. Tatsächlich zeigt sich dann in beiden Fällen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine geäußerte Intention nicht in entsprechendes Verhalten übersetzt, mit diesem zeitlichen Abstand steigt, im Falle der Union ist dieser Effekt sogar statistisch signifikant. Entscheidend für unsere Analyse ist an dieser Stelle allerdings, dass die Effekte der Latenzzeiten (in Interaktion mit den Vorwahlabsichten) davon unberührt bleiben.

272

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

Für die Anwendung von Antwortlatenzzeiten, die durch computergestützte Erhebungsverfahren auch in Bevölkerungsumfragen mit großen Stichproben leicht und kostengünstig durchzuführen sind,13 hat sich anhand unserer Analysen gezeigt, dass diese sinnvoll zur Erweiterung der Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens eingesetzt werden können. Mit ihrer Hilfe gewinnt man, so unsere Ergebnisse, nicht nur einen tieferen Einblick in die Wirkmechanismen, die den Modelleffekten von Wahlmodellen zugrunde liegen, sondern auch eine (gewisse) Steigerung der Prognosefähigkeit von tatsächlichem Wahlverhalten. In diesem Sinne kann die Anwendung von Antwortlatenzzeiten auch für zukünftige empirische Wahlstudien nachdrücklich und uneingeschränkt empfohlen werden, zumal unserer Einschätzung nach kaum eine Alternative zur nicht-reaktiven Messung der kognitiven Zugänglichkeit sozialer Urteile in computergestützten Bevölkerungsumfragen zur Verfügung steht. Literatur Abelson, Robert P. (1988): Conviction. In: American Psychologist 43, 267-275. Ajzen, Icek/Fishbein, Martin (1980): Understanding Attitudes and Predicting Social Behavior. London et al.: Prentice-Hall. Ajzen, Icek (2005): Attitudes, Personality and Behaviour. Maidenhead: Open University Press, 2. Auflage. Amelang, Manfred/Müller, Jörg (2001): Reaktionszeit-Analysen der Beantwortung von Eigenschaftswörtern. In: Psychologische Beiträge 43, 731-750. Bassili, John N./Fletcher, Joseph F. (1991): Response-Time Measurement in Survey Research – A Method for Cati and a New Look at Nonattitudes. In: Public Opinion Quarterly 55, 331-346. Bassili, John N. (1993): Response Latency Versus Certainty as Indexes of the Strength of Voting Intentions in a Cati Survey. In: Public Opinion Quarterly 57, 54-61. Bassili, John N. (1995): Response Latency and the Accessibility of Voting Intentions: What Contributes to Accessibility and How it Affects Vote Choice. In: Personality and Social Psychology Bulletin 21, 686-695. Bassili, John N. (1996a): Meta-judgmental versus operative indexes of psychological attributes: The case of measures of attitude strength. In: Journal of Personality and Social Psychology 71, 637-653. Bassili, John N. (1996b): The How and Why of Response Latency Measurement in Telephone Surveys. In: Schwarz, Norbert/Sudman, Seymour (Hrsg.) (1996): Answering Questions. Methodology for Determining Cognitive and Communicative Process in Survey Research. San Francisco: Jossey-Bass, 319-346. Bassili, John N. (2000): Editor’s Introduction: Reflections on Response Latency Measurement in Telephone Surveys. In: Political Psychology 21, 1-6.

13

So berichten Mayerl und Urban (2008: 12), dass selbst bei der Anwendung von Zeitvalidierungsangaben pro Frage (d.h. Angaben über die Gültigkeit der jeweiligen Zeitmessung) durch den Interviewer (was in der vorliegenden Studie aufgrund der Datenlage nicht berücksichtigt werden konnte) die Interview-Gesamtdauer eines 30-minütigen Interviews nur um etwa 80 Sekunden verlängert wird, was als sehr gering einzustufen ist. Ein Kostenargument kann also selbst bei einer Erweiterung der Reaktionszeitmessung um Validierungsangaben der Interviewer nicht gegen die Anwendung von Antwortreaktionszeiten in Umfragen angeführt werden.

Michigan reloaded

273

Bassili, John N./Krosnick, Jon A. (2000): Do Strength-Related Attitude Properties Determine Susceptibility to Response Effects? New Evidence from Response Latency, Attitude Extremity, and Aggregate Indices. In: Political Psychology 21, 107-132. Brömer, Philip (1999): Informationsverarbeitung bei ambivalenten Einstellungen. Regensburg: Roderer. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York: Wiley. Das Parlament (2005): Der „Umfragesieger-Besieger“. http://www.das-parlament.de/2005/36/Thema/^^ 003.html (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Doll, Jörg/Ajzen, Icek (1992): Accessibility and Stability of Predictors in the Theory of Planned Behavior. In: Journal of Personality and Social Psychology 63, 754-765. Eagly, Alice H./Chaiken, Shelly (1993): The Psychology of Attitudes. Fort Worth: Harcourt Brace Jovanovich. Faas, Thorsten/Evers, Barbara/Wagner, Sandra (2000): Mit Sicherheit zum Erfolg? Sicherheit der Wahlbeteiligung und Sicherheit der Wahlabsicht als Möglichkeit zur Qualifizierung der Wahlabsichten bei Wahlprognosen. In: Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W. (Hrsg.) (2000): Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich. Opladen: Leske+Budrich, 675–703. Faust, Mark E./Balota, David A./Spieler, Daniel H./Ferraro, F. Richard (1999): Individual Differences in Information-Processing Rate and Amount: Implications for Group Differences in Response Latency. In: Psychological Bulletin 125, 777-799. Fazio, Russell H. (1989): On the Power and Functionality of Attitudes: The Role of Attitude Accessibility. In: Pratkanis, Anthony R./Breckler, Steven J./Greenwald, Anthony G. (Hrsg.) (1989): Attitude, Structure and Function. Hillsdale, NJ: Erlbaum, 153-179. Fazio, Russell H. (1990): A Practical Guide to the Use of Response Latency in Social Psychological Research. In: Hendrick, Clyde A./Clark, Maragaret S. (Hrsg.) (1990): Review of Personality and Social Psychology Vol. 11. Research Methods in Personality and Social Psychology. Newbury Park, CA: Sage Publications, 74-97. Fletcher, Joseph F. (2000): Two-Timing: Politics and Response Latencies in a Bilingual Survey. In: Political Psychology 21, 27-55. FTD (2005): Gallup-Institut kritisiert deutsche Meinungsforscher. http://www.ftd.de/pw/de/ 23035.html (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Goschke, Thomas/Kuhl, Julius (1993): Representation of Intensions: Persisting Activation in Memory. In: Journal of Experimental Psychology – Learning, Memory, and Cognition 19, 1211-1226. Grant, J. Tobin/Mulligan, Kenneth/Mockabee, Stephen T./Monson, Quin (2000): Response Time Methodology for Survey Research. Papier aus dem Meeting der ‚Midwest Political Science Association’ im April in Chicago. Huckfeldt, Robert/Beck, Paul Allen/Dalton, Russell J./Levine, Jeffrey/Morgan, William (1998): Ambiguity, Distorted Messages, and Nested Environmental Effects on Political Communication. In: Journal of Politics 60, 996-1030. Huckfeldt, Robert/Levine, Jeffrey/Morgan, William/Sprague, John (1999): Accessibility and the Political Utility of Partisan and Ideological Orientations. In: American Journal of Political Science 43, 888-911. Huckfeldt, Robert/Sprague, John (2000): Political Consequences of Inconsistency: The Accessibility and Stability of Abortion Attitudes. In: Political Psychology 21, 57-79. Johnson, Martin/Shively, W. Philips/Stein, Robert M. (2002): Contextual Data and the Study of Elections and Voting Behavior: Connecting Individuals to Environment. In: Electoral Studies 21, 219-233. Johnston, Richard/Brady, Henry E. (2002): The Rolling Cross-Section Design. In: Electoral Studies 21, 283-295.

274

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

Krosnick, Jon A./Boninger, David S./Chuang, Yao C./Berent, Matthew K./Carnot, Catherine G. (1993): Attitude Strength: One Construct or Many Related Constructs? In: Journal of Personality and Social Psychology 65, 1132–1151. Krosnick, Jon A./Petty, Richard E. (1995): Attitude Strength: An Overview. In: Petty, Richard E./Krosnick, Jon A. (Hrsg.) (1995): Attitude Strength: Antecedents and Consequences. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1-24. Lavine, Howard/Borgida, Eugene/Sullivan, John L. (2000): On the Relationship Between Attitude Involvement and Attitude Accessibility: Toward a Cognitive-Motivational Model of Political Information Processing. In: Political Psychology 21, 81-106. Mayerl, Jochen/Sellke, Piet/Urban, Dieter (2005): Analyzing cognitive processes in CATI-Surveys with response latencies: An empirical evaluation of the consequences of using different baseline speed measures. Schriftenreihe des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart SISS 2/2005. Mayerl, Jochen/Urban, Dieter (2007): Der Tsunami-Faktor: Die Naturkatastrophe als temporärer Verstärker der Beziehung zwischen Spendenabsicht und Spendenverhalten. In: Soziale Probleme 1, 90-108. Mayerl, Jochen (2009): Kognitive Grundlagen sozialen Verhaltens. Framing, Einstellungen und Rationalität. Wiesbaden: VS Verlag. Mayerl, Jochen/Urban, Dieter (2008): Antwortreaktionszeiten in Survey-Analysen: Messung, Auswertung und Anwendungen. Wiesbaden: VS Verlag. Mulligan, Kenneth/Grant, J. Tobin/Mockabee, Stephen T./Monson, Joseph Quin (2003): Response Latency Methodology for Survey Research: Measurement and Modeling Strategies. In: Political Analysis 11, 289-301. NZZ (2005): Deutschlands Wahlforscher als Verlierer. http://www.nzz.ch/2005/09/21/al/ articled5s9a_1.171601.html (zuletzt abgerufen am 27. Oktober 2009). Petty, Richard E./Krosnick, Jon A. (1995): Attitude Strength: Antecedents and Consequences. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum. Prislin, Radmila (1996): Attitude Stability and Attitude Strength: One is Enough to Make it Stable. In: European Journal of Psychology 26, 447-477. Raden, David (1985): Strength-Related Attitude Dimensions. In: Social Psychology Quarterly 48, 312-330. Schmitt-Beck, Rüdiger/Faas, Thorsten/Holst, Christian (2006): Der Rolling Cross-Section Survey – ein Instrument zur Analyse dynamischer Prozesse der Einstellungsentwicklung. Bericht zur ersten deutschen RCS-Studie anlässlich der Bundestagswahl 2005. In: ZUMA-Nachrichten 58, 13-49. Schmitt-Beck, Rüdiger/Faas, Thorsten (2006): The Campaign and its Dynamics at the 2005 German General Election. In: German Politics 15, 393–419. Schmitt-Beck, Rüdiger (2009): Kampagnendynamik im Bundestagswahlkampf 2005. In: Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard/Falter, Jürgen W. (Hrsg.) (2009): Wahlen und Wähler: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: VS Verlag, 146-176. Schoen, Harald/Weins, Cornelia (2005): Der sozialpsychologische Ansatz zur Erklärung von Wahlverhalten. In: Falter, Jürgen W./Schoen, Harald (Hrsg.) (2005): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS Verlag, 187-242. Shrum, L. J./O’Guinn, Thomas C. (1993): Processes and Effects in the Construction of Social Reality. Construct Accessibility as an Explanatory Variable. In: Communication Research 20, 436-471. Spiegel (2005): Dichter Nebel. http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html? id=41868968&top=SPIEGEL (zuletzt aufgerufen am 27. Oktober 2009). Stein, Robert M./Johnson, Martin (2001): Who Will Vote? The Accessibility of Intention to Vote and Validated Behaviorat the Ballot Box. Presentation Script for the Annual Meeting of the American Political Science Association, August/September 2001, San Francisco. Houston: Rice University.

Michigan reloaded

275

Stocké, Volker (2002): Die Vorhersage von Fragenreihenfolgeeffekten durch Antwortlatenzen: Eine Validierungsstudie. In: ZUMA-Nachrichten 50, 26-53. Stocké, Volker (2003): Informationsverfügbarkeit und Response-Effects: die Prognose von Einflüssen unterschiedlich kategorisierter Antwortskalen durch Antwortsicherheiten und Antwortlatenzen. In: ZA-Information 52, 6-36. Stocké, Volker/Langfeldt, Bettina (2003): Umfrageeinstellung und Umfrageerfahrung: die relative Bedeutung unterschiedlicher Aspekte der Interviewerfahrung für die generalisierte Umfrageeinstellung. In: ZUMA-Nachrichten 52, 55-90. Stocké, Volker (2006): Attitudes Toward Surveys, Attitude Accessibility and the Effect on Respondents’ Susceptibility to Nonresponse. In: Quality & Quantity 40, 259-288. Urban, Dieter/Mayerl, Jochen (2007): Antwortlatenzzeiten in der survey-basierten Verhaltensforschung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59, 692-713.

Anhang: Frageformulierungen Parteiidentifikation (Vorwahl) In Deutschland neigen viele Leute längere Zeit einer bestimmten politischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Und wenn ja, welcher? [keine Antwortvorgaben vorgelesen] Kandidatenbewertung (Vorwahl) Bitte sagen Sie mir nun, was Sie von einigen führenden Politikern halten. Benutzen Sie dafür bitte wieder das Thermometer von +5 bis -5. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von dem Politiker halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von ihm halten. Wenn Ihnen ein Politiker nicht ausreichend bekannt ist, brauchen Sie ihn natürlich nicht einzustufen. a) Was halten Sie von Gerhard Schröder? b) Was halten Sie von Angela Merkel? Kompetenzeinschätzungen (Vorwahl) Bitte sagen Sie mir nun zu jedem dieser drei Ziele, welche Partei Ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage ist, dieses Ziel zu erreichen. a) Das erste Ziel: die Arbeitslosigkeit bekämpfen – welche Partei ist Ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage, dieses Ziel zu erreichen? b) Das zweite Ziel: eine familienfreundlichere Gesellschaft schaffen – welche Partei ist Ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage, dieses Ziel zu erreichen? c) Das dritte Ziel: das Bildungssystem verbessern – welche Partei ist Ihrer Meinung nach am ehesten in der Lage, dieses Ziel zu erreichen? [jeweils ohne vordefinierte Antwortvorgaben] Wahlabsicht (Vorwahl) Wenn Wahlen stattfinden, geben viele Leute ihre Stimme ab, andere kommen nicht dazu, ihre Stimme abzugeben, oder nehmen aus anderen Gründen nicht an der Wahl teil. Nun findet am 18. September die nächste Bundestagswahl statt, wie ist es da bei Ihnen? Werden Sie da bestimmt zur Wahl gehen, wahrscheinlich zur Wahl gehen, vielleicht zur Wahl gehen, wahrscheinlich nicht oder bestimmt nicht zur Wahl gehen? Und welche Partei werden Sie dann wählen? (Falls „wahrscheinlich nicht“ oder „bestimmt nicht“: Und welche Partei würden Sie wählen, einmal angenommen, Sie gingen zur Wahl?) [Ohne vordefinierte Antwortvorgaben]

276

Thorsten Faas, Jochen Mayerl

Berichtetes Wahlverhalten (Nachwahl) Bei der Bundestagswahl am 18. September gab es viele Bürger, die aus guten Gründen nicht an der Wahl teilnehmen konnten oder wollten. Wie war es bei Ihnen: haben Sie gewählt oder haben Sie nicht gewählt? Und welche Partei haben Sie bei der Bundestagswahl am 18. September mit Ihrer Zweitstimme gewählt? [Ohne vordefinierte Antwortvorgaben]

Kognitive und affektive Einflüsse auf Einstellungen in direktdemokratischen Kampagnen Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

1

Einleitung1

In neuerer Zeit beschäftigt sich eine Reihe von Studien mit dem Einfluss von Affekten, Emotionen oder Stimmungen auf politische Entscheidungen. Ein Grossteil der Forschung stammt dabei aus den USA und fokussiert dementsprechend auf Präsidentschaftswahlen (Isbell et al. 2006). Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist das Forschungsinteresse in Europa an dieser Frage weniger stark ausgeprägt. Vereinzelt finden sich Studien, die den Emotionseinfluss auf politische Einstellungen oder politisches Verhalten untersuchen (Montada/Schneider 1989; Opp 1986; Schoen 2006). Die Bedeutung von Emotionen, Affekten oder Stimmungen bei der Entscheidungsbildung über politische Sachfragen in Abstimmungen wurde bislang kaum untersucht. Dieser Frage widmet sich die vorliegende Untersuchung. In einem ersten Schritt wird auf die Ergebnisse bisheriger Studien zum Affekteinfluss auf Einstellungen und Präferenzen bei Wahlen eingegangen. Anschließend wird der Unterschied zwischen politischen Entscheidungen bei Wahlen im Vergleich zu Abstimmungen herausgearbeitet. Darauf baut die empirische Studie auf, die den Einfluss von Affekten im Zusammenhang mit einer Abstimmung über die Asylgesetzverschärfung in der Schweiz im September 2006 untersucht. 2

Der Einfluss von Affekten auf politische Entscheidungen

Die erste systematische Untersuchung zum Einfluss von Affekten auf politische Einstellungen zu Präsidentschaftskandidaten stammt von Abelson et al. (1982). In dieser und auch in den nachfolgenden Studien wird Affekt als Überbegriff für Emotionen, Stimmungen oder Gefühle gegenüber politischen Kandidaten oder anderen Einstellungsobjekten verstanden. Dabei ist vor allem die Valenzdimension von Emotionen gemeint. Mit anderen Worten: Es wird unterschieden, inwiefern Wählerinnen und Wähler negative Emotionen, wie Angst oder Ärger, oder positive Emotionen, wie Freude oder Hoffnung, gegenüber politischen Kandidaten empfinden. Für diese Studien spielen aber differenzielle Emotionen, also beispielsweise Unterschiede zwischen negativen Emotionen, in der Regel keine bedeutsame Rolle (vgl. aber Conover/Feldman 1986; Montada/Schneider 1989). Weiter wird davon ausgegangen, dass Affekte unabhängig von Charakterbewertungen oder kognitiven Ein1

Der Beitrag entstand innerhalb des Forschungsprojektes „The strategies and processes of attitude formation and public participation“, das im Rahmen eines Nationalen Forschungsschwerpunktes (NCCR) „Challenges to Democracy in the 21st Century“ am IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich durchgeführt und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert wird.

278

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

schätzungen, z.B. der wahrgenommenen Kompetenz und Problemlösungsfähigkeit von politischen Kandidaten, sind. Beispielsweise haben Abelson et al. (1982) in zwei Studien Wählerinnen und Wähler befragt, inwiefern sie gegenüber unterschiedlichen Präsidentschaftskandidaten positive und negative Emotionen empfinden. Gleichzeitig wurde nach Charakterbewertungen (beispielsweise mutig, voreingenommen oder ehrlich) zu diesen Politikern gefragt. Schließlich wurden die Befragten gebeten, ihre Kandidatenpräferenz mittels eines Feeling-Thermometers anzugeben. In der Analyse wurde dann diese Kandidatenpräferenz auf positive und negative Affekte sowie auf positive und negative Charakterbewertungen regrediert und dabei die Parteiidentifikation kontrolliert. Im Ergebnis zeigt sich erstens, dass positive und negative Affekte (ebenso wie die Charakterbewertungen) gegenüber politischen Kandidaten unabhängige Affektdimensionen sind. Zweitens können die Autoren belegen, dass bei manchen Kandidaten (z.B. Kennedy) sowohl positiver als auch negativer Affekt gleichermaßen signifikante Prädiktoren für die Präferenz sind. Gleichzeitig sind affektive Bewertungen wichtiger für die Kandidatenpräferenz als Charakterbewertungen gegenüber Kennedy. Bei Reagan waren positive Charakterbewertungen am wichtigsten, negativer Affekt hatte ebenfalls einen Einfluss auf die Kandidatenpräferenz, positiver Affekt hingegen nicht (Abelson et al. 1982). In der Folge wurde eine Vielzahl von Studien durchgeführt, die ähnlich vorgingen und den Einfluss von positivem und negativem Affekt unter anderem auf Kandidateneinstellungen (Granberg/Brown 1989; Marcus/MacKuen 1993; Ottati 1997), Einstellungen gegenüber Minderheiten (Haddock/Zanna 1993; Kuklinski et al. 1991; Stangor et al. 1991), gegenüber Umweltrisiken (Karger/Wiedemann 1998), der Todesstrafe (Haddock/Zanna 1998), der Abtreibung (Breckler/Wiggins 1989) oder der wirtschaftlichen Entwicklung (Conover/Feldman 1986) untersucht haben. Die meisten Studien wurden dabei im US-amerikanischen Raum durchgeführt. Nur vereinzelt finden sich Studien im europäischen oder deutschsprachigen Raum. Opp (1986) zeigt etwa, dass Angst ein bedeutsamer Prädiktor für die Bereitschaft ist, sich an der Antikernkraftbewegung zu beteiligen. Montada und Schneider (1989) belegen, dass z.B. Ärger über das Unrecht gegenüber sozial Benachteiligten bedeutsam für prosoziales Verhalten ist. In einer neueren Studie untersucht Schoen (2006) den Einfluss von Angst auf politische Einstellungen. Dabei zeigt sich, dass Angst im Zusammenhang mit dem Golfkrieg Anfang der 1990er-Jahre dazu führte, dass ein deutscher Truppeneinsatz in der Golfregion abgelehnt wurde. Gleichzeitig führte Angst zu einer schlechteren Bewertung der damaligen Regierung, während sich die Bewertung der Opposition unter dem Einfluss von Angst verbesserte. Insgesamt kommt man auf Basis der bisherigen Studien zu dem Schluss, dass Emotionen einen bedeutsamen Einfluss auf politische Einstellungen haben. Allerdings weist die Durchsicht früherer Studien auch auf einige Desiderate hin: Erstens ist die Forschung – von Ausnahmen abgesehen – auf den US-amerikanischen Raum beschränkt. Zweitens sind die meisten Studien Querschnittstudien und können daher keine Aussage über die Veränderung des Affekteinflusses im Laufe einer Kampagne treffen. Drittens liegt der Schwerpunkt der empirischen Studien bislang auf der Untersuchung von affektiven Einflüssen auf Kandidaten- und Parteipräferenzen. D.h. der Affekteinfluss auf Urteile und Einstellungen im Zusammenhang mit Sachfragen in Themenkampagnen wurde weitaus seltener untersucht.

Kognitive und affektive Einflüsse in direktdemokratischen Kampagnen

279

Zur Bedeutung von Emotionen bei direktdemokratischen Entscheidungen liegen also keine empirischen Befunde vor. Man kann aber annehmen, dass sich die Entscheidungssituation bei Wahlen bzw. Abstimmungen im Rahmen von direktdemokratischen Verfahren unterscheiden und daher auch Unterschiede im Affekteinfluss auf Einstellungen auftreten können. 3

Der Einfluss von Affekten bei Wahlen vs. Abstimmungen

Obwohl Wahlen und Abstimmungen einige Gemeinsamkeiten aufweisen, gibt es zugleich eine Reihe von Unterschieden, die zu der Annahme führen, dass Emotionen bei Abstimmungen weniger bedeutsam sind als bei Wahlen. Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Wahlen wie Abstimmungen sind politische Akte der Entscheidung durch das Volk, die politische Akteure zur Ausübung von Macht legitimieren (vgl. hierzu etwa Jenkins/Mendelsohn 2001; LeDuc 2002; Mittendorf 2002). Der Einfachheit halber wird im Weiteren nicht weiter zwischen unterschiedlichen Formen von Abstimmungen unterschieden (vgl. hierzu Kriesi 2005). Beide Legitimationsvorgänge stellen Kommunikationsereignisse dar, die mehr oder weniger stark von Kampagnen begleitet werden, die sowohl auf Aufmerksamkeit als auch Unterstützung durch den Souverän zielen (Jenkins/Mendelsohn 2001; Mittendorf 2002). Bei genauerer Betrachtung finden wir jedoch einige Unterschiede zwischen Wahlen und Abstimmungen, die für die vorliegende Frage – Emotionseinfluss auf politische Entscheidungen der Wähler – relevant sind: Durch Wahlen erhalten politische Akteure „generalisierte Handlungsmacht, die auf unverbindlicher Einhaltung von Versprechungen beruht“ (Mittendorf 2002: 281; siehe hierzu auch Bader/Behnke in diesem Band). Bei Abstimmungen hingegen geht es primär um konkrete Problemlösungsvorschläge. Wählerinnen und Wähler haben bei Abstimmungen konkrete Erwartungshaltungen in Bezug auf ein zu lösendes Problem, bei Wahlen ist die Erwartungshaltung sehr unspezifisch, weil sie sich kaum auf konkrete Maßnahmen richtet. Ein weiterer Unterschied ist der kognitive Anspruch an den Souverän. Bei Wahlen dürfte der kognitive Anspruch geringer sein, weil kaum über konkrete Sachfragen entschieden wird, sondern über das politische Personal. Bei Abstimmungen hingegen ist ein Mindestmaß an kognitivem Aufwand notwendig, ansonsten können die zur Abstimmung stehenden konkreten politischen Alternativen nicht beurteilt werden (Jenkins/Mendelsohn 2001; Mittendorf 2002). Der für die vorliegende Fragestellung wichtigste Unterschied bezieht sich auf die Kampagnen, die Wahlen bzw. Abstimmungen begleiten. In Wahlen spielen die politischen Kandidaten und Kommunikationsstrategen eine zentrale Rolle in der Kampagne. Bei Abstimmungen kann zwar auch eine zunehmende Personalisierung der Kampagne attestiert werden (vgl. etwa de Vreese/Semetko 2004; Marcinkowski 2007). Allerdings agieren bei Abstimmungen neben dem politischen Personal und Parteien auch Interessenverbände unterschiedlichster Couleur in der Kampagne. Mittendorf (2002; vgl. auch Jenkins/Mendelsohn 2001; Kriesi 2005: 12) vermutet denn auch, dass bei Abstimmungen die Kommunikation von konkreten Maßnahmen im Mittelpunkt steht, während bei Wahlen die personenbezogene Kommunikation zentral ist. Diese Unterscheidung kann man auch als Image- vs. Issue-Orientierung bezeichnen (vgl. etwa Kaid 2004). Wahlen sind stärker image-orientiert, d.h. die Wahlkampf-

280

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

kommunikation dreht sich vermehrt um das Image des politischen Personals bzw. der Parteien als Akteure. Abstimmungen sind eher issue-orientiert, weil die Kommunikation stärker auf die Vermittlung von Sachthemen gerichtet ist, über die abgestimmt wird (vgl. Mittendorf 2002). Eine Reihe von experimentellen Studien zeigt, dass etwa politische Werbung oder Botschaften bei Wahlen, die das Image von Kandidaten auf Kosten politischer Standpunkte zu einem Thema in den Vordergrund stellen, Rezipienten stärker emotional ansprechen (Dalto et al. 1994; Kaid 2004). In der Studie von Dalto et al. (1994) zeigt sich beispielsweise, dass eine Rede von Präsident Bush positivere Emotionen hervorruft, wenn sie image-orientiert ist, also wenn die Persönlichkeit des Präsidenten im Fokus steht und nicht so sehr die politische Substanz des Themas. Mit der Unterscheidung zwischen Image- und Issue-Orientierung ist jedoch nicht gemeint, dass Abstimmungskampagnen per se issue-orientiert und Wahlen per se image-orientiert sind. Es handelt sich um graduelle Unterschiede, die auch davon abhängen, welche Themen in den zugehörigen Kampagnen behandelt werden. Bei manchen Themen, die zur Abstimmung kommen, mögen Emotionen eine geringere Rolle spielen, bei anderen Themen wiederum eine größere (vgl. hierzu etwa LeDuc 2002). Beispielsweise eignen sich Themen wie Ausländerpolitik, Innere Sicherheit oder Terrorbekämpfung sehr gut für emotionalisierende Kampagnen, sei es bei Wahlen oder bei Abstimmungen. Letztlich ist es eine empirische Frage, welchen Einfluss Emotionen für die Urteilsbildung bei Abstimmungen haben. 4

Forschungsfragen und Methode

Aufbauend auf diesen Überlegungen und in Anlehnung an frühere Studien zur Rolle von Affekten bei Wahlen wurde eine Panelbefragung durchgeführt. Die Befragung fand im Rahmen einer Kampagne im Jahr 2006 in der Schweiz statt, bei der es um die Verschärfung des Asylgesetzes ging. Genauer gesagt sah ein Gesetzesvorschlag eine Verschärfung des Asylgesetzes vor, gegen den die Gegner insbesondere aus der politischen Linken die Möglichkeit des Referendums ergriffen (vgl. zur Koalitionsbildung im Detail Kriesi et al. 2008). Dabei umfasste die Gegnerschaft der Asylgesetzverschärfung sowohl die politische Linke (SP, Grüne), Kirchen, Menschenrechtsorganisationen als auch Intellektuelle aus Kunst und Literatur. Die bürgerlichen und konservativen Parteien (CVP, SVP, FDP) waren mehrheitlich für eine Verschärfung des Asylgesetzes. Um die Bedeutung des Emotionseinflusses bemessen zu können, ist ein Vergleich zu anderen Einflussgrößen notwendig. In den Studien von Abelson et al. (1982) sowie in Nachfolgestudien wird in der Regel getestet, wie stark der Emotionseinfluss im Vergleich zu kognitiven Bewertungen, z.B. Kompetenzbewertungen bei Kandidaten oder die Zustimmung zu Argumenten bei Themeneinstellungen ist. In der vorliegenden Studie wird daher die Forschungsfrage untersucht, welchen Einfluss affektive im Unterschied zu kognitiven Faktoren auf die Einstellung zum Asylgesetz haben. Da bei Abstimmungskampagnen konkrete Problemlösungsstrategien im Mittelpunkt stehen, sind Gegner und Befürworter in der Kampagne darum bemüht, Pro- und Contra-Argumente zu vermitteln, um Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen. Argumente sollen die Wählerschaft kognitiv ansprechen und überzeugen. Daher kann man die für die Kampagne wichtigen Argumente als kognitive

Kognitive und affektive Einflüsse in direktdemokratischen Kampagnen

281

Aspekte oder Bewertungen verstehen, die im Unterschied zu affektiven Faktoren die Einstellung beeinflussen sollten. Außerdem wird in einer zweiten Forschungsfrage untersucht, wie sich diese Einflüsse im Verlauf der Kampagne ändern. Man könnte beispielsweise vermuten, dass politische Kampagnen einen „aufklärenden“ Einfluss haben und Wählerinnen und Wähler mit fortschreitender Kampagne mit den für die Abstimmung relevanten Argumenten versorgt werden, die dann bedeutsamer für ihre Einstellung zum jeweiligen Sachverhalt werden (vgl. etwa Gelman/King 1993). Andererseits könnte mit dem nahenden Abstimmungssonntag aber auch die Emotionalisierung der Kampagne steigen, weil politische Akteure durch Affektappelle zu mobilisieren versuchen (Brader 2006). 4.1 Stichprobe und Durchführung der Befragung Die Abstimmung über die Verschärfung des Asylgesetzes fand am 24. September 2006 statt. Die Asylgesetzverschärfung wurde von 67,8 Prozent der Stimmbürgerinnen und -bürger gutgeheißen. Die erste von drei Wellen der Panelbefragung dauerte vom 4. bis zum 20. Juli 2006, die zweite vom 28. August bis zum 2. September 2006, und die letzte Welle folgte direkt im Anschluss an die Abstimmung (vom 25. bis zum 30. September 2006). Die zweite Befragungswelle wurde kurz vor den Zeitpunkt gelegt, zu dem die Abstimmungsunterlagen verschickt wurden. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Befragten nicht schon per Briefpost abgestimmt haben. Die Stichprobe umfasste in der Schweiz Stimmberechtigte und ist repräsentativ für die deutsch- und französischsprachige Schweiz. Die erste Welle umfasste 1725 realisierte Interviews, die zweite 1415 und die dritte 1094. Die vorliegende Analyse basiert auf den Daten von Befragten, die zu allen drei Zeitpunkten befragt werden konnten. Aufgrund von fehlenden Werten bei einigen Fragen reduziert sich das Sample auf letztlich 1037 Fälle. 4.2 Messung Um den Emotionseinfluss auf die Einstellungsbildung zu erheben, wurden positive und negative Emotionen gegenüber Asylbewerbern abgefragt. Als negative Emotionen gegenüber Asylbewerbern wurden drei Items gewählt: Angst, Ärger und Unbehagen (Cronbachs D = 0,73 in Welle 1, 0,76 in Welle 2 und 0,78 in Welle 3). Als positive Emotionen wurden ebenfalls drei Items abgefragt: Freude, Hoffnung und Stolz (Cronbachs D = 0,72 in Welle 1, 0,78 in Welle 2 und 0,79 in Welle 3).2 Eine konfirmatorische Faktoranalyse belegt die Zweidimensionalität des Konstrukts. Analog wurden kognitive Bewertungen im Zusammenhang mit der Asylgesetzverschärfung erhoben. Die kognitiven Bewertungen umfassten die in der Kampagne wichtigen Argumente für bzw. gegen die Asylgesetzverschärfung. Diese wurden aus dem Kampag2

In einer Vorstudie wurden weitere Emotionen abgefragt, z.B. Traurigkeit oder Zufriedenheit. Die vorliegenden Items wiesen jedoch die höchste Reliabilität auf und wurden daher in der Panelstudie abgefragt. Mit Blick auf die bisherigen Studien (z.B. Abelson et al. 1982; Brader 2006) dürfte es sich auch um die bei politischen Sachverhalten bedeutsamsten Emotionen handeln.

282

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

nenmaterial von Gegnern und Befürwortern sowie aus ersten Medienberichten zum Thema extrahiert und in einer ersten Studie (repräsentative Befragung in der Deutschschweiz, Juni 2006, N = 500) getestet. Die wichtigsten Argumente der Gegner der Asylgesetzverschärfung bezogen sich auf den Schutz der Menschenrechte der Asylbewerber und die Wahrung der humanitären Tradition der Schweiz. Die Zustimmung zu diesen Contra-Argumenten wurde mit drei Items gemessen (z.B. „Die Grundrechte der Asylbewerber müssen geschützt werden“, Cronbachs D = 0,61 in Welle 1, 0,65 in Welle 2 und 0,68 in Welle 3). Die Pro-Argumente stellten ebenfalls Kognitionen dar und bezogen sich auf die Argumente der Befürworter einer Verschärfung. Dabei argumentierten die Befürworter mit einer Effizienzsteigerung bzw. Missbrauchsbekämpfung. Zur Messung wurden drei Items abgefragt (z.B. „In der Asylpolitik braucht es einen effizienteren Vollzug“, Cronbachs D = 0,73 in Welle 1, 0,77 in Welle 2 und 0,82 in Welle 3). Auch hier bestätigt eine konfirmatorische Faktoranalyse die Zweidimensionalität des Konstrukts. Die Items zu affektiven und kognitiven Einflussgrößen wurden auf fünfstufigen Ratingskalen abgefragt (von 1 „stimme voll und ganz zu“ bis 5 „stimme überhaupt nicht zu“). Als Kontrollvariablen wurden erhoben: Geschlecht (52 Prozent weiblich), Alter (M = 48,18, SD = 17,11), Bildung (höchster Bildungsabschluss, 68 Prozent hatten keine (Fach-)Hochschulreife), Links-Rechts-Selbsteinschätzung (zehnstufige Skala von 1 „links“ bis 10 „rechts“) und allgemeines politisches Interesse („Wie interessiert sind Sie eigentlich im Allgemeinen an der Politik?“ 1 „überhaupt nicht interessiert“ bis 4 „sehr interessiert“). Als zentrale abhängige Variable wurde die Einstellung zum Asylgesetz mit einem Item erhoben („Ich bin für eine Verschärfung der Asylpolitik in der Schweiz“, 1 „stimme überhaupt nicht zu“ bis 10 „stimme voll und ganz zu“).3 Die Kontrollvariablen wurde nur zum ersten Messzeitpunkt erhoben, alle anderen Variablen in allen drei Wellen. 5

Ergebnisse der Panelstudie

Um den affektiven im Unterschied zum kognitiven Einfluss auf die Einstellung zum Asylgesetz zu analysieren, wurde für alle drei Befragungswellen separat eine schrittweise Regression gerechnet. In einem ersten Schritt wurde die Einstellung auf die Kontrollvariablen regrediert, dann zusätzlich auf die kognitiven Bewertungen und schließlich auf die affektiven Faktoren. Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle dargestellt (Tabelle 1). Erstens zeigt sich, dass die Kontrollvariablen über alle Befragungswellen hinweg einen Erklärungsanteil von etwa einem Viertel an der Varianz der Einstellung haben. Bildung und LinksRechts-Selbsteinschätzung sind signifikante Prädiktoren der Einstellung zum Asylgesetz. Befragte mit niedrigeren Bildungsgraden und solche Befragte, die sich weiter rechts im politischen Spektrum einordnen, sind für eine Verschärfung des Asylgesetzes. Die weiteren Kontrollvariablen sind nicht mit der Einstellung zum Asylgesetz assoziiert.

3

Diese Einstellungsmessung korreliert zwischen 0,65 in Welle 1 und 0,76 in Welle 3 mit dem beabsichtigten Stimmverhalten bzw. mit dem berichteten Stimmverhalten. Der Einfachheit halber wird im vorliegenden Fall die quasi-metrische Einstellungsmessung als abhängige Variable verwendet. Die Ergebnisse ändern sich nicht elementar, wenn das beabsichtigte Stimmverhalten als abhängige Variable verwendet wird.

Kognitive und affektive Einflüsse in direktdemokratischen Kampagnen

283

Der zweite wichtige Befund bezieht sich auf den Einfluss von Kognitionen, d.h. die Zustimmung zu Pro- und Contra-Argumenten. Die Zustimmung zu den Pro- und ContraArgumenten zusammen liefern einen stärkeren Erklärungsanteil an der Einstellung als die Kontrollvariablen. Je stärker die Zustimmung zu Argumenten der Befürworter, desto eher sind die Befragten für die Asylgesetzverschärfung. Umgekehrt führt die Zustimmung zu den Argumenten der Verschärfungsgegner zu einer Ablehnung der Asylgesetzverschärfung. Im Vergleich zeigt sich darüber hinaus, dass die Zustimmung zu Pro-Argumenten die Einstellung zum Asylgesetz über alle Befragungswellen hinweg stärker beeinflusst als die Zustimmung zu Contra-Argumenten. Die höhere Bedeutsamkeit von Pro-Verschärfungsargumenten für die Einstellung der Befragten verdeutlicht die in der Bevölkerung verbreitete Präferenz für eine Verschärfung der Asylgesetzgebung. Tabelle 1: Einfluss von Emotionen, Kognitionen und Kontrollvariablen auf die Einstellung zum Asylgesetz (schrittweise Regression, standardisierte Regressionskoeffizienten des Gesamtmodells) Einflussfaktoren Block 1: Kontrollvariablen Geschlecht Alter Bildung Links-Rechts-Selbsteinschätzung Politisches Interesse

Einstellung zur Asylgesetzverschärfung Welle 1 Welle 2 Welle 3 -0,01 0,00 -0,11*** 0,16*** -0,01

-0,01 0,01 -0,04* 0,12*** -0,05

-0,04 -0,01 -0,08*** 0,13*** 0,01

Block 2: Kognitionen Zustimmung zu Pro-Argumenten Zustimmung zu Contra-Argumenten

0,44*** -0,18***

0,54*** -0,13***

0,54*** -0,16***

Block 3: Affekte Negative Emotionen Positive Emotionen

0,15*** -0,07**

0,16*** -0,10***

0,11*** -0,02

Varianzerklärung 0,26*** R2 (Block 1) 2 ¨R (Block 2) 0,29*** 2 0,02*** ¨R (Block 3) 2 Korr. R (Gesamtmodell) 0,57*** N 1037 Signifikanzniveaus: * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

0,24*** 0,37*** 0,03*** 0,64*** 1037

0,26*** 0,32*** 0,01*** 0,59*** 1037

Im dritten Block wurde die Einstellung auf positive und negative Emotionen regrediert. Im Ergebnis wird ein signifikanter Affekteinfluss auf die Einstellung zum Asylgesetz deutlich. D.h. affektive Einflüsse leisten einen Erklärungsbeitrag von einem bis drei Prozent an der Varianz der Einstellung zum Asylgesetz. Dieser Erklärungsbeitrag ist dabei unabhängig vom Einfluss der Kognitionen und Kontrollvariablen. Betrachtet man die Affekteinflüsse

284

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

genauer, wird deutlich, dass negative Emotionen gegenüber Asylbewerbern die Präferenz für eine Asylgesetzverschärfung verstärken. Umgekehrt schwächen positive Emotionen die Präferenz für eine Asylgesetzverschärfung ab. Dabei fällt wiederum auf, dass der negative Effekt deutlich stärker ist als der positive. Über alle Befragungswellen hinweg sind negative affektive Einflüsse auf die Einstellung bedeutsamer als positive. In der dritten Befragungswelle, also in der Nachbefragung, erwiesen sich die positiven Affekte, wie Hoffnung oder Stolz, nicht mehr als signifikante Prädiktoren der Einstellung zur Asylgesetzgebung. Betrachtet man die Änderung der Regressionskoeffizienten im Zeitverlauf, sind zwei Ergebnisse besonders erwähnenswert. Einerseits steigt die Bedeutsamkeit der Zustimmung zu den Pro-Argumenten für die Einstellung zwischen der ersten und der zweiten Befragungswelle signifikant an und bleibt dann auf diesem Niveau. Im gleichen Zeitraum sinkt der kognitive Einfluss der Contra-Argumente für die Einstellung, wenn auch nicht signifikant. Andererseits verlieren positive Emotionen deutlich an Erklärungskraft, am deutlichsten zwischen der zweiten und der letzten Befragungswelle. Die Bedeutsamkeit negativer Affekte für die Einstellung der Befragten bleibt im gesamten Befragungszeitraum weitgehend gleich. Die Änderung der Kognitionen lässt sich als Kampagnen- oder Medien-Priming interpretieren (z.B. Bartels 2006). Das bedeutet, dass die in der Kampagne bedeutsamen Argumente automatisch deren Relevanz bei den Befragten für deren Einstellung erhöht hat. Diese Annahme ist vor allem deshalb plausibel, weil in der zweiten Befragungswelle die heiße Phase des Abstimmungskampfes begann, in der insbesondere die Befürworter einer Asylgesetzverschärfung stärker als zuvor in die Kampagne eingriffen. Zu Beginn der Asylgesetzkampagne dominierten insbesondere die Gegner der Asylgesetzverschärfung, die auch das Referendum ergriffen hatten. Dies bestätigen auch die Ergebnisse aus einer Inhaltsanalyse der Kampagnenberichterstattung sowie einer Befragung von politischen Akteuren, die für die Kampagnen der jeweiligen politischen Lager verantwortlich waren (vgl. hierzu Kriesi et al. 2008). Diese Untersuchungen wurden begleitend zur dreiwelligen Befragungsstudie durchgeführt. Die gesteigerte Bedeutsamkeit der Pro-Argumente für die Einstellung kann aber auch in Anlehnung an Gelman und King (1993) folgendermaßen interpretiert werden: Ein Großteil der Bevölkerung wusste in der ersten Befragungswelle noch nicht, dass Ende September eine Abstimmung über die Asylgesetzverschärfung stattfand. Gleichzeitig war aber der überwiegende Teil der Bevölkerung latent für eine Verschärfung. Darauf weisen auch frühere Abstimmungen zu Ausländer- bzw. Asylthemen hin. Durch die Kampagne erfuhren sie von den relevanten Argumenten. Vermutlich stieg die Bedeutsamkeit dieser Argumente für ihre Einstellung unter anderem deshalb, weil sie der latenten Präferenz für eine Verschärfung entsprachen. Vereinfacht gesagt dürften die Befragten zum Teil die Argumente gelernt haben, die zu ihrer Einstellung passten. Dies kann man auch als eine Verstärkung der Präferenz der Befragten interpretieren. Unter Umständen treffen auch beide Vermutungen zu, jedoch bei unterschiedlichen Teilen der Population. Man könnte etwa annehmen, dass bei höherer Bildung oder stärker ausgeprägtem Wissen eher Lern- bzw. Verstärkungseffekte auftreten. Bei geringerer Bildung hingegen dürften vermutlich eher automatische Priming- bzw. Verfügbarkeitseffekte auftreten. Darauf deuten auch vertiefende, hier jedoch nicht dargestellte, Analysen hin (vgl. Schemer 2009).

Kognitive und affektive Einflüsse in direktdemokratischen Kampagnen

285

Die sinkende Bedeutsamkeit positiver Affekte für die Einstellung zur Asylpolitik zwischen der zweiten und dritten Befragungswelle kann man wie folgt interpretieren: In der ersten Phase der Asylgesetzkampagne versuchten die Gegner der Asylgesetzverschärfung, Asylsuchende als Opfer von Vertreibung und Not darzustellen, die man aufgrund der humanitären Tradition der Schweiz nicht abweisen dürfte. Diese Kampagnenstrategie dürfte auch positive Emotionen gegenüber Asylsuchenden in der Bevölkerung erzeugt haben. Den Befürwortern der Asylgesetzverschärfung gelang es im Verlauf der Kampagne herauszustellen, dass die Verschärfung nicht, wie von den Gegnern von Beginn an behauptet, im Kontrast zu den Menschenrechten und der humanitären Tradition der Schweiz stünde, sondern in Einklang mit diesen Prinzipien. Während also in der ersten Phase der Asylgesetzkampagne die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger unter dem Kampagneneinfluss der Gegner ein „schlechtes Gewissen“ haben mussten angesichts ihrer anfänglich ausgeprägten Präferenz für eine Verschärfung, wurde ihr Gewissen durch diese Argumentation der Verschärfungsbefürworter in der zweiten Phase entlastet. D.h. die Befürworter lieferten das Argument, das es dem Stimmvolk erlaubte, zu seiner ursprünglichen Befürwortung der Verschärfung zu stehen. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass positive Emotionen gegenüber Asylsuchenden am Ende keinen Einfluss mehr auf die Einstellung zum Asylgesetz hatten. Ob dies nun tatsächlich diejenigen Einflüsse waren, die für das Muster der vorliegenden Ergebnisse ursächlich waren, kann an dieser Stelle jedoch nicht abschließend belegt werden. Dazu sind weiterführende Analysen der Befragungsdaten sowie Medienwirkungsanalysen notwendig. 6

Diskussion

Die vorliegende Studie belegt erstmals den Einfluss von Emotionen auf politische Einstellungen in Abstimmungskampagnen. Sie ist darüber hinaus eine der wenigen Studien, die Affekteinflüsse über den Verlauf einer Kampagne analysiert. Zusammenfassend zeigt sich, dass positive wie negative Affekte die Einstellung zum Asylgesetz beeinflussen. Negative Emotionen, wie Angst oder Ärger waren dabei bedeutsamer für die Einstellung zum Asylgesetz als positive. Interessanterweise war der Einfluss negativer Emotionen auf die Einstellung über die Kampagne hinweg weitgehend gleich stark. Der Einstellungseffekt positiver Emotionen wurde durch die Kampagne verringert. Dies deutet darauf hin, dass bei Ausländerthemen negative Emotionen in der Kampagne bedeutsamer sind als positive und scheinbar auch in der Kampagne besser angesprochen werden können. Insgesamt ist der um Einflüsse aus Kontrollvariablen und Kognitionen bereinigte affektive Einfluss mit einem Anteil an erklärter Varianz von einem bis drei Prozent dabei aber eher gering. Nun könnte man diesen geringen Einfluss darauf zurückführen, dass Argumente oder Issues die Währung von Abstimmungen sind und affektive Aspekte oder Image-Aspekte bei Wahlen. Diese Annahme greift jedoch aus zwei Gründen zu kurz: Erstens zeigt eine Reihe von Studien ebenfalls nur geringe Emotionseinflüsse, selbst wenn es um Wahlen und damit Personalentscheidungen geht. Zum Beispiel ist der Anteil erklärter Varianz an der Kandidatenpräferenz bei Marcus und MacKuen (1993) mit zwei Prozent ähnlich gering. Bei Abelson et al. (1982) findet man ebenfalls geringe Erklärungsanteile von affektiven Bewertungen bei Präsidentschaftskandidaten. Der geringe Erklärungsanteil

286

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

von Emotionen an politischen Einstellungen scheint also kein Spezifikum zu sein, das nur bei Wahlen Gültigkeit hat. Wichtig ist aber zu beachten, dass bei der vorliegenden Studie nur der Einfluss von Emotionen gegenüber Asylbewerbern berücksichtigt wurde. In der untersuchten Kampagne mag es aber weitere Auslöser für emotionale Reaktionen gegeben haben, z.B. Empörung darüber, wie die Proponenten der Asylgesetzverschärfung Asylbewerber behandeln, Ärger über die gegnerische Kampagne oder Frustration über den Schlagabtausch der Kontrahenten in der Kampagne. Diese Emotionseinflüsse treten vermutlich ebenfalls auf und wirken sich auf die Einstellung zum Thema aus. So zeigen beispielsweise Gross und Brewer (2007), dass die unangemessene Auseinandersetzung zwischen politischen Kontrahenten zu Verachtung in der Bevölkerung führen kann. Diese affektiven Einflüsse konnten jedoch in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt werden. Es gibt jedoch einen zweiten Grund für die geringe Erklärungskraft von emotionalen Einflüssen auf die Einstellung zum Asylgesetz. Die vorliegende Analyse ging lediglich von direkten Emotionseinflüssen auf die Einstellung aus. Neben diesen direkten Einflüssen sind auch indirekte Effekte denkbar genauso wie interaktive Effekte. Sniderman et al. (1991: 63) zeigten beispielsweise, dass affektive Reaktionen gegenüber Minderheiten kognitive Überzeugungen von Individuen beeinflussten und sich auf diesem Weg indirekt auf die Einstellung auswirkten. So dürften bei Befragten spezifische Argumente salient werden, wenn diese bestimmte emotionale Reaktionen gegenüber Asylbewerbern verspüren. Diese indirekten Wirkungen wurden bislang noch nicht analysiert, ebenso wenig wie interaktive Einflüsse von Emotionen (vgl. hierzu auch Kühne/Schemer 2009). Zum Beispiel wiesen Marcus und MacKuen (1993) nach, dass positive Emotionen den Einfluss der Parteibindung auf die Einstellung zu politischen Kandidaten verstärkten. Negative Emotionen wirkten sich in ihrer Studie direkt auf die Einstellung aus. Der direkte Einfluss negativer affektiver Reaktionen ist auch konform mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung. In vertiefenden Analysen werden die vorliegenden Daten noch genau im Hinblick auf diese Fragen untersucht, um den Einfluss von Emotionen auf den Einstellungsbildungsprozess zu analysieren. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie verdeutlichen, dass affektive Einflüsse unmittelbar für politische Einstellungen auch in direktdemokratischen Kampagnen bedeutsam sein können. Die Studie hat aber auch normative Implikationen, mit denen sich die Forschung auseinandersetzen muss. Oft werden nämlich Emotionseinflüsse als wenig wünschenswert, erratisch oder irrational abgetan (vgl. hierzu etwa Marcus 2002). Dies kann man als die dysfunktionale Perspektive auf die Rolle von Emotionen bei der politischen Urteilsbildung verstehen. Im Unterschied dazu geht eine funktionale Perspektive davon aus, dass emotionale Reaktionen bei politischen Entscheidungen wichtige Funktionen für das Individuum erfüllen: Emotionale Reaktionen im Zusammenhang mit einem spezifischen politischen Thema können das Individuum zum einen darüber informieren, ob eine bestimmte Situation oder ein Einstellungsobjekt positiv oder negativ für das Individuum ist. Darüber hinaus haben Emotionen eine motivationale und handlungsvorbereitende Funktion (vgl. hierzu Keltner/Haidt 1999). Ob eine solche Handlung allerdings ausgeführt wird, hängt vom Ausmaß der kognitiven Kontrolle von Individuen ab. Die zukünftige Forschung sollte sich daher vermehrt auch den konstruktiven Einflüssen von Emotionen in politischen Kampagnen widmen.

Kognitive und affektive Einflüsse in direktdemokratischen Kampagnen

287

Einige erste Schritte in diese Richtung finden sich bereits in der Forschung (Elster 1999; Pham 2007; Schnabel 2006). Emotionen können etwa im Einstellungsbildungsprozess die Aufmerksamkeit auf die für die Entscheidung relevanten Aspekte lenken, sie können in Situationen der Unbestimmtheit den Ausschlag für eine Alternative geben. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn sich Personen aufgrund zu vieler oder zu weniger Informationen nicht festlegen können. Hier dienen Emotionen gewissermaßen als TieBreaker (Elster 1999). Emotionen können jedoch auch das Involvement von Wählerinnen und Wählern in der Kampagne steigern (Marcus/MacKuen 1993) und sie unter Umständen auch eher an die Urne bringen (Brader/Corrigan 2007). Diese Fragen sind bis anhin nur in Ansätzen beantwortet worden und beziehen in der Regel auch die Frage nicht ein, woher die Emotionen in Kampagnen eigentlich stammen. Insofern kann man diese Fragestellungen auch als Anregungen für die zukünftige Forschung zur Bedeutung von Emotionen in politischen Kampagnen betrachten. Literatur Abelson, Robert P./Kinder, Donald R./Peters, Mark D./Fiske, Susan T. (1982): Affective and semantic components in political person perception. In: Journal of Personality and Social Psychology 42, 619-630. Bartels, Larry M. (2006): Priming and persuasion in presidential campaigns. In: Brady, Henry E./Johnston, Richard (Hrsg.) (2006): Capturing campaign effects. Ann Arbor: University of Michigan Press, 78-112. Brader, Ted (2006): Campaigning for hearts and minds: How emotional appeals in political ads work. Chicago: University of Chicago Press. Brader, Ted/Corrigan, Bryce (2007): How the emotional tenor of ad campaigns affects political participation. Working Paper. University of Michigan. Breckler, Stephen J./Wiggins, Elizabeth C. (1989): Affect versus evaluation in the structure of attitudes. In: Journal of Experimental Social Psychology 25, 253-271. Conover, Pamela J./Feldman, Stanley (1986): Emotional reactions to the economy: I’m mad as hell and I’m not going to take it anymore. In: American Political Science Review 30, 50-78. Dalto, Carol A./Ossoff, Elizabeth P./Pollak, Richard D. (1994): Processes underlying reactions to a campaign speech: Cognition, affect, and voter concern. In: Journal of Social Behavior and Personality 9, 701-713. Elster, John (1999): Alchemies of the mind: Rationality and the emotions. Cambridge: Cambridge University Press. Gelman, Andrew/King, Gary (1993): Why are American presidential election campaign polls so variable when voters are so predictable? In: British Journal of Political Science 23, 409-451. Granberg, Donald/Brown, Thad A. (1989): On affect and cognition in politics. In: Social Psychology Quarterly 52, 171-182. Gross, Kimberly/Brewer, Paul R. (2007). Sore losers: news frames, policy debates, and emotions. In: Harvard International Journal of Press/Politics 12, 122-133. Haddock, Geoffrey/Zanna, Mark P. (1998): Assessing the impact of affective and cognitive information in predicting attitudes toward capital punishment. In: Law and Human Behavior 22, 325-339. Haddock, Geoffrey/Zanna, Mark P. (1993): Predicting prejudicial attitudes: The importance of affect, cognition, and the feeling-belief dimension. In: Advances in Consumer Research 20, 315-318.

288

Christian Schemer, Werner Wirth, Jörg Matthes

Isbell, Linda M./Ottati, Victor C./Burns, Kathleen C. (2006): Affect and politics: Effects on judgment, processing, and information seeking. In: Redlawsk, David P. (Hrsg.) (2006): Feeling politics: Emotion in political information processing. New York: Palgrave Macmillan, 57-86. Jenkins, Richard/Mendelsohn, Matthew (2001): The news media and referendums. In: Mendelsohn, Matthew/Parkin, Andrew (Hrsg.) (2001): Referendum democracy: Citizens, elites and deliberation in referendum campaigns. Houndmills: Palgrave, 211-230. Kaid, Lynda L. (2004): Political advertising. In: Kaid, Lynda L. (Hrsg.) (2004): Handbook of political communication research. Mahwah: Erlbaum, 155-202. Karger, Cornelia R./Wiedemann, Peter M. (1998): Kognitive und affektive Komponenten der Bewertung von Umweltrisiken. In: Zeitschrift für Experimentelle Psychologie 45, 334-344. Keltner, Dacher/Haidt, Jonathan (1999): Social functions of emotions at four levels of analysis. In: Cognition and Emotion 13, 505-521. Kriesi, Hanspeter (2005): Direct democratic choice: The Swiss experience. Lanham: Lexington. Kriesi, Hanspeter/Bernhard, Laurent/Hänggli, Regula (2008): Coalition formation in direct-democratic campaigns: a case study of the vote on the Swiss asylum law. NCCR Working Paper No. 12 (abrufbar unter http://www.nccr-democracy.uzh.ch/nccr/publications). Kühne, Rinaldo/Schemer, Christian (2009): Affective Priming. How Emotions Prime Political Opinions. Paper präsentiert auf der WAPOR 62th Annual Conference „Public Opinion and Survey Research in a Changing World“, 11. bis 13. September 2009, Lausanne, Switzerland. Kuklinski, James H./Riggle, Ellen/Ottati, Victor C./Schwarz, Norbert/Wyer Jr., Robert S. (1991): The cognitive and affective bases of political tolerance judgments. In: American Journal of Political Science 35, 1-27. LeDuc, Lawrence (2002): Referendums and elections. How do campaigns differ? In: Farrell, David M./Schmitt-Beck, Rüdiger (Hrsg.) (2002): Do political campaigns matter? Campaign effects in elections and referendums. London: Routledge, 145-162. Marcinkowski, Frank (2007): Media system and political communication. In: Klöti, Ulrich/Knoepfel, Peter/Kriesi, Hanspeter/Linder, Wolf/Papadopoulos, Yannis/Sciarini, Pascal (Hrsg.) (2007): Handbook of Swiss politics. 2nd Edition. Zürich: NZZ Publishing, 381-402. Marcus, George E. (2002). The sentimental citizen. Emotion in democratic politics. University Park: Pennsylvania State University Press. Marcus, George E./MacKuen, Michael B. (1993): Anxiety, enthusiasm, and the vote: The emotional underpinnings of learning and involvement during presidential campaigns. American Political Science Review 87, 672-685. Mittendorf, Volker (2002): Qualitative Unterschiede in der Wahl- und Abstimmungskampfkommunikation. In: Schiller, Theo/Mittendorf, Volker (Hrsg.) (2002): Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 276-287. Montada, Leo/Schneider, Angela (1989): Justice and emotional reactions to the disadvantaged. In: Social Justice Research 3, 313-344. Opp, Klaus-Dieter (1986): Soft incentives and collective action: Participation in the antinuclear movement. In: British Journal of Political Science 16, 87-112. Ottati, Victor (1997): When the survey question directs the retrieval: Implications for assessing cognitive and affective predictors of global evaluation. In: European Journal of Social Psychology 27, 1-21. Pham, Michel T. (2007): Emotion and rationality: A critical review and interpretation of empirical evidence. In: Review of General Psychology 11, 155-178. Schemer, Christian (2009): Politische Kampagnen für Herz und Verstand. Affektive und kognitive Einflüsse der Massenmedien auf politische Einstellungen. Nomos: Baden-Baden. Schnabel, Annette (2006): Sind Emotionen rational? Emotionen als Herausforderung für RationalChoice-Ansätze. In: Schützeichel, Rainer (Hrsg.) (2006): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Frankfurt: Campus, 175-194. Sniderman, Paul M./Brody, Richard A./Tetlock, Philip E. (1991): Reasoning and choice. Explorations in political psychology. Cambridge: Cambridge University Press.

Kognitive und affektive Einflüsse in direktdemokratischen Kampagnen

289

Schoen, Harald (2006): Beeinflusst Angst politische Einstellungen? Eine Analyse der öffentlichen Meinung während des Golfkriegs 1991. In: Politische Vierteljahresschrift 47, 441-464. Stangor, Charles/Sullivan, Linda A./Ford, Thomas E. (1991): Affective and cognitive determinants of prejudice. In: Social Cognition 9, 359-380. Vreese, Claes H. de/Semetko, Holli A. (2004): Political campaigning in referendums: Framing the referendum issue. London: Routledge.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen auf die individuelle Wahlentscheidung: Mehr als nur eine Nebensache? Marc Debus

1

Einleitung

Subjektiv empfundene Sympathien der Wähler gegenüber politischen Akteuren wie Parteien und insbesondere deren Spitzenkandidaten gelten in der Öffentlichkeit und in den Medien als ein zentraler Faktor, der das Zustandekommen von Wahlergebnissen erklärt (vgl. Gabriel/Keil 2007: 363). So war das allgemeine Medienecho nach den Landtagswahlen vom Januar 2008, dass das schlechte Abschneiden der hessischen Christdemokraten unter Ministerpräsident Roland Koch maßgeblich mit dessen negativen Sympathiewerten zusammenhing, wohingegen die geringeren Verluste der CDU in Niedersachsen und Hamburg nicht nur den weniger polarisierenden Wahlkämpfen der Union in beiden Bundesländern zugeschrieben wurden, sondern auch den bei den Wählern als wesentlich sympathischer empfundenen amtierenden Regierungschefs Christian Wulff und Ole von Beust (vgl. z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Februar 2008: 4 und vom 26. Februar 2008: 5; Süddeutsche Zeitung vom 26. Februar 2008: 6). Trotz des in den Medien vielfach bemühten emotionalen Aspekts findet sich in Analysen der Determinanten des individuellen Wahlverhaltens nur selten der Einschluss subjektiver Sympathien gegenüber Parteien und Spitzenkandidaten als potenziell erklärende Faktoren des Wahlverhaltens. Auch in theoretischen Modellen wie dem des Ann Arbor-Ansatzes (Campbell et al. 1960), der durch seine sozialpsychologische Ausrichtung noch am ehesten eine Nähe zu emotionalen Komponenten aufweisen sollte, spielen Sympathien gegenüber politischen Akteuren nur eine mittelbare Rolle, indem sie über das Konzept der Parteiidentifikation mit einbezogen werden. So testen etwa Gabriel und Neller (2005: 229f.) in einer Anwendung des Michigan-Modells den Einfluss der Kandidatenpräferenz auf das Wahlverhalten von Union und SPD unter Kontrolle von Parteiidentifikation und Problemlösungskompetenz, lassen jedoch den Grad der Sympathie gegenüber Parteien wie Kandidaten sowie weitere Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens, die nicht im sozialpsychologischen Modell der Wahlentscheidung berücksichtigt werden, außer acht. Dazu zählen beispielsweise die seitens der einzelnen Wähler empfundenen Distanzen zu den politischen Akteuren (Downs 1957) und die Bindung an sozialstrukturelle Gruppen, die eine besondere Affinität gegenüber einer politischen Partei einnehmen (Lazarsfeld et al. 1944; Lipset/Rokkan 1967). Ein Grund dafür mag sein, dass die Sympathie gegenüber Parteien und Kandidaten keinen unabhängigen Faktor im Erklärungsmodell des Wahlverhaltens darstellt, sondern durch das Vorhandensein einer subjektiv empfundenen Parteinähe oder der Präferenz für einen (Kanzler-)Kandidaten vordeterminiert ist.

292

Marc Debus

In diesem Beitrag soll daher den folgenden Fragen nachgegangen werden: Liegt – unter Kontrolle weiterer Variablen – ein eigenständiger Einfluss des Grades der Sympathie gegenüber Parteien als auch Kandidaten auf das Wahlverhalten bei deutschen Bundestagswahlen vor? Wenn ja, gibt es Unterschiede in der Relevanz der beiden letztgenannten Faktoren zwischen verschiedenen Bundestagswahlen? Diese Fragen werden auf der Grundlage von Wahlstudien zu den Bundestagswahlen 1976, 1983 und 2005 als Beispiele für eher ideologisch-themenzentriert ausgerichtete Wahlkämpfe einerseits und den auf die jeweiligen Kanzlerkandidaten ausgerichteten Bundestagswahlkämpfen 1980, 1998 und 2002 andererseits mittels auf bedingten Wahrscheinlichkeiten beruhenden Regressionsmodellen beantwortet. Die Ergebnisse zeigen, dass trotz einer Kontrolle ihrer potenziellen Endogenität durchweg ein eigenständiger Einfluss der subjektiven Sympathie gegenüber Parteien und Spitzenkandidaten auf das Wahlverhalten vorliegt. Des Weiteren gibt es keine maßgeblichen Verschiebungen in den Bestimmungsgrößen des Wahlverhaltens zwischen den zwei hier untersuchten Gruppen von Bundestagswahlen. Um zu diesen Ergebnissen zu gelangen, wird zunächst ein Überblick zum Stand der Forschung in der Bedeutung von emotionalen Faktoren wie Sympathie gegenüber politischen Akteuren auf das Wahlverhalten allgemein und für Deutschland im Besonderen gegeben. Im Anschluss daran werden die Ansätze, die Sympathien als Erklärungsfaktor für die individuelle Wahlentscheidung thematisieren, in Bezug gesetzt zu weiteren Theorien des Wahlverhaltens. Aufbauend darauf werden die Hypothesen entwickelt, die im fünften Abschnitt getestet werden. Zuvor muss jedoch auf die verwendeten Daten, die Generierung der unabhängigen und abhängigen Variablen sowie auf das angewandte statistische Verfahren näher eingegangen werden. Die Schlussbetrachtung fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen und fragt nach Ansätzen für künftige Aspekte der Wahlverhaltensforschung. 2

Literaturüberblick: Eigenschaften politischer Akteure als eigenständige Erklärungsfaktoren des Wahlverhaltens?

In Demokratien mit Mehrheitswahlsystemen stehen die Sympathien der Wähler gegenüber den Kandidaten sowie deren wahrgenommene Charaktereigenschaften mit im Zentrum der Analyse des Wahlverhaltens. Dies geschieht auch aufgrund der Annahme, dass die Evaluierung der inhaltlichen Ausrichtung der Kandidaten durch die Wähler eine zu große Hürde darstellt. Stattdessen orientiert sich ein Teil des Elektorats an den Eigenschaften der Kandidaten im Hinblick auf Sympathie, Vertrauenswürdigkeit oder Kompetenz (vgl. Alvarez 1997; Kinder 1986). So zeigen Doherty und Gimpel (1997) für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1992, dass nicht nur die wirtschaftliche Lage des Landes, sondern auch die zugeschriebenen Charaktereigenschaften der Kandidaten Bush sen., Clinton und Perot die individuellen Wahlentscheidungen beeinflusst haben. Auch Studien, die einen längeren Beobachtungszeitraum umfassen, weisen die Bedeutung von subjektiv empfundenen (Charakter-)Eigenschaften der Kandidaten auf die individuelle Wahlentscheidung nach (vgl. z.B. Bishin et al. 2006; Glasgow/Alvarez 2000; Goren 2002; Hayes 2005). In Parteiendemokratien werden solche Aspekte nur selten als eigenständige Faktoren in analytischen Studien berücksichtigt. Vor allem für Länder mit Mehrheitswahlsystem wie Großbritannien oder Australien liegen Arbeiten zur Bedeutung der Eigenschaften von

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

293

Kandidaten für die Entscheidung der Wähler vor, die ebenfalls auf einen signifikanten Einfluss dieser Faktoren auf das Wahlverhalten hinweisen (vgl. Bean/Mughan 1989; Stewart/Clarke 1992). Dabei beeinflusst die Debatte über die Personalisierung der Politik zunehmend die Modellierung und empirische Analyse des Wahlverhaltens in Deutschland (vgl. z.B. Klein/Ohr 2000; Pappi/Shikano 2001; Schoen 2004). Kandidaten gelten dabei nicht nur als Vermittler programmatischer Inhalte. Vielmehr zeigen diese Studien, dass sich Wähler auch aufgrund persönlicher Merkmale von Kandidaten für eine bestimmte Partei entscheiden. Dies gilt nicht nur für die als „hoch personalisiert“ bezeichneten Wahlkämpfe der Bundestagswahlen 1998 und 2002. Auch aus einer langfristigen Perspektive heraus zeigt sich der Effekt des an Spitzenkandidaten ausgerichteten Wählens in Deutschland (vgl. Klingemann/Taylor 1977; Vetter/Gabriel 1998). Dies ergibt gerade mit Blick auf die Bedeutung von Kanzlerkandidaten bei den Bundestagswahlen seit den 1950er Jahren durchaus Sinn: Man denke hier etwa an den auf Kanzler Konrad Adenauer (CDU) konzentrierten Wahlkampf der Union 1957 oder an die so genannte „Willy-Wahl“ 1972 (vgl. Brettschneider et al. 2006: 483f.). In einer vergleichenden Analyse der jüngeren deutschen Bundestagswahlen 1994, 1998 und 2002 kommen Gabriel und Neller (2005: 239) zu der Schlussfolgerung, dass unter Kontrolle von Parteiidentifikation und Orientierungen an inhaltlichen Positionen die Kanzlerkandidatenpräferenzen der Wähler in der Tat einen Einfluss auf deren Wahlentscheidung ausüben, wobei sich dieser Einfluss jedoch von Wahl zu Wahl unterscheidet (für eine kritischere Perspektive vgl. Brettschneider et al. 2006). Der unterschiedliche Einfluss des Kandidatenfaktors je nach Bundestagswahl zeigt auch eine Analyse von Pappi und Shikano (2001), die den Einfluss von Spitzenpolitikern von CDU/CSU, SPD, FDP und den Grünen – und damit nicht nur der jeweiligen Kanzlerkandidaten – zwischen 1980 und 1998 auf die Wahlabsicht untersuchen. Zudem differenzieren Pappi und Shikano (2001: 364) nicht nur zwischen der Präferenz für oder gegen einen bestimmten Kandidaten, sondern beziehen die auf einer Skala von -5 bis +5 abgestufte Bewertung der Spitzenpolitiker der Parteien in ihre Analyse mit ein. Hierbei betonen die beiden Autoren, dass es im Skalometer der Forschungsgruppe Wahlen (vgl. Roth 1998: 120f.) nicht nur um die affektive Bewertung der Politiker im Hinblick auf die subjektiv empfundene Sympathie geht, sondern auch implizit die Kompetenzzuweisungen enthalten sind, die den Kandidaten seitens der Befragten zugewiesen werden (vgl. Pappi/Shikano 2001: 364; Pappi/Shikano 2007: 53f.). Nur wenige Studien testen hingegen explizit den Einfluss von Sympathie gegenüber politischen Akteuren auf das individuelle Wahlverhalten bei deutschen Bundestagswahlen. Klein und Ohr (2000; vgl. auch Lass 1995) unterscheiden zwischen „rollenrelevanten“ und „rollenfernen“ Merkmalen in ihrer Analyse des Einflusses von Eigenschaften der beiden Spitzenkandidaten von Union und SPD bei der Bundestagswahl 1998. Als rollenrelevante Merkmale gelten solche Eigenschaften, die den Kandidaten als geeigneten Regierungschef aufgrund seiner innerparteilichen Stellung, seiner Durchsetzungs- und Ausgleichsfähigkeit sowie seiner Kompetenz zur Lösung wirtschaftlicher Probleme erscheinen lassen. Die so genannten „rollenfernen“ Merkmale spiegeln die Vertrauenswürdigkeit oder die menschlichen Eigenschaften des jeweiligen Kandidaten wie Privatleben und Attraktivität wider (vgl. Klein/Ohr 2000: 208). Anhand multinomialer Logit-Analysen können Klein und Ohr (2000: 215ff.) für die Bundestagswahl 1998 zeigen, dass neben Parteibindung und Kompetenzzuweisungen „unpolitische“ Eigenschaften der Kanzlerkandidaten Helmut Kohl (CDU) und

294

Marc Debus

Gerhard Schröder (SPD) wie Vertrauenswürdigkeit und die Wahrnehmung der privaten Lebensverhältnisse der beiden Bewerber um das Amt des Bundeskanzlers einen Einfluss auf die Wahlentscheidung ausüben. Aufbauend auf diesen Ergebnissen zeigen experimentelle Studien wie auch Analysen des Erststimmenerfolgs von Wahlkreiskandidaten, dass die physische Attraktivität von Politikern deren Chancen beeinflusst, gewählt zu werden. So können Klein und Rosar (2005: 279ff.) am Beispiel der Bundestagswahl 2002 verdeutlichen, dass die physische Attraktivität von Wahlkreiskandidaten unter Kontrolle von Geschlecht, Alter und dem Zweitstimmenergebnis der jeweiligen Partei im Wahlkreis den Stimmenanteil bei den Erststimmen signifikant beeinflusst. Dies gilt auch für die Höhe der Wahlbeteiligung in Wahlkreisen mit als attraktiv eingestuften Direktkandidaten, wie eine Analyse der Landtagswahlergebnisse 2005 in den nordrhein-westfälischen Wahlkreisen von Rosar et al. (2008) zeigt: Je attraktiver die Kandidaten, desto höher war nicht nur der Stimmenanteil der jeweiligen Parteien in dem nicht nach Wahlkreis- und Landesstimmen differenzierenden Wahlsystem Nordrhein-Westfalens, sondern auch die Wahlbeteiligung. Es gibt somit empirische Evidenz dafür, dass auch in Deutschland mit seinem eher auf Listen der Parteien denn auf Kandidaten zugeschnittenen Wahlsystem die seitens der Wähler den politischen Akteuren zugeschriebenen Eigenschaften einen Einfluss auf deren Entscheidung an der Wahlurne ausüben. Zu fragen bleibt, inwiefern ein Effekt solcher Merkmale messbar ist, wenn für Variablen kontrolliert wird, die sich aus weiteren Erklärungsansätzen des Wahlverhaltens ergeben. Zudem ist zu hinterfragen, inwiefern nicht Faktoren wie die Zuschreibung von Charaktereigenschaften gegenüber Kandidaten oder auch Sympathie gegenüber Parteien wie Kandidaten, auf die sich dieser Beitrag im Folgenden konzentriert, bereits in anderen theoretisch hergeleiteten unabhängigen Variablen enthalten sind. Daher werden im nächsten Abschnitt diese theoretischen Zugänge für die Analyse des Wahlverhaltens mit Blick auf die Einbeziehung der Merkmale Parteien- und Kandidatensympathie näher vorgestellt. 3

Theoretische Ansätze und Hypothesen

Der geringe Grad der Berücksichtigung von Parteien- und Kandidatensympathie im Hinblick auf die Erklärung des Wahlverhaltens hat mit der Breite an Theorien zu tun, die zum Themengebiet der Analyse der Determinanten des Wahlverhaltens bereits entwickelt wurden. Im Folgenden wird daher zunächst auf einige „klassische“ Modelle der Erklärung des individuellen Wahlverhaltens eingegangen, bevor die Funktion der Sympathie gegenüber politischen Akteuren als bislang weitgehend unberücksichtigtes Konzept thematisiert wird. 3.1 Klassische Ansätze der Erklärung des Wahlverhaltens Neben sozialstrukturellen Ansätzen, für die die Zugehörigkeit eines Wählers zu einer sozialen Gruppe den entscheidenden Einflussfaktor auf die Wahlentscheidung darstellt (vgl. Lazarsfeld et al. 1944; Lipset/Rokkan 1967), sind sozialpsychologisch ausgerichtete Theorien eine entscheidende Grundlage für die Analyse des Wahlverhaltens. Die Vertreter der „Michigan-School“ argumentieren in ihren Arbeiten, dass jeder Wähler seine Umwelt an-

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

295

ders wahrnimmt und dementsprechend nicht per se einer spezifischen sozialen Gruppe zugeordnet werden kann (vgl. Campbell et al. 1960; Miller/Shanks 1996). Damit ist auch nicht a priori festgelegt, für welche Partei ein Wähler stimmen wird. Vielmehr konzentrieren sich Vertreter dieses Ansatzes auf die Bedeutung einer sich aus einer Reihe von Faktoren ergebenden subjektiven Parteiidentifikation, die nicht nur durch die Einbindung eines Wählers in eine soziale Gruppe determiniert ist, sondern in die auch die politische Erfahrung jedes Wählers sowie dessen soziale und wirtschaftliche Situation einfließt (vgl. Pappi/Shikano 2007: 30). Von weiterer Bedeutung für die in diesem Beitrag bearbeitete Fragestellung ist, dass eine Wechselwirkung der beiden als relevant erachteten Determinanten im sozialpsychologischen Modell – die seitens des Elektorats den politischen Akteuren zugeschriebene Problemlösungskompetenz relevanter „Issues“ und die Präferenz gegenüber den (Spitzen-)Kandidaten – vorliegt (vgl. Schoen/Weins 2005: 192f.). Folgt man hingegen der Argumentation des Bedeutungsrückgangs der Cleavages sowie der subjektiv empfundenen „Parteinähe“ (vgl. Arzheimer 2006; Dalton et al. 1984; Schnell/Kohler 1995), dann sollten die den Parteien oder Kandidaten zugewiesenen IssueKompetenzen auf den relevanten Politikfeldern im Zeitverlauf an Bedeutung gewinnen. Der von Stokes (1963) begründete Erklärungsansatz des Wahlverhaltens geht von Valenzen als entscheidendem Faktor aus. Unter den Begriff „Valenzissues“ fallen solche Problemfelder, deren Lösung von politischen Akteuren wie Wählern gleichermaßen gewünscht wird. Demnach entscheiden sich die Wähler für die Kandidaten oder Parteien, denen sie die Fähigkeit zusprechen, am ehesten die als am dringendsten angesehenen Probleme zu lösen. Neben diesen theoretischen Zugängen wird räumlichen Distanzmodellen eine Bedeutung für die individuelle Entscheidungsfindung zugewiesen. Diese Ansätze unterstellen, dass sich die Wähler inhaltlich rein nutzenmaximierend verhalten und dementsprechend die Partei wählen, die ihnen in programmatischen Fragen am nächsten steht (Downs 1957; siehe auch Pappi/Shikano 2007: 33ff.; Thurner/Eymann 2000). Dies impliziert, dass jeder Wähler die Distanz zwischen seiner eigenen und der ideologischen oder politikfeld-spezifischen Position aller zur Wahl antretenden Parteien kalkulieren kann und sich dann für die Partei oder den Kandidaten entscheidet, der die geringste Distanz zur Position des jeweiligen Wählers aufweist. Adams et al. (2005) können aus einem vergleichenden Blickwinkel zeigen, dass ideologische wie auch politikfeldspezifische Distanzmaße unter Kontrolle von Parteiidentifikation und sozialstrukturellen Faktoren einen signifikanten Einfluss auf das individuelle Wahlverhalten ausüben. Eine Reihe von Studien, die die Determinanten des Wahlverhaltens bei Bundestagswahlen untersucht haben, verdeutlichen, dass sowohl eine den Parteien zugewiesene Problemlösungskompetenz als auch Distanzmaße im Sinne von Downs (1957) einen signifikanten Einfluss ausüben, wobei Valenzen eine höhere Bedeutung zu haben scheinen als Distanzen (vgl. Debus 2007a: 272, 287). 3.2 Sympathie als weitere Komponente der individuellen Wahlentscheidung Ein Nachteil des sozialpsychologischen, am ehesten noch emotionale Faktoren wie Sympathie gegenüber Parteien und Kandidaten berücksichtigenden Konzepts ist dessen mangelnde Differenzierbarkeit: ein Wähler identifiziert sich explizit mit einer Partei (wobei allerdings der Grad der Identifikationsstärke variieren kann) oder nicht. Ebenso kann er –

296

Marc Debus

aus der Perspektive des candidate und issue voting – den Spitzenkandidaten einer bestimmten Partei als künftigen Regierungschef präferieren oder nur einer Partei eine hohe Problemlösungskompetenz für ein Policy-Issue zuweisen. Dies spiegelt jedoch nur sehr bedingt die reale Präferenzordnung der Wähler wider: Diese ist weniger dichotom ausgeprägt, sondern kann in Form einer Präferenzreihenfolge vorliegen (vgl. Pappi 1996; Schmitt 2009). Diese Perspektive wird insbesondere von Arbeiten betont, die strategisches Wählen in Mehrheits- und Mischwahlsystemen analysieren, in denen aufgrund der Koalitionsaussagen der Parteien Anreize zum Wählen solcher Parteien bestehen, die nicht unbedingt die am stärksten präferierten Auswahlmöglichkeiten aus der Sichtweise eines Wählers sind (vgl. Pappi/Thurner 2002; Gschwend et al. 2003). In einer Studie, die das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2005 untersucht, kann Herrmann (2008: 36; vgl. auch Herrmann et al. 2006) zeigen, dass – im Gegensatz zur Verwendung von Parteiidentifikation und Wahlabsicht – die Verwendung der Präferenzrangfolge der Parteien tiefgreifendere Zusammenhänge zwischen Elektorat und Parteien aufdecken kann. Auch Fuchs und Kühnel (1994: 339f.) betonen in ihrer Analyse des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 1990 die Bedeutung des Parteien- und Kandidatenskalometers: Es soll im Gegensatz zum langfristigen Merkmal „Parteiidentifikation“ die kurzfristige Stimmung der Wähler gegenüber diesen beiden politischen Akteursgruppen auffangen. Es erscheint daher vor dem Hintergrund der Fragestellung dieses Aufsatzes sinnvoll, die subjektive Bewertung von Parteien und Spitzenkandidaten als weiteren unabhängigen Erklärungsansatz des Wahlverhaltens zu berücksichtigen und somit deren Einfluss auf die individuelle Wahlentscheidung empirisch zu untersuchen. Alle aufgeführten theoretischen Erklärungsansätze und ihre empirischen Überprüfungen weisen auf das Vorhandensein eines eigenständigen Einflusses aller hier genannten Faktoren hin.1 Anknüpfend daran sowie an die Ergebnisse der Studien zum Einfluss von Kandidatenfaktoren für jüngere Bundes- und Landtagswahlen lässt sich daher die Hypothese formulieren, dass bei Wahlen zum Deutschen Bundestag ein eigenständiger und signifikanter Effekt der seitens der Wähler subjektiv empfundenen Sympathie sowohl gegenüber Parteien als auch gegenüber den entsprechenden Spitzenkandidaten auf das individuelle Wahlverhalten vorliegt, wobei dieser je nach Ausrichtung des Wahlkampfs variieren sollte. Gerade in Kampagnen, die stark auf die Kanzler- bzw. Spitzenkandidaten der Parteien abheben, sollte ein signifikanter Effekt der Kandidatensympathie vorliegen, wohingegen in ideologischen, auf inhaltliche Aspekte ausgerichteten Wahlkämpfen programmatische Distanzen und Valenzissues ausschlaggebend sein sollten. Zur Überprüfung dieser Erwartungen bedarf es zum einen adäquaten Datenmaterials, das erstens sowohl themenals auch kandidatenzentrierte Bundestagswahlen umfasst, sowie zweitens der Anwendung eines spezifischen, die Fragestellung beantwortenden statistischen Analyseverfahrens. Im nächsten Abschnitt wird näher auf die verwendeten Datensätze als auch auf das angewandte Verfahren zur Extraktion des Netto-Effekts von Parteien- und Kandidatensympathie eingegangen. 1

Weitere Einflussfaktoren wie die Bewertung der aktuellen wirtschaftlichen Lage oder der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung durch die Wähler sowie deren Persönlichkeitseigenschaften (vgl. LewisBeck/Stegmaier 2000; Pappi/Bytzek 2007; Rattinger/Faas 2001; Schoen/Schumann 2007) werden hier nicht diskutiert, da die entsprechenden Variablen in den hier verwendeten Datensätzen nur teilweise vorkommen und damit nicht in die statistischen Modelle einbezogen werden können.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen 4

297

Operationalisierung

Um die aufgeführten Hypothesen zu testen, wird zum einen solches Datenmaterial benötigt, das all diejenigen Variablen enthält, die sich aus den angeführten Theorieansätzen ergeben. Zum andern müssen solche Bundestagswahlen identifiziert werden, die eher themen- bzw. eher kandidatenorientiert waren, sodass eventuell bestehende Unterschiede in der Relevanz des Faktors Sympathie analysiert werden können. Es wird daher auf Wahlstudien zu den Bundestagswahlen 1976, 1983 und 2005 zurückgegriffen, da die jeweiligen Wahlkämpfe eher ideologisiert und an inhaltlichen Fragen ausgerichtet waren. Als auf die Kanzlerkandidaten zugespitzte Wahlkämpfe werden die Bundestagswahlen 1980, 1998 und 2002 herangezogen (vgl. etwa Schoen 2007: 327f.). Im Wahljahr 1980 stand das „Duell“ Schmidt gegen Strauß im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, 1998 wurde die Fortführung der langjährigen Kanzlerschaft Kohls und damit der Wunsch nach einem personellen Wechsel thematisiert, und 2002 folgte eine deutlich personalisierte Auseinandersetzung zwischen dem amtierenden Bundeskanzler Schröder (SPD) und dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber (CSU). Die Wahlstudien zu diesen sechs Bundestagswahlen umfassen die erforderlichen Variablen und sind im Rahmen der Publikation von Klein et al. (2000) bzw. durch das Zentralarchiv (ZA) in Köln zugänglich gemacht worden. Diese Studien beinhalten erstens eine allgemeine Links-Rechts-Selbsteinstufung jedes Wählers sowie eine Platzierung der Parteien auf dieser Dimension durch die Wähler, sodass die ideologische Komponente des Wahlverhaltens abgedeckt ist. Zweitens verfügen diese Datensätze über Informationen zu den wichtigsten Problemen und den Parteien, die diese Probleme aus der Sicht der Befragten am besten lösen können. Drittens müssen Informationen über eine mögliche Parteiidentifikation des Befragten sowie dessen Kanzlerpräferenz gegeben sein. Viertens sollen den Befragten soziodemographische Charakteristika zugeordnet werden können, von denen man theoriegeleitet ausgehen kann, dass sie das Wählen einer bestimmten Partei begünstigen. Schließlich muss der Datensatz Informationen darüber liefern können, wie sympathisch die Befragten sowohl die Parteien als auch ihre jeweiligen Spitzenkandidaten finden. Das Heranziehen von Datensätzen, die einen Zeitraum von knapp 30 Jahren umfassen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die erforderlichen Variablen nicht immer in derselben Fragestellung vorliegen und damit die Vergleichbarkeit der Variablen nur zu einem gewissen Grad gegeben ist (vgl. Schnell/Kohler 1995: 637f.). Daher ist eine detaillierte Beschreibung der hier verwendeten Variablen aus den einzelnen Wahlstudien vonnöten. Die Parteiidentifikation als zentrales Konzept des sozialpsychologischen Ansatzes wird operationalisiert über die in allen sechs Datensätzen vorhandene Variable „Parteineigung“ (vgl. Pappi/Shikano 2007: 25ff.; Schoen/Weins 2005: 208f.). Für alle in die Untersuchung einbezogenen Parteien werden Dummy-Variablen gebildet, die Auskunft darüber geben, ob der jeweilige Befragte eine subjektive Nähe zu einer Partei empfindet. Sollte dies nicht der Fall sein, dann nehmen alle Dummy-Variablen den Wert null an. Die sozialstrukturellen Determinanten des Wahlverhaltens werden anhand der Zugehörigkeit eines Wählers zu verschiedenen sozialen Gruppen überprüft, die nach dem sozialstrukturellen Erklärungsansatz des Wahlverhaltens als Kernklientel der jeweiligen Partei gelten können. Aufbauend auf der Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan (1967) sind dies im Fall der CDU/CSU diejenigen Wähler, die mindestens einmal in der Woche den

298

Marc Debus

Gottesdienst besuchen. Für die Sozialdemokraten gilt die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als Indikator für ihre Stammwählerschaft. Den Freien Demokraten werden die Berufsgruppe der Selbstständigen, den Grünen Personen mit einem hohen Bildungsabschluss (Abitur oder abgeschlossenes Hochschulstudium) zugeordnet (vgl. Kitschelt 1994: 27ff.; Müller 1998, 2000; Pappi 1985; Pappi/Shikano 2002).2 Die ideologische Distanz zwischen einem Befragten und den politischen Parteien wird anhand der quadrierten Differenz zwischen seiner Links-Rechts-Selbsteinstufung und der von ihm subjektiv wahrgenommenen Position der entsprechenden Akteure auf einer allgemeinen Links-Rechts-Dimension bestimmt.3 Da bei allen hier verwendeten Datensätzen die Position von CDU und CSU separat abgefragt wurde, wird die Links-Rechts-Position der Union insgesamt über das arithmetische Mittel der Positionseinschätzung beider Parteien durch die Befragten bestimmt. Der Einfluss von Valenzissues auf das individuelle Wahlverhalten wird über die den Parteien zugeschriebene Problemlösungskompetenz bemessen. Hierbei ergeben sich eine Reihe von Diskrepanzen in der Operationalisierung: Für die Wahlstudien 1980, 1998, 2002 und 2005 wird allgemein nach dem wichtigsten und zweitwichtigsten Problem sowie der jeweils kompetentesten Partei gefragt. In den Wahlstudien 1976 und 1983 wurden hingegen Issues vorgegeben, die die Befragten nach ihrer Bedeutung klassifizieren sollten. Als die beiden wichtigsten Problemfelder stellten sich 1976 „Berufliche Sicherheit“ und „Preisstabilität“ und 1983 „Arbeitslosigkeit“ und „Sicherheit der Renten“ heraus. Auch hier konnten die Befragten jeweils eine Partei nennen, von der sie meinten, dass sie das entsprechende Problem am besten lösen könne. Dies wird dann als Anreiz verstanden, die entsprechende Partei auch zu wählen. Die Präferenz für einen bestimmten Kanzlerkandidaten wird über die Variable „Kanzlerpräferenz“ (1976, 1983, 1998, 2002 und 2005) oder „Bevorzugter Bundeskanzler“ (1980) bestimmt. Anzumerken ist hier, dass in den Wahlstudien 1980 und 1983 den Befragten nicht die Option eingeräumt wurde, weder für den Kandidaten der Union noch den Kandidaten der SPD eine Präferenz anzugeben. Da für die hier untersuchten Bundestagswahlen stabile Muster in den Koalitionsaussagen der Bundesparteien bestehen (vgl. Debus 2007b: 44f.), wird weiterhin angenommen, dass eine vorhandene Präferenz für den Kandidaten von Union bzw. SPD nicht nur die Wahlwahrscheinlichkeit von Christ- bzw. Sozialdemokraten erhöht, sondern auch die ihrer jeweils gewünschten Koalitionspartner (vgl. auch Pappi/Gschwend 2005). Demnach sollte eine Präferenz für einen Kanzler Helmut Schmidt 1976 und 1980 sowohl die Wahrscheinlichkeit der SPD- als auch der FDP-Wahl positiv beeinflussen. Ähnliches gilt für eine Kanzlerkandidatenpräferenz zugunsten von Helmut Kohl, Edmund Stoiber und Angela Merkel: diese sollte 1983, 1987, 1990, 1998,

2

3

Eine Alternative stellen im Fall der Grünen Befragte mit postmateriellen Werteinstellungen dar (vgl. Inglehart 1977). Wertorientierungen können jedoch schwerlich als strukturelles Merkmal interpretiert werden, sodass hier auf den Bildungsgrad zurückgegriffen wird. Im Anschluss an Merrill (1995) sowie Krämer und Rattinger (1997) werden hier die Distanzen zwischen der Position eines Befragten und dessen individueller Einschätzung der Position der jeweiligen Parteien verwendet. Adams et al. (2005: 77; vgl. auch Debus 2007a: 277) ziehen hingegen zur Lokalisierung der Position einer Partei auf einer Politikdimension den Wert des arithmetischen Mittels heran, der sich aus den Nennungen der vermuteten Position aller Befragten ergibt.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

299

2002 und 2005 eine Entscheidung für CDU/CSU wie auch für die Liberalen begünstigen.4 Für 1998, 2002 und 2005 wird komplementär angenommen, dass sich eine Präferenz für den SPD-Kanzlerkandidaten Schröder positiv auf die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen auswirkt. Gemäß der Fragestellung dieses Beitrags kommt der Sympathie gegenüber Parteien und Kandidaten und damit deren Operationalisierung eine entscheidende Bedeutung zu. Auch hier variiert die Messung von Sympathie zwischen den herangezogenen Wahlstudien. Die Wahlstudien 1998, 2002 und 2005 umfassen ein von -5 bis +5 verlaufendes Skalometer, auf dem der Befragte angeben kann, was er allgemein von den jeweiligen Parteien sowie von den Kanzlerkandidaten von Union und SPD hält. Diese Skala wird hier als Gradmesser für Sympathie oder Antipathie gegenüber Parteien und Kandidaten interpretiert. Zusätzlich werden explizit nach Sympathie gegenüber den Kanzlerkandidaten Aufschluss gebende Variablen in die Analyse einbezogen, um die Robustheit der geschätzten Effekte zu überprüfen.5 Eine Skalometer-Variable ist auch in den Datensätzen der Wahlstudien 1976, 1980 und 1983 vorhanden, wobei hier die Haltung der Befragten nicht nur gegenüber den beiden Kanzlerkandidaten, sondern auch mit Blick auf Spitzenpolitiker anderer Parteien erhoben wurde. Für die FDP wird jeweils die Sympathie gegenüber Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher als dem prominentesten Politiker der Liberalen herangezogen. Die Einbeziehung einer explizit den Sympathiegrad abdeckenden Variable neben der typischen Skalometer-Frage („Was halten sie von...?“) ist im Fall der drei Wahlstudien 1976, 1980 und 1983 nicht möglich, da diese nicht in den Datensätzen vorhanden ist. In der „Kieler Wahlstudie 1980“ umfasst die Skalometer-Variable jedoch ausdrücklich den Grad an Sympathie gegenüber den Parteien wie auch gegenüber deren Spitzenkandidaten.6 Interpretiert man nun in Anlehnung an Lass (1995) sowie an Klein und Ohr (2000) die Kanzlerpräferenz als die „rollennahe“ Kandidatenevaluierung der Befragten, während die Sympathie in Form der allgemeinen Bewertung eines Kanzler- oder Spitzenkandidaten die „rollenferne“ Kandidatenpräferenz eines Wählers darstellt, dann kann man dennoch schwerlich von zwei voneinander völlig unabhängigen Effekten sprechen. Wie die Darstellung der theoretischen Erklärungsansätze des Wahlverhaltens gezeigt hat, ist es des Weiteren durchaus wahrscheinlich, dass eine subjektiv empfundene Sympathie gegenüber politischen Akteuren an sich keinen unabhängigen Faktor in der Erklärung des Wahlverhaltens darstellt. So ist das Konzept der Kandidatenorientierung beispielsweise im Ann Arbor-Ansatz des Wahlverhaltens explizit mit eingeschlossen. Weiterhin kann vermutet werden, dass Wähler aus sozialen Gruppen, die traditionell einer politischen Partei nahestehen, deren Kandidaten oder der Partei selbst eher positivere Bewertungen zukommen lassen 4

5

6

Trotz der koalitionspolitischen Unabhängigkeitsstrategie der FDP im Bundestagswahlkampf 2002 wurde eine Präferenz zugunsten eines Bündnisses mit der Union – auch bedingt durch die negative Rezeption des liberalen „Spaßwahlkampfes“ durch Medien und Wähler – zum Ende des Wahlkampfes immer deutlicher (vgl. Vorländer 2003: 117f.). In den Wahlstudien 1998 und 2002 wurde die Frage gestellt, inwiefern das Statement „Er ist menschlich sympathisch“ auf Helmut Kohl bzw. Edmund Stoiber sowie Gerhard Schröder zuträfe. In der Wahlstudie 2005 lautet die Fragestellung: „Inwieweit trifft die Aussage auf Gerhard Schröder (bzw. Angela Merkel) zu: „Er/Sie ist sympathisch“. Die Befragten konnten auf einer Fünferskala von „trifft überhaupt nicht zu“ bis „trifft voll und ganz zu“ differenzieren. Die Skala verläuft von 1 („empfinde keine Sympathie“) bis 10 („empfinde sehr viel Sympathie“).

300

Marc Debus

als weiteren (parteipolitischen) Wettbewerbern um Wählerstimmen. Ebenfalls könnte eine geringere ideologische Distanz zwischen Wähler und Partei bzw. Kandidat sowie eine zugeschriebene Problemlösungskompetenz ebenfalls mit der Sympathie für einen politischen Akteur verwoben sein. Es muss also ein statistisches Verfahren angewandt werden, dass eine Aussage darüber erlaubt, ob überhaupt ein eigenständiger, unabhängiger Effekt der Sympathie gegenüber Parteien und Kanzlerkandidaten unter Kontrolle der anderen hier aufgeführten Faktoren auf das Wahlverhalten insgesamt vorliegt. Zur Schätzung der Größe und Signifikanz der Einflussfaktoren insgesamt wird ein statistisches Modell verwendet, das auf bedingten Wahrscheinlichkeiten beruht (conditional logit, vgl. Adams et al. 2005; Alvarez/Nagler 1998; Fuchs/Kühnel 1994; McFadden 1974). Die abhängige Variable umfasst Informationen darüber, welche Wahlmöglichkeiten ein Befragter hat. Um nicht zu viele Beobachtungen zu verlieren, die sich durch fehlende Antworten wie beispielsweise bei der Links-RechtsVerortung von Randparteien durch die Befragten ergeben würden, beschränkt sich die Auswahlmöglichkeit auf die jeweils „relevanten“, im Bundestag vertretenen Parteien. Mit Hilfe der angewandten statistischen Analysemethode wird die Bedeutung aller eben beschriebenen unabhängigen Variablen in Form von Regressionskoeffizienten empirisch geschätzt. Alle möglichen Alternativen, zwischen denen ein Befragter wählen kann, werden in der bedingten logistischen Regression mit bestimmten Merkmalen wie der Distanz auf einer allgemeinen Links-Rechts-Achse, der Parteien- und Kanzlerkandidatensympathie oder dem Bestehen einer Parteiidentifikation beschrieben. Die geschätzten Koeffizienten geben dann Aufschluss darüber, wie stark der Einfluss der eingeschlossenen Merkmale unter Kontrolle der übrigen unabhängigen Variablen auf die Wahlentscheidung – hier operationalisiert über die Wahlabsicht – insgesamt ist.7 Eine einfache Einbeziehung der beiden unabhängigen Variablen „Parteiensympathie“ und „Kandidatensympathie“ in das statistische Modell würde der vermuteten kausalen Verflechtung der Faktoren nicht Rechnung tragen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Befragter, der eine Parteiidentifikation zugunsten der Union aufweist, die CDU/CSU wie auch ihre jeweiligen Kanzlerkandidaten sympathischer einstuft. Für das Problem der Endogenität der Parteien- und Kandidatensympathie wird im Folgenden dadurch kontrolliert, dass nicht der reine Effekt dieser beiden Variablen in die Regressionsanalyse eingeht. Vielmehr wird in einem ersten Schritt eine OLS-Regression auf die Parteiensympathie als auch auf die Kandidatensympathie durchgeführt, wobei alle anderen hier aufgeführten erklärenden Faktoren als unabhängige Variablen dienen. In einem zweiten Schritt werden dann die sich aus den beiden OLS-Regressionen ergebenden Residuen, bei denen die Parteien- und Kandidatensympathie die jeweils abhängigen Variablen darstellen, als unabhängige Variablen in das Schätzmodell zur Erklärung des individuellen Wahlverhaltens eingebaut. Im Ergebnis erhält man damit eine Abschätzung des „Netto-Effekts“ der Parteien- und Kandidatensympathie auf das Wahlverhalten, der nicht von dessen anderen Determinanten 7

Im ursprünglichen Datensatz markiert ein Befragter exakt einen Fall. Im für das conditional logit umgestalteten Datensatz markiert ein Befragter hingegen die Gruppierungsvariable, die dessen Auswahlmöglichkeiten umfasst. Jede Gruppe – hier also jeder Befragte – hat soviel Ausprägungen wie es Auswahlmöglichkeiten gibt. So hat beispielsweise ein Befragter aus der Wahlstudie 1980 drei Ausprägungen, da er zwischen SPD, CDU/CSU und FDP wählen konnte (Die Grünen werden bei der Analyse der Bundestagswahl 1980 nicht berücksichtigt).

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

301

herrührt, sowie eine bessere Abschätzung der Effektgröße dieser anderen Faktoren (vgl. Bräuninger/Debus 2008: 331; Bueno de Mesquita et al. 2003: 137). Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse der Regressionsanalysen für die hier untersuchten Bundestagswahlen präsentiert. 5

Analyse

Um zu testen, inwiefern die Bewertung von Parteien und Kanzlerkandidaten neben sozialstrukturellen und sozialpsychologischen Faktoren sowie Problemlösungskompetenz, ideologischer Distanz und Kandidatenorientierung einen zusätzlichen Erklärungsfaktor des individuellen Wahlverhaltens darstellt, muss zunächst ein Modell berechnet werden, das alle Variablen exklusive der Parteien- und Kandidatensympathie umfasst. Ein zweites Modell umfasst dann zusätzlich die Residuen, die sich aus den OLS-Regressionen auf die Parteien- sowie auf die Kanzlerkandidatensympathie ergeben haben. Wenn die Residuen einen signifikanten und positiven Effekt ausüben, dann liegt ein eigenständiger Einfluss von Parteien- und Kanzlerkandidatensympathie auf das Wahlverhalten bei deutschen Bundestagswahlen vor. Da in den Bundestagswahlstudien 1998, 2002 und 2005 explizit Informationen über die den Kanzlerkandidaten zugewiesene Sympathie vorliegen, wird für diese drei Wahlen ein weiteres Modell berechnet, das anstelle des ansonsten verwendeten Indikators für Kandidatensympathie – operationalisiert durch die Frage „Was halten sie von...?“ – die ausdrücklich Sympathie messende Variable umfasst. Auch hier werden die sich aus einer OLS-Regression, in der die letztgenannte Variable den Regressand darstellt, ergebenden Residuen verwendet. Zur Evaluierung der Hypothesen geht der nächste Abschnitt zunächst auf die als kandidatenzentriert bezeichneten Bundestagswahlen von 1980, 1998 und 2002 ein. Im Anschluss daran werden die Bestimmungsfaktoren der Wahlabsicht bei den drei eher von ideologischen Faktoren und Themenorientierungen bestimmten Bundestagswahlen 1976, 1983 und 2005 vorgestellt. 5.1 Determinanten der Wahlabsicht bei den Bundestagswahlen mit hoher Kandidatenzentrierung Die Tabellen 1 und 2 geben die Ergebnisse der bedingten logistischen Regressionen auf die Wahlabsicht je Wahljahr für die drei als eher kandidatenzentriert geltenden Bundestagswahlen 1980, 1998 und 2002 wieder. Bei diesen drei Wahlen sollte ein deutlicher Effekt von Parteien- und insbesondere Kandidatensympathie auf das Wahlverhalten vorliegen, da jeweils die Auseinandersetzung zwischen den Spitzenkandidaten der beiden Volksparteien – Bundeskanzler Schmidt (SPD) und Ministerpräsident Strauß (CSU) 1980, Bundeskanzler Kohl (CDU) und Ministerpräsident Schröder (SPD) 1998 sowie Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Stoiber (CSU) – einen breiten Raum im Wahlkampf und den Wahlkampagnen der Parteien eingenommen hat.

302

Marc Debus

Tabelle 1: Bedingte logistische Regression zur Voraussage der Wahlabsicht 1980 bei einer Drei-Parteien-Wahl (Regressionskoeffizienten, Standardfehler in Klammern) Parteiidentifikation Sozialstruktur Häufiger Kirchgang (CDU/CSU) Gewerkschaftsmitglied (SPD) Selbstständig (FDP) Valenzissues Berufliche Sicherheit Stabile Preise Ideologische Distanz Kanzlerpräferenz

(1) 1,62*** (0,13)

(2) 1,30*** (0,14)

(3) 1,70*** (0,14)

0,57 (0,35) 0,36 (0,20) -0,10 (0,53)

0,57 (0,35) 0,13 (0,21) 0,01 (0,53)

0,54 (0,34) 0,25 (0,20) 0,04 (0,53)

1,06*** (0,14) 1,04*** (0,16) -0,02** (0,01) 0,73*** (0,16)

0,82*** (0,15) 0,87*** (0,17) -0,01 (0,01) 0,34 (0,19)

1,11*** (0,15) 0,99*** (0,17) -0,02* (0,01) 0,76*** (0,17)

Sympathien Sympathie (Parteien)

0,20*** (0,05) 0,04 (0,04)

Sympathie (Spitzenkandidaten) Residuen Sympathie (Parteien) Residuen Sympathie (Spitzenkandidaten) Anzahl der Alternativen Anzahl der Fälle Mc Fadden’s Pseudo R² Log Likelihood AIC

3477 1159 0,68 -405,3 826,51

3477 1159 0,69 -389,5 799,09

0,36*** (0,07) 0,23*** (0,06) 3477 1159 0,69 -389,5 799,09

Signifikanzniveaus: *** p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05

Tabelle 1 gibt die Ergebnisse der Analyse für die Bundestagswahl 1980 wieder. Es werden drei Modelle berechnet. Das erste Modell umfasst als Grundmodell sozialstrukturelle Komponenten, die Parteiidentifikation, Valenzissues sowie ideologische Distanzen und die Kanzlerpräferenz. In Modell 2 werden die in den Datensätzen vorhandenen Variablen zu Parteien- und Kandidatensympathie unverändert eingefügt, während im dritten Modell lediglich die sich aus den OLS-Regressionen auf die Kandidaten- wie Parteiensympathie ergebenden Residuen in das konditionale Logit-Modell eingebaut werden.8 Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 1980 war laut dem ersten Modell vor allem durch 8

Auf ein Ausweisen der einzelnen linearen Regressionsergebnisse zur Parteien- und Kanzlerkandidatensympathie wird aus Platzgründen verzichtet.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

303

die Parteiidentifikation, die ideologische Distanz zwischen Wähler und Partei, die den Parteien zugewiesene Problemlösungskompetenz und die Präferenz für einen Kanzlerkandidaten bestimmt. Die Zugehörigkeit zu einer der drei hier als Kernklientel von Union, SPD und FDP identifizierten Gruppen hat die Wahrscheinlichkeit der Wahl der entsprechenden Parteien dagegen nicht signifikant erhöht. Fügt man nun die reinen Effekte von Parteienund Kandidatensympathie hinzu, dann steigt zwar die Güte des Modells an – erkennbar am höheren Wert des Pseudo-R² sowie an dem gesunkenen Wert von Akaikes Information Criteria (AIC) –, jedoch sind neben der Parteiidentifikation lediglich Valenzissues und Parteiensympathie von statistischer Signifikanz. Der in Modell 1 signifikant von Null verschiedene Effekt der Kanzlerpräferenz und der ideologischen Distanz ist nun insignifikant. Dies mag mit der bereits diskutierten Verwobenheit der im zweiten Modell berücksichtigten Faktoren zu tun haben. Zieht man hingegen nur die Residuen von Parteien- und Kandidatensympathie heran, dann erhält man ein deutlich anderes Bild. Der geschätzte Koeffizient für die Kanzlerpräferenz wie auch für die ideologische Distanz ist – wie bereits im ersten Modell – signifikant. Dies gilt auch für die Residuen der Parteien- und Kandidatensympathie. Je sympathischer einem Befragten die Spitzenkandidaten Strauß, Schmidt und Genscher (FDP) waren, desto eher hat er sich – unter Kontrolle aller anderen im Modell einbezogenen Faktoren – für die Partei entschieden, die die jeweiligen Kandidaten repräsentierten. Somit bestätigt sich für die Bundestagswahl 1980 die Erwartung, dass Sympathien gegenüber Parteien- wie Kandidaten einen unabhängigen Einfluss auf die individuelle Wahlentscheidung ausüben. Zeigt sich ein ähnliches Bild nun auch bei den beiden anderen als kandidatenzentriert bezeichneten Bundestagswahlen 1998 und 2002? Zunächst verdeutlichen die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse für 1998 und 2002 wiederum einen durchgehend hohen und signifikanten Effekt der Parteiidentifikation sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern. Dies gilt auch für die Problemlösungskompetenz, die Kanzlerpräferenz und – abgesehen von den neuen Bundesländern 1998 – die ideologische Distanz, sodass insgesamt betrachtet nicht von großen Unterschieden in den Determinanten der Wahlabsicht zwischen West und Ost einerseits sowie den Wahlen 1998 und 2002 andererseits gesprochen werden kann. Dies gilt auch für die Residuen der Parteien- und Kandidatensympathie. Sie weisen in beiden Gebieten einen hoch signifikanten Einfluss auf. Dies gilt sowohl für die Operationalisierung über die explizit die Sympathie gegenüber Schröder bzw. Kohl und Stoiber messende Variable („explizite Sympathie“; vgl. jeweils Modell 2 in Tabelle 2) als auch für diejenige, welche die Umsetzung über die allgemeine Bewertung der Kanzlerkandidaten anhand der Skalometer-Variable bestimmt („indirekte Sympathie“; vgl. jeweils Modell 3 in Tabelle 2). Jedoch scheint die Verwendung der ausdrücklich die Sympathie erfassende Variable eine leicht höhere Erklärungskraft aufzuweisen: abgesehen von den neuen Bundesländern bei der Wahl 2002 ist der AIC-Wert des zweiten Modells niedriger als dessen Betrag von Modell 3. Dies impliziert, dass nicht nur die Verwendung der Skalometer-Frage „Was halten sie von Partei x bzw. Kandidaten y?“ ein brauchbarer Näherungsindikator für das Messen von subjektiver Sympathie darstellt. Vielmehr impliziert der Vergleich der Modelle 2 und 3, dass die Verwendung eines expliziten Sympathiemaßes noch etwas mehr zur Erklärung des individuellen Wahlverhaltens beitragen kann.

304

Marc Debus

Insgesamt betrachtet waren somit auch die Bundestagswahlen 1998 und 2002 nicht nur von einer „rollennahen“ Kanzlerpräferenz sowie der Parteiidentifikation dominiert, sondern auch von den subjektiven Sympathien, die die Wähler den beiden Kanzlerkandidaten sowie den Parteien entgegengebracht haben. Dies ist eine Bestätigung für die im zweiten Abschnitt dieses Beitrags formulierte Hypothese. Tabelle 2: Bedingte logistische Regression zur Voraussage der Wahlabsicht 1998 und 2002 bei einer Fünf-Parteien-Wahl (jeweils getrennt nach West- und Ostdeutschland; Regressionskoeffizienten, Standardfehler in Klammern) Parteiidentifikation Sozialstruktur Häufiger Kirchgang (CDU/CSU) Gewerkschaftsmitglied (SPD) Selbstständig (FDP) Hohe Bildung (Grüne) Valenzissues Wichtigstes Problem Zweiwichtigstes Problem Ideologische Distanz Kanzlerpräferenz Sympathien Residuen Sympathie (Parteien) Residuen explizite Sympathie (Kanzlerkandidaten) Residuen indirekte Sympathie (Kanzlerkandidaten) Anzahl der Alternativen Anzahl der Fälle Mc Fadden’s Pseudo R² Log Likelihood AIC

(Fortsetzung)

(1) 2,04*** (0,18)

West 1998 (2) 2,20*** (0,20)

(3) 2,18*** (0,19)

(1) 1,99*** (0,31)

Ost 1998 (2) 2,45*** (0,39)

(3) 2,52*** (0,39)

0,98 (0,59) 0,42 (0,44) 0,47 (0,66) 0,62* (0,30)

1,29 (0,66) 0,46 (0,43) 1,00 (0,66) 0,74* (0,29)

1,29 (0,66) 0,48 (0,43) 0,96 (0,66) 0,74* (0,30)

2,59 (1,95) 1,25 (0,74) 1,69 (0,93) 0,78 (0,50)

2,19 (2,11) 0,94 (0,76) 2,44* (1,07) 1,32* (0,54)

2,11 (2,18) 1,00 (0,75) 2,65* (1,10) 1,39* (0,55)

1,15*** (0,20) 1,13*** (0,19) -0,05*** (0,01) 1,52*** (0,20)

1,29*** (0,20) 1,18*** (0,19) -0,04*** (0,01) 1,79*** (0,24)

1,28*** (0,20) 1,17*** (0,19) -0,05*** (0,01) 1,83*** (0,25)

2,04*** (0,32) 1,69*** (0,30) -0,04* (0,02) 1,73*** (0,28)

2,31*** (0,39) 1,65*** (0,32) -0,03 (0,02) 2,11*** (0,38)

2,27*** (0,37) 1,66*** (0,32) -0,03 (0,02) 2,04*** (0,37)

0,48*** (0,07) 0,38***

0,50*** (0,07)

0,70*** (0,13) 0,46***

0,74*** (0,14)

(0,06)

3290 658 0,75 -269,0 555,96

3290 658 0,78 -228,6 479,28

(0,09)

0,20*** (0,03) 3290 658 0,78 -230,4 482,83

1415 283 0,74 -119,9 257,76

1415 283 0,82 -82,24 186,48

0,26*** (0,05) 1415 283 0,82 -82,29 186,59

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

305 (Fortsetzung)

Parteiidentifikation Sozialstruktur Häufiger Kirchgang (CDU/CSU) Gewerkschaftsmitglied (SPD) Selbstständig (FDP) Hohe Bildung (Grüne) Valenzissues Wichtigstes Problem Zweiwichtigstes Problem Ideologische Distanz Kanzlerpräferenz Sympathien Residuen Sympathie (Parteien) Residuen explizite Sympathie (Kanzlerkandidaten) Residuen indirekte Sympathie (Kanzlerkandidaten) Anzahl der Alternativen Anzahl der Fälle Mc Fadden’s Pseudo R² Log Likelihood AIC

(1) 1,81*** (0,13)

West 2002 (2) 1,99*** (0,15)

(3) 1,97*** (0,14)

(1) 1,75*** (0,16)

Ost 2002 (2) 2,01*** (0,18)

(3) 2,01*** (0,18)

1,26* (0,50) 0,41 (0,30) 0,70 (0,38) 0,16 (0,22)

1,20* (0,54) 0,36 (0,29) 0,95* (0,39) 0,25 (0,22)

1,20* (0,54) 0,37 (0,29) 0,92* (0,39) 0,20 (0,22)

1,57 (0,85) 1,33*** (0,36) 0,72 (0,55) 0,49 (0,27)

1,68 (0,88) 1,36*** (0,37) 1,09 (0,57) 1,01*** (0,28)

1,52 (0,88) 1,37*** (0,38) 1,18* (0,57) 1,03*** (0,27)

0,76*** (0,16) 0,68*** (0,15) -0,06*** (0,01) 1,10*** (0,15)

0,81*** (0,16) 0,84*** (0,15) -0,05*** (0,01) 1,43*** (0,19)

0,81*** (0,16) 0,84*** (0,15) -0,05*** (0,01) 1,46*** (0,19)

1,15*** (0,21) 0,89*** (0,20) -0,03*** (0,01) 1,28*** (0,15)

1,20*** (0,22) 1,02*** (0,21) -0,03** (0,01) 1,25*** (0,18)

1,18*** (0,22) 1,01*** (0,21) -0,03** (0,01) 1,24*** (0,18)

0,44*** (0,05) 0,25***

0,45*** (0,06)

0,44*** (0,06) 0,40***

0,44*** (0,06)

(0,05)

3780 756 0,64 -442,1 902,24

3780 756 0,68 -394,9 811,86

(0,05)

0,13*** (0,02) 3780 756 0,67 -397,0 815,92

2925 585 0,61 -365,8 749,54

2925 585 0,69 -293,5 608,95

0,23*** (0,03) 2925 585 0,69 -293,1 608,30

Signifikanzniveaus: *** p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05

5.2 Determinanten der Wahlabsicht bei den Bundestagswahlen mit starker ideologischthematischer Komponente Zeigen sich nun Unterschiede in den Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens zwischen den beiden hier untersuchten Gruppen von Bundestagswahlen und damit zwischen personell und inhaltlich dominierten Wahlkampagnen? Die Bundestagswahl 1976, die aufgrund des Wahlkampfs der Unionsparteien, der die Wähler vor eine Entscheidung zwischen „Freiheit statt Sozialismus“ stellte, wird allgemein als ein ideologisch hoch polarisierter Wahlkampf angesehen, bei dem die Spitzenkandidaten – anders als in den Bundestagswahlkämpfen 1972 oder 1980 – eine untergeordnete Rolle spielten (vgl. etwa Thränhardt 1996: 223ff.). Im ersten, die Parteien- und Kanzlerkandidatensympathien nicht berücksichtigenden Modell weist dennoch neben der Parteiidentifikation und der Kirchgangshäufigkeit die Kanzlerpräferenz einen signifikanten Einfluss auf (vgl. Tabelle 3). Dies gilt – wie

306

Marc Debus

für den Fall 1976 erwartet – auch für die subjektiv wahrgenommene ideologische Distanz zwischen den Befragten und den drei berücksichtigten Parteien CDU/CSU, SPD und FDP. Je größer der quadrierte Abstand zwischen der Links-Rechts-Position des Befragten und der von ihm wahrgenommenen Position der Partei, desto unwahrscheinlicher ist eine Wahlabsicht für die jeweilige Partei. Auch die den Parteien zugewiesene Problemlösungskompetenz bei den beiden wichtigsten Valenzissues hat einen signifikanten Einfluss auf das Wahlverhalten. Hervorzuheben ist wiederum, dass nur eine der drei hier identifizierten sozialstrukturellen Gruppen, die als Kernklientel von Union, SPD und Liberalen gelten können, zu einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit der Wahl der entsprechenden Parteien führt, nämlich die Gruppe der Kirchgänger. Das zweite Modell in Tabelle 3 macht des Weiteren deutlich, dass bereits bei der Wahl 1976 ein eigenständiger und signifikanter Einfluss der Sympathie gegenüber den drei Parteien wie auch gegenüber den Kanzlerkandidaten Schmidt (SPD) und Kohl (CDU) unter Kontrolle aller anderen Variablen auf die Wahlabsicht vorlag. Das Hinzufügen der sich aus den OLS-Regressionen auf die Kandidaten- wie Parteiensympathie ergebenden Residuen in das konditionale Logit-Modell ändert nichts an der Richtung und am Signifikanzniveau der anderen unabhängigen Variablen. Vielmehr wird – wie bereits bei den Bundestagswahlen 1980, 1998 und 2002 – durch die beiden zusätzlichen Variablen die Varianzaufklärung gegenüber Modell 1 gesteigert, was wiederum an den Veränderungen der Werte des Pseudo-R², der Log likelihood sowie des Informationskriteriums nach Akaike (AIC) deutlich wird. Berechnet man Modelle mit den gleichen abhängigen und unabhängigen Variablen anhand der Daten der Wahlstudie 1983, so ergeben sich sehr ähnliche Ergebnisse wie bei der Analyse des Wahlverhaltens zur Bundestagswahl 1976 (vgl. Tabelle 3). Im ersten Modell weist lediglich die Zugehörigkeit eines Wählers zur Gruppe der Hochgebildeten, die als eine Hauptwählerschicht der Grünen gelten kann, einen signifikant positiven Effekt unter den sozialstrukturellen Komponenten auf. Als entscheidende Faktoren erweisen sich in Modell 1 die Kanzlerpräferenz, die ideologische Distanz und die seitens der Befragten vermuteten Problemlösungskompetenzen in Fragen der Arbeitslosigkeitsbekämpfung und der Sicherung der Renten. Das Hinzufügen der Residuen von Parteien- und Kanzlerkandidatensympathie im zweiten Modell erhöht entgegen den Erwartungen für die vergleichsweise wenig auf die beiden Spitzenkandidaten von CDU/CSU und SPD, Helmut Kohl und Hans-Jochen Vogel, ausgerichtete Bundestagswahl 1983 die Varianzaufklärung deutlich und führt zu einer besseren Modellgüte im Vergleich zu Modell 1. Es liegt somit auch bei der Bundestagswahl 1983 ein eigenständiger signifikanter Einfluss von Parteien- und Kandidatensympathie vor. Das Wahlverhalten 2005 scheint trotz der Fokussierung auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik (vgl. Niedermayer 2007: 33f.) ebenfalls von kandidatenorientierten Determinanten, Sympathie gegenüber Parteien und Kanzlerkandidaten sowie von Parteiidentifikation und ideologischen Aspekten bestimmt worden zu sein (vgl. Tabelle 4). Von den sozialstrukturellen Komponenten weist lediglich das Attribut „hohe Bildung“ in den für Westdeutschland geschätzten Modellen einen statistisch signifikanten Effekt auf. Die Wahlstudie 2005 erlaubt wie auch die Datensätze zu den Bundestagswahlen 1998 und 2002 einen Vergleich der Effekte zwischen einer expliziten Umsetzung des Sympathie-Konzepts gegenüber den Kanzlerkandidaten (siehe jeweils Modell 2 in Tabelle 4) mit dem eher groben

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

307

Näherungsindikator der Skalometer-Frage (Modell 3 in Tabelle 4). Die Residuen beider Variablen sind hoch signifikant und haben ein positives Vorzeichen. Somit spielte unter Kontrolle aller weiteren Variablen die Sympathie gegenüber den politischen Akteuren – egal ob Parteien oder Kanzler- bzw. Spitzenkandidaten betrachtet werden – eine ausschlaggebende Rolle für die Wahlabsicht der Befragten auch bei allen drei als eher inhaltlichideologisch ausgerichteten Bundestagswahlkämpfen. Tabelle 3: Bedingte logistische Regression zur Voraussage der Wahlabsicht 1976 und 1983 bei einer Drei- bzw. Vier-Parteien-Wahl (Regressionskoeffizienten, Standardfehler in Klammern) 1976 Parteiidentifikation Sozialstruktur Häufiger Kirchgang (CDU/CSU) Gewerkschaftsmitglied (SPD) Selbstständig (FDP)

1983

(1) 2,45*** (0,14)

(2) 2,63*** (0,15)

0,90**

0,97**

Stabile Preise (1976), Renten sichern (1983) Ideologische Distanz Kanzlerpräferenz Sympathien Residuen Sympathie (Parteien) Residuen Sympathie (Kanzlerkandidaten) Anzahl der Alternativen Anzahl der Fälle Log Likelihood Mc Fadden’s Pseudo R² AIC

(2) 3,20*** (0,24)

0,32

0,83

(0,33) 0,25 (0,20) -0,46 (0,43)

(0,36) 0,20 (0,20) -0,42 (0,43)

(0,38) 0,16 (0,29) -0,27 (0,63) 1,47** (0,45)

(0,44) 0,41 (0,32) -0,44 (0,73) 1,21* (0,53)

0,56* (0,25) 0,64** (0,24) -0,02** (0,01) 0,96*** (0,16)

0,48 (0,25) 0,50* (0,25) -0,02*** (0,01) 1,41*** (0,19)

0,88*** (0,17) 0,77*** (0,18) -0,05*** (0,01) 1,68*** (0,17)

0,97*** (0,20) 0,95*** (0,22) -0,05*** (0,01) 2,96*** (0,27)

Hohe Bildung (Grüne) Valenzissues Berufliche Sicherheit

(1) 2,61*** (0,18)

3804 1268 -399,1 0,71 814,21

0,59*** (0,08) 0,46*** (0,08) 3804 1268 -364,6 0,74 749,11

4232 1058 -302,1 0,79 622,12

1,11*** (0,11) 0,42*** (0,07) 4232 1058 -205,8 0,86 433,64

Signifikanzniveaus: *** p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05

Was bedeuten diese Ergebnisse nun in der Zusammenschau und im Hinblick auf die eingangs formulierte Hypothese? Es gilt festzuhalten, dass sich bei allen sechs hier zur Evaluierung herangezogenen Wahlstudien Evidenz dafür findet, dass die Sympathie von Befragten gegenüber Parteien als auch Kandidaten ein eigenständiger Erklärungsfaktor des

308

Marc Debus

Wahlverhaltens neben einer „rollennahen“ Präferenz für einen Kandidaten ist. Dieses Ergebnis bestätigt damit zu einem gewissen Grad sowohl solche Studien, die der Personalisierung der Wahlentscheidung eine größere Rolle beimessen (vgl. Pappi/Shikano 2001; Brettschneider 2002; Schoen 2007), als auch solche, die die individuellen Eigenschaften der Kandidaten in den Vordergrund stellen (vgl. Klein/Ohr 2000; Klein/Rosar 2005). Auch die Ergebnisse der Studie von Fuchs und Kühnel (1994), die die Determinanten des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 1990 mit einem sehr ähnlichen Untersuchungsdesign und statistischen Modell analysieren, finden Bestätigung. Tabelle 4: Bedingte logistische Regression zur Voraussage der Wahlabsicht 2005 bei einer Fünf-Parteien-Wahl (Regressionskoeffizienten, Standardfehler in Klammern) Parteiidentifikation Sozialstruktur Häufiger Kirchgang (CDU/CSU) Gewerkschaftsmitglied (SPD) Selbstständig (FDP) Hohe Bildung (Grüne) Valenzissues Wichtigstes Problem Zweiwichtigstes Problem Ideologische Distanz Kanzlerpräferenz

(1) 1,83*** (0,11)

West (2) 2,11*** (0,12)

(3) 2,11*** (0,12)

(1) 2,41*** (0,15)

Ost (2) 3,00*** (0,19)

(3) 2,99*** (0,19)

0,03 (0,33) 0,04 (0,25) 0,32 (0,48) 0,34 (0,19)

0,10 (0,34) 0,20 (0,28) 0,59 (0,47) 0,51* (0,20)

0,10 (0,34) 0,20 (0,28) 0,59 (0,47) 0,51* (0,20)

0,54 (1,01) 0,07 (0,49) -0,31 (0,60) -0,44 (0,32)

0,49 (1,20) 0,09 (0,48) -0,28 (0,66) -0,31 (0,33)

0,50 (1,20) 0,09 (0,48) -0,28 (0,66) -0,32 (0,33)

0,69*** (0,13) 0,48*** (0,13) -0,06*** (0,01) 1,14*** (0,12)

0,95*** (0,13) 0,72*** (0,13) -0,06*** (0,01) 1,64*** (0,15)

0,96*** (0,13) 0,72*** (0,13) -0,06*** (0,01) 1,65*** (0,15)

0,46* (0,21) 0,93*** (0,18) -0,05*** (0,01) 0,69*** (0,14)

0,66** (0,22) 1,27*** (0,20) -0,04*** (0,01) 1,15*** (0,17)

0,66** (0,22) 1,27*** (0,20) -0,04*** (0,01) 1,16*** (0,17)

0,75*** (0,07) 0,10*

0,76*** (0,07)

Sympathien Residuen Sympathie 0,58*** (Parteien) (0,05) Residuen explizite 0,12*** Sympathie (Kanzlerkandidaten) (0,03) Residuen indirekte Sympathie (Kanzlerkandidaten) Anzahl der Alternativen 5500 5500 Anzahl der Fälle 1100 1100 Mc Fadden’s Pseudo R² 0,59 0,66 Log Likelihood -719,4 -608,4 AIC 1456,79 1238,89 Signifikanzniveaus: *** p < 0,001, ** p < 0,01, * p < 0,05

0,60*** (0,05)

(0,04)

0,12*** (0,02) 5500 1100 0,66 -608,4 1238,79

2985 597 0,59 -394,5 807,02

2985 597 0,68 -304,8 631,66

0,09*** (0,02) 2985 597 0,68 -305,0 631,95

Aufgrund des hier gewählten Beobachtungszeitraums konnte zudem gezeigt werden, dass die Bedeutung der subjektiven Parteien- und Kandidatenbewertung für das Wahlverhalten kein jüngeres Phänomen ist, sondern bereits seit dem Bundestagswahlkampf 1976 besteht.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

309

Somit gibt es auch keinen Unterschied im Wahlverhalten, wenn die Wahlkämpfe auf (Kanzler-)Kandidaten oder auf inhaltliche Aspekte zugespitzt sind. Mit Blick auf die vielfach geäußerte Kritik an der dichotomen Operationalisierung der Parteiidentifikation (vgl. Pappi/Shikano 2007: 73ff.) konnte die hiesige Analyse zeigen, dass die Präferenzreihenfolge der Parteien aus der Sicht eines Wählers – operationalisiert über das Parteiensympathieskalometer – zusätzliche Erklärungskraft für die Analyse der individuellen Wahlentscheidung bietet. 6

Schlussbetrachtung

Der Hauptaspekt dieses Beitrags war die Frage nach dem Vorliegen eines eigenständigen Effekts der Parteien- und Kandidatensympathie der Wähler auf deren Wahlabsicht. Es konnte mit Hilfe von multivariaten Analyseverfahren gezeigt werden, dass unter Kontrolle von weiteren erklärenden Variablen, die sich aus dem Stand der Forschung zum Wahlverhalten ergeben, sowie der potenziellen Endogenität des Sympathiegrades ein unabhängiger und statistisch signifikanter Effekt von Parteien- und Kandidatensympathie auf die Wahlabsicht ausgeht. Je sympathischer einem Wähler die politischen Akteure – egal ob Parteien oder Kandidaten – sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, sich für diese zu entscheiden. Dies gilt nicht nur für jüngere Bundestagswahlen oder für die Wähler in den ostdeutschen Bundesländern, sondern schon für bundesweite Wahlen seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und damit auch für die Wähler in der „alten“ Bundesrepublik. Der hier gewählte Beobachtungszeitraum hat zudem die Möglichkeit eröffnet, potenzielle Verschiebungen in der Erklärungskraft unterschiedlicher Modelle des individuellen Wahlverhaltens zu evaluieren. Hierbei konnte festgestellt werden, dass das sozialpsychologische Konzept der Parteiidentifikation nach wie vor von Bedeutung ist, die Bindung an den Parteien traditionell verbundene soziale Gruppen jedoch keinen entscheidenden Einfluss hat. So hatte etwa lediglich in Westdeutschland 2002 eine hohe Kirchgangshäufigkeit die Wahl der Unionsparteien signifikant positiv beeinflusst. Vielmehr weisen neben der Parteien- und Kandidatensympathie insbesondere die Kanzlerpräferenz, die den Parteien zugewiesene Problemlösungskompetenz als auch die individuell wahrgenommene ideologische Distanz zwischen Wähler und Partei einen bedeutenden Einfluss auf die Wahlabsicht bei allen hier untersuchten Bundestagswahlen auf. Inwiefern dieses Ergebnis eine Bestätigung für individualisiertes Wahlverhalten ist (vgl. Beck 1983, 1986; Schnell/Kohler 1995) kann mit den hier durchgeführten Analysen nicht beantwortet werden. Dies bedarf einer tiefgreifenderen Evaluierung und damit eines größeren, eines gepoolten Datensatzes, der sämtliche deutsche Wahlstudien beinhaltet, sodass Vergleiche über die Zeit hinweg möglich werden (Debus 2008). Aus den hier gewonnenen Ergebnissen lassen sich Anreize für weitere Forschungsfragen ableiten. Zum einen bedarf es nicht nur der Einbeziehung der Sympathie gegenüber den Kanzlerkandidaten, sondern auch gegenüber den Spitzenkandidaten der kleineren Parteien (vgl. z.B. Pappi/Shikano 2001), was hier aus Gründen der Vergleichbarkeit nur teilweise in die Analysen eingebaut werden konnte. Zudem ist mit Blick auf die Bedeutung des Faktors „Sympathie“ für die Wahlabsicht eine detailliertere und spezifischere Operationalisierung nötig, die die rollenfernen und damit personell-charakterlichen sowie die rollennahen,

310

Marc Debus

„amtsbezogenen“ Wahrnehmungen der Kandidaten durch die Wähler für deren Wahlabsicht detaillierter untersucht. Eine Reihe von Arbeiten bieten hierfür sehr gute Ansatzpunkte, die es gilt, in die „traditionellen“ Modelle des individuellen Wahlverhaltens einzubauen (vgl. Klein/Ohr 2000; Klein/Rosar 2005; Rosar et al. 2008). Literatur Adams, James F./Merrill, Samuel/Grofman, Bernard (2005): A Unified Theory of Party Competition. Cambridge: Cambridge University Press. Alvarez, R. Michael (1997): Information and Elections. Ann Arbor: The University of Michigan Press. Alvarez, R. Michael/Nagler, Jonathan (1998): When Politics and Models Collide: Estimating Models of Multiparty Elections. In: American Journal of Political Science 42, 55-96. Arzheimer, Kai (2006): „Dead man walking?“ Party Identification in Germany, 1977-2002. In: Electoral Studies 25, 791-807. Bean, Clive/Mughan, Anthony (1989): Leadership Effects in Parliamentary Elections in Australia and Britain. In: American Political Science Review 83, 1165-1179. Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungstendenzen und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.) (1983): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz, 35-74. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bishin, Benjamin/Stevens, Daniel/Wilson, Christian (2006): Character counts? Honesty and fairness in election 2000. In: Public Opinion Quarterly 70, 235-248. Bräuninger, Thomas/Debus, Marc (2008): Der Einfluss von Koalitionsaussagen, programmatischen Standpunkten und der Bundespolitik auf die Regierungsbildung in den deutschen Ländern. In: Politische Vierteljahresschrift 49, 309-338. Brettschneider, Frank (2002): Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Brettschneider, Frank/Neller, Katja/Anderson, Christopher J. (2006): Candidate Images in the 2005 German National Election. In: German Politics 15, 481-499. Bueno de Mesquita, Bruce/Smith, Alastair/Siverson, Randolph M./Morrow, James D. (2003): The Logic of Political Survival. Cambridge: MIT Press. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York: Wiley. Dalton, Russell J./Beck, Paul A./Flanagan, Scott C. (1984): Electoral Change in Advances Industrial Democracies. In: Dalton, Russell J./Flanagan, Scott C./Beck, Paul A. (Hrsg.) (1984): Electoral Change in Advanced Industrial Democracies: Realignment or Dealignment? Princeton: Princeton University Press, 3-22. Debus, Marc (2007a): Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens in Deutschland bei den Bundestagswahlen 1987, 1998 und 2002: Eine Anwendung des Modells von Adams, Merrill und Grofman. In: Politische Vierteljahresschrift 48, 269-292. Debus, Marc (2007b): Pre-Electoral Alliances, Coalition Rejections, and Multiparty Governments. Baden-Baden: Nomos. Debus, Marc (2008): Von der Klassen- und Milieuwahl zur Dominanz von Themen- und Kandidatenorientierung? Eine Analyse der Wahlabsicht bei deutschen Bundestagswahlen von 1949 bis 2005. Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung: Unveröffentlichtes Manuskript. Doherty, Kathryn M./Gimpel, James G. (1997): Candidate Character vs. the Economy in the 1992 Election. In: Political Behavior 19, 177-196. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York: Harper.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

311

Fuchs, Dieter/Kühnel, Steffen (1994): Wählen als rationales Handeln: Anmerkungen zum Nutzen des Rational-Choice-Ansatzes in der empirischen Wahlforschung. In: Klingemann, Hans-Dieter/Kaase, Max (Hrsg.) (1994): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1990. Opladen: Westdeutscher Verlag, 305-364. Gabriel, Oscar W./Neller, Katja (2005): Kandidatenorientierungen und Wahlverhalten bei den Bundestagswahlen 1949-2002. In: Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2005): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002. Wiesbaden: VS Verlag, 213-243. Gabriel, Oscar W./Keil, Silke I. (2007): Kandidatenorientierungen in Teilelektoraten und Wahlverhalten. In: Rattinger, Hans/Gabriel, Oscar W./Falter, Jürgen W. (Hrsg.) (2007): Der gesamtdeutsche Wähler. Stabilität und Wandel des Wählerverhaltens im wiedervereinigten Deutschland. Baden-Baden: Nomos, 357-381. Glasgow, Garrett/Alvarez, R. Michael (2000): Uncertainty and Candidate Personality Traits. In: American Politics Quarterly 28, 26-49. Goren, Paul (2002): Character Weakness, Partisan Bias, and Presidential Evaluation. In: American Journal of Political Science 46, 627-641. Gschwend, Thomas/Johnston, Ron/Pattie, Charles (2003): Split-Ticket Patterns in Mixed-Member Proportional Election Systems: Estimates and Analyses of Their Spatial Variation at the German Federal Election, 1998. In: British Journal of Political Science 33, 109-127. Hayes, Danny (2005): Candidate Qualities through a Partisan Lens: A Theory of Trait Ownership. In: American Journal of Political Science 49, 908-923. Herrmann, Michael (2008): Moderat bevorzugt, extrem gewählt. Zum Zusammenhang von Präferenz und Wahlenscheidung in räumlichen Modellen sachfragenorientierten Wählens. In: Politische Vierteljahresschrift 49, 20-45. Herrmann, Michael/Shikano, Susumu/Thurner, Paul/Becker, Axel (2006): Die Analyse von Wählerpräferenzen mit Rank Ordered Logit. In: Behnke, Joachim/Bräuninger Thomas (Hrsg.) (2006): Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Band 4. Wiesbaden: VS Verlag, 113-134. Inglehart, Ronald (1977): The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton: Princeton University Press. Kinder, Donald R. (1986): Presidential Character Revisited. In: Lau, Richard R./Sears, David O. (Hrsg.) (1986): Political Cognition. Hillsdale: Erlbaum. Kitschelt, Herbert (1994): The Transformation of European Social Democracy. Cambridge: Cambridge University Press. Klein, Markus/Ohr, Dieter (2000): Gerhard oder Helmut? ,Unpolitische’ Kandidateneigenschaften und ihr Einfluss auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 1998. In: Politische Vierteljahrsschrift 41, 199-224. Klein, Markus/Jagodzinski, Wolfgang/Mochmann, Ekkehard, Ohr, Dieter (2000): 50 Jahre empirische Wahlforschung in Deutschland. Entwicklung, Befunde, Perspektiven, Daten. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Klein, Markus/Rosar, Ulrich (2005): Physische Attraktivität und Wahlerfolg. Eine empirische Analyse am Beispiel der Wahlkreiskandidaten bei der Bundestagswahl 2002. In: Politische Vierteljahresschrift 46, 263-287. Klingemann, Hans-Dieter/Taylor, Charles L. (1977): Affektive Parteiorientierung, Kanzlerkandidaten und Issues. In: Politische Vierteljahresschrift 18, 301-347. Krämer, Jürgen/Rattinger, Hans (1997): The Proximity and the Directional Theories of Issue Voting: Comparative Results for the USA and Germany. In: European Journal of Political Research 32, 1-29. Lass, Jürgen (1995): Vorstellungsbilder über Kanzlerkandidaten. Zur Diskussion um die Personalisierung von Politik. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Lazarsfeld, Paul/Berelson, Bernhard/Gaudet Hazel (1944): The Peoples Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Campaign. New York: Columbia University Press.

312

Marc Debus

Lewis-Beck, Michael S./Stegmaier, Mary (2000): Economic Determinants of Electoral Outcomes. In: Annual Review of Political Science 3, 183-219. Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein (1967): Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction. In: Lipset, Seymour M./Rokkan, Stein (Hrsg.) (1967): Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives. New York, London: Free Press, 1-64. McFadden, Daniel (1974): Conditional Logit Analysis of Qualitative Choice Behaviour. In: Zarembka, Paul (Hrsg.) (1974): Frontiers in Econometrics. New York: Academic Press, 105-142. Merrill, Samuel (1995): Discriminating between the directional and proximity spatial models of electoral competition. In: Electoral Studies 15, 53-70. Miller, Warren E./Shanks, J. Merrill (1996): The New American Voter. Cambridge: Cambridge University Press. Müller, Walter (1998): Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im Wahlverhalten. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50, 3-46. Müller, Walter (2000): Klassenspaltung im Wahlverhalten – Eine Reanalyse. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 52, 790-795. Niedermayer, Oskar (2007): Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfs und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS Verlag, 21-42. Pappi, Franz U. (1985): Die konfessionell-religiöse Konfliktlinie in der deutschen Wählerschaft: Entstehung, Stabilität und Wandel. In: Oberndörfer, Dieter/Rattinger, Hans/Schmitt, Karl (Hrsg.) (1985): Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Duncker & Humblot, 263-290. Pappi, Franz U. (1996): Political Behaviour: Reasoning Voters and Multi-party Systems. In: Goodin, Robert I./Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.) (1996): A New Handbook of Political Science. Oxford: Oxford University Press, 255-275. Pappi, Franz U./Thurner, Paul (2002): Electoral behaviour in a two-vote system: Incentives for ticket splitting in German Bundestag elections. In: European Journal of Political Research 41, 207-232. Pappi, Franz U./Bytzek, Evelyn (2007): Wirtschaftslage und Popularität der Regierungen Schröder I und II. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfs und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS Verlag, 349-367. Pappi, Franz U./Gschwend, Thomas (2005): Partei- und Koalitionspräferenzen der Wähler bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002. In: Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard (Hrsg.) (2005): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002. Wiesbaden: VS Verlag, 284-305. Pappi, Franz U./Shikano, Susumu (2001): Personalisierung der Politik in Mehrebenensystemen am Beispiel deutscher Bundestagswahlen seit 1980. In: Politische Vierteljahresschrift 42, 355-387. Pappi, Franz U./Shikano, Susumu (2002): Die politisierte Sozialstruktur als mittelfristig stabile Basis einer deutschen Normalwahl. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 54, 444-475. Pappi, Franz U./Shikano, Susumu (2007): Wahl- und Wählerforschung. Theorien und Forschungsstand. Baden-Baden: Nomos. Rattinger, Hans/Faas, Thorsten (2001): Wahrnehmungen der Wirtschaftslage und Wahlverhalten 1977 bis 1998. In: Klingemann, Hans-Dieter/Kaase, Max (Hrsg.) (2001): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1998. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 283-308. Rosar, Ulrich/Klein, Markus/Beckers, Tilo (2008): The frog pond beauty contest: Physical attractiveness and electoral success of the constituency candidates at the North Rhine-Westphalia state election of 2005. In: European Journal of Political Research 47, 64-79. Roth, Dieter (1998): Empirische Wahlforschung. Ursprung, Theorien, Instrumente und Methoden. Opladen: Leske+Budrich.

Sympathien gegenüber politischen Akteuren und ihre Auswirkungen

313

Schmitt, Hermann (2009): Multiple Party Identifications. In: Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.) (2009): The Comparative Study of Electoral Systems. Oxford: Oxford University Press, 137-157. Schnell, Rainer/Kohler, Ulrich (1995): Empirische Untersuchung einer Individualisierungshypothese am Beispiel der Parteipräferenz von 1953-1992. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47, 634-658. Schoen, Harald (2004): Kandidatenorientierungen im Wahlkampf. Eine Analyse zu den Bundestagswahlkämpfen 1980-1998. In: Politische Vierteljahresschrift 45, 321-345. Schoen, Harald (2007): Campaigns, candidate evaluations, and vote choice: Evidence from German federal elections, 1980-2002. In: Electoral Studies 26, 324-337. Schoen, Harald/Schumann, Siegfried (2007): Personality Traits, Partisan Attitudes, and Voting Behavior: Evidence from Germany. In: Political Psychology 28, 471-498. Schoen, Harald/Weins, Cornela (2005): Der sozialpsychologische Ansatz zur Erklärung von Wahlverhalten. In: Falter, Jürgen W./Schoen, Harald (Hrsg.) (2005): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS Verlag, 187-242, Stewart, Marianne C./Clarke, Harold D. (1992): The (Un)Importance of Party Leaders: Leader Images and Party Choice in the 1987 British Election. In: Journal of Politics 54, 447-470. Stokes, Donald E. (1963): Spatial Models of Party Competition. In: American Political Science Review 57, 368-377. Thränhardt, Dietrich (1996): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Thurner Paul W./Eymann, Angelika (2000): Policy-specific Alienation and Indifference in the Calculus of Voting: A Simultaneous Model of Party Choice and Abstention. In: Public Choice 102, 51-77. Vetter, Angelika/Gabriel, Oscar W. (1998): Candidate Evaluations and Party Choice in Germany, 1972-94: Do Candidates Matter? In: Anderson, Christopher/Zelle, Carsten (Hrsg.) (1998): Stability and Change in German Elections: How Electorates Merge, Converge or Collide. New York: Praeger, 71-98. Vorländer, Hans (2003): Aufstieg und Niedergang einer Spaßpartei: Die FDP nach den Bundestagswahlen 2002. In: Niedermayer, Oskar (Hrsg.) (2003): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002. Opladen: Leske+Budrich, 109-123.

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005: Leihstimmen oder Koalitionswahl als Ursache? Evelyn Bytzek

1

Einleitung

Die Bundestagswahl 2005 zeichnete sich neben vielen anderen Besonderheiten wie beispielsweise dem Erfolg der Linken dadurch aus, dass die meisten Umfrageinstitute mit ihrer Prognose des Wahlausgangs daneben lagen. In dieser Hinsicht erfährt vor allen Dingen das schlechte Abschneiden der CDU/CSU die größte Beachtung, da dies die erwartete schwarzgelbe Koalition verhindert hat. Aber ebenso bemerkenswert ist das überraschend gute Abschneiden der FDP, das zu dem generellen Trend, dass die beiden Volksparteien SPD und CDU/CSU immer weniger Wähleranteile auf sich vereinen können, beiträgt. So konnte die FDP 9,8 Prozent der Zweitstimmen für sich gewinnen, im Gegensatz zu den im Durchschnitt vorhergesagten knapp sieben Prozent oder den 7,4 Prozent bei der Bundestagswahl 2002. Die Erklärungen für das schlechte Abschneiden der CDU/CSU sind zahlreich und betreffen unterschiedlichste Bereiche, beispielsweise mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 18 Prozent ein Positionsissue, mit der Diskussion um Paul Kirchhof und Angela Merkel hingegen das politische Personal. Dagegen lautet die Antwort auf die Frage nach dem Erfolg der FDP häufig, dass von der CDU/CSU enttäuschte Wähler zur FDP gewechselt sind. Die politikwissenschaftliche Forschung macht für „Wanderungstendenzen“ zwischen großen und kleinen Parteien jedoch weniger affektives Handeln als vielmehr strategisches Kalkül verantwortlich. Demnach kommt der Erfolg der FDP durch sogenannte Leihstimmen zustande, die ihr CDU/CSU-Sympathisanten geben, um ihr vor dem Hintergrund der Fünf-Prozent-Hürde den Einzug in den Bundestag und somit das Zustandekommen einer schwarz-gelben Koalition zu sichern. Damit diese Erklärung stimmig ist, muss jedoch streng genommen gelten, dass der Einzug der FDP als unsicher wahrgenommen wird. Die Umfrageergebnisse vor der Wahl sahen die FDP jedoch bei etwa sieben Prozent der Stimmen, wodurch der Einzug der FDP als sicher gelten kann. Dies kann folgendermaßen interpretiert werden: Die Leihstimmenerklärung stimmt im Grunde genommen. Es haben also tatsächlich Wähler, die die CDU/CSU präferieren, die FDP gewählt. Und dies aus dem Grund, dass sie den Einzug der FDP fälschlicherweise als unsicher angesehen haben. Eine andere Erklärung hingegen lautet, dass für manche Wähler zwar Parteipräferenzen bestehen, aber Koalitionspräferenzen wahlentscheidend sind. Präferiert man eine schwarz-gelbe Koalition stärker als die CDU/CSU oder die FDP, dürfte es keine Rolle spielen, welcher der beiden Parteien man seine Zweitstimme gibt. Dieses Verhalten kann ebenfalls eng mit der Wahrnehmung über den Wahlausgang verbunden sein, denn es ergibt nur dann Sinn, wenn die gewünschte Koalition Siegeschancen hat. Andernfalls könnte es passieren, dass die gewählte Partei eine andere, unliebsame Koalition ein-

316

Evelyn Bytzek

geht. Da eine schwarz-gelbe Koalition jedoch über weite Teile des Wahlkampfs eine Mehrheit in den Umfragen genoss, verdient diese Erklärung für die Bundestagswahl 2005 Beachtung. Beiden Erklärungen wird in der vorliegenden Untersuchung unter Heranziehen von Vorwahl- und Nachwahldaten zur Bundestagswahl 2005 nachgegangen. Da insbesondere die Leihstimmenthese von der wahrgenommenen Einzugswahrscheinlichkeit der FDP abhängt, wird jedoch zunächst untersucht, wodurch Unterschiede in der wahrgenommenen Einzugswahrscheinlichkeit und damit eine fehlerhafte Wahrnehmung zustande kommen können. Im Anschluss daran wendet sich der Beitrag den beiden oben genannten Erklärungen für das gute Abschneiden der FDP zu – der Leihstimmenthese und dem Vorherrschen von Koalitionspräferenzen. Hierfür werden zunächst theoretische Grundlagen und empirische Befunde zu beiden Erklärungen vorgestellt und in den darauffolgenden Abschnitten empirisch getestet. Die Datenbasis für alle berechneten Modelle ist die Wahlstudie „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“ (Vorwahlstudie, ZA 4203, und Nachwahlpanel), die im Rahmen des DFG-Projekts „Kampagnendynamik. Eine Rolling Cross-Section/Panel-Studie zu den Wirkungen des Wahlkampfs bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005“ erhoben wurde. 2

Die Wahrnehmung der FDP-Einzugswahrscheinlichkeit

Insbesondere für die Gültigkeit der Leihstimmenthese ist es wesentlich, dass die Wahrnehmung besteht, der Einzug der FDP in den Bundestag sei gefährdet. Betrachtet man die wahrgenommene Einzugswahrscheinlichkeit der FDP im Vergleich zu den anderen beiden kleinen Parteien, Grüne und Linkspartei (Tabelle 1), fällt auf, dass mehr als 16 Prozent mit „vielleicht“ antworten. Diese Befragten geben also nicht einmal eine grobe Tendenz dazu an, ob die FDP den Einzug schafft oder nicht. Daher kann man annehmen, dass diese Befragten den Einzug der FDP als sehr unsicher ansehen. Weitere knapp 40 Prozent geben an, die FDP schaffe den Einzug „wahrscheinlich“ oder „wahrscheinlich nicht“: Auch diese Wähler sind sich folglich über den FDP-Einzug nicht sicher, geben aber zumindest eine Tendenz an. Tabelle 1: Wahrgenommene Einzugswahrscheinlichkeiten kleiner Parteien bei der Bundestagswahl 2005 (in Prozent) FDP Grüne Linkspartei Bestimmt 39,3 48,2 33,4 Wahrscheinlich 32,7 27,7 25,7 Vielleicht 16,4 12,3 15,6 Wahrscheinlich nicht 7,1 7,6 13,7 Bestimmt nicht 2,3 3,0 9,3 Weiß nicht, keine Angabe 2,2 1,3 2,4 Quelle: Bundestagwahl 2005 Kampagnendynamik (Vorwahlstudie, ZA-Nr. 4203), N=3583

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

317

Fasst man beide Gruppen zusammen, ist festzustellen, dass für den Großteil der Wähler der Einzug der FDP somit weder sicher noch unmöglich war. Vergleicht man diese Wahrnehmung jedoch mit den Prognosen zum Wahlerfolg der FDP in den letzten Monaten vor der Wahl, wirkt die Wahrnehmung übertrieben negativ, also unverhältnismäßig stark in Richtung eines unsicheren FDP-Einzugs deutend. Für einen sehr unsicheren Einzug der FDP würde sprechen, wenn die Prognosen sie einmal unter, einmal über der Fünf-Prozent-Hürde zeigen würden. Wahrscheinlich wäre der Einzug, wenn die FDP bei den Umfragen jeweils nur knapp über fünf Prozent liegen würde. Die Prognosen zeigen die FDP jedoch in den drei Monaten vor der Wahl konstant bei mindestens knapp sieben Prozent und im Durchschnitt über alle Institute und Zeitpunkte hinweg bei 7,1 Prozent. Hiermit geben sie keinen Hinweis darauf, dass der Einzug der FDP unsicher ist. Vergleicht man die Wahrnehmung der Einzugswahrscheinlichkeit und die Prognosen für die FDP mit beiden Größen für die Grünen, zeigt sich, dass der Einzug der Grünen als sicherer wahrgenommen wird: Nur zwölf Prozent der Befragten sehen ihn als sehr unsicher an, deutlich unter 50 Prozent als unsicher. Im Mittel über alle Institute und Zeitpunkte werden den Grünen 7,8 Prozent der Stimmen prognostiziert. Obwohl zwischen den Grünen und der FDP in den Prognosen weniger als ein Prozentpunkt liegt, wird der Einzug der FDP als deutlich unsicherer angesehen als jener der Grünen. Der Vergleich zwischen Einzugswahrscheinlichkeit und Prognose der FDP, insbesondere unter Hinzuziehen beider Werte für die Grünen, macht somit deutlich, dass die Wahrnehmung der FDP-Einzugswahrscheinlichkeit bei der Bundestagswahl 2005 sehr fehlerbehaftet war. Dies wirft die Frage auf, wie die Wahrnehmung von Einzugswahrscheinlichkeiten kleiner Parteien zustande kommt, welche Merkmale der Befragten also einen Einfluss darauf haben, ob die Einzugswahrscheinlichkeit in Übereinstimmung mit den Umfragen wahrgenommen wird oder nicht. Für die Einschätzung, ob eine kleine Partei den Einzug in den Bundestag schaffen wird oder nicht, ist es wesentlich, Erwartungen über das Wahlverhalten anderer Wähler zu bilden. Dies ist keine leichte Aufgabe. Sie wird jedoch durch die Existenz von veröffentlichten Vorwahlumfragen, die die Chancen der Parteien abbilden, erleichtert. Wahlumfragen stellen somit eine wichtige Informationsquelle für den antizipierten Wahlausgang dar (Faas/Schmitt-Beck 2007: 248f.). Trotz der massiven Präsenz von Umfragen in den letzten Wochen vor Bundestagswahlen kann deren Wahrnehmung durch den größten Teil der Wählerschaft nicht als gegeben betrachtet werden. Politik spielt im Leben der meisten Menschen keine zentrale Rolle, so dass nicht alle Wähler Umfrageergebnisse wahrnehmen und richtig interpretieren werden. Die Wahrnehmung von Umfragen ist daher eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Einzugswahrscheinlichkeiten der kleinen Parteien korrekt wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung von Umfragen alleine reicht jedoch nicht aus. Für eine sinnvolle Einschätzung muss die richtige Interpretation von Umfrageergebnissen hinzukommen. Hierfür muss der Wähler über einen gewissen Grad an politischem Wissen verfügen. Politisches Wissen ist für die Einschätzung notwendig, ob und wann der Einzug kleiner Parteien gefährdet ist. Neben dem relativ leicht zu erlangenden Wissen um die FünfProzent-Hürde des deutschen Wahlsystems müssen dem Wähler auch die Konsequenzen beispielsweise hinsichtlich Koalitionsmöglichkeiten und Kräfteverhältnisse der verbleibenden Parteien bewusst sein. Über die richtige Interpretation von Umfrageergebnissen hinaus spielt politisches Wissen auch für die Wahrnehmung von Umfragen eine Rolle: So

318

Evelyn Bytzek

konnte gezeigt werden, dass der Anteil an Wählern, der Umfragen wahrnimmt, sich mit steigendem Bildungsgrad, und damit auch potenziell größerem politischen Wissen, erhöht (Brettschneider 1992: 59). Die Einschätzung der Einzugswahrscheinlichkeiten kleiner Parteien ist folglich alles andere als einfach und hängt von der Wahrnehmung von Umfragen und dem politischen Wissen der Wähler ab. Doch auch Wähler, die Umfragen nicht oder nicht in demselben Maß wahrnehmen wie politisch versierte Wähler, können sich ein Urteil über die Einzugswahrscheinlichkeit kleiner Parteien bilden. Selbst wenn sie als cognitive misers Umfragen nicht wahrnehmen oder richtig interpretieren, können Sie auf andere Informationen, sogenannte shortcuts zurückgreifen, um sich ein Bild von den Einzugswahrscheinlichkeiten kleiner Parteien zu machen (Fiske/Taylor 2008: 13, 164ff.). Insbesondere die eigene Erfahrung kann hierfür wichtig sein, also das Wissen darum, bei welchen Wahlen eine kleine Partei die Fünf-Prozent-Hürde überwunden hat und wann nicht. Hieraus ließe sich eine generelle Wahrnehmung des Gefährdungsgrads einer bestimmten kleinen Partei ableiten. In diesem Fall würde also eine electoral history heuristic angewandt werden (Gschwend 2004: 23), statt nach aktuellen Informationen zu den Einzugswahrscheinlichkeiten kleiner Parteien, also Umfrageergebnissen, zu suchen. Eine weitere Möglichkeit, die zur Fehlwahrnehmung von Umfrageergebnisse führen kann, besteht im wishful thinking. Hiernach überschätzen die Anhänger einer Partei deren Chancen (McAllister/Studlar 1991: 729). Zusammenfassend ist daher zu sagen, dass Unterschiede in der Wahrnehmung der FDP-Einzugswahrscheinlichkeit trotz einheitlicher Signale durch Umfrageergebnisse vor der Wahl daher rühren, dass sich die Wähler in ihrer Wahrnehmung von Umfragen, ihrem politischen Wissen, ihrer electoral history und der Bindung an die FDP unterscheiden. Das folgende Modell prüft diese theoretischen Überlegungen. Als abhängige Variable wird die wahrgenommene Einzugswahrscheinlichkeit der FDP verwendet (siehe Tabelle 1). Diese erhält den Wert eins, wenn sie im Einklang mit den von den Ergebnissen der Vorwahlbefragungen verbreiteten Signalen, dass die FDP wahrscheinlich bis sicher den Einzug in den Bundestag schafft, steht. Andernfalls ist der Wert null. Als unabhängige Variablen werden die Wahrnehmung von Umfragen, politisches Wissen und die eigene Erfahrung hinsichtlich des Einzugs der FDP verwendet. Die Wahrnehmung von Umfragen ist eine dichotome Variable mit dem Wert eins für Wähler, die Umfragen regelmäßig oder gelegentlich nutzen und dem Wert null für Wähler, die dies selten oder nie tun. Immerhin knapp 70 Prozent geben an, Umfragen regelmäßig oder gelegentlich zu nutzen. Das politische Wissen eines Befragten wird daran gemessen, ob er die Frage nach der bei der Bundestagswahl 2005 bestehenden Mehrheit im Bundesrat korrekt beantworten kann oder nicht. Befragte mit richtiger Antwort erhalten den Wert eins, andernfalls eine null. Diese Frage konnten gut 70 Prozent der Befragten korrekt beantworten, so dass sich generell das Bild einer an Umfragen interessierten und versierten Wählerschaft ergibt. Dennoch könnte gerade für Befragte, die Umfragen nicht nutzen und über wenig politisches Wissen verfügen, die eigene Erfahrung zum Einzug der FDP wesentlich sein. Da die FDP bislang in jedem Bundestag vertreten war, wenn auch manchmal sehr knapp, wie beispielsweise mit 5,8 Prozent der Zweitstimmen 1969, weist die elektorale Geschichte der Bundestagswahlen keine Varianz hinsichtlich der Einzugswahrscheinlichkeit der FDP auf. Dagegen passiert es auf Landesebene häufiger, dass die FDP an der Sperrklausel scheitert.

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

319

Betrachtet man die Zusammensetzung der Landesparlamente zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2005, war die FDP in elf der 16 Landesparlamente vertreten und lediglich in Brandenburg, Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen nicht. Geht man davon aus, dass die Landtagswahlergebnisse wenigstens in ihrer groben Form, also hinsichtlich des Einzugs unterschiedlicher Parteien, für die Bewohner eines Landes eine leicht abrufbare und interpretierbare Information darstellen, müsste der Einzug der FDP in den fünf genannten Ländern folglich als unsicherer angesehen werden als in den elf Ländern, in denen die FDP im Landesparlament vertreten ist. Daher erhalten Befragte in Ländern mit FDP-Vertretung im Parlament den Wert eins, andernfalls den Wert null. Die Anwendung solcher Heuristiken dürfte insbesondere auf Befragte zutreffen, die keine Umfragen nutzen und über wenig politisches Wissen verfügen. Aus diesem Grund wird neben der eigentlichen Variable ein Interaktionseffekt einbezogen, der unterstellt, dass für Wähler, die Umfragen nicht nutzen und über wenig politisches Wissen verfügen, die eigene Erfahrung wesentlich ist. Zusätzlich zu den vorgestellten unabhängigen Variablen wird eine Parteiidentifikation für die FDP einbezogen, um der Möglichkeit von wishful thinking Rechnung zu tragen. Die Ergebnisse des vorgestellten Modells sind Tabelle 2 zu entnehmen: Tabelle 2: Unterschiede in der Wahrnehmung der FDP-Einzugschance (Koeffizienten einer logistischen Regression, Standardfehler in Klammern)

Nutzung von Umfragen Politisches Wissen Bundesland Interaktion von fehlender Nutzung von Umfragen, fehlendem Wissen, Landesparlament ohne FDP Parteiidentifikation FDP Konstante N Signifikanzniveaus: * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001.

FDP-Einzug wird in Übereinstimmung mit den Umfragen wahrgenommen (1) oder nicht (0) 0,46 (0,10)*** 0,94 (0,10)*** -0,08 (0,10) 0,02

(0,17)

0,06 0,35

(0,26) (0,11)** 3424

Sowohl die Nutzung von Umfragen als auch politisches Wissen haben einen positiven, signifikanten Effekt darauf, ob die Wahrnehmung der FDP-Einzugswahrscheinlichkeit in Einklang mit den Signalen der Vorwahlumfragen steht. Dagegen haben weder die eigene Erfahrung an sich noch bei Wählern, die keine Umfragen nutzen und über wenig politisches Wissen verfügen, einen Effekt auf die Wahrnehmung der FDP-Einzugswahrscheinlichkeit. Dies deutet daraufhin, dass die eigene Erfahrung lediglich eine andere Form politischen Wissens darstellt und daher nicht als shortcut für unwissende und an Umfragen wenig interessierte Wähler dient. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass eine sinnvolle Einschätzung der Einzugswahrscheinlichkeiten von kleinen Parteien nicht als selbstverständlich erachtet werden kann und von der Wahrnehmung und Interpretation von Umfrageergebnissen abhängt. Für die Leih-

320

Evelyn Bytzek

stimmenthese bedeutet dies, dass eine Voraussetzung für ihre Gültigkeit, die korrekte Wahrnehmung der Einzugswahrscheinlichkeiten, auf einen Teil der Wähler nicht zutrifft. Dennoch können sich Wähler auch mit falschen Informationen im Einklang mit der Leihstimmenthese verhalten, den Einzug der FDP also als unsicher ansehen, auch wenn dies nicht der Fall ist, und daher eine Leihstimme an die FDP vergeben. Aus diesem Grund ist es für eine Einschätzung der Gültigkeit der Leihstimmenerklärung notwendig, diese weiterhin zu untersuchen. Daher werden im nächsten Abschnitt theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur Leihstimmenthese dargelegt und der These, dass der FDP-Erfolg durch das Vorherrschen von Koalitionspräferenzen zustande kam, gegenübergestellt. 3

Leihstimmen oder Koalitionswahl als Erklärung für den FDP-Erfolg?

3.1 Theoretische Überlegungen und empirische Befunde Während zur sogenannten Koalitionswahl, also dem Vorherrschen von Koalitions- über Parteipräferenzen, noch recht wenige theoretische Überlegungen und empirische Befunde vorliegen, genießt die Leihstimmenthese einiges an Popularität und wird von der FDP sogar im Wahlkampf verwendet, um unter CDU/CSU-Wählern Werbung dafür zu machen, ihr die Zweitstimme zu geben. Hierbei wird eindeutig und zum Teil mit numerischen Beispielen darauf verwiesen, dass – falls es die FDP nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schafft – die gewünschte Koalition aus CDU/CSU und FDP nicht gebildet werden kann (Roberts 1988: 326). Die Leihstimmenerklärung geht also von zwei Präferenzen aus: erstens der Präferenz für eine der beiden großen Parteien SPD oder CDU/CSU, zweitens der Präferenz für eine Koalition der präferierten großen Partei mit einer kleinen Partei. Das Kernstück der Leihstimmenerklärung bildet jedoch die Wahrnehmung, dass der Einzug des kleinen Koalitionspartners in den Bundestag gefährdet ist. In diesem Fall ist es für den Anhänger der großen Koalitionspartei sinnvoll, die kleine Partei mit seiner Zweitstimme zu stärken und so die gewünschte Koalition zu ermöglichen. Wird aber erwartet, dass der kleine Koalitionspartner es mit Sicherheit nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schafft, käme die Vergabe der Zweitstimme an ihn einer Verschwendung dieser Stimme gleich. Wird hingegen erwartet, dass der kleine Koalitionspartner bestimmt im Bundestag vertreten sein wird, würde man mit seiner Wahl die eigene Partei schwächen und ihr Gewicht in der Koalition verringern. Folglich sind nicht nur Präferenzen, sondern auch Wahrnehmungen zu den Wahlchancen der kleinen Parteien für die Vergabe einer Leihstimme wesentlich. Empirische Modelle, die die Leihstimmenthese untersuchen, tragen dem Rechnung und beziehen die Erwartungen der Wähler zu den Einzugswahrscheinlichkeiten der kleinen Parteien explizit ein. Die Ergebnisse dieser Modelle sind jedoch gemischt, wie Untersuchungen für die Bundestagswahl 1998 veranschaulichen: Pappi und Thurner (2002: 226) finden keinen Effekt der Erwartung auf die Wahrscheinlichkeit, die beiden Stimmen optimal (d.h. die Erststimme für eine große Partei, die Zweitstimme für eine kleine) zu verteilen. Dagegen kann Gschwend (2007: 15) zeigen, dass Wähler, die eine Parteiidentifikation für die CDU aufweisen, die FDP mit ihrer Zweitstimme unterstützt haben. Dieser Effekt tritt jedoch erst dann auf, wenn die Kosten dieser Entscheidung, also der Unterschied

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

321

zwischen CDU und FDP hinsichtlich ihrer allgemeinen Bewertung, gering sind. Ohne diesen Faktor deuten die Ergebnisse stärker in die Richtung, dass Erwartungen über die Einzugswahrscheinlichkeiten kleiner Parteien keine Rolle dabei spielen, dass man eine Leihstimme vergibt (Gschwend 2004: 72ff.). Entgegen der theoretischen Überlegungen zur Leihstimmenthese, laut denen die Erwartung eines unsicheren Einzugs des kleinen Koalitionspartners wesentlich ist, zeigen empirische Ergebnisse hierzu, dass die Wichtigkeit von Erwartungen bestenfalls umstritten und schlimmstenfalls nicht existent ist. Die Ergebnisse beziehen sich jedoch auf die Bundestagswahl 1998. Der Zusammenhang zwischen FDP-Erfolg, Leihstimmen und FDP-Einzugswahrscheinlichkeit kann sich bei der Bundestagswahl 2005 anders dargestellt haben. Eine weitere Möglichkeit ist jedoch, dass der Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005 weniger durch die Vergabe von Leihstimmen durch CDU/CSU-Anhänger zu erklären ist, sondern dass es für viele Wähler unabhängig von der Einzugswahrscheinlichkeit der FDP wichtig war, dass sich nach der Wahl eine schwarz-gelbe Mehrheitsregierung bilden kann. Die Präferenz für eine solche Koalitionsregierung wäre somit höher anzusehen als die Präferenz für „ihre“ Partei, in diesem Fall die CDU/CSU. Gäbe man diesen Wählern die Möglichkeit, auf dem Wahlzettel statt einer Partei eine Koalition anzukreuzen, würden sie vielleicht davon Gebrauch machen. Das traditionelle Bild der Wahlentscheidung sieht jedoch vor, dass die Wähler sich eine Meinung zu den Parteien bilden, beispielsweise auf Basis ihres politischen Personals oder der angebotenen politischen Programme, und eine der zur Wahl stehenden Parteien dann wählen. Diese Sichtweise ist stark durch die beiden großen Ansätze der Wahlforschung geprägt: das sozialpsychologische Michigan-Modell und das rationale Wählermodell nach Downs (1957). Während das Michigan-Modell auf Präsidentschaftswahlen in den USA fokussiert und damit die Betrachtung von Koalitionsregierungen von vornherein ausschließt (Campbell et al. 1960), diskutiert Downs diese Möglichkeit, kommt aber zu dem Schluss, dass die zu einer Koalitionswahl notwendigen Überlegungen den Wähler überfordern und diese somit keine Rolle spielt (Downs 1957: 300). Rein rechtlich betrachtet wird in den meisten Wahlsystemen eine Person oder eine Partei gewählt, die direkte Wahl einer Koalition ist folglich nicht vorgesehen und kann nur auf indirektem Wege geschehen. Dies spricht für eine hohe Komplexität der Koalitionswahl. Andererseits können die Regelungen des Wahlrechts von den Parteien auch „unterlaufen“ werden, wie der italienische Fall zeigt, wo Wahlbündnisse schon vor der Wahl bindende Koalitionsabsprachen treffen und somit ihren Wählern die Entscheidung erleichtern können. Neben dieser Möglichkeit spricht gegen das Argument, die Koalitionswahl sei zu komplex und werde daher nicht angewandt, dass Koalitionen in vielen politischen Systemen die Regel und nicht die Ausnahme darstellen und somit eine wichtige politische Größe sind, da sie letztlich die Politik der nächsten Legislaturperiode bestimmen. Dies erkennt die politikwissenschaftliche Wahlforschung auch zunehmend an und entwickelt Modelle zum Zustandekommen der Koalitionspräferenz, bei dem die Parteipräferenz und die Klarheit der Koalitionsaussagen ausschlaggebend sind (Pappi/Gschwend 2005). Darüber hinaus wird der Einfluss der Koalitionspräferenz auf die Wahlentscheidung empirisch untersucht und für unterschiedliche politische Systeme bestätigt (Meffert/Gschwend 2007; Pappi 2007; Blais et al. 2006), wobei auch gegenteilige Befunde hin-

322

Evelyn Bytzek

sichtlich der Koalitionswahl durch Anhänger der großen Parteien existieren (Pappi/Thurner 2002: 225). Trotz der Aufmerksamkeit, die das Koalitionswählen zwischenzeitlich genießt, bleibt jedoch unklar, ob es sich dabei um strategisches Wählen oder eine aufrichtige Entscheidung zugunsten des am höchsten präferierten politischen Objekts, der Koalition, handelt. Häufig wird potenzielles Koalitionswählen im Rahmen des strategischen Wählens behandelt. Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung von Bargsted und Kedar (2007). Sie konstatieren, dass ein Wähler die von ihm präferierte Partei verlässt, wenn er befürchtet, dass diese nicht in der sich wahrscheinlich nach der Wahl bildenden Koalition enthalten sein wird. Stattdessen wird er das „kleinere Übel“, also die Koalitionspartei wählen, die von ihm am höchsten präferiert wird (Bargsted/Kedar 2007: 3). Meffert und Gschwend gehen sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie sagen, dass die Koalitionswahl immer strategisch ist. Denn „even if a voter prefers a coalition more than an individual party, the simple fact that he or she cannot – sincerely or ‚expressively’ – vote for a coalition requires tactical or strategic behavior” (Meffert/Gschwend 2007: 5). Diese Sichtweise wird hier nicht vertreten. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass eine Koalitionswahl aufrichtig sein kann (aber nicht sein muss, dazu unten mehr), da das instrumentelle Einsetzen der Stimme keinen Aufschluss über strategisches Wählen gibt. Dieses wird hier als das Abweichen von der Erstpräferenz aus anderen als rein technischen Gründen verstanden. Andernfalls müssten auch Wähler, die weder an Parteien noch an Koalitionen Interesse haben, sich jedoch für einen der Kanzlerkandidaten begeistern, in ihrem Verhalten als strategisch gelten, wenn sie die Partei dieses Politikers wählen, da sie kaum die Chance haben dürften, ihn direkt zu wählen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Bezeichnung jeglicher „instrumenteller“ Wahl, also der Wahl eines Objekts, um ein anderes zu bekommen, als strategisch die Diskussion um strategisches Wählen unnötig verwässern dürfte. Diese Diskussion zeigt, dass Koalitionswählen häufig unter strategischen Gesichtspunkten gesehen wird, aber nicht notwendigerweise eine strategische Wahl darstellen muss. Die Frage, die sich daher stellt, ist: Was bedeutet die Unterscheidung in strategisches und aufrichtiges Wählen im Hinblick auf die Koalitionswahl? Aufrichtige Koalitionswahl kann als das Vorherrschen von Koalitions- über Parteipräferenz betrachtet werden. Für einen aufrichtigen Koalitionswähler ist lediglich entscheidend, welche Koalition aus seiner Sicht die Wahl gewinnen soll. Die daran beteiligten Parteien wählt er, wobei ihm das deutsche Wahlsystem mit seinen zwei Stimmen entgegenkommt (vorausgesetzt, die von ihm gewünschte Koalition enthält nicht mehr als zwei Parteien). Von einer strategischen Koalitionswahl lässt sich hingegen sprechen, wenn ein Wähler in dem Wissen, dass sich letztlich eine Koalition bilden wird, seine Parteipräferenz außer Acht lässt und stattdessen so wählt, dass er die von ihm gewünschte Koalition unterstützt. Dieses Verhalten und seine Beweggründe unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht von der Leihstimmenthese. Dennoch gibt es einen deutlichen Unterschied: Während die Leihstimmenthese das Abweichen von der Parteipräferenz aufgrund eines bestimmten Motivs, der Koalitionswahl, konstatiert, bedeutet strategisches Koalitionswählen, dass man die Parteipräferenz zugunsten der Koalitionspräferenz „aufgibt“. Hierdurch wird es im Grunde unwichtig, welcher der Koalitionsparteien man seine Stimme gibt. Somit spielt auch die Einzugswahrscheinlichkeit des kleinen Koalitionspartners keine entscheidende Rolle mehr, da das Ziel die Koalition ist

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

323

und nicht mehr, die präferierte Partei zu stärken. Im Gegenteil, hat der große Koalitionspartner mehr Koalitionsoptionen als der kleine, kann er also leichter ein anderes als das vom Wähler gewünschte Regierungsbündnis eingehen, ist es sogar die sicherere Option, den kleinen Koalitionspartner zu wählen, da man andernfalls Gefahr läuft, mit seiner Stimme eine ungeliebte Koalition zu stärken. Diese Überlegungen werden in Abbildung 1 anhand einer schematischen Darstellung konkretisiert. Hierfür wird davon ausgegangen, dass die ideologische Nähe eines Wählers zu Parteien, aber auch Koalitionen, wesentlich für seine Präferenzordnung ist. Dagegen kann man einwenden, dass zumindest für die Bildung von Parteipräferenzen andere Faktoren als die ideologischen Positionen der Parteien eine Rolle spielen. Dies können beispielsweise die Performanz von Parteien, ihre Kompetenz bei der Lösung wichtiger Sachfragen oder ihr politisches Personal sein. Dies wird hier nicht bestritten, ist aber für die weitere Argumentation unwichtig, da Parteien Attribute von Koalitionen darstellen, genauso wie Politiker in der Regel Attribute von Parteien sind. Das heißt, dass weitere für die Präferenzbildung wichtige Faktoren in der verschachtelten Konfiguration von Parteien und Koalitionen aufgehen. Koalitionen unterscheiden sich dann von den sie bildenden Parteien im Wesentlichen dadurch, dass sie eine durch die Zusammenarbeit mehrerer Parteien modifizierte ideologische Position einnehmen. Eine darüber hinausgehende Überlegung könnte lediglich die Frage darstellen, ob man den Koalitionspartnern zutraut, sinnvoll zusammenzuarbeiten. Für die hier interessierende Koalition aus CDU/CSU und FDP kann dies aufgrund der langjährigen und häufigen Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland als gegeben betrachtet werden. Somit stellt die ideologische Position hier das wesentliche Kriterium zur Unterscheidung von Koalitionen und Parteien dar. Abbildung 1 trägt aus diesem Grund die ideologischen Positionen der fünf im Bundestag vertretenen Parteien sowie der Großen und der CDU/CSU-FDP-Koalition ab. Diese Darstellung basiert auf dem Mittelwert der wahrgenommenen Parteipositionen in Westdeutschland im Juli 2005 und ist somit nicht unrealistisch.1 In Abbildung 1 ist zudem verzeichnet, für welche Wähler eine aufrichtige Wahl der CDU/CSU-FDP-Koalition in Frage kommt und welche einen strategischen Anreiz zur Wahl dieser Koalition haben. Aufrichtige Koalitionswähler der schwarz-gelben Koalition befinden sich an den ideologischen Positionen, die durch einen schwarzen Balken markiert sind. Ihre Position befindet sich näher an der Position der CDU/CSU-FDP-Koalition als an der Position einer Partei. Daher sollte diese Koalition auch die höchste Präferenz dieser Wähler genießen und kann

1

Als Quelle für diese Darstellung dient das kumulierte Politbarometer 2005 (ZA 4257). Die ungewichteten Mittelwerte der Parteien sind 2,5 (Linke, L), 4,9 (Grüne, G), 5,1 (SPD, S), 6,6 (FDP, F), 7,3 (CDU) und 7,8 (CSU). Hieraus wurde anhand einfacher Annahmen ein gemeinsamer Wert von 7,5 für CDU und CSU berechnet (C, 2/3*CDU-Wert+1/3*CSU-Wert). Der Sitzanteil der CSU im Bundestag entspricht zwar nur einem Viertel der Sitze der CDU, es kann jedoch häufig beobachtet werden, dass die Macht kleiner Parteien in Koalitionen größer ist als dies ihr Anteil nahelegt. Daher wird für die CSU, immerhin eine eigenständige Partei, ein etwas höheres Gewicht als 0,25 angelegt. Die Position der großen Koalition (CS) lautet 6,3 und ist der Mittelwert aus der Position von SPD und CDU/CSU. Die Position der schwarz-gelben Koalition (CF) beträgt 7,3. Die Position der FDP ging in diesen Wert mit einem Viertel Gewicht, die der CDU/CSU mit Dreiviertel ein.

324

Evelyn Bytzek

damit aufrichtig, wenn auch instrumentell, gewählt werden, wobei es irrelevant ist, welche der beiden Parteien letztlich die Stimme bekommt. Abbildung 1:

Schematische Darstellung der aufrichtigen und der strategischen Koalitionswahl

Wähler, die sich an den von einem grauen Balken markierten ideologischen Positionen befinden, haben dagegen einen Anreiz, strategisch die FDP zu wählen, indem sie die Koalitionspräferenz über ihre Parteipräferenz für die CDU/CSU stellen und wenn sie zudem befürchten, dass die CDU/CSU ein anderes als das gewünschte Bündnis eingehen könnte, bzw. wahrnehmen, dass die CDU/CSU mehr Bündnismöglichkeiten als die FDP hat. An dieser Abbildung wird also deutlich, dass der Anteil an Wählern, die einen strategischen Anreiz zur Koalitionswahl haben, den Anteil der potenziell aufrichtigen Koalitionswähler übersteigt, selbst wenn man von einer glockenförmigen Verteilung der Wählerschaft auf der ideologischen Links-Rechts-Dimension ausgeht. Es könnte bei der hier untersuchten Koalitionswahl also der ungewöhnliche Fall auftreten, dass strategisches Wählen empirisch leichter nachzuweisen ist als aufrichtiges Wählen. Zudem hat diese auf der ideologischen Nähe zu Koalitionen basierende Argumentation bei der empirischen Überprüfung den Nachteil, dass die notwendigen Daten in den seltensten Fällen vorliegen. Denn nicht die in Abbildung 1 dargestellte ideologische Gesamtkonstellation sollte für die Wahlentscheidung relevant sein, sondern die individuelle Wahrnehmung des Wählers, die vom Gesamtbild abweichen kann. Zur genauen Überprüfung der obenstehenden Überlegungen wäre daher die Kenntnis der ideologischen Position des Wählers sowie der wahrgenommenen Positionen der Parteien und Koalitionen notwendig. Zumindest Letzteres stellt jedoch keine Standardfrage in Wahlumfragen dar. Vor dem Hintergrund dieses Problems ist daher die Frage, wie man die beiden Arten der Koalitionswahl auseinanderhalten kann, wenn das resultierende Verhalten, die etwaige Wahl einer anderen Partei als der präferierten, dasselbe ist? Ähnlich wie bei der Leihstimmenthese ist für das strategische Koalitionswählen die Erwartung über den Wahlausgang wesentlich, statt der Einzugswahrscheinlichkeit des kleinen Koalitionspartners jedoch die Wahrnehmung, welche Koalition sich nach der Wahl bilden wird. Erwartet man, dass dies nicht die präferierte Koalition sein wird, ergibt es auch keinen Sinn, den sicheren Weg zu gehen und den Koalitionspartner mit den geringeren Koalitionsoptionen zu wählen. In dem Fall, dass nicht erwartet wird, dass sich die präferierte Koalition nach der Wahl bildet, ist es sinnvoller, die

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

325

präferierte Partei zu wählen und so ihr Gewicht in anderen möglichen Koalitionen zu stärken. Für die Wahrnehmung, welche Koalition sich bilden wird, sind zwei Informationsquellen wesentlich: erstens die Koalitionssignale der Parteien und zweitens die Umfrageergebnisse zu möglichen Koalitionen. Ersteres gibt über den Willen der Parteien Aufschluss, welche Koalitionen sie bilden wollen, während Letzteres Aussagen über die Chancen dieser Koalitionen auf einen Wahlsieg trifft, also mögliche zu wahrscheinlichen Koalitionen macht. Neben der Wahrnehmung, dass die präferierte Koalition die Wahl gewinnen und sich dann auch bilden wird, ist eine zweite Größe für strategisches Koalitionswählen bedeutend: Der Unterschied in der Bewertung der Koalitionspartner. Je geringer dieser Unterschied ist, desto unwichtiger sollte es für den Wähler sein, welche der Koalitionsparteien er wählt. Diese Größe sollte jedoch auch für das aufrichtige Koalitionswählen relevant sein, da eine ähnliche Parteienbewertung die Koalitionspräferenz stärken kann, während bei sehr unterschiedlichen Bewertungen Parteien- und Koalitionspräferenz in Konkurrenz miteinander liegen können und unklar ist, welche der beiden für das Wahlverhalten entscheidend ist. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass für strategisches Koalitionswählen die Wahrnehmung gegeben sein muss, dass die präferierte Koalition von den beteiligten Parteien gewollt ist und darüber hinaus Chancen auf den Wahlsieg hat, zumindest in den Köpfen der strategischen Koalitionswähler. Die Notwendigkeit dieser Wahrnehmung stellt den wesentlichen Unterschied zum aufrichtigen Koalitionswählen dar. Daher ist es interessant zu wissen, wie sich die Koalitionslage vor der Bundestagswahl 2005 darstellte. Hinsichtlich der hier interessierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP lautet also die Frage, ob beide Parteien Interesse an einem Bündnis signalisiert haben und ob diese Koalition Chancen auf den Wahlsieg hatte. Beides kann klar mit „Ja“ beantwortet werden: Die Signale für eine schwarz-gelbe Koalition waren sehr deutlich, insbesondere im Vergleich zur Bundestagswahl 2002 und zu den Signalen zu einer rot-grünen Koalition, die nur die Hälfte der Deutlichkeit der schwarz-gelben Koalition erreichen (Pappi et al. 2006: 500ff.). Man kann also davon ausgehen, dass sowohl die Union als auch die FDP bei der Bundestagswahl 2005 den Wählern ihren Willen zur Zusammenarbeit deutlich signalisiert haben. Doch hatte diese Koalition auch Chancen auf einen Wahlsieg? Die Prognosen von Meinungsumfragen in den letzten Wochen vor der Wahl legen dies nahe, wie Abbildung 2 zeigt. Bis zur siebten Woche vor der Wahl liegt die schwarz-gelbe Koalition in den Prognosen zum Teil deutlich über der Fünfzig-Prozent-Marke, bricht aber nach einer kurzen Erholung ab der zweiten Woche vor der Wahl ein. Obwohl die Koalition die Fünfzig-ProzentMarke kurz vor der Wahl nicht mehr zu erreichen vermag, kann man ihr Siegeschancen zugestehen, da sie zu keiner Zeit unter 48 Prozent liegt und somit bei der Umrechnung von Stimmen in Sitze noch die Chance auf eine Mehrheit im Bundestag hat, da bei diesem Schritt Splitterparteien wegfallen und Überhangmandate, die oft den Sieger einer Wahl begünstigen, hinzukommen können. Zusammen mit den deutlichen Koalitionssignalen ist es folglich nicht unwahrscheinlich, dass bei einem großen Teil der Wähler die Wahrnehmung besteht, dass sich nach der Bundestagswahl eine Koalition aus CDU/CSU und FDP bilden wird. Um dies zu überprüfen, ist in Abbildung 2 ebenfalls abgetragen, wie viel Prozent der Befragten denken, dass nach der Wahl eine schwarz-gelbe Koalition gebildet wird. Es lässt sich deutlich erkennen, dass dieser Anteil sechs Wochen vor der Wahl noch recht

326

Evelyn Bytzek

gering war, um in den darauffolgenden Wochen jedoch auf fast 50 Prozent zusteigen. Danach fällt der Anteil an Befragten, die denken, dass sich eine schwarz-gelbe Koalition bildet, jedoch und spiegelt somit die Entwicklung in den Prognosen wieder. Dennoch ist der Anteil im Vergleich zu anderen möglichen Koalitionen sehr hoch. So denken lediglich etwa 18 Prozent der Befragten direkt vor der Wahl, dass sich eine Große Koalition bestehend aus CDU/CSU und SPD bilden wird. Auch der zu dieser Zeit amtierenden Koalition aus SPD und Grünen trauen nur rund 13 Prozent der Befragten eine dritte Amtszeit zu. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass die Chancen einer schwarz-gelben Regierungskoalition vor der Wahl recht gut standen und auch von den Wählern zu einem großen Teil so wahrgenommen wurden. Wichtiger als die allgemeine Koalitionssituation ist jedoch das Bild, das sich jeder einzelne Befragte von den Chancen möglicher Koalitionen gemacht hat. Daher werden in den nachfolgenden Berechnungen die individuellen Wahrnehmungen einbezogen. Abbildung 2:

Prognostizierte und wahrgenommene Siegeschancen der CDU/CSU-FDPKoalition

% CDU/CSU-FDP in Umfragen/Befragte

60

50

40

30

20 12

11

10

9

8

7

6

5

4

3

2

1

0

Woche vor der BTW 2005 Prognose

Wahrnehmung

Quelle: Die Werte der Prognosen basieren auf dem Mittelwert aus den Prognosen von Allensbach, Infratest-dimap, Forschungsgruppe Wahlen, Emnid und forsa in der jeweiligen Woche (Neu 2006). Die Wahrnehmung der siegreichen Koalition basiert auf Umfragedaten aus der Wahlstudie „Bundestagswahl 2005 Kampagnendynamik“ (Vorwahlstudie, ZA 4203).

Nachdem nun zwei vielversprechende Erklärungen für den FDP-Erfolg bei der Bundestagswahl 2005 ausführlich vorgestellt wurden, gilt es, diese empirisch zu testen, um einschätzen zu können, welche Erklärung im Hinblick auf diesen speziellen Fall die besseren

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

327

Ergebnisse liefert. Der Beantwortung dieser Frage widmet sich der nächste Abschnitt, beginnend mit der Leihstimmenthese. 3.2 Daten und Ergebnisse 3.2.1 Leihstimmen für die FDP bei der Bundestagswahl 2005? Im folgenden Modell wird der theoretisch konstatierte Einfluss der Einzugswahrscheinlichkeit auf die Vergabe einer Leihstimme zugunsten der FDP unter Kontrolle der Koalitionspräferenz empirisch überprüft. In Übereinstimmung mit anderen Untersuchungen zum Leihstimmenphänomen wird auch hier das Wahlverhalten hinsichtlich Erst- und Zweitstimme als abhängige Variable herangezogen. Da explizit untersucht werden soll, ob die FDP von Leihstimmen bei der Bundestagswahl 2005 profitieren konnte, erfasst die abhängige Variable in Form einer Dummy-Variable Wähler, die die CDU/CSU mit ihrer Erststimme, jedoch die FDP mit ihrer Zweitstimme gewählt, also ein sogenanntes split ticket abgegeben haben. Diese Wähler erhalten die Ausprägung 1. Die Wähler, die hingegen die CDU/CSU mit beiden Stimmen wählen, also ein straight ticket zugunsten der CDU/CSU abgeben, erhalten die Ausprägung 0. Hierdurch wird beobachtet, ob bei der interessierenden Gruppe von Wählern die von der Leihstimmenthese konstatierten Einflussfaktoren, unsicherer FDP-Einzug und Koalitionspräferenz, im Vergleich zu aufrichtigen CDU/CSUWählern eine Rolle spielen. Somit wird durch die „Bezugsgruppe“ der aufrichtigen CDU/CSU-Wähler darauf abgezielt, von der eigentlichen Präferenz abweichendes Verhalten zugunsten der FDP durch die genannten Faktoren erklären zu können. Dennoch können sich in der Gruppe der split tickets auch Wähler befinden, die die FDP präferieren, aber durch deren geringe Chancen auf ein Direktmandat die CDU/CSU mit ihrer Erststimme wählen. In diesem Fall läge strategisches Erststimmenwählen vor (vgl. hierzu Cox 1997: 69ff.). Um für diese Möglichkeit zu kontrollieren enthält das Modell als erste unabhängige Variable eine etwaige Präferenz für die FDP. Diese liegt vor, wenn ein Wähler entweder bei der Frage nach der Parteiidentifikation die FDP angibt oder die FDP die höchste Skalometereinstufung im Vergleich zu den anderen Parteien erhält. Befragte mit einer Präferenz für die FDP erhalten die Ausprägung eins, Befragte mit einer analog gemessenen Präferenz für die CDU/CSU eine null. Um die Relationen zwischen strategischem Erststimmenwählen und der Vergabe von Leihstimmen zu verdeutlichen, sei angemerkt, dass 78 Prozent der Befragten, die ein split ticket zugunsten von CDU/CSU und FDP abgeben, eine Präferenz für die CDU/CSU haben und lediglich 22 Prozent die FDP präferieren. Der Anteil an möglichen Leihstimmenwählern ist in dieser Gruppe also deutlich höher als der Anteil an strategischen Erststimmenwählern. Weitere unabhängige Variablen sind erstens die wahrgenommene Einzugswahrscheinlichkeit der FDP, ebenfalls in Form einer Dummyvariable codiert. Hierbei wird dieses Kriterium einmal streng genommen und nur Befragte, die den Einzug der FDP als sehr unsicher ansehen, also mit „vielleicht“ geantwortet haben, erhalten die Ausprägung eins. Alle anderen Wähler erhalten den Wert null. Eine zweite Variable erfasst die Wähler, die den Einzug der FDP lediglich als unsicher ansehen, also mit „wahrscheinlich“, „vielleicht“ oder „wahrscheinlich nicht“ geantwortet haben, mit dem Wert eins und weist nur denjenigen

328

Evelyn Bytzek

Befragten den Wert null zu, die den Einzug der FDP entweder als sicher oder aber als unmöglich ansehen. Zusätzlich zur Einzugswahrscheinlichkeit ist auch die Koalitionspräferenz der Befragten wesentlich, denn nur wenn eine Präferenz für eine schwarz-gelbe Koalition vorliegt, ergibt die Vergabe einer Leihstimme Sinn. Eine letzte unabhängige Variable kombiniert die beiden zuvor genannten Merkmale in einem Interaktionseffekt, da laut Theorie beide für eine Leihstimme vorliegen müssen. Tabelle 3 gibt die Ergebnisse einer logistischen Regression mit den genannten Variablen wieder. Zunächst ist zu sagen, dass eine Präferenz für die FDP einen deutlichen und signifikanten Einfluss auf die Vergabe eines split ticket hat, man also davon ausgehen kann, dass strategisches Erststimmenwählen vorliegt. Die Größe dieses Effekts in Relation dazu, dass die Zahl an Befragten, die die FDP präferieren, recht gering ist, zeigt, dass strategisches Erststimmenwählen verbreiteter ist als die strategische Vergabe der Zweitstimme. Darüber hinaus zeigen beide Modelle keinen signifikanten Einfluss der wahrgenommenen Unsicherheit des FDP-Einzugs auf die Entscheidung, mit der Erststimme die CDU/CSU, mit der Zweitstimme jedoch die FDP zu wählen. Auch der Interaktionsterm zwischen Einzugswahrnehmung und Koalitionspräferenz ist nicht signifikant. Dies zeigt sehr deutlich, dass die wahrgenommene Einzugswahrscheinlichkeit für die Vergabe einer „Leihstimme“ nicht entscheidend ist, man also streng genommen nicht von Leihstimmen sprechen kann. Dahingegen hat die Präferenz für eine Koalition aus CDU/CSU und FDP in beiden Modellen einen signifikanten Effekt in die erwartete Richtung. Tabelle 3: Einfluss der Einzugswahrscheinlichkeit auf die FDP-Wahl (Koeffizienten einer logistischen Regression, Standardfehler in Klammern) FDP-Einzug wird wahrgenommen als... unsicher sehr unsicher FDP-Einzugswahrscheinlichkeit 0,11 (0,37) 0,12 (0,45) Koalitionspräferenz 0,70 (0,34)* 0,54 (0,23)* FDP-Einzug x Koalitionspräferenz -0,40 (0,45) -0,13 (0,69) 2,34 (0,35)*** FDP-Präferenz 2,31 (0,35)*** Konstante -1,86 (0,30)*** -1,81 (0,20)*** N 665 665 Signifikanzniveaus: * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001.

Zusammenfassend lässt sich zur populären Erklärung des FDP-Erfolgs bei der Bundestagswahl 2005, der Leihstimmenthese, sagen, dass zwar ein Teil der Wähler ein split ticket zugunsten der FDP hinsichtlich der Zweitstimme abgegeben hat. Die Voraussetzung für die Gültigkeit der Leihstimmenerklärung ist jedoch, dass der Einzug der FDP als unsicher wahrgenommen werden muss. Diese Wahrnehmung hatte jedoch keinen Einfluss auf das oben geschilderte Verhalten. Dahingegen hat eine Präferenz für eine schwarz-gelbe Koalition einen – wenn auch nicht sehr großen – Einfluss auf die Wahl der CDU/CSU mit der Erst- und der FDP mit der Zweitstimme. Dies macht deutlich, dass Koalitionspräferenzen die besser geeignete Erklärung für den FDP-Erfolg bei der Bundestagswahl 2005 darstellen. Im Folgenden wird daher überprüft, ob für etliche Wähler strategisches oder aufrichtiges Koalitionswählen festgestellt werden kann.

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

329

3.2.2 Koalitionswahl als Ursache für den FDP-Erfolg? Da zwei mögliche Varianten der Koalitionswahl in den theoretischen Überlegungen angedeutet wurden, werden im Folgenden zwei Modelle, für jede Variante eines, berechnet. Das Modell für die Überprüfung der aufrichtigen Koalitionswahl als mögliche Ursache für den Erfolg der FDP sieht wie folgt aus: Die abhängige Variable bildet ein split ticket mit der Wahl der CDU/CSU mit der Erst- und der FDP mit der Zweitstimme. Der Wert eins erfasst diese Wähler, während der Wert null denjenigen zugewiesen wird, die die CDU/CSU mit beiden Stimmen wählen. Die abhängige Variable ist folglich dieselbe wie in dem Modell zur Leihstimmenthese. Die unabhängigen Variablen sind die Koalitionspräferenz (eins für eine Koalition aus CDU/CSU und FDP, null für alle anderen Möglichkeiten), der Bewertungsunterschied zwischen FDP und CDU (Differenz in der Einstufung bei der Skalometerfrage, im Betrag) und, um wiederum für strategisches Erststimmenwählen zu kontrollieren, eine etwaige Parteipräferenz für die FDP (eins) statt der CDU/CSU (null). Es wird somit erwartet, dass die Präferenz der schwarz-gelben Koalition einen positiven, der Bewertungsunterschied hingegen einen negativen Effekt haben sollte, da die Wahrscheinlichkeit für ein solches Verhalten mit sinkendem Unterschied steigt. Tabelle 4: Koalitionswahl als Ursache des FDP-Erfolgs? (Koeffizienten einer logistischen Regression, Standardfehler in Klammern) Aufrichtige Koalitionswahl FDP-Präferenz 2,30 (0,35)*** Koalitionspräferenz 0,48 (0,22)* Bewertungsunterschied -0,02 (0,04) Wahrnehmung Wahlsieg Union/FDP Wahrnehmung x Koalitionspräferenz Konstante -1,67 (0,24)*** N 665 Signifikanzniveaus: # p<0,1; * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001.

Strategische Koalitionswahl -0,14 -0,04 -0,34 0,91 -1,40

(0,32) (0,04) (0,49) (0,49)# (0,27)*** 619

Das Modell für strategisches Koalitionswählen macht von einer anderen abhängigen Variablen Gebrauch: Hier wird auf diejenigen Wähler fokussiert, die die FDP entgegen einer Präferenz für die CDU/CSU wählen. Daher wird die Parteipräferenz bei der Gestaltung der Variablen einbezogen, indem die Wähler, die ein split ticket für CDU/CSU (Erststimme) und FDP (Zweitstimme) entgegen einer Präferenz für die CDU/CSU abgeben, den Wert eins erhalten. Wähler, die ein straight ticket für die CDU/CSU abgeben und diese auch präferieren, bekommen den Wert null zugewiesen. Die unabhängigen Variablen sind zum Teil dieselben wie im Modell zur aufrichtigen Koalitionswahl, hier sind die Koalitionspräferenz für CDU/CSU-FDP und der Bewertungsunterschied zwischen den Koalitionspartnern zu nennen. Zusätzlich kommen die Wahrnehmung eines Wahlsiegs der schwarz-gelben Koalition (eins, wenn diese Wahrnehmung besteht, andernfalls null) und ein Interaktionseffekt zwischen Wahrnehmung und Präferenz hinzu, da laut Modell beides für strategisches Koalitionswählen vorliegen muss. Es wird daher erwartet, dass vor allen Dingen dieser Interaktionseffekt einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit für strategisches Koali-

330

Evelyn Bytzek

tionswählen hat, während dies für die Haupteffekte nicht erwartet wird. Die Ergebnisse dieser beiden Modelle sind Tabelle 4 zu entnehmen. Die Ergebnisse der Berechnungen machen deutlich, dass Hinweise sowohl für aufrichtiges als auch für strategisches Koalitionswählen vorliegen: So hat wie erwartet die Koalitionspräferenz im Modell der ehrlichen Koalitionswahl einen signifikanten Effekt auf die Vergabe eines split ticket für CDU/CSU und FDP. Dieser Effekt ist jedoch im Vergleich zum Effekt einer FDP-Präferenz nicht sonderlich groß, was an der fehlenden Identifizierung potentiell aufrichtiger Koalitionswähler liegen könnte. Dies war mit den vorliegenden Daten nicht möglich. Der Koeffizient des Bewertungsunterschieds zwischen den Koalitionspartnern hat zwar das richtige Vorzeichen, ist jedoch nicht signifikant. Dies gilt auch für das Modell strategischen Koalitionswählens. Darüber hinaus haben wie erwartet auch die Koalitionspräferenz und die Wahrnehmung für sich genommen keinen signifikanten Effekt, während eine Kombination der beiden Variablen einen auf Zehn-Prozent-Niveau signifikanten Effekt hat. Dies spricht für das Vorliegen strategischen Koalitionswählens. Ein Vergleich zwischen beiden Modellen ist aufgrund ihrer deutlichen Unterschiede bezüglich der abhängigen Variable und damit auch der Fallzahl schwierig. Dennoch fällt auf, dass der Effekt der strategischen Koalitionswahl, gemessen über die Interaktion zwischen Präferenz und Wahrnehmung, annähernd doppelt so groß ist wie der Effekt der Koalitionspräferenz im Modell der aufrichtigen Koalitionswahl. Dies ist ein, wenn auch nicht sehr belastbares Indiz dafür, dass eher strategisches als aufrichtiges Koalitionswählen vorliegen dürfte. Mit relativer Sicherheit ist jedoch zu sagen, dass die Koalitionswahl den Erfolg der FDP besser erklären kann als die Leihstimmenthese. 4

Schlussfolgerung und Ausblick

Auch wenn der Erfolg der FDP weniger Beachtung fand als der Misserfolg der CDU/CSU, gelangt man bei der Suche nach einer Erklärung hierfür zu interessanten Befunden: Entgegen der landläufigen Meinung, dass die FDP bei der Bundestagswahl 2005 von Leihstimmen profitiert hat, scheint dies nicht der Fall zu sein. Zwar nehmen viele Wähler den Einzug der FDP als unsicher wahr, dennoch hat diese Wahrnehmung keinen Einfluss auf ein split ticket zugunsten der FDP. Die Wahrnehmung eines unsicheren FDP-Einzugs scheint also keine Rolle bei der Entscheidung zu spielen, eine Leihstimme zu vergeben. Darüber hinaus fällt auf, dass die Wahrnehmung, der Einzug der FDP sei gefährdet, nicht in Einklang mit den Signalen aus Vorwahlumfragen steht. Aus diesen Gründen wurde untersucht, welche Merkmale der Wähler einen Einfluss darauf haben, ob die FDP-Einzugswahrscheinlichkeit in Einklang mit den Signalen wahrgenommen wird. Hierbei zeigt sich, dass die Nutzung von Umfragen und politisches Wissen die Wahrscheinlichkeit für eine konsistente Wahrnehmung steigern. Dies legt nahe, dass man eine konsistente Wahrnehmung der Chancen kleiner Parteien nicht einfach voraussetzen kann, wodurch die Leihstimmenthese wiederum an Plausibilität verliert. Aus diesem Grund wird eine zweite mögliche Ursache für das überraschend gute Abschneiden der FDP untersucht: die Koalitionswahl. Hierbei zeigt sich, dass sowohl strategisches als auch aufrichtiges Koalitionswählen vorliegen kann. Für einen Teil der Wähler ist somit nicht die Partei ausschlaggebend für die Wahlentscheidung, sondern die Koalitionspräfe-

Der überraschende Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2005

331

renz, in Kombination mit den Rahmenbedingungen einer Wahl. Dies ergibt vor dem Hintergrund, dass nach der Wahl in der Regel eine Koalitionsregierung die Politik der nächsten Legislaturperiode bestimmt, auch Sinn. Dieser Befund muss jedoch durch weitere Untersuchungen gestützt werden, die über den hier untersuchten Fall hinausgehen, der auf die Bundestagswahl 2005 und hierbei auf die Vergabe von Zweitstimmen zugunsten der FDP fokussiert ist. Selbst wenn diese Bestätigung noch aussteht und Koalitionspräferenzen sicherlich nicht der einzige Faktor sein dürften, der die Wahlentscheidungen deutscher Wähler beeinflusst, legen die Ergebnisse dieser Untersuchung dennoch nahe, Koalitionspräferenzen in Modellen der Wahlentscheidung künftig stärker zu beachten. Zudem tun sich mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2005 im Hinblick auf die Koalitionswahl neue Fragen auf: Wie reagieren die Wähler beispielsweise auf die Situation, dass außer der Großen Koalition keine weitere nur aus zwei Parteien bestehende Mehrheitskoalition möglich war? Eine Möglichkeit wäre, dass aufgrund der „Unberechenbarkeit“ des Wahlausgangs im Hinblick auf Koalitionen die Koalitionspräferenz für die Wahlentscheidung weniger wichtig wird. Hierauf könnten jedoch gerade kleine Parteien reagieren, indem sie versuchen, durch deutliche Koalitionssignale schon im Vorfeld der Wahl starke Bündnisse zu schmieden und somit das Kalkül der Koalitionswahl wieder stärken. Die Untersuchung dieser Möglichkeiten bleibt jedoch zukünftigen Studien vorbehalten. Literatur Bargsted, Matias A./Kedar, Orit (2007): Voting for Coalitions. Strategic Voting under Proportional Representation. Paper presented at the Annual Meeting of the Midwest Political Science Association, Chicago. Blais, André/Aldrich, John H./Indridason, Indridi H./Levine, Ronald (2006): Do Voters Vote for Government Coalitions? Testing Downs’ Pessimistic Conclusion. In: Party Politics 12, 691-705. Brettschneider, Frank (1992): Der taktische und rationale Wähler. Über den Einfluss von Wahlumfragen auf das Wählerverhalten bei den Bundestagswahlen 1983 bis 1990. In: Politische Vierteljahresschrift 33, 55-72. Campbell, Angus/Converse, Philip E./Miller, Warren E./Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York/London: Wiley. Cox, Gary W. (1997): Making Votes Count. Strategic Coordination in the World’s Electoral Systems. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Downs, Anthony (1957): An Economic Theory of Democracy. New York: Harper. Faas, Thorsten/Schmitt-Beck, Rüdiger (2007): Wahrnehmung und Wirkungen politischer Meinungsumfragen. Eine Exploration zur Bundestagswahl 2005. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Wessels, Bernhard (Hrsg.) (2007): Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS Verlag, 233-267. Fiske, Susan T./Taylor, Shelley E. (2008): Social Cognition. From Brains to Culture. Boston u.a.: McGraw-Hill. Gschwend, Thomas (2004): Strategic Voting in Mixed Electoral Systems. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Gschwend, Thomas (2007): Ticket-Splitting and Strategic Voting under Mixed Electoral Rules. Evidence from Germany. In: European Journal of Political Research 46, 1-23. McAllister, Ian/Studlar, Donley T. (1991): Bandwagon, Underdog, or Projection? Opinion Polls and Electoral Choice in Britain, 1979-1987. In: Journal of Politics 53, 720-741.

332

Evelyn Bytzek

Meffert, Michael F./Gschwend, Thomas (2007): Voting for Coalitions? The Role of Coalition Preferences and Expectations in Voting Behavior. Working Paper No. 07-64 des Sonderforschungsbereichs 504 der Universität Mannheim. Neu, Viola (2006): Analyse der Bundestagswahl 2005. Arbeitspapier 157/2006 der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin/Berlin. Pappi, Franz U. (2007): Partei- und Koalitionskriterien der österreichischen Wählerschaft für die Nationalratswahl 2006. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 36, 445-469. Pappi, Franz U./Herzog, Alexander/Schmitt, Ralf (2006): Koalitionssignale und die Kombination von Erst- und Zweitstimme bei den Bundestagswahlen 1953 bis 2005. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37, 493-513. Pappi, Franz U./Gschwend, Thomas (2005): Partei- und Koalitionspräferenzen der Wähler bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002. In: Falter, Jürgen W./Aarts, Kees (Hrsg.) (2005): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002. Wiesbaden: VS Verlag, 284-305. Pappi, Franz U./Thurner, Paul W. (2002): Electoral Behaviour in a Two-Vote System. Incentives for Ticket Splitting in German Bundestag Elections. In: European Journal of Political Research 41, 207-232. Roberts, Geoffrey K. (1988): The ‚Second-Vote’ Campaign Strategy of the West German Free Democratic Party. In: European Journal of Political Research 16, 317-337.

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen? Das Beispiel Kernenergie (1987-2005) Paul W. Thurner

1

Einleitung1

Welches sind die Targetpopulationen einer strategischen Wahlkampfführung? Die Beantwortung dieser zentralen praktischen Frage bei der Gestaltung eines Kampagnendesigns sollte auch theoretisch inspiriert sein. Als Targetpopulationen werden hier solche Segmente verstanden, deren Mitglieder Einstellungssyndrome aufweisen, die eine systematische Beeinflussbarkeit und Veränderbarkeit erwarten lassen. Es besteht folglich für Kandidaten und Parteien ein Anreiz, Ressourcen für eine entsprechende zielgerichtete politische Kommunikation einzusetzen. Der folgende Aufsatz legt die Grundlagen für eine neue theoretische und methodische Perspektive zur Untersuchung von Einstellungen zu politischen Sachfragen und ihrer Rolle bei der Wahlkampfplanung. Am Beispiel der Einstellungen zur Kernenergie werden die Konzepte „Issue-Unentschiedenheit“ und „Issue-Inkonsistenz“ dargelegt. „Issue-Unentschiedenheit“ wurde bereits häufig im Zusammenhang mit der (geringen) Involvierung von Wählern thematisiert – und kann insofern zumindest theoretisch und konzeptionell keinen Neuigkeitsanspruch erheben (vgl. die neuere Studie von De Sio 2008). Der Sachverhalt „Issue-Inkonsistenz“ wurde hingegen bisher in der Wahlforschung nur am Rande behandelt.2 Als „Issue-Inkonsistente“ bezeichne ich diejenigen Wähler, die der (Stamm-)Wählerschaft einer Partei angehören, jedoch eine der offiziellen Programmatik dieser Partei zuwiderlaufende Issue-Einstellung aufweisen. Explorative Analysen zeigen überraschend hohe Anteile solcher Issue-Inkonsistenter – zumindest für das gewählte Issue Kernenergie. Völlig unerforscht sind die Gründe für eine derartige Segmentzugehörigkeit, und wie diese Segmente perzeptionell und behavioral reagieren. Gerade aus der Sicht einer strategischen Kampagnenplanung könnte es sich hierbei um hochmobile Targetsegmente handeln. Als Anwendungsbeispiel wurden die Einstellungen zur Kernenergie gewählt. Es handelt sich um ein aktuelles Thema. Das Issue ist einfach, da die deutschen Parteien vergleichsweise eindeutige, polar entgegengesetzte Positionen vertreten. Aufgrund gegenwärtiger internationaler und europäischer Initiativen zum Ausbau der Kernenergie und der bekannten, konfliktären Positionen der deutschen Parteien werden diese Fragen in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle in der politischen Debatte spielen. Es lohnt sich daher, 1

2

Für Anregungen, Kritik und Unterstützung bedanke ich mich bei Martin Binder, Franz Urban Pappi und den Teilnehmern des Workshops „Phasing Out Nuclear Energy“: Kees Arts, Fabio Franchino, José Ramón Montero, Sören Holmberg, Wolfgang C. Müller, Marc Swyngedouw. Die Auswertungen wurden z.T. mit finanzieller Unterstützung des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung durchgeführt. Siehe etwa die Studie von Visser (1994), bei der es um eine Anwendung der Heiderschen Balance-Theorie ging.

334

Paul W. Thurner

auch inhaltlich der Frage nachzugehen, welche Einstellungen die Deutschen zur Kernenergie haben, und wie stabil und verhaltensrelevant diese Einstellungen sind. Methodischer Ausgangspunkt ist die bekannte bipolar gelabelte 7-Punkte-Issue-Skala, mittels derer Einstellungen der Wähler zu Sachfragen (Positionsissues) erhoben werden. Respondenten, die sich im Mittelbereich einordnen oder mit „weiß nicht“ antworten, werden im Folgenden als „Issue-Unentschlossene“ bezeichnet. Die zentrale Erwartung ist, dass sich diese Segmente im Vergleich zu „Issue-Dezidierten“ und „Issue-Konsistenten“ durch unterschiedliche Perzeptionen und unterschiedliches Verhalten auszeichnen. Zunächst wird das jeweilige Potenzial dieser Segmente im Zeitverlauf beschrieben. Mittels statistischer Auswertungen werden die Determinanten der Segmentszugehörigkeit und deren Auswirkungen untersucht. Datengrundlage sind Wahlstudien von 1987 bis 2005, die diese 7Punkte-Issue-Skala enthalten. 2

Die Relevanz politischer Sachfragen für Wähler

Weisen Einstellungen zu politisch umkämpften Sachfragen überhaupt einen relevanten Zusammenhang mit der Wahlentscheidung auf? Diese Frage wurde und wird in der deutschen wie in der internationalen Debatte sehr kontrovers geführt (vgl. hierzu Rattinger 1994; Roller 1998; Pappi 1996; einen Überblick über die Debatte geben Falter und Schoen (2005: 226ff.) sowie Pappi und Shikano (2007: 89)). Ausgangspunkt dieser Debatte war und ist, dass die kognitive Komponente und der Verhaltensnexus derartiger Einstellungen bei den Wählern offensichtlich sehr gering ausgeprägt sind, und dass die Einstellungen selbst kurzfristig oszillieren. Variablenterminologisch sehr verkürzt formuliert geht es um die Frage, ob Positionsissues über die Parteiloyalität, sozialstrukturelle Variablen, attribuierte Kompetenz bei den wichtigsten Fragen und Kandidatenorientierungen hinaus einen eigenen statistischen Erklärungsbeitrag leisten. Zur Messung des Einflusses von Einstellungen zu kontroversen politischen Sachfragen, zu sogenannten Positionsissues, wurden spezielle Skalen entwickelt: Dabei werden den Befragten extreme Standpunkte einer aktuellen politischen Kontroverse geschildert, die auf einer siebenstufigen Skala mit jeweils beschrifteten Endpunkten abgebildet werden.3 Die Befragten können die eigene Position sowie die perzipierte Position der politischen Kandidaten oder der Parteien abgestuft mitteilen. Hierbei wird unterstellt, dass auch die mittleren Skalenpunkte (drei, vier und fünf) eigene sachpolitische Bedeutung haben und jeweils distinkte moderate Positionen anzeigen. Dieses Messinstrument eignet sich auch für die Spezifikation und Überprüfung des sogenannten räumlichen Modells des Wählens, sofern man modelltheoretisch Einstellungen zu Sachfragen als Entscheidungskriterium für relevant erachtet. Als Wahlentscheidung wird hier die Alternative minimaler Distanz vorhergesagt.4 Thurner hat die Modellierung von Sachfrageneffekten bzw. von Politikdistanzen im Mehrparteiensystem mit konditionalen Logitanalysen durchgeführt (Thurner 1998, 2000, 2006; Thurner/Pappi 1998; 3 4

Eine methodenorientierte Diskussion der Skala ist u.a. bei Krosnick und Berent (1993) sowie bei Jacoby (1993) zu finden. Für die Bestimmung dieser Distanz sind nun wieder eine Vielzahl von Varianten vorgeschlagen worden, vgl. zur Diskussion Thurner (1998: 67ff., 2000: 498).

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

335

Pappi/Thurner 2000), dabei Parteineigungen berücksichtigt, und auch die Möglichkeit einer simultanen Schätzung der Wahlentscheidung einschließlich möglicher Enthaltung (Thurner 1998; Thurner/Eymann 2000) aufgezeigt. Für die Wahl 1990 wird gezeigt (Thurner 1998, 2000), dass selbst bei Kontrolle der Parteineigungen der Koeffizient der Politikdistanzen in der Kernenergiefrage in Westdeutschland auf dem Fünf-Prozent-Niveau statistisch signifikant ist. In einer kürzlich erschienenen Studie der Wahlen von 1987, 1998 und 2002 zeigt Debus (2007), dass die Koeffizienten des Positionsissues Kernenergie selbst bei extensiver Spezifikation von Variablen in Ostdeutschland 1998 und 2002 auf dem Fünf-Prozent-Niveau statistisch signifikant sind. In (West-)Deutschland sind die Koeffizienten für dieses Issue selbst bei Spezifikation der Links-Rechts-Skala, der Parteiidentifikation und sozialstruktureller Variablen 1987 und 1998 auf dem Ein-Prozent-Niveau statistisch signifikant.5 Die kontroversen Positionen zur Kernenergie bei den deutschen Parteien haben sich offensichtlich im Durchschnitt auf die Wahrscheinlichkeit ausgewirkt, eine Partei aus einem Alternativenset von mehreren Parteien zu wählen. Auch Sachfragen sind also unter bestimmten Bedingungen relevante Determinanten der Wahlentscheidung. Fraglich ist aber weiterhin, welches die notwendigen und hinreichenden Kontextbedingungen für einen derartigen Einfluss von Sachfragen auf die Wahlentscheidung sind, und wie man gegebenenfalls segmentsspezifische Reaktionen einer heterogenen Wählerschaft auf Sachfragen valide abbildet. Als Alternative zum Modell der kleinsten Distanz haben Rabinowitz und McDonald (1989) das sogenannte direktionale Modell vorgeschlagen. Hierbei trennt der Mittelpunkt der Policy-Skala einen negativen und einen positiven Wertebereich. Idealpunkt und wahrgenommene Kandidatenpositionen werden im direktionalen Modell multiplikativ verknüpft. Diese Modelle wurden mittlerweile in einer Vielzahl von Anwendungen in unterschiedlichen Kontexten verglichen (vgl. etwa Behnke 1999; Lewis/King 2000; Krämer/Rattinger 1997; Grofman/Merrill 1999). Gegen das von Rabinowitz wie auch gegen das von der räumlichen Theorie unterstellte Entscheidungskalkül spricht jedoch u.a. (siehe hierzu Pappi/Shikano 2007), dass es ein relevantes Segment „Moderater“ gibt, die Vertreter radikaler Positionen wählen. Kedar (2005) argumentiert, dass dies auf das Motiv der Herbeiführung von Koalitionsregierungen zurückzuführen ist. Offen blieben in dieser Diskussion bisher zwei Aspekte: Erstens ist es vorstellbar, dass sich unter den bisher als „Issue-Moderate“ oder „Less-Involved“ bezeichneten Selbsteinstufungen auf der 7-Punkte-Issue-Skala tatsächlich auch „Issue-Unentschlossene“ befinden. In dieser Sichtweise handelt es sich dann um Personen, die sich nicht sicher sind, welche Politikposition sie präferieren. Dies impliziert dann eine substanziell andere Interpretation als die bisherigen Konzeptionen räumlichen Wählens und deren Weiterentwicklungen. Vom direktionalen Modell unterschiede sich diese Konzeption in der Annahme, dass diejenigen, die diese Position einnehmen, durchaus auch eine hohe Intensität im Hinblick auf die Handhabung dieses Issues verspüren können. Im Gegensatz zum räumlichen Modell würde aber davon abgesehen, diese mittleren Positionen als Kontinuum von Maßnahmen zu inter5

Nach eigenen Angaben reskaliert Debus die 7-Punkte-Skalen in 11-Punkte-Skalen (vgl. Fußnote 6). Er konstruiert Politikdistanzen durch die Differenzbildung zwischen der präferierten Position des Respondenten zum Mittelwert der von allen Respondenten perzipierten Parteienpositionen. Zur Problematik letzteren Vorgehens vgl. auch Lewis und King (2000: 26f.).

336

Paul W. Thurner

pretieren. Wie wir aus der Sozialpsychologie und der Politischen Psychologie wissen, gibt es einen entsprechenden Anreiz, die Mittelkategorien derartiger Skalen zu wählen. Trifft dies hier zu, sollte es möglich sein, die unterschiedliche Höhe von intertemporalen Einstellungsoszillationen (vgl. Converse 1970; Hill/Kriesi 2001) von der Position der Idealpunkte auf der 7-Punkte-Issue-Skala abhängig zu machen. Zweitens blieb bisher weitgehend unbeachtet, dass Respondenten sehr häufig in einem Issue eine Sachfragen-Präferenz haben, die von der typischen Position „ihrer“ Partei abweicht. Das ist natürlich dann nicht weiter von Belang, wenn dieser Frage keine individuelle Bedeutung oder Salienz zugemessen wird, wenn andere Fragen für das Individuum wichtiger sind oder wenn das Individuum Sachfragen ohnehin keine Bedeutung schenkt. Aber die Identifikation eines Effekts bei nur einer Sachfrage sollte doch belegen, dass Dissonanzen und Issue-Inkonsistenz für Wähler potenziell eine besondere Herausforderung darstellen. Der Einsatz multiattributiver Modelle – seien sie direktionaler Provenienz oder dem least-distance-Ansatz verbunden – und die statistische Schätzung von Populationssalienzen haben möglicherweise bislang qualitativ unterschiedliche Reaktionsweisen der Wähler verwischt. Eine exemplarische Beschreibung und vorläufige Erklärung des Zustandekommens und der Auswirkungen dieses Phänomens steht daher im Zentrum dieses Beitrags. Unter Rückgriff auf Heiders (1946) Balance-Theorie und unter Verwendung eines Panel-Designs unterscheidet etwa Visser (1994) folgende drei Reaktionen zur Reduzierung derartiger Dissonanzen: Projektion, Persuasion und policy voting. Projektion bedeutet, dass Wähler die dissonante Issue-Position einer Partei, der sie positiv gegenüberstehen, „zu sich ziehen“. Persuasion bedeutet, dass sich die Wähler der Position dieser Partei annähern. Policy voting bezeichnet in Vissers Sinne die Änderung der Einstellung zu einer Partei, gemessen als Wahl einer anderen Partei zu einem späteren Zeitpunkt. Ich schlage vor, dieses Phänomen besser als „dissonanzbedingte Abwanderung“ zu bezeichnen. Im Hinblick auf den Projektionseffekt (siehe dazu auch Granberg/Brent 1974) schlage ich zudem eine Differenzierung vor: Selbst wenn dissonante Wähler die Position einer Partei tendenziell zu sich ziehen, könnten nämlich die räumlichen Distanzen immer noch größer sein als bei konsonanten Wählern. Die empirische Identifikation von Projektionseffekten (im Aggregat) bedeutet also nicht notwendigerweise auch schon, dass eine effektive und stabile Dissonanzreduktion oder gar -eliminierung (im Aggregat) stattgefunden hat. Um auszuschließen, dass dissonante bzw. inkonsistente Wähler eventuell die Position ihrer Parteien nicht kennen, wird hier außerdem vorgeschlagen, zusätzlich zu untersuchen, ob Issue-inkonsistente Wähler signifikant weniger häufig fehlende Werte bei der Perzeption aufweisen. Anwendungsbeispiel wird wie bei Visser (1994) die Einstellung zur Kernenergie sein. 3

Kernenergie: Relevanz und Aktualität des Themas

Der Einsatz der Kernenergie war und ist in der deutschen Bevölkerung umstritten. Derzeit werden in Deutschland 17 Kernkraftwerke betrieben, die ca. ein Viertel der allgemeinen Stromversorgung abdecken. Das macht allerdings über 45 Prozent der Grundlaststromver-

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

337

sorgung aus.6 Im Jahre 2000 (Konsensvereinbarung) bzw. 2002 (Gesetzesnovelle) hat die rot-grüne Regierung eines ihrer zentralen Versprechen eingelöst: Sie hat den Ausstieg aus der Atomenergie durchgesetzt. Dieser impliziert u.a. den Verzicht auf den weiteren Bau von Kernkraftwerken und eine Einigung auf Restlaufzeiten für bestehende Kraftwerke. Klimadebatte und das Ansteigen von Öl-, Gas- und Strompreisen haben jedoch wieder zu einer Intensivierung der wissenschaftlichen und politischen Debatte um die Kernenergie geführt – international wie innerhalb Deutschlands. Aufgrund gegenwärtiger internationaler und europäischer Initiativen zum Ausbau der Kernenergie und der bekannten divergierenden Positionen der deutschen Parteien werden diese Fragen in den nächsten Jahren eine zentrale Rolle spielen. Die amerikanische Regierung etwa macht sich für einen weltweiten Ausbau der Nukleartechnologie stark. In der von den USA initiierten Global Nuclear Energy Partnership (GNEP) trafen sich am 16. September 2007 in Wien bei der International Atomic Energy Agency zum zweiten Mal eine Reihe von Staaten.7 Bei einem ersten Treffen Anfang 2007 kamen die USA, Russland, Japan, China und Frankreich zusammen. Im September stießen Australien, Bulgarien, Ghana, Ungarn, Jordanien, Kasachstan, Litauen, Polen, Rumänien, Slowenien und die Ukraine hinzu. Unterzeichnet wurde ein Statement of Principles, in dem die Absicht eines internationalen Ausbaus der zivilen Nutzung der Kernenergie und einer Vereinheitlichung und Verbesserung der Sicherheitsstandards deklariert wird. Bereits im Juli 2006 hatte sich anlässlich des G8-Gipfels in Sankt Petersburg gezeigt, dass Deutschland international eine Minderheitenposition einnimmt. Dies hatte sich beim G8-Gipfel im Juni 2007 in Heiligendamm noch einmal bestätigt.8 Die offizielle Haltung der EU zur Kernenergie ist entsprechend ambivalent: Es wird den Mitgliedsländern zwar empfohlen, einen Energiemix zu implementieren. Gleichzeitig wurde den Mitgliedstaaten aber dennoch freigestellt, inwieweit sie hierbei die Kernenergie berücksichtigen.9 Frankreichs Präsident Sarkozys Haltung zur Kernenergie ist demgegenüber eindeutig und offensiv: Bei seinem Besuch in Berlin am 10. September 2007 sagte er: „Atom ist die Energie der Zukunft“ (vgl. F.A.Z. vom 11. September 2007, S. 13).

6 7 8

9

Zu den Zahlen vgl. http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Energie/kernenergie.html, Abruf Oktober 2009. Vgl. die Berichte in der F.A.Z. vom 11. September 2007 (S. 13) und auf der Homepage der IAEA, http://www.iaea.org/NewsCenter/News/2007/gnep.html vom 16. September 2007, Abruf: Oktober 2009. So äußerte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Die deutsche Haltung zur Kernenergie ist unter den G8Staaten eine absolute Minderheit...“, siehe http://www.g-8.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/ 2007/06/2007-06-08-pk-merkel-g8-abschluss.html, Abruf: Oktober 2009. Vgl. den Energiepolitischen Aktionsplan des Europäischen Rates für die Jahre 2008/2009, beschlossen auf dem Frühjahrsgipfel am 8./9. März 2007: „Der Europäische Rat hat festgehalten, dass die Wahl, die die Mitgliedstaaten in Bezug auf den Energiemix treffen, sich auf die Lage des Energiesektors in anderen Mitgliedstaaten und auf die Fähigkeit der Union auswirken kann, die Ziele der Energiepolitik für Europa zu erreichen. Darüber hinaus hat der Europäische Rat bestätigt, dass die Wahl der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Energiemix in vollem Umfang respektiert wird und dass es Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats ist, über den Einsatz der Kernenergie zu entscheiden. Angesichts des hohen Beitrages der Kernenergie zur Energieversorgung in der EU betont der Rat die Notwendigkeit, die Sicherheit bestehender nuklearer Anlagen und das Management radioaktiver Abfälle zu verbessern sowie einen breiten Dialog über die Chancen und Risiken der Kernenergie in der Gemeinschaft zu führen“ (siehe http://www.bmwi.de/BMWi/ Navigation/Energie/europaeische-energiepolitik.html, Abruf: Oktober 2009).

338

Paul W. Thurner

Im deutschen Elektorat ist die Ablehnung der Kernenergie zurückgegangen. Das belegen nicht nur jüngste Umfragen des Atomforums (Deutsches Atomforum 2007), einer durchaus interessierten Gruppierung, die die friedliche Nutzung der Kernenergie in Deutschland befördern will. Demgemäß sollen sich im Sommer 2007 eine knappe Mehrheit der Deutschen für eine Verlängerung der Restlaufzeiten ausgesprochen haben.10 Auch eigene sekundäranalytische Auswertungen der Bundestagswahlstudien 1987 bis 2005 – siehe hierzu auch unten – belegen eine tendenzielle Abnahme der Ablehnung. Die deutschen Parteien haben, mit wenigen Ausnahmen parteiintern abweichender Positionen (vgl. etwa den Konflikt zwischen Wolfgang Clement und der SPD), sehr stabile Positionierungen hinsichtlich dieser Frage: Die SPD, die zusammen mit den Grünen den Ausstieg aus der Kernenergie in ihrer Regierungskoalition beschlossen hatte, bekräftigt diese Position in ihrem jüngsten Hamburger Parteiprogramm. Die CDU schlägt in ihrem Grundsatzprogramm den Ausstieg aus dem Ausstieg vor,11 ähnlich äußert sich die CSU in ihrem Grundsatzprogramm 2007. Die FDP bezeichnet zwar in ihrem letzten Deutschlandprogramm die Kernenergie als „Übergangstechnologie“ (vgl. FTD vom 6. Juli 2007), und damit ähnlich wie die SPD und Umweltminister Gabriel als eine Technologie ohne Zukunftspotenzial. Dennoch spricht sie sich eindeutig für ihren Einsatz aus und bemängelt die internationale Isolierung der Bundesrepublik – Westerwelle bezeichnete in diesem Kontext Deutschland schon mal als „internationalen Geisterfahrer“. Die Linke fordert einen „beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie“ und eine „solare Energiewende“. Obwohl die deutschen Parteien relativ festgefügte Globalpositionen bei dieser Frage einnehmen, zeigen eigene Inhaltsanalysen der neuesten Programme und der Verlautbarungen von Politikern, dass es offensichtlich zu einem Reframing der Kernenergie vor allem von Seiten der Befürworter vor dem Hintergrund der sich verändernden Rahmenbedingungen kommt. Hierbei wird die Kernenergie in neuartige Assoziationszusammenhänge gestellt („Übergangstechnologie“, „Notwendig zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes“). Zudem zeigen eigene Analysen, dass nicht alle Wähler immer schon die Position ihrer Parteien teil(t)en, und dass weiter große Anteile „unentschlossen“ sind. Vor diesen sehr gerafft dargestellten Hintergrundbedingungen stellt sich die Frage, wie sich die Einstellungen der deutschen Wählerschaft entwickeln – und die Frage nach Entwicklungen impliziert immer schon die Frage nach Gründen von Veränderungen. Die Beantwortung dieser Frage ist von ganz besonderer Relevanz für die inhaltliche (Re-)Positionierung und die Reframingbemühungen der Parteien, wie auch für die Investitionsentscheidungen der mit der Kernenergie verbundenen Unternehmen und nicht zuletzt für die strategischen Entscheidungen von deutschen Forschungseinrichtungen. 10 11

Auf Anfrage wurde mitgeteilt, dass die Ergebnisse auf der Grundlage einer Repräsentativbefragung unter der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren, N = 1001, ermittelt wurden. „Auf absehbare Zeit kann auf den Beitrag der Kernenergie zur Stromerzeugung in Deutschland nicht verzichtet werden. Sie ermöglicht es, den Zeitraum zu überbrücken, bis neue klimafreundliche und wirtschaftliche Energieträger in ausreichendem Umfang verfügbar sind. Im Rahmen unserer Klimaschutzstrategie streben wir eine Laufzeitverlängerung von sicheren Kernkraftwerken an“ (vgl. http://www.grundsatzprogramm.cdu.de/doc/071203-beschluss-grundsatzprogramm-6-navigierbar.pdf, Abruf: Oktober 2009). Allerdings gibt es auch innerhalb der CDU Stimmen, die zumindest eine Verlängerung der Laufzeiten nicht mehr für durchsetzbar halten: etwa von Friedbert Pflüger, Ole von Beust und Harry Peter Carstensen in ihren Verlautbarungen nach den Störvorfällen in Krümmel und Brunsbüttel (vgl. FTD vom 25. Juli 2007).

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen? 4

339

Issue-Unentschiedenheit und Issue-Inkonsistenz: Deskription

Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass relevante Teile derjenigen Respondenten, die sich für die Mitte der 7-Punkte-Issue-Skala entscheiden, auf der eine kontroverse Sachfrage abgetragen wird, oder aber explizit angeben, nicht zu wissen, welche Präferenz sie haben, tendenziell sogenannte Issue-Unentschlossene oder Issue-Unentschiedene sind. Es handelt sich um Personen, die (noch) keine Meinung (non-attitudes) haben (wollen). Als IssueInkonsistente werden solche Personen bezeichnet, die selbst eine „dezidierte“ Policy-Einstellung angeben, gleichzeitig aber eine Partei präferieren, die diese Position gerade nicht vertritt. Die Messung erfolgt auf der Grundlage der bekannten 7-Punkte-Issue-Skalen (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1:

Frage und Skala zum Thema Kernenergie

Bei den folgenden Fragen geht es jeweils um zwei gegensätzliche Meinungen zu verschiedenen politischen Aufgaben. Bitte sagen Sie mir, wo Ihrer Meinung nach die einzelnen Parteien stehen. Wenn Sie eine Frage nicht beantworten können, dann sagen Sie das bitte einfach. Zuerst geht es um das Thema Kernenergie. Der Wert eins bedeutet: weiterer Ausbau der Kernenergie, der Wert sieben bedeutet: sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke. Sollte die Kernenergie weiter ausgebaut werden oder sollten alle Kernkraftwerke abgeschaltet werden? Welche Politik vertritt hier Ihrer Meinung nach die CDU/CSU? Welche Politik vertritt hier Ihrer Meinung nach die SPD? ..... Welche Meinung haben Sie zur Kernenergie? Weiterer 1 Ausbau Ƒ

2 Ƒ

3 Ƒ

4 Ƒ

5 Ƒ

6 Ƒ

7 Ƒ

Sofortige Abschaltung

8 Weiß nicht 9 Antwort verweigert Quelle: Wahlstudie 1998 (ZA3066), Fragen 24 und 27.

Exemplarisch zeigt Abbildung 2 die Verteilung der Antworten in der Wahlstudie 2005. Fraglich ist, ob die hier sogenannten Unentschiedenen sich auch tatsächlich durch entsprechende Merkmale charakterisieren lassen, die dann eine differenzielle Reaktion auf die politische Kommunikation und Parteipositionierungen implizieren. Mit einer identischen Zielsetzung schlage ich vor, systematisch diejenigen Respondenten zu untersuchen, die eine (In-)Konsistenz aufweisen zwischen eigener Issue-Präferenz und der Absicht, eine Partei zu wählen, die eine typische, langfristige dazu divergierende Position zu einer Sachfrage einnimmt. Dies sei erneut mittels der folgenden Abbildung exemplarisch illustriert. Im Falle der Teilpopulation derjenigen, die die Abschaltung von Kernkraftwerken tendenziell oder aber dezidiert befürworten, gleichzeitig aber die Absicht angeben, die CDU bzw. die CSU wählen zu wollen, treten offensichtlich Inkonsistenzen auf. Im umgekehrten Fall gilt das auch für diejenigen SPD-Wähler, die den Aus-

340

Paul W. Thurner

bau der Kernenergie befürworten. Bei dem Konstrukt der Issue-Inkonsistenz handelt es sich also jeweils um die Kombination einer Sachfragenpräferenz (stufenweise Zustimmung/Ablehnung zu Statements bezüglich des Ausbaus oder des Ausstiegs (aus) der Kernenergie) und der bekundeten Präferenz oder der Neigung für/zu eine(r) Partei, die das Gegenteil vertritt (ähnlich: Visser 1994). Im Bereich der Kernenergiefrage haben sich die Parteien langfristig festgelegt und typische Globalpositionen bezogen – obgleich im Prozess der politischen Kommunikation selbstverständlich kontinuierlich kompetitive Reframingversuche stattfinden und immer wieder auch parteiintern abweichende Position in der Öffentlichkeit signalisiert werden.12 Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Unionsparteien und die FDP den Einsatz der Kernenergie befürworten, während ihn die anderen Parteien ablehnen. Abbildung 2:

„Issue-Unentschiedenheit“ im Kontext der Bundestagswahl 200513 Issue-Unentschiedene?

25

Anteile in Prozent 20

15

10

5

0 Ausbau

2

3

4

5

6

Abschaltung KKW

Weiß nicht

Aus der vorgeschlagenen Kombination lassen sich dann Typen von konsistenten und inkonsistenten Respondenten bilden, bei denen Wahlabsicht und Sachfragenpräferenz jeweils kognitiv konsonant oder dissonant sind. Die Illustration (vgl. Abbildung 3) soll verdeutlichen, dass mittels der Kombination von individueller Sachfragenorientierung und der Wahlabsicht oder einer Parteiloyalität gezielt theoretisch und praktisch relevante Teilpopulationen kreiert werden können, auf deren Basis man experimentell Hypothesen über die Wirkungsweise von politischer Kommunikation überprüfen kann.

12 13

Zudem ist die Zugänglichkeit des Themas für die Wähler auf Grund der zunehmenden Diskussion von Energiefragen hoch. Es handelt sich also um ein „leichtes Issue“. Basis ist die von Hans Rattinger durchgeführte Wahlstudie 2005. Ich bedanke mich bei Hans Rattinger für die Möglichkeit der Analyse dieser Studie. Die konditionalen Marktanteile der Parteien basieren auf der Wahlabsichtsfrage, eigene Berechungen.

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen? Abbildung 3:

341

„Inkonsistente Prädispositionstypen“ Politikpräferenzen bei der Kernenergie und relative Parteianteile

IssueInkonsistenz?

100 90 80 70

CDU

60

SPD

50

IssueInkonsistenz

FDP Grüne

40

PDS

30 20 10 0 Ausbau Kernenergie

2

3

4

5

6

Abschaltung KKW

Dafür bieten sich vor allem die Theorie kognitiver Dissonanz und Theorien der Einstellungsänderung durch Informationsverarbeitung an (vgl. zusammenfassend Peus et al. 2006; Zaller 1992). So ist etwa, ceteris paribus,14 zu erwarten, dass bei Konsistenten mit starker Parteiloyalität Beeinflussungsversuche von geringerer Effektivität sind als bei Inkonsistenten mit einer starken Parteiloyalität. Die Propensität der „Mitgliedschaft“ in diesen (Teil-)Gruppen hängt erwartungsgemäß systematisch von sozialstrukturellen und sozialpsychologischen Hintergrundmerkmalen ab, wie etwa von der längerfristigen Loyalität zu den Parteien. Wie Visser (1994) erwarte ich, dass die Wähler zur Dissonanzreduktion mit Persuasions- oder Projektionseffekten und tendenzieller Abwanderung reagieren. Diese lassen sich identifizieren, sofern man die perzipierten Parteipositionen ermittelt (siehe hierzu unten). Von zentraler Bedeutung ist aber zunächst ein Verständnis des Zustandekommens und der Auswirkungen derartiger Prädispositionen von Konsistenten im Vergleich zu Inkonsistenten. Betrachtet man zunächst die Verteilung der Wählerpräferenzen über den untersuchten Zeitraum, so lassen sich nicht unerhebliche Veränderungen feststellen (Abbildung 4).15 Während die Befürworter eines Ausbaus der Kernenergie von 1987 bis 1994 zunehmen, kommt es 1998 offensichtlich zu einer effektiven Mobilisierung gegen die Kernenergie. Gleichzeitig ist auffällig, dass in diesen Umfragen die Anteile der „Weiß-Nicht“-Antworten deutlich höher sind. Erst 2005 gewinnen die Befürworter der Kernenergie wieder an Gewicht. Zwar bleibt das Segment der dezidiert Ablehnenden seit 1990 prozentual gleich groß. Bei den Positionen vier bis sechs kommt es jedoch zu deutlichen Abschmelzungen.

14 15

Unter dieses „ceteris paribus“ zu subsumieren sind etwa die Relevanz des Themas für die Versuchsperson, ob die Versuchsperson Persuasions- oder Projektionseffekten unterliegt etc. Hier und im Folgenden verwende ich ungewichtete Daten.

342

Paul W. Thurner

Abbildung 4:

Einstellungen der Wähler zum Thema Kernenergie im Zeitverlauf (19872005)

30,00% 25,00% 20,00% 15,00% 10,00% 5,00%

1990

1994

1998

2002

A ni ch t, K

W ei ss

Ab sc ha ltu ng

sb au Au

1987

Abbildung 5:

KK W

6

5

4

3

2

Ke rn en er gi

e

0,00%

2005

Anteil der Issue-Inkonsistenten (Kernenergie) im Zeitverlauf (1987- 2005)

35%

30%

25%

20%

15%

10%

5%

0% 1987

SPD

1990

Bündnis90/Grüne

1994

DieLinkspartei.PDS

1998

2002

CDU/CSU

2005

FDP

Gesamt

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

343

Wie groß sind nun die Anteile der Issue-Inkonsistenten im Zeitverlauf? Es gibt mehrere Möglichkeiten, Inkonsistenz theoretisch und operational zu definieren. Zum einen kann man die Inkonsistenz eines Respondenten mit „seiner“ Partei dergestalt zuspitzen, dass man nur diejenigen mit einer entsprechenden Parteiloyalität zur Definition und Prozentuierung verwendet. Im Folgenden soll ein weiterer Begriff zum Einsatz kommen, der die Wahlentscheidung gemäß der Sonntagsfrage zum Ausgangspunkt nimmt – wie etwa bei Visser (1994).16 Zweitens weise ich nur die Anteile im Hinblick auf die Gesamtstichprobe aus – eine Alternative bestünde darin, den Anteil inkonsistenter Wähler innerhalb einer jeweiligen Partei zu bestimmen (vgl. Abbildung 5). Gemäß der hier gewählten operationalen Definition kommt es nach 1987 insgesamt zu einem Anstieg von einem Ausgangswert von ca. einem Fünftel des Anteils der Inkonsistenten um etwa acht Prozentpunkte. 1998 erfolgt wieder eine Reduktion auf unter 25 Prozent, die bis 2005 anhält. Den höchsten Anteil an inkonsistenten Wählern weisen lange die C-Parteien auf. Allerdings sinkt dieser Anteil seit der Wahl 1990 beständig, während der Anteil der Issue-Inkonsistenten SPD-Wähler seit 1994 um die zehn Prozent schwankt. Die geringsten Anteile weisen in dieser Sichtweise selbstverständlich die kleinen Parteien auf. Bestimmt man allerdings die Anteile der Inkonsistenten innerhalb jeder einzelnen Partei, dann nimmt die PDS/Linkspartei mit etwa 38 Prozent die Spitzenreiterposition ein, gefolgt von der SPD. 5

Determinanten von Issue-Unentschlossenheit und Issue-Inkonsistenz

Handelt es sich bei den Mittelkategorien drei bis fünf und den „weiss nicht“-Antworten wirklich um Issue-Unentschlossene und lässt sich durch die Zusammenfassung dieser Gruppen eine gute Erklärung der Segmentmitgliedschaft mit diversen Hintergrundvariablen erzielen? Oder handelt es sich eher um heterogene Gruppen und nur im Falle der Mittelkategorien um Issue-Moderate? Dieser Frage soll im Folgenden vorläufig nachgegangen werden. Es wurden jeweils die Kombinationen (drei bis fünf und „weiß nicht“), (vier und „weiß nicht“) und (vier) gesondert gerechnet. Verwendet werden die unabhängigen Variablen Bildung, politisches Interesse, Alter, Parteineigung und Ost- versus Westdeutsche. Bildung und politisches Interesse können als Proxies für politisches Wissen betrachtet werden. Das Vorliegen einer Parteiloyalität sollte die Kenntnis der Position der „eigenen“ Partei erleichtern. Das Alter einer Person und die Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschland werden als Kontrollvariablen verwendet. Aufgrund geringfügig besserer Prognosegüte im Vergleich mit den genannten Kombinationen weise ich die Berechnungen für die Kombination (vier und „weiß nicht“) aus. Eindeutig finden sich in dieser Kategorie nicht diejenigen mit einem hohen Bildungsabschluss (vgl. Tabelle 1). Auch hohes politisches Interesse prädestiniert – zumindest 1998 bis 2005 – dazu, eher eine dezidierte Haltung an den Tag zu legen. Bei einer fehlenden 16

Auch die Berechnungen mit der Parteineigung der Respondenten ist selbstverständlich inhaltlich eine sinnvolle Operationalisierung und liefert interessante Einsichten. Die entsprechenden Tabellen und Grafiken können vom Autor auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden.

344

Paul W. Thurner

Parteiloyalität tritt diese Kategorie zumindest dem Vorzeichen nach tendenziell eher auf als bei einer starken Parteineigung.17 Die Chance, dass Ostdeutsche im Vergleich zu Westdeutschen diese Mittelkategorie wählen, ist durchgehend höher. Dagegen scheint mit zunehmendem Alter eher die Mittelkategorie bevorzugt zu werden.18 Rekurriert man vor allem auf die Bildungsvariable und politisches Interesse, erhärten diese Ergebnisse vorläufig die Vermutung, dass es sich bei der Mittelkategorie zumindest in den vergangenen zehn Jahren teilweise auch um Issue-Unentschlossene handelt denn um Moderate. Tabelle 1: Determinanten der Unentschiedenheit (Skalenposition vier und „weiß nicht“, Regressionskoeffizienten einer logistischen Regression, t-Werte in Klammern) 1987 Keine Parteineigung

1990

0,226* (1,98)

0,016***

Abitur

Hohes politisches Interesse

N 2

Pseudo-R

Log-Likelihood

2002

2005

0,054

0,188*

0,155

0,055

(2,24) **

0,232

0,284

(2,15)

(2,76)

(4,03)

0,006

0,004

0,013***

0,318

(1,27) ***

0,253

(0,39) *

(2,18)

0,210 (1,62)

0,011***

0,010*

(5,68)

(4,20)

(1,90)

(1,92)

(3,43)

(2,38)

-0,133

-0,298

-0,256

-0,436***

-0,523**

-0,378**

(-0,77)

(-1,94)

(-1,55)

-0,112

0,036

-0,033

(-1,00) Konstante

1998

(0,47) *

Ost-Deutschland

Alter

1994

-1,659

(0,31) ***

-1,723

(-4,34) -0,247**

(-0,26) ***

-1,459

(-2,96)

(-2,75) ***

-0,990

(-2,78)

-0,450*** (-3,59)

***

-1,261

-0,311* (-2,47)

***

-1,647***

(-10,37)

(-10,53)

(-8,61)

(-7,99)

(-7,05)

(-6,45)

1995

2031

2046

3337

1632

1688

0,018

0,014

0,008

0,017

0,023

0,016

-1187,3

-1132,3

-1157,2

-2040,3

-988,8

-865,6

Signifikanzniveau:* p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001 1990 wurde in Ostdeutschland nur eine modifizierte Version der Frage zur Parteineigung gestellt; daher ist eine Berücksichtigung dieser Variablen für die gesamtdeutsche Analyse für das Jahr 1990 nicht sinnvoll.

Gibt es systematische Muster, die die Mitgliedschaft in dem Segment der Issue-Inkonsistenten in dieser Frage erklären? Ein übergreifendes Muster lässt sich hier nicht feststellen. Es zeigt sich jedoch für 1987, der Bundestagswahl nach dem Tschernobyl-Desaster, 17

18

Um zielgenauer auch den „Wert“ einer schwachen Parteineigung zu bestimmen, wurde auch die Ausprägung „schwache Parteineigung“ zusätzlich parteispezifisch berücksichtigt – ohne jedoch systematische Ergebnisse zu erhalten. Dieser Effekt ist linear – die übliche Spezifikation zusätzlicher quadrierter Effekte erwies sich als statistisch nicht angemessen.

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

345

dass diejenigen Wähler der bis dato etablierten Parteien, die ein hohes politisches Interesse angaben, sehr viel wahrscheinlicher auch eine zu ihrer Partei inkonsistente Position einnahmen. Eine weitere Regelmäßigkeit ist wiederum für das Merkmal „ostdeutsche Wähler“ erkennbar: Im Falle der SPD- und der Grünen-Wähler weisen diese Wähler häufiger eine Issue-Inkonsistenz auf als die Westdeutschen. 2005 führt das Fehlen einer Parteineigung tendenziell eher dazu, eine inkonsistente Issue-Präferenz zu haben. 6

Auswirkungen von Issue-Inkonsistenz

Im Folgenden beschränke ich mich auf einige ausgewählte Aspekte der Auswirkungen einer Issue-Inkonsistenz, die im Kontext einer Querschnittsbefragung untersucht werden können. Bei der Frage nach potenziell unterschiedlichen Reaktionen von Konsistenten versus Inkonsistenten lassen sich zunächst perzeptionelle versus behaviorale Reaktionen unterscheiden. Im Hinblick auf Perzeptionsreaktionen stellen sich etwa die Fragen, ob sich einerseits die Wahrnehmungen der Issue-Positionen der gewählten Partei unterscheiden und ob sich, andererseits, die wahrgenommenen Distanzen zu diesen Parteien jeweils unterscheiden. Gleichzeitig soll kontrolliert werden, ob diese beiden Gruppen im Hinblick auf die Häufigkeit einer fehlenden Parteiposition diskriminieren. Bezüglich der behavioralen Dimension ist von Interesse, ob Wähler, die bei der jeweils vorausgehenden Bundestagswahl eine bestimmte Partei gewählt haben, nun zum Zeitpunkt einer Bundestagswahl auf Grund einer Issue-Position, die im Gegensatz zur Position dieser Partei steht, diese Partei verlassen zugunsten einer Partei, die diese Präferenz teilt oder zugunsten der Enthaltung. Abbildung 6:

Einschätzung der Position der eigenen Partei getrennt nach (In-) Konsistenz, am Beispiel der Bundestagswahl 2005

Konsistent

CDU/CSU Inkonsistent

Konsistent

SPD Inkonsistent

1

2

3 4 5 6 Einschätzung der eigenen Partei

7

346

Paul W. Thurner

Die Boxplots in Abbildung 6 basieren auf der von eins bis sieben reichenden KernenergieSkala, wobei der Wert eins den weiteren Ausbau der Kernenergie fordert, der Wert sieben bedeutet: „sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke“. Es zeigt sich, dass inkonsistente Cwie SPD-Wähler ihre Partei tendenziell „zu sich ziehen“ – denn inkonsistente C-Wähler sind ja gegen die Kernenergie, inkonsistente SPD-Wähler sind für die Kernenergie. Diese Effekte sind ein klarer Hinweis auf Projektionseffekte. Die Streuung der Werte ist bei den Inkonsistenten jeweils größer und die Mittelwerte unterscheiden sich signifikant. Bei den Boxplots, die exemplarisch die Verteilung der wahrgenommenen Distanzen von C-Wählern und SPD-Wählern zu den jeweiligen Parteien ausweisen (Abbildung 7), zeigt sich nun aber, dass Inkonsistente trotz des „Heranziehens“ ihrer Partei häufiger eine größere Distanz zu dieser wahrnehmen! Allerdings sind die Distanzen, die inkonsistente C-Wähler hierbei zu ihrer Partei hinnehmen müssen, erheblich größer als diejenigen bei den inkonsistenten SPD-Wählern. Abbildung 7:

Distanz zur eigenen Partei getrennt nach (In-)Konsistenz, BTW 2005

Konsistent

CDU/CSU Inkonsistent

Konsistent

SPD Inkonsistent

0

1

2 3 4 Distanz zur eigenen Partei

5

6

Führt man diese Analysen nun für alle Parteien durch, so lassen sich – mit kleinen Abweichungen bei den Grünen-Wählern – folgende allgemeinen Muster feststellen (vgl. Tabelle 2): Inkonsistente sehen die gewählte Partei tendenziell näher bei sich, d.h., sie „ziehen“ die Partei zu sich im Sinne einer Dissonanzreduktion. Dennoch nehmen sie im Durchschnitt eine größere Distanz zur gewählten Partei wahr. Letzteres birgt bekanntermaßen potenziell die Gefahr einer dissonanzbedingten Abwanderung – gemäß der räumlichen Wahllogik: je größer die Policy-Distanz, desto geringer die Wahrscheinlichkeit der Wahl. Mit wenigen Ausnahmen – bei den FDP- und Grünen-Wählern, gibt es keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl der fehlenden Werte.

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

347

Tabelle 2: Einschätzung der und Distanz zur eigenen Partei, Anzahl der fehlenden Werte bezüglich perzipierter Parteiposition 1987

N

1990

N

1998

N

2002

N

2005

N

CDU/CSU Einschätzung Distanz Missing

+ + n.s.

756 756 765

+ + n.s.

561 556 604

+ + n.s.

740 713 798

+ + n.s.

383 372 435

+ + n.s.

501 498 529

SPD Einschätzung Distanz Missing

+ + n.s.

660 658 663

+ + n.s.

431 431 447

+ + n.s.

1024 1004 1113

+ + n.s.

425 418 473

+ + n.s

465 464 496

FDP Einschätzung Distanz Missing

+ + I
137 137 138

+ + n.s.

103 103 108

+ + K
100 99 112

+ + n.s.

87 86 106

+ + n.s

134 134 153

n.s. + n.s.

141 140 144

Grüne Einschätzung + 163 + 144 n.s. 228 n.s. 99 Distanz + 163 + 143 + 227 + 98 Missing n.s. 164 n.s. 149 I
Führt nun die Tatsache einer Diskrepanz zwischen eigener Politikpräferenz und der IssuePosition zu einer feststellbaren behavioralen Reaktion? Wohlgemerkt: Diese Diskrepanz muss nicht wahrgenommen werden, und selbst wenn sie kognitiv zugänglich ist, kann auf Grund anderer, überwiegender positiver Bewertungen einer Partei ein Verbleib bei derselben beobachtet werden. Ein optimales Analysedesign würde selbstverständlich Experimente und/oder eine Paneluntersuchung erfordern (vgl. etwa Visser 1994). Als vorläufige Alternative wird hier der Einfachheit halber vorgeschlagen, zu untersuchen, ob Respondenten abwandern, die zum Zeitpunkt der Befragung eine Issue-Präferenz angeben, die der Position der gemäß Recall19 angegebenen Partei zuwiderläuft. Abwanderung bedeutet hierbei, entweder in das Lager derjenigen Parteien zu wechseln, die die eigene Position unterstützen, oder aber sich zu enthalten.20 Um ein konkretes Beispiel zu geben: Eine Wählerin, die bei der Wahl 2002 eine C-Partei gewählt hat, und in 2005 eine ablehnende Einstellung in der Kernenergiefrage 19 20

D.h. die Erinnerung der Partei, die jeweils bei der letzten Bundestagswahl gewählt wurde. Vissers Operationalisierung des policy voting als Abwanderung zu einer beliebigen Partei (vgl. 1994: 706) ist demgemäß nicht schlüssig, da damit nicht in jedem Fall eine Dissonanzreduktion verbunden ist.

348

Paul W. Thurner

zu Protokoll gibt, sollte, um die Inkonsistenz mit der früheren Wahl zu beseitigen, tendenziell eher zu den Parteien SPD, Grüne oder Linke abwandern, oder in die Enthaltung gehen. Vice versa wird erwartet, dass ein Wähler, der 2002 die SPD gewählt hat und nunmehr in 2005 eine befürwortende Stellung zur Kernenergie angibt, tendenziell eher zu den Parteien CDU/CSU oder FDP oder aber in die Enthaltung geht. Exakt diese Hypothese wurde in Tabelle 3 getestet – allerdings nur für die großen Parteien, da nur hier die Wanderungsbilanzen das entsprechende Ausmaß für eine statistische Analyse haben. Tabelle 3: Inkonsistenz und Abwanderung (Binäres Logitmodell) 2005 CDU

0,035 (0,10)

-0,189 (-0,78)

0,436 (0,94)

-0,527 (-0,73)

-0,136 (-0,31)

-1,592 (-1,74)

Abitur

N N (Mover) Log-Likelih.

-2,105***

-0,960***

Abitur

0,0513 (0,07)

-1,748***

-0,856***

-0,057 (-0,23)

-0,413* (-1,97)

-0,424 (-1,42)

0,464 (1,29)

0,965 (1,53)

0,373 (2,56)

-0,712***

-1,647***

(-9,54)

(-7,52)

(-7,93)

(-14,15)

476 59

594 161

387 80

519 155

1079 375

856 132

-346,3

-188,9

-316,4

-688,9

-176,2

1990

CDU

SPD

CDU

SPD

0,328 (0,72)

0,251 (1,09)

0,536 (1,76)

-0,437 (-0,95)

0,268 (0,34)

0,427 (0,99)

-0,213 (-0,54)

-0,057 (-0,05)

-0,218 (-0,34)

-0,549 (-0,60)

0,614 (0,49)

Konstante

-1,327***

-2,833***

-1,606***

-366,4 1987

0,287 (1,30)

0,298 (0,39)

N (Mover)

-0,031 (-0,09)

SPD

*

(-7,30)

Inkonsistenz x Abitur

N

0,0251 (0,10)

CDU

(-10,70)

1994 Inkonsistenz (gewählte Partei in t-1)

1998 SPD

***

1,112 (4,03)

0,806 (2,12)

Konstante

*

CDU

0,137 (0,57)

Inkonsistenz (gewählte Partei in t-1)

Inkonsistenz x Abitur

2002 SPD

-1,278***

CDU

SPD

1,797*** (4,40)

1,076** (2,89)

-3,894***

0,214 (0,28)

-2,853***

(-10,68)

(-10,66)

(-10,87)

(-9,19)

(-11,57)

(-14,15)

606 133

404 25

587 110

425 97

713 34

590 40

-226,4

-123,3

-142,6

-317,3 -93,50 -282,0 Log-Likelih. Signifikanzniveaus: * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

349

Um zu kontrollieren, ob diese Art von Dissonanzreduktion nur bei formal Hochgebildeten stattfindet, wurde eine entsprechende Variable (formale Bildung: mindestens Abitur) und ein Interaktionsterm aufgenommen. Letztere Hypothese erweist sich als nicht stimmig. Hingegen kann gezeigt werden, dass es 2005, 2002 und 1998 im Falle der C-Parteien dann zu Abwanderungen kam, wenn eine entsprechende Dissonanz vorhanden war. Im Jahre 1987 zeigt sich dies für beide großen Parteien. Issue-Inkonsistenz führt offensichtlich unter ganz bestimmten, noch weiter zu untersuchenden Bedingungen zu relevanten behavioralen Reaktionen. 7

Zusammenfassung und Ausblick

Die vorgelegten Analysen zeigen, dass Teile der Wähler offenbar Issue-unentschlossen sind, und dass nicht alle Wähler einer Partei immer schon die Position ihrer Partei teil(t)en. Das gilt übrigens auch für Teile der Stammwähler. Es wurde gezeigt, dass es im Falle der Issue-Inkonsistenten zu systematischen perzeptionellen und behavioralen Reaktionen kommt. Bisher ist unklar, wie Wähler mit solchen Merkmalskombinationen mit den Kommunikationsstrategien der Parteien umgehen. Unter welchen Umständen ändern Issue-Inkonsistente und Issue-Unentschlossene ihre Einstellung bezüglich einer Sachfrage und unter welchen Umständen ändern sie eher ihr Wahlverhalten? Die präsentierten Ergebnisse zeigen, dass es sich bei den hier theoretisch-konzeptionell hergeleiteten Segmenten um Targetpopulationen handelt, die für Beeinflussungsversuche offen sind. Es ist also zukünftig der Frage nachzugehen, unter welchen Bedingungen bei solchen „unentschiedenen“ und „inkonsistenten“ Personen Einstellungs- und Verhaltensänderungen induziert werden können. Konkret: Wann wählt eine inkonsistente Person eine andere Partei wegen dieser Dissonanz? Wann kommt es zu einer Einstellungsänderung, d.h. wann modifiziert eine Person ihre inkonsistente Haltung und übernimmt die Position ihrer Partei, um eine Dissonanz aufzulösen? Wann belässt sie es bei dieser Dissonanz? Diese Fragen resultieren konkludent aus der hier entwickelten Perspektive. Methodisch empfiehlt es sich, diesen Fragen im Rahmen von Experimenten wie auch von Umfragen nachzugehen, um zunächst die Reliabilität und Validität der Konstrukte trennscharf zu bestimmen. In einem weiteren Schritt können dann die Auswirkungen von kompetitivem Framing (Chong/Druckman 2007) und politischer Rhetorik durch Kandidaten und Parteien untersucht werden. Literatur Behnke, Joachim (1999): Räumliche Modelle der Sachfragenorientierten Wahlentscheidung. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Chong, Dennis/Druckman, James N. (2007): Framing Theory. In: Annual Review of Political Science 10, 103-126. Converse, Philip E. (1970): Attitudes and Non-Attitudes. Continuation of a Dialogue. In: Tufte, Edward R. (Hrsg.) (1970): The Quantitative Analysis of Social Problems. Reading, MA: AddisonWesley, 168-189.

350

Paul W. Thurner

Debus, Marc (2007): Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens in Deutschland bei den Bundestagswahlen 1987, 1998, und 2002. Eine Anwendung des Modells von Adams, Merrill, Grofman. In: Politische Vierteljahresschrift 48, 269-292. De Sio, Lorenzo (2008): Are Less-Involved Voters the Key to Win Elections. In: Comparative Political Studies 41, 217-241. Deutsches Atomforum: Emnid-Umfrage: Mehrheit für weitere Nutzung der Kernenergie. Deutliches Signal im Vorfeld des Energiegipfels für eine Neubewertung, http://www.presseportal.de/pm/ 7675/1007825/deutsches_atomforum_e_v, letzter Abruf 27. Oktober 2009. Europäische Kommission (2007): Special Eurobarometer 262: Energy Technology. Knowledge, Perception, Measures. Fieldwork: Mai-Juni 2006. http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_262_en.pdf, letzter Abruf: 27. Oktober 2009. Falter, Jürgen W./Schoen, Harald (2005): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: VS Verlag. Granberg, Donald/Brent, Edward E. (1974): Dove-Hawk Placements. In: The 1968 Election: Application of Social Judgment and Balance Theories. In: Journal of Personality and Social Psychology 29, 687-695. Grofman, Bernard/Merrill, Samuel (1999): A Unified Theory of Voting. Directional and Proximity Spatial Models. Cambridge: Cambridge University Press. Heider, Fritz (1946): Attitudes and Cognitive Organization. In: The Journal of Psychology 21, 107-112. Hill, Jennifer/Kriesi, Hans-Peter (2001): An Extension and Test of Converse’s Black-and-White Model of Response Stability. In: American Political Science Review 95, 397-413. Jacoby, William G. (1993): Testing the Effects of Paired Issue Statements on the Seven-Point Issue Scales. In: Political Analysis 5, 61-111. Kedar, Orit (2005): When Moderate Voters Prefer Extreme Parties. Policy Balancing in Parliamentary Elections. In: American Political Science Review 99, 185-199. Krämer, J./Rattinger, Hans (1997): The Proximity and the Directional Theories of Issue Voting. Comparative Results for the USA and Germany“. In: European Journal of Political Research 32: 1-29. Krosnick, Jon A./Berent, Mathew K. (1993): Comparison of Party Identification and Policy Preferences. The Impact of Survey Question Format. In: American Journal of Political Science 37, 941-964. Lewis, Jeffery B/King, Gary (2000): No Evidence on Directional versus Proximity Voting. In: Political Analysis 8, 21- 33. Pappi, Franz U. (1996): Political Behavior. Reasoning Voters and Multi-Party Systems. In: Goodin, Robert/Klingemann, Hans-Dieter, (Hrsg.) (1996): A New Handbook of Political Science. Oxford: Oxford University Press, 255-275. Pappi, Franz Urban/Shikano, Susumu (2007): Wahl- und Wählerforschung. Baden-Baden: Nomos. Pappi, Franz Urban/Thurner, Paul W. (2000): Die Deutschen Wähler und der Euro. Auswirkungen auf die Bundestagswahl 1998 und Längerfristige Perspektiven. In: Politische Vierteljahresschrift 41, 435-465. Peus, Claudia/Frey, Dieter/Stöger, Heidrun (2006): Theorie der Kognitiven Dissonanz. In: Bierhoff, Hans-Werner/Frey, Dieter (Hrsg.) (2006): Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie. Göttingen: Hogrefe, 373-379. Rabinowitz, George/MacDonald, Stuart E. (1989): A Directional Theory of Issue Voting. In: American Political Science Review 83, 93-121. Rattinger, Hans (1994): Parteineigungen, Sachfragen- und Kandidatenorientierungen in Ost- und Westdeutschland 1990-1992. In Rattinger, Hans/Gabriel, Oscar W./Jagodzinski, Wolfgang (Hrsg.) (1994): Wahlen und Politische Einstellungen im Vereinigten Deutschland. Frankfurt: Peter Lang. Roller, Edeltraud (1998): Positions- und Performanzbasierte Sachfragenorientierungen und Wahlentscheidung. In: Kaase, Max/Klingemann, Hans Dieter (Hrsg) (1998): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1994. Opladen: Westdeutscher Verlag, 173-219.

„Issue-Unentschiedene“ und „Issue-Inkonsistente“ als Targetpopulationen?

351

Thurner, Paul W. (1998): Wählen als Rationale Entscheidung. Die Modellierung von Politikreaktionen im Mehrparteiensystem. München: Oldenbourg. Thurner, Paul W. (2000): The Empirical Application of the Spatial Theory of Voting in Multiparty Systems with Random Utility Models. In: Electoral Studies 19, 493-517. Thurner, Paul W. (2006): Modelle Diskreter Entscheidungen. In: Behnke, Joachim/Gschwend, Thomas/Schindler, Delia/Schnapp, Kai-Uwe (Hrsg.) (2006): Empirische Methoden der Politikwissenschaft. Neuere Qualitative und Quantitative Analyseverfahren. Nomos: Baden-Baden. Thurner, Paul W./Eymann, Angelika (2000): Policy-Specific Alienation and Indifference in the Calculus of Voting. A Simultaneous Model of Party Choice and Abstention. In: Public Choice 102, 51-77. Thurner, Paul W./Pappi, Franz Urban (1998): ‚Retrospective’ und ‚Prospective Voting’ in Mehrparteiensystemen mit Koalitionsregierung. Die Bundestagswahl 1994. In: Kaase, Max/Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.) (1998): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1994. Opladen: Westdeutscher Verlag. Visser, Max (1994): Policy Voting, Projection, and Persuasion. In: Political Psychology 15, 699-711. Zaller, John (1992): The Nature and Origins of Mass Opinion. Cambridge: Cambridge University Press.

Anhang – Verwendete Datensätze x x x x x x

Wahlstudie 1987 (Trenduntersuchungen) (ZA1536, N=1995) Vergleichende Wahlstudie 1990 (Hauptbefragte, 1. Welle) (CNEP ZA2517, N=2032) Nachwahlstudie zur Bundestagswahl 1994 (ZA2601, N=2046) Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland 1998 (ZA3066, N=3337) Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland 2002 (ZA3861, N=1632) Wahlstudie 2005 (Hans Rattinger, N=1689)

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union Bettina Westle, David Johann

1

Einleitung

In repräsentativen Demokratien gehört die politische Informiertheit der Bürger zum angestrebten Bürgerschaftsverständnis. So zeichnen normative Theorien der Demokratie nicht selten ein Bild vom demokratischen Bürger als homo politicus, der politisch bestens informiert ist und seine wohlgeordneten Präferenzen selbstbewusst vertritt. Folglich genießt politisches Wissen als Untersuchungsgegenstand in der amerikanischen Forschung einen hohen Stellenwert (z.B. Bennett 1996; Delli Carpini/Keeter 1996; Jennings 1996; Jerit/Barabas 2006; Jerit et al. 2006; Gilens et al. 2007). In der europäischen Forschung liegen dagegen nur vereinzelte Studien vor, die sich auf nationale oder außenpolitische Politikfelder oder bestimmte Bevölkerungsgruppen konzentrieren (z.B. Rothe 1993; Schmitt-Beck 1993; Bennett et al. 1996; Vetter/Maier 2005; Westle 2005, 2006a; Larcinese 2007). Wissen zur Europäischen Union (EU) wird in keiner dieser Studien behandelt. Der Beitrag versteht sich daher in einem ersten Schritt als explorativ-deskriptive Bestandsaufnahme für die Mitgliedsländer der EU. Untersucht wird, wie das Wissen der Bevölkerung strukturiert ist und inwieweit es zwischen den EU-Ländern systematische Wissensunterschiede gibt. Der Fokus liegt auf politischem Faktenwissen, und zwar im Bereich des institutionellen Basiswissens über die Funktionsweise des politischen Systems der EU. Dieser Bereich kann als ein konstitutives Element politischen Wissens gelten. Die amerikanische Forschung zeigt die Relevanz politischen Wissens. So wirkt sich etwa der Informationsgrad der Bevölkerung auf deren politische Einstellungen aus und gut informierte Bürger sind im Vergleich zu ihren Pendants eher in der Lage, ihren Interessen entsprechende Politikpräferenzen zu entwickeln und in Form politischer Partizipation zu artikulieren (z.B. Delli Carpini/Keeter 1996; Popkin/Dimock 1999; Galston 2001; Gilens 2001; Althaus 2003). Vorliegende Studien haben jedoch wiederholt gezeigt, dass die Mehrheit der USBürger dem Ideal des homo politicus nicht entspricht, sondern relativ schlecht über den politischen Alltag sowie über den gesamten politischen Bereich informiert ist (z.B. Delli Carpini/Keeter 1996; Kuklinski et al. 2001; Mondak/Davis 2001). Für die Bürger der EU vermuten wir ein mäßiges Wissensniveau zur EU, da das Interesse der Bürger an der Politik der EU nach wie vor dem Interesse an nationaler Politik hinterher hinkt. Dies wäre jedoch zunehmend problematisch, da durch den europäischen Integrationsprozess immer mehr politische Entscheidungen auf der EU-Ebene getroffen werden. In einem zweiten Schritt wird nach Determinanten politischen Wissens gefragt. Diese Analyse zielt auf die Mikroebene. Die vorliegende Forschung liefert einige Hinweise zu den wichtigsten individuellen Prädiktoren politischen Wissens: ability, motivation und opportunity (Luskin 1990; Bennett 1996). Kognitive Fähigkeiten sind Voraussetzung für Lernerfolge. Motivation beeinflusst das Ausmaß, in dem das Individuum Informationen

354

Bettina Westle, David Johann

sucht und ihnen Aufmerksamkeit widmet. Gelegenheiten umfassen die Verfügbarkeit von Informationen. So erfordert der Erwerb von Wissen eine psychische und physische Grundausstattung. Darüber hinaus wirken sich Verhaltensweisen wie die Aufmerksamkeit gegenüber politischen Nachrichten und Informationen in den Medien oder Gespräche mit Freunden und Bekannten über politische Themen auf (die Möglichkeiten für) den Wissenserwerb aus. Beeinflusst werden diese Faktoren ihrerseits von demographischen Merkmalen wie z.B. Alter, Geschlecht und Status (Luskin 1990; Horstmann 1991; Bennett et al. 1996; Delli Carpini/Keeter 1996, 2000; Verba et al. 1997; Westle 2005; Gilens et al. 2007). Es ist anzunehmen, dass die genannten Einflussfaktoren auch auf europäischer Ebene und im Hinblick auf das Wissen zur EU von Bedeutung sind. 2

Datengrundlage und Operationalisierung der Variablen politischen Wissens zur Europäischen Union

Die Analysen stützen sich auf eine Auswahl der Eurobarometer (EB), den EU-weiten Erhebungen im Auftrag der Europäischen Kommission.1 Diese Studien enthalten gelegentlich Fragen zu Kenntnissen über die Europäische Union. Dabei handelt es sich entweder um kleine Frageblöcke, die ein aktuelles Thema aufgreifen, oder um singuläre Fragen zu verschiedenen Themen. Diese Fragen erlauben infolge unterschiedlicher Frageinhalte und/oder Frageformate aber überwiegend keine longitudinalen Vergleiche. Die Tabellen 1 bis 3 dokumentieren die verwendeten Fragen. Tabelle 1: Itembatterien mit thematisch singulären Wissensitems Polung

F R F R R F

Items

EB Monate/Jahr

Sagen Sie mir bitte für jede der folgenden Aussagen über die Europäische Union, ob diese Ihrer Meinung nach richtig oder falsch ist.*

5-6/ 2005 63.4

10-11/ 2-5/ 2005 2006 64.2 65.2

Die Europäische Union besteht zur Zeit aus 15 Mitgliedsländern. Die Mitglieder des Europäischen Parlamentes werden direkt von den Bürgern der Europäischen Union gewählt. Die letzten Wahlen zum Europäischen Parlament haben im Juni 2002 stattgefunden. Die Europäische Union hat ihre eigene Hymne. Alle sechs Monate übernimmt ein anderes EU-Mitglied die Präsidentschaft in der Europäischen Union. Der größte Teil des europäischen Haushalts wird für Personal- und Verwaltungskosten ausgegeben.

x x

x x

x

x

x

x

x x

9-10/ 2006 66.1 x x

x x

* Die Reihenfolge der Items entspricht nicht der Reihenfolge der Abfrage.

1

Die Datensätze wurden vom Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung zu Köln/GESIS bezogen. Alle Analysen sind gewichtet berechnet, d.h. länderspezifische mit den nationalen Repräsentativgewichten und gepoolte Analysen mit dem jeweiligen Gewicht für die Länderzusammenfassungen.

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

355

Die Wissensitems haben fast alle das folgende Format: Es wird eine Behauptung aufgestellt, die die Befragten als „richtig“ oder „falsch“ klassifizieren sollen. Die Antwortmöglichkeit „weiß nicht“ ist laut Intervieweranweisungen nicht vorzulesen, ist aber im Fragebogen vorgesehen und wird auch häufig genutzt. Bei den Itembatterien wurden durchgehend wahre und unwahre Vorgaben formuliert, was üblicherweise zur Vermeidung von Acquieszenztendenzen dient beziehungsweise deren Überprüfung ermöglicht. Das beschriebene Frageformat ist aber relativ stark anfällig für eine unterschiedliche Rateneigung (vgl. Nadeau/Niemi 1995; Johann 2008). Bei einer weiteren Frage, zum EU-Haushalt, werden dagegen sieben Antwortmöglichkeiten angeboten, von denen eine richtig ist. Tabelle 2: Wissensfrage zum EU-Haushalt (EB 63.4, 66.1) Wofür wird Ihrer Meinung nach der größte Teil des Haushalts der Europäischen Union ausgegeben? (1) Beschäftigung und Sozialpolitik (2) Landwirtschaft (r) (3) Wissenschaft und Forschung (4) Hilfe für Regionen (5) Außenpolitik und Hilfe für Länder außerhalb der EU (6) Kosten für Verwaltung, Personal und Gebäude (7) Spontan: Sonstiges (8) Weiß nicht/keine Angabe

Häufig werden in der Forschung bei Wissensitems mit der Richtig/Falsch-Struktur ausschließlich die Anteile von richtigen Antworten berücksichtigt. Dieses Vorgehen ist zwar ökonomisch, wird von uns aber für sachlich unangemessen gehalten, insbesondere sofern die Möglichkeit von „weiß nicht“-Antworten besteht. Da politischem Wissen Konsequenzen zugeschrieben werden können – wie etwa rationalere politische Entscheidungsfindung und verstärkte Partizipationsneigungen und -fähigkeiten –, dürfte es einen deutlichen Unterschied machen, ob Bürger/innen sich des eigenen Nichtwissens bewusst sind oder aber ihre politischen Einstellungen und ihr Verhalten auf falsche Annahmen gründen (vgl. Westle 2005; Johann 2008). Nachfolgend werden daher alle drei Antwortmöglichkeiten als valide Angaben betrachtet. Im Fall von Indexbildungen wird zusätzlich das „Nettowissen“, definiert als Anteil richtiger minus falscher Antworten, berücksichtigt. Bei den Itembatterien handelt es sich überwiegend um inhaltlich singuläre Items, d.h. um thematisch nur wenig miteinander zusammenhängende Kenntnisbereiche, die auch nach faktorenanalytischen Befunden keine sinnvoll interpretierbaren Strukturen zeigen.2 Daher werden die Items nachfolgend einzeln analysiert und jeweils Summenindizes über alle verfügbaren Indikatoren gebildet. 2

Die zwischen den Studien wechselnde Itemzusammensetzung erschwert eine Überprüfung von Strukturen in der Bevölkerungswahrnehmung durch Faktorenanalysen, da das Faktorengefüge immer auch abhängig von den erfassten Items ist. Die auf gemeinsamen Faktoren liegenden Items zeigen keinerlei inhaltliche Gemeinsamkeiten, sondern folgen eher einem Muster, das wahre von unwahren Statements separiert, allerdings trifft auch dies nicht bei allen Ländern und Zeitpunkten zu. Auch bei den Items zum Verfassungsentwurf werden wahre von unwahren Statements getrennt, wobei dies für alle Länderzusammenfassungen gilt, nicht aber für jedes einzelne Land.

356

Bettina Westle, David Johann

Tabelle 3: Wissensfragen zur EU-Verfassung (EB 63.4, 05-06/2005) Polung

Frage Sagen Sie mir bitte für jede der folgenden Aussagen, ob diese Ihrer Meinung nach richtig oder falsch ist. In der Europäischen Verfassung ist geplant, dass ...*

R R R F F F

die Position eines Außenministers der Europäischen Union geschaffen wird. mindestens eine Million Bürger der Europäischen Union die Annahme eines Europäischen Gesetzes fordern können. ein Mitgliedsstaat auf eigenen Wunsch die Europäische Union verlassen kann. der Präsident des Europäischen Rates direkt von den Bürgern Europas gewählt wird. eine direkte Europasteuer eingeführt wird. die nationalen Staatsbürgerschaften verschwinden.

* Die Reihenfolge der Items entspricht nicht der Reihenfolge der Abfrage.

3

Verteilungen politischen Wissens zur Europäischen Union

Nachfolgend wird zunächst der Frage nachgegangen, ob sich konsistente Verteilungsmuster des EU-Wissens zwischen den Ländern identifizieren lassen – konsistent im Hinblick auf generelle Wissensniveaus zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten sowie bei den verschiedenen Indikatorentypen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden jeweils die Eurobarometer der Jahre 2005 (63.4 und 64.2) und 2006 (65.2. und 66.1) kumuliert. Dabei wird erstens ein wissensförderlicher Effekt der Dauer der EU-Mitgliedschaft erwartet, da sich die EU-Mitgliedschaft auf Politikinhalte und Gesetzgebungsverfahren der Mitgliedsländer auswirkt, also Betroffenheiten und damit Motivation erzeugen sollte. Außerdem vergrößert die Dauer der Mitgliedschaft die Gelegenheiten zum Wissenserwerb. Diese Gelegenheiten waren für die jüngsten Beitrittsländer aus Osteuropa zudem durch die lange Abschottung vom Westen eng begrenzt. Zweitens wird vermutet, dass sich in Ländern mit ausgeprägten parteipolitischen Konflikten zur EU infolge der damit vermutlich verstärkten öffentlichen Thematisierung höhere Wissensniveaus als in Ländern ohne solche Konflikte entwickeln. Drittens ist an situative Effekte der Betroffenheit zu denken, die die Aufmerksamkeit für die EU befördern, wie beispielsweise Volksabstimmungen zur Mitgliedschaft, Abstimmungen über die Frage einer Europäischen Verfassung und auch EURatspräsidentschaften. Tabelle 4 zeigt die Mittelwerte von Zählindizes der jeweils pro Jahr verfügbaren singulären Items, und zwar Indizes zur Anzahl der falschen, richtigen und „weiß nicht“-Antworten sowie der richtigen minus falschen Antworten. Der auffälligste Befund dabei ist, dass sich die Antwortverteilungen in allen Ländern ähneln und die möglichen Skalenbreiten in keiner Weise ausgeschöpft werden. D.h. in keinem der Länder ist ein umfassendes Wissen oder umfassende Ignoranz zur EU verbreitet; vielmehr bewegen sich alle Länder auf einem eher mäßigen Wissensniveau. Vor diesem Hintergrund ist es nicht sinnvoll, zur differenzierteren Betrachtung dieser Niveaus auf die absolute Skalenbreite zu rekurrieren. Vielmehr wird eine Klassifikation der Länder entlang der realisierten Skalenwerte in drei Gruppen, nämlich durchschnittliches sowie unter- und überdurchschnittliches Wissen vorgenommen. Anhaltspunkt für den Durchschnitt bildet der jeweilige Wert für Gesamteu-

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

357

ropa sowie die Differenzen zum jeweiligen Minimal- und Maximalwert dividiert durch zwei. Tabelle 4: Politisches Wissen – Zählindizes (Mittelwerte) EB Range Indizes

0 bis 5 falsch

BE3 DE-W FR IT LU Nl DK IE UK EL ES PT DE-O AT FI SE CY CZ EE HU LT LV MT PL SI SK EU6 EU9 EU12 EU15 EU25

2,17 2,06 2,65 1,84 1,23 2,18 1,48 1,58 1,62 1,57 1,29 1,54 2,42 1,78 1,98 1,71 0,90 2,08 1,44 1,52 1,27 1,48 0,97 1,23 1,18 1,65 1,90 1,83 1,75 1,78 1,72

63.4+64.2 0 bis 5 0 bis 5 weiß richtig nicht 0,41 1,91 0,98 1,46 0,98 1,87 1,25 1,42 0,67 2,60 0,80 1,51 0,80 2,22 1,22 1,70 1,59 1,29 0,89 2,04 1,59 1,62 1,17 1,79 0,67 1,40 0,85 1,86 0,66 1,86 0,93 1,85 1,10 2,50 0,86 1,55 1,35 1,72 1,02 1,97 1,43 1,79 1,43 1,59 1,02 2,51 1,03 2,24 0,68 2,64 0,95 1,90 1,01 1,59 1,13 1,54 1,18 1,57 1,14 1,58 1,12 1,66

-5 bis 5 richtig falsch -0,26 -0,59 0,22 -0,42 1,37 -0,66 0,73 0,13 -0,33 0,47 0,33 0,25 -1,01 0,08 -0,11 0,14 1,60 -0,53 0,28 0,45 0,52 0,11 1,53 1,02 1,46 0,25 -0,31 -0,30 -0,18 -0,20 -0,06

0 bis 4 falsch 1,46 1,53 1,25 1,30 1,03 1,35 1,12 1,01 1,27 1,24 1,05 1,13 1,57 1,33 1,40 1,46 0,74 1,51 1,19 1,15 1,02 1,25 0,80 1,20 1,19 1,36 1,37 1,34 1,29 1,31 1,30

65.2+66.1 0 bis 4 0 bis 4 weiß richtig nicht 0,22 1,81 0,56 1,40 0,68 1,57 0,96 1,24 0,55 1,92 0,46 1,69 0,32 2,06 0,82 1,68 0,97 1,27 0,28 1,98 1,13 1,31 0,85 1,52 0,53 1,40 0,47 1,70 0,37 1,73 0,42 1,63 0,90 1,86 0,48 1,52 0,90 1,41 0,86 1,48 0,95 1,52 0,88 1,37 0,85 1,85 0,62 1,69 0,45 1,86 0,51 1,61 0,68 1,44 0,74 1,42 0,78 1,42 0,75 1,44 0,73 1,47

-4 bis 4 richtig falsch 0,34 -0,13 0,31 -0,06 0,89 0,33 0,94 0,67 0,00 0,74 0,26 0,39 -0,16 0,37 0,33 0,17 1,12 0,01 0,22 0,34 0,50 0,12 1,05 0,49 0,67 0,25 0,07 0,08 0,13 0,13 0,17

Hinweis: Die Erläuterungen der Abkürzungen finden sich im Anhang.

Das auf dieser Grundlage resultierende Bild ist dennoch komplex. Gemessen am Nettowissen wird die Gruppe mit überproportionalem Wissen angeführt von Luxemburg, Malta und Slowenien (je zweimal), gefolgt von Dänemark, Irland, Griechenland und Polen (je einmal). In der Gruppe mit unterproportionalem Wissen finden sich West- und Ostdeutschland (je zweimal), gefolgt von Italien und der Tschechischen Republik (je einmal). Die anderen 3

Die Kürzel der Länder können den Webseiten der EU entnommen werden (http://publications.europa.eu/code/de/de-5000600.htm). Die Länder sind sortiert nach Dauer der Zugehörigkeit und innerhalb der Beitrittswellen alphabetisch angeordnet.

358

Bettina Westle, David Johann

Länder gruppieren sich eng im Durchschnittsbereich. In jeder der drei Gruppen finden sich folglich sowohl Länder, die bereits seit langem zur Europäischen Union gehören, als auch Länder, die erst in den letzten zwei Beitrittswellen dazugekommen sind. Ebenso finden sich in allen drei Gruppen Länder ohne und mit kommunistischer Vergangenheit. Und schließlich finden sich Länder, in denen Konflikte zur EU existieren ebenso in allen drei Gruppen, wie Länder, in denen keine parteipolitischen Polaritäten oder Konflikte über die EU vorherrschen, in denen also die (Zugehörigkeit zur) EU von Anhängern aller politischen Lager vergleichsweise stark befürwortet oder abgelehnt wird.4 Der Eindruck, dass es im Ländervergleich keine „Know all“ oder „Know nothings“ gibt, wird verstärkt, wenn man die Antwortmuster auf die einzelnen Indikatoren betrachtet, wie in Tabelle 5 ausgewiesen. Unterteilt man die von -100 (alle Antworten falsch) bis +100 (alle Antworten richtig) reichenden Prozentwerte gleichmäßig in vier Gruppen, so findet sich mit der Frage nach den EU-Haushaltsausgaben ein Indikator, bei dem das Wissensniveau in allen Ländern bis auf Dänemark im negativen Bereich liegt, also erheblich mehr falsche als richtige Antworten gegeben werden. Zu diesem negativen Befund trägt sicher die Struktur mit sieben Antwortmöglichkeiten bei, wie auch aus dem Vergleich mit den nicht ganz so schlechten Werten bei dem dichotomen Item nach dem Haushalt zu sehen ist. Von geringerer Bedeutung dürfte dagegen die Betroffenheit von den Agrarausgaben sein, denn es zeigen sich keine systematischen Variationen des Wissensniveaus mit der Wirtschaftstruktur der Länder bzw. der Größe ihres Agrarsektors und den ihnen zukommenden EU-Subventionen. Schwach ist in den meisten Ländern auch das Wissen zum Termin der letzten EP-Wahlen und zur EU-Hymne. Dabei ist dieses Wissen allerdings in vielen neuen Mitgliedsstaaten weiter verbreitet als in den älteren. Ein mittleres Wissensniveau mit einer mittleren Spreizung zwischen den Ländern findet sich bei der Frage zur Anzahl der Mitgliedsländer. Etwas besser und mit weniger Heterogenität zwischen den Ländern ist das Wissensniveau bei den Items zur Direktwahl des EP und zur Ratspräsidentschaft. Erneut finden sich keine indikatorübergreifenden Unterschiede nach der Dauer der Mitgliedschaft. Dagegen ist das Procedere der Direktwahl des EP in zwei von drei Ländern überdurchschnittlich bekannt, in denen die EU über die politischen Lager hinweg eher positiv bewertet wird (Irland und Italien). Gleichzeitig bestehen aber bei den anderen Items keine Unterschiede, die auf Regelmäßigkeiten entsprechend parteipolitischer Polaritäten zur EU hinweisen. Allerdings fällt auf, dass die länderspezifischen Wissensniveaus pro Indikator über die Befragungszeitpunkte hinweg vergleichsweise stabil bleiben. So zeigen etwa Griechenland, Malta und Zypern zu beiden Befragungszeitpunkten das höchste Wissensniveau zur Direktwahl des EP, Zypern, Malta und Luxemburg zur Größe der EU.

4

Darüber hinaus wird deutlich, dass eine ausschließliche Betrachtung der Anzahl richtiger Nennungen – ohne die Relativierung durch falsche Nennungen – teilweise durchaus ein anderes Bild suggerieren würde, da es offenbar Länderspezifika im Hinblick auf die Ratebereitschaft im Antwortverhalten beziehungsweise ein verzerrtes Selbstbild zum Wissen gibt. So zeigt beispielsweise Belgien eine überproportionale Anzahl an richtigen Antworten bei gleichzeitig nur minimalen „weiß nicht“-Anteilen, aber stark überproportionaler Anzahl an falschen Antworten. Noch höher sind die Anteile an falschen Antworten in Ostdeutschland, bei niedrigem Niveau der „weiß nicht“- Antworten.

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

359

Tabelle 5: Politisches Wissen – Prozentanteile „richtige minus falsche Antworten“ (1) (2) (3) (4) (5) (6) 63.4+ 65.2+ 63.4+ 65.2+ 63.4+ 63.4+ 66.1 65.2 63.4 66.1 64.2 66.1 64.2 66.1 64.2 64.2 BE 25 29 27 26 -23 -25 21 -11 -58 -52 DE-W 05 02 13 10 -20 -29 25 -12 -55 -62 FR 40 39 08 06 -09 04 13 04 -42 -43 IT -11 00 29 26 -28 -02 14 -17 -62 -61 LU 62 54 47 37 35 17 53 -05 -48 -51 Nl 14 12 08 11 -08 -61 43 09 -39 -31 DK 31 23 39 44 03 02 40 12 -03 01 IE 17 15 49 52 -16 -13 45 -02 -48 -44 UK 04 01 26 31 -13 -22 05 -20 -57 -50 EL 33 36 62 62 -09 -06 52 -23 -64 -76 ES 18 10 30 31 -06 16 30 -09 -48 -50 PT 32 48 30 19 -05 -01 07 -06 -60 -54 DE-O 01 -11 03 12 -25 -46 35 -09 -70 -61 AT 23 27 -01 12 -10 28 68 -20 -64 -51 FI 16 11 34 36 -06 -29 45 -20 -53 -53 SE 17 15 03 -02 -02 09 22 07 -26 -21 CY 64 60 55 50 41 20 46 04 -41 -45 CZ 14 19 04 00 01 -42 08 22 -62 -68 EE 21 21 12 11 07 07 20 06 -40 -47 HU 29 34 -07 05 03 42 17 09 -43 -36 LT 11 20 34 27 00 19 21 07 -23 -21 LV 16 19 -01 04 03 12 15 -01 -38 -37 MT 52 45 69 74 21 41 32 -04 -59 -59 PL 17 27 29 35 11 54 14 -10 -18 -29 SI 46 50 42 28 34 49 25 02 -49 -52 SK 16 16 17 28 04 24 27 10 -70 -75 EU6 11 13 17 15 -19 -15 20 -08 -53 -54 EU9 10 11 19 19 -17 -16 18 -10 -52 -51 EU12 13 13 22 21 -15 -11 20 -10 -52 -52 EU15 13 12 20 21 -15 -11 22 -09 -52 -51 EU25 14 14 20 21 -11 -04 21 -08 -49 -49 (1) Die EU besteht zurzeit aus 15 Mitgliedsländern (f) (2) Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlamentes direkt von den Bürgern der EU (r) (3) Termin der letzten Wahl zum EP (f) (4) EU hat eigene Hymne (r) (5) Präsidentschaft in der EU (r) (6) größter Teil des Haushalts wird für Personal- und Verwaltungskosten ausgegeben (f) (7) Wofür wird Ihrer Meinung nach der größte Teil des Haushalts der Europäischen Union ausgegeben? EB

Tabelle 6 weist die Anteile richtiger minus falscher Antworten zum Verfassungsentwurf sowie die Mittelwerte für die Indizes aus. Vermutet wurde, dass sich geplante bzw. durchgeführte Verfassungsreferenden förderlich auf das Wissen auswirken. Überraschenderweise wirken sich die Referenden jedoch nicht systematisch in allen betroffenen Ländern auf das Wissensniveau zur Verfassung aus. So schneiden bei dem Gesamtindex zwar drei Länder, in denen Referenden stattfanden, besonders gut ab – nämlich die Niederlande, Dänemark und Luxemburg – aber die beiden letzteren zeigen auch sonst zumeist ein vergleichsweise hohes Wissensniveau. Andere Länder mit Referenden – nämlich Frankreich, Polen und die Tschechische Republik – befinden sich dagegen in der Gruppe mit mittlerem Wissensni-

360

Bettina Westle, David Johann

veau, und Portugal sowie Spanien trotz der Referenden sogar in der Gruppe mit dem geringsten Wissensstand zur Verfassung – einer Gruppe, zu der darüber hinaus das Vereinigte Königreich gehört. Tabelle 6: Wissen zur EU-Verfassung – Prozentanteile „richtige minus falsche Antworten“ sowie Mittelwerte der Indizes EB63.4

(1)

(2)

Prozentanteile (3) (4)

(5)

(6)

Mittelwerte/Indizes Richtige Falsche Gesamt Items Items -3 bis 3 -3 bis 3 -6 bis 6 0,56 1,09 1,66 0,55 1,29 1,83 0,81 1,16 1,97 0,60 0,26 0,86 0,59 1,48 2,07 0,74 1,67 2,42 0,56 1,66 2,22 0,69 0,41 1,10 0,62 0,05 0,67 0,99 0,23 1,22 0,72 0,13 0,85 0,55 0,41 0,96 0,56 1,70 2,25 0,76 0,77 1,52 0,52 1,47 1,99 0,43 1,38 1,82 0,79 0,17 0,96 0,14 0,91 1,05 0,84 0,52 1,36 0,78 1,24 2,01 0,63 0,46 1,09 0,48 0,31 0,79 0,83 0,56 1,39 0,61 0,90 1,51 1,46 0,46 1,91 0,38 0,69 1,07 0,65 0,97 1,62 0,64 0,78 1,42 0,66 0,67 1,32 0,65 0,74 1,39 0,64 0,76 1,40

Range BE 43 -08 06 24 20 66 DE-W 40 -07 08 23 46 59 FR 44 -20 18 35 27 53 IT 34 -12 15 -09 02 33 LU 40 -16 03 18 51 79 Nl 38 -06 30 40 50 77 DK 35 14 35 44 52 70 IE 34 -15 19 03 01 37 UK 37 00 23 07 -18 17 EL 44 -31 25 -14 -04 41 ES 36 -10 25 -21 -09 43 PT 28 -07 19 -07 12 35 DE-O 48 08 15 40 55 76 AT 47 -25 04 18 10 49 FI 32 20 39 33 48 66 SE 33 15 26 34 42 63 CY 45 -22 12 09 -33 40 CZ 22 22 15 33 01 56 EE 29 -10 45 02 08 42 HU 29 -08 41 38 28 59 LT 33 -18 11 03 -04 47 LV 25 00 23 03 -03 30 MT 30 -27 26 09 03 44 PL 25 -14 22 09 13 68 SI 55 -23 68 -01 -06 53 SK 28 04 14 08 05 56 EU6 39 -12 14 18 27 52 EU9 39 -09 16 16 17 44 EU12 38 -10 18 10 13 44 EU15 39 -08 18 12 16 46 EU25 37 -08 19 13 15 48 (1) Es wird die Position eines Außenministers der EU geschaffen (f) (2) Mind. eine Million Bürger der EU können die Annahme eines Europäischen Gesetzes fordern (r) (3) Ein Mitgliedsstaat kann auf eigenen Wunsch die EU verlassen (r) (4) Der Präsident des Europäischen Rats wird direkt von den Bürgern Europas gewählt (f) (5) Es wird eine direkte Europasteuer eingeführt (r) (6) Die nationalen Staatsbürgerschaften verschwinden (f)

Alternativ ist vorstellbar, dass durch öffentliche Debatten um die Verfassungsreferenden zwar nicht das Nettowissen erhöht wird, aber der subjektive Glaube, über die Verfassung

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

361

Bescheid zu wissen – obwohl möglicherweise falsche Behauptungen kolportiert werden. Dies müsste sich daran zeigen, dass in den von Referenden betroffenen Ländern ein besonders geringer Anteil an „weiß nicht“-Antworten besteht. Das ist in der Tat in Luxemburg, den Niederlanden, Dänemark, Polen und der Tschechischen Republik, jedoch nicht in Portugal und Spanien der Fall. Außerdem gibt es eine Reihe weiterer Länder mit vergleichbar geringen Anteilen an „weiß nicht“-Antworten. Ein systematischer Unterschied zwischen Ländern, in denen das Verfassungsreferendum bereits durchgeführt wurde (Luxemburg, Niederlande und Spanien), und Ländern, in denen es bisher bei den Planungen blieb (Dänemark, Portugal, Polen, Tschechische Republik), ist auch nicht erkennbar. Unter den drei Ländern mit durchweg negativer EU-Bewertung in allen parteipolitischen Lagern finden sich zwei mit überdurchschnittlichem Wissen zur Verfassung (Schweden und Finnland), während im Vereinigten Königreich nur geringes Wissen festzustellen ist. Auch in Ländern, in denen nur Anhänger der politischen Rechten die EU negativ bewerten (Belgien, Luxemburg), findet sich überproportionales Wissen. Sofern die EU über die politischen Lager hinweg positiv bewertet wird (Italien, Irland und Griechenland), besteht ein mittleres Wissensniveau. Die Staaten, die zur Verfassung das höchste Wissensniveau aufweisen (Dänemark, Luxemburg, Niederlande, Ostdeutschland), lassen sich nicht eindeutig einem bestimmten Konfliktmuster zuordnen. Ferner fällt im Vergleich der zwei Teilindizes auf, dass das aus den falschen Vorgaben resultierende Wissensniveau im Durchschnitt und in den meisten Ländern etwas höher ist als der aus den richtigen Vorgaben summierte Wissensstand. Auf der Ebene der einzelnen Items zeigt sich das höchste Wissensniveau zur Frage einer angeblichen Ablösung der nationalen Staatsbürgerschaften durch eine ausschließlich europäische (bei allerdings starker Heterogenität zwischen den Ländern), gefolgt von der geplanten Schaffung eines EUAußenministers (sehr homogen). Gemäßigte Wissensniveaus (eher heterogen) finden sich bei den Items zur tatsächlichen Möglichkeit eines Austritts aus der EU, einer vorgeblichen direkten EU-Steuer und einer angeblichen Direktwahl des Ratspräsidenten. Durchgängig im negativen Bereich liegen die Antworten auf die Möglichkeit eines Volksbegehrens.5 4

Individuelle Einflussfaktoren auf das Antwortverhalten

4.1 Politische Involvierung und Medienrezeption als Korrelate politischen Wissens Nationale Studien zeigen, dass sich Faktoren politischer Involvierung wie das Interesse an politischen Themen sowie das Gefühl politischer Effektivität förderlich auf den Wissensstand auswirken (z.B. Luskin 1990; Horstmann 1991; Bennett et al. 1996; Delli Carpini/Keeter 1996, Westle 2005). Dies gilt bezüglich des Wissens zur EU (Tabelle 7).6 5

6

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Itemformulierung den Verfassungstext unzureichend wiedergibt: Artikel I-47 legt lediglich fest, dass die Kommission mit einer Petition, die in mehreren Mitgliedsstaaten von mindestens einer Million Menschen unterschrieben wurde, aufgefordert werden kann, gesetzgeberisch aktiv zu werden, sofern dies mit der Verfassung und der Charta der Grundrechte vereinbar ist. In diesem Abschnitt werden aus Platzgründen die Tabellen auf die Gesamtindizes beschränkt und generell nur die gepoolten Analysen über die EU25 tabellarisch ausgewiesen; entsprechende Tabellen für die anderen EU-Größen bzw. die Beitrittswellen und die einzelnen Länder können bei den Autoren angefordert werden.

362

Bettina Westle, David Johann

Tabelle 7: Bivariate Zusammenhänge des EU-Wissens mit politischer Involvierung sowie Medienrezeption – singuläre Wissensitems und Verfassungsitems EU25 Indizes

falsch

singuläre Wissensitems weiß richtig richtig nicht - falsch -0,34 0,29 0,14 -0,34 0,34 0,21

falsch

Verfassungsitems weiß richtig nicht -0,33 0,34 ne ne

richtig - falsch 0,23 ne

Subjektives Wissen 0,07 0,10 Interesse an nat. Angelegenne heiten Interesse an europ. Angele0,03 -0,34 0,32 0,18 ne ne ne ne genheiten Internal Efficacy -0,15 0,11 0,07 0,02 -0,19 0,22 0,17 Pol. Diskussion mit Freun0,06 -0,25 0,21 0,09 -0,02 0,25 0,20 den Zukünftige Wichtigkeit EU -0,03 -0,06 0,10 0,08 -0,06 -0,05 0,10 0,12 im Alltag Häufigkeit Mediennutzung 0,10 -0,21 0,15 0,03 0,05 -0,20 0,22 0,15 Anzahl Informationsquellen -0,03 0,03 0,02 -0,27 0,34 0,29 Quellen: EB 63.4, 64.2, 65.2 und 66.1. Nur Korrelationen (Pearsons r) auf dem Niveau von 0,001 sind ausgewiesen; „ne“ bedeutet „wurde nicht erhoben“.

In der gepoolten EU25-Analyse, aber auch allen anderen, hier nicht dargestellten gepoolten Analysen finden sich deutliche positive Zusammenhänge zwischen subjektivem Wissen (d.h. der Selbsteinschätzung des Wissens zur EU) und der richtigen Beantwortung der Wissensitems sowie gleichzeitig zur Option „weiß nicht“ relativ hohe negative Korrelationen, allerdings in den meisten Ländern auch positive Zusammenhänge zu den falschen Antworten. Darin deutet sich an, dass subjektives Wissen zu einer inhaltlichen Beantwortung der Wissensitems verleitet, obwohl bei den Respondenten keineswegs immer faktisch zutreffende Kenntnisse vorliegen. Zwischen Interesse an Politik und der korrekten Beantwortung der Wissensitems besteht unabhängig von der EU-Größe ein deutlicher positiver Zusammenhang. Dabei spielt das Interesse an der Politikebene (national oder EU) nur eine untergeordnete Rolle. Ähnlich wie subjektives Wissen führt auch Interesse seltener zur Angabe von „weiß nicht“. Ein über die Länder hinweg negativer Zusammenhang zur falschen Beantwortung der Wissensitems kann aber nicht festgestellt werden. Etwas schwächere Zusammenhänge finden sich auch zwischen anderen Indikatoren politischer Involvierung und der Beantwortung der Wissensitems. Sowohl das Zutrauen in die eigenen politischen Einflussfähigkeiten als Bürger (internal EU-Efficacy) als auch politische Diskussionen mit Freunden befördern substanzielle Antworten, führen zu mehr richtigen Antworten, sorgen aber gleichzeitig vielfach auch für falsche Antworten, insgesamt also für eine Überschätzung des eigenen Wissens. Bei der Einschätzung der zukünftigen Wichtigkeit der EU im täglichen Leben zeigen Respondenten, die der EU eine große Relevanz zuschreiben, mehr Wissen als solche, die ihr eine weniger wichtige Rolle zuschreiben. Dieses Muster findet sich aber nicht in allen Ländern.7

7

In methodischer Perspektive wird mit den vorliegenden Befunden auch deutlich, dass Indikatoren subjektiver politischer Involvierung keinesfalls als zufriedenstellender Ersatz für eine Messung objektiven Faktenwissens herangezogen werden können.

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

363

Verhaltensweisen wie die Aufmerksamkeit gegenüber politischen Nachrichten und Informationen in den Medien sollten sich unmittelbar auf den Wissenserwerb auswirken (Luskin 1990; Horstmann 1991; Bennett et al. 1996; Delli Carpini/Keeter 1996; Bennett et al. 1996; Gilens et al. 2007). Unabhängig vom EU-Wissensbereich besteht zwischen der Anzahl der genutzten Informationsquellen und der Beantwortung der Wissensitems ein deutlicher Zusammenhang. Je mehr Informationsquellen genutzt werden, desto seltener wird die Option „weiß nicht“ gewählt und desto häufiger werden die Wissensitems richtig beantwortet. Ein ähnliches Muster findet sich bei den Verfassungsitems. So führt die Nutzung einer größeren Anzahl von Informationsquellen ebenfalls zu deutlich mehr richtigen Antworten und seltener zur Wahl der Option „weiß nicht“. Bei der Nutzungshäufigkeit finden sich durchgehend positive Zusammenhänge zur richtigen Beantwortung der Wissensitems sowie negative Zusammenhänge zur Option „weiß nicht“. Darüber hinaus sind aber vielfach positive Zusammenhänge zur falschen Beantwortung der Wissensitems zu beobachten. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass Mediennutzung offenbar sowohl förderliche als auch hinderliche Effekte auf faktisches Wissen zur EU hat. Dabei ist einschränkend zu bemerken, dass die Fragen zur Nutzungshäufigkeit und der Menge der Informationsquellen nicht politik- bzw. EU-spezifisch formuliert sind. 4.2 Einstellungen zur EU als Korrelate politischen Wissens Der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Wissen und Einstellungen zu einem Objekt können konträre Kausalitätsannahmen unterliegen. So kann erstens vermutet werden, dass Kenntnisse über Merkmale eines Objektes dessen Bewertung mitprägen – besonders offensichtlich ist dies, wenn neue Informationen in den Wissensbestand aufgenommen werden und sich als Folge davon die Urteile zu dem Objekt verändern (z.B. Stroebe/Jonas 1990; Hewstone 1991). Allerdings ist zweitens auch eine umgekehrte Kausalität nicht grundsätzlich auszuschließen. So gibt es Hinweise darauf, dass eine besonders positive oder aber eine ausgeprägt negative Einstellung zu einem Objekt die Bereitschaft zur Informationsaufnahme über dieses Objekt mit steuert, insbesondere wenn solche Informationen selbst nicht völlig wertfrei sind, sondern evaluative Bedeutungskomponenten tragen und damit die bereits vorhandenen Einstellungen stützen oder aber ihnen widersprechen und so kognitive Konsonanz oder Dissonanz und Strategien zu deren Bewältigung auslösen. In solchen Fällen liegen Selektionen und Umdeutungen der kognitiven Wahrnehmungen nahe (Festinger 1957; Stahlberg/Frey 1990). Im vorliegenden Fall können solche Prozesse der Informationsverarbeitung und damit Kausalitätsrichtungen zwar nicht untersucht werden, da keine entsprechenden experimentellen Daten vorliegen. Jedoch sollte es möglich sein, zumindest einige grundlegende Strukturen der Zusammenhänge von Wissen und Einstellungen zur EU – wie sie sich als Ergebnis vorgenannter Prozesse darstellen – zu identifizieren. Die zentrale Hypothese hierzu ist, dass positive Einstellungen zur EU mit einem höheren Wissensstand einhergehen – zumindest in Staaten, die seit längerer Zeit Mitglied der EU sind, da die kognitive Beschäftigung mit einem affektiv abgelehnten politischen System auf Dauer zu psychologischen Spannungszuständen führen dürfte, die tendenziell eher vermieden werden. Auch dürfte eine grundsätzlich positive Haltung zur EU der Aufnahme neuer Informationen zu dem Objekt – wie in der Verfassungsfrage – förderlich sein, während eine ablehnende Haltung möglicherweise in besonderem Maß mit der Aufnahme

364

Bettina Westle, David Johann

negativer, z.B. angstbesetzter Informationen und Fehlinformationen einhergeht. Darüber hinaus wird vermutet, dass Gleichgültigkeit und Bewertungsunsicherheit, die vor allem in gehäuften „weiß nicht“-Antworten auf die evaluativen Fragen zum Ausdruck kommen, auch mit Antwortunsicherheiten auf die kognitiven Fragen zusammenhängen. Für die evaluativen Orientierungen gegenüber der EU werden Fragen herangezogen, die sich auf die Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU und damit verbundene Vorteile, auf eine Gesamtbewertung der EU und die Haltung zum Ziel einer politischen Union sowie auf die affektive Identifikation mit der EU bzw. der eigenen Nation versus der EU beziehen. Tabelle 8: Bivariate Zusammenhänge des EU-Wissens mit Einstellungen zur EU – singuläre Wissensitems und Verfassungsitems EU25 Indizes

Singuläre Wissensitems falsch weiß nicht richtig richtig falsch 0,06 -0,18 0,15 0,05

Verfassungsitems falsch weiß nicht richtig

richtig falsch ne

Persönliche Wahrnehmung ne ne ne eher als Deutsche/r oder Europäer/in Identifikation als Europäer/in -0,19 0,21 0,13 ne ne ne ne Verbundenheit mit Europa -0,11 0,16 0,11 -0,03 -0,10 0,15 0,15 Stolz Europäer/in zu sein -0,02 -0,12 0,14 0,10 ne ne ne ne Mitgliedschaft des Landes in -0,05 -0,11 0,15 0,12 -0,08 -0,10 0,18 0,20 EU Vorteile der Mitgliedschaft -0,08 -0,09 0,18 0,15 -0,07 -0,08 0,15 0,16 Gesamtbewertung der EU -0,05 -0,11 0,15 0,12 -0,05 -0,09 0,15 0,15 Ziel einer politischen Union -0,03 -0,05 0,09 0,07 -0,08 -0,03 0,10 0,13 Quellen: EB 63.4, 64.2, 65.2 und 66.1. Nur Korrelationen (Pearsons r) auf dem Niveau von 0,001 sind ausgewiesen; „ne“ bedeutet „wurde nicht erhoben“.

Bei den singulären Wissensfragen werden die angeführten Erwartungen überwiegend, wenn auch teilweise auf schwachem Niveau, erfüllt (Tabelle 8). Positive Affekte gegenüber der EU und positive Bewertungen der EU gehen insgesamt mit vermehrt richtigen Antworten und deutlich weniger „weiß nicht“-Antworten einher. Die Zusammenhänge mit den falschen Antworten sind dagegen nicht systematisch, vielmehr finden sich in manchen Ländern nur positive, in anderen nur negative Zusammenhänge und in einigen Ländern sogar zwischen den Indikatoren wechselnd teilweise positive und teilweise negative Korrelationen, was sich in entsprechend schwachen Zusammenhängen mit dem Nettowissen auswirkt. Die Wissensfragen zur EU-Verfassung zeigen ein recht klares Muster der Zusammenhänge mit den Affekten und Evaluationen, das nicht zwischen Ländern mit und solchen ohne Referendum zur Verfassung differenziert: Bei den Gesamtindizes gehen positive EUAffekte und positive Evaluationen der EU nahezu durchgängig mit mehr richtigen und weniger „weiß nicht“-Antworten einher, ebenso zumeist mit einem größeren Nettowissen, wobei die Zusammenhänge mit den falschen Antworten insgesamt weniger, schwächer

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

365

und/oder wechselnd zwischen positiver und negativer Ausprägung ausfallen.8 Auch eine unmittelbare Frage nach der Befürwortung oder Ablehnung der EU-Verfassung zeigt das beschriebene Muster, wenn auch entgegen gängiger Erwartung keineswegs stärker ausgeprägt als bei den singulären EU-Einstellungen. 4.3 Soziodemographische Korrelate politischen Wissens Die vorgenannten Determinanten werden teilweise auch von demografischen Faktoren beeinflusst, die darüber hinaus auch unmittelbare Effekte auf das Wissen haben können (Tabelle 9). So sind Männer nach wie vor eher politiknah sozialisiert als Frauen (Verba et al. 1997; Westle 2001). Auch hier zeigt sich bei dem Merkmal Geschlecht, dass Männer die Fragen fast durchgehend häufiger richtig beantworten als Frauen, aber auch etwas öfter falsche Antworten geben, während Frauen häufiger fehlendes Wissen bekennen. Diese Befunde können auch als Hinweis auf eine unterschiedliche Rateneigung gesehen werden (vgl. Cunningham 1986; Mondak/Anderson 2004). Jedoch sind (unabhängig von der Anzahl der einbezogenen Länder) auch bei dem Index des Nettowissens die Korrelationen mit dem Geschlecht negativ, so dass selbst bei Berücksichtigung der Rateneigung von einem geringeren Wissenstand der Frauen auszugehen ist. Der gender gap ist nicht gleich auf die Länder und die Wissensbereiche verteilt, sondern variiert stark – allerdings ohne erkennbares Muster etwa nach sozioökonomischem Entwicklungsstand oder Ausmaß der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Unabhängig vom Wissensbereich besteht wie zu erwarten ein negativer Zusammenhang zwischen formaler Schulbildung und der Wahl der Option „weiß nicht“ sowie ein durchgehend positiver Zusammenhang zur korrekten Beantwortung. Formale Bildung führt aber nicht immer dazu, dass die Fragen seltener falsch beantwortet werden. Teilweise geht höhere Bildung sogar mit mehr falschen Antworten einher. Die Wissensunterschiede nach Schulbildung sind in einigen Ländern besonders groß (bei den singulären Wissensitems sind dies Portugal, Spanien, Litauen, Polen und Ungarn, bei den Items zum Verfassungsentwurf Westdeutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Malta). Da Erwerbstätigkeit mit einer stärkeren Einbindung in politisch geprägte, soziale Netzwerke verbunden ist, sollte sie Auswirkungen auf die Motivation und die Gelegenheiten zum Wissenserwerb und damit auf den Wissensstand haben. Tatsächlich zeigen sich solche Zusammenhänge, wenn auch nicht gleichermaßen in allen einzelnen Ländern. Berufstätige beantworten die Wissensitems im Vergleich zu nicht Berufstätigen seltener mit „weiß nicht“ und häufiger richtig. Zum Lebensalter zeigt sich in der früheren Forschung, dass jüngere Befragte zumeist über besseres politisches Wissen in solchen Bereichen verfügen, die in der Schule gelehrt 8

Dieses Muster trifft auch auf der Ebene der einzelnen Items zu – mit einer Ausnahme: dem Item zu einer vorgeblichen Direktwahl des EU-Ratspräsidenten, das negativ mit den Evaluationen korreliert ist. Dies lässt sich möglicherweise so deuten, dass nicht der zutreffende versus unzutreffende Iteminhalt die Verbindung zu den affektiven und evaluativen Haltungen herstellt, sondern sich diese Verknüpfung über eine positive bzw. negative Konnotation der Wissensitems ergibt, denn die zwei anderen unwahren Items dürften eher negativ konnotiert sein (EU-Steuer, Verlust der nationalen Identitäten), während die drei zutreffenden Items und das unzutreffende Item zur Ratspräsidentschaft eher positiv konnotiert sein dürften.

366

Bettina Westle, David Johann

werden (z.B. Institutionenfunktionen), während Ältere mehr Erfahrungswissen (z.B. über Parteien und Politiker) angesammelt haben (Jennings 1989; 1996). Im vorliegenden Fall ist zu beobachten, dass ältere Respondenten fehlendes Wissen häufiger bekennen und weniger falsche Antworten geben als jüngere. Gleichzeitig beantworten aber Jüngere die Wissensitems häufiger richtig als die Älteren. Tabelle 9: Bivariate Zusammenhänge des EU-Wissens mit demografischen Merkmalen – singuläre Wissensitems und Verfassungsitems EU25 Indizes

falsch

singuläre Wissensitems weiß nicht richtig

richtig - falsch -0,11 0,10 0,03 0,03 0,03

falsch

Verfassungsitems weiß nicht richtig

richtig - falsch -0,09 0,19 0,04

Geschlecht 0,16 -0,17 -0,05 0,15 -0,15 Formale Bildung 0,03 -0,20 0,19 -0,17 0,22 Erwerbstätigkeit 0,05 -0,13 0,09 0,03 -0,08 0,07 Alter 14-39 -0,04 0,04 -0,05 0,04 Alter 40-64 -0,04 0,03 0,03 -0,03 Alter 65-99 -0,07 0,13 -0,10 0,11 -0,12 -0,08 Quellen: EB 63.4, 64.2, 65.2 und 66.1. Nur Korrelationen (Pearsons r) auf dem Niveau von 0,001 sind ausgewiesen.

4.4 Multivariate Zusammenhänge mit politischem Wissen Sind die bivariaten Zusammenhänge zwischen politischem Wissen und den als potenzielle Determinanten untersuchten Merkmalen schon häufig nur mäßig, so enttäuschen multivariate Analysen noch stärker, denn in keinem der vorliegenden Fälle wird eine Varianzerklärung der Wissensindizes von mehr als 13 Prozent erreicht. Dazu wurden aus den zuvor behandelten Variablengruppen auf der Grundlage der bivariaten Befunde jeweils die Variablen ausgewählt, die in jedem der vier untersuchten Eurobarometer erhoben worden sind (Tabelle 10). Mit einer Varianzaufklärung von jeweils R2=0,02 kann das fehlerhafte Wissen bei den Indizes der singulären Wissensitems und bei denen zur Verfassung nahezu überhaupt nicht erklärt werden. Etwas besser fällt die gemeinsame Erklärungskraft der Variablen für die Anteile der „weiß nicht“-Antworten, die Anteile der richtigen Antworten und die Anteile des Nettowissens aus. Mit R2-Werten von 0,12 bzw. 0,13 ist die Varianzaufklärung für die Anteile der richtigen Antworten am besten, wobei bei den singulären Items vergleichsweise starke Effekte des Geschlechts und der Einschätzung der Vorteile der Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU zu beobachten sind und bei den Verfassungsitems vergleichsweise starke Effekte des Geschlechts, der formalen Bildung, der politischen Diskussion mit Freunden und der Bewertung der Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU.

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

367

Tabelle 10: Multivariate Zusammenhänge zwischen politischem Wissen und ausgewählten Variablen der Individualebene – singuläre Wissensitems (EU25) Indizes Singuläre Wissensitems Geschlecht Alter Erwerbstätigkeit Formale Bildung Subjektives Wissen Internal Efficacy Politische Diskussion mit Freunden Mitgliedschaft des eig. Landes in EU Vorteile der Mitgliedschaft Gesamtbewertung der EU R2 Indizes Verfassungsitems

falsch beta 0,07 -0,01

weiß nicht beta 0,15 -0,07 -0,09 -0,10 -0,07 -0,14 -0,04

-0,06 0,01 0,02 -0,18 -0,02 0,02 falsch beta -0,06 -0,01

-0,03 0,10 weiß nicht beta 0,30

richtig beta -0,22 0,01 0,06 0,17 0,09 0,03 0,12 0,04 0,22 0,03 0,12

richtig – falsch beta -0,30 0,01 0,05 0,22 0,08 0,04 0,09 0,05 0,39 0,05 0,06

richtig beta -0,23 0,01

richtig – falsch beta -0,17 0,01

Geschlecht Alter Erwerbstätigkeit Formale Bildung -0,10 -0,14 0,24 0,34 Subjektives Wissen 0,04 -0,18 0,14 0,10 Internal Efficacy -0,16 0,13 0,10 Politische Diskussion mit Freunden -0,08 -0,14 0,22 0,31 Mitgliedschaft des eig. Landes in EU -0,14 0,22 0,36 Vorteile der Mitgliedschaft Gesamtbewertung der EU R2 0,02 0,08 0,13 0,10 Quellen: EB 63.4, 64.2, 65.2 und 66.1. Nur signifikante Werte auf dem Niveau von 0,001 sind ausgewiesen.

5

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

„If a nation’s citizens are politically apathetic and uninformed, democratic governance may be nothing more than symbol and myth” (Mondak 1994: 117). Dies Diktum gilt nicht nur für die nationale Ebene, sondern ebenso für andere politische Gemeinschaften. Demokratie im Sinn der Selbstregierung lebt von kompetenter Partizipation. Der Anspruch an das politische Wissen der Bürgerschaft variiert dabei allerdings in verschiedenen Demokratietheorien durchaus erheblich. So tendieren vor allem direktdemokratische und partizipationsorientierte Ansätze zum Idealbild des politisch umfassend gebildeten und versierten Experten (vgl. z.B. Barber 2003). Aber auch in sogenannten realistischen, empirisch orientierten und stärker auf Repräsentationsmodelle der Demokratie bezogenen Ansätzen wird von den Bürger/innen erwartet, dass sie zumindest gut genug informiert sind, um ihre eigenen Interessen vertreten zu können sowie Möglichkeiten und Grenzen der Politik zu kennen, um vernünftige Ansprüche zu stellen und die Politik aufmerksam verfolgen und gegebenenfalls kontrollieren zu können (z.B. Dahl 1992).

368

Bettina Westle, David Johann

Zwar gibt es weder eine normativ noch einen empirisch fundierte Definition eines absolut erforderlichen Minimalwissenstands oder gar idealen Wissenstands zur Europäischen Union. Jedoch zeigen die vorgelegten Befunde ein im Durchschnitt recht niedriges Niveau des Wissens zur Europäischen Union im Bereich der institutionellen Basiskenntnisse. Noch problematischer ist, dass nicht nur fehlende Kenntnisse weit verbreitet sind, sondern ebenso fehlerhafte Informationen. Dies trifft für alle Mitgliedsländer nahezu gleichermaßen zu. Noch enttäuschender erscheinen die geringen Kenntnisse und falschen Vorstellungen über die Inhalte des Entwurfs für eine europäische Verfassung – selbst in den Ländern, in denen eine Volksabstimmung geplant war bzw. stattgefunden hat. Damit liegt offensichtlich die Frage nahe, worüber die Menschen eigentlich glaubten abzustimmen und was ihre Ablehnung oder Zustimmung motiviert hat. Noch gravierender ist aber die grundsätzliche Frage nach dem Umgang mit dem viel monierten Demokratiedefizit der Europäischen Union (vgl. z.B. Blondel et al. 1998; Zürn 2000; Jachtenfuchs 2002) vor dem Hintergrund weit verbreiteter Ignoranz in den Bürgerschaften der EU-Mitgliedsländer: Kann, darf und soll man mit diesen Bürger/innen mehr Demokratie wagen oder ist das Risiko selbstzerstörerischer Tendenzen (noch) zu groß? Die vorgelegten Befunde, insbesondere zu dem geringen institutionellen Basiswissen, scheinen – zumindest auf den ersten Blick – eine große Skepsis zu unterstützen und damit Wasser auf die Mühlen derjenigen zu sein, die weiterhin für eine stark elitengesteuerte Integration plädieren. Und weitergehend: Was bedeutet dies für die Suche nach einem Ausweg aus dem Demokratiedilemma – d.h. dem Fehlen einer europäischen Identität und eines belastungsfähigen europäischen Wir-Gefühls als Grundlage für die Entwicklung eines europäischen Demos und dessen demokratische Selbstlegitimierung (vgl. z.B. Steffani 1995; Kielmansegg 1996; Scharpf 1999)? Auch hierzu mahnen die vorgelegten Befunde zur Vorsicht und stimmen eher pessimistisch. Insbesondere der Befund, dass selbst in denjenigen Staaten, in denen eine Abstimmung über den Verfassungsentwurf erfolgte, Unkenntnis und Fehlinformationen über zentrale Inhalte weit verbreitet waren, ist enttäuschend – spricht er doch gegen die in Partizipationstheorien und in Ansätzen zur Lösung des Demokratiedilemmas erhoffte kognitiv mobilisierende und identifikationsförderliche Wirkung angebotener Partizipationsmöglichkeiten und damit gegen die Chance einer dynamischen Auflösung des Demokratiedilemmas in kleinen Schritten (vgl. Westle 2006b). Aber: Auch diese pessimistische Sicht der Dinge mag zu statisch sein. Sie vernachlässigt die möglichen Ursachen des Problems der politischen Ignoranz. Sofern die Bürger/innen im nationalen Rahmen im Durchschnitt für politisch ausreichend kompetente Demokraten gehalten werden, gibt es keinen vernünftigen Grund, ihnen die grundsätzlichen Fähigkeiten zum Erwerb einer solchen Kompetenz im europäischen Rahmen abzusprechen. Vielmehr können die Ursachen dafür nur im Bereich der ihnen gebotenen Gelegenheiten der Information sowie der Motivation zur Informationssuche liegen. Und genau hierzu finden sich in den vorgelegten Befunden einige Hinweise auf Defizite der medialen Vermittlung und der nationalen Politik zur EU. Auf Mängel der Vermittlung von europäischer Politik in den verschiedenen Mitgliedsstaaten deutet die erstaunlich hohe Stabilität der Wissensniveaus (gleichgültig ob hoch oder niedrig) pro Land bei den einzelnen Indikatoren, bei gleichzeitig völlig anderen Wissensniveaus bei den anderen Indikatoren. Dies lässt vermuten, dass in den verschiedenen nationalen Rahmen einzelne Merkmale der EU konsonant

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

369

und kumulativ über längere Zeiten hinweg Bestandteile der medialen Präsentation und des öffentlichen Diskurses darstellen, während andere permanent stark oder völlig vernachlässigt werden. Zudem scheint es sich dabei nicht nur um „einzelne“, sondern eher um „vereinzelte“ Merkmale zu handeln, d.h. Teile eines Puzzles, denen aber der Zusammenhang mit anderen Teilen und damit die erkennbare Funktion im Gesamtbild fehlt. Dies wiederum dürfte sich negativ auf das Verständnis der EU und auf die Motivation zur Informationsaufnahme und Erinnerung auswirken. Motivation durch Betroffenheit kann nur entstehen, wenn den Bürger/innen ihre Betroffenheit durch die EU bewusst und verständlich ist – was bislang nur zu geringen Anteilen der Fall ist. Die wichtige Rolle der Motivation selbst für die Bereitschaft zum Wissenserwerb kommt u.a. in den Zusammenhängen mit positiven Bewertungen der EU zum Ausdruck: Bürger/innen, die der EU aus rationalen oder affektiven Gründen zugeneigt sind, wissen auch mehr über sie als Bürger/innen, die die EU negativ beurteilen. Da auch die umgekehrte Kausalitätsrichtung zum Tragen kommen dürfte, deutet sich hier eine Kausalitätsspirale an, die längerfristig in einem Anstieg oder aber einem noch weiteren Rückgang des Wissens über und der Unterstützung der EU münden kann. Ein Ausbrechen aus der Abwärtsspirale bedarf folglich erheblicher Verbesserungen in der Politikvermittlung in kognitiver und motivationaler Hinsicht. Bereits vor Jahrzehnten wurden die Kenntnisse der Bevölkerung zu außenpolitischen und europapolitischen Themen als „dark areas of ignorance“ bezeichnet (Kriesberg 1949). Vergleichbares muss man heute also leider immer noch feststellen, allerdings auch für das Wissen der Politikwissenschaft zum Kenntnisstand der Bevölkerung zur Europäischen Union. Die Tatsachen, dass sich kaum systematische Länderunterschiede finden und nur schwache Determinanten auf Individualebene identifiziert werden konnten, legt nicht nur die oben angeführten inhaltlichen Überlegungen zum politischen Kenntnisstand der europäischen Bürgerschaften nahe, sondern ferner auch die Vermutung von Defiziten bei der Gestaltung der Abfrage. So lassen sich unter methodischer Perspektive nach unserer Auffassung vor allem folgende Desiderata benennen: (a) Die Erfassung von Wissen sollte nicht in dem Format der Identifikation von zutreffenden versus unzutreffenden Items erfolgen, da hierbei eine 50-prozentige Chance der richtigen Antwort durch Raten besteht. Folglich sind nur deutliche Abweichungen von dem 50 Prozent Bereich als überzufällig anzusehen. Politisch mag dies den Auftraggebern im vorliegenden Fall opportun erscheinen, da die EU-Wissensbestände der Bevölkerung dadurch, und wenn zudem lediglich die richtigen Antworten (statt des Nettowissens) berichtet werden, deutlich höher erscheinen als sie tatsächlich sind. Für wissenschaftliche Zwecke erweist sich dieses Frageformat jedoch als wenig geeignet. Möglicherweise hängt auch der Befund von durchgehend eher schwachen Korrelationen damit zusammen, zumal bei dem vorliegenden Datenmaterial nicht identifizierbar ist, welche Wissensbestände durch Raten zustande kommen und welche auf tatsächlichen Kenntnissen beruhen. Sinnvoller ist die Abfrage im Multiple-Choice-Format, gegebenenfalls ergänzt durch einige offene Fragen. Erst auf dieser Grundlage erscheint es möglich, die Frage zu klären, ob ein Standardinstrument, das relativ unabhängig von konkreten Wissensissues EU-Wissensgeneralisten erfassen kann, entwickelt werden kann. Dies wiederum ist eine Voraussetzung für sinnvolle Längsschnittanalysen zur Entwicklung politischen Wissens. (b) Mögliche Determinanten und mögliche Folgen von Wissensbeständen bzw. -lücken sollten stufenweise mit unterschiedlicher inhaltlicher Nähe zum Wissensobjekt

370

Bettina Westle, David Johann

konzipiert werden (z.B. Wissensobjekt = nächste Wahl zum EP, Determinante = Informationsverhalten – auf erste Stufe: zu dieser Wahl, zweite Stufe: zu EP-Wahlen generell, dritte Stufe: zu EU, vierte Stufe zu Politik generell). (c) Bei den potenziellen Determinanten sollte die Wahrnehmung von persönlicher und gesellschaftlicher Betroffenheit durch die EU in den Befragungsprogrammen stärker berücksichtigt werden. Als Ausblick gilt: Es mag noch ein langer Weg sein, um das dunkle Gebiet der Ignoranz zu verlassen – aber am Ende jedes Tunnels ist Licht. Literatur Althaus, Scott L. (2003): Collective Preferences in Democratic Politics. Opinion Surveys and the Will of the People. Cambridge: Cambridge University Press. Barber, Benjamin (2003): Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press. Bennett, Stephen E. (1996): „Know-Nothings” Revisited Again. In: Political Behavior 18, 219-233. Bennett, Stephen E./Flickinger, Richard S./Baker, John R./Rhine, Staci L./Bennett, Linda L. M. (1996): Citizens’ Knowledge of Foreign Affairs. In: The Harvard International Journal of Press/Politics 1, 10-29. Bennett, Stephen E./Rhine, Staci L./Flickinger, Richard S. (2000): Reading’s Impact on Democratic Citizenship in America. In: Political Behavior 22, 167-195. Blondel, Jean/Sinnott, Richard/Svensson, Palle (1998): People and Parliament in the European Union: Participation, Democracy, and Legitimacy. New York: Oxford University Press. Cunningham, George K. (1986): Educational and Psychological Measurement. New York: Macmillan Publishing Company. Dahl, Robert A. (1992): The Problem of Civic Competence. In: Journal of Democracy 3, 45-59. Delli Carpini, Michael X./Keeter, Scott (1996): What Americans Know about Politics and Why It Matters. Yale: University Press. Delli Carpini, Michael X./Keeter, Scott (2000): Gender and Political Knowledge. In: TollesonRinehart, Sue/Josephson, Jyl J. (Hrsg.) (2000): Gender and American Politics. Women, Men, and the Political Process. Armonk: M. E. Sharpe, 21-52. Festinger, Leon (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press. Galston, William A. (2001): Political Knowledge, Political Engagement, and Civic Education. In: Annual Review of Political Science 4, 217-234. Gilens, Martin (2001): Political Ignorance and Collective Policy Preferences. In: American Political Science Review 95, 379-396. Gilens, Martin/Vavreck, Lynn/Cohen, Martin (2007): The Mass Media and the Public’s Assessments of Presidential Candidates, 1952-2000. In: The Journal of Politics 69, 1160-1175. Hewstone, Miles (1991): Public Opinion and Public Information Campaigns: the Value of the Eurobarometer. In: Reif, Karlheinz/Inglehart, Ronald (Hrsg.) (1991): Eurobarometer. The Dynamics of European Public Opinion. Houndsmill, Basingstoke, Hampshiler, London: Macmillan, 81-100. Horstmann, Reinhold (1991): Medieneinflüsse auf politisches Wissen. Zur Tragfähigkeit der Wissenskluft-Hypothese. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Jachtenfuchs, Markus (2002): Verfassung Parlamentarismus, Deliberation. Legitimation und politischer Konflikt in der Europäischen Union. In: Landfried, Christine (Hrsg.) (2002): Politik in einer entgrenzten Welt. 21. wissenschaftlicher Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 71-89.

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

371

Jennings, M. Kent (1989): The Crystallization of Orientations. In: Jennings, M. Kent/Deth, Jan W. van/Barnes, Samuel H./Heunks, Felix J./Inglehart, Ronald/Kaase, Max/Klingemann, Hans-Dieter/Thomassen, Jacques J. A. (Hrsg.) (1989): Continuities in Political Action. Berlin/New York: DeGruyter, 313-348. Jennings, M. Kent (1996): Political Knowledge Over Time and Across Generations. In: Public Opinion Quarterly 60, 228-252. Jerit, Jennifer; Barabas, Jason (2006): Bankrupt Rethoric. How Misleading Information Affects Knowledge About Social Security. In: Public Opinion Quarterly. Vol. 70, 278-302. Jerit, Jennifer/Barabas, Jason/Bolsen, Toby (2006): Citizens, Knowledge, and the Information Environment. In: American Journal of Political Science 50, 266-282. Johann, David (2008): Probleme der befragungsbasierten Messung von Faktenwissen. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis (SUB) 31, 53-65. Kielmansegg, Peter Graf (1996): Integration und Demokratie. In: Jachtenfuchs, Martin/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.) (1996): Europäische Integration. Opladen: Leske+Budrich, 47-71. Kriesberg, Martin (1949): Dark Areas of Ignorance. In: Leester, Markel (Hrsg.) (1949): Public Opinion and Foreign Policy. New York: Harper & Brothers, 49-64. Kuklinski, James H./Quirk, Paul J./Jerit, Jennifer/Rich, Robert F. (2001): The Political Environment and Citizen Competence. In: American Journal of Political Science 45, 410-424. Larcinese, Valentino (2007): Does Political Knowledge Increase Turnout? Evidence From The 1997 British General Election. In: Public Choice 131, 387-411. Luskin, Robert C. (1990): Explaining Political Sophistication. In: Political Behavior 12, 331-361. Mondak, Jeffery J. (1994): Cognitive Heuristics, Heuristics Processing, and Efficiency in Political Decision Making. In: Delli Carpini, Michael X./Huddy, Leonie/Shapiro, Robert Y. (Hrsg.) (1994): Research in Micropolitics 4. Greenwich: JAI Press, 117-142. Mondak, Jeffrey J./Creel Davis, Belinda (2001): Asked and Answered: Knowledge Levels When We Will Not Take „Don’t Know” For an Answer. In: Political Behavior 23, 199-224. Mondak, Jeffrey J./Anderson, Mary R. (2004): The Knowledge Gap. A Reexamination of GenderBased Differences in Political Knowledge. In: The Journal of Politics 66, 492-512. Nadeau, Richard; Niemi, Richard G. (1995): Educated Guesses: The Process of Answering Factual Knowledge Questions in Surveys. In: Public Opinion Quarterly, Vol. 59, S. 323-346. Popkin, Samual L./Dimock, Michael A. (1999): Political Knowledge and Citizen Competence. In: Elkin, Stephen L. (Hrsg.) (1999): Citizen Competence and Democratic Institutions. University Park, 117-146. Rothe, Klaus (1993): Schüler und Politik. Eine vergleichende Untersuchung bayerischer und hessischer Gymnasialschüler. Opladen: Leske+Budrich. Scharpf, Fritz W. (1999): Governing in Europe. Efficient and Democratic? Oxford: Oxford University Press. Schmitt-Beck, Rüdiger (1993): Denn sie wissen nicht, was sie tun... Zum Verständnis des Verfahrens der Bundestagswahl bei westdeutschen und ostdeutschen Wählern. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3, 393-415. Stahlberg, Dagmar/Frey, Dieter (1990): Einstellungen I. Struktur, Messung und Funktionen. Berlin: Springer. Steffani, Winfried (1995): Das Demokratie-Dilemma der Europäischen Union. In: Steffani, Winfried/Thaysen, Uwe (Hrsg.) (1995): Demokratie in Europa. Zur Rolle der Parlamente. Opladen: Westdeutscher Verlag, 33-49. Stroebe, Wolfgang/Jonas, Klaus (1990): Einstellungen II. Strategien der Einstellungsänderung. Berlin: Springer. Verba, Sidney/Burns, Nancy/Schlozman, Kay L. (1997): Knowing and Caring About Politics. Gender and Political Engagement. In: The Journal of Politics 59, 1051-1072. Vetter, Angelika/Maier, Jürgen (2005): Mittendrin statt nur dabei? Politisches Wissen, politisches Interesse und politisches Kompetenzgefühl in Deutschland, 1994-2002. In: Gabriel, Oscar W./Falter, Jürgen W./Rattinger, Hans (Hrsg.) (2005): Wächst zusammen, was zusammengehört?

372

Bettina Westle, David Johann

Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland. Baden-Baden: Nomos, 51-90. Westle, Bettina (2001): Gender-Asymmetrien zwischen politischem Interesse, subjektiver politischer Kompetenz und politischer Partizipation? In: femina politica 10, 15-29. Westle, Bettina (2005): Politisches Wissen und Wahlen. In: Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W./Wessels, Bernhard (Hrsg.) (2005): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 484-512. Westle, Bettina (2006a): Politisches Interesse, subjektive politische Kompetenz und politisches Wissen – Eine Fallstudie mit Jugendlichen im Nürnberger Raum. In: Roller, Edeltraud/Brettschneider, Frank/Deth, Jan W. van (Hrsg.) (2006): Jugend und Politik. „Voll Normal!“. Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 209-240. Westle, Bettina (2006b): European Identity and European Democracy – Analyses concerning the „democratic dilemma“ of the European Union. Paper presented at the General Conference of INTUNE (Integrated and United), Lissabon 2006. Zürn, Michael (2000): Democratic Governance beyond the Nation-State. In: Greven, Michael Th./Pauly, Louis W. (Hrsg.) (2000): Democracy beyond the State? The European Dilemma and the Emerging Global Order, Lanham, Maryland: Rowmann & Littlefield Publisher, 91-114.

Anhang Fragetexte und Codierung der Individualmerkmale

Subjektives Wissen

Interesse an nat./europ. Angelegenheiten Internal Efficacy

Politische Diskussion mit Freunden Zukünftige Wichtigkeit der EU im Alltag

Items in recodierter Form; bei allen: (999=missing values) Sagen Sie mir bitte anhand dieser Skala, wie viel Sie ihrer Meinung nach über die Europäische Union, ihre Politik und ihre Institutionen wissen. Die 1 bedeutet „weiß überhaupt nichts darüber“, die 10 bedeutet „weiß sehr viel darüber“. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen (Skala 1=weiß überhaupt nichts darüber, 10=weiß sehr viel darüber). Würden Sie sagen, dass Sie sehr interessiert, ziemlich interessiert, nicht sehr interessiert oder gar nicht interessiert sind an... (a) inländischen Angelegenheiten, (b) europäischen Angelegenheiten? (je: 1=gar nicht interessiert bis 4=sehr interessiert). Mittelwertsindex aus: Sagen Sie mir bitte für jede der folgenden Aussagen, ob Sie ihr eher zustimmen oder sie eher ablehnen...(a) Meine Stimme zählt in der Europäischen Union, (b) Ich verstehe, wie die Europäische Union funktioniert (jeweils 1=lehne eher ab, 2=stimme eher zu). Würden Sie sagen, dass Sie, wenn Sie mit Freunden zusammen sind, politische Dinge häufig gelegentlich oder niemals diskutieren? (1=niemals, 2=gelegentlich, 3=häufig). Ihrer Meinung nach: Wird die Europäische Union in fünf Jahren eine wichtigere Rolle, eine weniger wichtige Rolle oder die gleiche Rolle wie bisher in Ihrem täglichen Leben spielen? (1=weniger wichtige Rolle, 2=gleiche Rolle, 3=wichtigere Rolle).

EB 63.4 64.2 65.2 66.1 X X X X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

X

Das Wissen der Europäer/innen über die Europäische Union

373

EB Items in recodierter Form; bei allen: (999=missing values) 63.4 64.2 65.2 66.1 Anzahl Wenn Sie Informationen über die Europäische Union, ihre Politik und X X X Informationsihre Institutionen erhalten wollen, welche der folgenden Informationsquellen quellen nutzen Sie dann? (1) Treffen, Veranstaltungen; (2) Gespräche mit Verwandten, Freunden, Kollegen; (3) Tageszeitungen; (4)Wochenzeitungen, Zeitschriften; (5) Fernsehen; (6) Radio; (7) Internet; (8) Bücher, Broschüren, Informationsblätter; (9) sonstige (jeweils 0=nicht genannt, 1=genannt) Countindex von 0 bis 9. Häufigkeit Me- Wie oft... (1) sehen Sie Fernsehen, (2) lesen Sie Tageszeitungen, (3) X X X diennutzung hören Sie Radio (jeweils 5=jeden Tag, 4=mehrere Male die Woche, 3=ein oder zweimal die Woche, 2=seltener, 1=nie). Mittelwertsindex (je: 1=nie bis 5=täglich). Pers. WahrIn der nahen Zukunft, sehen Sie sich da...(1=nur als Deutsche/r, 2=als X nehmung eher als Deutsche/r und Europäer/in, 3=als Europäer/in und Deutsche/r oder Deutsche/r oder 4=nur als Europäer/in). Europäer/in Identifikation als Und kommt es vor, dass Sie sich nicht nur als Deutscher, sondern auch X X Europäer/in als Europäer fühlen? Ist das oft, manchmal oder nie der Fall? (1=nie, 2=manchmal, 3=oft). Verbundenheit Menschen fühlen sich in unterschiedlichem Ausmaß verbunden mit X X mit Europa ihrem Wohnort, ihrer Region, ihrem Land oder Europa. Bitte sagen Sie mir, wie verbunden Sie sich fühlen mit ... Europa? (1=überhaupt nicht verbunden, 2=nicht sehr verbunden, 3=ziemlich verbunden, 4=sehr verbunden). Stolz Und würden Sie sagen, dass Sie sehr stolz, ziemlich stolz, nicht sehr X X Europäer/in zu stolz oder überhaupt nicht stolz darauf sind, Europäer(in) zu sein? (1= sein überhaupt nicht stolz, 2=nicht sehr stolz, 3=ziemlich stolz, 4=sehr stolz). Mitgliedschaft Ganz allgemein gesprochen, denken Sie, die Mitgliedschaft (unseres X X X X des eig. Landes in Landes) in der Europäischen Union ist...(1=eine schlechte Sache, 2= der EU weder gut noch schlecht oder 3=eine gute Sache). Vorteile der Hat Ihrer Meinung nach (unser Land) insgesamt gesehen durch die X X X X Mitgliedschaft Mitgliedschaft in der Europäischen Union Vorteile, oder ist das nicht der Fall? (1= Ist nicht der Fall, 2= Vorteile). GesamtGanz allgemein gesprochen, ruft die Europäische Union bei Ihnen ein X X X X bewertung sehr positives, ziemlich positives, weder positives noch negatives, der EU ziemlich negatives oder sehr negatives Bild hervor? (1=sehr positiv, 2=ziemlich positiv, 3=weder positiv noch negativ, 4=ziemlich negativ, 5=sehr negativ). Ziel einer politi- Sind Sie persönlich für oder gegen die Entwicklung hin zu einer euro- X X X schen Union päischen politischen Union? (1= dagegen, 2= dafür). Geschlecht Geschlecht (1=männlich, 2=weiblich). X X X X Alter Darf ich Sie fragen wie alt Sie sind? (unterteilt in 14-39, 40-64, 65-99). X X X X Formale Wie alt waren Sie, als Sie mit Ihrer Schul- bzw. Universitätsausbildung X X X X Bildung aufgehört haben? (0=keine, 1=bis 15 Jahre, 2=15 bis 19 Jahre, 3=20 und älter). Erwerbstätigkeit Welchen Beruf üben Sie zurzeit aus? (1=keine Arbeit, 2=angestellt, X X X X selbstständig).

374

Bettina Westle, David Johann

Verwendete Abkürzungen Abk. AT BE BG CY CZ DE DK EE EL ES FI FR HU IE IT LT LU LV MT NL PL SE SI SK UK EU6 EU9 EU12 EU15 EU25

Ländername Österreich Belgien Bulgarien Zypern Tschechische Republik Deutschland Dänemark Estland Griechenland Spanien Finnland Frankreich Ungarn Irland Italien Litauen Luxemburg Lettland Malta Niederlande Polen Schweden Slowenien Slowakei Vereinigtes Königreich Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande EU6 + Dänemark, Irland, Großbritannien EU9 + Griechenland, Portugal, Spanien EU12 + Österreich, Finnland, Schweden EU15 + Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Zypern Quelle: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft. 2009. Kürzel der Länder und Gebiete. http://publications.europa.eu/code/de/de-5000600.htm, letzter Zugriff am 27. Oktober 2009.

Autorenverzeichnis

Kai Arzheimer ist Professor für Empirische Politikforschung an der Universität Mainz und Visiting Fellow an der University of Essex, E-Mail: [email protected]. Florian Bader ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen, E-Mail: [email protected]. Joachim Behnke ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen, E-Mail: [email protected]. Gary Bente ist Professor für Sozialpsychologie, Kommunikation und Medienpsychologie an der Universität Köln, E-Mail: [email protected]. Frank Brettschneider ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, E-Mail: [email protected]. Evelyn Bytzek ist Projektmanagerin der German Longitudinal Election Study (GLES) und am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Goethe-Universität Frankfurt am Main beschäftigt, E-Mail: [email protected]. Marc Debus ist Senior Research Fellow am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) und vertritt im Herbstwintersemester 2009/10 die Professur Politische Wissenschaft III (Vergleichende Regierungslehre) an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Universität Mannheim, E-Mail: [email protected]. Thorsten Faas ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbesondere Wählerverhalten an der Universität Mannheim, E-Mail: [email protected]. Stephanie Geise ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft, insb. Kommunikationstheorie der Universität Hohenheim. E-Mail: [email protected]. David Nicolas Hopmann ist Assistant Professor für Medien und Politik an der Süddänischen Universität in Odense, Dänemark, Email: [email protected]. Sascha Huber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft I an der Universität Mannheim, E-Mail: [email protected].

376

Autorenverzeichnis

Astrid Jansen ist Diplom-Psychologin, promoviert an der Universität Duisburg-Essen zu sozialpsychologischen Aspekten politischer Internetkommunikation im Bundestagswahlkampf 2009 und ist als systemische Beraterin und Mediatorin tätig, E-Mail: [email protected]. David Johann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fakultätszentrum für Methoden der Sozialwissenschaften der Universität Wien, E-Mail: [email protected]. Jan Kercher ist Diplom-Kommunikationswissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbes. Kommunikationstheorie der Universität Hohenheim, E-Mail: [email protected]. Nicole C. Krämer ist Professorin für Sozialpsychologie - Medien und Kommunikation an der Universität Duisbrug-Essen, E-Mail: [email protected]. Jörg Matthes ist Assistenzprofessor am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, insbesondere Politische Kommunikation/Politisches Verhalten, E-Mail: [email protected]. Marcus Maurer ist zurzeit Gastprofessor für Publizistikwissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich, E-Mail: [email protected]. Jochen Mayerl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart mit den Forschungsschwerpunkten Methoden der empirischen Sozialforschung und soziologische Einstellungs- und Handlungstheorie, E-Mail: [email protected]. Carsten Reinemann ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpukt Politische Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, E-Mail: [email protected]. Sigrid Roßteutscher ist Professorin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Goethe-Universität Frankfurt, E-Mail: [email protected]. Tatjana Rudi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei GESIS-Leibniz Institut für Sozialwissenschaften, E-Mail: [email protected]. Christian Schemer ist Post-Doc am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, E-Mail: [email protected]. Harald Schoen ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bamberg, E-Mail: [email protected]. Marco Steenbergen ist Professor für Politische Soziologie und Politische Psychologie an der Universität Bern, E-Mail: [email protected].

Autorenverzeichnis

377

Paul W. Thurner ist Professor für Empirische Politikwissenschaft und Policy-Analyse and der LMU München, E-Mail: [email protected]. Bettina Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Vergleichende Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, EMail: [email protected]. Bettina Westle ist Professorin für Methoden und empirische Demokratieforschung an der Phillipps-Universität Marburg, E-Mail: [email protected]. Werner Wirth ist ordentlicher Professor am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, insbesondere für empirische Kommunikationsforschung an der Universität Zürich, E-Mail: [email protected].