Der große Krieg war zu Ende gegangen. Auf die Vernichtung und das Chaos folgte die Herrschaft der Himmelsmenschen. Sie ...
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Der große Krieg war zu Ende gegangen. Auf die Vernichtung und das Chaos folgte die Herrschaft der Himmelsmenschen. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, auf den Ruinen neu aufzubauen und zukünftige Kriege mit allen Mitteln zu verhindern. Die überlebenden Menschen wurden in Städte deportiert, zwischen denen keine Verbindung bestand. Flugmaschinen besaß nur die herrschende Kaste der Himmelsmenschen, die von einer gigantischen Raumstation im Orbit um die Erde ihre Macht ausübte. Aber in den Städten wuchs die Unzufriedenheit, und die Raumstation der Himmelsmenschen wurde zum Symbol für die verhaßte Tyrannei ...
Ferner liegen vor in der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories 1 (2760) Science-Fiction-Stories 2 (2773) Science-Fiction-Stories 3 (2782) Science-Fiction-Stories 4 (2791) Science-Fiction-Stories 5 (2804) Science-Fiction-Stories 6 (2818) Science-Fiction-Stories 7 (2833) Science-Fiction-Stories 8 (2845) Science-Fiction-Stories 9 (2853) Science-Fiction-Stories 10 (2860) Science-Fiction-Stories 11 (2873) Science-Fiction-Stories 12 (2877) Science-Fiction-Romane: Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Jeff Sutton: Sprungbrett ins Weltall (2865) Bart Sommers: Zeitbombe Galaxis (2872)
Manly Wade Wellman
Insel der Tyrannen SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Ullstein Buch Nr. 2876 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien
Titel der amerikanischen Originalausgabe: ISLAND IN THE SKY Übersetzt von Heinz Nagel Erstmals in deutscher Sprache
Umschlaglayout: Ingrid Roehling Umschlagillustration: Pyramid Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1961 by Manly Wade Wellman Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02876-4
1 Es war Abend. Die zweite Schicht unten in der Grube wußte, daß oben jetzt Abend war. Sie wußten es, weil die ausdruckslose, laute Stimme des Lautsprechersystems durch die Korridore hallte: »Werkzeuge ablegen ... Aufstellen und fertigmachen –.« Wie alte Soldaten bildeten sie eine Reihe und standen in soldatischer Haltung da, die grauhemdigen Sträflinge der zweiten Schicht. Es waren lauter Lebenslängliche, Männer mit bleichen, unrasierten Gesichtern, Männer mit muskulösen Körpern, die die Arbeit an den schweren Maschinen im tiefsten Kellergeschoß der großen Atomitanlage von New York hart gemacht hatte. Hinter ihnen summten und dröhnten die Generatoren. Vor ihnen tauchten die Männer der dritten Schicht auf, ebenso grau gekleidet, ebenso bleich und hart, ebenso muskulös. Und vor ihnen die Wärter und hinter ihnen und zu beiden Seiten. Die Luft lastete schwer wie eine Flüssigkeit auf ihnen. Das mußte sie schließlich auch, hier, fast 25 Kilometer unter der Erdoberfläche in der untersten Etage des Stadtgefängnisses von New York. Auch die Wärter hatten harte Gesichter und muskulöse Körper, aber sie trugen enganliegende, glän-
zende Uniformen, und in ihren geübten Händen lagen schußbereite Maschinenpistolen. Weitere Wärter standen oben auf den Gängen bereit. Einer mit zwei Streifen am Arm brummte einen Befehl. Die zweite Schicht marschierte in einen finsteren Korridor, den plötzlich der weiche, bleiche Schimmer der Sträflingsgesichter erhellte. Zwei Jahre in den unteren Bereichen der Atomitanlage reichten aus, um das Fleisch eines jeden Mannes mit den Elementen anzureichern, die diesen geisterhaften Schein erzeugten. Und diesen Schein verlor man nie wieder. Grubenschein nannten das die Ärzte und beharrten darauf, daß er harmlos sei. Die Sträflinge waren da anderer Ansicht, aber sie hatten gelernt, nie etwas in Frage zu stellen. Die zweite Schicht bekam den Befehl zu marschieren. Und sie marschierte. Um eine Biegung im Korridor, um noch eine. Dann erreichten die Männer den niedrigen Eßraum mit den stählernen Barrieren. Die Tische und Bänke waren aus Metall, und Teller und Tassen mit Brühe und Kaffee standen bereit. Das Essen schmeckte nach den Vitaminkonzentraten und den Drogen, die man brauchte, um Männer, die 25 Kilometer unter der Erde ohne Sonnenlicht arbeiteten, gesund und am Leben zu erhalten. Und jenseits der Messe warteten die endlosen Reihen von Zellen, jede zwei mal drei Meter groß, jede mit ihrer Gitter-
tür, einer Segeltuchpritsche und jede nach Desinfektionsmittel stinkend. Wieder ein Befehl, und die Männer der zweiten Schicht stapften auf ihre Bänke zu. Aber ehe sie Befehl erhielten, sich zu setzen, schob sich ein vierschrötiger Wärter mit Sergeantenstreifen am Arm an eine Luke. »Sträfling Peyton!« sagte er. »Nummer 688-549J. Peyton!« Ein Wärter ging an der Reihe Sträflinge entlang und holte einen Mann heraus. »Los, Peyton, melden Sie sich beim Sergeant! Die anderen – setzen!« Sie setzten sich auf die Bänke und ließen den Wärter und Peyton stehen. Eine ruckartige Kopfbewegung des Wärters, und der Sträfling ging auf eine Tür zu. Pierce Peyton, Nummer 688-549J, war mittelgroß und kräftig gebaut. Ein dunkler Stoppelbart bedeckte sein kantiges Kinn, die Oberlippe und die asketischen Wangen. Seine stahlblauen Augen in dem im Gefängnis bleich gewordenen Gesicht blickten bitter. Es waren die Augen eines Kämpfers. »Was ist denn?« knurrte er, und seine Stimme klang tief und rauh. »Fragen Sie mich nicht!« erwiderte der Sergeant. »Der Direktor hat Sie rufen lassen. Gehen wir!« Peyton schritt vor dem Sergeant einen Korridor entlang zu einer stumpfgrauen Stahlplatte mit der
Aufschrift DEKOMPRESSIONSKAMMER. Der Sergeant drückte einen Knopf; die Platte glitt in die Wand, und die beiden betraten eine enge Kammer mit Stahlwänden. Der Sergeant drehte an einem Ventil. Ein leises Pfeifen war zu hören. »Wir brauchen jetzt dreißig Minuten für den Druckausgleich«, erklärte er. »Wollen Sie inzwischen dort in der Ecke duschen?« Peytons Augen leuchteten auf, als er zu der Duschkabine hinüberblickte. Gleichgültig was auch geschehen würde – den Luxus der Sauberkeit wollte er sich nicht entgehen lassen. Er stieß seine schweren Schuhe weg, zog die groben Socken von den Füßen und entledigte sich des grauen Hemdes, der formlosen Hose und der Unterwäsche. Dann schaltete er die Dusche ein und seifte sich von Kopf bis Fuß unter dem heißen Wasserstrahl ein. Anschließend trocknete er sich mit einem rauhen Handtuch ab. Nackt wirkte seine Haut blutleer, aber seine Muskeln spielten bei der leisesten Bewegung und verrieten seine Bärenkräfte. Als er nach seiner Kleidung griff, hielt der Sergeant ihn zurück. »Bloß Unterwäsche und Socken«, sagte er. Sie verließen die Kammer durch eine zweite Schiebetür und betraten einen Lift. Er trug sie lautlos in die Höhe und hielt an. Wieder verbrachten sie einige Zeit in einer Druckkammer und fuhren dann mit dem Lift
weiter. Und das wiederholte sich noch ein drittes und ein viertes Mal. Das bedeutete, daß seit Peytons Schichtende zwei Stunden verstrichen waren. Er hatte Hunger, sagte aber nichts. Wieder eine Liftfahrt. In der Dekompressionskammer fanden sie diesmal einen Stuhl vor, und daneben wartete ein Kalfaktor im weißen Mantel. »Rasieren Sie Peyton!« befahl der Sergeant. Peyton setzte sich. Der Kalfaktor fuhr mit einem elektrischen Rasierapparat über Peytons kantiges Kinn und stutzte das zottelige schwarze Haar mit den vereinzelten grauen Strähnen. Peyton saß stumm und ausdruckslos da. Sein Gesicht wirkte jetzt hart und angespannt. Auch das Grübchen am Kinn ließ ihn nicht freundlicher erscheinen. Stumm hielt der Kalfaktor ihm einen Spiegel hin. Peyton sah hinein, grinste und zeigte seine geraden, gleichmäßigen Zähne. Er war in der Atomitanlage nicht jünger geworden, seit – ja, wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Sie kamen ihm wie eine Million Jahre vor. Dann wieder weiter hinauf, durch weitere Druckkammern, die sechste, die siebente und die achte. Peyton störte das nicht. Wenn man Jahre in der drükkenden Atmosphäre der Grube gelebt hatte, brauchte man Zeit, um sich auf den niedrigeren Luftdruck auf Meereshöhe einzustellen. Und gleichgültig, was auch dort auf ihn wartete –, nun, er hatte Zeit.
In der neunten Kammer wartete wieder ein Kalfaktor, der ihnen Kaffee und Sandwiches anbot. Neben dem Kalfaktor lagen ein paar weiße Hemden und einige billige Anzüge. »Verpassen Sie ihm was!« befahl der Sergeant kauend. Peyton hatte keine Mühe, ein passendes Hemd, eine Hose und ein Jackett zu finden. Nur die hellbraunen Schuhe, in die er schlüpfte, wirkten klobig an seinen Füßen. Dann reichte ihm der Mann eine Krawatte, dunkelrot mit blauem Muster. Peyton erkannte sie. »Die habe ich getragen, als man mich hier einlieferte«, sagte er. »Was ist denn aus meinen anderen Sachen geworden?« »Die Mode hat sich geändert«, erinnerte ihn der Sergeant. »Sie waren zwanzig Jahre aus dem Verkehr gezogen, Peyton. Wir schreiben jetzt das Jahr 1998.« Peyton blickte in einen Spiegel an der Wand, band sich die Krawatte und musterte das kantige weiße Gesicht mit dem kurzgeschorenen, melierten Haarschopf. »Stehen Sie nicht da und bewundern sich – so schön sind Sie nicht!« herrschte der Sergeant ihn an. »Der Alte möchte Sie am frühen Morgen sehen. Die meiste Zeit haben wir in den Druckkammern verbracht.« Und dann ging die Liftreise weiter, von einer Dekompressionskammer in die andere. Schließlich er-
reichten sie einen weiteren Korridor mit Metallwänden, grau wie die anderen, aber schwach erleuchtet, mit Licht aus irgendeiner indirekten Lichtquelle. Am Ende war ein Gitter und dahinter ein Posten. Auf Anweisung des Sergeanten drückte der Posten einen Knopf, und eine Schiebetür öffnete sich. »Okay, gehen Sie rein!« befahl der Sergeant Peyton. Und Peyton betrat das Büro des Direktors. Peyton war schon einige Male hier gewesen, aber das lag Jahre zurück, vor der Zeit, als man ihn in die Grube eingeliefert hatte. Es war dasselbe Büro mit seinem Schreibtisch, den Aktenschränken und den Instrumentenreihen an den Wänden. Nur der Direktor war neu. Ein blonder Mann mit wichtiger Miene, so saß er hinter seinem Schreibtisch, strahlend in dem grauen Tuch seiner Gefängnisuniform. Er war allein – immer allein, wie die Sträflinge behaupteten. Der Direktor blickte auf und sah Peyton an, der stumm und stramm vor dem Schreibtisch stand. Ein manikürter Finger legte einen Schalter an einem kleinen Gerät um, das auf dem Tisch stand. »Peyton«, sagte die Computerstimme. »Pierce. N.M.I. Seriennummer 688-549J.« Der Finger ließ den Schalter los. »Stehen Sie bequem, Peyton!« befahl der Direktor und drückte erneut auf den Schalter. »Alias Blacky«, verkündete der Computer. »Alter
bei Einlieferung sechzehn. Vorsätzlich begangener Mord. Lebenslang.« Das stimmte. Alles stimmte. »Akte«, fuhr der Computer fort. »G-6. Erstes Jahr LL., zwei Ex-T. Zweites Jahr LB, ein Ex-T –« Der Finger ließ den Schalter los. »Den Rest brauchen wir nicht, Peyton. Ich kann Ihnen genauso gut wie der Computer sagen, was in Ihrer Akte steht. Sie sind hier wegen Mordes eingeliefert worden.« Peyton sagte nichts. Sträflinge sprachen nie mit dem Direktor oder anderen Gefängnisbeamten, wenn man ihnen das nicht ausdrücklich befahl. Und selbst wenn er etwas sagen sollte – was für einen Sinn hatte es denn, zu behaupten, daß er den Revolver nicht angerührt hatte? Ein Jugendlicher, der 1978 in Richmond ausgerissen und nach New York gekommen war. Dort hatte er sich mit zwei Verbrechern zusammengetan, die er für bedeutende Leute hielt, und hatte ihnen bei einem Überfall auf das Lohnbüro einer Fabrik in Brooklyn helfen wollen. Und dann hatte ein Angestellter versucht, Widerstand zu leisten, und war erschossen worden; dann die hastige Flucht seiner Komplizen und seine Ergreifung durch die Polizei. »Man hat Sie hierhergebracht, damit Sie ein Verbrechen sühnen«, sagte der Direktor. »Man hat Sie anständig behandelt, als Sie kamen. Sie gingen zur Schule. Sie erhielten Bücher. Sie benahmen sich ver-
nünftig und erwiesen sich als rehabilitierungsfähig –« Wieder bewegte er den Schalter. »Intelligenzquotient 144«, sagte der Computer. Der Direktor ließ den Schalter los. »Das hätten Sie jetzt nicht hören sollen, Peyton«, sagte er. »Aber jetzt wissen Sie es. Überdurchschnittliche geistige Gaben. Sie hätten hier etwas werden können.« Was werden können? Ein sechzehnjähriger Junge, dazu verdammt, sein Leben im Gefängnis zu Ende zu leben? Peyton zwang sich, sich nichts anmerken zu lassen. Überdurchschnittliche Intelligenz oder nicht – Blacky Peyton war nicht clever gewesen. Aber das erkannte er zu spät. Peyton hätte in den oberen Etagen bleiben und dort Arbeit bekommen können, wie die anderen Jungen seiner Altersgruppe. Er hätte Kalfaktor werden und vielleicht in der Gefängnisschule bleiben können –. »Sie versuchten zu entfliehen«, erinnerte ihn der Direktor mit einer Stimme, die ebenso unpersönlich klang wie die des Computers. »Im ersten Jahr zwei Versuche. Man hat Sie erwischt und in die Atomitabteilung gesteckt. Das Jahr darauf haben Sie wieder einen Fluchtversuch unternommen. Und deshalb kamen Sie in die Grube und blieben dort.« Richtig. Völlig richtig. Deshalb also. Man hatte Peyton zu den anderen Verrückten, Unbelehrbaren ge-
steckt, zu denen, die immer Schwierigkeiten machten, zu denen, die immer wieder zu fliehen versuchten, zu denen, deren Namen immer wieder auf schwarzen Listen auftauchten. Das waren die Leute, die die Maschinen bedienten, in denen das Atomit hergestellt wurde, das für die Zivilisation draußen von so grundlegender Wichtigkeit war. Nur unten in der Grube reichte der atmosphärische Druck aus, um die Fabrikationsprozesse ungestört ablaufen zu lassen. Die Männer, die man dorthin schickte, waren Leute, die in den Augen des Gesetzes ihr Schicksal verdient hatten. Blacky Peyton war einer von ihnen gewesen. »Nun, Peyton«, fragte der Direktor, »stimmt das?« Peytons stählerne Augen bohrten sich in die des Direktors. »Ja, Herr Direktor«, antwortete er. »Wenn Sie mich schon fragen – es stimmt. Aber Sie haben mich doch nicht den ganzen Weg aus der Grube heraufkommen lassen, um meine Akte mit mir zu besprechen.« Ein Lächeln auf dem rosigen Gesicht des Beamten. »Da haben Sie recht, Peyton. Ich habe Sie hierherkommen lassen, um etwas anderes mit Ihnen zu besprechen.« Er legte einen anderen Schalter um. »Wollen mal sehen – drei Wochen«, sagte er im Selbstgespräch. Und dann verkündete die mechanische Stimme: »Sträfling Averyman, Saul, Nummer 712-104L, geriet
um 16.42 Uhr in den Rollmechanismus. Arbeitskittel wurde von den Rollen erfaßt. Entkommen unmöglich. Und während Averyman immer näher an die Maschine herangezogen wurde, sprang Sträfling Peyton, Pierce, Nummer 688-549J, auf die Maschine zu und hielt die Rollen mit bloßen Händen auseinander, eine beachtliche Kraftleistung –.« Der Direktor ließ den Schalter los. Das Kästchen verstummte. »Ach, das!« sagte Peyton. »Ja, das.« »Was ist denn so Besonderes daran?« wollte Peyton wissen. »Wir helfen uns immer gegenseitig, ob das die Rollen sind oder die Fräser oder die Pressen. So ist das die ganze Zeit. Ich habe schon andere Männer gerettet, und andere haben mich gerettet.« »Sträfling Averyman war etwas Besonderes«, sagte der Direktor. Peyton starrte ihn an. Er hatte instinktiv gehandelt. Er hatte nicht erwartet, daß Averyman etwas sagen würde. Er hatte mit nichts gerechnet. Aber etwas war geschehen, und jetzt stand er hier im Büro des Direktors. Das bedeutete, daß Averyman ein Spion war, den die Gefängnisleitung in die Grube versetzt hatte. Wenn der Rest der Schicht erfuhr, daß Blacky Peyton einen Spitzel gerettet hatte, würden sie ihn halbtot schlagen –.
»Ich habe mir nichts dabei gedacht«, brummte er. »Peyton, das ganze Gefängnissystem ist Ihnen dankbar«, sagte der Direktor. »Der Bericht ist an das New-York-Uptown-Kommando gegangen, und das Uptown-Kommando ist Ihnen ebenfalls dankbar.« »Wirklich?« Mehr brachte Peyton nicht heraus. Der Direktor zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Lochkarte mit roter Markierung. »Uptown hat seit gestern abend einen neuen Stadtmanager«, sagte Peyton. »Und bei solchen Beförderungen geschehen manchmal seltsame Dinge. Manchmal kommt es auch zu Begnadigungen. Ihr Name war gerade in den Akten, folglich –« Er reichte Peyton die Karte. Eine Anweisung, unterzeichnet vom Sekretär des Begnadigungsausschusses. Und die Anweisung besagte, daß Sträfling Peyton, Pierce, Nummer 688-549J, bedingungslos aus dem Gefängnis zu entlassen sei. Darunter standen das Datum und ein Lochcode für die EDV-Anlage sowie ein offizielles Siegel. »Sie können sich setzen, wenn Sie wollen«, bot der Direktor an. Peyton nahm auf dem Besuchersessel Platz. Er starrte die Begnadigung mit geweiteten Augen an. »Sie sind frei, Peyton! Sie können wieder in die Welt hinausgehen.« »Die Welt«, wiederholte Peyton. »Die Welt.« Wie
würde die Welt aussehen, nach zwanzig Jahren? Unten in der Grube hörte man nie Nachrichten. Nur Gerüchte. Peyton runzelte die Stirn. »Es hat sich natürlich einiges geändert«, sagte der Direktor, als könnte er Gedanken lesen. »In jeder Beziehung geändert.« Er hielt ihm etwas hin. »Nach all den Jahren in der Grube brauchen Sie eine dunkle Brille. Sie müssen sich erst wieder an die Sonne gewöhnen. Und – da, das steht Ihnen zu.« Er zählte von einem Stapel Geld fünf Scheine ab, faltete sie zusammen und reichte sie Peyton, der sie in die Hosentasche steckte. Dann stand er, immer noch benommen, auf. »Was werde ich draußen tun?« fragte er. »Ich weiß nichts über das Leben draußen. Ich habe, seit man mich hierhergeschickt hat, nichts mehr von meiner Familie gehört. Ich verstehe nur etwas von Atomit, und auch da bloß die rein mechanische Seite.« »Auch dafür ist gesorgt.« Der Direktor reichte ihm eine weitere Karte. »Nehmen Sie draußen vor dem Tor die Magnetbahn. An der dritten Haltestelle in der Stadt steigen Sie aus und melden sich im Büro des Beschwerdeausschusses. Dort wird man Ihnen einen Arbeitsplatz besorgen.« Jetzt stand er auch auf. »Viel Glück! Wollen Sie mir die Hand geben, Peyton?« Peyton berührte die Finger des Direktors kaum. Dann öffnete sich eine Außentür. Peyton schlurfte
wie im Traum ins Freie. Er war frei. Großer Gott, wer hätte das gedacht –, frei! Draußen –. Wie würde es draußen sein?
2 Peyton wurde an drei Stellen von Wärtern kontrolliert. Er zeigte jedem seine Begnadigungskarte und durfte weitergehen. Schließlich stand er in dem von Mauern umgebenen Gefängnishof. Ein Posten mit umgehängtem Automatikkarabiner überprüfte die Begnadigungsurkunde, und Peyton studierte einstweilen die Welt. Über den Wänden lag graue Morgendämmerung. Gegenüber der Tür, aus der Peyton gekommen war, befand sich ein Tor aus schweren Eisenstangen. Und dahinter erhob sich in der Ferne ein Gewirr von Türmen – New York. Peyton erkannte keinen der Türme. »Die Sonne!« schrie er plötzlich auf. Sie stieg über den Horizont, und der stumpfe Himmel wurde hell. Peyton wandte sein bleiches Gesicht dem Licht entgegen und hatte das Gefühl, als wären seine Augen mit Säure bespritzt worden. Er zuckte zusammen und holte die dunkle Brille aus der Tasche. »Okay!« sagte der Posten und reichte ihm die Karte zurück. »Hinaus jetzt! Und wollen wir beide hoffen, daß Sie nie mehr zurückkommen.« Langsam öffnete sich vor ihm das Eisentor. Dahinter war graues Pflaster, ein paar Nebengebäude und ein Kiosk.
»New Yorker U-Bahn hier!« kreischte eine tote Stimme. »New Yorker U-Bahn hier! New Yorker U...« Sie hallte aus einem Lautsprecher über dem Kiosk. Peyton trat ein. Es gab kein Drehkreuz, nichts zu zahlen. Er erreichte den Bahnsteig, als gerade ein Zug angebraust kam. Die Türen öffneten sich. Peyton trat ein. Er war allein im Abteil. Der Zug schoß davon. Magnetzug, hatte der Direktor gesagt. Er flog wie eine Kugel im Lauf. Und dann hielt er an, so plötzlich, daß Peyton beinahe hingefallen wäre. Die Türen öffneten sich. Dritte Haltestelle, hatte der Direktor gesagt. Peyton wartete, die Tür schloß sich, und der Zug sauste weiter, hielt an und setzte sich erneut in Bewegung. An der dritten Haltestelle trat Peyton auf den Bahnsteig hinaus. Ein Lift trug ihn in die Höhe. Dann stand er auf der Straße – nein, in einer Passage mit metallenen Wänden und einem metallenen Dach, so breit wie eine Straße. Er brauchte jetzt keine Brille und nahm sie wieder ab. Das Pflaster unter seinen Füßen war metallisch, und draußen huschte plötzlich etwas vorbei, das wie ein Auto wirkte. Es war olivgrün und kleiner als die Autos, an die Peyton sich erinnerte. Die Form war der eines Eies ähnlich. Wieder huschte eines vorbei und noch eines. Vielleicht waren es Lieferfahrzeuge. Keines der Fahrzeuge schien einen Auspuff zu haben, und man hörte auch nichts.
Das Licht kam von Kugeln in der Decke über ihm. Es war heller als das Licht im Gefängnis, aber nicht unangenehm. Die Passage schien meilenlang zu sein. An den Wänden neben ihm gab es Türen. Er hörte viele Stimmen. Wieder summte ein Auto vorbei. Peyton hätte gern eines gehabt. Vielleicht würde er sich eines kaufen, wenn er an dem Arbeitsplatz, an den man ihn vermitteln würde, genügend Geld verdient hatte. Er würde sich jetzt gleich bewerben. Das hier war der richtige Ort. Über der Tür stand BEGNADIGUNGSAUSSCHUSS. Er ging auf die Tür zu, die sich vor ihm öffnete – Fotozelle natürlich – und trat in einen Korridor. Vor ihm öffnete sich eine Lifttür. »Wohin?« fragte eine Stimme von irgendwoher. Peyton runzelte die Stirn. Er war allein in dieser kleinen Kabine. »Wohin?« wiederholte die Stimme. »Begnadigungsausschuß«, sagte Peyton. »Begnadigungsausschuß«, wiederholte die Stimme, und der Lift schoß in die Höhe. Dann hielt er an. »Begnadigungsausschuß«, sagte die Stimme wieder, und die Tür öffnete sich. Peyton trat in einen breiten Gang. Ihm gegenüber öffnete sich abermals eine Tür, und er betrat ein Büro. Ein schlankes Mädchen mit gebleichtem Haar und einem enganliegenden Minirock nahm seine Arbeitskarte und ging ins Nebenzimmer. Peyton blickte ihr nach und empfand ein eigenartiges Rühren. Er hatte
seit zwanzig Jahren keine Frau mehr gesehen, obwohl er wußte, daß das Gefängnis auch Frauen beherbergte. Manche verrichteten sogar leichte Arbeit in der Grube. Nun, jetzt würde er vielleicht sogar ein Mädchen bekommen können. Dann war sie wieder zurück. Hinter ihr kam ein plumper, etwas geckenhaft gekleideter junger Mann mit einem Schnurrbart, der ebenso gebleicht wirkte wie das Haar des Mädchens. »Ah!« sagte er und musterte Peytons Arbeitskarte in seiner weichen Hand. »Peyton. Ja. Ah, ja. Wir haben Sie schon erwartet.« Er und Peyton nahmen an einem niedrigen Stahltisch Platz. »Es ist schon alles vorbereitet«, sagte der Mann. »Mein Name ist Harrett. Ich bin stellvertretender Abteilungsleiter.« Wieder blickte er auf die Karte. »Sie haben mit Maschinen gearbeitet?« Peyton nickte. »Ja, Mr. Harrett. Ich habe in der Grube gearbeitet und einen Atomitfräser bedient.« »Atomit ... ah, ja. Sie werden jetzt natürlich etwas anderes machen. Regierungsprojekt, wissen Sie. Wir dürfen nicht darüber sprechen.« »Natürlich nicht«, nickte Peyton. »Ich verstehe schon.« »Man hat Ihnen eine Arbeit zugewiesen«, fuhr Harrett fort. »Sie kommen in die Bergwerke, ein paar Kilometer nördlich von hier.«
»Bergwerke?« unterbrach ihn Peyton. »Jetzt hören Sie mal zu, Mr. Harrett! Ich bin jahrelang unter der Erde gewesen. Ich würde lieber im Freien arbeiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Wenn es mir nichts ausmacht«, wiederholte Harrett, und es klang etwas spöttisch. »Aber es macht mir etwas aus, Peyton.« Peyton runzelte die Stirn. Seine Augen waren jetzt ganz schmal. »Was soll das heißen, Mr. Harrett?« »Nun«, Harrett lächelte. »Sehen Sie, Sie haben doch Erfahrung mit Atomit –« »Natürlich habe ich die«, nickte Peyton. »Ich habe an den Maschinen gearbeitet. Manchmal habe ich auch Inerton-Behälter gefertigt.« »Aber, aber!« erregte sich Harrett. »Bitte, sprechen Sie nicht darüber! Ich sagte Ihnen doch – Anweisung der Regierung. Peyton, ich weiß nicht, ob man bei Ihrer Begnadigung über Ihre Kenntnisse nachgedacht hat.« Er gestikulierte. »Sie ... nun, Sie sind in gewisser Weise ein peinlicher Fall.« »Sie meinen wohl, ich könnte etwas über Atomit ausplappern?« fragte Peyton und lehnte sich vor. »Nein, dort, wo wir Sie hinschicken, nicht. Die Bergwerke –« Peyton schüttelte erregt den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht mehr ins Bergwerk will! Habe ich denn gar keine Wahl?«
»Nein«, sagte Harrett, »Sie haben keine Wahl.« So war das also. Genau, wie es in der Grube gewesen war. Nur höflicher. Peyton runzelte erneut die Stirn und beugte sich noch weiter vor. Seine breiten Schultern strafften sich. »Kann ich nicht einmal Einspruch erheben?« »Ich fürchte, nein. Wir wollen nicht unvernünftig sein, Peyton. Dieser Ausschuß hat die Pflicht, Sie zu rehabilitieren –« »Nun, dann rehabilitieren Sie jemand anderen.« Peyton stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich will Ihren Job nicht.« Er wandte sich zur Tür. Harrett erhob sich. Seine Hände flatterten. »Peyton!« rief er mit schriller Stimme. »Sie können doch hier nicht einfach weggehen!« »Und ob ich das kann!« sagte Peyton. Harrett rannte um den Tisch herum, stand jetzt neben ihm. »Sie sind ein ehemaliger Sträfling!« sagte er. »Sie haben kein Geld. Wenn Sie in dieser Gesellschaft in Freiheit gesetzt werden, werden Sie rückfällig und –« »Ach, halten Sie doch das Maul!« Peyton wandte sich erneut zur Tür. »Halt!« rief Harrett. »Verlassen Sie dieses Büro nicht!« Eine Seitentür flog auf, und ein weiterer Mann trat ein. Er war plump wie Harrett, aber an ihm wirkte
die Plumpheit kompakt und hart. Er trug eine blaue Uniform, die bis zum Hals zugeknöpft war, und an einer Wange hatte er eine Narbe. »Verhaften Sie ihn!« befahl Harrett. Der Uniformierte stellte sich zwischen Peyton und die Tür. Die beiden musterten einander eine Sekunde lang ausdruckslos. Dann warf sich Peyton auf den Uniformierten, tauchte unter einem Schlag des Polizisten weg und schmetterte dem Mann die Faust ins Gesicht. Und gerade, als die Rechte krachend gegen die Kinnlade des Polizisten schmetterte, hatte die Linke auch schon ihr Ziel gefunden. Binnen weniger Sekunden hatte Peyton sechs Schläge gelandet. Bereits beim fünften fing der Mann an, zusammenzusacken. Beim sechsten lag er auf dem Boden. Das Mädchen mit dem gebleichten Haar war an der inneren Tür aufgetaucht und schrie jetzt hysterisch. Harrett war zu einem Tisch gerannt und wollte auf einen Knopf drücken, aber Peyton war über seinen niedergeschlagenen Widersacher hinweggesprungen, packte Harrett jetzt am Arm und zerrte ihn weg. »Weg von dem Schreibtisch«, befahl er, »sonst kriegen Sie auch eins über den Schädel! Hinsetzen!« Harrett sank auf seinen Stuhl. Seine Augen waren vor Furcht geweitet. »So ist's gut! Nur ruhig! Nur ruhig!« riet Peyton.
»Wenn Sie eine Bewegung machen, ehe ich hier weg bin, lege ich Sie neben diesen Bullen auf den Boden!« Er trat vor und stellte sich zwischen das Mädchen und die Druckknöpfe. Sie starrte ihn an. Vielleicht war das gar nicht nur Angst, was in ihren Augen leuchtete. Erstaunen war da auch zu sehen, vielleicht sogar Bewunderung. »N-n-nicht –«, stammelte sie. »Bitte, fassen Sie mich nicht an!« Peyton grinste, und seine weißen Zähne blitzten. »Könnte Spaß machen, Baby, aber ich hab jetzt keine Zeit.« Und dann hetzte er zur Tür hinaus und zum Lift. Die Schiebetür öffnete sich wieder vor ihm. »Wohin?« fragte die ruhige, körperlose Stimme. »Erdgeschoß«, sagte Peyton. »Erdgeschoß.« Der Lift tauchte mit ihm hinunter, bremste und öffnete sich. »Erdgeschoß«, verkündete die Stimme. Und Peyton verließ den Lift, verließ die Eingangshalle, stand draußen auf der Straße inmitten des Labyrinths von Dächern, Arkaden und Tunnels, die New York in diesen letzten Jahren vor der Wende des Jahrhunderts kennzeichneten. Er ging schnell um die Ecke und dann um eine zweite. Er blickte zur Decke mit ihren Kugellichtern hinauf und betrat eine zweite Passage. Das war also
in den Jahren seiner Gefangenschaft aus Manhattan geworden – nicht länger eine mächtige Ansammlung vieler hoher Gebäude, sondern ein einziges Bauwerk. Er atmete tief. Autos summten an ihm vorbei. Er konnte es immer noch nicht fassen. Hatte ihn nicht irgendein hoher Beamter freigelassen? Hatte nicht der Gefängnisdirektor selbst ihm die Begnadigungsurkunde überreicht? Was versuchten sie denn zu tun? Wollten sie ihn erneut zur Zwangsarbeit unter der Erde verurteilen? Was für eine Welt war das, in die er aus ihren Tiefen zurückgekehrt war? Und jetzt umgaben ihn die Mauern und Dächer von New York, jenes New York, das er nicht kannte, das ganz anders gewesen war, als man ihn vor zwanzig Jahren ins Gefängnis steckte. Er war allein in diesem bizarren Traum einer Stadt, er war verloren. Er hatte keine Freunde, keine Bekannten – nichts als die paar Dollar, die der Direktor ihm überreicht hatte. Aber immerhin war das besser, als unten in der Grube zu schuften. War es wirklich besser?
3 Peyton war stehengeblieben und vernahm jetzt den lauten Ruf, der rings um ihn zu ertönen schien: »Kaut Kardomint! Kaut Kardomint!« Er zuckte zusammen und sah sich um. Ein Passant grinste. »Geht Ihnen wohl auch auf die Nerven, was? Schrecklich, wenn wir alles das tun müßten, was diese Werbebrüder da von uns verlangen!« So war das also mit der Werbung im Jahre 1998. Erst jetzt fiel ihm auf, daß es keine Plakate mehr gab, keine Leuchtreklamen, wie er sie in seiner Jugendzeit gekannt hatte, ehe er ins Gefängnis ging. Die Werbung richtete sich jetzt an das Ohr. Peyton ging einen Block weit und überquerte die Straße auf einer Fußgängerbrücke. Eine andere Stimme brüllte ihn an: »Sie brauchen Aufwecker! Sie brauchen Aufwecker!« Wahrscheinlich brauchte er Aufwecker, was das auch immer sein mochte, wenn sie sein Verständnis für die Gegenwart wecken konnten. Er kam sich vor wie der Bursche in dem Märchenbuch – wie hieß er doch gleich? Peyton hatte keine Bücher mehr gelesen, seit man ihm im Gefängnis die Vergünstigung entzogen und ihn in die Grube verwiesen hatte. Wie hieß der Bursche doch? Natürlich, Rip van Winkle, der Mann, der zwanzig Jahre lang geschlafen
hatte, während die Zeit an ihm vorbeizog. »Sie brauchen Aufwecker!« Aber halb überlagert von diesem Slogan drangen jetzt auch die Aufforderungen der naheliegenden Geschäfte an sein Ohr. »Trinkt Limex – das tut gut!« »Bei Butterby schmeckt's besser!« Alles gute Ratschläge, dessen war er sicher. Aber was sollte er unternehmen, ehe er Limex trank oder bei Butterby ein Essen bestellte? Er mußte etwas für sich selbst tun. Niemand würde ihm helfen, dessen war er sicher. Die Auseinandersetzung beim Begnadigungsausschuß war dumm gewesen, zumindest, was seine Haltung betraf. Er hatte die Nerven verloren und damit die einzige Chance auf einen gesicherten Arbeitsplatz. Und nicht nur das – wahrscheinlich suchte ihn inzwischen schon die Polizei. Schließlich hatte man ja seine Beschreibung und seine Strafakte. Vielleicht war es am besten, wenn er New York verließ und nach Richmond zurückfuhr. Richmond. Dort hatte er einmal gelebt. Seine Eltern hatten die Verbindung mit ihm nach seinem ersten Gefängnisjahr abreißen lassen; wahrscheinlich hatten sie sich ganz von ihm abgewandt. Aber vielleicht fand er einen alten Freund oder Nachbarn, jemanden, der ihm helfen konnte. Er würde sehen, wie er nach
dem Süden kommen konnte. Aber zuerst mußte er essen. Er hatte seit dem Imbiß im Gefängnis nichts mehr zu essen gehabt und war hungrig. Er blieb vor einem Schaufenster stehen und sah einem Mann in weißer Schürze zu. »Hier essen Sie billig!« verkündete ein Lautsprecher über der Ladentür. »Hier essen Sie billig!« Peyton trat ein. An einer blitzenden Theke aus Edelstahl saßen vier Männer auf Hockern und aßen. Peyton sah sich nach der Speisekarte um. Es gab keine. Aber ein Lautsprecher wiederholte monoton: »Pfannkuchen ... Eier ... Schinken ... Speck ... Hafermehl –« »Ich möchte gern zwei Pfannkuchen«, bestellte Peyton. »Und Schinken mit Eiern. Und Kaffee.« Der Mann sah ihn überrascht an. »Kaffee gibt's nicht, Mister. Wollen Sie Cafeno, Dixiblend oder Brazillo?« Kein Kaffee – was sollte jetzt das wieder bedeuten? »Nun, was am meisten wie Kaffee schmeckt«, meinte Peyton. Das Essen kam beinah sofort. Eine kleine Parade von Tellern, die hinter der Theke über ein Fließband heranglitten. Peyton aß gierig. Der Kaffee-Ersatz verursachte nur ein leichtes Naserümpfen bei ihm. Im Gefängnis hatten sie ein ähnliches Getränk geboten, nur daß das nach Vitaminen geschmeckt hatte. Vielleicht hatte die Welt es aufgegeben, echten Kaffee zu trinken. Und dann erstarb das Plappern der Speisekarte plötzlich, und eine
gepflegte Stimme verkündete: »Achtung, New York! Achtung, New York! Von der fliegenden Insel!« Peyton blickte auf. Die Gabel blieb geradezu in der Luft hängen. Ein Fernsehschirm hinter der Theke leuchtete plötzlich auf, plastisch und in Farbe. Der Ansager trug eine Schirmmütze. »Achtung!« verkündete das Bild. »Wichtig! Mitteilung von Hochmarschall Torridge! Wichtig!« Die anderen Gäste starrten ebenso wie Peyton auf den Bildschirm. Das Bild auf dem Schirm wechselte, und jetzt sah man eine andere Gestalt in einer eleganten blaugoldenen Uniform. Die Gesichtszüge und der Ausdruck des Mannes wirkten aristokratisch. »Bürger von New York!« sagte eine tiefe, langsame Stimme. »Als Hochmarschall der Flieger ist es mir eine freudige Pflicht, Ihnen die Ernennung eines neuen Chef-Administrators Ihrer Stadtregierung bekanntzugeben. General D. D. Argyle übernimmt mit sofortiger Wirkung die Verantwortung für alle Büros und Abteilungen –.« Der Gefängnisdirektor hatte etwas davon erwähnt, hatte etwas von einer Beförderung und einem Wechsel in der Hierarchie erwähnt. Deshalb war Peyton begnadigt worden; eine an und für sich sinnlose Maßnahme, die ihm zugute kam. »Und jetzt«, tönte die Gestalt, die sich Marschall Torridge nannte, »zeigen wir Ihnen die Macht der Flieger!«
Sein Bild verschwand, und ein Geschwader dahinrasender Flugzeuge, schlank wie Torpedos und so tödlich wie Haie wirkend, tauchte auf. Sie manövrierten vor dem strahlend blauen Mittagshimmel und blendeten die Augen der Zuschauer. Dann verblaßte das Bild, und eine Parade von Uniformierten zog vorbei. Sie präsentierten Waffen, die wie Karabiner aussahen. Dann Marschmusik und erneut Marschall Torridge. »Tun Sie Ihre Pflicht, Bürger von New York!« sagte er. »Ende der Durchsage.« Der Bildschirm wurde dunkel. Peyton hatte nichts oder nur sehr wenig verstanden, beschloß aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Er holte Geld heraus, um für das Frühstück zu bezahlen, das kleine Bündel Banknoten, das ihm der Gefängnisdirektor gegeben hatte. Er nahm einen Schein und bekam große Augen. Es war eine Tausend-Dollar-Note. Er sah die anderen an. »Fünf Riesen!« flüsterte er. Und dann zu dem Mann hinter der Theke: »Ich hab's leider nicht kleiner. Bloß einen Tausender.« »Schon gut«, brummte der Mann sichtlich unbeeindruckt. Er nahm den Schein und gab ihm einen kleineren mit der Aufschrift ›Fünfhundert‹ zurück sowie eine Metallscheibe mit der Prägung ›Dollar 100‹. Peyton studierte das Geld verwundert und dann argwöhnisch. »Und wo ist der Rest?« wollte er wissen.
Der Mann deutete auf die leeren Teller. »Pfannkuchen 150. Schinken mit Ei 200. Cafeno 50. Ein Riese minus vierhundert macht sechshundert.« Er runzelte die Stirn. »Was erwarten Sie denn für vierhundert Piepen – etwa das Ritz?« »Schauen Sie, ich bin hier fremd«, gestand Peyton. »Ich kenne mich hier nicht aus. Ist das Geld in New York so wenig wert?« Einer der anderen Gäste erklärte es ihm. Vierhundert Dollar sei wirklich ein vernünftiger Preis, erklärte er. Peyton zuckte die Achseln und schob das Wechselgeld gleichgültig in die Hosentasche. Jetzt beeindruckten ihn die Tausend-Dollar-Scheine schon nicht mehr so. Er ging hinaus. Vor sich sah er am Himmel einen weißen, natürlich wirkenden Lichtschimmer. Peyton schlenderte an Läden vorbei, achtete nicht auf die laufenden akustischen Inserate und erreichte schließlich ein großes Rechteck mit parkähnlichem Rasen. Darüber war der blaue Himmel zu sehen. Er holte seine Brille heraus, setzte sie auf und starrte in das wolkenlose Blau. Bäume und Sträucher, sorgfältig gestutzt und von Gärtnern gepflegt, wuchsen neben den Kieswegen. Peyton fand eine Bank neben einem kleinen Teich und setzte sich. Er war müde. Jetzt war er seit vier Stunden in New York, vielleicht auch fünf. Und jeder Augenblick hatte das Geheimnis, das ihn umgab, undurchsichtiger werden
lassen. Fußgängerbrücken, Galerien, Hallen, akustische Inserate, unhörbar dahinrollende Fahrzeuge, Inflation, die Fernsehansage des Hochmarschalls und des Chef-Administrators und die Demonstration der Flieger und ihrer Macht. Und die fremden Leute, die das alles zu verstehen schienen, während er wie ein Ignorant dasaß. Nun, der Gefängnisdirektor hatte recht gehabt, als er ihm sagte, alles hätte sich geändert. Er hatte recht gehabt. Aber das half ihm nicht weiter. Wer würde ihm weiterhelfen? Peyton schüttelte unglücklich den Kopf. Und dann setzte sich jemand neben ihm auf die Bank, und Peyton blickte zu ihm hinüber. Es war ein hagerer, abgerissener kleiner Mann mit ungepflegtem grauen Bart und rosigem Gesicht. Seine alten Augen waren hell und freundlich. Peyton studierte das Gesicht von der Seite. Auf den ersten Blick wirkte der Mann vertrauenerweckend. »Möchten Sie sich etwas Geld verdienen?« fragte Peyton. Der alte Mann sah ihn an. »Wie denn?« fragte er. Seine Stimme klang so alt wie er aussah. Peyton zog seine Geldscheinrolle heraus und nahm den Fünfhundert-Dollar-Schein. »Nehmen Sie das«, sagte er und hielt dem Mann die Note hin. »Sagen Sie mir, was in der Welt in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist.«
Der alte Mann sah das Geld an, machte aber keine Anstalten, es zu nehmen. »Was wollen Sie wissen?« »Was in der Welt geschehen ist.« Peyton lehnte sich hinüber und legte dem Alten den Geldschein auf das Knie. Er wußte nicht recht, wie er seine Bitte näher erklären sollte und entschied sich dann für die nackte Wahrheit. »Ich will ganz offen sein«, sagte er. »Ich bin seit Herbst 1978 im Gefängnis gewesen. Heute hat man mich rausgelassen.« »Gratuliere!« Das Gesicht unter dem grauen Bart verzog sich zu einem freundlichen Lächeln. »Dann wollen wir mal sehen, wo wir anfangen.« »Fangen Sie mit dem dritten Weltkrieg an«, sagte Peyton. »Er ist im Jahr nach meiner Verurteilung ausgebrochen, soviel habe ich noch gehört. Aber das ist so ziemlich alles. Sagen Sie mir, wer gewonnen hat.« »Niemand«, erklärte der alte Mann. »Niemand hat gewonnen?« »Verdammt noch mal, nein! Man könnte auch sagen, daß alle verloren haben. Der Krieg dauerte etwa neun oder zehn Monate. Flotten versenkt, Armeen niedergemäht, Städte ausgelöscht. Nur die Luftwaffe hat überlebt. Die haben die ganze Zeit nichts Besseres zu tun gehabt, als sich gegenseitig die Städte zu zerbomben.«
»Atombomben?« »Nein, das nicht«, erklärte der Alte. »Keiner hat den Mut gehabt, einen Atomkrieg anzufangen. Das hätte ja nur einen Sinn gehabt, wenn einer den anderen in fünf Minuten fertiggemacht hätte. Sonst hätten die doch angefangen, mit Atombomben zurückzuwerfen. Und auf die Weise hatten sie die ganze Erde in die Luft jagen können. Nein, so vernünftig waren die damals zum Glück doch noch.« »Vernünftig nennen Sie das?« meinte Peyton. »Ja«, brummte der Alte. »Ich frage mich oft, wie ich das in einem Stück überstanden habe. Da, behalten Sie Ihr Geld!« Eine dünne Hand schob den Geldschein zurück. »Ich brauche Ihre Fünfhundert nicht. Ich habe heute schon gegessen.« »Dann ist also der Krieg von selber zu Ende gegangen? Ausgebrannt sozusagen?« Der Graukopf nickte. »Ausgebrannt ist das richtige Wort. Als die Flieger alles zerbombt hatten, waren sie die einzigen, die mit heiler Haut übrig blieben. Also machten sie Frieden. Haben ja ohnehin schon auf beiden Seiten den Ton angegeben, und das tun sie heute noch.« Peyton erinnerte sich jetzt an die Fernsehdurchsage. »Wie kann eine Luftwaffe denn den Ton angeben?« fragte er. »Ich will das mal ganz einfach darstellen, Mister –«
»Peyton. Pierce Peyton. Man nennt mich Blacky.« »Ich heiße Joe Hooker, und man nennt mich Opa, obwohl ich keine Familie habe. Meine Frau, meine Söhne und meine Enkel sind im Krieg ums Leben gekommen. Also, wollen wir mal sehen ... Außer der Luftwaffe war nicht viel übriggeblieben, um die Welt wieder aufzubauen. Also machten sie Frieden und einigten sich. Alles andere war ausgebrannt, ausgebombt oder tot.« Eine Geste seiner dünnen Hand. »New York zum Beispiel. Sie sehen ja – alles neu.« »Ja. Nichts hier ist so wie in dem New York, an das ich mich erinnere«, räumte Peyton ein. »Ich stamme aus Richmond in Virginia. Wahrscheinlich hat sich dort auch einiges geändert.« »Richmond!« gluckste der Alte. »Es gibt kein Richmond mehr, Blacky.« Peyton lief es kalt über den Rücken. Kein Richmond mehr, zerstört – sein Heim, seine Familie. Deshalb hatte er nach dem ersten Jahr nichts mehr gehört. Leere, wo einmal Richmond gewesen war. Leere in ihm. »Bloß Bäume und Unkraut, wo einmal Richmond war«, fuhr Opa Hooker fort. »Und auch Rochester gibt es nicht mehr und Schenectady. Und so, wie ich es gehört habe, im Norden und Süden von hier überhaupt nichts mehr.« Peyton atmete tief. Im Augenblick war er zu benommen, aber später würde er begreifen.
»Aber hat es denn keine Überlebenden gegeben?« wollte er wissen. »Oh, natürlich, eine ganze Menge! Hauptsächlich Leute aus den Großstädten. Und als die Kämpfe vorbei waren, sammelten sich die Überlebenden dort, wo früher mal die großen Städte waren.« »Und bauten sie wieder auf?« warf Peyton ein. »Richtig. Nach den Befehlen der großen Bonzen der Luftwaffe. Jeder lebt jetzt in den großen Städten. Das platte Land gehört wieder den Indianern.« Opa Hooker lächelte in seinen Bart hinein. »Aber es gibt natürlich keine Indianer mehr. Ich hab gehört, daß es irgendwo ein Philadelphia gibt – wiederaufgebaut, so wie dieses Nest hier und andere Städte im Westen. Aber das hab ich bloß gehört. Ich bin nicht in Philadelphia oder einer anderen Stadt außer New York gewesen, seit der Krieg vorbei ist.« »Dann kennen die New Yorker wohl nur New York? Das klingt –« »Augenblick, Blacky, Sie wissen noch nicht alles«, unterbrach ihn Opa Hooker. »Ich hab Ihnen also erzählt, daß die Leute von der Luftwaffe alles wieder aufgebaut haben und dann das Kommando übernommen haben. So wie ich es verstehe, gibt es eine ganze Kette von Großstädten rings um die Welt. New York, London – mal sehen – ja, Berlin, dann Moskau, Tokio, Frisco, Chicago, Philadelphia. Eine Kette von
Städten, alle etwa in der gleichen Zone.« »Wiederaufgebaut von den Fliegern?« fragte Peyton. »Man könnte sagen, daß die Flieger alle Überlebenden zusammentrommelten und sie zwangen, die Wiederaufbauarbeit zu leisten. Hier und da nördlich und südlich der Hauptzone gibt es eine Anzahl weiterer Städte, aber ich weiß nicht wo – oder wie die heißen. Wahrscheinlich sind sie ähnlich wie New York.« Peyton starrte über den Park hinweg zu der Wand. Sie hatte Fenster, die wie Bullaugen wirkten, und eine Unzahl von Brücken und Viadukten umgaben sie. Wie hoch die Wand sich erhob, konnte er nicht sagen, nur daß sie sehr hoch war. »New York muß wie ein riesiger Haufen aussehen«, sagte er zu Opa. »Ich kann mir vorstellen, daß alle möglichen Gebäude, Tunnels und Parks ein einziges Ganzes bilden.« »Das sehen Sie ganz richtig«, nickte Hooper. »New York ist fast fünfhundert Meter hoch, und ein paar Türme ragen darüber hinaus. Die Fläche macht etwa zehn Kilometer im Quadrat aus, und das Ganze hat zwanzig oder dreißig Etagen. Es gibt einige Löcher in der Decke, so wie über diesem Park, in dem wir uns jetzt aufhalten, damit Licht und Luft hereinkommen. Draußen gibt es einen Gürtel von Feldern und Far-
men, die von der Stadt betrieben werden, damit die Leute zu essen haben. Die Fabriken sind hier in der Stadt. Früher gab es Bergwerke, aber die liegen jetzt kilometertief unter der Stadt.« »Ich bin da unten gewesen«, meinte Peyton, ohne nähere Angaben zu machen. Wieder Schweigen. Aus der nächsten Wand drang eine kaum hörbare Stimme herüber, die die Vorzüge synthetischen Tabaks lobte. »Was ist denn aus all den Plakattafeln geworden?« wollte Peyton wissen. »Ach, die meisten Leute können heute nicht mehr lesen. Das Schulsystem hat sich geändert. Bloß alte Knacker wie ich können noch schreiben und lesen. Das ist aus der Mode gekommen. Also wird man dauernd angequatscht – und Zeitungen gibt's auch kaum mehr. Sie werden sich dran gewöhnen, Blakky.« »Da bin ich aber neugierig!« sagte Peyton. Opa sah ihn prüfend an und fuhr dann fort: »Die gewöhnlichen Leute, die Bürger, machen die Bauernarbeit und die Arbeit in den Bergwerken und Fabriken. Handel und Reisen gibt es nicht mehr viel. Das haben sich die Flieger vorbehalten. Die sorgen dafür, daß die Leute Arbeit kriegen und dafür bezahlt werden. Die verkaufen einem dann die Dinge, die sie selber gemacht haben. Außerhalb der Stadt sind wieder
Wälder gewachsen, das sagte ich ja, glaube ich, schon. Wo früher kleine Städte, Dörfer und Farmen waren, wachsen heute Bäume und Büsche.« »Und was ist mit den Tieren?« fragte Peyton. »Ich habe gehört, daß Bären aus den Adirondacks herunterkommen. In den letzten sechzehn, achtzehn Jahren sind ein paar Generationen Bären aufgewachsen. Und Wölfe auch.« »Wölfe?« wiederholte Peyton interessiert. »Die Leute nennen sie Wölfe. Wahrscheinlich waren sie früher mal Hunde, die nach dem Krieg verwildert sind und sich zu Wölfen zurückgebildet haben. Sie jagen in Rudeln, hab ich gehört. Und wenn sie einen allein im Wald erwischen, können sie recht unangenehm werden. Und dann gibt's natürlich Rehe und Hirsche und so weiter. Muß schön sein, zu jagen – wenn man bloß ein Gewehr hätte.« Opa sah Peyton von der Seite an. »Aber Schußwaffen sind natürlich nicht erlaubt – bloß für die Flieger.« »Ja, und echter Kaffee auch nicht«, fügte Peyton hinzu. »Vielleicht haben die Flieger welchen.« »Ja, wahrscheinlich, und Gewehre auch«, nickte Opa. »Wir wissen natürlich über die Flieger und die anderen Städte und all das nicht so genau Bescheid, bloß das, was die Flieger uns sagen wollen. Und weil wir gerade von Fliegern reden – hier kommen sie.« »Wo?«
»Da oben.« Es war beinahe genau Mittag, und die Sonne stand über ihnen. Aber ein Schatten schwebte über dem Park. Peyton sah die Sonne hinter etwas verschwinden, das den Himmel verdeckte. Nächtliches Dunkel senkte sich herab, Sterne blitzten am Himmel auf. Dann verschwand das Ding, das die Sonne verdunkelt hatte, und es wurde wieder hell. »Was war das?« fragte Peyton. »Die fliegende Insel«, antwortete Opa.
4 Peyton starrte immer noch in den Himmel, wo soeben der Schatten vorübergezogen war. »Die fliegende Insel?« »Mhm.« »Was ist das?« »Sie haben nie was davon gehört?« rief Opa ungläubig aus. »Nicht einmal in den Tiefen der Erde? Ja, es ist genau das, was ich gesagt habe – eine fliegende Insel.« »Sah groß aus«, meinte Peyton. »Der Durchmesser beträgt fast zweitausend Meter«, erklärte Opa. »Aber was ist es denn? Ein Satellit? Eine Raumstation?« »Nun, so was Ähnliches, nur ein gutes Stück größer. Sie fliegt in einer Höhe von dreißig bis vierzig Kilometer in der Stratosphäre. Ihre Umlaufbahn entspricht der der Sonne, und es heißt, die Insel drehe sich um die eigene Achse, um die Hitze besser zu verteilen.« »Ein Umlauf in vierundzwanzig Stunden«, sagte Peyton. »Das ergibt also eine Geschwindigkeit von etwa 1100 Kilometern in der Stunde. Nicht gerade schnell, oder?«
»Für etwas von dieser Größe schon«, sagte Opa. »Der Hochmarschall und eine ganze Anzahl Bonzen wohnen da oben, und für sie ist immer kurz vor Mittag. Sie überfliegen all die Städte auf der Route, die ich vorhin erwähnt habe. Jeden Tag.« »Dauernd in der Luft«, sagte Peyton und kniff die Augen zusammen. »Was für einen Sinn hat es denn, dauernd in der Luft zu sein?« »Auf die Weise können sie die ganze Welt überwachen. Ich hab Ihnen doch gesagt, daß diese Kette von Städten praktisch die ganze Zivilisation ausmacht, mit Ausnahme von ein paar Außenposten an anderen Orten. Nun, von ihrer Insel aus können sie die Städte dauernd im Auge behalten und dafür sorgen, daß alles nach ihren Wünschen läuft. Wenn etwas nicht klappt, dann sind sie genau um Mittag da und bringen das wieder in Ordnung. Sie geben bloß einen Befehl. Und wenn jemand den Befehl nicht beachtet, dann haben sie genügend Waffen und Flugzeuge, um ihren Willen durchzusetzen. Und echten Kaffee haben sie auch und auch die Antriebsenergie für ihre fliegende Insel.« »Was für Energie ist das denn, Opa?« Der Alte schüttelte warnend den Kopf. »Über solche Dinge sollen wir nicht reden, Blacky.« »Also Atomit«, erklärte Peyton. »Ich sagte doch, wir sprechen nicht darüber. Wir
sollen das Zeug nicht nur nicht benutzen, sondern wir sollen nicht einmal darüber nachdenken.« »Also geheiligt, was?« knurrte Peyton. »Mhm. Geheiligtes Eigentum der Flieger. Für gewöhnliche Leute verboten. Reden wir jetzt von etwas anderem.« Peyton grinste. Es war ein Grinsen ohne eine Spur von Heiterkeit. Der Alte war in Ordnung. »Das Atomit haben sie also auch zu einem Monopol erklärt«, sagte Peyton. »Wir wollten doch von etwas anderem reden, Blakky.« »Okay.« Peyton erinnerte sich an das Büro des Begnadigungsausschusses. Dort hatte er auch nicht über Atomit sprechen dürfen. »Weiß jemand, warum die Flieger sich solche Mühe machen, dieses Ding in der Luft zu halten?« fragte Peyton. »Diese fliegende Insel.« »Sie überwachen den Städtering, wie ich schon sagte. Die Städte ernähren sie, zahlen Steuern an sie und unterhalten sie –.« »Unterhalten sie?« »Klar!« nickte Opa. »In den großen Arenen. Die Vorstellungen finden auf dem Dach statt, und jeder kann hingehen: Flieger, gewöhnliche Leute, Stadtmanager, arm und reich. Der Zirkus gehört der Öffent-
lichkeit. Verdammt noch mal, die Leute würden ja nicht wissen, was sie tun sollen, wenn nicht einmal in der Woche Zirkus wäre. Warten Sie nur, bis Sie selber einen sehen!« Peyton hörte nur mit halbem Ohr hin. Wieder starrte er zum Himmel hinauf, wo vorhin die fliegende Insel gewesen war. Zum erstenmal seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er das Gefühl, daß sein Leben wieder ein Ziel hatte, und dieses Ziel lag dort oben. »Opa«, sagte er, »eines Tages werde ich auf dieser fliegenden Insel sein.« »Passen Sie nur auf, daß das keiner hört!« warnte der Alte. »Bloß Flieger dürfen dort hinauf.« »Und wie wird man Flieger?« »Indem man als einer geboren wird. Und außerdem fliegt dieses Ding vierzig Kilometer über uns mit 1100 Kilometern in der Stunde. Die Geschwindigkeit oder die Höhe verändern sich nie. Selbst für einen geübten Piloten muß es ganz schön schwierig sein, dort zu landen.« Vierzig Kilometer. Peyton versuchte sich das vorzustellen. Oben in der Stratosphäre. Das war ziemlich weit, aber er war an diesem gleichen Tag von der Grube bis an die Erdoberfläche gekommen, und das waren auch schon 25 Kilometer. Wenn er das fertiggebracht hatte, würde er es auch bis zu der fliegenden Insel schaffen. Wieder grinste er.
»Sie nehmen also kein Geld«, sagte er zu dem Alten. »Gut. Kann ich Sie dann zum Mittagessen einladen?« »Wieviel haben Sie denn aus dem Knast mitgebracht, Blacky?« Peyton fuhr in die Hosentasche und holte die zerknitterten Geldscheine und die Münze heraus. »Viertausendsechshundert Dollar«, sagte er. »Nun«, nickte Opa, »das ist etwa genau so viel, wie neun Dollar vor zwanzig Jahren wert waren.« Peyton sah die Geldscheine an. Selbst wenn er noch so sparsam war, würde das knapp eine Woche reichen. »Kaufen wir uns einen Teller Suppe«, meinte Opa. »Und heute abend zeige ich Ihnen, wo Sie für zweihundert schlafen können. Es gibt noch billigere Häuser, aber die sind meistens verwanzt.« »Okay, Opa! Sagen Sie, wo wir hingehen sollen!« Peyton folgte dem alten Mann aus dem Park in eine Passage, mußte aber die ganze Zeit über den Schatten nachdenken, der die Sonne verdunkelt hatte. Das Lokal, das Opa ausgesucht hatte, lag an einer Seitenpassage mit abgewetztem Pflaster und einer niedrigen Decke. Die Ladentüren waren hier klein und schmal. »Suppenküche, niedrigste Preise«, sagte der Lautsprecher über dem Eingang. »Suppenküche, niedrigste Preise!«
Drinnen gab es eine Theke und Stühle. Auf den meisten Stühlen saßen Leute. Eine Stimme dröhnte: »Sechzig Dollar für einen Teller Suppe, zwei Teller für einen Hunderter. Bezahlt wird sofort, und beeilen Sie sich, weil andere auch Hunger haben.« Sie fanden zwei Hocker nebeneinander. Ein Mann hinter der Theke stellte zwei Plastikschalen vor sie und gab ihnen zwei dicke Scheiben Brot. Dann klatschte er ein Gemisch aus Fleisch und Gemüse, eher Eintopf als Suppe, in die Teller. Peyton nahm einen Löffel voll. Das Zeug schmeckte gut. Besser als das, was man ihm in der Grube zu essen gegeben hatte. »Zahlen Sie jetzt«, sagte der Mann, und Peyton schob ihm eine Hundert-Dollar-Münze über die Theke. »Sechzig Dollar der Teller, zwei kosten hundert«, sagte die Stimme. Peyton und der Alte löffelten schweigend ihren Eintopf. Dann gingen sie hinaus, eine Rampe hinauf in andere Gänge. Fahrzeuge summten an ihnen vorbei, und Lautsprecherstimmen tönten. Peyton folgte seinem neuen Freund durch das gigantische Labyrinth, das aus New York geworden war. Ein riesiger Lift trug sie in die Höhe, und dann überquerten sie eine Straßenschlucht. Opa zeigte Peyton riesige Appartementblocks, wo die wohlhabenden Bürger lebten, und andere Quartiere weiter un-
ten, wo die arme Klasse hauste. Opa hatte keinen festen Wohnsitz. Er lebte in erster Linie von seiner Alterspension, von 3500 Dollar die Woche, und die waren erst am nächsten Tag fällig. Jetzt hatte er bloß noch ein paar Münzen in der Tasche. Als die Nacht hereinbrach, führte Opa Peyton ins Nachtasyl. Das war eine Halle, lang wie eine Reitschule und schmal wie ein Gehsteig. Früher war das einmal eine öffentliche Passage gewesen. Jetzt hatte man zu beiden Seiten Mauern gezogen, ein Büro eingerichtet und dahinter offene Boxen gebaut, jede mit einer Pritsche. Die meisten Pritschen waren bereits von Stammgästen belegt. Über dem Schreibtisch, an dem sie ihre Gebühr bezahlten, leuchtete eine rote Funzel. »Viel ist's nicht, aber für den Preis billig«, meinte Opa. »Ich habe schon schlechter geschlafen«, antwortete Peyton, und er erinnerte sich an die winzigen Zellen in der Grube, die nach Desinfektionsmittel stanken. »Was starrst du mich denn so an?« »Du leuchtest irgendwie«, sagte Opa. »Oh, das. Klar. Das ist der Grubenschein. Wenn man mit Atomit arbeitet, wird man so.« »Sag so was nicht, Blacky!« »Sag überhaupt nichts. Ich will schlafen«, knurrte jemand aus einer Nische. Opa und Peyton fanden nebeneinanderliegende
Nischen. Peyton setzte sich auf die Pritsche und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Dann streckte er sich auf den abgewetzten, aber sauberen Decken aus. Er starrte in die Höhe und ließ den ersten Tag in der Freiheit noch einmal an sich vorüberziehen. Nun, morgen war ein anderer Tag. Vielleicht würde es ein guter Tag werden. Vielleicht hatte Opa irgendwelche Vorschläge. Und dann hatte er plötzlich eine Vision. Es war, als würden all die Decken über ihm weggezogen, eine Etage nach der anderen, und als leuchte die Mittagssonne am Himmel. Hoch am strahlend blauen Himmel schwebte die fliegende Insel dahin, von der aus die Flieger, die die Welt beherrschten, am Morgen ihre Fernsehdurchsage gemacht hatten. Das war sein Ziel – die fliegende Insel. Er würde dorthin gelangen, schwor sich Peyton. Es gab einen Weg, der zur fliegenden Insel führte, und er würde den Weg finden. Dann schlief er ein. Plötzlich war er wieder hellwach. In der Finsternis herrschte ein Höllenlärm. Er setzte sich auf. Andere Gäste hetzten vor seiner Nische herum. »Was ist denn los?« rief Peyton. »Flieger!« schrie eine Stimme. »Ein Preßkommando!«
Einige rannten in die hintere Hälfte der Halle und rissen dort eine Tür auf. Peyton schlüpfte in seine Schuhe, schnappte sich Hemd und Jacke und kam aus seiner Nische heraus. Eine Hand umfaßte seinen Ellbogen. »Komm, Blacky, ich hab auf dich gewartet«, sagte Opa neben ihm. Und dann: »Laß mal, schon zu spät!« Die Tür, die zum Büro führte, war aufgebrochen worden. Die Lichtbalken von Taschenlampen tasteten umher, und Peyton und Opa waren plötzlich von Männern umringt. Es waren sechs in enganliegenden Uniformen. Sie trugen runde Mützen, und an ihren Gürteln hingen Waffen. Sie hatten gutgeschnittene Gesichter, und ihre Blicke waren arrogant. »Nun, da sind zwei, die nicht abgehauen sind«, sagte der Größte von ihnen. »Das können wir brauchen«, grinste ein anderer. »Männer, die nicht davonlaufen!« »Warum sollte ich denn weglaufen?« wollte Peyton wissen. »Ich hab vor nichts Angst.« »Das klingt ja immer besser«, sagte der Größte der Uniformierten. »Das ist ein Preßkommando!« flüsterte Opa an Peytons Ohr. »Wir haben einen neuen Stadtmanager. Argyle. Natürlich will er nächste Woche eine größere Schau als sein Vorgänger –« »Mund halten!« brüllte der Anführer der Uniformierten. »Papiere zeigen!«
Opa holte eine Karte aus seinem abgewetzten Jakkett. Der Anführer nahm sie entgegen und las. »Hmm«, brummte er. »Pensionist. Wochenpension drei Riesen und fünfhundert. Keine Familie. Kein fester Wohnsitz.« Im Licht der Taschenlampen sah man sein Grinsen. »Wir nehmen dich mit. Jeder, der keine nützliche Arbeit verrichtet, kann für öffentliche Arbeiten herangezogen werden.« »Und der Zirkus ist eine öffentliche Arbeit!« lachte einer der Uniformierten. Der Anführer wandte sich Peyton zu. »Papiere her!« befahl er. »Wenn ich einen Ausweis hätte, würde ich ihn nicht herzeigen«, sagte Peyton. Im Licht der Taschenlampen leuchtete sein Gesicht nicht. Seine Augen wichen dem Blick des Uniformierten nicht aus. »Blacky versteht nicht«, versuchte Opa zu erklären. »Wissen Sie, Sir, er ist gerade aus dem –« »Mund halten!« fuhr ihn der Anführer an. »Und außerdem, wenn er Papiere hätte, dann hätte er bestimmt keinen anständigen Job, wenn er in einer solchen Wanzenburg übernachtet. Wie heißt du denn, du da?« Peyton funkelte ihn wortlos an. »Er heißt Blacky Peyton«, antwortete Opa für ihn. »Scheint das Zeug zu einem Kämpfer zu haben«, meinte einer aus der Gruppe.
Peyton wandte sich ihm zu und richtete sich dabei auf. Seine Schultern wirkten jetzt noch breiter. »Wollen Sie's ausprobieren?« fragte er. »Stehenbleiben!« warnte ihn der Anführer. »Wir sind Flieger, du Narr!« Ein halbes Dutzend Hände hatten nach ihren Waffen gegriffen. Peyton hatte keine Wahl. »Was soll das alles?« fragte er. »Wir sind Ihnen keine Erklärung schuldig«, sagte einer. »Wir können es ihm ja ruhig sagen«, entschied der Anführer. »Wir sind ein Spezialkommando. General Argyle braucht Sparringspartner für die Zirkuskämpfer. Kommt mit, ihr beiden! Draußen ist ein Lift.« Das Preßkommando umringte Opa und Peyton und drängte sie aus der Schlaf halle.
5 Sie verließen den Lift in der obersten Etage. Peyton und Opa waren von den Fliegern umgeben. Sie standen in einem geräumigen Dachpark unter sternenübersätem Himmel und schritten über einen mit Kunststeinen belegten Weg. Es gab Rasen, Blumenbeete und Springbrunnen. Würfelförmige Gebäude waren zu sehen, aus deren Fenstern Licht drang. Lautsprecherreklame plärrte. »Theater ... Theater ...« »Spielen Sie hier ... Ihr Geschick kann Ihnen ein Vermögen eintragen ... Wer nichts wagt, der nichts gewinnt ...« »Schöne Mädchen ...« Und das alles hoch über den Dächern von New York, dachte Peyton. Es war ein einziger Vergnügungspark, fünfhundert Meter über der Erde. Darüber ragten schlanke Türme und Säulen auf. Sie reichten noch weiter in den Himmel. Obwohl kein Mond am Himmel stand, war die ganze Umgebung taghell beleuchtet. »Die reichen Leute sind meistens hier oben«, sagte Opa, der neben Peyton ging. »Die haben's manchmal schwer, ihre Mußezeit richtig auszufüllen.« »Dann gibt es also außer den Fliegern auch sonst noch reiche Leute?« fragte Peyton.
»Klar. Die Flieger haben ja auch Verwandte.« »Werd bloß nicht frech, Alter!« warnte einer ihrer Bewacher. »Bestimmt nicht!« sagte Opa. »Da, schau, Blacky! Das ist der Zirkus. Zirkus Maximus.« Zirkus Maximus – die alten Römer hatten so etwas gehabt. Peyton blickte in die Richtung, die Opa ihm gewiesen hatte, und sah einen mächtigen, stählernen Zylinder. Das Gebilde hatte einen Durchmesser von fünfhundert Meter und war etwa achtzig Meter hoch. Wie ein Stadion, erinnerte sich Peyton. »Innen neigt es sich zur Mitte hin«, erklärte Opa. »Und in der Mitte ist eine ebene Fläche, so wie ein Krater auf dem Mond –.« »Mund halten!« befahl der Anführer. »Ihr werdet noch früh genug rausfinden, wie der Zirkus Maximus von innen aussieht.« Sie kamen an einem anderen Gebäude vorbei. »Hübsche Mädchen«, verkündete der Lautsprecher. »Die hübschesten Mädchen der Stadt. Kommen Sie herein und sehen Sie sich um!« Die Stimme erstarb hinter ihnen, und sie erreichten eine Tür in der Außenwand des Zylinders. Auf Knopfdruck ging die Tür auf, und die Flieger führten sie in einen Vorraum mit stählernen Wänden. Eine weitere Gruppe von Fliegern lungerte dort herum. »Na, was geschnappt?« fragte einer. »Wir haben
keinen einzigen erwischt. Wie Mäuse sind sie in ihre Löcher gerannt. Die schauen auch lieber zu, als selbst mitzumachen.« »Wir haben zwei«, sagte der Anführer von Peytons Gruppe und deutete mit dem Daumen auf Peyton und Opa. »Der eine muß doch schon hundert Jahre alt sein«, meinte ein Uniformierter. »Nicht ganz!« protestierte Opa, und die Flieger lachten. »Nun, Mumm hat er jedenfalls«, meinte einer. »Eine Weile macht's mit ihm vielleicht Spaß. Und der andere ist gar nicht übel.« »Kannst's ja ausprobieren!« forderte Peyton ihn sofort auf. »Jeder von euch, mit bloßen Händen. Meinetwegen auch zwei!« »Seht ihr?« brüstete sich der Anführer der Gruppe, als wäre Peytons Herausforderung ein persönlicher Triumph. »Kommt, wir wollen uns melden!« Sie gingen durch einen Korridor in einen großen Saal, der wie eine Turnhalle roch. An den Wänden hingen Geräte, und zwei Drittel des Bodens waren mit Sägemehl bestreut. An der Wand hing ein Expander, an dem ein hochgewachsener, muskulöser, junger Mann in Turnhose und Hemd arbeitete. Ein Flieger, etwa vierzig Jahre alt, hart und gut durchtrainiert und mit einer Galauniform bekleidet, rauch-
te eine Zigarette und sah zu. Als die Gruppe eintrat, beugte er sich etwas zur Seite, und Peyton sah eine junge Frau hinter ihm. Es war eine atemberaubend schöne junge Frau in einem engen, glitzernden, blauen Kleid, und ihr Gesicht war von einer Wolke blonden Haares umgeben, so blond, wie Peyton es noch nie gesehen hatte. Seine Augen weiteten sich. »General, Sir, mehr haben wir nicht geschafft«, meldete der Anführer des Preßkommandos. »Einer von den beiden sieht ganz brauchbar aus.« Der General nahm die Zigarette aus dem Mund und ging auf Peyton zu. Er hatte ein braunes, rechteckiges Gesicht mit kurzgestutztem Schnurrbart. Seine dunkelgraue Uniform wirkte teuer. Ärmelaufschläge und Schultern waren dick mit Goldborten besetzt, und auf der linken Brusttasche trug er ein rundes, juwelenbesetztes Symbol, wie Peyton es noch nie gesehen hatte. Er musterte Peyton mit abschätzendem Blick. »Wild genug sieht er aus«, meinte er nach einer Weile. »Was hältst du von ihm, Archbold?« Der junge Mann ließ seinen Expander los und starrte Peyton an. »Vielleicht etwas klein und kompakt«, stellte er mit dem Gehabe eines Experten fest. »Aber zäh scheint der Bursche zu sein, und Mumm hat er, glaube ich, auch.«
Peyton hörte nur mit halbem Ohr hin. Seine ganze Aufmerksamkeit galt immer noch dem Mädchen. In der Grube hatte man keine Frauen sehen können, nicht einmal häßliche; und die hier war in seinen Augen einfach atemberaubend. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als er und genauso groß. In ihrem enganliegenden blauen Kleid, das wie Eis glänzte, wirkte sie schlank, aber nicht überall. Ihr Haar schimmerte wie gesponnenes Gold, und ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen wirkte bleich. Sie hatte grüne Augen. Sie wich seinem Blick nicht aus. »Nun«, sagte sie mit tiefer Stimme, »was bilden Sie sich ein, mich so anzustarren?« Der General lachte. »Sei ihm nicht böse, Thora. Ein Mann, der dich nicht anstarrt, kämpft auch nicht. Und ein Mann, der nicht kämpft, nützt dem Zirkus Maximus nicht viel.« Die grünen Augen des Mädchens musterten Peyton immer noch. »Wie heißen Sie?« fragte sie. »Blacky Peyton. Und Sie?« »Bloß nicht frech werden!« sagte der Anführer des Preßkommandos und versuchte Peyton zu ohrfeigen. Der duckte sich unter dem Schlag weg und wollte zurückschlagen. Aber die anderen Uniformierten packten sofort seine Arme. »Verletzt ihn nicht!« rief Archbold.
»Nein, seid vorsichtig!« fügte der in der goldbetreßten Uniform hinzu. »Das ist ein Kämpfer.« »Ich will mit ihm trainieren«, sagte Archbold. Peyton spürte, wie die Hände ihn losließen. Er musterte Archbold von oben bis unten. »Einverstanden!« brummte er. »Wann fangen wir an?« »Sofort!« erklärte der Goldbetreßte. »Wo ist Willie?« Eine Schiebetür öffnete sich, und ein hünenhafter Neger in ärmellosem Hemd, Turnhosen und Sandalen kam herein. Seine Haut war schwarzbraun wie poliertes Mahagoniholz, und er hatte ein breites, freundliches Gesicht. »Willie wird sich um Sie kümmern«, sagte er zu Peyton. Er zog Peyton das Jackett, das Hemd und das Unterhemd aus. »Warum ist er so bleich?« fragte ein Flieger. »Aber schau dir diese Muskeln an! Er ist in Form.« »Ja, allerdings«, fügte Thora hinzu. Archbold zog sein Hemd aus. Jetzt sah man seinen breiten Brustkasten mit einem dichten schwarzen Haarpelz darauf. Dann nahm er Teile einer Rüstung von der Wand. Er legte eine stählerne Brustplatte mit Ärmeln aus Kettenpanzer an und bückte sich dann, um bronzene Beinschützer anzulegen. Dann stülpte er sich einen Helm mit Visier auf den Kopf. Peyton sah ihm mit gerunzelter Stirn zu.
»Was wird das für ein Kampf?« fragte er. »Das sieht ja mehr wie ein Maskenball aus.« Keiner gab Antwort. Archbold griff nach einem runden Schild und nach einem langen schmalen Schwert mit stumpfer Spitze. »Da, Mister!« Willie reichte Peyton einen ähnlichen Schild und ein Schwert, das im Gegensatz zu dem Archbolds stumpfe Kanten hatte. Peyton nahm die Waffe verwundert entgegen. Jetzt kam ein weiterer Uniformierter mit einer Plakette an der Uniform herein. »Oh!« sagte er. »Die haben gesagt, daß er hier ist.« Er deutete auf Peyton. »Dieser Mann ist verhaftet. Sein Name ist Peyton. Er ist ein ehemaliger Sträfling. Er hat die Arbeit abgelehnt, die man ihm angeboten hat, und einen Beamten im Begnadigungsbüro tätlich angegriffen.« »Haben Sie nicht gelernt, Ihre Vorgesetzten zu grüßen?« fiel ihm der goldbetreßte General ins Wort. Der Mann mit der Plakette zuckte zusammen, nahm Haltung an und grüßte. »General Argyle«, sagte er, und seine Stimme klang verlegen. Peyton sah den Goldbetreßten an. Das also war Argyle, New Yorks neuernannter Chef-Administrator, der Mann, der die Macht hatte, arme Leute für den Zirkus zu schanghaien! »General, Sir«, sagte der Mann mit der Plakette,
»ich bin gekommen, um diesen Peyton zu verhaften.« »Stehen Sie bequem und schauen Sie sich zuerst ein kleines Spiel an«, sagte Argyle. »Archbold möchte trainieren, und Peyton hat sich bereit erklärt, sein Partner zu sein. Nachher können Sie ihn haben.« »Wenn dann noch etwas übrig ist«, fügte ein anderer Uniformierter hinzu. »Ring frei!« befahl Argyle, und er und Thora traten an die Wand. Die anderen Flieger bauten sich gegenüber auf. Opa stand neben Willie. »All right«, sagte Argyle. »Es kann losgehen!« Peyton sah seinen Gegner an, der mit Schwert und Schild bewaffnet war. Das verstand man also jetzt unter Zirkus: einen Zweikampf mit Schwertern. »Nun«, sagte er zu Archbold, »ich bin einem Kampf noch nie aus dem Weg gegangen. Fangen wir an.« »Gut!« sagte Archbold, klappte sein Visier herunter und nahm dann Fechterpose ein: Schwert ausgestreckt und Schild in Brusthöhe. Ehe Peyton an seine Verteidigung denken konnte, trat Archbold vor und stieß ihn mit dem Schwert an. Peyton spürte die Berührung an der Wange. »Eins«, zählte ein Flieger. Peyton schlug zurück, wütend, aber ungeschickt. Archbolds Schild schlug sein Schwert zur Seite. »Zeig's ihm, Blacky!« kreischte Opa.
Peyton gab sich redlich Mühe. Er schlug erneut zu, aber Archbold wehrte mit dem Schild ab, und wieder zuckte sein eigenes Schwert vor. Ein Geräusch wie ein Peitschenschlag, und Peyton sprang zurück. Diesmal hatte sein Gegner ihn am Handgelenk getroffen. »Zwei«, zählte Argyle. »Du bist heute gut in Form, Archbold. Gut gemacht!« Peyton wich Archbold aus. »Jetzt kapier ich langsam!« stieß er hervor. »Jetzt mach ich dir's nicht mehr so leicht ...« Wieder zuckte Archbolds Schwert vor. »Drei«, zählte Argyle automatisch. Und dann plötzlich: »Nein, Archbold! Paß auf!« Peyton hatte sein Schild hochgerissen, Archbolds Klinge nur Zentimeter vor seinem Gesicht abgefangen, und warf sich jetzt vor. Archbolds Schwert wurde in die Höhe gerissen, und Peyton schlug zurück. Sein stumpfes Schwert krachte auf Archbolds rechten Oberarm, den ein Kettenpanzer schützte. Und dann schmetterte Peyton sein Schild mit aller Kraft gegen Archbolds Visier. Der Aufprall hallte wie ein mächtiger Gongschlag. Der Helm ruckte nach hinten, und Archbold wurde das Schwert aus der Hand gerissen und fiel klirrend zu Boden. »Aufpassen, Archbold!« schrie Argyle.
Peyton warf seine Waffen weg und schlug mit den Fäusten zu. Dann fluchte er, als seine Knöchel gegen den Panzer trafen. Archbold versuchte ihn mit dem Schildrand wegzuschlagen, aber Peyton duckte sich und packte seinen Widersacher plötzlich an der Hüfte. Jetzt rangen sie. Peyton stellte Archbold ein Bein und warf sich mit aller Kraft nach vorn. Beide krachten zu Boden. Peyton lag oben. »Reißt sie auseinander!« schrie jemand. Aber Peyton hatte Archbold das Visier hochgeschoben. Mit der linken Hand hielt er den Mann an der Kehle, mit der rechten schlug er blitzschnell zwei, drei-, viermal zu. Blut schoß hervor, rot und hell, und als die Flieger sie auseinanderreißen wollten, hatte Peyton den anderen bereits schwer gezeichnet. Archbold keuchte und wurde dann plötzlich stumm. »Laß ihn los, du verdammter Killer!« hallte eine Stimme in Peytons Ohr. Drei Flieger zerrten mit aller Kraft an ihm. Sie rissen ihn von Archbold weg und zur Seite. Peyton blickte sich um und sah Archbold reglos auf dem Boden liegen. General Argyle beugte sich über ihn. Hinter Argyle starrte Thora Peyton mit grünen Augen an. »Sie sind verhaftet!« Das war der Flieger mit der Polizeiplakette. Er hielt eine Pistole in der Hand. »Stehenbleiben, oder Sie kriegen eine Kugel!«
Willie kniete nieder und hob Archbolds Kopf. »Kann jemand bitte Wasser bringen?« sagte seine sanfte Stimme. »Mr. Archbold ist schwer verletzt.« Opa brachte einen Eimer. Willie tauchte ein Tuch ein, hob Archbold etwas an, so daß sein Kopf an seinem Knie lehnte, und wischte ihm über das Gesicht. Archbold zuckte und setzte sich auf. Seine Augen suchten Peyton. »Haltet ihn mir fern!« stöhnte er heiser. »Der bringt mich um!« »Der sollte dich umbringen«, knurrte Argyle. Willie hatte ihm jetzt den Helm abgenommen und wischte Argyle mit dem feuchten Tuch das Gesicht ab. Nach einer Weile stand Argyle benommen auf. »Schafft ihn hier weg!« befahl Argyle. »Archbold, leg die Rüstung ab und geh zurück zu deinem Lieferwagen oder wo sie dich sonst gefunden haben. Im Zirkus Maximus können wir dich nicht mehr brauchen.« Opa half Willie den immer noch benommenen Archbold wegführen. Die Waffe des Polizisten war unverwandt auf Peyton gerichtet. »Soll ich diesen Mann jetzt abführen, General?« fragte er. »Kommt überhaupt nicht in Frage!« herrschte Argyle ihn an. »Sir, ich habe Befehl –«
»Gehen Sie auf Ihre Wache zurück und sagen Sie, daß ich den Befehl widerrufen habe.« Argyle schickte den Mann mit einer Handbewegung weg. Dann ging er zu Peyton hinüber. »Sie sind das reine Gift!« Peyton hatte inzwischen seinen Helm abgenommen. »Danke!« sagte er. »Ich fasse das als Kompliment auf.« »Wir werden Sie nicht in einem Gefängnis verfaulen lassen«, erklärte Argyle. »Sie haben das Zeug zu einem Stargladiator. Ich werde dafür sorgen, daß man einen aus Ihnen macht.« Peyton sperrte den Mund auf, sagte aber nichts. Thora blickte ihn immer noch unverwandt aus ihren grünen Augen an. Argyle, der oberste Chef von New York, wollte etwas für Blacky Peyton tun. Das bedeutete für ihn vielleicht Bequemlichkeit, Aufmerksamkeit, vielleicht sogar Wichtigkeit. Möglicherweise war das sogar ein weiterer Schritt auf seinem Weg zur fliegenden Insel. Wie es wohl sein mochte, zur fliegenden Insel zu fliegen und jemanden als Begleiter mitzunehmen – eine Frau mit Haar wie gesponnenes Gold und grünen Augen?
6 Neben der Turnhalle gab es eine kleine Kammer, die als Krankenstation eingerichtet war. Es standen darin zwei Pritschen, ein Operationsstuhl und ein paar Schränke mit Instrumenten, Medikamenten und Verbandsmaterial. Peyton, immer noch mit nacktem Oberkörper, lehnte an der Wand und bemühte sich, gelangweilt zu blicken, während Willie geschickt ein Antiseptikum auf die Wunde an seiner Brust strich und ihm dann einen Verband anlegte. Opa saß auf einem Hocker und musterte ihn interessiert. »Ich hab gar nicht bemerkt, daß er mich geschnitten hat«, sagte Peyton. »Er hat doch bloß auf mich eingeschlagen.« »Mr. Archbolds Schwert war scharf wie ein Rasiermesser«, erklärte Willie sanft. »Sie haben wirklich Glück gehabt, daß Sie so schnell mit ihm fertig geworden sind, Mr. Blacky.« »Ich versuche immer, schnell mit ihnen fertig zu werden«, sagte Peyton. »Was hat dieser verdammte Narr Argyle gemeint, als er sagte, er würde einen Stargladiator aus mir machen?« Willies kluge Augen sahen Peyton an. »Er hat es ernst gemeint, und ein Narr ist er nicht. General Ar-
gyle mag alles mögliche sein, aber keineswegs ein Narr.« »Früher war er Chef im Zirkus«, sagte Opa. »Und jetzt ist er Boß von ganz New York. Manche Leute meinen, eines Tages wird er oberster Flieger, Hochmarschall also. Ich will dir was sagen, Blacky. Ich bin oft im Zirkus Maximus gewesen, aber ich hab noch nie einen gesehen, der so schnell angegriffen hat wie du. Du wirst ein guter Gladiator.« Peyton musterte jetzt wieder den Neger. »Wie heißt du denn? Willie?« »Willie Burgoyne, Mr. Blacky.« »Du brauchst nicht Mister zu mir sagen. Ich heiße einfach Blacky Peyton. Weißt du, Willie, eigentlich müßtest du selbst ein ganz guter Gladiator sein. Du bist gebaut wie ein echter Kämpfer.« Willie Burgoyne glättete den Verband an Blackys Brust. Jetzt wirkte sein Gesicht nicht mehr sanft. »Das hat General Argyle auch einmal gedacht«, sagte er. »Er fing an, mich für den Zirkus auszubilden. Aber ich habe ihm gleich gesagt, daß ich nie gegen einen Menschen kämpfen würde, wenn ich nicht wütend auf ihn wäre.« Peyton runzelte die Stirn. »Du weißt natürlich selbst am besten, was du willst, Willie. Aber ich denke da anders. Ich kämpfe mit jedem, der Lust dazu hat. Und dieser General Argyle scheint ein Mann zu
sein, der seine Befehle gewöhnlich durchsetzt. Was ist denn passiert, als du dich geweigert hast?« »Er hat mich trotzdem in eine Schau gesteckt, bloß mit einem Grasrock und einem Speer, und ein hungriger Löwe stürzte sich auf mich und wollte mich auffressen.« Opa pfiff durch die Zähne. »He, Willie, die Nummer hab ich gesehen. Ich erinnere mich genau daran. Argyle war damals Zirkuschef. Er hatte den Job gerade übernommen. Der hat wohl gedacht, du läßt dich von dem Löwen zum Frühstück verspeisen?« »Ja, wahrscheinlich«, nickte Willie und wusch sich die Hände im Waschbecken. »Ja«, nickte Opa, »und dann hast du den Löwen umgebracht. Ihm den Speer einfach in den Bauch gerannt. Und die Zuschauer waren so begeistert, daß du seitdem regelmäßig auftrittst.« »Ja, Sir«, sagte Willie und griff nach dem Handtuch. »Seitdem hat man mich oft eingesetzt. Aber immer nur gegen Tiere, nicht gegen Menschen. Daran halte ich fest. So, jetzt können Sie aufstehen, Mr. Blakky. In ein paar Tagen ist die Wunde geheilt, wenn Sie sie nicht wieder aufreißen.« Opa brachte Peytons Sachen herein, und Peyton schlüpfte vorsichtig in sein Hemd. »Willie«, sagte Peyton, »ich hab dir doch gesagt, daß du dir den ›Mister‹ schenken sollst. Und Opa, du
hast mir noch nicht alles gesagt. Du hast bloß von den Fliegern geredet, und von diesem Zirkus Maximus hast du gar nichts erwähnt.« Opa hatte inzwischen die Flaschen im Schrank durchstöbert. Jetzt öffnete er eine und schnüffelte daran. »He, Willie, ist das medizinischer Alkohol? Der riecht viel besser als das synthetische Zeug, das man in der untersten Etage in den Bars kriegt.« Er füllte drei Becher und reichte sie herum. »Jetzt heben wir einen!« verkündete er. »Ich trinke auf Blacky, weil er es Archbold gezeigt hat. Nein, Blakky, da hast du recht, ich hatte nur noch keine Zeit, dir alles zu erzählen. Im Zirkus geht's wirklich rauh zu.« »Kann man wohl sagen«, nickte Willie. »Mann gegen Mann, Tier gegen Tier und Mann gegen Tier.« Er leerte sein Glas. »Und zwar Kampf bis zum Tod.« »Stimmt«, meinte Opa. »Einzeln oder in Gruppen und mit einer Menge Blut und vielen Toten. Nicht zu vergleichen mit den Boxkämpfen oder Fußball oder Baseball, woran du dich wahrscheinlich erinnerst.« »Wie im alten Rom«, sinnierte Peyton. »Brot und Spiele für die Leute, damit sie keine lästigen Fragen stellen. Das Imperium des Hochmarschalls hat die gleichen Probleme, die schon Neros Reich hatte.« »Du bist aber ein gebildeter Mann, Blacky«, staunte Opa, und Peyton grinste. »Ich hab versucht, im Gefängnis etwas zu lernen«,
sagte er. »Vielleicht ein Jahr lang hab ich die ganze Zeit gelesen. Ich erinnerte mich daran, wie der Graf von Monte Christo sich im Gefängnis seine Bildung angelesen hat. Aber er ist entkommen. Ich hab das auch probiert, aber es hat nicht geklappt. Und jetzt bin ich draußen, genau wie er, und ich habe vor, es weit zu bringen. Er hat es auch weit gebracht.« »Paß nur auf, daß General Argyle das nicht hört.« »General Argyle«, wiederholte Peyton und band sich die Krawatte. »Du nennst ihn General, Opa. Aber der Hochmarschall hat einen höheren Rang als er.« »Ja, das ist Marschall Torridge, der große Boß, der nie die fliegende Insel verläßt. Und dann gibt es eine ganze Menge Generale, und der höchste General in jeder Stadt ist City-Manager, so wie Argyle.« »Da muß es ja Millionen von Fliegern geben«, meinte Peyton. »Nein«, sagte Opa, »ich glaube, es gibt bloß etwa zwanzigtausend. Ein Flieger ist von seiner Geburt an Hauptmann. Wenn er älter wird, wird er zum Major oder Oberst befördert, vielleicht auch weiter. Eine Militär-Aristokratie nennt man das.« Er blickte auf die Uhr an der Wand. »Gleich ist's Mittag. Jetzt kommt die fliegende Insel.« Peyton mußte auch an die Insel denken. »Die ist ihr Hauptquartier, hast du gesagt?« »Damit halten sie Wache über die ganze Welt oder
jedenfalls über die Städte, die sie überfliegen«, sagte Opa. »Die meisten Flieger sind auf der Erde und regieren die Städte.« »Gibt es bei den Fliegern auch Frauen?« fragte Peyton. »Irgendwoher müssen doch die Kinder kommen, die gleich zum Hauptmann ernannt werden.« »Oh«, nickte Opa, »die heiraten normalerweise erst in mittleren Jahren und können sich ihre Frauen natürlich aussuchen. Das habe ich wenigstens gehört.« Er strich sich über den Bart. »Selber hat mir das keiner von den Fliegern gesagt. Die reden nicht so ohne weiteres mit uns gewöhnlichen Leuten.« »Die reden mit niemandem«, sagte Willie. »Wir sind die Bürger, Mr. Blacky. Wir gehorchen den Befehlen, geben ihnen das, was sie brauchen, um wie Flieger zu leben, und grüßen sie, wenn sie uns zufällig sehen sollten.« Er sah Peyton an. »Wenn Sie nicht grüßen, dann werden die wild, Mr. Blacky. Man kommt aus dem Grüßen gar nicht raus, bei all diesen Fliegern.« Peyton wandte sich vom Spiegel ab. »Zwanzigtausend«, sagte er. »Hier in New York muß es Millionen gewöhnlicher Leute geben und weitere Millionen in den anderen Städten. Das reicht doch aus, um zwanzigtausend Flieger zum Frühstück zu verspeisen. Dann wäre Schluß mit dieser Grüßerei.« »Aber nicht, wenn diese zwanzigtausend alle Waffen und Flugzeuge haben«, sagte Opa. »Nicht, wenn
sie die Straßen mit Tränengas füllen können und Energie und Wasser abschalten und sich weigern, uns zu essen zu geben.« Ehe Peyton antworten konnte, öffnete sich die Tür. General Argyle stand da, die Zigarette in der Hand. »Wie sieht's aus, Willie?« Der Neger richtete sich auf, und seine rechte Hand salutierte. »Bloß eine leichte Wunde, General«, berichtete Willie. »In einer Woche ist er so gut wie neu, Sir.« »In einer Woche«, wiederholte Argyle. »Damit wäre er in der übernächsten Woche reif für den Zirkus.« Peyton salutierte ebenfalls. »Reif wofür, General Argyle?« Der General grinste. Sein Gesicht wirkte jetzt wie das eines Tigers. »Überlassen Sie das mir, Peyton. Zerbrechen Sie sich bloß nicht den Kopf darüber. Und jetzt kommen Sie mit. Draußen wartet ein Schneider auf Sie.« Peyton folgte ihm aus dem Zimmer, einen Korridor entlang und ins Freie. Ein kleiner, tropfenförmiger Wagen mit uniformiertem Chauffeur wartete. Sie stiegen ein, und das Fahrzeug summte davon. »Schneider, General Argyle?« fragte Peyton. »Ich hab nicht viel Geld ...« »Oh, das dürfen Sie ruhig mir überlassen«, sagte Argyle. »Schließlich können Sie nicht wie ein Land-
streicher herumlaufen. Sie müssen gut aussehen. Die Leute werden auf Sie achten, in der Arena und außerhalb.« Der Wagen rollte in eine Liftstation, kam zum Stehen, sank viele Etagen in die Tiefe und rollte dann wieder hinaus. Als er schließlich stehenblieb, stiegen Argyle und Peyton aus und betraten einen großen Saal, in dem Stoffe aller Farben und Muster hingen. Ein unterwürfiger Mann hörte sich Argyles Befehle an und nahm dann schnell an Peyton Maß. »Wir liefern noch heute abend, General«, versprach der Mann. Dann, zu Peyton gewandt: »Dieser Schnitt, Sir?« Peyton sah sich das Bild an und dann noch eines. »Das müssen Sie entscheiden. Ich kann das nicht. Das hier sieht ganz ordentlich aus, oder?« »Ja. Eng anliegend«, meinte der Schneider. »Sie haben die Figur, um das zu tragen. Wohin sollen wir die Anzüge liefern, General Argyle?« »In meine Wohnung«, sagte Argyle. »Jetzt bringen Sie noch ein paar Hemden.« Der Schneider huschte davon. Argyle schaltete den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm erschien plastisch und in Farbe das Gesicht einer auf strenge Art hübschen Frau mit hochgesteckten Zöpfen. »– spricht von einer besonderen Schau, die General Argyle versprochen hat, um seine Beförderung zu
feiern. Es hat den Anschein, daß er eine Überraschung plant. Bald wird man in Zirkuskreisen von einem neuen Namen sprechen – Blacky Peyton. Wie es heißt, hat der neue Star Tiger Archbold sozusagen in Stücke gerissen –.« Argyle schaltete aus. »Wir müssen schnell machen«, sagte Argyle. »Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen. Sie sind jetzt schon berühmt.« Peyton nickte stumm. Mit ähnlichen Tricks hatte man auch zu seiner Zeit gearbeitet, um einen neuen Namen aufzubauen. »Sie sehen, daß man schon von Ihnen spricht«, sagte Argyle. »Man muß Sie noch heute abend in der Öffentlichkeit sehen. Deshalb kriegen Sie auch die neuen Anzüge. Wir gehen heute abend aus. Inzwischen lasse ich Ihnen eine Wohnung zuweisen und sorge dafür, daß Sie Geld haben und all das.« Er zündete sich eine Zigarette an und sah Peyton prüfend an. »Ich glaube, Sie werden's schaffen. Sie sind intelligent genug, um meistens das Richtige zu sagen. Außerdem sind Sie kein Schwätzer. Wenn Sie es klug anstellen, werden Sie weit kommen, Peyton.« Weit kommen ... bis zur fliegenden Insel? »Wie weit, General Argyle?« fragte Peyton. »Oh, wir werden sehen. Thora kommt heute abend mit. Etwas dagegen?« »Nein, Sir«, sagte Peyton. »Nichts dagegen.«
7 Das Ganze nannte sich Vergnügungsgarten, genaugenommen Brockenburg-Vergnügungsgarten, aber es ähnelte den Nachtklubs, die man vor dreißig Jahren gekannt hatte. Das heißt, Peyton vermutete das, denn er selbst war nie in einem Nachtklub gewesen. Jedenfalls war es kein Garten, sondern ein Raum in einem Gebäude auf dem Dach der Stadt, irgendwo in einem Park. Und sich zu vergnügen, schien hier sehr viel Mühe zu bereiten. Daß das Brockenburg so beliebt war, kam in erster Linie daher, daß es einen gewissen archaischen Reiz ausstrahlte. Tische und Stühle hatten versilberte Beine, und die Tischplatten wirkten wie emailliertes Metall. Es gab eine Bar aus imitiertem Mahagoniholz, und das Prunkstück des Ganzen war eine nachgemachte Bierpumpe. Hinter der Bar standen Barkeeper in altmodischen weißen Jacketts mit kurzgeschnittenem Haar. Und hinter den Barkeepern gab es einen großen rechteckigen Spiegel, vor dem endlose Reihen von Flaschen standen. Die Flaschen, die imitierte Bierpumpe und in gewissem Maße auch die Barkeeper waren natürlich nur Attrappe. Wenn man sich einen Drink bestellte, so kam der auf einem Fließband unter der Bar und wurde dem Gast dann vom Barkeeper lediglich hingestellt.
Der ganze Raum war in einen bläulichen Schimmer getaucht. Wo das Licht herkam, wußte man nicht, so geschickt waren die Beleuchtungskörper angeordnet. Wo die Show stattfand, war das Licht am hellsten, und an den Tischen im Hintergrund konnte man kaum die Hand vor den Augen sehen. Aber dort saßen meistens Pärchen, die die Dunkelheit zu schätzen wußten. Zwischen den Tischen gab es eine Tanzfläche, auf der einige Ballettmädchen tanzten. Es waren alles hübsche Mädchen mit wallenden Kostümen. Ein langhaariger Sänger schluchzte einen Evergreen aus längst vergangenen Zeiten. An einem ausgewählten Tisch in der Nähe der Tanzfläche und nicht zu nahe bei der Bar oder der Tür saß General Argyle im strahlenden Glanz einer weißgoldenen Uniform. Zahlreiche Gäste des Brokkenburg, wohlhabende Stadtbewohner in Abendkleidung und Flieger in Uniform kamen einzeln oder in kleinen Gruppen an den Tisch, um New Yorks neuernanntem Kommandierenden General Reverenz zu erweisen. »Das hier ist Blacky Peyton«, sagte Argyle immer wieder und deutete auf den Mann, der neben ihm am Tisch saß: ein breitschultriger Mann in einem erstklassig geschneiderten Smoking aus rubinrotem Tuch. »Blacky ist der größte Kämpfer der Geschichte.
Habe ihn selbst entdeckt. Übernächste Woche sehen Sie ihn im Zirkus Maximus. Sie werden staunen!« Peyton nickte einem Fremden nach dem anderen zu und spielte Herzlichkeit, die er nicht empfinden konnte. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er zu jedem, den man ihm vorstellte. »Vielen Dank! Das ist sehr nett von Ihnen.« Thora saß auf der anderen Seite Peytons. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte, die er sich je in seinen Träumen vorgestellt hatte. Sie trug Weiß. Das Kleid lag so eng an, daß es ebensogut eine zweite Haut hätte sein können. Peyton ertappte sich bei dem Gedanken, man könnte es ihr mit einer Spraydose aufgetragen haben. Schultern und Arme waren frei. Am Hals trug sie einen Diamanten, der in allen Farben des Spektrums glitzerte, wenn ein Lichtstrahl ihn traf. Bei der herrschenden Beleuchtung wirkte ihre Haut purpurblau, und ihr Haar strahlte jetzt einen schneeweißen Schimmer aus. Ihre Augen begegneten den seinen, ihr Mund lächelte. »Sie benehmen sich wirklich wie ein Gentleman«, sagte sie zu Peyton, als gerade einmal niemand vorgestellt wurde. »Das überrascht Sie wohl«, sagte er, und sie lächelte unwillkürlich.
»Ja, allerdings. Wenn ich daran denke, wie Sie den armen Archbold zusammengeschlagen haben. Aber hier, unter diesen Leuten –« »Oh, ich war schon immer ein guter Schauspieler. Ich spiele ihnen das nur vor.« »Nein, das tun Sie nicht.« Der Sänger und die Tänzerinnen traten ab. Von irgendwoher kam völlig andere, fremdartige Musik – dröhnende Trommeln und Holzbläser, die sich wie gefangene Elefanten anhörten. Eine einzige Dissonanz. Dann ging eine Schiebetür auf, und aus der Dunkelheit dahinter sprangen große, grüne Gestalten hervor. Peyton beugte sich vor und starrte. »Das sind wirklich Frösche«, sagte Thora, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Unmöglich!« widersprach er. »Die sind ja so groß wie Menschen!« »Stimmt! Und fast so intelligent.« »Wo kommen die denn her?« fragte Peyton und starrte die fremdartigen Wesen an. »Eine wissenschaftliche Entwicklung. Die Flieger beschäftigen eine ganze Menge Gelehrter. Und diese Burschen hier sind das Ergebnis besonderer Zuchtwahl, Bestrahlungen, Ausbildungen – alles mögliche. Ziemlich erfolgreich. Sie werden gleich sehen.« Ein Dompteur erschien. Er trug einen bunten Uniformrock und hatte in der Hand einen Stab, dessen
Spitze glühte. Eine einzige Bewegung mit dem Stab reichte aus, um den Riesenfröschen seinen Willen aufzuzwingen. Im Takt der fremdartigen Musik zeigten sie gehorsam ihre Kunststücke, sprangen übereinander und vollführten akrobatisches Können. Dann bauten sie eine Pyramide. Drei Paare von ihnen rangen, nicht einmal ungeschickt. Schließlich bildeten sie eine Reihe und krächzten ein Lied, während der Dompteur mit seinem Stab den Takt schlug. »Interessiert?« fragte Thora. »Ja, sehr«, nickte Peyton, und das entsprach auch der Wahrheit. Das war ein wissenschaftlicher Triumph der von den Fliegern beherrschten Welt. Wissenschaftler hatten diese Frösche erzeugt und ihre Intelligenz geweckt. Und unterdessen mußte die Welt ohne echten Kaffee und ohne echten Tabak auskommen und sich mit geschmacklosen Ersatzprodukten behelfen; nur die Flieger natürlich nicht. Vorrecht der Elite. »Es gehört wirklich eine geniale Begabung dazu, seine Zuhörer so zu unterhalten«, bemerkte Argyle. »Ja, da haben Sie recht, Sir«, pflichtete Peyton ihm bei. Wenn man es sich richtig überlegte, war das Ganze gar nicht schwer zu begreifen. Die Flieger waren die Elite, und der Rest der menschlichen Rasse zählte nicht. Die Flieger bestanden darauf, unterhalten zu werden.
Dann trat er auf den Plan – er, Blacky Peyton. Er würde für die Unterhaltung der Flieger zu sorgen haben. Brot und Spiele. Nun, das Brot hatte er. Argyle lieferte ihm Nahrung, Unterkunft und Kleidung und sorgte dafür, daß die Polizei ihn in Ruhe ließ. Die Frösche hatten ihren Auftritt beendet. Sie hopsten davon, und ein wahrer Wirbelsturm von Applaus umgab sie. »Wollen wir gehen?« fragte Argyle. »Wie wär's mit einer kleinen Runde über der Stadt?« »Runde über der Stadt?« wiederholte Peyton. »Ein kurzer Flug.« Thora lächelte. Peyton nickte, bemüht, sich die Erregung nicht anmerken zu lassen. Sie verließen das Brockenburg und rollten in Argyles Wagen über Kieswege und zwischen Büschen hindurch zu einem Landefeld. Auf Argyles Befehl öffneten zwei Mechaniker einen würfelförmigen Hangar und schoben ein Flugzeug heraus. Es hatte die Form eines Torpedos mit kurzen Stummelflügeln und war höchstens vier Meter lang und einen Meter breit. Fahrgestell besaß die Maschine keines, vielmehr glitt sie auf einem Luftkissen dahin. Die Mechaniker klappten die Türen auf. Das kleine Fahrzeug hatte zwei Passagier- und einen Pilotensitz. »Ich steuere selbst«, sagte Argyle zu den Mechanikern.
»Eine solche Maschine möchte ich auch gern steuern«, platzte Peyton heraus. Argyle blickte ihn an. Dann nahm er die Zigarette aus dem Mund und musterte Peyton lange ausdruckslos. »Das verstehen Sie nicht. Sie waren zu lange weg. Ich muß es sogar Ihnen und Thora befehlen, bevor Sie aus den Fenstern hinaussehen dürfen.« »Ja, Sir.« Das war kein Gehorsam, das war eher eine Frage. Hätte Peyton mit lauterer Stimme gesprochen, wäre es eine Herausforderung gewesen. »Sie werden den Anblick interessant finden, Blacky. Faszinierend. Aber vergessen Sie eines nicht: Nur Flieger dürfen Flugzeuge steuern. Ist das klar, Blacky?« »Ja, Sir.« Thora ging auf die Maschine zu. Peyton half ihr beim Einsteigen und schwang sich dann hinter ihr hinein. Argyle setzte sich ans Steuer. Er drückte einen Knopf, und die durchsichtige Kuppel schloß sich über ihnen. Das leise Summen eines Motors. Atomit natürlich, überlegte Peyton. Sie erhoben sich ohne merkbaren Ruck in die Lüfte. Über ihnen war jetzt der Vollmond am Himmel aufgestiegen. Sie kletterten immer höher, als wollten sie den Mond erreichen. »Da, schauen Sie hinaus!« flüsterte Thora. »Ist es nicht atemberaubend? Ich kann das immer wieder sehen.«
Unter ihnen versank New York und nahm unter seinen zahllosen Lichtern Gestalt an. Es war ein einziges, weit verzweigtes Haus; ein Haus mit einem ebenen Dach und einer Anzahl Anbauten. An verschiedenen Stellen sah man Öffnungen im Dach, und Peyton wußte, daß darunter Parks lagen. Aber die Parks auf dem Dach schimmerten im Schein ihrer vielfarbigen Lichter wie Geschmeide. »Das ist alles so schön, so atemberaubend«, sagte Thora. »Ja«, nickte Peyton. Er würde New York in seiner ganzen Kompliziertheit wohl nie begreifen. Die Maschine beschrieb eine Kurve, steuerte wieder New York an, bog erneut ab und machte schließlich eine Schleife am Himmel. Rings um New York mit seinen klippenartigen Mauern streckten sich ebene Flächen, die das Mondlicht erhellte. Wahrscheinlich war dieses Land bebaut, überlegte er. Kleine Gebäude waren zu sehen. Dann entdeckte er einen silbernen Fluß, sicherlich der Hudson, der sich von irgendwo heranwand und wie eine Schlange unter New York hineinkroch und auf der anderen Seite wieder herauskam. In weiterer Ferne waren dunkle Flecken zu sehen; Wälder. Aber nirgendwo Licht. Nur New York und der Mond erhellten die Nacht. New York war eine Festung, angefüllt mit der Kultur und dem Eigentum der Flieger, umgeben und belagert von Wildnis.
»Warum so nachdenklich?« fragte ihn Thora. »Ich kann das alles noch nicht fassen.« »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich weiß ich es schon. Ich habe darüber nachgedacht, wie der größte Teil der Welt wieder der Wildnis anheimgefallen ist. Meine eigene Geburtsstadt – Richmond –« »Oh, im Süden?« »Ja. In Schutt und Asche. Alle Leute, die ich kenne, müssen im Krieg umgekommen sein.« »Aber Sie leben doch«, erinnerte sie ihn, als könnte sie ihn damit aufheitern. »Sie sind hier und haben Freunde.« »Ja«, nickte er. »Ich habe Freunde. Der alte Opa Hooker – ich habe General Argyle gebeten, ihm einen Job zu geben. Und dann ist da noch Willie Burgoyne.« »Oh«, sagte sie, »und ich bin auch Ihr Freund, Blacky.« »Danke!« Sie blickte auf die Lichter von New York hinunter. »Erregt Sie das denn nicht?« »Stinklangweilig.« Sie lachte, und Peyton lachte auch. Das war das erste Mal seit vielen Jahren, daß er wieder herzhaft lachte. General Argyle drehte sich zu ihnen um und starrte sie verständnislos an.
8 Opa und Willie halfen Peyton in einer Garderobe unmittelbar vor dem Stadion sein Gladiatorenkostüm anzulegen. Durch die geschlossene Schiebetür drang ein Gemisch von Stimmen, schlurfenden Füßen und schriller Musik herein. »Die Show fängt gleich an«, verkündete Opa und polierte die vergoldeten Sandalen auf dem Tisch ein letztes Mal. »Sag mal, Blacky, ich weiß wirklich nicht, ob ich dir dafür dankbar sein soll, daß du mir diesen Job als Garderobenhelfer verschafft hast. Vorher hab ich fünfhundert am Tag bekommen. Wohlfahrt. Bloß dafür, daß ich zu alt zum Arbeiten war.« »Bist du zu alt zum Arbeiten, Opa?« Peyton zupfte sich das vergoldete Kettenhemd zurecht. »Opa«, fragte er dann, »was hast du denn eigentlich getan, eh du vertrocknet bist und angefangen hast, Alterspension zu kassieren?« Opa brachte ihm die Sandalen. »Ich war Flieger.« »Du?« »Ja, im Ernst. Setz dich hin, damit ich dir diese Dinger anziehen kann. Ich war noch einer von der alten Sorte. In den dreißiger Jahren war ich Postpilot, und im zweiten Weltkrieg bin ich auch geflogen. Die Deutschen haben mich abgeschossen und gefangen-
genommen. Nachher war ich eine Weile Fluglehrer, und vielleicht, wenn ich mir das Haar gefärbt hätte, hätte ich auch noch im dritten Weltkrieg mitmachen können. Dann war ich jetzt auch einer von den großen Bonzen oben auf der fliegenden Insel und könnte dich und Willie jedes Mal grüßen lassen, wenn ich zu Besuch komme.« Er schnallte die Sandale fest. »Im Augenblick«, fuhr er fort, »bin ich gerade neunzig Jahre alt und komme mir vor, als wäre ich gerade erst neunundachtzig. Gib den anderen Fuß her!« Er befestigte die zweite Sandale, und Peyton stand auf und ging zum Spiegel. »Neunzig«, wiederholte Willie nachdenklich. Er fuhr glättend über Peytons Kettenhemd und meinte dann: »Dann sind Sie also 1916 geboren, nicht wahr, Mr. Opa?« »Nenn mich bloß nicht Mister! Ja, das stimmt. Als ich achtzehn war, wurde ich Flieger – ich hab's in Wichita, Kansas, gelernt, oder wo Wichita sonst lag. Damals war Wichita die Fliegerhauptstadt. Ist aber viele Jahre her.« Peyton studierte sich in dem Spiegel, während Willie ihm einen Helm mit Federbusch brachte. Peyton setzte den Helm auf, worauf Willie einen flammendroten Mantel über Peytons Rücken und einen Arm
drapierte. Der Spiegel zeigte Peyton jetzt in der übertriebenen, beinahe komisch wirkenden Pose und dem Kostüm eines klassischen römischen Gladiators. Seine nackten Beine zierten juwelenbesetzte Lederstreifen, und ein goldbesetzter Gürtel umspannte seine Taille. Ein schlankes, gerades Schwert hing an seiner linken Hüfte. Geschicktes Make-up bedeckte seine bleiche Haut und verlieh ihm ein gesundes, gebräuntes Aussehen. »Wie ein Schmierenkomödiant!« fauchte er sein Spiegelbild an. »Ja, das ist ein Schauspielerkostüm«, pflichtete Willie ihm mit seiner sanften Stimme bei. Er schnallte sich jetzt den eigenen, wesentlich bescheideneren Küraß um und legte die Beinschienen an. Dann schnallte er ein Schwert in gewöhnlicher Scheide um. »Das hier ist Arbeitskleidung«, sagte er. »Aber du trittst ja in der Parade auf und wirst für nächstes Mal vorgestellt. Schau dir nur meine Nummer an. Ich hab gehört, daß sie mir irgendein neues Tier vorsetzen wollen. Bin ja neugierig, was sie da wieder ausgegraben haben.« »Yeah!« nickte Opa. »Hast du deine anderen Sachen, Willie?« »Schon da.« Willie schob sich einen Armschutz über den linken Unterarm. Dann schwang er sich einen Köcher mit
Pfeilen über die Schulter und griff nach dem langen Hickory-Bogen, der in einer Ecke stand. »Ich werde auf dich achten«, versprach Peyton. »Nachdem man mich vorgestellt hat, soll ich in General Argyles Loge mit Thora und ein paar Lackaffen sitzen.« »Lackaffen?« wiederholte Opa. »Rechnest du Thora auch dazu? Ich war im Dachpark und habe dich mit ihr herumfahren sehen. Wäre ich dreißig Jahre jünger, würde ich sie dir wegschnappen.« Er grinste breit. »Ihr seht das ganz falsch«, sagte Peyton. »Wenn ich mit ihr ausgehe, ist das eine rein geschäftliche Angelegenheit, Publicity.« »Und was hält sie davon«, fragte Opa. »Sie ist es ja, die mir dauernd klarmacht, daß das Ganze bloß geschäftlich ist.« »Sie muß dich wohl immer wieder daran erinnern?« »Unsinn!« wehrte Peyton ab. Ein Summer ertönte. »Drei Minuten«, verkündete ein Lautsprecher an der Decke. »Alles herhören! Drei Minuten. Die Parade wird jetzt aufgestellt. Plätze einnehmen! Drei Minuten.« Willie und Peyton gingen gemeinsam hinaus. Unmittelbar hinter dem Vorhang, der sie noch von der Arena trennte, wurden die Darsteller von einem Auf-
seher in Fliegeruniform aufgestellt. Willie mußte sich neben einen hünenhaften blonden Gladiator, der ein Löwenfell trug, stellen. Einige mußten sich auf herausgeputzte Pferde setzen. Tanzmädchen, die unentwegt kicherten, bildeten eine Phalanx. Dann gab es Traktoren, die ganze Käfige voll Tiere zogen. »Peyton!« rief der Flieger. »Hierher, Peyton, bitte!« Er winkte. Wärter, mit Pluderhosen und Turban bekleidet, führten einen Elefanten, der mit Schmuck überladen war, herbei. Peyton kletterte über eine Leiter auf den Rücken des Elefanten, wo ihn eine Gondel mit Pagodendach erwartete. Einer der Wärter nahm einen Stab mit Widerhaken und schwang sich auf den Hals des Elefanten. Die Musik in der Arena schwoll jetzt an. Plötzlich öffnete sich der Vorhang, und tosender Applaus hallte über den Mittagshimmel, als die Parade sich in Bewegung setzte. Peyton fand den schwankenden Ritt auf dem Elefanten neuartig und angenehm. Er blickte zu den fernen Hügeln des Stadions hinaus; Anhöhen, die mit den Gesichtern von mehr als dreihunderttausend Zuschauern übersät waren. Und der Rest der Stadt hing jetzt an den Fernsehempfängern. Die Gesichter, die Peyton ausmachen konnte, wirkten gebannt, blutgierig. Rings um die Manege, durch ein Gitter geschützt, saßen die Reichen von New York, darunter eine Menge Flieger in Galauniform. Peyton
entdeckte General Argyle, Thora und einige weitere in einer Sonderloge. Der Elefant stampfte vorbei, und Peyton hob salutierend die Hand. Argyle und Thora applaudierten und forderten die anderen auf, ebenfalls Applaus zu spenden. Ein Reiter auf einem Schimmel führte die Parade an. Er leitete sie rings um die Arena und dann noch einmal quer hindurch und ließ schließlich anhalten. Alles salutierte zu den Klängen einer Fanfare. Eine Falltür im Sand öffnete sich, und ein Mikrofon schob sich auf einer Teleskopstange in die Höhe. Der Reiter begann mit dem Begrüßungszeremoniell. Seine Stimme dröhnte tausendfach verstärkt aus den Lautsprechern. Grüße, die Ankündigung einzelner Stars und schließlich: »Und jetzt ist es mir ein großes Vergnügen, Ihnen eine neue Darstellerpersönlichkeit vorzustellen, die hier nächste Woche auftreten wird. Hier ist er – Blakky Peyton, die Entdeckung General Argyles!« »Aufstehen!« forderte der Elefantentreiber Peyton auf. Peyton gehorchte. Ein Scheinwerferbalken tastete nach ihm und drohte ihn zu blenden. Und dann erhob sich eine Dunstwolke abseits von den Mitgliedern der Parade, und in ihr erblickte Peyton sein eigenes Bild, gigantisch vergrößert und in grellen Farben. Fernsehprojektion! Instinktiv begrüßte er die Zu-
schauer mit dem alten Boxergruß, mit den zwei aneinandergelegten Fäusten. Das Fernsehbild machte es ihm nach. Ringsum erhob sich tosender Applaus. Peyton setzte sich wieder. Das grelle Licht hatte ihn benommen gemacht. »Gut gemacht!« sagte der Treiber über die Schulter. »Die wollten Sie alle sehen. Jetzt wissen sie, wie Sie aussehen und glauben Sie zu kennen. Jetzt wollen sie bloß noch Ihr Blut sehen.« Der Reiter auf dem Schimmel gab einen weiteren Befehl. Die Parade kehrte zum Haupteingang zurück. Peyton stieg von seinem Elefanten und folgte einem Zirkusbediensteten durch einen schmalen Korridor zu einer Tür. Dahinter lag die Loge General Argyles. Der General schüttelte ihm theatralisch die Hand und stellte ihn einem Dutzend aufgeputzter Gäste vor. Es waren wichtig aussehende Männer und gepflegte Frauen. Peyton verstand keinen einzigen Namen. Er murmelte höflich und setzte sich dann neben Thora. Die Mittagsstunde stand unmittelbar bevor, und soeben tauchte vor der Sonne der mächtige Schatten der fliegenden Insel auf. Ein Scheinwerferstrahl zuckte auf die Arena herunter. »Fernsehbotschaft!« stellte jemand fest. Wieder bildete sich eine Wolke über dem Sand. In der Mitte baute sich plötzlich das schimmernde Ab-
bild einer Stadt auf. Peyton sah goldene Türme, Kuppeln in allen Farben des Regenbogens, eine Personifizierung eines Traumparadieses. »Ah!« machte jemand neben Peyton. »So muß die fliegende Insel von oben aussehen.« Dann verblaßte die Vision und machte dem Brustbild eines Mannes Platz. Peyton kannte dieses Gesicht mit den feingeschnittenen Zügen. Es war Marschall Torridge. Peyton hatte ihn schon einmal gesehen, in einem schäbigen kleinen Imbißraum auf den untersten Etagen von New York. Damals, an jenem ersten Tag nach dem Gefängnis. »Menschen von New York!« sagte Marschall Torridge hundertfach verstärkt. »Es tut mir leid, daß ich nur im Bild bei Ihnen sein kann. Ich teile mit Ihnen die Freude über einen willkommenen Anlaß. Meine besten Wünsche an Sie und an General Argyle, Ihren neuen Kommandanten. Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit dem großen Zirkus, der Sie jetzt unterhalten wird.« Dann war der Strahl verschwunden und damit auch die Wolke und das Bild. Der dunkle Fleck entfernte sich von der Sonne. Während Marschall Torridges Grußbotschaft mußte die Insel angehalten haben. Jetzt mußte sie wieder aufholen, um ihren ewigen Kurs rund um die Erde einzuhalten. »In diesem Kostüm sehen Sie großartig aus«, sagte Thora neben Peyton. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich?« fragte Peyton. »Das möchte ich selbst gern wissen.«
9 Auf der anderen Seite saß ein Mann neben Peyton. Jetzt sprach er ihn an: »Sie und ich, wir sind beide Künstler – Sie ein Künstler des Schwertes, ich einer der Worte.« Peyton wandte sich um. Der Mann war einige Jahre jünger als er, schlank und voll Selbstvertrauen und in einen schokoladenfarbigen Anzug gekleidet. Wie hatte der Schneider doch diesen Schnitt genannt? Körpernah. Nun, dieser Mann hatte nicht viel zu bieten. Unter dem braunen Tuch wirkte er wie eine Handvoll dünner Stecken. Auch seine Gesichtszüge waren schlank, so daß die großen, strahlenden, etwas verdeckten Augen besonders deutlich hervortraten. Die Lockenmähne, die sein Haupt zierte, wirkte künstlich. »Mein Name ist Bengali.« »Klar. Wir sind ja gerade vorgestellt worden.« »Aber Sie haben meinen Namen nicht verstanden.« Dieser unscheinbare Mann schien ein guter Beobachter zu sein. »Jedenfalls«, fuhr er fort, »bin ich Dichter.« »Ich habe gar nicht gewußt, daß es heute noch viele Leute gibt, die Dichtung lesen können.« »Nicht einmal viele, die Prosa lesen können«, lä-
chelte Bengali. Seine Zähne waren klein und scharf wie die eines Nagetieres. »Aber ich trete zweimal die Woche im Fernsehen auf. Ich rezitiere meine eigenen Werke und eine Auswahl aus den Werken anderer Dichter.« Bescheidenheit schien nicht zu den starken Seiten dieses Mannes zu gehören. Peyton grinste. »Wenn Sie zweimal die Woche Ihre eigenen Gedichte rezitieren«, sagte er, »heißt das nicht, daß Sie eine ganze Menge dichten müssen?« »Ja. Vielleicht inspirieren auch Sie mich zu ein paar Versen.« Die strahlenden Augen schlossen sich, und die schlanke Gestalt lehnte sich zurück. Bengali begann gemessen zu sprechen, als läse er vor: »Über der Arena glatten Sand schreitet ein Hüne, das Schwert in der Hand, erhebt die Waffe voll Vertrauen –« Er hielt inne, und seine Lippen bewegten sich lautlos. »Darauf reimt sich Löwenklauen«, schlug Peyton vor. »Dort unten ist eine ganze Menge Löwen.« Bengali runzelte die Stirn. Peyton wandte sich Thora zu. »Wie schafft man denn Löwen und Elefanten nach New York?« »Aus den Tropen natürlich.«
Peyton starrte sie an. »Per Flugzeug?« »Natürlich.« Und dann begann die Show. Die Tanzmädchen in knappen Kostümen füllten die Manege. Zwei Dutzend waren es vielleicht. Alle nett anzusehen – blonde, brünette, rothaarige ... und alle konnten wirklich tanzen. Die Musik setzte ein. Und dann plötzlich ein Aufschrei, und in wilder Flucht jagten sie durch die Arena. Aus einem bogenförmigen Tor in der Wand hatte man ein riesiges Rhinozeros in das Zirkusrund getrieben. Es rannte in täppischer Wut hinter den Mädchen her. Sein schwerer Leib schien förmlich zu fliegen. Dann senkte die Bestie den schweren Kopf. Das Horn hatte man auf Hochglanz poliert und schwarz bemalt. Beinahe hätte es das langsamste der Mädchen mit dem Horn erwischt. Sie kreischte, als litte sie schon Schmerzen. Und dann war sie an der Wand, wo die Männer in den Logen sich vorlehnten und den flüchtenden Tänzerinnen die Hände entgegenstreckten. Ein hünenhafter Flieger packte das Mädchen an der Hand und riß es hoch, während das Horn Zentimeter unter ihr vorbeischoß. Peyton sah zu, wie das Rhinozeros sich herumwarf und wieder durch die Arena hetzte. So schwer es auch war, die Geschwindigkeit, die diese Bestie entwickeln konnte, war schier un-
glaublich. Der saurierartige Kopf schien kaum Platz für ein Gehirn zu haben. Jetzt stampfte und schnaubte es wie ein Rassepferd. Und dann ein schriller Pfiff von der anderen Seite der Arena. Ein Portal hatte sich geöffnet, und ein Mann trat heraus. Peyton erkannte ihn sofort, selbst aus der Ferne: Willie Burgoyne. Tosender Beifall empfing ihn, denn viele der Zuschauer kannten ihn und riefen seinen Namen. Auch das Rhinozeros hatte sich herumgedreht und spähte jetzt wie ein kurzsichtiger alter Mann um sich. Willie kam ihm in gemessenem Laufschritt entgegen. Seine Rüstung schien ihn kaum zu belasten. In der linken Hand hielt er den gespannten Bogen. Plötzlich wirkte Willie ganz normal auf Peyton, schien genau in diese Manege zu passen. Beide kamen ihm primitiv, prähistorisch vor. Der Jäger und das Ungeheuer. Peyton verspürte plötzlich den Wunsch, ein Dichter zu sein, nicht ein Hofnarr wie der neben ihm, sondern ein echter Dichter. Und jetzt griff das Rhinozeros Willie an. Ungeschlacht wie ein Schwein, flink wie eine Antilope schnellte es sich ihm wie ein Projektil entgegen. Wie eine mächtige, nicht mehr aufzuhaltende Mordmaschine; ein Stöhnen erhob sich in der Arena. Willie stand ganz still. Und dann huschte das tödliche Horn um Millimeter an ihm vorbei, als er in letz-
ter Sekunde einen eleganten Sprung zur Seite machte, und die Masse seines Angreifers donnerte vorüber. In diesem Augenblick setzte Willie ihm einen Pfeil in die Seite. Das ganze Stadion hörte das Sirren der Sehne. Im gleichen Augenblick brachte Willie sich mit langen Schritten in Sicherheit. Das verwundete Rhinozeros bäumte sich auf, warf sich herum und nahm, jetzt wesentlich langsamer, die Verfolgung Willies auf. »Großartig!« murmelte Bengali, der Poet. Er gestikulierte. »Das ist die uralte Legende von der Jagd nach dem Einhorn. Allerdings«, so fügte er hinzu, »konnte damals nur eine schöne Jungfrau, rein und lieblich wie der Schnee, das Einhorn töten.« »Diese Jungfrauen dort unten hatten aber offenbar keine Lust, es zu versuchen«, sagte Thora. »Jungfrauen?« wiederholte Bengali. »Die wollen Sie Jungfrauen nennen?« Wieder eine weitausholende Handbewegung und ein affektiertes Kichern. Er deutete auf die Logen hinunter, wo die Flieger sich jetzt mit den Mädchen amüsierten. »Ich gehe jede Wette ein, daß der Mann dort unten Ihr Einhorn umbringt«, sagte Peyton. »Setzen Sie dagegen?« »Natürlich nicht«, meinte Bengali. »Willie Burgoyne ist haushoher Favorit.« Zum zweitenmal griff das Rhinozeros an. Wieder
brachte Willie sich mit einem geschickten Sprung zur Seite in Sicherheit. Er rannte ein paar Schritte neben dem Rhinozeros her, legte ihm dann die Hand auf die Schulter und stemmte sich mit einem spielerisch wirkenden Sprung auf seinen Rücken. Das Rhinozeros blieb stehen, als hätte jemand eine Bremse betätigt. Willie hatte den Bogen beiseitegelegt und sein Schwert gezogen. Seine linke Hand tastete suchend nach einem Punkt hinter der Schulter der Bestie, und dann trieb seine Rechte das Schwert bis zum Heft hinein. Mit einem eleganten Satz sprang er wieder ab, rannte einige Schritte weg, wandte dem Rhinozeros den Rücken und verbeugte sich tief. Die Arena war jetzt ein wahrer Hexenkessel, so brüllten die Zuschauer. Willie sah sich nach dem Rhinozeros um. Es war langsam zusammengebrochen, und seine dicken Beine versagten ihm den Dienst. Sein großer, dummer Kopf fiel zur Seite; es starb. Willie sah noch einmal hin. Man hatte den Eindruck, als studierte er die erlegte Bestie. Vielleicht drückte seine Haltung aber auch Trauer und Mitgefühl aus. Dann holte er seinen Bogen und rannte zum Ausgang. Ein kleiner roter Traktor kam in die Manege, und zwei Wärter brachten Kabel an dem Kadaver an und schleppten ihn ab. Andere Wärter schütteten Sand auf die Blutflecken. »Ist das nicht herrlich?« fragte Bengali. Peyton sah ihn an, dann Thora. »Ist es das?«
»In gewisser Weise«, sagte sie. »Es ist besser als diese altmodischen Stierkämpfe, von denen man immer hört, die in den spanischsprechenden Ländern abgehalten wurden. Ein Stier hatte gegen einen Stierkämpfer nie eine Chance.« »Nein«, gab Peyton ihr recht. »Aber dieses Rhino hatte gegen Willie auch keine.« Aber was für Chancen hatte Willie gehabt? Willie hatte vorher nicht gewußt, gegen was er kämpfen mußte. Ein Reiter sprengte auf einem Falben in die Manege. Der Mann trug Chaps und einen breitkrempigen Hut. Er wirkte wie ein Cowboy aus den Anfangsjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts. Er winkte mit den behandschuhten Händen der Menge zu und zügelte sein Tier, um nach seinem Widersacher Ausschau zu halten. Ein Tor öffnete sich zu seiner Rechten, und ein Bisonbulle, beinahe so groß wie das Rhinozeros, stürmte heraus. »Die haben das Biest wildgemacht«, stellte Bengali fest. »Da, es nimmt schon die Verfolgung auf.« Den mächtigen Kopf gesenkt, so daß er unter dem zotteligen Buckel beinahe verschwand, warf der Bison sich auf den Cowboy. Ein leichter Schenkeldruck, und das Pferd tänzelte weg. Der Bison machte noch ein paar Sprünge, warf sich dann herum und suchte sein Ziel.
»Ich dachte, die sind ausgestorben«, sagte Peyton. »Oh, nein, im Westen soll es große Herden geben«, belehrte ihn Bengali. Er unterdrückte mit einer weibisch wirkenden Hand, an der zahllose Ringe funkelten, ein Gähnen, setzte sich dann aber schnell auf und beugte sich vor. »Oh, ist das nicht herrlich!« Der Cowboy schwang jetzt ein Lasso, wirbelte es um den Kopf und gab der Schlinge mit einem schnellen Ruck seines Handgelenks die Form einer Acht, die nur wenige Zentimeter über dem Boden auf den Bison zuschoß. Er hatte vor, die beiden Vorderfüße zu fangen und damit die Bestie zu Fall zu bringen. Aber die Schlinge berührte den Sandboden und verlor ihre Form. Sekundenbruchteile später, war es nun Zufall oder Geschick, sprang der Bulle über das Seil und griff den Reiter erneut an. Die beiden gekrümmten Hörner griffen unter dem Leib des Pferdes durch und gingen in die Höhe, hoben das Pferd und schleuderten es wie einen Sack durch die Luft. Die Menge brüllte, aber nicht laut genug, um den schrillen Schrei des tödlich verwundeten Pferdes zu ersticken. Der Mann stieß sich von den Steigbügeln ab und warf sich zur Seite. Er landete mit dem Gesicht im Sand. Dann stemmte er sich hoch, hatte aber keine Zeit mehr, wegzulaufen. Der Bison warf sich wie eine Katze herum und stürz-
te sich auf ihn. Jetzt flog der Cowboy in die Höhe und segelte wie ein welkes Blatt durch die Luft. Wieder stürzte er zu Boden. Und da war der Bulle schon über ihm. Seine Hörner griffen ihn erneut auf und schleuderten ihn hoch. Während der Mann durch die Luft flog, konnte man das Blut an seiner Seite sehen. Jetzt rannte eine andere Gestalt in die Manege, ein Gladiator im Kostüm eines Clowns. Als der Bison den Cowboy zum drittenmal in die Höhe schleudern wollte, packte der Clown ihn am Schwanz. Ein mächtiger Ruck, und der Bison brüllte wütend. Er ließ sein erstes Opfer liegen und wirbelte herum, um den neuen Quälgeist anzugreifen. Der Clown rannte mit komisch wirkenden Sätzen davon. Lautes Gelächter überall – bösartiges, spöttisches Gelächter. An einer offenen Tür vorbei hetzte der fliegende Clown, und der Bulle hinterher. Und jetzt sprang Willie Burgoyne hinaus und hob noch im Springen den Bogen, zog die Sehne und ließ sie im gleichen Augenblick wieder los. Der Pfeil flog und traf den Bison zwischen den Rippen. Der mächtige Fleischberg machte noch einen Satz und ging dann zu Boden. Der Applaus donnerte. »Sind Sie denn nicht beeindruckt?« fragte Bengali Peyton. »Viele Leute sind bei ihrem ersten Zirkusbesuch etwas verstört«, sagte Argyle hinter ihnen.
»Das bin ich nicht«, meinte Peyton. »Mir ist nur etwas übel.« Alle starrten ihn an. Thora musterte ihn ungläubig. Bengali schien amüsiert. Argyle funkelte ihn herausfordernd an; aber Peyton sah keinen Anlaß, sich zu entschuldigen. Ihm war wirklich übel, nicht aus Angst, sondern aus Ekel. Reichtum, Luxus und krankhafter Nervenkitzel für diese New Yorker, reich wie arm, die in ihrer mächtigen Stadt eingesperrt waren. Die Flieger mit ihren Flugzeugen konnten Rhinozerosse und Bisons importieren, nicht aber Kaffee und Tabak. Die Grube war ein ehrlicheres Gefängnis gewesen, gab sie doch wenigstens nicht vor, etwas anderes zu sein. Wieder dachte Peyton darüber nach, wie der Gefängnisdirektor ihm gesagt hatte, die Welt habe sich verändert. Er hätte hinzufügen sollen, daß die Welt wahnsinnig geworden war und langsam verfaulte. Vielleicht war die fliegende Insel anders. Aber war sie das wirklich? »Hier kommen die Löwen«, sagte Bengali. »Hoffentlich sind sie besser als die in der letzten Woche.«
10 Opa wartete, als Peyton in die Garderobe kam. »Was ist aus Willie geworden?« fragte Peyton. »Er kam hierher zurück, als er mit seinem Bogenakt fertig war, zog sich um und ging. Er hat sich den Rest nicht angesehen.« »Ich nehm's ihm nicht übel«, sagte Peyton. Er schnallte seinen Helm ab und lockerte den Gürtel. »Hilf mir das Zeug ausziehen, Opa. Ich hab mich noch nicht an all die Schnallen und Riemen gewöhnt.« Opa zog an dem Kettenhemd, und Peyton wand sich heraus. »Okay«, sagte Opa. »Ich bin dein Freund, Blacky. Raus damit!« Peyton stand am Becken und wusch sich die unechte Sonnenbräune von Hals und Gesicht. Er blickte sich um und runzelte die Stirn. »Was heißt raus damit?« »Als du hier reinkamst, hast du nicht gerade freundlich ausgesehen«, meinte Opa. »Warum bist du denn so wild?« Peyton trocknete sich das Gesicht ab und warf das Handtuch in die Ecke. Sein Blick war noch wilder. »Zum Teufel!« brauste er auf. »Was kann mich wohl wild gemacht haben? Hast du denn nicht gesehen,
was aus dem armen Teufel im Cowboykostüm geworden ist?« »Wenn du Gladiator werden willst, mußt du dich an Blut gewöhnen, Blacky.« Eigentlich hätte ihm der Gedanke nicht neu sein sollen, aber daran hatte er bisher noch nicht gedacht. Peyton stellte den Fuß auf eine Bank und zog die Sandale aus. Er dachte nach. »Ja, die Dinge haben sich verändert«, sagte er. »Alles ist viel schlimmer geworden.« Er griff nach seinem Straßenanzug. »Ich war draußen in der Parade, mitten in der Manege. Aber wohin die Parade ging – daran hab ich nicht gedacht, Opa. Die Richtung paßt mir nicht. Und die Umgebung auch nicht.« Opa räumte die Sandalen auf und stülpte den Helm auf einen Ständer. Er sah sich schnell um. Sein Gesichtsausdruck war pfiffig. »Jetzt redest du meine Sprache, Blacky.« »Ich sollte hier raus und einen Drink nehmen.« »Hör zu!« sagte Opa. »Ich höre zu.« »Bekommst du von diesem blonden Gift, mit dem du rumläufst, wohl mal eine Nacht frei?« »Thora?« Peyton grinste schief. »Klar. Die ist bloß Publicity. Gehört zu meiner Arbeit.« »Nette Arbeit, wenn man noch dafür bezahlt wird. Okay. Wenn du es heute abend schaffen kannst, dann komm doch mit. Wir gehen in den Keller.«
»Keller?« fragte Peyton verblüfft. »Was soll das?« »Nun, früher waren das einmal Slums. Vielleicht macht dir das Spaß. Dort kannst du etwas ausspannen.« Peyton zog sich die Hosen hoch. Er griff in die Tasche. »Okay, Opa. General Argyle hat mir dreißigtausend dieser Inflations-Dollar als Taschengeld gegeben.« »In den Slums ist das ein Vermögen. Aber du trägst am besten deine alten Sachen, das Zeug, das sie dir gegeben haben, als du aus dem Knast kamst. Und ich führ dich in ein paar Lokale, die ich kenne, und stell dich vielleicht ein paar Burschen vor, die ich gern mag.« »Was sind das für Burschen?« fragte Peyton, aber Opa schüttelte den Kopf. »Nein, das sag ich nicht. Ich hab denen noch nichts von dir erzählt. Auf die Weise fangt ihr alle gleichzeitig mit dem Kennenlernen an.« Der Keller. Sie waren unten, weit unten, noch unter der Etage, die Peyton für die unterste von New York gehalten hatte. Opa brachte ihn zu einer ehemaligen U-BahnStation, und von dort führte eine Treppe in die Tiefe, und dann eine weitere Treppe, und schließlich erreichten sie eine straßenähnliche Passage, die nur
spärlich beleuchtet war. Anstelle von Gebäuden und Läden säumten hier nur Betonpfeiler die Straße. Peyton und Opa waren ganz allein, und unter ihren Füßen war nicht Pflaster, sondern ein unentwirrbares Durcheinander von Abfällen. Aber hier und da waren gedämpfte Geräusche zu hören. Peyton sah sich immer wieder um. Überall gab es Betonsäulen und manchmal auch welche aus Holz oder aus Plastik. Sie wirkten wie die Stämme eines gespenstischen Waldes. Hier und da gab es auch kleine würfelförmige Bauten, die meistens in Dunkelheit dalagen. Nur bei einem oder zweien drang verstohlen Licht aus Ritzen in den Fenstern. »Um die Ecke!« sagte Opa, und sie erreichten eine etwas breitere Straße. Jetzt gab es Verkehr, aber bloß Fußgänger. In dem spärlichen Licht wirkten die Menschen schäbig. Die meisten trugen irgendwelche Pakete. Einige hatten Körbe, die sie an langen Stangen mit sich schleppten, so wie chinesische Kulis, an die Peyton sich aus den Bilderbüchern seiner Jugend erinnerte. Fahrzeuge waren keine zu sehen. »Arbeiten diese Leute hier?« fragte Peyton. »Die arbeiten hier und leben hier«, erwiderte Opa. »Die meisten haben ihr ganzes Leben lang nicht mehr Licht gesehen als du in deiner Grube, von der du mir erzählt hast. Vielleicht nicht einmal so viel.« »Warum leben sie hier?«
»Weil sie müssen. Jemand muß sich um all diese Säulen und Gerüste kümmern.« Peyton blieb stehen und starrte erneut auf das scheinbar endlose Dickicht von Säulen und Trägern. Ein niederdrückender Anblick. »Wir sind im Keller von New York«, fuhr Opa fort. »Hast du nie darüber nachgedacht, daß all das Gewicht, das hier auf uns lastet, auch irgendwie abgestützt werden muß?« »Das begreife ich schon. Aber daß hier Leute leben ...« »Diese Stützen müssen gewartet werden«, erinnerte ihn Opa. »Man muß sie austauschen oder abstützen oder verstärken. Es wird hier die ganze Zeit gebaut. Also gibt es eine Generation armer Arbeiter hier unten, die die ganze Zeit nichts anderes tun. Natürlich leben sie auch hier.« Peyton schüttelte angewidert den Kopf. »Was heißt natürlich? Für mich klingt das unnatürlich.« Opa lächelte grimmig in seinen Bart hinein. »Dann nenne es halt logisch, Blacky. Du mußt doch logisch denken.« »Dann nenne ich es eben logisch – aber sag mir, warum die Leute in diesem Rattenloch leben müssen!« »Rattenloch – genau das ist es! Und die Logik ist die der Flieger. Die haben es sich zurechtgelegt.
Wenn die Arbeiter, die die Stadt stützen, hier unten leben müssen, werden sie ihre Arbeit auch gut verrichten. Wenn nämlich plötzlich ein paar Pfeiler zusammenbrechen, dann wären sie die ersten, die dabei umkämen. Kapiert?« »Ja, kapiert«, nickte Peyton bitter. »Okay, gehen wir hier hinein, Blacky.« Zwischen den Säulen stand eine heruntergekommene Hütte. Opa öffnete eine Tür, und sie traten ein. Der Gestank von synthetischem Tabak schlug ihnen entgegen. Ein schwaches Licht mühte sich verzweifelt, gegen den Qualm anzukämpfen. Im Hintergrund gab es einen trüben Spiegel, und der ganze Raum war voll von schäbig gekleideten Männern. Peyton sah sich um. Es waren Männer aller Altersstufen. Er sah einen jungen Mann mit kräftigen Muskeln, knorrige Männer aller Altersstufen, ein oder zwei Greise. Sie standen an der Bar oder saßen an halb zusammengebrochenen Tischen und tranken fleißig. Ein oder zwei begrüßten Opa mit Namen. Er rief zurück und führte Peyton zu einer freien Stelle an der Bar. »Tony«, redete Opa den Barkeeper an, »mein Kumpel Blacky will ein Bier kaufen.« Peyton legte einen Fünfhundert-Dollar-Schein auf die Theke. »Trinken Sie auch eins mit!« lud er den Barkeeper ein.
»Danke, Kumpel!« Das Bier kam, zwei schäumende Krüge. Peyton hob den seinen. »Auf dein Wohl!« sagte er zu dem Barkeeper. »Laß dir's schmecken, Kumpel!« »Und auf deines, Opa!« sagte Peyton. Er wartete, bis der Barkeeper weggegangen war, um einen anderen Gast zu bedienen. »Mir gefällt's hier. Wenigstens gibt's hier keine Flieger.« »Welcher Flieger möchte schon in ein solches Dreckloch?« fragte Opa. »Die meisten Leute hier arbeiten an den Stützpfeilern. Und die Alten sind Pensionisten und Rentner wie ich.« »Sie sehen wie Männer aus, die ihr Leben lang gearbeitet haben.« »Yeah!« sagte ein alter Mann, der sich auf die andere Seite neben Opa gestellt hatte. Er war hochgewachsen und verwittert und hatte eine Hakennase, die wie der Schnabel eines Falken aussah. Tiefe Linien durchzogen seine Wangen. »Wir haben unsere Arbeit getan«, sagte er. »Als ich noch ein Junge war, war ich Matrose. Ich bin auf allen sieben Weltmeeren gefahren. Puh! Wer fährt jetzt noch zur See?« »Die Flieger«, antwortete Peyton. »Aber die fliegen über die See hinweg und haben das größte Racket aller Zeiten aufgebaut.« »Verbrenn dir bloß nicht den Mund!« flüsterte Opa.
»Trink ein Bier mit mir, Matrose!« sagte Peyton. Der Barkeeper brachte es, und der alte Seebär tauchte seinen Schnabel in den Krug. »Danke, Maat!« sagte er. »Opa, verbiet deinem Freund bloß nicht das Maul! Es gibt hier keinen, der einem Flieger auch bloß die Zeit sagen würde, und wenn er eine Uhr in jeder Tasche hätte. Wenn sich hier mal ein Flieger sehen ließ, ist's schon oft passiert, daß ihm ein Träger auf den Kopf gefallen ist.« Peyton trank auch. »Dieses Bier ist wenigstens nicht synthetisch«, sagte er. »Red nur weiter, Seemann! Ich möcht gern hören, wie sich arme Leute gegen die Flieger wehren.« Jetzt wurde auch Opa mutiger. »Jeder sollte sich wehren, Blacky! Schließlich leidet jeder unter den Zuständen. Jeder einzelne.« »Die Reichen auch?« »Die Reichen müssen Steuern zahlen«, sagte der Seemann. »Nicht, daß ich was dagegen hätte, wenn ich reich genug wäre, um die Steuern zu zahlen. Aber die Flieger berauben die Reichen nicht, um es den Armen zu geben. Die Armen müssen arbeiten, und wenn sie alt sind, kriegen sie gerade genug Rente, um am Leben zu bleiben, damit keiner sagen kann, sie müssen verhungern. Niemand hat viel zu verlieren.« »Was würde denn passieren, wenn ich das General Argyle erzählen würde?« fragte Peyton.
»Nun«, meinte der Seemann, »dann könnte es natürlich passieren, daß Sie plötzlich mit einem Messer im Bauch aufwachen. Das ist schon manchmal vorgekommen. Denken Sie dran, bevor Sie den Fliegern was vorsingen!« »Ruhig Blut, Seemann!« sagte Opa. »Blacky ist genauso anständig wie jeder andere hier im Keller. Ich würde ihn sonst nicht hierherbringen.« »Schon gut!« sagte der Seemann. »Ich mein ja auch bloß.« »Schon in Ordnung, ich hab auch bloß zugehört«, erklärte Peyton. »He, Barkeeper, wir brauchen noch ein Bier!« Die zweite Runde kam. Peyton, Opa und der Matrose tranken. Dann trollte sich der Matrose, um mit jemand anderem zu reden, und Opa flüsterte Peyton ins Ohr: »Komm! Geh mir nach!« Sie verließen die Bar. Peyton hielt sich dicht hinter Opa. Am hinteren Ende der Kneipe gab es eine Tür mit einem Vorhang. Darüber stand KÜCHE. Opa ging hinein, dicht gefolgt von Peyton. Ein Koch mit rotem Gesicht stand vor einem Kessel, aus dem es nach Kohl und Schinken roch. Opa nickte und trat an eine Tür, über der SPEISEKAMMER stand. Dahinter war ein finsterer Gang. Peytons Grubenschein erhellte den Korridor und zeigte ihnen eine dritte Tür. Opa klopfte viermal.
»Joe Hooker!« rief er dann. Ein automatisches Schloß summte, und die Tür schwang nach innen auf. Sie traten in einen engen, fensterlosen Raum, der voll Schränke und Möbel stand. Ein Mann blickte hinter einem alten Schreibtisch auf. Die Deckenlampe erhellte die künstlich wirkenden Locken seiner Mähne. Er hob die strahlenden Augen. »He!« knurrte Peyton. »Das ist doch –« Der Mann nickte. »Ja, ich bin Bengali. Aber jetzt sitzt kein Flieger in der Nähe, und ich brauche mich nicht zu verstellen. Wir sind im Hauptquartier des Komitees gegen die Flieger.«
11 Peyton ging auf den Schreibtisch zu und sah Bengali finster an. »Dann war das Ganze bloß ein Gag«, sagte er. »Genau das!« nickte Bengali. Er wirkte jetzt nur noch schlank und drahtig, nicht mehr dekadent. »Ich habe heute im Zirkus Maximus versucht, mir ein Bild von Ihnen zu machen. Als Sie sagten, daß Ihnen von der Show übel geworden sei, fragte ich mich, ob Sie uns nicht nützlich sein könnten.« »Wer ist ›uns‹?« »Die Widerstandsgruppe. Es ist mir gelungen, Opa eine Nachricht zukommen zu lassen. Er ist schon seit langer Zeit Mitglied. Ich habe ihn aufgefordert, sich Gedanken darüber zu machen, ob man Sie hierherbringen könnte, und er erklärte, da brauche er gar nicht zu überlegen.« »Ich hab über Blacky nachgedacht, seit ich ihn kennenlernte«, schaltete sich Opa hinter Peytons Rücken ein. »Das hab ich ihm auch schon gesagt.« Peyton stützte sich auf die Schreibtischplatte. »Bengali«, sagte er, »ich dachte, Sie machen bloß Verse für das Fernsehen.« Bengali neigte den Kopf, als hätte man ihm ein Kompliment gemacht. »Die meisten Leute glauben
das, besonders die Flieger. In Wirklichkeit bin ich der Ratsvorsitzende der Widerstandsgruppe.« »Oh!« machte Peyton und richtete sich auf. »Revolution.« »Nicht genau – wenigstens nicht im klassischen Sinn des Wortes. Revolution deutet auf etwas Neues hin. Wir wären sogar mit dem Alten zufrieden, so unvollkommen es auch war. Die Jahre vor 1980 waren auch nicht gerade ideal, aber wenigstens gab es damals noch gewisse Freiheiten – und jetzt ist kein Tag und keine Stunde mehr frei. Das haben Sie ja auch festgestellt. Die Herrschaft der Flieger widerstrebt Ihnen.« Peyton verzog den Mund. »Solange Flieger sein nur bedeutet, daß man eine gewisse Arbeit verrichtet, habe ich nichts dagegen. Es erfordert Geschicklichkeit, Flugzeuge und bemannte Raumraketen zu steuern – Geschicklichkeit, gute Nerven und blitzschnelles Urteilsvermögen. Soweit, so gut. Aber wenn eine Gruppe von Mechanikern sich einbildet, sich über alle anderen stellen zu müssen und jetzt dort oben nistet und sich wie der liebe Herrgott vorkommt –« Er hielt inne. »Nur weiter, nur weiter!« drängte ihn Bengali. »Sie sehen das genau richtig. Und ausdrücken können Sie sich auch. Warum sprechen Sie nicht weiter?« »Ich muß gerade an ein Buch denken, das ich als
Kind las«, sagte Peyton. »Es hieß 1984. Es handelte von einem Mann, der die Diktatur satt hatte und den ein paar raffinierte Agenten dazu brachten, den Mund aufzureißen. Und dann saß er erst richtig im Schlamassel.« »1984. Das liegt jetzt vierzehn Jahre zurück. Wenn Sie glauben, daß ich Abwehragent der Flieger bin, haben Sie schon zuviel geredet.« »Das hab ich mir gerade auch gedacht«, platzte Peyton heraus. »Okay. Wenn ich zuviel geredet habe, dann können Sie mich meinetwegen aufhängen. Ich sage, daß diese Geschichte mit den Fliegern zum Himmel stinkt – von hier bis zu ihrer verdammten fliegenden Insel.« Bengalis zarte Hände spendeten Beifall. Seine Ringe funkelten. »Klar und deutlich ausgedrückt«, sagte er. »Der dritte Weltkrieg endete mit einem Frieden, den die Flieger auf der ganzen Welt diktierten. Sie schlossen Verträge ab und riefen eine Weltregierung aus. Anschließend befanden sich alle Waffen und alle Macht in ihren Händen. Nie wieder Krieg, sagten sie. Alle Waffen sollten in den Händen einer internationalen Regierung verbleiben. Arbeit für die Armen – Arbeit, die jedem das Rückgrat bricht. Wohlfahrt für die Alten und Kranken – in Wirklichkeit nichts anderes als Almosen. Steuern für die Reichen – erdrückende
Steuern. Die Produktion und jede andere Tätigkeit sollten überwacht werden. Und alles unter der Regie einer selbst auserwählten Minderheit, die von sich behauptete, durch ihre Kenntnisse und ihre Ausbildung für die Aufgabe des Herrschens am besten geeignet zu sein. Wie klingt das?« Peyton warf den Kopf in den Nacken. Die Bewegung erinnerte an die des Bison-Bullen am Nachmittag. »Es klingt wie die Wahrheit, aber eine Art von Wahrheit, die weh tut. Das, was Sie jetzt gesagt haben, kann man so sagen, daß es sehr gut klingt. Das einzig Unangenehme ist, daß die Flieger das Spiel nicht ehrlich betreiben.« »Genau das! Sie haben es unehrlich gespielt, und ihr einziges Spiel war, Macht und Vergnügen für sich selbst zu gewinnen. Und damit ist es für alle anderen die Hölle. Und die Flieger sind auch nicht gerade glücklich dabei.« »Nicht glücklich?« rief Peyton verständnislos. »Alles auf der Welt läuft doch so, wie sie es haben wollen.« »Nein, Peyton.« Bengali lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sie haben sich bloß eingebildet, daß sie glücklich dabei würden. Aber sie sind ja bloß einige wenige, und die anderen sind so viele. Mit der Zeit ertragen es die Flieger nicht mehr, dauernd Wache stehen zu müssen. Sie müssen alle Mühe aufwenden,
um von ihrer fliegenden Insel herab die Welt nicht aus den Augen zu lassen. Können Sie sich denn nicht vorstellen, daß all diese Macht ein Ende hätte, wenn diese Insel einmal angehalten würde?« »Deshalb haben sie ja die ganze Menschheit in ein paar Städte wie New York gezwängt«, meinte Peyton. »Keine weitverstreuten kleinen Städte, keine kleinen Dörfer, wo Gesetzlose Unterschlupf finden oder wo Rebellen ihre Pläne machen könnten. So, wie die Dinge jetzt stehen, ist die Überwachung doch leicht.« »Leicht würde ich nicht sagen. Es gibt etwa zwanzigtausend Flieger, und jeder muß sich mächtig anstrengen. Sie sind auf alle Städte verteilt. Sie üben die Regierungsgewalt aus und leiten die Polizei. Viel Freizeit haben sie nicht – deshalb gehen sie auch wie wild aufeinander los, wenn sie einmal eine Mußestunde haben.« »Aber mehr als zwanzig Jahre ist ihnen das doch schon durchgegangen«, überlegte Peyton. »Etwa achtzehn Jahre. Und diejenigen, die damit angefangen haben, sind jetzt auch nicht mehr so jung und energiegeladen. Sie kommen in ein Alter, wo sie sich lieber entspannen würden, wo sie aufhören möchten herumzurennen und den anderen ihren Willen aufzuzwängen. Aber das wagen sie nicht. Wissen Sie, es gibt nämlich eine Gruppe junger Flieger, die den Platz der Alten einnehmen möchte.«
Peyton sah Bengali prüfend an. »Sie scheinen sich aber Ihrer Sache sehr sicher zu sein.« »Ich kann Ihnen sogar Namen nennen. Ich will mit General Argyle anfangen, einem sehr fähigen Mann, den man auf dem Höhepunkt seines Lebens das Kommando über New York anvertraut hat. Aber er ist damit nicht zufrieden. Er möchte Hochmarschall werden, der Boß von allen. Er möchte Torridges Position oben auf der Insel einnehmen.« Bengali lächelte, als wäre das Ganze witzig. »Die Flieger sind an einem Punkt angelangt, wo es nur noch eines kleinen Anstoßes bedarf, und der Kampf zwischen ihnen bricht aus«, faßte er zusammen. »Und wenn diese Situation eintritt, ist die Stunde für unsere Widerstandsgruppe gekommen.« »Das geht aber mächtig schnell«, sagte Peyton. »Darüber muß ich erst nachdenken.« »Schön, dann denken Sie nach.« Schweigen. Peyton überlegte. Er hatte keine Zweifel daran, daß Bengali, der in den höchsten Kreisen verkehrte, sich der Fakten ziemlich klar war. Alles, was Bengali sagte, paßte zueinander. Zwietracht im Lager der Flieger würde Rivalitäten, Parteikämpfe und ein Nachlassen in der Überwachung des gemeinen Volkes bedeuten. Eine Auflehnung zum richtigen Zeitpunkt konnte daher Erfolg bringen. Aber war die Widerstandsgruppe stark genug?
»Nun?« fragte Bengali. »Was meinen Sie?« »Ich habe mir überlegt, wie weit Sie mit einem Aufstand kommen können. Ich will ganz offen sein. Wenn Sie niemanden außer den armen alten, ausgepumpten Leuten hier unten haben ...« »Wir unterhalten unser Hauptquartier hier im Keller, weil diese Leute verzweifelt sind und mehr zu gewinnen haben als sonst irgend jemand. Wir haben natürlich auch Schlupfwinkel in den höheren Etagen, aber die sind nicht so groß. In den mittleren Etagen können wir Menschenmassen zusammentrommeln und sie dazu bewegen, sich uns anzuschließen – hoffen wir wenigstens. Aber zuerst muß der Aufstand kommen. Und dieser Aufstand wird hier beginnen – hier, in den Eingeweiden der Stadt.« »Das, was Sie sagen, hat viel für sich«, sagte Peyton ausdruckslos. Bengali lachte. »Ich weiß schon, was Sie sagen wollen«, erklärte er. »Sie halten mich für unpraktisch, einen Spinner. Wie können diese Kellerasseln mit Löchern in den Hosen gegen die Flieger kämpfen, die doch bewaffnet und organisiert sind und die die fliegende Insel haben, die ihnen jederzeit Rückhalt verleiht?« »Das ist Ihre Frage«, sagte Peyton. »Ich weiß keine Antwort darauf. Ich weiß bloß, daß sie Atomit als Treibstoff und Sprengstoff zur Verfügung haben. Sie
könnten diese ganze Stadt in Schutt und Asche legen.« »Atomit«, wiederholte Bengali. »Sie verstehen wohl etwas von Atomit, Peyton?« »Das hab ich ihm erzählt, Blacky«, erklärte Opa hinter ihm. »Weißt du, ich bin nicht bloß ein alter Hungerleider. Auf mich paßt keiner auf, aber ich komm rum. Ich kann hören und sehen und mir meine Gedanken machen. Du kannst uns helfen, Blacky.« »Aber ich besitze kein Spezialwissen«, wandte Peyton ein. »Trotzdem könnte uns Ihre Erfahrung viel nützen«, sagte Bengali. »Hören Sie zu, ich habe bloß die Maschinen in der Grube bedient. Klar, ich weiß, wie man mit Atomit umgeht, wenn es in Inerton-Behältern ist.« »Inerton!« rief Bengali aus. »Das ist für uns genauso schwer verständlich wie Atomit. Ist das nicht ein bleiähnliches Material, das dort unten abgebaut wird?« »Stimmt!« sagte Peyton. »Unsere Mechaniker sind mit den Atomit-Motoren, die sie bauen, auf der richtigen Spur«, seufzte Bengali. »Aber wir brauchen Inerton für Isolierzwecke. Wenn wir uns welches verschaffen könnten –« »Das ist wirklich nahezu ausgeschlossen«, erklärte Peyton. »Das Gefängnis und die Grube werden von
den ergebensten Lakaien geleitet, die die FliegerRegierung besitzt. Da kommt keiner rein. Aber Sie wollten mir sagen, was ich für Ihre Organisation tun könnte.« »Sie könnten sich also vorstellen, daß Sie mit uns zusammenarbeiten«, meinte Bengali. »Zuerst müssen Sie mir sagen, ob Sie wirklich mitmachen wollen.« Bengali wollte ganz offensichtlich Peytons Hilfe. Er spürte, daß Peytons beschränkte Erfahrung im Umgang mit Atomit der Widerstandsbewegung von Nutzen sein konnte. Atomit. Die verbotene Substanz. Was würde sein, wenn Peyton sein geringes Wissen beisteuerte? Vorsichtig, Blacky. »Sie müssen sich aussuchen, auf welcher Seite Sie stehen wollen«, drängte Bengali. Mußte er das wirklich? Peyton verachtete die Flieger und alles, was sie taten und dachten; aber im Augenblick stand er auf ihrer Seite. Wenn sich in ihrer Mitte eine Rivalität ergab und er sich auf die Seite des Stärkeren schlug – was dann? Vorsichtig, Blacky. »Und Sie glauben, daß Sie Aussicht auf Erfolg haben?« fragte er Bengali. »Das wissen wir nicht«, sagte Opa hinter Peytons Schulter. »Wir wissen nur, daß wir alles versuchen werden.«
»Sie sind sich darüber im klaren, daß wir ganz neu anfangen müssen, gleichgültig, was nun geschieht«, erinnerte ihn Bengali. »Wir oder die Flieger – der Sieger muß von neuem beginnen.« »Von neuem beginnen«, wiederholte Peyton. Peyton hatte auch von neuem begonnen und gehörte jetzt zum Zirkus Maximus. Wenn er einen zweiten neuen Anfang machte, dann hatte er vielleicht mehr Glück – vielleicht landete er an irgendeiner Stelle außerhalb der Zirkuswelt. Er hatte für den Zirkus nicht viel übrig. »Sie schulden den Fliegern nichts«, argumentierte Bengali. »Ich schulde Ihnen auch nichts, Bengali.« »Das habe ich auch nicht behauptet«, erklärte Bengali. »Aber wir hatten gedacht, Sie wären vielleicht bereit, sich der Seite anzuschließen, die im Recht ist. Stimmt das?« Am besten war es, wenn er jetzt ja sagte und so tat, als wäre er auch überzeugt. Überlegen konnte er sich das alles später. »Natürlich.« Peyton lächelte und zeigte seine weißen Zähne. »Ich bin jedenfalls hundertprozentig gegen die Flieger.« Das war die Wahrheit. »Und ich glaube auch nicht, daß Sie mich hierhergebracht haben, um sich eine Abfuhr zu holen.« »Gut!« sagte Opa.
Hinter Peyton war ein metallisches Schnappen zu hören. Jemand hatte ein Messer zugeklappt. Peyton drehte sich um. »Ich habe diesen Krötenstecher nie gesehen, Opa.« »Natürlich nicht«, grinste Opa. »Ich hab ihn dir auch nicht gezeigt. Ich stand die ganze Zeit hinter dir und hab die Spitze gegen dein Schulterblatt gehalten.« »Und wenn ich nein gesagt hätte?« »Damit haben wir eigentlich nicht gerechnet, Blakky. Aber wenn du nein gesagt hättest, dann hätte ich mit großem Bedauern zustechen müssen.«
12 Am Südrand von New Yorks mächtigem Dachgeschoß, abseits von den Parks und Vergnügungsgärten, gab es Reihen offener Tröge, die mit Wasser gefüllt waren. Und das Wasser tröpfelte mit genau der Geschwindigkeit nach unten, die der Verdunstung entsprach. Andere Rohre fügten sorgfältig abgestimmte Mischungen verschiedener Mineralien und Salze hinzu. Die Tröge waren mit groben Drahtnetzen bedeckt, an denen Tomaten, Mais, Erbsen und verschiedene andere Gemüsesorten wuchsen. Das war der Garten von New York. Draußen, jenseits der aufragenden Mauern, die die Stadt umgaben, befanden sich Getreidefarmen. Mit Spezialdünger auf wissenschaftlicher Basis gepflegt, wurden hier Rekordernten erzielt. Aber das Frischgemüse der Stadt wurde intensiv und künstlich auf dem Dach der Stadt gezüchtet. Kulturexperten produzierten hier in großem Umfang Gemüse, das zwar nicht besonders wohlschmekkend war, aber genügend Vitamine für die Millionen lieferte. Ein Tank, ein paar Eimer mit den richtigen Chemikalien – das reichte aus, um Erträge zu bringen, zu denen man früher ganze Felder benötigt hatte. Wirklich frappierend, zu welchem Höchststand
die Hydroponik-Kultur gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gelangt war. Peyton saß am Rande der ›Gärten‹ auf einer Bank zwischen Sträuchern und ließ sich von der Sonne bräunen. Seine Haut, die in den Verließen des Gefängnisses in so langen Jahre gebleicht war, fing an, sich zu röten, und er konnte jetzt schon bei Tageslicht sehen, ohne seine dunkle Brille zu brauchen. Der Anzug, den er trug, war teuer und gut geschnitten. Er sah wie ein Mitglied der Oberklasse der Stadt aus. Nur seine Gedanken trennten ihn von den Bewohnern der Oberstadt, die hier in den Parks, Gärten und Ladenstraßen auf New Yorks Dach spazierengingen. Mittag. Ein Schatten glitt über den Himmel und verdunkelte Augenblicke lang die Sonne. Ringsum kamen die Sterne zum Vorschein. Dann war der Schatten wieder verschwunden. Die fliegende Insel. Er überdachte das noch einmal, was Bengali in jenem finsteren Loch gesagt hatte, dort unten, im Keller von New York, hinter dem Wald von Stützen und Balken. Die Flieger glaubten, die Welt in der Hand zu haben. Das Volk in den Städten verrichtete die Arbeit und gehorchte. Sie hatten keine Chance gegen Flugzeuge, Kanonen und Bomben. Die Flieger konnten New York vernichten, so wie ein Mann einen Ameisenhaufen vernichten kann, wenn er bloß einen Kanister Benzin und ein Streichholz hat. Und dann würde
es einfach in der Kette von Städten, die die Welt umgab, eine weniger geben. Aber Bengali hatte gesagt, daß die Flieger sich sicher genug fühlten, um untereinander zu kämpfen. Argyle würde Torridge herausfordern. Torridge lebte auf der fliegenden Insel, aber er fing an, alt und müde zu werden. Argyle war intelligent, ehrgeizig, schwungvoll. Vielleicht hatte er eine Chance, Torridge zu verdrängen und seine Stelle einzunehmen – falls Bengalis Widerstandsgruppe ihn nicht dabei störte. Schön, was nun, wenn Peyton Argyle davon berichtete? Oder wenn er es Torridge sagte? Es mußte irgendeine Möglichkeit geben, Torridge davon zu unterrichten. Vielleicht würde man Peyton sogar in die fliegende Insel rufen, um seine Information zu überbringen? Was bildete er sich bloß ein? »Nein, das ist nicht mein Kampf«, sagte er laut. Nicht sein Kampf. Eine Welt, die nicht mehr existierte, hatte ihn ins Gefängnis gesteckt. All das war geschehen, während er, Peyton, Meilen unter der Erde schuftete. Er schuldete niemandem etwas und brauchte nur das zu tun, was für ihn gut war. Verrat lag ihm nicht. Schließlich hatte er Freunde. Opa war sein Freund. Willie auch. Er durfte sie nicht hintergehen. Und Thora – was war mit Thora?
Und dann hörte er ihre Stimme – ihre wirkliche Stimme, nicht nur eine Stimme in seinen Gedanken: »Blacky, daß wir uns so treffen!« Da stand sie, und schon setzte sie sich neben ihn auf die Bank. Sie trug wieder ein eng anliegendes Kleid, das wie blaues Geschmeide funkelte. Sie konnte es sich leisten, eng anliegende Kleider zu tragen, ganz im Gegensatz zu den meisten Frauen der Oberstadt, die keine Figur hatten. Und die hatten auch kein Haar wie gesponnenes Gold und Augen wie blaue Edelsteine. »Hier kriegst du schöne Farbe«, sagte sie. »Ubertreibs nur nicht, sonst holst du dir einen Sonnenbrand!« »Ich habe mich langsam daran gewöhnt«, erwiderte er. »Ein paar Minuten am Morgen und dann ein paar Minuten mehr am nächsten Nachmittag und noch länger am Tag darauf.« Er sah sie an. »Aber du solltest nicht braun werden«, meinte er. »Bleib so, wie du bist.« »Das werde ich auch. Fast alle Frauen versuchen braun zu werden. Ich mache es anders und falle auf die Weise mehr auf.« »Du wirst immer auffallen«, meinte er, »selbst unter Hunderten von Menschen.« »Oh, danke schön!« »Du brauchst mir nicht zu danken. Ich kann nichts
für deine Hautfarbe.« Er blickte zum Himmel auf. »Ich habe gerade der fliegenden Insel nachgesehen. Wie mag es dort oben aussehen? Bist du je dort gewesen?« »Nein. Frauen dürfen dort nicht hin.« Er grinste. »Dann ist es doch kein Paradies.« »Nicht einmal die Frauen der Flieger dürfen hin«, sagte sie. »Die Flieger heiraten, wenn sie Zeit haben. Manchmal Frauen aus ihren eigenen Kreisen, manchmal Frauen aus reichen Familien. Aber die Fliegerinnen – manche nennen sie so – wohnen hier in den oberen Etagen, manchmal auch in Erholungsgebieten in der Nähe der Städte. Marschall Torridge läßt dort oben keine Frauen zu.« Peyton fragte sich erneut, was für ein Herrscher Marschall Torridge sein mochte. »Du hättest wahrscheinlich schon oft Gelegenheit gehabt, einen Flieger zu heiraten«, sagte er. »Ich nicht.« Sie lachte und hob die Schultern. »Ich habe kein Geld, und ich habe keine einflußreichen Verwandten. Die Flieger heiraten, um Geld oder Bedeutung zu gewinnen. Wenn sie heiraten, dann versuchen sie immer in die Aristokratie der Städte einzuheiraten.« »Wie Staatsehen im Mittelalter«, sagte Peyton. »Oder wollen sie vielleicht Mitglieder wichtiger Familien als Geiseln gewinnen?«
»Geiseln?« »Falls es Ärger gibt.« Ihre blauen Augen musterten ihn prüfend. »Wie kommst du auf die Idee, daß es Ärger geben könnte, Mr. Blacky Peyton?« Das war ein Fehler gewesen. Am besten, er wechselte das Thema. »Hör zu, Thora! Ich lasse nicht zu, daß Willie Burgoyne mich Mister nennt. Und du darfst das auch nicht. Meine Freunde nennen mich Blacky.« »Und wir sind doch Freunde, oder?« Ihre Stimme klang jetzt wieder normal, und sie lächelte. »Aber Blacky klingt immer so – so kalt. Wie heißt du wirklich?« »Pierce«, sagte er. »Das klingt gut. So werde ich dich nennen.« Sie wandte sich zu ihm und sah ihn ernst, aber nicht fragend an. »Pierce, ich muß dich warnen. Versuche nicht, dich gegen die Flieger aufzulehnen. Sie können dich vernichten, und das würde mir wehtun.« »Danke!« sagte er. »Und ich habe immer gedacht, du gehörst zu ihnen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich arbeite nur für sie, genau wie du. General Argyle ist mein Chef.« »Ich verstehe«, sagte er langsam. »Das klingt aber nicht so. Zwischen mir und General Argyle ist nichts, nicht so, wie du das meinst.«
Er sah sie an und wartete auf eine Erklärung; die kam auch. »Er hat früher den Zirkus Maximus geleitet, und da brauchte er Publicity. Die konnte ich ihm verschaffen, weil ich auffalle. Wie ein Ornament.« Wieder lächelte er. »Du bist aber mehr als ein Ornament.« »Danke!« strahlte sie. »Aber das ist mein Job. Ich kann zum Beispiel dich herumführen und mich mit dir sehen lassen. Das habe ich mit Archbold auch getan. Ich tue meine Arbeit gut und verdiene mir mein Geld. Aber – eine Fliegerin bin ich nicht.« »Wo kommst du her, Thora?« »Von hier, von New York. Meine Eltern sind im Krieg umgekommen, aber ich bin irgendwie übrig geblieben – ich war damals noch so klein, daß ich mich kaum erinnern kann. Wahrscheinlich bin ich arm auf die Welt gekommen. Jedenfalls bin ich arm aufgezogen worden. Ich gehöre auf den Boden. Und dort werde ich bestimmt auch bleiben. Und ich will dich mit meinen Warnungen auch nicht erschrecken. Bloß helfen.« »Das glaube ich dir.« Wieder lächelte er. Später trainierte Peyton mit Willie Burgoyne im Übungsraum. Nur Opa sah zu, eine Stoppuhr in der Hand. Ohne Rüstung, nur in Unterhemden und Kappen mit Ohrenschützern, fochten die beiden mit stumpfen Schwertern und runden Schilden.
Peyton wußte, daß er sich die Anfangskenntnisse der Fechtkunst schnell angeeignet hatte. Das war eine Frage der Muskelkoordination, der Geschwindigkeit und der Vernunft. Und diese drei Eigenschaften hatte er immer schon in hohem Maße besessen. Die Schwerter klirrten aneinander, knallten dumpf auf die Schilde. Einmal knurrte Willie, als Peytons stumpfe Klinge ihn am Ellbogen traf. Er versuchte einen Gegenschlag, aber Peyton lenkte den Schlag mit dem Schild ab und trieb Willie mit der abgerundeten Spitze seiner Waffe zurück. Der Atem beider Männer ging schnell, aber sie keuchten nicht. Der Schweiß ließ Peytons Gesicht wie nasses Leder erscheinen. Willies Gesicht glänzte wie Seehundshaut. »Schluß!« rief Opa, und die beiden standen da und grinsten. »Sie werden mir zu gut, Mr. Blacky«, sagte Willie und hängte seinen Schild auf. »Spar dir den Mister und mach mir nichts vor! Du schonst mich.« »Du schonst mich«, widersprach Willie. »Du kämpfst nicht ernsthaft.« »Ihr habt beide ernsthaft gekämpft, soweit ich das sehen konnte«, sagte Opa. Willie wischte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. »Oh«, meinte er, »ich will nicht sagen, daß Mr. Blacky nicht schnell war. Er ist ungefähr einein-
halb mal so schnell wie die Schnellsten. Aber ich sage, daß er nicht ernsthaft kämpft. Nicht auf Leben und Tod.« »Niemand kämpft auf Leben und Tod«, erklärte Peyton, »wenn er nicht jemanden töten will.« »Dann verstehst du ja, was ich von diesem Gladiatorgeschäft halte«, meinte Willie. »Wie wär's, wenn wir jetzt duschen gingen?« »Brillante Idee!« lobte Peyton. »Würdig des großen Geistes, der sie gefaßt hat.« Er griff nach seinem Handtuch. »Gehen wir!« Die drei gingen in den Korridor und an dem Gang vorbei, der zu den Büros führte. Zwei Männer kamen auf sie zu. Einer trug Fliegeruniform und hatte eine Pistole an der Hüfte. An seiner linken Brusttasche glänzte eine Amtsplakette. Er führte den anderen am Arm. Der Gefangene war ein hochgewachsener, hungrig aussehender Mann mit grauem Haar und einer Hakennase; er wandte sein Gesicht ab, aber Opa zuckte zusammen, als er ihn erkannte. Der Flieger und sein Gefangener gingen vorbei. Peyton spürte Opas Hand an seinem Ellbogen. »Wir kommen gleich nach, Willie«, sagte Opa. Willie ging voraus. Peyton ging langsamer. »Was gibt's denn?« fragte er Opa. »Sprich leise! Kennst du den Alten, den der Flieger gerade abgeführt hat?«
»Ja. Er ist mir irgendwie bekannt vorgekommen.« »Das war der Seemann. Du weißt schon. Der, mit dem wir in Tonys Bar getrunken haben.« »Wirklich?« sagte Peyton. »Zeig ihnen dein Gesicht nicht, Blacky! Gib dich ganz gleichgültig. Laß Willie zuerst in die Dusche gehen.« Peyton ging langsamer. »Du tust ja gerade, als hättest du kein Vertrauen zu Willie.« Opa schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Aber Willie ist zu bekannt, als daß wir ihn jetzt bei uns haben dürften. Man erinnert sich leicht an ihn.« »Glaubst du nicht, daß ich auch ziemlich bekannt bin?« »Das wirst du sein. Aber solange du billige Kleidung trägst, fällst du nicht auf. Außerdem wollen wir schnell handeln, das weißt du ja.« Er meinte die Widerstandsbewegung. Peyton verzichtete darauf, sich nach dem Flieger und dem Seemann umzusehen. »Es muß schnell gehen«, sagte Peyton. »Wenn der Matrose jetzt den Fliegern Hochsee-Chanties singt, dann sitzen du und ich und Bengali wahrscheinlich alle drei in der Tinte.« Opa sah ihn mit seinen harten, alten Augen an. »Um mich mache ich mir keine Sorgen. Ich bin bloß ein alter Landstreicher, der einen Job im Zirkus Ma-
ximus als Garderobehelfer hat. Mich kann man leicht vergessen. Aber dir könnten sie was anhaben, Blakky.« »Mich umbringen, nehme ich an?« »Einfach so.« Opa schnippte mit den Fingern. »Weißt du, die Flieger haben keine Gerichte oder Prozesse. Die erledigen dich schnell und dauerhaft, wenn es ihnen paßt.« Sie hatten jetzt den Duschraum erreicht und traten ein. Willie war bereits in einer Kabine. Über dem Rauschen des Wassers hörten sie ihn mit tiefer Stimme singen. Ein uraltes Lied: »Jay Gould said before he died, Fix the blinds so the bums can't ride ...« »Einmal haben sie versucht, Willie umzubringen«, erinnerte Peyton Opa. »Aber jetzt wirkt er wieder ganz gesund.« Er hob die eigene Stimme. »Sing schön weiter, Willie!« Und Willie fuhr fort: »If ride they must, let them ride the rod And trust their lives in the hands of God.« Peyton zog sein Unterhemd aus. Das war das erste Mal, seit er aus der Grube gekommen war, daß je-
mand den Namen Gottes erwähnt hatte – außer in Flüchen. Und dann kam Willie heraus und frottierte sich ab. Er glänzte wie eine dunkle Ebenholzstatue. »Warum seid ihr zwei so mürrisch?« fragte er. »Ihr tut ja gerade, als sei euch ein guter Freund gestorben.« »Willie«, sagte Opa, »ich hoffe bloß, daß du nicht plötzlich zum Hellseher geworden bist.«
13 Wieder war Zirkustag. Die Parade war besonders prunkvoll gewesen. Eine endlose Folge bewaffneter Männer, hübscher Mädchen in kaum nennenswerten Kostümen, Wagen, Elefanten, Käfigen mit Tieren. Als sie zurückkamen, gingen Peyton und Willie zum Korridor und den Garderoben; beide waren in Hochstimmung. »Gegen wen werden Sie kämpfen, Mr. Blacky?« »Gegen dich, wenn du mit dem Mister nicht aufhörst. Ich habe gehört, daß gegen mich ein Überraschungskandidat aufgestellt werden soll.« »Ich auch. Ein Überraschungskandidat. Aber ich glaube, ich weiß schon, wer es sein wird. Erinnerst du dich, wie wir heute morgen bei den Käfigen waren?« »Ich habe einen Gorilla gesehen«, sagte Peyton. »Ein bösartig aussehender Kamerad. Und dann war da eine Anzahl Schweine.« »Genau das!« nickte Willie. »Graue und schwarze Schweine, nicht besonders groß, aber ausgehungert und mit bösen Augen. Die kommen aus Südamerika. Man nennt sie Peccari. Ich habe gehört, daß sie Menschen und Pferde reißen – sogar Bären und Panther.« »Du scheinst dir keine Sorgen zu machen, Willie.« »Was nützt es denn, wenn man sich Sorgen macht?
Dann ist man bloß unsicher. Ich habe über die Peccaris nachgelesen, seit wir bei den Käfigen waren. Sie werden im Rudel auf mich losgehen. Ich bin darauf gefaßt und werde über sie wegspringen.« Sie hatten inzwischen ihre Garderoben erreicht. Peyton blieb stehen. »Du springst also über sie hinweg«, sagte er. »Das bedeutet, daß sie kehrt machen müssen und dich erneut anfallen werden. Was machst du dann?« »Während sie kehrt machen, kann ich zwei oder drei erledigen«, meinte Willie zuversichtlich. »Dann springe ich wieder über sie weg und mache wieder zwei oder drei fertig. Und so weiter.« Er wollte den Druckknopf betätigen, um die Tür zu öffnen, aber sie ging von selbst auf. Ein Flieger stand da. »Geh den Korridor hinunter zum Umziehen!« befahl er Willie. »Aber meine Sachen sind bei Mr. Blacky!« widersprach Willie. »Man hat sie in die andere Garderobe gebracht. Geh nur! Tu, was man dir aufträgt. General Argyle möchte vor dem Kampf ein paar Worte mit Peyton sprechen.« Willie wandte sich zu Peyton um. »Viel Glück!« sagte er, und sie schüttelten sich die Hand. Dann ging Willie weiter. Peyton trat in die Garderobe, und der Flieger schloß die Tür.
Argyle und Thora saßen auf der Bank neben dem Gestell mit den Rüstungen. Sie sahen Peyton ausdruckslos an. »Hello, General!« sagte Peyton so gleichgültig wie er nur konnte. »Hello, Thora! Freut mich, Sie zu sehen.« Argyle nahm die Zigarette aus dem Mund. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Peyton.« »Ja, Sir.« Peyton stellte den Goldhelm wieder auf das Regal. »Was möchten Sie denn wissen?« »Kennen Sie einen gewissen Bengali? Einen sogenannten Dichter?« Jetzt war die Zeit, sich gleichgültig und offen zu geben. »Aber natürlich, General. Ich habe ihn in Ihrer Loge kennengelernt. Warum?« »Ich stelle die Fragen, Peyton«, sagte Argyle eisig. »Haben Sie ihn seitdem noch einmal gesehen?« »Nein, meines Wissens nicht, Sir. Vielleicht sind wir uns irgendwo in einem Vergnügungspark begegnet.« »Ich denke an ein besonderes Zusammentreffen«, unterbrach ihn Argyle so eisig wie zuvor. »Man könnte das eine – eine geschäftliche Unterredung nennen.« Peyton sah ihn verständnislos an und schwieg. »Jemand hat angedeutet, Sie und Bengali hätten eine geschäftliche Besprechung gehabt«, fuhr Argyle fort. »Wenn man das geschäftlich nennen kann.«
»Ich verstehe nicht, Sir.« Peyton ging an den Ankleidetisch, nahm einen gepanzerten Handschuh und probierte ihn an. »Was ist denn aus Opa Hooker geworden?« fragte er. »Er sollte hier sein und mir helfen. Schließlich muß ich draußen auftreten.« »Wir sprechen jetzt von Bengali«, sagte Argyle. »Ich möchte, daß Sie mir alles, was Sie über ihn wissen, sagen, Peyton, und zwar sofort.« Peyton drehte sich herum und begegnete Argyles Blick. Er mußte jetzt die eigenen Augen weiten und eine möglichst dumme Miene aufsetzen. »Sie weigern sich, mir Antwort zu geben«, drängte Argyle. Peyton stellte einen Fuß auf einen Schemel und löste die Schnalle seiner vergoldeten Sandale. »Ich kann Ihnen nicht viel sagen, General. Ich verstehe nicht, was das mit Bengali bedeuten soll. Werde ich irgendwie verdächtigt, Sir?« »Mit einem Wort gesagt, ja. Man hat Anklage gegen Sie erhoben, Peyton. Leugnen Sie es ab?« Peyton richtete sich auf. Er hatte jetzt eine Sandale ausgezogen. »Es ableugnen, Sir? Wie kann ich das, wenn ich nicht weiß, wessen man mich beschuldigt?« »Dann wissen Sie also, daß man Sie beschuldigen könnte«, sagte Argyle triumphierend. »Wenn Sie mit dieser Möglichkeit rechnen, dann wissen Sie auch, worin die Anklage besteht.«
Peyton hob den anderen Fuß, um die Sandale auszuziehen. »Nein, Sir«, erwiderte er in einem Tonfall, der respektvollen Protest ausdrückte. »Ich fürchte, ich weiß nicht, wessen man mich bezichtigen könnte.« »Werden Sie nicht unverschämt, Peyton!« »Nein, Sir, ich bin nicht unverschämt. Ich verstehe nur nicht, Sir. Wenn man mich anklagen will, nach der Show –« »Vielleicht gibt es für Sie kein ›nach der Show‹.« Opa hatte etwas davon gesagt, daß es hier keine fairen Prozesse gab. Peyton entschied sich dafür, die Andeutung mißzuverstehen. »Ein Gladiator geht dieses Risiko ein, General Argyle.« Er schlüpfte in einen gepanzerten Schuh, dann in den anderen und bückte sich, um eine Beinschiene anzulegen. »Im Augenblick konzentriere ich mich ganz auf die Show und das, was mir während der Show zustoßen könnte.« »Davon spreche ich jetzt nicht«, sagte Argyle. »Thora, ist dieser Mann so dumm, wie er sich jetzt gibt? Können Sie ihn dazu bringen, daß er mich begreift?« »Ich will es versuchen«, sagte Thora. Das war das erste Wort, das sie sagte, seit Peyton die Garderobe betreten hatte. Sie saß da und musterte ihn. »Dann überlasse ich ihn Ihnen«, erklärte Argyle und erhob sich. »Sie können mit ihm sprechen. Wenn
er irgend etwas Konstruktives auszusagen hat, bringen Sie ihn zu meiner Loge. Wenn nicht«, Argyle stand jetzt auf der Türschwelle, »dann kann er in die Manege gehen. Er wird dann schon sehen, was aus ihm wird.« Damit ging er. Peyton sah Thora an und versuchte in ihren Augen zu lesen. Auch sie stand auf, sehr langsam. »Pierce«, sagte sie. »Hier.« Er griff nach einem Lederhemd, das mit Stahlschuppen besetzt war, um besseren Schutz zu bieten. »Pierce, deine Lage ist sehr ernst.« »Das habe ich auch erkannt. So dumm bin ich nicht, um das nicht zu merken.« »Du kannst mir vertrauen«, sagte Thora. Ihre Stimme zitterte. »Pierce, du mußt mir alles sagen. Deine Lage ist ernst, aber vielleicht kann ich dir helfen.« Er sah sie an und wünschte, er könnte ihr vertrauen. »Argyle ist argwöhnisch und verdächtigt mich«, sagte er. »Wenn ich jetzt eine Bemerkung machte, die seinen Verdacht bestätigt? Das würde mir doch nichts helfen, oder? Dann wäre ich am Ende.« Er schlüpfte in das Lederhemd und zog den Reißverschluß zu. Thora trat näher und legte ihre weiße Hand auf seine Schulter. »Die Flieger haben Beweise,
daß du in eine Sache verwickelt bist, die sich Komitee für Widerstand gegen die Flieger nennt.« »Komitee gegen was?« »Mach mir nichts vor, Pierce! Du hast mich genau verstanden. Die Widerstandsbewegung ist, bevor sie noch richtig in Aktion tritt, erledigt. Aber wenn du in die Sache verwickelt bist, könntest du gefährlich sein. Du verfügst über Spezialwissen.« »Atomit«, sagte Peyton, und Thora zuckte zusammen. Sie sprach die Wahrheit. Bengali hatte nicht nur nach Strohhalmen gegriffen. Aber er war jetzt nicht bei Bengali. Er war bei Thora, der Mitarbeiterin von General Argyle. »Du glaubst, was Argyle glaubt. Du verdächtigst mich, und damit bin ich schon überführt. Du meinst, ich sei in irgendeinen verrückten Aufstand verwickelt, wo ich doch erst seit zwei oder drei Wochen aus dem Gefängnis heraus bin.« »Ich weiß, was General Argyle glaubt, und er ist sich seiner Sache ziemlich sicher.« Sie sprach eindringlich. »Du hast dich vor ein paar Tagen verraten, als wir im Park bei den Gemüsetrögen miteinander sprachen. Du sagtest etwas über die Frauen, die die Flieger heiraten, daß sie im Falle von Schwierigkeiten Geiseln sein könnten.« »Das habe ich gesagt«, pflichtete er ihr bei. »Und du
bist sofort damit zu Argyle gerannt.« Er schnallte das Lederhemd zu und sicherte die Schnalle an seinem Gürtel. »Nun, Thora, du scheinst dir deinen Lohn zu verdienen – was auch immer Argyle dir bezahlt.« »Nein«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Ich habe ihnen nichts gesagt. Ich habe dir gesagt, daß du gefährliche Reden führst. Ich hatte keine Ahnung, daß du in die Widerstandsbewegung verwickelt bist.« »Aber du hast von der Bewegung gewußt?« fragte er. »Ich habe gehört, wie Argyle und sein Stab darüber redeten. Die wissen Bescheid und kennen auch die meisten Leute, die ihr angehören, und wissen, welche Ziele die Bewegung hat.« »Und nehmen das ganze Gerede ernst«, führte er den Satz für sie weiter. »Da komme ich mir richtig wichtig vor, Thora ... Nun, wenn sie glauben, daß ich Mitglied der Bewegung bin, warum bringen sie mich dann nicht einfach um, ohne sich weiter zu bemühen oder ihre Zeit zu verschwenden?« Thora sah ihm in die Augen. Ihre Lippen zitterten. »Sie wollen Informationen vor dir, Pierce. Sie wollen, daß du mithilfst, die Anführer jener Bewegung zu überführen.« Peyton trat an den Ankleidetisch. Er nahm sich einen Helm mit Federbusch und Visier, massiver als der, den er bei der Parade getragen hatte. Jetzt wog er
ihn in der Hand, ohne ihn aufzusetzen. Seine Augen ließen Thora nicht los. »Eigentlich sollte ich mir geschmeichelt vorkommen«, sagte er. »Ich sollte den Fliegern für die hohe Meinung danken, die sie von mir haben. Ich ihnen helfen! Aber wenn – wenn habe ich gesagt, Thora, nur wenn – wenn ich also in dieses Komitee zum Widerstand gegen die Flieger verwickelt wäre und meine Freunde verriete – was würde dann aus mir?« »Nun –« »Ich wäre doch genauso schuldig«, fuhr er fort. »Außerdem wäre meine Lage noch schlimmer. Ich hätte meine Freunde verraten und wäre deshalb nicht mehr nützlich. Dann könnten die Flieger mich beseitigen, und ich würde sterben, als gemeiner Verräter.« Er hob den Helm auf und stülpte ihn sich über den Kopf. »Geh und sag das General Argyle«, fuhr er fort. »Berichte ihm, was ich gesagt habe. Sag ihm, daß ich unter keinen Umständen gestehen würde, selbst wenn ich etwas wüßte. Er kann mich töten und sich dann den Kopf zerbrechen, ob ich wirklich etwas gewußt habe, was ihm nützen könnte.« Er schnallte den Helm fest. »Geh nur!« drängte er sie. »Verschwinde hier! Sag ihm, du hättest versucht, mich zum Reden zu bringen, es aber nicht geschafft.«
Thora ging langsam zur Tür und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zu ihm herum. »Begreifst du denn nicht, wie sehr ich dich retten möchte, Pierce?« Ihre blauen Augen schienen noch größer. Tränen standen in den Augenwinkeln.
14 Peyton war erschüttert. Tränen. Das waren echte Tränen. Weinte sie wirklich? Vielleicht doch nicht. Peyton hatte inzwischen seine Rüstung nahezu vollständig angelegt. Mit stählernen Schuhen, stählernen Beinschienen, seinem Lederhemd und dem Helm stand er da wie ein Mann aus Metall. Von einem Haken nahm er einen breiten Gürtel mit einem geraden Schwert in dunkler Scheide. Er gürtete es sich um die Hüfte. »Sie halten den Zirkus Maximus auf, Lady!« sagte er. »Ich muß dort draußen eine Show liefern. Mein erster Starauftritt, weißt du? Ich habe keine Ahnung, wieviele Leute jetzt auf ihren Sitzen herumrutschen und von mir erwarten, daß ich ihnen eine vergnügte Stunde biete.« »Das ist es ja!« klagte sie. »Genau das ist es, Pierce! Du hast doch gehört, was General Argyle gesagt hat, oder?« »Er sagte, du solltest mich zu seiner Loge bringen, wenn ich reden wollte«, antwortete Peyton. »Und wenn ich stumm bliebe, dann sollte ich in die Manege gehen und meine Arbeit tun.« »Weißt du, was das bedeutet? Er hat Sonderanweisungen erteilt. Ursprünglich hatte er vor, dir einen
bequemen Gegner zu geben, einen, den du brillant erledigen kannst. Und jetzt werden sie dir einen Gegner schicken, den du unmöglich töten kannst. Und wenn du den ersten Kampf überstehst, dann kommt der nächste und noch einer. Am Ende wirst du vernichtet werden.« »Vernichtet!« wiederholte Peyton. »Vernichtet mitten in der Show. Ich habe gehört, daß man mit Willie Burgoyne einmal so etwas versucht hat, als er seine Befehle nicht ausführen wollte. Und ich habe auch gehört, daß es nicht geklappt hat.« Peyton atmete tief. »Thora, laß dir sagen, daß du deine Zeit verschwendest, indem du versuchst, nett zu mir zu sein. Ich bin das nicht wert.« »Warum, Pierce?« Er setzte sich vor seinem Ankleidetisch auf einen Hocker und zog einen Handschuh an. »Hör dir meine Lebensgeschichte an«, sagte er und bewegte seine Finger im Handschuh. Das Futter war aus Seide, und er paßte wie eine zweite Haut. An der Außenhand war er mit zusammengefügten Platten geschützt, die so ineinander übergingen, daß es nirgends eine Spalte gab. »Ich stamme aus einer Mittelklassefamilie. Nicht viel Geld zu Hause und meiner Meinung nach viel zu viel Disziplin. Ich rannte als Junge von zu Hause weg. Ich ging nach New York, dem alten New York, und
geriet dort in die Gesellschaft von Verbrechern. Dann gab es eine Schießerei. Ich war es nicht. Aber die anderen entkamen, und ich wurde festgenommen.« »Und ins Gefängnis gesteckt«, meinte sie und setzte sich ebenfalls. »Ja. Ich war sechzehn, und das galt als alt genug, um als Unverbesserlicher betrachtet zu werden. Also wurde ich in die Grube gesteckt.« Er sah sie an. »Hast du eine Ahnung, was die Grube ist?« »Warum fragst du?« »Bloß eine rhetorische Frage, Thora. Weißt du, was eine rhetorische Frage ist? Ich kenne zwei oder drei Dutzend so hochtrabende Worte. Ich habe damals Wörterbücher gelesen, damals, als die Leute noch lesen konnten.« Wieder bewegte er seine Hand im Handschuh. »Jedenfalls bist du zusammengezuckt, als ich die Grube erwähnte, und da habe ich mir Gedanken gemacht.« »Weiter!« »All right, ich will diese rhetorische Frage beantworten. Die Grube ist, wo das Atomit zerkleinert, gefräst, gepreßt wird und so weiter. Harte Arbeit, Thora. Schmutzige Arbeit. Gefährlich. Männer werden dabei getötet. Oder sie verlieren den Verstand. Oder sie bekommen eine Herzschwäche und fallen tot um. Deshalb werden nur ganz schwierige Fälle in die Grube geschickt, um Atomit herzustellen.«
»Aber du –« begann sie und verstummte dann. »Ich habe nichts von alldem getan. Ich bin schwer umzubringen und schwer verrückt zu machen. Ich habe zwanzig lange, harte Jahre überstanden. Und dann, bloß weil ich einem Spitzel das Leben gerettet habe, ohne zu wissen, daß er ein Spitzel war, und weil Argyle seine Beförderung feiern wollte, indem er jemanden begnadigte, haben die mich gehen lassen.« »Davon habe ich gehört«, meinte sie. »Du weißt, daß ich ein ehemaliger Sträfling bin. Einer von der schlimmsten Sorte. Ich bin es nicht wert, daß man sich meinetwegen sorgt.« »Pierce, neben dir ist ein Schalter. Schalte das Licht aus.« »Warum?« fragte er, knipste den Schalter aber aus. Jetzt war es ganz dunkel in dem fensterlosen Raum. Peyton sprang auf. Ihm gegenüber schimmerte ein schemenhaftes Gesicht, weich und bleich wie eine Geistererscheinung. Ihr Gesicht kam auf ihn zu, wie eine Maske, die in der Finsternis hängt. »Was!« stieß er hervor. »Ist es nicht ganz offensichtlich?« fragte sie. »Warum leuchtet denn die Haut eines Menschen, Pierce?« »Nur aus einem Grund – Grubenschein.« »Ich habe drei Jahre dort unten in der Frauenabteilung abgesessen. Ich bin wegen Mordes verurteilt worden – wie du. Weil ich einen Flieger getötet habe.«
»Gut. Ich wünsche, du hättest sie alle umgebracht.« »Er war untergeordneter Beamter im Zirkus, noch ehe Argyle ihn übernahm. Er sah mich bei einer Vorstellung. Er war betrunken oder stand unter Drogeneinfluß. Jedenfalls wurde er zudringlich. Ich stieß ihn weg, und er fiel in die Arena, und ein Tiger schnappte ihn. Man nannte das Mord.« »Mord«, wiederholte Peyton. »Und wie bist du freigekommen?« Ihre schimmernde Maske kam noch näher. »Reiner Zufall, wie bei dir. Wäre dieser Flieger nicht vom Tiger aufgefressen worden, dann wäre der Flieger vielleicht Zirkuschef geworden und nicht General Argyle. Aber General Argyle wurde befördert und machte zufällig einen Besuch in der Grube. Man wies ihn auf mich hin. Ich war der Grund, daß er befördert wurde, und er sah mich genauer an.« »Vernünftiger Mann.« »Oh, ich war damals nicht besonders sehenswert. Aber Argyle dachte, man könnte etwas aus mir machen. Also zog er an einigen Drähten und erreichte es, daß man mich freiließ. Dann brachte man mich in sein Hauptquartier, und ich wurde verhört.« »Ah!« sagte Peyton langsam. »Verhört! Ich verstehe schon.« »Nein«, widersprach sie. »Nein, das verstehst du nicht. Er hat nie etwas dergleichen versucht. Aber er
brauchte jemanden, der ihm Spitzeldienste leisten konnte, der auf Männer attraktiv wirkte und sie aushorchen konnte. Er wollte informiert sein über das, was in der Stadt vorging, um seinen Nutzen daraus ziehen zu können. Vielleicht habe ich ihm geholfen, Oberster Flieger von New York zu werden.« Peyton schaltete das Licht wieder ein. »Ich verstehe schon, warum du ihm Loyalität bewahren willst Thora. Du schuldest Argyle etwas.« »Ja, das stimmt. Aber er schuldet mir auch etwas. Mein Herz gehört jedem, der in der Grube war.« Er lachte leise. »Jedem?« wiederholte er. »Ja, jedem. Aber einem ganz Bestimmten auch. Und du bist dieser ganz Bestimmte, Pierce. Ich hoffe – ich bete –« Er befestigte den Nackenschutz seines Helmes an der Schulter des Lederhemdes. »Geh zu Argyle!« sagte er. »Sag ihm, daß ich den Mund gehalten habe. Sag ihm, daß ich nichts zugegeben habe. Sag ihm, daß ich jetzt in die Manege gehe und gegen jeden und alles kämpfen werde, das er mir schickt.« »Du hast keine Chance, Pierce.« »Willie hatte auch keine und ist doch durchgekommen. Ich kann dasselbe tun.« »Ja, natürlich!« rief sie, beinahe glücklich. »Du kannst gewinnen, und die Leute werden dir zujubeln.
Das tun sie immer. Sie machen großen Lärm für den Sieger. Wenn du es überlebst und er dich dann verhört –« »Mit den Fragen werde ich dann auch fertig werden.« Er zog den anderen Handschuh an und musterte sich im Spiegel. »Ich werde mich seinen Fragen schon stellen, wenn das ganze Stadion mir noch applaudiert. Ich bezweifle es, daß Argyle mich sofort töten wird. Und dann – dann kann ich vielleicht einen Handel mit ihm abschließen über die Informationen, die er braucht. Vielleicht kann ich mich irgendwie herauswinden.« Er sah Thora noch einmal an. »Drück mir die Daumen!« »Ja.« Sie standen dicht beieinander. Plötzlich kam sie noch näher, legte ihre Hände auf seine stahlgeschützten Schultern und küßte seinen Mund. Und dann wirbelte sie abrupt herum und rannte hinaus. Peyton stand einen Augenblick stumm da. Dann nahm er einen Schild von der Wand. Es war ein runder Schild, mit auf Hochglanz poliertem Chrom eingefaßt. Aus der Mitte stach ein scharfer Dorn hervor. Der Dorn war schwarz und poliert wie ein Horn. Er packte den Schild am Griff, wog ihn prüfend in der Hand und drehte ihn zur Seite. Dann klappte er das Visier herunter und hörte es
einschnappen. Er ging hinaus. Auf dem Korridor kam ihm ein Helfer entgegen. »Peyton? Schnell, man wartet schon auf Sie draußen in der Manege. Die schreien sich die Kehle heraus.« »Dann sollen sie sie wieder hinunterschlucken«, sagte Peyton in dem geschlossenen Helm. »Ich komme schon.«
15 Draußen in der Sonne, im Sand, in der Leere der Arena. Allein. Und in dem weiten Rund dicht zusammengedrängt die Zuschauer, brüllend und schreiend. Für ihn oder gegen ihn? Peyton hob die eisenbehandschuhte Hand über den Helm, als er durch den Sand schritt. Unter seinen geschützten Füßen knirschte der Sand. Jetzt war er der Mittelpunkt. Er mußte verdammt klein aussehen, dort draußen, und verdammt allein. Aber die Zuschauer hatten Gläser. In den Gläsern würde er groß genug wirken. Er blickte über die Arena zu der Tür hinüber, aus dem das kommen würde, was sie ausschicken würden, um ihn zu töten. Und dann wurde der riesige Trichter aus Gesichtern im Stadion undeutlich und unwichtig, lag außerhalb seiner Wahrnehmungssphäre. Das Heulen der Menge erstarb zu einem schwachen Murmeln. Etwas bewegte sich in der Tür. Peytons behandschuhte Hand schloß sich um das Heft seines Schwertes. Hinter seinem Visier grinste er. Eine Niederlage konnte er sich einfach nicht vorstellen. Und jetzt kam etwas heraus – eine gepanzerte menschliche Gestalt, deutlich größer als er.
Die Rüstung seines Gegners war vielleicht aus einem Museum gestohlen worden, falls Kriegsmuseen den dritten Weltkrieg überstanden hatten. Ein Küraß aus starren, goldverzierten Platten hüllte den mächtigen Torso seines Gegners ein. Der geschlossene Helm war mit einem Streifen Kettenpanzer am Hals des Küraß befestigt, und der Kettenpanzer hing vorn herunter wie eine Krawatte. Arme und Beine schützten goldverzierte Metallrohre, die an Knie und Ellbogen, Schultern und Knöcheln in raffinierte Gelenke mündeten. Ein Schuppenrock schützte die Hüften. Die stählernen Handschuhe wiesen wie die seinen auf dem Rücken Platten auf, die ineinander übergingen. Die linke Hand trug einen runden Schild mit einer Spitze, ähnlich dem Peytons, und die Rechte trug einen breiten, gebogenen Säbel. Die Rüstung war eben so gut wie die Peytons, vielleicht sogar besser. Der große Bursche kam leicht und selbstsicher heraus, besonders wenn man bedachte, welche Last an Metall er mit sich schleppte. Er studierte Peyton durch die Schlitze in seinem Visier. Nicht furchtsam vielleicht, aber irgendwie unschlüssig. Peyton spürte, wie sein Haar sich sträubte. »Ich kenne dich nicht«, murmelte er in seinem Helm. »Aber ich weiß, wer dich mir entgegenschickt und weshalb. Okay, ich will dir die Lust am Gladiatorenberuf nehmen.«
Peyton schritt auf seinen Gegner selbstbewußt und vorsichtig zu. Seine Muskeln spannten sich. Ob die Menge applaudierte oder brüllte, hörte er nicht. Schnell wie eine Schlange schlug Peyton zu. Er hörte den Aufprall und spürte den Schock, als der Schild des großen Gladiators sein Schwert abprallen ließ. Und dann nahm er Fechterpose ein, um den Vergeltungsschlag aufzufangen. Aber er kam nicht. Sein Gegner wich vor ihm zurück, vorsichtig, aufmerksam. Peyton hörte den Mob im Stadion. »Buuuh!« Der Mob war unzufrieden. »Buuuh!« »Komm und kämpfe!« rief Peyton. »Ich spreche gewöhnlich nicht mit Leuten, die mir nicht vorgestellt sind. Aber wir müssen hier eine Schau liefern.« Er rückte vor. Wieder wich der andere zurück. »Buuuh!« brüllte die Menge. »Hörst du das?« rief Peyton. »Das gilt dir!« Er tastete mit seiner Schwertspitze und suchte ein Loch in der Parade des Großen, einen Weg an dem Krummsäbel vorbei. Eine vorsichtige Abwehr, ein vorsichtiger Schlag zurück – ein Schlag gegen Peyton, aber kein schneller Schlag und kein kräftiger. Peyton lenkte den Ausfall spielend mit seinem Schild ab. Wieder schlug er zu und durchbrach damit erneut die Parade des anderen. Sein Schwert traf den vergoldeten Helmkamm. Der große Gladiator wich erneut zurück.
»Buuuh!« Das war wieder die Menge. Sie nahm dem anderen sein Zurückweichen übel. »Komm nur, komm!« spottete Peyton. »Bist du hier, um zu kämpfen oder um Spaß zu machen? Ich kann ja nicht die Arbeit für uns beide machen.« Das würde leicht sein. Er verstand nicht viel vom Fechten – wieviel konnte man auch in zwei Wochen lernen? Aber er war schnell, beinahe doppelt so schnell wie dieser schwerfällige Bursche, und er hatte keine Angst. Peyton rückte erneut in dem eigenartig schlurfenden Stil des Fechters vor: den rechten Fuß vorne, das Gewicht auf dem linken Fuß lastend. Er schlug eine Finte, so daß der Schild des anderen zur Seite zuckte, wich dem Säbel des anderen aus und stach dann schnell zu, als das Schulterstück des Gegners zur Seite rückte und den Bruchteil einer Sekunde das weiße Hemd zeigte. Der Schlag traf, und sein Gegner wich erneut zurück. »Blut!« schrie eine Frauenstimme. Der Rückzug seines Gegners hatte sie jetzt dicht an die Wand gebracht, in die Nähe von Argyles Loge, beinahe unmittelbar darunter. Jemand hatte Peytons ersten Treffer hinausgeschrien. Thora war es nicht gewesen – ihre Stimme war nicht so schrill – aber Thora war dort oben und sah zu. »Komm und kämpfe!« rief er durch sein Visier.
»Du kannst davonrennen, aber verstecken kannst du dich nicht!« Wenn dieser Riesenbursche ihm eine Chance gab, würde das ganze Stadion ihm zujubeln, und tausend General Argyles konnten ihn dann nicht demütigen. In seiner Rüstung wurde es warm, aber die Wärme tat ihm gut. Seine Füße in den großen Eisenstiefeln wurden leichter anstatt schwerer, und das Ächzen und Klirren seiner Rüstung klang wie Musik. Seine Hände verstanden instinktiv, mit Schwert und Schild umzugehen, ohne daß sie dazu besonderer Befehle bedurften. Und er kämpfte ganz auf Schau, ging das Risiko, das das mit sich brachte, bewußt ein, weil sein Gegner langsam oder feige oder krank oder vielleicht auch alles war. Impulsiv breitete Peyton plötzlich die Arme aus, so daß der Schild links und das Schwert rechts waren, wie um den Tod herbeizurufen. Der andere rückte vor, war aber einen Augenblick zu langsam, und Peyton stand schon wieder bereit, den Schild in Abwehrstellung, das Schwert bereit, zuzuschlagen. Ein Donnern von Applaus ging durch die Manege. Die Zuschauer waren mit ihm. Sie dankten ihm seine Bemühung, eine gute Schau zu liefern. Schild krachte gegen Schild. Er konnte die Kraft des anderen spüren und sein beträchtliches Gewicht. Peyton versuchte gar nicht erst, dagegen anzukämp-
fen. Er mußte seinen Gegner lächerlich machen; schnell zurückweichen, damit der andere das Gleichgewicht verlor. Wieder stach er zu, als sich den Bruchteil einer Sekunde lang eine Lücke in der Rüstung des anderen zeigte, dort, wo die beiden Hälften des Küraß zusammengefügt waren. Wieder Blut, das über das Gold der Rüstung herunterrann. Noch mehr Beifall. Und als Peyton davontänzelte und spöttisch mit seinem Schwert fuchtelte, griff der Hüne an, weil er mußte. Peyton hielt inne, wartete, bis sein mächtiger Gegner unmittelbar vor ihm stand. Dann ein geschickter, eleganter Schritt zur Seite, und der Riese taumelte vorbei. Und in dem Augenblick schlug Peyton zu. Sein Schwert krachte gegen den Helm, und er glaubte das Metall splittern zu hören. Und der Hüne tanzte tollpatschig auf Füßen, die ihm den Dienst versagten, drehte sich herum und krachte zu Boden wie ein alter Ofen, der umgestürzt wird. Das Schwert flog weg, und der Schild rollte in den Sand der Arena. Da lag er jetzt in seiner Rüstung und versuchte nicht einmal mehr aufzustehen. Brüllen und Schreie, Ratschläge aus allen Logen, aus den Sitzreihen dahinter. Er stand jetzt ganz dicht neben dem gefallenen Riesen. Er konnte seinen tiefen Atem hören, Atem, der pfeifend ging. Peyton setzte ihm den eisernen Stiefel in den Nacken und drückte
ihn nieder. Dann stützte er sich auf sein Schwert, dessen Spitze sich in den Sand der Arena gebohrt hatte, und verschränkte die Arme auf dem Heft. Eine noble Pose. Und jetzt mußte er zu General Argyles Loge hinübersehen. Mußte sehen, was die Menge verlangte. Kein Zweifel, was die Menge verlangte. Der Mob hob die Fäuste mit Daumen, die nach unten zeigten. Argyle, in gebieterischer Pose, tat es ihnen gleich. Daumen nach unten, so wie es früher einmal in jenem anderen Zirkus Maximus gewesen war. Thora saß neben Argyle. Sie hielt nicht die Daumen nach unten. Ihre schlanken, bleichen Hände waren ineinander verkrampft. Sie starrte Peyton an, lächelte verängstigt. Er sollte ihn also kaltblütig töten. Niemand tat das gern. Aber hier galt das Gesetz des Dschungels. Töten oder getötet werden. Peyton setzte seine Schwertspitze auf den Kettenpanzer und drückte zu, und das Schwert bohrte sich durch die Kettenglieder und in das Weiche, das darunter lag. Rotes Blut sprudelte wie ein Brunnen. Brüllen, Beifall. So gefiel es denen im Stadion, in den Logen und in den höchsten Reihen. Peyton furchte die Stirn hinter seinem Visier. Wer war dieser Mann, den er hatte töten müssen? Impulsiv stieß er mit der Fußspitze an das Visier, so daß es sich öffnete.
Willie! Peyton ließ sein Schwert fallen. Jetzt war er auf den Knien, auf beiden Knien. Der Sand preßte dagegen. Er klappte das eigene Visier hoch und starrte sein Opfer an. Willies breites, dunkles Gesicht war eigenartig blutlos. Peyton spürte, wie sich ein Nebel über sie beide senkte, Nebel, der benommen machte, blendete und betäubte. »Willie! Um Gottes willen!« Der Mund des Todgeweihten arbeitete. Er brachte noch Worte zustande. »Ich wollte nicht – konnte nicht –« Und dann veränderte sich das Gesicht plötzlich. Jetzt war es nicht mehr sanft oder verletzt oder irgend etwas. Einfach starr. Ganz friedlich. So sieht das Gesicht eines Freundes aus, wenn man ihn umgebracht hat. Leg deinen Finger auf das Gesicht. Schließe diese starren, toten Augen. Blut an deinem Handschuh. Blut deines Freundes. Du hast Willie Burgoyne getötet, weil er dich nicht töten wollte.
16 Aber ... Schnell, auf die Beine! Pack dein Schwert! Da kommen andere Leute. Zirkuswärter kommen herein, in Clownkostümen, rot, weiß und grün, mit Spitzmützen und weiß gepuderten Gesichtern, Grinsen, das man ihnen auf den Mund gemalt hat. Sie bringen Haken, um Willie aus dem Sand zu zerren, dorthin, wo man totes Fleisch hinwirft. Laß sie nicht! Wirble dein Schwert, das vom Blut so rot und röter ist als ihr aufgemaltes Grinsen. »Verschwindet hier, ihr Ratten!« Wirble es herum! Greif sie an! »Laßt die Finger von ihm! Niemand rührt die Leiche an!« Sie rennen vor dir weg. Sie rennen schnell und komisch, spielen Clowns, damit man sie belacht. Und man belacht sie. Jeder im weiten Rund der Arena lacht; aber diese Clowns fühlen sich gar nicht komisch dabei, nicht, wenn du mit deinem Schwert hinter ihnen herläufst. Ganz plötzlich haben sie jeden Sinn für Humor verloren. Sie stürzen sich in den dunklen Eingang und sind mit ihren Haken verschwunden, mit den Haken, mit denen sie Willie wegziehen wollten.
Und jetzt – was ist das, was soll das Gebrüll jetzt? Dreh dich um und sieh nach, Blacky Peyton! Die Clowns sind geflohen, aber etwas anderes kommt herein. Hör zu! Uaaah! Was, zum Teufel, macht diesen Lärm? Da ist es, und was für ein Scheusal! Du hast nur Bilder von solchen Bestien gesehen, ein paar Filme, und Geschichten hast du gehört. Ein Gorilla. Groß, mit mächtigen Muskelsträngen, finster, auf ganz entfernte, sehr entfernte Art etwas wie Willie. Dunkles Gesicht wie Willie. Breit wie Willie. Vielleicht hätte dieses finstere, haarige Ding einmal dein Freund werden können, diese Karikatur dessen, was der Mensch vielleicht einmal war, ehe er Mensch wurde. Wenn man euch eine Chance gegeben hätte, dir und ihm, dann hättet ihr Freunde werden und einander sagen können, was euch quält. Aber diese Chance gibt es nicht. Du kannst dir vorstellen, wie sie ihn auf diesen Augenblick vorbereitet haben. Im Käfig eingesperrt, hilflos und gequält, bis heiße Wut in ihm loderte, ein brennender Drang, mit diesen Händen, mit allen vier Händen, jeden Menschen, jeden beliebigen Menschen zu packen und ihm all diese sinnlose Qual zurückzuzahlen. Und da kommt er jetzt auf dich zu, kommt auf allen Vieren, und seine mächtigen, zotteligen Arme drücken
die verhornten Knöchel in den Sand. Jetzt ist er ganz nahe und ist aufgesprungen, steht auf seinen kurzen, gebogenen Beinen. Seine Fäuste trommeln auf seinen mächtigen Brustkasten, seinen Brustkasten, der ohne ein einziges Härchen ist und so hart wie Holz. Sein großes Dämonengesicht mit dem Fell, das vor Wut gesträubt ist, öffnet sich und zeigt dir seine Zähne, seine Fänge, die weiß in der schwarzen Höhle seines Mundes stehen. Und da kommt er. Gorillas werden nicht bösartig geboren. Wieviele Monate mochte dieser hier eingekerkert gewesen sein, während man ihn quälte? Er will dich packen. Kannst du es ihm verübeln? Du bist ein Mensch, Blacky. Für ihn bist du stellvertretend für die ganze Rasse seiner Feinde. Und da kommt er. Hoch den Schild jetzt, bereit das Schwert! Du kämpfst um dein Leben –. Jetzt! Herrgott! So schnell ist das vorbei und so einfach! Hat der Gorilla dich umgebracht, ehe du ihn getötet hast? Nein, du stehst immer noch, und tote Männer stehen nicht – sie liegen im Sand, und ihre Gesichter sind blutlos. Nein, der Gorilla ist es, der am Boden liegt. Dort liegt er, tot im Sand, vielleicht ein Dutzend Meter von Willie entfernt. Und dein Schwert hat ihn ganz durchbohrt. Glück. Glück für wen? Der Gorilla war auf dich
zugekommen, hatte dir einen Schlag zugedacht, der dich trotz deiner Rüstung vernichtet hätte. Aber du hast dich geduckt, und er hat versucht, dich zu umfassen. Und als er dich umfaßte, hat er sich selbst dein Schwert in die Rippen getrieben. Genau zwischen die Rippen hat ihn deine Schwertspitze getroffen. Gorillas haben dreizehn Rippenpaare statt zwölf. Deine eigenen Rippen hat dein Panzer gerettet, obwohl du seine Umarmung immer noch spürst. Und dort liegt der Gorilla, wieder ein dunkles, totes Gesicht, und das ganze Stadion heult und brüllt und amüsiert sich. Dieser glückliche, glückliche, unvergeßliche Tag im Zirkus Maximus! Ein neues Hurrah für Blacky Peyton, der eine so großartige Show liefert! Zwei zu Null für Blacky Peyton. Und jetzt tritt näher, bück dich, zieh dein Schwert heraus! Schließe dem armen Gorilla die Augen, so wie du Willies Augen geschlossen hast ... Nein, dafür ist jetzt keine Zeit – jetzt kommt schon der nächste Gang auf der Speisekarte. Nein, nicht einer, mehrere. Eine mausgraue Herde von Schweinen. Schweine? Willie sprach von ihnen vor einer kurzen Weile, als er noch sprechen konnte. Das sind die Peccaris, mit denen Willie glaubte, kämpfen zu müssen. Peccaris aus den Tropen. Hier kommen sie. Schlechte Medizin, hatte Willie gesagt. Sie bohren ihre spitzen Hauer in einen, reißen dich
herunter und machen sich ans Werk. Sie schälen dich aus deiner Rüstung wie einen Hummer und fressen dich auf. Hier sind sie. Schnell! Tu das, was Willie vorhatte! Stell dich bereit! Beug die Knie! Jetzt sind sie vor dir, zwölf oder dreizehn insgesamt. Spring, Blacky! Hoch in die Luft, der Sonne entgegen, und sie sind unter dir vorbeigerannt, und du bist wieder hinter ihnen, drehst dich um und rennst. Mit drei Schlägen erwischst du drei. Und sie ziehen sich zurück, wenden und kommen wieder. Tapfere Schweine, tapfer wie Löwen. Spring! Wieder herunter, wieder auf sie los! Töte zwei! Schlag zu! Wie raffiniert sie sind, wie sie stehen bleiben und überlegen. Grausam und tödlich, aber raffiniert. Wenn sie dich nicht mit einem Ansturm unterpflügen, umringen sie dich. Da kommen sie wieder! Greif du sie selbst dieses Mal an! Spring über sie hinweg! Fang an zu töten! Du kannst zwei, drei, vier töten, ehe sie an deinen Beinschienen zerren. Sie sind leicht zu töten, wenn es dir egal ist, ob du selbst dabei getötet wirst. Schlag zu, steche, haue –. Und was ist das? Alle liegen im Sand. Hier und da verstreut, alle dreizehn. Eines ist in zwei Hälften geschlagen worden – damit sieht's aus wie vierzehn statt dreizehn. Und alles in neunzig Sekunden erle-
digt. Und hör doch, wie all diese Zirkusfanatiker brüllen und toben! Und was kommt jetzt? Vielleicht ein Löwe, der König der Tiere? Oder ein Tiger, ein Tiger, der sechs Wochen nichts mehr gefressen hat, Diät gehalten hat und jetzt geradezu danach lechzt, einen Bissen von dir zu nehmen. Schickt einen Tiger, schickt einen Löwen! Vielleicht kannst du ihm zuerst einen Dorn aus dem Fuß ziehen, selbst wenn du ihn vorher selbst hineinstecken mußt. Falsch geraten, Blacky! Kein Tiger, kein Löwe. Sie ehren dich heute wirklich. Einen Elefanten schicken sie gegen dich aus! Es ist kein schrecklich großer Elefant. Nicht so groß wie der, den du in der Parade letzte Woche geritten hast. Und keine Gondel, keine Gurte, keine Stoßzähne. Aber grausame Augen hat er. Das erstemal, daß du grausame Augen im Kopf eines Elefanten siehst. Du hast von dem da reden hören. Man hat ihn abgerichtet, einen Menschen niederzustoßen und auf ihm zu knien. Spektakulär, was? Dieser Mob, der sich die Kehle herausbrüllt, wird Spaß daran haben. Warum wegrennen oder sich verstecken? Du bist hier, um zu kämpfen, zu töten und am Ende getötet zu werden. Das ist Argyles Plan, und seine Pläne werden gewöhnlich durchgeführt. Bleib stehen, wo du bist, und bring's hinter dich!
Rollend wie ein Schiff in mittelschwerer See kommt der Elefant mit den grausamen Augen auf dich zu. Aber nicht auf dich; er bleibt neben Willies Leiche stehen. Sein Rüssel streckt sich Willie entgegen. Du hörst ihn. Schnuff, schnuff, schnuff! »Laß ihn in Ruhe, du!« Er wird sich auf Willie knien. Renne auf den großen Fleischberg zu! Hoch kommt sein Rüssel. Schlag zu, so fest du kannst! Schlag zu, so, wie du einen Ball über das Spielfeld treiben würdest. So! Hunderte von Muskeln im Rüssel eines Elefanten, aber keine Knochen. Und du hast ihm den Rüssel mit einem einzigen Schlag abgehauen. Der Elefant ist wieder auf den Füßen und hat Willie vergessen. Blut spritzt. Spritzt auf dich. Und er steht da und stirbt. Jetzt ist er wieder auf den Knien, aber nicht auf Willie; er bricht einfach zusammen. Er stirbt. Das Blut strömt aus ihm wie Wasser aus einem Schlauch. Bei Gott, Blacky Peyton, du hast mit dem Schwert einen Elefanten getötet! Langsam, schwerfällig sinkt er zur Seite. Seine großen, dicken Beine richten sich gerade. Seine grausamen Augen sind jetzt glasig, fallen zu, und er sackt zusammen, die ganzen zehn- oder zwölftausend Pfund. Ohne Rüssel sieht er komisch aus. Nicht ko-
misch eigentlich – eigenartig wäre besser. Und du hast ihn getötet. Du hast den Elefanten, die dreizehn Peccaris, den Gorilla getötet – oh, ja, und vergiß es nicht – du hast Willie Burgoyne getötet! Zähl sie zusammen! Sechzehn zu Null für Blacky Peyton! Und die Menge hört nicht auf zu toben. Jetzt betäubt dich der Lärm. Sie winken. Schau, die Leute haben alle die Hände hoch, Hände oben, Handflächen nach vorne, wie Verkehrspolizisten in jenen alten, uralten Tagen. Das ist das Gnadenzeichen. Gnade, winken sie. General Argyle kann dich nicht töten lassen. Diese Leute werden nicht zulassen, daß er dich tötet. Argyle hört und erkennt die Stimme des Volkes, selbst wenn es nicht alles Flieger sind. Der Zirkus Maximus ist der einzige Ort auf der Welt, wo die Stimme des Volkes die Stimme eines harten, grausamen, blutgierigen Gottes ist. Schau doch, Blacky! Argyle hält auch seine Hand hoch, um Gnade anzudeuten. Nicht, daß er es gern tut – aber er muß. Und plötzlich Schweigen. Du hörst und spürst das Schweigen. Und von irgendwo ein harter, blendender Strahl, der dich erfaßt hat. Fernsehen. Und jetzt bist du zwanzig Meter groß, in einem nebelhaften Kraftfeld, hast eine Stimme von hundertfacher Lautstärke.
Du sollst etwas sagen? Nun, dann sag es und mach es gut, Blacky Peyton! Wirf deinen Schild weg! Es klirrt. Wirf dein Schwert weg! Es glitzert und fliegt. Weg mit den eisernen Handschuhen! Hoch das Visier! Du hast etwas zu sagen. »Dank! Dank euch – aber wofür?« Das haben sie gehört. Sie sind stumm. Benommen. Lauschen. »Ihr hättet mich töten sollen, als ihr eine Chance hattet. Ihr habt mich herausgeschickt, um meinen Freund zu töten, ohne daß ich es wußte.« Deute auf Willie, der im Sand liegt und für immer stumm ist! »Ihr habt mich dazu gebracht, ihn zu töten. Aber sein Tod wird euer Tod sein! Hier stehe ich, immer noch lebend. Ich bin immer noch euer Feind, und Gott soll jeden einzelnen von euch verdammen!« Das Schweigen. Und all die Leute lauschen. »Ich bin ein Feind des Zirkus Maximus. Ich bin der Feind der Flieger, die ihn führen und alles andere regieren. Ich bin der Feind eines jeden, der sich vor den Fliegern beugt. Hört mir zu, ihr Leute, die ihr hierhergekommen seid, um euch zu amüsieren! Wenn man euch zwingen würde, euch dieses Schauspiel gegen euren Willen anzusehen, würdet ihr Mut brauchen, um zuzusehen. Aber da ihr es sehen wollt, seid ihr ein Haufen Feiglinge!«
Eine Pause. »Gibt es keinen, der etwas zurückruft? All right. Und jetzt werde ich hier weggehen. Haltet mich doch auf, wenn ihr es wagt! Ich bin ein Killer, und das wißt ihr alle! Vergeßt es nicht! Und der erste, der Manns genug ist, sich mir in den Weg zu stellen, wird das am eigenen Leib erleben!« Dann, immer noch das Schweigen, wie Sumpfwasser, das sich über deinem Kopf schließt. Geh auf den Ausgang zu, Blacky, den Ausgang, der so weit von dir entfernt ist, vorbei an den Kadavern im Sand. Deine Füße sind jetzt in den eisernen Schuhen nicht mehr leicht; sie sind so schwer wie dein Herz. Vielleicht schießt dich irgendein Flieger in den Rücken, wenn du hinausgehst. Und was macht es schon aus?
17 Als Peyton in die Garderobe schlurfte, erhob Opa sich von einer Bank und kam auf ihn zu. Peyton wehrte ihn ab. »Rühr mich nicht an, Opa! Du wirst bloß schmutzig, wenn du mich anfaßt!« »Ich habe es gesehen, Blacky!« sagte Opa schnell. »Du hast nicht gewußt, daß es Willie war. Ich habe es auch nicht gewußt. Erst als –« »Was für einen Unterschied macht es denn schon, außer für Willie und dich und mich?« Peyton schnallte seinen Helm ab und warf ihn klirrend in die Ecke. Dann nahm er einen Krug Wasser vom Garderobentisch und schüttete sich den Inhalt über den Kopf. »Willie hat auch nicht gewußt, daß es Blacky Peyton war. Das weiß ich ganz bestimmt. Aber er hat sich zurückgehalten, weil ihm ein Fremder gegenüberstand – glaubte er wenigstens –, der ihm nichts zuleide getan hatte. Und ich marschierte einfach los, um einen Fremden umzubringen. Das war der Unterschied.« Peyton räusperte sich. »Der Unterschied zwischen einem Mann und einer Ratte.« »Du bist keine Ratte«, sagte Opa. »Komm, laß dir helfen, das Blech auszuziehen!« »Komm mir nicht zu nahe, sage ich!« Peyton riß
den Verschluß seines Lederhemdes auf und schleuderte es von sich. Es klirrte gegen die Wand. »Ich habe dir noch mehr zu sagen. Hör zu, vielleicht tu ich dir dann nicht mehr so verdammt leid!« »Zum Teufel, Blacky, du tust mir nicht leid, aber –« »Ich bin mit dir gegangen, um den Chef der Widerstandsgruppe zu sehen«, sagte Peyton. »Du bist hinter mir gestanden und hattest ein Messer in der Hand, als ich mich euch anschloß. Dabei hatte ich einen Verrat vor. Ich habe mir zurechtgelegt, daß ich im Zirkus Maximus eine große Schau liefern und dann bei den Fliegern ein großer Mann werden würde. Ich wollte auf beiden Schultern tragen und herausfinden, was lukrativer wäre.« Er sah Opa an. »Irgend was zu sagen?« Opa sagte nichts. Nur sein Mund bewegte sich. »Weißt du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, daß ich eine Ratte bin?« »Ich sehe, daß du dich für uns entschlossen hast«, sagte Opa. »Ich weiß, daß das stimmt, sonst würdest du das, was du jetzt gesagt hast, nicht zugeben und sonst hättest du auch nicht alle Flieger auf der ganzen Welt aufgefordert, auf dich loszugehen.« Peyton riß die eisernen Schuhe und Beinschienen herunter. Jetzt war er nur noch mit Shorts bekleidet. Er schnappte sich ein Handtuch und wischte sich den Schweiß ab.
»Hör zu, Opa!« sagte er. »Mit diesem Gerede verschwenden wir bloß Zeit. Ich spüre, daß es Ärger geben wird. Bengali wird auch etwas abkriegen. Ich will mein Bestes tun, um ihn freizukriegen. Aber du bist bis jetzt noch außer Verdacht – bleib so!« »Ich habe keine Angst!« fuhr Opa ihn mit gesträubtem Bart an. Peyton zog sich die Hosen an. »Nein, das hast du nicht. Aber du kannst deinen Freunden viel mehr nützen, wenn man dich nicht einlocht.« Er zog sein Hemd an. »Ich sage immer noch, daß ich eine Ratte bin, aber ich habe das Blut eines Mannes in mir.« Er stieg in seine Schuhe. »Mit diesen Fliegern nehme ich es immer noch auf. Die sind nicht einmal Ratten, die sind nur Küchenschaben.« Und bei diesen Worten ging die Tür auf. »Oh!« sagte Argyle ausdruckslos. »Küchenschaben sind wir also?« Er trat ein. Hinter ihm kamen vier weitere Flieger, hünenhafte Gestalten, alle mit finsterem Blick. Hinter ihnen Bengali mit ernster Miene. »Verschwinde hier!« befahl Argyle. »Tu das, Opa!« schloß Peyton sich an. Opa ging. Einer der Flieger schloß die Tür hinter ihm. Der Raum war mit sechs Personen ziemlich überfüllt. »Küchenschaben sind wir also?« fragte Argyle Peyton erneut.
Peyton zeigte die Zähne. »Natürlich seid ihr das. Und alle Flügel der Welt machen keine Schmetterlinge aus euch.« Einer der Flieger murmelte etwas und ballte die Faust. Argyle machte eine abwehrende Handbewegung. »Peyton«, sagte er dann, »ich habe Sie vor der Show gefragt, ob Sie Bengali kennen.« »Und ich habe Ihnen gesagt, daß ich ihn flüchtig kenne. Er war letzte Woche in Ihrer Loge.« »Ich habe Sie gefragt, ob Sie ihn seitdem gesehen haben.« Bengali sah Peyton an. Peyton schnitt eine Grimasse und wehrte dann angewidert ab. »Warum sollte ich ihn denn gesehen haben? Ich rede nur mit Männern, nicht mit Blümchen. Das einzige Gedicht, das ich von ihm gehört habe, hat auch nichts getaugt.« Einer der Flieger grinste. »Holt den anderen Mann herein!« befahl Argyle. Der Flieger, der gegrinst hatte, öffnete die Tür und winkte. Der hakennasige alte Matrose, den Peyton in Tonys Bar im Keller kennengelernt hatte, kam herein. Er trug Handschellen und wirkte verängstigt und verstört, als warte er jeden Augenblick darauf, daß ihn jemand schlüge. Argyle schnippte mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit des Alten auf sich zu ziehen.
»Sehen Sie ihn sich an!« sagte Argyle und deutete auf Peyton. »Ist das der Mann, von dem Sie behaupten, daß er im Keller mit Ihnen getrunken hat?« Der Seemann musterte Peyton. »Ja, Sir«, murmelte er. »Und er hat gegen die Flieger gehetzt?« »Ja, Sir.« Argyle deutete auf Bengali. »Und was ist mit dem da?« Der Seemann studierte Bengali und schüttelte dann den Kopf. »Von ihm kann ich nichts sagen, Sir.« »Ist das nicht der Mann, der manchmal in dem Büro hinter der Bar sitzt?« »Das kann ich nicht sagen, Sir. Ich war nie in dem Büro.« »All right, verschwinde hier!« sagte Argyle. »Sie auch, Bengali!« Als die Tür sich öffnete, hob er die Stimme. »Haltet diese zwei Männer fest. Mit denen sind wir noch nicht fertig.« Bengali und der Seemann waren gegangen. Argyle nickte, und die Tür schloß sich wieder. »Peyton«, sagte Argyle, »Sie sind da in einen ganz komischen Fall verwickelt. Heute habe ich versucht, Ihnen eine Chance zu geben, sich davon loszumachen, aber Sie wollten die Chance nicht haben. Dann habe ich versucht, Ihnen in der Show einen Ausweg zu zeigen, aber –«
»Natürlich, natürlich!« unterbrach ihn Peyton. »Bloß daß ich alles umgebracht habe, was Sie mir entgegengeschickt haben. Und die Menge hat mir mein Leben geschenkt. Man kann mich jetzt nicht töten, stimmt's?« »Stimmt!« pflichtete Argyle ihm bei. »Aber halb umbringen kann man Sie. Deshalb habe ich ein Abwrack-Kommando mitgebracht.« Er setzte sich auf die Kante des Ankleidetisches. Dann steckte er sich eine Zigarette unter den Schnurrbart und schnippte sein diamantenbesetztes Feuerzeug an. Die anderen Flieger drängten sich um Peyton. »Sie werden jetzt reden!« sagte Argyle zu Peyton. »Sonst –« eine drohende Handbewegung. »Ich rede nicht mehr«, sagte Peyton. »Und ganz besonders nicht mit Küchenschaben. Also sollten Sie Ihr ›sonst‹ ausprobieren.« Argyle blies den Rauch von sich und zuckte die Achseln. Zwei der Flieger holten gleichzeitig mit den Fäusten aus. Er hatte damit gerechnet. Blitzschnell duckte er sich. Beide Schläge verfehlten ihr Ziel. Peyton traf einen der Angreifer in den Leib, versetzte dem anderen einen Tritt gegen das Schienbein und glitt zwischen ihnen durch. Aber es war nicht genügend Platz, um sich freizu-
machen. Ein dritter Mann war über ihm, und Peytons Linke zuckte vor wie der Kopf einer zuschlagenden Schlange. Seine Knöchel fetzten dem Mann die Unterlippe auf, und er ging mit einem grunzenden Geräusch zu Boden. Sofort stürzte Peyton sich auf den vierten. Seine Fäuste bewegten sich so schnell, daß man ihnen nicht folgen konnte. Ein wahrer Trommelwirbel von Schlägen ging auf ihn nieder; zwei ins Gesicht, zwei in den Leib, und der vierte Mann brach über dem dritten zusammen, der gerade versuchte, sich wieder aufzurappeln. Jetzt stand Peyton in einer Ecke und lachte. Er war wirklich froh, daß der Kampf angefangen hatte. »Ich hab früher einmal angeboten, gegen zwei Flieger gleichzeitig zu kämpfen«, sagte er. »Vier entsprechen eher meiner Gewichtsklasse. Oder fünf, wenn Argyle mitmachen möchte.« »Vier sollten reichen«, meinte Argyle gleichgültig. Die beiden Männer, die zu Boden gegangen waren, hatten sich jetzt hochgerappelt. Alle vier gingen gleichzeitig auf Peyton los. Er traf den ersten am Kinn, den zweiten zweimal im Gesicht und setzte dann den dritten auf den Boden. Wieder waren zwei unten, einer über dem anderen, aber die anderen beiden schlugen auf Peyton ein. Er brauchte Bewegungsspielraum. Also hob er die Arme, duckte sich darunter wie ein Mann, der sich vor fallenden Steinen schützen will.
Beide Flieger schlugen auf seinen Kopf und sein Gesicht ein. Unter dem Gewicht der Schläge sank er zusammen und stürzte. Nase und Wangen waren mit Blut verschmiert, aber seine weißen Zähne blitzten. »Das macht Spaß!« knurrte er, wälzte sich plötzlich herum und ging auf die Knie. Alle vier waren sofort über ihm und traten und schlugen. General Argyle saß immer noch auf dem Tischrand und paffte an seiner Zigarette. Wieder ging Peyton zu Boden. »Er hat genug«, sagte Argyle leise. Die vier Flieger richteten sich auf und traten zurück. Peyton lag mit dem Gesicht nach unten vor ihren Füßen. Benommen, aber entschlossen stemmte er sich mühsam auf Hände und Knie, riß sich dann zusammen und lehnte wieder den Rücken gegen die Wand. Sein Gesicht und seine Knöchel waren blutbeschmiert. »Wer sagt denn, daß ich genug habe?« murmelte er. »Wir sind ja noch nicht einmal warm geworden.« Dort an der Wand, auf der anderen Seite des Raumes, hingen Waffen, ein Schwert und ein Dolch. Wenn er die bekommen konnte – »Peyton«, sagte Argyle mit sanfter Stimme, »Sie werden uns sagen, wer unten im Keller die Verschwörung leitet.« »Ich werde Ihnen bloß sagen, daß es falsch war, sie Küchenschaben zu nennen«, stieß Peyton mühsam hervor.
»So?« meinte Argyle und hob die Brauen. »Küchenschaben sind Aristokraten, verglichen mit Fliegern, die einen Kampf nur dann annehmen, wenn die Chancen fünf zu eins stehen.« Argyle nahm die Zigarette wieder in den Mund. »Ich habe mich geirrt«, sagte er sanft, beinahe gelangweilt. »Er hat noch nicht genug.« Sofort stürzten sich die vier wieder auf Peyton. Alle waren größer als er und versperrten ihm jetzt die Sicht. Ihre Schläge schmetterten wie die Schläge eines Dampfhammers auf ihn ein, betäubend, krachend. Peyton hörte, wie der Atem seiner Angreifer ging. Er konnte nicht gegen alle gleichzeitig kämpfen, aber er tat sein Bestes. Mit mörderischer Freude hörte er, wie einer der Männer stöhnte, als ein Schlag ihn traf, hörte, wie ein anderer schmerzerfüllt aufschrie. Aber der Übermacht mußte er erliegen. Eine Minute war verstrichen, wieder eine. Eine Minute, die länger als die Ewigkeit dauerte. Von irgendwo aus der Ferne hörte er General Argyles Befehl: »Laßt ihn!«, und die vier Flieger zogen sich zurück. Er brach zusammen. Er wußte, daß er nur deswegen auf den Beinen geblieben war, weil diese Fäuste ihn gar nicht hatten zu Boden gehen lassen. Er brach schwer zusammen. Ihm war, als müßten seine Gelenke aus dem Leim gehen. Einer der Flieger fuhr mit dem Stiefel unter Peyton,
so daß sein Gesicht oben war. Argyle kam auf ihn zu und stand breitbeinig über ihm. Er wirkte gigantisch, beinahe grotesk. »Werden Sie jetzt reden, Peyton?« Das war Argyles Stimme, aus weiter Ferne, als käme sie über ein defektes Telefon. Peyton schüttelte den Kopf. »Sie haben richtig geraten, daß ich Sie nicht umbringen werde, Peyton. Schließlich hat das Volk Ihnen draußen im Zirkus das Leben geschenkt. Aber Sie werden mir nicht entkommen. Seien Sie jetzt vernünftig. Sagen Sie mir, was ich wissen will, und ich schikke Sie ins Krankenhaus, damit man Sie zusammenflickt. Nachher leichte Haft. Anständige Behandlung.« Peytons zerschundene Lippen mühten sich, Worte zu formen. »Und – wenn ich – nicht –« Argyle ballte die Faust und deutete mit dem Daumen nach unten. »Zurück in die Grube.« Die Grube. Dort wurde Atomit gemacht. Wenn Bengalis Widerstandsgruppe sich Atomit verschaffen konnte, dann würde vielleicht – »Zurück in die Grube«, wiederholte Argyle, »und noch weiter hinunter. Es gibt dort noch ein tieferes Loch. Wir stecken Gefangene hinein, die selbst für die Atomit-Arbeit zu zäh sind. Im Loch macht es keinen Spaß, Peyton. Einmal am Tag wirft man Essen hinun-
ter, und die Gefangenen prügeln sich darum. Kein Licht. Keine Betten. Das Pack dort unten baut Erz ab, aus dem man Inerton für die Atomit-Behälter und Motoren macht. Und wenn sie ihre Quote nicht heraufschicken, gibt es noch mehr Ärger. Verstehen Sie, was ich sage, Peyton?« Peyton schloß die Augen. »Dann fangen Sie an zu reden, sonst kommen Sie auch dorthin.« Peyton versuchte zu widersprechen, aber seine zerschlagenen Lippen versagten ihm den Dienst. Das einzige, was er noch zuwege brachte, war, die Zunge zwischen die Lippen zu schieben und ein unanständiges Geräusch von sich zu geben. Argyle wandte sich ab, um den Fliegern etwas zu sagen. In dem Augenblick erwachte irgendwo in Peytons zerschlagenem Körper ein Funken Kraft. Er packte die Ecke des Garderobentisches, stemmte sich hoch und versetzte Argyle einen Schlag. Argyle taumelte durch das Zimmer und prallte gegen die Wand. Peyton brach wieder zusammen, ohne daß jemand ihn getroffen hatte, und lag noch schlapper als zuvor da. Er konnte nichts sehen und nichts fühlen, hörte aber, wie ein Flieger sagte: »Jetzt ist er weg, Sir. Kalt wie eine Hundenase.« »Okay, hebt ihn auf!« befahl Argyle. »Jetzt kommt
er in die Grube und dann ins Loch unter der Grube.« Jetzt glaubte Peyton zu ahnen, daß sie ihn berührten, ihn hochhoben; aber sicher wußte er es nicht. Jedes Gefühl hatte ihn verlassen, und er lebte wie im Traum. Er träumte von der fliegenden Insel, träumte, wie er sie in tausend Stücke sprengte, mit einer Handvoll Atomit, die er geworfen hatte.
18 Das Loch unter der Grube war genauso schlimm, wie Argyle es beschrieben hatte, eher schlimmer. Es war ein weitgedehntes Labyrinth von Höhlen und Passagen, schwärzer als die Nacht des Alls ohne Sterne; bloß dann nicht, wenn ein Gesicht mit Grubenschein sich darin bewegte. Durch seine Tiefen schlurften die geschundenen, ausgemergelten Bewohner und tasteten nach Erdablagerungen, aus denen man Inerton machen konnte. Hier gab es keine Wärter, keine Disziplin. Sie bauten Erz ab und schickten es nach oben, weil sie mußten. Und wenn sie ihre Quote nicht erfüllten, so bedeutete das, daß sie nichts zu essen bekamen. Eine aus dem Felsen gehauene Kammer schloß sich an den Schacht an, der das Loch mit der Grube verband. Nichts bewegte sich, und kein Lichtstrahl erhellte das Dunkel, bis oben eine Falltür ächzte und gelbes Licht unten einen viereckigen Flecken auf den Boden zeichnete. »Hallo!« dröhnte eine Lautsprecherstimme. Die Schiebetür zu den Bergwerksgängen schob sich zur Seite, und ein schwach leuchtendes Gesicht stahl sich in die Kammer und blickte nach oben. »Was ist los?« fragte das Gesicht.
»Ihr habt gestern eine halbe Tonne zu wenig geliefert.« »Nun, wir können nicht –« »Spart es euch! Ich will hier keine Erklärungen haben. Ich sage euch bloß, daß ihr heute acht Tonnen liefern werdet. Sonst gibt's heute nichts zu essen.« »Aber –« »Ich hab doch gesagt, daß ich nichts hören will. Wir wollen hier keine Erklärungen, sondern mehr Inertonerz. Schön, ihr schickt also achteinhalb Tonnen, sonst kriegt ihr nicht bloß nichts zu essen, sondern noch eine Dosis Tränengas. Das ist alles. Wegtreten!« Die Falltür knallte zu, und der gelbe Lichtschein verschwand. Der Sprecher der Sträflinge kroch wieder in den Gang zurück, aus dem er gekommen war. Dort warteten seine Gefährten. Der Grubenschein von ihren Gesichtern und den bloßen Armen und Beinen erzeugte genug Beleuchtung, um einen rußgeschwärzten Felstunnel zu zeigen, in dem es ein paar Adern und Flecken gab, die wie schwarzes Blei aussahen. Die Sträflinge standen, gestützt auf ihre Pickel und Brecheisen, da und warteten. Der Sprecher berichtete, und Jammern erhob sich. »Nun, wir sind acht und können auch acht Tonnen pro Tag schaffen«, knurrte der Größte. »Aber sieben schaffen das nicht. Der Neue drückt sich; der, den sie im Korb runtergeschickt haben.«
Er deutete mit seiner Brechstange auf ein schwaches, phosphoreszierendes Leuchten – das Gesicht von Blacky Peyton. »Hör zu, Neuer!« sagte der große Sträfling mit scharfer Stimme. »Du steckst hier im gleichen Loch wie wir. Du kriegst das gleiche Essen, und du wirst die gleiche Arbeit tun. Und wenn du jetzt nicht anfängst, dir dein Essen zu verdienen, dann kannst du was erleben! Dann kriegst du eins mit dem Stiefel ab!« »Von euch?« fragte Peyton. »Das haben Fachleute schon getan, und es hat eine ganze Menge Fachleute gebraucht. Ihr Boys würdet das gar nicht schaffen. Ihr habt's doch probiert. Wißt ihr noch?« Sie wußten es noch. Als zum erstenmal nach Peytons Einlieferung Essen heruntergefallen war, hatte ihm das nichts bedeutet. Immer noch benommen, hatte er nicht an dem Kampf um das Essen teilgenommen; aber beim zweitenmal schon. Mit ein paar Schlägen hatte er in wenigen Sekunden den größten der Sträflinge zu Boden geschlagen, und den zweiten und dritten, die ihn angriffen, hatte er in die Ecke geworfen. Und dann hatte er die Führung übernommen. Zum erstenmal, seit die Bande im Loch sich erinnern konnte, waren die Lebensmittel ruhig und gleichmäßig verteilt worden. Jeder hatte die gleiche Portion bekommen. Nachher hatte es keinen Kampf
um das Essen mehr gegeben; einen Kampf, in dem die Stärksten am meisten und die Schwächsten bloß die Überreste erhielten. »Will's einer probieren?« fragte Blacky Peyton. »Du, Großer? Du oder zwei von den anderen?« Niemand nahm seine Einladung an. »Und ich hab bei der letzten Schicht genauso viel gegraben wie jeder von euch«, fügte Peyton hinzu. »Das ist eine Lüge!« »Wer hat mich einen Lügner genannt?« brauste Peyton auf. »Komm nur her und laß dich ansehen! Muß ein komisches Echo hier unten sein. Jedenfalls spreche ich die Wahrheit. Ich habe gewachsenes Inerton gefunden, das Zeug, aus dem sie die Behälter und die Isolierungen für Atomit machen.« »Wo?« fragte der Große. »Drüben in Tunnel elf.« »Tunnel elf«, wiederholte ein buckliger, kleiner Mann. »Aber dort ist doch die Decke eingestürzt und hat zwei umgebracht. Der Tunnel ist verhext.« »Um Himmels willen!« brummte Peyton. »Wir schreiben 1998, oder habt ihr das nicht gehört? Glaubt ihr denn an Gespenster? Sind euch die Flieger als Alptraum nicht genug?« »Gespenster oder nicht – jedenfalls geh ich nicht dorthin, wo wieder der Stollen einfallen kann«, verkündete der Große.
»Ich fühl mich hier nicht so wohl, als daß ich nicht hingehe«, erklärte Peyton. »Wo damals die Schachtdecke eingefallen ist, liegt eine ganze Schicht Inerton. Ich habe in den letzten fünf, sechs Tagen genügend davon freigelegt, um uns alle aus diesem Loch rauszuholen.« Sie drängten sich jetzt um ihn, und ihre schwach leuchtenden Gesichter starrten ihn an. Sie fragten. Und dann bellte sie der Große an. »Mit diesem Geschwätz verschwenden wir bloß unsere Zeit!« sagte er. »Damit bleiben wir noch weiter hinter unserer Quote zurück. Dann kriegen wir gar nichts mehr zu essen und noch eine Ladung Tränengas, damit wir schlafen können.« »Tränengas?« wiederholte Peyton. »Stimmt! Der Wärter oben hat Tränengas, oder?« »Klar. Wir haben schon mal welches bekommen.« »Gut!« nickte Peyton. »Sehr gut!« Er tastete sich zu einer kleinen Nische in der Felswand und holte etwas hervor. Die anderen drängten sich wieder um ihn, und ihre Gesichter erhellten, was Peyton in der Hand hielt. Es sah wie ein großes rundes Megaphon aus, vielleicht zwei Meter lang und an der dicksten Stelle etwa sechzig Zentimeter messend; dann verjüngte es sich bis auf Fingerstärke. Es war stumpfschwarz, und Peyton mußte einige Mühe aufwenden, um es hochzuheben.
»Das Ding ist aus Inerton, was?« fragte ein Sträfling. »Wir könnten es zerbrechen und unter die Felsbrocken mischen. Damit hätten wir genug Erz, um –« »Keiner zerbricht das, wenn er nicht will, daß ich ihn zerbreche!« warnte Peyton. »Das ist eine Flugmaschine, Leute. Man könnte es eine selbstgemachte Rakete nennen. Ziemlich primitiv, aber aus Inerton. Mit einer Atomitladung kann das fliegen.« »Wer, zum Teufel, hat denn Atomit?« feixte der Große. »Ich zum Beispiel.« Aus der Tasche seiner verschmutzten Hose holte Peyton einen dunklen Zylinder, der ebenfalls aus Inerton bestand, und hielt ihn in der Hand. Der Zylinder war etwa so groß wie eine Revolverpatrone. Die anderen Sträflinge huschten davon. »Sei mit dem Zeug vorsichtig!« bettelte einer. »Ich weiß schon, was ich tue«, sagte Peyton. »Als ich hierherkam, hab' ich genau Bescheid gewußt und mich die ganze Zeit drauf vorbereitet. Kommt, macht nur Stielaugen und glotzt!« »Wovon redest du denn?« fragte der kleine Bucklige. »Mir war es ganz recht, daß man mich hier eingeliefert hat«, meinte Peyton. »Ich wollte mir Inerton und Atomit verschaffen und hier rausholen.« »Er ist verrückt!« knurrte der Große. »Die haben
ihm das Gehirn durcheinandergebracht, ehe sie ihn auf der Bahre hier runtertrugen.« »Auf einer Bahre bin ich schon gekommen«, sagte Peyton. »Aber als man mich an einem Lager vorbeitrug, hab ich mir diese Atomitkapsel beschafft. Jetzt paßt auf!« Er schob den kleinen Zylinder in das dünne obere Ende seines primitiven Konus. »Jetzt kann sie fliegen«, verkündete er. »Wer kommt mit mir hinauf? Ich habe diesen Ausbruch geplant, seit man mich hier eingeliefert hat.« »Nichts zu machen!« sagte einer. »Wir hätten keine Chance«, meinte ein anderer. »Die bringen uns um.« »Wollt ihr ewig hier unten bleiben?« fragte Peyton. »Nein. Aber ...« »Ihr wollt wohl lieber wie die Würmer herumkriechen, als wie Männer etwas riskieren?« Keine Antwort, bloß allgemeine Unruhe. Peytons Grinsen leuchtete über sein fahles Gesicht. »Okay, dann geh ich allein hinauf. Ist sowieso besser, wenn man keinen mitschleifen muß.« Die anderen Sträflinge steckten ihre phosphoreszierenden Gesichter zusammen. Ein leises Murmeln war zu hören. Peyton, der etwas abseits stand, hob die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. »Ihr braucht nicht zu flüstern, Leute! Ihr wollt euch
jetzt bloß Mut machen, um mich anzuspringen. Vielleicht bildet ihr euch ein, ihr könnt dem Wärter oben sagen, ihr hättet einen Fluchtplan vereitelt. Dann kriegt ihr vielleicht eine kleine Belohnung. Stimmt's?« Schweigen, beschämtes, schuldbewußtes Schweigen. »Nun, versucht's lieber nicht!« warnte er. »Diese kleine Atomitpille ist von genügend Inerton umgeben, daß nichts passieren kann, wenn man vorsichtig damit umgeht. Aber wenn mich einer angreift, werf ich's weg. Und dann sind alle unsere Sorgen auf immer und ewig zu Ende.« Wieder zogen sie sich von ihm zurück, und ihre Gesichter wurden in der Dunkelheit klein. Peyton lachte. Dann schob er sich mit der Patrone und dem Konus zu der Tür, die in die Felskammer führte. Er öffnete sie, schob sich hindurch und schloß die Tür wieder hinter sich. Das Licht, das sein Gesicht ausstrahlte, reichte kaum, um zu sehen, aber er kam zurecht. Er stellte den Konus auf den Boden, richtete die Spitze auf den kaminartigen Schacht, wo er viele Meter über sich die Falltür vermutete. Dann nahm er die kleine Atomitpatrone in eine Hand und fuhr mit dem Daumennagel scharf über die Spitze. Im gleichen Augenblick schob er sie in das ›Mundstück‹ des Konus, das angekratzte Atomit-Ende nach unten, und preßte ein
Stück Inerton darauf. Er legte die Arme um den schlanken Hals des Konus. Ein zischendes Geräusch, wie entweichende Luft. Der Konus regte sich wie ein lebendes Wesen, begann sich zu erheben. Peyton klammerte sich mit aller Kraft daran. Er spürte die Falltür über sich, ehe er sie sah, zog den Kopf ein und ließ die Spitze des Konus die Klappe aufstoßen. Er war jetzt in einer gelben, engen Kammer. Als er zur Seite sprang, ließ er den Konus los und fiel, landete aber auf den Füßen. Ein Wärter stand verblüfft da. Der Konus traf die Decke und fiel wieder zu Boden. Im nächsten Augenblick stürzte auch der Wärter, denn Peytons Fäuste hatten in blitzschneller Folge sein Gesicht, seinen Magen und noch einmal seine Kinnspitze getroffen. Als der Mann zu Boden ging, beugte Peyton sich über ihn, schnallte seinen Gurt ab und riß ihn weg. Eine Pistole hing daran und ein paar runde Gegenstände an kleinen Haken: dünne Metallbehälter mit Tränengas. Peyton stand auf und trat an eine Sprechanlage. Ein Fußtritt, und sie fiel von der Wand. Jetzt war jeder Alarm unmöglich. Er schnallte sich den Gurt mit der Pistole und den Gasbomben um, griff nach dem Konus mit Inerton und ging schnell zu einer Schiebetür mit der Aufschrift DEKOMPRESSIONSKAMMER.
Drinnen schaltete er den Mechanismus ein und warf wie beim erstenmal seine Gefängniskleidung weg und begab sich in eine Duschkabine. Das heiße Wasser fühlte sich herrlich an, und er schrubbte sich kräftig ab. Die Dusche tat ihm gut. Dann wartete er, die Augen unverwandt auf die Uhr gerichtet, bis die Zeit um war. Nackt, nur mit dem Pistolengurt bekleidet und dem Konus in der Hand, ging er zur anderen Seite der Kammer. Er ließ eine Tränengasbombe fallen und schloß schnell die Schiebetür hinter sich. Allein im Korridor, lächelte er. Niemand konnte ihn verfolgen. Er ging zum Lift, der ihn in die nächste Etage bringen würde, und nahm sich die Zeit, eine weitere Sprechanlage zu zertrümmern. Dann drückte er den Signalknopf, und die Kabine öffnete sich vor ihm. Ein uniformierter Posten stieß einen Fluch aus, leistete aber keinen Widerstand, als Peyton die Waffe auf ihn richtete. »Komm raus und gib mir deine Uniform!« befahl Peyton. Der Mann gehorchte. Als er Kappe, Uniformrock, Stiefel und Hosen ablegte, riß Peyton sie ihm weg und warf sie in die Liftkabine. Er nahm den Konus und schob sich selbst in die Kabine. Dann schloß er die Tür hinter sich und jagte die Kabine in die Höhe. Während der Fahrt löste er die äußerste Schicht von dem Konus ab. Das Material war dünn genug,
um sich wie schwere Bleifolie biegen zu lassen. Er wand sich Inerton um die Waden und den Leib und paßte das Material seinen Körperumrissen an. Es wog ebenso schwer wie die Rüstung, die er als Gladiator getragen hatte. Dann zog er die Uniform und die Stiefel an. Uniformrock und Stiefel waren ihm etwas zu groß, und das Inerton trug dazu bei, einen etwas besseren Sitz vorzutäuschen. Jetzt brauchte er nur noch den arroganten Gang, um seine Verkleidung als Gefängniswärter zu vollenden. In der nächsten Dekompressionskammer fand er einen elektrischen Rasierapparat und einen Spiegel und rasierte sich. Wieder wartete er die entsprechende Zeit und fuhr dann weiter, nicht ohne erneut eine Tränengasbombe zu hinterlassen. Er fuhr mit dem Lift, passierte die Dekompressionskammer und stieg in den nächsten Lift. Und in jeder Kammer zerstörte er die Sprechanlage und hinterließ eine Tränengasbombe. Ein- oder zweimal begegneten ihm Wärter in den Korridoren und blickten auf, schienen aber nichts zu bemerken. Jetzt begann er sich etwas wohler zu fühlen. Die einzigen Wärter, die von seiner Flucht wußten, waren weit unter ihm, und die zerstörten Sprechanlagen hinderten sie daran, Alarm zu schlagen, und das Tränengas in den Dekompressionskammern machte eine Verfolgung unmöglich.
In der elften Etage trat er vor den Eingang eines Lastenaufzugs. Wärter und Kalfaktoren arbeiteten dort an einem schweren Lastwagen. Vorsichtig luden sie Metallkisten voll Inertonbehälter in die Gestelle auf der Ladebrücke. So angespannt vorsichtig waren sie und so auf ihre tödliche Last konzentriert, daß Peyton sich unbemerkt unter sie mischen konnte. Er half ihnen bei der Ladearbeit und konnte dabei ein paar Handvoll Patronen entwenden, die er in die Hosentasche steckte. Größere, etwa von der Größe von Salzstreuern und Bierflaschen, schob er unter den Uniformrock. Schließlich schlenderte er zu einem Lift, der ihn weiter nach oben tragen sollte. Am Ende hatte er Meereshöhe erreicht. Er spürte den Druckwechsel etwas, hatte aber keine Schwierigkeiten. Zwei Wärter gingen zu einer Schiebetür, über der stand: AUSGANG – NUR FÜR PERSONAL, als hätten sie für den heutigen Tag ihren Dienst beendet. Er schloß sich ihnen an. Ein Posten stand Wache und ließ sie mit einer gleichgültigen Handbewegung passieren. Er trat in eine kühle, sternübersäte Nacht hinaus. Peyton ging auf die U-Bahn-Station zu. Der Lautsprecher meldete: »U-Bahn nach New York ... U-Bahn nach New York ...« Er bestieg den ersten Zug, der anhielt.
19 In Tonys schäbiger Bar im Keller von New York stieß jemand Opa Hooker an und flüsterte ihm etwas zu. Opa ging zur Tür; er hielt einen Bierkrug in der Hand. In dem schwachen Lichtschimmer sah er einen Mann in Uniform. Opas alte Hand krampfte sich um den Griff des Bierkrugs, bereit, sofort zuzuschlagen. »Sie sind wohl der, der mich gesucht hat?« rief Opa. »Was soll das? Eine Festnahme? Sie können mir nichts vorwerfen.« »Wenn einer das behauptet, hat er immer ein schlechtes Gewissen«, sagte der Uniformierte und riß sich die tief in die Stirn gezogene Mütze herunter. Opa ließ den Bierkrug fallen. »Blacky, du verdammter Narr! Setz die Mütze wieder auf! Jeder Flieger und alle Spitzel der Stadt sind auf der Suche nach dir. Die wissen, daß du heute ausgebrochen bist, und Tonys Bar ist so voll von Spitzeln, daß man schon Angst haben muß, sie zeigen sich gegenseitig an.« Opa packte Peyton am Ärmel und zerrte ihn um das Haus herum. »Vorsichtig, Opa! Stoß mich nicht!« warnte ihn Peyton schnell. »Im Augenblick könnte das recht gefährlich werden.«
»Hörst du, ich bin ein ganz unwichtiger alter Knakker«, sagte Opa. »Niemand achtet auf mich und kommt mir in die Quere. Aber –« »Geh mit mir in das Büro zu Bengali«, sagte Peyton. »Er ist nicht da.« »Nicht da? Haben die ihn auch eingelocht?« »Das wollten sie. Aber er konnte fliehen, während sie dich in der Mache hatten. Komm, folge mir!« Opa huschte zwischen den Pfeilern und Säulen, die die Waldlandschaft des Kellers bildeten, davon. Peyton folgte ihm vorsichtig durch einen schmalen Gang. Wieder mußten sie sich zwischen Säulen hindurchzwängen. Peyton, der sich mit der Vorsicht eines Mannes bewegte, der den leibhaftigen Tod am Körper trägt, sah, daß einige der Stützpfeiler Markierungen aufwiesen, so, wie man in der Wildnis Bäume zeichnet. »Schnell, Blacky!« drängte Opa. »Nein, langsamer! Hör zu, wenn ich gegen einen dieser Pfosten stoße, dann fliegen wir beide und ein hübsches Stück von New York bis zur fliegenden Insel.« »Red keinen Unsinn!« sagte Opa, verlangsamte aber seine Schritte. Tiefer und tiefer drangen sie in das Labyrinth ein. Schließlich blieb Opa stehen und stieß einen eigenartigen Ruf aus, der wie der Schrei einer Eule klang. Kurz
darauf kam irgendwo aus dem Dunkel Antwort. Wieder huschte Opa weiter, dicht gefolgt von Peyton, und sie erreichten schließlich eine Senke zwischen den Säulen. Unten in dem Loch flackerte ein Licht. »Pssst!« sagte Opa verstohlen. »Ich bin's!« »Ich bin hier«, erwiderte die Stimme von Bengali. Er saß auf einer ausgefransten Decke im Graben. Ein kleines Feuer in einer Blechdose erhellte die Szene. Bengali war jetzt nicht mehr makellos elegant. Sein Haar war in Unordnung, seine Kleidung schmutzig, und auf seinem Schoß lag eine Pistole. Als Peyton sich zu ihm hinunterbeugte, sprang Bengali auf und griff nach Peytons Hand. »Das, was Sie getan haben, haben wir kaum zu hoffen gewagt«, sagte er. »Fassen Sie mich lieber nicht an!« riet ihm Peyton. »Meine ganze Uniform ist voll mit sehr gefährlichen Eiern.« Vorsichtig ließ er sich hinunter und setzte sich auf den Boden. »Wie sind Sie aus dem Gefängnis entflohen?« wollte Bengali wissen. »Das ist eine sehr lange Geschichte. Die erzähle ich Ihnen nächste Woche oder nächstes Jahr, wenn wir dann noch leben. Hören Sie, Bengali, glauben Sie immer noch, daß Sie gegen die Flieger eine Chance haben?«
»Die Chancen stehen etwa eins zu zweihundert, vielleicht auch eins zu dreihundert. Man hat mich in meinem Hotelzimmer unter Hausarrest gestellt, und dann haben die wohl geglaubt, sie hätten mich dort mit einer Handgranate fertiggemacht. Aber einer der Polizeibeamten gehört zur Widerstandsbewegung. Er hat eine Leiche in mein Bett geschmuggelt, die mir ähnlich sah, und die dann in die Luft gejagt. Dann hat man mich hierher geschmuggelt, und Opa und die anderen bringen mir zu essen und informieren mich über das Geschehen draußen. Jedenfalls sind wir dicht bei der Stunde Null. Argyle hat vor, morgen mittag einen Handstreich auf die fliegende Insel zu verüben und Torridge zu beseitigen.« Peyton stieß einen Pfiff aus. »Einfach so, was?« »Argyle bildet sich ein, er hätte unseren Putsch vereitelt, obwohl ihn Ihre Flucht etwas beunruhigt. Jedenfalls will er seinen Coup jetzt versuchen. Er will die Macht übernehmen und dann alle beseitigen, denen das nicht paßt. Und wenn er einmal die Macht übernommen hat, ist er dazu auch fähig. Und falls Argyle scheitert und Torridge gewinnt, wird Torridge so nervös, daß er die Vorsichtsmaßnahmen verstärkt und wir keine Chance mehr haben.« Bengalis Stimme klang niedergeschlagen. »Eine schlechte Zeit für einen Putsch.« »Jetzt oder nie!« meinte Opa. »Eher nie«, sagte Bengali müde.
»Hör auf damit!« brauste Opa auf. »Hier ist Blacky, der sich mit eigenen Kräften aus dem Rattenloch rausgearbeitet hat, in das man ihn gesteckt hatte. Er hat bestimmt einen Plan. Stimmt's, Blacky?« »Stimmt, Opa. Bengali, wir sollten die Bombe platzen lassen.« »Was für eine Bombe haben wir denn, um sie platzen zu lassen?« fragte Bengali. »Sie sagten doch einmal, Sie hätten ein paar Versuchsmotoren, die mit Atomit fliegen können.« »Die haben wir«, nickte Bengali. »Das heißt, sie sind zu neun Zehntel fertig – ein Dutzend ist es etwa. Aber wir brauchen Inerton als Isoliermasse und Flugzeuge, um sie einzubauen. Und die Flieger haben alle Flugzeuge, die es gibt.« »Da sind doch ein paar alte Modelle ausgestellt, irgendwo in einem Museum in den oberen Etagen«, meinte Opa. »Davon hab ich euch doch erzählt. Die würden funktionieren.« »Aber nicht ohne –« wollte Bengali einwenden. »Entschuldigen Sie, da muß ich Sie unterbrechen«, schaltete Peyton sich ein. »Aber wir haben Atomit, eine ganze Menge. Ich habe es mitgebracht. Streckt die Hände aus, aber laßt es nicht fallen! Ganz sachte!« Vorsichtig leerte er seine Taschen. Opa und Bengali nahmen die Atomitbehälter, die kleinen und die großen, und legten sie auf den Grabenrand.
»Um Gottes willen, wo ist der Plunder her?« fragte Opa mit beinahe ehrfürchtiger Stimme. »Man könnte sagen, daß ich es gestohlen habe. Und was das Inerton betrifft, da hab ich auch welches.« Peyton zog den Uniformrock aus, den er trug, und begann die Metallfolie abzuwickeln. Bengali beugte sich vor, um das Material im Schein des Feuers zu begutachten. »Unsere Techniker können sich sofort an die Arbeit machen und die Motoren isolieren«, sagte er. Seine Stimme klang jetzt triumphierend. »Wir sind in drei Stunden fertig. Genügend Zeit, bloß –« »Wir haben Atomit, und wir haben Inerton«, unterbrach ihn Peyton aufs neue. »Wir können das Museum überfallen und uns Flugzeuge beschaffen. Was brauchen Sie denn sonst noch?« »Piloten«, sagte Bengali. »Die einzigen, die fliegen können, sind die Flieger.« »Quatsch!« platzte Opa heraus. »Ich kann fliegen.« »Du?« fragte Bengali. »Du konntest vielleicht einmal fliegen, aber jetzt kannst du es nicht mehr.« »Warum jetzt nicht mehr?« ereiferte sich Opa. »Hört mir zu, nur ein einziges Mal! Mein Vater war Flieger. Als ich noch ein Junge war, trieb ich mich immer auf dem kleinen Feld herum, wo er seine Kastendrachen stehen hatte. Und als ich neun Jahre alt war, zog er in den Krieg, den ersten Weltkrieg. Er hat
sechs deutsche Flugzeuge abgeschossen. Ich bin an meinem sechzehnten Geburtstag zum erstenmal solo geflogen, und neun Monate darauf hatte ich bereits fünfundsiebzig Solostunden. Als ich achtzehn war, hätte ich mich am liebsten in den Hintern gebissen, weil ich nicht schon vor Lindbergh über den Atlantik gehüpft war. Ich hätte es auch geschafft, wenn mir einer so etwas ähnliches wie seine Maschine gegeben hätte. Im zweiten Weltkrieg bin ich in China und Frankreich geflogen. Und wenn ich vor sechsundzwanzig Jahren Lust gehabt hätte, mir das Haar zu färben und ein falsches Alter anzugeben, dann wäre ich heute Flieger, und ihr würdet hiersitzen und euch überlegen, wie ihr mich stürzen könntet.« »Du mußt uns irgendwann einmal deine Lebensgeschichte erzählen«, sagte Peyton. Aber Opa fuchtelte jetzt mit der Faust unter Bengalis Nase herum. »Jetzt hört mir mal zu!« schrie er. »Ich habe mit Spucke zusammengeklebte Maschinen geflogen, die diese herausgeputzten Flieger nicht einmal aufs Feld rollen könnten, vom Starten einmal ganz abgesehen. Und solche Kisten fliege ich heute noch mit verbundenen Augen. Und wenn es sein muß, dann hole ich uns noch ein ganzes Geschwader alte Piloten zusammen, die mit mir fliegen!« Bengali grinste, und auch Peyton mußte lachen. »Damit wären alle meine Fragen beantwortet, den-
ke ich«, sagte Bengali. »Jetzt holen wir uns die anderen Vorsitzenden unserer Widerstandsbewegung zusammen und machen uns an die Arbeit. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« »Und während der Ausschuß verhandelt, sollten die Mechaniker sich um die Motoren kümmern«, meinte Peyton. »Opa ist schon weggelaufen, um die Mechaniker zu holen«, sagte Bengali. Und Opa war auch tatsächlich schon verschwunden. Die Luftfahrt-Abteilung des Museums war ein riesiger Saal voll archaischer Flugzeuge. Eine ganze Wand war ein riesiges Fenster, das man in einem Stück wegschieben konnte. Draußen war kohlschwarze Nacht. Von der Decke hing ein zerbrechlich wirkendes Gebilde aus Sperrholz und Papier herab; Opa hatte das einen Kastendrachen genannt. Daneben stand ein in stumpfem Grau lackiertes Fahrzeug mit starrem Fahrwerk und Tragflächen, die mit Stahl besetzt waren. An einer anderen Wand waren ein paar Jagdflugzeuge aus vergangenen Kriegen aufgereiht. Nichts in der ganzen Ausstellung kam aus einer späteren Zeit als 1938. Und am Eingang lag der Nachtwächter in seiner grauen Uniform und zuckte noch leicht. Peyton hatte
ihn mit einem einzigen Schlag zu Boden gestreckt. Opa kniete neben ihm, um ihn zu fesseln und zu knebeln. »Prima Technik, Blacky!« bewunderte ihn Opa. »Stimmt!« nickte Bengali, der soeben eintrat. Hinter ihm kamen ein paar andere. Sie trugen die Motoren. »Peyton versteht etwas vom Zuschlagen«, lächelte Bengali. »Man muß nur immer den ersten Schlag haben – das ist doch das Geheimnis?« »Den ersten, den zweiten und den dritten.« Peyton sah sich um. »Der Bursche und der andere, den wir an der Tür umgelegt haben, waren die einzigen im ganzen Flügel. Jetzt gehört das Museum uns, und es ist gerade erst Mitternacht gewesen.« Bengalis Leute schleppten jetzt die Motoren herein; jeder war so groß wie ein Zehn-Liter-Eimer. Bengali stellte einen Sack auf den Boden und öffnete ihn; er war voll schwarzem Pulver. »Das hab ich selbst gemacht«, verkündete er. »Schwefel, Salpeter und Holzkohle – das alte Pionierrezept. Geht in die Waffenräume und holt ein paar alte Vorderlader mit Feuersteinschlössern, die noch brauchbar aussehen. Ich wollte, wir hätten Zündhütchen.« Einige Männer seiner Gruppe kamen seiner Anweisung nach. »Peyton«, sagte Bengali, »ich hatte gehofft, Ihnen gute Nachrichten zu bringen, aber ich fürchte, ich habe nur schlechte anzubieten.«
»Schlechte Nachrichten?« fragte Peyton. »Wie schlecht?« »Über Thora. Ich hatte gehofft, sie hierher bringen zu können. Ich wußte, daß Thora und Sie –« »Woher haben Sie das gewußt?« »Nachdem man Sie eingesperrt hatte, kam sie und sagte es mir«, erklärte Bengali. »Das meiste, was ich über Argyles Putschversuch weiß, stammt von ihr. Sie sagte, er und seine bewaffneten Flugzeuge werden morgen mittag versuchen, die fliegende Insel zu besetzen. Sämtliche Flieger New Yorks sind auf seiner Seite.« »Ja, aber was ist mit Thora?« wollte Peyton wissen. »Sie sagten, Sie hätten gehofft, sie mitbringen zu können.« »Ja, ehe wir das Museum überfielen. Aber sie ist nicht da.« Peyton packte Bengali an der Schulter. »Wo ist sie?« »Ich weiß nicht. Und Argyle weiß es auch nicht. Ich habe gehört, daß er befohlen hat, sie tot oder lebendig zu ihm zu bringen.« Bengali schob Peytons Hand weg. »Tut mir leid, Peyton, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Peyton kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Es können also weder Sie noch Argyle sie finden«, sagte er. »Gut. Dann hat sie eigene Pläne.« »Sie glauben –«
»Ich glaube, daß sie in Ordnung ist«, erklärte Peyton. »Sie tut etwas, um uns zu helfen. Und ich werde mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, was es sein könnte. Wir wollen einfach davon ausgehen, daß sie auf unserer Seite steht.« Opa trat jetzt zu ihnen. »Ich glaube, wir haben Pech gehabt.« »Wieso?« fragte Bengali. »Sind die Flugzeuge nicht gut in Schuß?« »Prima! Aber wir können diese alten Holzgestelle nicht mit Atomitmotoren ausrüsten. Sie würden in der Luft auseinanderfliegen. Bloß zwei kleine Ganzmetallmaschinen scheinen brauchbar. Aber das ist nicht gerade viel.« »Genug, um drei oder vier von uns auf der Insel zu landen«, sagte Peyton. »Das muß reichen.« Bengali und Opa starrten ihn verständnislos an. »Wenn man eine Festung nicht im Sturm einnehmen kann, dann eben mit dem Verstand«, fuhr Peyton schnell fort. »Als erster zuschlagen, ist nicht die einzige Methode, um einen Kampf zu gewinnen. Man kann den anderen auch dazu bringen, daß er zuschlägt, und sich dann wegducken und zurückschlagen, wenn er einen verfehlt. So müssen wir es mit diesen Fliegern machen. Wenn –« »Das ist mir zu hoch«, gestand Opa. »Mir auch. Ich habe nie etwas vom Boxen verstan-
den«, gab Bengali zu. »Machen Sie sich nicht erst die Mühe, es uns zu erklären, Peyton. Sie wissen, wie man es machen muß, und ich nicht. Sie haben das Kommando. Erteilen Sie ihre Befehle.« »Was stehst du denn 'rum, Opa?« fuhr Peyton ihn an. »Stattet diese zwei Maschinen mit Motoren aus! Du fliegst eine davon. Such dir den besten Piloten von deinen alten Kumpels aus, der soll die andere Maschine fliegen. Holt das Atomit und macht euch startfertig.« Opa salutierte und rannte weg. »Bengali«, sagte Peyton, »wieviele Männer haben Sie, auf die Sie sich verlassen können?« »Achthundert – vielleicht tausend. Sie sind alle unten im Keller und warten darauf, daß sie von mir den Befehl bekommen.« »Sind sie zäh genug, um einen langen Marsch zu überstehen?« »Die meisten schon.« »Haben Sie je die fliegende Insel über New York fliegen sehen, Bengali? Haben Sie gesehen, in welche Richtung sie von hier ausfliegt?« »Nach Westen natürlich«, antwortete Bengali. »Ich habe sie Tag für Tag beobachtet. Ganz scharf. Ich bin ihrem Schatten über das Dach hinaus und über die Bäume und die Landschaft gefolgt. Wo ist eine Karte von diesem Teil der Welt?«
»Hier.« Bengali deutete auf einen großen Bogen. »In diesem Saal sollten eine ganze Menge sein.« Peyton riß eine Vitrine auf und holte einen Plan der ehemaligen Region New York heraus. Dann rechnete er vor sich hin. Er deutete auf die Landkarte. »Wissen Sie, wie dieser Punkt heißt?« Bengali sah näher hin. »Hier steht Lake Hopatcong, aber –« »Ja, ich weiß schon. Niemand geht dorthin. Nun, Sie haben etwa zwölf Stunden Zeit, bis die fliegende Insel kommt. Ihre Männer müssen in zwölf Stunden diese 55 Kilometer zurücklegen.« Er hielt Bengali die Karte hin. »Nehmt alle Gewehre, die ihr finden könnt, und seid auf alles gefaßt.« »Wenn ich wenigstens eine Ahnung hätte, was Sie vorhaben«, argumentierte Bengali. »Argyle, Torridge und sämtliche Flieger werden dort bei Lake Hopatcong sein, völlig verwirrt und verstört. Und Sie und Ihre Leute wollen einen Kampf haben. Sehen Sie zu, daß Sie rechtzeitig dort sind, dann kriegen Sie vielleicht einen. Ich werde auch dort sein.« Bengali rannte davon und rief seinen Männern zu. Peyton ging zu Opa hinüber, der den Einbau der Motoren überwachte. Ein grauhaariger, vierschrötiger Mann namens Wertz war als zweiter Pilot ausgewählt worden. Jemand hatte Sauerstofftanks und Masken gebracht.
»Haben wir hier irgendwo einen Fallschirm?« fragte Peyton. Man fand einen. »Schnallen Sie ihn um, Wertz! Und das übrige Atomit kommt in Ihre Kiste.« Wertz sah ihn erstaunt, aber nicht verängstigt an. »Sie sind der Chef. Aber wenn die Maschine abstürzt –« »Ich möchte, daß sie abstürzt. Sie richten sie auf ein Ziel, das ich Ihnen angeben werde, und springen dann ab. Sie werden es leicht haben. So, Wertz und Opa, geht jetzt zu euren Maschinen! Alle anderen können mit Bengali gehen. Er wird einen Spaziergang mit euch machen, und vielleicht gibt es am Ende einen kleinen Kampf.« Die Männer gingen. Peyton sah die zwei Piloten an. »Macht die Fenster auf!« sagte er. »Wir fliegen bei Morgendämmerung. Dann sage ich euch, was wir vorhaben.« »Hoffentlich taugt der Plan etwas, Blacky!« brummte Opa.
20 Hoch oben in der Stratosphäre, unter einem stahlblauen Himmel und über der von Wolken verhüllten Erde im immerwährenden Licht der Sonne schwebte die fliegende Insel. Jene, die sie gebaut hatten, hatten mit den leichtesten, stärksten und doch elegantesten aller Materialien, über die ihre Zeit verfügt hatte, gearbeitet. Zuerst hatten sie aus einer Titan-Legierung eine runde Basis geschaffen. Hohle Türme und Streben aus der gleichen Legierung, die man aus Gründen der Isolierung mit Gold verkleidet hatte, ragten wie eine Vielzahl von Masten in die Höhe. Streben, Stützpfeiler und Kabel hielten sie aufrecht. Und dazwischen eingenistet, wie Luftblasen sich am Schild festklammern, hingen Glaskuppeln aller Größen und Formen. In allen Farben des Regenbogens brachen sie das immerwährende Tageslicht. Und das ganze Gebilde der fliegenden Insel drehte sich langsam um seine eigene Achse, während es seinen unabänderlichen Kurs um die Erde beschrieb. Die größte ihrer Kammern, zentral gelegen und sorgfältig ausbalanciert und geschützt, beherbergte die mächtigen Atomit-Aggregate, die die Insel durch die Lüfte trugen. Andere waren als Kontrollräume
eingerichtet und mit zahlreichen Schaltbrettern und Instrumententafeln angefüllt. Wieder andere enthielten die Kompressionspumpen, die die dünne Luft der Stratosphäre ansaugten, sie verdichteten und atembare Luft daraus machten. Dann gab es Lagerräume für Lebensmittel und andere Vorräte, Hangars für Flugzeuge, Arsenale mit Waffen und Munitionsmagazine und endlose Stockwerke mit Schlaf- und Wohnquartieren, die allerdings nur zu einem ganz geringen Teil besetzt waren. Im Jahre 1998 gab es nur noch zwanzigtausend Flieger aller Rangstufen, die die Welt beherrschten, die sie von ihren Vorfahren geerbt hatten. Das bedeutete, daß sie ein straffes Regiment in ihrem erdumspannenden Ring von Städten führen mußten. Und zwanzigtausend ist keine große Zahl, wenn man gleichzeitig überall sein muß. Jeder Flieger hatte irgendwo einen festen Verwaltungs- oder Garnisonsplatz. Und dreitausend wurden gebraucht, um die fliegende Insel in den Lüften zu halten. Jene, die Tag für Tag auf der Erde standen und sehnsüchtig zu ihr emporblickten, mochten anders darüber denken; aber in Wirklichkeit war es alles andere als ein Vergnügen, diesen ruhelosen Pilger der Stratosphäre zu steuern und zu bewachen. Um all seine Koordinierungs- und Verwaltungsaufgaben wahrnehmen zu können und gleichzeitig
die Millionen von Untertanen gebührend zu beeindrucken, mußte die mächtige Insel pro Tag einmal den Globus umkreisen. Das war nötig, um Symbol, Drohung und Legende in einem sein zu können. Diese Insel war in der ganzen Geschichte despotischer Regierungen das teuerste und aufwendigste Gerät, das man sich vorstellen konnte. Gut gedrillte Wächter, deren Aufmerksamkeit keine Sekunde nachließ, bemannten die eleganten Türme. Wenn auch nur ein einziger seine Aufgabe nachlässig erfüllte, so konnte das leicht bedeuten, daß der ganze komplizierte Mechanismus zusammenbrach, daß die unübersehbare Masse ihr Gleichgewicht verlor und abstürzte. Wenn auch nur ein einziges Mal der Antriebsrhythmus oder die Steuereinrichtung der Insel aussetzte, so konnte man noch von Glück reden, wenn sie nicht gleich explodierte. Unzählige Beobachter mußten unablässig den leeren Himmel und die nebelverhüllte Erde absuchen, mußten Luftströme prüfen, Witterungsveränderungen und Temperaturschwankungen messen. Andere wieder mußten dauernd an den Meßinstrumenten Wache halten, die Höhenmesser überprüfen oder sich um die Treibstoffzuführung und den Gleichlauf der Maschinen kümmern. Marschall Torridge, Herr der fliegenden Insel und der ganzen Zivilisation, die sie versinnbildlichte,
stand in einem großen Wachtturm. Ohne das Makeup, das er bei Fernsehauftritten benutzte, wirkte er müde und unglücklich. Er hatte graue Schläfen und hohle Wangen. Unter seiner Uniform wirkte sein schwacher Körper gebrechlich. Seine unmittelbaren Untergebenen wußten, daß er in den endlosen Jahren schonungsloser Arbeit seine tägliche Schlafperiode auf fünf Stunden reduziert hatte. Und wenn er wach war, konnte er nur selten entspannen – manche sagten sogar, daß er nie entspannte. Jetzt spähte er durch ein Instrument, das einem Fernglas glich, das aber ein Kabel mit einem summenden Mechanismus verband. Er kaute auf seiner Unterlippe. »Sie haben recht, meine Herrn«, sagte er zu seinen beiden jungen Adjutanten. »Es kommen Flugzeuge. Eine ganze Menge. Ich nehme an, jede einzelne Kampfmaschine, die es in ganz New York aufzutreiben gibt. Das Mädchen, das sie hier hereingeschmuggelt haben – wie nannte sie sich doch?« »Thora, Sir«, sagte einer der Adjutanten. »Nun«, nickte Torridge, »sie hat doch die Wahrheit gesprochen.« »Ja, Sir«, pflichtete ihm der andere Adjutant bei. »Hier kommt Argyle. Wird er uns angreifen?« »Natürlich ist es Argyle«, sagte Torridge mit gleichmäßiger Stimme. »Und natürlich wird er uns angreifen. Wer sonst sollte es sein und wer sonst
würde in Schlachtordnung anrücken, ohne Befehl von uns zu haben?« Die beiden Adjutanten schüttelten stumm den Kopf. Was sollte man darauf auch sagen? »Das Mädchen Thora hat die Wahrheit gesprochen«, sagte Torridge noch einmal. »Und wir haben diesmal keine Jagdmaschinen in den Hangars, bloß Bomber, nicht wahr?« »Richtig, Sir«, nickte ein Adjutant. Kein einziges Mal in all den Jahren, die die fliegende Insel nun existierte, hatte jemand von einem Konflikt mit feindlichen Flugzeugen geträumt. Man konnte sich hier nur Strafexpeditionen vorstellen, wenn irgendeine Stadt auf der Erde übermütig und dann ein hilfloses Bombenziel wurde. Und dazu war es nicht oft gekommen. »All right, Gentlemen«, sagte Torridge und hängte seinen Feldstecher weg. »Sammeln Sie die Freiwachen und geben Sie Waffen aus. Wir lassen die Rebellen an Bord kommen. Wir wollen vermeiden, daß sie einen Bombenangriff versuchen. Sollen sie an Bord kommen und zeigen, was sie wollen. Sie rechnen natürlich damit, daß wir nicht auf unserer Hut sind, aber da sollen sie sich täuschen!« Er lächelte. »Argyle hatte schon immer eine dramatische Ader, deshalb hat er seine Sache im Zirkus Maximus auch so gut gemacht. Aber brillant war er nie, dazu fehlt ihm der
Verstand. Irgendwelche Fragen? Gut, Sie können wegtreten.« Die Adjutanten traten ab. Torridge blickte auf ein Chronometer. Eine halbe Stunde, so vermutete er, würden diese silberhellen Raubvögel warten, bis sie an Bord kamen. In einer halben Stunde würde die fliegende Insel kurz vor New York stehen. Argyle wollte an diesem Punkt seinen Putsch versuchen – wieder einmal sein Sinn für Dramatik, überlegte Torridge und lächelte. In einer halben Stunde ließen sich Wunder tun. Er, Torridge, tat jetzt gut daran, diese Wunder vorzubereiten. Er trat an einen Glastisch und drückte den Schalter einer Sprechanlage. Dann gab er einigen Untergebenen kurze, prägnante Befehle. Schließlich: »Man soll mir die Gefangene schicken!« Ein Flieger in Hauptmannsuniform brachte Thora und ließ sie auf Torridges Befehl allein bei ihm. Thora war bleicher denn je, schien aber keine Angst zu haben. Hochaufgerichtet stand sie stolz in beigen Hosen und einer wollenen Jacke da. Ihr goldblondes Haar war etwas durcheinander. Ihre blaugrünen Augen wichen dem Blick des Marschalls nicht aus. Torridge sah sie prüfend an. »Junge Dame«, sagte er, »als Sie gestern als blinder Passagier mit der Nachschubmaschine aus New York hierher und mit dieser bizarren Geschichte über einen Putsch zu mir kamen, hat mich
Ihre Unverschämtheit zu sehr beschäftigt. Sie wissen doch, daß wir keine Leute von der Erde hier dulden, ganz besonders nicht Frauen.« Seine weisen, müden Augen musterten sie erneut. »Ganz besonders keine Frauen. Wenigstens hundertfünfzig meiner jungen Offiziere, ganz zu schweigen von einigen älteren Mitgliedern meines Stabes, haben Sie sehr verwirrt. Das gefällt mir nicht. Ich habe Sie eine Närrin und eine Lügnerin genannt und befohlen, daß man Sie unter Arrest stellt.« »Ja, Sir«, nickte Thora, »aber –« »Bitte!« sagte er. »Ich bin noch nicht fertig. Jetzt stelle ich fest, daß ich mich geirrt habe, daß tatsächlich ein Putschversuch in Vorbereitung ist. Warum haben Sie Ihr Leben riskiert und sind hierhergekommen? Warum wollten Sie mich warnen?« »Sie würden meine Motive wahrscheinlich nicht glauben, Marschall Torridge.« »Durchaus möglich. Aber ich will es versuchen.« »General Argyle möchte Hochmarschall werden«, sagte sie. »Ich habe für ihn gearbeitet und kannte einen Teil seiner Pläne. Inzwischen hat er einen ganz bestimmten Mann ins Gefängnis stecken lassen.« Sie richtete sich noch höher auf. »Meine Hoffnung ist, daß der Dienst, den ich Ihnen erweise, damit vergolten wird, daß Sie Anweisung geben, diesem Mann die Freiheit zu schenken.«
»Ein Mann im Gefängnis«, wiederholte Torridge. »Und ist er gefährlich, dieser Mann im Gefängnis?« »Wahrscheinlich ist er der gefährlichste Mensch unter allen Menschen, die jetzt auf der Erde leben«, sagte Thora, und ihr ganzer Stolz sprach aus diesen Worten. »Ich meine, Ihnen gefährlich, Marschall Torridge. Er ist der geborene Rebell, und er haßt alles, was Flieger heißt.« »Wirklich?« sagte Torridge. »Ich verstehe. Und Sie lieben ihn.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Das habe ich nicht gesagt, Sir.« »Das brauchten Sie auch nicht. Wie heißt er?« »Peyton. Pierce Peyton.« »Jetzt weiß ich ganz bestimmt, daß Sie ihn lieben«, sagte Torridge ohne jede Bewegung. »Wenn Sie seinen Namen aussprechen, zittert Ihre Stimme. Und Sie wollen, daß ich diesen gefährlichen Rebell freilasse.« »Ja, deshalb bin ich hierhergekommen, um Ihnen zu helfen. Jetzt helfen Sie Pierce Peyton.« Torridge lächelte, ohne dabei die Lippen zu öffnen. »Sie verlassen sich auf meine Dankbarkeit«, sagte er zu ihr als wäre das eine Anklage. »Das ist ein Fehler, weil ich dieses Gefühl nicht kenne. Ein Mann in meiner Position kann sich den Luxus von Dankbarkeit nicht leisten. Was ich tun sollte, wäre etwas ganz anderes. Ich sollte eine Falltür im Boden dieser Insel
öffnen und Sie hinunterwerfen.« »Wenn Sie das tun sollten, warum tun Sie es dann nicht?« fragte Thora. »Sie sind unverschämt«, sagte er. Er blickte nach Westen, auf New York zu, auf die Stelle, wo Argyles Wespenschwarm in der Luft hing. »Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch«, fuhr er dann fort. »Sie wissen genau, was Sie wollen, und machen keine Umschweife.« »Schade, daß ich von Ihnen und den übrigen Fliegern nicht das gleiche behaupten kann«, konterte sie. Torridge starrte sie an. Unter seinem Blick hätte sie eigentlich zu Eis erstarren müssen, aber Thora redete weiter. »Glauben Sie denn nicht, daß es auf der Erde ein paar Menschen gibt, die wissen, in welcher Klemme Sie sich befinden? Glauben Sie nicht, daß wir wissen, was für eine Farce diese fliegende Insel ist?« »Farce?« wiederholte er. »Sie halten das für amüsant?« »Für lächerlich. Sie sind verzweifelt. Überarbeitet. Sie regieren eine Welt, in der Sie selbst das unglücklichste Wesen sind.« »Ich?« sagte er und lächelte wieder, diesmal noch finsterer. »Die Last der Weltregierung ist zuviel für Sie, Marschall Torridge. Zuviel für einen alten Mann.«
»Alt?« sagte er ausdruckslos und nickte – nur die Andeutung eines Nickens. »Ich war mit zweiunddreißig schon alt, als der Krieg zu Ende ging, und fragte mich, wie ich es schaffte, am Leben zu bleiben. Ich war alt mit vierzig, als der letzte Hochmarschall an einem Herzinfarkt starb und ich plötzlich sein Amt übernehmen mußte. Jetzt bin ich fünfzig und komme mir vor wie hundertfünfzig. Diesmal haben Sie recht, junge Dame. Ich bin alt. Ich bin ein prähistorisches Fossil. Falls es Sie befriedigt, das zu hören – ich wünsche mir nichts mehr, als diesen Posten aufgeben zu können.« »Warum klammern Sie sich dann so daran fest?« fragte Thora erregt. »Sie mißtrauen jedem und fürchten alle, hier oben und dort unten.« »Weil ich es muß«, nickte er. »Sonst würde ich keine Minute mehr am Leben bleiben.« »Sie müssen all diese Millionen von Menschen auf der Erde mit blutigen Zirkusspielen betäuben«, fuhr sie fort. »Sie müssen exotische Tiere herbeischaffen, um sie in der Öffentlichkeit hinzuschlachten, um davon abzulenken, daß die üblichen Bequemlichkeiten nicht zu haben sind. Sie zwingen Millionen von Menschen in Städte, die nicht besser als Gefängnisse sind, und bleiben hier oben als ihr Gefängniswärter, überarbeitet und voll Sorgen. Sie sind ein Reiter auf einem wilden Pferd. Sie wollen absteigen, aber Sie wagen es
nicht vor Angst, daß das Pferd Ihnen die Rippen eintritt.« »Das ist kein sehr literarischer Vergleich«, meinte Torridge, »aber ein sehr plastischer.« »Und jetzt werden Sie herunterfallen!« schrie sie ihn an. »Sie wollten mich nicht anhören, als ich zu Ihnen kam. Jetzt kommt Argyle, und Sie wissen es, aber es ist zu spät. Ihr Reich zerbröckelt, während wir hier reden –.« »Wenn mein Reich zerbröckelt«, sagte er mit sanfter Stimme, »dann ist der Mann, den Sie so lieben – dieser Pierce Peyton – auch erledigt. Ich hätte ihm vielleicht geholfen – vielleicht. Argyle würde ihn vernichten, und Sie würde er auch vernichten.« Thoras grüne Augen wurden groß und rund. Sie starrte den Marschall an. »Haben Sie zufällig eine Zigarette?« wollte Torridge wissen. »Mein Arzt hat sie mir vor acht Jahren verboten, aber ich glaube, jetzt möchte ich eine haben.« Sie holte ein Etui heraus, klappte es auf und bot an. Torridge wählte mit dem kritischen Blick des Kenners eine Zigarette aus. »Ah!« sagte er. »Vielen Dank! Feuer?« Zitternd holte sie ein Feuerzeug heraus. Er schnippte es an, zündete seine Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lungen.
»Wie Sie schon sagen, mein Reich zerbröckelt«, sagte er mit beinahe gleichgültiger Stimme. »Aber im Augenblick ist es noch nicht zerbröckelt. Gewisse Teile davon lassen sich vielleicht retten, und es könnte sogar interessant sein, sie zu retten. Wenn Sie wollen, können Sie zusehen und miterleben, wie ich jetzt versuche, diesen einzelnen Krümel aufzuheben und zu bewahren.«
21 Der Wespenschwarm von Argyles Flugzeugen bereitete sich geschickt darauf vor, die immer näherkommende fliegende Insel zu empfangen. Argyle hatte als Vorhut seiner Formation Jagdmaschinen angeordnet, dahinter Transportmaschinen mit Soldaten. Er hatte ganz New York von Fliegern geleert, abgesehen von einigen wenigen, die dort die Polizeitätigkeit überwachen mußten. Das ganze New Yorker Kontingent war bei ihm und setzte volles Vertrauen in ihn. Eine Viertelstunde östlich von New York befahl er seinen Jägern, aufzuschließen. Am Steuer seiner eigenen Maschine sprach er ins Funkgerät. »General Argyle an fliegende Insel – ahoi, fliegende Insel! Öffnen Sie die Hangars und geben Sie uns die Hangars frei! Over.« Er lauschte. Keine Antwort in den Kopfhörern, aber auf dem Bildschirm war die Insel ganz deutlich zu sehen. Die Hangars öffneten sich tatsächlich. Riesige Tore schwangen zur Seite. »Argyle an alle Maschinen«, sagte Argyle. »Ausführung Plan G. Landen. Over.« Seine Flotte jagte der fliegenden Insel entgegen. Die Maschinen manövrierten geschickt, kurvten um die Insel, um den günstigsten Augenblick zur Landung abzuwarten. Die Hangars nahmen ein Flugzeug nach
dem anderen auf. Argyle sprang in einem Hangar aus der Maschine, gefolgt von seinem Stellvertreter. Nirgends waren Mechaniker zu sehen. Argyle drückte auf einen Knopf, der die Hangartüren schließen und gleichzeitig die Luftzufuhr auslösen sollte. Seine Gefährten sprangen mit schußbereiten Waffen aus den Maschinen und stellten sich in Formation auf. Alles lief glatt nach Plan G. Sie näherten sich einem Hauptgang, den gläserne Wände umgaben. Elfhundert Männer waren mit Argyle gekommen, alle in Gruppen, Züge und Kompanien geordnet. Argyle konferierte schnell mit ein paar seiner unmittelbar Untergebenen. »Vergeßt nicht, daß sie uns zahlenmäßig unterlegen sind! Aber die meisten können ihre Posten nicht verlassen – nicht einmal von ihren Geräten aufblikken. Gleichgültig, was geschieht – die fliegende Insel muß ihre Bahn beibehalten. Was wir zu allererst wollen, ist Torridge.« »Ihn gefangen nehmen?« fragte einer, und Argyle schüttelte ungeduldig den Kopf. »Zum Teufel, nein! Nehmt ihn nicht gefangen! Tötet ihn! Der Mann, der ihn tötet, wird befördert. Dann haben seine Leute gar keine andere Wahl, als mit uns gemeinsame Sache zu machen.« »Argyle!« rief eine Stimme, die er seit vielen Jahren kannte und der er stets gehorcht hatte.
An der Mündung des Korridors, wo das Glas etwas tiefer getönt war und dadurch den Anschein eines Schattens hervorrief, hallte die Stimme. Und dann trat eine schlanke Gestalt in Galauniform vor sie hin. »Wir haben Glück!« flüsterte Argyle seinen Unterführern zu. »Halten Sie sich bereit, mir zu Hilfe zu kommen, und achten Sie auf meine Signale! Ich gehe allein vor. Vielleicht komme ich auch allein mit ihm zurecht.« Er trat vor und ging auf Torridge zu, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf ihn wartete. Torridge war von selbst gekommen. Er ahnte offensichtlich nichts. Er war hilflos, allein, wartete förmlich darauf, ausgelöscht zu werden. »Freut mich, Sie zu sehen, Sir!« begrüßte Argyle Torridge. »Wie kommt es, daß Sie –« »Ich weiß über Sie Bescheid, Argyle!« fiel Torridge ihm ins Wort. »Gestern ist ein blinder Passagier aus New York gekommen, ein blondes Mädchen namens Thora. Sie hat mir eine phantastische Geschichte erzählt – Sie sollen vorhaben, die Insel zu überfallen, mich zu stürzen und sich selbst zum Hochmarschall zu erklären.« All das sagte Torridge völlig gleichgültig, als unterhielte er sich über das Wetter. Argyle hob hinter seinem Rücken die Hand, so daß man die Handfläche sehen konnte; das bedeutete, daß ein Dutzend seiner
Leute, Männer, die schon vorher ausgewählt waren, langsam nähertreten sollten, jedoch ohne ihre Waffen zu berühren. »Eine phantastische Geschichte?« wiederholte Argyle. »Ja, genau das ist sie.« »Vor dreiundzwanzig Stunden war sie das noch«, fügte Torridge hinzu, immer noch gleichgültig und ungerührt. »Jetzt klingt sie nicht mehr so phantastisch. Schließlich sind Sie mit einer ganzen Menge Bewaffneter gelandet.« Argyle versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Wenn Torridge gewarnt worden war – was stand er dann so allein und ungeschützt da? Hatte er noch Hoffnung auf Verhandlungen? »Ich kenne dieses Mädchen, Marschall Torridge«, sagte Argyle, bemüht, ebenso gleichgültig wie der Marschall zu sprechen. »Sie ist verrückt.« »Genau, was ich auch annahm, als sie zu reden begann«, nickte Torridge, der sich immer noch nicht von der Stelle bewegt hatte. »Ich habe mich selbst gefragt, weshalb sie als blinder Passagier hierherkam. Ich war davon überzeugt, daß sie verrückt war, denn schließlich weiß jeder, was Leuten von der Erde droht, die die Befehle mißachten.« »Die Todesstrafe«, sagte Argyle und blieb stehen, nur noch zwanzig Schritte von Torridge entfernt. »Genau das!« nickte Torridge. »Die Todesstrafe.«
»Sie haben sie liquidieren lassen, Sir?« »Nein, das nicht. Aber sie ist in Sicherheit, Argyle.« Hinter Argyle waren seine Leute ebenfalls stehengeblieben. Jeder von ihnen brauchte nur die Waffe zu heben, und Torridge war ein toter Mann. Jetzt salutierte Argyle, und Torridge erwiderte den Gruß. Das Licht spiegelte sich in den Goldtressen seiner Uniform. »Und was führt Sie hierher, Argyle?« fragte der Hochmarschall. »Sir«, verkündete Argyle mit wichtiger Miene. »Ich bin hierhergekommen, um eine wichtige Erklärung abzugeben.« »In welcher Hinsicht wichtig?« fragte Torridge. »Und für wen wichtig, Argyle? Für Sie oder für mich?« »Für uns beide«, erklärte Argyle würdevoll. »Ah!« machte Torridge. »Und besteht Ihre Erklärung vielleicht darin, daß Sie beabsichtigen, mich zu stürzen und meine Position einzunehmen? Ich sagte schon, daß dieses Mädchen – Thora – verrückt klang, als sie mich davor warnte. Aber in den letzten Minuten ist es mir so vorgekommen, als wäre sie gar nicht verrückt.« Argyle schnippte mit den Fingern und hörte, wie hinter ihm ein Dutzend Pistolen gezogen wurden. Aber Torridge zuckte mit keiner Wimper. Er lächelte nur sein dünnes, spöttisches Lächeln.
»So ist das also, Argyle!« sagte er. »Nun, dann habe ich mich nicht getäuscht. Meine Vorbereitungen waren nicht umsonst. Es wird mir ein Vergnügen sein, gegen Sie zu kämpfen und Sie alle zu vernichten.« »Feuer!« bellte Argyle. Hinter ihm krachten ein Dutzend Schüsse, eine einzige Salve. Jede Kugel mußte ihr Ziel getroffen haben. Aber Torridge lächelte bloß und zuckte die Achseln. »Sie benehmen sich wie ein Narr, Argyle!« sagte er verweisend. »Ein ganz einfaches Gerät – Sie sollten es auch kennen, wo Sie doch so ein Zirkusspezialist sind.« »Verdammt!« Argyle schleuderte eine Handgranate mit Atomitladung. Gleichzeitig warf er sich flach auf den Boden. Sein Gefolge tat es ihm gleich. Die Explosion der Granate ließ das Glas der Korridorwände erzittern. Schweigen. Und dann lachte Torridge ganz leise. »Ich fürchte, Sie haben mich wieder verfehlt, Argyle!« Argyle stemmte sich in die Höhe. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Torridge stand immer noch an derselben Stelle, unverletzt und spöttisch lächelnd. »Ich bin nicht wirklich hier, Argyle«, sagte er. »Ich bin da, wo ich hingehöre – auf der Kommandobrükke. Was Sie hier sehen, ist Television.«
Argyle stand jetzt wieder auf den Füßen. »Television?« fragte er. »Wir wollen doch nicht rückständig sein, Argyle! Ich weiß, was Sie glauben: Für Television braucht man entweder einen Bildschirm oder eine Silberwolke als Projektionsfläche, um das Bild aufzufangen. Aber unsere Geräte hier auf der fliegenden Insel sind etwas weiter entwickelt – damit kann man die Wirklichkeit viel besser vortäuschen.« Torridge verschwand. Dann tauchte er wieder auf. »Ich fürchte, für einen Flieger ist Ihre technische Ausbildung etwas unzureichend. Und Phantasie haben Sie auch nicht genug. Das allein genügt schon, um Sie zu verurteilen. Sie haben einen sehr schwerwiegenden Fehler gemacht. Vielleicht sogar einen tödlichen Fehler. Aber Sie sind hierhergekommen, um zu kämpfen. Das können Sie haben.« »Ich werde kämpfen!« wütete Argyle. »Zeigen Sie sich!« »Und der Sieger übernimmt die fliegende Insel und alles, was dazugehört«, sagte Torridge. »All die Macht und den Ruhm und die Verantwortung. Der Verlierer muß abspringen, in einen tiefen, tiefen Abgrund. Und dann kann er ruhen, lange ruhen.« »Fertig zum Gefecht!« brüllte Argyle. »Fertig zum Gefecht!« wiederholten seine Unterführer. »Ausschwärmen! Korridore besetzen –«
Und dann wieder eine Explosion, diesmal viel ohrenbetäubender, hundertmal lauter als die der Granate. Argyle hörte das Pfeifen entweichender Luft. Er versuchte wegzurennen, sich in Sicherheit zu bringen, irgendwo. Dann brach er zusammen, keuchend, erstickend. Eine seltsame Vision tauchte vor ihm auf – das grimmige Gesicht von Blacky Peyton. Und dann schwanden ihm die Sinne, und Dunkelheit umgab ihn.
22 Hoch oben, vor der Sonne, verborgen vom grellen Schein ihrer Strahlen, beobachteten Opa und Peyton durch das Glas ihrer Kabine, wie Wertz seine Befehle ausführte. Die fliegende Insel war vom Osten herangeschwebt, und die Legionen Argyles waren gelandet. Seine Maschinen waren sich ihres Triumphes so sicher gewesen, daß sie jene dritte Partei am Himmel, weit über ihrer Formation, überhaupt nicht wahrgenommen hatten. Die beiden primitiven Stratosphärenfahrzeuge kreisten unentdeckt, während Argyle die fliegende Insel ein paar Minuten östlich von New York enterte. Und dann ging Wertz in den Sturzflug über. Opa und Peyton sahen ihn mit dem Fallschirm abspringen, eine Gestalt, nicht größer als eine Spinne, zu weit entfernt, als daß man sein Atemgerät oder den Druckanzug sehen konnte. Die Maschine flog weiter und schlug wie eine Bombe zwischen den regenbogenfarbenen Kuppeln ein. Die Insel erzitterte unter der mächtigen Explosion der Atomitladung. Zwischen den Türmen gähnte plötzlich ein Krater, aus dem dampfend die Atmosphäre der Insel entwich. Opa nickte Peyton zu und griff an den Knüppel. Ihre Maschine senkte sich auf die Insel herunter, so
wie ein Falke auf eine verwundete Ente herunterstößt. So schnell raste die Insel dahin, und dies trotz dem Schock, den sie erlitten hatte, daß sie bereits an Wertz und seinem Fallschirm vorbeigezogen war. »Er wird irgendwo auf Long Island landen«, sagte Opa. »Bis er den Weg nach Hause gefunden hat, wird alles erledigt sein.« »So oder so«, nickte Peyton und rückte sich die Sauerstoffmaske zurecht. Und dann verdeckte die fliegende Insel den Blick auf die Erde. Sie segelten darüber hin, paßten sich ihrer Geschwindigkeit an und landeten. Opa steuerte auf eine stählerne Landefläche zu und bremste ab, als vor ihnen ein Explosionskrater gähnte. Zwischen zwei Türmen kamen sie zum Stillstand. Peyton hörte das Knacken der Tragflächen, als sie abbrachen. Er warf das Kabinendach zurück und sprang hinaus. Dann standen sie auf dem Boden eines Korridors im Inneren eines ehemaligen Hangars. Rings um sie lagen die Wracks von Argyles Maschinen. Peyton schwitzte in seinem Schutzanzug, und seine Ohren bluteten. Zwanzig Jahre hatte er in dem nahezu unerträglichen Druck der Grube gearbeitet. Jetzt tastete er sich schwerfällig über zerbrochenes Glas und litt unter dem schwachen Luftdruck der Stratosphäre. Opa war neben ihm, zupfte an Peytons Ellbogen und deutete nach vorne.
Ein Wirbelsturm entweichender Luft schoß ihnen aus der zerfetzten Korridorwand entgegen. Überall zappelten und kämpften Flieger, die verzweifelt Zugang zu den noch intakten Korridoren suchten. Opa bückte sich gerade über einen Toten und zog ihm die automatische Pistole aus dem Halfter. Auch Peyton fand eine Waffe. Dann rannten er und Opa über den Korridor. Durch viele Glaswände war das Innere der unzerstörten Abschnitte der fliegenden Insel zu sehen. Männer und Maschinen waren dort am Werk. Peyton, der trotz der Sauerstoffmaske am Zusammenbrechen war, erreichte eine Schiebetür und drückte den Knopf, der sie öffnen sollte. Aber Opa packte ihn am Arm und deutete auf eine am Boden hingestreckte Gestalt. Es war General Argyle, reglos, mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht lag er da. Peyton bückte sich und riß ihn in die Höhe. Opa öffnete die Schiebetür und sie zerrten Argyle hinein. Jetzt herrschten wieder normale Druckverhältnisse, und in Peytons Ohren knackte es. Er und Opa rissen die Sauerstoffmasken herunter. »Horch!« sagte Opa. Ein Trommelwirbel von Schüssen war zu hören, und von irgendwo drangen Schreie an ihr Ohr. Ein Kampf lief hier ab, wenn sie auch von ihrem augenblicklichen Standort nichts davon sehen konnten.
Argyle atmete schwer und schlug die Augen auf. Mühsam versuchte er aufzustehen, aber Peyton stieß ihn mit dem Fuß zurück und hielt ihn fest. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Peyton zu Opa. »Wo ist die Steuerzentrale?« Argyle starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Das – das ist doch Wahnsinn!« keuchte er. »Sie – Sie können unmöglich Peyton sein –.« Peyton beugte sich herunter und zog den Mann in die Höhe. Dann stieß er seine Pistole in Argyles Leib. »Die Steuerzentrale!« sagte Peyton. »Sagen Sie uns, wo sie ist!« »Was bilden Sie sich denn ein, mit wem Sie reden?« murmelte Argyle. »Erschießen Sie mich meinetwegen. Aber ich bin Flieger. Ich nehme keine Befehle von Ihnen entgegen.« Peyton und Opa hatten denselben Impuls. Sie packten Argyle an den Ellbogen und zerrten ihn zwischen sich über einen Korridor und an einem Bogen vorbei, hinter dem Flieger beider Seiten mit Pistolen und Maschinengewehren aufeinander schossen. Irgendwo vor ihnen war das Dröhnen schwerer Atomitaggregate zu hören. Sie eilten dem Geräusch nach, eine Rampe hinunter. Argyle hatte sich inzwischen etwas erholt und versuchte die Waffe zu ziehen. Aber Opa war schneller und nahm ihm die Pistole ab. Dann waren sie vor einer riesigen Kammer ange-
langt; besser gesagt, einer Kuppel, so groß wie die alte Grand Central Station, an die Peyton sich erinnerte. Durch Glaswände sahen sie Reihen von mächtigen Maschinen, die die gigantische Masse der fliegenden Insel in der Luft hielten und steuerten. Die Tür war verschlossen, aber Peyton schoß sie auf, und sie rannten hinein. »Da ist, was wir suchen!« sagte Peyton. Ein bleichgesichtiger Flieger stand unmittelbar hinter der Tür vor einem Bildschirm und starrte unverwandt auf Oszillogramme, die vor ihm über die Mattscheibe huschten. Opa hielt ihm die Pistole vor die Nase. »Hände hoch!« schrie er ihn an. »Sonst drück ich ab!« »Das können Sie nicht tun!« protestierte der Flieger, ohne Opa auch nur anzusehen. »Ich habe hier Steuerdienst. Wenn ich auch nur eine Sekunde –« Opa blickte auf den Schirm und stieß den Mann weg. Peyton trieb den immer noch benommenen Argyle gegen die Wand und packte den Steuermann mit der freien Hand am Kragen. Opa nahm den Posten des Mannes ein, schob die Pistole in die Hüfttasche und griff nach zwei Hebeln, die an die Lenkstange eines Fahrrades erinnerten. »Das muß die Horizontalsteuerung sein!« rief er. »Auf dem Bildschirm sieht man, was unter uns liegt. Wir steuern auf New York zu. Sind wir nicht beinahe über der Stadt?«
»Natürlich sind wir das!« stieß der Mann, den sie festgenommen hatten, hervor. »Wer sind Sie? Was soll der Lärm?« »Argyle und seine Rebellen versuchen Ihnen die fliegende Insel wegzunehmen«, erklärte ihm Peyton. »Aber keine der beiden Seiten wird es schaffen. Wir landen jetzt.« »Landen?« wiederholte der Steuermann beinahe hysterisch. »Aber das können Sie doch nicht!« »Schauen Sie doch zu!« lud Opa ihn ein. Peyton ließ den Mann nicht los, während er sich in der mächtigen Kuppel umsah. Sie wimmelte von Fliegern, aber jeder schien beschäftigt zu sein. Einige blickten auf, aber nur für Sekunden. Ein paar schienen vor Nervenanspannung zu zittern. Jemand kam hereingerannt. Peyton erkannte die Uniform, die schlanke Gestalt. Es war Hochmarschall Torridge. »Was geht hier vor?« empörte sich Torridge. »Wer sind Sie?« Peyton richtete seine Waffe auf ihn. »Setzen Sie sich neben Argyle!« befahl er. »Wir landen Ihre Maschine jetzt auf der Erde.« Torridge setzte sich gehorsam, beugte sich dann aber plötzlich erregt vor. Opa zerrte mit einer Hand an einem roten Hebel, der aus einem Schaltbrett ragte.
»Vorsichtig!« schrie Torridge ihn an. »Das ist der Energiehauptschalter. Wenn Sie den herunterziehen – « »Danke!« murmelte Opa in seinen Bart. »Genau das wollte ich wissen.« Peyton sah eine Wasserfläche auf dem Bildschirm. Opa riß den Hebel nahezu aus seiner Fassung und drückte ihn ganz hinunter. Im gleichen Augenblick verstummten die Motoren. Und diesen Augenblick hatte Argyle sich ausgewählt, um Peyton erneut anzuspringen. Peyton grinste und schlug mit der linken Faust zu. Er spürte, wie seine Knöchel die Haut aufrissen, und sah, wie sein Widersacher in einem weiten Bogen zu Boden ging. Und dann flog die fliegende Insel nicht mehr aus eigener Kraft. Sie trieb in die Tiefe wie ein fallendes Blatt. Peyton kam sich ganz leichtfüßig vor. Ihm war, als stünde er in einem Lift, der bei der Fahrt in die Tiefe immer schneller wurde. Viereinhalb Meter in der ersten Sekunde, neun in der zweiten, achtzehn in der dritten – Torridge stand auf und deutete auf ein Rad an der Wand. »Wollen Sie, daß wir in Stücke zerschmettert werden?« schrie er Opa an. »Betätigen Sie gefälligst die Bremse!« Das war die Übergabe.
23 Opas Hände umfaßten das Rad, das Torridge ihm gewiesen hatte. Es erinnerte an das Steuer eines alten Segelschiffes. Opa drehte. Plötzlich spürte Peyton wieder den Boden unter den Füßen. »Ich verstehe«, sagte Opa und sah Torridge über die Schulter an. »Das sind wohl Bremsaggregate?« Er blinzelte Peyton zu. »Jetzt klappt's, Blacky.« Ihr Fallen verlangsamte sich merkbar. Die Maschinen rings um sie waren verstummt. Von irgendwo war das Zischen der Bremsaggregate zu hören. Die Männer, die an den verschiedenen Geräten in der Steuerkuppel gearbeitet hatten, kamen jetzt auf die kleine Gruppe am Hauptsteuer zu. Peyton sah ein gutes Dutzend finsterer Gesichter und bereitete sich auf einen Angriff vor. Aber Opa, der immer noch eine Hand an der Bremse hatte, richtete die Pistole auf Torridge. »Stehenbleiben, verdammt noch mal!« rief er. »Noch ein Schritt, und euer Hochmarschall kriegt eine Kugel in den Bauch!« Die Flieger blieben wie erstarrt stehen. »Ah!« sagte Torridge leise. »Vielen Dank, Gentlemen! Ich danke Ihnen, daß Sie ihm gehorcht haben. Ich will wirklich keine Kugel in den Bauch.« Durch verschiedene Eingänge schoben sich jetzt
weitere Flieger herein. Peyton zog schnell den benommenen Argyle in die Höhe und drückte ihm die Pistole an die Schläfe. »Und auch keine Dummheiten von der anderen Seite!« schrie er mit voller Lautstärke. »Sonst ist Argyle der erste, der dran glauben muß!« Ein wildes Geschrei erhob sich, aber Torridge stand auf und hob den Arm. Sofort wurde es wieder ruhig. »Ich rate allen, ruhig zu sein und sich nicht von der Stelle zu rühren, bis Sie zum Reden aufgefordert werden«, sagte er, gerade laut genug, um sich Gehör zu verschaffen. Dann setzte er sich wieder und sah Argyle an, den Peyton immer noch nicht losließ. »Ich würde eigentlich nicht sagen, daß Sie ein sehr erfolgreicher Usurpator sind, Argyle.« »Behaupten könnten Sie es schon«, meinte Opa trocken, »aber der Beweis dürfte Ihnen schwerfallen.« Torridge lachte, als amüsierte ihn die ganze Lage ungemein. »Gut gesagt! Stimmt auch. Ist einer von Ihnen beiden zufällig Pierce Peyton?« »Der mich da festhält ist Peyton«, knurrte Argyle. »Hoffentlich macht es ihm Spaß. Es wird wohl das letzte auf der Welt sein, was ihm Spaß macht.« »Oh, bitte!« sagte Torridge und schlug die Beine übereinander. »Keine Drohungen, Argyle! Und keine finsteren Andeutungen! Machen Sie es wie ich. Denken Sie nur mehr über Ihre eigene Zukunft nach.«
Schweigend saßen sie da und lauschten auf das Summen der Bremsaggregate. »Das Ganze ist etwas unerwartet gekommen«, meinte Torridge schließlich, »und trotzdem scheint es zu einer interessanten Geschichte zu passen, die ich vor einer Weile hörte. Wenn Sie Pierce Peyton sind, dann sind Sie und Ihr energischer alter Freund nicht in Argyles Pläne verwickelt.« »Nein, Sir, das sind wir nicht«, versicherte ihm Peyton. »Und zu ihrer Bande gehören wir auch nicht. Wir gehören zur Widerstandsgruppe gegen die Flieger.« »Widerstandsgruppe«, wiederholte Argyle, ohne sich von der Stelle zu rühren, weil Peyton ihm immer noch die Pistole gegen die Schläfe drückte. »Ich hätte ahnen müssen, daß es zu so etwas kommen würde.« »Wenn Sie es hätten ahnen müssen«, sagte Torridge mit glatter Stimme, »warum haben Sie es dann nicht geahnt?« »Dieser undankbare Pöbel!« stöhnte Argyle. »Sich gegen uns zu erheben –.« »Wie Sie sich gegen mich erhoben haben«, erinnerte ihn Torridge. »Kommen Sie, Argyle, setzen Sie sich zu mir. Peyton, dieser arme Teufel hat Schmerzen an seinem Knie. Darf ihm jemand helfen? Danke! So, vielleicht kann einer der Herren Verbandszeug holen und sich um ihn kümmern.«
Argyle sank auf die Bank. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in den Händen. Torridge sah ihn spöttisch an. jetzt meldete sich die Stimme eines Fliegers aus dem Hintergrund: »Marschall Torridge, Sie brauchen bloß ein Wort zu sagen, dann machen wir mit diesen Piraten Schluß.« »Sie machen mit niemandem Schluß«, entschied Torridge fest und machte es sich neben Argyle auf der Bank bequem. »Haben Sie diesen Alten hier nicht gehört? Er will mir eine Kugel in den Bauch jagen. Und er sieht so aus, als würde er mit der Drohung ernst machen. Hat jemand eine Zigarette? Vielen Dank, Peyton! Synthetisch, wie ich sehe, aber besser als gar nichts.« Er zündete sie an. »So, meine Herren«, fuhr er dann fort. »Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir hier Zeugen des Endes einer Ära werden. Unser Sicherheitsmechanismus wird verhindern, daß wir eine Bruchlandung machen. Aber sobald diese fliegende Insel einmal gelandet ist, wird sie nie wieder fliegen. Das bedeutet das Ende der Flieger.« »Amen!« sagte Opa. »Das lasse ich nicht zu!« brauste Argyle auf. »Ich würde mich an Ihrer Stelle ruhig verhalten!« riet Torridge. »Ich habe zugesehen, wie Peyton Sie
einmal niedergeschlagen hat. Und so sehr es mir auch Spaß machen würde, das noch einmal mitanzusehen, glaube ich doch nicht, daß Sie Freude daran hätten.« Argyle drehte sich herum und funkelte den Hochmarschall an. »Wir haben eine Chance«, sagte er verzweifelt. »Wir können uns zusammentun. Wenn wir gelandet sind, können wir diese Schweine vernichten – es sind nur zwei. Und dann marschieren wir nach New York und schlagen die lächerliche Rebellion nieder, die dort ausgebrochen ist.« »Wie wollen Sie das denn machen?« fragte Torridge sanft. »Ich bin doch richtig informiert, daß Sie Ihre ganze Streitmacht gegen mich eingesetzt haben. Sie haben also nur die Flugzeuge, die hier oben sind. Davon sind die meisten ohnehin nur mehr Wracks. Und die paar, die sich noch reparieren lassen, werden einige Zeit in Anspruch nehmen. Und ohne Flugzeuge wüßte ich nicht, wie Sie New York zurückgewinnen wollen.« »Sie wollen sich also damit abfinden, daß wir von ein paar Dreckkriechern erledigt worden sind?« ereiferte sich Argyle. Torridge deutete mit der Hand, die die Zigarette hielt, auf Peyton und Opa. »Hier sind nur zwei von diesem Schlag, und sie haben unsere gesamte Streitmacht, die noch vor ein paar Minuten so freudig miteinander kämpfte, neu-
tralisiert«, sagte er und gähnte erneut. »Peyton, überrascht es Sie sehr, daß das Ganze für mich eine große Erleichterung ist?« Peyton grinste. »Wenn Sie mich schon fragen, Sir – Sie wirken wirklich müde und nervös. Ich glaube, ich weiß ziemlich gut, was in Ihnen jetzt vorgeht. Schön, Sie sind nicht mehr für diese fliegende Insel verantwortlich. Legen Sie sich doch hin und machen Sie ein Nickerchen!« Torridge lächelte. Das Lächeln wirkte etwas wehmütig. »Ich glaube wirklich, daß mir das guttun würde, aber ich bleibe besser doch wach und erlebe das bis zum Ende mit. Langsam gefällt mir die Rolle des objektiven Beobachters. Das Ganze wird für den, der gewinnt, ein Riesenspaß.« »Ich werde gewinnen!« stieß Argyle hervor. »Bilden Sie sich doch nichts ein!« meinte Torridge. »Sind Sie sich denn nicht darüber im klaren, daß mit dem Fall der fliegenden Insel die ganze Regierungsstruktur der Flieger am Ende ist?« »Freut mich, daß Sie das zugeben«, sagte Peyton. »Oh«, meinte Torridge, »es wäre einfach unrealistisch, das nicht zuzugeben. Und ich bin schon immer Realist gewesen. Die Insel war eine Nadel, die jeden Tag einen Faden durch all die Perlen zog, aus denen das Band von Städten bestand, die die Zivilisation der
Erde bildeten. Und jetzt werden diese Städte nur mehr einzelne Perlen sein. Jede Stadt hat eine immense Bevölkerung und ein unzureichendes Kontingent von Fliegern, die das Kommando führen. Und die Stadtbewohner und die Flieger werden nicht wissen, was geschehen ist oder was sie tun sollen.« »Wir können ja Flugzeuge von Stadt zu Stadt fliegen lassen«, sagte Argyle unbeeindruckt. »Das bezweifle ich. Wir haben nicht genug Navigatoren. Und wer seine Stadt verläßt und in eine andere fliegt, läßt zugleich auch zu, daß seine Stadt rebelliert.« Torridge blies den Rauch aus. »Nein, Argyle, ich habe nicht vor, mich mit dem Wiederaufbau zu belasten. Ich bin zu alt und zu müde.« »Dann sind wir erledigt«, murmelte ein Flieger, und seine Gefährten nickten niedergeschlagen. »Ihr könnt für euch selbst sprechen, Ihr Flieger!« knurrte Opa. »Ich bin selbst ein alter Mann, aber ich bin nicht müde. Ich kann navigieren. Ich kann ein Flugzeug steuern, wohin auch immer seine Motoren es tragen. Ich brauche bloß eine Landkarte, einen Kompaß und einen Quadranten. Verdammt noch mal, vor fünfzig Jahren –« »Hören Sie das?« fragte Torridge und stieß Argyle mit dem Ellbogen an. »Da haben Sie Ihre Antwort! Der alte Mann hat sich all die Fähigkeiten bewahrt, die wir vergessen haben.«
Aber Argyle dachte an etwas ganz anderes. Peyton hatte seine Pistole eingesteckt. Argyle hatte das bemerkt und sprang plötzlich auf. Er hatte seine Taktik Peyton selbst abgeschaut. Seine Hände umklammerten Peytons Kehle und drückten zu. Peyton hatte nicht mit dem Angriff gerechnet und taumelte zurück. Argyle versuchte ihn zu Boden zu drücken. »Helft mir, Männer!« schrie Argyle. »Keiner bewegt sich!« warnte Torridge schnell. »Ich möchte sehen, was daraus wird.« Und dann kam jemand gerannt, jemand mit einer langen blonden Mähne. Thora umfaßte Argyle von hinten und zerrte an ihm. Peyton riß sich los und legte seine ganze Kraft in einen Schlag. Der Schlag hallte durch die Steuerkuppel. Argyle brach in Thoras Armen zusammen. Sein Gesicht war blutig. Torridge schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Diesmal haben Sie ihm, glaube ich, die Nase gebrochen«, sagte er. »Armer Argyle! Er lernt so langsam und so schmerzhaft!« Peyton sah die anderen Flieger herausfordernd an; aber die standen reglos da und starrten bloß. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich heraushalten«, meldete Torridge sich zu Wort. »Vergessen Sie das nicht! Vielleicht muß ich Sie auch einmal um einen Gefallen bitten.«
Thora sah sich verblüfft im Raum um. »Was geht denn hier vor?« fragte sie. »Ich habe den Kampf gehört, und die Männer, die mich bewachten, rannten weg. Als ich herauskam, war der Kampf vorüber – alle drängten sich in Ecken oder versteckten sich hinter Möbeln.« »Das kommt daher, weil diese Männer erkannt haben, was Sie noch nicht bemerkt haben«, informierte sie Torridge. »Die fliegende Insel hat ihren Flug beendet. Sie fliegt nicht mehr. Sie hört auf, eine Insel zu sein. Sie nähert sich jetzt der Erde und sucht einen Platz für die Landung.« Er deutete auf das Instrumentenbrett. »Dieser Höhenmesser hier sagt, daß wir gleich landen werden.« »Ich bin fertig!« stöhnte Argyle am Boden. »Das kann man wohl sagen!« lobte Torridge. »Ich war schon lange fertig – nämlich als Peyton hier auftauchte. Es ist wirklich schön, wenn mal ein anderer das Denken übernimmt.« Dann landeten sie mit einem kleinen Ruck und einem mächtigen Krachen. Alle schwankten unter dem Aufprall, und einige fielen sogar zu Boden. Peyton hielt Thora fest. »Wir sind jetzt in diesem Lake Hoppitycong oder wie er sonst heißt«, verkündete Opa. »Wie hab ich das gemacht? Schließlich hab ich noch nie so ein Biest geflogen. Ich hab die ganze Zeit bloß den See im Bild-
schirm festgehalten, und jetzt sind wir da.« Peyton ließ Thora los. »Alle hinaus!« befahl er. »Sie werden draußen meine Männer sehen, eine ganze Menge Männer. Sie sind bewaffnet und werden jeden Widerstand brechen.« »Widerstand?« fragte Torridge. »Ich werde keinen leisten.« »In dem Fall wird niemand verletzt werden. Lassen Sie die Waffen fallen und gehen Sie mit erhobenen Händen hinaus! Das Wasser ist seicht genug, daß Sie an Land waten und sich dort ergeben können.« Verstörte Gesichter starrten Peyton an. Und dann erhob sich Marschall Torridge und sprach mit befehlsgewohnter Stimme: »Habt Ihr nicht gehört, was er gesagt hat?« fragte er. »Nun, etwas fix, wenn ich bitten darf! Tut, was er sagt! Werft eure Waffen weg, hebt die Hände und marschiert hinaus – bißchen fix!«
24 Bengali, bleich und müde, um selbst wie der Hochmarschall des alten Fliegerregimes zu wirken, entließ eine wütende Abordnung aus seinem Büro. Es war ein schönes Büro auf einer der oberen Etagen von New York, ganz anders als das schmutzige Loch hinter Tonys Bar. Ein Sprechgerät summte, und Bengali griff nach dem Hörer. »Ja, ich kann Sie gut verstehen, Philadelphia!« sagte er in die Sprechmuschel. »Natürlich helfen wir Ihnen. Wir rüsten hier schon Gruppen für solche Probleme aus ... Nein, Sie verstehen mich nicht – wir wollen nicht die Macht bei Ihnen übernehmen. Wir helfen Ihnen, aber Ihre Stadt müssen Sie schon selbst regieren.« Er hielt inne und lauschte. Dann runzelte er die Stirn. »Sie müssen doch vernünftige Leute dort haben, die mit uns verhandeln können. Sehen Sie sich unter den älteren Männern um! Sie werden doch welche finden, die vor zwanzig Jahren in den Behörden tätig waren. Wir schicken Ihnen ein paar Leute – morgen vielleicht, wenn wir ein Flugzeug finden – und helfen Ihnen.« Er kritzelte eine Notiz. »Gut, Sie können auf uns rechnen.« Ein Mann trat ein. Bengali legte den Hörer auf und lächelte.
»Kommen Sie nur, Blacky!« sagte er. »Sie sind der erste heute, auf dessen Besuch ich mich gefreut habe. Was haben Sie denn gemacht?« »Im Fernsehen gesprochen«, sagte Peyton und schnitt eine Grimasse. »Sechs Reporter, die gleichzeitig auf mich einredeten. Ich hab ihnen immer wieder gesagt, daß ich mit der Regierung nichts zu tun haben will – daß ich bloß einen Job suche.« »Da haben Sie Glück. Ich hatte keine Chance, nein zu sagen. Der Kampf ist um. Jetzt muß Ordnung geschaffen werden.« Peyton setzte sich. »Der Kampf war eigentlich enttäuschend«, sagte er. »Wir waren bereit zu sterben, und dann haben die Flieger einfach kapituliert. Wie in einem Traum.« Bengali griff nach seinem Zettel. »Philadelphia hat gerade angerufen. Ich habe ihnen klargemacht, daß wir ihnen helfen, aber nicht die Regierung übernehmen wollen. Chicago sagt, daß die Flieger dort mit dem Rest der Bevölkerung eine Koalition bilden wollen. Sie wollen auch unsere Hilfe haben. Und aus London habe ich ähnliches gehört.« »Ich habe den Vorschlag vernommen, daß wir eine Art Vereinte Nationen mit den Städten bilden«, meinte Peyton. »Ich habe diesen Vorschlag gemacht, und er ist gebilligt worden. Opa Hooker wird morgen nach Phil-
adelphia fliegen. Ich habe versucht, Torridge dazu zu bewegen, aber er hat abgelehnt. Er ist bereit, uns zu beraten, aber das ist auch alles. Er zieht eine leichte Tätigkeit auf dem Lande vor. Er sagt, er hätte entdeckt, was für Spaß es macht, den Rasen zu mähen.« »Weil wir gerade von Torridge sprechen – Sie sehen ihm schon sehr ähnlich«, meinte Peyton. »Ausgemergelt und nervös.« Bengali lächelte schief. »Er hat seine Position immer schon gehaßt. Leute wie er sind nicht von Grund auf schlecht, ganz gleich, was für eine prunkvolle Uniform sie tragen. Torridge kann uns eines Tages noch sehr nützlich sein. Von Argyle kann man das nicht behaupten.« »Und was ist mit den anderen Städten?« fragte Peyton. »Tokio und San Francisco und so weiter?« »Langsam spricht es sich herum, daß die fliegende Insel gelandet ist und daß Torridge die Flieger als politisch tätige Gruppe aufgelöst hat. Nach allem, was wir bisher gehört haben, sind die Leute überall froh darüber. Aber es dauert ziemlich lange, der Welt beizubringen, daß sie frei ist.« Peyton griff nach einem Zettel. »Ich habe da was von einem neuen Währungsplan gehört«, meinte er. »Wollen Sie das Geld abschaffen? Die meisten Reformer wollen das doch tun.« Wieder schüttelte Bengali den Kopf. »Ich hatte ge-
rade den Währungsausschuß hier – Theoretiker, Finanzleute. Die Spieler und Makler konnten wir zum Glück raushalten. Es war eine ziemlich erregte Debatte, aber am Ende haben wir uns geeinigt, die Währung auf Arbeitskraft und nicht auf Metall aufzubauen. Geld taugt nichts, wenn man nichts damit kaufen kann. Und eine ehrliche Regierung ist die beste Garantie.« »Wenn wir eine ehrliche Regierung haben«, erinnerte ihn Peyton. »Nun, wir bemühen uns jedenfalls.« Peyton bediente sich aus Bengalis Zigarettenschachtel. »Echter Tabak«, sagte er. »Die kommen von der fliegenden Insel«, meinte Bengali. »Das ist die einzige Beute, die ich mir angeeignet habe. Aber es wird nicht lange dauern, dann können alle echten Tabak haben und echten Kaffee und die anderen Dinge, die wir so vermißt haben. Wertz soll mit ein paar Transportmaschinen nach Süden fliegen und sich dort umsehen.« »Und was dort nicht wild wächst, kann man ja pflanzen«, meinte Peyton. »Aber hören Sie zu – ich bin auf der Suche nach Thora. Sie wollte Sie besuchen.« »Sie war hier. Sie wollte Arbeit haben.« »Was für Arbeit denn?« fragte Peyton. »Rückgewinnung der Wildnis.«
»Großer Gott! Wo denn?« Bengali griff nach einigen Papieren. »Hier, das kann ich Ihnen erklären. Die Flieger waren immer dagegen. Die wollten die Leute in den Städten festhalten oder wenigstens in Farmen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Auf die Weise konnte man sie leichter kontrollieren. Aber Tausende von Leuten verlangen, aufs Land geschickt zu werden.« »Was für Land?« bohrte Peyton. »Wo möchte Thora denn hin? Nach Kanada oder Mexiko oder –« »Oh, hier in der Umgebung«, grinste Bengali. »Diese fliegende Insel im Lake Hoppatcong wird eine Art zentraler Stützpunkt für ein Projekt in Jersey sein. Wir haben schon eine Gruppe von Männern mit Äxten, die uns ein Landefeld bauen. Und dann –« »Thora hat doch keine Ahnung von Farmarbeit!« brauste Peyton auf. »Vielen Dank für diese Vertrauenserklärung, Mr. Peyton!« sagte Thora, die aus einem Nebenbüro eintrat. Sie trug ein dunkelblaues Kleid und hatte ihr goldblondes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Hinter ihrem Ohr steckte ein Bleistift. Beide Hände hatte sie voll Papiere. »Hier ist eine Liste, was wir am ersten Tag einfliegen müssen«, sagte sie zu Bengali und hielt ihm ein Blatt hin. »Wenn wir Glück haben, sind wir nach einem Jahr Selbstversorger. Und im zweiten können
wir vielleicht schon Lebensmittel liefern.« Peyton schüttelte den Kopf. »Wie will denn ein blondes Gift wie du Männer zum arbeiten bringen?« »Sie werden arbeiten müssen, wenn sie etwas essen wollen«, erwiderte sie. »Und, Mr. Peyton, was Ihre Meinung über meine Leistungsfähigkeit angeht –« »Blacky für dich, Thora!« lächelte er. »Miss Thora für Sie, Mr. Peyton. Seit wann verstehen Sie denn etwas von Farmarbeit?« »Meine Eltern waren Farmer, ehe sie in die Stadt kamen«, sagte er. »Meine auch.« Peyton deutete auf Bengali. Der hatte sich schon wieder seinen Papieren zugewandt. »Hören Sie, Bengali«, sagte Peyton, »ich habe von dieser neuen Regierung auch etwas zu verlangen. Sie können Thora streichen und mir die Leitung der Farmgruppe in Jersey übertragen. Ich verstehe etwas davon. Sie brauchen doch einen Mann, um mit den Arbeitern umzugehen – jemand, dem man vertrauen kann.« »Dann kann man mir wohl nicht vertrauen?« fragte Thora eisig. Bengali runzelte die Stirn. »Ich schicke Sie beide hin, dann können Sie gemeinsam die Leitung übernehmen«, bot er an. »Ich werde der Chef sein«, beharrte Peyton. »Ich gebe die Anweisungen!«
»Ich werde Anweisungen geben, und du wirst tun, was ich sage!« schrie Thora. »Sie werden zusammen arbeiten und sich in der Leitung von Woche zu Woche abwechseln«, erklärte Bengali. »Die Arbeit im Freien wird Ihnen beiden guttun. Vielleicht bekommen Sie dann auch etwas bessere Laune.« Peyton sah Thora an. Sie hatte den Mund zusammengekniffen, um nicht zu lachen; aber ihre blaugrünen Augen blickten spöttisch. »Ich will hier keinen Streit«, sagte Bengali. »Verschwinden Sie und lassen Sie mich arbeiten! In drei Minuten kommt die nächste Abordnung, und ich habe genügend Arbeit für den ganzen Tag.« Thora machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Nebenzimmer. Sie versuchte ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber er zwängte sich hindurch und packte sie an beiden Armen. »Wir werden zusammenarbeiten«, sagte er. »Und damit du deinen Kollegen besser kennenlernst –« »Loslassen, Pierce!« wehrte sie ihn ab. »Auf die Weise werden wir nie –« »He, was soll der Lärm?« rief Opa aus, der an einem mit Papieren überladenen Schreibtisch saß. »Das sieht ja so aus, als wollte Blacky dich ersticken, Thora!« Peyton lachte, und Thora in seinen Armen lachte
auch. Ihr strenger Haarknoten hatte sich gelöst, und der Bleistift war zu Boden gefallen. »Hilf mir doch, Opa!« rief sie. »Warum überläßt du mich denn diesem wilden Mann?« Opa kicherte wie ein Gnom. »Weil ich neunzig bin«, antwortete er. »Hol's der Teufel!«