Inkarnationen � von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Prolog Die Kerzenflamme brannte wie erstarrt, ebenso widernatürlich w...
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Inkarnationen � von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Prolog Die Kerzenflamme brannte wie erstarrt, ebenso widernatürlich wie das Licht selbst, das sich im Raum sammelte und das schrecklich kalt und kraftlos war, als müßte es erst von einem dunklen Spiegel reflektiert werden, um in diese Welt zu gelangen. Enya saß mit überkreuzten Beinen auf dem Teppich und blickte zum großen offenen Fenster des spartanischen Zimmers. Sie wartete. Es war Nacht. Ihr fürsorglicher Geliebter mußte bald zurückkehren. Dann war es soweit: Böen zerzausten Enyas Haar, als der gewaltige Greifvogel, den ihr lautloses Sehnen gerufen hatte, durch die Fensteröffnung brach. In der einen Sekunde war es noch ein stolzer Adler, in dessen Fängen ein frisches Herz hing. In der nächsten … ein Mann.
Was bisher geschah … � Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter der Blutsauger, mit Gott versöhnt. Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch heranwächst. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat, daß das Tor bald geöffnet werden soll. Lilith Eden kommt ebenfalls in den Träumen vor, was sie zum Kloster führt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der von dem Knaben seiner Kräfte beraubt wird. So betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen
allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Durch die Hölle jenseits des Tores gelangen Lilith und Landru in die Vergangenheit. Lilith wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 in der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren; Landru im Körper des Vampirs Racoon, zu derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, verderbliche Macht die dortige Vampirsippe abschlachtet. Und er trifft auf eine Frau, die er aus der Zukunft kennt: Beth MacKinsay, die von Lilith einst im Korridor der Zeit getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, wurde Beth’ Geist durch eine der Türen des Korridors in die Vergangenheit gesogen. Doch sie hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren und ist auf der Suche nach Satan, der ihr Kind geraubt hat. Seine Spur weist von Paris nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier vereinen sollen. In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen. Allein Landru erlebt die Zusammenkunft nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir. Landrus Geist wird zurückgeschleudert in die Hölle hinter dem Tor, wo sich sein echter Körper befindet und wo er nun seine ganz persönliche Verdammnis durchlebt. In einer entweihten Kirche findet das Ritual statt, das die drei Manifestationen Satans vereinen soll. Doch im entscheidenden Moment greifen die Illuminaten ein! Und Salvat entpuppt sich als überirdisches Wesen, das mit einem Flammenschwert Satan schwer verletzt. Er flieht und nimmt Beth mit sich. Salvat kann ihm nicht folgen. So verankert er den Auftrag, dem Bösen den entscheidenden Stoß zu versetzen, in Lilith und Tobias, der als einziger Heidelberger dem Einfluß Satans trotzen konnte. Sie finden ihn in einem Heerlager, wo er Beth dazu benutzt, einen Riß in der Zeit zu schaffen. Lilith, die
beim Kampf in der Kirche ihre Linke verlor und nun eine fremde Hand, die der Teufel einst einem dienstbaren Heidelberger schenkte, an deren statt trägt, verletzt Satan damit – und folgt ihm durch den Riß! Beth und Tobias bleiben zurück … Als Lilith im London des Jahres 1666 aus dem Riß tritt, wird sie mit dem Mädchen Ruby konfrontiert, das von Satan als »Pestbotin« auserkoren wurde und den Schwarzen Tod über London gebracht hat. Auch Liliths Gastkörper Lena wird mit der Pest infiziert. Trotzdem findet sie ihren Feind – in einer riesigen Pestgrube vor der Stadt nährt er sich vom Tod der Pestopfer, um seine Stärke wiederzuerlangen. Hier stirbt Lena – und Liliths Geist findet sich in ihrem Körper in der Hölle wieder, neben Landru … In der Zwischenzeit ist Salvat bemüht, neue Torwächter auszubilden – ein dringliches Vorhaben, denn Gabriel ist unauffindbar! Der Knabe erforscht das Kloster Monte Cargano und sucht nach einer neuen Chance, die Mächte jenseits des Tores zu entfesseln. Er findet sie in den beiden para-begabten Mädchen April und May Dorn; die Zwillingsschwestern sind in der Lage, Pforten zur Hölle zu schaffen. Gabriel bringt April auf seine Seite und öffnet erneut das Tor! Salvat jedoch versichert sich Mays Hilfe, die als einzige ihre Schwester stoppen kann. So kann er das Schlimmste verhindern – doch zwei Gestalten wechseln durch den Spalt von der Jenseitswelt zurück in die unsere: Lilith und Landru!
Seine Augen sahen aus, als bestünden sie aus gefrorener Nacht. Ich habe dieselben Augen, dachte Enya. Ich habe sie bekommen. Von ihm. An die Zeit vor ihrer Begegnung erinnerte sich die schlanke Frau mit den üppigen Rundungen nur noch vage. Zwar wußte sie weiterhin alles aus ihrem Leben davor, aber das meiste davon war in seiner Bedeutung derart reduziert, daß es ihr wie das Wissen um eine Wildfremde erschien. Er warf ihr das Herz zu. Sie fing es auf, ohne in der Bewegung, mit der sie sich vom Boden erhob, innezuhalten. Es fühlte sich tatsächlich noch warm an. Eine normale Erklärung gab es dafür nach dem Flug durch die kalte Winternacht nicht; lediglich eine, die zu dem indianischen Vampir paßte, der ihr diese »kleine Aufmerksamkeit« mitgebracht hatte: Magie. Uralter Zauber, der auch im Heute nichts von seiner Kraft eingebüßt hatte, bewahrte die Frische des Mitbringsels … Enya trank, obwohl sie nicht von dem Blut abhängig war wie er. Es war ein Liebesbeweis – mehr nicht. Es würdigte die Mühe, die sich Hidden Moon gemacht hatte, um sein Ausbleiben zu entschuldigen. Nach wenigen Schlucken schon legte sie den blutigen Klumpen zur Seite und umarmte ihn. »Du warst lange fort. Bist du nun satt?« »In gewisser Weise.« Sie vertiefte ihr Lächeln und überbrückte die letzte Kluft, die sie voneinander trennte. Die Schwärze seiner Augen schien jeden ihrer Blicke in sich aufzusaugen. Sie genoß es. Es verursachte Champagnerprickeln unter ihrer Haut. Enya küßte den Heimkehrer. Zunächst tippte sie mit ihren Lippen nur spielerisch gegen seinen Mund. Dann wühlten seine Hände in ihrem Haar und halfen, den Druck der Liebkosung zu erhöhen. Schließlich berührten sich ihre Zungen und tauschten den Blutgeschmack aus.
Die Erregung erhöhte nicht nur Enyas Puls. Vielleicht war es die stete Ungewißheit, wie lange sie und Hidden Moon ihre dunkle Romanze noch unbeschwert pflegen konnten. Vielleicht war es auch einfach nur pure, schon immer vorhandene Lust, die noch niemand bisher in ihnen zu entfachen vermocht hatte. Hidden Moon beseitigte jedes störende Textil, das Enya trug. Das Oberkleid war noch immer jenes, das sie als Jägerin getragen hatte – als sie sich in Salvats Auftrag auf Hidden Moons Fährte begab. Die Gesandte des Ordens erzitterte, als sie kurz an ihren Auftrag zurückdachte. Es war ihre Aufgabe gewesen, dem Vampir zu folgen und ihn zu vernichten, nachdem er die Klostermauern des Monte Cargano hinter sich gelassen hatte. Den Adler töten … … das hatte sie nicht vermocht. Statt dessen hatte der Adler etwas in ihr getötet. Und ersetzt. Wodurch? Enya atmete in immer kürzeren Intervallen. Sie wußte, was in sie gefahren war. Nicht nur Hidden Moons Zähne. Und statt des üblichen Vampirkeims hatte er ihr das vermacht, was er selbst zuvor in der Inneren Halle des Monte Cargano empfangen hatte – aus dem höllischen Odem, der dem geöffneten Tor entströmt war. Obwohl es nur ein Abglanz dessen war, was hinter jener Pforte lauerte. Und was dort nicht bleiben wollte … Enya seufzte kehlig. Hidden Moons Hände auf ihren Brüsten waren zärtlich und fordernd zugleich, und auch sie blieb nicht passiv. Schauer der Leidenschaft durchrieselten ihren Körper, als sie den feinen Flaum in seinem Nacken berührte, der nicht von seinem schulterlangen Haar, sondern von dem Gefiederstreifen rührte, der jeder Metamorphose trotzte. Es war ein Merkmal des Stammes der Arapaho, dem Hidden Moon angehörte und der vor Jahrhunderten Besuch vom Hüter der
Vampire erhalten hatte. Dieser Hüter namens Landru hatte dreizehn Arapahokinder der Taufe mit dem Lilienkelch unterzogen und während dieser Zeremonie sterbliche Menschen zu unsterblichen Vampiren erhoben.* Hidden Moon war der letzten Täufling in jener Sommernacht des Jahres 1688 gewesen – und während seiner Weihe hatte sich der Mond im Schatten der Erde versteckt – gerade so, als wollte er nicht mitansehen, was dem Kind widerfuhr. So war Hidden Moons Kriegsname entstanden. Der Name, mit dem er noch als Mensch geboren worden war, lautete Wyando. Enya wunderte sich einen Moment lang, wieviel sie bereits über die Bekanntschaft wußte, die ihr Leben umgestaltet hatte – während Hidden Moon noch fast nichts über sie erfahren hatte. Daß er sie nicht einmal drängte, mehr zu offenbaren, kränkte sie ein wenig. Aber das hinderte sie nicht, sich ihm hinzugeben – und auch seine Hingabe zu genießen. »Wann werden wir damit aufhören?« fragte sie später, als ihr vampirischer Liebhaber sich in sie verströmt hatte und sie, auf dem Bett liegend, nur noch wie ein kleines, schutzsuchendes Mädchen in den muskulösen Armen hielt. »Womit?« Sein Atem trocknete den Schweiß auf ihrer Haut, wenn auch nur an einer winzigen Stelle und selbst dort nicht von Dauer. »Damit, so zu tun, als würde es nie passieren.« Hidden Moon gab vor, nicht zu verstehen, worauf sie hinauswollte. Aber er war leicht zu durchschauen. Er wußte es genau. Trotzdem sagte Enya: »Daß es uns erklärt, was es von uns erwartet.« Es. Das, was in ihnen atmete, in ihnen pochte. Er zuckte die Schultern, ohne den Griff, mit dem seine Arme sie umschlangen, zu lockern. »Vielleicht geschieht es nie. Vielleicht bedarf es unserer Unterstützung überhaupt nicht …« *siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
Er wußte, daß er selbst an diese Möglichkeit nicht glaubte – und daß er sich nach nichts anderem mehr sehnte, als dem Bösen dienen zu dürfen. Der Trieb, der alles andere in ihm erstickte wie gefräßiger Dschungel die Ruinen ausgestorbener Kulturen, füllte ihn bereits vollständig aus. Bald würden die nächtlichen Ausflüge, bei denen er seinen Durst stillte, nicht mehr genügen, den unheiligen Zorn zu besänftigen, der sich mehr und mehr in ihm anstaute. Und Enya erging es nicht anders. Sie warteten beide: Auf das Erwachen der Stimme, die in ihrem Blut flüsterte, und die ihn sagen würde, was sie von ihnen erwartete. Bald, das spürten sie, würde es soweit sein …
1. Neugeboren Kloster Monte Cargano, Italien Ende September 1997 Die narbigen Züge des Mannes waren entspannt. Das änderte sich jäh, als sich seine Lider hoben und seine Augen mit dem steinernen Grab konfrontierten, in dem er lag. Grab? Wo bin ich hier? Er erzitterte, denn eine andere, weit wichtigere Frage bohrte sich wie die Spitze eines eisernen Dorns in das verletzliche Gewebe hinter seiner Stirn. Eine Frage, auf die er keine Antwort wußte: Nein, er hatte nicht die leiseste Vorstellung – wer er war. Er erhob sich. Sein eigenes Gewicht ließ ihn kurz schwanken. Er war nackt, aber seltsamerweise fror er nicht, obwohl dieser Raum eine in den Fels getriebene, künstlich erschaffene Kaverne zu sein schien. Und die Quelle des Lichts, das die höhlenhafte Umgebung aufhellte, war nicht feststellbar. Keine Flamme, sondern die Luft selbst schien trübe Helligkeit zu verbreiten. Wie ein rötlicher Schleier umgarnte das Leuchten den großen, sehnigen Mann, der sich barfüßig um seine eigene Achse drehte. Sein Herz schlug träge. Sein Atem wölbte die Brust in lang auseinanderliegenden Abständen. Plötzlich ballten sich die eben noch gespreizten Finger zu Fäusten, und aus seiner Kehle drang ein elementarer Laut, ein Schrei voller Verzweiflung, denn so sehr er auch in sich lauschte, er fand … nichts. Keinen noch so flüchtigen Hinweis auf die eigene Identität! Was war geschehen? Was hatte ihn all seiner Erinnerungen an sein bisheriges Leben beraubt? Und warum wurde er an einem solchen Ort festgehalten? Wurde er das …?
Es gab keine Tür, es existierte nicht einmal ein Spalt in den Felswänden, die ihn umgaben! Auch Decke und Boden waren geschlossen. Keine Fuge von Bedeutung war darin auszumachen! Aber woher kam dann die Luft, die er zum Leben brauchte? Und wie war er in diesen Höhlenraum gelangt? Plötzlich erschien ihm das Licht, das ihn sein Grab sehen ließ, noch unwirklicher. Grab … Wieder rieb er sich an diesem Wort, das seinem Unterbewußtsein entstieg. Wer begrub schon einen Lebenden? Sein Herz schlug um wenige Takte rascher, aber bei weitem nicht schnell. Es blieb fast unbeeindruckt von dem seelischen Aufruhr, der den Mann ohne Erinnerung gepackt hatte. Er machte einen Schritt. Die Richtung war unerheblich. Die Wände sahen überall gleich aus. Und der Raum durchmaß kaum vier Meter im Quadrat bei einer Höhe von etwa drei Metern. Der Erwachte begriff, daß nicht das eigene, sondern das Gewicht, das er über seinem Kopf spüren konnte, ihn vorhin hatte erzittern lassen. Wie dick war der Felsmantel, der diese hohle Kammer umgab? Und wieder die Frage: Wie war er hierher gekommen? Es gab keine normale Erklärung, aber ihm fiel nicht einmal eine unnormale ein …! WER BIN ICH? Gaumen und Kehle wurden trocken. Er tat noch einen Schritt, berührte die steinerne Wand erst vorsichtig und hämmerte schließlich mit den Fäusten dagegen, ohne daß er aber mehr als ein schwammiges, dumpfes Geräusch erzeugen konnte. Der Fels war genauso hart, wie er sein mußte, keine warum auch immer errichtete Attrappe! Der Mann ohne Erinnerung untersuchte den gesamten Wandver-
lauf und den Boden. Nur die Decke mußte er aussparen, weil sie unerreichbar blieb. Vielleicht lag aber gerade dort oben der Zugang zur Höhle. Nach minutenlangem Bemühen, einen Ausweg zu finden, setzte sich der nackte Mann wieder auf den Boden. Die Kälte des Steins berührte ihn auch jetzt noch nicht; er empfand sie nicht einmal als unangenehm. Er hatte auch keinen Hunger, nur ein verschwommenes Gefühl von … Durst. Er schloß die Augen und hüllte sich auf diese Weise in eine Finsternis, aus der er Trost zog. Seine Gedanken kreisten weiter um die Frage, wer er war, wo er war und warum er hier war. Die Zeit verging, aber eine Tür tat sich nicht auf. Niemand kam. Er blieb allein, einzementiert von einer Stille, die in ihrer ohrenbetäubenden Absolutheit an die Weiten der Sahara erinnerte … Sahara? Es blieb ein Phänomen, daß er Dinge zu benennen vermochte, Begriffe und ihre Bedeutung kannte, ohne jedoch den geringsten Bezug zu sich selbst herstellen zu können! Was für ein Wahnsinn, dachte er. Wahnsinn schien dem Kern des Mysteriums sehr nahe zu kommen. Aber um wessen Verrücktheit handelte es sich dabei? Um die seines Kerkermeisters – oder um seine eigene? Er hoffte es in Erfahrung zu bringen, noch bevor er in diesem elenden … (Nein! Es – ist – kein – Grab!) … an diesem elenden Ort verrottet war.
* Zur gleichen Zeit
Zuerst blinzelte sie nur gegen das helle Sonnenlicht, das warm durch mehrere kleine Sprossenfenster in ihr Zimmer drang. Mein Zimmer? Das Wohlgefühl wich wie ein sanftes Kätzchen, das eben noch schnurrend auf ihrem Schoß gelegen hatte, um sich kraulen zu lassen, sich im nächsten Moment aber von etwas aufgeschreckt mit gesträubtem Fell davonmachte … Wo bin ich? Sie stützte sich auf die Ellenbogen und begriff, daß ihr Bewußtsein von der Leere, in der es schwebte, fast erstickt wurde. Sie schloß die Augen und war umgeben von Wänden, die aussahen wie unbeschriebenes, farbloses Papier. Sie schrie leise und riß die Augen wieder auf. »Ganz ruhig«, sagte eine Stimme. Sie gehörte einem alten, sehr alten Mann, der eine Art Mönchskutte trug und den sie bislang nicht bemerkt hatte, obwohl er auf einem Holzschemel am Kopfende des Bettes hockte und den Rücken gegen die dortige Wand schmiegte, als böte sie ihm die Stütze, die sein eigenes Skelett auf Dauer nicht mehr garantieren konnte. Eine Million Fältchen ließen das Gesicht des Alten wie ein von Güte zusammengehaltenes Vexierbild erscheinen. Sie verlagerte ihr Gewicht, um ihm den Kopf besser zudrehen zu können. »Wer sind Sie?« »Ein Freund.« Obwohl die Antwort schnell erfolgte, erweckte sie nicht den Anschein, als ginge der Mann leichtfertig mit dem Begriff Freund um. Wie sonderbar. Die Frau sah an sich herab. Auch sie trug ein kuttenähnliches Gewand, jedoch ohne eine Kapuze, wie sie im Nacken des Alten zusammengefaltet zu sehen war, und der Stoff war auch nicht so dunkel, sondern von freundlichem Beige.
Darunter war sie … nackt. Warum beunruhigte sie das unterschwellig so sehr? Warum … vermißte sie etwas, von dem sie nicht einmal sagen konnte, was es war? »Ich kenne Sie nicht!« »Das macht nichts. Ich heiße Adrien.« Enttäuscht stellte sie fest, daß ihr nicht einmal der Name etwas sagte. »Und ich?« fragte sie. »Wie heiße ich?« Seine Reaktion verriet, daß er sich den Verlauf ihrer Begegnung anders vorgestellt hatte. »Du weißt deinen Namen nicht mehr?« »Nein.« Als er aufstand, meinte sie kurz das Knirschen seiner Gelenke zu hören. Er war mager; der Stoff seiner Kutte schabte förmlich um seine hautumspannten Knochen. »Darauf war ich nicht vorbereitet«, räumte er ein. »Was heißt das?« »Er wollte nicht, daß du allein bist, wenn du zu dir kommst. Deshalb bin ich hier …« Er stockte kurz und faßte sie in einer Weise ins Auge, daß sie das Gefühl hatte, ihn nicht einmal hintergehen zu können, wenn sie dies gewollt hätte. Aber warum hätte sie das tun sollen? Sie war hilflos. Sie brauchte diesen Mann und … »Wer ist ›er‹?« fragte sie. »Salvat«, sagte Adrien. »Salvat …?« »Du erinnerst dich auch nicht an ihn?« »Ich erinnere mich an gar nichts! Wie heiße ich? Bitte, nennen Sie mir meinen Namen, wenn Sie ihn kennen! Bitte!« Sein Blick wurde fast mitleidig, während er sich von dem Bett, auf dem sie saß, entfernte. »Was ist deine letzte Erinnerung?«
Sie atmete tief ein und wieder aus. »Es gibt keine ›letzte‹ Erinnerung«, sagte sie. »Ich wurde wach … und fühle mich vollkommen leer. Ich weiß weder, wo ich bin noch wer! Das müssen Sie mir glauben! Helfen Sie mir …!« »Ich glaube dir.« Adrien war bei der Tür angekommen und öffnete sie. »Bleiben Sie doch, bitte!« Sie setzte die Füße neben das Bett und wollte ihm nacheilen, aber eine Geste hielt sie zurück. »Ich komme wieder, das versichere ich dir. Und das nächste Mal wird er bei mir sein. Vielleicht weiß er Rat …« »Salvat?« Adrien nickte andeutungsweise. Als er schon fast aus der Tür war, holte ihn noch einmal ihr Schrei ein, der an ein in die Enge getriebenes Tier erinnerte, das keinen Ausweg mehr sah: »Bitte!« Und kurz bevor er die Tür wieder hinter sich ins Schloß zog, hörte sie seine verhaltene Stimme durch den sich schließenden Spalt: »Lilena. Du heißt Lilena …« Dann war sie allein in dem Zimmer, aus dem mit Adriens Fortgang auch die Helligkeit gewichen zu sein schien. Dunkle Schatten krochen aus den Verstecken ihrer Seele und zerstörten das Idyll, das sie aus eigener Kraft nicht aufrecht erhalten konnte …
2. Erinnerungen Er war allein. Schon länger, als irgendein Mensch solches Alleinsein ertragen hätte. Aber er war ja kein Mensch. Und seine Einsamkeit wog durch die sechs Milliarden Anderer, deren Nähe ihm stets gegenwärtig war, nicht geringer. Es gab nur wenige Sterbliche, zu denen er Beziehungen aufgebaut hatte. Fast immer waren diese Verbindungen über viele Jahre hinweg entstanden – und jedesmal hatte der unerbittliche Tod diese Bande zerschnitten. Er selbst konnte nicht sterben. Nicht in einer Million Jahren – und auch nicht in einem x-fachen dieser Spanne. Er gehörte nicht einmal wirklich hierher … Salvat blieb vor einem Bild stehen, eines von vielen in diesem gewaltigen, kirchenschiffähnlichen Raum innerhalb des Klosters. Das Bild zeigte ihn, und der Künstler, der es ihm einst gefertigt und signiert hatte, war selbst in der Gegenwart noch unvergessen. Um Salvats Züge prägte sich die Andeutung eines Lächelns. Er hatte gelernt, mit dieser allzu beschränkten Hülle umzugehen. Eine Weile verharrten seine Augen auf dem verschnörkelten Namenszug in der rechten unteren Ecke des Ölgemäldes. Leonardo, dachte er weich. Ich hoffe, der Himmel stand dir offen … Noch einmal blickte er auf sein eigenes Bildnis, das so anrührend lebensecht gelungen war, daß er ebensogut in einen Spiegel hätte schauen können. Dann wanderte er weiter, verloren in seinen wie Packeis dahintreibenden Gedanken. Der kalte Hauch der Endzeit, der aus dem Tor im Herzen des Monte Cargano geströmt war, bevor es Salvat gelungen war, es doch noch einmal zu schließen, schien für einen Moment auch durch die Phalanx der Skulpturen zu brausen, die parallel zu den Bilder-
wänden verlief. Alle verdienten Illuminaten waren hier verewigt; ihre Geschichten reichten bis in die Anfänge des Klosters zurück. Bis in meine Anfänge, dachte Salvat, in den Fesseln dieses Kosmos. Wieder blieb er stehen. Vor einer Figur, die einen alten Mann zeigte, fast so furchenübersät wie Bruder Adrien. Auf dem goldenen Schild des Sockels stand in einer Schrift, die aus purem Licht zu bestehen schien, zu lesen: Tobias Stifter
* 11. Juni 1615 † 2. September 1704 Gleich neben dieser Statue stand eine zweite, die den Arm ausgestreckt hatte und nach der Hand der Stifter-Plastik griff. Sie stellte eine junge, bildhübsche, wenn auch knabenhaft schlanke Frau dar, und Salvat erinnerte sich genau, daß sie selbst darum gebeten hatte, daß man sich ihrer nicht als Elisabeth Stifter erinnern sollte, sondern unter dem Namen, der seither auch auf dem Schilde stand: Lydia. Geburts- und Sterbejahr von Stifters Frau fehlten. Manchmal hatte Salvat sie verdächtigt, ihre Herkunft selbst nicht zu kennen – ein andermal wiederum hatte ihm ihr Verhalten signalisiert, daß sie es wohl kannte, aber nicht daran erinnert werden wollte. Am Erstaunlichsten aber war und blieb, daß nicht das Geringste über das Schicksal der Frau, die nicht alterte, bekannt geworden war. Unmittelbar nach Tobias Stifters Dahinscheiden war sie verschwunden, und seither gab es nicht die kleinste Spur, die Aufschluß über ihr weiteres Leben gegeben hätte. Im nachhinein bedauerte Salvat, nie wirkliche Anstrengungen unternommen zu haben, ihr Geheimnis zu lüften. Damals war sie im Sog einer der Dreigestalten des Satans in Heidelberg aufgetaucht und hatte dort im Verdacht gestanden, dem Teufel ein Kind geboren zu haben … … aber nicht einmal das hatte aufgeklärt werden können. Niemand hatte es auch je wollen, und erst recht nicht mehr, nach-
dem dreißig Jahre später, 1666, die Entscheidung gefallen und die letzte Schlacht gegen den Leibhaftigen eingeläutet worden war … Die letzte? Zweifel nagten an Salvat, als er seinen Weg fortsetzte. Nicht bloßer Zufall hatte ihn bei Tobias und Lydia innehalten lassen; vermutlich hatte es ihn ganz unbewußt dorthin gezogen, denn beide hatten seinen Weg im selben Jahr gekreuzt wie eine dritte Person, die er damals als »Lilena« kennengelernt hatte und die in der Pestgrube zu London gestorben war …* … um drei Jahrhunderte später in neuer Gestalt zu reinkarnieren? Ganz wie SEINE Ausgeburten? dachte Salvat bitter. Vor zwei Tagen waren aus dem Tor in der Inneren Halle, jenem Tor, hinter dem die Hölle des Urbösen begann, zwei Gestalten zurückgekehrt, die Wochen zuvor davon verschlungen worden waren – weil es einem sonderbaren Kind gelungen war, die Siegel zu brechen und den dahinter lauernden unersättlichen Moloch, von Salvat und seinesgleichen dereinst gezähmt, für Sekunden zu entfesseln. ** Lilena. Salvat hatte dieses Mädchen nie vergessen, und hätte ihm nicht sein eigener Sohn die Augen geöffnet, hätte er die Frau aus dem Tor auch nie mit ihr in Verbindung gebracht. Kurz schweiften seine Gedanken zu Raphael, den er verloren, der sich geopfert hatte, um zu verhindern, daß noch mehr von jenseits der Schwelle in diese Welt herüber floß! Es waren seltsame Stunden, die Salvat in dieser Halle voller Erinnerungen verbrachte. Überall, in jedem Antlitz, das seine Blicke streiften, berührten, liebkosten, stand eine Geschichte zu lesen. Eine Episode, die eng mit dem Wirken der Illuminaten über die Jahrhunderte hinweg verflochten war. Tobias war nur einer von vielen, die ihr Leben in den Dienst der Sache gestellt hatten und ihre geheimen *siehe VAMPIRA T23: »London 1666« � **siehe VAMPIRA T18: »Jenseits des Tores« �
Kräfte aufgebraucht hatten, um die Funktion der ursprünglich vorgesehenen Wächter zu übernehmen, die damals … Nein! Salvat hob die Hände und preßte die Kuppen von Zeigeund Mittelfinger gegen seine Schläfen. Das Blut rauschte in seinen Adern. Diese Hülle war ihm vertraut geworden, aber oft genug war sie auch etwas, das er aus tiefstem Denken und Gefühl heraus verabscheute! Das bin ich nicht! quälte ihn in solchen Momenten sein Wissen. Dieser Körper war nur sein Vehikel, seine Krücke, um – Eine Stimme brach ein in seine Verzweiflung: »Hier bist du …« Salvat ließ die Arme sinken. Noch bevor er sich den aufklingenden Schritten zuwandte, wußte er, wer zu ihm gesprochen hatte. »Adrien. Gibt es Neuigkeiten?« »Sie ist zu sich gekommen«, sagte der gebrechliche Ankömmling. »Obwohl … nicht ganz.« Salvat ging dem Alten, den er Freund nannte, entgegen. »Was heißt das?« fragte er und versuchte die Schatten seiner Vergangenheit zu verdrängen. »Es scheint«, sagte Bruder Adrien, »daß sie ihr Gedächtnis verloren hat. Sie ist bar jeder Persönlichkeit und rein wie ein neugeborenes Kind!« Die Torpassage, dachte Salvat, nachdem er sich schnell von seiner ersten Überraschung erholt hatte. Die Torpassage mag dies verschuldet haben. Noch nie ging jemand von hüben nach drüben – und kehrte wieder zurück … Sein Sohn kam ihm in den Sinn, und so fügte er einschränkend hinzu: Zumindest nicht körperlich oder auf Dauer! Ob die beiden Rückkehrer auf Dauer weiterexistieren konnten, mußte sich ohnehin erst noch zeigen. Was den einen betraf, den Mann, hätte es Salvat nicht als großen Verlust empfunden, wenn dieser doch noch an den Folgen der Passage zugrunde gegangen wäre.
Denn dieser männliche Fremde war ein Vampir. Ein Angehöriger jener abseitigen Rasse, die nur deshalb solch gewaltigen Einfluß unter den Menschen hatte erringen können, weil … … weil etwas schiefgegangen ist! rann es gallebitter durch Salvats Denken. Damals. Diese Abnormität, die sich von Menschenblut ernährte, war nur aus einem einzigen Grund nicht sofort von Salvats Flammenschwert eingeäschert worden, als sie nackt und ohnmächtig auf dem Boden der Inneren Halle zusammenbrach: Weil sich Salvat von diesem Wesen noch Aufschlüsse über das Reich hinter dem Tor erhoffte. Informationen, die ihm Lilena vielleicht nicht geben konnte, weil ihr die sehr viel radikalere Sichtweise und auch die Erfahrung eines Vampirs fehlte. »Wo ist sie jetzt?« fragte Salvat. »Immer noch in dem Zimmer, das du für sie ausgesucht hast.« »Gut. Laß uns zu ihr gehen. Vielleicht kann ich etwas für sie tun.« Schweigend wandte sich Adrien dem Ausgang zu, und Seite an Seite verließen sie die Halle, die zynischerweise von genau dem Gut beseelt war, das Lilena auf der anderen Seite des Tores zurückgelassen hatte: Erinnerungen …
* Ich bin das Kind. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an alles – auch daran, warum ich nicht bin, was ich sein könnte. Ich weiß nun wieder, was mich antreibt, seit ich in einem anderen Kloster dem Schoß einer Nonne entschlüpfte * und die Energie Hunderter bei lebendigem Leib verfaulender Vampire in mich aufsog. Seitdem ist fast ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem ich heranwuchs, als wäre das Zehnfache dieser Zeit ver*siehe VAMPIRA T03: »Die Auserwählte«
strichen. Wer mich heute anschaut, erblickt den Knaben, der ich niemals war. Und je nachdem, wer es ist, der mich betrachtet, könnte es auch sein, daß ihn ein Gefühl beschleicht, nicht mein wahres Gesicht zu sehen. Nicht hinter die Maske zu blicken. Masken … Ich wünschte, ich wäre der Gestalten wieder mächtig, die ich in meinen anderen Leben nach Belieben formen konnte. Aber ich kenne nun die Schuldigen daran, warum es mir nicht mehr gelingt. Warum ich ganz von vorn anfangen muß. Kläglich klein und langsam … Der Wind hat es mir erzählt. Ein Sturm, der von dorther kam, wo meine wahren Wurzeln liegen. Von wo ich entsandt wurde. Ja, ich bin ein Gesandter. Auge, Ohr und Werkzeug dessen, was nicht länger nur auf einer Seite herrschen will …!
* Das Geräusch der aufgehenden Tür veranlaßte die Frau ohne Erinnerung, die Augen zu öffnen. Sie wußte nicht, wovon sie so müde war. Sie wußte gar nichts … Nach Adriens Abschied hatte sie die Tür unverschlossen gefunden, sich aber nicht überwinden können, das Zimmer zu verlassen und sich anderswo umzusehen. Nur aus den Fenstern hatte sie Blicke geworfen und auf sonnenbeschienene Berggrate geblickt. Die dem Gebirge entgegengesetzte Richtung war von diesem Raum aus nicht einzusehen. Und nun betrat außer Adrien noch ein anderer, wesentlich jüngerer Mann die Unterkunft. Dieser Mann hinkte auf einem Bein. Viel mehr Auffälliges sprang der Frau zunächst nicht ins Auge, und dem Ankömmling schien auch sonst nichts Außergewöhnliches
anzuhaften. Er sah gut aus. Sehr männlich und, von der Behinderung abgesehen, geschmeidig in seinen Bewegungen. Aber er setzte nicht das Erhoffte in der Frau in Gang. Nichts, worauf auch er offenbar spekulierte. »Sind Sie …?« »Salvat.« Er nickte und kam näher, während Adrien neben der Tür stehen blieb. Die Frau verließ ihr Bett. Sie fühlte sich nicht ausgeruhter als zuvor. Der Mann lächelte. Und er musterte die schwarzhaarige Frau in einer Weise erwartungsvoll, als müßte sein Anblick das Verschüttete in ihr freisetzen. »Ich habe mich seit unserer letzten Begegnung äußerlich nicht verändert«, sagte er, »eigentlich müßtest du mich …« »Wann war das?« fiel sie ihm ins Wort. »Und wo? Kennen wir uns wirklich? Dann müssen Sie mir helfen – unbedingt! Sagen Sie mir alles, was ich vergessen habe! Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich fühle …!« Unmittelbar vor ihr blieb er stehen. Sie wußte nicht einmal, wie faszinierend die grünen Augen leuchteten, die er sehen konnte. Seine Augen waren grau wie Anthrazit. Es paßte zu ihm. »Der Reihe nach«, sagte er. »Es ist lange her, daß wir zueinander sprachen – es war eine ganz andere Zeit, auch wenn die Geschehnisse, die uns damals wie jetzt zusammenführten, miteinander verwandt sind.« Sie verstand seine Andeutungen nicht. »Wann?« drängte sie. »Sagen Sie mir, wann!« »Wirklich näher kamen wir uns schon 1635 auf unserer Reise von Regensburg nach Heidelberg …« Er hielt inne und wartete auf ihre Reaktion.
Sie biß die Zähne zusammen, als würden ihr Orte und Zeit nicht das Geringste sagen, keinerlei Echo in ihr erzeugen. »… und zum letzten Mal gesehen habe ich dich 1666 … in London.« Sie zuckte zusammen. Doch als sie den Mund öffnete, fiel ihre Erwiderung anders aus, als Salvat es dem Verhalten nach erwartet hatte. »1635 … 1666 …« Sie löste den Blick von ihm und musterte nun sich. Ihre Hände, ihre Arme, von denen sie den Stoff der Kutte zurückschob. »Wie alt bin ich, wenn zwischen beiden Treffen 31 Jahre lagen? Welches Datum schreiben wir heute? Wenn ich schon erwachsen war, als wir uns kennenlernten, müßte ich heute … wie alt sein? Fünfzig? Aber meine Haut … Sie ist so glatt. So jugendlich …« Sie verstummte. Dann seufzte sie: »Wenn wenigstens der Spiegel dort in Ordnung wäre«, sie zeigte zu einem Spiegel, der in eine Schranktür eingelassen war, »aber damit stimmt etwas nicht, sonst wüßte ich vielleicht schon mehr über mich …« »Was stimmt damit nicht?« fragte Adrien von der Tür her. Er wirkte verwundert, näherte sich dem strittigen Objekt und rief wenig später: »Der Spiegel ist völlig in Ordnung. Ich wüßte nicht …« Tatsächlich konnte auch die Frau von ihrem Platz aus das Abbild des alten Mannes erkennen. »Es war seltsam«, versuchte die Frau zu erklären, was sie als falsch daran empfunden hatte. »Auch ich sah die Möbel und alles übrige klar, nur mich selbst …« »Dich selbst?« fragte Salvat. »… verschwommen!« Salvat und Adrien tauschten Blicke, und als die Frau sich auf Schrank und Spiegel zubewegen wollte, hielt Salvat sie mit eisernem Griff zurück. Verblüfft schrie sie auf. »Sie tun mir weh!« »Ich fürchte«, erwiderte Salvat, und es klang ehrlich betrübt, »das
ist erst der Anfang.« �
* � Von einem Moment auf den anderen erfüllte die Stimme den Kerker. »Ich hatte ja versprochen, daß ich mich noch um dich kümmern würde – eines Tages«, sagte sie. »Und jetzt scheint mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein …« Bei den ersten Worten war der Kopf des Mannes ohne Gedächtnis herumgeruckt. Aber er sah niemanden. Er war immer noch allein. Die Stimme, die er zu hören geglaubt hatte, mußte seinem Wahn entsprungen sein. Dieser strangulierenden Verrücktheit, die ihn in ihren Klauen hielt und einfach nicht mehr loslassen wollte! Er stöhnte heiser und sank wieder in sich zusammen. Sein Hals tat weh, so oft und so laut hatte er geschrien, ohne daß sich eine Menschenseele seiner erbarmt hätte … »Was ist nur aus dir geworden?« Ein Fauchen löste sich aus seinem Rachen. Nein, dachte er, diesmal drehe ich mich nicht um! Diesmal bleibe ich stark! »Du bist nicht sehr höflich, zeigst mir die kalte Schulter. Aber ich mag dich. Ich mochte dich von Anfang an – irgendwie –, und daran hat sich nichts geändert, auch wenn ich nun weiß, wo und wann ich dir schon einmal gegenüberstand, lange bevor wir hier zusammentrafen …« Die Fingernägel des Mannes schabten über den harten Stein, als versuchten sie, sich hineinzubohren. Er konnte sich nicht länger beherrschen. Langsam drehte er den Kopf. Und da war dieser Junge, der mit verschränkten Armen die Schulter gegen eine der Wände lehnte und dem Mann am Boden grüßend
wie einem alten Bekannten zunickte, ein Lächeln um den sinnlich verdorbenen Mund. »Hallo.« Der Mann kam auf die Beine. Er schnellte förmlich in den Stand. Ungerührt blickte der Junge ihn an. Ein Junge von … elf oder zwölf Jahren. »Wer bist du? Wie kommst du hier herein?« »Willst du mich verulken?« »Was meinst du?« »Ich komme durch die Tür«, sagte der Junge. »Wie sollte ich sonst zu dir gelangt sein?« »Tür?« echote er. »Es gibt keine Tür!« »Ach – nein?« »Nein!« »Dann gibt es vielleicht auch mich nicht?« »Das wäre möglich.« Das Lächeln des Jungen wurde noch perfider. »Und dich? Was ist mit dir? Existierst wenigstens du?« Der Mann ging langsam auf ihn zu. »Warum haben sie dir keine Kleider gegeben?« wollte der Junge wissen. »Das hätten sie wenigstens tun können – oder mögen sie dich nicht?« »Wen meinst du?« Der Mann blieb stehen, aber er hatte die Fäuste geballt, und die Art und Weise, wie sich der Junge ihm gegenüber verhielt, schien ihm nicht zu gefallen. »Hör auf, mich zu verspotten!« »Ach, tue ich das?« »Was sonst?« »Ich kam, weil ich hörte, daß du wieder zurück bist.« »Wieder zurück?« »Von drüben.« Der Mann schürzte die Lippen. Die Narbe auf seiner linken Wange
sah entzündet aus, die übrige Haut bleich, als hätte sie noch nie einen Sonnenstrahl gesehen. »Du kennst mich wirklich?« »Ich würde sagen: flüchtig.« »Wie heiße ich?« Das Lächeln um den Mund des Jungen erstarb so plötzlich, als wäre es von einer unsichtbaren Hand ausradiert worden. »Was soll das? Was für ein Spielchen ist das?« »Es ist kein Spiel«, sagte der Mann. »Ich erinnere mich nicht mehr!« »Du erinnerst dich nicht mehr an mich?« »Ich erinnere mich an nichts – nicht einmal daran, wo ich hier bin!« Die Augen des Jungen glitzerten. Er stieß sich von der Wand ab und schlug mit der flachen Hand gegen die Brust des Mannes. Es klatschte dumpf. Der Mann taumelte, von der Stärke des vermeintlichen Kindes überrascht, zurück. Dann hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und blieb stehen. »Was soll das?« »Du hältst mich zum Narren!« Mit jedem Wort klang die Stimme des Jungen gereizter. »Du mußt verrückt sein, wenn du denkst, ich würde mir das gefallen lassen!« »Verrückt.« Der Mann nickte. »Wahrscheinlich bin ich verrückt, und du bist nur eine Einbildung von mir. Und von wegen Tür … es gibt keine Tür! Ich wurde hier bei lebendigem Leib begraben …!« Der Junge blickte starr zu ihm herüber. Dann spuckte er aus, und fast hatte es den Anschein, als würde sich der Speichel in den Boden fressen. »Wie erbärmlich du geworden bist.« Er drehte sich um. Hilflos, mit hängenden Schultern, stand der Mann da und wußte keine Antwort darauf. Der Junge lachte und setzte sich in Bewegung. »Was hast du vor?« fragte der Mann.
»Ich gehe«, sagte der Junge, winkte herausfordernd – und verschwand durch die Wand.
* »Hilf mir, bitte! Er soll mich loslassen!« Aus den Augenwinkeln sah Salvat, wie Adrien dem Ruf der Frau Folge leistete und mit verklärtem Blick heranstürmte. Es dauerte nur eine Sekunde, bis er in vollem Ausmaß begriff, was soeben passiert war. Sofort schlug er blitzschnell zu. Die Knöchel seiner Faust krachten gegen Lilenas rechte Stirnseite, und nur die Tatsache, daß er sie mit der anderen Hand immer noch am Arm festhielt, verhinderte ihren Sturz. Salvat verlor keine Zeit und legte die Bewußtlose auf das Bett zurück. Als er sich wieder aufrichtete, war Adrien bei ihm und versuchte ihm in einer fast rührenden Geste ein tönernes Gefäß, das er von einem Wandbrett gefischt hatte, aufs Haupt zu schlagen. Salvat fing den Hieb ohne Mühe ab. Dann packte er Adrien wie ein Kaninchen hinten im Nacken und sandte einen schwachen Strom magischer Energie über die Rezeptoren seiner eigenen Haut durch das Nervengeflecht des alten Freundes, dem die Pupillen aus den Höhlen quollen. Für ein paar Herzschläge war Adrien in ein blütenweißes Licht getaucht, das seine Konturen auflöste, jedoch keine Veränderung der Helligkeit in der Umgebung verursachte. Als das Licht erlosch, fuchtelten Bruder Adriens Hände durch die Luft und suchten Halt an Salvats Kleidung. »Was – ist passiert?« »Sie hat dich hypnotisiert und gegen mich aufgehetzt«, sagte Salvat. Er stützte den Freund, der sich aber schon wieder aus eigener Kraft auf den Beinen halten konnte. »Dann ist sie also auch eine –«
Salvat ließ ihn nicht ausreden. »Es ist komplizierter«, beschwichtigte er. »Ihr Begleiter, den wir in Verwahrung nahmen, ist ein reinblütiger Vampir. Aber sie …« »Sie …?« Adrien rieb sich den Nacken. Bevor er antwortete, ließ Salvat noch einmal Revue passieren, was ihm Raphael Baldacci, sein Sohn, im Moment vor seinem wahrscheinlich endgültigen Abschied an Wissen hatte zuspielen können. Einiges davon hatte diese Frau hier betroffen, in der sich die Lilena von damals reinkarniert zu haben schien. Raphael hatte auch den Namen gekannt und genannt, unter dem sie in der Gegenwart lebte. Und er hatte sie als Zwitter bezeichnet. Als hybrides Geschöpf, das nicht nur eine, sondern zwei Naturen in sich vereinte … »Ich werde es dir sagen, sobald ich sicher bin!« entgegnete er. »Was hast du vor?« »Zunächst werde ich feststellen, ob sie tatsächlich unter vollkommener Amnesie leidet oder uns nur etwas vormacht. Falls sie ihre Erinnerungen verloren hat, werde ich versuchen, sie aus den Abgründen, in denen sie verborgen liegen, zurück an die Oberfläche zu heben.« Die Frau auf dem Bett begann sich zu regen. »Laß mich allein mit ihr«, bat Salvat. Adrien verstand sofort, daß der geistige Führer ihres Ordens eine Wiederholung des Vorfalls von eben vermeiden wollte. Immer noch leicht benommen, wandte er sich zur Tür. »Ich werde mich über den Stand der Nachforschungen bezüglich des gefährlichen Kindes informieren«, sagte er, ehe er den Raum verließ. »Ja, tu das«, nickte Salvat geistesabwesend. Als die Tür hinter Adrien ins Schloß fiel, fiel auch Salvats Kleidung.
*
Der Junge blieb verschwunden. Der Mann ohne Erinnerung hatte jeden Zentimeter der Wand untersucht, aber gefunden hatte er nichts. Keinen noch so winzigen Hinweis, der erklärt hätte, mit welchem Trick sich sein Besuch davongestohlen hatte. Ein Spuk, dachte er. Es war nur ein wahnhafter Spuk, der aus mir selbst heraus geboren wurde. Offenbar bin ich wahnsinnig. Ich muß es sein … Etwas ist in mir entzweigegangen … Aber wann – und warum? Was war passiert, was verursachte solche Halluzinationen? Drogen? Ein Schock, an dem er zerbrochen war? Gab es diese Höhle gar nicht? Hatte sich sein Verstand nur völlig von seiner Umwelt abgeschottet und diese Mauern um sich errichtet …? Er fand keine Antwort. Sein Durst war ein wenig größer geworden. Hunger spürte er nicht. Seltsam, daß er das unterscheiden konnte. »Hallo!« schrie er irgendwann gegen die Decke der sonderbaren Krypta. »Wer immer mich hört, er soll mir wenigstens sagen, was ich getan habe, um so gestraft zu werden …!« Niemand gab Antwort, und bald hatte der Gefangene kaum noch Hoffnung, daß sein Aufenthalt hier überhaupt etwas mit Bestrafung zu tun hatte. Vielleicht war er ganz aus eigener Unvorsichtigkeit in diese ausweglose Lage geraten, ohne daß andere ihre Hände im Spiel hatten. Alles war möglich. Wer bin ich? dachte der Mann. Und er grübelte noch lange über die Chance nach, die er verpaßt hatte, falls der Junge wider aller Wahrscheinlichkeit doch real gewesen war …
*
Sie hörte sie reden, noch bevor sie zu erkennen gab, daß sie wieder bei Bewußtsein war. – »Ich werde es dir sagen, sobald ich sicher bin!« (Die Stimme des Mannes, der sich Salvat nannte.) – »Was hast du vor?« (Adriens brüchige Stimme.) – »Zunächst werde ich feststellen, ob sie tatsächlich unter vollkommener Amnesie leidet oder uns nur etwas vormacht. Falls sie ihre Erinnerungen verloren hat, werde ich versuchen, sie aus den Abgründen, in denen sie verborgen liegen, zurück an die Oberfläche zu heben.« An dieser Stelle bewegte sie sich, weil sie es nicht länger ertrug, andere über sich reden zu hören wie über ein Ding. – »Laß mich allein mit ihr«, verlangte Salvat. – »Ich werde mich über den Stand der Nachforschungen bezüglich des gefährlichen Kindes informieren.« Adriens Schritte entfernten sich. – »Ja, tu das …« Eine Tür schlug. Der Kopf der Frau dröhnte. Gefährlichen Kindes, hallte es darin nach. Auch der Schlag gegen die Stirn hatte Beschwerden hinterlassen. WAS GING HIER VOR? Hatte Adrien ihr vorhin nicht helfen und beistehen wollen? Einen Moment lang hatte es jedenfalls ausgesehen, als wären sich Salvat und er uneins und als würde der Alte die Grobheit des Jüngeren nicht dulden wollen. Aber eben hatten sie wieder sehr im Einklang miteinander geklungen. WO BIN ICH NUR? UND WER? Der Name, den Adrien ihr genannt hatte, weckte keinerlei Vertrautheit.
Lilena. Heiße ich wirklich so? Oder – verwechseln mich alle mit jemandem …? Es hatte keinen Zweck. Um Antworten zu erhalten, durfte sie nicht länger davonlaufen. Sie öffnete die Augen. Es war der Moment, in dem Salvat die Hüllen fallen ließ. Lilena (?) schrie erstickt auf, rollte sich vom Bett und versuchte zu fliehen. Weit kam sie nicht …
* Bruder Adrien hatte nur vage Vorstellungen von dem, was Salvat gegen die Hybride – was immer unter diesem Begriff genau zu verstehen war – zu unternehmen gedachte. Was, wenn sie doch nur eine heimtückische Komplizin der Kräfte war, die seit undenklicher Zeit jenseits des Tors harrten? Wenn es gar keine Unterschiede zwischen ihr und dem Vampir gab, der in einer besonders gesicherten Kammer des Klosters isoliert gehalten wurde, kontrolliert von den Parakräften einer ganzen Gruppe Illuminaten? Salvat wird die Wahrheit ans Licht bringen, dachte Adrien zuversichtlich – zugleich aber immer noch ein wenig entsetzt über die Selbstverständlichkeit, wie ihm diese Frau ihren Willen aufgezwungen hatte. Es war ihm gar nicht bewußt geworden, wie sie plötzlich über ihn bestimmt hatte. Salvat war gegen solche Anfechtungen immun. Vampirische Magie ließ ihn völlig unbeeindruckt. Wenn es etwas gab, was ihn überhaupt aus der Reserve locken konnte, dann jene Kräfte, wie sie hinter dem Torsiegel schlummerten. Falsch! korrigierte Adrien sich selbst. Sie schlummern nicht, sie arbeiten fieberhaft auf das Ziel hin, die Schranke zu durchbrechen, die hier im
Monte Cargano errichtet werden konnte. Von Wesen wie Salvat. Der Führer des Ordens hatte Adrien gegenüber nie erklärt, kein Mensch zu sein. Über so etwas wurde zwischen ihnen nicht gesprochen, weil es völlig ohne Belang war. Für Adrien wie für Salvat machten Taten den Wert eines Geschöpfs aus. Und was das anging … Adrien hörte auf, sich in fruchtlosen Überlegungen zu verzetteln. Er wollte sich auf direktem Weg hinab in die unterirdische Tiefe des Berges begeben. In das Labyrinth von Gängen und Fallen, das in die Innere Halle, das Herzstück der gesamten Anlage, mündete. Mochte das Kloster, das sich wie mit dem umgebenden Fels verwachsen in die Gebirgslandschaft einpaßte, einem Betrachter auch noch so erhaben und gewappnet gegen den Zahn der Zeit erscheinen, so war doch allein das von wahrhaft elementarer Bedeutung, was den Blicken und dem Wissen der Welt verborgen blieb. Und ewig verborgen bleiben sollte … »Bruder Adrien?« Der Ruf erreichte den alten Mann, noch bevor er die erste Stufe der Treppe betreten hatte, die zu der Halle führte, in der die von Salvat bestellten Torwächter erst kürzlich ein schreckliches Ende gefunden hatten. Auch wenn die Opfer inzwischen durch neue Siegelbewahrer ersetzt worden waren, blieb die Tendenz, die sich seit Beginn dieses Jahres abzeichnete, erschreckend. Immer vehementer schien sich das Urböse hinter der Pforte gegen die Innenseite des Tores zu stemmen und gegen die verdiente Strafe aufzulehnen, die es dorthin verbannt hatte. Warum haben sie es nicht vernichtet, als es noch möglich gewesen wäre? dachte Adrien. Erst danach drehte er sich zu dem Mann um, der gerade aus einem Säulengang getreten war. »Bruder Alberto?« begrüßte er den jungen Illuminaten, dessen paranormale Fähigkeit über die Grenzen seines Heimatdorfes nahe
Florenz hinaus für Aufsehen gesorgt hatten. So lange, bis die Illuminati auf ihn aufmerksam geworden und ihn für ihre Sache hatten gewinnen können. Alberto war knapp über dreißig, extrem übergewichtig, unablässig schwitzend und wie ein Walroß schnaufend. Daß er durch pure Konzentration levitieren konnte, nicht nur sich selbst, sondern auch Gegenstände, hätte ihm kein Uneingeweihter zugetraut. Darüber hinaus war er auch noch eine Seele von Mensch und Adrien wegen seines fast kindlichen Gemüts ans Herz gewachsen. »Was ist?« fügte der Alte hinzu. »Was kann ich für dich tun, mein Sohn?« »Ich suche unseren Meister. Wißt Ihr, wo ich ihn finden kann?« »Ist es so dringend?« Adrien lächelte nachsichtig. »Vielleicht kannst du es auch mit mir besprechen?« Alberto schüttelte den Kopf, und es war ihm spürbar peinlich, daß er Adrien damit möglicherweise vor den Kopf stieß. »Sie besteht darauf, nur Salvat persönlich Bericht zu erstatten …« »Sie?« fragte Adrien. In diesem Moment entstand hinter Alberto Bewegung, und es zeigte sich, daß er nicht allein im Klosterhof unterwegs gewesen war. Offensichtlich hatte sich seine Begleitung aber zunächst absichtlich im Schatten der Säulen gehalten. »Ich«, sagte eine vertraute Stimme, und Adrien starrte die hinter Alberto sichtbar werdende Gestalt wie eine Marienerscheinung an. »Du …?« hauchte er.
* Salvat entfesselte die Gewalt, zu der er in dieser Welt fähig war – die Gewalt in sich! Es war nur ein schwacher Abglanz jener Macht, die Gottvater ihm ursprünglich verliehen hatte – ihm und den anderen Wächtern.
Aber Gottes Plan war nie in Erfüllung gegangen, und seit er seine Schöpfung verlassen hatte, gab es nicht mehr die geringste Möglichkeit, das Verbrechen von damals in einer Weise zu korrigieren, als wäre es nie geschehen … Müßig, darüber nachzusinnen. Salvat glitt auf die schwarzhaarige Frau mit den jadegrünen Augen zu. Lilena hatte anders ausgesehen, völlig anders. Und dennoch … Salvat spürte, daß Raphael Recht hatte: Das, was ihn einst an dem Mädchen Lilena fasziniert hatte, steckte auch in Lilith Eden. Den Namen hatte Raphael ihm für diese Frau genannt, in der die Lilena von einst sich – reinkarniert hatte? Die Lilena, mit der er auf seiner Reise von Regensburg nach Heidelberg des nachts das Lager geteilt und mit der er sich in seiner irdischen Existenz auf eine Weise verbunden gefühlt hatte wie später mit keiner anderen Frau mehr, zumal sie ihm … Salvat ließ nicht zu, daß die Fortsetzung des Gedankens – die Dimension, die darin lauerte – ihn von seinem Vorhaben abhielt. Lilena (Lilith!) versuchte, vor ihm zu fliehen. Entsetzt riß sie die Augen auf. Sah, wie sich auf Salvats Rücken jene Auswüchse bildeten, aus denen Künstler wie Leonardo da Vinci verniedlichende Flügel mit blütenweißen Federn gemacht hatten … Doch es war etwas völlig anderes! Es wurde auch nicht zum Fliegen gebraucht. Einer wie Salvat konnte nicht fliegen … … und dennoch zu jedem Punkt der Welt eilen, ohne den Boden unter seinen Füßen zu berühren. Es war eine Frage des Wissens; der Kenntnis, wie diese Welt, wie dieses von Gott erschaffene Universum strukturiert war. Salvat entfachte einen abseitigen Sog, der sich ganz auf die Frau konzentrierte. Mitten in der Bewegung versteinerte sie. Für sie mußte es sein, als würde aus jeder erdenklichen Richtung zur gleichen Zeit an ihr gezerrt, so daß sie nicht mehr fähig war, auch nur einen Finger zu krümmen.
Salvat nagelte sie fest, zwei Schritte vom Bett entfernt, aus dem sie geflohen war. Die besonders sensitiv veranlagten Menschen innerhalb des Klosters mochten diesen Ausbruch außerphysikalischer Kräfte mit ihren bewußtseinseigenen Antennen registrieren, aber für einen »normalen« Menschen wäre die Entfaltung von Kraft hier in diesem Zimmer nicht einmal spürbar gewesen, wenn er draußen auf dem Flur vorbeigelaufen wäre … »Hör auf, dich zu wehren!« Salvats Stimme wurde getragen von einer Suggestion, der sich nicht einmal ein untotes, vampirisches Geschöpf hätte widersetzen können – und diese Frau vereinte beides in sich: das Menschliche und das Vampirische. Einen Zwitter hatte Raphael sie genannt. Eine Hybride. Aber wie kam diese Unnatur zustande? Wer hatte ein Mischwesen wie dieses in die Welt gesetzt, und warum war es ausgerechnet Lilena beschieden gewesen, als Grenzgängerin zwischen Mensch und Vampir wiedergeboren zu werden? Darüber hatte Raphael keine Auskunft gegeben. Die Verdammnis war schneller gewesen. Die schreckliche Klaue aus dem Tor, die ihn wieder zurück in ihr Reich gezogen hatte. Salvat versuchte nicht daran zu denken, wieviel er über die Motive des Urbösen wußte. Wie nah es ihm stand … gestanden hatte … Er griff nach Lilith, ohne die Arme auszustrecken. Nur mit seinen … … Flügeln, dachte er ironisch. Die Stränge, die seinen Schultern entsprossen, das Gewimmel tentakelartiger Stränge fächerte auseinander und umschlang den Körper der Frau wie in einer monströsen Umarmung. Selbst Salvat empfand den Anblick als unnatürlich. Es hinderte ihn nicht, das Notwendige zu tun. Die Haut der Frau, ihr ganzer Körper wirkte zerbrechlich wie Glas. Eine unbedachte Bewegung, und …
Salvat schloß nicht nur die Augen, sondern schottete sich hermetisch von dem ab, was außerhalb von ihm und Lilith existierte. Das ganze Sein der Welt schien sich nur noch auf sie beide zu beschränken. Und ihr Geist verschmolz. Salvat tauchte in dieses Wesen ein – und widerstand dem Impuls, das Vampirische daraus zu tilgen, wie er es einst bei … … einem anderen getan hatte. Er versuchte das Abdriften seiner Gedanken zu verhindern, aber Lilenas Seelennähe, die er nun selbst untrüglich spürte, obwohl sich der Körper, in dem sie steckte, so vollkommen von dem damaligen unterschied, brachte eine Lawine ins Rollen. Eine Lawine, die Salvat noch einmal dorthin entführte, wo er ihr zum allerletzten Mal begegnet war. Obwohl – begegnet war der falsche Ausdruck. Er hatte sie gesehen. In Lilenas Körper, umgeben von tausend anderen Leichen. Dort in jener Grube – vor über drei Jahrhunderten …
* Begonnen hatte das, was schließlich im schaurigen Wiedersehen mit Lilenas totem, pestzerfressenem Körper gipfelte, in der Nacht vom 31. Dezember 1659 auf den 1. Januar 1660, als der Führer der Illuminaten in seinem italienischen Domizil eine Erschütterung der Zeit wahrnahm, deren seismische Gewalt ihn in einer Stärke traf, für die es im Grunde nur eine einzige Erklärung gab: ER war – endlich – angekommen! ER, die Ausgeburt des Satans, die ein Vierteljahrhundert zuvor durch ein von »Lydia« erschaffenen Riß in die Zukunft katapultiert worden war, um ihren ärgsten Verfolgern zu entfliehen! * *siehe VAMPIRA T21: »Die Spur des Tieres«
Damals, 1635, war auch Lilena in diesem Zeitriß verschwunden und galt seither als verschollen. Nicht einmal Lydia selbst, die Frau mit der Gabe, die Zeit zu manipulieren, hatte bestimmen können, wie weit sie die zyklopische Satansgestalt letztlich transportiert hatte. Nicht einmal der Ort, der den Teufel – und Lilena – wieder ausspucken würde, war sicher. Salvat wußte um die Natur der Zeit – mehr als alle Wissenschaft. Zeit existierte überall in diesem Kosmos in derselben Qualität und gleichzeitig. Zwar gab es Kriterien, die das Wiedererscheinen des Teufels beeinflußten, aber niemand konnte vorhersagen, welche in diesem Fall entscheidend sein würde, um ihn wieder in den normalen Zeitfluß einzugliedern. Anderenfalls hätte es genügt, den Ort seines Verschwindens unter ständiger Aufsicht zu halten. Aber dort im Frankenreich, im grenznahen Gebiet zu Deutschland, war er nie wieder gesichtet worden, denn natürlich hatte Salvat auch für diese Eventualität Vorsorge getroffen und Beobachter angesiedelt … Nein, die erste vielversprechende Spur nach diesem Vierteljahrhundert des Wartens lenkte Salvats Aufmerksamkeit auf einen Schauplatz Hunderte Kilometer von Frankreich entfernt. Als »Epizentrum« des Zeitbebens ermittelte er England. London. Ohne Zögern begab er sich selbst dorthin und entsandte auch eine schlagkräftige Armee jener Illuminaten auf die Insel, die er seit dem Versagen der Bruderschaft in Heidelberg rekrutiert und ausgebildet hatte. Illuminaten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, an deren Spitze Tobias Stifter gestanden hatte. Er war der erste von vielen gewesen, die den neuen Charakter der Bruderschaft mitgeprägt hatten. Zuvor hatte Salvat einfach nur willensstarke, vom Kampf gegen das Böse überzeugte Anhänger um sich geschart. Aber die Lehre, die er aus der Schlappe in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg gezogen hatte, war die, daß Entschlußkraft und die Bereitschaft, weder Tod noch
Teufel zu fürchten, zu wenig war, um die Inkarnationen, in denen das Böse von Zeit zu Zeit auf Erden wandelte und seine Saat ausbrachte, endlich vernichtend zu schlagen. Denn darauf kam es an: die Macht, die hinter den Gesichtern des Teufels steckte, so empfindlich zu schwächen, daß sie auf lange Sicht an Übergriffen auf das Diesseits gehindert wurde … Salvats Enttäuschung war riesengroß gewesen, als seine Anhänger und er in London zwar Hinweise auf die Ankunft Satans fanden – der »Gestank«, der dieser Stadt anhaftete, hatte sämtliche Vampire vertrieben –, aber nicht den Teufel selbst! Dieser blieb, trotz intensiver Suche, verschwunden! Und erst fünf Jahre später, am 13. Mai 1665, schürte eine erneute, noch mächtigere Erschütterung der Zeit den Verdacht in Salvat, daß der Teufel Silvester ‘59 zwar versucht hatte zu materialisieren, daß ihm dies aber aus unbekannten Gründen nicht gelungen war. London war seit dem ersten Zeitbeben eine feste Größe im Bemühen der Illuminati, das gestaltgewordene Böse ausfindig zu machen. Deshalb dauerte es auch nicht lange, bis Angehörige der Bruderschaft das diesmalige, exakte Epizentrum aufgesucht hatten. Es war ein Haus in der Pudding Lane, gleich neben der Königlichen Backstube. Die Dachwohnung dieses Hauses war von einer Mutter und ihrer Tochter bewohnt gewesen, nun aber verlassen. Wie die Recherchen ergaben, war die Frau inzwischen in ein Heim für Geisteskranke gebracht worden; über den Verbleib der Tochter wußte niemand etwas. Die Mutter jedenfalls war etwa zur selben Stunde übergeschnappt, als Salvat jene zweite Erschütterung der Zeit wahrgenommen hatte. Er nahm sich ihrer nach seinem Eintreffen in London persönlich an, denn wie Jahre zuvor gab es auch diesmal keine Anhaltspunkte auf den Verbleib des Teufels. Hatte er sich wieder nur flüchtig materialisiert und war danach erneut in der Zeit weitergewandert? Wie
weit konnten ihn Lydias Kräfte noch befördert haben …? Salvat besuchte die mutmaßliche Zeugin der Materialisation in einem heruntergekommenen Haus, dessen Bewohner wie Aussatz und Abschaum behandelt wurden. Sie standen unter Verschluß. Niemand hatte die Absicht, den Kranken zu helfen. Sie vegetierten dahin, manche bis auf die Knochen abgemagert, und erst der Tod erlöste sie von ihren Qualen. Offenbar diente diese Einrichtung nur zur Beruhigung der Bevölkerung, die die Existenz solcher den Verstand zerfressenden Krankheiten dadurch leichter aus ihrem Bewußtsein verbannen konnte. Salvat war erschüttert gewesen. Unser Gottvater hätte seine Schöpfung nie verlassen dürfen … Mit solchen Gedanken und Empfindungen hatte er sich in die Frau vertieft, deren Geist infolge der Dinge, die sie hatte mitansehen müssen, unheilbar zerrüttet war. Salvat fand wenig Hilfreiches. Da war nur die alles überlagernde Vorstellung von einem Blitz, der mitten in die Wohnstube gefahren war, von ekligen Gerüchen und … einem einäugigen, schrecklichen Ungeheuer, das aus nachtschwarz wabernder Pupille überall hin geglotzt hatte, bis es sich schließlich für … das Mädchen, die Tochter der wahnsinnig Gewordenen, entschieden hatte. Und dann … Nichts mehr! An diesem Punkt war die Erinnerung der Frau in so viele Teile zersplittert, daß eine Rekonstruktion unmöglich war. Das Schicksal ihrer Tochter blieb in der Folgezeit ebenso ungeklärt wie die Richtung, in die sich der Teufel von der Stube aus gewandt hatte. Dafür suchte ein anderes Monster London ganz offen und unverblümt heim: die Pest. Schon einen Tag nachdem die Zeit gebebt hatte, wurden die ersten Fälle bekannt, die auf das Konto des Schwarzen Tods gingen, und binnen weniger Wochen grassierte die Seuche fürchterlich in der Stadt.
Salvat wies sämtliche Illuminaten an, sich in Gegenden in Sicherheit zu bringen, die von der Pest unbetroffen waren. Ihm selbst konnten Krankheiten nichts anhaben; er blieb in London. Selbst als es vorübergehend zur Geisterstadt verkam, patrouillierte er täglich durch die Straßen, immer auf der Suche nach Ihm … Aber es verstrichen noch einmal fünfzehn Monate, bis der Zufall Salvat jemanden aufspüren ließ, der den Kreis schloß, welcher zu Silvester 1659 begonnen hatte. Und plötzlich ergaben alle ungelösten Irrungen und Wirrungen seit damals einen Sinn …
* Donnerstag, 30. August 1666 Es war früh am Morgen, die Sonne noch nicht aufgegangenen. Bleierne Zeit wälzte sich durch die Straßen der Stadt, durch ihre Häuser, Kirchen und Parks; ja selbst Themse und Fleet River wirkten im Glanz der Nacht wie die riesigen, aufgeschnittenen Adern eines dämonischen Ungetüms. Getragen von einer Stimmung, die nur unbedeutend freundlicher war als diese Stunde, glitt Salvat über die Brücke von London und wechselte die Uferseite, von Southwark kommend. Wenig später, umgeben von hohen Häusern, entdeckte er einen Mann inmitten der sonst verlassenen Straße, wie er ihn hier kaum erwartet hätte. Ohne Zögern holte er die Gestalt ein, die ihre Arme waagrecht vom Körper weggestreckt hatte und dabei sehnsüchtig zu einem hochgelegenen offenen Fenster spähte, als könnten die Arme ihn dort hinauftragen, wenn er nur fest genug daran glaubte. Er glaubte zurecht daran, denn er war … … ein Vampir?
»Ich dachte, ihr wärt alle vor dem Gestank geflohen! Offenbar habe ich mich getäuscht …« Salvat wartete ab, was seine Worte bewirkten. Er stand unmittelbar hinter dem Sonderling. Sonderling deshalb, weil ihn irgend etwas von allen Blutsaugern unterschied, denen Salvat bislang begegnet war … Salvat nickte dem Kelchkind zu, als es sich sehr langsam und vorsichtig zu ihm umgedreht hatte. Dann entschied er, daß Gespräche zu nichts geführt hätten. Er packte sich den Vampir und umschlang ihn (wie dich, Lilena, genau wie dich …) mit Extremitäten, die außer ihm kein Wesen auf dieser Erde besaß! Er fesselte und knebelte den Blutsauger und ließ nicht zu, daß er sich in seine Metamorphose flüchtete. Und dann … … sog er all das Wissen des Vampirs in sich auf. Und begriff. Und sah. Erlebte nach, wie ein Mensch namens Samuel Pepys Silvester ‘59 von dem Vampir Kyle in den Garten eines Hauses geführt worden war – weg von den anderen Gästen der Feier anläßlich des Jahreswechsels. Kyle hatte Pepys zu seinem festlichen Trunk erwählt und gerade wie ein Egel an dessen Hals gehangen, als … als Er versuchte hatte, sich zu manifestieren. Der gehörnte Zyklop! Das flüchtige, wandelbare TIER, das Salvat und die Illuminaten jagten! Jeder Vampir in London mußte diese Erscheinung gespürt haben – für die meisten war es der Anlaß gewesen, alles bedenkenlos aufzugeben, Hals über Kopf aus der Stadt zu fliehen und sie für Jahrzehnte zu meiden. Nur für Kyle nicht.
Ihm war keine Möglichkeit zur Flucht geblieben. Er war Ihm im entscheidenden Moment zu nah gewesen. Sein Körper war von der Aura des Bösen eingeäschert worden! Und trotzdem war dies nicht Kyles Ende gewesen, denn dieselbe ungestüme, ungezielt um sich peitschende Kraft hatte sein Bewußtsein ins Gehirn von Samuel Pepys, dem Mann, aus dem er nur hatte trinken wollen, eingebrannt …! Fortan war sich Kyle seiner nicht mehr bewußt gewesen. Dennoch hatte die stille Gier, die weiter in ihm brannte, Samuel Pepys in mancher Nacht dazu verführt, einen Durst zu stillen, an den er sich anderntags nicht mehr erinnern konnte. Kyle war sich seiner erst wieder bewußt geworden, als Pepys eines Nachts nach vielen Jahren die Zähne in ein Mädchen gegraben hatte, dessen Blut der Gestank des Zyklopen aus jener Silvesternacht angehaftet hatte. Das Mädchen Ruby. Die Tochter der Frau, die immer noch im Heim lebte, seit der Teufel von 1659 nach ‘65 weitergesprungen war … Salvat hatte den Vampir in Pepys getötet, den Mann besinnungslos auf der Straße liegen lassen, die Illuminaten in Alarmbereitschaft versetzt und war dann dorthin geeilt, wo Kyle das Mädchen Ruby zuletzt gesehen hatte. Jene Furie, von Satan gemacht …
* Salvat hatte die Toten und Sterbenden im ganzen Haus gezählt, bevor er die Wohnung unter dem Dach betrat, in der die Pest zu Hause war. Nun glitt er in den Raum, wo Ruby auf dem Bett hockte, den Rücken an die Wand gepreßt. Irgendeine Ursehnsucht mochte das Mädchen dazu bewogen haben, an einen Ort zurückzukehren, an
dem sie nicht mehr willkommen war. Die Leute, die hier wohnten, waren Fremde. Aber deshalb krepierten sie nicht nebenan in der Stube an dem, was Ruby ihnen mitgebracht hatte. Sie hätte es auch der eigenen Mutter zum Geschenk gemacht, wenn sie noch hier gewesen wäre … »Wer … bist du?« Ruby hatte Angst. Salvat konnte dies und mehr spüren. Das Mädchen hatte nicht nur die Krankheit, die als Beulen und blutiger Eiter über ihren Körper wucherte … … sie war die Krankheit! »Das tut nichts zur Sache«, rann es aus seinem Mund, während er ihr eine Brise zur Linderung ihrer Qual entgegenschickte. »Was willst du?« »Dich.« »Mich?« Ihre Augen loderten in heller Panik. Sie versuchte von ihm weg zu rutschen, ihm zu entkommen. (Wie du, Lilena, genau wie du …) »Du trägst Seinen Geruch«, sagte er. Er hatte das Bett erreicht. »Wovon redest du?« »Von Ihm, den ich schon lange suche. Der dich machte.« Er plauderte ein wenig von Ihm. Bis sie aufbegehrte. An ihrem Hals prangten die Narben der Bisse, die Kyle/Pepy ihr zugefügt hatte. »Bitte, tu mir nichts!« flehte sie. Und dann, in gespenstischer Einsicht: »Geh! Geh, sonst wird die Pest auch dich fressen!« »Seit wann warnst du deine Opfer?« Er machte eine Geste, die ganz London einschloß. »Du hast sie alle angesteckt, alle, die deinen Weg kreuzten! Sie sterben und wissen nicht einmal, warum. Aber um mich mach dir keine Sorgen. Es gibt nur eine Seuche, die mir etwas anhaben könnte.« »Welche?«
»Er!« »… der mich … machte?« »Der dich zu dem machte, was du heute bist.« Er nickte. »Ich weiß wirklich nicht, von wem du redest!« »Vielleicht weißt du es nicht – aber du wußtest es einmal. Er ist klug. Er verwischt seine Spuren brillant …« Er packte Ruby. »Du könntest mir auch freiwillig sagen, wo Er sich versteckt hält. Aber könnte ich dir trauen? Dir, die Seinen Odem ausatmet, als wäre Er es selbst? Tatsächlich zog ich kurz ins Kalkül, daß du Er bist – in einer seiner Masken. Aber nun, da ich dir gegenüberstehe …« Salvat hielt sich nicht länger auf. Er riß die Schranken in ihr nieder, die der Teufel errichtet hatte, und las, was dort geschrieben stand. Jede noch so kleine Erinnerung an das Wirken des Pestmädchens seit dem Moment, als Er es erwählte, um den Tod auszutragen … Enttäuscht hielt er ihr Herz an, nachdem ihm klar geworden war, daß der Teufel nicht den geringsten Hinweis über seine weiteren Pläne in ihr hinterlassen hatte. Schon wieder war eine heiße Spur erkaltet …
* So hatte es geschienen. Dennoch hatte Salvat es nicht zulassen wollen, daß alle Nachforschungen, alle Anstrengungen erneut fruchtlos verliefen! Am Tag nach seiner Begegnung mit dem Pestmädchen berief er eine Versammlung der Illuminaten ein, von denen sich inzwischen ein halbes Hundert in der Stadt an der Themse eingefunden hatten. Tobias Stifter, der in den letzten Jahren eine Art Anlaufstelle für neu rekrutierte Illuminati geworden war, befand sich nicht darunter, was Salvat auch in Hinblick auf die Schlagkraft dieser Truppe bedauerte. Andererseits konnte er Tobias nicht verdenken, daß er sich Sorgen machte. Sorgen um den Verbleib seiner Frau, die sich vor
Monaten mit den Worten von ihm verabschiedet hatte, Dinge klären zu wollen, die für sie persönlich von enormer Wichtigkeit wären, mit denen sie aber nicht einmal ihren eigenen Mann belasten wolle. Nach all der folgenden Zeit, in der Tobias vergeblich auf eine Nachricht von Elisabeth (oder Lydia, wie sie sich selbst lieber nannte) gewartet hatte, war er zu dem Entschluß gelangt, nicht länger warten zu können. So hatte er den Monte Cargano und das dortige Kloster verlassen. Als einziger Hinweis, wohin sie sich gewandt haben könnte, stand der Name Uruk im Raum. Seit den Ereignissen 1635 hatte Lydia ihn immer wieder einmal erwähnt, als wäre die Stadt auf dem fernen schwarzen Kontinent ihr nicht unbekannt; als wäre sie schon einmal dort gewesen … Mehr hatte sie nie dazu preisgegeben – auch nicht Salvat gegenüber, den sie irgendwann über Uruk befragt hatte, ohne allerdings ihre Motive für dieses gesteigerte Interesse einzugestehen. Salvat wußte wahrscheinlich mehr als jeder andere über Uruk, Ur, die Sumerer, Babylonier, Ägypter … über sämtliche Hochkulturen, die seit Anbeginn der Menschheit ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen hatten. Aber jedesmal, wenn er in Lydias Augen geblickt hatte, war es ihm vorgekommen, als wüßte selbst ein Wesen wie er nicht alles darüber … »Wir müssen unsere Sinne empfänglicher machen selbst für kleinste Ereignisse jenseits des Alltäglichen!« legte Salvat den Illuminaten ans Herz. »Satan kann immer noch hier sein – hier in London. Welchen Sinn hätte sonst das Sterben gemacht, das Er anzettelte? Chaos ist ein Feld, das Er bestellt, um es irgendwann abzuernten. Also muß er hier irgendwo sein – oder wiederkommen. Über das Maß seiner Schwächung oder ob er überhaupt noch unter den Folgen der Verletzungen leidet, die das Flammenschwert ihm beigebracht hat, vermag ich nichts zu sagen. Er wird jedoch alles daran setzen, seine volle Stärke schnell wiederzuerlangen. Lydias Zeitmagie mag ihm geholfen haben, die Wunden etwas schneller heilen zu lassen. Trotzdem: Für ihn sind noch keine dreißig Jahre der Rekon-
valeszenz vergangen. Vermutlich hat er ein Versteck aufgesucht, aus dem er dereinst im Vollbesitz seiner Kräfte herauskommen will, um die Herrschaft über das von ihm bestellte Feld anzutreten. – Wir müssen ihn vorher finden. Bevor er neu erstarkt ist.« »Was kannst du uns über den Umfang seiner Macht sagen, sobald er sich vollständig erholt hat?« fragte einer der Illuminaten, ein Mann um die Sechzig, der relativ spät dem Orden beigetreten war. Salvat antwortete offen: »Wir hätten Mühe – wir alle zusammen –, ihn zu besiegen. Es wäre sogar möglich, daß wir unterlägen …« Nachdem weitere Fragen gestellt und beantwortet worden waren, schwor er sie noch einmal auf das gemeinsame Ziel ein. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, daß nur wenige Stunden später er es sein würde, der die Witterung des Satans aufnahm. Weil sich etwas wiedermeldete, was dreißig Jahre stumm geblieben war. Etwas, das auch das Mädchen Lilena schlagartig wieder in den Mittelpunkt von Salvats Denken rückte. Aber es war eine sterbende Lilena, und bis er sie fand, lebte nur noch die Teufelshand an ihrem Arm. Das Ding, dessen Ruf Salvat empfangen hatte, obwohl es wieder einem ganz anderen hörig war. Und die Frage, ob er Lilena damals hätte retten können, wenn er gleich beim ersten Impuls, den er empfangen hatte, zum Ort des Geschehens geeilt wäre, ließ Salvat für viele Jahre nicht mehr los. Damals aber hatte er die Nacht abgewartet, um so geringes Aufsehen wie möglich zu erregen – und um die Überlebenschance seiner Begleiter zu erhöhen …
* Der Mond hatte eine ähnliche Farbe und Form wie jenes Auge, das Lilena in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg im Schädel des tierhaften, wiedervereinigten Satans zerstoßen hatte: Eitrig gelb, fiebrig und von dunstigen Schlieren durchzogen stand der Erdtrabant hoch
im Abgrund des Himmels. Für Anfang September war die Nacht bereits empfindlich kalt. Weiße Atemfahnen verließen die Münder der wie Mönche gekleideten Illuminaten, trieben davon und vermengten sich mit den Nebeln, die vom Fluß her kamen. Ab und zu übertönte der Schrei eines Waldkauzes das Geräusch vieler Schritte. Die, die im Dunkel marschierten, folgten dem Gebot ihres Anführers. Kein Wort verließ ihre Lippen. Alles, was im vorhinein der Rede wert gewesen war, hatte man diskutiert. Von nun an zählten Taten. Und die Bereitschaft, das eigene Leben notfalls zu opfern … Salvat erreichte die Grube außerhalb der Stadttore an der Spitze seiner Ordensbrüder und -schwestern. Zwei Männer lösten sich aus einem Unterstand, wo sie im Karbidlicht Karten gespielt hatten. Mißtrauisch – und wohl auch etwas fröstelnd angesichts der gespenstischen Prozession – riefen sie den Kuttenträgern entgegen: »Wer seid ihr und was wollt ihr? Wir sind königliche Wachen. Uns wurde keine Nachricht überbracht, daß –« Salvat verlor keine Zeit. »Hört ihr die Raben?« fragte er die beiden abgestumpften Galgengesichter, die auf königliches Geheiß hier draußen bei den Toten Wache schoben. Vielleicht waren sie nur dazu da, um die Listen zu führen, die dem Königshaus Aufschluß über die Peststatistik verschafften. Zu »bewachen« im eigentlichen Sinn gab es nichts. Kein Bürger bei Verstand hätte einen Besuch der Grube riskiert, in der die Pesttoten versenkt und mit einer dünnen Schicht Erde überschüttet wurden, um den Gestank gering zu halten. Den Gestank … Er, dachte Salvat, hätte sich kein besseres Versteck aussuchen können, um den eigenen Gestank zu verbergen. Aber das allein konnte nicht der Grund sein, weshalb der Teufel sich ausgerechnet hier verkrochen hatte.
Salvat ahnte und fühlte, daß in Blickweite der Stadtmauer etwas Beispielloses in Gang geraten war. Etwas, das nicht nur London, sondern die ganze Welt verschlingen konnte, wenn ihm nicht doch noch Einhalt geboten wurde … »Die Raben?« echote einer der Wächter. Sein Versuch, die Schatten zu durchdringen, die nicht nur Salvat umwoben, sondern jeden einzelnen Illuminaten in seinem Mönchsgewand, scheiterte. Salvats Züge hätten ohnehin keine Regung gezeigt. Er fühlte sich am Scheideweg und dachte daran, wie er gegen Mittag dieses Tages einem Gerücht zum Tower gefolgt war. Dort hatte helle Aufregung unter den Gärtnern des Tower Green geherrscht. Sie, die auch verantwortlich für die Hege und Pflege der großen Raben waren, hatten offenbar tatsächlich Alarm geschlagen und für tiefe Beunruhigung bei Hofe gesorgt. Einer alten Legende zufolge würden London und die Monarchie fallen, wenn die Raben eines Tages vom Tower wegflögen. Aus diesem Grund wurden sie verhätschelt und gefüttert und bekamen, sobald sie flügge waren, die Flügel gestutzt. Nun aber … Salvat hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sich einige der großen schwarzen Vögel, todessüchtigen Lemmingen gleich, von den Zinnen des äußeren Befestigungsringes in die Tiefe gestürzt hatten. Danach, hieß es, habe der König persönlich die Ankettung der sagenumwobenen Vögel befohlen. Salvat zweifelte indes, daß dies die angemessene Reaktion auf ein solches Omen war. Aus seiner Sicht mußte man das drohende Unheil bei den Wurzeln packen und nicht gegen die warnenden Stimmen ankämpfen … Doch Satan würde seinen Einfluß längst auf die Herrschenden ausgeweitet haben – nachdem er die Grauen Eminenzen der Stadt schon Jahre zuvor bei seiner Ankunft in alle Winde vertrieben hatte. Marionetten, dachte Salvat. Der Mensch scheint dafür prädestiniert zu sein, ein Marionettendasein zu führen. Und diejenigen, die damit hätten umgehen können und müssen, haben versagt … Es war sein letzter Gedanke, bevor erst der eine, dann der andere Wächter dieser Grube fielen. Kurz bevor der Beauftragte Gottes sich
seines Mönchsgewands entledigte (wie eben, Lilena, genau wie eben) und zum Rand der Grube hinglitt, ohne daran zu zweifeln, daß seine Anhänger die von ihm befohlenen Positionen hinter ihm einnahmen. Dort am Grubenrand tat Salvat es den Raben des Tower gleich. Kopfüber stürzte er sich in den Pfuhl des Grauens …
* Überall waren Leichen. Sie füllten die Grube zu Hunderten, vielleicht zu Tausenden … und Salvat drängte sie mit der Wucht eines sonderbar verlangsamt einfliegenden Projektils beiseite. Unter der Pestdecke spürte er sofort den Odem dessen, den sie durch die Zeiten verfolgt hatten. Tief am Grund der Grube existierte die höllische Präsenz, nach der die Jäger so lange vergeblich gesucht hatten … Aber bevor Salvat ins Auge des TIERS blicken konnte, erspähte er diejenige, von der er bis zuletzt gehofft hatte, sie müßte nicht zwangsläufig dort sein, woher er den Impuls der Teufelshand empfangen hatte – der Hand, die einem Mitglied der Heidelberger Loge vom Satan zum Geschenk gemacht worden war, um die im Krieg verlorene zu ersetzen. Jener Balthasar Auer war während der Auseinandersetzungen in der Heiliggeistkirche ums Leben gekommen, erwürgt von der heimtückischen Prothese, die der Satan ihm einst zur Besiegelung ihres Paktes vermacht hatte. Als Salvat versehentlich Lilenas linke Hand mit dem Flammenschwert abgeschlagen hatte, war Auers Pranke auf das Mädchen übergewechselt und hatte sich wie ein Blutegel an deren Stumpf festgesogen. Tobias hatte nach der Flucht des TIERS aus der Kirche versucht, die Teufelshand wieder von Lilenas Arm zu vertreiben. Es war gelungen, doch irgend etwas hatte die lebende »Prothese« dem Mäd-
chen angetan, denn fortan hatte die Blutung des Stumpfs nicht wieder aufgehört. Auch Salvat, angeschlagen vom Kampf gegen den wiedervereinigten Dreigestaltigen, hatte die Wunde nicht wieder zu schließen vermocht. Um das Leben der Frau zu bewahren, hatte er sich darauf eingelassen, des Teufels Hand erneut an ihren Stumpf zu pressen. Es hatte funktioniert. Stumpf und Pranke waren erneut miteinander verwachsen. Zuvor hatte Salvat versucht, das seltsame Ding vom Bösen zu reinigen und es zugleich mit einem Gift zu impfen, das sich gegen den eigentlichen Schöpfer dieses »Geschenks« wenden sollte, sobald Lilena ihm wieder gegenüberstehen würde. So war es schließlich auch gekommen. Beinahe jedenfalls. Aber auch Lilena und Tobias hatten dem flüchtigen Teufel nicht den Todesstoß versetzen können. Er war entkommen – dank Lydias Zeitmagie. Und jetzt … … sah Salvat Lilena nach dreißig Jahren wieder. Eine Pestzerfressene, die – das fühlte Salvat in diesem Moment wie eine eiskalte Hand um sein Herz – noch gelebt hatte, als sie in diese Grube geworfen worden war! Salvat war fassungslos. Sie hat gelebt. Und ich hätte sie retten können! Die dreißig Jahre wären nicht vergebens gewesen …! So wie sie jetzt schrecklich zugerichtet inmitten der anderen Pestopfer trieb (ja, trieb, denn irgend etwas zog die Toten gierig nach unten!), schürte sie Salvats Willen, den Satan hier und jetzt zu vernichten, ins Unermeßliche! Die Hand, die Lilena nie gehört hatte, schien zu Ihm zurückgekehrt zu sein, als hätte sie sich ihres wahren Herrn erinnert! Und dann, in einem Augenblick tiefsten Erschreckens, erkannte Salvat, daß da noch etwas war! Etwas in Lilena, was noch nicht dem Tod anheimgefallen war … Nein! versuchte sich sein Verstand gegen das zu wehren, woran es
schon keinen Zweifel mehr gab. Und dann – vielleicht nur noch eine winzige Distanz von Ihm entfernt – bremste Salvat seinen Vorstoß. Er konnte nicht anders. Ohne nachzudenken, was für Folgen diese Handlung haben könnte, nahm er Lilenas Leichnam in beide Hände, preßte ihren noch warmen Körper behutsam gegen seinen eigenen … … und kehrte damit zurück zur Oberfläche. Zurück ans Licht der Sterne. Aber er hatte den Widerstand des Leichenbergs noch nicht gänzlich durchstoßen, als er hinter sich etwas fühlte. Etwas … das ihm folgte …
* Salvat legte Lilenas tote Hülle vorsichtig, als würde sie noch leben, am Rand der Grube im Gras nieder. Und in der einen Sekunde, die ihm blieb, bevor Er dem Versteck entstieg, an dessen Grund er seit Jahr und Tag von der negierenden Kraft des Todes schmarotzt hatte, fachte er den erlöschenden Funken in der Toten noch einmal an. Ließ etwas von seiner eigenen Stärke in dem winzigen Etwas zurück, ehe er sich wieder der Grube zuwandte. Nur Sekunden nach Salvat brach der Herr der Masken aus der Tiefe hervor! Vielleicht floh die Dunkelheit vor ihm, weil er selbst etwas verkörperte, was noch ganz und gar finsterer war. Jedenfalls wurde die Gestalt von einer ähnlichen Korona umloht, wie man sie bei Sonnenfinsternissen beobachten kann. Mehr denn je war Satan ein waidwundes, tollwütiges TIER. Noch immer schwärte sichtbar die Wunde von Salvats Schwert, der Klinge aus Rubin, an ihm. Und doch …
Der Gesandte des Urbösen war gestärkt. Er hatte Mittel und Wege gefunden, sich zu sammeln und seiner vernichtenden Möglichkeiten zu besinnen! Vielleicht wurde das Gebrüll, das dem Dreiecksmaul entwich, nur für Salvat hörbar – vielleicht tobte es aber bis hin zu der Stadt, an deren Bewohnern es sich so lange schadlos gehalten hatte. Salvat sah, wie sich der Blick des kaum verheilten Zyklopenauges auf ihn heftete. Wie es ihn erkannte und sich mit dunkler Freude füllte, ihn wiederzusehen, um ihm den Todesstoß zu versetzen! Und ebenso konnte er in dem wabernden Auge erkennen, was dahinter lag. Als wäre es in Wirklichkeit ein Fenster in einen Raum, in den das Pervertierte verbannt worden war, das nun immer heftiger gegen die Pforten seines Kerkers pochte … Salvat erreichte den Tierhaften, bevor dieser den Rand der Grube überwinden konnte. Und dort, über den Pesttoten, prallten sie zusammen. Zur letzten Schlacht. Danach, so hofften beide, würde die Welt ein anderes Gesicht erhalten. Frei von Schatten … … oder von Licht!
* In dieser Nacht schien der Himmel selbst zu entflammen. Menschen, die das Fanal sahen, würden später beschwören, es hätte den Untergang über London gebracht. Es wäre schuld daran gewesen, daß vier Fünftel der Häuser innerhalb der Stadtmauern in Schutt und Asche gingen, auch wenn andere, die der Ursache nachspürten, zu dem Ergebnis kommen würden, das Feuer, das den Großen Brand auslöste, sei in einer Backstube in der Pudding Lane entstanden …
In Salvats Fäusten wuchs das Schwert eines Kerubs. Salvat war dieses Schwert! Und er wollte es in die Brust des Satans stoßen, der ihm jedoch einen Sekundenbruchteil zuvorkam und seinen erstickenden Odem über die rubinrote Waffe legte. Salvat hatte das Gefühl, von innen heraus zu erkalten, als das Schwert in seinen Händen erlosch, als wäre es eine Kerzenflamme, die nur ausgeblasen werden mußte. Seine ärgsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Das Böse ließ seine heimtückischste Maske fallen – die der Schwäche. Es war nicht mehr schwach! Es hatte alle Wunden, die Salvat ihm vor Jahrzehnten zufügen konnte (auch wenn für Ihn sehr viel weniger Zeit verflossen war), ausgeheilt. Ein paar Narben, mehr nicht, zeugten noch davon, daß es einst an den Rand der Niederlage gebracht worden war. Und nun … Wie an den Seiten einer laterna magica glommen im Rhythmus von Salvats Herzschlag wechselnde Gesichter im Antlitz seines Erzfeindes auf. Zehntausende Tote hatten ihm an Kraft überlassen, was nötig war, um ihn seine Masken wieder zelebrieren zu lassen! Doch dann … Ich habe die Zeit auch nicht mit Müßiggang verbracht, dachte Salvat – und schrie: »JETZT!« Am Rande der Grube richteten sich seine Getreuen auf. Mönche, die keine waren. Männer und Frauen, die alle auf diese eine Stunde – diese eine Minute – hin ausgebildet worden waren! Für den Herrn der Masken mochte es aussehen, als würde sich ein silbriges Spinnennetz über die Pestgrube spannen, aber die Wahrheit war um vieles tödlicher. Und für Ihn absolut vernichtend.
Die flirrenden Fäden waren tastende Spuren mentaler Kräfte, die sich dort über der Grube am gestaltgewordenen Bösen bündelten! Der Satan schwebte im Brennpunkt der Gewalten – und Salvat selbst wich zum Rand der Grube zurück, wo er sich in seine Gefolgschaft einreihte, als wäre er ihnen nicht höher-, sondern gleichgestellt! Der Herr der Masken brüllte und tobte und versuchte verzweifelt, dem Gespinst zu entkommen. Der Kampf zehrte sämtliche Kräfte auf. Die von Salvat. Und die eines jeden Illuminaten. Niemand hatte vorhersagen können, wie groß die Macht des schrecklichsten aller Feinde sein würde. Nun erfuhren sie es. Und manche von ihnen ließen ihr Leben. Doch am Ende …
* Salvat würde nie vergessen, wie er sich von der Stelle erhoben hatte, an der er ins taunasse Gras gesunken war und für unbestimmte Zeit jede Wahrnehmungsfähigkeit verloren hatte. Im ersten Moment wollte er nicht einmal wahrhaben, daß sie gesiegt hatten. Wem auch immer er bei seinem Gang um die Pestgrube begegnete, er rechnete jedesmal damit, es nicht mit einem seiner völlig erschöpften Getreuen zu tun zu haben, sondern mit Ihm unter falschem Gesicht … Als er jedoch endlich alle Überlebenden um sich herum versammelt hatte und sie gemeinsam die verkohlten, wie schwarze Schlacke aussehenden Reste des Unterlegenen aufspürten, keimte allmählich doch die Gewißheit, das fast Unmögliche geschafft zu haben. Das, was ihm in all der Zeit zuvor nie gelungen war. Das Aufgehen der Saat zu verhindern, die hinter dem Tor lauerte,
war schon häufig gelungen. Aber eine Inkarnation wie diese hier zu vernichten, das war einmalig. War noch nie gelungen … Salvat versuchte sich vorzustellen, was wäre, wenn es dem Bewußtsein, das in dieser Manifestation gewohnt hatte, nicht einmal mehr gelungen war, sich dorthin zu flüchten, woher es gekommen war … Das, dachte er, würde Seine Niederlage wirklich schmerzhaft machen, und vielleicht … … würden die Menschen erstmals in der Geschichte wirklich für längere Zeit vor Ihm gefeit sein! Ob die Welt dadurch besser wurde, mußte sich aber erst noch zeigen. Ein Ruf ließ Salvat nach London blicken. Dort hatte sich rötlicher Schein über einem der Viertel gebildet. »Es brennt«, hörte er einen der Illuminaten sagen. Sie konnten beobachten, wie der bedrohliche Glanz in den nächsten Stunden immer mehr an Kraft gewann, ohne daß ihm von den Bürgern der Stadt Einhalt geboten wurde. Auch Salvat war außerstande, etwas für die Stadt zu tun. Das letzte Quentchen besonderer Macht, das er in sich trug, hätte nicht gereicht, um die Flammen dort zu ersticken, deshalb verwendete er es ohne Gewissensbisse für etwas anderes. Und nicht einmal er selbst ahnte, wieviel Mühe, wieviel Zeit es kosten würde, das kaum noch vorhandene Leben, das er aus Lilenas Körper barg, wie ein Pflänzchen von nie dagewesener Zartheit zum Gedeihen zu bringen. (Du bist ihm begegnet, Lilith. Irgendwann bist du ihm in dieser Gestalt wiederbegegnet, sonst hätte er mir nicht die Augen über dich öffnen können …)
*
»Ich muß dich stören!« Salvat begriff nur langsam, daß die Stimme nicht mehr Bestandteil der Vergangenheit war, die vor seinem geistigen Auge Revue passierte. Mit einem Widerwillen, als könnte er den Verbleib im Damals erzwingen, stemmte er sich gegen seine Rückkehr in die Gegenwart. Umsonst. Neben ihm stand Adrien und wiederholte: »Ich weiß, wie schlecht der Zeitpunkt gewählt ist, dich zu unterbrechen, aber … Enya ist zurückgekehrt!«
* Salvat kappte die Verbindung zu Liliths Geist in der Gewißheit, daß ihn diese Frau nicht betrog. Er hatte genug erspürt, um sagen zu können, daß sie nichts vor ihm versteckte, sondern tatsächlich bar jeder Erinnerung war. Ihr Verstand war jungfräulich wie der eines Neugeborenen – zumindest, was ihre eigene Person und alle Dinge betraf, die damit zusammenhingen. Ihre Persönlichkeit war restlos ausradiert worden. Du ahnst nicht einmal, daß wir ein gemeinsames Kind hatten, dachte Salvat. Und zweifelte, ob er es ihr je enthüllen würde. »Wo ist sie?« wandte er sich an Adrien, während sich die Stränge, die aus seinem Rücken gefächert waren, zurückbildeten. »Enya? In ihrer Unterkunft«, sagte der alte Ordensbruder. Wie er es sagte, gab Salvat Anlaß, sich zu wundern. »Ist etwas mit ihr?« fragte er. »Ist sie … verletzt?« »Nein. Wahrscheinlich nicht.« Adrien schüttelte den Kopf. »Aber ich wäre beruhigt, wenn du es mir bestätigen könntest.« Salvat faßte Adrien scharf ins Auge. Als dieser nicht konkreter wurde, wandte er sich zur Tür. »Kümmerst du dich um sie?« Adrien nickte und fragte, ohne eine Miene zu verziehen: »Freund oder Feind?«
»Freund.« Salvat ging, während Lilith langsam auf dem Bett zu sich kam.
* »Die Spur, der ich folgte, endete in Rom«, erzählte Enya, »aber die erste Zeit wollte ich noch nicht wahrhaben, daß ich die strenge Witterung des Adlers tatsächlich verloren hatte. Also ging ich jedem noch so kleinen Hinweis nach, um meinen Auftrag doch noch erfüllen zu können … Du hattest klar genug gemacht, daß ein Vampir, der sich in einen Adler verwandelt kann, etwas ganz Besonderes sein muß. Und das ist er wohl auch. Die Toten, die ich fand und denen ich lange Zeit wie Wegmarken folgen konnte, belegen, daß er nicht einfach nur trinkt und tötet wie seine Artgenossen – jedem Opfer, dem ich begegnete, war ein indianisches Symbol ins Fleisch geritzt …« »Indianisch?« Salvat war interessiert – und doch wieder nicht. Die Quintessenz aus Enyas Bericht sagte nichts anderes, als daß ein weiterer der Eindringlinge, die versucht hatten, das Kloster zu infiltrieren und hinter seine behüteten Geheimnisse zu kommen, entwischt war … »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen …« Uns, korrigierte Salvat sie, fast wie in einem Reflex, es geht nicht um mich, es geht um uns … und all die Menschen draußen … »Schon gut. Erhole dich von den Strapazen. Wir unterhalten uns später ausführlich.« »Du bist in Eile?« »Du weißt nicht, was in der Zwischenzeit alles vorgefallen ist«, nickte Salvat. »Die Siegel sind ein zweites Mal gebrochen worden, und der Schutz vor dem, was wir verschlossen halten, ist so porös geworden, daß ich …« Er unterbrach sich.
»Daß du …?« Er lächelte, müde, wie es schien, und dieser Anschein trog nicht im mindesten. »Wir werden darüber sprechen. Über alles. Morgen. Ich bin selbst noch nicht in der Lage, das Puzzle zu durchschauen, das sich Stück für Stück zusammenfügt.« Mit diesen Worten und einem Gruß verließ er Enyas Unterkunft. »Das hast du gut gemacht, meine Liebe«, lobte der Junge, der hinter dem Rücken der Frau hervortrat, als hätte er schon die ganze Zeit dort gestanden. Der Junge, für den es nicht Wände noch Türen gab …
* Salvat war überrascht, als er nach einem kleinen Abstecher in sein privates Reich zum Zimmer der Frau ohne Erinnerung zurückkehrte und sie dort allein vorfand. »Wo ist Adrien?« Die verführerische Frau mit dem schwarzen Haar, den hohen Wangenknochen und den jadegrünen Augen schien noch ganz unter dem Eindruck dessen zu stehen, wie sich Salvat ihr vorhin genähert hatte – als geflügeltes Wesen, das kein Mensch sein konnte. »Er sagte, er müsse noch etwas Unaufschiebbares erledigen«, antwortete sie spröde. »Wenn du mehr wissen willst, mußt du ihn selbst fragen.« Salvat war deshalb so irritiert, weil es nicht Adriens Gepflogenheiten entsprach, sich über Anordnungen hinwegzusetzen. Er hatte bei dieser Frau bleiben sollen, deren Mangel an Erinnerung und die daraus resultierende Hilflosigkeit den Reiz ihrer Ausstrahlung vielleicht noch erhöhte. »Was hast du mitgebracht?« Ihre Frage machte ihm erst wieder selbst bewußt, warum er den Umweg über seine eigenen Räumlichkeiten im Monte Cargano ge-
macht hatte. Fast gewichtlos ruhte das Mitbringsel in seiner rechten Hand. Niemand konnte ihm ansehen, was es vermochte. »Es gehörte dir«, sagte er und überwand die Distanz zwischen sich und dieser mit ihm auf unglaubliche Weise verbundenen Frau wenigstens räumlich. »Ich gebe es dir zurück – auch wenn ich inzwischen kaum noch Hoffnung habe, es könnte den Anstoß geben, deine Erinnerung zu wecken. Nach allem, was ich in dir gelesen habe, wurde deine Persönlichkeit tatsächlich vollständig gelöscht. Zumindest blieb dir aber die Erinnerung an fundamentales Wissen erhalten …« »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst!« Es klang störrisch. Sie war es leid, allem und jedem ausgeliefert zu sein. Er verstand sie. Und trotzdem … Ein kurzer Gedanke genügte, den Klumpen in seiner Hand erblühen zu lassen. Ja, es sah aus, als würden sich die Deckel einer Knospe öffnen, um die wahre Pracht einer Blume offenzulegen. Das Ding in Salvats Hand formte sich in Sekundenschnelle zu einem feinen, seidig glänzenden dünnen Hemdchen, das jeder Haut schmeicheln mußte. »Das … ist ein Trick!« entfuhr es ihr. Mehr bewirkte das Kunststück, das keines war, nicht. »Du irrst dich«, sagte er. »Es ist nicht einmal Zauberei, Lilith, sondern etwas völlig anderes.« »Lilith?« »Dein Name in dieser Zeit: Lilith Eden.« »In welcher Zeit?« »1997.« »Warum haltet ihr mich immer noch zum Narren? Ich suche Antworten, und ihr fügt eine Lüge an die andere … Zuletzt habt ihr behauptet, 1666 –«
»Es ist kompliziert«, rechtfertigte sich Salvat. »Es wird Zeit brauchen, dir alles nahezubringen, was von Bedeutung ist. Du tust dir selbst keinen Gefallen, wenn du eine zu schnelle, zu überstürzte Aufklärung verlangst …« »Das sind doch Ausflüchte!« Er wollte widersprechen. Doch in diesem Moment … verlor sein Gesicht alle Farbe. Er sprang auf. »Wohin gehst du? Bleib! Du kannst doch nicht …?« Salvat beugte sich über sie und berührte ihre Stirn flüchtig mit der Hand, und im gleichen Moment kam große Müdigkeit über Lilith. »Schlafe, bis ich zurück bin«, hörte sie Salvat noch sagen, dann sank sie auf das Laken zurück. Salvat stürmte regelrecht aus dem Zimmer. Niemand hätte ihn in diesem Moment daran hindern können, dorthin zu eilen, wo er einen Freund … sterben fühlte!
* Adrien hatte Enya von dem Moment an mißtraut, als sie ihm nach langer Abwesenheit wieder gegenübergestanden hatte – ohne daß er allerdings hätte sagen können, was genau sein Mißtrauen weckte. Als sich Salvat zu Enya begeben hatte, war er ihm unbemerkt gefolgt. Die Frau ohne Erinnerung allein zu lassen, erschien ihm vertretbar. Ein Mann wie Adrien verfügte nicht nur über die Erfahrung des Alters, sondern darüber hinaus – wie alle Brüder und Schwestern des Ordens – über besondere Fähigkeiten. Bei ihm war es die Gabe, sich kurzzeitig und auf relativ kurze Distanz aus seinem eigenen Körper zu entfernen. Der Vorgang ähnelte dem von Menschen, die Nahtoderlebnisse hatten und dabei weiterhin alles »hören« und »sehen« konnten, was sich um sie herum abspielte, obwohl sie dem Empfinden nach außerhalb ihres Körpers
schwebten. Salvat wartete in einer leerstehenden Kammer neben Enyas Unterkunft ab, bis Salvat wieder gegangen war. Dann steuerte er seine Astralsinne vorsichtig durch die trennenden Wände. Die Art und Weise, wie er sein Mißtrauen bestätigt fand, befriedigte ihn in keiner Weise. Was er belauschte, entlarvte Enya in furchtbarerer Weise als Verräterin, als Adrien es selbst für möglich gehalten hätte … Ich muß Salvat warnen, dachte er, als er seine Sinne von drüben zurückzog. Wenn er nicht sofort etwas unternimmt – Er verließ die Kammer. Dort aber verstellte ihm jemand den Weg. Ein kleiner Junge, der freundlich, doch bestimmt sagte: »Nicht so eilig, alter Mann … Ruh dich aus! Greise wie du sollten nicht mehr rennen, geschweige denn sich aufregen …«
* Obschon die Echos der Schreie längst verklungen waren, meinte Salvat, sie noch immer zu hören. Vielleicht würden sie für ihn niemals mehr gänzlich verklingen. Sowohl die Stimme als auch die Bedeutung des Schreiens hatte er unschwer erkannt. Geschrien hatte sein alter Freund Adrien. Und die Art und Weise, in der er es getan hatte, ließ einzig den Schluß zu, daß er, Salvat, nie mehr etwas von Adrien hören würde. Die ohnmächtige Wut darüber, daß er es nicht hatte verhindern können, überwog für endlose Sekunden seine Trauer. Dann blieb ihm nur noch eines zu tun – Abschied zu nehmen von seinem treuen Gefährten Adrien … Der Körper war nicht mehr als ein dunkles Etwas inmitten des Korridors, als Salvat sich ihm näherte. Mit menschlichen Konturen
hatte er kaum etwas gemein, und als Salvat endlich nahe genug war, um Details zu erkennen, wollte selbst er, der schon die übelsten Dinge dieser Welt gesehen hatte, sich mit Grausen abwenden. Wer auch die Verantwortung trug, er hatte Adrien nicht schlicht ermordet. Er hatte ihn – ja, was? Selbst hingerichtet schien Salvat in seinem Schmerz und Entsetzen nicht das rechte Wort. Vielmehr war Adrien auf unglaublich abartige Weise zu Tode vergewaltigt worden! Eine unvorstellbare Macht hatte seinen Leib regelrecht gewendet! Das Innerste war ihm auf unmögliche Weise nach außen gekehrt worden. Was vor den Blicken anderer für gewöhnlich durch die Haut verborgen war, lag nun offen da – rohes Fleisch, zerfetztes Aderwerk … Das Gesicht war eine blutige Maske, in der sogar die Augäpfel umgedreht worden waren, so daß sie nun wie rosaschlierige Halbkugeln darin klebten … … und Adriens Herz hockte ihm bloßgelegt auf den umgestülpten Rippen, einer kaum faustgroßen und lebenden Kreatur gleich – denn obgleich es nicht sein konnte, pochte es noch, als Salvat sich hinzusehen zwang. So manches Mal hatte Salvat Gestorbenen schon den Dienst erwiesen und ihnen die Augen geschlossen. Nie jedoch hatte er solches an einem Toten auf diese Weise verrichten müssen: Aufstöhnend kniete er nieder und griff nach Adriens Herz. Seine Finger schlossen sich um das zuckende Gebilde und – drückten zu. Erst nach einer Weile vermochte Salvat sich soweit zu sammeln, daß er irgend etwas anderes empfinden konnte als Schmerz und Trauer. Während er den Blick noch immer nicht von seinem toten Freund ließ, sondierte er mit anderen Sinnen die Umgebung, suchte er nach Resten dessen, was hier auf so grauenhafte Weise gewirkt hatte. Es fiel ihm nicht schwer, diese Rückstände aufzuspüren. Dazu waren sie zu präsent und zeugten von solcher Gewalt, daß selbst ein
gewöhnlicher Mensch sie unweigerlich empfunden hätte. Ein Mensch wäre daran vielleicht zugrunde gegangen. Zumindest aber hätte sein Geist Schaden genommen, von dem er nie mehr genesen würde. Salvat erschienen sie wie ein kalter Hauch, der sich hier für alle Zeit manifestiert hatte. Und er erkannte, ganz so, als könnte er es rückblickend tatsächlich sehen, wer hier am Werke gewesen war. »Alles ist viel weiter fortgeschritten, als ich es angenommen hatte«, sagte er leise und ganz in der Art, wie er sich stets mit Adrien unterhalten hatte. Einen Moment lang schwieg er, als würde Adrien ihm noch antworten können. Dann erst fuhr er fort, und nichts in seinen Worten verriet etwas von der Schwere ihrer Bedeutung: »Es hat keinen Sinn mehr, an der alten Art festzuhalten, das Tor zu sichern.« Wieder sekundenlange Stille. Dann: »Ich muß einen ganz neuen Weg beschreiten. Einen, von dem ich hoffte, ihn nie auch nur in Erwägung ziehen zu müssen –« Die weiteren Worte kamen ihm nun doch hörbar schwer von den Lippen, und sie tropften mit dem Gewicht flüssigen Bleis in die Totenstille. »– den Weg der Verzweiflung.« Fast ruckartig erhob Salvat sich. Trotzdem schritt er nur langsam davon. Ganz so, als würde jeder einzelne Schritt selbst seine Kraft übersteigen. Weil sogar ein Wesen wie Salvat in all der Zeit, die er unter ihnen zugebracht hatte, sich den Menschen soweit angeglichen hatte, daß er am eigenen Leben hing …
* Nie zuvor hatten sich so viele Illuminaten zugleich in der Inneren � Halle eingefunden. Im Gegenteil hatten die wenigsten je ihren Fuß �
auch nur an diesen Ort gesetzt. Denn bislang war er allein den Wächtern und ein paar wenigen Auserwählten vorbehalten gewesen. Doch die Zeiten hatten sich gravierend geändert. So hatte Salvat nun alle Ordensmitglieder von ihren Aufgaben abberufen und hierher befohlen. Keiner von ihnen wußte, was ihren Führer dazu bewogen hatte, doch jeder ahnte, daß es ein Grund von immenser Bedeutung sein mußte, der Salvat mit aller Tradition brechen ließ. Nun stand er vor ihnen, das Tor im Rücken, und sah man nun beide – Salvat und Tor – auf einen Blick, schien das Heiligtum wenigstens einen kleinen Teil seiner gewaltigen Präsenz einzubüßen. Salvat hatte sich dem Anschein nach zwar nicht verändert, aber irgend etwas war unsichtbar um ihn her, das ihn beeindruckender denn je erscheinen ließ. Er machte nicht länger ein Geheimnis darum, weshalb er die Brüder und Schwestern hatte rufen lassen. »Wir können das Tor nicht länger auf herkömmliche Weise sichern«, erklärte er ohne Umschweife. »Die Macht, die dahinter eingeschlossen ist und um deren wahres Wesen auch ich nicht wirklich weiß, ist solcherart gewachsen und zur Gefahr geworden, daß wir ihr nur noch auf eine Weise Einhalt gebieten können.« Einen Moment lang hielt er inne, derweil niemand unter den Versammelten wagte, ihn zum Weiterreden aufzufordern oder auch nur eine Frage zu stellen. Ihr Schweigen war erwartungsvoll und lastend in einem. Mit fast beiläufiger Geste wies Salvat schließlich auf das Tor, das hinter ihm haushoch aufwuchs. »Wir müssen es auf eine Weise versiegeln, die nie und durch nichts zu brechen sein wird. Eure Kräfte und die meinen sollen zu diesem Zwecke verschmelzen. Eure besonderen Energien werden in mich fließen und –« Er ließ den Rest unausgesprochen, weil er es nicht fertigbrachte,
die Konsequenz des Planes zu benennen. Nun sprach doch einer aus der Versammlung. Bruder Banshee war es, der fragte: »Wie soll das angehen?« Dabei war seinem Tonfall zu entnehmen, daß es ihm gar nicht so sehr um die Frage des Funktionierens ging, sondern daß er die Folgen, die solch eine Ballung von Kraft zeitigen konnte, fürchtete. Salvat nickte ihm zu, zum Zeichen dafür, daß er seine Befürchtungen verstanden hatte und durchaus teilte. »Betet, daß es so klappt, wie ich es mir vorstelle«, sagte er leise. Dann fuhr er lauter fort, und in befehlendem Ton: »Reinigt eure Energie, laßt sie fließen frei von allem, wofür ihr sie sonst genutzt habt. Vergeßt euer besonderes Talent und konzentriert euch allein auf die Kraft dahinter. Und dann – richtet alle Kräfte allein auf mich!« Damit riß er sein Gewand vor der Brust entzwei, teilte es bis zu den Füßen hin, so daß es ihm schließlich von den Schultern und zu Boden glitt. Zum allerersten Mal offenbarte er allen sein wahres Wesen. Nackt stellte er sich mit dem Rücken gegen das Tor. Sein Rückgrat fügte sich in den Spalt zwischen dessen Hälften. Die Arme breitete er nach links und rechts aus, als würde er gekreuzigt. Und dann – – entwuchsen seinen Schulterblättern knirschend jene Geflechte aus schwarzem Aderwerk. Wimmelnd wie Schlangen krochen sie von ihm fort und über das Tor, bis sie es ganz und gar überwuchert hatten. Jeder einzelne Strang bohrte sich hinein in das geschwärzte Holz. Dann zogen sie sich ein wenig zusammen, schwarzen Muskelsträngen gleich, so daß Salvat angehoben wurde, bis er endlich im Zentrum des Tores hing, das fast zur Gänze unter schwarzglänzendem Gewimmel verborgen lag. »Salvat …« Obwohl Bruder Banshee für seine Verhältnisse doch nur flüsterte, dröhnte seine Stimme wie Donner durch die Innere Halle.
Salvat sah zu ihm hinab. Bruder Banshees roter Schopf leuchtete fast in der Menge der Versammelten. »Was hier geschehen wird –«, Banshee stockte, »– es wird dein Leben kosten, nicht wahr?« Salvat nickte mühsam. Nicht, weil ihm die Bewegung als solche schwerfiel, sondern allein ihrer Bedeutung wegen. »Es gibt keinen anderen Weg«, antwortete er gepreßt. »Es muß einen geben!« schrie der irischstämmige Illuminate. »Tut endlich, was ich euch befohlen habe!« Salvats Stimme schlug selbst Banshees Organ um Längen. Und etwas darin brach allen Widerstand und alles Sträuben. Energien begannen zu fließen. Erst kriechend, dann steter. Sie erreichten Salvat und drangen in ihn. Doch sein Leib war ihnen nur Transmitter. Sie verließen ihn und flossen in das monströse Geflecht, das ihn am Tor hielt wie hingenagelt. Es wurde zum Aderwerk für die gesammelte Kraft der Illuminati. Ihre gemeinsame Konzentration war das Herz, das die Energien vorwärtspumpte, durch die Adern, hinein ins Tor … Irgendwann würde es gesättigt sein. Und dann würde Salvat selbst das letzte, allmächtige Siegel abgeben. Bis dahin jedoch würde noch eine Weile vergehen … Salvats Gedanken schweiften ab. Weit ab. Weit – – zurück … Jahrhunderte bedeuteten Salvat, was einem Menschen das Gestern war. Doch seine Gedanken eilten weiter, bis hin in eine Zeit, die kurz hinter den Anfängen allen Lebens lag …
3. Der Sturz des Engels Wir wandelten mitten unter ihnen, doch kaum ein Mensch war je eines der unseren ansichtig geworden. Und wenn es doch geschah – selten genug und nur, wenn uns kein anderer Weg mehr blieb –, dann wurde diesen wenigen Männern und Frauen alles nur Denkbare nachgesagt; allein rechten Glauben wollte ihnen niemand schenken. Für weltferne Phantasten hielt man jene, denen wir uns offenbart hatten, wenn sie es nur wagten, von diesen gleichsam ungeheuerlichen wie im wörtlichen Sinne wunderbaren Begegnungen zu erzählen. Uns selbst kam dieser Zweifel seitens der Menschheit ganz zupaß. Denn es wäre unserer Aufgabe gewiß nicht zuträglich gewesen, hätte alle Welt unser Dasein und Wesen als gegeben und selbstverständlich angenommen. Der Mensch hätte aus solcher Gewißheit unweigerlich – so ist es nun einmal seine Art – eine bequeme Verläßlichkeit abgeleitet und sich ganz und gar in unsere Hand gegeben. Eben dies entsprach aber nicht unserem Auftrag, der Sein Wille war. Wir waren einzig beobachtende Wächter, zumeist jedenfalls. Zu handeln stand nur auf unserem Plan, wenn ärgstes Übel drohte, wenn Seine Schöpfung selbst bedroht war. Aber auch solche Gefahren sollten, wollten und konnten wir nicht schlicht abwenden oder gar ungeschehen machen, sondern allenfalls in gemäßigtere Bahnen leiten, auf daß die Menschen der Bedrohung letztlich aus eigener Kraft und freiem Willen Herr wurden. Nur in ganz wenigen Fällen griff der eine oder andere aus unserer Schar aus geringerem Anlaß ein und stand einem einzelnen Menschen bei. Nicht alle der unseren hießen solche Eigenmacht gut. Aber letztlich stimmten wir doch darin überein, daß solches Handeln vor allem auch einem Zwecke diente: Der Mensch erinnerte sich seines Glaubens, wurde sich jener Macht bewußt, auf die er, obschon sie ihm unbegreiflich war, vertrauen durfte. Eines indes durften wir uns nie anmaßen, und wir mußten uns hüten, auch nur den
Eindruck zu erwecken: Niemals sollte der Mensch in uns Ihn selbst sehen! Wir waren allein Seine Boten; von Ihm gesetzte und hinterlassene Zeichen, vage Echos Seiner Präsenz. Unsere Macht war gottgegeben, doch weder war sie göttlich noch gar gottgleich. Dessen sollten wir uns auf ewig erinnern. Gott mochte Seine Schöpfung verlassen haben. Aber Er hatte die Menschen und ihre Welt nicht allein gelassen. Beider Geschicke hatte Er in gute Hände gelegt. Glaubte Er …
* Monte Cargano, heute Enya wußte, was sie zu tun hatte. Niemand hatte bemerkt, daß sie heimliche Zeugin der Ereignisse in der Inneren Halle geworden war. Die Präsenz jener Macht hinter dem Tor hatte längst jeden Quadratzoll innerhalb der Mauern solcherart vergiftet, daß Enyas Andersartigkeit darin unterging und mithin unbemerkt blieb. Was Salvat nun plante, konnte ihrem Herrn alles verderben. Konnte das Schicksal der Welt noch ändern. Es war an ihr, etwas dagegen zu unternehmen. Und Enya kannte sich in Monte Cargano gut genug aus, um ein geeignetes Mittel dafür zu finden. Ungehindert konnte sie jenen Raum des Klosters betreten, der zu seinen größten Geheimnissen zählte. Das Arsenal! Für gewöhnlich war es gut bewacht. Jetzt indes traf Enya auf keinen Wächter. Und die anderweitigen Sicherungsvorkehrungen wa-
ren ihr als ehemaliger Illuminatin vertraut genug, um sie umgehen zu können. Das Arsenal mochte nicht unbedingt die größte Waffenkammer der Welt sein. Aber es war gewiß jene, in der die gefährlichsten Waffen lagerten, die es je gegeben hatte. Von vielen wußte die Welt draußen sogar. Allein an ihre tatsächliche Existenz wollte niemand glauben. Die Menschen hielten sie für erfundene Teile jener Legenden, in denen sie eine Rolle spielten; für die Fiktion phantasiebegabter Erzähler, deren Geschichten die Zeit überdauert hatten. Die meisten jener phantastischen Dinge gab es wirklich. Und hier waren sie zusammengetragen worden, auf daß niemand anderer sie fand und mißbrauchte. Enya hatte nun die freie Auswahl. Ungestört traf sie ihre Wahl. Und sie nahm sich eine Waffe, deren Macht groß genug sein mußte, um selbst Salvat zu vernichten. Denn schließlich war damit einst sogar eine Inkarnation des Leibhaftigen erschlagen worden. Als er in der Gestalt eines Drachens die Welt heimgesucht hatte …
* Enya war nicht allein auf dem Weg zum dunklen Herzen des Monte Cargano. Von überall her strömten die Männer und Frauen des Ordens, um Salvats Ruf in die Innere Halle zu folgen. Zweimal entging sie der Entdeckung noch in den oberirdischen Klosteranlagen um Haaresbreite, weil sie sich im letzten Moment in eine Nische drücken konnte. Beim dritten Mal aber … »Wofür brauchst du den Drachentöter …?« Enya blieb wie vom Donner gerührt stehen. Hinter ihr kamen Schritte näher. Ein junger Mann, den sie vom Sehen kannte, mit dem
sie aber bislang kaum mehr als drei Worte gewechselt hatte. Sein Name war Aurel. Sie drehte sich zu ihm um und log, ohne das geringste Schwanken in ihrer Stimme: »Salvat hat mich gebeten, es ihm zu bringen.« »Das verstehe ich nicht.« Aurels Augen ließen nicht ab von ihrem Gesicht. Das Schwert selbst beachtete er, nachdem er es erkannt hatte, überhaupt nicht mehr. Dafür bezahlte er mit dem Leben. Enya stieß es ihm mitten durchs Herz – so schnell und so treffsicher, daß es keiner besonderen Klinge wie dieser bedurft hätte, Aurels Tod herbeizuführen. Mit einem kurzen, sofort wieder verebbenden Röcheln stürzte der Illuminat zu Boden. Das Schwert in Enyas Händen beschrieb den Weg, den der Tote nahm, mit, so daß die Klinge wie von selbst aus dem Leichnam herausrutschte. Enya fragte sich sekundenlang, warum nicht ein einziger Tropfen von Aurels Blut an dem Stahl glänzte, was damit geschehen war … Da hörte sie schon die nächsten Schritte – und handelte. Unweit lag eine Tür. Dorthin schleifte Enya den Toten samt dem Schwert. Es war nicht wirklich Glück, daß die Tür unverschlossen war – immerhin gab es kaum eine verriegelte Tür innerhalb des Klosters. So schnell sie konnte, tauchte Enya mit ihrer Last in den dahinterliegenden Raum und drückte die Tür so geräuschlos wie möglich hinter sich wieder zu. Erst danach wurde ihr klar, daß der Raum nicht so verlassen war, wie sie es sich gewünscht hätte …
* Lilith erwachte. Sie konnte es glauben oder nicht, daß sie diese »Lilith« war, aber
gerade hatte sie geträumt, es wäre wahr, was sie aus Salvats Mund erfahren hatte, wenn es auch noch nicht die ganze Wahrheit sein konnte, und nun … … schlug sie die Augen auf und erblickte die Fremde, die mit raubtierhaften Sprüngen von der Tür her auf sie zu jagte. An ihrem heranhuschenden Schemen vorbei sah Lilith in dem trüben Licht der Lampe, in dem sie eingenickt war, einen leblosen Mann in Türnähe liegen, gegen ihn ein Schwert gelehnt … Als draußen auf dem Korridor Schritte aufklangen, holte die Frau ohne Erinnerung zu einem Hilfeschrei aus. Aber zu spät. Sie hatte bereits zu lange gezögert. Die Schönheit auf den Zügen der Unbekannten starb endgültig, während sie sich vom Boden abstieß und auf ihr Opfer warf. Lilith war nicht einmal mehr imstande, zur Seite zu rollen. Grell stachen Zähne aus einem grimassenhaft verzerrten Mund. Das ganze Gebiß der unheimlichen Angreiferin wirkte in der einen schrecklichen Sekunde, die der Sprung dauerte, wie eine straff gespannte Falle, die – falls sie zuschnappte – nichts mehr von Liliths Kehle übriglassen würde. Und dann schnappte sie zu, noch während Lilith unter der Wucht, mit der der Tod sein Gewicht auf sie fallen ließ, tief in die Matratze gedrückt wurde …
* Enya glaubte bereits das Blutaroma im Mund zu schmecken, das ihr so vertraut war, seit sie mit Hidden Moon zusammen war … Doch dann stachen Schmerzen durch ihre Kiefer, als hätte sie versucht, einen Stein zu zerkauen! Bei der Wahrheit jenseits der Schwelle, dachte sie zurückzuckend, was ist DAS? Fast beiläufig glaubte Enya zu begreifen, wer die Schlafende war,
die von ihrem zufälligen Eindringen in dieses Zimmer geweckt worden war. Hidden Moon hatte viel und ausführlich von ihr gesprochen, es für möglich gehalten, daß sie sich noch hier aufhielt, und auch das sonderbare Mimikrywesen nicht unerwähnt gelassen, das jene Lilith wie ein beliebig veränderliches Kleidungsstück am Körper trug … Aber er hatte mit keinem Wort davon gesprochen, daß es dazu fähig war! Enya glitt vom Bett, zurück zur Tür, wo die einzige Waffe lag, die noch imstande war, diesen sonderbaren Panzer zu knacken, der den Körper der Frau von Kopf bis Fuß überzogen hatte. Lückenlos! Lilith (wenn es Lilith war) schien sich durch die schwarze, lichtschluckende Kruste, die sie blitzschnell umhüllt hatte, selbst nicht mehr rühren zu können. Wie eine düstere Ikone lag sie auf dem Bett. Vermeintlich geschützt, aber auch wehrlos … Enya erreichte Aurel und griff nach dem Schwert, das quer über ihm lag. Dann – zögerte sie. So sehr sie sich auch wünschte, die Widerstandsfähigkeit jenes Panzers zu erproben und eine Rivalin aus dem Weg zu räumen, so bewußt war ihr auch das Risiko. Was, wenn der Panzer dem Schwert nicht nur widerstand, sondern es sogar in Mitleidenschaft zog, es … zerstörte? Mochte dies auch noch so unwahrscheinlich sein – selbst der leiseste Zweifel verbot es, daß sich Enya zu etwas verleiten ließ, was Gabriels Auftrag der Gefahr aussetzte, zu scheitern. Enya umklammerte das Schwert mit einer Hand, öffnete die Tür und glitt zurück auf den Gang, auf dem die Schritte sonstiger Illuminaten verklungen waren. Vielleicht war sie die letzte des Ordens, die sich noch nicht diesseits des Tors eingefunden hatte. Das würde sich ändern …
* � Es war, als würden sich tausend winzig kleine stählerne Haken unter ihre Haut schieben und – – zur Bewegungslosigkeit verdammen! Lilith hatte nicht erwartet, daß sich Salvats Behauptung, das federleichte Etwas, das sich vor ihren Augen aus einem formlosen Klumpen gebildet hatte, sei zu noch ganz anderer Verwandlung fähig, so bald und so dramatisch bestätigen würde! Zu irgend etwas hatte es sich verwandelt! Und offenkundig hatte dieses Etwas seine Trägerin – und sich selbst? – vor größerem Schaden bewahrt! Lilith konnte nicht genau abschätzen, wie lange ihr schwarz vor Augen und sie unfähig gewesen war, auch nur die geringste Bewegung auszuführen. Aber als der Panzer sich öffnete, als die Schwärze, von der sie hauteng ummantelt gewesen war, von ihr wich und sich zu jenem vermeintlich simplen Wäschestück zurückbildete, in dem sie eingeschlafen war … … war sie allein. Mit einem Toten. Der Anblick des Mannes neben der Tür, in dessen Rücken eine Wunde klaffte, versetzte Lilith in solche Panik, daß sie laut schreiend aus der Tür floh. Nach einer Weile wurde ihr die Stille im Kloster bewußt – und auch, daß niemand auf ihr Schreien reagierte. »Adrien …?« Sie rief bedenkenlos nach dem Mann, von dessen Schicksal sie noch nichts wußte. »Hört mich denn niemand? Hilfe! Salvat …?« Niemand antwortete. Das ganze Kloster wirkte wie ausgestorben. Und noch während Lilith suchend die Gänge durchirrte, wuchs
von tief unten ein Beben zu ihr herauf, das den uralten Steinen Geräusche entlockte, die sich anhörten, als brächen Knochen – als stürbe ein Geschöpf …
* Salvats Erinnerungen Ich schritt über den erdfarbenen Stein einer Wüstenei ohne Anfang und Ende. Der dunkellockige Jüngling an meiner Seite indes mochte seine Schritte über gänzlich anderen Boden lenken. Vielleicht spürte er saftiges Gras unter seinen Füßen, vielleicht schlenderte er aber auch durch eine Stadt, deren Leben um ihn her floß und pulsierte. Ich wußte es nicht und hatte auch kein tieferes Interesse daran, es zu erfahren. Denn die Welt, die er sich erkoren hatte, war so wenig wirklich wie die meine. Beide waren nur ein Gedanke, mit dem wir die uns überlassene Sphäre solcherart dekorierten, wie es uns gefiel. Denn ihr tatsächliches Antlitz war so karg und garstig, daß nicht einmal wir es schauen mochten. So war es also möglich, daß wir nebeneinander einhergehen konnten und doch ein jeder in seiner selbstgestalteten Welt blieb – in seiner ganz eigenen Idee einer Wirklichkeit. Auf ähnliche Weise verhielt es sich mit unseren Gesichtern und Körpern. Auch sie waren kaum mehr als Maskerade. Der Jüngling an meiner Seite etwa war so wenig jung und von wohlfeiler Gestalt wie ich tatsächlich einem altgedienten Krieger glich, der seine Kraft noch lange nicht verloren hatte. Daß wir unser Äußeres nach menschlichem Vorbild formten, mochte etliche Gründe haben, die ich entweder nie wußte oder längst vergessen habe. Das heißt … eines möglichen Motivs entsinne ich mich doch: Vielleicht führen wir uns durch diese Gepflogenheit immer wieder vor Augen, wen zu schützen und zu helfen wir zu-
rückgelassen wurden. Es mochte aber auch so sein, daß wir uns den Menschen anglichen, um ihnen näher zu sein – näher als Ihm … Und somit meinten wir wohl, der Schritt, sich mit Ihm auf eine Stufe stellen zu wollen, müßte uns zu groß erscheinen, als daß wir ihn wagen könnten. So zumindest dachte ich. Blinder Narr, der ich letztlich doch war … Staub und Stein knirschten unter unseren Schritten, als wir Seite an Seite dahingingen, und die Geräusche stiegen so schwerfällig an unser beider Ohren, als besäßen sie tatsächliches Gewicht. Denn mochten wir uns auch der Illusion hingeben, durch Landschaften zu gehen, so schritten wir doch nur über den öden Boden unserer ureigenen Welt und atmeten ihre spärliche Luft. Wir konnten sie nicht wirklich ändern und hätten es auch nie gedurft. Denn es hätte bedeutet, an Seiner Schöpfung selbst zu rühren. »Er hätte die Menschen und ihre Welt nicht verlassen sollen. Noch nicht …« Die Worte meines Gefährten drangen zu mir wie von weit her, obwohl er allenfalls zwei Schritte neben mir ging – aber eben doch nur zu gehen schien. »Er hätte sie auf den rechten Weg bringen sollen«, fuhr er fort, als ich nur mit Schweigen antwortete. »Denn was die Menschheit treibt, kann nicht in Seinem Sinne sein. Sie treten Seine Gebote bei fast allem, was sie tun, mit Füßen. Sie töten einander, und Nächstenliebe scheint ihnen fremd, es sei denn, sie dient dem eigenen Nutzen …« Ich vollführte eine Geste, als wär’s mir gleich. Aber so war es freilich nicht. Mir lagen die Menschen nicht minder am Herzen als jedem anderen aus unserer Schar, allein deshalb schon, weil ich nicht anders empfinden konnte. Dennoch schien mein Verständnis für Seinen Willen ein klein wenig ausgeprägter als das eines manchen anderen. »Nun«, sagte ich, »vielleicht entsprechen sie gerade damit letztlich
doch Seinem Sinn …« »Wie könnten sie, wenn sie doch alles zerstören, was Er ihnen gegeben hat – ihr Leben selbst mit eingeschlossen?« fuhr mein Begleiter auf. »Könnte es nicht eine Prüfung sein, die Er ihnen auferlegt hat?« versuchte ich ihn auf meine Lesart zu bringen. »Welcher Art sollte eine solche Prüfung sein?« entgegnete er. »Glaubst du, Er möchte wissen, wie lange sie brauchen, um sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen? Wieviel Zeit vergeht, bis der letzte Mensch den vorletzten getötet hat?« Ich nickte, still lächelnd. »Ganz recht, mein Freund. Und wenn dies geschehen ist, hat die Menschheit ihrem Schöpfer bewiesen, daß sie des Lebens nicht wert war.« »Ist es nicht an uns, ein solches Ende zu verhindern?« »Darüber habe ich so manches Mal nachgedacht«, erwiderte ich nach einer Weile, in der ich mir geeignete Worte zurechtgelegt hatte. »Und zu welchem Schluß bist du gelangt?« drängte er mich. »Ich glaube nicht, daß es unsere Aufgabe ist, das Ende der Menschheit abzuwenden, wenn sie selbst mit aller Macht darauf zustrebt. Wir sollen Sein Werk behüten, Seine Schöpfung vor Schaden bewahren. Der Mensch indes ist nur ein geringer Teil dieser Schöpfung, auch wenn er sich selbst nach eigenem Bekunden für ihre Krönung halten mag. Würde also alles menschliche Leben auf Erden verlöschen, so gäbe es für uns doch noch genug, auf das wir zu achten hätten. Und wer weiß – vielleicht würden Andere, Klügere nach diesen Menschen kommen, die sich der Ehre bewußt wären, die es bedeutet, eine Welt zum Geschenk zu bekommen.« »So meinst du also, wir sollten keinen Krieg verhindern, um …« Ich hob einhaltend die Hand. »Das habe ich nicht gesagt«, betonte ich. »Ich glaube nur nicht, daß wir hingehen sollten, um solcherlei Wahnsinn durch eigenes Ein-
greifen zu unterbinden.« »Sondern?« »Wäre es nicht geschickter, einen Einzelnen unter jenen, die den Krieg schüren, zur Einsicht zu bringen, auf daß er andere bekehrt und seine gewonnene Sicht der Dinge mit ihnen teilt?« »Ein langwieriges Unterfangen …« »Aber auch ein lohnendes. Denn wer die eigene Dummheit verstanden hat und sie ablegt, wird keinen anderen damit vergiften. Und er wird sie auch nicht an seine Kinder und Kindeskinder weitergeben, sondern sie Klugheit und Vernunft lehren«, meinte ich überzeugt, ohne jedoch belehrend zu sein. So wie ich mir wünschte, daß die Menschen zur Einsicht gelangten, hielt ich es auch im Umgang mit meinesgleichen. Nur wer aus sich heraus zu verstehen imstande war, würde das Verstandene auch verinnerlichen und zur Erkenntnis erheben. Doch mein Begleiter schüttelte den Kopf, zögernd, und in seinen Zügen entdeckte ich eine Art von Mißmut, die mir nicht nur nicht gefiel, sondern die mich auf unbestimmte Weise beunruhigte. Eine Weile gingen wir stumm nebeneinander her. Ich überlegte, ob ich meinen Worten noch ein wenig Nachdruck verleihen sollte und wollte es schließlich auch tun, als mein Begleiter das Schweigen brach. »Manchmal wünschte ich, wir würden unsere Macht in stärkerem Maße gebrauchen.« »Wir könnten sie allzu leicht mißbrauchen«, gab ich zu bedenken. »Wer will solchen Mißbrauch definieren?« entgegnete er. »Wir selbst müßten es tun.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, was sollten wir uns vorwerfen, die Menschen auf den rechten Pfad zu führen. Angst etwa wäre ein recht geeignetes Mittel, sie zur Besinnung zu bringen. Und wenn sich aus ihrem Volk niemand findet, der es zu führen vermag, dann sollten wir selbst diese Rolle übernehmen.«
Ich erschrak, ein kleines bißchen nur, und ich kaschierte es mit einem nachsichtigen Lächeln. »Damit würden wir gegen alles verstoßen, was uns heilige Pflicht ist und bleiben muß.« Ich blieb stehen und wartete, bis auch er verhielt und sich zu mir umdrehte. »Denke über meine Worte von vorhin nach, und du wirst sehen, daß allein sie in Seinem Sinne sind«, sagte ich dann, bemüht, nicht in einen allzu beschwörenden Ton zu fallen. »Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er. »Aber ich bin nicht sicher, ob ich deine Ansichten werde teilen können.« Ich nickte zuversichtlich und wollte zu einer Entgegnung ansetzen, als mein Gegenüber sich abwandte und in einer dunklen Kluft verschwand, die eben noch nicht dagewesen war. In der von mir gestalteten Welt glich sie einem Felsspalt, in der seinen mochte sie eine gewöhnliche Tür oder eben etwas sein, das sich in die von ihm ersonnene Illusion einfügte. Wie auch immer, das Ziel blieb sich gleich – er war hinübergegangen aus unserer Sphäre in die Welt der Menschen. Ich sah es mit vager Sorge und sprach die Worte, die ich ihm noch hatte sagen wollen, doch aus, obgleich er sie nicht mehr hören konnte: »Du wirst zur Einsicht kommen, mein Bruder Luzifer …«
* Unser Gespräch mochte der Anfang allen Übels gewesen sein. Vielleicht hätte ich zu jenem Zeitpunkt die Zeichen richtig deuten und entsprechend handeln müssen. Vielleicht hätte es in meiner Hand gelegen, den Lauf der Dinge zu verändern. Vielleicht auch nicht … Heute bin ich mir dessen fast gewiß, daß ich mit Worten nichts mehr aufzuhalten vermocht hätte. Andererseits scheint mir diese
Gewißheit ebenso schal wie bitter. Denn im Grunde ist der zwanghafte Glaube daran wohl nichts anderes als der klägliche Versuch, mich von Schuld freisprechen zu wollen … Wie sich alles im einzelnen fortentwickelt hatte, wußte ich nicht, zumindest nicht aus eigener Anschauung und Erfahrung. Manches von dem, was sich damals (und ich verwende dieses Damals in gänzlich anderem, tausendfach größerem Sinn, als irgendein Mensch es tun würde!) ereignet haben mußte, habe ich mir im nachhinein zusammengereimt, so es mir nicht von anderer Seite zugetragen worden war. Alles in allem habe ich jedoch eine geradezu erschreckend lebendige Vorstellung von jenen Ereignissen, die Auftakt waren für das Ärgste, was je hatte geschehen können – – –
* Die Menschheit war noch jung in jenen Tagen. Sie hatte die Macht, die ihr gegeben worden war, noch längst nicht in ganzer Fülle erkannt. Und so, wie die Menschen sich gebärdeten, würden sie es vielleicht niemals tun. Aus dem einfachen Grund, weil ihr Geschlecht nicht lange genug überdauern würde. Denn einer ganz bestimmten Kraft waren sie sich durchaus schon bewußt. Und sie nutzten sie mehr als alles andere – – die Kraft des Stärkeren! Sehr bald schon hatten die Menschen begriffen, daß es diese Kraft war, die einem die Macht gab, sich über andere zu erheben und sie zu zwingen, Dinge zu tun, die man selbst nicht tun wollte. Darüber hinaus konnte man jene, die im Kampf bezwungen worden waren, all der Dinge berauben, die man selbst entbehrte – Nahrung und Vieh, Werkzeug, Waffen und dergleichen mehr. Etliche, deren eigene Kraft nicht genügte, um sich im Kampf zu behaupten, schlossen sich Stärkeren an, und so entstanden Horden
und Stämme. Große Gemeinschaften also, die Raum zum Leben brauchten, und je größer diese Gruppen wurden, desto mehr Land beanspruchten sie. Und wenn sie es nicht brachliegend fanden, dann nahmen sie es anderen ab – in immer blutiger werdenden Schlachten, die wiederum die Zahl der Stammesangehörigen dezimierten, so daß sie eine Weile lang mit weniger Boden zurechtkamen. Aber eben nur für eine Weile … Ein Ende würden die Kämpfe nie finden. Denn es wäre nur ein Grund denkbar gewesen, der zum Frieden hätte führen können: Wenn alle Stämme sich vereint und das Land brüderlich unter sich aufgeteilt hätten. Aber dieser Grund war eben nur denkbar – nicht jedoch vorstellbar … Loork indes weigerte sich, auch nur daran zu denken. Dazu bereitete ihm das Töten viel zu große Freude, und er war so oft siegreich aus Schlachten hervorgegangen, daß er den Triumph, der damit einherging, nie mehr hätte missen wollen. Es sei denn, sinnierte er, derweil ihm Jamahlias samtene Zunge durch das fast borstige Brusthaar fuhr, die Stämme härten sich unter seiner Führung geeint. Das jedoch war Zukunftsmusik. Obwohl – wenn der Plan, den er in diesen Tagen hegte, sich erfüllen ließ, dann mochte seine allumfassende Herrschaft nicht einmal so abwegig sein, wie sie ihm im Moment noch schien. Darüber aber würde er erst dann weiter nachsinnen, wenn es an der Zeit war. Jetzt zählte allein jener Kampf, der in dieser Nacht anstand. Sobald Jamahlia ihm all die Säfte entlockt hatte, die ihm in der Schlacht nur Ballast wären, würde er seinem Stamm das Zeichen zum Angriff geben. Dann würden sie über jene herfallen, die sich jenseits der Hügel niedergelassen hatten, und ihnen alles nehmen, was sie besaßen – vom Hab und Gut bis hin zum Leben. Während das Mädchen, dem das Gesicht und Wesen einer wilden Katze zueigen waren, ihn mit Lippen und Fingern verwöhnte, beob-
achtete Loork das Spiel aus Licht und Schatten, mit dem die Feuer des Lagers die Nacht belebten. Geisterhafte Gestalten schienen im Finstern um sie her zu tanzen, krochen über die dünnen Wände der aus Fellen und Hölzern errichteten Hütte. Manchmal gefiel Loork der Gedanke, es handele sich dabei um die Schatten all jener, die sich unter seinen Hieben schon das Leben aus dem Leibe gebrüllt hatten. Und jedesmal ging dabei ein hartes Grinsen über sein kantiges Gesicht. Denn es waren der Feuergeister längst nicht genug, um die Zahl der Toten auch nur annähernd zu erreichen. Jamahlia hatte ihm die ledernen Kleider inzwischen abgestreift und befaßte sich nunmehr allein mit seinem Glied, das in ihrer kleinen Faust zu so mächtiger Größe wuchs, daß ihre Finger es kaum umfassen konnten. So heiß kochte das Blut darin, daß Loork aufstöhnte. Im Liegen griff er mit der Faust hinab, bekam Jamahlias filzigen Schopf zu fassen und zerrte sie hoch. Kein Laut entfloh dem Mund des Mädchens. Erst als es über ihn kam und sich vorsichtig im Sattel seiner Lenden niederließ, drängte ein leiser Ton durch den Spalt ihrer zusammengepreßten Lippen. Und als sein aufragender Pfahl in die weiche Wärme ihres Schoßes stieß, trieb die Gewalt, mit der Loork es tat, für einen Augenblick alle Ergebenheit aus ihren Zügen und formte sie zu einer Grimasse. Wie ein wilder Hengst gebärdete der Stammesführer sich unter ihr. Regelrechte Bockstöße vollführte er mit seinem Becken, als wolle er das Mädchen abwerfen. Als Jamahlia aufschrie, glaubte Loork, sie täte es unter seiner Kraft. Doch dann streckte sie die Hand aus, wies dorthin, wo die Felle einen Spalt freiließen, durch den die Hütte zu betreten war. »Da!« entfuhr es ihr. Loork reagierte mit dem Instinkt eines Tieres. Die Bewegung, mit der er sich im Liegen umwandte und in die Hocke kam, ließ Jamah-
lia unsanft stürzen. Ihr Schmerzensruf interessierte den Stammesführer nicht; er nahm ihn nicht einmal bewußt wahr. Denn etwas anderes lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Jemand. »Wer bist du?« Loorks Finger hatten sich längst um den Stiel der Streitaxt geschlossen, die er bei jeder Gelegenheit in Reichweite behielt. Dabei ließ er den jungen Burschen dort am Eingang keinen Moment aus den Augen. Er kannte ihn nicht, hatte ihn nie gesehen. So konnte der andere also nicht zu seinem stetig wachsenden Stamm gehören. Aber er wirkte trotz seines heimlichen und dreisten Auftritts auch nicht feindselig. Eher gleichgültig, und noch nicht einmal die vom Blut geschwärzte Waffe, die der nackte Krieger ihm entgegenreckte, konnte auch nur ein Zucken in seinem knabenhaft glatten Gesicht hervorrufen. Der Fremde strich sich eine Strähne seines dunklen Haars aus der hohen Stirn und sah mit einem Lächeln auf die Axt herab. »Du wirst sie nicht brauchen«, sagte er ruhig, und in kaum merklich schärferem Ton fügte er hinzu: »Leg sie weg.« Und Loork tat es! Augenblicklich, ohne zu zögern. Er beobachtete sich selbst dabei wie einen Fremden, und Verblüffung ließ seine Gesichtszüge entgleisen. Für einen Moment. Dann packte er die Waffe von neuem, fester diesmal und mit beiden Händen, und im Aufstehen hob er sie vor seine Brust, so daß die beinahe unterarmlange Schneide auf den Fremden wies. Ein dunkler Schatten wischte über das Gesicht des anderen, für einen so kurzen Moment, daß es auch eine Täuschung sein konnte. »Nun gut«, sagte er gepreßt, »wie du willst.« »Das hätte dir so gepaßt, he?« knurrte Loork, die Zähne fletschend wie der Wolf, dessen Haut er sich für den Kampf stets umzuhängen pflegte. Sein glühender Blick tastete die Gestalt des anderen ab, nach verborgenen Waffen suchend. Doch unter dessen schlichtem Ge-
wand schien sich nichts dergleichen zu befinden. »Wer bist du?« wiederholte Loork seine Frage. »Und was willst du?« »Mein Name tut nichts zur Sache«, erwiderte der Jüngling, unverändert lächelnd. »Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.« »Zu reden?« knirschte Loork. »Haben sie dich geschickt, um zu verhandeln? Wollen sie dich um ihr Leben winseln lassen? Dann spar dir die Mühe …« Der Fremde schüttelte sacht den Kopf. »Niemand hat mich geschickt. Ich bin aus freien Stücken hier. Aber wenn du versprichst, das Schlachten einzustellen, dann bin ich bereit, um jedes einzelne Leben auf dieser Welt zu – winseln, wie du es nennst.« »Warum sollte ich irgend jemanden verschonen, du Narr?« Loork lachte häßlich. »Weil einer den ersten Schritt tun muß.« »Den ersten Schritt wohin? In den Untergang? Pah!« Wieder verneinte der andere auf seine sanfte Art. »Den ersten Schritt hin zum rechten Weg.« Loork tat einen ersten Schritt – schleichend und drohend in einem. Er kam dem Fremden so nahe, daß die Axt schon fast dessen schlichtes Gewand berührte. »Der rechte Weg«, sagte er flammenden Blickes, »führt durch ein Meer von Blut – durch das Blut all jener, die mir und den meinen im Wege stehen!« Bislang hatte nur der Widerschein der Flammen, die in der Hütte wie auch draußen zwischen den anderen flackerten, den Zügen des Fremden die Ahnung von Bewegung eingehaucht. Jetzt rührte sich etwas anderes darin; etwas, das Loork für mühsam bezwungenen Zorn gehalten hätte, wäre das Verhalten des seltsamen Jünglings bisher nicht so sanftmütig und fast schon ansteckend friedlich gewesen.
Die Stimme des anderen indes wurde eher noch ruhiger als zuvor. »Niemand steht dir im Wege«, sagte er, so bestimmt, daß aller Widerstand in Loork ersterben wollte, weil die Überzeugung des anderen zu seiner eigenen zu werden schien. »Diese Welt ist groß genug für alle.« Seine Augen kamen dem kriegerischen Stammesführer mit einemmal vor wie dunkle Seen, immer größer werdend und eine eigentümliche Kraft ausstrahlend, die nach ihm griff und ihn hinabziehen wollte auf den Grund dieser Seen, tief und immer tiefer – »Nein!« Aufbrüllend wich Loork zurück. »Ich weiß nicht, welcher Art die Macht ist, die du nutzt. Aber ich werde sie dir austreiben! Und dann werde ich dich in kleinen Teilen zu jenen schleifen, die dich geschickt haben – um sie mit deinen Eingeweiden zu ersticken!« Sein Hieb mit dem Axtstiel kam so schnell, daß der andere nicht mehr ausweichen konnte. Die Haut über seiner Schläfe platzte auf, doch als er im Staub lag, fand Loork kein Blut, das aus der Wunde getreten wäre, sondern – – Licht? � Tatsächlich floß etwas strahlend Helles daraus hervor … � Loorks Überraschung währte nicht länger als ein Schlag seines � Herzens. Schon riß er die mächtige Streitaxt über den Kopf, um ihre Schneide niederfahren zu lassen, mit solcher Kraft, daß es den Daliegenden in zwei Hälfte spalten mußte – Auf halbem Wege prallte die Waffe gegen unsichtbaren Stein, zerbrach und wurde Loork aus den Fäusten geprellt. Der Fremde rappelte sich hoch, und nun lag nicht mehr die Spur von Sanftmut in seinen Zügen, die auch nicht länger von knabenhaftem Anschein waren. Zorn schnitt ihm tiefe Furchen ins Gesicht. Sein ganzer Leib schien zu beben unter der Gewalt brodelnder Wut. »Ich hab’s versucht«, stieß er rauh hervor. »Bei Gott, ich hab’s versucht!« Sein Blick ging himmelwärts. »Aber diese närrischen Men-
schen sind weder zu belehren noch zu bekehren!« Zwei Schritte trennten ihn von Loork. Seine Gestalt schien mit jedem Schritt zu wachsen. Sein Schatten verzerrte sich, als zeichne er eine ganz andere Form nach. Zugleich schien er an Substanz zu gewinnen, zu greifbarer Finsternis zu werden, die sich über Loork legte und ihm den Atem nahm. »Mit Engelszungen zu reden ist vergebens!« keuchte der (das!) entsetzlich Fremde. »Ihr versteht doch nur eine einzige Sprache!« »Was …?« begehrte Loork noch auf, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Rest seiner Worte erstickte ihm buchstäblich im Halse. Weil der andere ihm die plötzlich weißglühende Faust durch das Gesicht und bis hinab in die Brust rammte! Dort spießte er Loorks Herz auf Krallen, ehe er es mit einem Ruck herausriß und wutentbrannt in den Staub trat! Leises Wimmern ließ Luzifer herumfahren. Jamahlia kauerte in einer dunklen Ecke der schlichten Behausung. In ihren Augen lag ein Glitzern, als bestünden sie aus winzigen Scherben. Es mochte eine Art Widerspiegelung ihres zerbrochenen Geistes sein, der unter dem Mitangesehenen in Trümmer gegangen war. Luzifer ersparte ihr ein solches Dasein. Nun, da er einmal die verbotene Schwelle übertreten hatte, war’s ihm gleich. Und er verspürte weder Reue, noch den Wunsch nach Mäßigung oder Besinnung. Er allein hatte den rechten Weg gefunden und beschritten! Mochten die anderen an ihrer Ansicht festhalten und sich weiter aufs Beobachten beschränken, um den Dingen weitestgehend ihren Lauf zu lassen – er würde diese Dinge fortan in seinem Sinne richten! Dann würde sich schon weisen, wessen Mittel die geeigneten waren, um die Menschheit zur Vernunft zu bewegen! Noch ehe die anderen Menschen des Stammes, durch den Lärm in
der Hütte ihres Anführers alarmiert, heran waren und die Leichen Loorks und Jamahlias entdeckten, hatte Luzifer sich zurückgezogen. Nicht weit allerdings, und schon gar nicht kehrte er in die Sphäre der seinen zurück. Es gab für ihn noch etwas zu tun in dieser Nacht. Sie schien ihm wie geschaffen für ein weiteres Exempel – – der wahren Macht auf Erden!
* So sehr ihn auch die Umstände beunruhigt hatten, Loorks Tod selbst bedauerte Zuru nicht im mindesten. Im Gegenteil war er fast froh darüber, denn irgend jemand hatte ihm damit nur erspart, den Stammesherrn selbst töten zu müssen. Denn irgendwann, dessen war Zuru sich gewiß, wäre es unvermeidlich geworden. Weil Loorks geheimer Plan ihm nicht gefallen hatte und er ihm nie gefolgt wäre. Zuru hatte ihn rasch durchschaut. Schließlich zählte er zu dem kleinen Kreis erfahrener Krieger, denen Loork – jedem allein und von anderen unbeobachtet – angetragen hatte, unter seiner übergeordneten Herrschaft selbst zum Führer eines Stammes zu werden. Land und Gefolge wollte er ihnen verschaffen; im Gegenzug erwartete er von ihnen, daß sie einen Teil ihrer Ernten und Jagdbeuten an ihn abtraten. Unter Androhung des Todes hatte Loork jenen Männern verboten, diese heimliche Unterhaltung anderen gegenüber zu erwähnen. Zuru hatte wenig Lust verspürt, auf Loorks Angebot einzugehen, bedeutete es doch nichts anderes, als daß er sich damit zu dessen Diener erniedrigt hätte. Einen eigenen Stamm hätte er freilich gern geführt, aber nicht unter Loorks Aufsicht. Daß Loork den Tod nun aus eines anderen Hand empfangen hatte, enthob Zuru dieses Problems. Mehr noch – er führte Loorks Stamm
nunmehr. Und er führte ihn in die Schlacht! Die Wut und das Entsetzen, die Loorks Tod unter seinem Gefolge hervorgerufen hatte, waren für Zuru das geeignete Mittel gewesen, um die Stammesmitglieder auf sich einzuschwören. Obwohl er nicht sicher war, hatte er behauptet, daß nur Entsandte der jenseits der Hügel lagernden Horden Loork getötet haben konnten. Die anderen würden nun darauf hoffen, daß es ihnen an der nötigen Führung fehlte und sie nicht angreifen würden. Er, Zuru, würde sich auf diese hinterhältige Weise nicht einschüchtern lassen, und wer Loorks Tod nicht ungesühnt lassen wolle, der solle ihm folgen. Damit hatte Zuru sich von der versammelten Menge abgewandt und war in die Nacht hinausgegangen, in jene Richtung, in der – in einiger Entfernung – die feindlichen Horden lagerten. Erst waren Zuru nur einzelne gefolgt. Doch schließlich hatte eine regelrechte Sogwirkung eingesetzt, und letztlich standen nun alle Kämpfer aus Loorks Stamm an seiner Seite – – und dem Feind gegenüber! Der junge Tag füllte das weite Tal mit grauem Licht. Die Reihen der Krieger, hüben wie drüben, wirkten darin wie kompakte Schatten, ihrer klobigen Rüstungen wegen bizarr geformt. Jeder Mann hatte sich in Panzerungen gehüllt, die er selbst aus einzelnen Tierknochen und ganzen Skeletteilen gefertigt hatte. Manche trugen große Schilde aus feuergehärtetem Holz und mit Leder bespannt. Sehnige Fäuste umschlossen Waffengerät, dessen Aussehen mitunter allein schon genügte, um einen Gegner das Fürchten zu lehren. Der andere Stamm, der sich hier am Fuße der Hügel niedergelassen hatte, hatte die Krieger unter Zurus Führung schon erwartet. Nun standen die Parteien sich stumm gegenüber, getrennt durch das Tal, um das die Schlacht geführt werden würde. So wurde es stets gehalten in jenen frühen Tagen der Menschheit: Der Boden, um den gekämpft wurde, ward zugleich auch zum Schlachtfeld erkoren. Das Blut des Feindes, so hieß es, würde ihn in ganz besonderer Wei-
se fruchtbar machen … Kein Mensch gab das Zeichen zum Angriff; die Anführer beider Horden verhielten sich still und abwartend. Die Natur würde bestimmen, wenn es an der Zeit zu kämpfen war. Leder knarzte, Rüstungen schabten aneinander, ein Stein schliff schärfend über Metall – – ein aufgeschreckter Vogel schrie … � … und die Schlacht begann! � Brüllend und johlend stürmten die Heere aufeinander zu, die Waffen schwingend und nach Blut und Tod geifernd. Schon das erste Aufeinanderprallen kostete mehr als vier Händevoll Leben. Doch das war noch nichts weiter als der Auftakt. Zu Ende würde der Kampf erst sein, wenn eine der Parteien entweder vom Feld zog – oder niemand mehr übrig war, der sich hätte zurückziehen können. Schweiß dampfte alsbald in der Morgenkühle, die sich momentelang zu vertiefen schien, obgleich kein Wind ging. Die wenigen der Kämpfenden, die es bemerkten, schauderten; nicht einmal der Kälte wegen, sondern vor Unbehagen, dessen Ursache sie nicht kannten. Denn diese Ursache hielt sich wohlverborgen vor ihren Blicken. Noch …
* Luzifer verspürte eine nie gekannte Mischung aus Wut und Trauer, die schmerzend wie das heißeste Feuer in ihm fraß. Nichts konnte der Blutrunst des Menschengewürms dort Einhalt gebieten. Daß er sie seine Präsenz hatte spüren lassen, war nicht mehr als ein letzter Versuch gewesen, von dem er sich im vornherein keinen Erfolg versprochen hatte. So blieb Luzifer nur noch eines zu tun, wenn er das Morden unter
den Menschen dort stoppen wollte. Und das wollte er. Weil es eine Pflicht war, die Er ihm aufgetragen hatte. Mochten die anderen seiner Art dies auch anders sehen … »Der Zweck möge meine Mittel heiligen«, flüsterte er. Vages Bedauern schwang in seinen Worten mit. Aber der Zorn über das barbarische Verhalten der Menschen und die Gewißheit, daß sein Tun nur zu ihrem Besten sein würde, ertränkten allen Rest von Zweifel. Luzifer schloß die Augen seiner menschlichen Maske. Und ließ sie fallen, um sich eine andere zu gestalten. Ein Wesen entstand, wie die Welt es noch nicht gesehen hatte. Und, so hoffte er, es nie mehr würde sehen wollen! Luzifer wünschte sich, daß die Menschen bereit sein würden, wortwörtlich alles dafür zu tun und zu geben, damit ihnen eine zweite Begegnung mit diesem Ungeschöpf auf ewig erspart bleiben möge … Dann stieg er auf aus seinem Versteck und stürzte sich selbst ins Schlachtengetümmel.
* Zuru schlug mit Axt und Keule eine regelrechte Schneise in die Reihen des Feindes, während er sich mit den Schilden, die er über beide Arme gestreift hatte, gegnerischer Attacken erwehrte. Oder es zumindest versuchte. Denn so mancher Hieb hatte seine Deckung durchschlagen, und immer wieder lief ihm Blut von der Stirn in die Augen und trübte seinen Blick. Daß er trotzdem nicht wirklich ernsthaft verletzt wurde, mochte zu einem Teil Glück sein; andererseits aber wertete Zuru es auch als Zeichen dafür, daß ihm die Rolle des Anführers bestimmt war. Sein flüchtiges Grinsen fiel mit dem Knirschen zermalmter Knochen zusammen. Und schon hob er die mit Steinsplittern beschlagene Keule zum nächsten Schlag …
Derweil flog sein Blick über die Köpfe der um ihn her Kämpfenden. Er suchte den Führer der feindlichen Horde. Sich ihm zu stellen, war ihm Pflicht und Ehre in einem. Wenn es ihm gelang, den gegnerischen Herrn zu schlagen, dann mochten seine Getreuen die Gegenwehr einstellen und sich seiner, Zurus, Führung unterwerfen. Da! Der Helm, gefertigt aus dem Schädelknochen eines mächtigen gehörnten Tieres, war unverkennbar, ebenso das filzbärtige Gesicht darunter, das so verkrustet von Blut und Dreck war, daß die Augen wie weißleuchtende Ovale darin zu klaffen schienen. Zuru änderte die Richtung seines Vorwärtspreschens und stand, nachdem er über die Leichen dreier Männer hinweggestiegen war, dem anderen gegenüber. »Kämpfe!« brüllte Zuru ihn an. »Wer bist du, daß du es wagst, mir die Stirn zu bieten?« dröhnte der andere. »Loork soll sich mir stellen – keiner sonst!« »Tu nicht, als wüßtest du nicht von Loorks Tod«, knurrte Zuru. »Du selbst hast ihn befohlen!« »Nichts dergleichen habe ich getan«, entgegnete der Wildbärtige. »Aber wenn er krepiert ist, soll’s mir nur recht sein – ganz gleich, wer dafür gesorgt hat.« »Rede nicht – kämpfe!« schrie Zuru. »Mit deinem Blut sollst du bezahlen für Loorks Tod!« Tatsächlich war es Zuru gleich, ob der andere etwas mit Loorks Tod zu schaffen hatte. Aber es konnte ihm nur zum Vorteil gereichen, wenn die Männer ringsum meinten, er wäre bereit, sein Leben zu geben, um Loork zu rächen. »Was soll’s«, gab der Feind zurück. »Meiner Klinge schmeckt jedes Blut, durstig wie sie ist.« Damit stieß er sein gewaltiges Schwert vor, so beiläufig und ohne jedes Anzeichen, das Zuru gewarnt hätte, daß die handbreite Klinge zielgenau dessen Herz aufgespießt hätte …
… wäre sie nicht zwei Fingerbreiten davor zur Ruhe gekommen, so abrupt, als hätte ein unsichtbarer Panzer sie gestoppt! Zuru wollte den Moment nutzen, um seinerseits die Klinge beiseite zu dreschen, um zugleich mit der Axt nach dem anderen zu schlagen. Etwas jedoch ließ ihn den bloßen Gedanken daran vergessen. Rings um ihn her erstarb der Schlachtenlärm. Als hätte jeden einzelnen Mann eine plötzliche Lähmung befallen. Erst jetzt bemerkte Zuru den riesenhaften Schatten, der sich über das Schlachtfeld gelegt hatte, wie von einer gewaltigen Wolkenbank und doch ungleich dunkler. Als wäre die Nacht selbst zurückgekehrt. Wie auf ein geheimes Kommando hin wandten sich aller Blicke himmelwärts. Stöhnen ging wie eine Woge durch das Meer der Krieger, steigerte sich zu dumpfem Wimmern, wurde lauter und lauter und brach schließlich an der Schwelle zu panischem Brüllen ab, als würden unsichtbare Knebel alle Münder verstopfen. Allein Zuru brachte noch Worte hervor, und er besann sich auf etwas, das er lange vergessen hatte: »Allmächtiger Herr, steh uns bei …« Die Antwort darauf wurde ihm und allen anderen direkt in den Kopf gesetzt, donnernd und brausend, so daß sie meinten, die Gewalt müßte ihnen den Schädel sprengen. »Zu spät zur Reue!« Brodelnde Feuerwolken quollen mit jedem Wort aus den riesigen Nüstern des Ungeheuers!
* Keiner der Männer hatte je ein auch nur ähnliches Tier gesehen, wie es da über ihnen den Himmel verdunkelte. Und mehr noch – keiner hätte je geglaubt, daß es ein solches Un-
tier überhaupt geben könnte! Es trug das Schuppenkleid einer Echse, das Gehörn eines Widders, die Flügel eines Adlers. In seinem lippenlosen Maul, das so weit aufklaffte, daß es fünfzig der Männer auf einmal verschlingen konnte, schimmerten mehrere Reihe dornenspitzer Reißzähne, und ein Schlag des hornigen Schweifs mußte reichen, um sie allesamt aus dem Tal zu fegen. Wieder sprach das Monstrum, und wieder begleitete Feuer seine Worte. Diesmal jedoch senkte es sich auf die starr stehenden Männer nieder und verbrannte zehn von ihnen auf der Stelle zu Asche! »Ihr seid es nicht wert, Ihn um Hilfe anzurufen – nicht mehr und noch nicht!« Wieder entstanden die Worte dröhnend direkt in den Köpfen der Männer. Aufstöhnend brachen die meisten von ihnen – die Hände gegen die Schläfen gepreßt, als könnten sie den Druck so lindern – in die Knie, und wieder ging die Bewegung wie eine Welle durch die Menge. Zuru gehörte zu den wenigen, die sich noch halbwegs aufrecht hielten. Und er war der einzige, der die Stimme erhob, wenn auch mit schmerzverzerrtem Gesicht und sich jedes Wort schier abringend. »Wer bist du?« keuchte er. »Ich bin der, den ihr mit eurem Tun heraufbeschworen habt!« kam donnernd die Antwort. »Und ich bin gekommen, um euch auf den rechten Weg zu zwingen. Seht mich an als euren Erlöser, wenn ihr mir fortan zum Gefallen handelt. Treibt ihr es weiter wie bisher, so will ich euch ein ums andere Mal heimsuchen, bis aller Trotz gegen Ihn und Seinen Willen aus euch gewichen ist!« Von neuem regnete Feuer auf die Männer herab. Schreiend ließen jene ihr Leben, die von den Flammen erfaßt und umhüllt wurden. Auch der Anführer des gegnerischen Stammes stand noch. Jetzt versetzte er Zuru einen derben Stoß, der ihn zu Boden gehen ließ.
»Alle deine Wünsche seien uns Befehl!« rief er dann auf zu dem zürnenden Wesen, ehe er sich selbst in den Staub warf, das Gesicht tief in den Dreck drückend vor Angst und Ehrfurcht. Zuru sah einen Moment lang erstaunt zu ihm hin. Dann senkte auch er das Gesicht in den Staub und murmelte einsichtig: »Was du auch wünscht, wir sind bereit und willens, es zu tun.« Ein eisiger Wind fegte über die daliegenden Männer und preßte sie noch fester gegen den Boden. Dazu erklang ein donnerndes Brüllen wie von einem Sturm, dessen Macht sich niemand vorzustellen vermocht hätte. Weil sie groß genug sein mußte, um die ganze Welt zu verwüsten. In diesem Toben gingen die Schreie weiterer Sterbender fast unter. Es dauerte lange, bis Zuru es wagte, den Kopf zu heben. Erst lugte er vorsichtig nach oben – nichts. Das Ungeheuer war verschwunden, oder wenigstens doch seinen Blicken entschwunden. Denn seine Präsenz war nach wie vor wahrzunehmen, wie stinkender Brodem, der alles ringsum vergiftet hatte. Als Zuru sich schließlich auf die Knie erhob, stellte er fest, daß außer ihm nur ein paar Handvoll Männer noch am Leben waren. Das Blut aller anderen hatte den Boden des Tals dunkel gefärbt, ihre Leiber waren zerrissen von Krallen, die Zuru nie vergessen würde. Er wünschte, sie nie wieder wirklich sehen zu müssen. Allem würde er abschwören, alles tun, was ihm geheißen ward, wenn sich ihm nur im ganzen Leben jenes Ungeheuer nicht mehr zeigte! Aber alles Wünschen und Hoffen, aller Wille und jede Bereitschaft sollten nicht genügen.
* Luzifer hatte sich zurückgezogen. Aber er behielt den Ort des Geschehens im Auge, verbarg sich nur hinter einer dünnen Haut, die �
wie Glas war und ihn doch von der Welt der Menschen trennte. Sein Leib hatte sich nicht gänzlich in den des Jünglings zurückverwandelt, dessen Gestalt er bislang bevorzugt zur Schau getragen hatte. Die Krallen des ungeheuerlichen Geschöpfs, das er, alle Ängste der Menschen zugrundelegend, ersonnen hatte, behielt er bei – wenigstens so lange noch, wie dampfendes Blut von ihnen tropfte … Sein Plan war aufgegangen. Seine Idee hatte sich als die einzig richtige erwiesen. Lautlos lachte er auf, fuhr sich mit den Klauen übers Gesicht. Blutige Schlieren entstellten es zu einer weiteren Maske, die er in jener spiegelnden Wand sehen konnte, hinter der er die Menschen belauerte. Zwar mochten sie Einsicht gezeigt haben, aber vielleicht hielt sie nur für den Moment. Vielleicht war es angeraten, sie noch einmal heimzusuchen – vorbeugend gewissermaßen. Zumal – Luzifer grinste – es ihm eine Freude gewesen war. Er erschrak nur für einen winzigen Augenblick ob der Erinnerung an dieses Gefühl. Dann dominierte der Wunsch in ihm, es noch einmal zu verspüren. Nur einmal noch … Vielleicht nur einmal noch … Die eigene Macht zu fühlen, sich ihr hinzugeben, in ihr aufzugehen war – göttlich gewesen. Warum eigentlich, so fragte er sich, sollte er sich mit der Rolle eines Wächters begnügen, wenn ihm doch die Macht eines Statthalters gegeben war? Von Ihm selbst gegeben! Mußte es da nicht Sein Wille sein, daß er, Luzifer, sie auch nutzte …?
* Eine Welt lag Luzifer im wörtlichen Sinne zu Füßen. Und er genoß es! Berauschte sich an der animalischen Unterwür-
figkeit, die ihm die Menschen zollten, wo immer er auch ihre Welt betrat. Das Gefühl, für Gott selbst gehalten zu werden, war stärker als alle Bedenken über die ungeheuerliche Anmaßung, derer er sich mit seinem Verhalten schuldig machte. Schließlich gefiel er sich so sehr in seiner »göttlichen« Rolle, daß er etwas wie Zweifel oder gar Schuld nicht mehr kannte. Neue Dinge gediehen an deren Stelle in ihm. Dinge wie Arglist und Niedertracht den Seinen gegenüber. Noch hatten sie Luzifer nicht offen zur Rede gestellt ob seines Tuns, und schon gar nicht hatten sie versucht, seinem Treiben Einhalt zu gebieten. Aber er wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis sie es taten. Also galt es ihnen zuvorzukommen. Und so ersann Luzifer einen Plan, der, wenn er gelang, dafür sorgen würde, daß die Seinen ihm niemals würden in die Quere kommen können – – – Luzifer hatte die Sphäre, die Gott ihnen vor seiner Abkehr zugewiesen hatte, nicht auf immer verlassen, obwohl er das Gros seiner Zeit auf Erden zubrachte, seit er sich dort zum Tyrannen über die Völker aufgeschwungen hatte. In jenen Tagen jedoch, da er seinen Plan verfolgte, wechselte er recht häufig von hüben nach drüben. Er tat es ganz in der Weise, wie es seit jeher Usus war, schuf also einen Durchgang in der Grenze zwischen den Welten, beschritt ihn und verschloß ihn hinter sich wieder, indem er gewissermaßen die Öffnung energetisch versiegelte. Allerdings ließ Luzifer jedes Mal ein klein wenig mehr seiner Kraft in die Barriere fließen, als nötig gewesen wäre, um nur den Durchgang zu verschließen. Und so wurde der Wall, der die Sphäre von der Menschenwelt trennte, stetig stabiler, unmerklich nur, aber irgendwann würde der Punkt erreicht sein, da sie undurchlässig wurde. Und nichts und niemand würde dann mehr von hier nach dort
wechseln können. Die Seinen würde Luzifer in ihrer eigenen Welt eingekerkert haben. Und die Welt der Menschen würde endlich und unangefochten ihm allein gehören!
* Luzifers Plan schien von perfider Genialität. Er hatte nur einen Fehler: Er bezog unsere Unaufmerksamkeit als festen Faktor ein, beruhte also darauf, daß wir seinem Treiben weiterhin tatenlos zusehen würden. Nun, eine Zeitlang, die den Menschen eine kleine Ewigkeit bedeuten mochte, taten wir das auch. Was indes nicht hieß, daß wir sein Verhalten befürwortet oder auch nur hingenommen hätten. Unsere Gespräche drehten sich in dieser Zeit fast ausnahmslos um Luzifers Eigenmacht, und wir sprachen lange darüber, was wir nun zu tun hätten. Einige der Unseren vertraten die Ansicht, Luzifer rigoros zu stoppen und zu strafen für seinen Frevel. Andere wiederum meinten, wir sollten ihn gewähren lassen, weil es uns nicht zustünde und nicht Teil unserer Aufgabe wäre, hier einzugreifen. Ich selbst war mir meiner Meinung nicht ganz sicher. Zum einen vertrat ich durchaus den Standpunkt, daß wir die Menschen sich selbst überlassen müßten, ganz gleich, welches Schicksal ihnen zuteil wurde. Andererseits jedoch hatten sie mit Luzifer eine Plage am Hals, derer sie aus eigener Kraft nicht Herr werden konnten. So tendierte ich eher dazu, dieses eine Mal entscheidend in die Geschicke der Menschheit einzugreifen. Trotzdem zögerte ich noch, meinen Entschluß den anderen gegenüber kundzutun – Daß ich es letztlich doch tat, und zwar für alle überraschend heftig, lag daran, daß Luzifers übles Treiben auf die Unseren Wirkung zu zeigen begann!
Einige aus unserer Schar erklärten nämlich, daß sie nicht übel Lust hätten, sich dem Abtrünnigen anzuschließen. Sie fanden Gefallen am Gehorsam der Menschheit und fingen an, Luzifers Tun zu befürworten, in einem solchen Maße, daß sie seinem Beispiel folgen wollten. »Schluß!« Mit diesem Wort trat ich in die Mitte des Kreises, zu dem wir uns zusammengefunden hatten. »Haltet ein mit euren frevlerischen Reden!« »Du kannst nicht leugnen, daß Luzifer die Menschheit bezähmt hat«, warf einer aus der Runde ein. »Wenn wir alle handelten wie unser Bruder, dann endlich wären die Menschen dem Herrn zum Wohlgefallen«, meinte ein anderer. »Unsinn!« herrschte ich ihn an. »Aber …« »Hört euch an, was unser Bruder zu sagen hat.« Ich drehte mich dem letzten Sprecher zu, der die Gestalt eines blondgelockten, scheinbar alterslosen Mannes bevorzugt zur Schau trug, und nickte ihm zu: »Dank sei dir, Raphael.« Dann richtete ich das Wort wieder an alle: »Ich werde euch zeigen, wozu es führt, wenn einer der Unseren die ihm anvertraute Macht mißbraucht …« »Mißbraucht?« echote einer aus dem Kreis. Uriel, wenn ich mich recht entsinne. »Wie ließe sich unsere Macht mißbrauchen? Sie wurde uns gegeben, also dürfen wir sie nutzen – in ihrem ganzen Maße!« »Nein!« Ich faßte jeden einzelnen jener scharf ins Auge, aus deren Mienen mich Trotz und Widerstand schier ansprangen. »Seht ihr denn nicht, daß Luzifer nicht besser ist als die Menschen, die er unterjocht? Auch ihnen hat der Herr die Kraft gegeben, ihresgleichen zu töten. Aber bedeutet das, daß sie es tun müssen?« fuhr ich in meiner Rede fort.
Betretenes Schweigen antwortete mir. Ein erster Erfolg, den ich für mich zu verbuchen hatte. »Gott zum Wohlgefallen zu sein, das heißt nicht nur, nach Seinen Geboten zu handeln, Ihn im Gebet zu ehren und zu preisen. Wichtiger ist es, Ihm zu beweisen, daß man des Lebens, das Er jedem einzelnen geschenkt hat, auch wert ist. Und das heißt, daß man mit den Kräften, die man besitzt, maßhält. Daß man sie nicht bis zur Neige ausschöpft, sondern sie im Sinne des Herrn einsetzt. Nach dieser Regel muß die Menschheit sich richten, und auch wir haben sie zu befolgen.« Stille legte sich über uns, und etwas darin schien so schwer, daß die meisten der Unseren unweigerlich die Köpfe senkten. Eine ganze Weile verging in diesem Schweigen, bis einer es brach. Uriel war es. »Was also schlägst du nun vor?« Einsicht und Reue schwangen in seinen Worten hörbar mit. Ich lächelte mild deswegen – und schließlich hart, weil ich es kaum erwarten konnte, in die Tat umzusetzen, was ich die versammelte Schar nun in Worten wissen ließ. »Luzifer soll erfahren, was es bedeutet, sich Gottes Willen zu widersetzen!« Ich öffnete – unter merklich größerer Mühe als sonst – einen Durchgang nach drüben. »Folgt mir!« rief ich den anderen zu. Und sie folgten mir nach.
* Die Welt der Menschen erlebte in dieser Nacht eine Invasion, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Und auch nie mehr danach … Gewaltige Mäuler schienen sich im finsteren Gewölk am Himmel
zu öffnen, und endlose Schlünde erbrachen Wesen auf die Erde herab, wie sie die Menschheit allenfalls aus ihren schlimmsten Alpträumen kannte – wenn überhaupt. Ungeheuer, von denen keins dem anderen glich, als hätten tausend kranke Hirne sie ersonnen, durchforsteten die Welt in dieser einen Nacht. Und sie wurden fündig. Stießen endlich auf den, der seine Macht wie ein Geschwür in der Menschheit wuchern ließ. Die vom Himmel Gekommenen rissen das üble Geschwür aus dem Fleisch von Mutter Erde und schleiften es mit sich fort, zurück in die Nacht, aus der sie herabgestürzt waren. Ihre Zahl war so gewaltig, daß sie nicht zu schätzen war, und wie groß und machtvoll mußten da erst jene Mahlströme sein, die sich Strudeln gleich in den dunklen Himmel fraßen und all die Geschöpfe verschlangen. Viele auf Erden beteten hernach darum, daß sie nie mehr zurückkehren mögen. Ihr Wunsch ging in Erfüllung. Aber nicht etwa, weil ihre Gebete erhört worden wären …
* »Das dürfen wir nicht tun!« »Es steht uns nicht zu, ein solches Urteil zu fällen, geschweige denn auszuführen!« Mein Ansinnen war auf wenig Verständnis und Zustimmung gestoßen, aber ich wich nicht davon ab. Uns blieb nichts anderes, als zu tun, was ich vorgeschlagen, ja, fast schon befohlen hatte. Obschon auch ich mir sicher war, daß wir es uns im Grunde nicht anmaßen durften. Trotzdem – ich beharrte darauf. Und ein Blick hinab auf Luzifer festigte meinen Entschluß noch. Er hockte in unserer Mitte, und weder war er noch einer der Unseren, noch hatte er etwas mit dem zu tun, der er einmal gewesen war!
Geifernd und brüllend kauerte er da, gehalten nur von unserer verbundenen Kraft, die ihn wie in Ketten schlug. Sein Gesicht glich nicht mehr dem des Jünglings, als der er sich früher gern gezeigt hatte. Allenfalls ganz tief unter den Maskeraden, die er jetzt zur Schau trug, zeigte sich noch ein Abglanz davon. Darüber jedoch lag, unverrückbar für alle Zeiten, eine Fratze, die nicht einmal ich länger als nötig anschauen mochte. Zwar war sie in ihren Zügen noch nach menschlichem Vorbild, aber was Luzifer damit tat, indem er sie verzerrte und sie selbst zu etwas Lebendigem erhob – keines Menschen Gesicht wäre dazu imstande gewesen. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß Luzifer nie mehr genesen würde. Was er auf Erden getan und den Menschen angetan hatte, es hatte tiefe, unheilbare Spuren in seinem Wesen selbst hinterlassen und ihn verändert, umgekehrt. Luzifer war zu etwas geworden, das es nicht geben durfte, das nie hätte entstehen dürfen. Und es gab nur einen Weg, wie wir uns und die Menschheit künftig davor bewahren konnten … »Es bleibt dabei!« rief ich. Meine Stimme war hart wie Fels. »Wir werden Luzifer –«, es fiel mir allem zum Trotz schwer, darauf zu beharren, und so zögerte ich, hoffentlich unmerklich, »– verbannen!« Skepsis schlug mir entgegen. »Seht ihn euch an«, fuhr ich fort, auf Luzifer weisend. »Wollt ihr euch und der Schöpfung selbst eine solche Gefahr aufbürden?« »Er hat recht«, sagte Raphael nach einer Weile. »Hört auf ihn. Uns bleibt kein anderer Ausweg. Wenn es der falsche ist, so bin ich bereit, meine Strafe dafür zu empfangen, wenn wir uns dereinst vor Ihm verantworten müssen.« Seine Worte hatten den Anstoß gegeben. Zögernde Zustimmung kam auf, und endlich wurde sie zu Einverständnis. Wir schlossen uns zum Kreis, in dessen Zentrum Luzifer tobend gefangensaß. Dann gaben wir die Gestalten, die wir uns selbst gewählt hatten,
auf, wurden zu dem, was wir von Beginn an waren und immer bleiben würden, reine Energie, bar aller Körperlichkeit, und schließlich verschmolzen wir zu einer einzigen Kraft, die ein Teil Gottes selbst war, den er von sich abgespalten und zurückgelassen hatte. Vielleicht wurden wir uns der Tatsache dieser unserer Existenz in diesem Moment zum allerersten Mal bewußt. Aber wenn es so war, dann zählte es nicht; nicht jetzt, da wir eins waren … Hätte ein Mensch das Geschehen beobachtet, so würde er etwas wie flirrende Nebel gesehen haben, die von allen Seiten her auf Luzifer zukrochen. Schließlich, würde jener imaginäre Mensch hernach berichtet haben, hatte sich das fast flüssige Licht zu etwas geformt, das sich nur als riesige Hand beschreiben ließ, weil es tatsächlich etwas war, für das der menschlichen Sprache die Worte fehlten. Diese »Hand« packte Luzifer, und in ihren Fingern wirkte der Titan, zu dem er geworden war, fast winzig. Dann – – schleuderten wir Luzifer fort! Ein gleißendes Licht nahm ihn auf, als er unter unserer vereinten Gewalt durch die Barriere gestoßen wurde. Luzifer verschwand – hinein in die Ewigkeit, durch die Maschen jenes Netzes aus Welten und Leben, das Gott geschaffen hatte, und hin an einen Ort, von dem es keine Wiederkehr geben konnte. Weil es jenen Ort als solchen nicht gab. Er war – im absoluten Sinne – nichts. Und damit hatten wir den ärgsten aller Fehler begangen! Luzifers verwehendes Lachen war uns nur ein erster Hinweis darauf. Die gesamte Tragweite indes wurde uns erst später bewußt.
* Zwei Dinge hatte Luzifer vollbracht, als wir ihn verbannten. Kaum hatte er die Sphäre verlassen, opferte er den allergrößten
Teil seiner Macht für jene Fähigkeit, einen selbstgeschaffenen Durchgang zu versiegeln – und übte diese Kraft auf unsere gesamte Sphäre aus! Danach machte er sich das Nichts, in das wir ihn geschleudert hatten, zunutze, um dort die Illusion einer eigenen Welt zu erschaffen, mit sich selbst als Keimzelle. Dies verbrauchte fast seine gesamte Kraft. Während er sich erholte, geschah Ewigkeiten lang nichts. Doch irgendwann war Luzifer soweit erstarkt, daß er sich weitere Welten innerhalb seiner Sphäre ersann, keine stabil und wirklich, alle ineinander verwoben, und jede genährt vom Wahnsinn und Zwang des gefallenen Engels, selbst Schöpfer sein zu wollen. Schließlich verfiel Luzifer auf einen Weg, wie seiner Einsamkeit ein Ende zu setzen wäre und wie er seine Welten beleben könnte. Er holte die Seelen jener Menschen zu sich, deren irdisches Leben vorüber war, und verurteilte sie zur ewigen Verdammnis in seinen Reichen. Zugleich hatte er damit den Beginn eines Weges gefunden, der es ihm erlaubte, wenn schon nicht in seinen alten Wirkungsbereich zurückzukehren, zumindest doch Einfluß darauf zu nehmen. Dies war die Geburtsstunde des Leibhaftigen, der selbst nichts anderes war als eine Ausgeburt des Bösen. Nur so war es Luzifer – oder dem, dessen Grundzelle er war – möglich, die Menschen heimzusuchen. Solange jedenfalls, bis es ihm gelang, den einstigen Weg zurückzugehen und sich an den Seinen zu rächen.
* Oh, wir Narren! Blind waren wir gewesen, dumm und töricht, einfältiger und leichtsinniger als jeder Mensch. Die vermeintliche Dringlichkeit, uns Luzifers zu entledigen, hatte
uns nicht alle möglichen Folgen bedenken lassen. Dabei wäre es, hätten wir auch nur ein bißchen besonnener gehandelt (und einmal mehr muß ich wohl alle Schuld auf mich nehmen), doch offensichtlich gewesen, daß die Sache so einfach nicht aufzulösen sein konnte. Denn Luzifer mochte zwar nicht mehr der sein, als den wir ihn gekannt hatten, seine Macht indes war noch die alte, und daß er sie bis zuletzt in seinem Sinn einsetzen würde, hätte für uns (für mich) außer Zweifel stehen müssen. So aber war es geschehen. Wir hatten ihn verbannt und waren doch die Verlierer in dieser Schlacht. Gefangene unserer eigenen Welt, die Luzifer zu einem undurchdringbaren Kokon gemacht und mit seiner Kraft versiegelt hatte. Fortan waren uns die Hände gebunden. Denn obwohl wir noch in der Lage waren, zu verfolgen, was auf Erden geschah, blieb uns zunächst doch keine Möglichkeit, in irgendeiner Weise einzugreifen. Für die Menschen vergingen Äonen, während für uns Zeit nicht existierte. Was unser Schicksal indes nicht erträglicher machte. Denn wir mußten mitansehen, wie die Menschheit in alte Unsitten und barbarisches Verhalten zurückfiel. Trotzdem konnte man ihr eine Entwicklung nicht absprechen, durchaus nicht: Was die Möglichkeiten anging, anderen Schaden und Leid zuzufügen, kannte die Erfindungsgabe des Menschen kaum Grenzen … Irgendwann mochten es selbst die Gleichgültigsten unter uns nicht mehr mitansehen. Und so standen wir vor der Frage, was unsererseits zu unternehmen wäre, um dem Geschehen in der Menschenwelt Einhalt zu gebieten. Eine Antwort fand sich. Gefallen wollte sie keinem von uns. Trotzdem gab es nur diesen einen Weg. Obgleich noch nicht einmal sicher war, daß er auch zum Ziel führen würde … Natürlich hatten wir von Anfang an erprobt, ob und wie der von
Luzifer geschaffene Panzer um unsere Sphäre zu durchbrechen wäre. Doch alle Mühe war vergebens. Eine einzige Bruchstelle gab es, die wir mit vereinter Kraft für kurze Zeit hätten öffnen können – dort nämlich, wo wir Luzifer aus unserer Sphäre geschleudert hatten. Doch diesen Ort wollte verständlicherweise keiner der Unseren aufsuchen … Bis Raphael auf die Idee kam, das Ziel des Durchbruchs zu verändern, weg von Luzifers Sphäre und hin zur Menschenwelt. Da beide Welten räumlich nicht voneinander getrennt waren, mochte es uns mit vereinten Kräften gelingen. Einer aus unserer Schar wurde ausgewählt, den riskanten Schritt zu unternehmen – riskant deshalb, weil er genauso gut in Luzifers Sphäre des Irrsinns führen konnte. Ich war erleichtert, daß die Wahl auf mich fiel, denn ich war es letztlich gewesen, der die Schuld an unserer Gefangenschaft trug. Die gemeinsamen Energien der anderen öffneten einen Spalt – oder wie man es auch nennen mochte – im Panzer um unsere Welt und schufen eine Brücke hinüber in die der Menschen. Sie schafften es, den Durchgang so lange offenzuhalten, bis ich unseren Kerker verlassen hatte. Aber gleichzeitig ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Denn der Durchgang schloß sich nur in unserer Sphäre wieder! Zur Irrsinnswelt des gefallenen Engels blieb der Spalt in der Wirklichkeit geöffnet! Als hätte die wuchernde Macht, die dahinter auf der Lauer lag und gewiß nach einer Möglichkeit suchte, ihrem Kerker zu entkommen, nur auf den rechten Moment gewartet, um den einzig möglichen Weg hinaus unserer Kontrolle zu entziehen. So war es mir nicht möglich, die Geschicke der Menschen latent zu lenken, weil eine gänzlich andere und ungleich wichtigere Aufgabe drüben meiner harrte: Ich hatte ein Tor zu versiegeln und fortan dafür Sorge zu tragen, daß es von Luzifers Seite aus nicht geöffnet wurde …
* � In unserer Sphäre hatte die Durchbruchstelle am ehesten noch einer schwärenden Narbe im Gefüge geglichen, wenn man menschliche Vergleichssichten überhaupt darauf anwenden konnte. Hier auf Erden zeigte sie sich in anderer Weise. Als hätte sich seine Substanz verwandelt in das irdische Pendant zu dem, was es drüben bei uns gewesen war. Hier nun glich es in der Tat einem riesenhaften Tor, das sich tief im steinernen Leib eines gewaltigen Berges manifestiert hatte. Warum gerade an dieser Stelle – das entzog sich unserer Kenntnis. Die abgeschiedene und von aller Welt verborgene Lage mochte eine Rolle gespielt haben. Die Macht jenseits des Tores hatte sie vielleicht mit Bedacht gewählt, weil sie sich hier unbeobachtet und von niemandem in ihren Versuchen, es zu öffnen, behindert fühlen konnte. Natürlich spielte ich mit dem Gedanken, einen »Rückschritt« zu wagen, unterließ es aber der unwägbaren Risiken wegen. Es hätte mich vermutlich nur in Luzifers Machtbereich transportiert. So beschränkte ich mich darauf, das Tor zu bewachen. Dies aber konnte ich allein nicht bewältigen. Was ich in logischer Folge nun auf Erden tat, schien mir anfangs ähnlich unvereinbar mit unserer ursprünglichen Sache wie das, was Luzifer vor Ewigkeiten hier getrieben hatte. In gewisser Weise war mein Tun sogar noch schändlicher. Denn ich beutete die Menschen regelrecht aus. Nachdem ich die Siegel des Tores samt und sonders erneuert und, soweit es in meiner Macht stand, verstärkt hatte, rekrutierte ich aus den umliegenden Dörfern und Städten Männer, die solch schwere Arbeit zu verrichten hatten, daß die wenigsten ohne Schaden davonkamen. Viele mußten gar ihr Leben lassen, stürzten ab bei der schier unmenschlichen Arbeit, die ich sie droben auf dem Gipfel des Ber-
ges zu verrichten zwang, oder brachen schlicht unter der Bürde zusammen. Derweil suchte ich nach besonderen Talenten unter den Menschen. Ich wußte um ihre Existenz; sie waren uns schon früher aufgefallen. Menschen, die Kräfte besaßen, derentwegen sie oft verachtet und verfolgt, manche gar mit dem Tod bestraft wurden. Ich scharte solche Menschen um mich und lehrte sie, ihre Kräfte zu kanalisieren. Die Zahl meines Heeres wuchs, und schließlich zog ich aus ihren Reihen Lehrmeister heran, die neue »Rekruten« unterrichten konnten. Nahezu ein Jahrhundert verging, dann endlich hatte ich vollbracht, weswegen ich gekommen war. Ich hatte eine Bastion, ein Bollwerk geschaffen um das Tor. Und eine Armee, die es bewachte. Monte Cargano. Und die Illuminati. Im Laufe der seither verstrichenen Zeit mußten wir uns manch harter Prüfung stellen. Luzifers Macht war gewachsen in all den langen Jahrhunderten, und sie ersann stets neue Wege, das Tor zu öffnen oder es zu umgehen, um ihren Einfluß auf die Menschheit wieder herstellen zu können. Dazu war noch die Mühe gekommen, daß wir unsere Existenz vor aller Welt geheimhalten mußten. So hatte ich mich schließlich der kirchlichen Obrigkeit offenbart – ohne freilich mein wahres Wesen zu verraten. Den Brüdern dort hatte ich mich wie schon meiner Schar nur als Salvat vorgestellt –, und es war mir gelungen, sie als Deckmäntelchen zu nutzen. Allem, was da an Widernissen gekommen war, hatten wir uns mit Erfolg erwehrt. Nun jedoch würde es enden. Für mich in jedem Fall. Weil nur mein Untergang den Untergang der Welt selbst verhindern konnte.
Der Tod des Erzengels Michael für das Leben der Menschen … �
4. Endzeit � Gegenwart In der Inneren Halle Salvats Kräfte schwanden aus seiner irdischen Manifestation. Sie flossen mit im Strom der Energien der Illuminaten und gingen über in das Tor. Tränkten und festigten es, formten es zu einem Siegel, wie es keine Welt je gesehen hatte. Vollkommene Stille herrschte in dem gewaltigen Felsendom. Dennoch wunderte es Salvat, daß er auf das leise Geräusch aufmerksam wurde – schleichende Schritte und ein Schleifen, als striche Metall über Stein. Er löste seine Gedanken vollends aus der Vergangenheit. Sah auf. Und erstarrte in einem Maße, daß selbst die ihn durchfließenden Kräfte für einen Moment ins Stocken gerieten. Von seiner erhöhten Warte aus hatte er den Zugang zur Inneren Halle drüben auf der anderen Seite im Blick. Ein Schemen war dort aufgetaucht, dessen Konturen ihm vertraut waren – – Enya …? Sie war es. Und was sie in Händen hielt, ließ keinen Zweifel daran, weswegen sie gekommen war! Ein gewaltiges Schwert, das Salvat selbst über die Distanz hinweg zu identifizieren vermochte. »Balmu…«, entfuhr es ihm, doch die Ereignisse überschlugen sich so rasch, daß er nicht einmal dieses eine Wort, den Namen der legendären Waffe vollenden konnte, die einst Siegfried, der Drachentöter, geführt hatte. Getragen von einer Kraft, die jene des bloßen Wurfes übertraf, raste die mächtige Klinge über die Köpfe der Illuminaten hinweg auf Salvat zu, und Enyas brüllendes Gelächter schien dem Schwert noch
zusätzlichen Antrieb zu geben. Salvat sah sich zu geschwächt, als daß er die Waffe noch hätte stoppen können. Nicht einmal recht ausweichen konnte er ihr. In explodierendem Schmerz bohrte sich ihm die Klinge durch die rechte Brusthälfte und nagelte ihn ans Tor! Für einen Moment. Im nächsten nämlich wurde das Schwert von Geisterhand aus der Wunde gerissen und zu einem weiteren Schlag geführt. Nicht gegen Salvat selbst diesmal, sondern mitten hinein in das schwarze Geflecht, dessen Stränge unter der Schneide zerrissen und sich wanden wie lebende Dinge – – und alle Energie ausspien, die in sie geflossen war! Die Illuminaten vergingen in einer einzigen Sekunde unter ihrer eigenen, haltlos entfesselten Kraft. Stumm gingen sie in den Tod, denn die Zeit reichte ihnen nicht, um zu schreien. Und ohnehin hätte kein Schrei die Qual dieses Todes auszudrücken vermocht. Aber auch ein Ort wie Monte Cargano konnte unter dem Ansturm solcher Macht nicht bestehen. Der Untergang des Klosters indes ging nicht still vonstatten.
* Daß Salvat noch lebte, schien ihm nicht wie eine Gnade. Er lernte Schmerzen kennen, die nicht einmal er sich je hätte vorstellen können. Und er wußte, daß sie sein Ende bedeuten würden. Jedoch würden sie ihm noch Zeit genug lassen, um wenigstens eines zu tun … Er war vom Tor herabgestürzt, als ihn die Auswüchse seiner Schultern nicht länger gehalten hatten. Der allergrößte Teil des Geflechts hing abgestorbenem Gewürm gleich an ihm, der Rest genügte ihm, um sich voranzubewegen, ohne den Boden berühren zu müssen.
Der Sturmwind, den er im Hinausrasen entfachte, ließ dichte Aschewolken vom Boden der Inneren Halle aufsteigen … Trotzdem es ihm nie schlechter gegangen war, hatte er sich doch nie schneller bewegt als jetzt. Alle Kraft setzte er dafür ein, während um ihn herum das Kloster donnernd und brüllend verging. Es gelang ihm nicht immer, niederstürzendem Fels auszuweichen. Aber irgendwie schaffte er es trotzdem, seinen Weg fortzusetzen. Bis er endlich am Ziel angelangt war. Sie hockte stumm und starr in ihrer Kammer, scheinbar in ihr Schicksal ergeben. Salvats Erscheinen jedoch brachte Bewegung in Lilith Eden. Entsetzen fraß sich in ihre Züge, und schreiend setzte sie sich gegen ihn zur Wehr. Trotzdem gelang es ihm, sie zu packen und fortzubringen. In Sicherheit. Gern hätte er sich auf würdigere Weise von ihr verabschiedet, aber es war ihm nicht möglich. Zum einen, weil seine Zeit drängte. Zum anderen, weil sie in ihm ein Monstrum sah. Das er vielleicht immer auch gewesen war … Nachdem er Lilith in sicherer Entfernung vom Berg abgesetzt hatte, kehrte Salvat dorthin zurück, wo das Werk seines Lebens verging. Wieder gelang es ihm, den Weg zurück in die Innere Halle zu finden, wenn auch nicht ungehindert und unbeschadet. Aber die Macht, die ihm noch geblieben war, genügte, um zu tun, was er tun mußte. Er riß das Tor selbst mit sich in den Untergang.
* Der Mann ohne Persönlichkeit im türlosen Kerker spürte das nahende Ende, als wäre es eine schwarze Woge, die auf ihn zurollte. Der Boden unter ihm bebte, die Wände erzitterten, mußten gleich
brechen und auf ihn niederstürzen unter solcher Gewalt. Doch er fand in sich nichts, was Angst auch nur ähnlich gewesen wäre. Sondern nur eine seltsame Art von – Erleichterung …? So war es in der Tat, und er wunderte sich kaum darüber. Die Aussicht darauf, daß alle Gewißheit enden konnte, beruhigte ihn. Obgleich es ihn das Leben kosten würde. Aber was war das schon für ein Leben – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, nur in einem endlosen Moment gefangen? Als sich die bislang fugenlosen Mauern seines Kerkers schließlich öffneten – nicht brachen, sondern schlicht verschwanden, als wären sie ihrer Substanz beraubt worden –, tat er doch einen zögernden Schritt über die Grenzen seines Gefängnisses hinaus, und einen weiteren. Noch immer regte sich nichts in ihm, das ihm verraten hätte, wo er war oder wie er hierher gelangt war. Der bebende Fels, durchzogen mit offensichtlich von Hand errichtetem Mauerwerk, war ihm fremd. Der Blick, mit dem er sich umsah, hatte etwas von dem eines gehetzten Tieres, das sich, obschon es den Tod vor Augen hatte, nicht damit abfinden konnte, daß es zu Ende sein sollte. Es mußte einen Ausweg geben! Der einzige Ausschnitt der Welt, den der Mann ohne Erinnerung kannte, verging zwar gerade, aber jenseits dieser Grenzen gab es noch einen größeren, viel größeren Teil. Ihn mußte er erreichen – irgendwie! Weißglühende Risse zerklüfteten die Wände rings um den Mann her, überzogen sie als Netz von sinnverwirrender Struktur und sprengten sie schließlich. Trümmer regneten um ihn herum nieder. Andere schmolzen unter der gewaltigen Kraft, die sie aus ihrem Verbund gerissen hatte, und verwandelten sich in glühenden Regen. Wie durch ein Wunder blieb der Mann unverletzt. Aber er wußte, daß er dieses »Glück« nicht länger strapazieren durfte. Er mußte
endlich fort von hier! Einen kurzen Moment nahm er sich noch, um sich zu orientieren. Gehetzten Blickes suchte er nach einem Weg, auf dem der Boden zumindest noch stabil genug schien, um sein Gewicht zu tragen. Dann rannte er los, entlang einer Schneise, die bislang halbwegs unberührt geblieben war von der ungeheuren Zerstörungskraft, die allerorten wütete. Mochte der Mann sich auch seit seinem Erwachen verlassen und gefangen in völliger Einsamkeit vorgekommen sein, jetzt schien etwas auf den Plan getreten zu sein, das seine schützende Hand unsichtbar über ihn hielt. Unbeschadet hastete er durch felsige Korridore und steinerne Treppen, immer die aufwärts führenden wählend. Wie von einem heimlichen Instinkt geleitet schlug er Haken und schaffte es, herabstürzenden Gesteinsbrocken und Balken ein ums andere Mal auszuweichen. Soweit wenigstens, daß sie ihn allenfalls streiften, ohne ihn nennenswert zu verletzen oder gar aufzuhalten. Endlich gelangte er ins Freie, ohne unterwegs auf eine Menschenseele gestoßen zu sein. Der Ort schien verlassen. Vielleicht hatten seine Bewohner sich noch retten können, vielleicht waren sie längst alle umgekommen in dem Chaos. Erst inmitten eines weitläufigen Hofes, der an drei Seiten von vergehenden Bauten gesäumt wurde, blieb er schließlich stehen. Während hinter den Gebäuden steiler Fels aufragte, sah der Mann an der vierten Seite der Hoffläche eine Mauer, nicht minder zerstört. Dorthin lief er nun, schob sich durch eine Kluft im Mauerwerk, in der Hoffnung, dahinter möge ein Weg liegen, auf dem er seine Flucht fortsetzen konnte – Er schrie auf! Denn unter ihm fiel die Flanke eines Berges lotrecht ab, in eine Tiefe, die zu ermessen sein Blick nicht reichte. Knirschend löste sich Gestein unter seinen Füßen. Die Kante, an
der er eben noch mit Mühe hatte stoppen können, bröckelte – und brach! Für einen endlosen Moment fühlte der Mann sich fast schwerelos, wie über dem Nichts schwebend, zwischen Himmel und Erde. Wie von einem Sog fühlte er sich von der Schwärze dort unten gepackt. Als wollte ein lichtloser Schlund ihn verschlingen, wurde er hinabgerissen. Ums Haar –! Irgendwie schaffte er die unmögliche Bewegung, sich haltlos nach hinten zu werfen. Hart schlug er mit dem Kreuz gegen die Felskante, drehte sich trotz des Schmerzes, der sein Rückgrat in pure Glut verwandelte, um und griff mit den Händen um sich. Die Finger seiner Rechten klammerten sich um ein faustgroßes Mauerfragment. Seine Nägel splitterten mit hörbarem Geräusch, als er abzurutschen drohte. Seine linke Hand fand festeren Halt. Mit Brust und Schultern auf trügerischem Grund, tastete er weiter über den Felsabbruch hinweg. Zentimeterweise gelang es ihm, sich hochzuzerren. Nur die Nachwirkung des Schreckens ließ ihn sekundenlang schweratmend liegenbleiben. An Kraft mangelte es ihm nicht. Die waghalsige Selbstrettung schien nicht im geringsten an seinen Reserven gezehrt zu haben. Im Aufstehen entdeckte er einen kleinen Bau, der zur Hälfte über die Felskante hinausragte. Ein Verdacht, was sich darin befinden könnte, keimte in ihm; Verzweiflung nährte ihn zur Hoffnung. Als er die verzogene Tür der steinernen Klause aufriß und durch die niedrige Öffnung trat, entfuhr dem Mann ein keuchender Laut – halb Schrecken, halb Erleichterung. Schrecken deshalb, weil direkt vor seinen Füßen ein Mönch lag, tot, den Schädel zertrümmert von einem herabgestürzten Balken. Und Erleichterung, als er die Seilwinde sah! Und daran hängend ein Korb, über einer Luke im Boden, unter der sich der Abgrund
auftat. Rasch erkannte der Mann, daß er hier auf den einzigen Ausweg gestoßen war. Mit dieser Vorrichtung konnte man sich selbst im Korb sitzend abseilen. Zuvor aber besann er sich seiner Nacktheit, streifte dem toten Mönch hastig die Kutte ab und warf sie in den Korb. Sie konnte ihm auf seinem weiteren Weg – so er dies hier überlebte – nützlich sein. Ohne Kleidung würde er rasch aufgefallen und wahrscheinlich bald auf einer Polizeistation enden, wo man ihm Fragen stellen würde, die er nicht beantworten konnte. Den Korb zu besteigen war nicht ganz einfach. Für einen Moment hing der Mann wie im Spagat über dem Nichts. Die Hände schon am Seil, zog er sich mit einem Ruck endlich ganz in den hin und her schwankenden Korb. Dann schienen seine Fäuste schier zu fliegen, als er den Korb in Bewegung setzte. Doch er schien sich wie durch zähen Widerstand kämpfen zu müssen, so langsam war die Abwärtsbewegung. Über dem Mann knirschte und knackte es schon im Mauerwerk und im Gebälk. Bald würde auch dieses Gebäude der Zerstörung anheimfallen. Die Windenvorrichtung würde in die Brüche gehen, und er – »Schneller«, trieb der Mann sich an, »schneller!« Die Bewegung seiner Hände war mit bloßem Auge kaum mehr zu verfolgen. Was immer ihn sicher aus den einstürzenden Felsbauten hatte herauskommen lassen, es schien ihn auch jetzt nicht verlassen zu haben. Bald konnte der Mann unter sich schattenhaft den Erdboden ausmachen, von Geröll übersät – und immer noch weit entfernt! Ein Ruck! Der Korb sackte durch. Etwa einen Meter weit. Der Mann sah auf, ohne freilich über sich mehr erkennen zu können als einen kantigen Schatten, fast schon winzig in der Entfernung. Der kurze Sturz konnte nur bedeuten, daß die Balkenkonstruktion,
über die das Seil lief, zerbrochen war. Vielleicht hatte sich das tragende Gestänge danach in der Luke verkantet – aber für wie lange? Während ihm diese Überlegungen durch den Sinn gegangen waren, hatte der Mann nicht aufgehört, den Korb weiter abwärts zu bewegen. Mit bangem Blick versuchte er die verbleibende Distanz zu schätzen. Zehn Meter? Nicht sehr viel weniger. Weiter! Noch sieben, sechs, fünf … Würde er einen Absturz aus dieser Höhe überstehen? Der Mann wunderte sich über die Nüchternheit, in der er sich diese Frage stellte. Denn er stürzte längst! Krachend zerbarst der Korb unter ihm, als er aufschlug. Um ihn her prallten von weit oben herabstürzende Trümmer auf. Irgend etwas traf seinen Hinterkopf, zündete eine Explosion direkt unter seiner Schädeldecke. Und die Nacht flutete in seinen Kopf.
* Ich bin das Kind. Ich bin Gabriel. Aber meine Name ist ebensowenig von Bedeutung wie meine Gestalt. Nicht mehr … Denn endlich bin ich dem, was ich immer war und wieder sein wollte, näher denn je zuvor. Obgleich mir die letztliche, körperliche Passage des Tores verwehrt bleiben wird. Weil Michael, der sich in dieser Welt Salvat nennt und dem ich einst gleich war, sie auf ewig verschlossen hat. Gegen die Macht, die sein Tod entfesselt hat, käme ich niemals an. Mein jahrhundertelanges Wirken jenseits des Tores war vergebens. Indes – es ist gleichgültig. Denn ich bin meinem Ziel fast so nahe, als wenn mein Plan sich in der vorgesehenen Weise erfüllt hätte …
Obwohl ich noch immer nur die Gestalt eines Kindes besitze, verfüge ich in dieser Hülle doch wieder über all mein altes Wissen – und auch das Machtpotential, über das ich auf Erden einst verfügte, habe ich beinahe schon erreicht. Lange genug habe ich dieses Zeitpunkts geharrt. Seit jenem Jahr, das in der Zählweise der Menschen als 1666 benannt ist. Welch’ eine Ironie, daß die Entscheidung gerade mit dieser Jahreszahl einherging. Damals, in der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts, hatte ich mir dreigestaltig den Boden bereitet. Mithin in der Lage, an drei Orten zur gleichen Zeit wirken zu können, brachte ich Zwiespalt, Neid und Haß unter die Menschen, um mich dann, wenn der Boden für mein wahres Wesen bereitet war, zu vereinen mit mir selbst. Zu einem Gott, als der ich mich aufschwingen wollte zum Herrscher über das Chaos; um mich daran zu ergötzen und am Leid der Welt zu laben; um die Menschen wie Marionetten zu führen, denn nichts anderes wollen sie doch sein – ganz gleich, unter wessen Knute. Wenn ein Führer sie denn nur anleitet in ihrem Tun und ihnen das Denken abnimmt, sind sie bereit, ihm blind zu folgen … Meine Saat war damals prächtig gediehen auf Erden. Die Menschheit zerfleischte sich dreißig Jahre lang im Kriege, und schlimmste Folgen erblühten ganz von selbst daraus – Hunger und Armut, übelste Krankheiten. Die Welt war mir zum Wohlgefallen in jener Zeit, und sie war reif, von mir genommen zu werden – – hätte nicht Michael mit seiner elenden Brut meinen Triumph vereitelt. Doch sie hatten noch mehr getan in jener Pestgrube, in der ich mir den letzten Rest von Kraft hatte einverleiben wollen, der mir noch fehlte, um die Herrschaft anzutreten. So schwer hatten sie mich geschlagen, daß ich nicht nur zurück in meine ureigenen Sphäre geschleudert worden war, sondern so geschwächt dorthin zurückkehrte, daß ich fortan keinen Einfluß mehr nehmen konnte auf die Menschenwelt. Zu sehr war ich damit befaßt, mich zu regenerieren. Alle Kraft mußte ich darauf verwenden, so daß ich meine Dreigestalt nicht von
neuem zu entsenden vermochte. Mit der Zeit jedoch erkannte ich, daß ein solcher Auftritt ohnedies nicht mehr vonnöten war. Meine hinterlassene Saat wuchs weiter unter den Menschen; sie entwickelten sich wie von selbst ganz in meinem Sinne. Das BÖSE wucherte auf Erden und infizierte die Menschheit, mehr und mehr. Schlimmste Kriege wurden gefochten, von Führern, die mir fast ebenbürtig waren, aber nicht nur darin äußerten sich die Folgen meiner Hinterlassenschaft. Auch im Kleinen gediehen Mißgunst und Boshaftigkeit; nicht einmal von Familienbanden ließ es sich aufhalten. Und schließlich war die Welt ganz in dem Maße bereit für meine Herrschaft, als hätte ich selbst die Saat gehegt und gepflegt. Meine Macht hatte sich noch nicht genügend wieder aufgebaut, als daß ich die Dreiheit hätte entsenden können. Was mich indes nicht anfocht. Denn ich hatte nicht länger vor, mich mit Inkarnationen zu begnügen, die nur ein Abbild meiner selbst darstellten – – nein, ICH SELBST würde mir die Welt erobern, in einem Sturm, der ihr Antlitz verheeren und die Menschen in die Knie zwingen würde vor meiner bloßen Präsenz. Durch das TOR wollte ich kommen. Es mußte nur geöffnet werden … Da mir die Möglichkeit, die Dreigestalt zu diesem Zwecke zu nutzen, also verwehrt war, sammelte und entsandte ich zumindest soviel meiner Macht, daß mir drüben ein Kind geboren wurde. Zwar war es nur der geringste Teil von mir, aber so, wie in einer menschlichen Zelle alle Erbanlagen gespeichert sind, ruhte in diesem Kind all mein Wissen. Mit der Zeit und unter geeignetem Einfluß würde es sich entfalten und nutzbar werden. Und so ist es nun geschehen. Mag es dem Kind letztlich auch nicht gelungen sein, mein wahres Wesen zu befreien und zu entfesseln, so trägt es dank des flüchtigen Kontakts durch das nur kurz geöffnete Tor doch genug in sich, um ganz dem Vater nachzugeraten …
Und nach Michaels Tod gibt es niemanden mehr auf dieser Seite, der es noch aufhalten könnte! Im Gegenteil – es nennt schon einen ersten Verbündeten sein eigen! Den es nun zu sich ruft …
* Gabriel verließ das Kloster und fand einen Weg hinauf auf die Gipfel des Monte Cargano, wo die Nacht selbst den Fels fast zu berühren schien. Eisiger Wind umtoste ihn, zerrte an seiner schmächtigen Gestalt, als könnte selbst die Naturgewalt spüren, wer dieses Kind wirklich war, und als versuchte sie, ihn hinab in die Tiefe zu reißen, auf daß er die Welt nicht heimsuchen könnte. Der Junge lachte und ließ es nicht zu, daß der Sturm ihm dieses Lachen von den Lippen riß. So kam es fast dem Donner gleich, mit dem hinter ihm das Kloster der Illuminati verging. Dann rief er seinen Verbündeten. Und derweil er dessen Ankunft erwartete, nutzte er seine neuerkannte Macht, um sich eine neue Gestalt zu geben. Die Gestalt eines Tieres, dem es im Blute lag, über Stock und Stein selbst in schwindelnder Höhe zu klettern. Das Tier erklomm die höchste Stelle des Berges, die einem abgebrochenen Turm gleich ins Dunkel aufragte. Kläglich klang sein Ruf in die Nacht, ganz wie das des Jungtieres, das Beisein und Schutz der Mutter erflehte. Ein Schatten, dunkler noch als die Nacht, rauschte heran, senkte sich über die scheinbar unschuldige Kreatur. Mit den Flügeln schlagend verharrte der, den die Menschen den »König der Lüfte« nannten, über dem Tier. Seine kräftigen Krallen faßten es behutsam am Fell des Nackens und des Rückens. Dann stieg der Adler wieder auf, das gehörnte Tier in seinen Fän-
gen – – und seine Silhouette war so gewaltig, daß sich das Rund des Mondes dahinter verbarg, als er es passierte. Epilog Hoch über Lilith Eden ging ein kleiner Teil der Welt unter. Doch die Frau ohne Persönlichkeit wußte es nur, weil sie den Beginn des Untergangs mit eigenen Augen hatte verfolgen können. Bevor – das Ding zu ihr gekommen war, sie gepackt und fortgebracht hatte. Hierher, an den Fuß des Berges, von dem sie weder wußte, wie er hieß, noch wo er lag. Wie sie so vieles nicht wußte, was mit ihrem früheren Leben zusammenhing. Trotzdem war allein in der kurzen Zeit seit ihrem Erwachen (aus dem Nichts?) so vieles auf sie eingestürmt, daß es genug sein konnte für ein ganzes Leben … Die Frau sah auf, als das Knirschen von Stein an ihr Ohr drang. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Ein Mann, gewandet wie ein Mönch, trat näher. Sein narbiges Gesicht schien ihr so düster, als würde es selbst das kärgliche Licht des Mondes und der Gestirne noch abweisen. Die Frau wußte, daß sie Furcht oder wenigstens doch Erschrecken hätte empfinden müssen. Statt dessen jedoch verspürte sie nur vage Erleichterung. Weil jemand gekommen war, der sie ihre Einsamkeit für den Moment vergessen ließ. »Wer bist du?« fragte der Mann. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Aber man sagte mir, ich hieße Lilith.« »Dann bist du wie ich. Auch ich erinnere mich nicht. Und ich kenne noch nicht einmal meinen Namen …« Er lächelte, und sie erwiderte es zaghaft.
»Sieh!« sagte er und wies nach oben, zum Mond hin. Ein Schatten verdunkelte das Rund, lange genug, daß sie beide die Konturen erkennen konnten. »Ein Adler …«, flüsterte die Frau. »… der ein Zicklein geschlagen hat«, ergänzte der Mann. »Das könnte bedeuten, daß in der Nähe ein Gehöft zu finden ist – vielleicht sogar ein Dorf«, meinte er dann. »Dann laß uns gehen«, forderte sie ihn auf. Und so gingen sie. So einträchtig nebeneinander, als hätten sie schon immer zusammengehört, schritten sie dem neuen Tage zu. Hunger hatten sie beide nicht. Allein ihr Durst wuchs. Doch keine Quelle, die sie an ihrem Wege fanden, vermochte ihn zu stillen. Erst als sie in einem Dorf anlangten, dessen Häuser sich wie Schlachtvieh angstvoll in eine weite Senke duckten, keimte namenlose Hoffnung in ihnen. Doch die Frau und der Mann ohne Erinnerung wußten diese Hoffnung nicht zu erfüllen. Nicht mehr. ENDE
Der Hochsitz Leserstory � von Pal Lamian � Die Lichtung lag tief im Inneren des Waldes, dort, wohin sich normalerweise niemand verirrte, nicht am hellichten Tage und erst recht nicht nachts. Hier konnte er im Schutz der Dunkelheit und Abgelegenheit seiner Leidenschaft nachgehen – der Jagd. Stundenlang, manchmal die ganze Nacht hindurch, lag er auf der Lauer, um die Umgebung mit dem großäugigen Feldstecher zu beobachten und mit dem Zielfernrohr potentielle Trophäen anzuvisieren. Am Rande der Lichtung stand der Hochsitz. Er hatte ihn bei einem seiner Streifzüge entdeckt und bediente sich seiner, seit er sicher war, daß er von niemandem mehr benutzt wurde. Das Holz war noch gut, die ganze Konstruktion stabil und sicher. Heute hatte er hier oben im Schatten der Tannen, die ihn vom bleichen Mondlicht abschirmten, Stunde um Stunde verbracht, ohne daß irgend etwas passiert war. Kein Wild. Keine registrierbare Bewegung in seinem Blickfeld. Rein gar nichts. Nur das monotone Winken von Ästen und Straucharmen, die im leise heulenden Wind hin und her gebogen wurden. Ihm war nicht kalt. Er hatte sich gut auf eine weitere Nacht hier draußen vorbereitet und trug einen dick gefütterten Mantel, Thermo-Hosen und Snowboots, einen wollenen Pullover mit hohem Rollkragen, ein langärmeliges Shirt und schließlich noch ein Unterhemd. Das Gesicht hatte er mit einem Schal vermummt, auf seinem Kopf saß eine Pudelmütze. Außerdem stand eine Thermoskanne mit Kaffee bereit, in der Tasche lagen einige Brote, und zu guter letzt hatte er auch noch eine Flasche Hochprozentigen dabei. So erwartete er gut über die Runden zu kommen in dieser Nacht.
Es war Rauschzeit – Dezember. Hochzeit des Schwarzwildes. Die Bäume waren kahl. Nackte Skelette, schwarz und knöchern wie abstrakte Gestalten, die ausgehungert und gierig ihre Glieder nach ihm ausstreckten. Man konnte vieles in diesen windbewegten Ästen sehen. Hier oben war ein Spielplatz der Phantasie. Sein Gewehr lehnte am Geländer in Griffbereitschaft. Geladen. Entsichert. Jederzeit schußbereit. Er erhob sich immer wieder von seinem Klappstuhl, um die Beine zu bewegen und erneut den Blick über die Lichtung streifen zu lassen. Entdecken konnte er jedoch rein gar nichts. Wie schon die ganze bisherige Nacht hindurch. Immerhin geschlagene vier Stunden der absoluten Stille und beißenden Kälte. Immer wieder griff er nach der Waffe. Meistens nur, um die behandschuhten Fingergelenke in Bewegung zu halten. Seufzend stieß er einen Schwall nebligen Atems durch den wollenen Filter vor seinem Gesicht hindurch. Hinter dem Schal klang seine Stimme gedämpft. Im nächsten Moment erstarrte er, als eine Stimme zu ihm herangeweht wurde. »Wen haben wir denn da?« Von irgendwoher war die leise Stimme zu ihm herübergeweht worden. Er lauschte in die Dunkelheit. Augenblicklich war alle Müdigkeit von ihm abgefallen, und er atmete nur noch flach. Dennoch kam es ihm vor, als würde er so deutlich vernehmbar keuchen wie ein erschöpftes Schlachtroß. Laut knarrte der Klappstuhl, als er sich langsam erhob. Viel zu laut knarrte der Holzboden des Hochsitzes, als er sich ans Geländer stellte, um in die Dunkelheit der Lichtung hinauszuspähen. Seine Hand suchte nach dem Gewehr und packte den Lauf, als wäre es ein Rettungsanker. »Wen holen wir da runter von seinem Thron?« Die Stimme war tief. Ein einziges, an der Grenze zur Unverständlichkeit stehendes Brummen. Fast schon ein Knurren. »Niemand wildert in meinem
Wald.« Ein letzter Knurrlaut. Kraftvoll. Irgendwie bedrohlich. Unmöglich für eine menschliche Kehle. Dann war wieder Stille. Absolutes Schweigen über der Lichtung. Sein Atem stieg vor seinen Augen hoch, als er den Schal und die Mütze abnahm. Dort ein Knacken. Brechen von Geäst. Leise nur, weit weg, auf der anderen Seite der Lichtung. Sofort griff er nach dem Feldstecher und ließ seinen Blick über die Baumreihen des gegenüberliegenden Waldrandes gleiten. Keinerlei Bewegung inmitten der schwarzen Wand. Rein gar nichts. Er nahm das Fernglas wieder herunter und sah sich um. Spähte in die Schwärze hinein. Finstere Wiese, von Buschwerk und Sträuchern durchsetzt. Genügend Deckungsmöglichkeiten. Kein Wunder, daß er nichts sehen konnte … Dort! Er hätte schwören können, daß er eine schnelle Bewegung ausgemacht hatte. Oder …? Erst nachdem er sicher war, daß er sich doch geirrt haben mußte, nahm er Notiz davon, daß er das Gewehr im Anschlag hielt. Verwirrt ließ er es wieder niedersinken. »Absolut niemand.« Augenblicklich wies der Lauf in die Richtung, aus der die Stimme erneut aufgeklungen war. Es hatte sich näher angehört als zuvor. Und tiefer. Viel tiefer … Der Wilderer leckte sich nervös über die Lippen, die Gefahr mißachtend, daß die nasse Haut in der kalten Luft aufspringen konnte, und räusperte sich die Kehle frei. »Wer ist da?« Auf eine Reaktion wartete er vergebens. Leise fluchte er vor sich
hin und leckte sich wieder über die Lippen. Ein Knacken. Brechen von trockenen, kalten Ästen. Aus einer völlig anderen Richtung als das letzte Mal. Verwirrt ließ er seinen Blick nun über ein breiteres Gebiet schweifen. Irgendwo flatterte ein Vogel verschreckt über die Lichtung und lenkte ihn für einen Moment ab. Beinahe hätte er auf das Tier abgedrückt. In dieser verdammten Dunkelheit konnte man so gut wie nichts erkennen … Rascheln von Gezweig. Schritte auf vereistem Gras. Direkt unter ihm, am Fuß des Hochsitzes! Er beugte sich nach vorn und starrte sechs Meter tief in die Dunkelheit. Und erkannte dort unten – rein gar nichts. Wiederholt begann er, wüste Flüche auszustoßen. Er hörte erst damit auf, als er bemerkte, daß sich die Leiter hinter ihm in ihrer provisorischen Befestigung bewegte. Das Holz der Sprossen knarrte unter irgendeinem Gewicht. Er schob sich vorsichtig an das Geländer heran, darauf bedacht, kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Schließlich hatte er die Grenze der Plattform erreicht und lugte zaghaft über den Rand in die Tiefe. Schwarz und schattenreich präsentierte sich ihm der Blick in den Abgrund. Er konnte die Umrisse der Leiter ausmachen und nahm jetzt, wo er direkt neben ihr stand, die Erschütterungen um so deutlicher wahr. Und dann entdeckte er das leuchtende Kugelpaar, das mitten in der Luft zu schweben schien und mit abgehackten Bewegungen auf ihn zustieß. Ein Knurren drang an sein Ohr, und wieder erzitterte das Holz der Leiter unter einem immensen Gewicht, das sich hastig in die Höhe zog. Was um alles in der Welt war das? Wie in einem Traum, aus dem er sich augenblicklich aufzutauchen wünschte, um sich im nächsten Moment naßgeschwitzt in einem zerwühlten Bett wiederzufinden, richtete der Wilderer den Lauf des
Gewehres in die Tiefe und drückte ab. Der Schuß zerriß die Stille über der Lichtung, so wie das Aufblitzen vorne am Laufende die Dunkelheit. Irgendwo schreckten vereinzelte Vögel aus dem Schlaf hoch und flatterten verängstigt durch die beißend kalte Nachtluft. Die Nacht war plötzlich erfüllt von bisher erstorbenen Geräuschen. Rascheln in den Büschen. Brechen von Astwerk. Der von Panik erfüllte Ruf irgendeines Kleintieres. Aber das war alles bloß Hintergrund, bloß Kulisse. Über alles legte sich das infernalische Brüllen, das ihm aus der Tiefe entgegenklang. Er glaubte auch noch das Splittern der Leitersprossen unter sich hören zu können. Sicher, getroffen zu haben, war er aber erst, als sich das Geländer aus seiner Befestigung löste und zusammen mit den Resten der Leiter zum Erdboden hinabstürzte. Und als das Geräusch eines schweren Körpers, der dumpf auf den gefrorenen Waldboden prallte, sich in das Splittern von brechendem Holz mischte … Dann kehrte für einen Moment die Stille zu dem am Lichtungsrand stehenden Hochsitz zurück. Für eine halbe Ewigkeit … In Wahrheit vergingen nur Sekunden, doch der Wilderer hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Sein Atem drang stoßweise aus dem weit geöffneten Mund und schwebte in nebligen Wolken davon. Hinauf in die Finsternis des Nachthimmels. Seine Hände schienen am Geländer festgefroren zu sein, seine Füße mit dem reifüberzogenen Boden der Plattform verwachsen … War das nicht eben eine Bewegung gewesen? Dort wieder! Am Fuße des Hochsitzes! Irgend etwas machte sich dort unten an den Stützpfählen zu schaffen. Als er es für einen Moment im Mondlicht zu erkennen glaubte, schwand sein Fluchen zu einem kraftlosen Hauch. Als hätte ihm et-
was alle Kraft aus dem Körper gesogen … Das Knurren umkreiste den Hochsitz. Immer und immer wieder. Ein glühendes Augenpaar funkelte zu ihm herauf. Wie lange war er jetzt schon hier oben? Er wußte es nicht. Die Kälte schnitt ihm in die Haut. Er umwickelte zum wiederholten Male sein Gesicht mit dem klammen Schal und zog sich die Pudelmütze tief in die Stirn. Das Knurren formte wieder Worte, hervorgepreßt unter glühender Wut, artikuliert in einer Kehle, die nicht zum Sprechen geeignet war … »Niemand wildert in meinem Wald!« Ein Zittern lief durch die ganze Holzkonstruktion, als das Wesen dort unten die Pfähle packte und sie zu brechen versuchte … Der Wilderer preßte die Lider aufeinander, als könne er dadurch alle Gefahr aus der dunklen und eisig kalten Welt schaffen … Niemand würde ihm zu Hilfe kommen. Nicht umsonst hatte er einen weit abgelegenen Teil des Waldes ausgewählt, in den sich kein vernünftiger Mensch verirrte. Vielleicht würde man irgendwann die zerstörten Überreste des alten Hochsitzes finden. Aber würde man auch die Reste des Mannes entdecken, der auf der Plattform gestanden hatte? Und seinen Mörder? Wer konnte schon der Fährte folgen, die in das Unterholz hineinführte und sich in der Tiefe des frierenden Winterwaldes verlor? © Klaus Giesert, Semmelländerweg 10, 13.593 Berlin ENDE
Die Rückkehr des Nexius � von Robert deVries Einst war sie eine Königin. Ihr Name und ihre Schönheit waren weit über Ägypten hinaus bekannt. Doch als man sie vor dreieinhalb Jahrtausenden lebendig begrub, wurde sie zur Dienerin; zur Heimstatt eines Wesens, das zusammen mit ihr in eine magische Pyramide eingeschlossen wurde. Der Nexius, ein amorphes, vampirfressendes Monstrum, ging in seinem Gefängnis eine Symbiose mit Nofretete ein und ließ sie die Zeiten überdauern. Als Grabräuber die Gruft schließlich aufbrachen und die Siegel zerstörten, entkam Nofretete – und mit ihr die Kreatur, die sie in sich trug. Anderthalb Jahre sind seither vergangen. Lilith und Landru denken längst nicht mehr an die vergangenen Schrecken. Doch nun … kehrt der Nexius zurück!