Integrative Sozialtheorie? Esser - Luhmann - Weber

Rainer Greshoff • Uwe Schimank (Hrsg.) Integrative Sozialtheorie? Esser - Luhmann - Weber Rainer Greshoff Uwe Schiman...

Author: Gudrun Wansing

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Rainer Greshoff • Uwe Schimank (Hrsg.) Integrative Sozialtheorie? Esser - Luhmann - Weber

Rainer Greshoff Uwe Schimank (Hrsg.)

Integrative Sozialtheorie? Esser-Luhmann Weber

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VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothel< verzeichnet diese Publil abrufbar.

1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Absatz.Format.Zeichen, Niedernhausen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14354-9 ISBN-13 978-3-531-14354-5

Inhaltsverzeichnis Rainer GreshoffI Uwe Schimank Einleitung: Integrative Sozialtheorie

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]ens Greve Logik der Situation, Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation bei Esser und Luhmann 13 Thomas Schwinn Der Nut2en der Akteure und die Werte der Systeme

39

Tilmann Sutter Emergenz und Konstitution, Kommunikation und soziales Handeln: Leistungsbeziehungen zwischen Essers methodologischem Individualismus und Luhmanns soziologischer Systemtheorie

63

Bemhard Prosch/Martin Ahraham Gesellschaft, Sinn und Handeln: Webers Konzept des sozialen Handelns und das Frame-Modell

87

Rainer SchUt^eichel Die Selektivitat von Sinn. Uber die Sinnkonzeptionen und Sinnformen des Strukturtheoretischen Individualismus und der Systemtheorie und ihre methodologischen Pramissen und Implikationen

Ill

Martin EndreJ^ Zwischen den Stiihlen — Zu Hartmut Essers Versuch einer Rekonzeptualisierung von „Sinn" und „Kultur" im Gesprach mit ^Rational Choice" und Max Weber

157

Thomas Schwietring Geht es auch ohne? Zur Rolle des Kulturbegriffs in der Rational Choice-Theorie Hartmut Essers und in Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme

187

Georg Kneer Zur Integration des Systembegriffs in Hartmut Essers erklarender Soziologie

229

Inhaltsver2;eichnis Christian Bt^odt Handeln, soziales Handeln und Handlimgstypen bei Weber und Esser unter Benicksichtigung ihrer unterschiedlichen methodologischen Ausrichtung

259

WilMartens Der Sinn des Handelns. Esser xmd Weber

289

Jindrea Maurer Die Rationalitat so2ialer Ordnung. Die Ordnimgskonzeptionen von Max Weber und Hartmut Esser im Vergleich

337

Dietmar Braun Rationalitatskonzepte in der Systemtheorie Niklas Luhmanns und in der Handlungstheorie Hartmut Essers: ein Theorievergleich

363

Zenonas Norkus Rationales Handeln/Rationalitat bei Weber imd Esser im Vergleich

399

Rafael Wittek Abnehmende Abstraktion, Idealtypen, Erklarungslogik und Theorieverstandnis bei Weber und der erklarenden Soziologie im Vergleich

419

j-L. Schneider Erklarung, Kausalitat und Theorieverstandnis bei Esser und Luhmann im Vergleich

445

Thomas Kron/l^ars Winter Zum bivalenten Denken bei Max Weber, Niklas Luhmann und Hartmut Esser

489

Rainer Greshoff Das Essersche „Modell der soziologischen Erklarung'' als zentrales Integrationskonzept im Spiegel der Esser-Luhmann-Weber-Vergleiche — was resultiert fur die weitere Theoriediskussion? Verzeichnis der Autorin und Autoren

515 581

Einleitung: Integrative Sozialtheorie Rainer Greshoff und Uwe Schimank

In den letzten Jahren ist die explizite Beschaftigung mit der Vielfalt an Theorien in der Soziologie wieder vermehrt zum Gegenstand der Theoriediskussion geworden. Dies geschieht auf verschiedene Weise. Einmal dadurch, dass an die bereits versandet geglaubte Theorienvergleichsdebatte der 70er Jahre angekniipft und versucht wird, durch Vergleiche die nach wie vor unubersichtliche Theorienvielfalt in geklarte Verhaltnisbestimmungen der verschiedenen Ansat2e zu liberfuhren oder Vorschlage zu entwickeln, welche Ansatze zu eliminieren sind.^ Weiter geschieht es auch dadurch, dass der Sinn solcher Vergleichsbemiihungen bezweifelt und die Vielfalt statt dessen als etwas begriffen wird, was nicht als „multiple Paradigmatase" zu beklagen, sondern die Mannigfaltigkeit der sozialen Welt zum Ausdruck bringt und daher fur die jeweilige Theoriebildung als kreatives Potenzial zu nutzen ist.^ SchHeBlich gibt es noch den Vorschlag, die Vielfalt dadurch zu bewaltigen, dass die verschiedenen Ansatze oder zumindest deren relevante Konzepte in einer bzw. zu einer Theorie zusammengefiihrt und dariiber integriert werden. Das ist das Ziel, das sich Hartmut Esser mit seiner in den letzten Jahren konzipierten „Soziologie" gesteckt hat. Mit dem, was er „integrative und nicht-reduktionistische erklarende Sozialtheorie" nennt, macht er einen Vorschlag, der die verschiedenen soziologischen Paradigmen systematisch zusammenfiihrt. Ihm geht es damit um „die Uberwindung der das Fach seit jeher in seiner Arbeit, seinen Erfolgen und seinem Ansehen sehr schadenden internen Spaltung in die diversen Ansatze und Paradigmen" (Esser 2004, S. 8). Sein Anspruch ist hoch gesteckt: er will mit der integrativen Sozialtheorie dem Ziel naher kommen, fiir die gesamte Disziplin „Soziologie" ein einheitliches Fundament gelegt zu haben (Esser 1999, S. XVIf, 2001, S. 531-534). Einem Unternehmen dieses Zuschnitts kommt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Brisanz, die die so genannte multiparadigmatische Verfassung der Soziologie in der Theo-

Siehe dazu etwa den Bericht von Andrea Hamp zur Theorienvergleichstagung der Sektion „Soziologische Theorien" der DGS in Dresden in Heft 4/2005 der „Soziologie"; siehe weiter die diskursiven Theorienvergleichsbande Greshoff/Kneer 1999, Greshoff/Kneer/Schimank 2003 sowie verschiedene Beitrage in Schimank/Greshoff 2005. Siehe etwa Barlosius/Miiller/Sigmund 2001, S. 21-23 sowie Reckwiti^ 2005.

Rainer Greshoff und Uwe Schimank

riediskussion immer noch besitzt, eine besondere Bedeutung zu."^ U m seinen Stellenwert und seine Tragweite genauer einschatzen zu konnen, bedarf es der Auseinandersetzungen damit. Dafiir wurde das vorliegende Buchprojekt gestartet. Seine Konzeption, mit der die Autorin und die Autoren fur die nachstehend abgedruckten Beitrage eingeladen wurden, basiert auf folgenden Uberlegungen: Die Auseinandersetzung mit Essers Sozialtheorie sollte sich zum einen zunachst auf seine dieoretischen und methodischen Grundlagen konzentxieren, also vor allem das „Modell der soziologischen Erklarung" und die damit verkniipften Konzepte in den Blick nehmen. Z u m anderen sollten die Untersuchungen im Vergleich mit entsprechenden Grundlagenpositionen anderer Ansatze durchgefuhrt werden. U m auf diese Weise die Tragweite von Essers Sozialtheorie ausloten zu konnen, waren Positionen mit moglichst eigenstandigen und vor aUem auch explizierten Grundlagen heranzuziehen. Giinstig erschienen dariiber hinaus Ansatze, denen Esser fiir die Umsetzung seines Integrationsvorhabens einen besonderen Stellenwert zumisst. Erfiillt werden die genannten Bedingungen in besonderer Weise durch die Konzeptionen von Max Weber und Niklas Luhmann. Beide haben als Sozialwissenschaftler ausgepragte und diszipHnar einflussreiche allgemeine Positionen verfasst. Beide Konzeptionen haben fiir Esser in unterschiedlicher Form eine besondere Bedeutung. Etwa: Esser greift Webers Konzepte gerade bei seinen grundlegenden Gegenstandsbestimmungen immer wieder zustimmend auf Andererseits setzt er sich aber auch kritisch von ihnen ab und will Begrenzungen iiberwinden. Man kann den Eindruck gewinnen, als wolle Esser ein modernisierter Max Weber sein. Luhmanns Konzeption stellt fiir Esser eine Herausforderung dar, an der er sich „reibt" und die er als Anregungspotential nutzt, welche er aber in ihrer Ganze als Gegenposition begreift, deren Anlage er nicht teilt, sondern fiir einen Irrweg halt. U m diese Uberlegungen umzusetzen, wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Richtungen angefragt, Esser-Weber- bzw. EsserLuhmann-Vergleiche durchzufiihren, in denen jeweils zu ausgewahlten Aspekten des oben skizzierten Themenspektrums dargelegt werden sollte, ob, warum und in welcher Weise die Positionen von Weber und Luhmann in Essers Theorie als integriert bzw. nicht-integriert anzunehmen sind. Zur naheren Erlauterung dieser Aufgabenstellung wurden folgende Fragen formuliert:

Ein derartiges Integrationsunternehmen ist zudem selten. Auch international gesehen hat es einen singularen Charakter. Was ahnliche Unternehmen angeht, so mag man etwa an Parsons' friihere auf Theoriesynthese abzielende Theoriearbeit denken und im Anschluss daran an die Arbeiten von Alexander und Miinch. Auch Parsons ging es wie Esser darum, „der So'ziologie ... eine feste bzw. festere Grundlage zu geben" (Joas/Knobl 2004, S. 45).

Einleitung: Integrative Sozialtheorie

•

Die verschiedenen Ansatze der Soziologie und die mit ihnen einhergehende konzeptuelle Vielfalt kann man als „dis2iplinaren Reichtum" betrachten, der nicht leichtfertig aufgegeben werden sollte. Wird dieser Reichtxim bei der Integration in geniigender Weise bewahrt oder ist Essers Sozialtheorie ein Vorschlag zur Herstellung der Einheit der Soziologie, der mit (zu) groBen Verlusten einhergeht?

•

Was meint Esser mit „Integration"? Werden die Konzepte der jeweiligen Paradigmen methodisch eingebunden oder werden heterogene und nicht zusammenpassende Konzepte „additiv" nebeneinander versammelt, so dass daraus keine konsistente Konzeption resultiert? Weiter ist zu fragen: Welchen SteUenwert hat der Rational-Choice-Ansatz bei der Zusammenfiihrung der Konzepte? Ist seine „Pragekraft" so groB, dass keine iibergreifende Konzeption, sondern eine „bloBe" Erweiterung des Rational-Choice-Ansatzes entstanden ist, so dass es im Grunde beim multiparadigmatischen Zustand der Soziologie bleibt?

•

Was folgt aus den Antworten auf derartige Fragen, wie ist das Integrationsergebnis schlieBlich zu beurteilen? Z u diskutieren ist — zugespitzt formuliert —, ob und warum Essers integrative Sozialtheorie in der vorHegenden Form als gelungen zu akzeptieren, ganzHch zu verwerfen oder zu korrigieren ist — und in letzterem Falle ware anzugeben: in welcher Hinsicht, in welchem Umfang usw.

Bei der Konzeption des Buches wurde auch der Fall beriicksichtigt, dass sich im Laufe der Arbeit an einem Buchbeitrag die Einschatzung einstellen mag, die Frage nach einer Integration sei so nicht zu stellen bzw. so nicht zu beantworten, wie mit den vorstehenden Punkten skizziert. Fiir diesen FaU sollte dann in vergleichender Perspektive untersucht werden, in welchem Verhaltnis Essers Konzeptvorschlage zu den jeweiligen Positionen von Weber oder Luhmann stehen. Etwa dahin gehend, dass analysiert wird, ob und warum die entsprechenden Konzepte von Esser mit den Positionen von Weber oder Luhmann grundsatzlich zu vereinbaren bzw. nicht zu vereinbaren und in welcher Weise letztere gegebenenfalls im Theorierahmen von Esser zu verorten sind. Herausgekommen ist ein Sammelband mit 16 Esser-Weber- bzw. EsserLuhmann-Vergleichen,4 in denen die zentralen materialen und methodischen Konzepte von Essers Ansatz diskutiert werden. Den — hoffenthch nur vorlaufigen — Schlusspunkt der Auseinandersetzung mit Essers Integrations vorschlag bildet ein Beitrag, in dem vor allem die GrundUnien des „Modells der soziologischen Erklarung" sowie verschiedene Positionen aus den 16 Vergleichen mit BHck auf die weitere Theoriediskussion erortert werden.

Als Ausnahme gibt es einen Esser-Weber-Luhmann-Vergleich; dessen spezifische Thematik war durch einen Vergleich liber aUe drei Ansatze hinweg fruchtbarer zu behandeln.

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Rainer Greshoff und Uwe Schimank

Was diese weitere Theoriediskussion angeht, so ist ein moglicher Pfad dafiir hier besonders herauszustellen, weil er im Zusammenhang mit der Konzeption des Buchprojektes steht. Dessen vergleichende Anlage resultiert nicht allein aus den oben dargelegten Uberlegungen, sondern hat auch noch den Hintergnind, damit Positionen in die Diskussion einbinden 2u konnen, die wie Esser in Richtung „einheitliches Fundament fut die Soziologie" argumentieren. In dieser Perspektive ist zunachst Karl Otto Hondrichs These von der „einen soziologischen Theorie und den vielen Ansatzen" aufzunehmen (Hondrich 1978, S. 314/328f). Hondrich war der festen Uberzeugung, dass liber eine breit abgesicherte vergleichende Bestandsaufnahme der verschiedenen soziologischen Ansatze auf Komplementaritaten, Gleichheiten und Alternativitaten hin der Weg bereitet wiirde, diese Ansatze in einer Theorie hoheren Allgemeinheitsgrades 2u integrieren (Hondrich 1976, S. 20, 1978, S. 320, S. 324-326). Er war sich sicher, dass letztlich „die Unterschiede ... im konsequenten Theorienvergleich verschwinden" miissen (Hondrich 1978, S. 326). Gegensatzlichkeiten etwa zwischen jeweiligen Ansatzen meinte er durch empirische Uberpriifung bzw. Falsifikation aufklaren zu konnen. Hinsichtlich der Idee eines einheitHchen Fundamentes fur die Soziologie geht in eine ahnHche Richtung die im Anschluss an Coleman formuHerte These von Michael Schmid, dass es „nur eine Sozialwissenschaft gibt". Um dieses „Einheits-Konzept" wirksam werden zu lassen, halt er es fur notwendig, „eine ,Synthese' der soziologischen Theorie voranzutreiben" (Schmid 2005, S. 70). Dafur wiederum mis St er, im Prinzip ganz ahnHch wie Hondrich, Theorievergleichen eine besondere Bedeutung zu (Schmid 2001, S. 489). SchHeBHch ist noch auf die jiingst formuUerte These von Gesa Lindemann hinzuweisen, die mittels des Verfahrens eines kritisch-systematischen Theorievergleichs zu dem Ergebnis kommt, dass sich zwischen verschiedenen soziologischen Ansatzen eine Konvergenz dahin gehend abzeichnet, was sie als „das Soziale" als den zentralen Gegenstand ihrer Konzeptionen begreifen (Lindemann 2005). V o n ganz verschiedenen Positionen her wird also so argumentiert, dass die Vorstellung von einem einheitHchen Fundament fiir die Soziologie keineswegs als eine Illusion, sondern als eine reale MogHchkeit zu begreifen ist. Und aUe diese Positionen messen dem Theorievergleich eine herausragende Bedeutung dabei zu, ein solches Fundament „zum Vorschein" zu bringen. Bedenkt man die iiberaus positiven disziplinaren Auswirkungen, die ein derartiges Fundament haben kann, ware zu iiberlegen, in der Soziologie eine TheorieForschungsinstanz zu etablieren, die vor allem mit Blick auf die Chancen fur eine solche Grundlage die besondere multiparadigmatische Verfassung der Soziologie vergleichend zu bearbeiten hatte. Fiir mehr Nachhaltigkeit in den Theoriediskussionen Sorge zu tragen, ware ein weiterer wichtiger Punkt. Anzulegen ware eine solche Instanz dann als eine Art von diszipHnarer Selbstver-

Einleitung: Integrative Sozialtheorie

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standigung, allerdings mit einem in vielerlei Hinsicht „kon2entrierteren" Zuschnitt, als sie die Theorievergleichsdebatte der 70er Jahte daistellte. Was auch immer aus einem solchen Projekt fiir die theoretische Verfassung der Soziologie resultieren mag, Essers integrativer Sozialtheorie kommt schon heute das Verdienst 2u, einen konkreten Vorschlag fur ein solches Fundament eingebracht zu haben, der bereits gegenwartig die einschlagige Diskussion befordert — wie man an dem vorliegenden Buch unschwer erkennen kann.

Fiir das Gelingen des Buchprojektes ist verschiedenen Einrichtungen und Personen zu danken. Zunachst der D F G , die mit der Forderung des Projektes „Uberwindung des multiparadigmatischen Zustandes der Soziologie? Die integrative Sozialdieorie von Hartmut Esser im Vergleich mit den Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann" (SCHI 553/2-1, 2-2) die basalen Voraussetzungen dafur geschaffen hat. Dann der Autorin und den Autoren fur ihre Beitrage, insbesondere aber auch fiir die Geduld, die sie aufbringen mussten, bis das Buch endUch fertig gestellt war. Nicht nur fiir letzteres gilt unser Dank ebenso Frank Engelhardt vom VS-Verlag fiir Sozialwissenschaften, vor allem aber auch dafiir, dass er das Mitteilungsbediirfnis einiger Autoren so groBziigig toleriert hat. SchlieBlich ist Sabine Mohrenstecher ganz herzlich zu danken, die mit groBer Umsicht und Sorgfalt sowie in unermiidlicher Detailarbeit die Druckvorlage fur dieses Buch hergestellt hat.

Litetatut Barlosius, Eva, Hans-Peter MiiUer, Steffen Sigmund (2001): Deutsche Soziologie im Umbruch. Bine Momentaufnahme in systematischer Absicht, in: Eva Barlosius, Hans-Peter Miiller, Steffen Sigmund (Hg.), Gesellschaftsbilder im Umbruch, Opladen, S. 9-34 Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt/M/New York Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur, Frankfurt/M/New York Esser, Hartmut (2004): Soziologische AnstoBe, Frankfurt/M/New York Greshoff, Rainer, Georg Kneer (1999) (Hg.): Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive, Opladen-Wiesbaden Greshoff, Rainer, Georg Kneer, Uwe Schimank (2003) (Hg.): Die Transintentionalitat des Sozialen, Wiesbaden Hondrich, Karl Otto (1976): Entwicklungslinien und Moglichkeiten des Theorievergleichs, in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie, Stuttgart, S. 14-36

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Rainer Greshoff und Uwe Schimank

Hondrich, Karl Otto (1978): Viele Ansatze - eine soziologische Theorie, in: Karl Otto Hondrich, Joachim Matthes (Hg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt/Neuwied, S. 314-330 Joas, Hans, Wolfgang Knobl (2004): Sozialtheorie, Frankfurt/M Lindemann, Gesa (2005): Theorievergleich und Theorieinnovation. Pladoyer fur eine kritisch-systematische Perspektive, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 44-64 Reckwitz, Andreas (2005): Warum die Einheit der Soziologie unmoglich ist: Die Dynamik theoretischer Differenzproduktion und die Selbsttransformation der Moderne, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 65-77 Schimank,Uwe, Rainer Greshoff (2005) (Hg.): Was erklart die Soziologie?, Miinster Schmid, Michael (2001): Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 12, S. 481-494 Schmid, Michael (2005): Soziale Mechanismen und soziologische Erklarungen, in: HansJiirgen Aretz, Christian Lahusen (Hg.), Die Ordnung der GeseUschaft, Frankfurt/M, BerHn, Bern, BruxeUes, New York, Oxford, Wien, S. 35-82

Logik der Situation, Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation bei Esser und Luhmann Jens Greve

Ein Vergleich von Luhmanns und Essers Konzeptionen unter den Gesichtspunkten „Logik und Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation" steht vor dem Problem, dass die Bezugspunkte dem Esser'schen Konzept entiehnt sind und keine auffalligen Aquivalente bei Luhmann finden.^ Daher wird hier eine allgemeinere Folie des Vergleichs zwischen beiden Ansatzen gewahlt. Ich gehe dabei von der Mikro-Makro-Unterscheidung aus, Dieser Bezugspunkt bietet sich zunachst auch deswegen an, da Esser die Logik der Situation und die Logik der Aggregation als Schritte betrachtet, welche die Mikro- und die Makro-Ebene miteinander verbinden. Dariiber hinaus werden aus dieser Perspektive grundlegende Differenzen zwischen beiden Ansatzen deutlich und der Aufsatz erlaubt es damit, ansatzweise einen Beitrag zu der in jiingerer Zeit wieder aufgeflammten Diskussion um die Konkurrenz von Handlungstheorie und Systemtheorie zu leisten (vgl. Esser 2002, Baecker 2003, Esser 2003b, Nassehi 2003b). Im Folgenden wird zunachst Essers Fassung des Mikro-MakroVerhaltnisses unter dem Gesichtspunkt dargestellt, wie sich die Logik und Definition der Situation, firaming und die Logik der Aggregation in diese einfugen. Im Anschluss folgt die Untersuchung der Behandlung der Mikro-MakroUnterscheidung bei Luhmann.^ Im Gegensatz zu Esser wird sie von Luhmann nicht fiir das Verhaltnis psychischer und sozialer Systeme verwendet, sondern ledigHch im Kontext der Typenunterscheidung von Interaktion und Gesellschaft und auch dort mit einer deutUchen Reserviertheit gegeniiber der MikroMakro-Terminologie. In einem dritten Schritt werde ich zeigen, welche Griinde sich bei Luhmann dafiir finden lassen, die von Esser gewahlte Analysestrategie nicht einzuschlagen — als entscheidend wird sich dabei erweisen, dass fiir Esser die Dynamik sozialer Phanomene stets aus der Dynamik individuellen Han-

Fiif Hinweise und Kritik danke ich Rainer Greshoff und Annette Schnabel. Andere Konzeptionen des Mikro-Makro-Verhaltnisses, neben denen von Luhmann und Esser, werde ich nicht behandeln. Diese sind vielfaltig und reichen von Betrachtungen des Gegensatzes von Kollektiv und Individuum, iiber Struktur und Handlung, groBen und kleinen sozialen Einheiten und entsprechender Forschungsstrategien bis hin zur Unterscheidung zwischen machtvollen und machtlosen Interaktionen (vgl. Alexander et al. 1987, KnorrCetina/Cicourel 1981, Mouzelis 1991).

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Jens Greve

delns abzuleiten ist, wohingegen fur Luhmann soziale Systeme durch Eigendynamiken gekennzeichnet sind, die eine solche Ableitung nicht zulassen.-^ A m E n d e des Aufsatzes wird ausgehend von dieser Beobachtung ein Vorschlag skizziert werden, in welcher Weise Korrekturen an beiden Theorieansatzen vorgenommen werden miissten, wenn man zu einer integrierten Sozialtheorie gelangen mochte.

1 D i e Mikro-Makto-Beziehung bei E s s e t Mikro- und Makroebene miissen in Essers Modell der soziologischen Erklarung verbunden werden, weil aus seiner Sicht das analytische Interesse der soziologischen Erklarung auf der Ebene der kollektiven Sachverhalte angesiedelt ist, die Erklarung aber ohne einen Rekurs auf die Mikroebene, die Handlungswahlen von Individuen, nicht durchfiihrbar sei. Erstens seien Erklarungen, die nur auf der Makro-Ebene angesiedelt sind, notwendigerweise unvoUstandig (Esser verweist hier auf die begrenzte Reichweite solcher soziologischer Gesetze wie dem ehernen Gesetz der Oligarchie, dem Kontraktionsgesetz, der Frustrations-Aggressions-Hypothese etc.) und zweitens miissten sie unverstandlich bleiben, weil eine sinnhafte Erklarung fehlen wiirde (vgl. Esser 1999a, S. 101 f). Esser betrachtet daher eine angemessene soziologische Erklarung, im Anschluss an den Vorschlag von Coleman (1990), als das Resultat

Im Gegensatz zu Essers und Luhmanns eigenem knappen Theorievergleich (vgl. Esser/Luhmann 1996), in dem beide Autoren eher die Konvergeni^en betonen, i^eigen sich hier am Ende demnach eher Divergenzen. Zu den Konvergenzen rechnen beide Autoren erstens die Kritik an einer psychologistischen Position - fur Esser iibersieht diese Kontexte und Folgen des Handelns (vgl. Esser 1999b, S. 421) —, zweitens die Kritik an einem neo-klassischen Rationalitatsbegriff — beide kniipfen hier an Simons Kon^ept der bounded rationality an; vgl. z.B. Luhmann (1960, 1993a) —, drittens die Annahme, dass sich Systemrationalitat von Handlungsrationalitat unterscheiden lasst - bei Esser in Form der Annahme, dass es paretoinferiore Zustande bei Interdependenzen zwischen Akteuren gibt. Fiir Luhmann meint Systemrationalitat die Fahigkeit eines Systems, sich an der Different zwischen sich und seiner Umwelt zu orientieren (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 134, Esser 2001, S. 512, Luhmann 1991) - , viertens die Annahme, dass soziale Systeme durch Eigendynamtken gekennzeichnet sind — die sich nach Esser aber, im Gegensatz zu Luhmann, durch das Modell der soziologischen Erklarung als Folge dynamischer Prozesse auf der Ebene der individuellen Handlungswahlen aufklaren lassen (vgl. Esser 2000a, S. 8f, Esser 2001, S. 500) - sowie fiinftens die These von der struktureUen Kopplung psychischer und sozialer Systeme (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 134). Daneben markiert der Text auch Differenzen; im WesentHchen diejenige, dass das Ziel beider Theorien unterschiedlich sei, das Modell der soziologischen Erklarung ziele auf Erklarung, Luhmanns Konzept hingegen auf Gesellschaftsbeschreibung und fianktionalen Vergleich (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 131f). Die unterschiedlichen Ausgangspunkte beider Ansatze, die System-Umwelt-Unterscheidung und den Konstruktivismus bei Luhmann, die Situations-Akteur-Beziehung und den kritischen Rationalismus bei Esser, betont Kneer (2003, S. 304).

Situation und Aggregation bei Esser und Luhmann

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dreier Schritte: eines ersten Schrittes, der die Makro- mit der Mikroebene verbindet (Logik der Situation), eines zweiten Schrittes, der die Handlungswahlen auf der Mikro-Ebene erklart (Logik der Selektion), und eines dritten Schrittes (Logik der Aggregation), der von der Mikro-Ebene, den individuellen Handlungen ausgehend, zuriick auf die Makro-Ebene fuhrt. Daraus ergibt sich das „Badewannen-Modell" der soziologischen Erklarung (vgl. Esser 1999a, S. 98). Im Folgenden werde ich — meinem Thema entsprechend — den ersten und den dritten Schritt etwas eingehender betrachten. Die Logik der Situation stellt die Verbindung her zwischen der sozialen Situation und der Wahrnehmung dieser Situation durch die Handelnden. „Die Logik der Situation verkniipft die 'Brwartungen und die Bewertungen des Akteurs mit den Alternativen und den Bedingungen in der Situation. Diese Verbindung zwischen sozialer Situation und Akteur erfolgt bei der jeweiligen Erklarung iiber Beschreibungen, iiber die sog. Bruckenhypothesen!' (Esser 1999a, S. 94)"^ Die damit gewonnene Verbindung zwischen der Makro- und der MikroEbene muss in einer soziologischen Erklarung nicht notwendig einer vertiefenden Erklarung unterzogen werden, auch wenn dies moglich ist und gegebenenfalls erforderlich sein kann.^ D e n Gegenstand einer solchen Erklarung bildet dann — neben Prozessen „des Lernens, der Wahrnehmung, der Orientierung, der SoziaUsation [und] der sozialen Kontrolle" — die „De£inition der Situation" (Esser 1999a, S. 94). Als Definition der Situation bezeichnet Esser die Verbindung der objektiven Merkmale der Situation mit der subjektiven Deutung der Situation durch die Handelnden (vgl. Esser 1996, S. 4). Die subjektive Deutung der Situation lasst sich nach Esser als eine Selektion eines Modells der Situation (nach den Regeln der SEU-Theorie) verstehen.^ Ihre Erklarung — sofern sie notig wird — erfordert damit bereits die Inanspruchnahme der Logik der Selektion. Die Selektion solcher Modelle fur eine Situation bezeichnet Esser auch als framing.'' Dieses lasst sich analog zur Wahl von Handlungen verstehen - analog, weil hier nicht Handlungen, sondern Modelle der Wirklichkeit gewahlt werden. Framing beinhaltet dabei, dass bei jedem

Eine solche lautet beispielsweise, dass mit der Zahl von Gruppenmitgliedern die Zahl wahrgenommener Handlungsoptionen steigt (vgl. Esser 1998, S. 95i5. Mikro meint dabei Akteure unter einem spezifischen Gesichtspunkt: „Akteure ,bestehen' als psychische Systeme aus einer im Gedachtnis gespeicherten Ansammlung von mentalen Modellen fiir die Orientierung und das Handeln in t}^pischen Situationen, die iiber Symbole und Mustererkennung die Verbindung zwischen der Orientierung der Akteure und den jeweiligen sozialen Situationen herstellen" (Esser 2000a, S. 35). „Aucli die Definition der Situation ist ein Fall der maximierenden Optimierung in Form der komhinierten Evaluation von Erwartungen und Bewertungen." (Esser 1999a, S. 528, vgl. auch Esser/Luhmann 1996, S. 132) „Framing ist die ,Definition' der Situation durch eine eigene Leistung des Akteurs" (Esser 1997a, S. 80). Fiir eine Ubersicht iiber framing-Konzepte vgl. Stocke (2002).

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JenvS Greve

Handeln in einer Situation ein vereinfachtes Modell der Situation gewahlt wird. Nach Esser besteht die Wahl zwischen zwei alternativen Modellen, einem plausibleren und einem nachst plausiblerem Modell (vgl. Esser 2001, S. 264).^ Welches Modell gewahlt wicd, hangt davon ab, wie gut die situativ gegebenen Hinweise 2u dem Modell pas sen (matching) und davon, welche Konsequenzen sich fur den Handelnden aus der Wahl des Modells ergeben. Im Falle eines perfekten matches von Situation und Modell spielen Folgen keine Rolle, wenn es aber zu Storungen kommt, dann werden auch diese relevant (vgl. Esser 2001, S. 219). Handelnde wahlen in einer Situation nicht nur ein Modell der Situation, sondern auch einen Modus der Informationsverarbeitung. Esser unterscheidet hier einen automatischen Modus, d.h. der Handelnde denkt iiber die Handlungswahl nicht weiter nach, sondern handelt automatisch entlang von eingewohnten Routinen, und einen reflexiv-kalkulierenden Modus, in dem der Handelnde die Situation und ihre mogHchen Folgen bewusst einer gedanklichen Priifung unterzieht. Auch die Wahl des einen oder des anderen Modus hangt nicht nur von der Giite der Ubereinstimmung zwischen Modell und Situationskennzeichen ab, sondern zugleich davon, wie gravierend die Kosten einer Fehleinschatzung des Modells sind (vgl. Esser 2001, S. 27Iff). Mit der Erganzung einer einfachen rational-choice-Theorie durch das framing-Konzept sieht sich Esser in der Lage, zwei Probleme dieser Theorie zu vermeiden, erstens das Auftreten von AnomaHen (vgl. Esser 1996, S, 2) und zweitens die Falle eines Handelns, dem keine bewusste Abwagung vorhergeht (vgl. Esser 1991b, Esser 1991a).9 Die subjektive Wahl der Situationsdefinition hangt Esser zufolge immer auch von den objektiven Bedingungen der Situation ab. Diese umfassen nach Esser innere Bestandteile, das Wissen und die Werte der Akteure, und auBere Bestandteile, die materiellen Opportunitaten, die institutionellen Regeln und die symbolischen Bezugsrahmen (vgl. Esser 1999b, S. 162ff). Dass die subjektiven Definitionen zu einem wesentHchen Teil eine Folge der objektiven Bedingungen sind, ist nicht nur eine Folge des durch die Knappheiten in die Wirk-

Ob diese Zuspitzung auf eine stets binare Wahl zwischen Modellen angemessen ist, bezweifelt Opp (2004, S. 259). Fiir eine ahnHche Kritik vgl. Prisching (1993, S. 44) sowie Liidemann und Rothgang (1996, S. 285). Weil sich damit auch scheinbar unbewusstes oder irrationales Handeln mittels der SEUTheorie erklaren lasst, folgt fur Esser auch, dass Menschen stets rational handeln (vgl. Esser 1999b, S. 224). Dass sich mit dem Modell der frame-Wahl kein unendlicher Regress verbindet (die Wahl eines Rahmens findet in einem weiteren Rahmen statt etc.), ergibt sich nach Esser daraus, dass es sich bei dieser Wahl um keine bewusste, sondern eine automatische Wahl handelt (vgl. Esser 1999b, S. 164, Esser 2001, S. 333f, Esser 2003a, S. 161). Eine Abweichung hiervon liegt im Fall der Wertrationalitat vor, denn hier kann der matching-Parameter vom Handelnden bewusst auf einen bestimmten Wert festgelegt werden (vgl. Esser 2001, S. 334, Esser 2003a, dazu auch Greve 2003a).

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lichkeit eingebauten Realitatsprinzips, sondern ebenso die Folge des Umstandes, dass auch die symbolischen Bezugsrahmen und die institutionellen Regeln die Ziele von Handelnden maBgeblich pragen.^^ An dieser Stelle fuhrt Esser im Anschluss an Lindenberg (1989, 1990) das Konzept der sozialen Produktionsfunktionen ein (vgl. Esser 1996, S. 6ff). Der Ausgangspunkt dieses Konzeptes ist die Annahme, dass Menschen immer, und zwar unabhangig von je spezifischen historischen Umstanden, zwei allgemeine Bediirfnisse verfolgen: physisches Wohlbefinden und soziale Anerkennung.^^ Diese beiden Grundbediirfnisse werden liber die sozialen Produktionsfunktionen mit den konkreten Zielen von Individuen verbunden und pragen so deren Praferenzen. „Die so^alen Produktionsfunktionen legen fest, was die Menschen wollen und konnen." (Esser 2000c, S. 62, vgl. auch Esser 1999a, S. 440) Soziale Produktionsfunktionen bestimmen namlich, mit welchen Mitteln die allgemeinen Ziele in einer spezifischen Gesellschaft erlangt werden konnen und sind so mit der institutionellen Struktur einer Gesellschaft verbunden (vgl. Esser 1999b, S. 126). Solche Mittel bezeichnet Esser als primare Zwischengtiter (vgl. Esser 1999b, S. 105f). Akademische Titel beispielsweise stellen Mittel dar, u m soziale Anerkennung zu erhalten. Verbunden sind solche primaren Zwischengiiter nicht nur mit den Oberzielen von Handelnden, sondern zugleich mit indirekten Zwischengiitern, d.h. solchen Giitern, die der Herstellung primarer Zwischengiiter dienen (wie die Zeit, die erforderlich ist, um eine Abschlussarbeit zu schreiben). Der zweite Erklarungsschritt des Modells der soziologischen Erklarung, der sich auf die Mikro-Mikro-Beziehung richtet, besteht in der „Logik der Selektion", d.h. der Angabe dariiber, wie sich aus der Wahrnehmung der Situation die Handlungswahlen der Akteure ergeben. Esser geht davon aus, dass hier der nomologische Kern der soziologischen Erklarung liegt, weil sich nur fur die Logik der Selektion ein allgemeines Gesetz angeben lasst, wohingegen dies fur die Schritte eins und drei der Erklarung nicht gelte (vgl. Esser 1999a, S. 92, Esser 2000a, S. 13). Esser hatte gegeniiber Erklarungen, die allein auf der Makro-Ebene angesiedelt sind, geltend gemacht, dass diese zwangslaufig un-

Im Hinblick auf die Objektivitat der Situation miisste man meines Erachtens genauer zwischen den materieUen Restriktionen und den kultureUen und institutionellen Faktoren unterscheiden. Im Falle der materiellen Restriktionen konnte man sagen, dass diese selbst dann objektive Folgen ^eitigen (Scheitern an der Realitat bei Fehleinschatzung der Knappheiten), wenn es niemanden gibt, der sie in sein mentales Modell aufgenommen hat. Im Falle von kultureUen Rahmen und institutionellen Regelungen ist die Seinsweise der Objektivitat eine andere, da sie auf eine mentale Reprasentation angewiesen ist. Die Objektivitat kultureUer Symbole und institutioneller Regelungen beruht folgHch darauf, dass eine Mehri^ahl von Personen diese fiir giiltig halt. Diese Annahme ist umstritten. So pladieren Opp und Friedrichs (1996) sowie Kelle und Liidemann (1995) fiir eine empiriereiche Erfassung von Praferenzen. Die theoriereiche Fassung verteidigt Lindenberg (1996a, 1996b).

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vollstandig bleiben miissen. Hier ware freilich anzumerken, dass eine Erweiterung u m eine vertiefende Erklarung diese Unvollstandigkeit verringern mag, aber auch diese Erklarung bleibt, wenn sich fiir die Logik der Situation und der Aggregation keine allgemeinen Gesetze angeben lassen, in letzter Konsequenz immer unvollstandig, da die gesamte Erklarung entsprechend unter kein angebbares Gesetz fallt. Fiir die Bestimmung der Logik der Selektion ist nach Esser zwar eine Reihe von Handlungstheorien denkbar, aber er praferiert eine Erklarung entlang der SEU-Theorie, weil sie es erlaube, die Wahrnehmung der Situation anhand von Bedingungen und Alternativen, die in der Situation gegeben sind, in einfacher Weise in die Handlungstheorie 2u iibertragen (vgl. Esser 1999b, S. 95f). In der SEU-Theorie geschieht dies dadurch, dass der Handelnde die moglichen Alternativen hinsichtlich ihres Nutzens bewertet und nach der Eintrittswahrscheinlichkeit der Alternativen gewichtet. Die Handlungswahl ergibt sich dann daraus, dass der Handelnde die Handlung mit dem hochsten erwarteten Nutzen auswahlt.^^ Der dritte Schritt der soziologischen Erklarung besteht im Ubergang von der Mikro- zur Makroebene. In diesetn Schritt geht es u m die Verkniipfung der individueUen Handlungen mit den kollektiven Handlungsfolgen. Nach Esser ist dies der komplizierteste Schritt einer soziologischen Erklarung, da sich die Bedingungen fiir den Ubergang von der Mikro- zur Makroebene, die Transformationsregeln und -bedingungen, nicht immer in einfacher Weise bestknmen lassen. Einfach gestaltet sich die FormuUerung ledigHch im Falle von additiven Aggregationen, das heiBt dann, wenn das zu erklarende Makro-Phanomen einfach als Summe der individueUen Falle verstanden werden kann — wie im Falle von Scheidungsraten als Summe individueller Ehescheidungen. Daneben gibt es aber noch eine Reihe weiterer Typen von Trans formationsregeln (vgl. Esser 2000a, S. 20ff). Esser unterscheidet diese in einfache und komplexe. Zu den einfachen gehoren neben den additiven Aggregationen auch die partiellen

Ob sich die rationale Wahl tatsachlich als ein Gesetz beschreiben lasst, ist nicht unumstritten. Diskutiert wird die Frage, ob ein solches Geset^ iiberhaupt falsifikationsfahig ist, da die vom Handeln unabhangige Erhebung von Praferenzen Probleme bereitet (vgl, Mozetic 1998, S. 204, Kneer 2003, S. 312). Anschlussfahige Uberlegungen finden sich auch bei Davidson (1990), der gegen die These von der Nomologizitat des Rationalwahlprinzips zwei Einwande vorbringt. Erstens ist die einfache SEU-Theorie mit Anomalien konfrontiert und daher als Gesetz falsch, zweitens iibersieht die Gleichsetzung von Rationalitat und Gesetzeshaftigkeit, dass Rationalitat ein normativer MaBstab ist, an dem abweichendes - dann aber irrationales Verhalten gemessen werden kann. Gegen den ersten Einwand wiirde Esser geltend machen, dass es die Erweiterung um das framing-Konzept ist, welches Anomalien in der SEU-Theorie zu beheben erlaubt. Die Ansicht, dass es sich Esser hier zu leicht macht und viele Falle iibersieht, unter denen das Rationalwahlprinzip verletzt wird oder die Bedingungen, unter denen es angewendet werden kann, nicht spezifizierbar sind, vertritt Meleghy (2004).

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Definitionen. Bei diesen handelt es sich um Definitionen, die fesdegen, wann ein Einzelereignis iiberhaupt ZUJ: Klasse der interessierenden Makro-Einheit gerechnet werden kann. Z u m Beispiel setzt die Feststellung von Scheidungsraten voraus, dass definiert wird, was als Scheidung einer Ehe verstanden werden muss. Zu den komplexen Transformationsregeln gehoren institutionelle Regeln und formale Modelle. Institutionelle Regeln werden dann relevant, wenn sich die kollektiven Folgen nicht als einfache Aggregationen ergeben. Ein Beispiel hierfur ist die Funf-Prozent-Regel, die bei Wahlen dazu fuhrt, dass sich Stimmabgaben nicht in direkter Weise in Sitzplatzverteilungen umsetzen las sen. Zu den formalen Modellen zahlen erstens Situationsmodelle wie z.B. Modelle strategischer Interdependenzen aus der Spieltheorie (z.B. Koordinationsprobleme, soziale Dilemmata und Konfliktsituationen). Diese Modelle konnen nach Esser der Formulierung von Trans formationsregeln dienen (sie konnen unter Umstanden aber auch schon fur die Formulierung von Briickenhypothesen verwendet werden). Esser nennt z.B. den Fall der Wirkungslosigkeit von Appellen zu umweltgerechtem Verhalten und fuhrt diese auf das Kollektivgutproblem zuriick. Zu den formalen Modellen zahlen zweitens Prozessmodelle, die Verkettungen von Interaktionssequenzen beschreiben. Hierzu zahlen z.B. Diffusionsmodelle, die unter anderem dazu dienen konnen, die Verlaufe von sozialen Protestbewegungen zu erklaren. Esser geht davon aus, mit dem Modell der soziologischen Erklarung die komplementaren Schwachen der Mikro- und der Makrotheorien beheben zu konnen, da es die Annahme beinhalte, dass die Mikro- die Makro- und die Makro- die Mikro-Ebene pragt und das Modell in diesem Sinne eine „Konstitution von oben^' mit „Emergenz von unten" kombiniere (Esser 1999a, S. 598): „Mit dieser Konzeption wird der Gegensatz zwischen ,Individuum und Gesellschaft' [...] grundsatzlich aufgelost: Die Gesellschaft ist nichts weiter als eine Konstruktion^ fortwahrend neu konstituiert durch die unzahHgen einzekien Handlungen der miteinander in antagonistischer Kooperation stehenden Menschen. Und auch die Individuen sind wiederum nichts als die ebenfalls in ihrer Subjektivitat simultan^ immer wieder neu konstituierten Produkte des wechselseitig aufeinander bezogenen Handelns und des sen externer, gesellschaftlich objektivierter Folgen." (Esser 1999a, S. 469) Esser spricht hier im Anschluss an Luhmann auch von der Ko-Konstitution sozialer und psychischer Systeme (vgl. Esser 1999a, S. 327, Esser 1999b, S. 359, Esser 2000a, S. 36). Der Fehler der reinen Mikro-Theorien Hegt seines Erachtens darin, dass sie ledigHch individuelle Einstellungen und Handlungen beriicksichtigen. Was in ihnen fehle, sei die Beachtung von Strukturen, in denen Handeln stattfindet und von Folgen, die Handeln hat. Strikt makro-soziologische Ansatze gingen hingegen davon aus, dass Gesellschaft erstens theoretisch bzw. ontologisch distinkt von „Individuen" sei und zweitens sei Gesellschaft fiir diese nichtreduzierbar auf Individuen. Beides gelte fiir Durkheims Konzept der Gesell-

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schaft als Wesen sui generis, Parsons' Unterscheidung von Kultur- und Sozialsystem vs. Verhaltenssystem und personalem System, Luhmanns Unterscheidung psychischer und sozialer Systeme sowie Habermas' Unterscheidung von System und Lebenswelt (vgl. Esser 1999a, S. 339). D e m halt Esser entgegen, dass mit „dem Konzept der soziologischen Erklarung [...] die theoretische Trennung von ,Individuum' und ,Gesellschaft' ganz und gar uberfliissig" werde. „Gesellschaft ist nach diesem Konzept nichts weiter als ein extemer IBffekt des interdependenten, an Problemlosungen orientierten, von Macht, Konflikt und Kooperationsinteresse durchdrungenen Handelns der Menschen . . . " (Esser 1999a, S. 339). Luhmann gegeniiber bringt Esser dementsprechend eine weitere, dritte Kritik vor. Seines Erachtens ist das dynamische Element des Sozialen nur auf der Ebene der Individuen zu verorten. So gelte, dass „soziale Systeme [...] nur als (aggregierte und daher emergente pHerv., J.G.]) Folge der Selektionen von Akteuren" prozessierten. „Soziale Systeme selegieren als ,soziale Systeme' selbst nichts." (Esser 1999a, S. 516, vgl. auch Esser 1994, S. 200, S. 203, in diesem Sinne auch Bohnen 1994, S. 299) In jiingster Zeit hat Bettina Heintz sich ausfuhrHcher mit der Frage nach Emergenz in der soziologischen Theorie befasst und in diesem Kontext eine fur unseren Zusammenhang aufschlussreiche Kritik an Essers Konzeption geiibt. Von Emergenz, hier beruft sich Heintz auf die Position von Broad, lasst sich dann sprechen, wenn im Verhaltnis zweier Ebenen gilt, dass beide erstens zwar ontologisch identisch sind (ontologischer Monismus im Gegensatz zu ontologischem DuaUsmus), zweitens die Veranderungen von Zustanden auf der „oberen" Ebene mit Veranderungen auf der „niedrigeren" Ebene einhergehen (Mikrofundiertheit) und drittens sich die Eigenschaften auf der hoheren Ebene nicht mittels einer Theorie auf die Eigenschaften der niedrigeren Ebene reduzieren las sen (Nichtreduzierbarkeit) (vgl. Heintz 2004, S. 6ff). Heintz formuliert ausgehend hiervon drei Kritiken an Esser. Erstens sei Essers Emergenzbegriff nicht eindeutig (vgl. Heintz 2004, S. 17ff). Zweitens kombiniere Esser die Emergenzannahme mit der These einer Makrodetermination. Makrodetermiaation besagt, dass die Zustande der unteren Ebene kausal durch Zustande auf der oberen Ebene beeinflusst werden. Diese Annahme ist allgemein deswegen problematisch, well damit erstens tendenziell ein ontologischer DuaHsmus behauptet werden muss (um kausale Wirkungen zu erzielen, muss die obere Ebene eine eigene ReaHtat aufweisen), und zweitens verstoBt die Annahme einer Makrodetermination gegen die Annahme einer kausalen Geschlossenheit der Wirklichkeit. Entscheidend ist im HinbHck auf Essers Position drittens aber, dass sich nach Heintz in dieser nun ein innerer Widerspruch ausmachen lasst. Einerseits behaupte Esser die Reduzierbarkeit der Makro- auf die Mikroebene, andererseits Makrodetermination und mit dieser die Unabhangigkeit der Gesellschaft vom Individuum (vgl. Heintz 2004, S. 19). Esser stellt

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entsprechend fest, dass es die Gesellschaft als eine handlungspragende Einheit gibt: „Die Gesellschaft", schreibt er, Jst in der Tat mehr als die bloBe Summe ihrer Teile; und sie ist eine den konkreten Individuen tatsachlich vorgangige und iht Handeln stark pragende Kraft" (Esser 1999a, S. 404).^^ Und auch mit den sozialen Produktionsfunktionen verbindet Esser zugleich die These einer unabhangigen Existenz sozialer Tatbestande: „Die sozialen Produktionsfunktionen sind so^ologische Tatbestande, die durch Variationen in den Psychen der Individuen ihre Kraft fiir die objektive Definition der Situation nicht verlieren." (Esser 1997b, S. 320, vgl auch S. 321)i4 Die Kritik von Heintz macht in unserem Zusammenhang auf zwei Fragen aufmerksam, die sich auf die von Esser betonte Abgrenzung zu Luhmanns Perspektive beziehen. Erstens: grenzt sich das Modell der soziologischen Erklarung tatsachlich dadurch von Luhmann ab, dass in ihm nicht die Unabhangigkeit der Gesellschaft behauptet wird? Zweitens: kennzeichnet es Essers Verfahren, dass in ihm Gesellschaft auf individuelles Handeln reduziert wird? Im Hinblick auf die erste Frage legen Essers eben angefiihrte Uberlegungen eine verneinende Antwort ganz offensichtlich nahe. Auch die zweite Frage muss verneint werden. Das Modell der soziologischen Erklarung reduziert soziale Gebilde nicht auf einzelne oder eine Vielzahl von Individuen. Das Modell erfordert neben individuellen Handlungen mindestens noch die Beriicksichtigung von Situationsmodellen, Interdependenzen und externen Effekten.^^ Mikrofundierung kann daher bei Esser nicht meinen: Riickfiihrung auf individuelles Handeln allein, sondern nur, dass jede Erklarung sozialer Prozesse den Weg iiber eine Beschreibung individueller Handlungswahlen nehmen muss. Entsprechend lasst sich der Kern der Differenz zwischen Esser und Luhmann anhand von zwei Kritiken, die aus Essers Sicht geauBert werden konnen, prazisieren: Erstens werden individueUe Handlungen bei Luhmann nicht oder zumindest nicht im ausreichenden MaBe benicksichtigt. Zweitens ist es unange-

Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Anfrage von Opp (2004, S. 255f) an den ungeklarten Status der Briickenhypothesen: Stellen diese in den Augen Essers lediglich die Beschreibung der Ausgangsbedingungen dar oder schlieBen sie die These einer kausalen Bei«iehung zwischen Situation und der Wahrnehmung der Situation ein? Vgl. auch Esser (1999a, S. 530): ^,Bestimmte Kommunikationen sind von den Absichten und sonstigen Eigenschaften der Akteure logisch und empirisch unabhangig, wenngleich sie darauf beruhen und ohne sie nicht denkbar sind." „Das heiBt natiirlich auch, daB die ,Kommunikationen' — wie jedes kollektive Phanomen — mit den Akteuren und mit deren Handeln aUeine nicht vollstandig erfaBbar ist (aber nur ,dariiber' erklart werden kann): Es gehoren die ,Situationen' dazu, in denen die Akteure kommunikativ werden, es gehoren die ,Modelle' dazu, die die Akteure zur ,Definition' der Situation selegieren, und es gehoren — last but not least — alle aggregierten externen Effekte [...] dazu." (Esser 1994, S. 201, vgl. auch Esser 1999a, S. 529, Esser 1999b, S. 26f)

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messen, sozialen Systemen Selektionen zuzuschreiben (vgl. Essers dritten Kritikpunkt). In welchem MaBe Luhmanns Konzeption durch diese beiden Kennzeichen charakterisiert werden kann, wird in der Folge gepnift, auch hier wieder unter dem Gesichtspunkt der Mikro-Makro-Differenz.

2 D i e Mikro-Makro-Beziehung bei Luhmann Bei Luhmann lassen sich zwei zentrale Unterscheidungen finden, die sich auf das Mikro-Makro-Verhaltnis beziehen lassen.^^ Die erste ist die Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen, die zweite ist die Unterscheidung von unterschiedlichen Typen sozialer Systeme, Interaktionen, Organisationen und (Welt-)Gesellschaft (vgl. Luhmann 1975). Wahrend Luhmann die zu letzt genannte Unterscheidung selbst auf die Mikro-Makro-Differenz bezogen hat, gilt dies fiir die erste Unterscheidung nicht. Gleichwohl bietet es sich an, diese als Kandidaten fiir eine solche Beschreibung aufzufassen, nicht zuletzt deswegen, weil aus der Perspektive von Esser hinter dieser Unterscheidung eine MikroMakro-Differenz liegt.^'7 Psychische und soziale Systeme unterscheiden sich nach Luhmann dadurch, dass beide durch operationale Geschlossenheit gekennzeichnet sind, bei der beiden jeweils eine spezifische Weise der Operation zugrunde Hegt, die sich mit der Operationsweise des jeweils anderen Systemtyps nicht iiberschneidet. Psychische Systeme beruhen auf dem Anschluss von Gedanken an andere Gedanken, soziale Systeme auf dem Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen. Im Falle von psychischen Systemen gehort zur Operation die Selbstunterscheidung eines Gedanken von einem anderen Gedanken, im Falle der Kommunikation die Selbstunterscheidung zwischen einer Kommunikation und der an sie anschUeBenden Kommunikation — Luhmann bezeichnet beides als basale Selbstreferenz (vgl. Luhmann 1988, S. 199). Zur Autopoiesis des Bewusstseins und der Kommunikation gehoren diese Selbstunterscheidungen zwischen sich und anderem, weil nur so die Anschlussfahigkeit und mit dieser iiberhaupt die Einheit der Elemente gewonnen werden konnen (vgl. Luhmann 1986, S. 178, Luhmann 1988, S. 25, Luhmann 1990, S. 62, Luhmann

1^ Es gibt weitere Kandidaten innerhalb der Luhmann'schen Theorie, die als Mikro-MakroBeziehung gedeutet werden konnen, namlich die Unterscheidung zwischen Struktur und Operation und die Unterscheidung von Themen und Beitragen. Auf diese gehe ich hier nicht weiter ein. ^"^ „Luhmann unterscheidet einen Mikro-Bereich der psychischen Systeme einerseits und einen Makro-Bereich der sozialen Systeme andererseits." (Esser 1999a, S. 614)

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1995a, S. 64ff, S. 72, Luhmann 2000, S. 47, S. 65, Luhmann 2003, S. 80ff).i8 Wir konnen hier eine Parallele zu Essers Uberlegungen zum framing sehen, zumal auch Luhmann diesen Vorgriff auf die anschlieBende Kommunikation als „Definition der Situation" versteht (Luhmann 1986, S. 178). Allerdings ergeben sich auch hier wieder Unterschiede. So tritt basale Selbstreferenz nach Luhmann fiir soziale und fiit psychische Systeme auf. Was bei Esser auf Individuen zugerechnet wird (vgl. Esser 2001, S. 8), hat bei Luhmann eine doppelte Systemreferenz. Dass Luhmann framing als Beobachtung zweiter Ordnung begreift (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 132), ist hingegen eine konsequente Umschreibung dessen, was bei Esser in der Annahme steckt, dass framing ein der Handlungswahl vorhergehendes Geschehen ist, das dem Handelnden — abgesehen vom Fall der WertrationaHtat — nicht bewusst ist (vgl FBn. 9 oben).^^ Bei Luhmann ist dies aber allgemeiner gefasst in der These, dass die eine Beobachtung konstituierende Unterscheidung selbst als blinder Fleck des Beobachtens fungiert und daher einer Beobachtung zweiter Ordnung bedarf, u m als Unterscheidung iiberhaupt sichtbar zu werden (vgl. Luhmann 2003, S. 145). Fiir Luhmann gilt, dass es die operative Geschlossenheit ist, die es ausschHeBt, dass ein Systemtyp auf den anderen zuriickgefuhrt werden kann (vgl. Luhmann 1995b, S. 51).^^ Diese Riickfiihrbarkeit wird ausgeschlossen, weil die Elemente der jeweiHgen Systeme durch diese selbst erzeugt werden — hier spricht Luhmann von einer Konstitution von oben: „Theoretisch umstritten scheint zu sein, ob die Einheit eines Elementes als Emergenz ,von unten' oder durch die Konstitution ,von oben' zu erklaren sei. Wit optieren entschieden fur die zuletzt genannte Auffas sung. Elemente sind Elemente nur fiir die Systeme,

„Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, daB eine Ausdiffereni^ierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustandekommen kann, das heiBt dadurch, daB die Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst (sei es auf Elemente desselben Systems, sei es auf Operationen desselben Systems, sei es auf die Einheit desselben Systems) Bezug nehmen. Systeme miissen, um dies zu ermogHchen, eine Beschreibung ihres Selbst erzeugen und benutzen; sie miissen mindestens die Different von System und Umwelt systemintern als Orientierung und als Prtnzip der Erzeugung von Informationen verwenden konnen." (Luhmann 1988, S. 25) „Ein psychisches System ist seinerseits ein autopoietisch geschlossenes System, es kann selbst nur bewuBt, also sich selbst nur als ein BewuBtsein beobachten. Nur Fremdbeobachter sehen die Different von bewuBten und unbewuBten Vorgangen - am anderen." (Luhmann 1982, S. 375) Obwohl sich psychische und soziale Systeme hinsichtlich ihrer Operationsweise unterscheiden und wechselseitig kausaler Beeinflussung zuganglich sind, impliziert dies nach Luhmann freilich keinen ontologischen Dualismus: „Es wird also nicht behauptet [...], die Systeme des BewuBtseins und der Kommunikation existierten substantiell getrennt. [...] Ihre Trennung beruht vielmehr allein darauf, daB die rekursiven Netzwerke, mit deren Hilfe die Operationen, aus denen diese Systeme bestehen, reproduziert und identifiziert werden, verschieden sind und nicht iiberlappen." (Luhmann 1990, S. 37)

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die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme. Das ist mit dem Konzept der Autopoiesis formuliert." (Luhmann 1988, S. 43, vgl. auch Luhmann 1995a, S. 56, fur eine fnihe Fassung Luhmann 1978, S. 215)^^ Gleichwohl gilt, dass zwischen sozialen und psychischen Systemen Beziehungen bestehen. So konnen sie sich dank ihrer struktureUen Kopplung erstens wechselseitig itritieren (vgl. Luhmann 1990, S. 40, Luhmann 1997a, S. lOOf, Luhmann 2003, S. 124).^^ Streng genommen irritieren sie sich dabei freilich selbst: „Irritation ist . . . immer ein systemeigener Zustand, Jur den es in der Umwelt keine Entsprechung gibt.'' (Luhmann 1990, S. 40) Zweitens sind beide liber Interpenetration verbunden. Interpenetration meint dabei nicht die Ubernahme von Operationen des je andeten Systemtyps in die eigene Operationsweise (dies ist durch die operationale Geschlossenheit ausgeschlossen), sondern die Beachtung des jeweils anderen Systemtyps auf der Basis der eigenen Operationen (vgl. Luhmann 1988, S. 295).^^ Psychische und soziale Systeme sind nicht nur durch struktureUe Kopplung und Interpenetration verbunden, sondern drittens auch durch kausale Beziehungen (vgl. Luhmann 1990, S. 29, S. 36, S. 46, Luhmann 1997a, S. 68).^"^ Diese kausalen Beziehungen sind aber nach

Vor dem Hintergrund der Uberlegung Luhmanns, dass soziale Systeme aus einer Situation doppelter Kontingenz emergieren (vgl. Luhmann 1988, S. 151), kritisiert Greshoff die in der Emergenzthese bei Luhmann enthaltene Ansicht, dass zugleich Psychisches aus der Konstitution sozialer Systeme ausgeschlossen wird, obwohl dieses zunachst ihrer Konstitution zugrunde lag (vgl. Greshoff 2003, S. 90): „Ich kann nicht erkennen, dass die operative Grundlage der beiden Seiten, die das so'ziale System ,betreiben', auf einmal so prinzipiell anders ist. Diejenigen, die als Bewusstseinssysteme mittels Gedanken und Vorstellungen Informationen gebildet und verarbeitet haben, sind ja nicht plotzlich ersetzt durch solche, die mit ganzlich anderen operativen Grundlagen ausgestattet sind, sondern es sind dieshef^^glich immer noch die gleichen." Dariiber hinaus lieBe sich schon grundsatzlich bezweifeln, ob eine genetische Rekonstruktion (wie sie Luhmann in Soziale Systeme nahe legt — vgl. auch Luhmann (1997a, S. 92)) angesichts des autopoietischen Charakters sozialer Systeme iiberhaupt mogHch ist. Vgl. in diesem Sinne Luhmann (2003, S. 78): „Ein Sozialsystem entsteht, wenn sich Kommunikation aus Kommunikation entwickelt. Die Frage der ersten Kommunikation brauchen wir nicht zu erlautern, denn die Frage ,Was war die erste Kommunikation?' ist schon eine Frage in einem kommunizierenden System." Luhmann kniipft hier, ohne dies ausfiihrlicher zu entfalten, ebenfalls an das framing-Konzept der Sozialpsychologie an. Er versteht dabei unter frames, skripts, Schemata etc. Formen einer StruktureUen Kopplung zwischen psychischen und sozialen Systemen, die labiler und flexibler sind als diejenigen, welche Sprache bereitstellt (vgl. Luhmann 1997a, S. llOf). Interpenetration bezeichnet daher fiir psychische und soziale Systeme auch etwas je Eigenes: „BewuBtseinssysteme werden durch Interpenetration mit sozialen Systemen sot^alisiert. Dies Konzept erfordert einen tiefgreifenden Umbau der klassisch-soziologischen Theorie der Sozialisation von Fremdsozialisation auf Selbstsozialisation. [...] Kommunikative Systeme erfahren Interpenetration dadurch, daB sie die Eigendynamik von Menschen in korperlicher und mentaler Hinsicht (BewuBtsein mitmeinend) in Rechnung stellen. Wir nennen das (wiederum in AnschluB an Parsons) Inklusion." (Luhmann 1995b, S. 51f) „Selbstverstandlich gibt es Kausalbeziehungen zwischen System und Umwelt [...]. Aber das widerlegt nicht die These der operativen Geschlossenheit. Diese setzt ja gerade die Differenz

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Luhmann durch die operative Geschlossenheit gebrochen. Das System disponiert so selbst dariiber, welche kausalen Durchgriffe es jeweils zulasst, und es verschafft sich damit eine Form eigener Kausalitat. „Solche Systeme, die sich selbst Kausalitat beschaffen, lassen sich dann auch nicht mehr jkausaF erklaren (es sei denn: kn Reduktionsschema eines Beobachters)" (Luhmann 1988, S. 69, vgl. auch S. 478). Insofern erlegt die Umwelt dem System zwar Beschrankungen in seiner Reproduktionsfahigkeit auf, sie determiniert aber nicht dessen Strukturen (vgl. Luhmann 1995a, S. 76, S. llOf).^^ Wie genau sich diese kausalen Beziehungen darstellen, bediirfte einer weiteren Klarung, nicht zuletzt deswegen, weil die Gleichzeitigkeit des Operierens psychischer und sozialer Systeme streng genommen im Gegensatz zu einer Verwendbarkeit des Kausalschemas steht, da „es wetiig Sinn macht, Gleichzeitigkeit als ein Kausalverhaltnis zu deuten. Deshalb ist auch strukturelle Kopplung keine kausale Verkniipfung von Umwelt und System." (Luhmann 1990, S. 57f, vgl. Luhmann 1997a, S. 605, Luhmann 1992, S. 124f) Wahrend fur Luhmann psychische und soziale Systeme liberschneidungsfrei operieren, gilt dies nicht fur die Unterscheidung der Systemtypen, d.h. fur die Unterscheidung zwischen Gesellschaft (als dem umfassenden System aUer potentieU fiireinander erreichbaren Kommunikationen), Organisationen (die durch das Kriterium der MitgHedschaft und die Behandlung von Kommunikationen als Entscheidungen abgegrenzt sind) und Interaktionen (die auf Anwesenheit beruhen).^^ In der Terminologie von Stichweh (1991, S. 112) haben wir

von System und Umwelt voraus, und zwar als Produkt der Operationen des Systems. Das System stellt sich selbst als eine Einheit her, die in bestimmter Weise kausale Interdependenzen zur Umwelt eingehen kann, ohne die eigene Reproduktionsfahigkeit zu verlieren." (Luhmann 1992, S. 121) Ahnlich im Ubrigen auch Esser: „Die gleichzeitige evolutionare Veranderung in der KoKonstitution ist entsprechend eine Ko-Evolution. Das gilt insbesondere fiir die gemeinsame und simultane Entwicklung von strukturellen Merkmalen der sozialen Gebilde und den psychischen Dispositionen der Individuen. Und so kann man auch nicht sagen, daB das eine die ,Ursache' und das andere die ,Folge' sei." (Esser 1999b, S. 359) Es ist im Ubrigen sinnvoll, bei der Typenunterscheidung stets auch die Funktionssysteme als eigene Systemebene zu betrachten, da sie mit den anderen Systemtj^pen nicht zusammenfallen. Sie sind nicht durch Anwesenheit und MitgHedschaft definiert, lassen sich aber auch nicht mit dem Weltgesellschaftssystem gleichsetzen. Im Gegensatz zu diesem treten sie im Plural auf und verfiigen entsprechend iiber eine soziale Umwelt, was fiir die Gesellschaft nicht gilt (vgl. Luhmann 1974, S. 145, S. 150, Luhmann 1993b, S. 29f). AuBerdem wiirde die konsequente Erganzung um die Funktionssysteme als eigener Systemebene ein Problem losen, das sich aus dem Vorkommen „freier" Interaktionen ergibt. Letztere sind nicht „Teil" der Funktionssysteme, aber natiirlich als Interaktionen Teil der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1997a, S. 813, dazu auch Schwinn 2001, S. 82ff). Zur Frage, ob angesichts der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme und der entsprechenden Beobachtungsperspektiven von einer Einheit der WeltgeseUschaft noch gesprochen werden kann, vgl. Gobel (2000, S. llSff) und Nassehi (2003a, S. 199ff).

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es im Falle des Verhaltnisses von psychischen und sozialen Systemen mit einer exklusiven Hierarchic zu tun, wohingegen im Falle der Ebenenunterscheidung eine inklusive Hierarchie vorUegt, d.h. eine solche, fur die gilt, dass Elemente niedrigerer Ordnung auch auf Ebenen hoherer Ordnung vorkomtnen konnen. Interaktionen und Organisationen kommen so zugleich „in" der Gesellschaft vor (vgl. Luhmann 2000, S. 59).^7 Luhmann identifiziert die Typenunterscheidung gelegentlich mit der Mikro-Makro-Unterscheidung (vgl. Luhmann 1981, Luhmann 1987), markiert aber zugleich eine Distanz zu deren herkommHcher Verwendung. Wahrend die Mikro-Makro-Unterscheidiing als Ebenenunterscheidung aufzufassen sei, miisse die Typenunterscheidung als Systemdifferenzierung verstanden werden. Was eine Ebenenunterscheidung aufheben soil, seien Tautologien und Paradoxien, wohingegen die Systembegrifflichkeit solche in Kauf nehme (vgl. Luhmann 1987, S. 126). Nach Luhmann sind Interaktion und Gesellschaft zunachst dadurch unterschieden, dass beide unterschiedliche Systemgrenzen Ziehen. Gleichwohl unterscheidet sich — wie gesagt — die damit bestknmte System-UmweltBeziehung von derjenigen psychischer und sozialer Systeme auch dadurch, dass Interaktionen ihre Grenzziehungen innerhalb der Gesellschaft voUziehen. Als Kommunikationssysteme sind Interaktionen daher „Teile" des Gesellschaftssystems, wenn auch zugleich von der Gesellschaft zu unterscheidende Systembildungen. Daraus ergeben sich zwei „Paradoxien" im Verhaltnis der Systemtypen. Erstens wird der Gesellschaftsbegriff doppeldeutig, da die Gesellschaft einerseits far das umfassende System steht und gleichzeitig einen spezifischen Typ von sozialem System bezeichnet (die Gesellschaft enthalt sich und anderes) — der Buchtitel „Die Gesellschaft der Gesellschaft" bringt dies auf den Punkt (vgl. auch Luhmann 1997a, S. 80). Zweitens gilt fur Interaktionen, dass sie Teil der Gesellschaft bzw., wie Luhmann sagt, „GeseUschaftsvollzug" (Luhmann 1984a, S. 81) sind und gleichzeitig ein von der Gesellschaft unterscheidbarer Systemtypus. Luhmann zufolge setzen Gesellschaft und Interaktion einander voraus und sie differenzieren sich im Laufe der sozialen Evolution voneinander, wobei zwischen den jeweiHgen Differenzierungen ein Verhaltnis der wechselseitigen Steigerung gegeben ist (vgl. Luhmann 1987, S. 113, Luhmann 1977, Luhmann 1984a). Z u m Beispiel erlaubt die Ausdifferenzierung des Rechts es erst, Interaktionen auszubilden, die Entfremdung vom Recht zum Ausdruck bringen — und ermogUcht es damit auch, AnstoBe zu neuen Systembildungsprozessen zu geben (vgl. Luhmann 1981, S. 244). Interaktion und Gesellschaft stellen somit fiireinander Pramissen bereit, die bestimmtes Prozessieren in der jeweils ande-

Zum Verhaltnis von Organisation und Gesellschaft vgl. auch Kneer (2001).

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ren Form der Systembildung wahrscheinlicher machen, ohne dieses 2u determinieren (vgl. auch Kieserling 1999, v.a. S. 213ff). Aus dem Umstand, dass die Ebenen durch eigene Grenzziehungen gekennzeichnet sind, folgt fur Luhraann dreierlei: erstens eine Eigendynamik auf der jeweiligen Ebene der Systemdifferenzierung^^, zweitens die Nichtreduzierbarkeit der Ebenen aufeinander — so seien die „nioderne Gesellschaft und ihre Eigendynamik [...] auf der Interaktionsebene nicht zu fassen, so wie umgekehrt in einer politisch konstitutionalisierten, wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft auch die Interaktionsebene ihre Eigenstandigkeit bewahrt." (Luhmann 1984a, S. 88) Drittens ergibt sich, dass keiner der beiden Ebenen ein Primat vor der anderen zukommt (vgl. Luhmann 1981, S. 235). Aus der Eigenselektivitat folgt, — und dies markiert eine entscheidende Differenz zum Modell der soziologischen Erklarung —, dass sich die Verlaufe von Interaktionen nicht mittels einer Logik der Situation hinreichend aufklaren und die Systembildung im GeseUschaftssystem sich nicht als Aggregation von Interaktionsresultaten im Sinne der Esser'schen Badewanne verstehen lasst (vgl. Stichweh 1995, S. 403; Schwinn 2004, S. 84). Luhmann hat die Mikro-Makro-Unterscheidung noch an einer weiteren SteUe aufgenommen und zwar in Form einer Unterscheidung zwischen der Selbstorganisation der Funktionssysteme und einer „Mikrodiversitat" auf der Ebene von Individuen.^^ Mikrodiversitat meint dabei, dass IndividuaHtat „aus den vorgegebenen sozialen Klassifikationen herausgelost und dadurch in ihren jeweils eigenen Moglichkeiten freigesetzt" wird (Luhmann 1997b, S. 28)."^^ Der damit entstehende „moderne IndividuaHsmus" verbindet sich nach Luhmann mit der Autonomisierung der Funktionssysteme (vgl. auch Luhmann 1995a, S. 99). „Selbstorganisation kommt nur auf der Grundlage von Mikrodiversitat zustande, so wie umgekehrt ein spezifischer Bereich von Mikrodiversitat nur abgegrenzt werden kann, wenn er AnlaB gibt zur Entstehung von Selbstorganisation." (Luhmann 1997b, S. 30) Auch dieses Verhaltnis betrachtet Luhmann nicht als ein solches, das gangigerweise durch die Unterscheidung von Makround Mikro-Ebene gekennzeichnet werde. Weder lege die Unterscheidung eine Seite als Ausgangspunkt, noch eine kausale Richtung fest. Auch involviere sie

„Die Gesellschaft kann eine eigene Systemdifferenzierung durchfiihren, das heiBt Subsysteme bilden, ohne diese Differenii auf Unterschiede der Interaktionen stiit^^en zu miissen." (Luhmannl988, S. 574) Unter Riickgriff auf Uberlegungen von Mai und Raybaut (1996). Vgl. auch Luhmann (1995a, S. 99): „Eine ausgepragt funktionale Differenzierung des GeseUschafts systems muB es dem einzelnen iiberlassen, in welchem Moment und mit welchen Interessen er an den Funktionssystemen der Gesellschaft partizipiert". Vgl. auch die entsprechenden Uberlegungen Luhmanns zu Exklusionsindividualitat (Luhmann 1989).

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Eigendynamiken auf beiden Seiten der Unterscheidung"^^ — wodurch es aber sinnlos werde, von der Annahme auszugehen, „daB eine Ordnung entweder von oben (oder durch das Ganze) oktxoyiert sein oder durch die Eigenaktivitat der Telle oder Elemente geschaffen werden miisse." (Luhmann 1997b, S. 31) 3 Zur Nicht-Reduzietbatkeit sozialer Systeme Die Nicht-Reduzierbarkeit sozialer Systeme auf individuelle Handlungen ergibt sich fur Luhmann aus dem Charakter der Autopoiesis sozialer Systeme. So sei es „wichtig, daB man die Autopoiesis sozialer Systeme und die Autopoiesis psychischer Systeme sorgfaltig unterscheidet (obwohl beide auf der Basis sinnhafter Selbstreferenz operieren) und daB man nicht etwa nur eine Neubegriindung fiir einen individualistischen Reduktionismus anstrebt." (Luhmann 1988, S. 355) Luhmann hat diese These auch in seiner Auseinandersetzung mit einer Kritik von Alfred Bohnen (1994) an der Systemtheorie verteidigt, der dieser gegeniiber den Standpunkt des methodologischen IndividuaHsmus stark gemacht hatte. Luhmanns Kritik an Bohnen besteht nicht darin, die Irrreduzibilitat direkt zu verteidigen. Vieknehr sieht Luhmann den Fehler der reduktiven Strategie darin, dass sie Voraussetzungen machen muss, die sie ihrerseits nicht rechtfertigen kann. Zwei solcher Voraussetzungen fiihrt Luhmann an. Erstens wiirde jeder Versuch, Gesellschaft von einem ,realistisch' gefassten Begriff des Menschen aus zu verstehen, dahin fiihren, dass „Gesellschaft als ein riesiger Oktopus erscheinen [miisse], als eine Einheit mit nicht nur 8 sondern mit 5 oder 6 Milliarden relativ unabhangig, jedenfalls gleichzeitig agierenden Organen" (Luhmann 1994, S. 480). Dass der methodologische IndividuaHsmus eine solche Konzeption nicht vertrete, verweise darauf, dass die Sozialtheorie des methodologischen IndividuaHsmus entweder auf den „ReaHtatsbezug oder auf Erklarung verzichten" miisse (Luhmann 1994, S. 480). Mit anderen Worten, um zu einer Erklarung zu gelangen, sei die Abstraktion von Aspekten vonnoten, die in der reduktiven Perspektive methodologisch gerechtfertigt werde. Hingegen erscheine dasjenige, was in der reduktiven Perspektive methodologisch begriindet werde, fiir die Systemtheorie auf der Ebene des Gegenstandes selbst: „Das, was die Systemtheorie als Leistung der Systembildung beschreibt, namHch operative SchHeBung, wird hier der Methodologie zugemutet." (Luhmann 1994, S. 480) Dieses erste Argument ist freiHch im HinbHck auf

^^

„Uber Individuen wird eine andere Art von Unruhe ins System gebracht als durch die eigene Dynamik der Selbstorganisation" (Luhmann 1997b, S. 31). Vgl. im Anschluss daran auch Fuchs (2001, S. 63ff).

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Essers Position kaum iiberzeugend, denn sicherlich handelt es sich bei Esser auch um eine methodologisch motivierte Selektion der Aspekte, die an Individuen fur die Erklarung relevant sind (vgl. Esser 2003b, S. 81), aber der Annahme, dass nicht jeder einzelne Aspekt jedes einzelnen Individuiims sozial folgenreich ist, entspricht ebenso eine gegenstandsbezogene Annahme, namlich dass Menschen sich in vielen Situationen an geteilten typischen Modellen der Wirklichkeit orientieren. Der zweite Kritikpunkt Luhmanns richtet sich ebenfalls auf eine in einer individualistischen Perspektive nicht eigens gerechtfertigte Voraussetzung. Diese gehe namlich davon aus, dass die relevanten Kausalbeziehiingen in der Umwelt des sozialen Systems zu verorten seien. Diese Perspektive sei durch die Systemtheorie nicht ausgeschlossen, denn die Unterscheidung von System und Umwelt las St es — wie wir bereits gesehen haben — zu, Ursachen und Wirkungen „sowohl in der Umwelt als auch im System" zu finden (Luhmann 1994, S. 480). Die Systemtheorie schlieBe es folgUch nicht aus, „daB Veranderungen sozialer Systeme auf Individuen zugerechnet werden konnen" (Luhmann 1994, S. 480). Luhmann greift hier auf die Uberlegung zum Verhaltnis von Funktion und KausaHtat zuriick (vgl. Luhmann 1970). Die Kombination von bestimmten Ursachen tnit bestimmten Wirkungen (d.h. das Kausalschema) ist keine Eigenschaft der Realttat, sondern eine Leistung eines bestimmten Schemas der Zurechnung kausaler Beziehungen. Die Fixierung der einen Seite, der Ursachen, die es erst moglich macht, den Raum mogUcher Wirkungen einzugrenzen, bewerksteUige der methodologische IndividuaHsmus durch die These, dass Kausalfragen an Handelnden festgemacht wiirden. „Jemand, der seine Kausalplane ordnet und auf Handlung hin selegiert, kann dann als kausal nicht erklarungsbediirftig eingefiihrt werden." (Luhmann 1994, S. 481) Was der methodologische IndividuaHsmus damit aber iibersehe, sei der Umstand, dass es einer Zurechnung iiberhaupt bediirfe.'^^ Diese Kritik wiirde Essers Konzeption dann treffen, wenn er die These vertreten wiirde, dass es allein das individuelle Handeln ist, das jeweils die Erklarungslast in einer soziologischen Erklarung tragt. Dies ist aber, wie bereits gesagt, nicht der Fall, da Erklarungen fur Esser neben dem Handeln immer auch Situationen, SituationsmodeUe, Interdependenzen zwischen den Handelnden und externe Effekte des Handekis beriicksichtigen miissen. An dieser Stelle wird gleichwohl ein systematisch entscheidender Kern der Kontroverse zwischen Esser und Luhmann beriihrt. Man kann namlich — wie wir spater noch sehen werden — Essers Kritik an Luhmann dahingehend

An dieses Argument kniipft auch Nassehi (2003b, S. 22) an: „Wenn sich die Rationalitat einer Handlung aus der Popperschen Situationslogik ergibt, ist der Akteur durchaus ein Effekt, zumindest ein Zurechnungsfokus des Handlungsgeschehens und keineswegs der Handlung kategorial - als ,Subjekt' oder ,Mensch' - vorgeordnet."

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zustimmen, dass dessen Modell individuelles Handeln nicht in ausreichendem MaB beriicksichtigt. Aus einer solchen Kritik folgt aber nicht notwendig, dass die dynamischen Elemente, die eine Erklarung tragen, auf der Ebene individuellen Handelns allein verortet werden miissen, denn solange Erklarungen Veranderungen des Handelns kausal auch auf Veranderungen der Situationen zurechnen miissen, konnte das dynamische Element zugleich Veranderungen der Situationen geschuldet sein, welche dem Handeln dann erst seine Dynamik verleihen. Es gibt neben dieser Kritik an Bohnen noch einen weiteren Text, in dem sich Luhmann kritisch auf das Programm einer Reduktion von Makro- auf Mikro-Phanomene bezieht — freilich nur in Form einer kurzen Anmerkung in einem Besprechungsessay von 1985 iiber Literatur zur Neuen Institutionenokonomie: „Es ist relativ einfach, sich vorzustellen, wie individuelle Akteure auf gegebene soziale Bedingungen reagieren — etwa auf Inflation oder auf organisierte Zusammenschliisse riesiger Entscheidungsmengen oder auf institutionalisierten politischen Wettbewerb. Viel schwieriger ist es, sich vorzustellen, welche Effekte auf der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen aus eben diesen Reaktionen erwachsen. Das gilt schon fiir die Hypothesenbildung und erst recht fiir OperationaUsierung und Verifikation. Man kommt, mit anderen Worten, von der Makroebene auf die Mikroebene hinunter, aber von der Mikroebene nicht wieder auf die Makroebene hinauf Fiir den zweiten Weg war en offensichtHch viel komplexere Theorien erforderUch, fiir die derzeit noch alle Grundlagen fehlen. Dieses Problem teilt die Neue PoHtische Okonomie mit der Soziologie" (Luhmann 1985, S. 117f). Dies, den Weg von der Mikro- zur Makro-Ebene beschreiben zu konnen, beansprucht Esser mit der Logik der Aggregation. Hier ware zu diskutieren, ob diese bereits den Anspruch an eine Theorie erfullt. Es gibt zumindest zwei Griinde fur die Ansicht, dass dies erst in Ansatzen der Fall ist, Erstens, wann welche Transformationsregeki angewendet werden miissen, ist fallspezifisch. Zweitens nehmen viele der Trans formationsregeki soziale Systeme bereits in Anspruch, die ihrerseits erklart werden miissen. Jede Transformation wirft damit eine Reihe weiterer Erklarungsprobleme auf Letzteres ist nicht prinzipieU problematisch, wird es aber dann, wenn die Erklarungsleistung zu groBen Teilen durch Randbedingungen bestimmt wird, die ihrerseits erklarungsbediirftig bleiben.

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Schluss Betrachtet man Essers und Luhmanns Uberlegungen zum Mikro-MakroVerhaltnis, so konnte man auf den ersten Blick durchaus eine Konvergen2 zwischen beiden Ansatzen vermuten. So schlieBt, wie wir gesehen haben, Luhmann nicht aus, dass individuelles Handeln als sozial folgenreich betrachtet werden kann und Essers Modell schlieBt die Annahme ein, dass das individuelle Handeln — neben anderen sozialen Gebilden (vgl. Esser 1999a, S. 85£) — durch gegebene soziale Systeme gepragt wird. Gleichwohl bestehen zwischen beiden Ansatzen entscheidende Differenzen. Erstens bezeichnet Mikro fur Esser die Ebene psychischer Systeme, soziale Systeme skid hingegen aus seiner Sicht stets schon Makro-Phanomene (vgl. Esser 2000a, S. 60). Luhmann dagegen versteht die Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen nicht als Mikro-Makro-Unterscheidung^^ — sofern fur ihn die Mikro-Makro-Unterscheidung iiberhaupt als anwendbar erscheint, dann als Differenzierung zwischen Typen sozialer Systeme (Interaktionen, Organisationen, (Funktionssystemen), Weltgesellschaft), die es aber aufgrund ihrer operativen Geschlossenheiten gerade nicht erlauben, zu Erklarungen sozialer Prozesse allein durch einen Rekurs auf Prozesse einer jeweils anderen „Ebene" zu gelangen. Zweitens — und damit zusammenhangend — gilt fiir Luhmann, dass es Eigendynamiken sozialer Systeme und psychischer Systeme gibt'^^^ wahrend dies fiir Esser nicht der Fall ist — das dynamische Element verortet Esser allein auf der Ebene individueller Akteure. Wenn man mit Luhmann der An sicht ist, dass es ein dynamisches Element auch auf der Seite der Selbstorganisation der sozialen Systeme gibt, so folgt daraus zwar nicht, dass Erklarungen entlang des Modells der soziologischen Erklarung nicht moglich sind, es wiirde aber zu der These fuhren, dass dieses Modell — technisch gesprochen — mit einem nicht unerheblichen MaB an unerklarter Varianz zu rechnen hat, wenn sich Dynamiken auf der Makro-Ebene nicht immer auf solche der Mikro-Ebene zuriickfiihren las sen.

Weil fiir Esser die psychischen Systeme als Mikro-Ebene in jeder Erklarung Beriicksichtigung finden miissen und diesem Umstand bei Luhmann nicht Rechnung getragen werde, wirft Esser Luhmann dann auch vor, dieser vertrete ein „strikt makroso2iologische[s] Theorieprogramm" (Esser 2003b, S. 72). Entsprechend iibertragt Luhmann konsequent Begriffe, die gangigerweise Bewusstseinsaktivitaten beschreiben „wie Beobachten, Beschreiben, Erwarten, Erleben usw.", auch auf soziale Systeme (Luhmann 1990, S. 64). Das Entscheiden ordnet Luhmann dabei dem Erwarten nach, da seines Erachtens ersteres als Folge einer an eine Handlung gerichteten Erwartung verstanden werden muss (vgl. Luhmann 1988, S. 400, Luhmann 1984b, S. 594).

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Neben der Frage, wo das dynamische Element in einer Sozialtheorie verortet werden kann, stellt sich angesichts der These Luhmanns, dass Handlungen als dutch die Kommunikation selbst hervorgebrachte Zurechnungen im Kommunikationsprozess verstanden werden miissen'^^, drittens die Frage, ob sein Modell dem eigenstandigen Beitrag von Individuen in der Erzeugung und Reproduktion sozialer Systeme tatsachlich in angemessener Weise Rechnung tragen kann. Bei Luhmann las sen sich drei Griinde finden, Kommunikation gegeniiber Handlung als grundlegende Einheit sozialer Systeme auszuzeichnen und gleichzeitig die These zu vertreten, Kommunikation konne nicht als Kette von Handlungen verstanden werden (vgl. Luhmann 1988, S. 509). Erstens sei Kommunikation „notwendig und inharent'^ sozial, wohingegen dies fur Handlung nicht gelte (Luhmann 1986, S. 177f). Zweitens impliziere soziales Handeln immer schon Kommunikation: "Moreover, social action already impHes communication; it implies at least the communication of the meaning of the action or the intent of the actor, and it also implies the communication of the definition of the situation, of the expectation of being understood and accepted, and so on." (Luhmann 1986, S. 178) Drittens gehore zur Kommunikation notwendig das Verstehen, dieses lasse sich aber nicht als Handlung verstehen: „the perfection of communication implies understanding, and understanding is not part of the activity of the communicator and cannot be attributed to him." (Luhmann 1986, S. 178, vgl. auch Luhmann 1988, S. 212) Aus der Perspektive von Esser waren dies keine schlagenden Argumente. Erstens ist es aus seiner Sicht nicht erforderlich, schon von einem sozialen Grundbegriff auszugehen, zweitens lasse sich Kommunikation sehr wohl als eine Kette von Handlungen erklaren (vgl. Esser 1999a, S. 518ff, Esser 2000b, S. 295f£). Drittens gesteht Esser zwar ein, dass „die Deutung des Verstehens als kommunikativer ,Akt' etwas gequalt klingt" (Esser 2000b, S. 271), systematisch sieht er hierin aber kein Problem, da das Verstehen als eine „Definition der Situation'* und damit handlungsanalog betrachtet werden kann (vgl. Esser 1994, S. 189, S. 195, Esser 1999a, S.524).36 Zusammengenommen ergibt sich aus den beiden Differenzen, der These der Eigendynamik sozialer Systeme und der These von Handlung als sozialer

„Efitsprechend gilt uns die Einheit der Handlung nicht als ein psychologischer, sondern als ein soziologischer Tatbestand; sie kommt nicht durch Dekomposition des BewuBtseins in nicht weiter auflosbare Mindesteinheiten zustande, sondern durch soziale Prozesse der Zurechnung." (Luhmann 1988, S. 44, vgl. auch S. 191, Luhmann 1982, S. 374, Luhmann 1986, S. 179, Luhmann 1990, S, 24, Luhmann 1997a, S. 86, Luhmann 2000, S. 94ff) Man kann fragen, ob eine solche weite Fassung des Handlungsbegriffs stnnvoll ist. Aber auch dann, wenn man an der These festhalt, dass sich Kommunikation, -aufgrund des Verstehens, das nicht handlungsformig verstanden werden kann- auf Handlung nicht reduzieren lasst, folgt nicht die These Luhmanns, dass es sich bei Handlungen um kommunikative Zurechnungen handelt. Vgl. Greshoff (2003), Greve (2003b, S. lOfQ und Martens (1991, S. 630fQ.

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Zurechniing, dass dasjenige, was sich aus der Perspektive Essers vorrangig als Resultat einer „Emergen2 von unten" darstellt, das Entstehen, die Reproduktion und die Veranderungen von sozialen Gebilden als Resultat individueUer Handlungen und ihrer Folgen, sich aus der Sicht der Systemtheorie stets als „Konstitution von oben" erweist, d.h. soziale Systeme differenzieren sich als soziale Systeme und die relevanten Handlungen sind ihrerseits Resultat einer Zurechnung des sozialen Systems. Dass sich bei Luhmann kein Modell finden lasst, das den Einfluss individuellen Handelns auf die Dynamik sozialer Systeme systematisch beriicksichtigt, bezeichnet daher nicht einfach eine Hegen gebliebene Aufgabe, sondern folgt aus der Annahme der Autopoiesis sozialer Systeme. Ausgehend hiervon lasst sich auch ablesen, welche Offnungen die jeweiligen Theorien erforderten, wenn sie sich auf eine integrierte Perspektive sollten zubewegen konnen. Die Systemtheorie miisste beriicksichtigen, dass soziale Systeme systematisch auch von den Motiven und entsprechenden Handlungen der Individuen abhangig sind. Esser dagegen miisste anerkennen, dass soziale Systeme ein eigenstandiges Element sozialer Wirklichkeit sein konnen, deren Erklarung aus situiertem individuellen Handeln nicht immer gelingen kann. Vor allem in der Diskussion um Emergenz (vgl. Heintz 2004) zeigt sich, dass eine solche Sichtweise keinen theoretischen Synkretismus darstellt, sondern eine viable Sozialkonzeption. Eigendynamiken von Makro-Phanomenen folgen so z.B. nach Sawyer (2001, 2002, 2003, 2004) aus Fallen nichtreduzierbarer Emergenz, d.h. dann, wenn es nichtreduzierbare Makro-Eigenschaften gibt."^^ Diese Nichtreduzierbarkeit ergibt sich dabei ihm zufolge nicht aus einer ontologischen Dualitat zwischen Mikro- und Makro-Ebene (wie beispielsweise bei Archer und Bhaskar), sondern Makro-Phanomene sind seiner Ansicht nach dann nicht reduzierbar, wenn es nicht geHngen kann, die begleitenden Mikroprozesse mittels einer Kenntnis von Gesetzen iiber den Zusammenhang zwischen Mikro- und Makroebene zu beschreiben."^^ Sawyers Sicht steht quer zu Essers und Luhmanns Einschatzung der Eigendynamik sozialer Systeme, denn im Gegensatz zu Essers Modell ist diese zu verstehen als Ausdruck von Prozessen, die sich mittels des Modells der soziologischen Erklarung nicht hinreichend aufklaren las sen. Anders als bei Luhmann bezeichnet Emergenz hier aber nicht eine operative, sondern eine epistemische Eigenstandigkeit sozialer Systeme. Dies miisste weiter entwickelt werden. Der Hinweis auf eine mogHche dritte Perspektive kann hier zunachst einmal dazu dienen, die Differenzen

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Sawyer geht nicht davon aus, dass jedes Makro-Phanomen emergent ist, sondern lediglich davon, dass es emergente Makro-Phanomene gibt (vgl. Sawyer 2001, S. 557f). Was fur Esser streng genommen auch gilt, da die Logik der Situation und der Aggregation nicht gesetzesformig bestimmbar sind (s.o.).

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zwischen Essers und Luhmanns Konzepten abschlieBend noch einmal sichtbarer zu machen.-^^ Literatur Alexander, Jeffrey C , Bernhard Giesen, Richard Miinch, Neil J. Smelser (Hg.) (1987): The Micro-Macro Link, Berkeley Baecker, Dirk (2003): Die Zukunft der So^iologie, in: Soi^iologie, 33, S. 66-70 Bohnen, Alfred (1994): Die Systemtheorie und das Dogma von der Irreduzibilitat des Sozialen, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 23, S. 292-305 Coleman, James S. (1990): Foundations of Social Theory, Cambridge, Massachusetts, London Davidson, Donald (1990): Hempels Auffassung der Erklarungen von Handlungen, in: Donald Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M., S. 363-383 Esser, Hartmut (1991a): Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhaltnis von erklarender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schiitz und „Rational Choice", Tubingen Esser, Hartmut (1991b): Die Rationalitat des AUtagshandelns. Eine Rekonstruktion der Handlungstheorie von Alfred Schiitz, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 20, S. 430-445 Esser, Hartmut (1994): Kommunikation und ,Handlung', in: Gebhard Rusch, Siegfried, I. Schmidt (Hg.), Konstruktivismus und Sozialtheorie, Frankfurt a.M., S. 172-204 Esser, Hartmut (1996): Die Definition der Situation, in: Kolner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, 48, S. 1-34 Esser, Hartmut (1997a): Die ,Defmition' der Situation und die Rationalitat des Handelns, in: Tamas Meleghy, Heinz-Jiirgen Niedenzu, Max Preglau, Franz Traxler, Bettina Schmeikal (Hg.), Soziologie im Konzert der Wissenschaften. Zur Identitat einer Disziplin, Opladen, S. 69-90 Esser, Hartmut (1997b): Panik an Bord? Eine Antwort auf die Replik „Was Sie schon immer iiber das Verhalten in sinkenden U-Booten wissen woUten", in: Kolner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, 49, S. 318-326 Esser, Hartmut (1998): Why are Bridge Hypotheses Necessary?, in: Hans-Peter Blossfeld, Gerald Prein (Hg.), Rational Choice Theor}^ and Large-Scale Data Analysis, Oxford, S. 94-111 Esser, Hartmut (1999a): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl., Frankfurt a.M. Esser, Hartmut (1999b): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt a.M.

^'^ Eine weitere dritte Position, die hier ins Spiel gebracht werden konnte, ist die von Parsons. Dieser geht von einer Eigenstandigkeit sozialer Systeme aus, die sich ebenfalls nicht aus der operativen Einheit sozialer Systeme ergibt, sondern daraus, dass soziale Systeme durch spezifische Funktionsprobleme gekennzeichnet sind, die sich an Handlungsorientierungen allein nicht ablesen lassen (vgl. Parsons 1960, S. 468).

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Der N u t z e n der Akteure und die Wette det Systeme Thomas Schwinn

Der allgemein gehaltene Titel von Hartmut Essers opus magnum So^ologie formuliert einen Anspruch und sieben voluminose Bande bekraftigen ihn: Hier arbeitet jemand an einer fachuniversalen, einheitlichen Theorie. Esser schatzt den multiparadigmatischen Zustand der soziologischen Theorie sehr kritisch ein. Eine Vielzahl von Ansatzen steht unabgeklart nebeneinander und es ist schwierig, sich in dieser Vielfalt ohne Willkiir zu orientieren. Er wendet sich gegen die Selbstgeniigsamkeit der verschiedenen Schulen und Richtungen, die sich gegeneinander abschotten und dadurch ihre jeweiligen Einseitigkeiten nicht zur Kenntnis nehmen. Esser glaubt an die Einheit der Soziologie •- gar als zukiinftige Existenzbedingung dieses Fachs (vgl. Schimank/Kron/Greshoff 2002, S. 352 £). Mit dem vorliegenden Werk mochte er dem Ziel naher kommen, die verschiedenen Richtungen der Soziologie zu iiberwinden und ein Fundament fur die ganze Disziplin zu legen. Um einzuschatzen, ob Essers Versuch in der vorliegenden Form gelungen ist, muss man ihn mit den Grundlagen anderer Ansatze vergleichen. Im Folgenden soil die Integrationsfahigkeit des Rational-Choice-Ansatzes am Beispiel der Weberschen Soziologie getestet werden — ein Autor, auf den sich Esser immer wieder iiberwiegend zustimmend bezieht und der die Pramisse des methodologischen Individualismus mit ihm teilt. Der Schwerpunkt des Vergleichs liegt dabei auf der Makrotheorie, insbesondere der „Gesellschafts-" und Differenzierungskonzeption. Dazu werde ich in einem ersten Schritt die Umrisse einer Makrosoziologie im Weberschen Sinne skizzieren. Wenn man eine andere Theorie integrieren mochte, muss man eine Vorstellung iiber ihre charakteristischen Grundziige haben (1). Im Anschluss daran werde ich mich den Grundbegriffen von Essers Theorie widmen, die den Integrations- und UniversaHtatsanspruch zu tragen haben. Dabei interessiert mich besonders, ob Essers Grundbegriffe so gewahlt sind, dass sie in der Lage sind, Webers Modell von Wertspharen und Ordnungen zu fas sen (2). Geht es in diesem zweiten Abschnitt um das methodologische Aggregationsproblem, so im dritten um das theoretische Problem der Aggregation. Hier werden zwei Makrokonzeptionen in Essers Werk identifiziert, die aber unvereinbar und beide nicht in der Lage sind, Webers Makro soziologie adaquat zu rekonstruieren und zu integrieren (3). Der Schluss bietet ein Resiimee zu Essers Integrations versuch.

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1 Umrisse einet Weberschen handlungstheoretischen Makrotheorie Webers Weg zur Soziologie fuhrt nicht iiber den Gesellschaftsbegriff; sein Ziel ist keine Gesellschaftstheorie. Er entwickelt die neue Wissenschaft nicht iiber ein Dekompositionsparadigma^, das, von einem gesellschaftlichen Ganzen ausgehend, nach dem funktionalen Beitrag der Teile fur dieses Ganze fragt, sondern iiber ein historisches, d.h. kausal-genetisches Erkenntnisinteresse. Die historischen

Analysen stoBen auf einzelne Wertspharen und Lebensordnungen, die in sich eine Rationalisierungstendenz aufweisen. Die Art und Weise, wie diese einzelnen Bereiche zusammenwtcken, kann nicht vorab von einem theoretischen Gesellschaftsmodell aus deduziert werden, sondern bedarf der historischen Analyse, die sich dabei des Apparats der kausalen Zurechnung bedient. GroBe Teile der religionssoziologischen Studien sowie von Wirtschaft und Gesellschaft, des sen korrekter Titel „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Machte" lautet, widmen sich dieser Aufgabe. Die einzelnen generalisierungsfahigen sozialen GesetzmaBigkeiten, wie sie sich in der Herrschafts-, Rechts-, Religions- und Wirtschaftssoziologie finden, erlauben nicht ihre Zusammenfiihrung auf ein irgendwie geartetes Ganzes. Das Entscheidende an historisch-gesellschaftlichen Konstellationen ist immer, in welcher ganz spezifischen Weise solche im einzelnen regelhaften und daher generalisierungsfahigen Ereignisreihen zusammenwirken. Bei diesen Analysen lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: 1. Fragen der Konstitution der einzelnen Lebensordnungen und 2. Fragen nach dem Zusammenhang und -wirken der Lebensordnungen. 1. Schaut man sich die Art und Weise an, wie Weber die einzelnen ,gesellschaftlichen Ordnungen und Machte' einfiihrt, fallt auf, dass er dabei nicht auf Begriffe wie gesellschaftliche Funktion, funktionale Imperative, Probleme gesellschaftlicher Bestandserhaltung oder nicht-negierbare Bezugsprobleme zuriickgreift. Er identifiziert diese Spharen, gemaB der in den So^ologischen Grundhegriffen niedergelegten programmatischen Strategic, zunachst iiber den spezifischen Sinn, den die Handelnden ihrem Sich-Aneinander-Orientieren zugrundelegen. Die Definition von Wirtschaft „hat zum Ausdruck zu bringen, dass alle ,wii:tschaftlichen' Vorgange und Objekte ihr Geprage als solche ganzlich durch den Sinn erhalten, welchen menschliches Handekis ihnen — als Zweck, Mittel, Hemmung, Nebenerfolg - gibt" (Weber 1980, S. 31). Entsprechendes gilt fiir PoHtik (Weber 1980, S. 122ff, Weber 1978, S. 544ff), fiir Recht (Weber 1980, S. 181), Wissenschaft (Weber 1978, S. 564ff), Kunst (Weber 1978, S. 554ff) und die erotische Sphare (Weber 1978, S. 556ff). Sinnhafte Spezialisierung ist ein notwendiges Konstitutionskriterium fiir jede Sphare. Uber spezielle Orientie-

Zu diesem Mayntij 1988, S. 14ff.

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rungs standards werden bestitnmte Kontexte ausgegi:en2t, in denen bestimmte Leitkriterien gelten (Mayntz 1988, S. 17ff, Lepsius 1990, S. 45ff). Mit dem Sinnkritetium hat man jedoch nur einen Aspekt der Konstitution von Lebensordnungen erfasst. Weber fuhrt diese ideelk oder kulturelk Dimension vor allem iiber die Wertspharenproblematik in der Zmschenbetrachtung ein. Jede Teilordnung hat aber dariiber hinaus eine institutionelk und organisationelk Dimension, die im Mittelpunkt der Analysen von „Wirtschafi und Gesellschaff^ stehen. Nicht jedem Sinnkriterium gelingt es, die Stufe der institutionellen oder organisatorischen Verfestigung zu erreichen. Der Prozess der Institutionalisierung der einzelnen Wertspharen vollzieht sich nicht immer parallel, sondern mit unterschiedlicher Schrittgeschwindigkeit in diachroner und mit unausgewogener institutioneller Gewichtsverteilung in synchroner Perspektive. Spezifische Tragergruppen mit ihren ideellen und materiellen Interessen spielen hierbei eine wichtige Rolle. SchlieBlich vertragt nicht jedes Sinnkriterium eine organisatorische Verfestigung. Die erotische Sphare ist zwar in Form der Ehe institutionalisiert, aber nicht organisatorisch verfasst. 2. Fiir Fragen des Zusammenhangs und -wirkens der Ordnungen in Webers Arbei-

ten wurde in der Sekundarliteratur auf den Funktionsbegriff zuriickgegriffen (Schluchter 1979, S. 41 ff). Weber selbst betont die „Bedeutung der funktionalen 1/^rfragestellung". „Wir miissen gewiss erst wissen: welches Handeln funktional, vom Standpunkt der ,Erhaltung' (aber weiter und vor allem eben doch auch: der Kultureigenart!) und: einer bestimmt gerichteten Fortbildung eines sozialen Handlungstypus mchtig ist, um dann die Frage stellen zu konnen: wie kommt das Handeln zustande? welche Motive bestimmen es? Man muss erst wissen: was ein ,Konig', ,Beamter', ,Unternehmer', ,Zuhalter', ,Magier* leistet: — welches typische ,Handeln' (das allein ja ihn zu einer dieser Kategorien stempelt) also fiir die Analyse wichtig ist und in Betracht kommt, ehe man an diese Analyse gehen kann (,Wertbezogenheif im Sinn H. Rickerts). Aber erst diese Analyse leistet ihrerseits das, was das soziologische Verstehen des Handelns von typisch differenzierten einzelnen Menschen (und: nur bei den Menschen) leisten kann und also: soil. [...] Denn stets beginnt ... die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive hestimmten und bestimmen die einzelnen Funktionare und Glieder dieser ,Gemeinschaft', sich so zu verhalten, dass sie entstand nnd forthesteht} Alle funktionale (vom ,Ganzen' ausgehende) Begriffsbildung leistet nur Vorarbeit dafiir, deren Nutzen und Unentbehrlichkeit — wenn sie richtig geleistet wird — natiirHch unbestreitbar ist" (Weber 1980, S.8f). Dies ist eine auBerst sperrige Formulierung Webers, die nicht so recht in seine Analysestrategie passen will. Er halt es durchaus fur niitzlich, von einem „Ganzen" auszugehen, und zu fragen, welches Handeln funktional fiir dessen Erhaltung ist, um dann die entscheidende Motivfrage zu steUen. Andererseits wendet sich Weber bewusst gegen die Einfiihrung eines Gesellschaftsbegriffs. Hier ist ein BUck auf Luhmanns Definition der Begriffe „Funktion" und „Leistung" hilfreich: „,.. each subsystem can orient its selective operations toward

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three different system references: (1) toward the system of society in terms of its functiony(7) toward other subsystems within the internal environment of the society in terms of input and output performances; and (3) toward itself in terms o£ reflexion. The functional orientation gains its own importance by a process of specification at the higher level of the encompassing system" (Luhmann 1977a, S. 36f). Wenn das Gesellschaftsganze als analytischer Bezugspunkt ausfallt, ist nur eine leistungsbezogene Fragestellung moglich, und diese kann nur gesichtspunktbezogen vorgehen. Ich setze einen SoUzustand — politische Stabilitat, wirtschaftliche Prosperitat etc. — und frage nach den dafiir adaquaten anderen Ordnungen. Dabei gerat aber der Zusammenhang der Ordnungen aus dem Blick. Der Anordnung der Bereiche im Hinblick auf einen Aspekt oder eine Ordnung geraten nicht die iibrigen Interdependenzen in den Blick. Dies ist ein Dilemma in Webers Analysestrategie: Ich kann immer nxir aspekt- und gesichtspunktbezogen etwas erfassen; zugleich besteht aber die Notwendigkeit, den iibrigen Zusammenhang nicht aus dem Blick zu verlieren. D a der privilegierte Standpunkt der Gesamtgesellschaft nicht besetzbar ist, bleibt nichts anderes iibrig, als gesichtspunktbezogen zu beginnen, zum Beispiel bei der Eigenart der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, und nach den — politischen, rechtlichen, wissenschaftlichen - Bedingungen zu suchen, unter denen diese sich entwickeln und reproduzieren kann. Dies ware eine Konstellationsanalyse aus der Perspektive der okonomischen Ordnung. N u n kann man weiterfragen, welche Konsequenzen eine solche auf die okonomische Ordnung zugeschnittene Konstellation fiir jeden der anderen Bereiche hat. Aufgrund des Fehlens eines Gesellschaftsbegriffs kann ich aber niemals alles auf einmal feststellen, wie z.B. mit Parsons' AGIL-Schema. Nirgends ist ein Ganzes prasent oder dingfest zu machen. „Wenn wic uns die Kausalkette vorlegen, so verlauft sie immer bald von technischen zu okonomischen und politischen bald von politischen zu religiosen und dann okonomischen usw. Dingen. An keiner Stelle haben wir itrgendeinen Ruhepunkt" (Weber 1988b, S. 456). Dieser privilegierte Stand- oder Ruhepunkt ware nur dann besetzbar, wenn die vielfaltig sich verzweigenden Wechselwirkungen, Interdependenzen und Riickwirkungen der Ordnungen einem kybernetisch-systemischem Prozess gehorchen wiirden, der auf einen teleologisch fixierten oder einen Gleichgewichtszustand hinstrebt. In diesen Modellen werden die komplexen sozialen Interdependenzen und Kausalitaten so arrangiert, dass sie letzten Endes auf einen konstant wirkenden SoUzustand hinwirken oder selbstreguHerend auf ein systemisches Gleichgewicht hinstreben, von dem her das gesellschaftliche Ganze seine homogene Bestimmtheit gewinnt. Genau diese Denkfigur hat Weber aber an den organizistischen GesellschaftsmodeUen seiner Zeitgenossen Roscher, Knies und Spann kritisiert (Weber 1982, S. Iff). Wenn es ein solches Ganzes, auf das hin die Wirkungen der Teile konvergieren, bei Weber nicht gibt, muss man konsequenterweise den Funktionsbegriff fallen lassen. Weber kennt Ordnungskonfigurationen, die eine historische Epoche charakterisieren. „Wenn wir eine ,Kulturstufe' konstruieren, so bedeu-

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tet dieses Gedankengebilde, in Urteile aufgelost, lediglich, dass die einzelnen Erscheinungen, die wir dabei begrifflich zusammenfassen, einander ,adaquat' sind, ein gewisses MaB innerer ,Verwandtschaft' ~ so konnen wir es ausdriicken — miteinander besitzen, niemals aber dass sie mit irgendeiner GesetzmaBigkeit auseinander^4^;?" (Weber 1988c, S. 517). In seinen Arbeiten ist das bestandige Bestreben zu verspiiren, die wirtschaftlichen, politischen, rechtUchen, wissenschaftUchen Aspekte gleichzeitig im Blick zu behalten, aber nie so, dass sie auf eine umfassende Einheit konvergieren wiirden. „Ausgeschieden ist... die Figur von ,der Gesellschaft' als ,Funktionsempfanger' oder als Einheitsadresse fur die Funktionen ihrer Teile (Subsysteme): Webers soziologische Analysen nehmen die Wirtschaft, das Recht, die Politik, die Wissenschaft oder die Religion nirgendwo als (Gesellschafts-)Tetle, und noch weniger fragen sie nach deren Funktion, also nach der Funktion der einzelnen Lebensordnungen ,fur die Gesellschafi'' (Tyrell 1994, S. 402). Die Sektoren stellen vielmehr wechselseitig strukturelle Rahmenbedingungen fiireinander dar. Dabei konnen sie untereinander in Beziehungen einseitiger oder wechselseitiger Begiinstigung, Obstruktion oder Indifferenz stehen.^ Die Interdependenzen diirfen nicht liberschatzt werden. Dass die Ordnungen in der okzidentalen Neuzeit richtungsaffin und sich gegenseitig fordernd aufeinander zulaufen, darf nicht als theoretisch allgemeingiiltig unterstellt werden. Ebenso haufig sind unterdeterminierte, unvermittelte, fragmentierte Entwicklungsreihen historisch anzutreffen. „Auch die Formulierung: dass ein jfunktioneller' Zusammenhang der Wirtschaft mit den sozialen Gebilden bestehe, ist ein historisch nicht allgemein begriindbares Vorurteil, wenn darunter eine eindeutige gegenseitige Bedingtheit verstanden wird. D e n n die Strukturformen des Gemeiaschaftshandelns haben, wie wir immer wieder sehen werden, ihre ,Eigengesetzlichkeit'..." (Weber 1980, S. 201). Webers Ausfiihrungen resiimierend, muss man konstatieren, dass es objektiv feststellbare fiinktionale Erfordernisse nicht gibt. AuBer einigen allgemeingiiltigen Aussagen, die fiir anspruchsvoUere Analysen kaum etwas taugen, sind weder fiir den wissenschaftHchen Beobachter noch fiir die unmittelbar involvierten Teilnehmer eindeutige Fixpunkte zu erkennen. In Webers handlungstheoretisch inspirierter Ablehnung des Gesellschaftsbegriffs kann es diese

Vgl. zum Beispiel Weber 1978, S. 10, Weber 1980, S. 395, Schluchter 1988, Bd. II, S. 317. Tyrell (1994, S. 405f) zitiert in diesem Zusammenhang eine interessante Stelle bei E. Baumgarten: ,,Weber kauft eia Klavier. Mina Tobler bereitet Max und Marianne auf die Festspiele in Bayreuth vor. Tristan. Max Weber sieht bei ihr zum ersten mal die groBen Partituren. Er sagt, sehr betroffen, solche Schrifttechnik miisste mir zur Verfugung stehen, dann konnte ich endlich, wie ich sollte, vieles getrennt nebeneinander und doch gleichzeitig sagen." Freilich darf diese instruktive Analogic nicht iiberinterpretiert werden. In eiuer musikalischen Partitur sind die einzelnen Stimmen und Instrumente im Hinblick auf das vorab konzipierte harmonische Ganze angeordnet, welches in einer sozialen Partitur der Ordnungen fehlt. Interessant ist hierbei aber die Schrifttechnik.

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nicht geben. Ein sozialer Zusammenhang ist kein rein objektives Geschehen, dessen Erfordernisse sich selbsttatig durchsetzen, sondern soziale Reproduktion volkieht sich nur iiber und im Handeln. Zwar findet dieses Handeln unter strukturellen Bedingungen statt, aber es ist diirch diese nicht determiniert (Schwinn 1993a, S. 90ff). Die Ordnungen stehen untereinander nicht in systemfunktionakn, sondern in strukturellen Bet^ehungen, Ein sozialer Bereich schafft sich nicht automatisch das zu ihm „fianktional" passende komplementare Handeln in einem anderen. Weber erlautert dies z.B. am Verhaltnis von okonomischer und rechtHcher Entwicklung (Weber 1980, S. 41 If, S. 455f, S. 493). Der Bedarf der okonomischen Interessen nach einer bestimmten Rechtsordnung hat diese nicht erzeugen konnen. Ware nicht eine spezifische Rechtstradition, also Rechtslehre und Schulung von Rechtspraktikern, vorhanden gewesen, hatte der okonomische Bedarf nicht befriedigt werden konnen. Die Rechtsintellektuellen mussten rechtsimmanent erst entsprechende Mittel erfunden haben, die dann okonomisch genutzt werden konnten. „Okonomische Situationen gebaren neue Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern enthalten nur eine Chance dafiir, dass eine rechtstechnische Erfindung, wenn sie gemacht wird, auch Verbreitung findet" (Weber 1980, S. 412, Hervorhebung von T.S.). „Funktionale" Differenzierung impliziert eine Ahhdngigkeit der sich spezialisierenden Sektoren voneinander. Es ist jedoch „in hohem MaBe unklar, was sie jeweils fdreinander an ,Leistungen' erbringen, was sie jfunktionaF fiireinander bedeuten" (TyreU 1978, S. 190). Die Begriffe „Abhangigkeit", „Interdependenz" bieten keinerlei Hinweise, welcher Art diese Abhangigkeits- oder Leistungsbeziehungen sind. Solche analytisch brauchbaren Hinweise bekommt man erst durch die spezifischen Konstitutionskriterien der Sektoren (Schwinn 2001, S. 153ff). Schaut man sich z.B. die Beziehungen zwischen dem Kunstsektor und der PoHtik an, so sind dies keine symmetrischen Abhangigkeiten: Die Beziehung PoHtik/Kunst ist eine Leistungs- oder Zweckbe^ehung insofern erstere gewisse materielle Existenzbedingungen, wie z.B. eine Infrastruktur, fur letztere zur Verfiigung stellt. Wenn man sich dagegen fragt, was „leistet" Kunst fur die PoHtik, so wird man hierbei nicht von Zweck-, sondern von einer Wertbe^ehung sprechen. Die Akteure des Kunstsektors konnen in Beziehung auf die politischen Akteure an asthetische Selbst- oder Eigenwerte appeUieren. Zugleich konnen die Bezugsprobleme der Sektoren untereinander aber auch umdefiniert werden. So kann z.B. im Verhaltnis Kunst/Wirtschaft von Eigenwert auf Zweck umgestellt werden, wenn in der Werbung oder Produktgestaltung asthetische Kriterien zum „Zwecke" der Verkaufsforderung eingesetzt werden. Der Funktionsbegriff liefert nichts Zusatzliches, was nicht schon in Webers Begriffsangebot bzw. in dessen Rekonstruktion enthalten ware.^ Fiir die Arten der

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In seiner Erorterung der fiinktionalen Vorfragestellung (Weber 1980, S. 8f) spricht Weber denn auch nicht von Funktionen, sondern fragt, was die Teile und Akteure fiireinander „leis-

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Interdependenzen, die unterschiedlichen Modi der Riickwttkungen bietet er keine Hilfe. Webers Sichtweise unterliegt kein vom Ganzen ausgehendes Dekompositionsparadigma, in dem den Teilordnungen die zu ihnen passenden funktionalen Komplementarordnungen beiseite gestellt werden. Die von ihm rekonstmierten zueinander „passenden Stiicke" der modernen Entwicklung verdanken sich z.T. hochst unterschiedlichen historischen Erbschaften, laufen dann aber zusammen und fordern sich gegenseitig. Die handelnden Subjekte, insbesondere Eliten, sind jene Knotenpunkte, in denen sich die Anspriiche verschiedener Lebensordnungen treffen. Durch sie muss der differenzierte soziale Strom kontinuiert und der soziale Zusammenhang gekniipft werden. „Funktionale Erfordernisse", Problem- und Krisensituationen sind nicht rein objektiv bestimmbar, sondern miissen durch den Filter der Interpretationsmuster und Interessenstrategien der Akteure hindurch. O b etwas „fiinktioniert" oder als Krise oder Problem wahrgenommen wird, variiert mit der wert- und interessenbestimmten Perspektivitat der Akteure. Es gibt in jeder Gesellschaft eine Vielzahl von Problemen oder „Dysfunktionen". Sofern sie keine Zurechnungsund Handlungsinstanz finden, die sich ihrer Bearbeitung annehmen, bleiben sie als solche bestehen. Zwar konnen sie langfristig Konsequenzen haben, aber auch dann miissen sie wahrgenommen und einer bearbeitenden Instanz zugerechnet werden. „Kosten" konnen z.B. durch Machtungleichgewichte oder differierende Einflusspotentiale selektiv verteilt werden. Der soziale Zusammenhang weist ein erhebliches MaB an Elastizitat auf sowie an Fragmentierung und Eigengesetzlichkeit der Ordnungen, gerade weil ein objektiver Zurechnungspunkt in Form von „Gesellschaft" fehlt. Die aus einer Ordnungsdifferenzierung sich ergebenden Konstellationswirkungen sind interpretationsbediirftig, sie konvergieren nicht in Bezug auf eine funktionale Einheit, sind in einer solchen nicht auffangbar. Statt dieser Interdependenziiberschatzung ist es angemessen, interinstitutionelle Konflikte als typisch fiir einen hohen Grad gesellschaftlicher Differenzierung anzunehmen. So weist Weber (1988a, S. 62ff, 1980, S. 835^ darauf hin, dass es keine prastabiHsierte Harmonic zwischen Freiheitsgarantie und okonomischer Effizienz gibt. Die Diskussion u m die Modernisierungstheorien hat die Unterstellung eines Gleichlaufs von IndustriaHsierung und Demokratisierung als historisch falsch bzw. als nur fiir bestimmte Falle giiltig erwiesen. Heute liegen okonomische Effizienzkriterien mit sozialpolitischen und okologischen Gesichtspunkten in einem spannungsvollen Verhaltnis. Die Wertspharen, welche die Ordnungen und Bereiche ideell begriinden, stehen in einem unlosbaren Konfliktverhaltnis (Weber 1978, S. 536ff, Weber 1982, S. 507, S. 608, Schluchter 1988, Bd. 1, S. 274fQ; folglich kann die Abstimmung zwischen den einzelnen Sektoren immer nur ein vorlaufiges Kompromissprodukt sein. Mit Weber gelingt es, die Makrotheorie von einer fiinktionalen Logik, mit der Bezugseinheit des Gesellschaftssystems, auf eine die Beziehungen zwischen den Spharen in den Mittelpunkt stellende handlungs- und strukturtheoretische Grundlage umzustellen.

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2 Methodologisches und theoretisches Aggtegationsproblem Auch Esser fiihlt sich den Pramissen des methodologischen Individualismus veirpflichtet. Entsprechend muss er Makrophanomene handliingstheoretisch erklaren. Nach Esser (1999, S. 86ff) ist das Handeln auf die Reproduktion des menschlichen Organismus verpflichtet. Die subjektiv erlebte „Zuti:aglichkeit" der Reproduktion des Organismus wird als Nutzen bezeichnet. Diese internen Funktionsbedingungen des Organismus konkretisieren sich in zwei allgemeinen Bediirfnissen: physisches Wohlbefinden und soziale Wertschatzung (Esser 1999, S. 92). Eine Durchsicht der vielen Motiv- und BediirfnisUsten ergebe, dass es auCer diesen beiden keine weiteren allgemeinen Bediirfnisse des menschHchen Organismus gebe. Die Bedienung dieser beiden Bediirfnisse ist das Mittel, das zur Erzeugung des Nutzens fiihrt. Dafiir miissen die Menschen etwas tun. Die dazu notigen Ressourcen, Giiter, Leistungen, Eigenschaften etc. werden durch die soziale Umwelt bestimmt. Esser bezeichnet sie als externe oder soziale Produktionsfaktoren oder auch als „Zwischenguter" (Esser 1999, S. 98ff). Zwischen-Giiter heiBen sie deshalb, weil sie zwischen den Bedingungen der Situation und der Bediirfnisbefriedigung des menschlichen Organismus vermitteln. So sind beispielsweise in der Wissenschaft gute Lehre und Forschung institutionell definierte Zwischengiiter, die unbedingt benotigt werden, um in diesem Feld zu Wertschatzung und physischem Wohlbefinden zu gelangen. Die Erfullung der Grundbediirfnisse ist das Produkt und die Zwischengiiter sind die Produktionsfaktoren dafiir. Der kulturelle Bezugsrahmen und die Institutionen definieren, welche Zwischengiiter in welchem Bereich zur basalen Bediirfnisbefriedigung taugen. Die Produktion der primaren Zwischengiiter ist fur die Akteure ganz besonders interessant und wegen ihrer Nahe zu den vitalen inneren Funktionsbedingungen des Organismus mit vielen Emotionen begleitet (Esser 1999, S. 109ff). Sie setzen enorme menschHche Antriebe und Handlungsbereitschaften frei. Uber die Differenzierung von institutionellen Spharen werden Sorten von verschiedenen begehrten Zwischengiitern abgesteckt. Letztlich geht es aber immer um die Bedienung der Bediirfnisse, um die Erzeugung des dafiir notigen Nutzens. Esser (1999, S. 110) greift dazu auf kybernetische Modellvorstellungen von Parsons zuriick. Der menschliche Organismus mit seinen beiden basalen Bediirfnissen liefert die Energie fiir das problemlosende Streben nach den Zwischengiitern. Die Formung und Steuerung dieses Energie- und Motivationsstromes geschieht durch die kulturellen Werte und Ziele und die institutionell festgelegten Regeln zum Erwerb der dafiir notigen Mittel. „In den kulturellen Zielen ist — in der Sprache des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen — der allgemein akzeptierte und somit sozial verbindliche Satz der als ,relevant' angesehenen^n;^^>T/^ Zmschengu/^rniedergelegt" (Esser 1999, S. 111). Der Vergleich mit Webers grundbegrifflicher Strategic eroffnet Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sowohl Esser wie Weber gehen aus von der Frage, warum handeki Menschen. Sie in teres sieren sich beide fiir die Handlungs-

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griinde. Sie geben darauf aber verschiedene Antworten. Nach Esser sind die Wertspharen und die entsprechenden Institutionen nur Zmschengiittt, der eigentliche Antrieb und die Motivation kommt aus den beiden basalen Bediirfnissen des physischen Wohlbefindens und der sozialen Wertschatzung. Geld, Liebe, Macht etc. sind nur Mittel zum Zweck, um den eigentlich interessierenden prknaren Nutzen zu erzeugen (Esser 1999, S. 373). Da man soziale Wertschatzung nur liber die Erfullung der in den jeweiligen institutionalisierten Spharen geltenden Erfolgsbedingungen erlangen kann, halt man sich daran. Bei Weber sind dagegen die spharenspezifischen Werte nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck, ein Wert an sich, um des sen Willen man handelt. Diese E/^^zwecke dienen nicht ihrerseits nochmals als ZwiscbengUtdcii einem weiteren Ziel oder Zweck. Weber greift zur Charakterisierung der Werte auf die Gottermetapher zuriick: Sie sind wie Gotter, denen man dient, die aber nicht ihrerseits an einem weiteren Zweck oder Ziel ausgerichtet sind, etwa um sich wohlzufiihlen oder sozial geschatzt zu werden. Das mogen manche Menschen durchaus tun, zweifelsohne, aber dieses Handeln ist nicht konstitutiv fur eine Wertsphare. Wertrational handelt jemand aus dem „bewuBten Glauben an den .. .unbedingten Eigenwe:rt eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhangig vom Erfolg" (Weber 1980, S. 12). Die So^iologischen Grundhegriffe fuhren diesen Grundtypus des Handekis ein und die Zwischenbetrachtung liefert ein Tableau denkbarer und historisch vorgefundener MogHchkeiten, Griinde fur sein Handeln zu nennen. Werte ermoglichen einen Verzicht auf weitere Begriindungen. Auf letzte oder oberste Werte beruft sich ein Akteur, wenn er eine Handlung verstandHch machen will und sie liefern ihm die Motivation. Er muss nicht auf einen weiteren Wert oder ein basales Grundbediirfnis rekurrieren, um seine Wahl zu begriinden oder seine Motivation zu erklaren. „Eine konkrete Handlung kann von mehreren letzten Zielen oder Werten zugleich bestimmt sein; sie kann an mehreren letzten Werten zugleich teilhaben. Das andert nichts daran, daC die letzten Werte, an denen sie teilhaben kann, die Dimensionen abstecken, in denen man iiberhaupt handeln kann. Ihre Zahl ist begrenzt, weil unsere Fahigkeit, Handlungsgriinde als letzte, nicht weiter verstandliche Griinde anzuerkennen, begrenzt ist. Manche Menschen, und gerade Theoretiker, neigen sogar dazu, alle Handlungsgriinde auf einen einzigen letzten Grund oder Wert, etwa den der Lust [bei Esser: basale Grundbediirfnisse oder Nutzen, T. S.], zuriickzufiihren und in alien konkreten Handlungen immer dasselbe letzte Ziel wirken zu sehen. Ein solcher Reduktionismus vertragt sich aber nicht mit der Tatsache, daB Menschen fur bestimmte andere Werte — des Ruhms, des Seelenheils, der Erkenntnis, der Liebe — groBe Mengen von Lust zu opfern bereit sind. Unsere Annahmen dariiber, welche Handlungsgriinde, Ziele und Werte als letzte anzuerkennen sind, konnen aber ... nur vorlaufig sein. Weber hat in jedem Fall sich nicht auf ihre genaue Bestimmung festgelegt. Er hat aber einige wichtige in der ,Zwischenbetrachtung' als Wertspharen in ihren Eigengesetzlichkeiten und in ihrem Spannungsverhaltnis zueinander beschrieben..." (Steinvorth 1994, S. 462f). Wiirde man den „Esser-

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Menschen" lange genug mit Fragen drangsalieren, warum er eine Handlung ausgefiihrt habe, muss er fniher oder spater mit der Nutzenfunktion fiir die basalen Bediirfnisse antworten'*. Auch bei Weber beschreiben die Spharen, wie Esser richtig ausfuhrt, einen Pool, der enorme menschliche Antriebe und Handlungsbereitschaften freizusetzen in der Lage ist, aber — um im Bild zu bleiben — dieser Pool speist sich nicht wie bei Esser aus einer weiteren Quelle, den beiden Grundbediirfnissen. Das Webersche Handlungsmodell ist nicht mit dem kybernetischen Modell fassbar, das Esser von Parsons libernimmt. Der fur die Spharen konstitutive wertrationale Handlungstyp zieht die Motivationsenergie aus den Werten selbst — „Glaube an den Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen" — und nicht aus icgendwelchen organischen oder psychischen Grundbediirfnissen. Motivationsenergie steht nicht als festes Reservoir durch den menschlichen Organismus fiir den variablen Einsatz im Kontext verschiedener sozialer Kontexte zur Verfiigung, sondern die Energiereserven werden durch diese Kontexte mitgepragt. Das wertrationale Handeln ist zwar konstitutiv fiir die Herausbildung und Reproduktion der Wertspharen und Institutionen, es ist aber nicht alleine ausschlaggebend. Hier sehe ich eine gewisse Konvergenz mit Essers Uberlegungen. Dazu muss man zwischen Experten und Laien unterscheiden. Die das Expertenhandeln und die Reproduktion der Ordnungen anleitenden Sinnkriterien — wissenschaftliche Wahrheit, okonomische Rentabilitat, politische Macht, asthetische Standards — haben an sich eine geringe Wirkung auf den Laien. Weber hat dies in der Religionssoziologie anhand des Verhaltnisses von religiosen Eliten und Laien veranschaulicht. Theologische Reflexionen und religiose Virtuosenleistungen entfalten erst dann eine sozial strukturierende und motivierende Wirkung, wenn es ihnen gelingt, die lebenspraktischen Probleme der Laien aufzunehmen und die religiosen Ordnungskriterien letzteren zu adaptieren. Institutionen miissen fiir die inkludierten Personen etwas leisten. Und diese Leistungen bemessen sich nicht nur nach den spezifischen Ordnungskriterien, sondern auch an den dazu nicht selten heterogenen Interessen der Laien, deren Lebensqualitat. Damit Menschen Ideen annehmen und Werte als fiir ihr Handeln verpflichtend ansehen, miissen sie ihnen auch etwas bieten. Die Masse der Laien erwartet sich von Religion diesseitige Giiter (Weber 1978, S. 249): Gesundheit, langes Leben, Reichtum, das gute Gewissen und die Legitimation fiir die Wohlhabenden. Auch das, was auf den ersten Blick als jenseitig, auBerweltlich erscheint, psychologische Zustande eines religiosen Rausches und einer religiosen Zustandlichkeit, wie Ekstasen, Mystik, Andacht, Askese, zielen primar auf einen diesseitigen Genuss, die sie dem Glaubigen unmittelbar bieten; in Essers Worten: physisches Wohlbefmden und Zutraglichkeit fiir den Organismus im weitesten Sinne. Religioses Handeln ist hier in der Tat ein Zwi-

Esser (1999, S. 352, S. 357f) kommen jedoch selbst Zweifel an der AUgemeingiiltigkeit der Nutzentheorie und der Werterwartungstiieorie.

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schengut fur die Befriedigung basaler Bediirfnisse. Es muss diese bedienen, um die ^praktischen Antriebe zum Handeln" (Weber 1978, S. 238) freizusetzen. Schon die altesten Seelsorger, die Zauberer und Magiere, verdankten ihre Stellung der Fahigkeit, Krankheit, Leiden und N o t von ihrer Klientel zu nehmen bzw. es ihnen glauben zu machen. Die Unterprivilegierten erwarten sich von Religion ganz kn Esserschen Sinne physisches Wohlbefinden, die Privilegierten soziale Wertschatzung. Das sind in der Tat universelle Bediirfnisse, die auch Weber in alien Religionen entdeckt. Und sie sind auch heute noch vorhanden. Die von wissenschaftlichen, okonomischen, juristischen, asthetischen Experten gepflegten und reproduzierten Sinnkriterien mit den entsprechenden Institutionen sind fur die Laien nicht sonderHch motivationstrachtig. Immer nur ein mehr oder weniger kleiner Anteil von Akteuren, in der Kegel die Experten, erbringt die fur die Ordnungsreproduktion konstitutiven Orientierungsleistungen und Handlungsstrategien. Die Masse der Bevolkerung beurteilt die Institutionen danach, was sie fur ihre Lebensprobleme zu leisten in der Lage sind. Dieser Khentenbezug von Institutionen ist daher nicht identisch mit der vor allem iiber Elitenhandeln laufenden Reproduktion von und den Vermitdungen zwischen Institutionen. Welche Probleme und Leistungen die Masse als konstitutiv fiir ihre Selbstwahrnehmung und Motivation herausgreift, lasst sich nicht aus wertbezogenen und expertenvermittelten institutionellen Fragen einfach ableiten. Essers basale Grundbediirfnisse diirften die Motivation der Masse adaquater treffen als Webers Umschreibung der Wertspharen mit dem BHd des Gottes, dem man dient. Aber ohne das wertrationale Handeln der Experten und eines nennenswerten Anteils der Masse kommen entsprechende Institutionen nicht zustande. Es ist nach Weber ein wechselseitiges Anpassungsproblem zwischen reUgiosen Ideen und den Interessen. „Interessen (materieUe und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte" (Weber 1978, S. 252). Das ist eine andere Vorstellung als die Essers (1999, S. 135f), der Werte und Ideen als das Variable, weil gesellschaftlich Definierte, und Bediirfnisse und das daraus resultierende Interesse an deren Bedienung als das Allgemeine, Unveranderbare anzunehmen scheint. Was genau die Bediirfnisse und entsprechende Interessen sind, wird aber durch die Werte und Ideen, an die Menschen glauben, mitbestimmt und umgekehrt. An die SteUe von Essers EinbahnstraBenmodell argumentiert Weber mit zwei Flussrichtungen, die sich nicht kybernetisch fassen lassen, wie Esser dies in Anlehnung an Parsons vermutet. Dass Esser die Wertspharen und Institutionen zu bloBen Zwischengiitern degradiert und in seiner handlungstheoretischen Grundbegrifflichkeit nur die mit den basalen Bediirfnissen verbundene Nutzenerwartung als Orientierungsmodus ansetzt, hat Konsequenzen fiir seine Makro- oder Ordnungstheorie. Bei Weber sind die Wertspharen und die daraus abgeleiteten Institutionen handlungstheoretisch angebunden ~ nicht vollstandig erklart! - , d.h. dem wert-

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rationalen Handeln korrespondieren auf der kulturellen Ebene die Wertspharen und auf der Ordnungsebene die durch Werte mitbestimmten Institutionen. In Webers Begriffsfolge der So^ologischen Grundhegriffe, Handeln — soziales Handeln — soziale Beziehung — soziale Ordnung, konnen auf der Makroebene prinzipiell keine Sinnqualitaten auftauchen, die nicht auf der Handlungsebene prasent waren. Anders dagegen bei Esser, bei ihm fallen in Bezug auf diesen Aspekt Handlungs- und Ordnungsebene auseinander: auf der Ebene des Akteurs verfiigt er nur liber die Nutzenorientierung, die im Dienste der Grundbediirfnisse steht, auf der Ordnungsebene kommen dagegen ausgiebig Werte, Sinnorientierungen, Codes etc. vor. Wie diese aber zustande kommen, kann er nicht mehr erklaren, er muss sie als bloBe „Randbedingungen" abschieben. „Woher die Praferenzen kommen, steht iibrigens nicht in der Nutzentheorie. Sie ist eine Erklarung des Handelns aus gewissen Randbedingungen, nicht aber auch eine Erklarung der Entstehung ihrer Randbedingungen. Die Praferenzen sind fiir sie ,exogen' vorgegeben und einfach da. Das wird der Nutzentheorie oft vorgehalten, besonders von den soziologischen Handlungstheorien, die alle — irgendwie — versuchen, auch die Entstehung ihrer eigenen Randbedingungen zu erklaren. Genaugenommen ist aber der Verzicht auf die Erklarung ihrer eigenen Randbedingungen kein Mangel: Wie Situationen, Erwartungen und Bewertungen entstehen, muB ja ohnehin noch anders erklart werden als das eigentliche Handeln. Dazu bedarf es einer vollstandigen soziologischen Erklarung — einschlieClich der Logik der Aggregation. Und die kann man ja unabhangig davon versuchen, ob man die Nutzentheorie verwenden will oder nicht. Insofern sind die Einwande gegenstandslos" (Esser 1999, S. 298). Ich denke, die Einwande sind nicht gegenstandslos. Esser glaubt, die zunachst abgedrangten Randbedingungen dann mit der Logik der Aggregation erklaren zu konnen. Aber die Logik der Aggregation andert nichts daran, dass Wertspharen und wertbasierte Institutionen nur dann entstehen konnen und reproduziert werden, wenn es einen wertrationalen Handlungstypus gibt. Aus einem nutzenorientierten Handlungstypus kann prinzipieU keine Wertsphare auf der Ordnungsebene entstehen. Sicherlich kann ein nutzenkalkulierender Akteur, verschiedenen Wertspharen gegeniiberstehend, zwischen diesen danach entscheiden, welche der Reproduktion seiner basalen Bediirfnisse am zutraglichsten ist. Mit diesem ModeU kann man aber nicht erklaren, wie Werte entstehen und warum sie reproduziert werden. Deshalb muss Esser diesen Teil in die Randbedingungen abschieben, weil er liber keinen korrespondierenden wertrationalen Handlungstypus verfdgt. Damit kann man nur den halbierten Giddens haben: wertbesetzte Ordnungen als Voraussetzung (= Randbedingungen) des Handelns, aber nicht als Folge des Handelns. Wenn man nur iiber die Nutzenorientierung verfiigt, ist zwar ein Konsumtionsverhdltms zu Werten moglich — ich kann kalkuHerend abwagen, welche Wertsphare den besten Nutzensaldo verspricht — aber kein Konstitutionsverhdltnis, da nicht erklart werden kann, wie sie entstehen. So gibt es viele extremistische religiose und poUtische Gruppen, die sich am Grundgesetz orientieren, weil es ihnen gerichtUch durchsetz-

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bare Frekaxime fur ihr Handeln einraumt. Die demokratische Verfassung ist aber kein Wert an sich fur diese Akteure, sie ist ihnen nur niitzlich. Dotninieren solche Orientierungen, werden Wertordnungen konsumiert, verbraucht, aber nicht mehr regeneriert. Auch nach Esser konnen letzteres nur Menschen bewerkstelligen — wenn sie aber nur iiber Nutzenkalkulationen verfugen, kann auf der Ordnungsebene niemals irgendetwas Wertbesetztes ankommen. Daran andert die theoretische Logik der Aggregation prinzipiell nichts. Jede Wertsphare muss sich fur ihre Konstitution und ihre Reproduktion auf einen Kernbestand von typuskonstituierenden Wertorientierungen stut2en (Schwinn 1993b) und sei es nur bei den Eliten, sonst muss man durch einen Taschenspielertrick das Werthafte aus dem H u t der Emergens zaubern. Man kann dies als das methodologische Aggregationsproblem bezeichnen. Wie soil etwas, das auf der Akteursebene Randbedingung ist, auf der Ordnungsebene als centrales Moment auftauchen? Wenn man wie Esser, alles, was „oben ankommt", von den Handlungen her erklaren will, kann das nicht gelingen. Wohlgemerkt: die handlungstheoretische Verankerung der Ordnungstheorie ist nicht mit dem theoretischen Aggregationsprohlem identisch.^

3 Arbeitsteilung und selbstregulative Systeme: Probleme det Makrotheotie Die Disbalance zwischen Essers Handlungs- und Ordnungstheorie macht seine Schwierigkeiten mit letzterer verstandlich. Zwei unvereinbare Konzeptionen las sen sich aufdecken. Beide fiihren nicht zu einer adaquaten Makrotheorie. Die eine Konzeption halt die eingeklagte Korrespondenz von Handlungs- und Ordnungsbegrifflichkeit ein und versteht moderne differenzierte Gesellschaften nach dem Nutzenmodell als eine Art arbeitsteilige Erstellung eines kollektiven Gesamtprodukts (a). Die andere Konzeption borgt sich ihre Makrovorstellung aus einem anderen sozialtheoretischen Paradigma: der Systemtheorie. Letztere verliert dabei z.T. ganzlich den Kontakt mit den Pramissen des methodologischen Individualismus (b). (a) „So wie es Betriebe und Organisationen als arbeitsteilig differenzierte soziale Systeme gibt, kann man sich nun leicht auch fur ganze Gesellschaften vorstellen, daB sie in voneinander abgegrenzte funktionale Spharen differenziert sind, die jeweils spezielle Aufgaben bei der Erstellung des ,Gesamtprodukts' iibernehmen" (Esser 2000, S. 71). Dieses Verstandnis von Gesellschaft und ihren Teilsystemen bzw. Ordnungen liegt auf der Linie von Essers Grundbegrifflichkeit. Auf der Handlungsebene besagt diese, dass die effiziente Nut-

Zum theoretischen Aggregationsproblem vgl. etwa die Systematik in Esser 2000, S. 50 sowie mein Vorschlag auf S. 57.

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zungsproduktion das eigendiche Ziel alien Tuns ist (Esser 2000, S. 69). Entsprechend liegt es nahe, gesellschaftliche Ordnungen in Analogic zum Organisationsmodell als eine arbeitsteilige, kooperative Veranstaltung anzusehen, bei der es um die Erstellung eines „Gesamtprodukts" geht, an dem alle ein gemeinsames Interesse haben (Esser 2000, S. 64f). „Gesellschaft" ist hier eine Art Kollektivgut, zu dessen Erstellung die Akteure sich spezialisieren und zusammenarbeiten. In den Spharen werden spezielle funktionale Leistungen erbracht, die im Austausch die Versorgung mit den erforderlichen Ressourcen und damit die Nutzenproduktion sichern. Wie immer bei der Erstellung eines Kollektivgutes, hat jeder einzelne Akteur ein besonderes Interesse, „bei der Verteilung des gemeinsam erstellten Produktes moglichst giinstig dazustehen" (Esser 2000, S. 65). E r hat daher nicht nur kooperative, sondern auch egoistische und antagonistische Interessen. Letztere zielen darauf, den Wert und die Bedeutung seines Beitrags moglichst zu erhohen, um die Tauschbedingungen zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Da nicht im vorhinein feststeht, wie viel eine arbeitsteiUg erbrachte Leistung im Sinne der Nutzenproduktion wert ist, wird hier ein strategisches Feld eroffnet, in dem jeder bestrebt ist, die Tatigkeit in seiner Sphare besonders hervorzukehren und auszuweiten. Nutzenproduktion in Bezug auf physisches Wohlbefinden und soziale Wertschatzung steht nicht ein fxir aUemal fest, sondern ihre subjektiv zufriedenstellende Befriedigung ist immer relativ und daher steigerbar. Die Verfolgung des individuellen Nutzens und die des Kollektivnutzens, d.h. die Nutzenerwartungen der anderen Akteure, wird sich letztHch nach einem Marktprinzip einpendeln. Ich kann das spharenspezifische Handeki nicht beHebig in die H o h e treiben, weil der Grenznutzen des Gutes fur mich und andere abnimmt und die Tauschrelationen die Gewahr dafiir bieten miissen, dass die anderen spharenspezifischen Leistungen auch erbracht werden, da ich von ihnen ebenfalls abhangig bin. Die Logik der Aggregation ware hier nach dem Marktmechanismus zu modeUieren. In diesem Modell wird die Entstehung wie die Dynamik der Differenzierung aus dem Grundmotiv der Nutzensteigerung erklart. Las St sich darin Webers Differenzierungskonzeption integrieren? Essers Erlauterung von Differenzierung mit dem Paradigma der Arbeitsteilung steht eher in einer Kontinuitat zu Durkheim, geht aber an Webers Verstandnis vorbei. Arbeitsteilung ist ein okonomisch gepragter Begriff (Konig 1964, Luhmann 1977b, S. 21, TyreU 1985, S. 183ff, Schmid 1989). Koordination wird hier iiber den Markt und iiber Organisationen geleistet: iiber Angebot-NachfrageVerhaltnisse, das heiBt iiber den Preis und die organisatorische Koordination von Teiltatigkeiten im Hinblick auf ein Unternehmensziel. Beides sind okonomieinterne Mechanismen und konnen nicht als Modell fiir die Differenzierung und Integration der Ordnungen dienen. Durkheim denkt bei Arbeitsteilung an einen solidaritatsstiftenden, Esser an einen nutzensteigernden Kooperationszusammenhang. Bei Weber basiert Differenzierung dagegen auf Wertspharen, die keinerlei arbeitsteilige Koordination voraussetzen. Jede einzelne legt einen deutenden Zugriff auf die gan^ Welt nahe. Die Unterscheidung zwischen Ba-

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cker und Automechaniker ist nicht die gleiche wie die 2wischen Kiinstler und Backer (Tiirk 1995, S. 171ff). Die Abgren2ung der ersten beiden ist eine solche nutzenbezogener Art mit mehr oder weniger klaren Beziehungen der KoOperation in Unternehmen und des Austausches der Produkte iiber den Markt Der Kiinstler beansprucht dagegen eine Perspektive auf die Welt als Ganzes. Es gibt kein nutzenbezogenes Kriterium der arbeitsteiligen Abgrenzung und Kooperation fiir seine Tatigkeit Aus der asthetischen Perspektive lasst sich vielmehr alles zum Thema kiinstlerischen Schaffens machen, auch das Brot des Backers und das Auto des Kfz-Mechanikers, wahrend diesen keine perspektivische Option auf den gesamten Phanomenbereich offen steht. Weder der okonomische Markt noch der Organisationsmechanismus sind in der Lage, die kiinstlerische mit den Perspektiven der anderen Spharen zu vermitteki. Man verbaut sich daher den Zugang zu einem adaquaten Verstandnis von Differenzierung, wenn man sie iiber Arbeitsteilung zu erlautern versucht. Auf der Wertehene erheben die Spharen umfassende Deutungs- und Zugriffsanspriiche, aus denen der konfliktbeladene „Kampf dtt Gotter" resultiert; andererseits sind die Spharen auf der strukturellen'Bhenewechselseitig aufeinander angewiesen. Keine Sozialordnung lasst sich iiber eine einzige Sphare gestaken. Die einzelnen Ordnungen miissen wechselseitig fiireinander etwas leisten: Giiter und Dienstleistungen miissen zur Verfiigung gestellt werden, rechtlich-poHtische Vorgaben und Infrastrukturleistungen miissen geschaffen werden, praxistaugUches Wissen wird verlangt, und ohne die Bereitstellung neuer Generationen, die bekanntermaBen iiber sexuell-erotische und Liebesbeziehungen „geleistet" wird, geht den anderen Ordnungen friiher oder spater das Personal aus. Ein wichtiger integrativer Faktor ist daher in den zwischeninstitutionellen Ijeistungshe^gen zu suchen. Fiir Leistungskoordination ist Kooperation und Arbeitsteilung notwendig. Das wird vor allem iiber den Markt und vermittels Organisationen geleistet. Dennoch ist der integrative Zusammenhang der unterschiedHchen Institutionen einer Sozialordnung nicht iiber das Paradigma der Arbeitsteilung, bei der es um die Erstellung eines „Gesamtprodukts" geht, oder einer Organisationstheorie fassbar. So ware es, kurzfristig gesehen, im Interesse der erfolgreichen Losung vieler Probleme effizient, wenn die formal abgegrenzten institutionellen Bereiche einem iibergreifenden, arbeitsteiligen und hierarchischen Organisationszusammenhang weichen wiirden. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, eine zu weit getriebene Arbeitsteilung zwischen Institutionen wird sanktioniert. „Ein Versicherungsunternehmen formuliert eine parlamentarische Gesetzesvorlage fiir die Versicherungswirtschaft, ein Universitatsinstitut wird von der Industrie finanziert, die auch die Themen und Forschungsweisen vorgibt, Unternehmensverbande versuchen, die Lehrplane der Schule zu bestimmen usw. Alles dies ware bei assoziativarbeitstefligen Strukturen ja nur wiinschenswert, weil somit der jeweilige Sachverstand in den Arbeitsbereich der je anderen Bereiche transferiert werden konnte. Skandalisierbar sind solche Vorkommnisse vermutlich aber nur, weil und insofern den einzelnen Teilsystemen je andere Leitprinzipien unterstellt

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werden, und zwar solche, die sich in weiten Bereichen widersprechen. Deshalb miissen die Sinn- und Regulationsprovinzen als gegeneinander abgegrenzt und auf je fiir sich legitimierte Zugriffsweisen eingeschrankt gelten; ihre Vermischung gilt als Normbruch (,Einniischung' ist ein treffender Alltagsbegriff dafur) und fuhrt zur Emporung" (Tikk 1995, S. 174£). Die Arbeitsteilung findet an den basalen Werten und ihren Leitideen Grenzen. Der institxitionelle Zusammenhang gehorcht daher nicht der Erstellung eines „Gesamtprodukts", sondern die iibet Leitideen institiitionaUsierten Wertspharen bilden geradezu Hemmschwellen und Barrieren fiir eine nutzenorientierte arbeitsteilige Durchund Uberorganisation aller Lebensbereiche. Das Ensemble moderner Ordnungen verfolgt keinen gemeinsamen Zweck oder kollektiven Nutzen und es ist daher nicht nach Art einer GroCorganisation oder eines Konzerns arbeitsteilig und hierarchisch gestaltbar. Esser konfundiert hier Organisations- und Ordnungs- bzw. Gesellschaftsebene. Die notwendige und legitime Indifferenz des Verfolgens institutionenspezifischer Ordnungsstrategien muss zwar immer wieder durch externe Leistungsbeziige und Niitzlichkeitserwartungen konterkariert werden. Ohne die externen Nutzenerwartungen verHeren sich die Institutionen in die Willkiirlichkeit und Einseitigkeit ihrer begrenzten Perspektiven und Bearbeitungsmethoden. Ohne die Indifferenz konnen sie andererseits aber langfristig die externen Leistungserwartungen auch nicht erfiillen. Beides gefahrdet den integrativen Zusammenhang. Die Nutzenkomponente ist zweifellos immer im Spiel, Esser fehlen aber die handlungstheoretischen Begriffe, um die Wertkomponenten von Webers Spharen analytisch in den Griff zu bekommen. „Die meisten Menschen haben bei ihrem Wechsel zwischen den Spharen des Alltags ohnehin immer nur eines im Sinn: Geld und Ansehen. Und das reicht fur eine stabile Identitat in den allermeisten Fallen auch voUkommen aus. Kurz: Gerade weil es in den funktionalen Spharen darum geht, sich die Mittel zu beschaffen, mit denen die ganz privaten primaren Zwischengiiter erst noch hergestellt werden miissen — aber auch konnen —, ist es nicht erforderltch, daB sich die Menschen mit der jeweiligen funktionalen Sphare auch unmittelbar und personlich identifizieren. Sie miissen nur begriffen haben, daB es in ihrem Interesse ist, die funktionalen Imperative zu beachten" (Esser 2000, S. 71). In der Tat sollte man nicht annehmen, dass die Masse der Menschen sich an den Spharen wertrational orientieren, um des Eigenwertes willen. Jedes institutionelle Feld ist auch eine Machtarena, in der um Privilegien gestritten wird. So ist die Klassentheorie an Wirtschaft nicht primar als differenzierter Wertsphare interessiert, sondern fiir sie stehen hier Gruppen und Akteure mit ihren jeweiHgen Strategien zur Maximierung ihres Anteils gegeniiber. Das Personal der differenzierten Institutionen verfolgt deren Leitkriterien nicht alleine aus „altruistischen", den „Funktionen" oder „Werten" dienenden Motiven, sondern dabei spielen immer auch Interessen an der Maximierung von Privilegien eine RoUe. Essers Uberlegungen soilten hier also unbedingt beriicksichtigt werden. Er kann aber die Verselbstandigung der differenzierten Spharen nicht verstandlich machen. Dass sie das tun.

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sieht natiirlich auch Esser (2000, S. 77). Mit einer Begriffsanleihe bei der Systemtheorie bezeichnet er dies als „reflexive Verselbstandigung". Darunter versteht er das Umschlagen eines bloBen Zwischengutes zu einem Selbst- oder Endzweck. So ist Geld irgendwann nicht mehr bloBes Mittel, um die basalen Bediirfnisse zu befriedigen, sondern es wird um seiner selbst willen verfolgt. So kenne der Turbokapitalismus unserer Tage nur noch eines: „Profit, egal wofiir" (Esser 2000, S. 78). Und so konnten sich alle zunachst nur als Zwischengiiter fur die eigentliche Nutzenproduktion dienende Spharen verselbstandigen. Das ist genau der Wertcharakter der Spharen: Verfolgung des Wertes um seiner selbst willen, „egal wofiir" und was Luhmann als codegepragte Autopoiesis herausstellt. Wo bleiben aber hier noch Essers Nutzenproduktion und die Zwischengiiter, die das „Wofur" genau definieren? Auch hier hilft der Verweis auf die Logik der Aggregation nicht weiter, liber die sich die Funktionen von den Motiven der Menschen „abkoppeln" (Esser 2000, S. 71). Er verortet die Verselbstandigung der Zwischengiiter zu Selbstzwecken auch auf der Motivund Handlungsebene des Akteurs (Esser 2000, S. 77). Essers Theorie stoBt hier an ihre Grenzen. Er merkt, dass seine Grundbegriffe zu eng sind, um die Dynamik der differenzierten Gesellschaft zu fas sen und lasst dann neue Motivtypen und Handlungsgriinde zu, von denen aber nicht ersichtlich wird, wie sie mit der engen Grundbegrifflichkeit zu vermitteln sind. (b) In einem zweiten Argumentations Strang borgt sich Esser die Makrovorstellung von einem anderen sozialtheoretischen Paradigma: der Systemtheorie. Anders als Max Weber, fiir den, wie dargelegt, die „Gesellschaft'* kein brauchbarer analytischer Begriff ist, geht Esser damit relativ groBziigig um. Die Teilsysteme erfiillen funktionale Aufgaben, die fiir die Reproduktion der Gesellschaft als soziales System erforderlich seien (Esser 2000, S. 45). Esser hat keine Beriihrungsangste, die Modellvorstellung eines „Ganzen" aus der systemtheoretischen Begriffskiste zu entnehmen, in Bezug auf das sich die Teile komponieren (Esser 2000, S. 53). Auch glaubt er, die Selbstregulation und Homoostase von Systemen, die vollig unabhangig von den Motiven der Akteure ablauft, in seine Theorie integrieren zu konnen. „Prozesse des negativen feedback sind fiir die sog. Selbstregulation von Systemen entscheidend: Sie sorgen dafiir, daB das System bei evtl. Abweichungen oder ,Storungen' seiner einfachen Reproduktion alsbald wieder zu ihrem Gleichgewicht findet. Die sog. funktionale Reproduktion von Systemen beruht auf solchen Mechanismen der Selbstregulation" (Esser 2000, S. 351, sowie S. 71, S. 270f, S. 356, S. 427). Esser betont zwar zu Recht, dass die „Logik der Aggregation" nicht handlungstheoretisch auf die „Logik der Selektion" reduziert werden darf Es ist aber eine Sache, davon auszugehen, dass sich nicht-intendierte Folgen des Handekis einstellen und diese auch gewisse Eigengesetzlichkeiten aufweisen — eine ganz andere jedoch, zu unterstellen, dass es eine eigene Systemtatigkeit gebe, die die funktionale Abstimmung aller ihrer Elemente zu einem Gleichgewicht oder einem „Ganzen" betreibe. Die zweite Variante hat nichts mehr mit einer „Aggregati-

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onslogik" 2u tun, da hier nichts „von unten" entsteht und auch nicht von den anderen Ebenen her aufgeklart werden kann. Essers Anleihe bei der Systemtheorie vergisst, dass die Ebene des Gesellschaftssystems nicht das aggregative Resultat der Systeme der unteren Ebene ist, etwa der Interaktion. In der Systemtheorie ist die der Handlungsfahigkeit des Subjekts analoge J)/j-/i?^atisierungsfahigkeit auf alien Systemebenen anzutreffen (Gesellschaft, Organisation, Interaktion). Eine reine Mikrofundierung kann die Systemtheorie daher nicht haben, weil Interaktionssysteme und Gesellschaftssysteme sich nicht wie Handlungssubjekte und Ordnung bzw. nicht-intendierte Effekte gegeniiberstehen. Die Systemebenen und ihre Beziehungen sind nicht iiber eine a^regative Ijogik, sondern iiber das Sjstem-UmweIt-ModeII aufzuklaren. „Strukturwahlen in einem Systemtyp konnen dann Restriktionen fiir die mogHchen Strukturwahlen im anderen Systemtyp nach sich ziehen. Aber dies ist keine A^regation von Mikroereignissen zu einem Makrogeschehen" (Stichweh 1995, S. 403, Hervorhebung von T.S.). Wenn dagegen in der Handlungstheorie nur eine einzige Instanz als reflexions-, aktions- und selbstregulationsfahig angesehen wird, das Subjekt, sind alle Ordnungsebenen logisch aus dem Handeln der Subjekte zu erklaren. Das System-Modell ist hier ein Fremdkorper, weil handlungstheoretisch gesehen Ordnungen oder Makroeffekte prinzipiell iiber keine subjektanalogen Selbstregulations- und Eigenstrukturierungsfahigkeiten verfugen. Gerade Esser hat dies ja immer wieder konsequent betont. „Soziale Gebilde ,verhalten' sich aber immer nur nach MaBgabe der komplexen Aggregation der individuellen Handlungen der Menschen der Mikro-Ebene auf die Makroebene der Zustande des sozialen Gebildes" (Esser 1993, S. 115). Zwischen der Annahme, dass nicht die sozialen Gebilde sui generis eine immanente Tendenz zu einem funktionalen Gleichgewicht besitzen (Esser 1999, S. 26, Esser 2000, S. 356) und der Behauptung von Selbstregulations- und homoostatischen Prozessen von Systemen (Esser 2000, S. 351, S. 353) besteht eine Spannung, mehr: ein unaufgeloster logischer Widerspruch in Essers Werk.^ Im systemtheoretischen Argumentations Strang verlasst Esser die Grundlagen des methodologischen Individualismus und auch sozialtheoretisch nahert er sich der Luhmannschen Vorstellung, der die Subjekte nur noch in einem Umwelt- oder Klientelverhaltnis zu den Teilsystemen sieht, an denen sie aber nicht mehr konstitutiv beteiligt sind. „Die Erfiillung der funktionalen Aufgaben wird — wie dies Niklas Luhmann einmal ausgedriickt hat — von den Motiven der Menschen ,abgekoppelt'" (Esser 2000, S. 71). Die Akteure miissen die teilsystemischen Codes und Logiken zwar fur die Produktion der geschatzten Zwischengiiter beriicksichtigen; es ist aber in Essers Ausfuhrungen nicht ersichtlich, auf welche Weise die Handelnden an deren Konstitution und Repro-

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Zu dieser Einschatzung gelangen auch Schimank/Kron/Greshoff (2002, S. 354, S. 360, S. 364) in ihrer hervorragenden Besprechung von Essers sechs Banden der ,speziellen Soziologie'.

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duktion gestaltend mitwkken. Die Systemreproduktion folgt einer eigenen Logik und die Menschen stehen dazu in einem Umweltverhaltnis. War bei der ersten Makrokonzeption, die Gesellschaft als einen nutzensteigernden arbeitsteiligen Zusammenhang denkt, die handlungstheoretische Anbindung noch gegeben, so zerreiBt sie in dem systemtheoretischen Argumentations Strang vollig. Mit der engen nutzentheoretischen Grundorientierung fehlen Esser die adaquaten Handlungstypen, insbesondere das wertrationale Handeln, u m die differenzierten Ordnungen analytisch in den Griff zu bekommen, d.h. sie nach seinem Modell der handlungstheoretischen Tiefenerklarung verstandlich zu machen. Das ist das Dilemma: Die handlungstheoretische Grundbegrifflichkeit erlaubt ihm entweder die Makroebene in Analogie als nutzenorientierten Zusammenhang nach dem Paradigma der Arbeitsteilung zu denken oder aber die Makrotheorie von der Handlungstheorie zu entkoppeln und sie mittels der Systemanleihen ganzlich anders zu konzipieren. Beides fiihrt zu einer verfehlten Makrotheorie. Wie eine handlungstheoretisch fundierte „Logik der Aggregation" aussieht, die keine Anleihen bei der Systemtheorie machen muss, habe ich in einer anderen Arbeit dargelegt (Schwinn 2001). Wenn eine Vielzahl von Akteuren sich an den Werten orientieren, ergibt sich ein Koordinationsproblem. Das, was Esser kompakt als „Logik der Aggregation" bezeichnet, muss in Teillogiken zerlegt werden: die A^egation derjeweils ein^lnen Ordnungen und die Frage des Zusammenwirkens der Ordnungen. Beim ersten Problem muss man zwischen der ideellen und der strukturellen Eigenlogik einer Sphare unterscheiden. Alle haben heute ausgepragte ideelle EigengesetzHchkeiten, nicht alle entfalten aber in gleichem MaBe strukturelle Eigendynamiken. Die Fahigkeit zur Ordnungsbildung ist hochst unterschiedUch ausgepragt hinsichtlich Herrschaftsbildung, Experten-Laien-Beziehung, Monopol- und Verbandsbildung, der Auspragung von Schichtverhaltnissen etc.'^. Eine okonomische oder politische C3rdnung setzt verhaltenspragende Bedingungen wesentlich starker durch strukturellen Zwang als z.B. die Kunst oder familiales Leben, die fiir ihre Verhaltenspragung eine wertbewusstere Einstellung benotigen. Weber nimmt bei seinen Analysen immer wieder die Konstellation Religion — Okonomie — Politik — Recht in den BHck, ohne die anderen Spharen zu beriicksichtigen. Aufgrund ihrer gesteigerten Fahigkeit zur Ordnungsbildung ist jede dieser Spharen mit den durch die jeweils anderen gesetzten strukturellen Kontexten besonders konfrontiert. Es gibt also keine gleichlaufige Aggregation der Spharen noch arrangieren sich die einzelnen Dynamiken selbstregulativ im Hinblick auf ein „Ganzes" oder ein „Gesellschaftssystem". Weber interessiert sich fiir die Spannungen und Konflikte zwischen den Spharen, fur ideelle Unvereinbarkeiten und Wahlverwandtschaften sowie fiir strukturelle und institutionelle KonsteUationen. Fiir das

Vgl. Schwinn 2001, S. 206f, Esser 2000, S. 50 bietet hierfur nutzliche Unterscheidungen.

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Zusammenwkken der Spharen lassen sich drei „Aggi:egationsprobleme" unterscheiden (Schwinn 2001, S. 315fQ: Wertvermittlung: Wie ist angesichts des Polytheismus der Werte eine Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Geltungsanspriichen moglich? Instttutionelle Koordination: Wie werden die einzelnen Leitideen m einem Ensemble mehrerer Institutionen verhaltenswirksam konkretisiert und welche Spannungen und Dynamiken entstehen aus dieser Konstellation? So^ale Integration: Was sind die Erwartungen der Laien an die Institutionen und wie werden die Institutionen durch deren Bediirfnisse mitbestimmt? Es gibt Wechselwirkungen wie Indifferenzen 2wischen diesen drei „Aggregationslogiken". Zerlegt man das Aggregationsproblem auf diese Weise, ist man nicht gezwungen, fiir die Makroebene auf die, begriffliche Konfusionen schaffende, systemtheoretische Begrifflichkeit zuriickzugreifen, sondern kann die Logiken der Aggregation konsistent mit den handlungstheoretischen Grundlagen verkniipfen. Schluss Wie ist Essers Integrationsversuch soziologischer Theorien in Bezug auf Max Weber zu beurteilen? In einem ersten Schritt habe ich die Umrisse einer Weberschen Makrosoziologie skizziert, um aufzuzeigen, welche Aspekte hier berucksichtigt werden miissen, wenn man den Versuch macht, seine Soziologie in einem umfassenderen Paradigma zu integrieren. Eine sorgfaltige Analyse der zur Integration anstehenden Autoren ist unabdingbar, um zu einer fachuniversalen Theorie zu gelangen. Wird dieser analytische Reichtum bei der Zusammenfiihrung zu stark beschnitten, ist die Herstellung der Einheit der Soziologie ein Zwangsprodukt, das mit zu groBen Verlusten erkauft wird. Die Verluste, die bei eiaer Fusion Webers mit den Pramissen von Essers Unternehmen verbunden sind, erscheinen mir zu hoch. Zweifelsohne gibt es zwischen beiden viele Gemeinsamkeiten. Insbesondere der Ausgang vom methodologischen IndividuaHsmus lasst beide zu einer gemeinsamen ParadigmenfamiUe gehoren. Aber damit begianen auch schon die Probleme. Mit der Pramisse des methodologischen IndividuaHsmus arbeitend ist noch nicht festgelegt, wie man so^altheoretisch Handeln konzipiert. Und hier sind bei Esser die begrifflichen Grundlagen zu eng gewahlt. Er reduziert menschHche Motivation auf zwei basale Grundbediirfnisse, m. Bezug auf deren Befriedigung sich der Nutzen alien Handelns letztHch messen lassen muss. Weber startet dagegen in den So^ologischen Grundhegriffen mit vier Grundtypen des Handelns, die sich nicht wechselseitig aufeinander reduzieren lassen. Nun hat Esser sicherHch Recht — so in einem Brief an den Autor —, dass damit die Webersche Soziologie das Problem hat, den Wechsel zwischen den Handlungstypen erklaren zu konnen. Und gerade hier bietet sich ja der Rational-Choice-Ansatz mit der Werterwartungs-Theorie als Losung an. Wenn man zeigen konnte, dass die vier Handlungstypen Unterfalle eines einzigen iibergeordneten, i.e. universalen Motivationstypus waren, hatte man

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die Webersche in der Esserschen Handlungstheorie integtiert.^ Die Frage des Wechsels zwischen Handlungstypen stellt sich in der Tat: Kapitalistisches Handeln, zunachst religios-wertrational fundiert, kippt u m in zweckrationalnutzenorientiertes; oder aus einer Geschaftsbeziehung kann sich eine Liebesbeziehung entwickeln und an sie ethische, wertrationale Motive anlagern usw. 1st bei all diesen Ubergangen eine iibergeordnete Logik der Selektion am Werk, die nach der Werterwartungs-Theorie den groBten Nutzen fiiir die Befriedigung der basalen Bediirfnisse verspricht? Die Frage ist, was „erklart" eine solche „Theorie" noch. Es werden alle Handlungen, die nicht zum Kernbereich der Theorie gehoren, umdefiniert: Normorientierung wird aus Interessen rationaler Egoisten erklart; eine Liebesbeziehung dient dann eben dem korperlichen Wohlbefinden oder der sozialen Wertschatzung. Eine solche „Theorie" ist dann allgemein, aber vollig inhaltsleer. Hier wird weniger erklart, als vielmehr einfach umdefiniert (vgl. auch Balog 2003, S. 176). Der enge Zuschnitt von Essers Handlungstheorie erlaubt ihm nicht, die Weberschen Wertspharen und Ordnungen zu fassen. Essers Makrotheorie schwankt zwischen der Vorstellung von Gesellschaft als einem arbeitsteilig erstellten Gesamtnutzenprodukt und der anderen, eines sich selbstregulierenden Gesamtsystems. Die erste Konzeption halt die Korrespondenz von Handlungs- und Ordnungstheorie ein, missversteht damit aber die Ordnungen im Sinne des Modells der Arbeitsteilung. Die systemtheoretische Konzeption iibernimmt die Makrovorstellung aus einer anderen Paradigmenfamilie: der Systemtheorie von Parsons und Luhmann, verliert dabei aber ganzlich die Pramissen des methodologischen Individualismus aus den Augen. Mit beiden Modellen las sen sich Webers Wertspharen und Ordnungen sowie seine Vermeidung des Gesellschaftsbegriffs nicht verstandlich machen, geschweige denn integrieren.

In einer neueren interessanten Arbeit versucht Esser (2003) zu zeigen, dass Webers wertrationaler Handlungstypus mit dem Rational-Choice-Ansatz rekonstruiert und integriert werden kann. Ausgangspunkt von Essers Uberlegungen ist Webers Definition von Wertrationalitat als der Glaube an den unhedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens unabhangig vom Erfolg (Weber 1980, S. 12). Esser (2003, S. 180, S. 185) kritisiert, dass es prinzipieU keine „unbedingten", „abwagungsfesten" Orientierungsmodi geben konne, weil man genau dann die Entstehung und den Wechsel von einem zum anderen Handlungstypus nicht erklaren konne. Ich halte dies fur eine interessante und richtige Feststellung. Will man die Entstehung wertrationalen Handelns und den Typenswitch erklaren, muss man Bedingungen angeben konnen, die dafiir ausschlaggebend sind. Nach Esser lassen sich diese folgendermaBen charakterisieren. „So weit aufbereitet lasst sich die Entstehung ,rational' begriindeter Werte auf eine recht einfache Weise erklaren: Sie entstehen als eine Art von ,rationalem* inneren Tun von Akteuren dann, wenn die Akteure bestimmte konstitutionelle Interessen, spezieU an der stets gefahrdeten Produktion von Kollektivgutemy haben und glauben, dass fur deren Produktion und Sicherung die Ubernahme der Werte und ihre unbedingte Befolgung notmndig sind" (Esser 2003, S. 177). LetztHch ist es also doch wieder die Nutzenproduktion, die die entscheidenden Bedingungen fiiir die Entstehung und Ubernahme von wertrationalen Orientierungen setzt (vgl. auch Esser 2003, S. 174, S. 180, S. 183).

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Ich kann nicht erkennen, dass die Webersche Handlungs- und Ordnungstheorie iiberzeugend in Essers Theorie integriert worden ware. Es werden heterogene, nicht zusammenpassende Konzepte additiv nebeneinander versammelt, aber kein konsistentes Gesamtmodell entwickelt. Die Paradigmenund Theorienvielfalt, die Esser immer wieder kritisiert und die er iiberwinden mochte, lebt in seinen Werken weiter. Die Pragekraft des Rational-ChoiceAnsatzes ist nicht so groB, u m die verschiedenen soziologischen Theoriefamilien integrieren 2u konnen. Die Integrationskosten in Bezug auf die Webersche Soziologie wie auch fur Essers eigenen Ansatz erscheinen mir zu hoch. Es wird 2u viel an analytischen Moglichkeiten geopfert. Dennoch ist Essers Strategic in seinem siebenbandigen Werkes zu begriiBen, standig die verschiedenen Theorien in Kontakt zu halten und zu vergleichen. Hier ergeben sich immer wieder interessante Gemeinsamkeiten und Parallelen, wie etwa die, dass Weber und Esser die Motivation der Laien zur Partizipation an den Spharen ganz ahnlich beschreiben. Hier sehe ich wechselseitige Befruchtungsmoglichkeiten, denen bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Statt auf eine Integration der Grundbegrifflichkeiten der einzelnen Paradigmen zu zielen, erscheinen mir middle-range-Konvergenzen und Erganzungsmoglichkeiten als vielversprechender. Zwar diirfen Verkniipfungen auf dieser mittleren Ebene nicht mit logischen, grundbegrifflichen Inkonsistenzen erkauft werden, aber die Ubernahme- und Ubersetzungsmoglichkeiten sollten intensiver als bisher sondiert werden. Das Ziel ware dann nicht — metaphorisch gesprochen — der eine Grundpfeiler, der die gesamte soziologische Erklarungslast tragt, sondern mehrere Pfeiler, zwischen denen einzelne Seile doch so gespannt werden konnen, dass sie eine gemeinsame Briicke tragen. Esser hat in seiner Arbeit einige dieser Seile in der Hand und auf interessante Weise verspannt.

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Weber, Max (1988c): Gesammelte Aufsatze 2ur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2. Aufl., Tubingen

Emetgenz und Konstitution, Kommunikation und soziales Handeln: Leistungsbeziehungen zwischen Essers methodologischem Individualismus und Luhmanns soziologischef Systemtheotie Tilmann Sutter

1 Einleitung: Auf det Suche nach det „Gtand Unified Theory" N u n also tnethodologischer Individualismus und soziologische Systemtheorie als alternative Auswege aus dem multiparadigmatischen Zustand der Soziologie: Diese Gegeniiberstellung lost mehr und mehr die fnihere Auseinandersetzung zwischen Jiirgen Habermas' Theorie kommunikativen Handelns und Niklas Luhmanns Systemtheorie u m die Einheit der Soziologie in der Vielfalt ihrer Stimmen ab. Nicht nur die Soziologie, auch Physik und andere Wissenschaften traumen von der „Grand Unified Theory" (Hawking 1991, S. 100), die alles umfasst und bisherige Unstimmigkeiten und Inkonsistenzen aufhebt. Hartmut Esser macht in seiner jiingst angestoBenen Diskussion um die Universaltheorie in der Soziologie zwei Kandidaten aus: „Die — manchem wohl etwas verwegen klingende — These, dass die Soziologie inzwischen im Grunde faktisch nur noch eine iibergreifende Perspektive hat, das Modell der soziologischen Erklarung namHch, lasst sich nun am ehesten an jenem Gegenentwurf testen, der ebenfalls einen Universalitatsanspruch erhebt und in mehrfacher Hinsicht eine Gegenposition zum Konzept der soziologischen Erklarung darstellt. Gemeint sind natiirlich Luhmann und seine soziologische Systemtheorie." (Esser 2002, S. 28) Fiir Esser, dies bringen Stil und T o n seiner Ausfuhrungen immer wieder geradezu beschworend zum Ausdruck, muss die „Grand Unified Theory" fur die Soziologie nicht langer ertraumt werden, sie steht im Modell der soziologischen Erklarung im Rahmen des methodologischen Individualismus bereit. Wenn er da allerdings ganz sicher ware, konnte er auf Beschworungen verzichten, mit denen er versucht, auch den starksten Gegner zu assimilteren: „Kurz: Mit den Mitteln des situationslogischen Methodologischen Individualismus ist auch eine soziologische Systemtheorie problemlos mogUch, und zwar eine, die das Etikett ,Theorie' endlich mrklich verdient." (Esser 2002, S. 31; Hervorhebung von mir, T.S.) N u n sind Universaltheorien, von innen her gesehen, nicht zu vergleichen, da sie ja, zumindest vorlaufig, alle alternativen Positionen beobachtet und in die eigene Sichtweise eingearbeitet haben. Das methodologische Problem, das sich

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dabei stellt, ist allerdings nicht neu: Die Universaltheorie muss vorgeben, alternativlos auftreten zu konnen.^ D e n methodologischen Zweifel, dass auch Universaltheorien im Plural auftreten konnen, muss sie mit dem Anspruch einer liberlegenen Beobachterposition beiseite raumen. N u n formuliert auch die soziologische Systemtheorie universalistische Anspriiche einer „Supertheorie" (Luhmann 1978), die ihren gesamten Gegenstandsbereich abdeckt.^ In der universalistischen Ablehnung relativistischer und pluraHstischer Positionen, denen zufolge jeder seine Beete in den multiparadigmatischen Kleingarten beackert, sind sich Esser und Luhmann einig. Einigkeit herrscht auch im grundsatzlichen Vorgehen, das Luhmann (1978, S. 17f) als TotaHsierung bezeichnet, und das von einer Vergleichbarkeit, d.h. von Einheit und Verschiedenheit umfassender Theorien ausgeht: „Totalisierungsstrategien rekonstruieren also mit eigenen Begriffen sogar ihren Gegner und machen verstandHch, weshalb er opponiert." (Luhmann 1978, S. 18) Nicht anders hat Habermas seine Theorie kommunikativen Handekis entwickelt. Auch Esser folgt expUzit diesem Vorgehen (besonders pointiert etwa in der an die soziologische Systemtheorie angebundenen Entwicklung des zentralen Begriffs der Kommunikation: vgl. Esser 2000a, S. 247ff). Unterschiede ergeben sich jedoch im methodologischen Status des Universalttatsanspruchs der Supertheorie: „UniversaHtat heiBt nicht etwa..., dass die Selektionsweise derjenigen Theorie, die als Supertheorie artikuHert wird, die einzig mogUche oder die beste der mogUchen sei." (Luhmann 1978, S. 17) Die (vorlaufige) Uberlegenheit einer Theorie mit universalis tischem Anspruch wird unter den Vorbehalt gestellt, dass auch damit nur eine Beobachtungsalternative unter anderen vorHegt. Diese Unterschiede in den Tonlagen der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Positionen Luhmanns und Essers sind denn auch ganz offensichtHch: Die Systemtheorie kann eine sich selbst privilegierende Beobachterposition aus wissenssoziologischen Griinden nicht langer beziehen, weil die azentrische, polykontexturale Verfassung der modernen Gesellschaft dafiir keine Anhaltspunkte mehr Hefert."^

Sehr anschaulich fuhren z.B. begnindungslogische Moraltheorien dieses Problem vor (vgl. Sutter 2000): Postulate einer Let^tbegriindung, eines normativen Bezugspunktes oder eines letzten Prinzips scheitern an der Moglichkeit gleichrangiger Alternativen. Die Reflexion dieses Problems schraubt dann die Abstraktionsebene universalistischer Annahmen nach oben, etwa in Form des Wechsels von einer Prinzipien- zu einer Diskursethik (vgl. Habermas 1986). An die Anmerkungen in FuBnote 1 anschlieBend: nicht zufaUig im Rahmen der Frage, in welchem Verhaltnis die Soziologie zum Gegenstand Moral steht. Deshalb sind aUzu pratentiose Tonlagen bei der Prasentation und Verteidigung der soziologischen Systemtheorie (vgl. z.B. Willke 2000) wissenschaftstheoretisch und methodologisch nicht angemessen. Man kann im iibrigen Michael Schmid (2001, S. 541) zustimmen, dass die wissenschaftslogische Frage der Wahrheitskriterien nicht wissenssoziologisch beantwortet

Emergens und Konstitution bei Esser und Luhmann

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Wenn man also nicht meint, in absehbarer Zeit die Debatte beenden zu konnen, und wenn man den Anspruch, wirklich und endlich die „ Grand Unified Theoty" der Soziologie gefunden zu haben, als eine unter anderen moglichen universaltheoretischen Positionen begreift, ist der Vergleich der Theorien von Esser und Luhmann moglich und sinnvoll. Die im Rahmen dieses Bandes gesteUte Frage, ob Essers Sozialtheorie in dem Sinne als Universaltheorie gelten kann, dass sie auch Luhmanns soziologische Systemtheorie integriert, kann auf der einleitend angesprochenen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ebene verneint werden. Wahrend Esser Asymmetrisierungen zwischen der eigenen und anderen Positionen geradezu provokant herausstellt, hat Luhmann stets versucht — vielleicht nicht immer ganz konsequent — genau dies zu vermeiden. Aber auf der darunter liegenden Ebene zentraler theoretischer Konzepte konnten durchaus Integrationsbeziehungen vermutet werden. Wenn man Integration nicht als Einverleibung oder Vermittlung, sondern im Sinne der soziologischen Systemtheorie als eine Art struktxoreller Kopplung begreift, in der sich kommunikative Systeme (z.B. soziologische Theorien) wechselseitig mit Leistungen versorgen, konnte man fiindig werden. Im ersten Schritt werden Fragen der Entstehung sozialer Gebilde erortert: Mit Esser werden zunachst die Emergenz von unten einerseits und die Konstitution von oben andererseits als alternative Bezugsprobleme des soziologischen Erklarungsmodells und der Systemtheorie nachgezeichnet. Wie das der Entstehung sozialer Gebilde zugrunde Hegende Problem der doppelten Kontingenz jedoch deutUch macht, kann diese GegeniibersteUung nicht aufrechterhalten werden, da doppelte Kontingenz nur mit beiden Perspektiven, der Emergenz von unten und der Konstitution von oben, erfasst werden kann (2). Im darauf folgenden Abschnitt wird die unterschiedHche KonzeptuaHsierung des Verhaltnisses von Interaktion und Kommunikation sowie von Kommunikation und sozialem Handeln bei Esser und Luhmann erortert. Wahrend das Verhaltnis von Kommunikation und Handeln theorievergleichend untersucht wird, bietet das Verhaltnis von Interaktion und Kommunikation Gelegenheit, einige typische Probleme des methodologischen IndividuaHsmus und der soziologischen Systemtheorie zu benennen (3). AbschlieBend werden die aus den Uberlegungen folgenden MogHchkeiten und Grenzen der Anbindung der soziologischen Systemtheorie an den methodologischen IndividuaHsmus Essers zusammengefasst (4).

werden kann. Wohl aber kann so eingeschatzt werden, auf welchem Anspruchsniveau sich die Wahrheitssuche mit Aussicht auf Erfolg bewegen kann.

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2 Emergenz, Konstitution und doppelte Kontingenz Angesichts der gravierenden Differenzen zwischen Essers und Luhmanns Theorien wird man zunachst nach gemeinsamen Bezugsproblemen fahnden. Das Verhaltnis von Emergenz und Konstitution scheint ein solches Bezugsproblem zu sein. Aus der Sicht des methodologischen Individualismus bindet Esset (2000, 2002) die Kritik zweier systemtheoretischer Annahmen zusammen: Die soziologische Systemtheorie sehe erstens soziale Systeme abgekoppelt von leibhaftigen, handelnden Menschen und sei in diesem Sinne ganz auf makrosoziologische Zusammenhange gerichtet. Damit wird einmal mehr die vielfach ins Feld gefuhrte systemtheoretische Austreibung der Menschen aus dem Gegenstandsbereich der Soziologie festgehalten. Zweitens miisse schon deshalb die soziologische Systemtheorie eine Erklarung mit dem Konzept einer Emergen^ von unten ausschlieBen. Autopoietische Selbsterzeugung und Selbstreproduktion sozialer, kommunikativer Systeme kommen ohne erklarungsrelevante Beteiligung handelnder Menschen aus. Es fehle die Moglichkeit einer Verbindung von Mikro- und Makroebenen. Statt dessen setze die Systemtheorie auf die Eigenstandigkeit und Irreduzibilitat des Sozialen und damit verbunden einer Konstitution sozialer Ordnung von oben. Wenn das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, dann stellt sich die Frage, wie dieses Neue entsteht. In dieser Frage schlieBe nun eine Makro soziologie selbstreferentieUer sozialer Systeme die Effekte individueller Prozesse auf der Mikroebene sowie externe Randbedingungen systematisch aus. Die Frage der Emergenz, der Entstehung von Neuem wird gegen einen Kollektivismus in der Soziologie gerichtet (vgl. Esser 2000, S. 4ff): Die zu bestreitende Irreduzibilitat des Sozialen bedeutet dann zu meinen, Soziales nur aus Sozialem erklaren zu konnen. Der Linie von Durkheim liber Parsons zu Luhmann Hegt demzufolge die These „von der explanatorischen Emergenz bzw. von der Irreduzibilitat des Sozialen" (Esser 2000, S. 6) zugrunde. Sie wurde zur Theorie des operativen Konstruktivismus ausgearbeitet, die von einem getrennten, iiberschneidungsfreien Prozessieren psychischer und sozialer Systeme ausgeht. Gegen die Annahme, dass Soziales nur sozial konstituiert werden kann, halt Esser ein vertiefendes Erklarungsmodell, das mit drei Schritten eine Makro-Mikro-Makro-Verbindung herstellt (vgl. Esser 1999, S. 94ff). In gegebenen Situationen handeki Akteure (Makro-Mikro-Verbindung), indem sie bestimmte, nach der Wert-Erwartungstheorie der subjektiven Nutzenmaximierung analysierbare Optionen auswahlen (Mikro-Mikro-Verbindung). Eine erklarende soziologische Handlungstheorie muss dabei insbesondere auf die subjektive Definition der Situation achten (vgl. Esser 1996). In Prozessen der Transformation konstituieren die Effekte der individuellen Handlungen neue koUektive Situationen (Mikro-Makro-Verbindung). Es handelt sich um die „aggregierende Transformation der individuellen Effekte des Handelns der Ak-

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teure zu dem jeweiligen kolkktiven Explanandum'' (Esser 1999, S. 96). An dieser Stelle kommt nun der Aspekt der Emergenz in den Blick (vgl. auch Kneer 2003, S. 313f): Das Soziale ist anderes und mehr als bloB eine psychologistisch konzipierte Folge individueller Handlungen und insofern ein emergentes Phanomen. Das Soziale ist aber auch anderes und mehr als ein eigendynamisches Geschehen, es lasst sich in individuelle Handlungseffekte ubersetzen. Transformationsregeln, mit denen die Logik der Aggregation individueller Handlungseffekte zu kollektiven Gebilden und Prozessen analysiert werden kann, sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, die von sehr spezifischen bis sehr allgemeinen Bedingungen reichen. Die Erklarungslogik dieses Vorgehens wird als Fall einer „genetischen Erklarung" beschrieben (vgl. Esser 1999, S. 103ff). Sie hat sich an ganz unterschiedlichen Reproduktions- und Trans formationsprozessen zu bewahren: offenen Sequenzen, Evolution, Selbstorganisation, Selbstregulation, Wandel und Zerfall. Diese Prozesse konnen endogen, durch eine innere Entwicklungslogik, und exogen durch auBere Einfliisse bedingt sein, die den erwartbaren Verlauf iiberraschend andern konnen. Da meist ein Zusammenspiel endogener und exogener Faktoren vorHegt, sind langerfristige Prognosen grundsatzlich offener Prozessverlaufe nicht moghch."^ Aus der Perspektive Essers (2002, S. 30f) kann die Systemtheorie dem methodologischen Individualtsmus, d.h. der Erklarungslogik einer Emergenz von unten, die von Formen der VergeseUschaftung durch handelnde Menschen ausgeht, einverleibt werden. Luhmann habe schlieBlich doch, namlich unter dem Eindruck der Besuche brasiltanischer Favelas, leibhaftige Menschen entdeckt, welche die Gesellschaft bevolkern. Damit ware die Selbstreferentialitat gesellschaftHcher Prozesse aufgebrochen: Die daraus folgende Dynamik, welche soziale Prozesse von den Individuen beziehen, wiirde durch terminologische Umbauten nur verdeckt, insbesondere Inklusion und Exklusion von Personen in der modernen Gesellschaft. TatsachHch aber wiirden nun grundlagentheoretische Leerstellen sichtbar, v.a. die soziale Ungleichheit der Akteure, die neben Prozessen der funktionalen Differenzierung die gesellschaftliche Sozialstruktur ausmacht (vgl. Esser 2000, S. 254ff). Insgesamt diagnostiziert Esser

In diesem Punkt weicht, bei ansonsten vielen Ubereinstimmungen, das Erklarungsmodell Essers vom genetischen Strukturalismus ab, der eine endogen angesetzte Logik der Entwicklung ebenfalls in Relation zu exogenen Faktoren sieht, dabei aber auf lange Sicht von einer Durchsetzung dieser Logik ausgeht: Externe Faktoren konnen Prozesse der Entwicklung nur beschleunigen oder verzogern, nicht aber Anderungen der Richtung bewirken (vgl. dazu Sutter 1999, S. 169f). Insofern war die Evolutionstheorie der erneuerten Kritischen Theorie Habermas' (1976), die sich am genetischen Strukturalismus Jean Piagets orientierte, im HinbHck auf langfristige Prognosen von Entwicklungen nicht so skeptisch wie Esser. Das gilt aUerdings nur fiir die grundlegendsten Strukturen individueller und sozialer Entwicklungen, die von wechselnden spezifischeren KonsteUationen unterschieden werden.

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einen Schock, den die „unverinutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen" (Esser 2000, S. 254) bei Luhmann und den Systemtheoretikern ausgelost habe. Einen Schock erlitt die Systemtheorie kaum, wohl aber den einen oder anderen Anreiz, die Theorie auszubauen. Grundsatzlich geht ja die soziologische Systemtheorie von der konstitutiven wechselseitigen Abhangigkeit von Kommunikation und Bewusstsein aus, d.h. jede Form der Kommunikationsanalyse hat diese konstitutive Abhangigkeit zu beriicksichtigen. Damit riicken Probleme der strukturellen Kopplung, mit denen diese Intersystembeziehungen beschrieben werden, in den Vordergrund. Es gibt drei Arten struktureller Kopplimgen, neben Inklusion/Exklusion sind noch Integration und Sozialisation zu nennen. Mit Inklusions- und Exklusionsbeziehungen werden, von den kommunikativen Systemen, also der Gesellschaft aus gesehen, Prozesse der kommunikativen Adressierung, Einbeziehung und Beteiligung bzw. des Ausschlusses von Personen beschrieben (vgl. Sutter 2003a).^ Durch die Debatte um die Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaftsanalyse werden aus systemtheoretischer Sicht also folgerichtig Probleme der Inklusion und Exklusion in den Vordergrund geriickt, folgerichtig deshalb, weil strukturelle Kopplung immer unter der Bedingung der operativen Geschlossenheit verschiedener sinnverarbeitender Systeme steht. Inklusion und Exklusion bilden nicht einen terminologischen Trick, mit dem drangende Probleme und Defizite abgedeckt werden, sondern eine systemtheoretische Beschreibung jener Beziehungen, die traditionell mit Begriffen sozialer Integration untersucht werden. Der terminologische Umbau wird notwendig, weil Prozesse der Sozialintegration die operative Geschlossenheit sinnhafter Systeme nicht in Rechnung steUen. Die Alternative ware, expUzit zu machen, in welcher Weise die Einbeziehung „leibhaftiger Menschen" in die Kommunikationsanalyse operative Uberschneidungsbereiche zwischen verschiedenen Systemen untersteUt und wie man die Bedingung der Moglichkeit dieser Uberschneidungsbereiche einsichtig machen kann. Genau diese Klarung wiirde MogHchkeiten der Integration schaffen, indem rekonstruiert wird, warum der Gegner opponiert. Die ProblemsteUung der Emergenz unter der Bedingung liberschneidungsfreien Operierens sinnhafter Systeme kann also nicht abgeschwacht und relativiert werden, was dann zur Integrierbarkeit der Systemtheorie in eine erklarende Handlungstheorie sensu Esser fiihren konnte. Das Emergenzproblem der Systemtheorie lasst sich als Verhaltnis von Ereignis und

Integrationsbeziehungen liegen vor, wenn soziale Systeme sich in wechselseitigen Leistungsbeziehungen mit Komplexitat versorgen, Diese Form struktureller Kopplung verbindet ausschlieBlich kommunikative Systeme. Im Unterschied zu Inklusion/Exklusion beschreibt strukturelle Kopplung durch Sozialisation von psychischen Systemen aus, wie so'ziale Systeme ihre Eigenkomplexitat dem Aufbau psychischer Systeme zur Verfugung stellen.

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Struktur beschreiben (vgl. Bora 2003).^ Die Elemente sozialer Systeme sind Kommunikationsereignisse, die auftreten und wieder verschwinden. Neben der Tetnporalitat, der ereignishaften Bindung von Elementen an den irreversiblen Lauf der Zeit, ist die Selbstreproduktion der Systeme an basale Selbstreferenz gebunden (vgl. Luhmann 1984, S. 607 £). Sie voUzieht sich innerhalb autopoietisch geschlossener Systeme: So wenig chemische Ereignisse an Bewusstseinsereignisse anschlieBen konnen, so wenig konnen kommunikative Systeme sich anders als durch Kommunikation reprodxazieren. In Prozessen des laufenden Auftretens und Zerfalls von Ereignissen bilden Systeme Strukturen aus, mit denen die jeweils mogHchen Relationen eingeschrankt werden. Kommunikationsereignisse treten als Neues, Einzigartiges, Uberraschendes, ZufaDiges auf und schHeBen aneinander an, und in diesen Anschliissen werden bestimmte Relationen unter alien moglichen realisiert. Damit ist eine andere Konzeption des Emergenz-Problems als in Vermittlungs- oder Stufenmodellen gegeben, welche die Emergenz von Phanomenen aus der Verkniipfung unterschiedHcher Komponenten (etwa auf der Mikro- und Makro-Ebene) erklaren: „Der entscheidende Unterschied zu den ... dualtstischen Emergenztheorien besteht darin, dass dem Ereignis selbst keine sinnhafte Motivation seines Auftretens zu entnehmen ist. Sinn ergibt sich aUein aus der Struktur, welche die Verkniipfungsmoglichkeiten zwischen Ereignissen definiert, also aus der Autopoiesis des Systems.'" (Bora 2003, S. 125) Unter Bedingungen selbstreferentiellen Operierens schlieBen sich soziale Systeme nach auBen ab und bilden Strukturen aus. "7 Diesem Konstitutionsprozess sozialer Systeme Hegt doppelte Kontingenfi zugrunde.^ Esser halt im Vergleich seiner Handlungs- und der Systemtheorie Luhmanns die Emergen^ von unten (fiir handlungstheoretische Erklarungen) und

Zum allgemeinen Verhaltnis von Ereignis und Struktur in so'ziologischen Theorien vgl. die Beitrage in Greshoff/Kneer 1999. Verbindungen zwischen Esser und Luhmann waren im gemeinsamen Bezugsproblem der Emergens, nicht aber in der Losung des Problems bzw. der Erklarung von Ereignissen zu sehen, wie Armin Nassehi (2003, S. 22f) herausstreicht: „Beide, Systemtheorie und Essers methodologischer IndividuaHsmus, bearbeiten also das Bezugsproblem, wie sich das Einzelereignis im Kontext anderer Einzelereignisse aggregierend, i.e. systembildend vorfindet. Und beide betonen den ontologischen Vorrang der Ereignisgegenwarten; aber beide sehen auch, dass dieser ontologische Vorrang noch keineswegs zur Erklarung solcher Ereignisse ausreicht Erst hier, bei der Losung dieses Bezugsproblems, trennen sich die theoretischen Wege..." In traditionellerer soziologischer Begrifflichkeit dient die doppelte Kontingenz bei Esser (2000a, S. Iff) der Bestimmung sozialen Handelns in sozialen Situationen im Unterschied zum individuellen Umgang mit der physikalischen Objektwelt, wie sie vor allem auch Meads Theorie sozialen Handelns expliziert hat: Handeln wird in sozialen Situationen dadurch zunehmend komplex, unsicher und undurchschaubar, dass Erfolg und Folgen des eigenen Handelns von den Erwartungen und Reaktionen anderer Personen abhangen.

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die Konstitution von oben (fiir systemtheoretische Analysen sozialer Ordnung) gegeneinander und schlieBt damit an eine Formulierung Luhmanns an (vgl. Esser 2000, S. 8). Dagegen kann das Problem der doppelten Kontingen^ im Bezugsrahmen der Systemtheorie sowohl konstitutionstheoretisch von oben ah auch emergen^heoretisch von unten formuliert werden.^ Zunachst und allgemein macht neben vielen anderen Bausteinen der Systemtheorie auch das Problem der doppelten Konttngenz die konstitutive Angewiesenheit sozialer von psychischen Systemen deutlich, die der operativen Geschlossenheit sinnverarbeitender Systeme nicht widerspricht, sondern diese erganzt, Doppelte Kontingenz als Ausgangspunkt von Systembildungsprozessen bindet die Entstehung kommunikativer Systeme an die Beteiligung von Bewusstseinssystemen: Kommunikation und Bewusstsein bedingen sich gegenseitig. Das Problem der doppelten Kontingenz stellt sich im Kontakt von zwei oder mehr psychischen Systemen, die an der Kommunikation beteiligt sind: „Fur jedes System, fur die beteiligten Personen ebenso wie fiir das Sozialsystem, das sie bilden, ist die Umwelt stets komplexer als das System selbst. Ausgangslage ist somit ein mehrfach gegenlaufiges KomplexitatsgefaUe." (Luhmann 1978, S. 43) Die Aufgabe, vor der die Systeme stehen, ist deshalb die Reduzierung der Komplexitat doppelt kontingenter Beziehungen. Die Personen nehmen dabei komplizierte Perspektivenverschachtelungen vor, in denen Ego in Rechnung steUt, dass er fur einen anderen Alter ist und von diesem als alter Ego gesehen wird (vgl. Luhmann 1978, S. 46). Diese Verschachtelung unterschiedlicher Perspektiven steht unter der Voraussetzung, dass sinnhaft operierende Systeme fiireinander undurchsichtige „black boxes" darstellen. Ego und Alter miissen deshalb trotz wechselseitiger Undurchschaubarkeit selbstreferentiell Bestimmungen aufbauen, indem sie Determinierungen in den wechselseitigen Beobachtungen vornehmen, die gerade das Unbeobachtbare (z.B, Person, Intelligenz, Gedachtnis, Lernen) bezeichnen (vgl. Luhmann 1984, S. 158). U m den Systembildungsprozess unter Bedingungen der doppelten Kontingenz zu verdeutlichen, kann man an einer zunachst weitgehend unbestimmten Situation ansetzen: Zwei Fremde treffen zusammen, wobei nicht mehr als der Umstand gegeben ist, dass sie sich wechselseitig in ihrem Verhalten bestimmen lassen wollen. Bereits die erste versuchsweise Bestimmung des eigenen Verhaltens (mittels eines BHckes, einer Geste, einer BegriiBung, aber auch des Versuchs der Kontaktvermeidung) bringt eine Kontingenz reduzierende Abfolge von Handlungen in Gang (vgl. Luhmann 1984, S. 150). Doppelte Kontingenz stellt ein sich selbst losendes Problem dar, und dieser Selbstlosungsprozess fiihrt zur Bildung sozialer Systeme und zur Bestimmung des

Die Perspektive der Emergenz von unten freilich ohne die erklarungslogischen Anspriiche und die handlungstheoretische Grundlegung des methodologischen Individualismus.

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Verhaltens psychischer Systeme (vgl. Luhmann 1984, S. 166ff). In dieser Weise wild von unten die Moglichkeit von Systembildungsprozessen sowie der Emergenz sozialer Ordnung konzipiert. Diese Prozesse werden als Abfolge von verganglichen Handlungen begriffen, die an etwas Bestehendes anschlieBen und neue Elemente und neue Anschlussmoglichkeiten schaffen (vgl. Luhmann 1984, S. 388ff). Handlungen sind Ereignisse, die Neues und Uberraschendes hervotbringen, das als Material fur Stxuktxirbildungsprozesse dient. Handlungen sind dabei aber nicht als subjektive Tatigkeiten, sondern als Prozesse der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung von Kommunikationen zu begreifen. Die operative Trennung zwischen psychischen und sozialen Prozessen bleibt auch im Handlungsbegriff gewahrt (mehr dazu weiter unten). Soziale Systeme emergieren, indem im Kontakt zweier oder mehr wechselseitig undurchschaubarer psychischer Systeme Anschlussmoglichkeiten zugleich eroffnet und begrenzt werden. Der Begriff der Konstitution stellt das Problem doppelter Kontingenz unter Systemvorgaben: Elemente sind Elemente eines Systems, dem sie zugeordnet sind und in dem sie relationiert werden. Konstitutionstheoretisch stellt sich deshalb das Problem der doppelten Kontingenz immer auch in einer strukturierten Form: Strukturen schranken die Relationierbarkeit der Elemente in einem System ein. Situationen reiner, vollig offener Kontingenz, in denen alles unbestimmt und alles moglich ist, sind empirisch nicht aufzufinden: Jeder Systembildungsprozess lauft unter Vorgaben an und schafft Konditionierungen, die in der weiteren Geschichte der Systembildung festgehalten werden. „Somit verschieben, iiberlagern und erganzen sich zwei verschiedene Fassungen des Problems der doppelten Kontingenz: eine kurzschliissige, die nur Unbestimmtheit referiert, und eine strukturierte, die mit Konditionierungen und mit limitierten Alternativen rechnet und auf Systemvorgaben angewiesen ist." (Luhmann 1984, S. 184) Diese Verklammerung von Struktur und Prozess, von Konstitution und Emergenz ist immer nur riickblickend zu dechiffrieren, d.h. Momente des Neuen sind immer nur in Relation zum Erwartbaren zu rekonstruieren.^^ Erst die ProblemsteUungen doppelter Kontingenz von unten und von oben macht die Selbstreferenzialitat des Handelns^^ deutlich, die sich sowohl auf

Diese systemtheoretische Perspektive kann durchaus an traditionelle Soicialtheorien angeschlossen werden, vor allem an die sozialen Konstitutionstheorien in der Socialisationsforschung, die ebenfalls die Entstehung von Neuem und das Verhaltnis von Stxukturen und Prozessen zu zentxalen Bezugsproblemen machen (vgl. dazu Sutter 1999, S. 62ff). Handeln begriffen als auf Personen zugerechnete Kommunikation, wie dies der Kontext von Ego/Alter-KonsteUationen nahelegt. Es geht mithin nach wie vor allgemein um die Bildung kommunikativer Systeme. Mehr zum Verhaltnis von Kommunikation und Handlung weiter unten.

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Ego/Alter-Konstellationen als auch auf das soziale System bezieht. Z u m einen, von unten gesehen, erfahrt Ego „... Alter als alter Ego. Er erfahrt mit der Nichtidentitat der Perspektiven aber zugleich die Identitat dieser Erfahrung auf beiden Seiten. ... In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermoglicht es, ... ein Interesse an Bestimmung zu unterstellen." (Luhmann 1984, S. 172) Zum anderen ist mit der Herausbildung selbstreferentieller Handlungszusammenhange, also der Selbstbestimmung von Handlungen in der Perspektive des alter Ego, immer auch die Selbstreferenz des sozialen Systems verkniipft. Diese Hefert, von oben gesehen, Konditionierungen, die das Problem der doppelten Kontingenz unter Systemvorgaben stellen. „Jede Wirkung des Problems der doppelten Kontingenz lauft, sobald es sich stellt, iiber diese beiden selbstreferentiellen Zirkel und verkniipft sie miteinander." (Luhmann 1984, S. 183). Damit kommt das soziale System als eigenlogisches Moment der Handlungsstrukturierung, also die kommunikative Konstruktion des Handelns ins Spiel. ^^ Letztlich kann, wie dann auch Esser (1999, S. 612f) betont, keine harte GegensteUung einer Emergenztheorie von unten und einer Konstitutionstheorie von oben angesetzt werden, denn in der Tat ist die soziologische Systemtheorie nicht ausschlieBlich als Makrotheorie angelegt: Diese von Esser oft formulierte Einordnung der Systemtheorie als Makrotheorie ignoriert die methodologische Starke der Systemtheorie, Systemreferenzen wechseln und damit auch das Verhaltnis von sozialen und psychischen Systemen untersuchen zu konnen. Richtig ist, dass Luhmann eine Systemtheorie der Gesellschaft und keine SoziaHsationstheorie ausgearbeitet hat, und daraus folgt dann nur, dass dies eben ein systemtheoretisch noch unerschlossenes Forschungsgebiet darsteUt. Nachdriicklich sei deshalb auf die Moglichkeiten dieser Forschungsperspektive verwiesen, die — im Gegensatz zu traditionellen Theorien — Prozesse der SoziaHsation und gesellschaftHcher Differenzierung in einer einheitHchen, koharenten Begrifflichkeit beschreiben und dabei auf bewahrte empirische Forschungstraditionen zuriickgreifen kann (vgl. Sutter 1999, 2003). Das ist doch schon einiges, und nicht anders sieht es Esser in — nach den scharfen, zum Teil auch polemischen Abgrenzungen — wundersam versohnHchem Ton: „Gleichwohl kann die soziologische Systemtheorie ohne Zweifel als ein wichtiger Versuch gewertet werden, die Einseitigkeiten der klassischen Theorien der

„Als Teilnehmer an sozialen Situationen kann man dann sehr wohl noch autistisch handeln, aber nur demonstrativ autistisch und im Miterfassen jener beiden selbstreferentiellen Zirkel: dass dies erstens die Handlung selbst in Richtung auf Demonstration deformiert (ob man das nun wiU oder nicht!) und dass dies zweitens im sozialen System einen bestimmten Stellenwert gewinnt, Reaktionen auslost, Geschichte macht und so fiir den Akt selbst auBer KontroUe gerat." (Luhmann 1984, S. 183)

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Soziologie vollends zu iiberwinden. Leider ist eine erkldrende Theorie dabei nicht herausgekommen." (Esser 1999, S. 615) Ware das herausgekommen, dann ware dies, vorlaufig zumindest, die „Grand Unified Theory": ein ModeU soziologischer Erklarung, das die beschreibungstheoretischen Vorziige der Systemtheorie ohne Abstriche ubernehmen kann. Diese Verbindung verfolgt Esser besonders intensiv bei der Konzeptualisierung des Verhaltnisses von Kommunikation und Handlung.

3 Kommunikation, Interaktion und Handlung An diesem Punkt ist eine zentrale Differenz zwischen dem methodologischen Individualismus Essers und der soziologischen Systemtheorie Luhmanns festzuhalten: Wahrend Esser am Grundbegriff der Handlung ansetzt und von da aus den Begriff der Kommunikation entwickelt, verfahrt Luhmann umgekehrt, indem er vom Grundbegriff der Kommunikation ausgehend den Begriff der Handlung bildet. Dennoch ist die Verbindung der Systemtheorie mit der Handlungstheorie Essers im Bereich des Kommunikationsbegriffs besonders stark ausgepragt, d.h. Esser sieht hier wertvoUe, nicht hintergehbare Verdienste der Systemtheorie, auf die er zuriickgreift. Trotz aller Vorziige streicht Esser (2000a, S. 296) wie auch schon bei dem Verhaltnis von Emergenz und Konstitution zwei grundlegende Probleme der Kommunikationstheorie Luhmanns heraus: die Vorstellung, handelnde Menschen seien Umwelten von Kommunikation, und die Auffassung, dass Kommunikationen nicht als Sequenzen kommunikativer Handlungen erklart werden konnen. Das erste Problem, namlich das System-Umwelt-Verhaltnis von kommunikativen und psychischen Systemen, folgt aus der Grundlage des „operativen Konstruktivismus" (Luhmann 1991, S. 68). Der operative Konstruktivismus gibt aUgemeine Bedingungen von Systembildungsprozessen an: Psychische und soziale Systeme konnen sich nur durch intern aneinander anschlieBende Operationen von der Umwelt abgrenzen, so dass die Operationen niemals iiber die Jewells gebildeten Systemgrenzen hinausgreifen konnen. Verschiedene Systeme operieren iiberschneidungsfrei, sie bleiben operativ fiireinander unerreichbar. Deshalb geht die soziologische Systemtheorie davon aus, dass nicht die Menschen, sondern nur Kommunikationen kommunizieren konnen. Luhmann (1984, S. 191ff) beschreibt die selbstreferentielle Operationsweise der Kommunikation mit drei Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Kommunikation unterscheidet zwischen Information, die aus verschiedenen Sachverhalten, und Mitteilung, die aus verschiedenen VerhaltensmogHchkeiten selegiert. Hinzu tritt eine dritte Selektion, namlich das Verstehen des Sinnes einer Kommunikation; nicht eines Sinnes, der sich auf etwas von den Kommunikations teilnehmern gemeinsam Geteiltes griindet, sondern der von einer

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Kommunikation bewkkten Zustandsveranderung des Adressaten (vgl. Luhmann 1984, S. 203). Dieser Zustand wird 2war kommunikativ bewkkt, aber vom Adressaten systemintern bestknmt. Das macht erne spezifische Ambivalenz aus, denn unabhangig von den systeminternen Bestknmungen der Beteiligten entwickelt das Kommunikationssystem selbst ein Verstehen oder Missverstehen: „Die Mitteilung ,Du verstehst mich nicht' bleibt daher ambivalent und kommunkiert zugleich diese Ambivalenz. Sie besagt einerseits 'Du bist nicht bereit, zu akzeptieren, was ich D k sagen will' und versucht das Eingestandnis dieser Tatsache zu provozieren. Sie ist andererseits die Mitteilung der Information, dass die Kommunikation unter dieser Bedingung des Nichtverstehens nicht fortgesetzt werden kann. Und sie ist drittens Fortsetzung der Kommunikation." (Luhmann 1995, S. 116) Verstehen kann ganz allgemein immer nur systemrelativ entwickelt werden: Ein anderes System zu verstehen heiBt, dessen Handhabung der System-Umwelt-Differenz zu beobachten. Indem das verstehende System sich selbst als Moment in der Umwelt des verstandenen Systems erfahrt, werden System-Umwek-Differenzen verschrankt (vgl. Luhmann 1986, S. 80). Ungewohnlich an dieser Sichtweise ist, dass die operative Geschlossenheit des Verstehens die MogHchkeit von Verstandigung und gemeinsamen Perspektiven extrem unwahrscheinlich macht; und Verstehen meint nicht nur, wie es iiblich ist, kognitives Verstehen, sondern auch eigenstandig operierendes kommunikatives Verstehen. Unabhangig von dem, was die beteiligten Subjekte verstehen, beobachtet und zeigt sich die Kommunikation selbst Verstehen und Miss verstehen an (vgl. Sutter 1999, S. 197ff). Psychische und kommunikative Verstehensprozesse kbnnen nicht nur unterschiedlich sein. Wie z.B. der Bereich der friahkindHchen Entwicklung ganz augenscheinlich zeigt, muss diese Differenz als Bedingung der MogHchkeit von Kommunikation (und in diesem Fall: Sozialisation) angesehen werden. Wenn die kleinen Kinder noch keine oder wenige soziale Handlungsfahigkeiten mitbringen, muss sich der Prozess der soziaHsatorischen Interaktion von dieser Voraussetzung unabhangig machen, u m iiberhaupt ablaufen zu konnen. Mit diesem Umstand hatten traditionelle Theorien, die von Uberschneidungsbereichen und dkekten wechselseitigen Abhangigkeiten zwischen subjektiven und sozialen Prozessen ausgingen, stets erhebUche Schwierigkeiten. Verstehen kann sowohl auf der Ebene der Selbstbeobachtung von Kommunikation als auch der Ebene psychischer Prozesse beschrieben werden. Der Grund fur die doppelte Bedeutung von Verstehen ist darin zu sehen, dass Verstehen sehr allgemein als Beobachtungsleistung sinnhaft prozessierender, also psychischer ebenso wie sozialer Systeme begriffen w k d (vgl. Luhmann 1986). N o c h kontraintuitiver aber ist der strikt subjektfreie, kommunikationstheoretisch begriindete Begriff des Handelns. Ebenso wie das Verstehen ist Handeln ein Moment kommunikativer Selbstreferenz und Selbstbeobachtung. Kommu-

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nikation ist ein Prozess, in dem Einzelkommunikationen aneinandet angeschlossen werden, und das Verstehen macht deutlich, dass Kommunikationen als Elemente sozialer Systeme nur in Anschlusszusammenhangen zu beobachten sind: „Wenn auf eine kommunikative Handlung eine weitere folgt, wird jeweils mitgepriift, ob die vorausgehende Kommunikation verstanden worden ist. Wie immer iiberraschend die Anschlusskommunikation ausfallt, sie wird auch benutzt, u m zu zeigen und zu beobachten, dass sie auf einem Verstehen der vorausgehenden Kommunikation beruht." (Luhmann 1984, S. 198) Verstehen und Handlung sind Beobachtungskonstrukte, die notwendig sind, weil Kommunikation ,y,.nicht direkt heohachtet^ sondem nur erschlossen werden kann." (Luhmann 1984, S. 226) Kommunikationssysteme beschreiben sich deshalb selbst als Handlungssysteme, u m ihre Anschlussfahigkeit und Selbstreproduktion zu sichern. Mit Handlungen werden Selektionen auf Systeme zugerechnet.^'^ Kommunikative Systeme entstehen also nicht aus Handlungen, sondern nur aus Kommunikationen, aber sie benotigen die Zerlegung in Handlungen, u m sich beobachten und steuern zu konnen (vgl. Luhmann 1984, S. 193). Damit wird die Bestimmung des Handelns von psychischen Prozessen, etwa Intentionen oder subjektiv gemeinten Sinngehalten, abgekoppelt. Die Systemtheorie kommt mithin in der Frage, woraus soziale Systeme bestehen, zu zwei Resultaten: „...aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung. ... Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme." (Luhmann 1984, S. 240f) Die Zuschreibungen von Kommunikationen auf Systeme konnen sich freiHch jederzeit psychologischer Semantiken bedienen, also mit Begriffen wie Bediirfnisse, Motive, Absichten, In teres sen, Erwartungen usw. arbeiten, ohne dass die Handlungen als Zuschreibungskonstrukte psychische Prozesse sind: Eben in dieser Verwechslung liegt der grundlegende Irrtum soziologischer Handlungstheorien. N u n wird der soziologischen Systemtheorie einerseits vorgeworfen, Menschen aus dem Gegenstandsbereich der Soziologie auszuschHeBen, und andererseits wird darauf verwiesen, dass sich die Systemtheorie ja doch einer Subjekt- und Handlungssprache bediene und deshalb handelnde Menschen in Anspruch nahme (vgl. z.B. Greshoff 1997). Damit sind wir beim oben genannten ersten Punkt der Einwande Essers gegen die systemtheoretische Konzeption des Verhaltnisses von Kommunikation und Handlung, die strikt subjektfrei konzipiert werden: „Auch wenn Luhmann hier von ,Selbstbeobachtung' und ,Selbstbeschreibung' sozialer Systeme spricht, wird bei der gesamten Begriin-

Daraus ergibt sich die Unterscheidung von Handeln und Erleben: Mit Handlungen werden Prozesse der Sinnselektion auf Systeme zugerechnet, rait Erleben erfolgt die Zurechnung auf Systernumwelten (vgl. Luhmann 1984, S. 124).

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dung der Bedeutung von ,Handlungen' fur die kommunikativen Selektionen deutlich, dass solche Zurechnungen und Selektionen von ,Handlungen' nur menschliche Akteure, nur die psychischen Systeme vornehmen konnen...". (Esser 1994, S. 199) Kommunikative Systeme haben keine Sensorik und kein Gehiirn, so dass psychologische Begriffe wie Selbstbeschreibung, Beobachtung, Vorstellung usw. nur metaphorisch verwendet werden konnen. Die Beobachtungs- und Vorstellungsleistungen, die die soziologische Systemtheorie der Kommunikation zuschreibt, konnen letztHch nur von Menschen erbracht werden. Dies fiihrt zu scharfen, umfassenden Abgrenzungen von der Systemtheorie: jjSoziale Systeme prozessieren also nur als (aggregierte und daher emergente) Volge der Selektionen von Akteuren. Soziale Systeme selegieren als ,soziale Systeme' selbst nichts. Auch die ,Kommunikation' und der ,Sinn' tun nichts dergleichen. Soziale Systeme vollziehen auch keine Zuschreibungen. Und sie orientieren sich als soziale Systeme auch nicht an ,Handlungen'. Sie selbst benotigen keine Abstiitzpunkte, ,damit' sie gelingen." (Esser 1999, S. 516) Dariiber hinaus, und damit kommt das oben von Esser genannte zweite Problem in den Blick, lassen sich Kommunikationen „als eine Kette von Selektionen in Form von Handlungen" (Esser 1994, S. 184) beschreiben, und zwar eng an die Terminologie Luhmanns angelehnt: „Luhmann hat — insoweit — diirchaus eine ,handlungstheoretische' Konzeption von Prozessen der Kommunikation geliefert." (Esser 1994, S. 184) Ganz im Gegensatz hierzu entwickelt die soziologische Systemtheorie ihrem eigenen Verstandnis nach eine kommunikationstheoretische Konzeption des Handelns. Der Kommunikationsprozess kann gerade nicht als eine Kette von Handlungen begriffen werden (vgl. Luhmann 1984, S. 225), Eine spannende Konstellation also: Der methodologische IndividuaHsmus sensu Esser belehrt die Systemtheorie, was sie im Bereich der Handlungs- und Kommunikationstheorie eigentlich macht, und zwar in ihrer eigenen Begrifflichkeit. Zunachst ist aber noch ein vorbereitender Einschub notig, weil nicht nur das Verhaltnis von Kommunikation und Handlung, sondern auch von Kommunikation und so^aler Interaktion von Esser anders als von der Systemtheorie konzipiert wird. Allgemein unterscheidet Esser (2000a, S. 294f) drei Formen der Interaktion: Koorientierung, symbolische Interaktion und Kommunikation. Diese drei Formen der Interaktion bauen hierarchisch aufeinander auf, d.h. symboUsche Interaktion hat Koorientierung und Kommunikation hat sowohl symboUsche Interaktion als auch Koorientierung zur Voraussetzung, Koorientierung ist eine bereits hergestellte gemeinsame gedankUche Orientierung an einem gleichen Modell des Handelns, also hintergriindige Wissensbestande, die nicht explizit abgestimmt werden miissen (vgl. Esser 2000a, S. 229ff). Empathie im Sinne motivational gestiitzter sozialer Perspektiveniibernahme nach Mead sorgt fur die lautlose, psychische und individuelle Koorientierung. Aber auch an kulturelle Grundlagen in Form kollektiver Reprasentationen ist zu denken, an unprob-

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lematische Hintergrundgewissheiten, die auch Urteils- und Bewertungsstandards einschlieBen. Formen symbolischer Interaktion treten auf, wenn sich Koordinations- und Abstimmungsprobleme ergeben. Es handelt sich um Gestenkommunikation und die Koordination iiber signifikante Symbole, wie sie ebenfalls Mead beschrieben hat. In den Bereich der Kommunikation reicht schlieBlich die sprachlich vermittelte Interaktion. Kommunikation ist also eine besondere, voraussetzungsreiche Form der Interaktion. Die Systemtheorie konzipiert umgekehrt vom Begriff der Kommunikation aus die soziale Interaktion. Soziale Interaktion ist Kommunikation unter Bedingungen der Anwesenheit der beteiHgten Personen. Die wechselseitige Wahrnehmbarkeit der Personen bedingt bestimmte MogHchkeiten und Beschrankungen der Kommunikation. Wie Kommunikation wird Interaktion als Prozess begriffen, der sich riick- und selbstbeziigHch entfaltet: Die selbstreferentieUe Konstitution von Interaktion wird als „einfaches Sozialsystem" (Luhmann 1976) beschrieben, das selbst festlegt, was als Interaktion unter Anwesenden behandelt wird und was nicht. Unter Zugrundelegung des systemtheoretischen Konzepts der Autopoiese wird Interaktion als selbstreferentieUes System fassbar (vgl. Hausendorf 1992). In Interaktionssystemen kommt die spezifische Bedeutung der Informationsgewinnung durch wechselseitige Wahrnehmung zum Tragen (vgl. Luhmann 1984, S. 560f). Dabei geht eine hohe Dichte der Information einher mit einer erhohten StoranfalMgkeit des Kommunikationsprozesses. Interaktionen weisen eine beschrankte Komplexitat auf, die im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung durch die Ausbildung von Verbreitungsmedien iiberwunden wird. Die Uberlegungen dieses Beitrages sind vor allem auf einen Vergleich und weniger auf eine Kritik der Systemtheorie Luhmanns und der Handlungstheorie Essers ausgerichtet. Aber das Verhaltnis von Kommunikation und Interaktion gibt doch Gelegenheit zu zeigen, welche typischen Probleme mit den beiden Theorieperspektiven verbunden sind. Interessanterweise stellt namUch die Interaktionstheorie sowohl die soziologische Systemtheorie als auch Essers Handlungstheorie vor grundlegende, aber sehr verschieden gelagerte Schwierigkeiten: Eine Systemtheorie der Interaktion wurde von Luhmann nicht eigens ausgearbeitet, d.h. Interaktionssysteme wurden vor allem vom Gesellschaftssystem her beschrieben (vgl. Luhmann 1984, S. 551 fQ. Dabei ergeben sich spezielle Probleme des Verhaltnisses von Gesellschaft als Gesamtheit aller aufeinander Bezug nehmender Kommunikationen und sozialen Interaktionen (vgl. auch Luhmann 1997, S. 813ff): Die Differenz zwischen GeseUschaft und Interaktion ist zwar grundlegend, d.h. beide setzen sich im Sinne eines koevolutiven Verhaltnisses voraus. Diese Differenz ist aber doch anders gelagert als die System-Umwelt-Differenzen zwischen Gesellschaft/Kommunikation und psychischen Systemen. Die Differenz zwischen Interaktion und GeseUschaft faUt einerseits nicht mit der Differenz zwischen System und Umwelt

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zusammen, da Interaktionen (neben gesellschaftlichen Teilsystemen und Organisationen) sich gesellschaftsi;^/^^? ausdifferenzieren. Unter Bedingungen der Anwesenheit der beteiligten Personen volLziehen Interaktionen gesellschaftliche Kommunikation, ohne Gesellschaft zu sein: „Das Nichtzusammenfalien dieser beiden Distinktionen System/Umwelt und Gesellschaft/Interaktion ist eine erhebliche Belastung fur eine allgemeine Theorie sozialer Systeme/* (Luhmann 1984, S. 553) Andererseits gilt aber: „Mit Hilfe dieser Differenz von anwesend/abwesend bildet die Interaktion eine auf sie selbst bezogene Differenz von System und Umwelt, die den Spielraum markiert, innerhalb dessen sie ihre eigene Autopoiesis voUziehen, eine eigene Geschichte prodtozieren, sich selbst struktureU determinieren kann." (Luhmann 1997, S. 815) Gesellschaft ist und ist nicht Umwelt von Interaktionen, Interaktion ist und ist nicht in einem System-Umwelt-Verhaltnis zur Gesellschaft.^"^ Hier zeigt sich exemplarisch das grundlegende differen^heoretische Problem der Systemtheorie, namlich die autopoietische AbschHeBung der Operationen und die mit den relevanten Umwelten gekoppelte Strukturbildung von Systemen. Damit wird der Ausbau einer Theorie struktureller Kopplungen zu einem zentralen Desiderat kiinftiger Forschungen. Bei alien Versuchen, differenztheoretische Vorziige der soziologischen Systemtheorie mit zu beriicksichtigen, ist die typische Problemlage der Handlungstheorie Essers identitdtstheoretisch gelagert. Esser unterscheidet einen allgemeinen Begriff der Interaktion von einem spezielleren Begriff der Kommunikation als einer von drei Formen sozialer Interaktion. Dagegen spricht etwa im Bereich der Soziologie der Medien aber viel dafiir, einen allgemeinen Kommunikations- und einen engeren Interaktionsbegriff zu unterscheiden. Das grundlegende Merkmal von Massenkommunikation ist die Abkopplung von sozialen Interaktionen. Diese Abkopplung wurde durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft notwendig. Durch Ausdifferenzierungsprozesse wird die Gesellschaft zunehmend komplex und die Verbreitung von Kommunikation wird zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Problem, das evolutionar entstanden ist (vgl. Esser 2000a, S. 281). Auf diese Problemstellung antwortet die Gesellschaft mit der Ausbildung eines Mediensystems, das auch unter Bedingungen

Dieser Widerspruch lost sich Luhmann zufolge vom Gesellschaftssystem her gesehen auf, wenn eine doppelte Relation angenommen wird: „Die Ausdifferenzierung von Interaktionssystemen und die Bildung von Systemgrenzen fiihrt namlich zu einem Doppelzugriff der Gesellschaft auf die Interaktion qua Vollzug und qua Umwelt." (Luhmann 1997, S. 817) Indem Interaktion Gesellschaft (Kommunikation) in der Gesellschaft (Kommunikation) voUzieht, grenzt sie sich von ihrer gesellschaftsinternen Umwelt (also von der Gesamtheit aUer aufeinander Bezug nehmende Kommunikationen) ab. Wie jedoch die behauptete Autopoiese von Interaktionen von diesen selbst her gesehen zu verstehen ist, bleibt letztlich unklar: Wie ist aus dieser Sicht die Doppelung von Vollzug und Umwelt zu verstehen?

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immer weiter gesteigerter gesellschaftlicher Differenzierung die gesellschaftsweite Ausbreitung von Kommunikation ermoglicht. Von dieser Leistung des Mediensystems sind andere gesellschaftliche Teilsysteme abhangig, die Massenkommunikation nutzen. Das ist bei Wissenschaft der Fall, beim Sport und vor allem bei der Politik, um nur die augenscheinlichsten Beispiele zu nennen. Die moderne Gesellschaft und ihre Teilbereiche sind bei ihrer Selbstreproduktion auf Medien angewiesen. Und die in der modernen Gesellschaft lebenden Menschen benotigen Medien, um von einer gemeinsamen, gesellschaftsweit verbreiteten Wirklichkeit ausgehen zu konnen (vgl Luhmann 1997). Verbreitungsmedien befreien die Kommunikation von den Beschrankungen sozialer Interaktionen, und ohne diese Form der Kommunikation konnte sich die moderne Gesellschaft nicht reproduzieren. Natiirlich kann man mit Esser sagen, dass soziale Interaktionen konstitutionslogisch den medial verbreiteten Kommunikationen vorgeordnet sind, denn zunachst organisiert sich die Kommunikation in der einfachen Form von sozialer Interaktion. Aber dann lost sich die Kommunikation aufgrund gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse von sozialen Interaktionen ab, und gerade die Interaktionsfreiheit dieser neuen Kommunikationsformen kann als „evolutionare Errungenschaft" (Luhmann 1997, S. 505) bezeichnet werden. Dieser Zusammenhang wird mit einem identitatstheoretisch begriindeten Verhaltnis allgemeiner Formen der Interaktion und spezifischerer, voraussetzungsreicherer Formen der Kommunikation verfehlt. Passend hierzu scheint nun Esser in den entsprechenden mediensoziologischen Passagen die Eigenstandigkeit von Kommunikationssystemen zu konzedieren.^5 Dann aber ware zu iiberdenken, in welcher Weise es sich hierbei um Kommunikation als eine Form der Interaktion handeki kann. Kehren wir nun zu den theorievergleichenden Uberlegungen zuriick und kommen in diesem Rahmen zum Verhaltnis von Handlung und Kommunikation im methodologischen IndividuaHsmus Essers und in der Systemtheorie. In seiner handlungstheoretischen Erklarung von Kommunikation bindet Esser die beiden oben genannten Probleme zusammen, namltch handelnde Akteure als Trager von Kommunikation und die Beschreibung von Kommunikation als Kette von Handlungen. Kommunikation besteht nach Esser aus drei Schritten:

„Die Mitteilungen und Informationen werden mit der Erfindung der Schriftsprache endgiiltig von konkreten Menschen als Sprechern ablosbar und konnen so - wie es scheint — ein gan^ eigenstandiges System der Kommunikation bilden." (Esser 2000a, S. 279f) In Bezug auf symbolisch generalisierte Medien heiBt es: „Erst die Erfindung der symbolisch generalisierten Medien lost das Problem einer sicheren strukturellen Kopplung ... Die leibhaftigen Menschen treten dabei — so scheint es auf den ersten Blick wenigstens — immer mehr in den Hintergrund. Die Kommunikation scheint dadurch eine Art von eigenstandiger Existenz z\x bekommen, die sich iiber die Kopfe und die Seelen der Menschen hinweg entfaltet und ihren eigenen Gesetzen folgt." (Esser 2000a, S. 287)

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der Selektion bestimmter kommunikativer Akte dutch einen Sender, dem Erreichen eines Empfangers und den Selektionen des Empfangers. Die Selektionen des Empfangers konnen wiederum in drei Teilselektionen zerlegt werden: das Verstehen der Mitteilung, die Re2eption der Information, durch die der Empfanger beeinflusst wird, und die Wirkung der mitgeteilten Information auf das Handeln des Empfangers (vgl. Esser 2000a, S. 253f). Diese Selektionen von Sender und Empfanger bezeichnet Esser als kommunikative Akte, d.h. als Handlungen, die der Kommunikation dienen und den Regeln der Selektion des Handelns folgen. Esser Hefert also eine handlungstheoretische Beschreibung der Kommunikation sensu Luhmann als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen. Diese Beschreibung reduziert Kommunikation nicht auf die Absichten und Erwartungen der Akteure und beriicksichtigt die in Kommunikationen eingebaute doppelte Kontingenz auf der Ebene des latenten Wis sens der Beteiligten (vgl. Esser 2000a, S. 255f) Durch die geschilderten Selektionen werden Kommunikationen gebildet, die aneinander anschHeBen konnen. Es ist also nach Moglichkeiten und Realisierungen von Anschliissen zu fragen: Dieses Problem der wirkungsvoUen, anschlussfahigen Erreichbarkeit des Empfangers beschreibt Esser mit struktureller Kopplung. Strukturelle Kopplungen sorgen auch bei stark divergierenden Perspektiven und Wissensbestanden der Akteure dafur, „dass eine Menge von Akteuren ein ,soziales System' einer fortlaufenden Kommunikation bilden konnen, das in bestimmter Weise sinnhaft organisiert ist und in dem ohne groBere Irritationen oder Unterbrechungen sinnhaft gehandelt und kommuniziert wird." (Esser 2000a, S. 276) Dabei werden die systematischen Probleme der strukturellen Kopplung, die Erreichbarkeit von Empfangern, die Sicherstellung des Verstehens und der Rezeption und die Wirkung in Form kommunikativer Anschliisse durch drei Medien gelost: die Sprache, Verbreitungsmedien (v. a. Schrift) und symboHsch generaHsierte Medien. In der komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft sind es die symboUsch generaUsierten Kommunikationsmedien (u.a. Geld, Macht, Wahrheit und Liebe), die strukturelle Kopplungen und damit die kommunikative Integration der Gesellschaft sichern (vgl. Esser 2000a, S. 283ff). Die durch Selektionen des Senders und Empfangers und das Erreichen des Empfangers gebildeten Einheiten der Kommunikation schHeBen aneinander an und bilden fortlaufende Ketten, die Esser (2000a, S. 287) „mit Luhmann — ganz allgemein — als so^ale Sjsteme bezeichnet." In dieser Weise wird die Theorie sozialer Systeme dem Modell der genetischen soziologischen Erklarung einverleibt: „Soziale Systeme sind also nichts anderes als emergente Folgen der Selektion kommunikativer Akte durch menschliche Akteure, dem fortlaufenden jGeHngen' der strukturellen Kopplung, der Eroffnung von AnschlussmogUchkeiten und der VerwirkHchung tatsachlicher geUngender Anschliisse." (Esser 2000a, S. 288) Kommunikation kann als kollektives Phanomen nicht

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einfach mit Akteuren und deren Handeln erfasst werden, es treten die Situationen hin2u, in denen Selektionen verlaufen, sowie die Vorstellungen der Akteure von den Sitxiationen und die aggregierten externen Effekte (vgl. Esser 1999, S. 529). Esser halt schlieBlich fest: Kommunikationen und Menschen konnen als soziale und psychische Systeme bezeichnet werden, und zumindest bestimmte Kommunikationen (v. a. Rituale) sind von den psychischen Systemen logisch und empirisch unabhangig und eigenstandig, so dass man von SystemUmwelt-Relationen sprechen kann. Esser kommt hier also der soziologischen Systemtheorie terminologisch sehr nahe. Dies betrifft aber nur die wechselseitige Konstitution psychischer und sozialer Systeme: „Kurz: Nicht allein die Menschen pragen und tragen die Systeme der Kommunikation. Im - nahezu: simultanen! — Gegenzug werden mit jeder Kommunikation auch wieder die Menschen durch die Kommunikation gepragt. Psychische und soziale Systeme konstituieren sich gegenseitig." (Esser 2000a, S. 293) Der gleich darauf folgende Verweis Essers auf Bergers und Luckmanns Beschreibung dieses Verhaltnisses lasst dann doch starke Zweifel aufkommen, was in Bezug auf die Systemtheorie mit „tragen" und „pragen" wohl gemeint sein konnte. Auf jeden Fall wtrd dadurch die Einbindung systemtheoretischer Begriffe nicht glaubwiirdiger, wie auch Baecker in Bezug auf Essers Behauptung feststellt, „dass man mit seinem ,Modell soziologischen Erklarens' auch ,soziale Systeme' modellieren konne, die aus dem ,Zusammenspiel von Mensch und GeseUschaft' entstiinden..." (Baecker 2003, S. 66) Tiefgreifende, systematische Differenzen ergeben sich aber aus dem operativen Konstruktivismus der soziologischen Systemtheorie, und hier liegt auch die Schwache des Versuchs von Esser, die Systemtheorie in seine Handlungstheorie zu integrieren. Er setzt ganz auf die kontraintuitive Anlage der systemtheoretischen Konzepte, insbesondere im Bereich von Kommunikation und Handlung: Die Vorstellung, kommunikative Systeme beobachten und beschreiben sich mit Handlungen selbst, sei einfach merkwiirdig. „Die Selbstbeschreibung eines sozialen Systems als System von sich selbst simplifizierenden ,Handlungen' entsteht also nach Luhmann dadurch, dass das soziale System in seinem Prozessieren gewissermaBen erschrocken innehalt, sich iiber sich selbst Rechenschaft ablegt und sich datum sorgt, was jetzt schief gehen konnte. Daraufhin fertigt es flugs innerHch ein Modell von sich an, auf das es sich dann selbst bezieht, bei dem was nun geschieht." (Esser 2000a, S. 297)^^ Es ist die aus der Grundlage des operativen Konstruktivismus folgende autonome Eigendynamik sozialer Gebilde, gar noch gefasst in Kategorien subjektiver (Erkenntnis-) Tatigkeiten, die abgelehnt wttd. Hier stoBen Integrationsbeziehungen, also Mog-

1^ Auf diesen Aspekt zielt auch die Rekonstruktion des Doppelpasses als soziales System ab, wobei der satirische Grundton brilliant ausgebaut wird (vgl. Esser 1998).

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lichkeiten der Annaherung und wechselseitiger Leistungen zwischen Essers methodologischem Individualismus und soziologischer Systemtheorie an Grenzen. Es reicht nicht aus, darauf zu verweisen, dass soziale Systeme selbst nichts tun, nichts erkennen oder beobachten konnen, sondern dies von den Selektionen von Akteuren „getragen" wird, um die Grundlage des operativen Konstruktivismus der Systemtheorie anzugreifen. Das aber ware notig, um die Position des methodologischen Individualismus nicht nur von der soziologischen Systemtheorie abzugrenzen, sondern diese zu rekonstnaieren und in die Handlungstheorie einzubauen. Und das Argument, die Systemtheorie konne bei alien Verdiensten nichts erklaren, ist richtig, wenn man damit Kausalerklarungen meint. Dieses Argument fuhrt aber auch nicht weiter, weil die Systemtheorie gerade aufgrund der Restriktionen des operativen Konstruktivismus keine hochgesteckten Erklarungsanspriiche aufrechterhalt.^^ 4 Schluss: Einige Moglichkeiten und Grenzen wechselseitiget Leistungsbeziehungen „Bin schon da" ruft der Hase frohlich dem Igel zu, der im Wettstreit mit diesem von einem Ende des Feldes zum anderen hetzt. Wie keine andere Theorie ruft Essers methodologischer Individualismus all jenen dieses „Bin schon da" zu, die seinen uherlegenen, Altemativen assimilierenden Universalttatsanspruch bezweifeln. Den Rahmen der vorlaufenden Uberlegungen bildet die Frage, in welchem MaBe die Handlungstheorie Essers auch die soziologische Systemtheorie integrieren kann. Diese Frage wird nicht im Sinne des „Bin schon da" interpretiert, auch wenn zum einen viele AuBerungen Essers genau dies nahe legen. Zum anderen wird aber doch auch der Respekt Essers vor der eigenstandigen, weit ausgreifenden Leistung der Systemtheorie Luhmanns an vielen Stellen deutlich. In diesem Kontinuum lasst Esser eine Vielfalt von Stimmen erkennen, in der die Orientierung nicht immer einfach ist; diese Vielfalt zeigt.

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Dieser letzte Punkt betrifft Differenzierungen, die Esser nicht vornimmt, wenn er der Systemtheorie y^^//V/?^ Erklarungsmoglichkeit abspricht. Soziologische Erklarungen begreift Esser (1999, S. 4ff) in Anlehnung an Weber als verstehendes Erklaren, d.h. der subjektive Sinn des Handekis muss verstehend rekonstruiert werden, um dann den Ablauf und die Wirkungen des Handelns ursachlich zu erklaren, Wenn man behauptet, nur das konne letztlich als soziologische Erklarung gelten, wird man natiirHch von vornherein vergebHch nach einer erklarenden Systemtheorie suchen, und dann steUt sich umso dringlicher die Frage, was man von dieser eigentlich lernen konnen soil. Indessen reklamiert auch die funktionale Methode der Systemtheorie einen „Erklarungswert ihrer Resultate" (Luhmann 1984, S. 84), wobei die Empiriefahigkeit des wissenschaftlichen Vorgehens grundsatzlich beobachtungsabhangig bleibt.

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dass es systematische Grenzen der Integrierbarkeit der Systemtheorie Luhmanns in die Handlungstheorie Essers gibt. Auf der einen Seite sind die grundlagentheoretischen Unterschiede zwischen Esser und Luhmann unverkennbar. Im Kern las sen sie sich auf die differenztheoretische Anlage des operativen Konstruktivismus der Systemtheorie zuriickfuhren, die der Erklarungslogik des methodologischen Individualismus Essers entgegensteht. Auf der anderen Seite ubernimmt Esser in erstaunlichem MaBe systemtheoretische Begriffe (u.a. psychisches und soziales System, strukturelle Kopplung, doppelte Kontingenz), und er deutet mehr oder weniger vage an, dass in bestimmten Fallen sich nun doch eine weitgehende Eigenstandigkeit kommunikativer Systeme zu zeigen scheint. Aber damit gerat die handlungstheoretische Erklarungstheorie ins Fahrwasser der Mehrdeutigkeit. Wenn sich auch auf diesem Wege keine „Grand Unified Theory" der Soziologie abzeichnet, so wird doch erkennbar, dass sich der methodologische Individualismus Essers auf vielfaltige Weise durch systemtheoretische Beschreibungen anregen las St, und die Frage ware dann, wie diese Anregungen auf theoretisch konsistente Weise eingebaut werden konnen. So legt die doppelte Kontingenz von Kommunikationen und Handlungen in sozialen Situationen als gemeinsamer sozialtheoretischer Baustein es nahe, die Gegenuberstellung einer Theorie der Emergenz von unten und einer Theorie der Konstitution von oben zu unterlaufen: Prozesse und Strukturen der Systembildung konnen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Deshalb stellt sich das Problem der doppelten Kontingenz immer zugleich emergenztheoretisch von unten und konstitutionstheoretisch von oben betrachtet. Im Bereich des Verhaltnisses von Kommunikation und Handlung ist der hauptsachliche Einwand Essers gegen die Systemtheorie, dass es letztHch leibhaftige menschUche Akteure seien, die handeln, und dass Kommunikationen durch Handeln getragen und aus selegierenden Handlungen gebildet werden, und dass mithin auch kommunikative Systeme erklart werden konnen. Auf grundlagentheoretischer Ebene ist hier nicht zu sehen, wie diese handlungstheoretische Perspektive vom operativen Konstruktivismus der Systemtheorie profitieren konnte, die auf iiberragende beschreibungstheoretische Leistungen der kommunikationstheoretischen Gesellschaftsanalyse verweisen kann, dabei aber auf hohe Erklarungsanspriiche ebenso wie auf den Einbau verschiedener traditioneller soziologischer Theorien verzichtet, die fiir den methodologischen Individualismus Essers konstitutiv sind. Dagegen konnen MogHchkeiten profitabler Beziehungen zur Systemtheorie an den Stellen vermutet werden, wo es u m die behauptete Austreibung der Menschen aus den kommunikativen Systemen und die Eigenstandigkeit von Kommunikation geht. Auf der einen Seite springt eine Kritik, die sich auf die Geschlossenheit kommunikativer Systeme konzentriert, zu kurz. Auf der anderen Seite kann dieser Kritik vor aUem mit dem Ausbau einer Theorie stmktureller Kopplung begegnet werden, die mehr

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als bisher die Offenheit und die Beziehungen der Kommunikationssysteme zu relevanten Umwelten verdeutlicht. Flankierend hierzu miisste Esser im Rahmen seines methodologischen Individualismus die jiingst wieder durchdeklinierte Einordnung der Systemtheorie als soziozentrierte, makrosoziologische, begriffsverwirrend mit Hilfskonstxuktionen arbeitende Theorie (vgl. Esser 2003) iiberdenken, die sich vor allem am fehlenden Zugriff der Systemtheorie auf handekide Menschen bzw. psychische Systeme festmacht. Eine kritische Wiirdigung dieser festgefahrenen, unproduktiven Konstellation hatte — wie oben bereits kurz angedeutet — auf die daraus folgende zentrale Rolle der Sozialisationsforschung fur die Soziologie zu verweisen, wenn man nicht immer nur Subjekte, leibhaftige Menschen, Individuen, handelnde Akteure oder wahlweise auch psychische Systeme reklamieren will, wie immer diese sich auch bilden mogen, um dann mit Getose in die Mikro-Makro-Problematik einzusteigen. SoUte sich die Agenda vieler grundlagentheoretischer Diskussionen nicht bald andern, ware das tiefgehende, weitverbreitete Desinteresse an sozialisationstheoretischen Problemen hochgradig begrundungsbediirftig. Freilich bestehen auch auf gesellschaftsanalytischer Ebene Moglichkeiten fur einen wechselseitig profitablen Austausch zwischen methodologischem Individualismus und Systemtheorie. Ein aktuelles Beispiel hierfur ware die These, dass die moderne Gesellschaft sowohl durch funktionale Ausdifferenzierung als auch durch Verhaltnisse sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist. Das eine gilt als Beleg fur die Abgeschlossenheit von Kommunikationssystemen, das andere als Beleg fur den notwendigen Akteursbezug der Gesellschaftsanalyse. Die Frage ist dann, wie die Gesellschaftsanalyse durch die Verbindung einer Theorie sozialer Ungleichheit und einer Theorie gesellschaftlicher Differenzierung vorangetrieben werden kann (vgl, Esser 1999a; Schimank 2003). Auf der Grundlage einer gemeinsamen Problembeschreibung kann dann verglichen werden, wie weit man mit dem methodologischen Individualismus und mit der soziologischen Systemtheorie kommt. Der UniversaHtatsanspruch der jeweils veranschlagten Theorien spricht, wie einleitend verdeutlicht wurde, keineswegs gegen solche wechselseitigen Leistungsbeziehungen, wenn die Suche nach Wahrheit und der „Grand Unified Theory" als konstitutiv fur Wissenschaft und unabschHeBbar begriffen wird.

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Gesellschaft, Sinn und Handeln: Webets Konzept des sozialen Handelns und das Ftame-Modell Bemhard Prosch und Martin Abraham

1 Einfuhtung Mit seinem Framing-Konzept will Esser einen grundlegenden Beitrag zu einer allgemeinen Handlungstheorie leisten. Jede individualistisch orientierte Sozialtheorie steht vor dem Problem, im Rahmen der Erklarung sozialer Phanomene ein Modell des Handelns individueller Akteure verwenden zu miissen. Die meisten individualistischen Theorien berufen sich hierbei unter anderem auf die grundlegende Konzeption von Max Weber. Dieser definiert menschHches Verhalten dann als Handeln, „wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden" (Weber 1980, S. 1). Modelle des individuellen Handelns miissen somit Annahmen liber den Sinn einer Handlung aus Sicht des Handelnden enthalten, um darauf aufbauend Aussagen dariiber treffen zu konnen, wann eine Handlung ausgefuhrt wird. Welcher subjektive Sian mit einer Handlung verbunden wird, hangt natiirHch auch von den gesellschaftlichen und insbesondere kulturellen Rahmenbedingungen des Handelns ab. Eia zentraler Vorwurf an Handlungsmodelle der rationalen Wahl, die auch den Ausgangspunkt des Esserschen Theoriegebaudes darstellen, war schon immer die fehlende Systematik der Verkniipfung von Gesellschaft, Kultur und Handlung. Da in dieser Theorietradition der durch Normen determinierte „oversocialized man" in jedem Fall vermieden werden soil (z.B. Coleman 1986), wird der Effekt von Kultur und Gesellschaft nur in „unvermeidbaren" Einzelfallen mehr oder weniger ad hoc in die Analyse mit eingefiigt. Esser mochte nun das „klassische" Handlungsmodell der Rational Choice-Theorie insofern modifizieren, als dieser Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Sinnkonstruktion durch den Handelnden in die Theorie integriert werden soil. Gleichzeitig wird das Handlungsmodell komplexer, indem bisher nicht erfasste Handlungstypen — wie z.B. routinisierte Handlungen — beriicksichtigt werden konnen. Dies soil durch die Integration verschiedener soziologischer Theorien und Paradigmen erreicht werden, die Esser (2001, S. 260) explizit als AnHegen und grundlegendes Charakteristikum seines Ansatzes darstellt. Das FramingKonzept basiert einerseits auf Kognitions- und Einstellungstheorien der kognitiven Sozialpsychologie, der Kultursoziologie und Kulturanthropologie — ande-

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rerseits auf klassischen Theoriegebauden wie sie von Parsons, Mead, Husserl, Schiitz, Garfinkel und Weber vorgelegt wurden (Esser 2001, S. 259f). Die inhaldiche Zielsetzung des Framing-Konzepts orientiert sich an der Frage, woran individuelles Handeln ausgerichtet wird. Essers Antwort darauf heiBt: Vor dem eigentlichen Handeln kommt es 2u einer Selektion eines Bezugsrahmens, der die Situation fiiir den HandeLnden definiert. Mit dieser Definition der Situation sind mehr oder weniger standardisierte Handlungsablaufe verbunden, die beim eigentlichen Handeln zum Tragen kommen. Die Definition und Witkung dieses Bezugsrahmens erlaubt es, so Esser, unterschiedlichste Theorien, Ansatze und Betrachtungsweisen der Sozialwissenschaften — und dariiber hinaus — zu integrieren, die z.T. meist als schwer vereinbar betrachtet werden. Inwieweit dies gelingt, soil anschUeBend anhand des Weberschen Konzepts des sozialen Handekis diskutiert werden, das als Grundlage fiir die unterschiedlichen Ansatze gelten kann.

2 D i e Witkung spezifischet Bezugstahmeti als Ausgangspunkt Ausgangspunkt fur Esser ist die iiberwaltigende Komplexitat der Welt, der jeder handelnde Mensch gegeniiber steht: „Kein Mensch dieser Welt ist in der Lage, alle jeweils existenten Moglichkeiten und Regeln in einer Situation zu erkennen, in ihren Folgen zu bedenken, zu b ewer ten und daraus dann eine einigermaBen sinnvolle Entscheidung zu treffen" (Esser 2001, S. 1). Notig sind zur Orientierung daher gedankHche Modelle, die anzeigen, worum es in typischen Situationen geht. Diese koUektiv geteilten Modelle bieten Vorgaben des Denkens, Fiihlens und Handekis und erleichtern so die Orientierung (Esser 2001, S. 1). Esser bezeichnet solche Modelle als Bezugsrahmen. Die Gesamtheit von Bezugsrahmen in einer Gesellschaft mit all ihren materiellen Resultaten ist Kultur. Handlungsleitend fur einen Akteur ist daher die in einem historischen Prozess entstandene Kultur, zu der er Bezug hat. Diese Erkenntnis ist nicht neu, daher verweist Esser (2001, S. 2ff) auf deckungsgleiche Argumentationen etwa bei Durkheim, Parsons und nicht zuletzt Weber: „Weber sah die Kultur (...) als einen Grundzug eines jeden Handekis und eines jeden sozialen Prozesses an, schon allein deshalb, weil jedes Handeln und jeder soziale Prozess mit ,Sinn' versehen ist und weil das Handeki und die sozialen Prozesse nur dann auch als ,erklart' gelten konnen, wenn dieser Sinn rekonstruiert ist" (Esser 2001, S. 4). Esser verweist darauf, dass bereits Weber (1982, S. 180) von einer „sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens'* ausgeht, in der (kollektiv geteilte) Kultur dem Individuum fiir konkrete Situationen Sinn und Bedeutung vermittelt. Kultur ist daher ein Modell der Wirklichkeit und ein Modell fiir die WtckUchkeit (Esser 2001, S. 5). D a Kultur Regeln und Normen vermittelt, aber auch

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den „Wert" von Sachverhalten und „Ei^wartungen" uber Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen nahe legt, bietet sich nach Ansicht Essers die Chance, hier unterschiedlichste Theorieansatze und Wissenschaftstraditionen zu einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Sichtweise 2u verkniipfen. Konkret sieht Esser die Moglichkeit, „erklarende" sozialwissenschaftliche Traditionen, kultursoziologische, neuere (institutionen-)okononiische, spieltheoretische und aktuelle (so2ial-)psychologische Forschungsansatze untereinander im Sinne einer „Einheit der Sozialwissenschaften" (2001, S. 7) zu verkniipfen. Insbesondere bei der Interpretation der individuellen Wahl eines Bezugsrahmens als einem von Interessen geleiteten Selektionsprozess sieht Esser (2001, S. 7f) eine Gelegenheit, unterschiedliche, auch scheinbar widerspriichliche Sichtweisen wie die der Kulturanthropologie, Okonomie, Spieltheorie, aber auch von Autoren wie Mead, Goffman, Schiitz und Garfinkel zu einer durchaus einheitlichen Interpretation zu verbinden. Esser (2001, S. 9) geht es darum, zu verdeutUchen, dass bei der Erklarung individuellen Handekis „drei Elemente der Situation — materielle Opportunitaten und Knappheiten, institutioneUe Regeln und kulturelle Bezugsrahmen — jeweils gleichzeitig beriicksichtigt werden" miissen. Zur Erlauterung bietet er in seinen PubHkationen wiederholt Beispiele an. Exemplarisch seien im Folgenden drei der zehn Beispielfalle am Beginn des sechsten Bandes seiner „Speziellen Grundlagen" der Soziologie (Esser 2001, S. lOff) angefuhrt. Bei der VorsteUung der FaUe geht Esser allerdings nicht explizit und vollstandig auf die aUgemeinen von ihm erwahnten Elemente der Situation ein. Eine Verkniipfung von materiellen Opportunitaten und Knappheiten, institutioneUen Regeln und kulturellen Bezugsrahmen ist meist nur angedeutet. Daran soil im Folgenden angekniipft werden, da die Beispiele aus Essers Sieht besonders deutlich machen, wie sehr Kultur und situationsspezifische Bezugsrahmen das Handeln und das Interpretieren von Handlungen beeinflussen. Die Thematik von Essers zehn Beispielfalien ist breit gestreut und reicht v o m Verlust der Bedeutung von Zeit bei Arbeitslosen in der klassischen Marienthal-Studie bis hin zu einer Interpretation von Peter L. Bergers Beobachtung des „mauvaise foi", der individuellen Verschanzung hinter Pflichten und Notwendigkeiten. Als funften Fall schildert er eine Besonderheit bei der Errettung von Juden im zweiten Weltkrieg. Die Judenverfolgung der Nazis stiitzte sich bekanntUch auf eine groBe Anzahl von Tatern und Mitlaufern. Trotz der groBen Gefahr fiir das eigene Leben gab es aber auch einige Heifer, die zahkeichen Juden das Leben retteten. Was diese Menschen zu Helfern machte, ist schwer zu identifizieren (siehe hierzu z.B. O p p 1997). Entsprechende Studien konnen jedenfalls keine besonderen PersonUchkeitsfaktoren belegen. Nachzuweisen ist allerdings der motivierende Faktor der personlichen Ansprache. Wer individuell um Hilfe gebeten wurde, entschied sich deutUch haufiger dazu.

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Juden zu retten als Menschen, die nicht personlich vor diese Frage gestellt wurden. Esser (2001, S. 19ff) selbst geht nicht naher explizit auf die Elemente der Situation ein. Es lasst sich die Fiage stellen, wie sich die Situation der Menschen unterscheidet, die personlich um Hilfe gebeten wurden bzw. die keine individuelle Anfrage erhielten. Fiir beide sind die materiellen Opportunitaten, die Bedrohung fur das eigene Leben, die geltenden Regeln und Normen, evtl. einem unschuldigen Menschen zu helfen, gleich. Moglicherweise verandert sich allerdings mit der personlichen Anfrage der individuelle Bezugsrahmen. Fiir einen Akteur, der u m Hilfe fiir einen konkreten Menschen gebeten witd, verwandelt sich das Helferthema von einem anonymen zu einem personlichen Anliegen. Wer nun Nein sagt, tragt u.U. dicekt zum Tod eines Menschen bei. Oder positiv ausgedriickt: Wer nun Ja sagt, kann unmittelbar ein gutes Werk tun, d.h. kulturell vermittelten Werten folgen, ohne lange nach Moglichkeiten dazu suchen zu miissen. In einem weiteren Bespielfall bleibt Esser (2001, S. 23f) bei einer ahnlichen zeitgeschichtlichen Thematik. In seiner Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht loste der damalige Bundestagsprasident PhiHpp Jenninger heftige Debatten aus, die bis zu seinem Riicktritt fiihrten. InhaltHch sprach Jenninger wenig Strittiges aus, erwahnte die faszinierende Wirkung der NSPoHtik auf viele Zeitgenossen, die fruhen innen- und auBenpoHtischen Erfolge, die Griinde und Ausformungen des Judenhasses. „Aber die gesprochene Rede Jenningers ,passte' irgendwie nicht zum Anlass und zum erwarteten Stil des ZeremonieUs" (Esser 2001, S. 23). Als Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, ein Jahr spater in verdeckter Form eine Rede bewusst mit Passagen aus der Ansprache Jenningers erganzte, reagierte niemand emport. „Diesmal ,stimmte' offenbar der Rahmen: Niemand konnte auch nur den Hauch eines Zweifels haben, dass Ignatz Bubis die zitierte Passage nicht klammheimHch womoglich als eigene Meinung teilen wiirde, wahrend das offenbar fiir manche Abgeordnete bei Jenningers Rede nicht ganz so selbstverstandlich gewesen ist" (Esser 2001, S. 24). Auch hier geht es bei den erklarungsrelevanten Elementen der Situation weniger um die materiellen Opportunitaten und Knappheiten. Vieknehr geht es u m den in einer bestimmten Situation — der parlamentarischen Feierstunde eines Gedenktages — erwarteten Vortragsinhalt und -stil. Moglicherweise unterschieden sich hier Jenninger und Bubis gar nicht so fundamental, so dass der Unterschied insbesondere darin lag, dass ein und die selben Worte aus dem Mund des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden anders wirkten als wenn sie von einem konservativen Politiker gesprochen wurden. Offenbar aktiviert die jeweilige Person des Redners einen unterschiedUchen Bezugsrahmen, der unterschiedUche Interpretationen zulasst.

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Der dritte hier angefuhrte Bespielfall Essers (2001, S. 24ff) schildert die Erfahrungen eines amerikanischen Kiinsders, der sich in den funfziger Jahren einem Eingeborenenstamm im peruanischen Dschungel anschloss und immer mehr in das archaische Stammesleben eintauchte. Hinterher konnte der Maler kaum glauben, wie sehr seine eigene Welt von der seiner neuen Umwelt verdrangt worden war — bis bin zior Beteiligung an Diebstahl, Mord und Kannibalismus. Lebensrealitat und Moral batten sich im Dschungelleben offenbar fundamental verandert. Von den Elementen der Situation fallt hier insbesondere die drastische Veranderung des kulturellen Bezugsrahmens auf. Mit dem Eintauchen in das Stammesleben verlor die Orientierung an westlichen Normen, Werten und Handlungsorientierungen immer mehr an Bedeutung. Der kulturelle Bezugsrahmen der Ureinwohner war ein voUig anderer; er tolerierte — forderte sogar — Handlungen, die in der modernen westHch gepragten Lebenswelt des Malers vollig untragbar sind. Bemerkenswert ist, dass sich der Kiinstler dennoch an die sen Handlungen aktiv beteiligte und erst hinterher — quasi in der Riickschau nach der Wiederkehr in die gewohnte Zivilisation — bestiirzt dariiber war. Er hatte sich offenbar im Dschungel den neuen Bezugsrahmen so sehr zu eigen gemacht, dass ihm die heftige Kollision mit erlernten westlichen Normen und Werten erst hinterher deutlich ins Auge sprang. Mit den genannten Beispielen versucht Esser zu zeigen, dass Menschen mit ihrem Handeln immer ekien Sinn verbinden, der aus einem vorgegebenen Handlungsrahmen stammt. „Ihre orientierende Kraft erhalten die Modelle der Bezugsrahmen durch feste auBere Grenzen: durch schiere Unmoglichkeiten, groBe zeitliche, raumliche, kulturelle Distanzen, unbefragte Alltagsroutinen, zentrale Oberziele und eindeutige Interessen" (Esser 2001, S. 30f). Diese Grenzen haben allerdings nur einen eingeschrankten Geltungsbereich. Jeder kulturelle Bezugsrahmen untersteht zwei Gefahrdungen: Einerseits Storungen bei unerwarteten Ereignissen, die Zweifel iiber die Geltung des Rahmens aufkommen lassen, und andererseits Opportunitatskosten, die das Anwenden eines Rahmens sehr „teuer" machen und so zum Wechsel des Bezugsrahmens motivieren konnen. Die korrekte Interpretation menschlichen Verhaltens jedenfalls ist nur bei Beachtung des — kidividuell — geltenden Bezugsrahmens moglich: „Das Denken, Fiihlen und Handeln ist nur innerhalb dieser Sinngrenzen nachvoUziehbar und verniinftig, oft genug moralisch geboten" (Esser 2001, S. 31). Im unreflektierten Befolgen von Routinen und Habits sieht Esser (1990, S. 234) zunachst einen grundlegenden Widerspruch zu Pramissen der Theorie rationalen Handelns, Schon vor der Ausarbeitung seines Framing-Ansatzes versucht er allerdings zu zeigen, dass auch die Beibehaltung von Routinesets „rational" sein kann, wenn damit Reflexionsaufwand gespart werden kann (Esser 1990, S. 236), denn: „Eine Reflexion ist immer aufwendig" (Esser 1996, S. 22).

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3 Framing als „inissing link" zwischen gesellschaftlichem Rahmen und individuellet H a n d l u n g U m die Effekte gesellschaftlicher und insbesondere kultureller Rahmenbedingungen auf den Handlungsprozess 2u konzeptualisieren, greift Esser auf das aus der Sozialpsychologie stammende Konzept des „Franiings" zuriick. Grundlegender Gedanke dieses Konzepts ist die Vorstellung, dass die situativen Bedingungen nicht nur die Handlungsmoglichkeiten und Konsequenzen bestimmen, sondern auch die Bewertung dieser Komponenten durch den Handelnden, also die Praferenzen selbst. Dies kann ein einfaches Beispiel verdeutlichen: D e n Wert eines Glases Wassers wird ein Akteur jeweils anders bewerten, wenn er sich in der Wiiste verirrt hat oder sich auf einer Party mit einem reichlichen Getrankeangebot befindet. Dieser Typ von situativem Einfluss auf die Praferenzen eines Akteurs stellt fiir das klassische Rational ChoiceModell allerdings noch kein groBes Problem dar. Solange dem Forscher die Situation des Handelnden bekannt ist, kann er plausible Briickenannahmen liber den Effekt der Situation auf die jeweiKgen „effektiven^' Praferenzen (also den Wert des Glases Wasser) treffen (Lindenberg 1981). Die Situationsabhangigkeit von Praferenzen wird im Rahmen des rationalen Handlungsmodells durchaus anerkannt, wobei jedoch von einer Stabilitat grundlegender Praferenzen (hier: Bediirfnis nach Fliissigkeit bei Durst) ausgegangen wird (Stigler und Becker 1977). Entscheidendes Problem dieses Vorgehens ist jedoch der Umstand, dass die Briickenannahmen liber den Zusammenhang zwischen der Situation und der Handlungsauswahl mehr oder weniger ad hoc getroffen werden miissen. Vorteilhafter ware eine Theorie, die diesen Zusammenhang systematisiert. Zur Einordnung von Framing-ModeUen gibt es unterschiedHche KlassifizierungsmogUchkeiten (vgl. insbesondere Stocke 2001). Verallgemeinernd lassen sich zwei Hauptstrategien, d.h. im weitesten Sinne Typen von Framing-Konzepten, finden: Framing-Konzepte nehmen entweder (implizit oder expHzit) Besonderheiten der menschlichen Natur als Basis oder sie beziehen sich auf die Wirkung sozialer Normen.

Besonderheiten der menschlichen Natur Eine erste Moglichkeit besteht in der Annahme, dass „biologische Konstanten" der menschlichen Natur dazu fuhren, dass die gleiche Handlungskonsequenz in unterschiedHchen Situationen unterschiedHch bewertet werden. Dazu gehoren die „klassischen" sozialpsychologischen Framing-Ansatze (Tversky und Kahnemann 1986) ebenso wie Ansatze iiber „Fairness- oder Reziprozitatsnormen",

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die nicht kulturell bedingt sind (Gouldner 1960).^ Insbesondere die sogenannte Prospect-Theorie als Vertreter des ersten Typs hat die Entwicklung von Framing-Konzepten stark beeinflusst. Ausschlaggebend war dabei die Beobachtung, dass Personen das gleiche Risiko im Sinne eines Nutzenverlustes unterschiedlich bewerten, wenn es sich u m drohende Verluste oder entgangene Gewinne handelt, Ein inzwischen beruhmtes Beispiel aus der experitnentellen Forschung macht dieses Phanomen besonders deutlich: In ihrem, auch von Esser (2001, S. 17f) herangezogenen Framing-Experiment 2eigen Tversky und Kahneman (1981), dass die Versuchspersonen sehr sensibel auf die sprachHche Darbietung der Entscheidungs situation einer fiktiven drohenden Grippeepidemie reagieren, Je nach der Betonung von Geretteten oder Sterbenden bevorzugen die Befragten unterschiedliche medizinische NotfaUprogramme, Das Experiment belegt eindrucksvoll, dass selbst Entscheidungen iiber Leben und Tod nicht immer von den faktischen, „objektiven" Ergebnissen oder Auszahlungen abhangen, sondern bisweilen lediglich vom Prasentationsrahmen. Die materiellen Opportunitaten und Knappheiten sind in den beiden Varianten des Experiments deckungsgleich. Die sprachliche Prasentation unterscheidet sich allerdings an entscheidenden Stellen. Dieser Unterschied sorgt offenbar dafur, dass im Kopf der Versuchsperson unterschiedHche Bezugsrahmen aktiviert werden. Im Bezugsrahmen mit Geretteten als zentrale (sprachHche) GroBe wird daher ein anderes Notfallprogramm bevorzugt als im Bezugsrahmen mit Sterbenden als zentralem Faktor. Menschen sind offensichtHch grundsatzHch bereit, ein hoheres Risiko bei drohenden Verlusten als im Falle mogHcher Gewinne einzugehen. So interessant diese Konzepte im HinbHck auf die Vorhersage realen Verhaltens sein mogen, sind sie doch fur das hier zentrale Problem des Einflusses kultureUer Rahmenbedingungen nur begrenzt von Interesse. So lange die Ursachen der unterschiedlichen Situationsbewertung biologischen Konstanten zugeschrieben werden, sind sie zwar fiir die Sinninterpretation des Handekis relevant, konnen jedoch zu der Erklarung interindividueller Varianz — das heiBt unterschiedHchem Handeln verschiedener Akteure — wenig beitragen.

In diese Kategorie gehoren auch die neueren Entwicklungen iiber Fairnessnormen in okonomischen Entscheidungsmodellen, sofern diese Normen nicht expli:iit aus den gesellschaftlichen Bedingungen heraus begriindet werden. Ein derartiges Vorgehen lasst sich z.B. im Falle der generellen Modifiiiierung der Praferenzfunktion der Akteure feststeUen. Dem liblichen Eigeninteresse wird ein „Fairnessparameter" o.a. zugefugt, der z.B. die Relation der eigenen Auszahlungen im Vergleich zu Referenzpersonen ausdriickt (vgl. z.B. Bolton und Ockenfels 2000, Ockenfels 1999). Solange diese Parameter nicht selbst aus gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erklart werden (und damit z.B. eine systematische Varianz iiber verschiedene Kulturen hinweg aufweisen), entsprechen sie einer „biologischen" Konstante oder der Annahme, dass Menschen im Hinblick auf diese Parameter eine zufaUige Verteilung der moglichen Auspragungen aufweisen.

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So^ak Normen Das zweite mogliche Konzept zur Verbindung situationaler Determinanten und der Handlungsbewertung geht dagegen explizit auf die gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns ein. Allerdings wurde es bislang kaum mit dem Begriff des Framings in Verbindung gebracht (als Ausnahme siehe Esser 2000): Es handelt sich um das Konzept der sozialen Norm. Wie sowohl interpretative wie strukturfunktionalistische Ansatze immer wieder betont haben, konnen soziale Normen unsere Handlungen situationsabhangig steuern. Dariiber hinaus sind Normen auch in der Lage, unsere Vorstellung von der Adaquatheit dieser Handlung zu pragen. Besonders deutlich wird dies bei der Betrachtung des Phanomens der Lohngerechtigkeit. Offenbar scheint es allgemeine Gerechtigkeitsnormen zu geben, welche die Bewertung eines gegebenen Lohns beeinflussen. O b Arbeitskrafte aus Unzufriedenheit mit der Bezahlung kiindigen, hangt somit nicht nur von der absoluten Lohnhohe ab, sondern auch davon, inwiefern wir in einer bestimmten Situation diesen Lohn als gerecht empfinden (Liebig 1995, Dittrich und Carell 1979) Allerdings wirft die Verwendung dieses Konzepts der sozialen N o r m zwei zentrale Probleme auf: Erstens stellt sich natiirUch die Frage, wie eine derartige N o r m entstehen kann und warum sie stabil bleibt (vgl. Coleman 1991, s.a. Abraham 2006). Zweitens ~ und in diesem Zusammenhang bedeutsamer — ist der Umstand zu beriicksichtigen, dass Akteure sich nicht an Normen halten miissen. Dariiber hinaus ist zu bedenken, dass Normen in der Kegel allgemeiner Natur sind und fiir aUe Akteure in einer Population gelten. SoU also Varianz des Handelns durch unterschiedliche Situationsdefinitionen erklart werden — d.h. warum ein Akteurs so und ein zweiter anders handelt —, so werden Normen eher nicht zu dieser Erklarung beitragen konnen.

Essers Vrame-Sekktion Das von Esser vorgeschlagene Modell kann als Versuch betrachtet werden, die beiden vorangegangenen Modelltypen der Entstehung einer Situationsdefinition in einem iibergeordneten ModeU zu integrieren. Dies zeigt sich in dem Umstand, dass Esser zum einen haufig auf kognitive Gegebenheiten des menschlichen Organismus Bezug nimmt, die das Framing ermogUchen — was doch ein deutHcher Hinweis auf Gegebenheiten der menschHchen Natur ist. Zweitens weist Esser wiederholt darauf hin, dass soziale Normen als Sonderfall eines iibergeordneten Prinzips im Framing-Konzept betrachtet werden konnen (z.B. Esser 2000). Das von ihm verwendete Prinzip beruht auf der Idee, dass Akteure nicht standig alle mogHchen Handlung und deren Konsequenzen abwagen. Statt des sen identifizieren sie typische soziale Situationen (Frames), fiir die sie

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aus Erfahrung wis sen, welche Handlungsmoglichkeiten typischerweise existieren werden. Fiir dieses Set haben die Akteure quasi eine „fertig durchkalkulierte" Handlungsoption im Kopf (das Skript), auf dessen Basis sie dann handeln. In seiner Unterscheidung dieoretischer Framing-Ansatze nennt Stocke (2001, S. 94ff) dies einen schemabasierten Framing-Effekt, da es hier beim Individuum lediglich zu einer selektiven Aktivierung schematischer Wis sens- und Bewertungsstrukturen kommt. Am Beispiel der Ehe kann dies gut verdeutlich werden (vgl. Esser 2002). Die soziale Situation „frisch verheiratet" fuhrt zu einem „Ehe"-Frame, in dessen Rahmen eben nicht standig neue Alternativen zur Partnerschaft ausgelotet werden. Dies geschieht erst, wenn sich die Rahmenbedingungen stark verandern (wie z.B. durch einen entdeckten Seitensprung). Akteure entscheiden somit iiber die Anwendung von Frames, in deren Rahmen die Handlungsauswahl automatisiert werden kann und so Transaktionskosten — etwa in Form von Kalkulationskosten — reduziert werden konnen.^ Im folgenden wird dieses ModeU detaiUiert besprochen, um anschlieBend zu diskutieren, inwiefern das Problem der Sinnkonstruktion durch den Einbezug gesellschaftlicher Rahmenbedingungen damit tatsachUch gelost werden kann. 4 Ftaming als Ptozess und als Selektion Der idealtypische Verlauf einer Handlungssequenz unter Beriicksichtigung von Framing-Einfliissen kann in Anlehnung an Esser (2001, S. 261 ff.) in mehreren auf einander folgenden Schritten beschrieben werden. Esser spricht hier zwar nicht expUzit von einer Abfolge von Ereignis schritten und lasst wiederholt ankHngen, dass auch Gleichzeitigkeiten moglich sind, idealtypisch baut er den Verlauf aUerdings im Sinne einer Sequenz auf (vgl. v.a. die grafische Darstellung in Esser 2001, S. 268), die im Folgenden in sieben Schritten rekonstruiert wird. Sie orientiert sich inhaltlich stark an Fazios MODE-Modell (Fazio 1990, vgl. auch Esser 1996, S. 13).

Technisch gesehen skid die Esserschen Frames Annahmen iiber die reduzierte bicw. nicht lineare Elasti:^itat des Nutzens im Hinblick auf externe Anreize. Wahrend der „klassische" rationale Akteur auf jede Anderung der Rahmenbedingung mit einer veranderten Nutzenrelation zwischen zwei Handlungen reagiert, miissen fiir den „fi:amebasierten" Akteur bestimmte, z.T. erhebliche Schwellenwerte iiberschritten werden, ab derer dann tatsachlich eine neue Nutzenkalkulation und Anpassung erfolgt.

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Schritt 1: Ausgangspunkt: Gegehenheiten in der Situation Ausgangspunkt einer Handlungssequenz bilden fur Esser (2001, S. 261) die „in der Situation objektiv vorhandenen Objekte bzw. deren Eigenschaften". Da Esser die Objektivitat vorhandener Situationseinfliisse nicht weiter betont, scheint es sich hier u m keinen zentralen Aspekt 2u handeln — entscheidend ist er fiir das Modell ohnehin nicht. Die moderne Hirnforschung — die Esser wiederholt anfiiihrt — kann jedenfalls Belege dafur bieten, dass natiirlich auch reine HaUuzinationen ohne direkten „objektiven" Bezug Handlungen auslosen konnen.

Schritt 2: Wahmehmung Die Eigenaktivitat des Individuums beginnt mit der Beobachtung dieser „objektiven" Gegebenheiten: „Die Objekte werden zunachst physisch wahrgenommen'^' (Esser (2001, S. 261). Esser benutzt an dieser SteUe nicht die Annahme, dass diese Wahrnehmung objektiv, zutreffend und verzerrungsfrei ist, und vermeidet damit einen offenen Widerspruch zu wiederholt angefiihrten theoretischen Ansatzen — insbesondere aus der phanomenologischen Tradition — und empirischen Erkenntnissen — vorrangig aus der kognitiven Sozialpsychologie und Hirnforschung. Esser kniipft mit dieser Annahme auch an das beruhmte Thomas-Theorem an, dem zu Folge die subjektive Wahrnehmung und Definition die entscheidende Grundlage fiir das Handeki von Akteuren ist (Thomas und Thomas 1928).

Schritt 3: Aktivierung des Frame-Modelis Bereits im auf die konkrete Situation bezogenen Kognitionsprozess aktiviert das Gehirn „ein im Gedachtnis des Akteurs gespeichertes mentales Muster, ein bestimmtes inhaltliches Modell der Situation" (Esser 2001, S. 261). Dieses Modell bezeichnet Esser als Frame der Situation. Dieser Frame legt iiber erne spezifische inhaltliche Definition der Situation fest, welche Oberziele und Codes in der konkreten Situation gelten. „Der Code legt damit die Bewertxingen von mogHchen Handlungsergebnissen und somit eine bestimmte Praferenzordnung fest. Das Framing bedeutet damit die Selektion einer auf die spezielle Situation bezogenen Praferenz" (Esser 2001, S. 263). Der Frame ist ein kulturell beeinflusstes System und bildet die Grundlage der individuellen Orientierung, der Einstellung und des Handelns des Akteurs (vgl. Schritte 5 bis 7).

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Schritt 4: Aktivierung des Skript-Mo dells Im Zuge der Frame-Aktivierung „wird noch gedanklich gepriift, ob es ein im Reaktionsrepertoire gespeichertes inhaltliches Modell auch des Handelns fur den betreffenden Frame der Situation gibt" (Esser 2001, S. 261). Dieses HandlungsmodeU bezeichnet Esser als Skript des Handelns. Dieses Skript beinhaltet typische Handlungsablaufe bzw. Handlungsprogramme und impliziert Erwartungen iiber deren Wtcksamkeit in der speziellen, durch den Frame festgelegten Situation.

Schritt 5: Orientierung D e n Kern des Framing-Prozesses bilden die Frame- und Skript-Aktivierung. Die Schritte 5 und 6 sind unmittelbar darauf bezogen. „Die Selektion der Modelle fiir Situation und Handeln, von Frame und Skript also, kann dabei in einem jeweils unterschiedHchen Modus geschehen: mit oder ohne systematische Beobachtung von Folgen des Handelns, allein vergangenheitsbestimmt oder konsequenzenorientiert also" (Esser 2001, S. 261). Esser bezeichnet dies als Modus der Orientierung, der im Wesentlichen von der Pas sung der beobachteten Situation und des gedankUchen Modells abhangt, „vom Match zwischen vorhandenen und erwarteten ,Symbolen' also" (Esser 2001, S. 261). Die Verwendung des Begriffs „Orientierung" ist an dieser SteUe einerseits nahe Hegend, andererseits tragt sie zur Auslosung von Unklarheiten bei, da es Esser hier im Wesentiichen u m die Platzierung des Modus geht, der das AusmaB an Kalkulation und Alternativensuche anzeigt. Prinzipien des subjektiv erwarteten Nutzen setzen voraus, dass stets Alternativen zur Auswahl stehen und abgewogen werderi. Mit einem SEU-Argument — den Kosten der Informationssuche und des Abwagens — verlasst Essers Modell diese Linie: Bei hoher „Passung" von Modell und wahrgenommener ReaHtat werden Alternativen gar nicht mehr betrachtet. Dies lasst sich mit der herkommUchen Maximierungsregel von Theorien rationalen Handelns nicht ohne weiteres vereinbaren. Esser selbst raumt dies ein und spricht davon, dass es hier zu einem „Satisficing" statt einer Maximierung kommt (1990, S. 236).

Schritt 6: Einstellung Die Orientierung miindet schlieBlich je nach Auspragung in eine typische Einstellung auf die Situation, Die beiden Extremfalle siad einerseits die gewohnheitsorientierte Einstellung „mit der unmittelbaren Auslosung von Kognition, Affekt und Handeln" und andererseits die konsequenzenorientierte „Bildung

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einer Intention" (Esser 2001, S. 261 f). Diese beiden EinsteUungstypen unterscheiden sich wesentHch hinsichtlich ihres Grads an Aktivierung des Organismus und Bereitschaft zur Suche nach MogHchkeiten und Alternativen.

Schritt 7: Handeln Das sichtbare Handeln „ist ,nur' noch die motorische Ausfuhrung der zuvor gebildeten ,Einstellung' zur Situation" (Esser 2001, S. 262). Mit einem Hinweis auf Ausfuhrungsfehler und unintendierte Folgen deutet Esser an, dass auch dieser Schritt nicht grundsatzlich unproblematisch ist. Das dargesteUte 7-Schritte-Modell verbindet letztHch die gegebene Situation mit dem individuellen Handeln. Im Kern steht die Aktivierung je eines Frames und eines Handlungsskripts. Esser betrachtet die Aktivierung von Frame und Skript als weitreichenden Selektionspro^ss, fur dessen Analyse er der „ein2igen brauchbaren Theorie der Selektion von Handlungen bzw. Aktivitaten" (Esser 2001, S. 268) vertraut, der Wert-Erwartungs-Theorie als Variante der Theorie rationalen Handelns, Menschen konnen die Komplexitat der Welt ohnehin nicht erkennen, sondern verfiigen mittels mentaler Vereinfachungen nur iiber eine begrenzte RationaHtat. Diese schlagt sich auch in einem begrenzten Repertoire an Modellen der Orientierung und des Handelns nieder. Die Selektion von Frame und Skript betrachtet Esser (2001, S. 269) als „keineswegs jbewusste' Vorgange, sondern es wird angenommen, dass die Akteure nach diesen Regeln einfach ,funktionieren'". Fiir die Erklarung seiner Selektionsprinzipien greift Esser (2001, S. 269) auf Erklarungsmuster der Neurophysiologie und der Evolutionsbiologie zuriick, warum „das Gehirn erst dann ,aktiv' wird, wenn es u m neue und wichtige Dinge geht". Ausgangspunkt der Frame-Selektion ist ein nicht-kontrolHerbarer Vorgang des Abgleichs wahrgenommener Strukturen und gespeicherter Modelle. Es geht also um die „Passung" wahrgenommener und erwarteter Objekte. Genau genommen besteht der Selektionsprozess bei Esser allerdings aus zwei Arten der Selektion: die Selektion des Modells und des Modus.

Selektion des Modells Bei der Modellselektion geht es Esser um zweierlei Modelle: Einerseits um Modelle der Situation (Frames), andererseits um Modelle des Handelns (Skripte). Ein gedankHches Modell der Situation beinhaltet insbesondere Oberziele und Codes, die fiir die entsprechende Situation relevant sind. Zur Auswahl stehen stets zwei Modelle: ein naheliegendes, plausibles Ausgangsmodell und eine eindeutige Alternative mit anderen Oberzielen und Codes. Esser besteht

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auf dieser binaren Codierung (1991, S. 19, auch 2001, S. 264f), wenngleich sie empkisch und theoretisch nicht unbedingt 2wingend ist — ModeUierung und Analyse vereinfacht sie jedenfalls. Esser bezieht die Modellselektion nicht expUzit auf die o.g. einzeln ausgefiihrten Schritte, daher bleibt sie in Bezug auf die Schiittabfolge etwas vage. Inhaltlich geht es bei der Modellselektion um die Aktivierung von Frame und Skript (Schritte 3 und 4) sowie u m die Entscheidung iiber die Art des Modus (Schritt 5). Selektionskriterien sind die „Erwartungen iiber die ,Geltung' des einen oder des anderen Modells einerseits, und den Bewertungen gewisser Folgen, wenn den Vorgaben des einen oder des anderen ModeUs" (Esser 2001, S. 270) entsprochen wird. Die erwartete Modellgeltung entspricht dem Grad der Passung wahrgenommener und erwarteter Objekte. Dieser Match setzt sich aus drei Komponenten zusammen (Esser 2001, S. 270): der kognitiven Zuganglichkeit des Modells in der Identitat des Akteurs, der wahrgenommenen Existenz erwarteter Objekte und der Abwesenheit von „Storungen", die nicht vereinbar mit dem Modell sind. Je vollstandiger diese drei Komponenten vorHegen, desto groBer ist die Pas sung und des to sicherer kann sich damit ein Akteur iiber die Geltung des entsprechenden Modells fiir die Situation sein. Das zweite Selektionskriterium, die Bewertung der Konsequenzen bei einer Orientierung an einem bestimmten Modell, beriicksichtigt Nutzen- und Kostenaspekte. Gemeint sind damit positive und negative Gratifikationen, die der Akteur „mit der Aktivierung eines gedankHchen Modells assoziativ erlebt, diejenigen, die unmittelbar mit den inneren Empfindungen und Affekten dabei verbunden sind, aber auch diejenigen, die er als Folgen des Handelns itn betreffenden Rahmen erwartet" (Esser 2001, S. 271).

Selektion des Modus Bei der Modus-Selektion geht es darum, wie elaboriert die gespeicherten Modelle durchforstet und die Situation reflektiert wird. Esser (2001, S. 271) geht vereinfachend von zwei Alternativen aus: „der automatisch-spontanen Reaktion (as-Modus) und der reflexiv-kalkuHerenden Uberlegung (rc-Modus)". Ist die wahrgenommene Pas sung von Modell und Situation hoch, erfolgt ohne besonderen Kalkulationsaufwand die automatisch-spontane Aktivierung des Modells. Nur bei einem „Mismatch" von erwarteten und wahrgenommenen Strukturen, bei besonders wichtigen Angelegenheiten und gravierenden Storungen wird diese automatische Aktivierung unterbrochen und ein Evaluationsprozess des Organismus in Gang gesetzt. O b es zum reflexiv-kalkuHerenden Modus kommt, hangt von drei Faktoren ab: „Je hoher die Motivation, zu einem tatsachUch und nicht nur fiktiv ,situationsgerechten' Frame bzw. Skript zu kommen, je geringer der dazu erforderliche Aufwand und je hoher die zur Verfii-

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gung stehenden Opportunitaten, umso eher komrat der reflexiv-kalkulierende rc-Modus 2um Zuge" (Esser 2001, S. 272). Diese Modus-Selektion gilt sowohl in Bezug auf die Wahl des Frames als auch in Bezug auf die Wahl des Handlungsskripts. Fiir das von Esser wiederholt angefuhrte Alltagshandeln ist die Passung von Modell und Wahrnehmung meist auBerst hoch, so dass ohne besondere Reflexion ein Frame-ModeU tnit einem dazu gehorigen Skript zum Zuge kommt — d.h. selegiert wird. Der Wechsel eiaes Bezugsrahmens kommt grundsatzUch nur bei einem Mismatch von mentalem Modell und wahrgenommener Situation in Frage. Zentrale GroBe fur ein Refraiming (einen Modellwechsel) oder eine Reflexion (einen Wechsel meist vom as- in den rc-Modus) ist das Refraiming- bzw. Reflexionsmotiv. Dieses verhalt sich je nach Grad des Mismatches und der flankierenden Bedingungen dynamisch. Esser (2003, S. 276f) modelHert daher Schwellenwerte, bei denen es zu einem Bezugsrahmenwechsel kommt. Als Fazit lasst sich festhalten, dass Esser ein komplexes Handlungsmodell vorlegt, dass sowohl unvollstandige Information, die Reaktion der Akteure auf diese und den Einfluss libergeordneter Rahmenbedingungen — insbesondere kultureller und sozialer Art — auf die Situationsdefinition der Akteure beinhalten soil. In welchem Verhaltnis die letzte Komponente zu der Konzeption Webers steht, soil im folgenden Abschnitt diskutiert werden.

5 Webets Konzept des Handelns und das Ftaming-Modell Im folgenden Kapitel soil die Frage im Mittelpunkt stehen, inwiefern die Essersche Theorie mit Webers Verstandnis von Sinn und den von ihm vorgeschlagenen Handlungstypen kompatibel ist. Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, als das Webersche Konzept die Basis fiir ganz unterschiedUche theoretische Ansatze darstellt und ein solcher Abgleich somit erste Hinweise darauf geben kann, ob das Framing-Mo dell wirklich das behauptete Integrationspotential besitzt. Esser selbst bezieht sich wiederholt auf Weber als „allseits unumstrittenen Klassiker der Soziologie" (Esser 2003, S. 153) und bezieht sein Framing-ModeU auch ganz expHzit auf die Integration der Weberschen Handlungstypen (Esser 2003). Weber ging davon aus, „daB die theoretischen Konstruktionen der Soziologie auf dem GrundmodeU der Motivation eines 'hypothetischen Handelnden' aufgebaut werden sollten" (Rex 1970, S. 107). In §1 der „Soziologischen Grundbegriffe" definierte er Soziologie als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursachHch erklaren will" (Weber 1980, S. 1). Z u diesem Zweck bestimmt er den Begriff des „Handelns" genauer: „*Handeln' soU dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob auBeres oder innerHches Tun, Unterlassen oder Dulden)

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heiBen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden" (Weber 1980, S. 1). Diese Aufdeckung des Sinns ist dann auch zentxale Bestandteil soziologischer Erklarung: „Soziologie [...] soil heiBen: eine Wissenschaft, welches soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursachHch erklaren will (Weber 1980, S. 1). Im Folgenden soil das Frame-Konzept im Hinblick auf drei zentrale Punkte dieser klassischen Definition diskutiert werden: Die Modellierung der sozialen Konstxaktion von Sinn, die Erfassung der damit in Zusammenhang stehenden unterschiedHchen „idealtypischen" Handlungsmotive und die Frage der Erfassung sozialen Handekis.

Die Konstruktion von Sinn Diese Betonung der Bedeutung des Sinns fur die handlungstheoretische Erklarung ist auch die Basis von Essers Theorie. Esser betrachtet es als grundlegend fiir soziologische Erklarungen, korrekte Sinn-Zuordnungen zu finden (z,B. Esser 1996, S. 11). Dies sei der Grund, warum Rational-Choice-Erklarungen oft mit dem Hinweis auf unrekonstruierte Sinn-Zusammenhange kritisiert werden (Esser 1990, S. 239). Im Kern betrachtet Esser Sinn als „Definition der Situation" — geleistet wird sie durch den individueU (an-)erkannten Bezugsrahmen fiir die spezifische Situation (Esser 2001, S. 1). Das Konzept der Frames scheint sicherlich geeignet, die Suche nach dem Zusammenhang zwischen subjektiven Sinn und gesellschaftUchen Rahmenbedingungen zu strukturieren. O b es allerdings in der vorUegenden Fas sung den ad hoc-Charakter von Briickenannahmen beseitigen kann, scheint fragHch zu sein. Dass reale Akteure ihre Situationen rahmen und ihren kognitiven Entscheidungsprozess begrenzen, steht wohl auBer Frage. Solange jedoch keine konsistenten Theorien im Hinblick auf die Ausbildung von Frames in Abhangigkeit von den jeweiligen gesellschaftUchen Bedingungen existieren, bleibt der ad hoc-Charakter derartiger Erklarungen erhalten. Dies wird besonders deutHch, wenn man Essers Anwendung auf Ehe und Scheidung betrachtet. Es scheint plausibel und sinnvoll anzunehmen, dass es so etwas wie einen „Ehefram e " oder einen „honey moon-Frame" gibt (Esser 1999, Esser 2002), wann sie sich jedoch mit welchen Eigenschaften entwickeln, bleibt weitgehend im Dunkeln. O h n e eine klare Theorie zur Erklarung des Entstehungsprozesses bleibt die angestrebte Verbindung von Mikro- und Makrostrukturen noch undeutHch. Stellenweise erscheint die zusatzliche Komplexitat der Theorie daher vorrangig psychologischer Natur und ihr Nutzen fiir die soziologische Forschung und Theoriebildung muss sich erst noch erweisen (siehe hierzu auch Kron 2004). Z u Gunsten des Esserschen Modells ist allerdings festzuhalten, dass es immerhin deutlich iiber den sonst liblichen Standard soziologischer Theoriebildung in

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Sachen Mikco-Makro-Verkniipfung und Erklarung der Entstehung vorhandener Strukturen hinausgeht. In einem zentralen Punkt bleibt das Modell jedoch hinter den Fotderungen interpretativer Ansatze zuriick. Esser konzipiert den Einfluss der sozialen Stxukturen auf die Situationsdefinition weitestgehend als nicht-interaktive Effekte: Die Akteure nehmen soziale Strukturen wahr und iibersetzen diese in Situationsdefinitionen, ohne dass dafur eine direkte Interaktion mit anderen Akteure notwendig ware. Dies mag in vielen Fallen angemessen sein, in vielen anderen Fallen ist es jedoch notwendig, die Situationsdefinition selbst als Ergebnis von Aushandlungsprozessen und anderen Interaktionsmodellen zwischen direkt interagierenden Akteuren zu fassen (vgl. hierzu Abraham 2003). Gerade in Situationen gegenseitiger Handlungsabhangigkeit (wie z.B. Tauschsituationen) ist es notwendig, eine geteilte Situationsdefinition mit dem Partner zu erreichen. Esser iibersieht keinesfalls, dass fiir einen Akteur auch und insbesondere das Verhalten anderer Akteure relevant ist und dass aggregiertes soziale s Handeln zu kollektiven Effekten fuhrt. Als kollektiven Effekt zahlreicher individueller Framing-Prozesse sieht Esser „soziales Framing" an: Der voUstandige Durchlauf zahlreicher individueller Prozesse beginnend bei der sozialen Situation iiber die Frame-Selektion der Akteure und das individuelle Handeln bis hin zu neuen, aggregierten sozialen Situationen bezeichnet Esser (2001, S. 498) als soziales Framing mit dem Effekt der Herausbildung einer „sozialen Konstitution". Bei der Betrachtung der individuellen Handlungs- und damit auch der Framing-Situation geht Esser allerdings durchgehend von Situationen aus, die er mit der Wert-Erwartungs-Theorie modeUiert. Explizit interaktive und strategische Aspekte, wie sie etwa selbst mit einfacheren spieltheoretischen IVQtteln relativ unaufwendig modellierbar waren, integriert Esser nicht. Eine Erweiterung der handlungstheoretischen Modellierung der FrameAuswahl u m derartige strategische Aspekte wixrde die umfassende Konzeptualisierung der Entstehung von Sinnzusammenhangen sozialen Handelns allerdings erleichtern.

Dk Erfassung unterschie ditcher Handlungstypen Weber formulierte deutHch die Notwendigkeit, das Handeln individueller Akteure in den Mittelpunkt der soziologischen Erklarung zu stellen. E r will jedoch die ganze empirisch beobachtbare Breite menschlicher Handlungsmotive beriicksichtigt sehen. Hierzu unternimmt er den Versuch, eine typisierende „Klassifikation der Bestimmungsgriinde sozialen Handelns, die die Modalitaten der Orientierung sozialen Handelns in ihrem reinen Typus darlegt", zu entwerfen (Winckeknann 1976, S. 18). Diese Unterscheidung umfasst vier Sinntypen des menschlichen Handelns:

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a) Unter Zweckrationalitat versteht er soziales Handeln, das bestknmt ist „dutch Erwartungen des Verhaltens von Gegenstanden der AuBenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als 'Bedingungen' oder als 'Mitte? fur rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke" (Weber 1980, S. 12). Davon unterscheidet er b) wertrationales Handeln, bestimmt „durch bewuBten Glauben an den — ethischen, asthetischen, religiosen oder wie immer sonst zu deutenden — unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solches und unabhangig vom Erfolg" (Weber 1980, S. 12), c) affektuelles, insbesondere emotionales Handeln, bestimmt „durch aktuelle Affekte und Gefuhlslagen" (Weber 1980, S. 12) und d) traditionales Handeln, bestimmt „durch eingelebte Gewohnheit" (Weber 1980, S. 12). Fiir Weber handelt „2weckrational", „wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen moglichen Zwecke gegeneinander rational abwagt, also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt. Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann dabei ihrerseits wertrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational" (Weber 1980, S. 13). Allerdings ist Handeln, insbesondere soziales Handeln, sehr selten „nur in der einen oder der anderen Art orientiert", was allzu leicht iibersehen oder vergessen wird, und ist „absolute Zweckrationalitat des Handelns ... nur ein itn wesentHchen konstruktiver Grenzfall" (Weber 1980, S. 13). D e n n wir haben es bei diesen „Arten der Orientierung" mit Abstraktionen zu tun, „denen sich das reale Handeln mehr oder minder annahert oder aus denen es — noch haufiger — gemischt ist" (Weber 1980, S. 13). O b diese Art von Klassifikation fiir die Soziologie zweckmaBig ist, kann deswegen auch „nur der Erfolg ergeben" (Weber 1980, S. 13). In welchem Verhaltnis steht nun das Essersche Modell zu dieser Klassifikation sozialen Handelns? Erstens lasst sich hier untersuchen, inwiefern diese vier Typen des Handelns durch das Framing-Modell erfasst werden konnen. Ein entsprechender Vergleich macht deutlich, dass Esser zweckrationales Handeln als dominantes Grundprinzip verwendet. Indem die Akteure mehr oder weniger rationale Entscheidungen hinsichtlich der Anwendbarkeit bestimmter Frames treffen, bleibt die Zweckrationalitat das bestimmende Grundprinzip des HandlungsmodeUs, auch wenn in den Frames die Abwagung von Folgen und Nebenfolgen eingeschrankt sein kann (aber nicht muss). Esser (2003, S. 163) folgert daher: „Das zweckrationale Handeln lasst sich vor diesem Hintergrund leicht einordnen. Es ist der Spezialfall des Modells der Frame-

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Selektion, bei dem der ,rc'-Modus der elaborierten Informationsverarbeitung erreicht wird". In das Frame-Modell integrierbar ist auch der Fall des traditionellen Handelns. Ubersetzt in die Esserschen Kategorien bedeutet dies, dass der Match zwischen Modell und wahrgenommener Realitat bei der Frame-Selektion perfekt ist. Im Rahmen dieses Frames wird dann ebenfalls ein automatisches Skript aktiviert, das bestimmte Handlungen vorschreibt. Ergebnis ist eine Handlungsroutine, die ausgefiiihrt wird, weil dies „eben immer schon so gemacht wurde". „Der Grundmechanismus diirfte die alltagliche symbolischinteraktive Bestatigung der jeweiUgen mentalen Modelle" sein (Esser 2003, S. 163). Traditionales Handeki ist somit ein Unterfall des routinierten Handekis (wie das Zahneputzen), allerdings ein fiiir die Soziologie besonders relevanter: Die Routine wird durch den Sinnbezug auf andere Akteure zu sozialem Handeln und damit durch soziale Rahmenbedingungen erklarbar. Hier wird auch deutlich, dass die von Esser so haufig zitierte Starke des Modells, routiniertes Handeki erklaren zu konnen, fur die soziologische Analyse nur begrenzt sinnvoll ist. Erst das durch den Bezug auf die soziale Umwelt bedingte routinierte Handeln — im Weberschen Sprachgebaude eben traditionelles Handeln — ist soziales Handeln und damit fiir den Soziologen von besonderem Interesse. Auch fiir das affektuelle Handeln geht Esser (wie beim traditionalen Handeln) von einer perfekten Frame-Aktivierung aus — verbunden allerdings mit „heiBen Emotionen". Beim traditionalen Handeln ist der Frame fest, aber quasi leidenschaftslos mit einem bestimmten Handlungsskript verbunden. Beim affektuellen Handeln ist diese Verbindung ebenfalls fest, aber sprichwortlich leidenschaftlich mit einem Handlungs skript ausgestattet. Traditionales und affektuelles Handeln liegen aus dem Blickwinkel des Framing-Modells also recht nahe beieinander. Sie unterscheiden sich darin, dass „beim affektuellen Handeln bei aller Spontaneitat und Unbedingtheit die interessierenden und relevanten ,Zwecke' immer noch im Blick sind, wahrend das traditionale Handeln eher aus einem leidenschaftslosen Ritualismus der uniiberlegten und ,dumpfen' Mittelwahl besteht" (Esser 2003, S. 164). Auch den vierten Typus des wertrationalen Handelns will Esser mit seinem Framing-Modell er fas sen, raumt allerdings ein, dass die Integration nicht ganz so einfach ist (Esser 2001, S. 31 Iff, Esser 2003, S. 165). AuBerlich unterscheidet sich fur Esser (2003, S. 184f) wertrationales Handeln zunachst wenig vom automatisch-spontanen Handeln — (organismus-)intern gibt es allerdings den bedeutsamen Unterschied, dass rationale Begriindungen fiir die Wertgeltung gegeben werden konnen. Werte betrachtet Esser (2003, S. 166) als SpezialfaUe mentaler Modelle, als VorsteUungen iiber einen wiinschenswerten Zustand. Gilt ein Wert fraglos und unbedingt, so kommt es zu wertrationalem Handeln. Hier kommt es also nicht zu einem perfekten Match von Modell und wahrgenommener ReaHtat, sondern

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2u einer Fixierung durch den Akteur, die selbst dann aufrecht erhalten bleibt, wenn massive Storungen vorliegen (Esser 2003, S. 173). Insofern kommt es hier nicht 2ur Wirkung eines Modells der Wirklichkeit, sondern eines Modells ftir die Wirklichkeit. Die Entstehung von Werten sieht Esser (2003, S. 169f) einerseits in der Pragung durch Sozialisationsinstanzen und -ereignisse, andererseits in der Einbettung in Beziehungssysteme und Bezugsgruppen, was auch 2ur Wirkung selektiver Anreize (Esser 2003, S. 184) fuhren kann. Das Interesse des Individuums am Festhalten an spezifischen Werten und Wertsystemen sieht Esser (2001, S. 317) in iibergreifenden konstitutionellen Interessen, also darin, dass iibergreifendere Systeme des Zusammenlebens gefahrdet sein konnen, wenn bestimmte partikulare Werte aufgegeben werden, Als Beispiele nennt er (2003, S. 174) die Unbedingtheit des Klonverbots oder des Folterverbots, auch das Festhalten an eigentlich unhaltbaren wissenschaftHchen Paradigmen oder das Fortfiihren einer zerriitteten ehelichen Beziehung. Wiirden die damit zusammen hangenden Werte aufgegeben, kame es im Extremfall zu einem mentalen Zusammenbruch des Tatigkeits- oder gar Lebenskonstrukts. Esser umgeht mit dieser Wendung das Problem, das ein kollektives Interesse an der Geltung und Verhaltenswirksamkeit von Werten nicht das zentrale Argument fur ein Individuum sein kann, diesen Normen zu folgen — es sei denn es handelt sich um einen reinen normgesteuerten H o m o sociologicus, den Esser ja gerade nicht fur ein empirisch zutreffendes Modell menschHchen Handekis halt.

So^ales Handeln und das Frame-Modell Wie diese Diskussion zeigt, scheint die Integration der unterschiedHchen Handlungstypen Webers in das Frame-Modell moglich zu sein. Fiir Weber war allerdings nicht Handeln, sondern so^ales Handeln der zentrale Fokus soziologischer Analysen. „Soziales" Handeln unterscheidet sich dadurch von anderen Weisen des Handelns, dass es „seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist" (Weber 1980, S. 1). Betrachtet man das Frame-Modell vor diesem Hintergrund, so zeigt sich, dass soziales Handeln nicht per se integriert wurde. Der sinnhafte Bezug des eigenen Handelns auf andere Akteure kann im wesentHchen durch zwei Mechanismen erfolgen. Erstens kann die Auswahl eines Frames bw. Modells durch die soziale Umwelt beeinflusst werden. Dies ist durchaus mit dem Frame-ModeU vereinbar: Esser verweist unter Bezug auf Max Weber darauf, dass die Gesamtheit der in einem Kollektiv geteilten mentalen Modelle als Kultur bezeichnet werden kann (Esser 2003, S. 159). Allerdings beinhaltet das FrameModell keine Aussagen dariiber, welche kulturellen (d.h. Makro-) Gegebenhei-

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ten 2u welchen Frames fiihren. Die Wirkung des kulturellen Rahmens auf die Frame-Selektion und damit die Situationsdefinition muss iiber Bnickenannahm e n in das Modell nachtraglich integriert werden. Allerdings muss betont werden, dass auch Weber keine konsistente „Theorie" fur die Wirkung kultureller Bedingungen auf die Sinnkonstruktion des Handelns entwickelt hat. Zweitens kann sich soziales Handeln insbesondere aus der Beriicksichtigung der Handlungsfolgen ergeben, die aus (erwarteten) Handlungen anderer Akteure resultieren konnen. Diese Situation der strategischen Interdependent kann sich sowohl in der Kalkulation der Handlungsfolgen (und damit dem Nutzen eines Frames) als auch in der Relevanz unterschiedlicher Frames niederschlagen. Haufig sind die Ergebnisse des Handelns nicht mehr nur von den eigenen Handlungsentscheidungen, sondern auch von denen anderer Akteure abhangig (und umgekehrt). Hier ware zu untersuchen, inwiefern derartige Situationen zu anderen Situationsdefinitionen fiihren als Handlungen unter strategischer Unabhangigkeit. Die Integration derartiger Modelle — wie z.B. der Spieltheorie — in das Essersche Konzept scheint zwar nicht unmoglich, wird aber durch die Komplexitat des Frame-Modells nicht einfach zu reaHsieren sein. AbschUeBend sei an dieser Stelle erwahnt, dass die Diskussion der Weberschen Handlungstypen nicht die einzige Moglichkeit darstellt, Essers FramingKonzept unmittelbar auf Webers klassische Ausfuhrungen anzuwenden — auch wenn Esser selbst v.a. die Handlungstypen fur sein Konzept als sehr bedeutend darstellt (v.a. Esser 2003). Auch Webers Diskussion unterschiedHchster Typen von HandlungsregeknaBigkeiten bietet unmittelbare Beziige zur kritischen Anwendung des Framing-Konzepts. Weber (1980, S. 14ff) steUt dar, dass bei Phanomenen wie Brauch, Sitte, Mode, Konvention und Recht die Akteure jeweils gleiche Sinnzusammenhange sehen und so zu gleichen Handlungsablaufen gelangen. Webers Sicht auf die Entstehung sozialer Ordnung lasst sich daher gut mit dem Framing-ModeU verbinden. Allerdings verweist schon Weber (1980, S. 15) hierbei expHzit auf die Bedeutung interaktiver Aspekte und strategischer Interdependenzen, schHeBlich sei bei den genannten Phanomenen insbesondere die Orientierung an den subjektiven Interessen und den Erwartungen iiber das Verhalten Anderer von Bedeutxing. Dies fiihrt dazu, „dass, wer sein Handeln nicht an dem In teres se der Anderen orientiert — mit diesen nicht ,rechnet' — (...) Gefahr lauft, an eigenem Interesse Schaden zu nehmen" (Weber 1980, S. 16).

6 Fazit und Ausblick Hartmut Esser legt mit dem Framing-ModeU menschHchen Handelns eine Theorie vor, welche die Breite menschlichen Handelns abbildet wie kaum ein

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anderes alternatives Handlungsmodell. Dies wird in einem Vergleich mit Webers Handlungstypen deutlich, die wohl als das umfassendste Konzept des Handelns von den meisten Soziologen akzeptiert wird. Allerdings zeigt sich gerade im Vergleich mit Webers Definition des so^alen Handelns, dass strategische Situationen und gegenseitige Beeinflussung von Akteuren bei der Situationsdefinition (d.h. der Auswahl eines Frames) nicht expli2it modelliert werden. Esser scheint zwar ein mit Weber kompatibles Modell vorzulegen, das jedoch sowohl im Vergleich zu Webers eher wenig ausgefuhrter handlungstheoretischer Konzeption als auch der „klassischen" Handlungstheorie deutlich komplexer ausfallt. Im Hinblick auf die Komplexitat des Modells fallen zwei Aspekte auf. Einerseits ist das Modell deshalb so komplex, weil es eine Vielzahl von Ebenen und Aspekten in sich vereinigt, die inhaltlich und von der Forschungstradition her schwer vereinbar sind. Ziel Essers ist es allerdings, einseitige Betrachtungsweisen der Soziologie, Psychologic und Okonomie zu vermeiden und die DiszipUnen zu einem integrativen Konzept zusammenzufiihren. Aus seiner Sicht ist ihm dieser groBe Wurf gelungen: „Das Framing-Konzept ist bereits eine ,general theory of action'!" (Esser 2001, S. 330). Andererseits fiihrt die Zusammenfiihrung schwer zu vereinigender Ebenen und Aspekte zwangslaufig zu holprigen und unsauber wirkenden Aspekten der Modellierung. Beispielsweise betrachtet Esser das SEU-Konzept als grundlegend fiir seine Modellierung, setzt es an einigen Stellen aber doch klammheimlich auBer Kraft. Es wird sich auch zeigen miissen, ob sich Vertreter von Disziplinen, die Esser in seinem Modell beriicksichtigt, mit der integrativen Kraft der Modellierung anfreunden konnen, die laut Esser letztlich doch unter der Oberregie eines Ansatzes rationalen Handelns funktioniert. Letztlich wird die weitere Forschung zeigen, welche Vorteile die komplexere Modellierung der Handlungsebene fur die soziologische Analyse von Makrophanomenen bringen wird.

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Die Selektivitat von Sinn. Ubet die Sinnkonzeptionen und Sinnformen des Struktuttheoretischen Individualismus und der Systemtheotie und ihre methodologischen Pramissen und Implikationen Rainer Schutt^eichel

1 Einleitung Ein Beitrag, der sich mit „Sinn" befasst und dabei vergleichend verschiedene Konzeptionen analysieren soil, ist gut beraten, sich auf zwei Vorbetrachtungen einzulassen. Eine erste Vorbetrachtung muss dem soziologischen Konzept „Sinn" gelten. „Sinn" ist vielleicht der Zentralbegriff der Soziologie schlechthin. Ob es nun um Handeln und Erleben, um Kommunikationen und Interaktionen, um soziale Differenzierungen, kulturelle Welten oder Gesellschaftsformationen geht — auf all diesen Wegen von den Mikroebenen bis in Makrobereiche hinein wird die soziale und die soziologische Bestimmung der sozialen Phanomene in allererster Linie iiber den Sinnbegriff vorgenommen. Die soziale Welt ist, wie dies Alfred Schiitz (1932) pragnant formulierte, eine sinnhaft aufgebaute Welt. Man darf aber nicht davon ausgehen, dass „Sinn" und „Bedeutung" dieses Ausdrucks fest umrissen sind. „Sinn" gehort zu den nomadisierenden Ausdriicken, die in unterschiedlichsten Sprachspielen eine tragende Rolle spielen konnen und dabei eine hohe Affektionskraft entwickeln. Je nach Bindungsform verandert dieser Ausdruck seine Semantik betrachtlich, was dazu fiihrt, dass diese im Laufe der Soziologiegeschichte betrachtlich an Extension zu-, aber ebenso betrachtlich an Intension abgenommen hat. Es ist nicht iibertrieben zu sagen, dass die Karriere von „Sinn" in der Soziologie auf seine zahlreichen Aquivokationen zuriickzufiihren ist. In einer ersten Vorbemerkung wird also in groben Ziigen die soziologische Semantik des Sinnbegriffs skizziert. Es kommt jedoch noch eine zweite Schwierigkeit hinzu. Es wird sich als ratsam herausstellen, zwischen einem allgemeinen Sinnkonzept und den verschiedenen Sinnformen zu unterscheiden. Unter dem Sinnkonzept wird die grundsatzUche Konzeption von Sinn verstanden bzw. das Amalgam der verschiedenen Vorstellungen, die in eine Konzeption von Sinn einflieBen. Als Sinnformen werden die verschiedenen Phano- oder Aggregationstypen von Sinn etwa in Gestalt des subjektiven, sozialen, kultureUen oder nomischen Sinns bezeichnet. Die Sinnkonzepte von Theorien las sen sich im Rahmen von Begriffsanalysen oder Begriffsvergleichen miteinander kontrastieren. Dies gilt

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Rainer Schiitzeichel

jedoch nicht fiir die Sinnformen. U m die Differenzierung der verschiedenen Sinnformen zueinander in Beziehung setzen zu konnen, ist es erforderlich, auf die Forschungslogik von Theorien einzugehen. Die Forschungslogik von Theorien ist, so die These, fur den theoretischen wie den „sinnhaften" Aufbau von Theorien zustandig. Forschungslogiken lassen sich prknar mit Hilfe der Leitfragen identifizieren, die von den Theorien gestellt werden. Die zweite Vorbemerkung gilt also dem Problem des Vergleichs von Forschungslogiken. Im vorliegenden Fall Hegen zwei unterschiedliche Leitfragen vor. Der Strukturtheoretische Individualtsmus macht das Problem der (kausalen) Erklarung von sozialen Phanomenen zum Ausgangspunkt seiner Theoriebildung, die Systemtheorie das (funktionale) Problem der Reproduktion von sozialen Phanomenen im Medium Sinn. Die Unterscheidungen von Sinnformen sind, so wird sich zeigen, auf die spezifischen Forschungslogiken unserer beiden theoretischen Ansatze zugeschnitten. Das soziologische Konzept des „Sinns" verweist also unmittelbar auf die methodologische Problemstellung von Forschungslogiken. An diese beiden Vorbemerkungen schHeBt die Analyse der Sinnkonzepte und der Sinnformen des Strukturtheoretischen Individualismus und der Systemtheorie an. HinsichtUch der Sinnkonzepte werden wir zu dem Ergebnis kommen, dass man eine „identitatstheoretische" Konzeption bei Esser von einer „differenztheoretischen" Zugangsweise bei Luhmann unterscheiden kann. Die identitatstheoretische Konzeption verkniipft verschiedene Sinnkonzeptionen und Sinnformen, die differenztheoretische gibt „Sinn" eine neue Funktion als Medium. Was die Sinnformen als die verschiedenen Aggregationsformen von Sinn angeht, so ist hier prima facie die Differenz erhebUch, weil der Strukturtheoretische Individualismus gemaB seiner Forschungslogik mit einer der Systemtheorie fremden Unterscheidung von subjektivem und sozialem Sinn arbeitet. Bei einer genaueren Analyse wird sich aber herausstellen, dass auch fiir die Systemtheorie diese Unterscheidung in Gestalt der tragenden theoretischen Figur der „doppelten Selektivitat von Sinn" konstitutiv ist. Diese Figur teilt sie mit dem theoretischen Ansatz von Esser, verarbeitet sie aber aufgrund ihrer Forschungslogik in einer anderen, eingeschrankten Weise, die zu einer Selbsthalbierung der Systemtheorie fuhrt. Die Gemeinsamkeiten horen also dort auf, wo im Zuge der voneinander abweichenden Forschungslogiken diese Theoriefigur unterschiedUch interpretiert wird und entsprechend unterschiedliche Sinnformen ins Spiel kommen. Die Forschungslogik des Strukturtheoretischen Individualismus ist auf die Erklarung der Selektion von Sinn angelegt. Sie fragt danach, warum welche Sinnselektionen im Bereich des sozialen und subjektiven Sinns vorgenommen werden und nicht andere Selektionen. Die Systemtheorie entzieht sich, wie schon gesagt und wie noch naher auszufuhren sein wird, aus unterschiedHchen Griinden diesem explanativen Ansatz. Dort, wo sie versucht, Warum-Fragen zu beantworten, kommt es zu einem Sammelsurium von unterschiedHchen

Sinn bei Esser und Luhmann im Vergleich

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Erklarungsskizzen, die von methodologisch-individualistischen bis hin zu funktionalistischen Erklarungsmustern reichen. Im Rahmen ihrei: Forschungslogik gilt ihr vornehmliches Interesse der Frage, wie soziale Systeme respektive „soziale Ordnungen" moglich sind. Wie konnen Operationen an Operationen anschlieBen? Wie beantwortet nun der Strukturtheoretische Individualismus diese von der Systemtheorie aufgeworfene Frage? Beziiglich dieser Frage konnen zwei Losungen unterschieden werden, eine individualistische und eine kollektivistische. Dabei geht es nicht um einen methodologischen Individualismus oder methodologischen KoUektivismus, die unterschiedliche Antworten auf das Problem der Erklarung sozialer Phanomene bzw. der Ursachen und Griinde fiir die „Selektion" von Sinngehalten darsteUen. Davon zu unterscheiden ist ja die Frage, wie der so selektierte Sinn in einem sozialen System ^Anschluss" finden kann, wie er in einer sozialen Beziehung „Sinn" macht, wie Handlungen oder AuBerungen verstanden werden konnen. Focussiert auf das Problem des Verstehens von sinnhaften Handlungen konnen die beiden Theorieangebote grob als semantischer Individualismus oder Kollektivismus bezeichnet werden. Der semantische Kollektivismus gibt koUektiven Regeln oder Strukturen den analytischen Primat und pladiert dafur, dass die Bedeutung oder der Sinn von einzelnen Selektionen sich von den Regeln oder den Strukturen eines Kollektivs, einer gemeinsamen Praxis, einer Lebensform her verstehen lassen. Der semantische Individualismus stellt den minimaHstischen Widerpart dar. Er stellt die individueUen Interpretationsakte in den Vordergrund und das Bemiihen der Handelnden, sich ihr Erleben und Handeln wechselseitig interpretativ verstandHch zu machen. Die kollektive Ebene nimmt hier eine abgeleitete Stellung ein. Uberraschend mag es nun sein, dass beziigHch dieser Problemstellung die Theoriearchitektur des Strukturtheoretischen Individualismus mit ihrem Modell der soziologischen Erklarung von wesendich starkeren kollektivistischen Pramissen ausgeht als diejenige der Systemtheorie mit ihrem zentralen Theorem der doppelten Kontingenz. Abgerundet wird die Analyse schHeBHch von der Frage, wie die beiden Theorien eigentlich die Genese von sozialem Sinn modelHeren. Damit ist der soziale Konstitutionsprozess von Sinn angesprochen, der von Esser als „soziales Framing" oder als „koUektive Definition der Situation" modelHert wird, von der Systemtheorie dagegen kommunikations- bzw. evolutionstheoretisch. Auch diesbeziiglich werden wir zu der Einschatzung gelangen, dass trotz Unterschieden die Gemeinsamkeiten iiberwiegen. In der abschUeBenden Betrachtung wird es dann nochmals um die Forschungslogiken selbst gehen. Wie deutHch geworden sein soUte, handelt es sich ja nicht u m konkurrierende, sondern u m komplementare Forschungslogiken, die sich gegenseitig erganzen konnen. Wir werden dafur pladieren, dass die systemtheoretische Forschungslogik in diejenige des Strukturtheoretischen Individualismus integrierbar ist, dass also der Strukturtheoretische Individualismus den umfassenderen Entwurf prasentiert.

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obwohl die Systemtheorie auf bestimmte weiBe Flecken in der Konzeption von Esser aufmerksam machen kann.

2 D e t „Sinn" von „Sinn" in det Soziologie Wie an anderer Stelle schon ausgefuhrt (vgl. Schiitzeichel 2003, S. 30££), sind die begriffsgeschichtlichen Wege, auf denen „Sinn" in oder iibet die (insbesondere deutschsprachige) Soziologie gekommen ist, noch nicht naher rekonstruiert.^ Man kann in der hier gebotenen Kiirze folgende Komplexe unterscheiden: • • • •

• • • •

„hernieneutischer Sinn": Sinn als Komplementarbegriff zum Verstehen von menschlichen Objektivationen. „objektivistischer Sinn": Die Funktion, der Zweck, das Ziel oder Telos von etwas im Kontext eines iibergeordneten Ganzen. „subjektivistischer Sinn": Sinn als subjektiver (und gegebenenfalls rational) ausgewiesener Grund des Handelns und Erlebens. „Gegebenheitsweise": Sinn als mehrdeutige Gegebenheitsweise im Unterschied zur Bedeutung als dem eindeutigen Gegenstandsbezug von sprachlichen Ausdriicken nach Frege (mit entsprechenden kritischen Folgerungen fiir die soziologische Konzeption bei HoUis 1991), „referentieller Sinn": Sinn als Referenz von sprachHchen Ausdriicken (z, B. Habermas 1970). „phanomenologischer Sinn": Sinn als Ergebnis der phanomenologischen Beschreibung von intentionalen Bewusstseinsstrukturen. „kultureller Sinn": Sinn als symbolische oder kulturelle Form sinnhafter Konstitution und Konstruktion. „pragmatischer Sinn": Sinn als vorgegebene Bedeutung von etwas in Handlungskontexten.

Eine Soziologisierung trat nun nicht dadurch ein, dass die Soziologie neue Sinnkonzeptionen hinzufiigte, sondern dass die genannten Konzeptionen auf die methodologischen oder forschungslogischen Problemstellungen der Soziologie bezogen wurden. Diese methodologischen Problemstellungen gehen mit der forschungspragmatischen Unterscheidung von verschiedenen sozialen Phanomenklassen einher, die in der Folge alle mit ihrem eigenen „Sinn" ausgestattet wurden: An die Seite des subjektiven Sinns trat mit Berger / Luckmann (1969) oder Luckmann (2001), mit Bourdieu (1987) oder mit Oevermann (vgl. riickblickend Oevermann 2000) die Figur des „sozialen Sinns", der sich

Siehe als eine wichtige Material- und Deutungsgrundlage Rustemeyer 2001.

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auf soziale Regeln, soziale Strukturen oder kollektive Phanomenklassen bezieht. Die Differenz zwischen einem subjektiven und einem sozialen Sinn forciert dabei insbesondere eine weitere Unterscheidung, namlich diejenige zwischen einem manifesten und einem latenten Sinn. Hieraus ergeben sich dann vielfache Kombinationsmoglichkeiten, etwa in der Weise, dass nur der subjektive Sinn manifest, der in diesem sich manifestierende soziale Sinn aber als latent angenommen wird. Die Sinnkonzeption des Strukturtheoretischen IndividuaHsmus schreibt diese Entwicklung fort. Esser verkniipft verschiedene dieser Sinnformen in einer durch seine Forschungslogik determinierten Weise. Bin neuer Aspekt kommt in die soziologischen Sinnkonzeptionen mit der Systemtheorie hinein. In seinen spateren Ausfiihrungen bestimmt Luhmann die Funktion von Sinn in einer neuen, ungewohnlichen Weise. Sinn erhalt die Funktion eines unhintergehbaren, unbeobachtbaren Mediums fiir alle Formbildungen, Weshalb haben die verschiedenen Sinnkonzeptionen in der Soziologie Karriere gemacht? Meine Vermutung ist, dass all diesen Sinnkonzeptionen trotz ihrer verschiedenen Ausrichtungen eines gemeinsam ist: Sinn verweist auf Selektivitat. Sinn ist ein selektives Phanomen, und Sinn ist zugleich die Voraussetzung dafiir, dass Selektionen gewahlt werden konnen. Mit Hilfe von „Sinn" stellt die Soziologie ihren Gegenstand auf Possibilitaten, auf subjektive und objektive Moglichkeiten um. Auf diesen Zusammenhang hat die Systemtheorie von Luhmann stets mit besonderer Dringlichkeit hingewiesen, und der Strukturtheoretische Individualismus hat, obwohl man dies vieUeicht erst auf den zweiten Blick erkennt, den Zusammenhang von Sinn und Selektivitat in der Folge zum Ausgangspunkt seiner Uberlegungen gemacht. Die Differenz zwischen beiden Ansatzen liegt darin, welche Folgerungen sie im Rahmen ihrer Forschungslogik aus der Selektivitat von Sinn ziehen.

3 Forschungslogiken Die Aufgabe von Theorievergleichen wird vielfach darin gesehen, durch Vergleich der Soziologie zu einer mit einem Konsens bedachten, tragfahigen Begrifflichkeit zu verhelfen. Der Theorievergleich hat die Funktion, der Soziologie als einer so genannten multiparadigmatischen Wissenschaft zu einem Fundament zu verhelfen. Von daher hat er kompensatorische Aufgaben. Hierbei wird die generalisierende Funktion von Vergleichen benutzt: Es wird nach den Gemeinsamkeiten zwischen den Vergleichsobjekten gesucht. Aber Vergleiche haben noch eine zweite Funktion: Sie konnen individualtsierend benutzt werden, u m genauer herauszuarbeiten, worin das Spezifische oder Besondere eines Vergleichsfalles liegt. Theorievergleiche konnen sich weiterhin eines harten Selektionskriteriums bedienen. Sie konnen falsifikationistisch dazu

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benutzt werden, diejenigen Theorien auszusondern, die keinen oder vergleichsweise nur einen geringen empirischen Gehalt haben. Das ist eine Vorgangsweise, die beispielsweise von Michael Schmid (2001) der Soziologie mit guten Gninden erneut empfohlen wird. Diese sich itn Rahmen des Kritischen Rationalismus bewegende Methodik setzt allerdings voraus, dass soziologische Theorien derart durchgearbeitet sind, dass sie zu empitisch testbaren und iiberpriifbaren Konklusionen fiihren. Der Vergleich von „Begriffen" oder „Kon2epten" macht in dieser Tradition nur wenig Sinn. Aber viele soziologische Debatten und Diskussionen bewegen sich in diesem Vorfeld empirischer Forschung, ein Vorfeld, in welchem iiber die „Konstruktion" oder die „Konstitution" von Begriffen und Konzepten und deren theoretischer wie auch empirischer PlausibiHtat gesprochen wird. Mit Lakatos konnte man auch von dem harten Kern wissenschaftlicher Theoriebildung sprechen, der der empirischen Kontrolle entzogen ist. Und man kann nicht sagen, dass es sich dabei um „sinnlose" Debatten handelt. Dabei miissen Begriffsvergleiche methodisch den Umstand beriicksichtigen, dass nicht nur die positive Bestimmung, sondern auch der jeweilige Gegenbegriff oder die jeweiligen Gegenbegriffe, das, wovon ein Begriff meist implizit abgegrenzt wird, zur Bedeutung des Begriffs beitragen. Begriffsvergleiche sollten also die Unterscheidungen beriicksichtigen, in denen sie, die Begriffe, situiert sind. Aber auch solche Begriffsvergleiche ergeben noch keine Theorievergleiche. Diese ergeben sich erst dann, wenn die jeweiligen Konzeptionen in den libergeordneten Zusammenhang der Forschungsprogramme und Forschungslogiken gestellt werden.^ Dies soil auch hier versucht werden. Dass diese Forschungsprogramme unterschiedlich sind, erkennt man an den Leitfragen, die die einzekien Theorien verfolgen. Der Strukturtheoretische Individualismus versteht sich als eine explanativ orientierte Soziologie, der es vornehmlich um die (kausale) Beantwortung von Warum-Fragen geht. Die Systemtheorie stellt hingegen vornehmlich Fragen eines anderen (funktionalen) Typs, die man als „Wie-ist-X-moglich-Frage" bezeichnen kann. Ausgehend von dem Faktum, dass X existiert, wird nach den Bedingungen der Moglichkeit des Gegebenseins von X gefragt. Diese Leitfragen schHeBen einander selbstverstandlich nicht aus. Es soil auch nicht behauptet werden, dass sie in den beiden soziologischen Paradigmen nicht miteinander kombiniert werden konnen. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen. Essers Theorie integriert die fimktionale Fragestellung unter Wahrung des Primats der Warum-Frage, und Luhmanns Theorie bietet

Damit soil ein kontroUierteres Vergleichsverfahren erreicht werden, als dies jiingst etwa bei Nassehi (2004) der Fall ist, der Bourdieus und Luhmanns „so2«ialen Sinn" nach recht wUlkurHchen Gesichtspunkten vergleicht.

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zumindest Erklanangsskizzen beziiglich der Beantwortung von Warum-Fragen, aber unter der strengen Dominanz der funktionalen Fragestellung. Von daher kann man sicherlich von divergenten Erkenntnisinteressen sprechen. WarumFragen im Sinne der explanativen Soziologie von Esser machen es erforderlich, dass die zu erklarenden Phanomene hinsichtlich ihrer Eigenschaften typologisch bestimmt werden. Wie-ist-X-moglich-Fragen im Sinne der Systemtheorie erfordern hingegen die Angabe von Funktionen. Machen wir uns den Unterschied an einem zentralen Problem der Soziologie deutlich, dem Problem des Handelns oder der Handliong. Die Systemtheorie fragt nach den funktionalen Erfordernissen dafur, wie „Handlungen" im Kontext des Sozialen moglich sein konnen^^ — und sie kommt zu den entsprechenden Einsichten, dass zur Konstitution von Handlungen Beobachtungen bzw. Kommunikationen im Medium Sinn erforderHch sind, damit „Handlungen" soziale Differenzen entfalten konnen. Die explanative Soziologie Essers hingegen geht der Frage nach der wechselseitigen Kausalitat von Handlungstypen und sozialen Situationen bzw. kollektiven Zustanden nach: Aufgrund welcher Kausalitat evozieren bestimmte soziale Situationen bestimmte Handlungen und im weiteren Verlauf bestimmte Handlungen bestimmte soziale Situationen?^ Als Kandidaten fiir die Losung des Esser-Problems bieten sich primar die verschiedenen Fraktionen des methodologischen Individualismus bzw. methodologischen Kollektivismus an. Unter einem methodologischen IndividuaHsmus^ sei hier eine explanative Strategic verstanden, die kollektive Phanomene als aggregatives Ergebnis individueller Handlungen erklart, wobei diese Erklarungstypen in der Kegel aus einer Komposition von intentionalen und nichtintentionalen Faktoren bestehen. Dementsprechend sei hier unter einem methodologischen Kollektivismus eine explanative Strategic verstanden, die kollektive Phanomene als Resultat sozialer Tatbestande oder sozialer GesetzmaBigkeiten erklart. Hierbei kann es sich je nach Definition u m so genannte funktionalistische oder auch u m so genannte evolutionare Erklarungen handeln. Essers Option ist bekanntermaBen eindeutig: Allein ein theoretischer Ansatz im Rahmen des methodologischen Individualismus hat explanative Aussichten. Die Position der Systemtheorie ist hier weniger eindeutig. Oft wird sie geradezu als typischer Vertreter eines methodologischen Kollektivismus, insbesondere in

Siehe zu den entsprechenden theoriegeschichtlichen Hintergriinden Jensen 2003 und Reckwitz 2003.

Mit entsprechend groBem Unverstandnis reagiert Esser auf die „Handlungstheorie" der Systemtheorie (vgl. Esser 1993, S. 506ff), da er die Antwort der Systemtheorie eben als eiae Antwort auf eine Warum-Frage und nicht als eine Antwort auf eine Wie-ist-X-mogHch-Frage versteht. Dass sich hinter dieser Bezeichnung viele unterschiedlicher Positionen versammeln, macht Udehn 2001 deutlich.

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Gestalt von so genannten funktionalistischen Erklarungen betrachtet. Demgegeniiber wird hier die Auffassung vertreten, dass die Systemtheorie iiberhaupt iiber keinen ausgearbeiteten explanativen Ansatz verfugt und von daher auch keine explanative Theorie darstellt. Ihre Progtammatik ist eben nicht konsequent auf Warum-Fragen ausgerichtet. Wenn sie indes versucht, WarumFragen zu beantworten, dann findet sich ein Amalgam verschiedener Begriindungs- und Erklarungsskizzen, die auch manchmal durchaus methodologischindividualistischen Charakter haben konnen.^ Als Kandidaten fur die Losung des Luhmann-Problems bieten sich verschiedene Fraktionen eines semantischen Individualismus oder semantischen Kollektivismus an7 Unter dem Luhmann-Problem witd hier die Problemstellung verstanden, wie der „Sinn" von Handlungen in der sozialen Beziehung von Akteuren oder, starker systemtheoretisch formuliert, wie die Form von Operationen in sozialen Systemen bzw. in Verhaltnissen der Beobachtung zweiter Ordnung bestimmt werden kann. Man konnte dies auch als Problem des Verstehens und Interpretierens von Handlungen bezeichnen. In Bezug auf das Modell der soziologischen Erklarung von Esser kann dieses Problem auch als Frage nach den Bedingungen der Moglichkeit der Aggregation von einzelnen Selektionen formuHert werden. Unter einem semantischen KoUektivismus wird hier eine theoretische Option verstanden, die nicht den interpretativen Ressourcen von Individuen vertraut, sondern dem Regelsystem eines Kollektivs, an dem sich die einzelnen Akteure orientieren. Eine Handlung zu verstehen heiBt dementsprechend zu wis sen, welche Kegel bzw. auf Regelbefolgung ausgelegte Norm durch sie instantiiert oder aktuaUsiert wird. Ein Akteur macht seine Handlung diesem Modell zufolge dadurch fur andere verstandlich, wenn er sie gemaB geltender Regeln ausfahrt. Und ein Akteur versteht den Sinn einer Handlung dann, wenn er sie gemaB geltender Regeln versteht. Dabei setzen diese Theorien ein Regelsystem voraus, welches unabhangig von den Situationen wechselseitiger Verstandigungen existiert. Dieses allgemeine Regelsystem garantiert in diesem Modell die Verstandigung zwischen den Akteuren, da es ein Wissen um die Identitat der Regeln garantiert. Das Verstandnis, das ein

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Als Beispiel sei hier nur auf die Erklarung von Luhmann fur die Erklarung der Variation von sozialen Semantiken durch die Inadaquatheit von Erfahrungs- oder Wissensschemata hingewiesen (vgl. Luhmann 1980a).

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Diese Bezeichnungen sind m. W. in die Soziologie noch nicht eingefuhrt. In der Sprachphilosophie sind sie als „individualistisches bzw. kollektivistisches Modell" durchaus iiblich. Wahrend dort der spate Wittgenstein paradigmatisch fiir eine kollektivistische Option steht, steht die in der Soziologie nur wenig beachtete Theorie von Davidson paradigmatisch fur eine individualistische Option. Eine gelungene Darstellung dieser Pole findet sich in Liptow 2004. Ein erster und vorlaufiger Versuch, diese Optionen fiir die soziologischen Kommunikationstheorien firuchtbar zu machen, findet sich in Schiitzeichel 2004.

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Akteur von seinen Handlungen hat, ist im Normalfall identisch mit dem, was ein Adressat seiner Handlungen hat. Und von daher wird auch eine Symmetrie zwischen Regeln und den Intentionen der Handelnden unterstellt. Unter einem semantischen Individualismus witd eine Theorie verstanden, die dabei nicht die Regeln, sondern die situations spezifischen interpretativen Leistungen der Akteure in den Mittelpunkt stellt, die ihre Handlungen wechselseitig interpretieren. Nicht ein unabhangig von der jeweiligen Handlungs situation existierendes Regelsystem ist der Garant fur das Verstehen des Sinns bzw. der Intention von Handlungen, sondern die Kommunikation zwischen den Akteuren selbst. Deshalb geht der semantische Individualismus nicht von einer grundlegenden Symmetrie aus, sondern von einer grundlegenden Asymmetrie zwischen den Intentionen eines Handelnden und seinem „subjektiven Sinn" einerseits und dem Sinn, den ein Adressat dieser Handlung zuschreibt. Mit einer bestimmten Zuspitzung konnte man auch formulieren, dass ebenso wenig wie die Regeln selbst die Intentionen der Handelnden ein vorgangiges Faktum darstellen, sondern sich erst in der kommunikativen Situation aufgrund der ModaHtat der kommunikativen Situation bilden. Semantischer KoUektivismus und semantischer Individualismus bieten also unterschiedHche Antworten auf die Frage, welche Bedingungen und Voraussetzungen fur die soziale Konstitution des Sinns von Handlungen gegeben sind. Sie sollte nicht mit der weitaus haufiger diskutierten und im Rahmen eines methodologischen Individualismus oder KoUektivismus bzw. Holismus zu beantwortenden Frage nach den Griinden oder Ursachen von Handlungen verwechselt werden. Die Systemtheorie entwickelt diese Problematik endang des Theorems der doppelten Kontingenz, also gleichsam einer „Nullsituation" von Sozialitat. Dementsprechend argumentiert sie stark im Sinne eines semantischen Individualismus. Der Strukturtheoretische Individualismus hingegen bietet eine andere Theoriearchitektonik auf. Er entwickelt diese Fragestellung auf der Basis des Modells der soziologischen Erklarung, welche gegebene Regeln, gegebene Strukturen und gegebene Intentionen vorsieht und in welcher ein Akteur einer objektiven Situation gegeniibersteht. Auf dieser Basis tendieren seine Antworten viel starker in Richtung eines semantischen KoUektivis-

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4 Sinn in der Theorie des Stnikturtheoretischen Individualismus ^ von Hattmut E s s e t Was „Sinn" betrifft, so schlieBt Esser durchaus an die entsprechenden Konzeptionen in der Tradition der verstehenden Soziologie an, aber er gibt diesen eine neue Ausrichtung im Rahmen einer explanativ ausgerichteten Soziologie, in deren Zentrum das Modell der soziologischen Erklarung (MSE) steht.^ Dieses Modell soil dazu dienen, die zentralen Fragen der Soziologie (vgl. Esser 1999a, S. Iff) zu beantworten: Wie wird die Gesellschaft durch das Handeln der Menschen produziert? Wie objektiviert sich die so produzierte Gesellschaft als eine dem Handeln der Menschen objektiv gegeniiberstehende Wirklichkeit? Und wie wird der Mensch als ein psycho-soziales Wesen durch die von ihm geschaffene, objektivierte Wirklichkeit konstituiert? Das Erkenntnisinteresse bzw. der analytische Primat der Soziologie gilt nach Esser der Makro-Ebene der kollektiven Phanomene. D a kollektive Phanomene aber der Programmatik des Methodologischen IndividuaHsmus zufolge nur durch eine handlungstheoretisch oder individualistisch ansetzende Tiefenerklarung explanativ hergeleitet werden konnen, liegt der theoretische Primat der Soziologie auf der Ebene der individueUen Handlungen. Von vornherein aber kann nicht geniigend betont werden, dass es sich u m ein — gegebenenfalls im Sinne einer „abnehmenden Abstraktion" zu korrigierendes und erganzendes — Modell handelt, welches, wie alle wissenschaftlichen Modelle, mit Nancy Cartwright (1983, S. 153) als „works of fiction" bezeichnet werden kann: Modelle selektieren nicht nur spezifische Variablen und deren Relationen, wir verlangen von thnen nicht nur, dass diese Variablen und deren Relationen gewisse Analogien zu den modelHerten Phanomenen aufweisen, sondern wir wissen im Grunde genommen auch, dass es zahkeiche Disanalogien zu der Gegenstandswelt gibt, weil diese im ModeU eben nicht so dargestellt werden kann, wie sie ist. Als Versuch einer rekonstruktiven Erklarung sollte das Modell der soziologischen Erklarung also nicht mit der Gegenstandsebene verwechselt werden. Wiirde man dies tun, so wiirde man den logischen Fehlschluss der „misplaced concreteness" (Whitehead) begehen. Das ModeU der soziologischen Erklarung hat die Funktion, ein koUektives Phanomen respektive eine soziale Situation in seinen Grunddeterminanten zu

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Diese Bezeichnung hat Esser selbst fiir seine So'ziologie reserviert (vgl. Esser 1999a, S. IX, S. 27), um sich von individuaHstischen Erklarungsprogrammen anderer Art zu distan^ieren und auf die struktureUe, objektive oder eben situationslogisch zu rekonstruierende Bedingtheit des individuellen Handelns htnzuweisen. Auf den theoretischen Unterbau des ModeUs der soziologischen Erklarung in Gestalt der anthropologischen Annahmen und der sozialen Produktionsfunktionen (vgl. Esser 1993) miissen wir aus Platzgriinden verzichten.

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einem Zeitpunkt ti zu erklaren. Dazu ist es notig, folgende Schritte miteinander 2u verbinden. •

•

•

Rekonstruktion der sozialen Situation zum Zeitpunkt to in ihren verschiedenen Dimensionen mit Hilfe von Briickenhypothesen (Logik der Situation), Erklarung des von den Akteuren auf der Basis ihrer Situationsdefinition gewahlten Handelns durch eine allgemeine nomologische Theorie (Logik der Selektion), Bestimmung der Folgen der individuellen Handlungen der Akteure fiir das 2u erklarende kollektive Phanomen bzw. die soziale Situation zum Zeitpunkt ti mit Hilfe von Transformationsregeln (Logik der Aggregation).

In diesem Modell sind neben den drei explanativen Komponenten zwei Ebenen involviert, eine kollektive oder, wenn man so will, soziale Ebene der sozialen Situationen zu den Zeitpunkten to und ti und eine individuelle Ebene der selektierenden Akteure. Erlautern wir dieses Modell kurz in seinen Grundziigen: •

•

Der erste Schritt besteht in der Logik der Situation bzw. der Situations analyse. Soziale Situationen bestehen aus einer Kombination von auBeren und inneren Bedingungen. Zu den inneren Bedingungen zahlt Esser die inneren Dispositionen bzw. die „Identitat" von Akteuren, also beispielsweise das Wis sen, welches sie mitbringen, die Werte, die sie verfolgen, die inneren Einstellungen, die sie haben. Die auBeren Bedingungen bestehen, wie schon ausgefiihrt, aus einer Kombination von grundlegenden Arten gesellschaftHcher Strukturierungen, den materiellen Opportunitaten, den institutionellen Regeln und den kulturellen Bezugsrahmen oder Orientierungen. Diese strukturellen Parameter bedingen den sozialen Sinn des Handelns in sozialen Situationen. N u n spielen im Modell der soziologischen Erklarung nicht nur diese objektiven strukturellen Parameter eine zentrale RoUe. Es geht um die subjektive Interpretation des sozialen Sinns von Situationen. Esser lasst an dieser Stelle also die Theorien der verstehenden oder interpretierenden Soziologie in seine Theorie einflieBen. Dieser Prozess der subjektiven Interpretation wird als „Definition der Situation" bzw. als „Framing" bezeichnet. Im Framing wird der subjektive Sinn konstituiert, den soziale Situationen und die daraus gewonnenen Handlungsoptionen fur Akteure haben konnen. Dies stellt den zweiten Schritt im Modell der soziologischen Erklarung dar, in welchem in Abhangigkeit von dem Framingprozess mogHche Handlungsoptionen bewertet werden und eine Handlungsalternative als nutzenmaximierend ausgezeichnet wird. Die maBgebUche Handlungstheorie ist hier die Wert-Erwartungstheorie.

122 •

Rainer Schiitzeichel Die Logik der Aggregation besteht in der Analyse der Folgen der individuellen Effekte des Handelns auf die soziale Situation, deren Reproduktion oder Wandel mit Hilfe von Transformationsregeln rekonstruiert wird.

Halten wir also vorlaufig fest: Der Strukturtheoretische Individualismus vertritt ein Modell, welches Handeln als ein selektionierendes, nutzenproduzierendes und nutzenmaximierendes Verhalten in durch strukturelle Parameter bedingten sozialen Situationen konzeptualisiert. Wie in anderen soziologischen Theorien, so stellt auch hier die Dualitat von Handlungssituation und Handlungswahl den zentralen Ausgangspunkt der Theoriebildung dar. In diesem Modell treffen zwei Sinnformen aufeinander: der soziale Sinn der Handlungs situationen und der subjektive Sinn der Handlungswahlen bzw. der Konstruktion der sozialen WirkHchkeit. Der soziale Sinn von Handlungen bezieht sich auf die kollektive Ebene und somit auf die Logiken der Situation und der Aggregation, der subjektive Sinn von Handlungen bezieht sich auf die individuelle Ebene der Logik der Selektion. Und in diesem Modell treffen auch zwei Erklarungsformen aufeinander. Im vorangegangenen Kapitel wurde schon erwahnt, dass in Essers Theorie die funktionale Frage nach den Bedingungen der Moglichkeit des Gegebenseins von etwas durchaus ihren Platz findet. Neben der kausalen WarumFrage, die vornehmlich das Feld der Selektionslogik dominiert, findet sie sich als Frage nach den Bedingungen der Moglichkeit von sozialer Ordnung vornehmlich im Felde der Situationslogik. D e n n auf diesem Terrain wird entschieden, ob Akteure den sozialen Sinn von Situationen treffen und deshalb in einer sinngemaBen Weise mit ihren Handlungen an diesen sozialen Sinn anschlieBen konnen. Dieses Modell der soziologischen Erklarung ist trotz oder besser wegen seiner topologischen Einfachheit ehrgeizig und anspruchsvoll. Es hat nach Esser die Funktion, die Soziologie als eine erklarende und verstehende Wissenschaft zu konstituieren, der Soziologie einen integrativen Theorie- und Begriffsrahmen zu prasentieren und zur Vereinheitlichung der Sozialwissenschaften beizutragen. Damit wird auch die Frage nach dem Forschungsprogramm beantwortet, dem sich Esser verpflichtet sieht. Es handelt sich u m ein Forschungsprogramm, in dessen Mittelpunkt die Beantwortung von WarumFragen steht (vgl. Esser 1989): Warum ist etwas der Fall? Oder in Bezug auf die Sinn-Problematik formuliert: Warum und wie werden spezifische Selektionen subjektiven bzw. sozialen Sinns vorgenommen und welche kollektiven Folgen haben diese Selektionen?

4.1 Sinnkon^eption und Sinnformen Im Kontext der aUgemeinen Erweiterung von Rational-Choice-ModeUen um so genannte weiche Faktoren wie Wissen, Kultur oder eben Sinn hat Esser

Sinn bei Esser und Luhmann kn Vergleich

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nach und nach die theoretische Res source „Sinn" in seine Theorie eingebaut. Die alteren Arbeiten stehen noch in der von Esser spater als „einfach" deklarierten Tradition von Rational-Choice-Ansatzen, die den sozialen Kontext respektive die soziale Situation von Handlungen vernachlassigen und nur die intrinsischen Interessen von Akteuren an Ressourcen und deren Nutzenerwartungen beriicksichtigen. Sie lassen also die Sozialitat von Handlungen a\iBer Acht bzw. beriicksichtigen diese erst nachtraglich in Gestalt von sozialen Prozessen, beispielsweise Marktmechanismen. Noch in einem Uberblick zu Rational-Choice-Theorien (Esser 1991b) findet sich die Sinn-Problematik in den Hintergrund genickt. Auch in der Rekonstruktion der theoretischen Soziologie von Alfred Schiitz (vgl. Esser 1991a) steht die Vereinbarkeit der verstehenden Soziologie mit dem methodologisch-individualistischen Programm der erklarenden Soziologie im Vordergrund, weniger die Beriicksichtigung des „sozialen Sinns" und entsprechend des „subjektiven Sinns" in den Pramissen der erklarenden Soziologie. Diese folgt erst in den 1990er Jahren, wobei zwei Momente eine wesentHche Rolle spielen: Erstens die Rekonstruktion der Popperschen Situationsanalyse vor dem Hintergrund der verstehenden Soziologie, u m dem Einwand der verstehenden Soziologie zu begegnen, Rational-Choice-Ansatze konnten die Sinn- bzw. die kulturelle Dimension nicht erfassen (vgl. Esser 2004a, S. 104). Und zweitens die verstarkte Zuwendung zum „FramingKonzept" mit dem Anspruch, dieses als „General Theory of Action" der Soziologie auszuweisen (vgl. Esser 1996, 1999d, 2003a, 2006). Damit ist nicht nur die starkere Beriicksichtigung der subjektiven Konstruktion der Witklichkeit, sondern auch eine theoretische Integration der — mit Weber gesprochen — liber die Dimension der Zweckrationalitat hinausragenden Handlungsspharen und -typen verbunden. Aber all diese theoretischen Einbauten finden statt unter W a h n m g des theoretischen Primats der Nutzenmaximierung als der nomologischen Pramisse letzter Instanz. In besonderer Weise kann man den Einbau der theoretischen Res source „Sinn" aber an den materialen Arbeiten zu Migration, ethnischen Differenzierungen und ethnischen Konflikten ablesen, die neben der FamiHensoziologie wohl den Schwerpunkt der empicischen Soziologie Essers bilden. Geht es in den friiheren Arbeiten (Esser 1980, 1985, 1988) vornehmHch darum, den Nutzen von Rational-Choice-Ansatzen fiir Fragen der Erklarung von Migration und Ethnizitat herauszustellen, so kann man in den folgenden Jahren (Esser 1997, 1999b, 2001b) eine „kulturalistische Wende" dergestalt feststellen, dass die Sinndimensionen wesentUch starker beachtet und eigentUch in das Zentrum der Migrations soziologie geriickt werden. Esser ist zudem einer der wenigen Soziologen, der sich der Miihe einer Systematisierung der soziologischen Sinnkonzepte unterzogen hat (Esser 1993, S. 469-492, 1999a, S. 194f, 1999c, passim). Er analysiert dabei die verschiedenen Gebrauchsformen von Sinn in der Soziologie. Dabei handele es sich um

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diverse Sinnkonzepte mit mitunter sehr verschiedenen Bedeutungen: den semantischen Sinn als Bedeutung eines Zeichens, den sozialen Sinn als den durch soziale Regeln konstituierten Sinn, den subjektiven Sinn als individuelle Motivund Zwecksetzung, den nomischen Sinn als Giiltigkeit eines Wertes oder einer Ordnung, den funktionalen Sinn als den Sinn der kausalen oder funktionalen Rolle von etwas in einem Funktionszusammenhang, den objektiven Sian als den Sinn von vermeindich „objektiv" ablaufenden sozialen Prozessen oder Geschehnissen. Den „Sinn" der Systemtheorie bezeichnet er (1994, S. 195) als den „autopoietischen Sinn": „Danacli ist Sinn die Einheit der Differenz von Selektion, Verweisung und Anschluss — wovon auch immer" (Esser 1994, S. 195). Alle diese Konzepte konnen nach Esser, auch wenn sie ganz unterschiedHche Problemzusammenhange beschreiben, durchaus ihren „Sinn" haben. Er selbst sieht folgende Gemeinsamkeit: „In einer alle diese Bedeutungen iibergreifenden Abstraktion HeBe sich dann der Begriff des Sinns als Einordnung von zunachst isoHerten Elementen in einen iibergeordneten Zusammenhang bezeichnen" (Esser 2004b, S. 251, ahnHch Esser 1993, S. 490). Etwas hat Sinn oder ist sinnhaft dann, wenn es einem Kontext oder Sinnzusammenhang eingeordnet werden kann oder auf diesen verweist oder sich an diesem orientiert. Damit riickt Esser — legt man die oben beschriebenen Tendenzen zugrunde — den hermeneutischen Aspekt von Sinn in den Vordergrund. Er geht aber noch einen Schritt weiter (vgl. Esser 1993, S. 491), indem er diesen in den Rahmen einer explanativen Forschungslogik stellt. Nicht der „Sinn" in seiner hermeneutischen Bedeutung steht im Zentrum, sondern der Zusammenhang von Sinn und Selektion. Er vertritt nicht das reine Programm einer hermeneutischen oder interpretativen Soziologie, sondern einer explanativen Soziologie. Welcher soziale oder subjektive oder nomische Sinn wird in Prozessen der Selektion von Situations- und Handlungsmodellen ausgewahlt? Wie kann man diese Selektionen erklaren? In Essers Soziologie haben drei Konzepte eine tragende RoUe, der soziale, der subjektive und — in einer eher abgeschwachten Weise — der nomische Sinn. Der subjektive und der soziale Sinn beziehen sich nicht auf unterschiedliche Inhalte, sondern auf unterschiedliche Formen. Das gemeinsame Fokalobjekt stellt das Handeki von Menschen dar. Dieses kann zum einen im HinbHck auf seinen sozialen Sinn, zum anderen im Hinblick auf seinen subjektiven Sinn betrachtet werden. „Beim subjektiven Sinn eines Handekis besteht die Verweisung in seiner Einbettung in die subjektiven Absichten des Akteurs und in die aus seiner Sicht mittelgerechte Wahl des Handelns. Beim sozialen Sinn eines Handelns beziehen sich die Verweisungen auf sozial geltende Regeki, in die ein Handeln eingebettet ist: die Regeki einer libergreifenden, von alien MitgHedern eines Kollektivs geteilten, Vorstellung einer Ordnung" (Esser 2000a, S. 34, Hervorh. weggel). Der subjektive und der soziale Sinn des Handelns stehen also ihrerseits in einem engen Verweisungsverhaltnis, das der Komplementari-

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tat von Situations- und Selektionslogik in Essers Modell der soziologischen Erklarung geschuldet ist. Subjektiver und sozialer Sinn greifen aber auch ineinander liber. Sie bilden ein Verhaltnis der doppelten Selektivitat. Der so2iale Sinn gibt in einer ersten Selektionsstufe den durch soziale Prozesse generierten und konstituierten Sinn als Horizont der Moglichkeiten individueller Handlungen wieder, der dann in einer zweiten Selektionsstufe durch Prozesse der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion nochmals hinsichtlich der individuellen Kompetenzen, Interessen und Leidenschaften im Hinblick auf die Wahl einer bestimmten Handlung selektiert wird. Mit dieser engen Verweisung von subjektivem und sozialem Sinn versucht Esser, eine theoretische Liicke zwischen der subjektiven Perspektive von Akteuren und der objektiven Situation zu schlieBen. Diese Liicke entsteht, wenn nicht hinreichend plausibilisiert werden kann, in welchem Verhaltnis die objektiv geltenden sozialen Regeki einer Situation einerseits mit dem subjektiven Handlungssinn von Akteuren andererseits stehen. Esser widmet sich dieser Frage mit einer besonderen Eindringlichkeit, weil er sowohl liber eine Logik der Situation wie auch liber eine Logik der Selektion verfiigt und beide Logiken unter ein gemeinsames Dach bringen muss. E r beriicksichtigt sowohl die Logik der Situation wie die Logik der Selektion. Dies bringt ihn unweigerlich in eine Opposition sowohl zu klassischen okonomistischen Handlungstheorien wie zu einer Vielzahl von klassischen und nachklassischen soziologischen Ansatzen (vgl. Esser 2004a, S. 106). Auf der einen Seite stehen die in Bezug auf den sozialen Sinn unterdeterminierten Ansatze der klassischen Rational-ChoiceTheorien, die eben davon ausgehen, den sozialen Sinn auBer Acht lassen zu konnen, weil sie auf nachtraglich soziaHsierende Mechanismen vertrauen. Auf der anderen Seite steht die Phalanx der durch sozialen Sinn liberdeterminierten soziologischen Ansatze, die die Logik der Selektion vernachlassigen zu konnen glauben, weil sie dem Sozialisationspotential des sozialen Sinns vertrauen. Hierzu gehoren nach Esser (vgl. Esser 2004b, S. 248) nahezu alle Ansatze in der Soziologie, die von einer normativen Bindung und kulturellen Pragung von Akteuren ausgehen und deren rationalen Eigensinn entweder vernachlassigen oder eben zu einer normativen Orientierung umdeuten. Zu diesen rechnet er an erster Stelle die Systemtheorie, die meine, eben deshalb den subjektiven Sinn mit seinen Akteuren in die Umwelt von sozialen Systemen verbannen zu konnen ^'^. Dass man zwischen dem sozialen und dem subjektiven Sinn bzw. zwi-

10 Dieser Vorwurf von Esser trifft die Systemtheorie nur halb: Gerade Luhmann hat vor jeglichem kulturellen Determiaismus gewarnt. Auch er geht also dem Priazip nach von einer zweifachen Selektion aus. Die Systemtheorie Luhmanns hat eher ein unterdeterminiertes als ein iiberdeterminiertes Verstandnis. Uber das Verhaltnis von sozialem und, wenn man so wiU, subjektivem Sinn wendet sich Luhmann doch gegen aUe Theorien, die gerade nicht den Eigensinn der psychischen Systeme beriicksichtigen. Aber auf der anderen Seite verfiigt Luh-

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schen einer Logik der Situation und einer Logik der Selektion unterscheiden muss und das eine nicht auf das andere reduzieren kann, gehort sicherlich 2u den basalen Eigenschaften des Strukturtheoretischen Individualismus. Neben dem subjektiven und dem sozialen Sinn arbeitet Esser noch mit dem Konzept des nomischen Sinns. Dieser bezieht sich darauf, dass soziale Ordnungen und Situationsbeschreibungen fur Akteure eine unbezweifelbare, fraglose, unhintergehbare Geltung gewinnen konnen. D e i nomische Sinn von sozialen Ordnungen umfasst bei Esser eine Mehrzahl von Phanomenen. Er wird in der Bedeutung einer quasi-transzendentalen, nichthintergehbaren Lebenswelt (wie etwa bei Husserl oder Habermas) verstanden, mit Peter L. Berger (1967) in der Bedeutung einer spezifischen 'transzendenten' oder religios, auf jeden Fall aber absolut legitimierten Form der InstitutionaHsierung sozialer Ordnung (vgl. Esser 2000a, S. 338ff) oder auch im Sinne des telischen Systems beim spaten Parsons (1978). Aber dieses Konzept des nomischen Sinns wird eher beilaufig mitgefiihrt und nimmt keinen groBen Raum ein. Wir werden den nomischen Sinn hier im Kontext der subjektiven Sinnbildung platzieren.

4,2 So^aler Sinn Der soziale Sinn des Handekis bezieht sich auf die objektiven Strukturmuster einer jegHchen Handlungssituation. Die Identifikation sozialen Sinns, so Esser (2004a, S. 107), „ist die objektiv 'richtige' subjektive 'Definition der Situation' durch einen Akteur." Oder anders formuHert: Der soziale Sinn ergibt sich aus den in einer sozialen Situation geltenden materiellen, institutionellen und kulturellen Strukturen. Er ergibt sich aus dem durch diese Strukturmuster bestimtnten MogHchkeitsraum des Handekis, der vor alien konkreten individuellen Wahlakten (subjektiver Sinn) schon objektiv vorliegt. Neben den inneren Bedingungen, der Identitat und der Einstellungen von Akteuren in einer Situation, gehoren dazu folgende drei auBere Bedingungskonstellationen: Der MogHchkeitsraum des Handekis eines Akteurs in einer Situation w k d wesentkch durch die materiellen Opportunitatsstrukturen bestimmt, insbesondere durch die Mittel und Ressourcen, die ihm in der Verfolgung seiner Ziele in Hinsicht auf seine sozialen Position und seine SteUung in sozialen KonsteUationen zur Verfiigung stehen. Auf dieser Ebene w k d also gleichsam der „zweckrationale" Anteil am sozialen Sinn des Handekis bestimmt. Institutionelle Regelungen bestehen aus den normativen Regeki, die ein Akteur beriicksichtigen muss, also beispielsweise den Gewohnheiten, Konven-

mann iiber keine Logik der Selektion h'£^., praziser formuHert, er spricht einer solchen Logik den Wert fur die „Erkiarung" sozialer Phanomene ab.

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tionen, Handlungsmustern oder Handlungsskripten. Institutionen sind solche regelgeleiteten und regelorientierten Erwartungen iiber das Handeln von Personen, die verbindliche Geltung fur sich beanspruchen konnen (Esser 2000a, S. 2). Oder anders formuliert: Bei Institutionen handelt es sich u m soziale Regeln mit erwartbarem Geltungsanspruch. Sie legen also mehr oder wenig verbindlich die „Spielregeln" fest und legitimieren die Ziele und Mittel, die ein Akteur verfolgen bzw. beachten muss. Sie definieren, welche primaren und welche indirekten Giiter erstrebenswert und erlaubt oder welche verboten sind. Esser unterscheidet im Wesentlichen drei institutionelle Regelsysteme: Normen, Rollen und Skripte. Normen sind solche Regeln, die bestimmte negative Sanktionsmoglichkeiten 2ulassen. Rollen sind an Personen in bestimmten sozialen Positionen gerichtete Erwartungscluster. Und Skripte oder soziale Drehbiicher bestehen aus Regeln fur Handlungssequenzen. Eine besondere Funktion von institutionellen Regeln sei noch erwahnt: Institutionen parametrisieren soziale Situationen, indem sie den erwartbaren sozialen Sinn des Handelns von vornherein festlegen und somit „kostentrachtige" soziale Aushandlungsprozesse unnotig machen. Kulturelle Orientierungen umfassen die mit signifikanten Symbolen versehenen, gemeinsam geteilten gedanklichen Modelle. Signifikante Symbole stellen die in einer Situation angezeigten kulturell definierten Zeichen dar, die die Geltung eines bestimmten „frames" oder eines bestimmten Orientierungsrahmens indizieren, unter den die Situation ihrem sozialen Sinn nach gesteUt ist. Diese Orientierungsrahmen geben also Aufschluss dariiber, welche Art von sozialer Situation vorHegt, welche Opportunitaten und Restriktionen ein Akteur zu vergegenwartigen hat, welche Regeln er zu beachten hat und welche typischen kulturellen Rahmungen er von anderen Akteuren erwarten kann, Hier nimmt der soziale Sinn die Form von Codes bzw. Programmen an, die innerhalb des Geltungsbereichs jeweiliger Handlungsspharen festlegen, um was es im Handeln geht (Esser 2004a, S. 106). Codes definieren die Oberziele der jeweiHgen sozialen Situationen.

43 Suhjektiver Sinn Das Konzept des subjektiven Sinns bezieht sich auf die subjektive Wirklichkeit individueUer Akteure und deren reales Handeki. D a es sich bei diesem Konzept u m eine Kategorie in einem Modell der soziologischen Erklarung handelt, ist der subjektive Sinn nicht, wie haufig angenommen, mit der subjektiven Wirklichkeit der Akteure identisch. Es handelt sich u m eine Zurechnungs- bzw. Zuschreibungskategorie, die von einem Beobachter (der auch der Handelnde selbst sein kann) vorgenommen wird, um sich das Handeln von Akteuren erklaren zu konnen. Die Konstitution des subjektiven Sinns in all seinen Dimen-

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sionen ist eine Leistung der subjektiven Definition bzw. des Framings von Situationen. „Es geht bei der subjektiven Definition der Situation u m ein inneres Tun eines einzelnen Akteurs im Moment einer gegebenen Situation, der auf der Grundlage der objektiven auBeren und inneren Bedingungen eine Selektion iiber eine bestimmte subjektive Sicht der Situation vornimmt" (Esser 1999a, S. 66, Hervorh. weggel). Diese Frames oder Rahmen bringen liberaus komplexe Situationen so auf eine „Definition", dass subjektiv sinnhaftes Handeln moglich wird. Sie geben der Situationen einen subjektiven Sinn. Die Definition der Situation findet in verschiedenen Hinsichten statt, namlich in Hinsicht auf den durch Kuitur, Institutionen und Opportunitaten aufgespannten sozialen Sinn einer Handlungssituation (vgl. Esser 1999a, S. 174, 2001a, S. 3). Die im Framingprozess benutzten gedankHchen Modelle oder Rahmen schopfen die Akteure aus dem koUektiv geteilten Wissensvorrat. Als „Kultur" bezeichnet Esser die kollektiv geteilten Gewohnheiten, Wissensbestande, Handlungsregeln und Gefuhlstypen, die in gedankHchen Modellen der Akteure reprasentiert sind. In diesen gedankHchen ModeUen sind kognitive Reprasentationen, voluntative Handlungsorientierungen und affektive Symbolbesetzungen aufs Engste zusammengeschlossen. Spezifische Kulturen werden in der Regel von einem Leitwert oder einem Code regiert, der die situationsspezifischen Oberziele beinhaltet. Unter dem Code versteht Esser nun eine innere Einstellung eines Akteurs (Esser 1999a, S. 165). Der Code typisiert eine Situation, steUt sie unter ein Ziel und definiert somit den Sinn der Situation. „Subjektiver Sinn" und „Kultur" weisen also eine hohe Affinitat auf, denn Kulturen stellen den Vorrat an Wissen, Regeln und Programmen dar, aus dem sich Akteure bedienen, wenn sie ihr Handeln mit subjektivem und sozialem Sinn versehen woUen. „Die Kuitur ist also der Schliissel zum Sinn, den die Akteure mit ihrem Tun verbinden, und daher ist jedes „verstehende" Erklaren der Akteure an eine Untersuchung der „kulturellen Systeme" gebunden, die die Akteure als gedankHche ModeUe miteinander teilen" (Esser 2001a, S. 4). D e n Prozess der durch kultureUe Symbole geleiteten subjektiven Deutung sozialer Situationen bezeichnet Esser als kultureUe Rahmung. Sie besteht aus zwei, haufig simultan ablaufenden Selektionsprozessen. Der erste Prozess besteht aus dem Erleben und der Wahrnehmung von auBeren und inneren Umwelten, also der Selektion von Reizen und der Verarbeitxing von Informationen. Er wird von Esser als „Kognition" bezeichnet. Der Vorgang der Kognition besteht daria, dass innere Reprasentationen der momentanen objektiven Handlungs situation gebildet werden. Er fuhrt zu einer inneren Konstruktion von bestimmten mentalen ModeUen der Situation. Die zweite Selektion besteht nun darin, dass aus diesem Set alternativer ModeUe ein ModeU ausgewahlt wird. Sie wird von Esser als „Orientierung" bezeichnet. Sie besteht darin, dass ein Akteur sich auf eine Situation in bestimmter Weise einsteUt und bestimmte Handlungsdispositionen gewinnt. Durch die Selektionsprozesse der

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Kognition und der Orientierung bildet sich also in der Auseinandersetzung zwischen objektiven auBeren Bedingungen der Situation und den subjektiven inneren Bedingungen ein Bezugs- oder Orientierungsrahmen. Zwischen der objektiven Situation und den mentalen Reprasentationen vermitteln Symbole oder Symbolisierungen. Diese geben Aufschluss dariiber, welcher Code in einer Situation gerade gilt. Die Selektion von Bezugsrahmen bzw. von kulturellen Systemen bezeichnet Esser als Framing. Auch der Framingprozess bezieht sich auf verschiedene Einzelselektionen. Es werden ein gedankliches Modell zur Rahmung der Situation (Frame) und ein gedankliches Modell fur die Ausfiihrung von Handlungen (Skript) selektiert. Bei Frames und Skripten handelt es sich u m im Gedachtnis gespeicherte, die situative Wirklichkeit drastisch reduzierende Modelle von typischen Situationen und typischen Handlungsverlaufen. Frames rahmen eine Situation dadurch, dass sie diese unter einen bestimmten Leitcode stellen, ein oberstes Ziel, um welches es in dieser Situation geht. Skripte beinhalten die am Code orientierten typischen Handlungssequenzen. Sie formulieren gewisse Handlungsprogramme, geben also beispielsweise an, welche Mittel fur welche Ziele adaquat sind oder normativ erwiinscht. Die Rahmung von Situationen kann idealtypisch zwei verschiedene Formen annehmen. Wenn in einer Situation alles so ist, wie erwartet, wenn er an der Tauglichkeit seiner Deutungsmuster nicht zweifeln muss und sich alle wesentHchen Elemente einer Situation in das Rezeptionsmuster integrieren las sen, dann besteht fur den Akteur keine Notwendigkeit, nach alternativen Rahmungen zu suchen. Wenn sich jedoch im Verlauf der Kognition neue oder unerwartete Informationen bilden, dann tut der Akteur gut daran, sein altes mentales Modell zu uberpriifen und neue Deutungsmuster zu generieren, um situationsgerecht handeki zu konnen. Die Phase der Orientierung kann also nach Esser zwei verschiedene Modi annehmen: Sie kann automatisch, reflexhaft und nicht-konsequenzenorientiert verlaufen oder eben verzogert, reflexiv und konsequenzenorientiert (vgl. Esser 2001a, S. 204). Dies betrifft sowohl die Selektion eines Frames als auch die Selektion eines Skripts. Beide Selektionen konnen also in einem automatischen oder in einem reflexiven Modus durchgefiihrt werden. Nach welchem Modus die Selektionen nun im Einzelnen durchgefiihrt werden, das ist nach Esser davon abhangig, ob zwischen den gedanklichen Modellen und der Situation Ubereinstimmung besteht oder nicht. Liegt eine Ubereinstimmung bzw. ein „Match" zwischen erwarteten und vorhandenen Symbolen in einer Situation vor, dann werden gelernte Frames und Skripte in einem automatischen Modus selektiert. Ist die Situation hingegen neu, Hegt ein Mismatch vor, dann werden gelernte Frames und Skripte inhibiert, iiberpruft und unter Umstanden neue Modelle

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2ur interpretativen Bewaltigung der situativen Anforderungen entwickelt, und zwar ixn Modus des konsequenzenorientierten Handelns.^^ Der individuelle Framingprozess konstituiert also den subjektiven Sinn bzw. die subjektive Wirklichkeit der Akteure. Sinn verweist auf Selektion. Und diese Selektionsprozesse weisen nach Esser zwei Merkmale auf. Sie sind erstens binar codiert, und sie sind zweitens nach den Annahmen der Wert-ErwartungsTheorie modellierbar. Bei alien Selektionen von Frames oder Skripten geht es nach Esser (2001a, S. 264f) u m die Wahl innerhalb eines binar strukturierten Sets von Alternativen, namlich u m die Wahl zwischen dem plausiblen und dem nachst plausiblen Modell. Alle anderen Moglichkeiten, Rahmungen zu setzen oder Handlungsprogramme zu entwickeln, bleiben latent im Hintergrund. Es stehen also immer nur Paare zur Wahl, z. B. in der Politik die MogUchkeit, jemanden als Parteiganger oder politischen Gegner zu behandeln, im Bereich der Wirtschaft die Moglichkeit, eine Ware zu bezahlen oder nicht zu bezahlen oder im Bereich der Wissenschaft einer wissenschaftHchen Aussage zuzustimmen oder sie abzulehnen. Esser spricht gleichsam von einem „[...] *dyadischen Instinkt', sich die Welt (zunachst) in einfachen binaren Schematismen gedanklich und emotional zurechtzulegen, zu 'reifizieren' und zu ordnen [...]" (Esser 2001a, S. 265). Die zweite wesentHche Eigenschaft der Framingprozesse besteht darin, dass die Logik ihrer Selektion sich mit Hilfe der Wert-Erwartungs-Theorie modellieren las sen. In die Wert-Erwartungstheorie finden die beiden mit dem Konzept des subjektiven Sinns grundsatzlich verbundenen Variablen Eingang: Die Ab sich ten von Akteuren und die struktureUen Rahmungen und Bedingungen, unter denen diese Ab sich ten verwirkHcht werden konnen (vgl. Esser 1999a, S. 248). Sie stellt ein ModeU fur die soziologische Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen bzw. ein allgemeines Modell fur jede Analyse der Selektion von Handlungen dar.^^ gg werden also nach Esser sowohl als Frame wie als Skript wie auch hinsichtHch der jeweiligen Form der Informationsverarbeitung diejenigen Alternativen gewahlt, die in besonderer Weise nutzenmaximierend sind. Uber Nutzenmaximierung erklart Esser auch (in Einklang mit evolutionistischen Erkenntnistheorien) den Umstand, dass haufig die gedankUchen ModeUe mit den Umwelten libereinstimmen. Die von den Akteuren gewahlten Modelle miissen in der Regel viabel sein, sie miissen passen, weil ihr Handeln nur dann eine Nutzenfunktion darstellt, wenn entscheidende Parame-

Nur am Rande sei erwahnt: Die Differenzierung zwischen diesen beiden Modi findet sich vor alien sozialpsychologischen und soziologischen Analysen schon in der hermeneutischen Tradition, beispielsweise in der Unterscheidung von dem „unmittelbaren" und dem „philologischen Verstehen" bei Schleiermacher oder Heymann Steinthal. Die Wert-Erwartungstheorie oder WE-Theorie kann an dieser Stelle nicht ausfiiihrlich dargestellt werden - vgl. hierzu Esser 1999a, S. 247ff.

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ter der auBeren und der inner en Umwelt nicht auf Dauer missachtet werden. Von daher kann Esser (2003b, S. 72) subjektiven Sinn auf „situationsgerechtes Handeln" beziehen. 4.4 Die so^ale Konstitution des Sinns

In aller Kegel ist das Handeln in eine Viekahl von anderen Sequenzen prozesshaft eingebunden. Diese Prozesse werden von Esser (1999a, S. 174, 2001a, S. 303ff) auch als „kollektive Definition der Situation" oder als „soziales Framing" bezeichnet. Diese kollektiven Situationsdefinitionen sind, wie Esser (2001a, S. 171 ff) mit der Ethnomethodologie betont, iiberaus fragil und miissen gleichsam in jedem einzelnen Kommunikationsakt in ihrem Sinn stets neu hergestellt werden. Grundlage und Folge des sozialen Framings ist aber der „soziale Konstitutionsprozess" (Esser 2001a, S. 496ff) der wechselseitigen Konstitution von sozialen, psychischen und kulturellen Systemen. Auch hier bildet das Modell der soziologischen Erklarung bzw. eine dynamisierte Variante desselben die analytische Matrix: Der erste Schritt besteht in dem individuellen Framing eines Akteurs in einer sozialen Situation und hat zum Ergebnis eine automatische oder reflexive Einstellung zu einer Situation. Der zweite Schritt besteht im Anschluss an diese Definition der Situation in der Aktivierung eines overten, also fiir andere Akteure sichtbaren Handelns, welches — und dies ist der dritte Schritt — gewisse kollektive Folgen in einer neuen sozialen Situation nach MaBgabe der Logik der Aggregation zeitigt. Hieran kniipft dann in einem vierten Schritt (bzw. in einer Vielzahl weiterer Schritte unterschiedlicher Akteure) ein neues Framing an, welches das overte Handeln als Symbol fiir bestimmte auBere Gegebenheiten oder innere Einstellungen interpretiert und seinerseits gegebenenfaUs ein overtes Handeln mit bestimmten kollektiven Folgen auf der Aggregationsebene anschlieBt. In diesen sequentiellen Verschaltungen findet nun eine Ko-Konstitution von sozialen, kulturellen und psychischen Systemen statt. Ein soziales System bildet und reproduziert sich als Abfolge von (wie auch immer veranderten) sozialen Situationen, es wird das kulturelle System in Form der sozial geteilten mentalen Modelle der Situationsdefinition und der Handlungsskripte (in einer wie auch immer bestatigten oder modifizierten Weise) fortgefQhrt, und es reproduziert sich das psychische System der Akteure als Set von Wis sens- und Identitatskomponenten. In diesen Prozessen werden Situationsdefinitionen kollektiver Art ermogHcht. Es findet eine reflexive Riickkopplung der verschiedenen individuellen Situationsdefinitionen mit der Folge statt, dass es zur Ausbildung von kollektiven Situationsdefinitionen kommen kann. Soziales Framing heiBt nun auch, dass die Frames und Skripte, mit denen die einzelnen Akteure operieren, sozialen Ursprungs sind. Sie werden in sozialen Prozessen konstituiert, in sozialen

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Prozessen, die mit Hilfe des Modells der soziologischen Erklarung sequentiell rekonstruierbar und erklarbar sind. Die in sozialen Situationen wirkenden strukturellen Parameter sind das Ergebnis von kommunikativ erzeugten kollektiven Situationsdefinitionen, die eben deshalb auf die einzelnen Akteure wie eine „fait social" zuriickwirken. Der subjektive Sinn von Akteuren ist nichts anderes als das Ergebnis eines sich zwischen den jeweiligen auBeren Bedingungen und den jeweiligen inneren Zustanden von Personen einregulierenden Lernprozesses, der auf vorangegangene Ergebnisse zuriickgreifen kann. Die individuelle oder subjektive Definition von Situationen ist also immer die Folge von voraus Hegenden sozialen bzw. kommunikativ erzeugten Situationsdefinitionen. Eine Konsequenz des sozialen Framings besteht darin, dass der soziale Sinn einer Situation von dem Akteur selbst kaum beeinflussbar und steuerbar ist. Das individuelle Framing ist darauf angewiesen, dass es dem Sinn nach sozial anschlussfahig bleibt und sich an den kultureUen, institutionellen und materieUen Vorgaben der sozialen Situation orientiert. Es sind dies Vorgaben der Logik der Situation, die sich auch in der Logik der Selektion durchsetzen (Esser 1999a, S. 217). Wie aber erklart Esser, dass der subjektive Sinn haufig mit dem objektiven Sinn der Definition bzw. dem sozialen Sinn der Regeln ubereinstimmt? Ein Nutzentheoretiker muss an dieser SteUe naturHch die Nutzenannahmen sprechen lassen. Wenn ein Akteur Mittel fur sein physisches Wohlbefinden und, mehr noch, fur seine soziale Wertschatzung gewinnen wiU, so ist er gut beraten, das Richtige in der richtigen Situation zu tun. Der Nutzen und die Folgen seines Tuns wiirden merkUch sinken, wenn die objektiven Vorgaben missachtet bzw. dauerhaft falsch interpretiert wiirden. Esser erklart also die in der Regel vorfindbare Ubereinstimmung von subjektivem und sozialem Sinn auf der Basis einer nutzenmaximierenden Anpassungsrationalitat. Werfen wir zum Abschluss noch einen BHck auf das Problem der sozialen Konstitution des Sinns von Handlungen. D e m Modell der soziologischen Erklarung zufolge wird der soziale Sinn einer Handlung also auf der Basis eines etabHerten, symmetrischen Regelsystems konstituiert. Ausgangspunkt dieser Modellierung ist nicht die unvermittelte, wechselseitige Interpretation von Handlungen zwischen Akteuren, sondern die Interpretation von Handlungen auf der Basis eines objektivierten Regelsystems. Dieses wirkt dem Modell zufolge als Garant einer hinreichend groBen intersubjektiven Ubereinstimmung iiber die Deutung des subjektiven Sinns von Handlungen. Entsprechend kann das Modell der soziologischen Erklarung dem Pol des semantischen Kollektivismus zugerechnet werden.

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5 Sinn in der Systemtheotie von Niklas Luhmann Man kann cum grano salis in der werkgeschichtlichen Entwicklung der Systemtheorie Niklas Luhmanns drei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, die sich von den spaten 1950er Jahren bis etwa Mitte der 1970er Jahre erstreckt, kann man von einer handlungstheoretischen Systemtheorie sprechen — Systeme werden als Handlungs systeme konzipiert. Sie wird fortgesetzt von einer mitderen Phase, in welcher die Kommunikationstheorie mehr und mehr in das Zentrum riickt. Diese Phase findet in dem Werk iiber „So2iale Systeme" (Luhmann 1984) ihre Synthese. In den spaten 1980er Jahren beginnt schlieBHch der verstarkte Einbau des Formenkalkiils von Spencer Brown (1971) mit den entsprechenden Anschlussunterscheidungen. Trotz dieser Ausfacherungen und Umbauten ist eines iiber all die Jahre hinweg gleich gebUeben, namlich der Umstand, dass die Sinnproblematik selbst immer im analytischen Mittelpunkt der Systemtheorie Luhmanns stand. Aber dennoch sind diese Umbauten auch am Sinnbegriff nicht spurlos vorbei gegangen. Er hat durch sie mehr und mehr an Komplexitat gewonnen, weil er immer wieder an neue Theorielagen angepasst werden musste. Das bekommt man in den BHck, wenn man die Systemtheorie mit Hilfe einer — zugegebenermaBen iiberaus abstrakten — Ordnung verschiedener Problemstufen rekonstruiert (vgl Schxitzeichel 2003). Dabei witrd die oberste Stufe gebildet durch das Problem der Konstitution von Sinn als Sinn. Die Frage nach den sinnhaften (!) Bedingungen der MogHchkeit einer Genese von sozialen Systemen kann als oberste Leitfrage der Systemtheorie betrachtet werden. Diese Problemstufe geht iiber in eine zweite Problemebene. Diese wird gepragt durch die Frage, in welchen Dimensionen sich Sinn bilden kann. Die Antwort lautet: Es sind die Dimensionen des Sozialen, des SachHchen und des Temporalen. Soziale Phanomene konstituieren sich sinnhaft in der Sozial-, der Sachund der Zeitdimension von Sinn. Aber damit sind erst die Dimensionen der Sinnbestimmung benannt. Auf einer weiteren, einer dritten Problemstufe werden schlieBHch die Basiseinheiten eingefiihrt, mit Hilfe derer soziale Systeme sinnhaft prozessieren, die sehr abstrakt als Operationen bezeichnet werden. Die Frage nach der sinnhaften Bestimmung von Sinn wird damit transformiert in die Problemstellung, wie sich sinnhafte Operationen sinnhaft bestimmen konnen. Damit wird also die oberste Problemstellung entsprechend konkretisiert. Die Leitfrage lautet nun: Was sind die Bedingungen der MogHchkeit der Bildung von sozialen Phanomenen unter der Pramisse, dass sich Operationen sinnhaft aufeinander beziehen bzw. sinnhaft aneinander anschHeBen miissen. Diese Ausgangsproblematik wird noch verscharft, wenn man wie Luhmann auf dieser Ebene die Pramisse einfiihrt, dass es sich bei diesen Operationen in temporaler Hinsicht um Ereignisse handelt. Dieses Problem wird unter der Bezeichnung „TemporaHsierung von Komplexitat" (Luhmann 1980b) verhan-

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delt. Wie konnen sich unter der Pramisse von hochgradig temporalisierten Operationen soziale Systeme bilden? Luhmanns Antwort lautet hier: D u t c h sinnhafte Selbstreferenz bzw. die sinnhafte Einheit der Unterscheidung von Selbst-/Fremdreferen2, Mit Hilfe dieser Problemstxifenordnung lasst sich auch das spezifische Forschungsprogramm der Systemtheorie identifizieren: Es geht ihr nicht um eine Beantwortung von Warum-Fragen, also um das, was man gemeinhin Erklarungen nennt, sondern um die Beantwortung von Forschungsfragen eines anderen Typs, namlich von Wie-ist-X-moglich-Fragen, beispielsweise der Frage, die im Zentrum der spateren Untersuchungen steht: Wie konnen sich soziale Systeme bilden? Wie konnen sich Handlungen und Kommunikationen konstituieren? Wie ist es moglich, dass soziale Systeme sich von dem unterscheiden, was sie nicht sind? Wenn man Fragen dieses Typs stellt, dann reichen traditionelle handlungstheoretische Antworten, die gleichsam die Bedingungen der Moglichkeit in die Intentionalitat der Handelnden verlagern, nicht aus. Entsprechend ablehnend steht man in der Systemtheorie solchen vorschnellen kausalen und funktionalen Erklarungsversuchen gegeniiber, die eine verkiirzte Problemanalyse liefern und dabei das Soziale nur als ein Aggregationsphanomen betrachten. Das oberste Bezugsproblem der Systemtheorie hat sich dementsprechend von einem „Handlungsfunktionalismus" liber einen „Bestandsfunktionalismus" hin zum „Sukzessionsfunktionalismus" gewandelt — es geht nicht mehr um die Frage nach dem Erhalt von Bestanden, sondern u m die Frage nach der Reproduktion von Differenzen in der immer nur kontingenten Sukzession von selbstbeziiglichen, ereignishaften Operationen, Das Sinnkonzept ist auf diese Leitfrage nicht nur zugeschnitten, sondern es kann auch als der theorieimmanente Katalysator dieser Entwicklung angesehen werden.

5.1 Sinnkonzept und Sinndimensionen: Sachliche, so^ale und ^eitliche Sinndimension Mit „Sinn" thematisiert die Systemtheorie unhintergehbare Voraussetzungen unseres Erlebens und Handekis.^"^ Diese sind immer in einer bestimmten Weise strukturiert. Sinn stellt einen Verweisungszusammenhang zwischen aktueUem

Haufig wurde und wird Sinn in einer ethischen oder religiosen Dimension verstanden und demzufolge der Systemtheorie eine „Irrealisierung der Sinnproblematik" unterstellt, so auch jiingst wieder bei Weber (2005, S. 45ff) — dies hat natiirlich nichts mit der systemtheoretischen Begrifflichkeit zu tun, die sich von Beginn an gegen diese Reduktion auf die „nomische" Bedeutung wehrte (vgl. Hahn 1987). Einen guten ersten Uberblick auch iiber die Rezeption bietet Krause 2005, S. 12ff.

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Erleben und Handeln und anderen Moglichkeiten des Erlebens und Handelns dar. Sinn verweist auf andere Moglichkeiten des Erlebens und Handelns. Sinn apprasentiert im konkreten, wicklichen Erleben und Handeln immer auch andere Moglichkeiten des Erlebens und Handelns. In einem kurzlich aus dem Nachlass ^"^ veroffentlichten Werk gibt Luhmann diesem Zusammenhang eine selten anschauliche Fas sung: „Sinn ist gegeben als etwas, das auf sich selbst und anderes verweist. Ein momentan festgehaltener und insofern unbezweifelbar erlebter Sinnkern dient als Ausgangspunkt weiteren Erlebens — sei es des Verweilens und der genaueren Exploration, sei es des Ubergangs zu anderen. Er bleibt an sich selbst zuganglich und auch wieder erreichbar als Voraussetzung dafur, daB anderes von ihm aus zuganglich ist. Eine Rose ist eine Rose — aber nicht nur eine Rose, sondern eine Rose in meinem Garten, die von Unkraut bedroht ist, das man chemisch bekampfen miiBte, was man aber neuerdings wiederum nicht soil, weil die Umwelt geschont werden muB, usw. Die Selbstverweisung garantiert den jeweils aktuellen Sinn als Platzhalter fiir eine Vielzahl von weiteren Verweisungen, weiteren Moglichkeiten des Erlebens und der Kommunikation, die jeweils neuen Ausgangssian aktualisieren mit jeweils neuen Moglichkeiten der Selbstverweisung und des rekursiven Wiederaktualisierens des sen, wovon man ausgegangen war. Insofern ist Selbstreferenz in einem ganz elementaren (weder ich- noch systembezogenen) Sinne diejenige Struktur, die Sinn als Element von Erlebens- und Handelnszusammenhangen konstituiert und reproduziert" (Luhmann 2004, S. 244). In seiner spaten Theoriephase steUt Luhmann das Erleben und Handeln unter den Zentralbegriff der „Operation" bzw. der „Beobachtung". Als Beobachtung wird in einer sehr abstrakten Weise die Benutzung von Unterscheidungen bezeichnet, und Operationen sind eben aktualisierte, ihrerseits beobachtbare Beobachtungen. Demzufolge stellt unser Erleben und Handeln bestimmte Formen des Operierens und Beobachtens dar. Und auch fiir diese gilt dann, dass das sinnhafte Operieren und Beobachten immer auf andere potentieUe Moglichkeiten des Operierens und Beobachtens verweist. Beobachten heiBt seinerseits: AktuaHsierung von Unterscheidungen. Unterscheidungen sind nun dadurch charakterisiert, dass sie zwei Seiten aufweisen — es wird etwas unterschieden von etwas anderem, Oder, anders formuHert, es wird eine Seite be-

Es handelt sich um einen Text, der den beiden Herausgebern, Giinter Burkart und Gunter Runkel (2004) zufolge, aus dem Jahre 1981 stammt und fiir einen der ersten Bande von „Gesellschaftsstruktur und Semantik" vorgesehen war. Dieser Text macht iibrigens nochmals auf das bisher noch nicht eingeloste Erfordernis aufmerksam, die Systemtheorie als eine phanomenologische Theorie, und zwar als eine iiber Husserl hinausweisende phanomenologische Theorie zu betrachten.

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zeichnet, wahrend die andere nicht bezeichnet wird, aber fur mogliche Bezeichnungen zur Verfugung steht. Dies wild mit der nunmehr beruhmten Unterscheidung von markierter und unmarkierter Seite (bzw. marked state und unmarked state) beschrieben. Unser Erleben und Handeln ist derart strukturiert, dass es intentional auf bestimmte Gegenstande hin orientiert ist. Wir denken an etwas, wir sagen etwas aus, wir wiinschen uns etwas, wir furchten etwas oder wir handeln im Hinblick auf ein spezifisches Ziel und mit spezifischen Absichten und Mitteln oder wie auch immer. Mit „Sinn" wird nun in der Systemtheorie eben nicht dieses „Etwas" bezeichnet, sondern es wird auf die Bedingungen der Moglichkeit verwiesen, dass wir „etwas" intendieren konnen. Die Voraussetzung fdr diese Intentionalitat ist nun, dass dieses „Etwas", der intentionale Gegenstand, von anderem unterschieden wird. Eben das ist von der Systemtheorie damit gemeint, dass unser Erleben und Handeln sich in Beobachtungen realisiert, die aktualisierte und reaHsierte Unterscheidungen darsteUen. Unterscheidungen sind sinnhafte Unterscheidungen — immer, wenn man etwas bezeichnet, unterscheidet man dieses von anderem und verweist damit zugleich auf anderes, welches eben nicht bezeichnet wird, aber potentiell bezeichnet werden konnte. Bezeichnung und Unterscheidung bilden nun eine unaufhebbare Einheit — man kann nicht etwas bezeichnen, ohne dieses von anderem unterscheiden zu konnen, und man kann nicht etwas unterscheiden, ohne eben dieses „etwas" zu bezeichnen. Diese Einheit von Bezeichnung und Unterscheidung wird von Luhmann mit Spencer Brown (1971) „Form" genannt. Damit haben wir nun in einer sehr abstrakten, aber auch an dieser Stelle nicht naher expHzierbaren Weise den Zusammenhang von „Sinn", „Form" und „Beobachtung" hergestellt.^^ Aber kommen wir wieder auf die Sinnthematik zuriick. Unser Erleben, Handeln oder genereU unser Beobachten ist sinnhaft, weil standig Verweisungen auf andere Moglichkeiten des Beobachtens, also des Benutzens von Unterscheidungen mitgefuhrt werden. Damit konnen wir nun das Zentralproblem der Systemtheorie von Luhmann nochmals in anderen Worten formuHeren. Luhmann fragt nach den Bedingungen der Moglichkeit der Bildung von sozialen Phanomenen. Soziale Phanomene sind solche Phanomene, in denen Operationen bzw. Beobachtungen sinnhaft aufeinander Bezug nehmen. Sinn aber heiBt: Verweisung auf andere Moglichkeiten des Operierens. Sinn impliziert damit einerseits das Selektionsproblem: Welche Moglichkeiten werden selektiert bzw. realisiert, wenn doch standig in jedem Operieren andere Moglichkeiten mitgefuhrt werden? Und Sinn impliziert zweitens Kontingenz: Das Operieren wird zu einem kontingenten Faktum — es

Nahere Erlauterungen finden sich in meiner Studie iiber die Architektonik der Systemtheorie (Schiitzeichel 2003).

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kann auch ganz anders realisiert werden. Damit stellt sich fiir die Systemtheorie die Frage, wie unter den Bedingungen der Selektivitat und der Konldngenz von Sinn soziale Phanomene solche Formen ausbilden konnen, mit Hilfe derer sie beobachten und operieren und sich somit auch reproduzieren konnen. Und man darf wohl davon ausgehen, dass diese Bedingungen so hoch geschraubt sind, dass die meisten Moglichkeiten eben nicht in Wirklichkeiten iiberfuhrt werden konnen. N u n ist die Charakterisietung von Sinn als Verweisung auf andere Moglichkeiten des Erlebens und Handelns sehr abstrakt. Sie stellt gleichsam den kleinsten gemeinsamen Nenner verschiedener Ausfacherungen dar, die die Sinnthematik in Luhmanns Theorie erfahren hat. Es las sen sich verschiedene Konzeptionen benennen. Die erste Konzeption ist die phanomenologische. Sie ist sehr stark von den Untersuchungen Husserls (1976) zum Zusammenhang von bewusstseinsformigen Aktualitatskernen und Horizontintentionalitaten beeinflusst. In dieser Version wird Sinn als Verweisungszusammenhang von aktuellem auf potentiellen Sinn oder, kurz, von Aktualitat auf Potentialitat verstanden. Kerngedanke ist, dass jedes sinnhaft Gegebene mit Verweisungen auf einen Horizont anderer Moglichkeiten und letztlich auf Welt als Horizont aller Horizonte ausgestattet ist. „Sinn", so Luhmann (1978, S. 70), „beruht mithin auf einer unaufhebbaren Doppelbodigkeit der Orientierung, auf einer Simultanprasentation mindestens zweier Ebenen, deren eine einen Horizont von MogHchkeiten, deren andere das selektiv ReaUsierte bezeichnet." Diese phanomenologische Version wird erganzt und erweitert dutch komplexitatstheoretische, also genuin systemtheoretische Annahmen. Wenn es immer mehr Moglichkeiten des sinnhaften Erlebens und Handelns gibt, als aktualtsiert werden konnen, dann entsteht eine gewisse Komplexitat. Komplexitat heiBt, dass die Relationen zwischen Einheiten relationiert, also selektiert werden miissen. Komplexitat fiihrt also zu SelektionSzwang. „Sinn laBt keine andere Wahl als zu wahlen" (Luhmann 1984, S. 194). Nur bestimmte Moglichkeiten in der Relationierung von Relationen konnen aktuaUsiert werden. Jede Beobachtung bzw. Operation stellt also eine Selektion dar, wobei diese Selektion aber eine sinnhafte ist mit der Konsequenz, dass die Nichtrealisierung von MogHchkeiten nicht zu einer Vernichtung, sondern nur zu einer Inhibierung, zu einer „Aufhebung" bzw. zu einer PotenziaHsierung dieser MogHchkeiten fiihrt. In komplexitatstheoretischer Hinsicht kann die Funktion von Sinn in der folgenden Weise bestimmt werden: Sinn hat zum Zwecke der Informationsverarbeitung die Funktion der Apprasentation von Weltkomplexitat. „Unter Sinn soU [...] verstanden sein ein UberschuB an implizierten Verweisungen auf anderes, der zu selektivem Vorgehen in aUem anschHeBenden Erleben und Handeln zwingt. Sinn halt ,andeutungsweise' die ganze Welt zugangHch, erfordert aber eben damit laufende Selektion des nachsten Schrittes in einem mehr oder weniger

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konkret apperzipierten Kontext anderer Moglichkeiten" (Luhmann 1980a, S. 35). Eine weitere Ausfacherung dieser phanomenologischen und systemtheoretischen Basis findet nun dutch den Explosivstoff „Selbstreferen2" (vgl. Luhmann 1987) statt. Sinn ist ein differenzloser Begriff- es gibt keine Unterscheidung von Sinn, sondern nur ein Operieren im Medium Sinn. Jede Operation ist fremdreferentiellen oder selbstreferentiellen Sinnverweisungen ausgeset2t (Luhmann 2000a, S. 322). Sinn ist selbstreferentiell, weil der Verweisung auf einen Horizont anderer MogHchkeiten des Erlebens und Handelns eine selbstreferentielle Struktur eigen ist insofern, als dieser Horizont nur Horizont eines stets verschobenen Aktualitatskerns ist. „Sinn tragt sich selbst, indem er seine eigene Reproduktion selbstreferentiell ermogUcht" (Luhmann 1984, S. 141). Diese SelbstreferentiaHtat von Sinn thematisiert Luhmann unter der doppelten FrontsteUung von „basaler InstabiUtat" und „immanenter Transzendenz". Sinn ist immanent transzendent, weil jede Sinnbestimmung auf andere mogUche Sinnbestimmungen verweist, und Sinn ist deshalb ein basal instabiles Phanomen, weil sich der AktuaHtatskern mit jeder Bestimmung neu verschiebt, weil jede AktuaHsierung neue Horizonte von AktuaHtat und PotentiaHtat eroffnet. Das Sinngeschehen ist „Autopoiesis par excellence" (Luhmann 1984, S. 101). Von daher versorgt Sinn soziale Systeme (und psychische Systeme) sowohl mit Instabilitat wie mit Stabilitat. Mit InstabiUtat aufgrund des permanenten ZerfaUs von Aktualitatskernen, mit Stabilitat deshalb, weil jede AktuaHsierung auf weitere mogliche AktuaUsierungen von Sinn verweist. Eine weitere wesentHche Bestimmung von Sinn wird nun mit Hilfe der Formenlogik von Spencer Brown erreicht. Neben die Unterscheidung von AktuaHtat und PotenziaHtat tritt nun die Unterscheidung von Identitat und Differenz bzw. von Bezeichnung und Unterscheidung. Sinn lasst sich nun als eine Zwei-SeitenForm beschreiben, in welcher die markierte Seite der Innenseite von dem H o rizont anderer MogHchkeiten als der nicht-bezeichneten AuBenseite einer Unterscheidung betrachtet wird. Und auch hier ist wieder wichtig: Sinn ist nicht die Bezeichnung, nicht die Innenseite, sondern manifestiert sich in der unabdingbaren Verweisung in Innen- und AuBenseite. Sinn wird als Differenz von AktueUem und MogHchem aufgefasst, eine Differenz, die in ihre eigene Unterscheidung wiederum eingebaut wird, denn jegHches Sinnprozessieren reproduziert diese Differenz. Dieses wird nun letztmaHg und konsequent reformuHert mit Hilfe der Unterscheidung von Medium und Form. Sinn selbst kann zwar formenanalytisch analysiert werden, aber im Prozessieren nimmt es die Funktion eines Mediums ein, in welchem Formen generiert werden. Lose gekoppelte Elemente bilden ein Medium, fest gekoppelte eine Form. Sinn steUt das UniversaHnedium (vgl. Luhmann 1997a, S. 51) schlechthin dar. AUe Formbestimmungen vollziehen sich im Medium Sinn, und zwar in einer Kopplung von Elementen, die in diesem Medium zur Verfiigung gesteUt bzw. in diesem Me-

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dium generiert werden. Nur Formen sind sichtbar, Medien aber nicht. Medien zeigen etwas, aber nur dann, wenn sie sich selbst nicht zeigen. Sie konstituieren einen Horizont potentieller Moglichkeiten von Formbildungen. Auch wenn Luhmann von Beginn an versuchte, Sinn „subjektios", also unter Ausschluss der Annahme von sinnstiftenden Instanzen und auch ohne Hinsicht auf einen bestitnmten Systemtyp oder unter Rekurs auf bestimtnte Sinntrager zu konzipieren, so kann man die Unterscheidung von Medium und Form erstmalig als eiae konkrete Alternative zu klassischen Subjektkonzeptionen betrachten. Dabei wtcd die Frage aufgeworfen, ob „Sinn nicht etwas Substanzielles oder Phanomenales, itrgendeine qualitative Einheit, sondern eine bestimmte Art der Differenz von Medium und Form ist" (Luhmann 2002, S. 229). Als eine bestimmte Differenz von Medium und Form wird Sinn als Medium und somit als „eine standige Aufforderung zur BHdung spezifischer Formen" (Luhmann 2002, S. 229) angesehen. Aber auch hier bleibt die Unterscheidung von AktuaUtat und Potenziahtat federfuhrend: „Wenn man auf eine Definition Wert legt, konnte man sagen: Sinn ist das Medium, das mit der Differenz von AktuaUtat und Potenzialitat arbeitet, und zwar mit der Differenz, mit der Unterscheidung in dem Sinne, dass die Einheit der Unterscheidung immer mitspielt, dass man also immer in dem, was man aktuell sieht, Moglichkeitsperspektiven hat und umgekehrte MogHchkeiten nicht thematisieren kann, nicht denken kann, auch gar nicht kommunikativ benutzen kann, wenn man dies nicht aktuell tut" (Luhmann 2002, S. 233). Luhmann kombiniert also die Unterscheidung von AktuaUtat und PotenziaUtat mit derjenigen von Medium und Form. Das Medium Sinn witd als ein Medium ausgezeichnet, welches MogUchkeiten der Formbildung anbietet. „MogUchkeiten", so Luhmann (2000a, S. 20), „hangen untereinander nur lose zusammen. Wenn eine von ihnen aktuaUsiert ist, folgt daraus nicht ohne weiteres, daB auch bestimmte andere reaUsiert werden. Es mag Konditionierungen geben, die Anschliisse mehr oder weniger wahrscheinUch werden las sen bis hin zum AusschluB jeder anderen MogUchkeit, was einem Beobachter dann als Notwendigkeit erscheint." Als mediales Substrat dienen, so Luhmann (2000a, S. 20) weiter, „SinnspUtter", die zu festen Formen gekoppelt werden, also beispielsweise Worte, um Aussagen zu formuUeren, Aussagen, um Texte zu produzieren. Und es sind diese aus den „SinnspUttern" gebildeten Sinnformen, die aktuaUsiert werden und dadurch sichtbar, also beobachtbar und anschlussfahig werden. „Das allgemeinste, nicht transzendierbare Medium fur jede Formbildung, das psychische und soziale Systeme verwenden konnen, nennen wir Sinn. Mit dem Begriff des Mediums ist festgelegt, daB Sinn nicht beobachtet werden kann — ebensowenig wie das Licht. Beobachtungen setzen ja unterscheidbare Formen voraus, und diese Formen konnen nur im Medium und nur in der Weise gebil-

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det werden, daB andere Moglichkeiten der Formbildung im Moment auBer Achtbleiben" (Luhmann 1996, S. 8, Hervorh. im Orig.).^^ N u n kann man daniber stxeiten, ob diese verschiedenen Reformulierungen und Ausfacheningen miteinander vertraglich sind. Das kann an dieser Stelle aber nicht analysiert werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sich ein Aspekt, namlich die selbstreferentiell organisierte Verweisung von etwas Aktuellem auf einen Hori2ont potentieller Moglichkeiten, im Grunde genommen durchhalt. Und dieser Aspekt findet konsequent seinen Ausdruck in der Formulierung, bei Sinn handele es sich u m das Universalmedium menschlichen Erlebens und Handekis schlechthin. „Sinnsystemen ist 2rwar im Prinzip alles zuganglich, aber alles nur in der Form von Sinn" (Luhmann 1984, S. 97). Sinn ist nun das grundlegende Medium fur Formbildungen, damit fiir Unterscheidungen und das Prozessieren von Unterscheidungen und damit also fur die Produktion wie die Reproduktion von sozialen Systemen deshalb, weil die Unterscheidung von AktuaHtat und Potentialitat alien anderen Formbildungen, auch der von System und Umwelt, zugrunde liegt. Oder mit anderen Worten: Die Unterscheidung von System und Umwelt ist ein Derivat der Unterscheidung von AktuaHtat und PotentiaHtat. Die Unterscheidung von AktuaHtat und PotentiaHtat ist nicht eine Unterscheidung neben anderen, sondern andere Unterscheidungen benutzen diese Form in je verschiedener Weise, beispielsweise durch die Form Immanenz und Transzendenz als Code reHgioser Beobachtung (vgl. bspw. Luhmann 2001, S. 18). Auf einen zweiten Punkt soUte noch hingewiesen werden: An der Karriere der Sinnthematik lasst sich so gut wie an keiner Thematik sonst die innere Entwicklung der Systemtheorie ablesen. Und schHeBHch miissen noch ein dritter und ein vierter Punkt erwahnt werden. Diese sind fiir die „Sinndimension" der Systemtheorie entscheidend. Sie ergeben sich als Folgerung aus der

In der Zusammenfassung dieses Aufsatees (Luhmann 1996, S. 3) findet sich folgende pragnante Formulierung: „Sinn ist ein Medium, das psychische und soi:iale Systeme benutzen, um sinnvolle Formen wie zum Beispiel Objekte, Symbole, Satze zu erzeugen. Aber Sinn selbst ist keine sinnvolle Form. Es ist ein unbeobachtbares Medium, das bei jedem Gebrauch von Formen als die „andere Seite" dieser Formen miterzeugt wird. Es verlangt eine kontinuierliche Produktion und Reproduktion von Formen, lasst dabei aber zugleich einen unmarkierten Raum entstehen als Bedingung dafur, daB Formen iiberhaupt unterschieden werden konnen." An dieser Stelle ist Luhmann strikt alteuropaisch, da er, wie sein Gewahrsautor Fritz Heider (ein Medium ist etwas, „durch das man ungehemmt hindurch[sehe]" — Heider 1999, S. 323), die Position eines MedienmarginaHsmus vertritt, um den Ausdruck von Sybille Kramer (2004, S. 22f) zu benutzen. Medienmarginalistische Theorien konzipieren Medien als transparente Vermittlungs- und Ubertragungsmedien, die ihre Funktion gerade dann erfiillen, wenn sie den Vermittlungsprozess nicht storen und das zu Ubertragende identisch halten. Die neuere Diskussion in den so genannten Kulturwissenschaften vertritt demgegeniiber einen „Mediengenerativismus" (Kramer 2004, S. 22f), dem zufolge Medien das, was sie hervorbringen, auch konstituieren und generieren.

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Selbstreferentialitat von Sinn. Sinn ist nicht negierbar. Auch die Negation von Sinn macht Sinn. Man fallt auch bei der Negation von Sinn oder der Postuliening von Un-Sinn nicht in ein Sinnloch, sondern gerade diese Operationen provozieren weitere Beobachtungen, was auf der anderen Seite zu der Universalitat von Sinn fuhrt. Und es ergibt sich viertens die Folgerung, dass Sinn keinen Trager hat oder kein Subjekt. Sinn wird nicht generiert oder produziert, sondern jede Generierung von Sinnformen ist nur moglich kn Medium Sinn. Sinn ist subjektlos bzw., umgekehrt, Subjekte sind Formen im Medium Sinn. Darin zeigt die Systemtheorie eine hohe Affinitat zu den auf Saussure zuriickgehenden strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien, die von dem Prinzip der Immanenz der Bedeutung bzw. des Sinns ausgehen: Bedeutungen bzw. Sinn ergeben sich nur durch Differenz- und Oppositionsbeziehungen von Formen in spezifischen Medien. Aber kommen wir nun auf die nachste Problemstufe zu sprechen: Wenn Sinn diesen Verweisungscharakter hat, wie wird dann im doppelten Horizont von Aktualitat und Potentialitat sinnhaft die Identitat oder die Form von etwas bestimmt? Zunachst einmal entwickelt Luhmann auf dieser Ebene die Dimensionen, in denen sich die sinnhaften Bestimmungen vollziehen miissen und in welche gewisse Schematismen eingebaut werden konnen. Dabei handelt es sich u m die Sach-, die Sozial- und die Zeitdimension. Alle sinnhaften Bestimmungen von etwas vollziehen sich Luhmann zufolge innerhalb dieser primordialen Doppelhorizonte von Diesem und Jenem, von Ego und Alter und von Friiher und Spater. Die Sachdimension von Sinn umfasst alle Objekte oder Themen, die Gegenstand von Gedanken oder Kommunikationen sein konnen. Hier ist die Unterscheidung von Innen- und AuBenhorizont, von Diesem und Jenem (oder derivative Unterscheidungen wie Dieses / Nicht-Dieses, Inneres / AuBeres, System / Umwelt oder moglicherweise auch der raumlichen von Hier / Dort) konstitutiv. Die Sozialdimension bezieht sich darauf, dass fiir das Erleben und Handeki von Ego das Erleben und Handeln von Alter konstitutiv ist. Der Umstand, dass es ein alter Ego gibt, ist fiir Egos Erleben und Handeln in bestimmten Hinsichten und in bestimmten Situationen entscheidend. Und die Zeitdimension von Sinn wird dadurch konstituiert, dass jedes aktuelle Erleben und Handeln sich in einem Horizont von Friiher und Spater oder von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abspielt,^'^ Allen diesen Sinndimensionen ist gemeinsam, dass sie analog strukturiert sind, namUch aus einer Verdoppelung von Horizonten bestehen. Und in diese Doppelhorizonte konnen wiederum die entsprechenden Differenzen eingefiihrt werden. In der Vergangenheit kon-

In diesen Dimensionen, ihren Differeni^ierungen und Schematisierungen, vollzieht sich die soziokulturelle Evolution der Menschheit. Dies verweist auf den engsten Zusammenhang von Sinn, Sinndimensionen und Evolution, welcher hier aber nicht naher ausgearbeitet werden kann.

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nen eine vergangene Zukunft und eine vergangene Vergangenheit unterschieden werden, Alter kann als Ego beobachtet werden, welches selbst mit der Unterscheidung von Ego und Alter arbeitet, und der innere Horkont von Dingen lasst sich wiederum mit Hilfe von Innen und AuBen differenzieren. Auf diesem Wege kommt es zu einer enorm komplexen MehrfachmodaHsierung in den Sinndimensionen. 5.2 Die sinnhafte Konstitution von So^alitdt

Fiir die Soziologie ist die Sozialdimension von Sinn von besonderem Interesse. Ihr gilt die nachste Ebene in der Problemstufenordnung der Systemtheorie. Ausgangspunkt siad also die Operationen von Ego und Alter. Das Erleben und Handeln von Alter wird fur Ego dann zu einem Problem, wenn Ego auf die Kooperation oder Koordination mit Alter angewiesen ist (Luhmann 1984, S. 161). Diese Konstellation fiihrt zur Genese von sozialen Systemen. „Die Sozialdimension alien Sinns betrifft die ganze Welt, die ganze Weitraumigkeit eigenen Erlebens und eingeschatzten fremden Erlebens im Ausgang vom jeweils konkreten Hier und Jetzt. [...] Soziale Systeme bUden sich hingegen nur dort, wo Handlungen verschiedener psychischer oder sozialer Systeme aufeinander abgestimmt werden miissen, weil fiir die Selektion der einen Handlung die andere Voraussetzung ist oder umgekehrt" (Luhmann 1984, S. 161). Mit dieser ProblemkonsteUation geht ein grundlegendes Problem einher: das Problem der doppelten Kontingenz. Doppelte Kontingenz heiBt, dass Ego seine sinnhaften Selektionen nur vor dem Hiatergrund eiaes Wissens um die Relevanz seiner Selektionen fiir Alter vornehmen kann — und umgekehrt. Welche Selektion kann Ego vornehmen, wenn er nicht weifi, wie Alter sich verhalt, und Alter sich nicht festlegen kann, da er nicht weiB, wie Ego sich verhalt? Das Theorem der doppelten Kontingenz supponiert also einen NuUpunkt von SoziaHtat und fragt dann nach den Bedingungen der MogHchkeit, wie sinnhafte Selektionen, die aufeinander Bezug nehmen miissen, vorgenommen werden konnen. Wie lasst sich die in der logischen Rekonstruktion volHg unbestimmte Komplexitat der Situation doppelter Kontingenz in eine Situation bestimmter Komplexitat iiberfiihren? Luhmann fiihrt an dieser Stelle nun die Begriffe der Konditionierung von Sinn bzw. die Begriffe der Erwartung bzw. der Erwartungserwartung ein. Nur durch die Ausbildung von wechselseitigen Erwartungen, also im Grunde genommen durch den Einbau von Fremdreferenzen in die pure Selbstreferenz, lassen sich Strukturen generieren, an welchen sich Ego und Alter in ihrem Erleben und Handeki wechselseitig orientieren konnen. Wie aber kommt es nun zur Ausbildung von Erwartungsstrukturen? Hier kommt nun Kommunikation, der Zentralbegriff der Systemtheorie ins Spiel. Die selbstreferentielle Festlegung von Selektionen setzt Kommunikation voraus

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und macht Kommunikation erforderlich, wobei man Kommunikation eben mit Luhmann als „koordinierte Selektivitat" (Luhmann 1984, S. 212) begreifen muss. Nur dutch Kommunikation lassen sich strukturelle Erwartxingshaltungen fiir die Selektion von einzelnen Operationen generieren. Halten wir diesen Punkt vorlaufig fest und beziehen ihn auf das eingangs diskutierte Problem, wie der soziale Sinn von Handlungen oder Kommunikationsofferten konstituiert wird. Das Theorem der doppelten Kontingenz konstniiert, wie gesagt, einen NuUpunkt von Sozialitat, in welchem sich der Sinn von Handlungen einzig und aUein dutch die wechselseitige Beobachtung von Beobachtungen von Ego und Alter bildet. Erwartungen und damit Regeki wie auch Intentionen der Handekiden sind nicht vorgegeben, sondern bilden sich erst in dieser urspriingHchen Situation. Von daher kann dieses Theorem der Fraktion des semantischen Individualismus zugerechnet werden. Kommunikation ist aber nun nicht alles. Luhmann (1984, S. 182f) postuHert weiterhin, dass sich SoziaHtat im Medium Sinn dann bilden kann, wenn zwei selbstreferentielle Verweisungsverhaltnisse aufgelost werden.^^ Unter elementarer Selbstreferenz versteht Luhmann, dass jedes Erleben und Handeki von Ego immer wieder neu vor dem Problem steht, angesichts seiner Orientierung an Alter sich neu bestimmen zu miissen. Den Referenzpunkt dieser Form elementarer Selbstreferenz stellt die einzelne Selektion dar. Gleichzeitig werden aber durch jede einzelne Selektion Erwartungen und Erwartungserwartungen iiber folgende Selektionen gebildet. Dieses Verweisungsverhaltnis, welches man als soziale Selbstreferenz bezeichnen kann, bezieht sich nicht auf die Selektivitat der einzelnen von Ego und Alter zu treffenden Selektionen, sondern es bezieht sich auf die in einem solchen System sich etabUerenden, strukturell mitgefuhrten Sinnzusammenhange. Kommunikationsakte fiihren struktureUe Erwartungen im Hinblick auf mogHche Selektionszusammenhange mit sich. Beide Verweisungsverhaltnisse miissen bearbeitet werden, damit sich soziale

1^ Da in der Reception und der Diskussion der Systemtheorie diese wichtige SteUe (Luhmann 1984, S. 183) in der Kegel iibersehen h'zvj. das Moment der elementaren Selbstreferenz haufig unterschlagen wird, sei sie hier ausfiihrlich zitiert: „Der primare Selbstbezug ist also der der Elemente, die fiiir selektive Kombination geschaffen und zur Verfugung gestellt werden. Da diese Selbstreferenz jedoch iiber ein alter Ego lauft, also durch einen dies bestimmte Handeki nicht selbst VoUziehenden vermittelt wird, ist immer auch eine andere Ebene der Selbstreferenz im Spiel, namHch der Bezug auf das soziale System, das die basale Selbstreferenz erst ermogHcht und auf diese Weise selbst am Handlungsverlauf beteiligt wird. Zur Selbstreferenz gehort mithin einerseits: daB die Handlung sich selbst in der Perspektive des alter Ego kontrolliert; und andererseits: daB sie sich eben damit einem sozialen System zuordnet, in dem dies der Fall ist. Mit der Konstitution selbstreferentieUer Handlungszusammenhange entsteht also zugleich eine Selbstreferenz des sozialen Systems, namlich die Miteinarbeitung des Geltungsbereichs der doppelten Kontingenz und seiner sachlichen, zeitlichen und sozialen Grenzen. [...] So ist die elementare Selbstreferenz Konstitutionsbedingung fiir soziale Selbstreferenz und umgekehrt; was nichts anderes besagt als: Elemente sind Elemente nur im System."

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Systeme bilden konnen. Strukturen geben einen Rahmen vor, an dem sich die einzelnen Selektionen orientieren konnen, u m die eine oder die andere Seite zu wahlen — mit der Folge, dass die getroffene Einzelselektion ihrerseits strukturelle Auswirkungen haben kann insofern, als sie diese Sinnzusammenhange bestatigt, enttauscht oder modifiziert. Luhmann formuliert diesen Zusammenhang von Einzelselektion (elementaie Selbstreferenz) und Selektionszusammenhang (soziale Selbstreferenz) auch im Kontext der Doppelselektivitat von Sinn. In der Sozialdimension wird unter der Bedingung doppelter Kontingenz Sinn doppelselektiv, weil nicht nur spezifische Einzelselektionen, sondern damit einhergehend Selektionszusammenhange selektiert werden. „Erstens werden Selektionszusammenhange in die Einzelselektion eingebaut, da jedes Ego auch als Alter seines alter Ego fungiert und dies mitberiicksichtigt. [...] Die Selektion wird doppelselektiv: sie wahlt unter den zur Wahl stehenden Moglichkeiten diese (und nicht andere); und sie wahlt einen Moglichkeitsbereich, ein „Woraus" der Selektion, in dem erst sich eine bestimmbare Zahl von Alternativen mit deutlichen Tendenzen fur bestimmte Optionen abzeichnen" (Luhmann 1984, S. 188). V o n Kommunikationsakt zu Kommunikationsakt wird also ein Selektionszusammenhang, ein Rahmen oder ein Horizont verschiedener Anschlussmoglichkeiten mitgefuhrt, aus denen im und dutch den nachsten Kommunikationsakt eine bestimmte Option selektiert wird und selektiert werden muss, damit sich das soziale System selbstreferentiell und autopoietisch reproduzieren kann. Auch in der Systemtheorie ist also, wie schon bei Esser, die These der doppelten Selektivitat von Sinn von enormem Gewicht. Sozialitat respektive die Genese sozialer Systeme, so Luhmann, ist also das prozessuale Ergebnis einer doppelten Selektion von Sinn. Und Sinn ist diejenige Basis, auf der sich die selbstreferentiellgeschlossene Produktion von personalen und sozialen Systemen vollzieht. Ihre selbstreferentielle Geschlossenheit ist Resultat des sinnhaften Prozessierens dieser Systeme. Die doppelte Selektivitat von Sinn hat latent zahlreiche Auswirkungen auf die einzelnen Komponenten der Systemtheorie. Beispielsweise wird die These der Geschlossenheit von Systemen bzw., genauer formuliert, der Geschlossenheit als der Voraussetzung fiir die Offenheit von Systemen, nur vor diesem Hintergrund verstandlich. U m offen zu sein, also Informationen xiber die Umwelt und sich selbst gewinnen zu konnen, miissen in den strukturellen Vorrichtungen der „frames", der Formen und Unterscheidungen, geniigend Redundanzen vorliegen, damit das System nur Bestimmtes in den BHck bekommt, sich nur von bestimmten Irritationen zum Aufbau von Informationen veranlassen lasst. Strukturell hergestellte Redundanzen schHeBen die Systeme und ermoglichen gerade damit deren Offenheit. An dieser Stelle bietet es sich nun an, in einer kurzen Zwischenbetrachtung einen vergleichenden BHck auf den theoretischen Ansatz von Esser zu

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werfen. Esser unterscheidet, wie dargestellt, zwischen dem sozialen und dem subjektiven Sinn. Der soziale Sinn bezieht sich auf die strukturellen K o m p o nenten der sozialen Situation, der subjektive Sinn auf die daraus folgenden Selektionen des Handelns. Wie verhalt es sich nun mit der Systemtheorie? Zunachst ist zu bemerken, dass es expressis verbis keinerlei Parallelen gibt. Es werden kn Grunde genommen Sinndimensionen, aber keine Sinnformen unterschieden (wenn man von der sozialen Semantik, die wir gleich behandeln, absieht). Aber gibt es nicht in der Tiefengrammatik der Theorie Parallelen? Meine These ist, dass das Theorem der doppelten Selektivitat von Sinn ebenfalls eine Differenzierung in sozialen und subjektiven Sinn nahe legt. U m es in Anlehnung an Luhmanns Worte (vgl. nochmals Luhmann 1984, S. 188) zu formulieren: Unter bestimmten Alternativen einer sozialen Situation, aus dem Moglichkeitsbereich einer Situation (d. i. der soziale Sinn) wird diese oder jede Selektion gewahlt (d. i. der subjektive Sinn). Das Theorem der doppelten Selektivitat von Sinn impliziert zwei Erklarungsprobleme. Z u m einen geht es bei der Dimension der sozialen Selbstreferenz um die funktionale Fragestellung nach den Bedingungen der Moglichkeit der Genese sozialer Systeme. Z u m anderen geht es bei der elementaren Selbstreferenz um die Frage, warum die Selektionen so gewahlt werden, wie sie gewahlt werden. Beide Fragen miissen also beantwortet werden, u m die „Autopoiesis" von Systemen rekonstruieren zu konnen. Erstaunlicherweise vernachlassigt die Systemtheorie, ihrer Forschungslogik entsprechend, jedoch die zweite Fragestellung.^^ Halten wir aber fest: Die Systemtheorie weist somit in ihrer Tiefengrammatik eine hohe Ahnlichkeit mit dem Strukturtheoretischen Individualismus bzw. mit anderen Varianten explanativer Soziologie auf Dennoch aber handelt es sich bei ihr nicht um eine verkappte Variante explanativer Soziologie im Sinne Essers, da sie sich an einer anderen Forschungslogik bzw. Leitfrage orientiert.^^

Man muss an dieser Stelle nicht, wie von Bjerg (2005) jiingst vorgeschlagen, mit dem hochambitiosen und infektiosen Begriff des „Willens" arbeiten, der in der Systemtheorie fehle. Die Kategorie des „subjektiven Sinns" als eines von einem Beobachter vorgeschlagenen Sinns zur Erklarung von Selektionen reicht volHg aus. Gegen eine solche Interpretation konnte von Seiten der Systemtheorie eingewendet werden, sie wiirde die Different zwischen psychischen und sozialen Systemen aufheben und psychische Erlebnisse zum BestandteH des kommunikativen Prozesses machen. Aber dieser Einwand wiirde auf einem Kategorienfehler beruhen: Es geht nicht um die Gegenstandsebene des Prozessierens von Systemen, sondern reflexiv um die Ebene der Erklarung dieser Prozesse mit Hilfe der Kategorien von sozialem und subjektivem Sinn. Der subjektive Sinn besteht — wie auch schon nicht bei Esser - nicht aus den psychischen Erlebnissen. Meine These ist also, dass Kommunikationsprozesse nicht hinreichend ohne die Kategorie des Subjektiven Sinns beschrieben werden konnen. Eine andere Frage ist es hingegen, ob man diesbeziiglich auch ohne psychische Operationen auskommt (vgl. Greshoff 2003, 2005).

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5.3 Die so^ale Genese von Sinnformen K o m m e n wir nun noch auf die soziale Genese von Sinn bzw. von Sinnformen 2u sprechen. Bei Esser findet man, wie dargestellt, eine sequentielle Kopplung der Synthese von dreizugigen Akten, eben der Wahl eines Frames, der Wahl eines overten Handelns und der selektiven Aggregation der Folgen dieser Wahlen. Luhmann konzipiert dieses Problem als Problem der kontingenten, strukturell selektierten Sukzession von Ereignissen, die in einem System als sinnhafte Ereignisse konstituiert werden, beispielsweise in der Form von Kommunikation als der Synthese der drei Unterscheidungen Information, Mitteilung und Verstehen. U m von der mitgeteilten Information zu einem Verstehen oder von einem Kommunikationsakt zu einem nachsten zu kommen, miissen Sinnformen angeboten werden, die auf ihrer AuBenseite die Moglichkeiten mitfiihren, die nicht reaUsiert werden (vgl. Luhmann 2000b, S. 56). Sie fiihren also eine negative Selektion der strukturell mitgefiihrten AnschlussmogUchkeiten durch. Auf der Innenseite dieser Sinnform geht es hingegen um die positive Selektion der Konstitution des Sinns eines Ereignisses fiir ein nachfolgendes. Diese wird dadurch hergesteUt, dass sich das nachfolgende Ereignis an bestimmten Unterscheidungen respektive Informationen (als Unterschieden, die fiir ein anderes Ereignis oder ein anderes System einen Unterschied machen) orientiert. Somit kann Luhmann (2000b, S. 57, Hervorh. im Orig.) auch sagen: „Alle Operationen des Systems sind Informationsverarbeitung", und man kann hinzufiigen: AUe Operationen eines Systems sind notwendigerweise informationsverarbeitende Operationen, da sie im Medium von Sinn gebildete Operationen sind. Aber alle Informationsverarbeitung der Operationen ist selbstverstandUch struktureU ermoglicht und vorselektiert. Die Systemtheorie unterscheidet bekanntermaBen die beiden (und nur diese beiden) „Kategorien" Operationen und Strukturen, die in ihrer Rekursivitat Systeme generieren, wobei Operationen Strukturen kondensieren und ihrerseits durch Strukturen in einer hochselektiven Weise verkniipft werden. An die Stelle der Unterscheidung von Makro- und Mikroebenen setzt sie die Unterscheidung von Selbstorganisation und Mikrodiversitat (vgl. Luhmann 1997b), der durch die Mikrodiversitat der Elemente bzw. Operationen bedingten Selbstorganisation von Strukturen und, umgekehrt, der durch die strukturell bedingte Selbstorganisation herbeigefiihrten Mikrodiversitat der Elemente.^^ Strukturen haben der Systemtheorie zufol-

Daraus resultiert auch Luhmanns Ablehnung des Methodologischen Individualismus. Dieser wird nicht etwa deshalb verabschiedet, wetl er, wie man nach einem ersten Blick schlieBen konnte, auf Individuen setzt, sondern well er den Individuen kausale Wirkungen zuschreibt, wohingegen die Systemtheorie, wenn man so will, Kausalitat nicht „Einheiten", sondern nur Differenzen zuschreibt (vgl. /., B. Luhmann 1997b, S. 30f).

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ge keine deterministische, sondern eine possibilistische Funktion in der Hinsicht, dass sie fur Operationen (Handlungen, Kotmnunikationen) einen Horizont moglicher Selektionen eroffnen. Strukturierte Systeme sind solche Systeme, die ihren Operationen bestimmte Selektionshorizonte itn Sinne einer reduzierten Komplexitat eroffnen. Luhmann befasst sich dabei insbesondere mit spezifischen Sinnformen, namlich der so genannten „Semantik". Darunter versteht Luhmann generalisierte, relativ situationsunabhangig verfiigbare, also gleichsam objektivierte, typisierte bzw. institutionalisierte Sinnformen (vgl. Luhmann 1980a, S. 18f). Bei „Semantik" handelt es sich also u m eine Strukturkategorie, die eine gewisse Ahnlichkeit zu dem aufweist, was ansonsten in der Soziologie als „Kultur" bezeichnet wird. In der Rezeption der Systemtheorie wird haufig die Semantik mit Sinn schlechthin gleichgesetzt. In Zeiten eines ^cultural turn" findet man auch die Gleichsetzung von Kultur und Sinn. Dies unterminiert natiirlich die von Luhmann eroffnete Option, zwischen dem Medium Sinn und den in diesem Mediu m gebildeten Sinnformen zu unterscheiden. Zwischen beiden soUte man sorgsam trennen, um die Funktion von Sinn bestimmbar halten zu konnen. N u n geht es hier nicht um das vielfach diskutierte Verhaltnis von „Semantik und Sozialstruktur" (vgl. z. B. StaheH 1998 u. 2000, Stichweh 1999 u. 2000), sondern u m einen anderen, in der Rezeption haufig vernachlassigten Aspekt, namHch um die Frage der sozialen Genese dieser Sinnformen. Diese wird von Luhmann mit Hilfe der Evolutionstheorie modeUiert. Die Evolutionstheorie geht davon aus, dass in alien sozialen Prozessen drei Mechanismen am Werke sind: Variation, Selektion und Retention (StabiHsierung). Der Mechanismus der Variation bezieht sich auf die Operationen von Systemen, Operationen konnen Strukturerwartungen bestatigen oder von ihnen abweichen. Operationen variieren, wenn sie sich in einer strukturell nicht erwartbaren Weise reproduzieren. Der Mechanismus der Selektion bezieht sich auf die Strukturmuster von Systemen, die durch Operationen angenommen oder abgelehnt bzw. verandert werden konnen. Selektionen betreffen also die Problemstellung, ob Variationen nun ihrerseits Strukturwert bekommen oder abgewiesen werden. Und der Mechanismus der Retention bezieht sich auf das Verhaltnis eines Systems zu seinen Umwelten in der Hinsicht, ob Strukturanderungen zu Anpassungs- oder Abgrenzungsprozessen fuhren bzw. ob sie im System stabiHsiert werden konnen oder nicht (vgl. Luhmann 1997a, S. 451). Oder bezogen auf das hier diskutierte Problem der Semantik: In kommunikativen Akten konnen semantisch fixierte Sinnformen variiert werden, diese Variationen konnen ihrerseits unter Umstanden generaUsiert und dadurch als Strukturvorgabe fur weitere kommunikative Akte mit entsprechenden Auswirkungen auf den semantischen Haus-

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halt fixiert werden.^^ Diese wenigen Ski22en mogen geniigen, um auf die strukturelle Affinitat des Modells der Evolution sozialer Systeme mit dem Modell der soziologischen Erklarung von Esser hinzuweisen. Die Modellierungen konnen miteinander kombiniert werden. Das Modell der soziologischen Erklarung stellt eine differenzierte Analyse der Komponente der Variation aus Luhmanns Modell dar, das evolutionstheoretische Modell von Luhmann stellt eine differenzierte und ohne weiteres in Essers Modell integrierbare Analyse der „Logik der Aggregation" dar. 6 Stniktuttheoretischet Individualismus und Systemtheotie Ziehen wir eine Bilanz. Wie fiir die Soziologie im Allgemeinen, so gilt auch fiir unsere beiden Theorien im Besonderen, dass iiber die Sinnproblematik die soziale Welt mit Moglichkeiten, mit Verweisungen auf Anderes, mit Possibilitaten aufgeladen wird. Dabei las sen sich eine identitatstheoretische und eine differenztheoretische Zugangsweise unterscheiden. Die Systemtheorie stellt ihre Begrifflichkeit konsequent auf „Formen" um. Sie versteht Begriffe als Formen, als Unterscheidungen. Die Ausnahme bildet die Sinnkonzeption. Sinn gilt ihr als Garant fiir die Einheit der Unterscheidungen. Von daher fdhrt sie Sinn nicht nur als eine differenzlose Kategorie, sondern auch als ein Medium und als unabdingbare Voraussetzung fiir jede Formbildung ein. Der Strukturtheoretische Individualismus verfolgt hingegen eine eher traditionelle Variante. Auch hier hat Sinn die Funktion der Verweisung von etwas auf etwas anderes, aber im Fokus stehen nun Identitaten, spezifische „Sinn£iguren", und nicht Differenzen. Sinn hat also nicht die generelle Funktion eines allgemeinen Mediums, sondern je nach Sinnform unterschiedliche Funktionen, etwa zur Auszeichnung von Handlungszielen gegeniiber anderen, zur Identifizierung von handlungsleitenden Regeki, zur Bestimmung oberster, unhinterfragbarer Zwecke. Gemeinsam ist beiden der Zusammenhang von Sinn und Selektion. Etwas hat „Sinn", weil es sich Selektionsprozessen, Unterscheidungen, Differenzen verdankt, und Sinn ist Voraussetzung dafiir, das selektiert, unterschieden, differenziert werden kann. Sinn erzeugt die Bestimmtheit von Sinnformen, indem diese von anderem unterschieden werden, wodurch Grenzen in der Gestalt von Sinnzusammenhangen etabliert werden, die Moglichkeiten der Bezugnahme auf Anderes konditionieren. Nun lasst sich dieser Zusammenhang aber nach zwei Seiten hin auflosen: Nach der Seite der selektierten Einheiten einer-

Dass sich hinter diesen evolutionstheoretischen Komplexen Prozesse der Kondensierung respektive der Konfirmierung von Sinn abspielen, muss hier leider auBer Acht gelassen werden.

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seits, nach der Seite der Bedingungen der Moglichkeit von Selektionsprozessen andererseits. Oder im Hinblick auf Differenzen und Unterscheidungen formuliert: Nach der Seite der Einheiten in Differenzen und Unterscheidungen einerseits oder nach der Seite der Differenzen oder Unterscheidungen von Einheiten andererseits. Der Strukturtheoretische Individualismus von Esser geht den ersten Weg: „Sinn" bezieht sich auf bestimmte Sinnformen, die selektiert werden. Die Frage nach der Kausalitat der Sianselektionen wird als prioritar behandelt. Die Systemtheorie von Luhmann geht den zweiten Weg: „Sinn" bezieht sich nicht auf die Formen, sondern die medialen Bedingungen der Bildung von Formen: Sinn ist Medium. „Kausalitat" wird als Kontingenzkausalitat behandelt, als kontingente Form der Selbst- und Fremdbeschreibung. Mit dem medialen Charakter geht einher, dass Sinn in der Systemtheorie auch viel starker als in Essers Theorie eine konstitutionstheoretische Rolle einnimmt. Bei Luhmann ist „Sinn" Voraussetzung fiir unseren Weltbezug, bei Esser ist „Sinn" by-product unseres Handelns. In den Kontroversen zwischen Systemtheorie und Strukturtheoretischem Individualismus (vgl. etwa Baecker 2003, Esser / Luhmann 1996, Esser 1994, 2002, 2003b) spielt die Sinnproblematik keine Rolle. Das ist kein Versaumnis, denn, so unsere These, fiir die unterschiedHche Entfaltung der Sinnformen sind die unterschiedUchen Forschungsprogramme beider Ansatze verantwortHch. Es hat also keinen groBen Sinn, iiber den „Sinn" zu streiten, wohl aber iiber die Forschungsprogramme selbst, die in die Sinnkonzeptionen jeweils ihre Pramissen hineinkopieren. In Essers Theorie geht es u m Erklarungen^^, also u m die Beantwortung von Warum-Fragen, in Luhmanns Theorie geht es u m die Beantwortung von Wie-ist-X-moglich-Fragen. Essers Konzeption wird so zugeschnitten, dass sie es erlaubt, Warum-Fragen zu beantworten, insbesondere die Frage, warum welche Sinnform auf individueUer wie auf kollektiver Ebene selektiert wird. Dementsprechend wird zwischen dem subjektiven und dem sozialen Sinn unterschieden und das Verhaltnis beider Sinnformen als ein Makro-Mikro-Verhaltnis analog zu dem Modell der soziologischen Erklarung konzipiert. In dem Modell der soziologischen Erklarung geht es um die Frage, welche kausalen Effekte Ereignisse auf der Mikro-Ebene fiir die Makro-Ebene haben — und umgekehrt. Luhmanns Theorie ist keine Mikro-Makro-Theorie, sondern eine System-Umwelt-Theorie. In dieser gibt es zwar auch im iibertragenen Sinne eine „Mikro-Ebene" der Operationen und eine „Makro-Ebene" der Strukturen, aber die Systemtheorie stellt nicht die Frage nach der Kausalitat

Dass Esser sich methodologisch an dem Hempel-Oppenhekn-Modell wissenschaftlicher Erldarungen maBgeblich orientiert und dass dieser Umstand in der Reception bisher nicht hinreichend diskutiert wird, ist nur ein Indiz fur die Schwellen und den zeitlichen Verzug der Reception der wissenschaftstheoretischen Forschungslage, in der eben das Covering-LawModell mit, gelinde formuliert, inzwischen groBer Skepsis betrachtet wird.

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der wechselseitigen Beeinflussungen, sondern die Frage der sinnhaften Konstitution von Operationen (Ereignissen) durch systemspezfische Strukturen — und umgekehrt. In Luhmanns Theotie nimmt die Sinnproblematik deshalb auch eine iiberragende Bedeutung ein, weil sie es an erster Stelle erlaubt, die Frage nach der Genese von temporal-komplexen, sozialen Systemen zu stellen und 2u beantworten. Dies fuhrt zu der Herausstellung der Funktion von Sinn als Medium. Dies hat auch Konsequenzen fiir die Modellierung des Sinns von Handlungen bzw. Operationen im sozialen Prozess. Diesbeziiglich wurde zwischen den Optionen des semantischen Kollektivismus und des semantischen Individualismus unterschieden. Das Modell der soziologischen Erklarung arbeitet mit theoretisch voraussetzungsreichen Pramissen, namlich dem Vorhandensein von inter sub jektiven, symmetrischen Regelsystemen als Garanten fur die im Grunde genommen problemlose Verstandigung von Akteuren iiber den „Sinn" ihres Erlebens und Handelns. Sozialer und subjektiver Sinn stehen in einer gewissen regelgeleiteten und regelmaBigen Kongruenz zueinander. Das Modell der soziologischen Erklarung kann aufgrund seiner Forschungslogik von daher das Problem der sozialen Konstitution fur Sinn als nachrangiges und abgeleitetes Problem auffassen. Fiir die Systemtheorie steht gemaB ihrer Forschungslogik dieses Problem im Zentrum. Von daher steht diesbeziiglich das Theorem der doppelten Kontingenz, welches einen Nullpunkt aller SoziaHtat supponiert und SoziaHtat erst als fragiles Ergebnis von Beobachtungen von Beobachtungen beschreibt, im Mittelpunkt ihrer Theoriearchitektur. Das ModeU der soziologischen Erklarung kann als ein Modell des semantischen Kollektivismus bezeichnet werden, die Systemtheorie steht hingegen dem semantischen IndividuaHsmus nahe. Diese Gabelung hat auch Konsequenzen dafur, dass aus einer weiteren gemeinsamen Theoriefigur letztlich wiederum unterschiedUche Folgerungen gezogen werden. Wie dargestellt, ist beiden die These der „doppelten Selektivitat" von Sinn in Gestalt der notwendigen Korrespondenz der Selektion von Sinnrahmen und der aktueUen Einzelselektionen gemeinsam. Nur en passant sei erwahnt, dass die Konstellation der „doppelten Selektivitat" von Sinn ein paradigmen- und disziplineniibergreifendes theoretisches und heuristisches Instrument darstellt — von Meads „ I " und „Me" iiber Poppers Situationsanalyse (vgl. Suchanek 1999) und Elsters (1989) Prinzip der zwei Selektionen bis — u m auf einen Kontext aufmerksam zu machen — hin zu der Verweisung von Sprechakten auf „Institutionen" als einem Kommumkation ermogHchendem System konstitutiver Regeln bei Austin (1979) und insbesondere bei Searle (1979, 1997). Und Hermeneuten mogen dies als eine Variante des hermeneutischen Zirkels auffassen. Eine besonders klare Fassung dieses Modells stammt aus Oevermanns objektiver Hermeneutik (vgl. z. B. Oevermann 2000, S. 64ff, 2003, S. 30ff). Oevermann unterscheidet zwischen Regeln, die wie ein Algo-

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rithmus operieren und an einer gegebenen Sequenzstelle den Spiekaum sinnlogisch moglicher Anschliisse erzeugen bzw. fesdegen (Parameter I) und dem Ensemble von Faktoren, Dispositionen und Motiven, die fiir eine gegebene Handlungsinstanz bestimmen, welche Auswahl aus dem Spiekaum von Anschlussmoglichkeiten tatsachlich getroffen wird (Parameter II). Die Theoriefigur der doppelten Selektivitat von Sinn ist beiden Theorien gemeinsam. Dies lasst, so unsere These, in der Tiefengrammatik der Theorien eine hohe strukturelle AhnUchkeit vermuten. Essers Differenzierung zwischen einer Situations- und einer Selektionslogik trifft sich mit Luhmanns Unterscheidung zwischen einer sozialen Selbstreferenz und einer elementaren Selbstreferenz als den beiden notwendigen sinnhaften Verweisungen, die in jeder Bezugnahme von Operationen auf Operationen vorHegen. Die Theoriefigur der doppelten Selektivitat ist deshalb so zentral, well in und mit ihr „SoziaHtat" modelfiert mit. Trotz dieser hohen strukturellen AhnHchkeit w k d diese Theoriefigur aber unterschiedHch verarbeitet. Dies kann man, so die weitere These, auf die unterschiedlichen Forschungslogiken und Leitfragen zuriickfuhren. In Essers Theorie haben w k eine Kombination von methodologischem IndividuaHsmus mit semantischem Kollektivismus vorHegen. Die Systemtheorie hingegen halt den methodologischen Individuaksmus fiir theoretisch unergiebig und vertritt in Bezug auf das Ordnungsproblem die Position eines semantischen Individuaksmus. Damit sind w k nun also bei der Frage nach den Forschungslogiken angelangt. Es diirfte zunachst deutkch geworden sein, dass die Forschungslogiken nicht in Widerstreit zueinander stehen, sondern sich erganzen. Das Problem ist nur, wie sie kombiniert werden konnen. Von daher hatten w k zu Beginn des Beitrags die These aufgestellt, dass die Forschungslogik des Strukturtheoretischen Individuaksmus umfassender ist als diejenige der Systemtheorie. Wie-istX-mogkch-Fragen haben einen starken heuristischen Charakter. Sie schkeBen ein Problemfeld analytisch auf Aber sie haben selbst keine explanative StoBrichtung, wenn man unter Erklarung in einem starken Sinne die Beantwortung von Warum-Fragen versteht. Auch wenn die Instrumente im Modell der soziologischen Erklarung, namkch ein relativ schwacher KausaUtatsbegriff und ein gewisses Amalgam aus deduktiv-nomologischen und „historischen" Erklarungen entwicklungsfahig und entwicklungsbediirftig sind, so halte ich einen Verzicht auf die Beantwortung von Warum-Fragen fiir nicht akzeptabel. Ein Problem des ModeUs der soziologischen Erklarung aber besteht darin, dass die Pramissen ihrer Modelkerung sehr voraussetzungsreich sind. Damit stellt sich fur die Rekonstruktion soziologischer Theorien die interessante Frage, welche logischen Verbindungen zwischen einem methodologischen Individuaksmus und KoUektivismus einerseits und einem semantischen Individuaksmus und KoUektivismus andererseits bestehen bzw. wie diese Optionen miteinander kombiniert werden konnen.

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Zwischen den Stiihlen - Zu Hartmut Essers Versuch einer Rekonzeptualisierung von „Sinn" und „Kultuf" im Gesprach mit „Rational Choice" und Max Weber^ Martin EndreJ^

1 Synthetisierende Theoriesttategien Halt man sich das Panorama in der Soziologie vorliegender Versuche einer Erarbeitung neuer theoretischer Syndiesen unter Rekurs auf die klassischen Texte der Disziplin vor Augen, dann las sen sich relativ umstandslos drei Typen unterscheiden, die als das Konvergenz-, das Emergenz- und das Integrationsmodell bezeichnet werden konnen. Prototypisch ist zunachst das bei Talcott Parsons realisierte Konvergenzmodell: Hier erfolgt die Darstellung und Analyse klassischer soziologischer Positionen jeweils im HinbHck auf das Eigenrecht der erorterten Autoren unter Benicksichtigung einer spezifischen Perspektive, von der unterstellt wird, dass sie den grundbegrifflichen Konzeptualisierungen der herangezogenen Autoren objektiv jeweils bereits zugrunde lag. Ein zweites, theoretisch ahnlich ambitioniertes Projekt liegt exemplarisch im Werk von Jiirgen Habermas in der Form eines Emergenzmodells vor: In der Tradition der Philosophie Hegels wird in der „Theorie des kommunikativen Handekis" eine systematisch angelegte Theoriegeschichte der Soziologie geboten, die ihren Kukninationspunkt in der von Habermas bezogenen Position einer revidierten Fassung kritischer Gesellschaftstheorie hat, in der sich die als tragfahig erachteten klassischen Theoriebausteine „aufgehoben" finden. Gegeniiber diesen beiden Modellen liegt bei Hartmut Esser eine weitere Variante „synthetisierenden" Denkens vor: Esser legt dem Anspruch nach ein Integrationsmodell in Form eines systematisch angelegten Lehrbuches vor.^

Der vorliegende Beitrag geht in einigen Passagen auf einen Vortrag an der FernUniversitat in Hagen am 26. Mai 2004 zuriick. Der sich daran anschlieBenden, insbesondere mit Hartmut Esser gefuhrten Diskussion verdanke ich manche Prazisierung meiner Argumentation. Rainer Greshoff danke ich dariiber hinaus fur kontinuierlichen Austausch iiber Hartmut Essers Unternehmen. An zahlreichen Stellen finden sich bei Esser Beschreibungen seines Selbstverstandnisses. So spricht er mal von der „ZusammenfLihrung" (1999b, S. 259), mal von der „Verbindung" verschiedener Positionen (2000d, S. xi, 2000e, S. 783) und erlautert sein Programm als das einer „theoretischen Reduktion" (2000a, S. 9ff). Vgl. auch die folgenden Stellen: Esser 1991, S. Iff, 1993, S. ixff, S.15, S. 244, S. 615ff, 1999b, S. xviff).

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Martin EndreB

Bereits mit dieser Umschreibung allerdings ist die strukturelle Ambivalenz auf den Begriff gebracht, die Essers Unternehmen durchzieht, das einmal eine integrative Theorieperspektive vorlegen mochte und zugleich beansprucht, die klassischen Bezugsautoren dennoch in ihrem Eigenrecht 2u Lehrbuchzwecken zur Geltung bringen zu konnen. Auf der Verfahrensebene bedeutet das faktisch eine entsprechend selektive Lektiire klassischer Autoren nach relevanten Passungsaspekten im Hinblick auf die eigene konzeptionelle Intuition und entsprechend eine lediglich partielle, besser: aspektspezifische Integration verschiedener Ansatze. Esser will, anders formuliert, die Grundlagen vorhergehender Ansatze in seinen theoretischen Rahmen konzeptionell integrieren. Wobei im Zuge einer solchen Strategie dem Kriterium einer adaquaten Rekonstruktion der die klassischen Bezugsautoren urspriinglich leitenden Einsichten nur mehr untergeordnete Relevanz zukommt. Im Ergebnis resultiert aus dieser Verfahrensweise ein reflektierter (also ohne jeden pejorativen Beiklang verstandener) Eklektizismus — mit der doppelten Gefahr, eiaerseits die Konturen der eigenen Position in der Polyphonic der Tradition zu verwischen und andererseits die Stimmen der Tradition eben keineswegs adaquat prasentieren zu konnen."^ Der skizzierten konzeptionellen Differenzierung entsprechend sind die unterschiedenen Modelle mit systematisch recht unterschiedHchen Fragen zu konfrontieren: Ist an Parsons primar die Frage zu adressieren und auch adressiert worden, ob die behandelten klassischen Beitrage die von ihm unterstellten zentralen (als iibereinstimmend gedeuteten) Intuitionen wirkHch im Kern aufweisen, so stellt sich mit Blick auf Habermas' Theorieprojekt wesentlich die Frage, ob der Anspruch zu recht besteht, in den selektiven Klassikerlektiiren jeweils die unter Gegenwartsbedingungen einzig tragfahigen resp. weiterfiihrenden Theoriebausteine aufgegriffen und in einer theoretisch tragfahigeren Variante iiberboten zu haben. Und schHeBUch stellt sich hinsichtlich eines Unternehmens, wie es Esser realisiert, vorrangig die Frage, ob sich die selektierten Theoriebausteine sozusagen sinnadaquat, d.h. bezogen auf die jeweilige Typik und grundlegenden Annahmen der herangezogenen Ansatze in eine veranderte theoretische Rahmung uberfiihren lassen. Von besonderer Bedeutung fiir die Giite der erzielten Losung sind im Zuge einer solchen Theoriebaustrategie einerseits eine methodisch ausgewiesene Begriffsbildung sowie andererseits ein klares methodisches Bewusstsein der im Zuge dieser Strategie impHzit notwendig vorgenommenen Theorievergleiche.

^

Wenn auch Esser in nicht wenigen Formulierungen ein theoretisch-konzeptioneUer Imperialismus durchaus nicht firemd ist. So wenn er bspw. resiimiert: „Das Modell der soziologischen Erklarung ist die Grundlage der systematischen und methodologisch korrekten Verkniipfung von Mikro- und Makro-Ebene" (1993, S. 617).

„Smn" und „Kultur" bei Esser und Weber

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Mit dieser Perspektive ist die Blickrichtung vorgezeichnet, in der nachfolgend die von Esser vorgelegten Konzeptualisierungen sowohl des „Sinnbegriffs" als auch des „Kulturbegriffs" zur Grundlegung einer hermeneutisch revidierten „erklarenden Soziologie" im kritischen Riickgriff auf Max Weber erortert werden sollen. Wobei einschrankend hinzuzufugen ist, dass Esser sich im Unterschied zu Schiitz mit der Position Max Webers im Rahmen seiner „Soziologie" keineswegs systematisch auseinandersetzt. Seine Erorterungen beschranken sich fur diesen Fall auf jeweils thematisch spezifische Riickgriffe und Anschliisse, wobei kritische Abgrenzungen (bspw. in 2000b) neben positiven, unter der unspezifischen Formel der „beachtenswerten Einzelheiten" (1999a, S. xvii) firmierenden Aufnahmen stehen,"^ 2 Hetmeneutik und Sozialitat Hartmut Esser ist inzwischen einen betrachtlichen Weg gegangen, nicht zuletzt seit der Publikation seines Schutz-Buches im Jahr 1991. Dieser Weg lasst sich wohl insgesamt auf den Nenner einer fortschreitenden und zunehmenden Aufnahme von Aspekten und Einsichten der Traditionslinie verstehender Soziologie bringen. Zumindest einige der Konsequenzen, die aus dieser sukzessiven Annaherung fiir das Gesamtarrangement von Essers „Soziologie'* resultieren, sollen im vorHegenden Beitrag diskutiert werden. Insgesamt geben diese Konsequenzen m.E. den Blick auf konzeptionelle Spannungsmomente in Essers Ansatz frei. Hartmut Esser versteht seine Konzeption „erklarender Soziologie" als das Ergebnis des Versuches, die drei zentralen begrifflichen Weichenstellungen der materialen Analysen Max Webers: Interessen, Ideen und Institutionen zu integrieren und damit zu reformulieren. Diesem Anspruch sucht er im Rahmen seiner „Soziologie" auf grundlagentheoretischer Ebene ebenso wie auf handlungstheoretischer und „gesellschaftstheoretischer" Ebene gerecht zu werden. Als Ausgangspunkt weiterer tJberlegungen kann die fiir Essers Soziologie konstitutive Annahme (1993, S. x) dienen, dass „alle sozialen Prozesse das indirekte, meist unheahsichtigte Ergebnis dts problemlosenden^ situationsorientierten, mit guten subjektiven Griinden, mit Sinn also, versehenen, aber auch immer von Knappheiten begrenzten Handelns der menschHchen Akteure sind, die ihrerseits von den

Nachfolgend ist deshalb auch keine detaillierte Auflistung und Erorterung der iiber die sieben Bande von Essers „Soziologie" verstreuten Bezugnahmen auf Weber intendiert ist. Vgl. die Rekurse auf Weber in Esser 1993, S. 3ff, S. 65, S. 337f, S. 598f, 1999b, S. 13, S. 194ff, S. 215ff, S. 224ff, 2000a, S. 7f, S. 14, S. 132ff, S. 459ff, 2000b, S. 4f, S. 18f, S. 28, S. 299ff, S. 385 sowie fur den Rekurs auf Webers Protestantismus-Kapitalismus-These (1904): Esser 1993, S. 98ff, S. 465ff, 2000a, S. 371 ff, S.459ff

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Folgen ihres Tuns gepragt und so in ihren Erwartungen und Bewertxingen immer wieder neu konstituiert werden." Wobei gilt: „Die Soziologie hat den analytischen Primat auf der kolkktiven Ebene — xind nicht auf der Ebene des individuellen Akteurs oder des individuellen Handelns" (1993, S. 37). Mit Blick auf die im vorliegenden Beitrag itn Vordergrund stehende Diskussion von Essers Soziologie im Rekurs auf Max Weber werde ich mich nachfolgend einerseits auf die im Sinnbegriff anklingende hermeneutische (verstehende) Dimension des analytischen Profils der Soziologie konzentrieren, andererseits einen Schwerpunkt auf die hier iiber die Figur der „Rekursivitat" angezeigte und mit dem Stichwort der „koUektiven E b e n e " angesprochene emergente Ebene von Sozialitat legen. Es geht nachfolgend damit einmal (1) um die hermeneutische Dimension soziologischer Analytik im Rahmen der erklarenden Soziologie (vgl. Abs. 3) und sodann (2) um die Fokussierung der Sozialitatsdimension im Zuge dieses konzeptioneUen Zuschnitts, der aufgrund der Zentralstellung der Aggregationsproblematik fiir das von Esser vorgeschlagene Erklarungsprogramm grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. Abs. 4). Zunachst sollen diese beiden Perspektiven der Kritik jedoch generell eingefiihrt werden. ad (1) Die von Esser verfolgte zunehmende Integration hermeneutischer Aspekte in seinen grundbegrifflichen Ansatz findet ihren Niederschlag u.a. in der prominenten Stellung der Begriffe „Sinn" und „Kultur" insbes. im ersten und sechsten Band der „Speziellen Grundlagen" (vgl. Esser 1999a, 2001). Vorrangige Bezugspunkte fiir die Einfiihrung, Platzierung und Verwendung beider Begriffe sind fur Esser die entsprechenden Ausfiihrungen namentHch von Max Weber und Alfred Schiitz. Im Kern geht es dabei u m das^^/;^//^^-Konzept, das fur Esser erklartermaBen das „Herzstuck" seiner „'kultursoziologischen' Erweiterung ... des ,einfachen' Rational-Choice-Ansatzes" darstellt (2001, S. xHi). Frames hilden, so Esser, „den Code des sianhaften Handekis ... in den unterschiedHchen funktionalen Spharen, kultureUen MiHeus und Norm- und Devianzbereichen einer Gesellschaft" (2001, S. xiii). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass Esser Anspruch darauf erhebt, nicht nur individuelles^m;^//^^ konzeptuaHsieren zu konnen, sondern auch soz'ults frammg, er also geltend macht, dass „sich das ModeU der soziologischen Erklarung ohne weiteres auch dazu eignet, die interaktive Genese gemeinsam geteilter Muster und Modelle der Orientierung und [des] Handelns zu erklaren" (2001, S. xiv). Z u fragen ist hier zunachst nach der Einordnung der Begriffe „Sinn" und „Kultur" ia Essers Modell der soziologischen Erklarung. Danach dient Kultur als Sammelbegriff fiir die typischen „gedanklichen Modelle und Symbole" zur Definition von Situationen; Definitionen, die sich ihrerseits wiederum einer spezifischen „Selektion" verdanken (2001, S. 6), um dann den „Kern der Bedeutung des jSinns' eines Handelns" auszumachen (2001, S. 3). Im Gegenzug also zur verengten VorsteUung eines „kulturell ,ubersoziaUsierten Indivi-

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duums'" setzt Esser auch an dieser Stelle konsequent auf das Konzept eines strategisch handelnden Menschen (2001, S. 7). Das reflektiert sich in der leitenden Vorstellung von der „subjektiven Definition der Situation", die als Resultat einer „Selektion aus moglichen Alternativen anderer Festiegungen" gedeutet wird, welche „uber einen Vergleich der im Gedachtnis gespeicherten Modelle typischer Situationen" ablaufe (1999a, S. 68).^ Hier scheint bei Esser — wie auch hinsichtlich der spater noch anzusprechenden Funktion von scripts — ein eigentiimlich mechanistisches Verstandnis dominant. Weitere Aufklarung zu dieser Begriffseinfiihrung miisste hier Essers Unterscheidung von subjektivem, sozialem und nomischem Sinn bieten konnen:^ Wahrend die Dimension „sozialen Sinns" auf „kollektiv ,geltende' Oberziele, Codierungen und Regeln" und diejenige „subjektiven Sinns" auf Angemessenheitsurteile vor dem Hintergrund „eigener Motive und Absichten" zielt, beziehe sich die Dimension „nomischen Sinns" auf die jeweils „fraglos vorausgesetzte gedankHche Ordnung" (2001, S. 3, ahnUch 1999a, S. 194f). Diese Unterscheidung jedoch muss letztlich wohl auf die von sozialem und subjektivem Sinn reduziert werden, da der dritte Sinnbegriff lediglich einen Modus der Graduierung sozialen Sinns umschreiben diirfte und er damit konzeptioneU quer Hegt zur ersteren Unterscheidung. Damit erbringt auch diese Differenzierung des Sinnbegriffs zunachst keinen weiteren Aufschluss, zumal kollektiv bereit stehende Deutungsmuster, die Esser unter dem Begriff „sozialer Sinn" fasst, ausschlieBlich iiber ihre Relevanz in subjektiven Sinnhorizonten handlungswirksam werden. Zugespitzter noch scheint das Problem im Kern bei Esser hier gerade in einem Verwischen der fur die soziologische Analyse konstitutiven Differenz von subjektivem und objektivem Sinn zu bestehen. Und dieses Problem der fehlenden Unterscheidung von subjektivem und objektivem Sinn macht sich bei Esser in zweifacher Hinsicht bemerkbar: (a) Das gilt zunachst fiir die problematische, in gewisser Hinsicht naiv realistische Unterscheidung von „externen" und „internen" Situations- bzw. Handlungsbedingungen (1999a, S. 36, S. 50ff, S. 165f): Z u den „auBeren" zahlt Esser materielle Opportunitaten und Restriktionen, institutionelle Regeki und kulturelle Bezugsrahmen, zu den „inneren" ein Konzept von „Identitat" als einer Gesamtheit von Wissen, Wert-

Diese Auffassung, dass es sich beim Vorgang der subjektiven Situations definition um eine „Entscheidung" (1999b, S. 69, S. 165) handle, negiert nicht zuletzt die Differenz von latentem und manifestem Sinn; eine Unterscheidung, die m.W. im Rahmen von Essers Soziologie keinerlei Rolle spielt, und auf deren Bedeutung nachfolgend noch zuriickzukommen sein wird. Insgesamt scheint in Essers Annahme, dass jede Auswahl als eine Entscheidung (als Selektion) zu deuten ist (vgl. 2001, S. 329ff), ein stark iiberstrapazierter Entscheidungsbegriff zur Anwendung zu kommen. Vgl. zunachst 1993, S. 485ff, dann auch 1999b S. 65ff, S. 194ff und 2001, S. 3.

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vorstellungen und Einstellungen (2001, S. 335-368 auch 2000a, S. 434, vgl. EndreB 2002a, S. 133). Das systematische Unterlaufen der Differenz von subjektivem und objektivem Sinn gilt sodann aber auch (b) hinsichtUch der Verengung der Analyse auf einen „stets schon sozial konventionaUsierten Sinn" (vgl. EndreB 2002b, S. 183). Ein Problem, das sich nicht zuletzt auch in Essers inadaquatem Verstandnis von „objektiver Hermeneutik" dokumentiert; eine Etikettierung, die er iiberraschenderweise auch fur sein eigenes Verfahren in Anspruch nimmt (vgl. 1999a, S. 203, S. 474).'7 Letetlich taucht der Begriff des „objektiven Sinns" bei Esser ledigHch auf, um sich von dessen hegelianischen Untertonen einseitig kritisch abzugrenzen.^ Eine Strategie, die der Bedeutung dieses Begriffs in der aktuellen soziologischen Forschung jedoch keineswegs gerecht wird. Die Nichtberiicksichtigung bzw. sehr spezifische Umdeutung der Differenz von subjektivem und objektivem Sinn bei Esser muss jedoch noch ein Stuck weiter vertieft werden. So formuHert Esser an zentraler SteUe: „Das Handeki der Menschen und dessen strukturelle Konsequenzen folgen ... den ohjektiven Strukturen der sozialen Situation" (1999a, S. 22). Aufgrund des zuvor zu Essers Sinnbegrifflichkeit Gesagten stellen sich mit Riicksicht auf eine solche FormuHerung dann die Fragen, was hier „folgen" und was hier „objektiv" genau heiBen soU. Darauf ist nachfolgend detaiUierter im Zusammenhang von Essers Rekurs auf einen Bericht Tocquevilles einzugehen (vgl. 3.1). Fiir seinen Rekurs auf den Kulturbegriff kann sich Esser m.E. damit nur sehr begrenzt auf Max Weber stiitzen.^ Zumal sich Weber selbst von dessen grundbegrifflichem Potential far die Soziologie bereits vor Ausarbeitung „seiner Soziologie" verabschiedet hatte (dazu schon Francis 1966). Jenseits von Webers

Esser zufolge geht es der „objektiven Hermeneutik" darum, „die objektiv vorliegenden subjektiven Ziele und Mittel des Akteurs objektiv richtig zu rekonstruieren" (1999b, S. 203, vgl. auch 1993, S. 487). Aber diese Bestknmung geht gerade am spezifischen Forschungsprofil der von Ulrich Oevermann inaugurierten „Objektiven Hermeneutik" vorbei, der es jenseits der dokumentierten (proklamierten) subjektiven Ziele um die Rekonstruktion des im Horizont des prinzipiell sinnlogisch mogHch Gewesenen faktisch von Akteuren und in Situationen Realisierten in seiner Strukturgesetzlichkeit geht. So formuliert Esser: „Unter objektivem Sinn kann man ... die inzwischen, gottlob, fast ganz entschwundene VorsteUung verstehen, dass die Vorgange der Welt einem irgendwie ,objektiven' Ziel zustrebten und insoweit von einem ,objektiven Geist', einer Vorsehung oder einer geschichtlichen Bestimmung unterlagen, auf die die Menschen keinen weiteren EinfluB hatten" (1999b, S. 195). Vgl. fiir eine Definition des Begriffs der „Kultur" bei Esser: 1993, S. 159 sowie 2000b, S. 238 und 2001, S. ix, S. 2, S. 145. Die umfassende Bestimmung lautet fiir Esser wohl: „Bezugsrahmen sind gedankHche und von den Akteuren koUektiv getetlte ModeUe des sozial ,richtigen' Denkens, Fiihlens und Handelns fiir t}^pische Situationen. Die gedanklichen Modelle sind mit gewissen t)'pischen ,objektiven' und erkennbaren Merkmalen von Situationen, mit Symbolen, assoziiert. ... GedankHche Modelle und Symbole machen die ,Kultur' aus und sie ,definieren' kurz gesagt, die Situation in einer tj^pischen Weise" (2001, S. 1, S. 2).

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spaterer Skepsis, wenn nicht Ablehnung des Begriffs der „Kultur" fur die analytischen Zwecke der Soziologie, kommt diesem Begriff im Rahmen von Essers soziologischer Grundlegung — iiber die Titelgebung des sechsten Bandes der „Spe2iellen Grundlagen" hinaus (2001) — eine durchweg prominente Stellung 2u. Dabei kommt ein eher traditioneller Kulturbegriff zur Anwendung, den Esser im Ubrigen wiederum in enger Bindung an den Sinn-Begriff expliziert (2001, S. 3f). Diese Anbindung verdankt sich vornehmUch der Bedeutung des Rekurses auf frames als der von Esser gewahlten theoretischen Option zur kognitiven Erganzung klassischer (orthodoxer) Rational-Choice-Ansatze. Und unter Bezugnahme auf das ^^^//^^-Konzept wird der urspninglich streng individuaUstische Handlungsbegriff dieser Theorietradition dann in einen kollektivistisch konzipierten trans formiert, wie sich dies bspw. gut im Bezug auf ethnische Gruppen dokumentiert (Esser 1997, S. 885).^o Doch abgesehen von Detailfragen drangt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage auf, warum Esser diese Zurechnungsmuster in Ubernahme einer sozial- bzw. kognitionspsychologischen Begrifflichkeit eigentUch frames nennen muss und diese nicht mittels einer in der Soziologie gut eingefiihrten Terminologie bspw. als Deutungsmuster bezeichnet werden. Wo, so muss diese Frage zugespitzt werden, liegt hier der analytische Vorzug der von Esser gewahlten Begrifflichkeit? Und weitere Fragen stellen sich hier mit Blick auf die von Esser vertretene Konzeption kollektiver Situationsdefinitionen; ein Problem, das nachfolgend unter Bezug auf Essers Beispiel einer Freundschaftsentstehung ausftihrlich diskutiert werden soil (vgl. 4.1). Damit leitet dieser Gesichtspunkt zur zweiten der beiden vorstehend verzeichneten kritischen Perspektiven auf Essers Werk iiber. ad (2) Die Positionen Max Webers und Hartmut Essers firmieren beide als Varianten des „methodologischen Individualismus". Esser halt an dieser Positionierung fest, auch wenn er zur Charakterisierung seines Ansatzes den weiteren Titel des „strukturtheoretischen Individualismus" einfiihrt (1999a, S. 27f). Uber das Rational-Choice-Erbe vermittelt liegt Essers Fokus zunachst auf einem radikal individualistischen Handlungsbegriff, dessen Kern die Idee der individuellen Nutzenmaximierung bildet. Damit gekoppelt dominiert bei Esser ein zunachst auch mit einem individualistischen Bias versehener Situationsbegriff (Esser 1996);^^ etwas spater (vgl. 1999a, S. 167ff) erfolgt schlieBHch eine Neujustierung dieses Konzepts in inter sub jektiver Hinsicht: „Die Definition der Situation ist", so heiBt es nunmehr (1999a, S. 167), „stets und notwendigerweise

Mit der zuspitzenden These einer „Ko-Evolution der Stxuktur und der Kultur von menschlichen GeseUschaften" (1993, S. 282, S. 459ff). Allerdings zahlt Esser auch schon friiher (vgl. 1993, S. 220) zu den „sozialen Restriktionen" individuellen Handelns „bestimmte Arten der kultureU und symbolisch gesteuerten Definition der Situation".

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ein so^aler ProzeB", sie ist, so erganzt Esser an dieser Stelle, „stets eine Angelegenheit der interaktiven Konstitution und einer gesellschaftlichen Konstruktion'\ Essers Soziologie stellt damit, so die These, in signifikanter Weise auf die Bedeutung von Deutungsprozessen fiit emergente Phanomene des Sozialen ab. Darin liegt der Kern seiner Unterscheidung von subjektiver und sozialer („objektiver'") Definition der Situation. Damit niinmt Esser eine Position ganz im Sinne Webers ein, der bspw. als Charakteristikum ethnischer Gruppen auf den „subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft" ab stellt, der sich aufgrund von Ahnlichkeiten im auBeren Habitus, der Sitten oder beider oder aber von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung konstituieren kann (vgl. Weber 1919/20, S. 237). Dieses Beispiel verdeutlicht gut, dass fur Webers Soziologieverstandnis immer schon eine Verzahnung bzw. Verschrankung von individuellen und kollektiven Perspektiven zentral ist — wenn man so will von Mikro und Makroebene —, so dass sich die fiir Esser so zentrale Aggregations frage im Prinzip nicht stellt.^^ Wie aber ergibt sich, wie erklart Esser nun das Entstehen einer kollektiven Definition der Situation, das er auch als Vorgang der „sozialen Konstitution" beschreibt (2001, S. 8)? Esser zufolge geschieht dies dadurch, dass „sich die Psychen der Menschen ineinander verschranken" (1999a, S. 167). Was man sich als Soziologe aUerdings unter der Verwendung einer derartigen Metapher im Rahmen der „erklarenden Soziologie" vorzustellen hat, erfahrt man nicht. Stattdessen heiBt es weiter: „Die kollektive Definition der Situation [ist] ein dialogischer Prozess aneinander gekoppelter und reflexiv aufeinander bezogener Orientierungen" (1999a, S. 168). Wobei, so die Annahme, aufgrund eines „Gleichgewichts der wechselseitigen Bestatigung" (sic!) „sich die Akteure ... auf ^//^ mentales ModeU einigten" (1999a, S. 168), wodurch eine „stabile gegenseitige Konstitution der auBeren und der inneren Bedingungen der Situation" entstiinde (1999a, S. 169). Im Kern zielen diese konzeptionellen Vorschlage auf eine zweifache rationalistische Zuspitzung: einerseits auf die Anwendung eines ,Additionsmodells' der Aggregation (man konnte wohl auch von einem Konsensmodell sprechen) und andererseits auf ein Reflexivitatsmodell in durchaus klassischer Rational-Choice-Manier. Dabei ist die Umschreibung als AdditionsmodeU hier gewahlt, um anzuzeigen, dass bei Esser eine prazise Vorstellung davon bzw. Erlauterung dariiber, was man sich letztHch unter „Aggregation" in sozialen Zusammenhangen vorzusteUen hat, fehlt. Damit ergeben sich m.E. zwei Problemanzeigen: Einmal steUt sich mit Bezug auf die „Logik der Aggregation" die Frage, ob denn im Rahmen von Max

Manches spricht dafiir, dass es gerade diese gewissermaBen kiinstlich erzeugte Problematik ist, also das iiberzogene AuseinanderreiBen von sog. Mikro- und Makrophanomenen, das Essers erklarende Soziologie mit der diese grundlegend iiberlagernden Frage der Aggregationsproblematik belastet.

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Webers historischer Strukturphanomenologie die jenseits des grundbegrifflich prominenten Status des „subjektiv gemeinten Sinns" bei ihxn material leitende Analyse von entwicklungsgeschichtlich pragenden „Wahlverwandtschaften" (man denke an das Argument seiner „Protestantischen Ethik'*) adaquat als additives Aggregationsmodell rekonstruierbar ist (vgl. dazu 4.2). Z u m anderen stellt sich die Frage, ob hier bei Esser nicht letztHch unterschwellig ein Konsensmodell leitend ist. Eine Vermutung, die sich vorstehend schon durch seine Favorisierung eines sozial konventionaUsierten Sinnbegriffs nahe legte. Die solchermaBen eroffnete und in ersten Ziigen konturierte zweifache kritische Perspektive auf Essers Ansatz soil nachfolgend eingehender im Riickgriff auf die Soziologie Max Webers dargelegt und begriindet werden. Dabei beginne ich mit Bemerkungen zum hermeneutischen Profil von Essers erklarender Soziologie (3) und gehe sodann iiber zu einer Erorterung der SoziaUtatsdimension (4).

3 Hermeneutisches Ptofil Die Erorterung des hermeneutischen Profils von Essers allgemeinen und speziellen Grundlagen der Soziologie wird in zwei Schritten erfolgen: Zunachst wird unter dem Stichwort des okonomischen Kognitivismus eine Kritik am Vorrang des Gesetzesbegriffs bei Esser entwickelt (3.1); sodann geht es auf diesen Uberlegungen aufbauend um eine Kritik an der Strukturvergessenheit des Erklarungsprofils der erklarenden Soziologie (3.2).

3.1 Zum Problem des okonomischen Kognitivismus An der Textoberflache scheinen die Dinge sehr einfach: Sowohl Weber als auch Esser favorisieren „erklarendes Verstehen" als Procedere rhrer Soziologien.^^ D o c h damit scheinen die Gemeinsamkeiten auch schon zu enden. D e n n die bereits andernorts (vgl. EndreB 2002b, S. 180-183) vorgetragene Kritik an Essers Rekurs auf die Kognitionspsychologie, die m.E. keine tragfahige Losung von Erklarungsproblemen der Soziologie bereitzustellen vermag, lasst sich im vorliegenden Zusammenhang konsequent zu einer Kritik am okonomischen Kognitivismus von Essers Ansatz verlangern. Denn Esser zufolge hat die fiir die „Logik der Selektion" konstitutive Werterwartungstheorie (WET) „im Modell der soziologischen Erklarung ... nur an einer ... ganzHch ,unsoziologischen' SteUe

Vgl. fur Weber bes. 1919/20, S. 2-5 und fiir Esser bspw. 1999b, S. 195ff.

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der kausalen Umsetzung der situativen Stnikturvariablen in das Handeln der Akteure" ihren Ort (1999b, S. 253). Entsprechend sei die W E T zwar „notwendig, aber in keiner Weise hinreichend fiir eine angemessene so2iologische Erklan i n g " (1999b, S. 253). Es sind Aussagen wie diese, die eine Kritik an der mit dem analytischen Profil von Essers Soziologie eiahergehenden These motivieren, dass die okonomische Theorie ein wesentHches Stiick der soziologischen Erklarungsarbeit bereits leiste. Das Problem besteht m.E. wesentlich darin, dass alltagUche Pragmatik und okonomisch konnotierte Werterwartung nicht beide angemessen iiber den einen Leisten der „Nut2enkalkulation" bzw. des „subjektiv erwarteten Nutzens" zu scheren sind, wie Esser dies tut (vgl. dessen Rede vom „Okononiieprin2ip" 1991, S. 15, S. 19f). Hier ist wohl jeweils nach dem genauen Stellenwert und der Typik der reklamierten Nut2enorientierung zu fragen. Und diese Kritik bezieht sich nicht zuletzt auch wesentlich auf Essers problematische Annahme, Akteure wiissten „in aller Kegel ganz genau, worum es in einer Gesellschaft, in einer Gruppe oder einer Situation ,primar' geht" (1999a, S. 110)^"^ - eine Annahme, die von Esser zudem nicht konsistent durchgehalten wird, wenn es an anderer Stelle heiBt, dass die Akteure „oft weniger liber ihre Situationen [wiissten] als ein auBen stehender Beobachter" (1999a, S. 263). In konzeptioneller Hinsicht scheint hier eine Angleichung von subjektiven Situationsdeutungen, die eine fur alltagliche Prozesse elementare Selbstverstandlichkeit und Vertrautheit generieren und das weitgehend vorreflexiv verfugbare Vermogen der typischen Deutungen von Situationen und Handelnden einschHeBen auf der einen Seite und einer aus beobachtender Distanz moglichen, wenn auch stets perspektivisch bleibenden „objektiven" Situationsbeschreibung auf der anderen Seite vorzuHegen. Und diese Vermutung erhalt durch die Annahme Essers weitere Bestatigung, dass der „Hintergrund eines jeglichen Tuns ... auch in alien sozialen Situationen stets die individuelle Nutzenproduktion" sei (2000b, S. 22). Ganz abgesehen nun davon, dass hier erneut die gewahlte Begrifflichkeit („Hintergrund'*) auBerst unprazise bleibt, entfernt Esser sich mit einer solchen Annahme offenkundig von dem bei Weber leitenden Verstandnis, demzufolge die Annahme „zweckrationalen Sichverhaltens" lediglich als „konstruktive Hypothese" des soziologischen Beobachters fungiert (vgl. Weber 1919/20, S. 3). Mit dieser Problematik verbindet sich konsequent die weitere einer schematischen Vorstellung alltaglicher Handlungs situationen, in denen Esser zufolge „subjektiv immer nur zwei gedankUche Modelle ... zur ,Wahl'" stiinden, namHch „dasjenige, das sich angesichts der erkennbaren Umstande am ehesten ,anbietet'.

Vgl. auch den Htnweis von Schimank/Kron/Greshoff (2002, S. 357), dass Esser, obwohl er „mit Wniiam I. Thomas von einer subjektiven Situationsdefinition ausgeht, betont..., dass die Handelnden zumeist ihre Situation entsprechend deren objektiver Beschaffenheit wahrneh-

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und das dazu nachst-plausible, jedoch im Inhalt und insbesondere im Oberziel dazu unterschiedHche ModeU" (2001, S. 265); (vgl. dazu EndreB 2002b, S. 181f). Was hier erfolgt ist, wie Schimank/Kron/Greshoff (2002, S. 355) ebenfalls vermerken, eine „analytische Nivellierung", insofern solchermaBen „ein kleiner Nutzenunterschied ... die gleiche Wirkung wie ein groBer Nutzenunterschied" hat und die behauptete „Differen2ierung gradueller Unterschiede der Wert-Erwartungsgewichtungen" also gerade nicht stattfindet. Die Probleme scheinen jedoch noch grundsatzlicherer Natur.^^ Denn alltagHch Hegt ^m. frame, also ein situationsspezifischer Code einer Praferenzordnung (2001, S. 263), in aller Kegel so einfach nicht vor und ein script, also ein Handlungsprogramm, eben auch nicht (2001, S. 263). Denn in den iiberwiegenden Fallen geht es in alltagHchen Situationen ja nicht um Fragen wie die, ob ein Handekider bspw. wie von ihm iiblicherweise praferiert die Butter der Firma A kauft oder ausnahmsweise auf das entsprechende Produkt der Firma B auszuweichen bereit ist, da das Produkt der Firma A aktueU nicht vorratig ist. Dieser Fall ist ein solcher der Entscheidungstypik alltagHcher Routinehandlungen, die aber eben gerade prinzipiell jenseits der sozusagen identitatsrelevanten Kernfragen biographischer VoUziige Hegen. Und wenn mit der von Esser bevorzugten Begrifflichkeit ein Zusammenhang von typischen Erwartungen und typischen Wirksamkeitsvorstellungen typischer Mittel gemeint sein sollte, dann fragt sich daniber hinaus, welcher analytische Gewinn denn in der Anleitung durch und im konzeptioneUen Anschluss an die Begrifflichkeit und das Denken der Kognitionspsychologie Hegt. Jenseits der VorHeben fur ein Sprachspiel und dem ja keineswegs zu bestreitenden Hinweis auf interdiszipHnare Lernprozesse miissen doch zunachst und primar einmal sachliche Griinde fur die Wahl einer an die Sprache der soziologischen Tradition zumindest nicht unmittelbar anschlussfahigen Begrifflichkeit vorliegen. Zumal der reklamierte analytische Gewinn dann auch auszuweisen ware. Dariiber hinaus stellt sich hier zudem das Problem, dass der Begriff des „Programms" erneut einen Automatismus bzw. eine mechanistische VorsteUung transportiert, die mit der Explikation typischer Muster im Kontext der Beitrage von Weber wie Schiitz gerade dezidiert nicht verbunden war. Denn wahrend es Weber um Automatismen im Sinne von HabituaHsierungen, von Gewohnheiten geht, schwingt bei Esser stets die Zuspitzung auf einen Entscheidungsmodus mit, der auf Seiten der Akteure gesteigerte Eindeutigkeit und spezifische Rationalitaten voraussetzt (vgl. 2001, S. 509).

Der Realismus der von Schimank/Kron/Greshoff erwogenen Handlungsalternative: dutzende Skpacks und Kartoffelchipstiiten oder aber sechs Bande Esser (2002, S. 351, S. 355, S. 359, S. 362, S. 365) iibersteigt, bei allem zugestandenen Unterhaltungswert, kaum die Realitatsnahe von Essers Beispielen — zumal der Autor dieser Zeilen Bier nicht mag und Esser schon hat.

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Es geht also wesentlich danim, die fiir die Soziologie als Wissenschaft konstitutive Einsicht nicht nur formal anzuerkennen, sondern auch konzeptionell konsequent umzusetzen, dass den Handelnden nicht samtliche Konstellationen und Implikationen ihres Handelns durchsichtig sind und auch prinzipiell nicht sein konnen. Und diese Einsicht ist sowohl methodisch wie auch methodologisch umzusetzen, was bedeutet, einerseits auf die ExpUkation von Strukturen sozialen Handelns abzustellen und andererseits ein hermeneutisches Procedere der Fallexplikation (mit dem Ziel einer Rekonstruktion von den Akteuren verborgenen, also latenten (Sinn-) Strukturen) zu wahlen, u m nicht zuletzt Formen des Scheiterns, Missverstandnisse, die Genese von Misstrauen oder auch erst mittelfristig auftauchende Kooperationsprobleme etc. konzeptionell einholen zu konnen. Der angesprochene, nicht nur nach wie vor latente, sondern tiefenstrukturell manifeste Okonomismus in Essers Soziologie artikuliert sich dariiber hinaus auch noch in einer weiteren gewichtigen Hinsicht: namlich im Vorzug des Gesetzesbegriffs vor dem Begriff der „Strukturen" im Rahmen seines Erklarungsmodells. Bei dieser Wahl handelt es sich m.E. also keineswegs ledigHch um einen Ausdruck schlichter begrifflicher Praferenzen, wie nachfolgend deutUch werden sollte. Diese Vorordnung des Gesetzesbegriffs vor dem der Struktxiren dokumentiert Esser erneut in seiner Festrede anlasslich des 75. Geburtstages von Giinter Biischges (vgl. Esser 2002). Dort wird — in Wiederholung eines Abschnitts aus den „Speziellen Grundlagen" (1999a, S. 473f) — auf eine Partie aus Tocquevilles „Der alte Staat und die Revolution" verwiesen, in der TocqueviUe ein Portrat der sog. „Baumfalken", also des im Zuge der hofischen Zentralisation notgedrungen auf dem Lande verbleibenden armeren Adels gezeichnet hat, der von der bauerlichen Landbevolkerung dann mit der Bezeichnung fur die kleinsten Raubvogel, eben dem Baumfalken, verspottet wird. Hier begriindet Esser den Umzug groBer Telle des Adels in die Nahe des Hofes mit dem Hinweis, dass diese um die strukturelle Entwertung ihrer Position zu verhindern, dies „im Grunde auch mussten". Zudem verweist er auf die „objektive Situatio n " des armeren Edeknannes, der auf dem Land verbleiben musste, sowie auf die prinzipiellen Ausbeutungsverhaltnisse feudaler Gesellschaften, die diese adeligen Familien notigten, „das Gesetz ihrer neuen Lage" anzuerkennen (Esser 2002, S. 24). Hier taucht also der Begriff des Gesetzes bei TocqueviUe selbst in einer offenkundig alltagssprachlich unspezifischen Bedeutung auf Und offenkundig um die Fallstricke eines schlechten Individualismus zu umgehen, greift Esser diesen Gesetzesbegriff Tocquevilles hier zustimmend auf Esser nimmt diesen Terminus jedoch sogleich technisch im Sinne einer Erklarungslogik, wenn er unmittelbar schlussfolgert, dass es hier und damit fur die Soziologie generell „nicht u m ,Individuen', sondern um das Auffinden der ,Gesetze' der

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jeweiligen gesellschaftlichen Lage in den verschiedenen Gruppierungen" ginge (2002, S. 25, vgl. 1999a, S. 474). Eben das aber diirfte gerade nicht der Fall zu sein. Denn Esser selbst formulieit nur wenige Zeilen spater: „Die unentrinnbare Struktur [sic!] des gesellschaftlichen Geschehens ... ist das Ergebnis einer von den Menschen selbst erzeugten objektiven ,Situationslogik' der ,gesellschaftlichen Konstruktion' unintendierter und auch deshalb unhintergehbarer Wirklichkeiten" (2002, S. 25). Damit diirften hier also gerade objektive (latente) Strukturen der Sinnkonstitution angesprochen sein. Zweifelsohne: die Begriffe „Geset2;"^^ und „Logik" iiben ihre spezifische Faszination auf Essers Denken aus — und zwar zugunsten einer soziologischen Analytik, die konzeptionell in Strukturen und Typiken denkt. Und ebenso offenkundig konterkarierte es das soziologisch verbreitete Verstandnis des Strukturbegriffs, diesen mit der deduktiven Logik von Gesetzen zu identifizieren. Beide Semantiken rufen nicht nur ganzlich unterschiedliche Verstandnishorizonte ab, sondern — viel wichtiger — einer mechanischen Vorstellung von Gesetzeslogiken sperrt sich letztlich Essers zunehmend hermeneutisch schattierte Soziologie auch selbst. Systematisch gesehen scheint hier bei Esser zudem jenseits aller konstruktiven Anschliisse an Weber letztlich doch ein realistisches Miss verstandnis des bei Weber als konstruktive Hypothese verstandenen Konzepts des Idealtypus vorzuliegen. So nimmt Esser (vgl. 2000a, S. 459ff sowie 1999a, S. 474f£) an der Textoberflache zwar die relevanten Formulierungen Webers wortHch auf, vernachlassigt jedoch auf dieser Basis bspw. fiir Webers Definition „zweckrationalen Sichverhaltens" (1999a, S. 198), dass diese Bestimmung im Horizont von Webers Explikation der Bedeutung subjektiv gemeinten Sinns steht und dass dieser Sinn eben typischerweise von objektiv rekonstruierbaren Zweckzusammenhangen differieren kann. Und diese reaUstische Umdeutung des methodischen Rationalismus Webers lasst sich auch andernorts bei Esser beobachten. So wenn er die Bedeutung des Rekurses auf die Kategorien Mittel und Zweck zur Erlauterung des Verstehensbegriffs bei Weber heraussteUt. Dort schlussfolgert Esser aus Webers Hinweis, dass Vorgange fiir den soziologischen Beobachter „sinnfremd bleiben", wenn ihm zu ihrer Deutung nicht das „Zuruckgreifen" auf eine unterstellte Sinnzuschreibung mittels der „Kategorien ,Zweck' und ,MitteP" mogHch ist (Weber 1919/20, S. 3), dass ein Verhalten Weber zufolge also „subjektiven Sinn" gewinne, „wenn es von Erwagungen iiber Mittel und Zwecke bzw. Ziele geleitet ist, die dem Akteur vorschwebten" (Esser 1999a, S. 196). Mit dieser, im Begriff des Vorschwebens transportieren mentalistischen Faktizitatsunterstellung wird aber die fiir die soziologische Deutung gerade konstitutive

Vgl. auch Essers starke Ak^entuiemng der Bedeutung „universaler Gesetze" (bspw. 1991, S. 2).

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konstruktive Distanznahme eliminiert, die eben auf intentionale Zuschreibungen verzichtet. ^"^ 3.2 Zur Stmkturvergessenheit derErkldrungstjpik der erkldrenden So^ologie

Die Titelformulierung dieses Abschnitts muss zunachst iiberraschen. Argumentiert Esser denn nicht gerade durchgangig, dass es „in der soziologischen Erklarung vor allem auf die Analyse der sozialen Strukturen an[komnie], denen sich die Akteure in der Situation gegeniibersehen" (1999a, S. 22, vgl. S. 28)? Ungeachtet dieser Positionsbestimmung jedoch ergibt sich die in der Abschnittsiiberschrift angedeutete kritische Perspektive konsequent aus der zuvor angesprochenen Vorordnung des Gesetzes- vor dem Strukturbegriff. Fur die von Esser favorisierte Erklarungstypik ist dessen erklarte Kontinuitat mit Max Webers Soziologie essentiell. Doch selbst wenn man, wie Esser dies dann tut (bspw. 2002, S. 26), Weber als Stammvater einer nach dem sog. Hempel-Oppenheim-Schema verfahrenden Erklarungstypik begreift, sollte doch zugleich anerkannt werden, dass sich das spezifische Profil von als klassisch begriffenen Autoren gerade durch eine charakteristische Offenheit fur unterschiedliche und untereinander durchaus divergierende Anschliisse auszeichnet (wie dies ja gerade auch in der Weber-Diskussion auf recht ausgepragte Weise der Fall ist). Entsprechend verbieten sich hier Monopolisierungen letztlich a priori. Denn bei Weber nimmt der Rekurs auf das Plausibilitatskriterium der „Evidenz" einen hinreichend prominenten Platz ein, da gerade auch fiir Weber das soziale Leben eine kaum formalisierbare Sphare bzw. keine Sphare ist, deren Vielschichtigkeit in einer formalisierten Sprache adaquat einzufangen bzw. einzuholen ware. Offensichtlich ist zweifellos, dass Weber kausal argumentiert bzw. auf die Schulung des kausalen Zurechnungsurteils fiir den Soziologen dringt, aber er argumentiert eben gerade nicht nomologisch (vgl. auch EndreB 2005). Und hinter dieser Abgrenzung von „kausal" und „nomologisch" verbergen sich genauer wohl drei Aspekte: (1) Bei Weber liegt keine Redxiktion auf ein nomologisches Erklarungsmodell vor. (2) Es wird von Weber zugleich offen gelassen, dass solche Erklarungen fallweise durchaus auch mogUch und sinnadaquat sein konnen. (3) Von Weber wird konsequent angenommen, dass es eine Pluralitat von Erklarungstypen bzw. -formen gibt, deren einer, der typologische von

Entsprechend stellt sich natiirlich auch die weitere Frage, warum Esser zwar einerseits festhalt, dass „der Hinweis auf eine idealt)^pische Wahlverwandtschaft noch lange nicht ... eine Erklarung" sei (2000a, S. 462), er aber andererseits das Argument von Webers Protestantismus-Kapitalismus-These glaubt in das sog. Badewannenmodell der erklarenden Soziologie einschreiben zu konnen.

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Weber als „erklarendes Verstehen" fur die Soziologie als spezifisch begriffen wird. Damit ist klar: Soziologie — egal welcher Couleiir — will „erklaren". Aber das, was hier „erklaren" heiBt, erschopft sich nicht und ist auch partiell nicht adaquat mit einem „analytischen Kausaknodell" auf den Begriff zu bringen: „Erklaren" und „kausales Erklaren" sind zu unterscheiden, d.h. ein analytisches Kausaknodell argumentiert jenseits des fur die Analyse sozialer Situationen adaquaten Aufzeigens objektiv moglicher Kausalzusammenhange. Auch eine im Anschluss an Weber durch Schiitz grundlagentheoretisch raffinierte Soziologie will also erklaren, Ihr Selbstverstandnis erschopft sich keineswegs in dem von Esser fur sie — in wiederum auBerst pointierter Form — skizzierten Verstandnis „einer Art von Schattenreich zwischen ,richtiger* Wissenschaft und Literatur, etwa weil man glaubt, dass es wegen des ,Sinns' des Handelns oder wegen der ,Konstruktion' der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Menschen keine richtigen Erklarungen geben konne" (Esser 2002, S. 32). D e n n bei diesem Erklarungsanliegen ist nicht nur eine ausschlieBliche Konzentration auf eine deduktive Nomologik, sondern auch eine solche auf „Handeln" verkiirzend; eine Voraussetzung, die eine strikt auf (deduktiv-nomologische) Erklarungen abstellende Soziologie eben stets selbstverstandlich macht. Diese, das methodologische Profil der verstehenden Soziologie verkiirzende Optik ist deshalb hinsichtlich ihres strukturtheoretischen Ausgriffs notwendig zu erganzen: Im Zentrum des Erklarungsinteresses der verstehenden und grundlagentheoretisch durch Schiitz und strukturale Impulse raffinierten Soziologie stehen Strukturen sozialen Handelns! Erklarungsgegenstand der Soziologie ist also auch hier primar nicht individuelles Handeln, sondern sind „Strukturen" und die Dynamiken struktureller Veranderungen. Es geht ihr also gerade nicht nur um die Situationsdeftnitionen von Akteuren, das sich aufgrund dieser fur sie subjektiv sinnvoll nahe legende Handeln und die daraus resultierenden Folgen. Sondern die spezifisch soziologische Problemkonstellation steUt sich fur sie hinsichtlich der aus einem Handeln struktureU folgenden Situation mit den fur diese dann mobiUsierten Losungen und reproduktiven Folgen. Entsprechend ist hier auch mit einem psychologisch unterlegten Konzept des framing keine soziologische Antwort zu gewinnen. Denn es geht nicht um eine Frage der „Selektion der mentalen Modelle fur die Orientierungen und das Handeln der Menschen" (so dann Esser 2001, S. 496), sondern gerade jenseits dieses Kognitivismus steht die Rekonstruktion einer auf der Ebene der Lebenspraxis sich faktisch durchdriickenden, ihrer Reflexivitatstypik nach aber eben impUzit bleibenden Problemlosung zur Aufgabe. Eine Problemlosung, von der lediglich unterstellt wird, dass sie sich objektiv stellt bzw. dass ein Umgang mit ihr lebenspraktisch objektiv unausweichlich ist. ^^ Diese Dimension des

Dies verweist erneut auf das oben vermerkte Fehlen der Unterscheidung von manifesten und

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Erklarungsprofils einer verstehenden Soziologie prinzipiell auszublenden motiviert die Kritik an der Strukturvergessenheit der erklarenden Soziologie. Welchen Kriterien aber muss die skizzierte Art und Weise des „Erklarens" nun geniigen? Esser wiirde daraufhin fragen (a) nach der „typisierten Beschreibung der (makro-)strukturell gepragten sitxiationalen Bedingungen", (b) nach der „(kausalen) Ableitung des unter diesen Bedingungen ,situationsgerechten' Handelns" und (c) nach der „Benennung von unintendierten Folgen, die ... wieder auf die Entstehung makrosozialer Strukturen" verweisen (2003b, S. 526, vgl. 1999a, S. 26). Konzeptualisiert man das Erklarungsproblem jedoch solchermaBen mittels der von Esser vorgelegten Erklarungslogik, dann beantwortet dies sicherUch auch Fragen, auf jeden Fall jedoch Fragen, die sich aus soziologischer Perspektive primar gar nicht stellen. Denn Probleme bereitet hier die konzeptionelle Perspektive, die — so Esser — auf „die gleichzeitige Beriicksichtigung der interpretativen Dimension alien sozialen Handelns und der Bedingungen einer angemessenen kausalen Erklarung" abstellt (1993, S. 597). Diese auf der Textoberflache behauptete integrative Optik („und'') verbirgt aber letztHch gerade das zentrale konzeptionelle Problem! Worauf es an dieser SteUe ankommt ist, dass die Logik eines sehr spezifischen ErklarungsmodeUs unter Beanspruchung einer integrativen Perspektive nicht fiir das Ganze der Soziologie und fiir das Ganze ihres Erklarungsinteresses ausgegeben werden kann. Denn Essers Absage an „eine typisierende Beschreibung" zugunsten einer — wie er formuliert — „wissenschaftHche[n] Antwort" in Gestalt der „Klarung von Explananda" (2001, S. 533) ignoriert doch allzu unbeschwert den jenseits reiner Deskription sich bewegenden Erklarungsanspruch einer verstehenden Soziologie. Dieser Erklarungsanspruch eines in der Tradition der verstehenden Soziologie Max Webers stehenden Ansatzes artikuHert sich mit Riicksicht auf ein zur Erklarung stehendes Phanomen in Form eines methodologisch reflektierten Zirkels von (1) exemplarischen Fallrekonstruktionen zur Gewinnung einer ersten Falldeutung unter Bezug auf ein als relevant gesetztes Erklarungsinteresse, (2) typologischen Verdichtungen aufgrund sequenzieUer Analysen, (3) der Ausarbeitung dieser typologischen Verdichtungen im Rahmen kontrastierender Typologien und (4) einer Strukturexplikation des zur Erklarung stehenden Phanomens. Um diesen Vierschritt im vorHegenden Zusammenhang wenigstens fiir den Fall einer textformigen Datenbasis kurz zu erlautern:^^ (ad 1) Auf der Basis bspw. von Leitfaden gestiitzten offenen Interviews erfolgt zunachst eine mit Blick auf die Gesamtgestalt eines Falles sich vollziehende Auswahl und interpretierende Gewichtung der erhobenen Daten der latenten Sinnstrukturen bei Esser. ^^ Die nachfolgenden Bemerkungen prazisieren friiher formulierte Hinweise (vgl. EndreB 2002a, S. 133 und 2002b, S. 183). Das nachstehend herangezogene empirische Material entstammt einem iiber zwei Jahre durchgefuhrten Forschungspraktikum mit Studierenden.

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einzelnen Falle. Dieses am Fall selbst geschulte Procedere bezieht sich sowohl auf die aus dem vorliegenden Material heraus rekonstruierten objektiven Daten wie auf thematisch aufbereitete, in einem ersten Zugriff als vorrangig relevant erachtete Interviewstellen, also dokumentierte Selbstdeutungen der Probanden. (ad 2) Aufgrund dieser ersten typisierenden Charakterisierung der zu bearbeitenden Falle werden dann ausgewahlte, der ebenfalls im ersten Zugriff als besonders relevant bzw. signifikant erachteten Textpassagen einer gesonderten sequenzanalytischen Ausdeutung unterzogen mit dem Ziel einer sukzessiven Verdichtung der FaUinterpretationen im HinbHck auf die sich in den einzekien Fallen artikulierenden „Losungen" fiir das in Frage stehende, also als untersuchungsrelevant gesetzte Erklarungsproblem. (ad 3) Diese aus dem Material herausgearbeiteten „Losungen" auf der Ebene der einzelnen Falle werden sodann kontras tier end typologisch zugespitzt zu einem gegeniiber den jeweiligen Fallen relativ unabhangigen Tableau idealtypisch zu differenzierender objektiv moglicher Problemlosungen fiir das in Frage stehende Erklarungsproblem. (ad 4) Im solchermaBen erfolgenden intensiven Durchgang durch das empirische Material kann dann vorlaufig abschlieBend — also ledigHch bezogen auf das aktuell jeweils leitende Untersuchungsinteresse sowie die aktuell realisierbare Bearbeitungstiefe des Materials — eine allgemeine Explikation des sich objektiv stellenden Strukturproblems hinsichtlich des die Untersuchung motivierenden Erklarungsinteresses erfolgen. Die zuvor erhobenen Falle werden dann als typische Varianten der „Losung" dieses ihnen objektiv zugrunde liegenden Strukturproblems erkenntUch. Im konkreten Fall ging es um eine Untersuchung zur Frage, was es heutzutage fur Studierende bedeutet, in eine Verbindung einzutreten. Die Analyse sollte klaren, wie Studierende heute mit dem Umstand umgehen, einerseits Anspriiche an ihre SelbstverwirkHchung etc. in einer ,individuaHsierten' Gesellschaft zu behaupten und sich andererseits zugleich einer intensiven Vergemeinschaftungspraxis zu unterziehen. Welches, so die Kernfrage, ist das strukturelle Handlungsproblem, das hier auf Seiten der Akteure objektiv zu losen ist? Die aufgrund einer Vororientierung iiber das Feld formuHerte forschungsleitende Hypothese lautete, dass hier jeweils eine Bewaltigung der bzw. ein spezifischer Umgang mit der Spannung zwischen „Lebensbund" (auf Dauer angelegte Verbindung) und Wohngemeinschaft (als temporare Lebensform) erforderUch ist. Das im Zentrum der Forschungsarbeit stehende Erklarungsproblem lautete also: Wie gehen Individuen mit dieser Spannung zwischen „Lebensbund" und „ W G " um? Welche Typen bzw. Strukturen des Umgangs mit dieser Spannung lassen sich im Material ausmachen? In den zur Bearbeitung dieser FragesteUung durchgefuhrten Einzelfallanalysen konnten wir verschiedene Typen identifizieren, von denen hier zwei herausgegriffen seien: Den einen Typus nannten wir „das geriigte Kind", inso-

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fern hier die Verbindung als (Ersatz-) Familie fungierte mit alien Anzeichen einer Uberidentifikation, die im Falle von Kritik (Bestrafung) zu einer grundlegenden Orientieningskrise fuhrte. Einen anderen Typus identifizierten wir im „Sportler": bei ihm stellte sich das Verbindungsleben lediglich als ein Fall der Bewaltigung von Herausforderungen dar, die das Leben ganz generell an einen herantragt — ein spezifischer Modus der Distanzierung. Mit der Identifizierung dieser Typen konnten in der soziologischen Analyse zwei Formen des Umgangs mit der fur ein bestimmtes soziales Handeln — den Eintritt in eine Verbindung — objektiv sich stellenden Problematik rekonstruiert werden, namlich die Spannung zwischen „Lebensbund" und „ W G " zu bewaltigen. Einer Problematik, von der — ebenso wie von der Form des Umgangs damit — nicht einfach unterstellt werden kann, dass sie den Probanden subjektiv prasent ist. Wir wahlten also einen Zugriff, in dem sich nochmals das spezifische Leistungsvermogen einer hermeneutisch — und zumal objektiv hermeneutisch — verfahrenden Soziologie dokumentiert: die auch fur die Handelnden verborgene Struktur eines Falles aufdecken zu konnen. Tragt man an dieses Material nun die oben angesprochenen Aspekte einer soziologischen Erklarung im Sinne Essers heran, dann erhielte man hinsichtlich (ad a) der strukturellen Situationsbedingungen Hinweise auf kulturelle Pluralisierungsprozesse, die Offnung der Hochschulen etc., hinsichtlich der (ad b) Ableitung situationsgerechter Handlungsoptionen ergaben sich womoglich Annahmen liber Formen der Selbstaufgabe oder der Nicht-Eintritts-Option etc. Und hinsichtlich (ad c) des Aufweises unintendierter Folgen bzw. nicht erwarteter Nebenfolgen ware vermutlich ebenso wenig spektakular auf den Riickgang der Mitgliederzahl von Verbindungen sowie auf eine Verringerung der Anzahl von Verbindungen wie auch moglicherweise auf die Auflosung des klassischen Typus studentischer Verbindungen zu verweisen (wie er sich ja nicht nur in der Existenz nicht-schlagender Verbindungen, sondern auch in geschlechtsindifferenten und auch weiblichen Verbindungen bereits langst andeutet). Insgesamt Hinweise keineswegs primarer Relevanz mit Blick auf die leitende Fragestellung. Demgegeniiber ergeben sich — wie dargestellt — im Zuge der Anwendung des vierschrittigen hermeneutisch sensiblen Analyseverfahren zunachst ad (2) typologisierende Verdichtungen fallspezifisch realisierter Problemlosungsmuster: „das geriigte Kind" sowie „der Sportier"; sodann ad (3) als objektive Losungsmoglichkeiten fur die Spannung zwischen Individualitatsstreben und Gemeinschaftseinbindung: die Varianten der Uberidentifikation und der distanzierenden Aufhebung; schlieBlich lasst sich ad (4) als das objektiv stellende Strukturproblem die strukturelle Ambivalenz von Verbindungen zwischen „Lebensbund" und „ W G " herausarbeiten. Halt man sich die „Logik" dieses mehrschrittigen Verfahrens vor Augen, dann wird aufgrund des sich dariiber realisierenden Erklarungsprofils im Gesamttenor auch die darin enthaltene Kritik an Essers Vorschlag deutlich. D e n n

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es ist gerade umgekehrt zu Essers Vermutimg die entscheidungslogische Grundstruktur der Werterwartungstheorie (also der Handeln als Selektion konzipierenden Handlungstheorie der erklarenden Soziologie), die diese Theorie (und eben nicht ein Verfahren verstehender Soziologie) in den Vorhof des spezifisch soziologischen Erklanangsinteresse verweist, und zwar in Gestalt einer Heuristik ganz im Sinne Max Webers.^^ Der Rekurs auf Modelle der ZweckrationaUtat — auf die Semantik von Gesetz, Selektion, Werterwartung, Regeln, Code, Schemata und Skript — ist damit, so die StoBrichtung der hier skizzierten Kritik, gerade auch vor dem Hintergrund der Soziologie Webers forschungspragmatisch falsch platziert — und zwar mit erheblichen theoretisch-systematischen Auswirkungen. Denn aufgrund dieser Fehlplatzierung wird die Logik von zweckrationaler Nutzenkalkulation und Wahl fur das Ganze genommen — alien Bekundungen von „bounded rationality" zum Trotz. Es gelingt Esser m.E. also gerade nicht, durch die formale Anwendung der WET auf Routinen, Nutzenkalkulation als einen Fall neben anderen auszuweisen (1999a, S. 166, S. 357f), Und es liberschreitet somit das mit dem analytischen Profil der Soziologie Machbare, wenn Esser „den genauen kausalen (Mikro-) Mechanismus des Geschehens mit alien seinen riskanten Anschliissen und Makro-Mikro-Makro-Ubergangen empirischer wie analytischer Art erkennbar" zu machen behaupten wiQ (2000a, S. 19). Dariiber hinaus ist an dieser Stelle nochmals an den methodischen RationaHsmus von Webers Soziologie zu erinnern. LedigHch dieser Perspektive verdankt sich die Wahl zweckrationaler KonzeptuaHsierungen zur Gegenstandsperspektivierung bei Weber. Und dieser methodische RationaHsmus kann m.E. gerade nicht mit der forschungspragmatischen Strategic der „Methode der abnehmenden Abstraktion" zur Entwicklung „einfacher Erklarungsmodelle" adaquat umgesetzt werden.^^

Vgl. schon EndreB 2002a, S. 134. Faktisch schlieBen sich m.E. ebenso Schimank/ Kron/Greshoff gerade auch dieser Einschatzung an, wenn sie hinsichdich ihrer Analyse der sog. „Logik der Situation" resiimieren (2002, S. 360): „Essers erklarende Soi^iologie steht auf den Schultern jener von ihm oft: genug geschmahten Soziologen, die ,nur' dichte Beschreibungen sozialer Milieus, teilsystemischer Programme und Codes, sozialstruktureller ,Lebenschancen' etc. geliefert haben." IVIit Adorno konnte man sagen, hier werde eine „Sachlichkeit" demonstriert, die „den Sinn, der Kultur war", gerade tilgt. Vgl. dazu Esser 1991, S. 61ff, 1993, S. 133ff, 2000c, S. 337ff sowie bes. Esser 1999b, S. 200, S. 475ff, 2000a, S. 459ff.

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4 Sozialitatsdimension Die Auseinanderset2ung mit problematischen Aspekten des hermeneutischen Zuschnitts von Essers Gnmdlegung soil nun in einem zweiten Schritt durch eine Erorterung der in diesem Zugriff erfolgenden Thematisierung der emergenten Dimension von Sozialitat flankiert werden. Dafur konzentriere ich mich zunachst auf eine Behandlung der sog. Aggregationsproblematik anhand des von Esser erorterten Phanomens des Entstehens einer Freundschaft (4.1), um daran anschlieBend die wis sens soziologische Dimension der Aggregationsproblematik einer gesonderten Analyse zu unterziehen (4.2).

4.1 Zur A^regationsprohlematik Im Anschluss an die ICritik am Erklarungsprofil von Essers Soziologie kann nun zunachst nochmals auf die Logik des sog. Badewannenmodells Bezug genommen und konnen hier insbesondere die beiden sog. „Uberbruckungslogiken" zwischen Mikro- und Makro- resp. Makro- und Mikro-Ebene — also die „Bruckenhypothesen" (Makro-Mikro) einerseits und die „Transformationsregeln" (Mikro-Makro) andererseits — untersucht werden. Im vorliegenden Zusammenhang mochte ich mich auf letztere konzentrieren und das Problem an dem von Esser gewahlten Beispiel der Entstehung einer Freundschaft erortern (2000a, S. 14-17, 2000b, S. 18f); eines Beispiels, das im Rahmen seiner „Soziologie" zum Auftakt des zweiten Bandes der „Speziellen Grundlagen" prominent platziert ist. „Freundschaft" wird von Esser als soziale Beziehung im Sinne Webers verstanden, die wiederum — so Esser (2000b, S. 15f, S. 18f, S. 299ff) - als ein Unterfall bzw. als eine Form sozialen Handekis von Weber eingefiihrt wiirde. Der Prozess einer Freundschaftsentstehung als einer Entstehung von Relationen ist Esser zufolge als „ein kollektives Makro-Ereignis" zu begreifen (2000a, S. 14). Kernphanomen des Sozialtypus „Freundschaft" sei eine „geteilte EinsteUung", genauer: „eine Koorientierung von Akteuren mit einem speziellen Inhalt" (2000a, S. 14). Schon an dieser begrifflichen Bestimmung fallt auf, dass durch sie das eigentlich zu erklarende Phanomen — Freundschaft als eine bestimmte Form von sozialer Beziehung — wegdefiniert wird bzw. hinter der geheimnisvollen Attribuierung „spezifischer Inhalt" verschwindet. N u n konnte man das zunachst dahingesteUt sein las sen und sagen, es gehe primar darum, die Entstehung von Koorientierungen zu erklaren. Aber auch diese Frage scheint Esser noch wegzudefinieren, wenn er als weitere Voraussetzung das Kriterium der „Homophilie" einfiihrt im Sinne eines (dann wohl strikt biologistisch gewendeten) „gleich und gleich geseUt sich gern" (2000a, S. 15).

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Es bedarf nun zunachst bestimmter Gelegenheitsstrukturen: Man muss sich liberhaupt — und eben nicht nur einmal — treffen konnen; soweit die hier doch recht karglich bestitnmte „Logik der Situation". N u n fuhrt Esser die „Bruckenhypothese" ein, dass „bei einer hohen Ahnlichkeit der Akteure die Erwartung fiir weitere erfreuliche Kontakte ansteigt" (2000a, S. 15). Und schon wieder also werden die Probleme schHcht wegdefiniert. D e n n nicht nur verbergen sich auch hier erneut in den Attribuierungen („Ahnlichkeit", „erfreulich") die entscheidenden Erklarungsprobleme, sondern es fragt sich zudem, wer denn bitte die Kriterien der „hohen Ahnlichkeit" und der „Erfreultchkeit" der Kontakte liberhaupt definiert. Das sind doch wohl die beteiHgten Akteure selbst. Und diese Situationsbestimmungen wiederum sind unmittelbar gebunden an die jeweiligen Selbst- und Fremdzuschreibungen und die dadurch generierten Selbst- und Fremdverstandnisse der Akteure, so dass Esser mit der Nichtberiicksichtigung ihrer Rekonstruktion gerade das eigentliche Erklarungsproblem erneut ignoriert. Entsprechend diirftig faUt dann auch die fur die „Logik der Selektio n " herangezogene „Handlungstheorie" aus. Sie lautet: „Das Strukturmerkmal der Ahnlichkeit der Akteure [steigert] als Folge der Fokusstruktur beim meeting die Neigungen ..., die Kontakte fortzusetzen" (2000a, S. 16). Dieser These zufolge ist es also die Erhohung der „Erwartungen fiir die Nutzenproduktion durch neue Kontakte" (2000a, S. 16), die sich als Motor der Freundschaftsentstehung erweist. Die hier von Esser herangezogene begriffliche Trias AhnHchkeit-Neigungen-Nutzenproduktion verdeutHcht noch einmal gut, in welch geringem AusmaB es Esser angesichts seiner dominanten Rezeption psychologischer und okonomischer Theoreme liberhaupt noch mogHch ist, an die fur das soziologische Erklarungsprofil konstitutive Dimension der inter sub jektiven Strukturierung sozialer WirkHchkeit heranzukommen, die gerade Weber ja auch bei einem Typus von sozialer Beziehung wie einer Freundschaft itn BHck hat. Fiir die „Logik der Aggregation" fiihrt Esser sodann die „Transformationsregel" ein, dass „das kollektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen zwei Akteuren A und B ... genau dann [besteht], wenn bei beiden Akteuren die EinsteUung f entstanden ist und sie in ihrem Handeki (ko-)orientiert" (2000a, S. 16). Das aber scheint eine schlichte Tautologie zu sein, denn wenn man fiiir den Platzhalter „Einstellung f" die von Esser zuvor dafur eingefiiihrte Umschreibung (2000a, S. 14) in die Transformationsregel einfugt, dann lautet diese: „Das koUektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen zwei Akteuren A und B besteht genau dann, wenn bei beiden Akteuren ein ,Satz an inhaltUchen Besonderheiten, die die Beziehung einer Freundschaft als spezieUe Koorientierung konstituieren', entstanden ist und sie in ihrem Handeln (ko-)orientiert," Und dass wiederum heiBt doch wohl nichts anderes als: Wenn eine Freundschaft besteht, dann besteht sie. Wenn das aber eine soziologische Erklarung im Sinne

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des Profils erklarender Soziologie sein soil, dann ist darin wohl kaum eine Bereicherung des analytischen Potentials der Soziologie identifizierbar. Jedoch: Die angefuhrte Transformationsregel „alleine reicht... nicht aus" — so raumt Esser ein — und fiihrt flankierend an dieser Stelle erstmals eine sog. „Transformationsbedingung" in sein Modell der soziologischen Erklarung ein. Deren Status allerdings bleibt ziemlich im Dunkeln. Esser kommt lediglich in diesem Beispiel und an noch einer anderen Stelle im Zuge der Erorterung des Beispiels der Ehescheidung auf diese Transformationsbedingung im Rahmen seiner „So2iologie" zu sprechen. Hier scheint noch grundsatzlicher konzeptioneller Klarungsbedarf zu bestehen. Denn augenfallig ist der Perspektivenwechsel und damit letztlich die konzeptionelle Inkonsistenz hinsichtiich der Erorterung der „Transformationsbedingungen" bei den Beispielen der Freundschaftsgenese auf der einen (2000a, S. 14-17) und der Ehescheidung auf der anderen Seite (2000a, S. 24-25). Wahrend fiir den Fall der Erklarung des Entstehens einer Freundschaft auf den jeweils als einseitig angesehenen „Beschluss" der beteiHgten Akteure rekurriert wird, „die Kontakte fortzusetzen" (2000a, S. 16), wird von Esser itn Falle von Ehescheidungen auf die Veranderung institutioneller Rahmenbedingungen des Handelns, also auf institutionelle Vorgaben individuellen Entscheidens abgestellt — hier konkret die Scheidungsrechtsreform des Jahres 1977 (2000a, S. 25). Wird in diesem Fall somit ein auBerer Situationsaspekt als Trans formationsbedingung eingefiihrt, so ist es im Freundschaftsbeispiel offenkundig ein (mehr oder weniger, das erfahren wir nicht) empirisches „Gesetz". Damit aber wird der konzeptionelle Status dieser „Transformationsbedingungen" im „ModeU der soziologischen Erklarung" vollends undurchsichtig. Fiir den Fall der Freundschaftsentstehung lautet die „Transformationsbedingung" fiir die Giiltigkeit, Angemessenheit oder Anwendbarkeit der „Transformationsregel": „Wenn zwei Akteure A und B nach einem ersten meeting jeweils fiir sich beschHeBen, die Kontakte fortzusetzen, dann entsteht daraus auch ein mating, [namltch] die beide Akteure (ko-)orientierende EinsteUung f (2000a, S. 16)." Ganz abgesehen davon, dass diese weitere Bedingung nach dem zuvor dargelegten tautologischen Charakter des Erklarungsprofils auch keinen weiteren aufschHeBenden Gewinn fiir sich beanspruchen kann, fallt hier noch etwas Weiteres auf Diese Trans formationsbedingung kann nicht als weitergehende Spezifizierung angesehen werden, sondern gibt in ihrer FormaHtat eher die generelle Trans formationsbedingung von einem ersten Sehen zur Entstehung einer Geschaftsbeziehung an als zu einem Freundschaftsverhaltnis.^^ Denn

Die Inadaquanz dieser Bestimmung wird auch daran deutlich, dass sich eine Freundschaftsbeziehung ja gerade nicht nur — 'zeitlich — durch ihre Langer£ristigkeit, sondern auch und vor allem - sozial - durch die Freiwilligkeit und damit ihre Entbundenheit von jeder Rollenfixierung sowie schlieBlich — sachlich — durch das Fehlen einer klaren, also funktional spezifi-

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dass, wie Esser argumentiert, „ein fortgesetztes meeting zu einem erfolgreichen mating &jihi^'' (2000a, S. 17), das ist sozusagen eine formale Strukturgesetzlichkeit kn Sinne einer objektiven Moglichkeit von Interaktionen (zumindest dann, wenn der sicherlich seinerseits problematische Terminus „erfolgreich" hier lediglich meinen sollte: verandernd), keineswegs aber haben wir es mit einer in irgendeinem Sinne fur Freundschaftsverhaltnisse spezifischen Bedingung zu tun. Esser kann seinen Schluss, dass unter der Voraussetzung, dass „A und B ... nach dem ersten meeting den Kontakt fort[setzten] ..., eine Freundschaft entstanden ist" (2000a, S. 17), nur aufgrund der zuvor aufgedeckten Tautologien Ziehen — und damit bleibt sie hinsichtUch ihres Erklarungswertes letztlich leer. LedigHch erganzend kann noch ein weiteres Argument angefugt werden: Esser hebt hervor, dass es eines Beschlusses der beiden sich Treffenden bediirfe, u m die Kontakte fortzusetzen. N u n kann man dies durchaus auch als Rekurs auf einen sozusagen impliziten Beschluss auffassen und damit nicht im Sinne einer rationaHstischen Engfuhrung kritisieren — und so verstehe ich Esser hier auch. Gleichwohl aber ist darauf hinzuweisen, dass empirisch die Gelegenheitsstrukturen zum Freundschaftsaufbau doch weit kontingenter sind: Vielfach sind es die aus individueller Lebensfdhrung heraus gemeinsam angesteuerten Platze und Orte, die dazu angetan sein konnen, eine RegelmaBigkeit von Kontakten herzustellen, zu Verabredungen und Einladungen liberzugehen, Sympathien zu generieren und so die Chancen einer Freundschaftsentstehung nicht auszuschHeBen bzw. nichts weiter als offen zu halten. Zunachst trifft man sich bspw. beim Abholen der Kinder aus dem Kindergarten, begegnet sich im Sportverein, sieht sich bei Veranstaltungen der lokalen Gemeinde oder des Stadtteils oder der Partei etc., bevor sich daraus im Laufe der Zeit dann vielleicht Weiteres ergibt. Im Kern geht es hier demnach u m die Veranderungsdynamik wechselseitiger Selbst- und Fremdzuschreibungen, d.h. zur Analyse resp. „Erklarung" stehen die auf Seiten der Akteure durch bestimmte soziale Prozesse ausgelosten wechselseitigen Um- bzw. Neu-Deutungen von Personen und relevanten Ausschnitten sozialer WirkHchkeit. Und das kommt bei Esser — trotz framing und Situationsdefinition — ledigHch im gewissermaBen Kleingedruckten zur Geltung, wenn er das mating als Vorgang beschreibt, bei dem „sich die anfangHchen EinsteUungen der beiden Akteure in einer bestimmten Weise andern" (2000a, S. 15). ^^ Und dieser Wandel wechselseitiger Selbst- und

schen Zielorientierung bzw. -ausrichtung auszeichnet Nur nebenbei sei angemerkt, dass wir es hier offenkundig mit einer - wenn auch nur partiellen und somit nicht vollstandig tragfahigen — Aufnahme von Schiitz' Konzeption der „Wirkensbeziehung" aufgrund wechselseitiger Motiwerschrankung zu tun haben (2004, S. 303 ff), die von Esser faktisch als Modell des interaktiven gegenseitigen Verstehens von ego und alter vorgestellt wird (vgl. auch EndreB/Renn 2004, S. 49f). Dabei ist die Vorstellung wechselseitiger Motiwerschrankung keineswegs gleichzusetzen mit der Verschrankung von Psychen, denn hier geht es um die Zuschreibung objektiv rekonstruierbarer Motive.

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Martin EndreB

Fremdzuschreibungen ist eben gerade nicht, wie Schknank/Kron/Greshoff (2002, S. 363) offenkundig mit Esser meinen, „als ein inneres Tun oder Handeln zu konzeptualisieren", sondern muss als ein pragmatisches Prinzip der durch das Handeln anderer ausgelosten (motivierten und vollzogenen) Erwartungskorrektur und Selbst- wie Fremdbildveranderung verstanden, also immer schon als sozialer Prozess verstanden werden (vgl. auch Tenbruck 1964, S. 440f). Hier also fordert das Thema der pragmatischen Relevanz sein voiles Recht: Denn die Deutungsschemata der interagierenden Akteure sind pragmatisch interaktiv verschrankt, so dass es zu pragmatisch motivierten Aufmerksamkeitsverschiebungen kommen kann — und im Falle des Entstehens einer Freundschaft offenkundig auch kommt bzw. gekommen ist.^"^

4,2 Die ipissensso^oiogische Dimension der A.^regationsprohlematik

Halt man sich die gelaufige Kritik an hermeneutisch verfahrenden und/oder phanomenologisch orientierten soziologischen Analysen vor Augen, dann ist zunachst eine verkiirzende Rezeption zu korrigieren: Verstehende und phanomenologisch orientierte Soziologie wie auch die Handlungstheorie der interaktionistischen Tradition erschopfen sich nicht einfach in der Vorstellung einer Orientierung des stets situativ gebundenen Handelns an Symbolen, wie Esser meint. Ganz selbstverstandlich reflektiert dieser soziologische Theorie- und Forschungstypus materielle Opportunitaten und Restriktionen als Bedingungen sozialen Handelns und sozialer Situationsdefinitionen. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: einmal natiirHch insofern sie in den subjektiven Situationsdeutungen der Akteure prasent sind; sodann als sog. objektive Daten, die sich in den Fallen dokumentieren oder aber die aufgrund spezifischer Feldkenntnisse im Verlauf einer Analyse herangezogen werden konnen; weiterhin aber vor alien Dingen auch insofern, als Restriktionen oder Opportunitaten als objektive Sinnstrukturen rekonstruiert werden und schHeBlich insofern deren Analyse den fiir eine bestimmte Gegenwart objektiv liberhaupt moglichen Deutungs- und Selbstdeutungshorizont zu rekonstruieren ermoglicht (vgl. wiederum das Beispiel des Sozialtypus jjFreundschaft'"). Demgegeniiber hat es nun seine ganz eigene Ironie, wenn Essers Ansatz aufgrund der inzwischen offenkundigen Spannung zwischen dem Anliegen der Integration hermeneutischer Elemente in ein okonomischen Konzeptualisierungen nahe stehendes Denken auf der einen und einem — vorstehend bereits

Dieser Hinweis auf die pragmatische Dimension gibt zudem Anlass, die fehlende historische Sensibilitat des von Esser vorgelegten Erklarungsmodells zu kritisieren, denn es sind spezifische soziof-historische Konstellationen, die den uns heute (moglicherweise immer noch vertrauten) Freundschaftstj^pus haben entstehen lassen (vgl. erneut Tenbruck 1964, S. 436ff).

„Sinn'' und „Kultur'' bei Esser und Weber

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angedeuteten und nachfolgend noch zu belegenden — Zunickschrecken vor einer konsequenten hermeneutischen Anlage seiner Soziologie auf der anderen Seite jetzt seinerseits gewissermaBen Opfer eines — wie Habermas sagen wiirde — jhermeneutischen Idealismus' wird. Und dies scheint dann der Fall, wenn er die Gesamtheit kultureller Bezugsrahmen als „die sozial verbreiteten, symbolisierten und sozial mit Geltung versehenen mentalen Modelle" (2001, S. 500) zu einem „kulturellen System" stdlisiert und damit hypostasierend von ihrer handlungsund interaktiven Grundlage sozusagen abkoppelt, ohne die deren Reproduktion gar nicht denkbar ist. In dieser Hinsicht Hegt bei Esser eine, im Vergleich zu seiner in der Regel harschen Kritik an Parsons' Soziologie geradezu irritierende Aufnahme eines seiner zentralen Konzepte und damit ein Riickfall in ein langst fur iiberwunden erachtetes theoretisches Konzeptualisierungsniveau vor. Woran aber lasst sich nun die anhaltende hermeneutische bzw. wissenssoziologische Unterbestimmtheit von Essers Soziologie konzeptionell festmachen? Die grundsatzliche Ausrichtung der Argumentation diirfte vorstehend bereits deutlich geworden sein. Sie soil deshalb abschlieBend an einem Beispiel lediglich verdeutlicht und auf eine zusammenfassende Einschatzung der strukturellen Problematik der Anlage von Essers Soziologie zugespitzt werden. D e n n auch wenn Esser prinzipiell auf die wissenssoziologische Dimension rekurriert, so wird diese im Rahmen seiner Konzeption erklarender Soziologie doch nicht annahernd adaquat ausgearbeitet resp. konzeptionell in die Grundlegung integriert. Im Zuge der Aggregierungslogik des Modells der soziologischen Erklarung findet bei Esser faktisch ein primarer Rekurs auf die Dimension der Deutung sozialer Prozesse und Phanomene zur ExpHkation von emergenten Sozialphanomenen statt (vgl. „Freundschaft"). In einer durch Berger/Luckmann (1966) informierten Sprache heiBt das, dass damit an der zentralen Stelle seines ErklarungsmodeUs auf das wissenssoziologische Problem der deutenden Legitimierung sozialer WirkHchkeiten Bezug genommen wird, ohne dass Esser dies analytisch ausweisen oder auch nur befriedigend durcharbeiten wiirde. Zentrale Bedeutung kommt fur den Erklarungsschritt der „Logik der Aggregation" also offenkundig der wis sens soziologischen Dimension soziologischer Analyse zu, d.h. der auf Seiten der Akteure durch bestimmte (zu erklarende) soziale Prozesse ausgelosten wechselseitigen Um- bzw. Neu-Deutungen sozialer Wirklichkeit. Damit aber stellt sich hier die weitergehende Frage, was bei Esser eigentlich „Aggregation" heiBt. Trifft dieser Begriff und sein bei Esser expMziertes Verstandnis den Sinn des sen, was Max Weber bei der ExpUkation von „Wahlverwandtschaften" (vgl. bspw. 1904, S. 153, S. 158,1919/20, S. 201, S. 705) im Sinn hat? Bei Weber geht es um „Wahlverwandtschaften", also u m Sinnadaquanzen bzw. u m sinnhafte Entsprechungsverhaltnisse, die kein Additionsverhaltnis oder

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Martin Endrefi

-verfahren und auch keine kausalen „wenn-dann"-Zusammenhange meinen.^^ Sondern Weber (1920) beginnt gerade auch in seiner Protestantismus-Kapitalismus-These (die von Coleman bis Esser so gerne als paradigmatisches Beispiel einer mittels der sog. „Badewanne" modellierbaren Erklarung herangezogen wird) zunachst mit der Beobachtung, dass sich historisch eine offenkundig widerspriichliche Einheit von (calvinistischer) Pradestinationslehre mit ihrem konstitutiv anti-aktivistischem Zuschnitt als Leitidee in calvinistisch gepragten Milieus mit einer hohen Intensitat an kapitalistischer Aktivitat auf der Ebene alltaglicher Lebensvollziige verbindet. Diese historisch-strukturphanomenologische Beobachtung lasst ihn die Frage stellen, wie sich diese spannungsvoile Einheit ausbilden konnte. Und seiae Antwort legt Weber in einem argumentativen Dreischritt vor: Danach fiihrt (1) die Leitidee (Pradestinationslehre) in Gruppen bezogenen Kontexten (Sekten) strukturell zur Ausbildung systematischer wechselseitiger Beobachtungsstrategien, u m herauszubekommen, welche Gruppenmitglieder denn in besonderer Weise „in Gottes G n a d e " stehen. Dieses aUtagliche Phanomen der Suche nach (auBeralltaglichen) Orientierungsfiguren fiihrt dann (2) zu eiaer spezifisch aktivistischen (pragmatischen) Umdeutung des originar anti-aktivistischen Zuschnitts der Pradestinationslehre, da die Glaubigen sich nun strukturell als pradestiniert auszuweisen suchen. Durch diese Umdeutung entsteht dann (3) objektiv eine Konkurrenzsituation unter den Gruppenmitgliedern um die „Ehre", als paradigmatisches Subjekt (Orientierungsfigur) angesehen zu werden. Klar ersichtlich witd m.E, an diesem Beispiel, dass es gerade die auf ein additives Aggregationsverstandnis und eine „wenn-dann"-Kausalitat zulaufende Erklarungstypik von Rational-Choice-Ansatzen wie von erklarender Soziologie ist, die sozusagen in soziologischer Hinsicht zu spat kommt, da sie das fiir den objektiven Strukturzusammenhang — und damit soziologisch — zentrale Erklarungsproblem gerade nicht zu fas sen vermag, namlich die spezifische Umdeutung einer religiosen Leitidee, die der en widerspriichliche Einheit mit einem okonomischen Handlungsprinzip iiberhaupt erst ermoglicht. Auch in diesem Zusammenhang begegnet damit erneut das zuvor bereits angesprochene Problem der Strukturvergessenheit der erklarenden Soziologie. Und an dem von Esser gleichfalls prominent herangezogenen Beispiel von Ehescheidungen lasst sich dies ex negativo ebenfaUs gut zeigen: D e n n diesbzgl. spricht Esser — ebenfalls im Zuge der Diskussion der „Logik der Aggregation" — wiederholt v o m „psychologischen" oder auch vom „psychischen Tode der Ehe", wenn „mindestens einer der Partner ... die Ehe in ihrer inhaltlichen Definition als

Das scheint Esser ebenso 2u sehen wie auch zu ignorieren, wenn er explizit Webers Begrifflichkeit der „Wahlverwandtschaft" aufnknmt (2000a, S. 459ff) und diesen Begriff zunachst in Anfiiihrungsstriche setzt, um ihn wenig spater als eigenen Terminus zu iibernehmen.

„Sinn" und „Kultur" bei Esser und Weber

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nicht mehr existent" betrachtet (2000a, S. 24, S. 25). Diese Formulierung ist sowohl nach Essers eigenen Ausfdhrungen als auch aus der Perspektive einer phanotnenologisch orientierten Soziologie einigermaBen irritierend, geht es hier doch um nichts anderes als um die Aufkiindigung eines gemeinsamen „Nomos" der ehelichen Lebenswicklichkeit von Seiten eines der beteiligten Partner, also um eine solchermaBen gravierend veranderte Deutung der sozialen Wirklichkeit des Zusammenlebens, die dessen Fortsetzung fur einen oder beide Beteiligte als nicht mehr vorsteUbar erscheinen lasst. Auch hier also schopft Esser das wissenssoziologische Deutungspotential dieses Falles — trotz Berger/KeUner (1965) — nicht aus; ja, er konterkariert geradezu seine eigene hermeneutisch bestimmte, iiber das j^<^^i;^^-Modell angelegte Analytik der „Logik der Situation". 5 AbschlieBende Bemetkung Eingefuhrt wurden die vorstehenden Uberlegungen zu Essers allgemeiner und spezieller Grundlegung der Soziologie mit dem Hinweis, dass fdr ein Unternehmen derartigen synthetisierenden Zuschnitts besondere Bedeutung einer methodisch ausgewiesenen Begriffsbildung sowie einem klaren Bewusstsein der im Zuge einer solchen Integrations strategic impHzit unvermeidlich erfolgenden Theorievergleiche zukommt. Die hier vorgelegte Erorterung einiger im Zusammenhang mit der Einfuhrung der Grundbegriffe „Sinn" und „Kultur" stehender Schwierigkeiten des Ansatzes von Esser dokumentierte demgegeniiber, dass sowohl eine methodisch reflektierte Einfuhrung der bemiihten Grundbegriffe als auch eine konzeptionell ausgefiihrte theorievergleichende Perspektive bei Esser weitgehend fehlen. Ein Ergebnis, das im markanten Kontrast zur erforderHchen konzeptionellen Justierung steht. Insgesamt steUt sich aufgrund der vorstehenden Bemerkungen deshalb nicht zufallig der Eindruck konzeptioneller Ambivalenz ein: Esser hat sich mittlerweile so weit zur Einsicht in die hermeneutische Strukturierung der soziologischen Gegenstandsperspektivierung vorgearbeitet, dass ihm sein urspriinglicher Ansatz mit einem Erklarungsprofil im Sinne der analytischen Wissenschaftstheorie (HO-Schema) bei dessen konsequenter konzeptioneller Umsetzung faktisch markant ins Gehege kommt. So bricht im Gesamtzusammenhang von Essers Soziologie an inzwischen zahlreichen Stellen eine strukturelle Ambivalenz zwischen — wie wir sagen konnen — wis sens soziologischer Impragnierung und kausalanalytischem Denken au£ Und in diesem Sinne sitzt Esser nun zwischen aUen Stiihlen, da seine hermeneutisch vertieften Gegenstandsperspektivierungen mit dem analytischen Potential eines deduktiv-nomologischen Erklarungsschemas konzeptionell nicht mehr aufgefangen werden konnen. Eines Erklarungsschemas, dessen Gefangener Esser mittler-

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Martin EndreB

weile selber ist, will er nicht wesentliche Teile seiner „So2iologie" sozusagen „uber Bord werfen". Was also kann unter Riickbezug auf die eingangs umschriebene Typik von Essers Synthetisierungsversuch und der legitimer Weise an einen solchen Versuch 2u stellenden Fragen das Resultat der vorstehenden Analyse sein? Dass Esser moglicherweise nicht adaquat an Weber anschlieBt, das ist grundsatzlich kein Problem. Dass sein Ansatz moglicherweise lediglich als „verstehende" Erweiterung einer Rational-Choice-Orthodoxie zu werten ist, das ist aus der vom Autor vertretenen theoretischen Perspektive grundsatzlich positiv, also als theoretischer Fortschritt zu beurteilen. Hinsichtlich Essers Anspruch jedoch stellt es ein Problem dar, eine Integration von verstehender Soziologie und Rational-Choice-Perspektive im Rahmen eines eigenstandigen, systematisch tragfahigen und die Starken beider Konzeptionen soziologischer Analyse aufnehmenden Paradigmas leisten zu wollen. Und dieses Probem konnte vorstehend unter Verweis auf zwei grundlegende Spannungen in Essers Ansatz verdeutlicht werden: In konzeptioneUer Hinsicht in der Spannung zwischen integrativem, eine eigene soziologische Konzeption („erklarende Soziologie'") behauptenden Entwurf und dem AnHegen ein Lehrbuch vorzulegen. Und in grundlagentheoretischer Hinsicht in der doppelten Spannung sowohl (a) zwischen iadividuaUstischer Handlungstheorie und der Betonung der Analyse von Strukturen, die faktisch als Gesetze verstanden werden, als auch der (b) zwischen individualistischer Handlungstheorie und der Dimension sozialer Sinnkonstitution. Es fehlt bei Esser ungeachtet der zahlreich eingestreuten Klassikerlektiiren letztHch an einer methodisch ausgewiesenen Begriffsbildung sowie an einem klaren methodischen Bewusstsein der im Zuge seiner Theoriebaustrategie impHzit stets notwendig vorgenommenen Theorievergleiche. Leitend bleibt bei Esser stets das zum Kern erhobene Erklarungsmodell als heuristische Folie fur die dann strukturell ambivalente Suche nach „beachtenswerten Einzelheiten" der Vorganger. Literatur Berger, Peter L., Hansfried Kellner (1965): Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit Eine Abhandlung i;ur Mikrosoziologie des Wissens, in: So:!iiale Welt, 16, S. 220-235 Berger, Peter L., Thomas Luckmann (1966): The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden Cit}', New York EndreB, Martin (2002a): Wider die „Balkanisierung" der Soziologie: Neuere Versuche zu ihrer theoretischen Integration, in: Berliner Journal fur Soziologie, 12, S. 127-139 EndreB, Martin (2002b): Rezension zu: Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur, in: Sozialer Sinn, 3, S. 178-183

..Sinn" und „Kultur" bei Esser und Weber

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Martin EndreB

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Geht es auch ohne? Zut Rolle des Kultutbegriffs in det Rational Choice-Theorie Hartmut Essets und in Niklas Luhmanns Theotie autopoietischer Systeme Thomas Schmetring

Z u Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Soziologie von ihren jGnindervatern' als Kulturwissenschaft konzipiert. Dabei war weniger an eine disziplinare Abgrenzung gedacht, sondern unter dem Leitbegriff der Kultur sollten grundsatzliche Uberlegungen iiber die Stellung des Menschen in der Welt, das Wesen der Wirklichkeit, in der er lebt, und die Moglichkeiten ihrer Erkenntnis Geltung fur alle Wissenschaften vom Menschen haben. Interessanterweise dauerte es bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, bis sich die Mehrheit der damals angesprochenen Disziplinen auf breiter Ebene auf diese Diskussion einlieBen und begannen, sich nun ihrerseits das Etikett Kulturwissenschaften zuzulegen. An den insbesondere in den 1990er Jahren intensiv gefuhrten Debatten um die Kulturwissenschaften beteiligte sich die Soziologie als urspriingliche Inhaberin dieses Warenzeichens jedoch auffallig zuriickhaltend. Im Gegenteil, zwei der seit dieser Zeit in der Soziologie am intensivsten diskutierten und theoretisch ambitioniertesten Ansatze verstehen sich gerade nicht als Kulturwissenschaft, sondern meiden den Kulturbegriff als zu diffus und wegen seiner scheinbar zweifelhaften Implikationen. Die Rede ist zum einem von dem von Hartmut Esser zu einem „Modell soziologischer Erklarung" ausgebauten Rational Choice-Ansatz und zum anderen von der Theorie autopoietischer Systeme Niklas Luhmanns. Beider Verhaltnis zum Kulturbegriff ist zwiespaltig. Einerseits ist beiden Autoren gemeinsam, dass sie sich um theoretische Strenge und Klarheit in der Konstruktion ihrer Theoriegebaude bemiihen und ihnen als Ziel eine umfassende Sozialtheorie vorschwebt. Gemeinsam ist beiden auch, dass ihnen der Kulturbegriff auf diesem Weg als zu schillernd und unspezifisch, aber auch zu umfassend und grundsatzlich erscheint, um ihn unmittelbar und positiv in die je eigene Denkweise integrieren zu konnen. Gleichwohl erkennen beide die zentrale Bedeutung einzelner Argumente, die sich mit dem Kulturbegriff verbinden, an, und besonders Esser verwendet einen erhebHchen Theorieaufwand darauf, verschiedene mit dem Kulturbegriff verbundene Argumente in die eigene Theorie zu transponieren. Genau an dieser Stelle enden andererseits aber die Gemeinsamkeiten, denn sowohl die Aspekte, welche die beiden Theo-

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Thomas Schwietring

retiker aus dem Kultxirbegriff fur die je eigene Argumentation herausschneiden, als auch jene Facetten, die sie am Kulturbegriff kritisieren, unterscheiden sich erheblich. Ziel dieses Beitrags ist daher, die vergleichende Fragestellung in zwei Richtungen zu lesen. Und zwar zum einen als Frage nach der Rolle, die der Kulturbegriff in den besprochenen Ansatzen spielt bzw. nicht spielt. Und zum anderen als Frage nach dem moglichen Beitrag, den beide zur Klarung oder Weiterentwicklung des Kulturbegriffs leisten konnen. Dimensionen des Kulturbegriffs Die vielschichtige Diskussion, die um den Kulturbegriff selbst gefiihrt wird, erschwert eine vergleichende Untersuchung. Daher ergibt sich vorab das Erfordernis, zumindest in Grundrissen zu klaren, nach welchen Gesichtspunkten ein Vergleich sinnvoll ist. Generell ist zu bedenken, dass die notorische Ambivalenz und Offenheit des Kulturbegriffs zwar aus Sicht der hier diskutierten Ansatze, jedoch nicht grundsatzlich als Defizit zu verstehen ist, sondern im Sinn einer eingebauten Reflexivitat vielmehr eines der theoretischen Wesensmerkmale des Kulturbegriffs ist. Als pragmatische Losung ziehe ich vier konsensfahige Aspekte des Kulturbegriffs als Leitfaden heran. Hierfdr sind vorab einige Rahmenannahmen sinnvoll. Von vornherein ausgeschlossen sein soil ein enger — aber in expliziter wie unterschwelHger Form weit verbreiteter — Kulturbegriff, der Kultur als wertendes Pradikat einem mehr oder minder kleinen Ausschnitt menschlicher Schopfungen vorbehalt. Im ausdriicklichen Gegensatz hierzu wird im Folgenden Kultur in einem grundsatzHchen Sinn verstanden, wie er etwa in Max Webers sehr weitgreifender Formulierung zum Ausdruck kommt: „,Kultur' ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens" (Weber 1988, S. 180). Es geht darum, dass die WirkUchkeit, in welcher der Mensch lebt, eine kulturelle Wirklichkeit, eine geschichtlich entstandene, vom Menschen selbst sinnhaft strukturierte und mit Bedeutung versehene Ordnung der Welt ist. Damit ist stets auch gesagt, dass die Zuweisungen von Bedeutungen und die InstitutionaHsierung von verfestigten Deutiongsmustern zwar nicht willkiirlich, aber doch geschichtlich, also kontingent sind, und zwar in dem Sinn, dass sie auch anders aus fallen konnten. Zugleich gibt es kein Jenseits der kulturellen Eingebundenheit, und dies markiert sowohl die Grenzen als auch die Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis. Kultur lasst sich folgHch nur im Plural denken, als potentiell unendliche kulturelle Moglichkeiten, von denen stets mehrere parallel existieren. In genau dieser Weise vergleicht die Soziologie unterschiedliche historische oder soziale Kontexte und verschiedene ,Kultur'Kreise miteinander, wobei der en Elemente ihren Sinn wiederum nur im jewei-

Rolle des Kulturbegriffs bei Esser und Luhmann

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ligen kontextuellen Zusammenhang erhalten. Hiermit ist in Grundziigen angedeutet, auf welch grundsatzlicher — auch erkenntnistheoretischer — Ebene die Definition von Soziologie als Kulturwissenschaft angesiedelt ist. Innerhalb dieser weiten und prinzipiellen Auffassung lassen sich vier — teils zusammenhangende, teils entgegengesetzte — Gesichtspunkte von „Kultur" unterscheiden, die als offene Fragen zu verstehen sind, die mit dem Kulturbegriff bezeichnet, aber keineswegs beantwortet werden. Die erste dieser Verstandnisweisen betont am Begriff der Kultur den Aspekt der zwar menschengeschaffenen, konventionellen und kontingenten, aber nichtsdestotrotz inter sub jektiv giiltigen und verstandlichen, mehr oder minder verbindlichen und institutionalisierten Ordnung von geteilten Bedeutungen und Deutungen. Hierunter fallen etwa die mit einer gemeinsamen Sprache gegebenen Bedeutungs- und Aussagemoglichkeiten, das anerkannte Wissen und seine Formen, die institutionalisierten Handlungsmoglichkeiten und reziprok erwarteten Verhaltensweisen, Uberzeugungen, Praktiken, Normen, Werte und Institutionen wie auch stilistische oder asthetische Bewertungen. Die Betonung liegt dabei stets auf der Verfestigung von geschichtlich gewordenen und kontingenten Deutungen zu Ordnungen. Die zweite Verstandnisweise hebt demgegeniiber die Sinnhaftigkeit der kulturellen Wirklichkeit und damit zugleich die Deutungsoffenheit, Intentionalitdt und Suhjektivitdt aller symboHschen Ordnungen hervor, was bedeutet, dass (a) Bedeutungen, Sinn und kulturelle Formen von Subjekten getragen und in ihren konkreten Deutungen und Handlungen fortwahrend aktualisiert werden miissen, dass es sich (b) immer um absichtsvolle, also intentionale Akte handelt, die an die dahinter stehende Absicht und Perspektive gebunden sind, und dass (c) damit die Offenheit zu spontanen Umdeutungen besteht. D e n n die subjektive Aktualisierung meint keine Reproduktion vorhandener Muster, sondern ein aktiv deutendes, sinngeleitetes, intentionales und dabei auch notwendig sinnstiftendes Handeln, das sich nicht auf vorgegebene externe Faktoren reduzieren lasst, ohne den Subjektbegriff aufzugeben. Damit aber unterliegt Kultur potentiell einer standigen Neu- und Umdeutung durch die Akteure, auch wenn es sich im Einzelnen dabei um minimale Verschiebungen handelt. Diese zweite Verstandnisweise von Kultur richtet ihren Blick also gerade nicht auf die Ordnung des Sinnhaften, sondern auf die stets interpretierbare und interpretationsbediirftige sinnhafte Dynamik und Fliissigkeit des kulturellen Geschehens. Die erste und die zweite Auffassung stehen in einem Spannungsverhaltnis, bedingen sich aber gegenseitig. In den diversen theoretischen Konzeptionen zum Kulturbegriff herrscht jedoch zumeist eine einseitige Betonung vor. Eine dritte Verstandnisweise stellt die Frage nach dem inter sub jektiven Verstehen als Voraussetzung von Kommunikation, aber auch von Identitat, Handlungskompetenz und rationalem Abwagen unter den Bedingungen von Kultur. Wenn Denken, Entscheiden und Handeln auf kulturell definierten

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sinnhaften Formen und Bewertungen beruhen, stellt sich die Frage, wie iiberhaupt gewahrleistet ist, dass 2wei Individuen voneinander ,wissen', welchen Sinn sie mit ihrem Sprechen oder Tun jeweils verfolgen und welche sinnvollen Alternativen in einer Situation oder Gesellschaft iiberhaupt bestehen. Verstehen schlieBt Kommunikation und Intersuhjektivitdt ein. Damit ist auch die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit man sich faktisch versteht bzw. verstehen muss, u m handeln zu konnen, und was die Voraussetzungen fiir ein Verstehen sind. Der vierte Aspekt betrifft die Geschichtlichkett aller menschlichen Angelegenheiten, angefangen bei Sprache, Begriffen, Ideen und Symbolen iiber Selbst- und Weltbilder, Werte, Glaubensinhalte und Moralvorstellungen bis hin zu Institutionen und sogar technischen Artefakten. Alles dieses hat der Mensch in seiner Geschichte hervorgebracht — und teils wieder verges sen — und damit auch sich selbst geschaffen als der, der er ist — ohne zu wissen, was er tut und wohin es ihn fuhrt. Alles, was den Menschen umgibt, lasst sich zwar als Kultur im oben genannten Sinn einer stabilisierten Ordnung angesichts unendlicher Moglichkeiten verstehen, aber eben nur unter dem grundsatzlichen Vorbehalt des Voriibergehenden aufgrund ihrer fundamentalen Geschichtlichkeit. Der Kulturbegriff fordert also unabdingbar auch eine historische Perspektive. Ausgerustet mit diesen Voriiberlegungen konnen wir uns nun der vergleichenden Analyse von Rational Choice- und Systemtheorie zuwenden.

Rational Choice-Theorie und das „Modell soziologischer Etklatung" Hartmut Essers „Modell soziologischer Erklarung" und insbesondere dessen handlungstheoretischer Kern einer erweiterten Rational Choice- bzw. WertErwartungs-Theorie^ bekennt sich zur Tradition soziologischer Handlungstheorien und beansprucht, deren vielfaltige Entwicklungsstrange in einem integrativen Modell zusammenzufiihren und sie dabei in einheitlicher Form nach den MaBgaben deduktiv-nomologischer Erklarungen zu prazisieren (programmatisch zusammenfassend Esser 2003, 2004a, ausfuhrlich Esser 1993, 1999a, 2000a-d, 2001). Aufgrund der traditionell engen Verknupfung der Theorie des

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Im Fall Essers findet sich eine leichte UneinheitHchkeit in der Terminologie, die sich auch in diesem Beitrag spiegelt. Er selbst ging von einer Kritik des enggefassten Rational ChoiceAnsatzes aus und entwickelte aus dieser Kritik eine „Wert-Erwartungs-Theorie", Heute bezeichnet er seinen Ansatz insgesamt als „Modell soziologischer Erklarung" (vgl. etwa Esser 2003, aber auch schon 1991c, S. 231) und benutzt die Bezeichnung „Rational ChoiceTheorie" gelegentiich Eir den handlungstheoretischen Kern seines Modells. Alle drei Bezeichnungen finden sich in der Debatte nicht immer scharf getrennt. Der vorliegende Beitrag belasst es bei dieser Offenheit der Bezeichnungen, ohne sie im Folgenden naher zu erortern.

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Handelns mit den Begriffen Sinn, Verstehen und Kultur liegt es nahe, auch bei Esser eine Affinitat zum Kulturbegriff zu vermuten. Andererseits zeichnet sich aufgrund dieser Tradition aber auch eine Spannung zum Anspruch expliziter gesetzesformiger Kausalverkniipfungen ab. Tatsachlich bildet eine an einem komplexen soziologischen Handlungsund Akteursbegriff orientierte Kritik am eng gefassten Handlungsmodell des Rational Choice-Ansatzes der neoklassischen Wirtschaftstheorie den Ausgangspunkt der Esserschen Theoriekonstruktion (Esser 1993, Kap. 13-15, 1999a, bes. Kap. 6-8, 2004a, S. 108, vgl. 2004b, S. 249). In diese Kritik flieBen zahlreiche Theorieelemente ein, die sich als Merkmale von Kultur verstehen lassen und die dem voluntaristischen Rational Choice-Ansatz fehlen. Uberhaupt bildet die Auseinandersetzung mit der kulturtheoretischen, verstehenden bzw. interpretativen Handlungstheorie ein zentrales Motiv in Essers Schriften (vgl. bes. Esser 2001, 2004a, 2004b). Dabei bekennt er sich jedoch nicht zum Kulturbegriff, sondern grenzt sich durchgehend vom „interpretativen Paradigma" (z.B. Esser 2004a, S. 105) oder den erkennbar mit spitzen Fingern als „S&K" bezeichneten „Phanomenen von ,Sinn' und ,Kultur"' (Esser 2004b, S. 249ff) ab. Sein Leitmotiv ist die verlustfreie ReformuHerung der von ihm zu Gegenpositionen aufgebauten verstehenden Ansatze innerhalb seines „Modells soziologischer Erklarung". Unzulanglich an der iiberkommenen Rational Choice-Theorie sind fiir Esser vor allem die Auffassungen, (a) die Individuen wiirden sich in ihrer Handlungsentscheidung ausschUeBlich am zu erwartenden Erfolg, also den kiinftigen Konsequenzen ihres Handelns orientieren, (b) sie hatten aUe notwendigen Informationen parat und (c) ihrer Nutzenmaximierung wiirden konstante Praferenzen zugrunde liegen. Durch diese einschrankenden Annahmen werde ein wesentHcher Teil des sozialen Geschehens verfehlt. Menschen handeln namlich (a) nicht bloB aufgrund der in der Zukunft zu erwartenden Folgen ihres Tuns, sondern auch aufgrund von in der Vergangenheit Hegenden Einfliissen: erworbenen Einstellungen, normativen Orientierungen, erlernten Mustern und friiheren Erfahrungen (Esser 1999a, Kap. 9, 2001, Kap. 8 u. 9, 2004a, S. 249).2 Dariiber hinaus verfugen sie (b) in jeder konkreten Situation nur liber begrenzte Informationen, und ihre Kapazitat, rationale Entscheidungen zu treffen, hangt ab von der Verfiigbarkeit knapper Ressourcen (Esser 1999a). Sie entscheiden und handeln somit unter den Bedingungen einer eingeschrankten, gleichwohl aber rationalen „bounded rationality" (Esser 1991a,

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Diesen Aspekt diskutiert Esser ausfuhrlich in Zusammenhang mit der Unterscheidung von in der Zukunft angestrebten „Um zu-" und aus der Vergangenheit ubernommenen, erlernten oder zur eigenen Identitat gehorenden „Weil-Motiven" bei Alfred Schiitz; vgl. Esser 1991a, S. 20-29, S. 80-82, 1991b, S. 432-435.

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S. V, 1991b, S. 440, 2004b, S. 258). Zudem handeln Menschen in vielen alltaglichen, vertrauten Situationen, ohne eine im Detail rational kalkuHerende Entscheidung zu treffen, sondern offenbar spontan aufgrund eingelebter Gewohnheiten und Routinen (Esser 2001, Kap. 3, 6, 7), Andererseits jedoch verfugen Menschen (c) iiber positive Ressourcen wie einen Willen 2ur Zielsetzung und zur zielgerichteten Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungs alternativen (Esser 1993, Kap. 14-15). Esser erweitert daher die liberkommene Rational Choice-Theorie und verallgemeinert sie zu einer Wert-Erwartungs-Theorie. Er tragt den genannten Kritikpunkten durch die Einfuhrung mehrerer Theoriebausteine Rechnung, die er zu einem erhebHchen Teil dem Kulturparadigtna entiehnt, wobei er sich aber zugleich von diesem abgrenzt und im Kern am Rational Choice-Ansatz festhalt. Zunachst — und dies ist eine zentrale Erweiterung — muss die RationaHtat einer Handlungsentscheidung zweistufig modelliert werden (Esser 1991b, S. 440). Bevor Menschen sich einer mehr oder minder griindHchen Kalkulation ihrer Praferenzen und der Chancen und Restriktionen einer gegebenen Situation widmen und eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen vornehmen, treffen sie mehr oder minder unbewusst die Entscheidung, ob es sich iiberhaupt lohnt, sich derartig aufwendig zu entscheiden. In vielen Alltagssituationen waren die Entscheidungskosten viel zu hoch, wenn man eine ausfdhrHche Nutzenkalkulation anstellen wiirde. Dementsprechend ist es aufs Ganze gesehen rational, sich in AUtagssituationen fiir vertraute und eingeiibte Handlungsmuster — Esser spricht von „Habits" — zu entscheiden und diese mehr oder minder automatisch ablaufen zu lassen (Esser 1990, 1991a, S. 61-74, 1991b). Erlerntes, routinemaBiges oder traditionales Handeln steht demnach nicht auBerhalb des Rational Choice-Ansatzes, sondern lasst sich als ein — rationaler — zweistufiger Entscheidungsprozess modeUieren (Esser 1991b, S. 440). Es handelt sich um Handeln im „automatisch-spontanen" Modus, und dessen RationaUtat besteht darin, die wahrgenommene Wirklichkeit zu ordnen, ihre Komplexitat zu reduzieren, das Bewusstsein zu entlasten und damit die Entscheidungskosten zu minimieren. Die erste Stufe der Handlungsentscheidung verlauft nicht im Sinn einer eingehenden inneren Abwagung, sondern als eher unbewusster Automatismus, der eine Situation einem von zwei Typen zuordnet und dementsprechend entweder ein routiniertes Handeln im „automatisch-spontanen Modus" (Esser 2001, S. 266ff), das durch „maximizing" bzw. „satisficing" gekennzeichnet ist (Esser 1990, S. 236, 1991a, S. 66, 2004b, S. 258), oder ein bewusst problematisierendes, nach optimalen und kreativen Losungen suchendes weiteres Entscheidungsverhalten („finding") im „reflexiv kalkulierenden Modus" (Esser 2001, S. 266ff) nach sich zieht (vgl. auch Esser 1991b, S. 441). Welcher von beiden Wegen beschritten wird, hangt davon ab, ob eine gegebene Situation in Ubereinstimmung mit vertrauten Wahrnehmungsmustern steht oder ob sie

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intensivere Aufmerksamkeit erfordert. Esser spricht von „Frames" als iibergeordneten diematischen Leitmotiven, denen eine Situation auf Anhieb zugeordnet warden kann („Match'*) und auf deren Grundlage sie bewertet wird (Esser 1991a, S. 61-74, S. 82-88, 1991b, S. 440). 1st eine Ubereinstimmung gegeben, wie beispielsweise bei alltaglich wiederkehrenden Routinen, wird quasi automatisch, ohne weitere Reflexion, eines der zugehorigen Handlungsmuster („Habit" bzw. „Skript'*) aufgerufen und ausgefuhrt. „Frames" und „Habits" stellen erlernte und kulturell gepragte Schemata (jjSkripte'") dar, und mit ihrer Hilfe ist es moglich, einerseits kulturelle Pragungen und andererseits die Begrenztheit von Informationen und Handlungsressourcen in gegebenen Situationen im Rahmen der Rational Choice-Theorie zu modellieren. Diese zentralen Aspekte seiner erweiterten Handlungstheorie hat Esser in Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Alfred Schiitz entwickelt, aus denen er „eine Theorie des rationalen Handelns unter der Bedingung der „bounded rationality"" (Esser: 1991a, S. V, vgl. auch 1990, S. 231, 1991a, S. 61-74, 1991b, S. 440f, 1993, S. 157, Kap. 13 u. 14, 2004b, S. 258f) ableitet, also eine Theorie rationaler Handlungsentscheidungen unter den oben beschriebenen alltagsweltHchen Bedingungen unvoUstandigen Wissens, kultureller Bezugsrahmen und begrenzter Ressourcen. Zugleich sind an eben dieser Stelle in Essers Modell jene Theorieelemente angesiedelt, denen Esser selbst die Ubersetzung von Kultur und Sinn in die Auswahl von Situationsdefinitionen und Handlungsalternativen zuordnet. Auf einer daran anschUeBenden zweiten Stufe findet dann die Auswahl eines konkreten Handlungsmusters statt. Innerhalb des in der ersten Stufe gewahlten Frames fiir eine gegebene Situation steht jeweils ein „Set von gespeicherten Handlungsalternativen" (Esser 1999a, S. 190ff, 1991b, S. 432, 1991c, S. 238, 2001, S. 121) zur Verfiigung, und die Entscheidung fiir eine dieser Handlungsalternativen erfolgt aufgrund ihres subjektiv erwarteten Nutzens (subjective expected utility, SEU), der sich berechnen lasst als Produkt aus dem subjektiv eingeschatzten Wert eines Ziels und der subjektiv eingeschatzten Chance, dieses Ziel mit einer bestimmten Handlungsweise zu erreichen (Esser 1991a, S. 53-61, 1991b, S. 431-432, 2004b, S. 252f^. Die rationale Wahl eines von mehreren gegebenen Handlungsmustern hat somit die Form einer WertErwartungs-Kalkulation (WE-Theorie). Esser legt dabei Wert darauf, dass es nicht um einen objektiven Nutzen oder eine objektiv bestimmbare WahrscheinHchkeit geht, ein tatsachHches Handlungsziel zu erreichen, sondern um die subjektive Erwartung. Der rational entscheidende und handekide Mensch bewegt sich somit — anders als in der okonomischen Rational Choice-Theorie — nicht in einem luftbzw. kulturleeren Raum von abstrakten Nutzenerwagungen, sondern sowohl die Nutzen- und ZielvorsteUungen als auch die verfiigbaren Handlungsmuster sind kulturell gepragt, erlernt und vorgegeben in Form von typisierten Situationsdeutungen („Frames'*) — Esser definiert sie auch als „Vereinfachungen in

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def vom Akteur zu beriicksichtigenden Struktur der Ziele" (Esser 1991a, S. 65) — und daran gekniipften typisierten Handlungsmustern (jjHabits'') — von Esser als „Vereinfachungen in der Struktur der ,Mittel"' bezeichnet (Esser 1991a, S. 64), Die gegeniiber einer utilitaristisch reduzierten Rational Ghoice-Theorie wesentlich komplexeren Eigenschaften des unter diesen Bedingungen handekiden Menschen fasst Esser in Anlehnung an Siegwart Lindenberg tm RREEMM-Modell eines „resourceful, restricted, evaluating, expecting, maximizing man" zusammen (Esser 1991a, S. 50-54, 1991c, S. 238, 1993, S. 231250). Eingehender zu betrachten ist aUerdings, wie Esser genau die Grundsatze des RREEMM-Modells in sein Modell soziologischer Erklarung integriert. Zentral hierbei ist einerseits der bereits beschriebene Mechanismus des Framings, andererseits muss hierfur der handlungstheoretische Kern im Kontext des umfassenderen Esserschen „Modells soziologischer Erklarung" betrachtet werden.

Das Modell so^ologischer Erklarung

Esser beansprucht nicht nur, eine integrative und universell giiltige Handlungstheorie zu entwerfen, sondern diese wird zu einem „Modell soziologischer Erklarung" erweitert, das eine Verbindung von Handlungs- und Strukturebene leistet und somit Kausalerklarungen auf der Struktur- bzw. Makroebene um eine „Tiefenerklarung" entsprechend den Anforderungen des methodologischen Individualismus erweitert (Esser 1991a, S. 40-44, S. 76, 1993, S. 89, aUgem. auch S. 83-102, S. 245-250). Das gesamte Modell besteht aus drei Erklarungsschritten: Jeder Akteur bewegt sich in einer sozialen Situation, die ihm Moglichkeiten eroffnet, aber auch Beschrankungen auferlegt. Diese sind, erstens, als „Logik der Situation" aus Sicht der Akteure modellhaft nachzubilden. Vor dem Hintergrund dieser Logik der Situation bewerten die Akteure ihre Ziele, Praferenzen, Mittel und Erwartungen und treffen eine Handlungsentscheidung. Dieses zweite Teilmodell bezeichnet Esser als „Logik der Selektion", also als Auswahl einer von mehreren durch die Logik der Situation vorgegebenen Handlungsalternativen. Als Ergebnis der Selektion einer konkreten Alternative kommt es zu einem Handeki der Akteure, das aUerdings wiederum Folgen haben kann, die von den Akteuren weder intendiert noch vorhergesehen waren. Dementsprechend gelangt man erst in einem dritten Schritt iiber die ModelHerung der „Logik der Aggregation" vom individuellen Handeln unterschiedlicher Akteure zu den kollektiven Handlungs folgen, die im Sinn einer geanderten sozialen Situation wiederum den Ausgangspunkt fur einen neuen Durchlauf durch das gesamte Modell darstellen (Esser 1991a, S. 46-50,

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S. 100-102, 1991b, S. 431, 1993, Kap. 6, 7, 15, 1999a, Kap. 1, 3, 10, 2004a, S. 103, 2004 b,S. 252). Fiir das vorHegende Thema sind alle drei Schritte von Bedeutung. Zunachst soil der erste Schritt, die Logik der Situation, betrachtet werden. Sie verbindet die strukturell beschreibbare Makro-Ebene sozialer Situationen mit der Mikro-Ebene der Akteure. In der Logik der Situation ist festgelegt, welche Bedingungen in der Situation gegeben sind und welche Altemativen die Akteure haben. Die Logik der Situation verkniipft die"Erwartungenund die Beweriungen des Akteurs mit den Alternativen und Bedingungen in der Situation. (Esser 1993 S. 94) Welche Bedingungen dem Akteur durch eine Situation vorgegeben sind — Esser spricht von „Alternativen", „Opportunitaten" und „Restriktionen" (Esser 1999a, bes. Kap. 1 u. 10) —, ist in Form von „Bruckenhypothesen" ausdriicklich anzugeben (Esser 1991a, S. 42-50, 1991b, S. 232, 1993, S. 94, S. 120f, S. 133f, 1999a, S. 29-57, S. 387-405, 2004a, S. 103). Die Briickenhypothesen ubersetzen zunachst auf moglichst typisierte Weise die „objektiven" Merkmale der Situation in die beiden zentralen Variablen der Logik der Selektion: Erwartungen und Bewertungen" (Esser 1993, S. 120) Die Bruckenh3^othesen bilden den Ansatzpunkt, an dem eine Vielzahl soziologischer oder sogar sozialpsychologischer Theorien liber „Prozesse des Lernens, der Wahrnehmung, der Orientierung, der Sozialisation, der sozialen Kontrolle oder der ,Definition der Situation"' ins Spiel kommen konnen (Esser 1993, S. 94). Aus Sicht des Akteurs handelt es sich bei der von der Situation „vorgegebenen" Logik um einen Prozess der „Definition der Situation", den Esser als den Abgleich einer gegebenen sozialen Situation aufgrund bestimmter wahrgenommener Merkmale mit dem Akteur vertrauten, gespeicherten Situationstypen auffasst (ausfuhrlich zu Essers Verstandnis des Theorems der „Definition der Situation" vgl. Esser 1999a, Kap. 5, ferner 1993, S. 526-529, 1996). Dieser Prozess stellt sich aus Sicht des Akteurs als „Einstellung auf die Situation" dar (Esser 2001, Kap. 6) und als akteurstheoretisches „Framing", das bereits als Teil der Esserschen Handlungstheorie erortert wurde. Der Akteur gleicht die Vorgaben einer Situation mit seinen gespeicherten Schemata ab, wahlt ein iibergeordnetes Schema, einen „Frame", fur eine Situation aus und entscheidet sich dann innerhalb dieses Frames und des durch ihn vorgegebenen „Sets von Handlungsalternativen" (Esser 1990, S. 239, 1991c, S. 238) fur die aus seiner Sicht optimale Alternative nach dem beschriebenen Mechanismus der Wert-Erwartungs-Theorie. Damit gelangt man zum zweiten Schritt des „Modells soziologischer Erklarung", der „Logik der Selektion", die Esser ausdriicklich als „Wahl" zwi-

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schen vorgegebenen „Handlungsalternativen" (Esser: 1991a, S. 54-61, S. 79-82, 1991b, S. 431-436, 1999a, Kap. 6.2, 2001, S. 120-139) versteht, die innerhalb der dutch „Framing" wahrgenomtnenen, bewerteten und somit „definierten" Situation zur Verffigung stehen (Esser 1991a, S. 54, 1991b, S. 435, 1991c, S. 239, 1993, S. 95, 1999a, S. 59-115, S. 161-175, 2001, S. 239-258). Esser spricht mehrfach von einem „Set" von Handlungsalternativen, wobei sich fiir jede Alternative aus der Sicht des Akteurs eine Praferenz hinsichtiich der „subjective expected utility" „berechnen" lasst (Esser 1991a, S. 54). Essers theoretische Anstrengungen, Argumente aus dem Bereich von „Sinn und Kultur" in sein ModeU. zu integrieren, sind also erhebHch und zugleich begrifflich prazise und differenziert. Ungeachtet der mehrstufigen Modellierung halt Esser aber an zwei Kernannahmen der Rational ChoiceTheorie fest. Erstens, der Annahme, dass Handeki gleichbedeutend ist mit der Wahl zwischen konkreten Handlungsalternativen, und, zweitens, der Uberzeugung, dass diese Wahl letztlich einer rationalen, d.h. den individuellen Nutzen maximierenden Entscheidung folgt. Zu dieser zweiten Annahme lasst sich sagen, dass natiirUch niemand seinen eigenen Interessen und Absichten zuwider handelt, und mit dieser Argumentation kann sich Esser beispielsweise auf Max Webers Argument iiber das Primat des zweckrationalen Handekis berufen (Esser 2004a, S. 105, 2004b, S. 255). Dieser handlungstheoretische Kern ist in hohem MaB plausibel, und zwar gerade auch aus Sicht einer verstehenden oder kultursoziologischen Handlungstheorie. Denn ein Handeln gegen die eigenen Absichten, Ziele und Interessen ware nicht nur irrational oder unverniinftig, es ware fur jeden Interaktionspartner ebenso wie fur jeden externen Beobachter schHcht unverstandlich. HinsichtHch ihrer nutzenorientierten Grundannahme bietet die These vom rationalen Handeln somit kaum eine Angriffsflache fur Kritik. Allerdings wird diese PlausibiHtat erkauft mit der Verlagerung sehr vieler — und zwar gerade der aus Sicht eines Kulturbegriffs interessantesten — Aspekte in die von Esser eingefuhrten zusatzlichen Theorieelemente. Die eigentliche Komplexitat der Modellierung von Handlungsentscheidungen Hegt bei Esser nicht in der Rekonstruktion der rationalen handlungstheoretischen Kernfunktion selbst, sondern in der Beschreibung und ModelHerung der vielfaltigen Faktoren, die einer rationalen Handlungsentscheidung zugrunde Hegen und ihren Rahmen und ihre Voraussetzungen bilden. Ansatzpunkte zur Diskussion ergeben sich daher hinsichtHch aUer anderen von Esser eingefuhrten Theorieelemente: Schemata, Frames, Skripte, Habits, Briickenhypothesen.

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D i e tationale Modellietung von Kultur ~ und ihte Gtenzen In den beschriebenen Ubersetzungen von Versatzstiicken der verstehenden Soziologie bzw. des „interpretativen Paradigmas" lassen sich durchgehend die Konturen eines bestimmten Kulturbegriffs ausmachen. Welche kulturtheoretischen Argumente Esser dabei nutzt und wie genau deren Ubersetzung in sein Modell soziologischer Erklarung funktioniert, soil anhand der eingangs dargesteUten vier Aspekte des Kulturbegriffs erortert werden.

Kultur als Ordnung Esser libersetzt „Definition der Situation", „Sinn" und „Kultur" in seinem Modell als Merkmale einer „Logik der Situation", die vom Akteur „angemessen" erfasst werden muss und die bestimmte „Opportunitaten", „Restriktion e n " und „Alternativen" vorgibt (Esser 2000c). Gelegentlich spricht Esser sogar von deren „objektiver Giiltigkeit" (Esser 2004a, S. 106). Diese Faktoren sind jedoch nicht anthropologisch konstant — wie es die rationale WertErwartungstheorie ist, die den handlungstheoretischen Kern, die Logik der Selektion, des Esserschen Modells bildet —, sondern gesellschaftHch bedingt und kulturell fixiert, und in diesem Sinn kann ihre Gesamtheit als „Kultur" verstanden werden. Die Akteure sind bei der Entscheidung fur eine von mehreren Handlungsalternativen auf die kulturellen Vorgaben angewiesen (Esser 2001, S. 3-6). Unter Kultur versteht man — ganz allgemein — die erlernten oder sonst wie angeeigneten, iiber Nachahmung und Unterweisung tradierten, strukturierten und regelmaBigen, sozial verbreiteten und geteilten Gewohnheiten, Lebensweisen, [Rituale], Regeln, SymboHsierungen, Wert- und Wissensbestande der Akteure eines Kollektivs, einschlieBlich der Arten des Denkens, Empfindens und Handekis. (Esser 2001, IX, Erganzung nach Esser 2004b, S. 250) Esser versteht Sinn und Kultur durchweg als „festgelegte", „regelmaBige", in einem Kollektiv „verbreitete und geteilte" (Esser 2004b, S. 250, S. 251, S. 254) Sinnordnungen, Modelle, „Codes", „Programme" oder sonst wie fixierte Muster, die vor allem eine „vereinfachende Strukturierung" der Lebenswelt der Akteure leisten (Esser 2004b, S. 251, S. 258). Kultur werde, so Esser, in neueren kulturanthropologischen Ansatzen als „tool kit" verstanden, als „eine wertvoUe Ressource also, die den Akteuren eines Kollektivs zur Losung ihrer Alltagsprobleme zur Verfiigung steht" (Esser 2004b, S. 256). Diese Redeweise verdeutlicht Essers Verstandnis von Kultur recht gut. In seinem Modell versucht Esser, diesen Aspekt von Kultur als Ordnung und als Speicher fiir be-

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kannte Losungen auf moglichst differenzierte, aber dennoch transparente und in jedem Schritt kontrollierbare Weise 2u modellieren, und diese Transparenz ist der entscheidende Vorzug seines Modells mit Blick auf den Kulturbegriff. Die Voraussetzung dafur, dass Esser das Handeln als „Wahl zwischen Alternativen" (Esser 1991a, S. 79-82, 1999a, Kap. 6.2, 2001, S. 3-6, S. 120-139) auffassen kann, ist, dass er die verschiedenen Schemata, Frames, Skripte und Habits als gegebene Entitaten voraussetzt, die den Akteuren als alternative „gespeicherte Sets" vorliegen (vgl. Esser 1991a, S. 87). Auf diese Weise kann er sein HandlungsmodeU frei von interpretatorischen Ungewissheiten und spontanen oder kreativen Umdeutungen halten. Der Preis hierfiir ist jedoch, Kultur als kollektives Archiv und Speicher feststehender Formen zu verstehen, an denen alle Akteure in mehr oder minder gleicher Form teilhaben. Doch diese Auf fassung ist problematisch, weil sie ein vereinfachtes Modell fiir die zeitHche und historische Dimension von Kultur unterstellt und von einer einschrankenden diachronen Annahme von Kultur als Kontinuitat ausgeht, die in Konflikt mit den drei weiteren noch zu erorternden theoretischen Gehalten des Kulturbegriffs steht. Damit zusammenhangend wird auch die Kollektivitat (Esser 2001, S. 1-9, 2004b, S. 263) der kulturellen Formen in Essers Modell eher postuHert bzw. vorausgesetzt als theoretisch hergeleitet. Doch genau an dieser Stelle wird die Frage nach Kultur als kultureller Ordnung erst spannend. Denn Kultur umfasst die standige Dialektik zwischen einerseits geteilten kulturellen Orientierungen als Voraussetzung dafiir, liberhaupt von Kultur sprechen zu konnen, und andererseits den in jeder realen Gesellschaft stets widerstreitenden verschiedenen Kulturen und sich ausdifferenzierenden Teilkulturen. Esser thematisiert diese Problematik nicht wirkMch, sondern unterstellt tendenziell, dass Frames, Skripte usw. nicht nur tatsachlich verbreitet, sondern „kollektiv gegeben" sind (Esser 2004b, S. 263). Doch wie weit reicht diese Kollektivitat faktisch, einerseits in einer Gesellschaft und andererseits im Bewusstsein der Subjekte? ZusatzHch zum Aspekt der Ordnung wird also tendenziell eine EinheitHchkeit von Kultur unterstellt, obwohl real ein immer komplexer werdendes Gemisch von Kulturen und Teilkulturen aufeinander trifft, interagiert und in Konkurrenz oder Konflikt gerat.'^ Ganz allgemein gilt dieser Einwand natiirUch hinsichtUch aller Fragen nach den Urspriingen, den Inhalten, dem Wandel und der Dauerhaftigkeit von

Esser hat sich zwar mit dem Entstehen ethnischer Konflikte bzw., genauer, mit der Durchsetzung kollektiver Identitaten ansteUe von indiA^dualistischen Orientierungen befasst (Esser 1999b, 2001, S. 502-509), aber dabei geht es ihm um ein anderes Argument. Er beschreibt den Wechsel von einer (individualistischen) kulturellen Ordnung zu einer anderen (koUektiven) kulturellen Orientierung, die beide aber formal kollektiv wirksam sind; darauf bezieht sich das obige Argument.

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kulturellen Schemata. Esser konnte und wiirde wohl argumentieren, dass diese Fragen eben nicht in die Zustandigkeit der von ihm konzipierten soziologischen Erklarungen fallen, sondern Gegenstand anderer DiszipUnen sein sollten. Das ist natiirlich ein legitimes Argument. D o c h deutlich wird daran die Selbstbeschrankung des Modells soziologischer Erklarung. Die von Esser immer wieder geforderte theoretische Einheit der Sozialwissenschaften wiirde erkauft u m den Preis einer enormen Einschrankung ihrer methodischen und inhaltlichen Zustandigkeit.

Interpretationshedurftigkeit, Deutungsoffenheit und Intentionalitdt Esser modelliert die Deutung von Situationen als „Match" mit gespeicherten Schemata, also Typen von Situationen. Er spricht wiederholt davon, dass durch bestimmte „signifikante Anzeichen" bzw. Symbole die „gespeicherten" Schemata und Frames — gedankliche Muster „typischer Situationen" — „ausgel6st" bzw. „spontan aktiviert werden" (Esser 2004b, S. 259f). Es geht um einen Automatismus, fur den eine stabile Ubereinstimmung von Reiz und Reaktion vorausgesetzt wird, nur dass fur Reiz der Ausdruck „Symbol" und fiir Reaktion Begriffe wie „Frame" und „Schema" verwendet werden. Lediglich in den Fallen, in denen eine Ubereinstimmung mit den gespeicherten Schemata bzw. Frames nicht gelingt, tritt statt eines „automatisch-spontanen" ein „reflexiv kalkulierender" Modus des Handelns in Kraft. D o c h stimmt es, dass dies nur fiir eine Minderheit alltaglicher Situationen gilt (Esser 2004b, S. 258, S. 262)? Und was geschieht genau, wenn ein Akteur einer neuen oder komplexen Situation gegeniibersteht, fur die er iiber keine ,fertige' Deutung verfiigt? Zumindest in diesen Fallen lasst sich bezweifeln, ob sich ein Handeki befriedigend nach der „Logik der Selektion" modellieren lasst, ohne dass hierfur eine sehr groBe Zahl zusatzlicher Annahmen gemacht werden muss, denn die Modellierung nach der „Logik der Selektion" beruht eben darauf, dass sich ein Set klar beschreibbarer und dadurch bewertbarer Handlungsalternativen identifizieren lasst. Aber was geschieht, wenn einerseits keine vertrauten Alternativen zur Verfiigung stehen und andererseits die Menge an Informationen oder Verflechtungen der denkbaren Handlungsfolgen die Kapazitat des Handelnden zu einer rationalen Kalkulation iibersteigt? Aus Sicht interaktionistischer Ansatze wiirde wohl die liberwiegende Zahl auch alltaglicher Situationen durch eine solche Offenheit gekennzeichnet sein. Man muss diese Auffassung nicht teilen, um zu erkennen, dass das Modell soziologischer Erklarung auch hier wieder von bestimmten einschrankenden Annahmen iiber die Struktur und Verbreitung von typisierten Situationen ausgeht. Der groBe Vorzug der Klarheit, der das Modell auszeichnet, wird wiederum erkauft mit gewissen Einschrankungen hinsichtlich

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der Annahmen iiber die Komplexitat und Offenheit der zu modellierenden Situationen. Dieser Einwand muss allerdings dahingehend relativiert werden, dass sich generell nur modellieren lasst, was sich auch erklaren lasst, und mehr Raum fur spontane oder kreative Losungen einzufordern, heiBt in letzter Konsequenz nichts anderes, als auf wissenschaftliche Erklarungen zu verzichten. Auf diesem Argument zu beharren, ist eines der Verdienste des Esserschen Modells, das ausdriicklich kein Durchmogeln unter dem Deckmantel eines unklaren Begriffs von Interpretieren oder Verstehen zulasst. Dieser erste Einwand riihrt aber noch nicht an das zentrale Problem, das sich mit dem Kulturbegriff verbindet. Die Wirklichkeit, mit der es die Sozialwissenschaften zu tun haben, ist stets eine kulturelle Wirklichkeit, keine ,WirkHchkeit an sich'. Sie erscheint uns als Wirklichkeit nur un^er hestimmten Gesichtspunkten, und die sind wiederum unbegrenzt. Es ist daher auch niemals moglich, Wirklichkeit als ,die Kultur' erschopfend zu beschreiben, sondern die Gesichtspunkte, unter denen sie betrachtet werden kann, sind prinzipiell unendHch. Das gilt fur das handekide Individuum ebenso wie fur den erklarenden Sozialwissenschaftler. Deutung und Verstehen von Kultur entstehen nur aus der Intentionalitat der handelnden Subjekte, und Subjektivitat ist wiederum abhangig von der Teilhabe an Bedeutungen. Mit dem Verstandnis von Soziologie als Kulturwissenschaft ist nichts anderes als dieses Wechselspiel gemeint. Und hieraus leitet sich auch die notwendige Bindung kulturwissenschaftlicher Forschung an „Wertbeziehungen" — nicht zu verwechseln mit Werturteilen — ab, von der Max Weber sprach (Weber 1988a, S. 175-186, 1988b, S. 511). Vor diesem Hintergrund ist es eine von dem Interesse an modeUhafter Nachbildung geleitete pragmatische Vereinfachung, sich das Verhaltnis des deutenden, intentional handelnden Akteurs zu den Merkmalen einer sozialen Situation als mehr oder minder geHngende Ubereinstimmung, als „Match", vorzustellen, weil damit auf beiden Seiten eine StabiHtat an Bedeutung und Deutung unterstellt wird.

Jriandeln und Handlungsverstehen Der Vorgang des Verstehens mag aufgrund seiner alltagsweltUchen Vertrautheit unproblematisch und selbsterklarend erscheinen, und die Definition einer verstehenden Soziologie beispielsweise bei Max Weber mag daher auch unmittelbar evident wirken. Je genauer man die Vorgange des Verstehens aber untersucht, desto komplexer, ungreifbarer und ungewisser werden sie. Dennoch ist Verstehen alltaglich und allgegenwartig. Es beginnt bei einer Sprache, die man beherrscht oder nicht, und wer jemals die studentischen Klausuren am Ende einer Einfiihrungsvorlesung in die Soziologie korrigiert hat, weiB, wie viel Ver-

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stehen und Nicht-Verstehen gerade auch in einer ausdnicklich auf Transparenz und Einsichtigkeit angelegten Kommunikations situation gegeben sind. Menschen miissen — mindestens pragmatisch hinreichend — ,wissen', was ihr Gegeniiber gesagt oder mit einer Handlung bezweckt hat, und sie miissen die Funktion von Gegenstanden und die Bedeutung von Symbolen ,kennen', um erfolgteich handeln zu konnen; dies wird gerade in jenen Situationen deutlich, in denen Verstehen nicht auf Anhieb reibungslos gelingt. Wie dieses Verstehen moglich ist, was seine Voraussetzungen sind, und wie viel ,richtiges* Verstehen erforderlich bzw. wie viel ,Missverstehen* im sozialen Alltag normal und akzeptabel ist, damit erfolgreich kommuniziert und gehandelt werden kann, ist eine Frage, der sich die Soziologie noch nicht wirklich gestellt hat. Letztlich bezeichnet ,Verstehen' also keinen klar fassbaren Vorgang, sondern ein Desiderat. Fiir die kommenden Argumente ist es wichtig, dies in Erinnerung zu rufen. Selbst dann, wenn man eine offensichtlich zweckrationale Handlung erklaren mochte, ist dabei Verstehen in mehrfacher Hinsicht im Spiel. Man muss sie zunachst in einem ganz basalen Sinn verstanden haben: War eine Geste ein GruB oder eine Drohung? Welcher Sinn, also welche Aussage und welche Absicht, sind mit den Worten gemeint gewesen, die mein Gegeniiber von sich gegeben hat? Bereits Max Weber unterscheidet zur Klarung zwischen dem aktuellen Verstehen einer Handlung oder einer Aussage und dem motivationsmaBigem Verstehen, warum und mit welchem Ziel sie gemacht wird (Weber 1972, S. 3f). Noch sehr viel differenzierter befragt Alfred Schiitz die Voraussetzungen und Ebenen des Verstehensprozesses, indem er die dabei ablaufenden Bewusstseinsprozesse phanomenologisch beschreibt. Esser hat sich hiermit auseinandergesetzt und sich zum Ziel gesetzt, die Argumente der phanomenologischen Soziologie in seiner eigenen Terminologie zu reformuHeren (Esser 1991a, 1991b). Aber gerade das eigentliche Problem des Verstehens bleibt dabei unberiihrt. Esser lehnt „Verstehen" als weiche Methode zur nachfiihlenden Rekonstruktion von Handlungsverlaufen ausdriickHch ab. Aber mit Bezug auf die Unterscheidung Webers wird deutlich, dass Essers eigenes Verfahren der rationalen ModeUierung von Handlungssituationen ein vorgangiges erfolgreiches und eindeutiges Verstehen des gemeinten Sinns einer Handlung als selbstverstandHch gegeben voraussetzt. Mit diesem Einwand soil gerade keinem weichen Verstehensbegriff gegeniiber prazise formulierten Erklarungen das Wort geredet werden. Im Gegenteil, Essers zentrales Argument, dass Verstehen letztUch immer Vernunft und ZweckrationaHtat beim jeweiUgen Gegeniiber untersteUen muss (Esser 1991a, S. 72-74, 1993, S. 135f, 2004a, S. 105, 2004b, S. 255), ist ohne Frage zutreffend, denn anders ware Verstehen gar nicht denkbar. D o c h dabei bleibt auBer Acht, dass diese Annahme nur den Rahmen des Verstehens bildet, ohne dass damit im Geringsten etwas dariiber ausgesagt ware, welche Inhalte verstanden werden. Esser unternimmt groBe theoretische

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Anstxengungen, um Elemente verstehender Handlungstheorien in das Modell soziologischer Erklarung 2u integrieren, so etwa, wenn er die selektive Informiertheit und Situationswahrnehmung von Akteuren, die Modellierung des Framing mit Hilfe von Briickenhypothesen, die „so2ialen Produktionsfunktionen" und „Zwischenguter" sowie die Kalkulation des „subjektiv erwarteten Nutzens" beriicksichtigt. Doch eine wirkliche Losung fur das Problem des Verstehens findet er nicht, sondern das Verstehen lauft im Hintergrund ab und wird nicht in Frage gestellt. Denn woher ,weiB* ein Soziologe alle diese Dinge liber die Merkmale einer Situation, iiber die kulturell gepragten Restriktionen und Opportunitaten, die kulturellen Ziele, die institutionalisierten Mittel und die vorgegebenen Handlungsalternativen aus Sicht der Akteure? Woher ,weiB' er, dass es in einer „Kultur" Begriffe wie „Glauben" oder „Ehre" oder politische Einstellungen gibt, die als „Zwischenguter" dienen konnen, und was sie bedeuten (Esser 2004a, S. 111-114)? Stiinde ein erklarender Soziologe einer Kultur gegeniiber, der en Sprache er nicht spricht und der en Institutionen er 2um ersten Mai beobachtet, wiirde er unter Umstanden geraume Zeit brauchen, bis er in der Lage ware, fiir das Handeln, das er beobachtet, rationale Erklarungen anzufertigen. Es gibt keinen Grund zu bezweifeln, dass ihm dies letzten Endes gelingen wird, denn entweder man gelangt zu rationalen Erklarungen — oder man hat das beobachtete Verhalten nicht verstanden. Voraussetzung dafur aber bleibt, dass man in einem ganz basalen Sinn verstanden hat, was iiberhaupt gesagt und getan wurde. Und dieses Verstehen setzt offenbar eine Teilhabe am Verstehenshorizont einer Kultur voraus. Ohne diese Voraussetzung existiert gar kein Zugang zur sozialen bzw. kulturellen Wirklichkeit. Essers „Modell soziologischer Erklarung" beschreibt eine Technik, mit deren Hilfe sich Handlungsablaufe Schritt fur Schritt iiberpnifbar modellieren lassen. Doch um zu diesem Modell zu gelangen, muss ebenso viel an Verstehen des Handelns, der moglichen Ziele und selbst der Sprache der Akteure geleistet worden sein, wie in jeder anderen Handlungstheorie auch. Essers „Modell soziologischer Erklarung" kommt keineswegs ohne Verstehen aus, das Verstehen ist nur kein expliziter Teil der Modellierung, sondern es wird als gegeben vorausgesetzt — oder es muss in einem externen Theorieelement problematisiert werden. Dies gilt m.E. ungeachtet des Esserschen Postulats, „jede grundsatzliche Trennung zwischen kausalem Erklaren und interpretierendem Verstehen [...] aufgehoben" zu haben (Esser 1993, S. 598, vgl. 1993, S. 595-600, 1999a, S. 263f, 2000b, S. 267f). Diese Behauptung wie auch die anderen Passagen, in denen sich Esser zum „Verstehen" auBert, bezieht sich auf die lange Geschichte methodischer Debatten in der SoziologLe, aber eben nicht auf das hier beschriebene offene Problem.

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Geschichtlichkeit von Kultur Kultur ist nicht nur eine Frage kollektiv geteilter Deutungen und der Voraussetzungen des Verstehens, sondern der Begriff umfasst auch eine historische Dimension. Woher stamnien die Schemata, Frames und Skripte? Weshalb gibt es einige von ihnen zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den westlichen Industriegesellschaften, in anderen Gesellschaften oder zu anderen Zeiten aber nicht, etwa bestimmte Formen politischen Protestes, areligiosen Handelns oder des Verhaltens in Geschlechterbeziehungen? Alle diese kulturellen Elemente miissen geschichtlich, als historisch entstandene und potentiell wandelbare Elemente gedacht werden. Essers Vorschlage zur ModeUierung von Weltsichten, Interessenlagen und Handlungsalternativen sind prazise, aber sie beantworten nicht die Fragen: Woher stammen bestimmte Frames und Skripte — eine Frage, die sich in historischer oder kulturvergleichender Sicht unmittelbar aufdrangt: Warum stehen sie in machen „Kulturen" zur Verfugung, in anderen nicht? Esser betont, dass sein „Modell soziologischer Erklarung" gerade zur Erklarung sozialen Wandels geeignet sei, weil es mittels der „Logik der Aggregatio n " die unvorhergesehenen und akkumulierten Folgen des Handelns einer Vielzahl von Akteuren modeUieren konne, aus denen dann veranderte Ausgangssituationen fur die „Logik der Situation" nachfolgender Durchlaufe durch das GesamtmodeU ableitbar sind. Das ist richtig, aber es unterstellt eine sehr reduzierte Form historischer WkkHchkeit. In die „Logik der Situation" von Akteuren flieBen stets sehr viel mehr an kulturellen Vorgaben ein, als sich mittels vorangeschalteter Durchlaufe durch das Modell soziologischer Erklarung herleiten las sen. Eine Situation ist nicht nur das Ergebnis einer uniiberschaubaren Vielfalt unterschiedHcher Handlungskontexte, ihrer Folgen und Verkniipfungen, sondern fur viele der kulturellen Vorbedingungen ist es undenkbar, bis an ihren historischen handlungstheoretischen ,Ursprung* zuriickzugehen. Zur VeranschauUchung lasst sich eines der Beispiele fur die Anwendung des „ModeUs soziologischer Erklarung" heranziehen, die Esser in seinen „A11gemeinen Grundlagen" benutzt, weil es sich dabei ausdriickHch um das Modell eines „Prozesses" handelt: die Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989 (Esser 1993, S. 35, S. 77-82). Esser modeUiert die rasante Zunahme, die folgende Abnahme auf ein Drittel und die langerfristige Konstanz der Zahl der Teilnehmer auf diesem Niveau mit Hilfe eines mehrfachen Durchlaufs durch das Modell soziologischer Erklarung. Jeder Protestzug geht aus von einer „Logik der Situation", vor deren Hintergrund die Akteure zu einer spezifischen „Logik der Selektion" von Handlungsalternativen gelangen, die iiber eine „Logik der Aggregation" als kollektive Folge eine gewandelte Situation hervorbringen, von der die nachste Demonstration ausgeht, usw. Zunachst habe sich nur die kleine Gruppe derjenigen Burger an Demonstrationen beteiligt, die kaum Riicksicht auf die moglicherweise negativen Konsequenzen des poHtischen Protestes fur

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sich selbst nahmen und denen die politischen Ziele auBerst wichtig waren. Erst nachdem die Staatsmacht bei den ersten Demonstrationen nicht eingegriffen hatte, sich fur die Teilnehmer also keine negativen Konsequenzen ergaben, beteiligten sich auch jene, die zwar die politischen Ziele teilten, die aber angstlicher oder skeptischer hinsichtlich ihrer Einschatzung des Erfolges offener StraBenproteste waren. Da sich fur jeden Teilnehmer eine Art Schwellenwert aus „inhaltlichem Interesse", „Erfolgserwartung" und „befurchteten negativen Folgen" (Esser 1993, S. 79) berechnen lasst, kann man auf diese Weise erklaren, warum die Teilnehmerzahl von Woche zu Woche rapide zunahm, da von Woche zu Woche dieser Schwellenwert sank. Nach Offnung der Mauer brach die Zahl der Teilnehmer ein, weil nunmehr derjenige Teil der Demonstranten wegfiel, deren Ziele sich auf eine Liberalisierung der D D R richteten und nur mehr diejenigen den Protest aufrechterhielten, die eine Wiedervereinigung forderten. Esser selbst gibt zu, dass er bei diesem Beispiel zwar die „Eigendynamik" des Prozesses erklaren konne, dafiir aber gezielt vereinfachende Annahmen machen miisse. Diese Einschrankung bezieht sich aber auf die Modellierung der Handlungs situation und nicht auf die kulturellen Hintergninde. So plausibel das Modell den Verlauf der Montagsdemonstrationen erklaren kann, so sehr setzt es andere Faktoren als gegeben voraus. Beispielsweise die Herkunft und Verteilung der politischen Einstellungen in der Bevolkerung oder konkret den nur historisch herleitbaren Zusammenhang zwischen religiosen Orientierungen und politischem Engagement. Aber die impliziten Voraussetzungen gehen noch weiter. Warum sind solche Demonstrationen 1989 mogUch und erfolgreich gewesen, aber nicht 1957, 1968 oder 1981? Warum unterschieden sich die Neigungen zu Protestbewegungen in verschiedenen mittelosteuropaischen Landern? Oder, aus einer anderen, weiter gefassten Perspektive gefragt: Warum kommen derartige biirgerHche, repubUkanische und zivilgesellschaftHche Protestbewegungen in Europa seit zweihundert Jahren regeknaBig, aber in anderen ,Kulturen' oder friiheren Jahrhunderten in dieser Form praktisch gar nicht vor? Woher kommt liberhaupt die Idee der politischen Selbstbestimmung, die die treibende Kraft der Biirgerbewegung bildet, ein Wunsch, der sich keineswegs zu alien Zeiten in der Geschichte denken lasst? An diesem Beispiel sollte verdeutlicht werden, wie sehr die Modellierung von Handlungen an Voraus setzungen gebunden ist, die erhebHch iiber die Reichweite handlungstheoretischer Modelle hinausgehen. Die hier genannten Aspekte lassen sich zwar als Frames oder Skripte in das Essersche Modell integrieren — aber eben nur, wenn man sie bereits auf anderem Weg erforscht und ,verstanden* hat. Ein handlungstheoretisches ErklarungsmodeU ware sicher iiberfordert, wenn es diese Perspektive mit beriicksichtigen wollte, oder es wiirde an seinem totalen Erklarungsanspruch zerbrechen. Insofern ist es voDig berechtigt, wenn Essers Modell soziologischer Erklarung auf derlei Fragen nicht eingeht. Trotz-

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dem ist daran festzuhalten, dass historische Fragestellungen ein integraler Bestandteil aller Kulturwissenschaften und gerade auch der Soziologie sind. Andernfalls wiirden sich soziologische Erklarungen eine bedenkliche Kurzsichtigkeit zulegen, die sie von sehr vielen Fragestellungen ausschlieBt. Es geht nicht nur datum, dass sich mit dem Modell soziologischer Erklaning zwar raumlich und zeitlich umgrenzte Prozesse sozialen Wandelns, nicht aber historische Zusammenhange in den Blick nehmen lassen. Sondern es fehlt iiberhaupt ein Verstandnis fur den geschichtlichen Charakter menschlicher Wirklichkeit. Obwohl Esser fur sein Modell den Status eines universellen soziologischen Leitmodells beansprucht, enthalt es keinerlei Annahmen liber den besonderen Charakter der Wirklichkeit, auf die es sich bezieht. Anders als Max Webers eingangs zitierte Definition der Soziologie als Kulturwissenschaft, die ganz ausdriicklich von einem spezifischen Wirklichkeitsverstandnis ausgeht und dieses mit dem Kulturbegriff bezeichnet, setzt Esser soziale Wirklichkeit als im Kern unproblematisch voraus. Sein Modell erlautert die Konstruktion soziologischer Erklarungen vor dem Hintergrund einer gegebenen Wirklichkeit, doch Uberlegungen zu deren ontologischem Status liegen auBerhalb seiner Reichweite. Anders als beim Verstandnis der Soziologie als Kulturwissenschaft kommen einige sehr grundsatzliche Erwagungen iiber die Stabilitat und Fassbarkeit menschlicher Wirklichkeit oder das besondere Verhaltnis von Subjekt und Objekt der Forschung nicht in Betracht. Hierzu gehort auch die Reflexivitat kultureller Wirklichkeit und menschlichen Handelns im allgemeinen und die verandernde Riickwirkung soziologischer Erkenntnisse und Deutungen auf diese Wirklichkeit im besonderen (vgl. exemplarisch Merton/Wolfe 1995). Sicher ware es in diesem Zusammenhang auch mit den Mitteln des Modells soziologischer Erklarung moglich, Antworten auf punktuelle Fragestellungen zu finden. Aber vom Prinzip her gewinnt es seine Prazision aus einer Abschottung gegen derartige Fragehorizonte. Aus diesen Uberlegungen ergeben sich Konsequenzen fur den Status des Modells als soziologisches Leitmodell und konkret fur sein Selbstverstandnis als „erklarendes" Modell, auf die abschlieBend eingegangen werden soil.

Fa^t: Die Modellierharkeit von Kultur

Hartmut Essers Anspruch, mit dem Modell soziologischer Erklarung eine umfassende Grundlegung der Soziologie entworfen zu haben, lasst keinen Zweifel daran, was er unter einer wissenschaftlichen Erklarung versteht und wie er sich dementsprechend die Arbeitsweise der Soziologie vorstellt. Er argumentiert aus der Perspektive einer an prazisen, auf Gesetzesaussagen gestiitzten, nach Moglichkeit quantifizierenden und vom Prinzip her in rechnerischen Modellen simulierbaren kausalen Erklarung. Vor diesem Hintergrund ist

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seine gesamte Argumentation 2u verstehen, und der damit verbundene Anspruch zwingt 2ur Stringenz und Klarheit aller Theorieelemente, was einen groBen Vorzug des Modells soziologischer Erklarung darstellt. Essers besondere Leistung ist, dass er Argumente aus der kultxirwissenschaftlichen Tradition der Soziologie, aus der verstehenden Handlungstheorie und aus verschiedenen interpretativen Ansatzen reformuliert und in sein Modell integriert und damit zugleich einen AnstoB zur Klarung und Prazisierung von Positionen gibt. Die Frage, ob, in welchem MaB und mit welchen Kosten diese Integration gelingt, ist im Detail erortert worden. Dabei wurde Wert darauf gelegt, den Duktus einer Entgegensetzung und AusschlieBlichkeit zu vermeiden und die Vorziige und Grenzen des Modells darzustellen. Esser selbst argumentiert jedoch eher konfrontativ, und dies erschwert eine fruchtbare Debatte, fur die es wichtige Ansatze gibt. Essers Argumentation ist durch den Widerspruch gekennzeichnet, einerseits wesentliche Elemente seines Modells aus der Auseinandersetzung mit kulturtheoretischen oder verstehenden Theorien zu gewinnen, andererseits aber die Eigenstandigkeit und das Eigenrecht eben jener Ansatze, denen er seine Kritik an der voluntatistischen Fassung der Rational Choice-Theorie entnimmt, zu bestreiten. Hier liegt nicht unbedingt eine Schwache des Modells soziologischer Erklarung als solches vor, sondern problematisch ist der Anspruch, die notwendige Perspektivitat kulturwissenschaftlicher Forschung iiberwunden zu haben. Die vorangegangenen Erorterungen haben gezeigt, dass das Modell soziologischer Erklarung zwar prazise Begriffe und Methoden zur Modellierung von Handeln unter den Bedingungen von Kultur bietet, dass es seine Prazision aber um den Preis der Ausblendung ungeloster und provozierender Aspekte des Kulturbegriffs erkauft. Weit mehr als die diskutierten Einzelfragen ist somit der Anspruch auf eine umfassende, vereinheitlichende Theorie problematisch, der dazu fuhrt, eine Diskussion zu unterbinden, bevor sie begonnen hat (vgl. z.B. zuletzt Esser 2003, 2004b, S. 253). Er ist nicht nur nicht mit einem Verstandnis von Kultur als einer sinnhaften, geschichtlichen und grundsatzlich unausschopflichen Wirklichkeit zu vereinbaren, wie sie in dem eingangs zitierten Verstandnis einer kulturwissenschaftUchen Soziologie bei Max Weber zum Ausdruck kam, sondern mir scheinen auch Zweifel angebracht, ob sich dieser Anspruch tatsachHch aus der Wissenschaftstheorie des von Esser immer wieder zitierten Karl Popper herleiten lasst. Zumindest in Essers Argumentationsduktus scheint gelegentlich aus dem Blick zu geraten, dass gerade fiir Popper alle wissenschaftHchen Erklarungen nur Vermutungen und Modelle sind, und das Credo von Poppers Denken eher auf eine Bescheidenheit angesichts der Vorlaufigkeit und der uniiberschreitbaren Grenzen menschlicher Erkenntnismoglichkeiten zielt. Gravierender ist in diesem Zusammenhang eine methodologische Uberlegung. Esser verbindet seine Kritik an der verstehenden Soziologie und der intersubjektiven Plausibilitat als Kriterium fur ,richtiges' Verstehen (Esser

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1991a, S. 88-96) mit der Fordening nach der Orientierung soziologischer Forschung am Prinzip der Gesetzesformigkeit, wie sie sich kn Standardmodell wissenschaftlicher Erklarungen, dem Hempel-Oppenheim-Schema, findet (Esser 2004b, S. 252). Mit dieser Forderung nach kausalen und somit gesetzesformigen Erklarungen ist andererseits jedoch nicht belegt, ob sich der damit verbundene Anspruch wirkHch einlosen lasst. Hier wird ein altes und prekares Problem in den Sozialwissenschaften beriihrt, well sich — gemessen an der ungeheuren Vielzahl soziologischer Erklanmgen — kaum gesetzesformige Erklarungen finden las sen, die diesem Anspruch konsequent geniigen. D e n n fur gesetzesformige Kausalerklarungen gibt es vor allem einen MaBstab: die Strukturgleichheit von Erklarung und Prognose. Und streng methodologisch betrachtet, bietet nur die Prognose das methodische Werkzeug zur Priifung einer gesetzesformigen Aussage, also zur Falsifikation oder Bestatigung einer kausalen Erklarung. Eine ModelHerung im Nachhinein — einerlei ob unter Zuhilfenahme von Verstehen oder von gesetzesformigen Aussagen — bleibt eine ex post facto-Erklarung und damit keine uberpriifbare gesetzesformige kausale Erklarung im strengen Sinn. In Essers Modell wirft das Verhaltnis von nachtragHcher ModeUierung und erklarender Prognose an mehreren Stellen Fragen auf Beispielsweise lasst sich die Entscheidung eines Akteurs fiir eine von mehreren Handlungsalternativen gut nach der Theorie der „subjektiven Nutzenerwartung" (SEU) modelHeren — wenn man weiB, wie die Entscheidung ausgefallen ist. Vorab alle Praferenzen eines Akteurs zu ermitteln und dann die Wahrscheinlichkeiten fiir ihre Gewichtung zu berechnen, ist eine voUkommen andere Angelegenheit. Gleiches gilt fiir die „Logik der Situation", in der Esser die selektive Wahrnehmung und „Definition" einer Situation als „Framing" modelHert. Ein beobachtetes Geschehen lasst sich sicherHch sehr gut auf diese Weise modelHeren und mit Hilfe des Modells „erklaren". D o c h wie gut lasst sich das Framing, die selektive Wahrnehmung und Deutung einer Situation durch einen Akteur, wirkHch prognostizieren? Diese Einwande gelten natiirHch erst recht dann, wenn man Essers Anspruch beriicksichtigt, eigentHch koUektive Phanomene erklaren zu woUen. Im Nachhinein lasst sich die oben erorterte Entwicklung der Leipziger Montagsdemonstrationen gut mit Hilfe der drei Logiken des „ModeUs soziologischer Erklarung" interpretieren. Doch hatte man ihren Verlauf wirkHch nach den ersten zwei Montagen prognostizieren konnen? Was bedeutet das fiir den Anspruch des ModeUs auf kausale Erklarungen, die grundsatzHch Anderes und mehr leisten sollen als eine verstehende Handlungstheorie? Das Problem der kultureUen WirkHchkeit als geschichtHche WirkHchkeit ist, dass sich soziale Situationen nicht zu Priifzwecken wiederholen lassen, und aus diesem Dilemma fiihrt kein Weg heraus. Wenn sich eine Erklarung als Basis nicht auf die inter sub jektive PlausibiHtat durch Verstehen berufen mochte, muss sie sich dem Kriterium der Prognosefahigkeit steUen, denn nur so ist

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gewahtleistet, dass man nicht irgendein Modell einer Situation aufbietet, sondern eines, das die Ergebnisse einer Situation tatsachlich zutreffend kausal erklart. Hier liegt ein Knackpunkt, an dem sich die kulturelle Wirklichkeit den Anspriichen des „Modells soziologischer Erklarung" nicht fugt. Essers Kritik am Verstehens-Begriff relativiert sich daher insofern, als auch sein alternatives Angebot soziologischer Erklarungen keine widerspruchslose methodologische Begriindung der Soziologie bietet. Vor diesem Hintergrund ist es im Ubrigen auch treffend, dass Esser seinen Ansatz als „Modell soziologischer Erklarung" bezeichnet. D e n n es ist eine methodische Anleitung zum Aufbau von Erklarungen. Es enthalt selbst keine Theorien im Sinn gesetzesformiger Aussagen und ist somit auch nicht empirisch iiberpnifbar. Seine Niitzlichkeit ist nach anderen Kriterien zu beurteilen. Die bisherigen Argumente bezogen sich auf die Rolle des Kulturbegriffs im Modell soziologischer Erklarung. Wendet man den BUck in die zweite eingangs formuHerte Fragerichtung, auf den Beitrag des Modells soziologischer Erklarung zur Klarung des notorisch unbestimmten Kulturbegriffs, zeigt sich, dass der integrative Anspruch des Modells dem Kulturbegriff nichts hinzufiigt, sondern sein beunruhigendes und reflexives Moment unterlauft. Die treibende Kraft des kulturwissenschaftUchen Projekts der Soziologie liegt unter anderem in der Reflexivitat des Kulturbegriffs, die permanent dazu auffordert, auch das forschende Tun auf seine kulturellen Voraussetzungen und Implikationen hin zu befragen. Eine produktive Akzeptanz dieser Beunruhigung ist dem integrativen Anspruch des Modells soziologischer Erklarung vom Ansatz her fremd. A m Grunde dieser Uberlegungen zeigt sich kein Widerspruch, sondern eher eine grundsatzHche Unvergleichbarkeit des kulturwissenschaftUchen und des erweiterten Rational Choice-Paradigmas. Das Rational Choice-Modell setzt auf einer Abstraktionsebene sozialer Wirklichkeit an, auf der es bereits handlungs fahige Individuen und sinnhafte Ordnungen gibt. Setzt man beides voraus, leistet das erweiterte Wert-Erwartungs- bzw. Rational Choice-Modell menschlichen Handelns tatsachlich das, was sich Esser von ihm verspricht: prazise modeUierte wissenschaftliche Erklarungen von Handlungsablaufen. Und verbindet man es mit einer Logik der Aggregation von Handlungen, gelangt man zu klaren, iiberpnifbaren Erklarungen makrosoziologischer Phanomene bis hin zu begrenzten Prozessen sozialen Wandels. D o c h auf die mit dem Kulturbegriff gekennzeichneten Einsichten in die Sinnhaftigkeit, Geschichtlichkeit und Offenheit der menschlichen Wirklichkeit und die damit gegebenen Fragestellungen kann dieser Ansatz in seiner bislang entwickelten Form nicht zugreifen. Das ist jedoch nicht als Defizit des Modells soziologischer Erklarung zu verstehen, sondern diese Beschrankung hat viele Vorziige, beispielsweise fiir die mathematische ModeUierung sozialer Prozesse, die auf klare Variablen und Selektionskriterien angewiesen ist. Seine formale Strenge iibt auBerdem einen

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heilsamen Zwang 2ur sorgfaltigen Argumentation nicht nur bei empirischen Fragestellungen aus. Der kritische Abgleich des Modells soziologischer Erklarung am Projekt einer kulturwissenschaftlichen Soziologie ist somit keinesfalls als Ablehnung des Modells zu verstehen, im Gegenteil. Das Modell soziologischer Erklarung fuhrt die Leistungsfahigkeit von Theorie als Theorie vor. Und jede wissenschaftHche Theorie stellt ein logisches Gebaude dar, keine Reproduktion von Wirklichkeit, ,wie sie ist'. Je exakter eine Theorie formuliert ist, u m so deutlicher sollte ihr Modellcharakter hervortreten. Diesbeziiglich ist das Modell soziologischer Erklarung vorbildlich. Zugleich ist in diesem Verstandnis von Theorie jedoch bereits angelegt, dass es das letztgultige und alle Gesichtspunkte integrierende theoretische Modell von WirkUchkeit nicht geben kann, sondern dass Theorie — ebenso wie Kultur — immer im Plural gedacht werden muss. U m zu diesem Argument zu gelangen, kann man sich natiirHch des Kulturbegriffs von Wirklichkeit bedienen, aber man muss es nicht. Es reicht bereits hin, sich auf wissenschaftstheoretische Positionen wie Poppers Prinzip der Falsifikation als auBerste Moglichkeit wissenschaftHcher Erkenntnis zu besinnen. Das Fazit ware also nicht, dem Modell soziologischer Erklarung vorzuhalten, dass es lediglich bestimmte Aspekte von Kultur und Sinnhaftigkeit nachbilden kann. Moglicherweise wiirde es als Erklarungsmodell und als Leitfaden fiir empirische Fragestellungen sogar an Pragnanz verlieren, wenn man auf diese Einschrankung verzichten und die Komplexitat des Modells durch weitere Theorieelemente erhohen wiirde. Skeptisch zu bewerten ist hingegen die Forderung nach einer integrativen, nicht reduktionistischen Einheitstheorie fiir die Sozialwissenschaften. Nicht zuletzt deshalb, weil es gerade kein Kriterium einer erklarungskraftigen Theorie ist, nicht reduktionistisch zu sein.

Kultur- und Systemtheorie Die Frage nach der Rolle des Kulturbegriffs in der Theorie autopoietischer Systeme stellt sich bereits vom Ansatz her ganz anders als im Falle der Rational Choice-Theorie. Waren dort durch den gemeinsamen Bezug auf die Tradition soziologischer Handlungstheorien sowie durch Essers kritische Auseinandersetzung mit interpretativen Ansatzen eine ganze Reihe von Vergleichsgesichtspunkten gegeben, fehlt im Falle Luhmanns ein solcher Zugang, da er eine vollstandige Neubegriindung soziologischer Theorie anstrebt (Luhmann 1984, S. llf). Selbst wenn man immerhin den Parsons'schen StrukturfunktionaHsmus als historische Bezugsposition anerkennt, ergibt sich auch hieraus eher eine erklarte Gegenpositionen zu einem kulturwissenschaftlichen Verstandnis von Soziologie. Der philologische Ausweg, alle jene Stellen aufzusuchen, an denen sich Luhmann selbst zum Kulturbegriff auBert, ist ebenso eine Sackgasse. Die-

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se Stellen sind verstreut, teils bloBe Andeutungen und fiihien nicht ins Zentrum der Theorie, sondern stellen beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Parsons'schen Konzept des Kultursystems und der ihm zugewiesenen Funktion der Strukturerhaltung dar (Luhmann 1980, S. 16f, 2002, S. 31f, S. 36f, vgl. zu Parsons: Haferkamp 1990), Teilweise wird der Kulturbegriff auch bloB nebenbei benutzt, ohne ihn zu problematisieren (vgl. Luhmann 1980, S. 7f). Erst spat greift Luhmann den Kulturbegriff explizit auf, iiberfiihrt ihn dann aber schnell wieder in andere Begriffe (Luhmann 1995b, 1997, S. 576-594). Aufs Ganze gesehen geht es Luhmann datum, zum Kulturbegriff als externer Beobachter Stellung zu nehmen, und nicht datum, systematisch mit ihm zu arbeiten.4 Eher ins Zentrum der Theorie autopoietischer Systeme fiihrt die Frage, ob diese nicht dadurch, dass sie „Sinn" und „Kommunikation" zu zentralen Theorieelementen macht, zu einer Kulturtheorie wird, ungeachtet ihrer Distanz zu verstehenden oder handlungstheoretischen Ansatzen. Zu erortern ist dann aber, wie es moglich ist, Konzepte wie „Sinn" und „Kommunikation" unabhangig von einer verstehenden Handlungstheorie und einem Akteursbegriff zu fassen. Als dritte, daran anschlieBende Frage ist zu diskutieren, welche neuen Perspektiven sich aus der Theorie autopoietischer Systeme fiir ein komplexeres Verstandnis von Kultur ergeben.

Niklas Ijuhmann iiber ,,Kultur*' und Beobachtung Einschlagig ist zunachst das Kapitel „Kultur als historischer Begriff' im vierten Band von Luhmanns Studien zur „Gesellschaftsstruktur und Semantik" (Luhmann 1995b, vgl. 1997, S. 587). Luhmann datiert Kultur als typisch modernen Begriff in das achtzehnte Jahrhundert. Er sei entstanden aus der vergleichenden Beobachtung sozialer Phanomene in verschiedenen Gesellschaften, die schlieBlich zu einer Relativierung beispielsweise verschiedener Religionen als „Kultur" gefiihrt habe. Der Vergleich und die Reflexion des Vergleichs fiihrten zu einem umfassenden Bewusstsein der Kontingenz aller beobachteten Phanomene. Daraus entwickelte sich eine „Beobachtung zweiter Ordnung" als ein neuer Modus neben der fortbestehenden Beobachtung erster Ordnung (Luhmann 1995b, S. 32, vgl. allgemein Luhmann 1984, S. 242-248, 1986, S. 51-61, 1990, S. 68-121, Luhmann u.a. 1990). Man kann nach wie vor ergriffen sein von einem Kunstwerk, eine Familie griinden, piinktHch zur Arbeit gehen oder

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Zwei neuere Publikationen haben das Verhaltnis von System- und Kulturtheorie zu ihrem Thema gemacht; eher zusammenfuhrend: Burkart/Runkel 2004, eher entgegensetzend: Koschorke/Vismann 1999.

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einen Gottesdienst besuchen. Alle diese Handlungsweisen spiegeln Betrachtungsweisen der Welt unter bestknmten Gesichtspunkten, in Luhmanns Terminologie sind dies Beobachtungen erster Ordnung. Aber es ist auch moglich, die Beobachtungen und Einteilungen der Welt in das Kunstwerk, die Familie, die Berufsarbeit oder den Gottesdienst als kontingente Phanomene selbst wieder zu beobachten, und zwar als „Kultur". Dies sind dann Beobachtungen von Beobachtungen, also „Beobachtungen zweiter Ordnung" (vgl. allgemein Luhmann 1984, S. 63f, S. 406-411, 1986, S. 51-61, 1992, S. 42-49, 1997, S. 69f, S. 92f, S. 766ff, S. 1117-1128, Luhmann u.a. 1990). Was Luhmann beschreibt, ist letztlich nichts anderes als die Geburt der Sozial- bzw. Kulturwissenschaften und ihrer aufklarerischen Sicht auf die Wirklichkeit. Er bringt damit den Umbruch hin zum modernen Denken, der sich mit der Ausbildung des Kulturbegriffs verbindet, auf einen prazisen begrifflichen Nenner, auch wenn der Befund selbst im Kern nicht originell ist. Originell an Luhmanns Rekonstruktion dieses Prozesses ist jedoch, dass er den Kulturbegriff mit dem Beobachtungsbegriff verbindet und ihn dadurch von jedem Zwang zu einer inhaltlichen oder gar ontologischen Bestimmung befreit. „Kultur" bezeichnet kein „was", sondern ein „wie" der Betrachtung, und zwar eine Beobachtung unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz des Beobachteten. Alles, was es gibt, kann auch von einer Metaebene aus als Kultur beobachtet werden. Auf Luhmanns strikte Ablehnung stoBt hingegen die gelaufige soziologische Annahme, Kultur sei ein Ort oder Mechanismus der Ordnung. Er halt es fiir eine iiberholte und irrige Vorstellung der klassischen Soziologie, „daB alle GeseUschaften Kultur tradieren und jede soziale Situation daher Kultur immer schon vorfindet" (Luhmann 1984, S. 150). Aufbauend auf dieser iiberkommenen Uberzeugung versuchte noch Parsons, das Problem der sozialen Ordnung zu losen. An dieser Vorstellung hangen auBerdem zahlreiche etablierte soziologische Begriffe, die Luhmann in ihrer herkommlichen Fas sung ebenfalls nicht anerkennt, wie beispielsweise Sozialisation, Identitat und Kommunikation. Letztlich dienen alle diese Konzepte der Losung der Frage, wie die Koordination oder der verstehende Konsens zwischen unterschiedlichen Akteuren mit je eigenen Ansichten und Absichten moglich ist, sie drehen sich somit um das Problem der antagonistischen Kooperation bzw. — bei Luhmann -- der „doppelten Kontingenz" (Luhmann 1984, S. 148-190). Statt die bisherigen Losungen der Soziologie zu akzeptieren, radikalisiert Luhmann den Kontingenzbegriff und macht ihn offensiv zur Grundlage der Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1984, S. 152).

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Beobachtun^ Sinn, Handeln, Kommunikation und Verstehen Der Begriff der Beobachtung leitet iiber zum zweiten Aspekt. D e n n als Antwort auf die Frage, wer eigentlich der Beobachter ist, stoBt man entgegen dem Alltagsgebrauch des Begriffs nicht auf handelnde Personen, sondern der Begriff wird rein abstrakt fiir ein funktionales Verhaltnis gebraucht. In ihrer allgemeinsten Form lautet die Antwort: Systeme beobachten ihre Umwelt, indem sie Unterscheidungen treffen, alien voran die zwischen System und Umwelt. „Umwelt" konnen selbst wiederum Systeme sein, es konnen aber auch Menschen oder materielle Ressourcen sein. Und die beobachtenden Systeme konnen soziale Systeme, aber auch psychische Systeme sein, die hier aber nicht 2ur Diskussion stehen. Mit Beobachtung ist dementsprechend kein psychischer Vorgang gemeint, und folglich ware es auch unzutreffend, die Leistung einer Beobachtung mit Begriffen wie „Erkenntnis" oder „Verstehen" beschreiben zu wollen. Beobachtungen sind vielmehr Operationen innerhalb eines operativ geschlossenen und selbstreferentieUen Systems. Beobachten heiBt nichts anderes als „Unterscheiden und Bezeichnen" (Luhmann 1997, S. 69): Beobachten ist jedes Operieren mit einer Unterscheidung, Beobachten ist also auch die Basisoperation von Verstehen. Verstehen kommt jedoch nur zustande, wenn man eine bestimmte Unterscheidung, namlich die von System und Umwelt (und nicht nur: Form/Hintergrund, Text/Kontext) verwendet und ia diese Unterscheidung geschlossen-selbstreferentiell reproduzierten Sinn hineinprojiziert ( t u h m a n n 1984, S. llOf) Vor diesem Hintergrund ist auch der Sinnbegriff bei Luhmann zu verstehen. Zwar operieren alle Systeme jeweils fiir sich genommen mit Sinn, aber da sich alle Operationen eines geschlossenen Systems selbstreferentiell stets nur auf eigene vorangegangene Operationen beziehen, stellt sich das Problem des Verstehens als Herstellung von Ubereinstimmung zwischen unterschiedlichen Aussagen, Personen, sozialen Kontexten, Kulturen oder sonst wie getrennten Entitaten nicht mehr. Fiir ein erfolgreiches Operieren eiaes selbstreferentieUen Systems ist eia Verstehen seiner „Umwelt" im herkommlichen Verstandnis nicht erforderlich, sondern lediglich die Unterscheidung von „System" und „Umwelt". Der Begriff des „Verstehens" und die damit zusammenhangenden Probleme werden bei Luhmann durch das „Beobachten" ersetzt, das einen voUig neutralen Vorgang darstellt, an den man die mit dem Begriff „Verstehen" verbundenen Anspriiche „falsch", „richtig", „angemessen" oder „besser" nicht mehr stellen kann. In gewisser Hinsicht verwendet Luhmann den Begriff „Sinn" durchaus in einer verwandten Weise verglichen mit seinem Gebrauch in der verstehenden Soziologie, etwa bei Max Weber. „SiQn" bedeutet, dass etwas iiberhaupt eine

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Bedeutung bekommt, dass es unterscheidbar und benennbar wird innerhalb der unendlichen Dichte und Mannigfaltigkeit der Welt und dass es dadurch fur weitere „Operationen" anschlussfahig ist. Die Welt ist — in der kulturwissenschaftlichen wie in der systemtheoretischen Sicht — nie als solche gegeben, sondern immer nur in der Form von Sinn, der nicht einfach vorgefunden, sondern von den wahrnehmenden Akteuren bzw. den beobachtenden Systemen erzeugt und zugeschrieben wird. D o c h die Parallelen enden relativ rasch. D e n n Sinn ist fur Luhmann nicht das, was sich in Symbolen oder womoglich gar in einer kulturellen Ordnung manifestiert oder ablagert, sondern Sinn ist ein „Medium", er existiert nur innerhalb geschlossener Systeme und nur in dem Moment, in dem er in Operationen konkretisiert wird (Luhmann 1984, S. 92147, 1997, S. 44-59). Sinn ist nicht an eine intentional handelnde Person gebunden, sondern „Sinn" ist die Form, in der selbstreferentielle Systeme ihre Komplexitat organisieren und beherrschen, und zwar einerlei, ob es sich um psychische Systeme mit ihrem selbstreferentieUen Bewusstseinszusammenhang oder um soziale Systeme mit ihrem selbstreferentieUen Kommunikationszusammenhang handelt. Sinn ist die „unerlassliche, unabweisbare Form ihrer Komplexitat und ihrer Selbstreferenz" (Luhmann 1984, S. 92). Dabei ist mit „Sinn" jedoch nicht die Festlegung oder Einschrankung von Moglichkeiten gemeint — etwa so, wie Hartmut Esser von konkreten verfiigbaren Alternativen spricht —, sondern Luhmann betont im Gegenteil den Uberschuss an MogUchkeiten, der durch das Medium Sinn eroffnet wird, weil jeder (punktuelle) Zugriff auf Sinn immer (nur) auf anderen Sinn verweist und somit notwendig weitere offene Moglichkeiten nach sich zieht (Luhmann 1984, S. 94f). Auch die Negierung, Zerstorung oder Leugnung von Sinn erzeugt immerfort neuen Sinn. Der Begriff des Sinns wird also nicht im Dienst der Frage nach den Voraussetzungen der Stabilisierung einer kulturellen Ordnung gebraucht, sondern eine solche Frage ist dem Luhmannschen Denken vollig fremd. Er geht im Gegenteil aus von der „basalen Unruhe" eines jeden Systems und der „InstabiHtat" einer in der „ F o r m " von Sinn wahrgenommenen Welt (Luhmann 1984, S. 99). Jede „Information" kann einerseits die Komplexitat der Welt reduzieren, andererseits kann sie sie aber auch erhohen, besonders dann, wenn es eine iiberraschende Information ist, die Unsicherheit erzeugt (Luhmann 1984, S. 103f). Und als Information, die zur Generierung von Sinn fiihrt, kann eine absichtUche Handlung oder Aussage ebenso dienen wie ein Zufall oder ein Irrtum (Luhmann 1984, S. 165). Sinn findet sich nur innerhalb selbstreferentieller Systeme, die sich mit ihren Operationen immer nur auf sich selbst beziehen. Sinn und Kultur bieten also keine Losung fiir das Problem der Verstandigung und Koordination des Denkens und Handelns unterschiedlicher Akteure, sondern im Gegenteil: Weil jedes System geschlossen sinnhaft operiert und dadurch fortwahrend einen Uberschuss an Moglichkeiten produziert, stellt sich das Problem der doppelten

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Kontingenz (Luhmann 1984, S. 148-190) in radikalisierter Form. Luhmann verabschiedet sich damit nicht nur vom Begriff der Kultur als Ort gespeicherter Muster und Richtlinien des Handelns, sondern er verabschiedet iiberhaupt die Vorstellung, dass ein Handelnder — ein psychisches System — durch Wahrnehmen und Verstehen zu verlasslichen Erwartungen liber seine Umwelt gelangen und sich in seinem Verhalten daran orientieren kann. Es ist umgekehrt gerade die uniiberwindliche Erwartungsunsicherheit, die dazu fiiihrt, dass Systeme eine autopoietische Struktur ausbilden und sich im Laufe der Zeit stabilisieren, ohne die Erfahrung der Kontingenz der AuBenwelt jemals abschiitteln 2u konnen (Luhmann 1984, S. 157ff). In dieser Theorie gibt es keine stabilen Identitaten oder Subjekte mit stabilen Praferenzen, die sich fur die eine oder andere Handlung entscheiden. Sondern jede Ordnung ist standig durch ein UbermaB an Moglichkeiten, „Komplexitat", von Auflosung bedroht, und nur weil und insofern sich Systeme standig verhalten bzw. Operationen durchfuhren, konnen sie sich als autopoietische Systeme erhalten (Luhmann 1984, S. 167). Es ware somit falsch zu sagen, dass Systeme Komplexitat beherrschen und in eine Ordnung iiberfiihren. Es ist umgekehrt so, dass gerade aus der fortbestehenden Komplexitat eine „spontane Selbstorganisation" hervorgeht (Luhmann 1984, S. 150f): Kontingenz ist „systemkonstituierend" (Luhmann 1984, S. 162). In ahnUcher Weise wie den Sinnbegriff zerlegt Luhmann weitere Begriffe, die aus der verstehenden Soziologie oder der soziologischen Handlungstheorie vertraut sind, und trans formiert sie in eine systemtheoretische Fas sung, wobei es ihm — im Gegensatz zu Esser — jedoch nicht um eine bloBe Reformulierung des Begriffsgehaltes geht, der in seinem theoretischen Kern iibernommen wird, sondern Luhmann ubernimmt gerade umgekehrt lediglich die Bezeichnung, erklart aber, dass der entsprechende Begriff vollig anders aufzufassen ist. Das zeigt sich etwa am Begriff des Handelns, den Luhmann als Teil der Unterscheidung zwischen „Handeln und Erleben" (Luhmann 1984, S. 122-127, S. 228f) aufgreift. Ob ein System ein Ereignis als Handeln sich selbst oder als Erleben seiner Umwelt zurechnet, ist demnach eine Frage der Beobachtung. Dasselbe Ereignis kann sowohl so als auch so beobachtet werden, dementsprechend Hegt die Verantwortung fiir das Geschehen mal innerhalb und mal auBerhalb der eigenen Reichweite. Die vermeintliche Eindeutigkeit auch dieses Grundbegriffs sowohl der verstehenden wie der erklarenden soziologischen Handlungstheorie ist damit aufgehoben. Und deshalb gelten Luhmann als Grundelement sozialer Systeme nicht Handlungen, sondern Zuschreibungen aufgrund von Beobachtungen, also „Kommunikationen" (Luhmann 1984, S. 225-236). Eine Handlungstheorie kommt fiir Luhmann auch deshalb fur die Analyse differenzierter Gesellschaften nicht in Frage, weil die extrem langen und komplex verflochtenen Wirkungsketten und die Anonymitat funktionaler Zusammenhange selbst unter groBten Anstrengungen nicht mehr als das Er-

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gebnis konkreter Handlungen einzelner (ggf. typisierter) Individuen modelliert warden konnen (vgl. Luhmann 1997, S. 225-236, S. 240^. Kommunikation wird dementsprechend nicht als ein Austausch von Informationen zwischen Akteuren verstanden, sondern als ein „dreistelliger Selektionsprozess" zwischen zwei selbstreferentiellen Systemen unter den Bedingungen der doppelten Kontingenz (Luhmann 1984, S. 194, S. 203). Ein System selektiert erstens etwas als „Information" und wahlt hierfur zweitens eine Form der „Mitteilung", wobei die Mitteilung von der Information strikt zu unterscheiden ist. Vollstandig wird die Kommunikation aber erst dadurch, dass ein zweites selbstreferentielles System die Mitteilung als Mitteilung „beobachtet" und auf dieser Grundlage einen neuen Sinn generiert. Diese dritte Selektion bezeichnet Luhmann als „Verstehen", wobei es eben nicht darum geht, ein Gegeniiber im herkommlichen Sinn „verstanden" zu haben, sondern schlicht um eine sinnhafte Anschlussoperation (Luhmann 1984, S. 191-242). Diese dreifache Selektion — man konnte sogar von einer vierfachen sprechen — verdeutlicht, dass die Operation, die das eine System mit der Auswahl von Sinn als Information durchgefiihrt hat, als etwas ganz anderes anzusehen ist als jene Operationen, die in anderen Systemen durch die ,Aufnahme' einer Mitteilung angestoBen werden. Es gibt keine Identitat des Mitgeteilten fiir Sender und Empfanger, und das Ergebnis von Kommunikation ist nicht die HersteUung von Konsens (Luhmann 1984, S. 194, S. 237). Gleichwohl entstehen emergente Strukturen der Kommunikation, die die WahrscheinHchkeit erhohen, dass Kommunikation geUngt (Luhmann 1984, S. 217). Eine zentrale Rolle spielen dabei die „symbolisch generaHsierten Kommunikationsmedien" (Luhmann 1984, S. 220ff), worunter Luhmann Praferenzen bzw. Motivationen versteht, in der Kommunikation eine bestimmte unter mehreren moglichen Selektionen vorzunehmen und dadurch Kommunikation in einer bestimmten Weise zu reprodiizieren. Dies ist gleichbedeutend mit der Reproduktion bestimmter „Themen" (Luhmann 1984, S. 224f, zur Unterscheidung von „Themen" und „Beitragen" vgl. S. 215f). Themen sind „ein dazwischenliegendes, Interaktion und Sprache vermittelndes Erfordernis" (Luhmann 1984, S. 224). An dieser Stelle fiihrt Luhmann auch den Begriff der Kultur ein, und zwar als „Themenvorrat", den er, „wenn er eigens fiir Kommunikationszwecke aufbewahrt wird", auch als „Semantik bezeichnet": Ernsthafte, bewahrenswerte Semantik ist mithin ein Teil der Kultur, namUch das, was uns die Begriffs- und Ideengeschichte liberHefert. Kultur ist kein notwendig normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Reduktion), die es ermogHcht, in themenbezogener Kommunikation passende und nichtpassende Beitrage oder auch korrekten bzw. inkorrekten Themengebrauch zu unterscheiden. (Luhmannl984, S. 224)

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Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen Luhmann iiberhaupt den Kulturbegriff explicit verwendet, allerdings zeigt sich bereits, dass eigentlich der Begriff der „Semantik" der prazisere fiir ihn ist. „Kultur" bleibt demgegeniiber unbestimmt, Luhmann weist lediglich in einer FuBnote darauf bin, dass er sich „nicht allzu weit vom liblichen Sprachgebrauch" entferne (Luhmann 1984, S. 224, Anm. 49). Wenn iiberhaupt, sind mit dieser Passage mehr Probleme aufgerufen als gelost, denn nicht nur der Kulturbegriff, sondern auch die Definition von „Semantik" als „Themenvorrat" enthalt Bestimmungen, die weiter erlautert werden miissten, wie die offenbar als Archiv oder Speicher verstandenen Begriffe „Vorrat", „Geschichte" und „Uberlieferung". Eine Klarung hierzu findet sich nicht in „So2iale Systeme" (Luhmann 1984), und mit Blick auf den Kulturbegriff auch nur eingeschrankt in den Banden 2u „Gesellschaftsstruktur und Semantik" (Luhmann 1980, 1981, 1993, 1995a). Aufgegriffen wird das Thema erst wieder in „Die Gesellschaft der Gesellschaft" unter dem Begriff „Gedachtnis".

Kultur und Geddchtnis

Wenn „Kultur" bzw. „Semantik" einen „Themenvorrat" bereithalten, der die Wahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation erhoht, stellt sich die Frage, wie dieser Themenvorrat bereitgehalten oder gar ,gespeichert' wird. Den Mechanismus hierfiir bezeichnet Luhmann als „Gedachtnis" (Luhmann 1997, S. 576-594), wobei er diesen Begriff aber ausdriicklich weder im Sinn von Kontinuitat und Tradition noch im Sinn eines Archivs der Vergangenheit begreift. Das Gedachtnis ist vieknehr in der Gegenwart angesiedelt: Von Gedachtnis soil hier nicht im Sinne einer moglichen Riickkehr in die Vergangenheit, aber auch nicht im Sinne eines Speichers von Daten oder Informationen die Rede sein, auf die man bei Bedarf zuriickgreifen kann. Vieknehr geht es um eine stets, aber immer nur gegenwartig benutzte Funktion, die alle anlaufenden Operationen testet im HinbUck auf Konsistenz mit dem, was das System als Realitat konstruiert. (Luhmann 1997, S. 578f) Dabei ist das Gedachtnis kein gesonderter Mechanismus, sondern eine Art Nebeneffekt des sinnhaften Prozessierens eines Systems: Gedachtnis muB sich mithin der Operationsweise des Systems bedienen, muB im Falle sozialer Systeme also als Kommunikation reaHsiert werden und wird daher nur in der jeweils aktuellen Gegenwart benutzt und reproduziert. Es kann weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft des Systems operieren, kann also keinesfalls in die Vergangenheit hinabtauchen, um dort etwas zu suchen und heraufzuholen. (Luhmann 1995b, S. 44)

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Gedachtnis entsteht erst, wenn die Selbstreproduktion eines Systems bereits eingesetzt hat; die vermeintliche Vergangenheit, die es erianert, ist also nicht die jfaktische' Vergangenheit des Systems (Luhmann 1997, S. 583). Vielmehr ist es ein „Nebenprodukt" der normalen Operationen eines selbstreferentiellen Systems. Kommunikationen treffen Unterscheidungen und geben eine Seite der Unterscheidung an nachfolgende Kommunikationen weiter, wahrend die andere Seite der Unterscheidung verloren geht. Gedachtnis entsteht, indem derartige Kommunikationen wiederholt aneinander anschlieBen, wobei sie die eine Seite der Unterscheidung fortlaufend aktualisieren und die andere dem Verges sen libergeben. Das dabei entstehende Gedachtnis sichert zum einen eine als Vergangenheit ,erinnerte' „Realitat" eines Systems und dient dabei zum anderen durch das Verges sen, das seine zweite wichtige Funktion darstellt, der Entlastung. Drittens reduziert es Komplexitat, indem es durch die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft fur die Zukunft nur Variationen innerhalb der als Vergangenheit bezeichneten Seiten von Unterscheidungen bereitstellt, also „Konsistenz" sichert (Luhmann 1997, S. 579-584, 1995b, S. 44). Luhmann nennt dies das „laufende Reimpragnieren von kommunikativ brauchbarem Sinn" (Luhmann 1997, S. 584). Alle Gesellschaften benutzen Formen von Gedachtnis, aber erst moderne Gesellschaften entwickeln eine Vorstellung von der Bedeutung, die das Gedachtnis fur sie hat, und diese Vorstellung bezeichnen sie mit dem Begriff „Kultur". Allerdings leistet der Begriff allein — so Luhmann — keine hinreichende Erklarung der damit bezeichneten Funktionen; dies tue erst eine ausgearbeitete Theorie des Gedachtnisse (Luhmann 1997, S. 587f, S. 592, vgl. 1995b). Luhmann selbst erortert in diesem Zusammenhang die Frage, warum moderne Gesellschaften sich des Problems des Gedachtnisses bewusst werden und einen eigenen Begriff — den der „Kultur" — dafiir ausbilden. Er schreibt dies der gesteigerten Komplexitat von Gesellschaften zu, die zugleich mehr erinnern und mehr verges sen miissen und dafiir einen entsprechenden „Sortiermechanismus" benotigen (Luhmann 1997, S. 587f). O b aber der Selbstreflexionsbegriff der Kultur, der die Gedachtnisleistungen einer fortwahrenden Auseinandersetzung iiber Identitat und Legitimitat von Kultur aussetzt, die Komplexitat nicht selbst wieder erhoht, bleibt offen. Im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie sieht Luhmann vor allem das Problem, dass sich die Gedachtnisleistung in modernen Gesellschaften auf die ausdifferenzierten Funktionssysteme der Gesellschaft verlagert und damit eine „gesamtgesellschaftliche Realitatskonstruktion" bzw. Kultur unmoglich wird (Luhmann 1997, S. 59If).

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Kultur undfunktionale Differen^erung Aus den kulturellen Themenvorraten bzw. der „gepflegten Semantik" gehen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien hervor, die den Kristallisationskern selbstreferentieller Funktionssysteme bilden. Ihr autopoietischer Mechanismus ist Kommimikation, die sich auf spezifische „Medien" und „ Codes" stiitzt, anhand deren die Systeme ihre Umwelt unter je eigenen Gesichtspunkten beobachten. Diese „Bcot)achtungen" von Sachverhalten als okonomisches, rechtliches, wissenschaftliches oder asthetisches Problem fuhren wiederu m zu ganz heterogenen Anschlussoperationen. Ein Kultui-Begriff im Sinn einer verbindenden Ordnung hat in Luhmanns Theorie functional differenzierter Systeme somit keinen Platz mehr. Ganz anders als bei Talcott Parsons, der der Kultur die Aufgabe des „latent pattern maintenance", also der Erhaltung latenter, im Moment nicht gebrauchter, aber fiir den potentiellen Gebrauch bereitzuhaltender Muster zuwies, gibt es fiir Luhmann keine Einheit und kein Zentrum der Gesellschaft mehr, die sich in dieser Weise denken lassen (Parsons 1960, 1966, Parsons/Bales/Shils 1953, vgl. Luhmann 1988, 2002, S. 18-40, 1997, S. 586f, Baecker 2004). Funktionale Differenzierung ist vieknehr der spiegelbildHche Prozess zur operativen und selbstreferentiellen SchlieBung und zur Autopoiesis der einzelnen Teilsysteme (vgl. Luhmann 1984, S. 24-29, S. 59-70, S. 296-300, S. 593-646).5 Dementsprechend gibt es auch keinen Ort mehr, von dem aus sich die Gesellschaft als Gesellschaft insgesamt beobachten konnte, wie Luhmann in seinem letzten Hauptwerk ausfiihrlich thematisiert (vgl. Luhmann 1997, S. 866ff). Welchen systematischen Ort konnte der Begriff der Kultur danach weiterhin haben? Luhmanns Theorie funktional differenzierter Gesellschaften zeigt, dass keine ausgesprochenen oder unausgesprochenen Hintergrundannahmen iiber kollektiv ordnende und stabilisierende kulturelle Muster, Strukturen oder Schemata erforderHch sind, u m das Funktionieren komplexer Gesellschaften zu beschreiben. Derartige Annahmen stehen einem Verstandnis der Komplexitat und Dynamik moderner Gesellschaften eher im Weg.

Fa^t: Kultur und A.utopoiesis Die Theorie autopoietischer Systeme bildet ein Ganzes, dessen Teile immer wieder auf andere Teile verweisen. Trotz der terminologischen Distanz lassen

^

Auffallig sind demgegeniiber die Parallelen zwischen Parsons Konzeption des Kultursystems bzw., noch starker, des „fiduciar}^ system" innerhalb des allgemeinen Handlungssystems und Hartmut Essers Definition von Kultur (vgl. Esser 2001, S. 1-2).

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sich — im Sinn der eingangs genannten zweiten Fragerichtung — aus ihr aber Einsichten fur eine Aktualisierung der Kulturwissenschaften gewinnen. Dabei geht es u m die grundsatzliche Auffassung sowohl der kulturtheoretischen Grundbegriffe Sinn und Verstehen als auch von wissenschaftlicher Erkenntnis insgesamt mit Konsequenzen fur Theorie, Empirie und kausale Erklarungen. Zunachst ist das grundsatzlich ahnliche Verstandnis von Wirklichkeit zu nennen, das keine ontologischen Annahmen macht, sondern von Relationen zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis, System und Umwelt, Beobachteter und Beobachtetem ausgeht. Die Welt an sich wird als unendlich und unerschopflich gedacht. Eine Form erhalt sie erst dann, wenn ihr Sinn hinzugefiigt wird, der nicht in ihr liegt, sondern als Ganzes wie im Einzelnen kontingent ist. Die Relationen — die „Werte" im Sinne Webers oder die „Unterscheidungen" bei Luhmann —, die der an sich ungeordneten Welt Ordnung und Sinn verleihen, werden von den alltaglich sinnhaft handelnden Menschen und den sie beobachtenden Wissenschaftlern geteilt. Das ist kein Hindernis der Erkenntnis, sondern ihre Bedingung. Vor diesem Hintergrund lassen sich die eingangs formulierten vier Fragestellungen in Elementen der Luhmannschen Theorie wiederfinden. Erstens wird Kultur nicht als gespeicherte Ordnung und nicht als Einheit verstanden, sondern als Gedachtnis, d.h. als ein auf fortwahrende Aktualisierung innerhalb von Systemen angewiesener Prozess. Und als solcher ist er nicht an ein Gesamtsystem gebunden, sondern voUzieht sich in unabhangigen und selbstbeziiglichen Teilsystemen. Zweitens findet sich bei Luhmann zwar keine Idee einer subjektgebundenen Interpretationstatigkeit, wohl aber eine Konzeptionalisierung von Intentionalitat und perspektivischer Deutung. Er richtet sich zwar gegen einen Subjektivismus und lehnt den Subjektbegriff selbst als eine zu voraussetzungsvoile Annahme iiber die Einheit einer Person ab. In diesem Sinn halt er es nicht fur plausibel, Individuen als die Trager von Handlungen anzusehen. Stattdessen fokussiert er einerseits auf die Selbstreferentialitat psychischer Systeme — als Teilfunktion von Subjekten, in Abgrenzung etwa von ihrem physiologischen System — und andererseits auf die Autopoiesis von Kommunikation in sozialen Systemen. Darin kann man durchaus eine Konzeption von Deutung und IntentionaHtat sehen, denn jedes System kann sich nur auf vorangegangene eigene Unterscheidungen beziehen. Allerdings sind hier wesentHche Einschrankungen zu beachten. Durch die Zerlegung von Subjekten in mehrere Teilfunktionen und die damit implizierte Kritik am Subjektbegriff wird der Begriff der IntentionaHtat relativiert, und an die SteUe nach auBen gerichteter rational-planender Entscheidungen tritt eine primare Selbstbeziigltchkeit. Drittens ersetzt Luhmann den Verstehensbegriff durch die internen Operationen von Systemen. Diese konnen nur an eigene systeminterne Operationen sinnhaft anschHeBen. Von ,auBen' konnen Systeme bestenfalls irritiert

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werden, aber bereits die Unterscheidung von ,innen' und ,au6en', also von System und Umwelt, ist eine systeminterne Operation. Nur innerhalb einzelner sozialer Systeme existieren Kritenen und Mechanismen, die daniber entscheiden, ob eine Kommunikation ,nchtig' an eine andere anschlieBt. An diese Operationen mit der Frage heranzutreten, ob es sich um ,richtiges' oder ,vollstandiges' Verstehen oder um Missverstehen handelt, stellt daher eine drastisch unterkomplexe Fragestellung dar. Verstehen lasst sich nicht von auBen beurteilen und ist fur das Funktionieren von autopoietischen Systemen auch gar nicht erforderlich. Fur ein sinnhaftes Prozessieren ist kein Konsens dariiber notig, ob man sich tatsachlich verstanden hat. Moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass gerade ohne eine solche Harmonic die funktionale Verflechtung ihrer Teile zunimmt. Viertens spielt die zeitliche Dimension von Gesellschaft bei Luhmann eine wesentliche Rolle, und das Konzept der Evolution steht im Zentrum seiner Theorie. Dass er hingegen nicht in einem herkommlichen Sinn historisch argumentiert, ist im Rahmen einer Theorie autopoietischer Systeme nicht verwunderlich. Denn Vergangenheit gibt es nur als jeweilige AktuaHsierung von Vorstellungen iiber die Vergangenheit, nicht aber in dem Sinn, dass eine ,Geschichte' als Geschichte weiterwirken konnte. Damit steht die Theorie autopoietischer Systeme nicht in Gefahr, Kultur in einer naiven Weise mit Herkommen, Ursprung oder Tradition in Verbindung zu bringen, was alles drei eher ideologische InstrumentaUsierungen, aber keine haltbaren Funktionsmodelle von Geschichte bzw. Kultur sind. In alien vier Punkten finden sich gegensatzUche Auffassungen zu Essers Modell soziologischer Erklarung. Besonders deutHch tritt dies auch hinsichtUch der Auffassungen iiber Empiric und kausale Erklarungen zu Tage. Fiir Luhmann hangt jede Form von Beobachtung, auch wissenschaftliche Empiric, von den kontingenten Unterscheidungen ab, die ein beobachtendes System auf seine Umwelt projiziert. Daher Hefern Beobachtungen keine Abbilder einer stabil gedachten Wirklichkeit, sondern sie sind aktive Leistungen eines beobachtenden Systems. Sozial- und Kulturwissenschaften sind Beobachtungen von Beobachtungen und damit wiederum kontingente und selbstreferentielle Operationen. Sie miissen anschlussfahig sein an den Sinn, der bereits innerhalb des beobachtenden Systems prozessiert witd, also beispielsweise innerhalb einer akademischen DiszipHn oder innerhalb des Systems Wissenschaft insgesamt (Luhmann 1990). Und nur unter dieser Voraussetzung lassen sich Ereignisse beispielsweise als Ursachen und Wirkungen beobachten. Denn auch KausaHtat ist nur eine Form der Beobachtung bzw. die Anwendung und Bezeichnung einer Unterscheidung bei einer Beobachtung (Luhmann 1997, S. 577). Dieser Gedanke ist ungeachtet der terminologischen Unterschiede gar . nicht so weit entfernt von Max Webers bereits erwahntem Prinzip der notwendigen Wertbeziehung aUer kulturwissenschaftlichen Forschung: Nur wenn ich

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die kulturelle Wirklichkeit unter einem bestirnmten Gesichtspunkt betrachte, kann ich Zusammenhange als Ursachen und Wirkungen isolieren. Wobei Weber auch hier mit Luhmann die Skepsis hinsichtlich kausaler Erklarungen teilt, etwa wenn er in seinen eigenen empirisch-histonschen Arbeiten zumeist nicht von Kausalitat, sondern von „Verwandtschafts-" oder „Gegensat2"Beziehungen zwischen kulturellen Faktoren spricht (vgl. Kalberg 2001, S. 144165). Der Kontrast zu Essers Anspruch auf erklarende Kausalgesetze tritt hingegen deutlich hervor. Eine weitere Konsequenz ist, dass sich Gesellschaft nicht von auBen und somit auch nicht als Gesamtheit beobachten lasst (Luhmann 1997, S. 576f). Luhmanns Uberlegungen lassen sich als ReformuHerungen zweier kulturwissenschaftHcher Grundeinsichten verstehen. Einmal als Einsicht in die Kulturabhangigkeit aUer kulturwissenschaftHchen Forschung, die Teil eben jener Kultur ist, die sie erforscht: KulturwissenschaftHche Forschung ist notwendig immer auch Selbstreflexion. Und zum anderen als Ausdruck der Reflexivitat, dass jede kulturwissenschaftliche Beschreibung ihren Gegenstand dadurch verandert, dass sie ihn beschreibt und erklart. Doch Luhmann leistet nicht bloB eine Ubersetzung dieses Reflexivitatsproblems in die Terminologie der Theorie autopoietischer Systeme, sondern er macht es zu einem integralen Bestandteil seiner Theorie (Luhmann 1984, S. 9, 1990). Die Luhmannsche Theorie ist immer wieder in ausdnicklicher Entgegensetzung zu kulturtheoretischen oder verstehenden Ansatzen als abstrakt oder gar inhuman dargesteUt worden, weil sie nicht auf die Ebene handekider Individuen rekurriert. An den erorterten Begriffen wie Beobachtung, Kommunikation, Sinn oder Unterscheidung ist verdeutUch geworden, wie dies gemeint ist. Wenn man dieser Abstraktion jedoch den vermeintHch lebenswirkHcheren Begriff der Kultur entgegenhalt, erweist sich dieser naive Gegensatz als fatale Unterstellung. Denn auch der Begriff „Kultur" ist eine Abstraktion und unterstellt eine Sinnhaftigkeit, Einheit und funktionale Beziehung, die die Komplexitat der Welt reduziert, aber er bekennt sich nicht dazu. In Wahrheit ist „Kultur" ebenso wenig greifbar wie die Kommunikation von Systemen. Nach zweihundert Jahren erfolgreich betriebener Sozialwissenschaften hat der Kulturbegriff jedoch Eingang in die aUtagHche Selbstbeschreibung von handelnden Menschen gefunden und dient als Erklarungs- und Rechtsfertigungsmuster und oft auch als poHtisches Werkzeug. Vor allem aber wurde er von Anfang an instrumentaltsiert, um eine koharente Realitat zu behaupten oder zu generieren. Genau in dieser Substantialisierung oder NaturaUsierung Hegen aber auch die Gefahren des Kulturbegriffs, und ihnen tritt das systemtheoretische Denken radikal entgegen. LetztHch bricht es dabei nicht mit alien Fragen der kulturwissenschaftHchen Tradition der Soziologie, sondern aktuaHsiert und forciert deren eigene inteUektuelle Anspriiche.

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Wenn man die Theorie autopoietischer Systeme in dieser Weise als Herausforderung fur den Kulturbegriff begreift, dann liegen einige Schlussfolgejoingen nahe, die in ihren Konsequenzen fur die Kulturtheorie noch nicht absehbar sind. Einerlei, ob man den Begriff der Kultur homogen oder heterogen auffasst, als Ort eines harmonisierenden Wertekonsenses oder eines unlosbaren Konfliktes 2wischen widerspriichlichen Deutxingen und Werten, der grundsatzliche Mechanismus des Verstehens und die Pramisse, dass in der Kultur letztendlich ein Verstehen moglich — und zumindest fur wissenschaftliche Erkenntnisse auch notig — ist, sind unbestrittene Hintergrundannahmen aller gelaufigen Kulturbegriffe. Versucht man hingegen, „Kommunikation" und das „Pro2essieren von Sinn" ohne den Anspruch auf Verstehen zu konzipieren, wie Luhmann dies tut, werden Verstehen und Missverstehen zu gleichwertigen Operationen. Die Leistung der Luhmannschen Konzeption besteht dabei gerade darin, die funktionale Differenzierung von Gesellschaften nicht als Verlust und Zerfall von Kultur und somit als Problem gesellschaftlicher Ordnung und Steuerung zu beschreiben, sondern ein ganz neues Theorieniveau zu erreichen, das die spezifische Komplexitat moderner Gesellschaften besser abbilden kann als iiberkommene Kulturtheorien, seien es nun Theorien kultureUer Ordnung, interpretativer Offenheit oder kultureller Konflikte. Beittage zur Kulturtheorie: vergleichendes Fazit Das „Modell soziologischer Erklarung" und die „Theorie autopoietischer Systeme" gehen auf denkbar unterschiedliche Weise mit den kulturtheoretischen Grundfragen um, die eingangs umrissen wurden. Essers Ansatz blendet den problematischen Horizont dieser Fragen iiberwiegend aus und entscheidet sich fur pragmatische Antworten im Dienst kausalformiger Erklarungen. Im Interesse der Geschlossenheit und praktischen Anwendbarkeit seines Modells muss er dabei unweigerlich einige implizite Annahmen hinsichtlich „kultureller Ordnung" und „Verstehen" unhinterfragt lassen. Luhmann hingegen reformuHert die als Ausgangspunkt des Vergleichs gewahlten kulturtheoretischen Probleme im Rahmen der Theorie autopoietischer Systeme. Dabei legt er eine Reihe impliziter Vorannahmen in Begriffen wie „Kultur", „Sinn" und „Verstehen" of fen und dekonstruiert deren gelaufige Definitionen. Beide hier diskutierten Theoriegebaude beanspruchen, ein koharentes System zu entwerfen und dabei andere Theorien entweder zu integrieren oder als obsolet zu widerlegen, und beide Ansatze stellen wesentliche Fortschritte auch fur die kulturwissenschaftliche Theoriebildung dar — allerdings in entgegengesetzten Richtungen. Esser legt Wert darauf, eine integrative Theorie der Sozialwissenschaften zu entwerfen und ist um eine disziplinare Profilierung der Soziologie bemiiht, wahrend Luhmann auch in anderen Wissenschaften Anlei-

Rolle des Kulturbegriffs bei Esser und Luhmann

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hen macht und umgekehrt mit seiner Theorie autopoietischer Systeme in ganz unterschiedlichen Fachern anregend gewirkt hat. Dahinter steht offenbar auch ein unterschiedliches Verstandnis von disziplinarer Identitat. Essers Ziel ist, die zwei groBen Traditionen der Soziologie zusammenzufuhren: eine verstehendhermeneutische Kulturwissenschaft und eine erklarende, sich an einem — manchmal vereinfachten oder missverstandenen — Ideal von Naturwissenschaften orientierende Gesetzeswissenschaft. Beide Traditionslinien zeichnen sich bekanntermaBen durch weitere Gegensatze aus. Wahrend die kulturwissenschafdiche Tradition auf dem Sondercharakter der kulturellen gegeniiber der natiirlich Wirklichkeit beharrt und damit den Sonderstatus der kulturwissenschaftlichen Metiiodologie begriindet, pocht die nomologische Tradition auf eine einheitliche Methodologie aller Wissenschaften. Dementsprechend sieht die kulturwissenschaftliche Tradition ihre Aufgabe in der Erforschung kultureller Besonderheiten, wahrend die nomologische Tradition das Interesse an allgemeingiiltigen Gesetzesaussagen als Ziel wissenschaftiicher Arbeit sieht. Es ist ohne Frage eine groBe Leistung, mit neuen Argumenten und theoretischen Innovationen den Versuch zu unternehmen, beide Strange zusammenzufiihren. Gleichwohl kann man sagen, dass Esser mit seinem Versuch eben diesen soziologischen Traditionen verhaftet bleibt und aus ihnen heraus argumentiert, nur eben mit einem integrativen Anspruch. Er biirdet sich damit auch die Widerspriiche und Dispute auf, die sich in langen Jahren in der soziologischen Tradition eingenistet haben. Dies ist sicher einer der Griinde fiir viele Missverstandnisse und unbegriindete Abwehrreaktionen gegeniiber dem Esserschen Ansatz. Luhmann bemiiht sich dagegen um einen grundsatzHchen Bruch mit soziologischen Traditionen und bezieht sich fiir seinen Neuansatz eher auf ganz andere DiszipUnen, beispielsweise die Biologic, die Kognitionstheorie oder die Kybernetik. Das macht ihn einerseits teilweise immun gegeniiber iiberkommenen Konfliktlinien, andererseits lasst es aber eine konstruktive, ins Details gehende und sich nicht bloB pauschal abgrenzende Auseinandersetzung mit anderen Theorietraditionen zu einem seltenen Ereignis werden.^ Schon vor der fiir die Soziologie konstitutiven Diskussion u m das Verhaltnis zwischen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft diente der Gegensatz zwischen Natur und Kultur als Definitionsraster des abendlandischen Denkens. Seit jenen Griindungsdebatten ist mehr als ein Jahrhundert vergangen. In dieser Zeit hat sich einerseits die Debatte um den Kulturbegriff immer weiter aufgefachert, andererseits ist es aber wahrscheinHch der Naturbegriff, der in dieser Zeit den groBeren Veranderungen unterworfen war und es vor allem gegenwartig ist. Als Substrat von Wirklichkeit ist „Natur" immer weiter im

Zur Reflexion dieses Problems vgl. Greshoff 1997.

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Thomas Schwietring

Riickzug begriffen, immer tieferreichende Aspekte von Wkklichkeit stellen sich als gedeutet und deutbar, als vom menschlichen Eingreifen, Gestalten oder Bewahren abhangig heraus. Vor diesem Hintergrund ware es lohnend, die im Modell soziologischer Erklarung durchgangig erkennbare Orientierung an einem naturwissenschaftlichen Modell nomologischer Erklarangen einer Grundlagendebatte zu unterziehen. Essers deutliches Pladoyer fur eine solche Orientierung steht letztlich in der Tradition dieser Kultur-Natur-Dichotomie, auch wenn er gerade gegen einen Sonderstatxis der Sozialwissenschaften als Kulturwissenschaften pladiert. Die Systemtheorie beschaftigt sich unterschwellig ebenfalls mit dem Gegensatz von Natur und Kultur, da die Fahigkeit zur Autopoiese nicht nur soziale oder psychische Systeme, sondern auch ,na1:urliche', lebendige Organismen, moglicherweise aber auch chemische Vorgange in unbelebter ,Natur' kennzeichnet. Luhmanns Denken lasst sich allerdings weder v o m Natur- noch vom Kulturbegriff leiten, sondern entwickelt ein neues Abstraktionsniveau, von dem aus auch die Unterscheidung von Kultur und Natur als „alteuropaisch", also als Teil des Problems, nicht als Teil einer Antwort erscheint. Luhmanns Verabschiedung vom Kulturbegriff — wie vom Naturbegriff — ist gerade deshalb weniger konfrontativ als die Essers, weil sie weitaus grundsatzlicher ausfallt. AbschlieBend sollen einige Perspektiven fiir eine weitere theoretische Auseinandersetzung erortert werden. Ein zentraler Reiz des Kulturbegriffs ist seine Reflexivitat. Er bietet einen Ansatz, um sich den Grundproblemen einer Wissenschaft kultureller Wirklichkeit zu stellen, die stets selbst den Bedingungen von Kultur unterworfen ist. D e n n er erhebt die Hinterfragung der eigenen Voraussetzungen und der kulturellen Grundlagen des wissenschaftlichen Tuns als Teil eben jener Kultur, die erforscht werden soil, zum Programm. Der Vorzug von Kultur als „Reflexionsbegriff" liegt dabei gerade in seiner Unbestimmtheit, und seine Leistung besteht darin, sich nicht auf einen Gegenstandsbereich festzulegen, sondern sich in einer reflexiven Bewegung immer wieder auf sich selbst und die eigenen Erkenntnisleistungen zu beziehen^ Dieses reflexive und metatheoretische Moment von Kultur fangt Luhmann u. a. in seinem Begriff einer „Beobachtung zweiter Ordnung" erstaunlich prazise ein, ohne dabei deren Dynamik still zu stellen. Eine derartige paradoxe Denkbewegung ist dem Esserschen Modell soziologischer Erklarung fremd. Seine Vorziige Hegen gerade umgekehrt in der empirisch operationaHsierbaren Fixierung von Handlungs- und Entscheidungs-

Dies ist letztlich auch das Argument Dirk Baeckers, der es pointiert formuliert: „Die Attraktion des Kulturbegriffs liegt, mit anderen Worten, in einer Reflexivitat, die auch sich selber nur sehr bedingt iiber den Weg traut" (Baecker 1996, S. 5). Zu den Selbst-Reflexionsstufen des Kulturbegriffs im 20. Jahrhundert vgl. auch die Einleitung in Helduser/Schwietring 2002.

Rolle des Kulturbegriffs bei Esser und Luhmann

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mechanismen. Dies macht es sehr viel handhabbarer fiir konkrete empirische und auch kultxirsoziologische Fragestellungen als das Luhmannsche System, das einerseits aus den erorterten Gninden einem naiven Begriff von Empirie generell skeptisch gegeniibersteht, sich andererseits aber hinsichtlich der empirischen Anschlussfahigkeit oftmals selbst geniigt. Neben den gewonnenen Differenzierungen ist als libergreifendes Fazit vor allem die Notwendigkeit 2ur Erweiterung und Neukonzeption des Kulturbegriffs festzuhalten. Durch seine systemtheoretische Losung von iiberkommenen Konzepten der Ordnung und des Verstehens sind hierfiir interessante Ansatze gegeben. Die prazise Modellierung kultureller Prozesse Hefert andererseits konkretes methodisches Handwerkszeug, sie schiitzt aber nicht davor, dass sich der soeben erklarend eingefangene Kulturbegriff schon im nachsten AugenbHck auf eine neue Ebene theoretischer Reflexion begibt. Der Vergleich endet daher mit der Aufforderung, nicht vorschnell an die Losung von Problemen zu glauben und die beunruhigende Komplexitat und Offenheit des Kulturbegriffs in beiden Theoriestrangen als Herausforderung anzunehmen.

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Thomas Schwietring

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Rolle des Kulturbegriffs bei Esser und Luhmann

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Zur Integration des Systembegriffs in Hartmut Essers erklatender Soziologie^ Georg Kneer

Hartmut Essers Ansatz einer erklarenden Soziologie nimmt innerhalb der gegenwartigen Theoriediskussion eine auBergewohnliche Position ein. Bemerkenswert ist bereits der Umfang seiner Arbeiten. Nicht nur hierzulande diirfte man wenig Vergleichbares finden, das es mit seinen insgesamt sieben Banden iiber die allgemeinen und speziellen Grundlagen der Soziologie aufnehmen konnte. Flankiert werden die ,Grundlagenschriften' von einer Vielzahl weiterer Monographien sowie Buch- und Zeitschriftenaufsatzen. Auffallend ist ferner die methodologische Geschlossenheit des Ansatzes. Sei es das Phanomen zunehmender Scheidungsraten, sei es das Problem der Unwirksamkeit umweltmoralischer Appelle oder sei es die Frage, warum es in den Vereinigten Staaten keine starke sozialistische Partei gegeben hat bzw. gibt, stets kommt bei der Bearbeitung der verschiedenen Problemstellungen das gleiche Erklarungsinstrumentarium zur Anwendung. Je nach den Besonderheiten des Explanandums wird das zunachst recht einfache Erklarungsmodell, entsprechend dem Prinzip der zunehmenden Abstraktion, mit Komplexitat zwar angereichert, jedoch nicht grundlegend modifiziert oder gar durch ein alternatives Modell ersetzt. Doch weder Umfang noch Geschlossenheit allein machen verstandHch, weshalb dem Konzept der erklarenden Soziologie praktisch eine Ausnahmestellung zukommt. Diese Uegt vielmehr in der deklarierten Absicht des Theorieunternehmens begriindet. Esser erhebt, kurz gesagt, fiir seinen Ansatz weitreichende Universalitdts-, Hegemonie- und Integrationsanspruche. Universalistische Theorien zielen darauf ab, nicht nur Ausschnitte, sondern den gesamten Gegenstandsbereich (hier: des Sozialen) zu erfassen. Esser begreift seine Konzeption dementsprechend als allgemeine So^altheorie. Der Hegemonieanspruch der erklarenden Soziologie basiert auf einem spezifischen Erklarungs- und Wissenschaftsmodell, dem sogenannten Hempel-OppenheimSchema. Danach verlangt die Erklarung eines Phanomens die Anwendung von giiltigen Theorien, die zumindest ein universales Geset^ enthalten. Esser zufolge geht ein GroBteH der konkurrierenden Sozialtheorien liber reine Beschreibungen, Begriffsbildungen, Klassifikationen, Analogien und Orientierungshypothesen nicht hinaus. Aus seiner Sicht handelt es sich dabei um bloBe Scheinerkla-

Ich danke Rainer Greshoff fiir eine Viekahl von Anregungen und konstruktiven Hinweisen.

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rungen, die zwar nicht vollkommen wertlos sind, vieknehr eine wichtige Vorarbeit fur die Formulierung wissenschaftlicher Erklarungen darstellen, damit jedoch nicht zusammenfallen. D e n Vorteil seiner eigenen Konzeption sieht Esser darin begnindet, dass diese mit der sogenannten Wert-Erwartungstheorie einen nomologischen Kern enthalt, der eine streng wissenschafdiche Erklarung ermoglicht. SchlieBlich unternimmt Esser eine Wiederaufnahme des Progranims der Einheit der Soziologie bzw. der Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Sein eigenes Erklarungsmodell begreift er als Vorschlag, „die beachtenswerten Einzelheiten der diversen Paradigmen der Soziologie und einiger Einzelheiten der Okonomie und der (So2ial-)Psychologie" (Esser 1999, S. XVII) zu einer aUgemeinen Konzeption zusammenzufuhren. Aus dieser Sicht stellt sich das Modell der soziologischen Erklarung als „ein wichtiger Schritt bin zu einer ,General Theory of Action"' (Esser 2001, S. XIII) dar, die allenfalls noch den Ausgangspunkt mit dem ,einfachen' Rational-Choice-Ansatz teilt, aufgrund ihrer integrativen Ausrichtung jedoch deutlich dariiber hinaus reicht. Bemerkenswert sind in der Tat die Vielzahl der sozialwissenschaftlichen Theorierichtungen, Schulen und Ansatze, auf die Esser bei der Ausarbeitung seiner Konzeption referiert. Es gibt praktisch keinen Soziologen von Rang, an des sen Einsichten das Modell der soziologischen Erklarung nicht in der ein oder anderen Form ankniipft, wenngleich sich — fast selbstverstandlich — deutHche Unterschiede hinsichtlich der Reichweite der demonstrierten Anschlussfahigkeit ausmachen las sen. Dieser Punkt ware allein schon erwahnenswert. Hinzu kommt jedoch, dass Esser sich bemiiht, auch solche Konzeptionen in sein Theorieunternehmen zu integrieren, die zumindest auf den ersten Blick mit dem Ansatz der soziologischen Erklarung vollstandig unvereinbar zu sein scheinen. Eindrucksvoll lasst sich das am Beispiel der Systemtheorie demonstrieren. Dabei mag zunachst weniger erstaunen, dass Esser der Auseinandersetzung mit der systemtheoretischen Konzeption, sowohl in der Version von Parsons als auch in der von Luhmann, einen breiten Raum gewahrt, zumal er hier eine Reihe von Divergenzen etwa hinsichtlich der gewahlten Grundbegriffe, wissenschaftstheoretischen Pramissen und Forschungsziele benennt.^ Allerdings belasst es Esser nicht bei einer kontrastierenden Gegeniiberstellung. Vieknehr greift er auf verschiedene Theoriebausteine von Parsons und Luh-

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Eine Auseinandersetzung von Essers Modell der soziologischen Erklarung mit der Systemtheorie wird allein schon aufgrund der universalen Theorieanlage nahe gelegt, die beide Paradigmen miteinander teilen. Von Parsons iibernimmt Esser zudem einen weitgehenden Integrationsanspruch. Dagegen wird ein AusschlieBlichkeits- oder gar Uberlegenheitsanspruch von Seiten der S}^stemtheorie, insbesondere bei Luhmann, abgelehnt „]VIit Universalitat ist nur behauptet, dass sich alle Tatbestande, im Falle der Soziologie alle sozialen Tatbestande, systemtheoretisch interpretieren lassen. Damit ist nicht gesagt, dass Systemtheorie die einzig mogliche oder die einzig richtige soziologische Theorie sei und dass andere Soziologen im Irrtum seien, wenn sie sich ihr nicht anschlieBen." (Luhmann 1971, S. 378)

Zur Integration des Systembegriffs in Hartmut Essers erklarender Soziologie

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mann zuriick und integriert sie in seine Konzeption. Seine Ausfuhningen etwa beziiglich der kultxirellen Rahmung der Situation mittels Codes bzw. binarer Schematismen oder der (partiellen) Eigendynamik sozialer Prozesse verdanken sich, wie Esser (2005) ohne Umschweife eingesteht, einer — wenngleich auBerst selektiven — Rezeption systemtheoretischer Annahmen und Auffassungsweisen. Das auffallendste Merkmal dieser Anleihe einzelner Elemente des systemtheoretischen Theorienbaukastens diirfte seia, dass das Model! der soziologischen Erklarung explizit den Begriff des Systems aufgreift und an prominenter Stelle verwendet. (Richtiger ware es freilich zu sagen, wie ich noch deutlich zu machen versuche, dass Esser nicht den Systembegriff, sondern den Terminus des Systems ubernimmt.) Allein schon aufgrund der integrativen Offnung des Modells der soziologischen Erklarung gegeniiber der Systemtheorie ergeben sich somit eine Reihe von Kontaktpunkten (vgl. Esser/Luhmann 1996). Aus diesem Grunde erweist sich auch die libliche Etikettierung der beiden Ansatze mittels oppositioneller Begriffspaare, etwa Handlungstheorie versus Systemtheorie oder Mikrotheorie versus Makrotheorie, als unzulassige, unterkomplexe Darstellung. Im Folgenden werde ich Essers Versuch, einzelne Module der Systemkonzeptionen von Parsons und Luhmann in seinen Ansatz zu integrieren, genauer nachgehen. Ziel ist also nicht, das sei ausdriicklich gesagt, ein Vergleich des Modells der soziologischen Erklarung mit der Systemtheorie. Vielmehr geht es ausschlieBlich um die Frage, inwieweit es Esser gelingt, die Anleihen, die er bei der soziologischen Systemtheorie vornimmt, in seinen Erklarungsansatz auf iiberzeugende Weise einzubauen, wobei ich mich, schon aus Raumgriinden, auf einige wenige, m.E. jedoch zentrale Gesichtspunkte konzentriere. Im Vordergrund steht, entsprechend der Ausrichtung des vorliegenden Bandes, somit der Integrationsanspruch Essers (allerdings werde ich am Ende des Beitrags auch naher auf den Hegemonieanspruch eingehen und den Universalitatsanspruch zumindest kurz ansprechen). Wie ich dabei genauer zeigen mochte, sind an den Import systemtheoretischer Uberlegungen in das Modell der soziologischen Erklarung eine Reihe von offenen Fragen und ungelosten Problemen gekniipft. Zwar ist rich tig, dass Esser sich mit der Systemtheorie vor allem in seinen Einfiihrungs- und Lehrbiichern auseinandergesetzt hat, die schon aufgrund ihrer didaktischen Zielrichtung eine stark komplexitatsreduzierende Darstellungsform und somit auch, zumindest in gewissem MaBe, terminologische Unscharfen nahe legen. Das allein kann jedoch die Vielzahl an theoretischen und begrifflichen Unklarheiten, Inkonsistenzen und Systematisierungsdefiziten nicht rechtfertigen, die sich in Essers Auseinandersetzung mit der Systemtheorie finden, vor allem dann nicht, wenn man sich als MaBstab an den von ihm angegebenen Anspnichen orientiert. Im Einzelnen werde ich folgendermaBen vorgehen. Zunachst thematisiere ich Essers (partielle) Ubernahme bzw. Integration des systemtheoretischen

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Begriffsinstrumentariums in sein Modell der soziologischen Erklarung. Dabei wird vor allem von Interesse sein, ob und inwieweit die von der soziologischen Systemtheorie vorgetragene These einer Trennung von sozialen und psychischen Systemen mit Essers Ausgangsannahmen kompatibel ist (1). AnschlieBend gehe ich naher auf Essers dreigliedrige Systemlypologie ein, wobei insbesondere seine konzeptionelle Beschreibung kultureller Systeme von Interesse sein wird (2). Es folgt eine Auseinandersetzung mit dem Hegemonieanspruch, den Esser gegeniiber der soziologischen Systemtheorie sowie eine Vielzahl weiterer sozialwissenschaftlicher Theorieansatze erhebt (3). A m Ende steht ein kurzer Ausblick (4),

1 Methodologischet Individualismus und Systemtheorie Das Modell der soziologischen Erklarung lasst sich dem Forschungsprogramm des methodologischen Individualismus zuordnen. Damit ist eine Perspektive gemeint, die aUe sozialen Sachverhalte ohne Ausnahme, also etwa auch kollektives Handeln, auf das Handeln individueller Akteure zuriickfuhrt. Begriindet wird diese ,individuaHstische' Herangehensweise damit, dass sich aUgemeingiiltige GesetzmaBigkeiten nicht auf der sozialen Makroebene, sondern aUein auf der individuellen Mikroebene auffinden lassen. Das Forschungsziel des Ansatzes Uegt gleichwohl in der leistungsfahigen Erklarung sozialer Makrosachverhalte. Insofern nimmt das Modell der soziologischen Erklarung eine Kombination von makro- und mikrosoziologischen Zugangsweisen vor. Das Explanandum befindet sich auf der kollektiven Ebene, die individuelle Ebene stellt einen Bestandteil des Explanans dar. Hieraus resultiert eine insgesamt dreigliedrige Erklarungslogik, bei der die Anwendung einer allgemeinen Mikrotheorie aUein den mittleren Schritt bildet. Im ersten Erklarungsschritt (Logik der Situation) geht es u m die Rekonstruktion der sozialen Situation, in der sich die Akteure befinden. Dieser Schritt verkniipft die Makroebene mit der Mikroebene: In Form sogenannter Briickenhypothesen wird dabei eine Verbindung zwischen den objektiven Bedingungen der Situation (materielle Opportunitaten, institutionelle Regeln, kultureUer Bezugsrahmen) und den subjektiven Perspektiven der Handelnden (Wahrnehmungen, Erwartungen, Bewertungen) hergestellt. Bei den Briickenhypothesen handelt es sich nicht um universale Aussagen mit allgemeiner Geltung, sondern um theoretische Konstrukte mittlerer Reichweite, da in ihnen stets historisch spezifische Angaben iiber die konkrete Situation sowie iiber subjektive Motive und Wissenselemente einflieBen. Im zweiten Schritt {lj)gik der Selektion) werden dann das Handeln bzw. die individuellen Effekte des Handekis erklart. Dabei wird eine Mikro-Mikro-Verbindung zwischen den Akteuren einerseits, den gewahlten Handlungen andererseits hergestellt. Esser zufolge verlangt dieser Erklarungsschritt die Angabe einer allgemei-

Zur Integration des Systembegriffs in Hartmut Essers erklarender So^iologie

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nen Handlungstheorie, die zumindest eine nomologische Kegel enthalt. In seinem Modell der soziologischen Erklarung wird diese Funktionsstelle durch die sogenannte Wert-Erwartungstheorie besetzt. Diese besagt, vereinfacht formuliert, dass ein Akteur genau diejenige Handlimgsalternative wahlt, aus der — nach Auffassung des Handelnden — eine Maximierung des (subjektiv) erwarteten Nutzens resultiert. Der dritte und letzte Erklarungsschritt (lj)gik der Aggregation) besteht in der Formulierung von (konkreten bzw. fallspezifischen) Transformationsregeln, die angeben, wie sich die individuellen Handlungen bzw. Handlungseffekte zu kollektiven Phanomenen verkniipfen. Hierbei wird eine MikroMakro-Verbindung hergestellt, also eine (neu konstituierte) kollektive Situation und damit das eigentlich in teres sierende soziologische Explanandum als aggregierende Transformation der individuellen Handlungsfolgen beschrieben. Die Grundidee des damit kurz dargestellten dreigliedrigen Modells der soziologischen Erklarung, das Esser zunachst von Coleman (1995) libernimmt, im Rekurs auf verschiedene soziologische Theorietraditionen jedoch betrachtlich erweitert, bildet die sogenannte Tiefenerkldrung kollektiver Sachverhalte, bei der die Emergenz der Makrophanomene mit Hilfe kausaler und logischer Argumente als (zumeist unintendierter) Effekt individueller Handlungen beschrieben witd. Die anfangHche Ausarbeitung dieser Erklarungskonzeption folgt, wie angedeutet, ausschlieBlich den Pramissen des methodologischen Individualismus. Auch witd auf eine Ubernahme der systemtheoretischen Begrifflichkeit zunachst verzichtet, wenngleich Esser (ebenso wie iibrigens auch Coleman) mitunter den Terminus des sozialen Systems zur Bezeichnung gesellschaftlicher Makrophanomene heranzieht, Im Zuge seiner (fortgesetzten) Rezeption der Arbeiten von Parsons und Luhmann nimmt Esser hier jedoch eine auffallende Modifikation vor. Er macht sich namlich daran, das Modell der soziologischen Erklarung in die Begriffssprache der Systemtheorie zu libersetzen. Einen deutlichen ,Wendepunkt* markiert in dieser Hinsicht Essers Schrift liber die Konstruktion der Gesellschaft, also der zweite Band seiner Speziellen Grundlagen der Soziologie (Esser 2000a, vgl. jedoch auch, gewissermaBen als Vorarbeit, Esser 1994). Esser bedient sich hier in betrachtHchem Umfange der systemtheoretischen Terminologie. Im Einzekien unterscheidet er mit dem sozialen, psychischen und kulturellen System zwischen drei Systemtypen. An dieser Konzeption wird Esser dann auch in seinen nachfolgenden Arbeiten festhalten. Ich gehe zunachst naher auf seine Begriffs fas sung von sozialen und psychischen Systemen ein, um die Reformulierung des Makro-Mikro-MakroZusammenhangs mit Hilfe des systemtheoretischen Vokabulars zu erlautern. Unter sozialen Systemen, so lasst sich in einer ersten Annaherung sagen, versteht Esser den ouverten Ablauf der Reproduktion oder Veranderung typischer sozialer Situationen (vgl. Esser 2001, S. 499). Mit dem Begriff des psychischen Systems bezeichnet er die Identitaten der Akteure, insbesondere ihre itn Gedachtnis gespeicherten mentalen Modelle fur die Orientierung und das Han-

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deln in typischen Situationen (vgl. Esser 2000a, S. 35). Aus der Sicht von Esser sind soziale Systeme somit im Makro-Bereich, psychische Systeme dagegen kn Mikro-Bereich situiert. Diese Zuordnung ermoglicht es ihm, den zunachst mit handlungsdieoretischen Begriffen erlauterten Makro-Mikro-Makro-Zusammenhang mit dem Vokabular der Systemtheorie zu reformulieren, namlich als Konfiguration von sozialen und psychischen (sowie kulturellen) Systemen 2u beschreiben.^ D e m Gesagten ist hinzuzufugen, dass Esser selbst vermutlich gar nicht von einem ,Wendepunkt' sprechen wiirde. Er begreift die Ubernahme der systemtheoretischen Begrifflichkeit in sein Modell der soziologischen Erklarung weniger als Paradigmenwechsel, sondern zunachst als einfache terminologische Erweiterung bzw. Ubersetzung mit dem Ziel, die Anschlussfahigkeit seiner Erklarungskonzeption auch an die Begriffssprache der Systemtheorie zu demonstrieren. Deshalb legt er Wert auf die FeststeUung, dass sich mit dem Einbau der systemtheoretischen Terminologie die konzeptionellen Grundlagen seines Erklarungsmodells nicht gewandelt haben. Insbesondere halt er an dem Anspruch einer Tiefenerklarung sozialer Sachverhalte fest, die den Pramissen des methodologischen Individualismus folgt und in deutHchem Gegensatz zu den Grundannahmen der Systemtheorie steht. Das besagt, dass in seinem (erweiterten) Modell der soziologischen Erklarung soziale Systeme, anders etwa als bei Luhmann, iiber keine strikte Eigenlogik verfiigen."^ Soziale Systeme sind, so Esser, keine operierenden Instanzen, die Handlungen bzw. Kommunikationen autopoietisch hervorbringen.^ Trager des Geschehens sind in seiner Sicht

Eine vollstandige Uberfuhrung des handlungstheoretisch beschriebenen Makro-Mikro-MakroZusammenhangs in eine systemtheoretisch formulierte Konfiguration der Ko-Konstitution von sozialen, kulturellen und psychischen Systemen ist allerdings auch nach Ansicht von Esser nicht moglich — aUein schon deshalb nicht, weil nicht alle kollektiven Phanomene sich als soiiiale S)^steme begreifen lassen. Esser weist zu Recht darauf hin, dass kollektive Aggregate von unverbundenen Akteuren mit ahnlichen Eigenschaften, also die sogenannten sozialen Kategorien, keine soi^ialen Systeme bilden, weil in diesem Falle „das Handeln der beteiligten Akteure eben nicht aneinander anschJieBt" (Esser 2004a, S, 275). Unerwahnt bleibt bei Esserfireilich,dass sich auch in der Sprache der Systemtheorie soi^iale Kategorien bzw. unverbundene Akteurskonstellationen erfassen lassen, zwar nicht als soziale Systeme, sondern als Attributionseinheiten. Eine partieUe Eigendynamik bzw. Eigenlogik sozialer Systeme schlieBt auch Esser (2000a, S. 361 ff), genauer formuliert, nicht aus. Allerdings legt er Wert auf die FeststeUung, dass die (partielle) Eigenstandigkeit sozialer Systeme ein indirektes, zumeist nicht intendiertes Aggregationsergebnis der Folgen individueller Handlungen darstellt Insofern wird der Anspruch einer Tiefenerklarung nicht preisgegeben. Essers Rekonstruktion der Theorie autopoietischer Systeme von Luhmann suggeriert mitunter die (irrefiihrende) Auffassung, dass hier eine vollstandige Autarkic sozialer Systeme untersteUt wird. Dem ware entgegen zu halten, dass aus Sicht von Luhmann autopoietische, selbstreferentielle Systeme zwar vollstandig autonom, jedoch eben nicht autark sind. Autopoiesis meint fiir Luhmann also keine creatio ex nihilo, keine Erschaffung aus dem Nichts, sondern Reproduktion der Elementareinheiten auf der Basis eines bereits existierenden materielkn und energetischen Unterbaus. Anders gesagt: Auch autopoietische Systeme verfiigen keineswegs iiber samtliche Ursachen, die zur Selbst-

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allein die Akteure bzw. psychischen Systeme, die zwischen Handlungsalternativen selegieren und Handlungen ausfiihren. Die Akteure lassen sich somit, wie Esser (2000a, S. 33) metaphorisch formuliert, als der Motor des nutzenorientierten Handelns begreifen, die sozialen Systeme stellen dagegen lediglich den gesellschaftlichen Ort der Nutzenproduktion dar, an dem sich die aggregierten Wirkungen der Handlungseffekte beobachten lassen. Um eine Formulierung von Greshoff (2003) aufzugreifen: In Essers Erklarungskonzeption hangen die sozialen Systeme operativ vollkommen am Tropf der psychischen Systeme. Bei sorgfaltiger Priifang stellen sich allerdings erhebliche Zweifel eia, ob sich die systemtheoretische Begrifflichkeit, die Esser aufgreift, konsistent in sein Modell der soziologischen Erklarung einbauen lasst. U m diesen Eiawand naher zu erlautern, gilt es seine Beschreibung der Konfiguration von psychischen und sozialen Systemen naher zu betrachten. Esser bedient sich bei seiner Darstellung zweier Grundannahmen, die er ebenfalls direkt von Parsons und Luhmann iibernimmt. Er betont, erstens^ dass es sich bei psychischen und sozialen Systemen u m strikt getrennte Einheiten handelt, die fureinander Umwelt bleiben. Zugleich legt er Wert auf die Feststellung, dass die verschiedenen Systemtypen, f^eitens, fortlaufend aufeinander angewiesen sind, somit in einem Verhaltnis der wechselseitigen Ko-Konstitution stehen (vgl. Esser 2001, S. 501). Wichtig fur die weiteren Uberlegungen ist die zuerst genannte Grundannahme, also die Auffassung einer Trennung psychischer und sozialer Systeme (wenngleich bei Esser mit Trennung keine operative Trennung gemeint ist). Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil diese Auffassung zugleich ein bestitnmtes Verstandnis des — mit den Begriffen Essers — Mikro-MakroZusammenhangs nahe legt: Die Akteure und damit die psychischen Systeme agieren nicht innerhalb des Sozialsystems, sondern sind in dessen Umwelt situiert. Insofern wird auch der Zusammenhang von Mikrobereich und Makrobereich nicht als Relation von Teil und Ganzem beschrieben, sondern als das Verhaltnis von unterschiedlichen Systemen, die sich nicht iiberschneiden (vgl. Esser 2000a, S. 53f). Die Mikroebene stellt keinen Teil der Makroebene dar, bildet hiervon keinen Ausschnitt. Ich lege deshalb so viel Wert auf diese Feststellung, weil m.E. eine solche Auffassung in einem deutlichen Widerspruch zu den Pramissen steht, von denen Essers Modell der soziologischen Erklarung ausgeht, also den Grundannahmen des methodologischen Individualismus, wie sie etwa von Weber oder Popper formuliert worden sind. Aus der Sicht von Esser bestehen namlich weitgehende Parallelen zwischen seinem Modell der soziologischen Erklarung und der Konzeption des erklarenden Verstehens von

produktion erforderlich siad. Insofern sind auch soziale Systeme von bestknmten Umweltbedingungen abhangig, insbesondere bleiben sie auf ps)^chische Systeme als notwendige Umweltvoraussetiiung angewiesen.

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Weber bzw. der Situationslogik Poppers. Das mag zwar weitgehend stimmen, richtig ist jedoch auch, dass in der Theorietradition des methodologischen Individualismus das Verhaltnis von handelnden Akteuren und sozialen Gebilden auf eine Art und Weise beschrieben wird, die deutlich von Essers systemtheoretischer Darstellung abweicht. Weber etwa hatte sich eindeutig dagegen ausgesprochen, die Akteure aus dem Zentrum in die Umwelt des Sozialen zu vertreiben. Fiir ihn sind die Handelnden innerhalb und nicht auBerhalb des sozialen Geschehens positioniert; genau deshalb begreift seine verstehende Soziologie ja auch das Einzelindividuum (einschlieBlich seiner Handlungen bzw. individuellen Handlungseffekte) als die unterste, atomare Einheit, als das Letztelement des Sozialen (vgl. Weber 1988, S. 439). Die Annahme einer Trennung psychischer und sozialer Einheiten ist mit der Theoriekonzeption von Weber (und ebenso von Popper) schlichtweg unvereinbar. Die vorstehenden Uberlegungen richten ihren Fokus auf die fragwiirdige, u m nicht zu sagen: widerspriichliche Art und Weise, in der Esser mit dem methodologischem Individualismus und der Systemtheorie zwei unterschiedliche soziologische Theorietraditionen zusammenfuhrt. Meine Kritik richtet sich, anders gesagt, unmittelbar gegen den Integrationsanspruch des Modells der soziologischen Erklarung. Dabei mochte ich diesen Einwand ausdriicklich nicht als Wiederaufnahme des alteren Eklektizismusvorwurf verstanden wissen. Nichts spricht zunachst dagegen, einzelne Uberlegungen bzw. Konzepte aus unterschiedlichen Paradigmen aneinander anzuschlieBen, zumindest dann nicht, wenn sich die etnzelnen Bausteine in theoretisch und begrifflich liberzeugender Weise zusammenfugen lassen. Dass Letzteres auch Esser gelingt, mochte ich jedoch in Abrede stellen. Bei dem methodologischem Individualismus und der Systemtheorie handelt es sich um zwei divergierende soziologische Paradigmen, die sich u.a. dadurch unterscheiden, dass die beiden sozialtheoretischen Denkmodelle das Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft, psychischen und sozialen Einheiten auf voUkommen abweichende Weise voneinander beschreiben. Ausgehend von den Pramissen des methodologischen Individualismus legt sich Esser zunachst auf eine Forschungsperspektive fest, bei der die handelnden Akteure als (nicht ablosbarer) Bestandteil des Sozialen begriffen werden — ohne dass dies von ihm, etwa bei seiner Rekonstruktion der Ansatze von Weber und Popper, auch expUzit reflektiert wird. In Parenthese sei aUerdings hinzugefugt, dass die Mikro-Makro-Terminologie, die er verwendet, zumindest indirekt ein derartiges Verstandnis nahelegt, da mit dem Mikrobegriff in der Kegel ein kleiner Ausschnitt aus dem Makrobereich bezeichnet wicd. Zu diesem Ausgangspunkt steht Essers spatere Ubernahme der systemtheoretischen Begrifflichkeit, die psychische und soziale Entitaten als getrennte Einheiten begreift, in einem deutlichen Gegensatz. Dass Esser hier zwei unterschiedliche Denkmodelle auf wenig konsistente Weise miteinander kombiniert, witrd deutlich, wenn man sich genauer anschaut.

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wie er den Begriff des Sozialen verwendet. Esser bezeichnet, so meine These, mit dem Terminus des Sozialen zwei deutlich voneinander abweichende Sachverhalte, ohne dass er selbst die Unvereinbarkeit der beiden Begriffsfassungen bemerkt hatte. Die beiden unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs des Sozialen spiegeln m.E. die beiden angesprochenen Theorietraditionen des methodologischen Individualismus und der Systemtheorie wider (auch wenn Esser bei beiden Begriffsfassungen des Sozialen eine systemtheoretische Terminologie verwendet). Auf der einen Seite behauptet er, dass „so2iale Systeme notwendigerweise Mehrebenen-Systeme mit (mindestens einer Mikro- und einer Makro-Ebene" (Esser 2000a, S. 59) sind. Der Begriff des Sozialen bezeichnet hier das iibergreifende Ganze, ein sogenanntes Mehrebenen-System, das neben einer Makro-Ebene zugleich als einen (notwendigen) Bestandteil eine Mikro-Ebene, also die handelnden Akteure, heinhaltet. Mit dieser Begriffsverwendung folgt er den Annahmen des methodologischen Individualismus. Auf der anderen Seite begreift er, wie angedeutet, soziale und psychische Systeme als getrennte Einheiten. Offenbar dient der Begriff des Sozialen bei dieser zweiten Fas sung nicht langer zur Bezeichnung eines iibergreifenden Geschehens. Vielmehr gilt das Soziale nun ausschlieBlich als ein spezifischer Systemtypus. Entsprechend werden die psychischen Systeme auch nicht langer als Teil des Sozialen begriff en, sondern als Teil der Umwelt des Sozialen. Allein mit dieser zweiten Begriffsverwendung macht sich Esser, auch wenn er bei beiden Begriffsbestimmungen die systemtheoretische Terminologie verwendet, die konzeptionellen Pramissen der Systemtheorie zu eigen. Esser selbst scheint, wie angedeutet, nicht bemerkt zu haben, dass die beiden Begriffsverwendungen in deutlichem Widerspruch zueinander stehen. Vielmehr bedient er sich iiber weite Passagen in seinen allgemeinen und speziellen Grundlagen der Soziologie der beiden (letztlich inkompatiblen) Verwendungsweisen. Ein praziser Begriff des Sozialen lasst sich auf diese Weise nicht gewinnen. Die Schwierigkeiten, in die sich Esser bei seinem Versuch verstrickt, mit dem methodologischen Individualismus und der Systemtheorie zwei divergierende Paradigmen umstandslos zusammen zu bringen, machen sich noch in einer weiteren Hinsicht bemerkbar. Dieses Mai betreffen die Probleme nicht den Begriff des Sozialen bzw. des sozialen Systems, sondern den des psychischen Systems. Esser verwendet, so meine These, auch den Begriff des psychischen Systems, ahnlich wie den Begriff des sozialen Systems, auf eine zweifache Weise, ohne dass die beiden Begriffsfassungen deckungsgleich oder iiberhaupt miteinander vereinbar waren. Die erste Begriffsfassung orientiert sich an den Pramissen der Handlungstheorie, die zweite Fas sung dagegen an den Annahmen der Systemtheorie — wenngleich Esser wiederum bei beiden Begriffsverwendungen auf eine systemtheoretische Terminologie zuriickgreift. D e n (keineswegs unproblematischen) Ausgangspunkt der zwei Verwendungsweisen bildet die Annahme, dass sich der Begriff des handelnden Akteurs weit-

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gehend mit dem Begriff des psychischen Systems libersetzen lasst. Bei der ersten Begriffsfassung wird die begriffliche Angleichung von Akteuren und psychischen Systemen nun damit begriindet, dass sich auch das Modell der soziologischen Erklarung nicht fur die ,volle' Handlungsfahigkeit und Korperlichkeit der Akteure interessiert. „Die Akteure konnte man gleichwohl wegen ihrer bloBen Funktion als dieoretische Konstrukte in dem Erklarungsargument auch jpsychische Systeme* nennen, und man kann und wird sie daher (...) keineswegs in ihrer vollen Subjektivitat und Leiblichkeit erfassen." (Esser 2004a, S. 273) Der Terminus des psychischen Systems wird nicht zur Beschreibung konkreter Akteure, sondern generell zur Bezeichnung der ,Trager* sozialer Systeme, die in typischen Situationen handeln, herangezogen; hierbei abstrahiert der Begriff, wie gesehen, von der subjektiven und korperlichen Gesamtheit des Handelnden. Dieser Darstellung ware hinzuzufiigen, dass der Begriff des psychischen Systems, wie ihn Esser zunachst verwendet, von der Handlungsfahigkeit und Leiblichkeit des Akteurs keineswegs f^r Gdn^e absieht. Die Redeweise von einer Nicht-Beriicksichtigung der ,vollen' Subjektivitat und LeibHchkeit besagt ja im Umkehrschluss, dass bestimmte Aspekte der Handlungsfahigkeit und Korperlichkeit durchaus Beriicksichtigung finden. Der Begriff des psychischen Systems bezeichnet nicht den (mit Geist und Korper ausgestatteten) Handelnden in seiner Gesamtheit, sondern verweist lediglich auf selektive Ausschnitte seiner Subjektivitat und LeibHchkeit, die in der jeweiligen Situation, in der er handelt, relevant sind. Diese erste Begriffsfassung des psychischen Systems folgt, wie angedeutet, handlungstheoretischen Annahmen. Bei psychischen Systemen handelt es sich aus der Sicht von Esser zwar nicht um konkrete Akteure, jedoch um abstrakte Akteure, die mit der grundsatzHchen Fahigkeit ausgestattet sind, aktiv in die Welt einzugreifen und dort mit ihrer korperlichen Aktivitaten kausale Effekte auszulosen.^ Wichtig ist dabei zu sehen, dass diese Auffas sung von einem

^

Gegen diese Lesart konnte vorgebracht werden, dass Esser sich mit der Verwendung des Begriffs psychischer Systeme von einer akteurstheoretischen Sichtweise verabschiedet, weil im handlungstheoretischen Paradigma mit dem Begriff des 7\kteurs konkrete Einheiten, namlich individuelle, korperlich handekide Menschen (und keine Ausschnitte des Menschen) gemeint sind. Dieser Einwand vermag jedoch nicht zu iiberzeugen. Esser verwendet selbst die Begriffe des ps)xhischen Systems und des Akteurs weitgehend synonym, nicht zuleti^t, weil in seiner Sicht psychische Systeme als Trager sozialer Systeme iiber zwei entscheidende Kompetenzen verfiigen, die iiblicherweise mit dem Begriff des Akteurs in Zusammenhang gebracht werden, namlich intentionale Handlungen zu planen bzw. selektiv auszuwahlen und (anschlieBend) korperlich-aktiv auszufiihren. Hinzu kommt, dass auch der Akteursbegriff klassischer Handlungstheorien von der subjektiven und leiblichen Gesamtheit des Handekiden abstrahiert, insbesondere wird von seiner materiellen Korperlichkeit abgesehen - „explizit tritt der Korper in den meisten Handlungstheorien iiberhaupt nicht auf (Joas 1992, S. 245). Man konnte grundsatzlich fragen, ob und inwieweit sich mit den Mitteln der Akteurstheorie iiberhaupt eine weitergehende Beriicksichtigung der Korperlichkeit des Handekis bewerkstelligen lasst — neuere Theoriearbeiten von Bourdieu bis de Certeau, von Giddens bis Butier, die genau daran interessiert sind, orientieren sich dann auch nicht an den

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systemtheoretischen Begriffsverstandnis deutlich abweicht. Luhmann versteht unter psychischen Systemen (bei Parsons ist bekanntlich nicht von psychischen Systemen, sondern von Personlichkeitssystemen die Rede) autopoietische Einheiten, die in Form eines operativ geschlossenen Bewusstseinszusammenhangs prozessieren. Mit psychischen Systemen sind im Kontext der Theorie selbstreferentieller Systeme somit keine Subjekte, leibliche Menschen oder Handelnde gemeint, auch nicht im Sinne eines theoretischen Konstrukts. Psychische Systeme handeln nicht, sie greifen nicht aktiv in die Welt ein, sondern sie erzeugen in einem operativ geschlossenen Prozess fortlaufend Gedanken bzw. Vorstellungen als ihre nicht weiter auflosbaren Letzteinheiten. Ferner stellen psychische Systeme keine abstrakten, sondern konkrete Einheiten dar. Luhmann (1984, S, 346) spricht kurz von der „Individualitat psychischer Systeme". Zudem bedienen sich psychische Systeme bei ihren Operationen keinerlei korperHcher Prozesse. Der Korper des Menschen, begriffen als lebendes System, operiert aus Sicht der Systemtheorie in der Umwelt des psychischen Systems. Und schHeBHch gelangt die Systemtheorie im Vergleich mit Essers Auffassung zu einer abweichenden Handlungskonzeption. Mit dem Begriff der Handlung bezeichnet Luhmann kein sinnhaftes Verhalten, sondern eine elementare Zurechnungseinheit. Referenzobjekt einer systemtheoretischen Betrachtung von Handlungen sind die Selbstbeobachtungen bzw. Selbstbeschreibungen sozialer Systeme und nicht, wie bei Esser, psychisch-korperliche Aktivitaten. Essers handlungstheoretische Begriffsfassung des psychischen Systems weist, so las sen sich die Uberlegungen zusammenfassen, zahkeiche Unterschiede zu einer systemtheoretischen Begriffsverwendung auf. N u n spricht zunachst sicherHch nichts dagegen, Begriffe neu zu definieren bzw. abweichend zu gebrauchen. Probleme ergeben sich bei Esser jedoch dadurch, dass er den Begriff des psychischen Systems keineswegs einheitUch verwendet. Neben der kurz erlauterten handlungstheoretischen Begriffsfassung findet sich bei ihm auch, wie angedeutet, eine ^eite Fassung, die deutUche Affinitaten zu einer systemtheoretischen Begriffsverwendung aufweist. So spricht er davon, dass psychische Systeme „aus einem fortwahrenden Prozessieren von inneren Aktivitaten — etwa Gedanken, Emotionen, Bewertungen, BewuBtsein" (Esser 2000b, S. 293) bestehen. Bei diesem zweiten Begriffsvorschlag ist allein von inneren Aktivitaten, also von psychischen Prozessen, und nicht langer von auBeren Aktivitaten die Rede — aus dem abstrakten bzw. typischen Akteur, der einen selektiven Gebrauch von seiner Subjektivitat und LeibHchkeit macht, ist unter der Hand ein in seiner reinen Immanenz befangenes Bewusstseinssystem geworden. Einem derartig definierten psychischen System witd man jedoch

Pramissen der klassischen Handlungstheorie, sondern verwenden das (davon deutlich zu unterscheidende) Vokabular einer Theorie sozialer Praktiken (vgl. Reckwitz 2003).

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kaum den Statxis eines Handelnden zusprechen konnen. Genau dies jedoch macht Esser: Er unterschlagt die weit reichenden Unterschiede zwischen den beiden (deutlich voneinander abweichenden) Verwendungsweisen des Terminus psychisches System und ,uberset2t' in fragwiirdiger Weise beide Fassungen mit dem Begriff des Akteurs. Essers Bestreben, sein alteres Makro-Mikro-Makro-Modell ohne Umschweife mit systemtheoretischen Begriffen als Relation von sozialen und psychischen Systemen zu beschreiben, vermag nicht 2u liberzeugen. Die Eins-2uEins-Ubersetzung von methodologischem Individualismus und Systemtheorie, die er vornimmt, verkennt die unterschiedlichen Ausgangsentscheidungen ebenso wie den spezifischen Eigensinn der beiden sozialtheoretischen Paradigmen. Diese Bedenken richten sich, wie gesagt, unmittelbar gegen den Anspruch Essers, systemtheoretische Grundannahmen in sein Modell der soziologischen Erklarung zu integrieren. Von einer weitergehenden, auch inhaltlich iiberzeugenden Verkniipfung der beiden Theorieperspektiven kann nicht die Rede sein, vielmehr begniigt sich Esser zumeist mit einer schlichten Ubernahme der systemtheoretischen Terminologie. Dabei ist nicht zu erkennen, ob und inwieweit an die Aufnahme des Vokabulars der Systemtheorie, das aus der Perspektive des methodologischen Individualismus reinterpretiert und damit zugleich ,entscharft' wird, ein spezifischer Erkenntniszugewinn gekniipft ist. Zudem handelt sich Esser zahlreiche Folgeprobleme ein. Die Ubernahme der systemtheoretischen Terminologie gelingt namlich nicht ohne Briiche. Deutlich wird das an der unklaren und inkonsistenten Begriffsverwendung. Esser bedient sich, wie gesehen, bei der Beschreibung sozialer und psychischer Systeme divergierender Begriffsfassungen. Diese begrifflichen Ambiguitaten und Doppellungen sind m.E. ein unmittelbarer Ausdruck dafiir, dass Esser zwei sozialtheoretische Vokabulare, ohne den zahlreichen Abstimmungsproblemen genauer nachzugehen, in kurzschliissiger Weise miteinander verkniipft.

2 Kultutelle Systemtheorie Neben sozialen und psychischen Systemen berucksichtigt das ModeU der soziologischen Erklarung mit kulturellen Systemen einen dritten Systemtypus (vgl. Esser 2000a, S. 34f). Aus der Sicht Essers kommt Handeln somit durch die Koproduktion aller drei Systeme zustande. Die Unterscheidung der drei genannten Systemtypen erinnert, zumindest auf den ersten Blick, weniger an Luhmann,'^ sondern vielmehr an Parsons, wenn man so sagen will, insbesonde-

"^

Das gilt ^lomindest, so miisste man erganzend sagen, wenn man sich an Luhmanns eigene Auskunft halt, wonach mit sozialen und psychischen Systemen allein zwischen zwei Sinns)^stemen unterschieden und die Eigenstandigkeit eines dritten, kulturellen Systems bestritten wird. Essers

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re an den mittkren Parsons. Dementsprechend findet sich bei Esser auch eine ausfuhrliGhe Auseinanderset2ung mit Parsons' Beitragen aus dem Sammelband jToward a General Theory of Action* (Parsons/Shils 1954), in dem die dreigliedrige Systemlogik eingefuhrt wird (vgl. Esser 2001, S. 5Iff). Eine genauere Rekonstruktion von Essers Systemklassifikation wird freilich zeigen, dass seine Auffassung sich auch deutlich von Parsons' Ansatz unterscheidet. Diese Beobachtung ist selbst zunachst wenig aussagekraftig — schlieBlich betont Esser selbst die weitreichenden Differenzen, die zwischen dem Systembegriff von Parsons und seinem eigenen Systemkonzept (im Rahmen des Modells der soziologischen Erklarung) existieren (vgl. Esser 2001, S. 75ff). Bemerkenswert ist allerdings der Umstand, dass sich Esser bei der Darstellung der drei Systemtypen auBerst divergierender systemtheoretischer Konzepte (sowohl von Parsons als auch von Luhmann) bedient. Um den Einwand vorwegzunehmen: Esser verfugt liber keinen einheitlichen Systembegriff, sondern er beschreibt soziale, psychische und kulturelle Systeme mit unterschiedUchen Systemkonzepten, zudem wechselt er auch bei der Beschreibung eines einzelnen Systemtypus, je nach Kontext, zwischen verschiedenen theoretischen Grundannahmen. Hieraus resultiert eine insgesamt widerspriichUche Gesamtkonzeption. Um diesen Kritikpunkt zu verdeutlichen, gilt es zunachst Essers Begriff des kulturellen Systems zu erlautern. Unter kulturellen Systemen versteht er „die sozial verbreiteten, symbolisierten und sozial mit Geltung versehenen mentalen Modelle der sozial geteilten und symboUsch gekennzeichneten Bezugsrahmen als Teil der sozialen Situation" (Esser 2001, S. 500). Bei diesem Definitionsvorschlag faUt auf, dass kulturelle Systeme gleichermaBen an sozialen und psychischen Systemen ,beteiligt' sind. Esser selbst spricht kurz von einer „Doppelverankerung der kulturellen Systeme in den sozialen Situationen und den individuellen Akteuren" (Esser 2001, S. 501). Als Bestandteil sozialer Systeme handelt es sich bei kulturellen Systemen um Codes und Programme der Nutzenproduktion, die den jeweiligen sozialen Sinn typischer sozialer Situationen definieren, genauer: mittels wahrnehmbarer Symbole markieren. Und als Teil psychischer Systeme handelt es sich bei kulturellen Systemen um die Frames der Orientierung und die Skripte des Handelns, die im Gedachtnis der Akteure abgespeichert sind. Kulturelle Systeme iibernehmen, so Esser, aufgrund ihrer Doppelverankerung eine Art von Bnickenfunktion, sie „vermitteln — sozusagen — zwischen den psychischen und den sozialen Systemen und hel-

,Lektikestrategie' besteht dagegen dariii, das Dreierschema auch in den Schriften von Luhmann nachzuweisen. Hierzu legt er sein Augenmerk insbesondere auf Luhmanns Handlungskonzeption. Aus der Sicht von Esser sind bei Luhmann mit ,Handlungen' eben keine tatsachlichen Eingriffe in die materiale Wek, sondern vorgestellte und tj^pisierte Modelle gemeint, letztUch also kulturelle Gebilde bzw. Systeme, die deudiche Markierungen bereithalten und damit zur gegenseitigen Konstitution von sozialen und psychischen Systeme beitragen (vgl. Esser 1993, S. 505ff, 1994).

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fen ganz betrachtlich dabei, daB die Akteure verlaBlich den jeweils geltenden sozialen Sinn korrekt treffen" (Esser 2000a, S. 35). Ausgehend von dieser Funktionsbestimtnung lasst sich sagen, dass kulturellen Systemen in Essers Systemtypologie ein gewisser Sonderstatus zukommt: Die Behauptung einer weitgehenden Systemtrennung, die Esser am Beispiel sozialer und psychischer Systeme entwickelt, wird auf kulturelle Systeme, streng genommen, nicht libertragen. Jedenfalls werden die Relationen, die kulturelle Systeme zu den beiden anderen Systemtypen unterhalten, mit einer Begrifflichkeit beschrieben, die deutlich von der Konzeption abweicht, mit der das Verhaltnis von sozialen vind psychischen Systemen erlautert wird. Die Beziehung von sozialen und psychischen Einheiten beschreibt Esser, wie gesehen, als Verhaltnis von getrennten, jedoch wechselseitig aufeinander angewiesenen Systemen; im Gegensatz dazu verwendet er bei der Darstellung der Relationen kultureller Systeme zu sozialen und psychischen Einheiten das Konzept der Verankerung bzw. wechselseitigen Durchdringung. Mit dem Gesagten ist zugleich angedeutet, dass sich Esser bei seiner Analyse der Intersystemrelationen divergierender, letztUch unvereinbarer theoretischer Grundannahmen bedient. Die These der vollstandigen Systemtrennung erinnert zunachst an die Position Luhmanns. Dagegen geht die Annahme einer wechselseitigen Durchdringung auf die Uberlegungen von Parsons zuriick, der die Beziehungen bzw. Interdependenzen der verschiedenen Systeme, darauf hat insbesondere Miinch (1982, S. 17ff) nachdriicklich hingewiesen, mit dem Begriff der Interpenetration beschreibt. Im Gegensatz zu Esser ist es fiir Parsons jedoch ausgemacht, dass sich samtUche Intersystemrelationen, also auch die Beziehungen des sozialen Systems und des PersonHchkeitssystems, mit Hilfe des Konzepts der Interpenetration explizieren lassen (vgl. Parsons/Shils 1954, S. 109). Das Problem, dass Esser bei seiner Analyse der Intersystemrelationen auf unterschiedliche theoretische Modelle zuriickgreift, macht sich in seinen Arbeiten ein zweites Mai bemerkbar, und zwar bei der Beschreibung eines prozessualen Geschehens ,oberhalb' der beteiHgten sozialen, kulturellen und psychischen Systeme. Auch hier ist wiederum ein Vergleich mit den Theoriekonzeptionen von Luhmann und Parsons instruktiv. Im Kontext von Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme sind derartige systemiibergreifende Vorgange nicht vorgesehen. Die einzelnen Systeme verschmelzen nicht, sondern operieren vollstandig getrennt. Insbesondere konstituieren die beteiHgten sozialen und psychischen Systeme kein iibergreifendes Gesamtsystem. Damit wird nicht abgestritten, dass das kommunikative und mentale Geschehen wechselseitig aufeinander angewiesen bleibt. Als operativ geschlossene Systeme setzen sich soziale und psychische Einheiten (in ihrer jeweiHgen Umwelt) dau-

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erhaft voraus. Luhmann spricht deshalb kurz von einer Ko-Evolution sozialer und psychischer Systeme.^ Interessanterweise macht sich Esser bei seiner Darstellung des Zusammenhangs von sozialen, kulturellen und psychischen Systemen den zuletzt genannten Begriffsvorschlag zu eigen. Aus seiner Sicht bedingen und erzeugen sich die drei Systemtypen wechselseitig in einem (!) Vorgang der Ko-Konstitution und Ko-Evolution (vgl. Esser 2001, S. 501). Im Gegensat2 zu Luhmann, der den Begriff der Ko-Evolution ausgehend von seiner Auffassung einer voUstandigen operativen Trennung der Systeme verwendet, geht Esser jedoch von der Annahme eines systemiibergreifenden Geschehens aus. So heiBt es bei ihm, dass „das so^ale Geschehen eine Art von wechselseitiger Koproduktion aller drei Systeme ist" (Esser 2001, S. 501, Hervorhebung G. K.). Abgesehen von der weiter oben bereits angesprochenen terminologischen Schwierigkeit, dass der Begriff des Sozialen zunachst nur eines der Teilsysteme, dann aber auch das Gesamtgeschehen bezeichnet, widerspricht diese Uberlegung auch einer Basispramisse der Systemtheorie. Aus systemtheoretischer Perspektive stellen sich samtliche Vorgange und Prozesse ausschUeBHch als Systemgeschehen dar. Die Redeweise von prozessualen Vorgangen ,oberhalb* der sozialen, kulturellen und psychischen Systeme wiirde hiernach die Annahme eines entsprechenden Gesamtsysterns erforderUch machen. Esser macht von seinen Anleihen bei der Systemtheorie keinen konsequenten, sondern nur einen halbierten Gebrauch. Folgerichtiger argumentiert an diesem Punkt Parsons, der die sozialen, kulturellen und psychischen Einheiten als offene, interpenetrierende T(?//systeme eines umfassenden, allgemeinen Handlungssystems begreift.^ Esser hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen. Ebenso wenig hat er den Begriff des Mehrebenensystems, der zumindest einzelne Konnotationen mit Parsons' Begriffsvorschlag teilt, bei seiner Darstellung des Zusammenhangs von sozialen, psychischen und kulturellen Systemen systematisch entfaltet. Neben den genannten Problemen und Unklarheiten ergibt sich aus Essers These der doppelten Verankerung kultureUer Systeme in sozialen und psychischen Systemen eine weitere Schwierigkeit. Die Annahme lasst sich namHch nicht ohne weiteres vereinbaren mit der Auffassung einer weitgehenden Eigenstandigkeit aUer drei Systemtypen. Z u m Problem wird insbesondere die Abgrenzung des kulturellen Systems von den beiden anderen Systemtypen. Mit

Eine genauere Darstellimg der Theorie sozialer Systeme wiirde es erforderlich machen, an dieser Stelle auf Luhmanns Begriff der strukturellen Kopplung einzugehen, Aus Plat^griinden wird hieraufverzichtet Bereits Parsons' fniihe duale Konzeption in ,The Structure of Social Action' (Parsons 1937) geht von der Annahme eines allgemeinen Handlungssystems aus, ebenso folgt auch sein spateres AGIL-Modell, bei dem das Dreierschema aus ,Toward a General Theory of Action' um ein viertes, organismisches System ergani^t wird, dieser Auffassung,

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einer ahnlichen Schwierigkeit sieht sich bereits Parsons konfrontiert. Seine Annahme einer wechselseitigen Durchdringung bzw. Interpenetration der drei Systemtypen macht eine mehr oder weniger trennscharfe Abgrenzung von Sozialem, Kultur und Personlichkeit fraglich, eine derartige Grenzziehung ist jedoch erforderlich, wenn die Redeweise von unterschiedlichen bzw. eigenstandigen Systemen liberhaupt Sinn machen soil. Parsons' Losungsvorschlag besteht bekanntermaBen darin, dass er den drei Systemtypen verschiedenartige Elemente zuordnet. Die konstitutiven Einheiten des sozialen Systems sind in seiner Sicht so^ale Interaktionen und, eine Ordnungsstufe hoher, so^ale Kollen, die des kulturellen Systems Sjmbole und diejenigen des personalen Systems Bedurfnisdispositionen. Ein analoger Losungsvorschlag findet sich bei Esser nicht, eine strenge Systemtrennung auf der Ebene der Systemelemente ist bei ihm nicht vorgesehen. Vielmehr geht er davon aus, dass zumindest das kulturelle System seine Komponenten mit dem sozialen und psychischen System teilt. Als die Elemente des kulturellen Systems bestimmt er namlich die Modelle der Orientierung (Frames) und des Handelns (Skripte), die als solche jedoch zugleich in den beiden anderen Systemtypen vorkommen. Demnach verdanken sowohl die sozialen als auch die psychischen Systeme ihre kognitive, evaluative und expressive Rahmung den kulturellen Systemen, die sie mit Orientierungs- und Handlungsmodellen versorgen. Esser selbst ist der Frage einer (trennscharfen) Abgrenzung kultureller Systeme nicht naher nachgegangen. Vielmehr begniigt er sich mit dem allgemeinen Hinweis, dass kulturelle Gebilde zwischen sozialen und psychischen Systemen vermitteln. Diese Auskunft gibt jedoch keine Antwort, sondern benennt lediglich die angesprochene Problematik. Ungeklart bleibt dabei, ob und inwieweit es sich bei kulturellen Frames und Skripte u m einen eigenstandigen dritten Systemtypus handelt.^^ Diese Unklarheiten hangen damit zusammen, dass Esser darauf verzichtet, seinen Systembegriff, den er verwendet, genauer zu erlautern. Mit dem Verzicht auf die Ausarbeitung eines allgemeinen Systemkonzepts verfugt er jedoch iiber keine Handhabe, in begrifflich praziser Weise zu bestimmen, inwieweit sich kulturelle Gebilde, ebenso wie soziale und psychische Einheiten, als Systeme beschreiben lassen. Klar ist lediglich, dass Luhmanns Begriff des selbstreferentiellen, operativ geschlossenen Systems im Mo-

Eine koni^eptionelle Alternative hatte darin bestanden, kulturelle Frames und Skripte als Kopplungseinrichtungen zu beschreiben, die von sozialen und psychischen Systemen (auf ihre je eigene Weise) konstituiert bzw. in Anspruch genommen werden, ohne dass es dabei zur Einschaltung eines dritten, vermittekiden Systemtypus kommt. In diesem Sinne begreift Luhmann neben der Sprache auch Orientierungs- und Attributions schemata als Mechanismen struktureller Kopplung, ohne aUerdings Kultur insgesamt den Status einer Kopplungsinstanz zuzuweisen.

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dell der soziologischen Erklarung keine Verwendung findet.^^ Eine derartige Systemkonzeption ware auch kaum mit der Auffassung einer Eigenstandigkeit kultureller Systeme 2u vereinbaren, schon deshalb nicht, well das kulturelle Geschehen (auch aus der Sicht von Esser) iiber keine eigene, spezifische Operationsweise verfugt. Diese Uberlegung legt die Schlussfolgerung nahe, dass Esser, ahnUch wie Parsons, vom Systembegriff primar einen analytischen Gebrauch macht. Doch auch eine lediglich analytische Abgrenzung kultureller Systeme von sozialen und psychischen Einheiten ist mit Schwierigkeiten verbunden, zumindest in der Form, in der Esser dies unternimmt. Diese resultieren vor allem daraus, dass in seinem systemtheoretisch reformulierten ModeU der soziologischen Erklarung, anders als in Parsons* Systemkonzeption, genau genommen Kultur gleich an drei ,Orten' positioniert ist: einmal in den kulturellen Systemen selbst, dariiber hinaus auch noch (als integraler Bestandteil) in sozialen und psychischen Systemen. Gerade unter Gesichtspunkten der Theoriearchitektur ergeben sich aus diesem Grund erhebliche Bedenken gegen die Auffassung, kulturellen GebHden, die doch zugleich in sozialen und psychischen Systemen ,vorkommen', den Status eines dritten Systemtyps zuzuweisen. Zudem vervielfachen sich mit der Sichtweise einer dreifachen Positionierung bzw. Verankerung der Kultur die Abgrenzungsschwierigkeiten. Esser sieht sich namlich gezwungen, kulturelle Gebilde auch als Bestandteile von sozialen und psychischen Systeme trennscharf zu markieren, also auch innerhalb der kollektiven Makroebene und der individuellen Mikroebene zwischen kulturellen und nicht-kulturellen Komponenten zu unterscheiden. Wie sich zeigen lasst, tragen seine Ausfiihrungen, mit denen er die beiden zusatzlichen Abgrenzungsprobleme in den Griff bekommen mochte, zu keiner Klarung bei, sondern ftihren umgekehrt zu weiteren Unklarheiten bzw. Widerspriichen. Zunachst gehe ich naher auf das Problem der Identifizierung von kulturellen Bestandteilen innerhalb von so^alen Systemen ein. Entsprechend seiner Ausgangsannahme einer Doppelverankerung kultureller Systeme betont Esser, dass neben den individuellen Akteuren auch iiberindividuelle, kollektive Einheiten ,Trager' kultureller Orientierungs- und Handlungsmodelle sind. Die Kultur bildet, anders formuHert, stets auch eine Komponente der sozialen Situation bzw. sozialer Systeme.^^ Als weitere Bestandteile sozialer Situationen nennt Esser materielle Opportunitdten und institutionelle Kegeln. Die Unterscheidung

Dies gilt zumindest hinsichtlich Essers Beschreibung sozialer und kultureller Systeme. Weniger eindeutig sind seine Ausfiihrungen beziiglich psychischer Systeme, die zuweilen, wie gesehen, deutliche Parallelen zu Luhmanns Auffassung aufweisen. Streng genommen bezeichnet Esser den kulturellen Bezugsrahmen nicht als Teil sozialer Systeme, sondern ausschlieBlich als Teil sozialer Situationen. Die Ausweitung hin auf soziale Systeme, die im Text vorgenommen wird, ergibt sich jedoch als Konsequenz aus seiner Auffassung, dass soziale Systeme nichts anderes darstellen als die fortlaufende Sequenz von sozialen Situationen.

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der genannten drei Komponenten dient offensichtlich der Absicht, Kultur auf einen Sektor innerhalb der sozialen Welt einzugrenzen. Das bedeutet zugleich, dass materielle Restriktionen und institutionelle Gebilde als soziale Bestandteile neben \i77^. jenseits der Kultur bestkntnt werden (ohne dass damit Beziehungen bzw. korrespondierende Verbindungen zwischen den drei Komponenten abgestritten wiirden). Damit ist m.E. aber auch bereits das Grundproblem eines derartigen sektoralen Kulturbegriffs (Reckwitz 2000, S. 79) angedeutet. Von materiellen Opportunitaten als Bestandteil sozialer Situationen bzw. Systeme lasst sich doch nur sprechen insoweit, als diese Bedingungen sozial wahrgenommen und damit kulturell interpretiert werden. Und auch institutionelle Regeln stellen keinen kulturfreien Bereich dar, sondern sind selbst ein kulturelles Produkt. Fiir Weber, an den das Modell der soziologischen Erklarung doch ankniipfen mochte, ist es deshalb auch ausgemacht, dass sich Kultur nicht als geschlossener Ausschnitt des Sozialen begreifen lasst. N u n mag man dem letzten Einwand kein besonderes Gewicht beimessen, vor aUem, weil sich eigentlich jeder Begriffsvorschlag mit Hilfe einer abweichenden Definition ,widerlegen' lasst. Insbesondere hinsichtHch des Kulturbegriffs gilt schHeBHch, dass sich hier eine Vielzahl von z.T. auBerst disparaten Verwendungsweisen auffinden las sen. Aber auch wenn man sich an Essers eigene Begrifflichkeit halt, wird die Unhaltbarkeit seines sektoralen Kulturkonzepts deutHch. Beispielsweise versteht er unter Institutionen, im direkten Rekurs auf die Klassiker der Soziologie, „Regeln mit erwartetem Geltungsanspruch" (Esser 2000c, S. 5), wozu er u.a. Normen, Rollen und soziale Drehbiicher zahlt. Dieses Begriffsverstandnis legt freiHch die Auffassung nahe, dass derartige institutionelle Gebilde zugleich bestimmte Orientierungs- und Handlungsvorgaben leisten — und somit eine gewisse kulturelle Rahmung vorgeben. Ausgehend hiervon diirfte es sich von selbst verbieten, Institutionen jenseits der Kultur zu positionieren, viel richtiger ware es zu sagen, dass institutionelle Regeln einen Sonderfall von kulturellen Drehbiichern darstellen, und zwar eben solchen Drehbiichern, die zugleich mit sozialer Geltung versehen sind. Zur gleichen Schlussfolgerung gelangt man ausgehend von der engen Verzahnung des Kultur- und Sinnbegriffs, die Esser (2001, S. 3ff), erneut im Anschluss an Weber, vornimmt. Kultur ist demnach mit Sinn ausgestattet und umgekehrt geht Sinn mit Kultur einher. Sinn lasst sich jedoch nicht auf einen Ausschnitt innerhalb der sozialen Welt begrenzen. Aus diesem Grunde spricht auch vieles fiir die Annahme, dass samtliche Bestandteile sozialer Situationen bzw. sozialer Systeme sinnhaft strukturiert und eben damit zugleich kultureU aufgeladen sind. Interessanterweise gelangt Esser bei der Beschreibung des Zusammenspiels der drei Bestandteile sozialer Situationen zu einer ahnHch lautenden Einsicht. Er spricht davon, dass auch „die (materiellen und institutionellen) Grenzen (...) zuweilen einen ganz besonderen Sinn, den Sinn einer festen Orientierung" (Esser 2001, S. 9) schaffen. Ausgehend von der engen

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Verklammerung des Sinn- und Kulturbegriffs ware es dann aber nahe liegend gewesen, auch das Kulturkonzept 2u generalisieren und auf samtliche Ausschnitte der sozialen Welt 2u iibertragen. Diese Konsequenz hat Esser nicht gezogen. Damit gelange ich 2u dem Problem einer Identifizierung von kulturellen Bestandteilen auf der individuellen Mikroebene. Wenngleich Esser, wie gesehen, den Begriff des Akteurs 2uweilen mit dem des psychischen Systems gleichsetzt, so findet sich bei ihm doch auch der Versuch einer begrifflichen Differenzierung. Demnach ,bestehen' menschUche Akteure aus einer Reihe „von biologischen nnd psycho-so^alen Ablaufen" (Esser 2000a, S. 34, Hervorhebung G. K.), wobei er im einzelnen zwischen vier Aspekten der „Systemhaftigkeit" (Esser 2000a, S. 34) unterscheidet. Zu nennen ist erstens der Aspekt des biologischen Organismus, also das rein korperliche Geschehen. Menschliche Akteure sind, zweitens, auch Personen im Sinne von sozialisierten Einheiten, die mit einem „abgestimmten und integriertem System von Wis sen, Werten und Orientierungen" (Esser 2000a, S. 35) ausgestattet sind. Drittens handelt es sich bei menschlichen Akteuren um Subjekte, die „Absichten entwickeln und danach reflektiert und intentional handeln" (Esser 2000a, S. 35). Hinzu kommt schlieBlich noch als vierter Aspekt, dass sich Akteure eben auch als psychische Systeme begreifen lassen. „Akteure ,bestehen' als psychische Systeme aus eiaer im Gedachtnis gespeicherten Ansammlung von mentalen Modellen fiir die Orientierung und das Handeln in typischen Situationen, die iiber Symbole und Mustererkennung die Verbindung zwischen der Orientierung der Akteure und den jeweiligen sozialen Situationen herstellen (siehe dazu auch gleich noch die sog. kulturellen ModeUe)." (Esser 2000a, S. 34Q Essers Angaben hinterlassen eine Vielzahl von offenen Fragen. Seinen Ausfuhrungen ist zunachst zu entnehmen, dass er psychische Systeme, ebenso wie zuvor soziale Systeme, als Trager von Kultur bestimmt, die in ihrem Gedachtnis liber einen Vorrat von mentalen Orientierungs- und Handlungsmodellen verfiigen. Im Anschluss an die weiter oben vorgetragenen Uberlegungen lasst sich davon sprechen, dass Esser, wenig konsistent, eine dritte, kulturtheoretische Fassung des Begriffs psychischer Systeme entfaltet. Bei dieser Begriffsverwendung sind mit dem Terminus des psychischen Systems nicht die situationsrelevanten Ausschnitte der geistig-korperHchen Aktivitaten des Handelnden (1. Fassung), auch nicht die Gesamtheit seiner mentalen Prozesse (2. Fassung), sondern lediglich die in seinem Gedachtnis abgespeicherten kulturellen Modelle (3. Fassung) gemeint. Diese definitorische Fesdegung hat aus Sicht von Esser den Vorteil, dass eine zumindest analytische Unterscheidung zwischen kulturellen und nicht-kulturellen Bestandteilen des Akteurs unterschieden wird. Zugleich unterminiert der Begriffsvorschlag jedoch die behauptete Trennung von kulturellen und psychischen Systemen. Beide Systemtypen verschmelzen weitgehend miteinander, da psychische Systeme — entsprechend

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dem Definitionsvorschlag — aus nichts anderem ,bestehen* als aus der Ansammlung kultureller Frames und Skripte. Zudem hat Essers dritte Fassung des Begriffs psychischer Systeme die missliche Konsequenz, dass die kulturelle Rahmung der weiteren Aspekte menschlicher Akteure aus dem Blick gerat. Derm ebenso wie psychische Systeme sind ja auch Korper, Personen und Subjekte (in der Begrifflichkeit von Esser) Trager kultureller Gebilde. Zumindest gilt, dass der menschliche Korper vielfach kulturell iiberformt ist. Ferner handelt es sich auch bei den Komponenten des Wissens, der Werte und der Orientierungen, die der Person zugerechnet werden, um generalisierte Handlungsund Deutungsschemata und damit um kulturelle Modelle.^^ Und schlieBlich las St sich formulieren, dass Subjekte, die reflektiert und intentional handeln, von kulturellen Symbolbestanden Gebrauch machen. Insofern ware es nahe Uegend, davon zu sprechen, dass Kultur nicht allein im psychischen System, sondern auch in menschlichen Korpern, Personen und Subjekten verankert ist — eine Schlussfolgerung, die Esser so nicht gezogen hat. Hinzu kommt, dass im Modell der soziologischen Erklarung nicht nur das Verhaltnis von Kultur und den vier verschiedenen Aspekten handekider Akteure, sondern auch das interne Zusammenspiel der verschiedenen „Pro2essgleichgewichte" (Esser 2000a, S. 34) am Menschen ungeklart bleibt. Der zuletzt vorgetragene Einwand verHert nicht durch den Hinweis an Relevanz, dass Esser es bei einer kurzen Bemerkung beziigHch der vier Systemaspekte menschlicher Akteure belasst, er also von der Unterscheidung keinen systematischen Gebrauch macht. Denn offensichtlich liegt genau hier das Problem. Esser bedient sich in seinen Ausfuhrungen standig neuer theoretischer Versatzstiicke, Konzepte und Termini, ohne die verschiedenen Anleihen begrifflich kontrolliert miteinander abzustimmen.^^ Das Ergebnis einer derartigen Aneinanderreihung einzelner Theorieangebote, die divergierenden sozialwissenschaftlichen Paradigmen und Ansatzen entnommen sind, stellt m.E. keine integrative, fachuniversale Konzeption dar, sondern bildet ein uniibersichtliches und verwirrendes Theoriensortiment.

Die Unterscheidung 'zwischen psychischem System und Person, die Esser verwendet, erinnert in gewisser Weise an die gleich lautende Unterscheidung bei Luhmann. Mit Person ist bei Luhmann kein System, auch kein Prozessgleichgewicht systemischer Operationen, sondern eine bestimmte Zurechnungsfigur, also ein Attributions schema gemeint, das der Erwartungsbildung sowohl von sozialen und psychischen Systemen dient (vgl. Luhmann 1984, S. 155). So resultiert aus Essers unklarer Verwendung systemtheoretischer Grundannahmen eine Inflationierung des Systembegriffs. Neben den im Text genannten Systemt}^pen ist u.a. zusati^lich von kognitiven Systemen und gar dem System der Lebenswelt die Rede (vgl. Esser 2001, S. 395).

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3 Wett-Erwartungstheorie: Allgemeines Geset2 odet heutistisches Pfinzip Doch Einwande dieset oder ahnlicher Art, die eine genauere Abstimmung der Begriffsentscheidungen einfordern, werden von Esser (vorschnell) zu Seite geschoben. Stattdessen heiBt es bei ihm apodiktisch: „Die erklarende Soziologie macht keine Denkfehler" (Esser 1999, S. 210). Mit dieser Selbsteinschatzung ist zugleich der Hegemonieanspruch der erklarenden Soziologie angesprochen. Dieser Uberlegenheitsanspruch basiert auf einem bestitnmten Erklarungs- bzw. Wissenschaftsmodell. Esser orientiert sich, wie angedeutet, am sogenannten Hempel-Oppenheim-Schema, demzufolge eine angemessene wissenschaftliche Erklarung die Anwendung von giiltigen Theorien verlangt, die ziimindest ein universales (Kausal-) Gesetz enthalten. „Der Kcicnjeder Erklarung ist immer (eine Aussage iiber) ein allgemeines Gesetz." (Esser 1993, S. 45). Hiervon ausgehend wirft Esser der soziologischen Systemtheorie (und einer Vielzahl weiterer sozialwissenschaftHcher Ansatze) vor, iiberhaupt keine wissenschaftliche Erklarung im strengen Sinne zu leisten, weil sie keine Angaben iiber Gesetze mit universeller Geltung vornehmen. Den Vorteil seiner eigenen Konzeption sieht er darin begriindet, dass diese mit der sogenannten Wert-Erwartungstheorie einen nomologischen Kern enthalt, sotnit die von Hempel und Oppenheim formuUerte Adaquatheitsbedingung einer angemessenen Erklarung erfiillt. Insofern tritt die Wert-Erwartungstheorie mit dem Anspruch auf, eine kausale Erklarung des Handelns bzw. der individuellen Handlungseffekte zu leisten. Dabei wird unterstellt, dass die Akteure .^esett^mdfig nach ihren subjektiven Zielen und subjektiven Kausalhypothesen dariiber, wie man diese Ziele erreichen kann" (Esser 1999, S. 249, Hervorhebung G. K.), handeln. Die subjektiven Erwartungen und Bemrtungen der Handlungsalternativen bilden den Ursachenteil, das selegierte Handeln bzw. die individuellen Handlungseffekte den Folgenteil des Gesetzes. Das allgemeine Gesetz der WertErwartungstheorie besteht demnach in der Selektionsregel einer Maximierung der Nutzenerwartung. Insofern liegt eine spezifische Variante der Theorie rationalen Handelns vor, die darauf abstellt, dass die Handlungsselektion nicht nach objektiven Richtigkeitskriterien, sondern gemaB „den Regeln der subjektiven Vernunft" (Esser 1999, S. 238) erfolgt.^s

Ein GroBteil der Einwande am Programm der erklarenden Soziologie nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer Kritik des Prin'zips der rationalen Nutzenverfolgung. Dabei wird u.a. gegen Essers Erklarungsmodell vorgebracht, dass hierbei altruistische, nicht-egoistische Handlungsmotive ausgeblendet werden, die Rolle der rationalen Wahl iiberschatzt (da Handeln haufig unreflektiert, routiniert erfolgt) und schlieBlich allein (zweck-) rationale Handlungen und damit lediglich ein Typus des Handelns beriicksichtigt wird. Esser hat wiederholt auf diese Einwande reagiert und dabei seine Konzeption entsprechend prazisiert bzw. weiterentwickelt. Aus seiner Sicht macht die Nutzenmaximierungsregel keine naheren Angaben iiber die Art der Motive und Praferenzen; aus die-

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Gegeniiber Essers Selbstverstandnis bestehen allerdings erhebliche Zweifel, ob der Wert-Erwartungstheorie tatsachlich der Status eines nomologischen Gesetzes mit universeller Geltung zukommt.^^ Wie ich im Folgenden zeigen mochte, lasst sich der darauf basierende Hegemonieanspruch des Modells soziologischer Erklarung nicht aufrechterhalten. Bei der Wert-Erwartungstheorie handelt es sich m.E. nicht um ein allgemeines Gesetz (mit empirischem Gehalt), sondern um eine analytische Pramisse bzw, um ein heuristisches Prinzip. Damit ist nicht gemeint, wie haufig bemerkt worden ist (vgl. etwa Balog 2001, S. 148), dass die angegebene Maximierungsregel empirisch inhaltsleer ist — schHeBHch gilt, dass jedes allgemeine Gesetz in diesem Sinne leer, somit auf die Erganzung mit empirischen Randbedingungen angewiesen ist. Problematischer erweist sich die prinzipielle empirische Uberpriifbarkeit des ,Gesetzes': Von einem empirischen Gesetz lasst sich nur sprechen, wenn zumindest grundsdt^lich die MogHchkeit einer empirischen Uberpriifung besteht. Eine Voraussetzung einer solchen Uberpriifung des Maximierungsgrundsatzes besteht darin, dass sich die empirischen Randbedingungen, d.h. die subjektiven Erwartungen und Bewertungen, unahhdngig von der gewahlten Handlung ermitteln las sen; denn ohne die Erfullung dieser Voraussetzung lieBe sich liberhaupt nicht priifen, ob die ausgefiihrte Handlung genau diejenige Alternative ist, deren Nutzenerwartung maximal ist. Es ist jedoch keineswegs klar, sondern gilt als weithin umstritten, inwieweit sich die subjektiven Nutzenkalkiile ohne Rekurs auf die gewahlte bzw. ausgefiihrte Handlung ermitteln las sen (vgl. Mozetic 1998,8.204). Das Problem besteht darin, dass es sich bei subjektiven Bewertungen und Erwartungen um letztlich innerpsychische Bewusstseinsakte handelt, die von auBen nicht unmittelbar einsichtig sind. Esser (1999, S. 263) nennt als Moglichkeiten einer unabhangigen Modellierung die Befragung der Akteure selbst oder die Befragung von Experten. Probleme ergeben sich u.a. dadurch, dass sich sowohl die Handelnden als auch die Experten iiber die tatsachlich vorHegenden subjektiven Praferenzen tauschen konnen, sie etwa nur unvoUstandige Antworten geben, wichtige Informationen verges sen bzw. verdrangen und bei Befragungen — die ja, zeitlich gesehen, in der Regel nach der bereits reaHsierten Hand-

sem Grunde blendet der Ansatz auch keine altmistisch motivierten Handlungen aus, sondern behauptet, dass diese genau dann gewahlt werden, wenn sich der handelnde Akteur hiervon eine Maxknierung des Nutzens verspricht Ferner leugnet die Konzeption nicht die Bedeutung von Routinen, fiiihrt jedoch zugleich an, dass die Befolgung von Handlungsrezepten und Routinen selbst wiederum rational ist — weil sie den Akteur von aufwendigen Prozessen der Informationssuche und Entscheidungsfindung entlasten. Und schlieBHch wird die These einer PluraUtat von Handlungsformen nicht bestritten, sondern in das Erklarungsmodell eingebaut, indem zugleich unterstellt wird, dass die Selektion der einzelnen Modelle und Modi des Handelns selbst wiederum am Maximierungsprinzip ausgerichtet ist, also gemaB den Regeki der subjektiven Vemunft erfolgt. Bei den nachfolgenden Einwanden greife ich auf friihere Uberlegungen zuriick (vgl. Kneer 2003).

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lung erfolgen — Neuformulierungen, Re-Interpretationen, Posttationalisierungen der Erwartungen und Bewertungen vornehmen. Es ist somit nicht auszuschlieBen, dass aus Konsistenzgninden die nachtragliche Beschreibung der Nutzenerwartungen — und zwar unabhangig davon, ob diese Beschreibung vom Handelnden selbst oder von einem Beobachter vorgenommen wird — der vorgenommenen Selektionsentscheidung angepasst, d.h. auf eine solche Art und Weise modelliert wird, dass die Nutzenerwartung der realisierten Handlung im Vergleich maximal ist. Bei einer derartigen Vorgehensweise findet die Nutzenmaximierungsregel ebenfalls Verwendung, jedoch fungiert sie hierbei offensichtlich nicht als kausales Gesetz, sondern als Suchscheinwerfer, der, ausgehend von bereits realisierten Handlungen, das Feld der subjektiven Situationsdefinitionen nach kompatiblen Bewertungen und Erwartungen abtastet. Auf diese Weise verwendet, fungiert die Maximierungsregel nicht als ein allgemeines Gesetz, das der Erklarung von Handlungen dient, sondern eben als heuristisches Prinzip, das auf ein Verstehen subjektiver Intentionen und Motive abzielt. Der Einwand einer fehlenden empirischen Uberpnifbarkeit lasst sich mit Blick auf eine Uberlegung von Karl Popper weiter zuspitzen. Die Ausfdhrungen von Popper sind in diesem Kontext vor allem deshalb von Interesse, weil Esser, wie angedeutet, wissenschaftstheoretisch eng an das Programm des kritischen Rationalismus ankniipft (vgl. Esser 1993, S. 46ff). Bekanntlich hat Popper das Prinzip der Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium der empirischen Wissenschaften gegeniiber nicht-empirischen Aussagesystemen vorgeschlagen (vgl. Popper 1994, S. 14f). Demzufolge muss ein empirisch-wissenschaftUches System an der Erfahrung scheitern konnen. Bei tautologischen oder metaphysischen Satzen, die prinzipiell nicht widerlegbar sind, handelt es sich somit um nicht-wissenschaftliche Aussagen. Popper zufolge gibt nun bereits die logische Form der Sdt^ Aufschluss iiber ihre mogliche Falsifikation. So sind Allsdt^e, Z.B.: „Alle Raben sind schwarz" falsifizierbar, da der Nachweis eines nicht-schwarzen Raben — oder besser: die Bestatigung bzw. Anerkennung eines Basissatzes, der die Existenz eines nicht-schwarzen Raben behauptet — den Allsatz widerlegt. Kausale (Natur-) Gesetze weisen diese Form von Allsatzen auf und werden deshalb zur Klasse wissenschaftlicher Aussagen gerechnet. Universelle Es-gibt-Sdt^e wie z.B.: „Es gibt weiBe Raben" sind dagegen nicht falsifizierbar, da kein besonderer Satz hierzu in logischem Widerspruch stehen kann. Die prinzipielle Nicht-Widerlegbarkeit von universellen Es-gibt-Satzen Hegt nach Popper (1994, S. 40) darin begriindet, dass „wir nicht die ganze Welt absuchen (konnen, G. K.), um zu beweisen, daB es etwas nicht gibt". Die Uberlegungen sind nun unmittelbar relevant fur die Diskussion der Maximierungsregel. Diese besitzt die logische Form einer kombinierten All- und Existencehauptung. Das Selektionsprinzip gilt, zumindest was den Anspruch betrifft, zunachst generell, gilt also fiir alle Akteure bzw. alle Handlungsent-

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scheidungen. Zugleich ist hieran eine Existenzbehauptung, genauer: ein universeller Es-gibt-Sat2 gekniipft: Es gibt fur jede Handlung eine bestitnmte Nutzenerwartung, die im relativen Vergleich maximal ist. Aus der Tatsache, dass hierbei auf eine Existenzbehauptung zuriickgegriffen wird, resultiert die prinzipielle Nicht-Falsifizierbarkeit des Maximierungsprinzips. Dass mit der Generalisierung des Nutzenbegriffs die Erwartungsnutzenregel in die Nahe einer logischen Tautologie riickt, ist mehrfach bemerkt worden. Folgt man den wissenschaftstheoretischen Uberlegungen Poppers — was man nicht muss, im Falle Essers jedoch zutrifft —, dann kann, wie gesehen, dariiber hinaus gesagt werden, dass derartige nicht-falsifizierbare Aussagen nicht den Status eines empirischen Kausalgesetzes beanspruchen konnen.^'^ Von Popper lasst sich jedoch zugleich lernen, dass metaphysische oder tautologische Aussagen fur die Wissenschaften keineswegs sinnlos sind, sondern eine wichtige Funktion bei der Suche nach bzw. der Erstellung von wissenschaftlichen Aussagen erfiillen. In diesem Sinne begreife ich, wie gesehen, die Funktion des Maximierungsgrundsatzes: Er stellt kein Kausalgesetz dar, sondern bildet ein heuristisches Prinzip, das spezifische Strukturierungsleistungen bei der Suche nach kompatiblen Nutzenmotiven und damit fur die Ubergange zwischen Mikro- und Makroebene erbringt. Das besagt aUerdings zugleich, dass sich ein spezifischer Hegemonieanspruch, wie Esser ihn fiir sein Modell der soziologischen Erklarung (etwa gegeniiber der Systemtheorie) erhebt, nicht widerspruchsfrei formuHeren lasst.

4 Ausblick Die Uberlegungen haben ihren Ausgang genommen bei Essers deklariertem Anspruch, eine zugleich allgemeine, integrative und hegemoniale Sozialtheorie zu formulieren. Dabei bin ich naher auf seinen Integrations- und Hegemonieanspruch eingegangen. Die universale Theorieanlage des ModeUs der soziologi-

^"^ Aufgrund seiner logischen Form weist das Nutzenmaximierungsprinzip m.E. weitgehende Parallelen mit dem KausaMtatsprkizip auf. Mit dem Kausalitats/)/?"/^^ ist dabei kein speijifisches Kausalgesetz gemeint, sondern die prinzipielle Annahme, dass es zu jedem Ereignis eine Ursache gibt Es existiert somit auch nur ein allgemeines Kausalitatsprinzip, jedoch eine Vielzahl empirischer Kausalgesetze. Das Kausalitatsprinzip kombiniert, ahnlich wie der Maximierungsgrundsatz, eine Allund eine Existenzbehauptung, ist somit auch nicht, anders als empirische Naturgesetze, prinzipiell widerlegbar. Die Funktion des KausaHtatsprinzips besteht darin, die fordaufende Suche nach KausaUtatsgesetzen anzuleiten. Somit lasst sich sagen, dass dem Kausalitatsprinzip innerhalb der Newtonschen Physik eine ahnliche Rolle zukommt wie dem Maximierungsprinzip innerhalb der Rational-Choice-Theorie. Die Nutzenerwartungsregel bildet ein primordiales Prinzip der Theorien rationalen Handelns, das das Feld beobachtbarer Phanomene iiberhaupt erst konstituiert, ohne damit die Phanomene auch zugleich zu erklaren. Zur Rekonstruktion und Einordnung des KausaHtatsprinzips aus Sicht des kritischen Rationalismus vgl. StegmiiUer 1960.

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schen Erklarung ist dagegen nur kurz angesprochen worden. Eine genauere Diskussion dieses Anspruchs wiirde den hier zur Verfugung stehenden Rahmen bei weitem iibersteigen. In aller Kiirze kann allenfalls gesagt werden, dass Esser im Riickgriff auf zahkeiche soziologische Traditionen eine betrachtliche Erweiterung des von Coleman ubernommenen Makro-Mikro-Makro-Modells mit der Absicht vornimmt, samtliche sozialen Vorgange als Sequenzen dieses Dreierschritts zu beschreiben. Als besondere Leistung von Esser lasst sich dabei seine mit den begrifflichen Mitteln der Wert-Erwartungstheorie vorgenommene Neubeschreibung handlungstheoretischer Grundbegriffe anfdhren. Anders als es im Umfeld der Theorien rationaler Wahl zumeist iiblich ist, benicksichtigt sein Modell der soziologischen Erklarung nicht nur einen Handlungstypus, also nicht allein zweckrationales Handeln, sondern geht von einer Pluralitat von Handlungsformen aus, allerdings unter der Pramisse, dass die subjektive Wahl der Modi des Handelns sich — auch weiterhin — am Prinzip der rationalen Nutzenverfolgung orientiert. Und anders als die gangigen RationalChoice-Theorien reflektiert Esser ausfuhrlich die zahlreichen Anomien, die an der Vorstellung einer rationalen Handlungswahl gekniipft sind; dies fiihrt ihn u.a. dazu, die (ideaHstische) Pramisse des wohlinformierten Akteurs, der sich iiber alle denkbaren Folgen seines Tuns im klaren ist, zunickzuweisen (vgl Esser 1999, S. 295ff). Es ist hier nicht der Ort, um den begrifflichen Vor- und Nachteilen, die aus Essers Neubeschreibung der rationalen Handlungswahl resultieren, im einzelnen nachzugehen. Zu vermuten ist jedoch, dass sein Modell der soziologischen Erklarung zu deutlichen Verschiebungen im weiten — um nicht zu sagen: uniibersichtlichen — Terrain akteurs- und handlungstheoretischer Ansatze fiihrt; jedenfaUs ist die Annahme nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, dass die Unterscheidung zwischen Theorien zweckrationalen, normorientierten und interpretativen Handelns, mit der die Landschaft der Akteurs theorien iiblicherweise vermessen wird, sich als zu engmaschig erweist, um Essers Theoriekonzeption angemessen zu verorten. Unabhangig davon jedoch, wie der Innovationswert des Modells der soziologischen Erklarung hinsichtlich einer Umformulierung des handlungstheoretischen Vokabulars im einzelnen eingeschatzt wird, gilt es die paradigmatischen Gren^n dieses Theoriemanovers nicht aus dem Blick zu verlieren. Essers Konzeption orientiert sich, wie gesehen, expHzit an den Pramissen der Akteurs- und Handlungstheorien. Ungeachtet der zahlreichen Divergenzen, die zwischen den verschiedenen handlungstheoretischen Ansatzen (einschlieBlich des Modells der soziologischen Erklarung) bestehen, teilen diese jedoch eine Reihe von gemeinsamen Grundannahmen — so dass es iiberhaupt Sinn macht, hier von einem (mehr oder weniger) einheitlichem Paradigma zu sprechen: Als Ausgangspunkt der Handlungs theorien kann die Auffas sung genannt werden, Soziales im Rekurs auf das Handeln von Akteuren zu erlautern. Handeln gilt dabei als sinnhaftes Verhalten, wird somit

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als Kombination von korperlichem Verhalten und intentionalem Sinn beschrieben. Der Sinn ist dem Handeln nicht auBerlich, sondern Handeln ist per definitionem sinnorientiertes Handeln. Grundlegend fiir eine handlungstheoretische Perspektive ist nun die Ansicht, den individuellen Akteur, zumindest in letzter Instanz, als Trager des Handlungssinns zu begreifen.^^ Der Handelnde gilt somit als derjenige, der die Handlung sinnhaft hervorbringt, der die Handlung als Sinneinheit konstituiert. Der Handlungssinn ist demzufolge identisch mit dem mentalen Sinn, entspricht also dem Sinn, liber den der Akteur selbst verfiiigt. Aus der Sicht der Handlungstheorien verlangt deshalb nicht nur die Erklarung, sondern bereits die Beschreibung einer Handlung als Handlung die Angabe der mentalen Sinnorientierung des Akteurs. Es ist gerade der — mitunter offen eingestandene, mitunter verschwiegene — Mentalismus der Akteurs- und Handlungstheorien, zu dem die weiteren Sozialtheorien auf Distanz gehen. Das handlungstheoretische Vokabular ist keineswegs konkurrenzlos, daneben existieren vieknehr eine Reihe von weiteren theoretischen Paradigmen, die den Phanomenbereich des Sozialen mit einer deutHch abweichenden Perspektive erschUeBen. Zu nennen waren hier neben den zuvor mehrfach angesprochenen systemtheoretischen Ansatzen etwa auch die Theorien sozialer Praktiken sowie semiologische Konzeptionen im Umfeld des StrukturaHsmus und PoststrukturaHsmus. Zwar teilen diese Theorieversionen mit dem Paradigma der Handlungstheorie den gemeinsamen Ausgangspunkt, die menschliche Sozialwelt als sinnhaft strukturiertes Geschehen zu beschreiben;^^ im Gegensatz zu einer handlungstheoretischen Konzeption gilt fiir systemtheoretische, praxistheoretische und semiologische Ansatze die Kategorie des Sinns jedoch nicht langer als ein mentales Geschehen. Aus ihrer Sicht bezeichnet der Grundbegriff des Sinns vieknehr ein iiberindividuelles Phanomen, dass aus diesem Grunde auch nicht der psychischen Innenwelt, sondern unmittelbar einer sozialen Ebene oberhalb des einzekien Akteurs (der Ebene der Kommunikationen, der sozialen Praktiken bzw. der Zeichensequenzen) zuzurechnen ist. Die Kritik des mentaltstischen Sinnbegriffs, wie ihn — wenngleich mit unterschiedHchen Begriindungen — die Paradigmen der System-

Der Zusatz ,in letzter Instanz' ist deshalb wichtig, well sich keineswegs samtliche Aiisatze der Akteurs- und Handlungstheorien die Pramisse des methodologischen Individualismus zu eigen machen, dass ausschliefiUch einzelne Individuen iiber die Fahigkeit verfiiigen, Handlungen zu planen, vorzubereiten und auszufiihren. Die sogenannten kollektivistischen Ansatze innerhalb des handlungstheoretischen Paradigmas begreifen auch liberindividuelle Einheiten als Handlungstrager; dabei wird (fast ohne Ausnahme) jedoch zugleich unterstellt, dass sich die Handlungen koUektiver bzw. korporativer Akteure gegebenenfalls wiederum auf die Handlungen individueUer Akteure zuriickfiihren las sen. Die Angabe verschiedener sozialtheoretischer Paradigmen erhebt keinen Anspruch auf VoUstandigkeit, so wird etwa darauf verzichtet, auf sogenannte naturalistische Ansatze naher einzugehen, die bei der Beschreibung der sozialen Welt vollstandig auf den Sinnbegriff verzichten.

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theotie, Praxistheorie und der Semiologie betreiben, fuhrt zu weitreichenden Konsequenzen, die in den letzten Jahren zumeist entlang des Stichworts einer jDezentrierung des Subjekts' ausfuhrlich diskutiert worden sind. O h n e an dieser Stelle naher auf diese weit verzweigte Diskussion eingehen zu konnen, gilt es doch auf eine in diesem Kontext besonders folgenreiche theoretische Konsequenz aufmerksam zu machen. Aus der Sicht von Systemtheorie, Praxistheorie und Semiologie liefert der Rekurs auf die subjektiven Intentionen des Handelnden und damit auf mentale Sinneigenschaften keine Tiefenerklarung des sozialen Geschehens. Fur die drei genannten paradigmatischen Ansatze erweist sich das Mentale, also die subjektive Sinnhaftigkeit des Handelns, nicht als grundlegendes, sondern als abgeleitetes Phanomen, dem keine besondere Relevanz bei der Analyse und Erklarung der sozialen Welt zukommt. Mit der Abwertung bzw. Preisgabe des mentalistischen Sinnbegriffs wird fiir systemtheoretische, praxistheoretische und semiologische Sozialkonzeptionen die methodische Vorgehensweise der Akteurs- und Handlungstheorien, ausgehend von psychischen Intentionen gesellschaftliche Zusammenhange zu beschreiben und zu erklaren, insgesamt hinfaUig.^^ Die im Schlussabschnitt vorgetragenen Uberlegungen, die einige kurze Hinweise auf die multiparadigmatische Situation der Soziologie entfalten, haben ihren Ausgang bei Essers UniversaUtatsanspruch genommen, also bei seinem Anspruch, mit dem Modell der soziologischen Erklarung den gesamten Gegenstandsbereich des Sozialen zu erfassen. Hier sind mit der Erweiterung des Dreierschritts der Makro-Mikro-Makro-Erklarung sowie der GeneraHsierung des Modells der rationalen Handlungswahl vor allem zwei theoriestrategische Weichenstellungen zu nennen, auf die Esser seinen Universalitatsanspruch stiitzt. Dabei gilt, dass die beiden theoretischen Ausgangsentscheidungen sich an den Pramissen der Akteurs- und Handlungstheorien orientieren. Die daraus resultierenden Konsequenzen betreffen allerdings weniger den UniversaUtatsanspruch, sondern vielmehr den Integrationsanspruch des Modells der soziologischen Erklarung. Mit Blick auf die multiparadigmatische Situation der Soziologie ist freilich zu erwarten, dass Essers Anspruch einer integrativen Verkniipfung — je nach gewahlter Referenztheorie — zu deutlich voneinander abweichenden Resultaten fdhrt. Einen Sonderfall stellt dabei die (beanspruchte) integrative Verkniipfung des Modells der soziologischen Erklarung mit weiteren Akteurs- und Handlungstheorien dar; dies allein schon deshalb, weil hier

20 Sobald mentale Sinnphanomene nicht langer als die Basis bzw. die Mikroebene der Gesellschaft begriffen werden, verliert auch die dichotomische Unterscheidung zwischen einer Makro- und Mikroebene des Sozialen, zumindest in der Form, in der sie Esser in seinem Modell der soziologischen Erklarung verwendet, jeglichen Wert. Im Kontext systemtheoretischer, praxistheoretischer und semiologischer Ansatze wird aus diesem Grunde die Dichotomic entweder fallengelassen oder entsprechend reformuliert.

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eine Reihe von gemeinsamen Ausgangsannahmen und Basispramissen vorliegen. Damit sollen Differenzen zwischen den verschiedenen handlungstheoretischen Konzeptionen, insbesondere Unterschiede beziiglich der Modelle der Handlungsselektion, nicht abgestritten werden. Es spricht jedoch einiges fiir die Annahme, dass Essers Theoriekonzeption gerade an diesem Punkt iiber ein erhebliches integratives Potential verfiigt; mit seiner Neubeschreibung des handlungstiieoretischen Vokabulars liegt jedenfalls ein ernst zunehmender Vorschlag vor, der beansprucht, gleichermaBen zweckrationales, normorientiertes, interpretatives und habitualisiertes Handeln erfassen und (als zweistufige, letztlich rationale Handlungswahl) modellieren zu konnen. Ganz anders stellt sich dagegen die Situation bei der beanspruchten integrativen Verkniipfung des Modells der soziologischen Erklarung mit systemtheoretischen, praxistheoretischen und semiologischen Theoriekonzeptionen dar. Anschlussprobleme ergeben sich vor allem dadurch, dass die akteurs- bzw. handlungstheoretische Pramisse einer Tiefenerklarung des Sozialen mittels Rekurs auf mentale Sinnphanomene, die Essers Makro-Mikro-MakroErklarungsmodell wie selbstverstandlich unterstellt, von Seiten der Systemtheorie, Praxistheorie und Semiologie nicht geteilt wicd. Zu vermuten ist deshalb, dass eine unvermittelte Uberfiihrung einzelner systemtheoretischer, praxistheoretischer und semiologischer Konzepte in das Modell der soziologischen Erklarung den unterschiedlichen Theorieperspektiven nicht gerecht wird und deshalb rasch in eine Schieflage gerat. Die vorliegenden Ausfuhrungen sprechen fur diese Vermutung. Aus Essers Versuch jedenfalls, weit reichende Anleihen bei der Systemtheorie kurzerhand in seine Erklarungskonzeption einzubauen, resultieren eine Vielzahl von theoretischen und begrifflichen Ungenauigkeiten, Unklarheiten bzw. Widerspriichen. Mit dem Gesagten stellt sich (erneut) die Frage nach einem produktiven Umgang mit der Paradigmen- und Theorienvielfalt im weiten Feld der Sozialtheorien. Esser optiert mit seinem Theorieunternehmen, wie gesehen, fur Integration und Vereinheitlichung. Zu einer davon abweichenden Perspektive gelangt man ausgehend von einem polykontexturalen Theorienverstandnis, das die Pluralitat von Paradigmen, Theorien und Konzeptionen nicht als Nachteil, sondern als Vorteil begreift. Ein derartiges Verstandnis warnt vor einer iibereilten Theorienkombination, aber es leugnet selbstverstandlich nicht die vielfaltigen Kontaktpunkte zwischen den unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Ansatzen. Vor allem bestreitet ein solches Verstandnis nicht, dass Theorien voneinander lernen konnen. Ein gegenseitiges Lernen wiirde jedoch voraussetzen, dass die vielfaltigen Divergenzen zwischen den verschiedenen Theorieperspektiven nicht vorschnell iiberbruckt, sondern Punkt fiir Punkt ausgetragen werden. Auch hierzu wollten die vorstehenden Ausfuhrungen einen Beitrag leisten.

Zuf Integration des Systembegriffs in Hartmut Essers crklarender Soziologie

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Georg Kneer

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Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Weber und Esser untet Beriicksichtigung ihret unterschiedlichen methodologischen Ausrichtung^ Christian Ett^rodt

Hartmut Esser erhebt den Anspruch, in der Tradition von Max Weber und Karl R. Popper eine generelle Handlungstheorie fiir die Sozialwissenschaften vorgelegt 2u haben. Der folgende Aufsatz stellt einen Versuch dar, zu untersuchen, inwieweit Esser diesen Anspruch erfullen kann. Es geht dabei im Wesentlichen um drei Fragen: 1) Kann Hartmut Esser die verschiedenen Handlungstypen Max Webers in seinem Modell theoretisch adaquat darstellen? 2) Welche Bedeutung besitzt die Methodologie Max Webers bzw. Karl R. Poppers fur die Konstruktion von Essers Handlungstheorie? 3) Besitzt Essers Handlungstheorie wirklich die Integrationsfahigkeit, die ihr von Esser zugeschrieben wird? In einem ersten Schritt werden die Handlungstheorie und Methodologie von Max Weber dargesteUt und prazisiert, bevor sie mit Hartmut Essers Handlungstheorie und Methodologie verglichen werden. 1 Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Max Webet Eine Beschreibung der Handlungstheorie von Max Weber ist keine leichte Aufgabe. Dies Uegt vor allem an dem unfertigen Charakter seiner Handlungstheorie. Erst relativ spat in seinem Leben (zwischen 1909 und 1913) verlegte Max Weber sein Forschungsinteresse von der Geschichte zur Soziologie. Er vertrat in seinen methodologischen Schriften noch bis zu den »Energetische[n]« KMlturtheorien von 1909 die Position eines Historikers, dessen Ziel die verstehende Erklarung historischer Einzelphanomene unter Verwendung bekannter sozialwissenschaftlicher „Gesetzma6igkeiten" und Begriffe war. Erst 1913 tauschte er in dem Aufsatz Ueber einige Kategorien der verstehenden So^ologie die

Position des Historikers mit der des Soziologen. Es ging ihm nun nicht mehr um die Anwendung sozialwissenschaftlicher „GesetzmaBigkeiten" und Begriffe zxir Erklarung geschichtlicher Ereignisse, sondern um die Klarung dieser sozi-

Ich danke Rainer Greshoff fiiir zahkeiche kritische Anmerkungen.

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Christian Etzrodt

alwissenschaftlichen „Geset2maBigkeiten" und Begriffe selbst Seine Handlungstheorie stellte einen Versuch dar, sowohl fiir das Auffinden sozialwissenschaftlicher „Geset2;ma6igkeiten" in der Soziologie als auch fur das verstehende Erklaren von Einzelphanomenen in der Geschichte brauchbare Idealtypen zu konstruieren. Dies war ein bahnbrechender Versuch von Weber, da der Soziologie zum ersten Mai ein handlungstheoretisches Fundament zur Verfiigung gestellt wurde. O h n e die Bedeutung dieser Leistung fur die Soziologie herabwiirdigen zu wollen, muss aber auch festgestellt werden, dass — gerade aus der heutigen Sicht — viele seiner Idealtypen-Konstruktionen zu vage und mehrdeutig sind, u m wissenschaftlich verwendet werden zu konnen. Eine moderne Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie von Max Weber setzt also voraus, dass die genaue Bedeutung der von ihm verwendeten Begriffe geklart und notigenfaUs prazisiert wird. Die Probleme beginnen gleich bei dem ersten Konzept: dem des »Handehs« in Abgrenzung zum »Verhalten«. Max Weber unterscheidet diese Begriffe folgendermaBen: „»Handeln« aber (mit EinschluB des gewollten Unterlassens und Duldens) heiBt uns stets ein verstdndliches, und das heiBt ein durch irgendeinen, sei es auch mehr oder minder unbemerkt, »gehabten« oder »gemeinten« (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu »Objekten«." (Weber 1913, S. 429; Hervorhebung des „(subjektiven) Sinn" im Original) „»Handeln« soil dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob auBeres oder innerHches Tun, Unterlassen oder Dulden) heiBen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden." (Weber 1922, S. 1, Hervorhebung im Original) Zwei Abgrenzungskriterien zwischen dem »Handeln« und dem »Verhalten« konnen je nach Deutungsschema angegeben werden: einem okonomischen Deutungsschema folgend, kann »Handeln« vom »Verhalten« liber den Grad der Kationalitdt unterschieden werden. ^ Diese Interpretation bezieht sich auf die subjektive Sinnhaftigkeit des »Handelns« in Webers Definitionen. In diesem Sinne klassifiziert Max Weber (1922, S. 2) das traditionale Handeln als ein weniger rationales bzw. sinnhaftes Verhalten.^

Nach diesem Kriterium greniJt sich die okonomische Handlungstheorie von den behavioristischen Verhakenstheorien ab (siehe die Zusammenfassung der Positionen von Romans, Emerson, Opp und Voss in Etzrodt 2003, S. 128ff). Genauso geht auch Esser (1999, S. 177ff) vor, wenn er das »Handeln« als einen Spezialfall des »Verhaltens« bezeichnet Andere AuBerungen Webers (wie z.B. 1922, S. 10 unten, wenn er sagt, dass Sinn sowohl rational als auch irrational sein kann) stehen allerdtngs im Widerspruch zu dieser Interpretati-

Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Weber und Esser

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Ein zweites Deutungsschema kann der phanomenologischen Soziologie entnommen werden. »Handeln« grenzt sich hiei: vom »Verhalten« durch die unterschiedlichen Perspektiven von Akteur und Beobachter ab. Das Konzept des »Handelns« beschreibt die Perspektive des Akteurs, wahrend der Beobachter dieses »Handeln« als ein »Verhalten« wahrnimmt, welches er erst iiber Sinnzuweisungen verstehen kann. Diese Interpretation bezieht sich auf die Verstandlichkeit durch Spezifizierung des subjektiven Sinns in Webers erster Definition. Es sollte noch bemerkt werden, dass die beiden Interpretationen des »Handelns« in Abgrenzung zum »Verhalten« ~ als rationales Handeln fur den Akteur bzw. als vom Beobachter verstandenes Verhalten — zueinander im Widerspruch stehen. Ein rein traditionales irrationales Verhalten eines Akteurs (also kein Handeln im okonomischen Deutungs schema) kann sehr wohl von einem Beobachter mit Kenntnissen iiber die betreffende Kultur »verstanden« werden (also ein verstandenes Handeln im phanomenologischen Deutungsschema). Im Anschluss an seine Definition des »Handelns« bestimmte Max Weber das Konzept des y>so^ialen Handelns« (Weber 1922, S. 1). Ein »soziales Handeln« bedeutet, dass ein Akteur sein Handeln »sinnhafl:« auf andere Akteure bezieht und sich an diesem Bezug orientiert. Was Max Weber aUerdings mit »sinnhafi;« meinte, bleibt unklar. Das Beispiel der beiden Radfahrer (Weber 1922, S. 11), die zusammenprallen (kein soziales Handeln) bzw. sich ausweichen (ein soziales Handeln), legt aber nahe, dass ihm hier mit »sinnhaft:er« Orientierung eine Art der antizipierenden Verhaltenserwartung zur Koordination des eigenen Handelns mit dem Handeln anderer Akteure vorschwebte. "^ Auf welcher Grundlage aber diese antizipierende Verhaltenserwartung erfolgt, witd von Weber nicht weiter erortert. Insgesamt bleibt der Bereich des »sozialen Handelns« bei Max Weber unterentwickelt, obwohl es dabei um das „fiir die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln" geht. Dies zeigt sich besonders deutUch bei seiner Klassifiikation der Handlungstypen, welche sich kaum danach unterscheiden, ob sie sich auf Typen des »Handelns« oder des »sozialen Handelns« beziehen. Der am deudichsten definierte Handlungstyp von Max Weber ist das ^eckrationale Handeln. Die Sinnzuweisung zu diesem Konzept ist einfach, da Weber einerseits eine eindeutige Definition vorgelegt und sich andererseits die fiir dieses Konzept grundlegende okonomische Grenznutzentheorie in den letzten hundert Jahren nicht allzu gravierend geandert hat.

AUerdings fiihrt Max Weber (1922, S. 13) das Kriterium der beiderseitigen Orientierung erst bei der Definition der »soiiialen Be2iehung« ein. Das »soziale Handeln« ist durch einen einseitigen Bezug gekenniieichnet.

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Christian Etzrodt

„Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endnch auch die verschiedenen moglichen Zwecke gegeneinander rational abwagt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional) noch traditional handelt." (Weber 1922, S. 13) Zweckrational ist ein Handeln demnach, wenn das bestmogHche erwartete Ergebnis (erwiinschte Zwecke ab2uglich der unerwiinschten Nebenfolgen) ermittelt und die 2u seiner Realisierung geeignetste Alternative (als Mittel) gewahlt wird. Diese Art des teleologischen Handelns wird in der Okonormk als Nut^enmaximiemng bezeichnet (in der Form der Grenznutzentheorie unter Sicherheit und der [Subjektiven] Erwartungsnutzentheorie unter Risiko). Das Wertkriterium ist hier der erfiillte Zweck einer Handlung, wahrend das Bewertungskriterium der Nutzen ist. Hartmut Esser (1999, S. 92Q schlagt beispielsweise vor, fiir den Zweck einer Handlung die beiden Idealtypen des »physischen Wohlbefindens« und der »so2ialen lF^r/schat2ung« zu verwenden,^ aber auch andere Zwecke sind durchaus denkbar. Mit Hilfe des Nutzenkriteriums werden die Zwecke rational bewertet und gegeneinander abgewogen. Die Abwagung zwischen diesen Zwecken (einschlieBlich der Alternativen, die zu ihnen fiihren) findet dabei simultan statt. Ein simultaner Selektionsmechanismus besagt, dass alle Werte nach den gleichen Kriterien umfassend und gleichzeitig bewertet werden. Dies ist eine notwendige Voraussetzung fiir die Ermitdung eines Maximums und fiir die Bildung transitiver (logisch geordneter) Praferenzen iiber die Werte. Das zweckrationale Handeln gewinnt eine zusatzliche qualitative Komponente beim Ubergang zum ^eckrationakn so^alen Handeln. Es ist jetzt nicht mehr nur an dem Verhalten von Gegenstanden orientiert, sondern auch an dem Verhalten anderer Akteure, welche bei der Zweckerfiillung zu beriicksichtigen sind (Weber 1922, S. 12). Wie beim teleologischen Handeln der Okonomik ist das zweckrationale soziale Handeln durch eine Bewertung von Werten in der Form von Zwecken iiber den Nutzen charakterisiert, wobei die Zweckerreichung nun zu einem strategischen Problem wird. Die Spieltheorie ist heute diejenige Theorie, die dieses Problem behandelt. Wertrationales Handeln ist nun andererseits fur Max Weber ein Handeln, welches durch Werte motiviert wird, die keinen Zweck darsteUen. Ihr „Sinn des Handelns piegt] nicht in dem jenseits [von ihnen] Hegenden Etfolg, sondern in dem bestimmt gearteten Handeln als solcherd' (Weber 1922, S. 12, Hervorhebun-

Esser (1999, S. 109) bezeichnet die Nutzenfunktion als eine »Nutzen«-Produktionsfunktion, woraus geschlossen werden konnte, dass der Nutzen der Zweck der Handlung sein soil. Eine solche Interpretation wiirde aber der okonomischen Theorie widersprechen, die eine Nutzenfunktion als eine numerische Representation der Praferenzen auffasst.

Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Weber und Esser

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gen nicht im Original). Was ist nun aber mit dem ^^Eigenwerf eines Handelns gemeint? „Rein werttational handelt, wer ohne Riicksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Ueberzeugung von dem, was Pflicht, Wiirde, Schonheit, religiose Weisung, Pietat, oder die Wichtigkeit einer »Sache« gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen. Stets ist (im Sinn unserer Terminologie) wertrationales Handeln ein Handeln nach »Geboten« oder gemaB »Forderungen«, die der Handelnde an sich gestellt glaubt" (Weber 1922, S. 12) Der zweite Teil dieser Definition ist wichtig. Stets bezieht sich der Eigenwert eines wertrationalen Handelns auf »Gebote« oder »Forderungen«. Weber bezeichnete dieses regelhafte Seinsollen auch als Norm, welche eine Bewertung eines Handelns im Sinne eines Werturteils darstellt (Weber 1907, S. 323). Damit ist Webers Begriff der »Wertrationalitat« aber noch langst nicht zufriedensteUend geklart. Weber prazisierte lediglich das Wertkriterium als eine Norm, sagte aber nicht, um wessen normatives Werturteil es sich handelt (des Akteurs selbst oder anderer Akteure). Die Klarung der unterschiedlichen Bedeutungen des »wertrationalen Handelns« in Abhangigkeit von der die Norm gebietenden Person ist Talcott Parsons' Max Weber-Interpretation zu verdanken. Talcott Parsons beschreibt den ersten Fall, in dem andere Personen Erwartungen an den Akteur richten, Forderungen an ihn stellen und ihn schHeBHch positiv oder negativ fur die Erfiillung oder Nicht-Erfullung dieser Erwartungen sanktionieren, aus der Perspektive des beurteilten Akteurs als ein Problem der Sanktionsoptimierung (Parsons 1951, S. 5f und S. 59).^ Der Akteur bewertet die Folgen eines Werturteils anderer Personen iiber sein Handeln, Es handelt sich dabei also um eine Bewertung der auf einem Wert im Sinne einer Norm basierenden externen Sanktionen iiber den Nutzen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Bewertung der Sanktionen sich nicht von der Bewertung anderer Werte (z.B. der Zwecke) unterscheidet: dass dieser Bewertung ebenfalls der Nutzen als Bewertungskriterium und ein simultaner Selektionsmechanismus zu Grunde liegen. Zweckrationales und wertrationales Handeln wiirden sich demnach lediglich durch den Wert (Zweck eines Handlungsergebnisses bzw. Norm iiber das Handeln selbst), welcher den Nutzen „stiftet", unterscheiden. Fiir Parsons ist diese Beriicksichtigung der Sanktionen anderer Personen aber nur ein Aspekt des normorientierten bzw. wertrationalen Handelns. Wichtiger erscheint Parsons, dass die Akteure in ihrer Sozialisation die Normen ihrer sozialen Gruppe internalisieren (Parsons 1986, S. 169f, vgl. 1951, S. 64). In diesem Fall werden die Normen zu moraltschen Wertvorstellungen des Akteurs. Ein Max Weber sprach zumindest in einem Fall von „Unlustkalkulation" (Weber 1907, S. 331).

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Verletzen dieset moralischen Werte fidhrt zu einer Sanktion dutch den Akteur selbst (z.B. durch ein schlechtes Gewissen). Der Akteur bewertet die Folgen seines eigenen Wertxirteils liber sein Handeln. Es handelt sich dabei um eine simultane Bewertung der auf einem Wert im Sinne einer Norm basierenden internen Sanktionen iiber den Nutzen. Eine weitere Spezifizierung des Moralkonzeptes von Talcott Parsons kommt von Richard Miinch, der die besondere Bedeutung der Philosophic Immanuel Kants fur Talcott Parsons' Handlungstheorie herausarbeitete (Miinch 1982, S. 13, vgl. Parsons 1978, S. 370f). Ein MoraUst im Sinne der bisherigen Definition von Parsons wiirde die positiven Effekte einer Verletzung seiner Wertvorstellungen gegen sein 2u erwartendes schlechtes Gewissen abwagen. Er wird sich an seine Werte gebunden fuhlen, solange sie nicht zu kostspielig werden bzw. aufgrund dieser Werte kein allzu groBer Verzicht entsteht. Wenn aber die Norm in der Form eines kategorischen Imperative vorliegt, wird der Akteur eine solche Abwagung nicht mehr vollziehen. Er wird sich unabhangig von der Situation und damit auch unabhangig von den moglichen Verlusten entgangener Chancen an seine Wertvorstellungen halten. In diesem Fall findet ein Wechsel von einem sitnultanen zu einem disposttionelkn Sekktionsveffahretfi statt. Wiegt der Akteur noch bei Maximen und hypothetischen Imperativen von Situation zu Situation ab, ob er lieber seinen Wiinschen als seinen moraHschen Wertvorstellungen folgen mochte, so wird der Akteur beim kategorischen Imperativ nur einmal tm.^ Entscheidung fiir alle zukiinftigen Situationen fallen (vgl. Miinch 1982, S. 30). Max Webers Konzept der Wertrationalitat lasst sich somit durch die Norm der gebietenden Person und den konkreten Selektionsmechanismus prazisieren. Wird das Handeln eines Akteurs durch andere Personen bewertet und sanktioniert, handelt es sich um Normen. Bewertet und sanktioniert der Akteur sein Handeln selbst, wird von der Moral eines Akteurs gesprochen. Im letzteren Fall kann danach unterschieden werden, ob die erwartete Selbstsanktion und der damit einhergehende Nutzenverlust oder der Wert an sich (als kategorischer Imperativ) unabhangig von den Nutzeniiberlegungen den Akteur motiviert, sich an die Wertvorstellungen zu halten. Es wird deutlich, dass Max Weber vermutHch Kants kategorische Imperative im Sinn hatte, als er von dem normativen Eigenwert eines Handelns sprach. Im Gegensatz zu Webers Idealtypen des zweckrationalen imd des wertrationalen Handelns erweist sich eine Klarung der Begriffe des traditionalen und

Kategorische Imperative sind nach Kant allgemeine praktische Gesetze, welche jederzeit Giiltigkeit beanspruchen. Das Konijept des dispositionellen Selektionsmechanismus wurde im Greniibereich der Okonomik entwickelt, um moralisches Handeln darstellen zu konnen (Vanberg 1988, S, 148, S. 154ff, 1993 S. 103f, KHemt 1990, S. 75).

Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Weber und Esser

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des affekmellen Verhaltens als ein besonderes Problem. Als erstes fallt auf, dass Weber hier im Unterschied 2u den wis sens chaftlichen Begriffsbildungen der Zweckrationalitat und der Wertrationalitat AUtagsbegriffe verwendet. Es liegt der Verdacht nahe, dass Weber das traditionale und das affektuelle Verhalten lediglich als Residualkategorien auffasste. Verstarkt wird dieser Eindruck noch durch Webers Verkniipfung der traditionalen und der charismatischen Herrschaft (basierend auf traditionalem bzw. affektuellem Verhalten) mit der Vormoderne oder dem Gemeinschaftsbegriff einerseits und der legalen Herrschaft (basierend auf zweck- und wertrationalem Handeln) mit der Moderne oder dem GeseUschaftsbegriff andererseits (Weber 1922, S. 21, vgl. 1985b, S. 483). Der Alltagsbegriff des Affektes besitzt zwei Bedeutungsnuancen. Erstens kann damit ein spontanes und nicht iiberlegtes Verhalten gemeint sein. Zweitens bezieht er sich auf ein im besonderen MaBe emotional motiviertes Handeln. Max Weber verwendet das Konzept des affektuellen Verhaltens mit jeweils der einen oder anderen Bedeutung in verschiedenen Kontexten. Er betont die erste Komponente, wenn er vom affektuellen V^erhalten in Abgrenzung 2um affektuellen sozialen Handeln spricht. „Das streng affektuelle Sichverhalten steht ebenso an der Grenze und oft jenseits dessen, was bewuBt »sinnhaft« orientiert ist; es kann hemmungsloses Keagieren auf einen auBeralltagUchen Reiz sein. Eine SubHmierung ist es, wenn das affektuell bedingte Handeln als hewupe Entladung der Gefiihlslage auftritt: es befindet sich dann meist (nicht immer) schon auf dem Weg zur »Wertrationalisierung« oder zum Zweckhandeln oder zu beiden." (Weber 1922, S. 12, Hervorhebungen nicht im Original) Der zweite Teil dieser AuBerung ist entscheidend fiir eine Differenzierung von der Zweck- und Wertrationalitat. Affektuelles Verhalten unterscheidet sich von diesen beiden Typen graduell durch das AusmaB der Reflexion einer Wahl und nicht qualitativ durch das Bewertungs- bzw. Wertkriterium. Es ist somit gekennzeichnet durch eine egoistische zweckrationale bzw. wertrationale Bewertung eines Wertes in der Form eines Zweckes bzw. einer auf einem Wert im Sinne einer Norm basierenden Sanktion iiber den Nutzen, ohne allerdings einem vollstandig rationalen simultanen Selektionsverfahren zu unterHegen. Mein Vorschlag war (Etzrodt 2001, S. 163f), den eingeschrankten Bewusstseinsgrad beim affektuellen Verhalten liber ein sequentielles Selektionsverfahren im Sinne von Herbert Alexander Simons y>satisfidng«-¥ionzt^t darzustellen (Simon 1955, S. 104ff, 1957, S. 204f, 1972, S. 168, Selten/Tietz 1980, S. 19). Ein sich affektuell verhaltender Akteur wiirde nun nicht mehr alle Alternativen bewerten, miteinander vergleichen und schlieBlich das Maximum wahlen, sondern die Alternativen der Reihe nach solange mit einem Anspruchsniveau vergleichen, bis er eine Alternative gefunden hat, die dieses Anspruchsniveau erfiillt. Die experimentelle Psychologie hat gezeigt, dass sich Menschen leichter

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an vergangene Ereignisse oder Merkmale erinnetn konnen, wenn diese besonders emotional beweitet wurden (Christianson/Loftus 1991, S. 85ff). Dieses Phanomen in Verbindung mit einem sequentiellen Selektionsmechanismus erzeugt nun den gewiinschten Effekt (fiir die Modellkonstruktion), dass einem Akteur zuerst die Alternative einfallt, die er in der Vergangenheit besonders emotional bewertet hatte und die gleichzeitig das Anspruchsniveau erfullt. Das Resultat ist, dass der Akteur »spontan« handelt, ohne iiberhaupt eine weitere Alternative wahrgenommen zu haben. Sequentielle Selektionsmechanismen haben im Gegensatz zu simultanen Verfahren bestimmte chaotische Eigenschaften: 1) Sequentielle Verfahren fuhren normalerweise nicht 2u einem Optimum (die erstbeste akzeptierte Alternative ist eventuell nicht maximal). 2) Da sie kein Optimum finden, fuhren Wiederholungen unter den gleichen Bedingungen auch nicht notwendigerweise zu dem gleichen Ergebnis (die Wahl einer Alternative hangt maBgeblich von der Reihenfolge der Alternativen ab, so dass sich das Ergebnis bei wechselnden Reihenfolgen verandert). 3) Da Wiederholungen unter den gleichen Bedingungen nicht zu dem gleichen Ergebnis fuhren, konnen intransitive Praferenzen entstehen (wenn z.B. ein Kind lieber eine Banane als einen Apfel, einen Apfel Ueber als eine Orange und eine Orange Heber als eine Banane haben mochte, dann heif^t dies nur, dass alle drei Alternativen das Anspruchsniveau des Kindes erfullen und sich die Reihenfolge der Alternativen bei der Fragestellung geandert hat).^ Aufgrund dieser chaotischen Eigenschaften eines sequentiellen Selektionsmechanismus wird uns ein affektueUes Verhalten als ein spontanes, nicht-bewusstes und hemmungsloses Reagieren auf Reize erscheinen, wie von Max Weber beschrieben. Weber betont hingegen die zweite Komponente (die EmotionaUtat) des alltaglichen Affektbegriffes, wenn er vom affektuellen sot^alen Handeln spricht. Dies gilt insbesondere fiir seine AuBerungen zur charismatischen Herrschaft. Die charismatische Herrschaft wird nach Weber durch die affektuelle Hingabe an eine Person und seine Gnadengabe bzw. sein Charisma legitimiert (Weber 1985b, S. 480). Ebenso gibt er die personUche erotische Gefuhlsbeziehung als ein Beispiel fur eine affektuell geschlossene soziale Beziehung an (Weber 1922, S. 24). In beiden Fallen ist hier die besondere emotionale QuaUtat der Beziehung das entscheidende Merkmal, unabhangig von dem Grad der RationaUtat einzekier Entscheidungen. Das Altruismus-Konzept der modernen Okonomik (Becker 1976, S. 819, 1981, S. 173, Opp 1984, S. 87) konnte hier als eine adaquate Formalisierung dieser affektuellen Bindung eines Akteurs an einen anderen dienen, Ein Altruist wird in der okonomischen Theorie als ein Akteur defi-

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Der logische Nachweis dieses Zusammenhanges J«wischen der Reihenfolge der Alternativen bzw. der Auswahlkriterien und der Intransitivitat der Praferenzen bei einem sequentiellen Selektionsverfahren wurde von Tversky (1972) erbracht.

Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Weber und Esser

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niert, der nicht nur egoistisch seine eigene Nutzenfunktion maximiert, sondern auch die Nutzenfunktionen anderer Akteure oder die Nutzenfunktion der Gruppe bei seinen Entscheidungen mitberiicksichtigt. Je nach dem Gewicht der fremden Nutzenfunktionen kann nun sowohl das Verhalten eines extremen Egoisten (ihm sind die anderen Menschen vollig egal), eines extremen Altruisten (sein eigener Nutzen hangt ausschlieClich von dem Gliick anderer Menschen ab) oder jedes Mischungsverhaltnis dieser beiden Extremtypen dargestellt werden. So interpretiert handelt es sich beim affektuellen sozialen Handeln ebenso wie beim zweckrationalen Handeln um ein teleologisches Handeln im Sinne einer simultanen Bewertung eines Zweckes iiber den Nutzen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass beim zweckrationalen Handeln die Bewertung danach erfolgt, welchen Beitrag eine Alternative fiir den Nutzen des Akteurs selbst leistet, wahrend beim affektuellen sozialen Handeln der Beitrag einer Alternative fiir den Nutzen anderer Akteure bewertet wird. Das affektuelle Verhalten grenzt sich demnach vom zweckrationalen Handeln dadurch ab, dass der chaotische Charakter des affektuellen Verhaltens durch ein sequentielles Selektionsverfahren anstelle eines simultanen dargestellt wird. Und das affektuelle soziale Handeln unterscheidet sich vom zweckrationalen Handeln durch ein altruistisches anstelle eines egoistischen Bewertungskriteriums, wodurch die besondere emotionale Verbundenheit der Akteure formal dargestellt werden kann. Der letzte idealtypische Handlungsbegriff des traditionalen Verhaltens stellt ein besonderes Problem dar, weil Max Weber erstens keine ausreichende Definition vorlegte, er zweitens diesen Typus meiner Ansicht nach vollig missverstand und drittens der Alltagsbegriff der Tradition hier nicht besonders weiterhilft. Ein traditionales Verhalten ist nach Max Weber kein »sinnhaftes« Handeln mehr (bei Verwendung eines okonomischen Deutungsschemas), weil es ohne Reflexion auf bekannte Reize in habitueller Form vollzogen wird (Weber 1922, S. 12). Im Zusammenhang mit der traditionalen Herrschaft spricht Weber auch von der „Geltung des immer Gewesenen" (Weber 1922, S. 19) bzw. von der Legitimierung „kraft Glaubens an die HeiHgkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen" (Weber 1985b, S. 478). Wenn von dem religiosen Aspekt abstrahiert wird, haben aUe Ausfuhrungen eines gemeinsam: etwas steht nicht zur Disposition. Es Hegt also nahe, von einem dispositionellen Selektionsmechanismus wie beim wertrationalen Handeln im Sinne eines kategorischen Imperatives auszugehen. Worin besteht aber der Unterschied zwischen einem traditionalen Verhalten und einem wertrationalen Handeln? Weber spricht im Zusammenhang mit dem traditionalen Verhalten immer wieder von „Gewohnung" (Weber 1922, S. 12, 1985b, S. 480, vgl. 1907, S. 331), wahrend er beim wertrationalen Handeln von der „Geltung des als absolut giiltig Erschlossenen" spricht (Weber 1922, S. 19). Demnach ware der Grad der Reflexion der urspriingUchen Entscheidung, etwas in Zukunft nicht mehr zur Dis-

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position zu stellen, der Unterschied zwischen dem traditionalen Verhalten und dem wertrationalen Handeln. Es fragt sich natiirlich, inwieweit nicht auch die Internalisierung moralischer Wertvorstellungen blofi ein Prozess der Gewohnung ist (wie 2.B. Parsons annimmt), wodurch die Unterschiede wieder verschwinden. Alles in allem ist die Behandlung des txaditionalen Verhaltens bei Max Weber unzureichend. Ungliicklicherweise lasst sich auch kaum etwas aus seinen Vorarbeiten weiterentwickeln. Wenn Normen klar von Bedeutungen unterschieden werden, lasst sich die Differenz zwischen dem wertrationalen und dem traditionalen bzw. habituellen Verhalten substantiell fas sen. Ein wertrationales Handeln im Sinne eiaes kategorischen Imperatives legt eine als niitzlich bewertete Norm fest, welche in der Zukunft nicht mehr zur Disposition steht. Diese Norm ist niitzlich, weil durch sie interne Sanktionen (z.B. ein schlechtes Gewissen) vermieden werden. Hingegen legt ein traditionales Verhalten eine als adaquat bewertete Bedeutung fest, welcher in der Zukunft als fraglos gegeben akzeptiert wird. Adaquat ist eiae Bedeutung eines Symbols, weil sie schon in der sozialen Gruppe, in die ein Akteur hineingeboren wird, existiert. Und wenn ein neuer Akteur mit seinen Mitmenschen interagieren will, sorgt er besser dafiir, dass sie ihn verstehen. Es wird nun deutUch, warum Max Weber Schwierigkeiten hatte, etwas liber den Ursprung der »Tradition« zu sagen. Sprachen werden nun einmal nicht komplett neu eingefiihrt, wie dies bei Normsystemen theoretisch moglich ist, sondern jede Anderung einer Sprache beruht zwangslaufig auf den bereits existierenden Strukturen. Insofern wird deutlich, dass der Kern des traditionalen Verhaltens die Bedeutungsstrukturen und nicht die normativen Wertvorstellungen der Akteure sind. Damit waren wir nun bei der Handlungstheorie von Alfred Schiitz angelangt: mit der klaren Trennung von drei verschiedenen Wertkriterien (Zweck, Bedeutung und Norm [welche von Schiitz nicht weiter behandelt wird]) und zweier Bewertungskriterien (Nutzen und Adaquatheit). Das Bewertungskriterium der Adaquatheit ordnet Alternativen nicht danach, welchen erwarteten Nutzen sie stiften, sondern Handlungssequenzen nach ihrer VerstandHchkeit fiir andere Akteure (es ist in Japan verstandlicher, sich zur BegriiBung zu verbeugen als sich die Hande zu schiitteln, obwohl dies auch noch verstanden werden diirfte, wahrend aber eine franzosische BegriiBung mit drei Kiissen vermutUch einen Schock auslosen wiirde). Normalerweise spielt dieses Adaquatheitskriterium nur eine untergeordnete Rolle, weil die adaquat bewerteten Alternativen fraglos gegeben bzw. habituell durchgefiihrt werden. Wenn aber die habituelle Alternative problematisch witd, wird der Akteur gezwungen, die Adaquanz verschiedener Alternativen abzuschatzen (dies ist der Gegenstand der Untersuchungen von Harold Garfinkels Krisenexperimenten). Es ist hier leider kein Platz, um die Handlungstheorie von Alfred Schiitz weiter auszufiihren, insbesondere die Beschreibung der Interaktionen zwischen den behandelten Wert- und Bewertungskriterien ist ausgesprochen komplex (vgl.

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Etzrodt 2003, S. 174ff). Es soil hier geniigen, festzuhalten, dass das traditionale Verhalten alles andere als ein eingeschrankt »sinnhaftes« Verhalten ist. Es ist vielmehr der Urtyp des »sinnhaften« Handelns und gerade wegen der Bezugnahme auf den traditionalen Bedeutungszusammenhang besonders gut verstandlich. 2 Methodologische Funktion det Handlungstheorie von Max Webet Max Webers methodologische Arbeiten konnen als ein Versuch aufgefasst werden, die Widerspniche in der okonomischen Theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu iiberwinden. Sein Ziel war die Integration zweier grundverschiedener Positionen: der Vertreter der Grenznutzenschulen (insbesondere der osterreichischen um Carl Menger), welche generelle kausale Geset^e im Sinne der Naturwissenschaften auffinden wollten, und der Deutschen Historischen Schule (um Gustav SchmoUer), welche historische Ereignisse in ihrer Totalitat durch ihre Vorgeschichte erklaren wollten. Max Webers Losung lag in der Erkenntnis, dass es sich dabei um verschiedene Probleme handelt, welche allerdings nicht unabhangig voneinander zu losen sind. Weber unterschied drei Arten, nach denen ein Forschungsproblem bearbeitet werden kann. „Die Soziologie bildet [...] Typen-Begriffe und sucht generelle Kegeln des

Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueUer, kulturwichtiger, Handlungen, Gebilde, PersonHchkeiten erstrebt." (Weber 1922, S. 9, Hervorhebungen nicht im Original) Erstens konnen aus zahlreichen Beispielen eines realen Phanomens charakteristische Merkmale abstrahiert und zu idealtypischen Kon^pten umformuUert werden. Es geht hier um die Klarung der typischen Bedeutung dieser Konzepte. Die Idealtypen umfassen alle fiir ein Forschungsproblem relevanten Begriffe. Klar definierte Konzepte sind eine Voraussetzung (vgl. Weber 1904, S. 175), um in einem zweiten Schritt die einem Phanomen zugrundeliegenden „objektiven^^ kausalen Zusammenhdnge zwischen charakteristischen realen Merkmalen (welche theoretisch als Idealtypen konzipiert wurden) aufzudecken und als hypothetisches Modell zu verwenden. Diese beiden Aufgaben der Theoriebildung (Idealtypenkonstruktion und Modellbildung) rechnet Max Weber der Soziologie zu. Die Theorieanwendung bei der Interpretation der konkreten ReaHtat bezeichnet er hingegen als ein Problem der Historiker (vgl. Weber 1903-06, S. 90f). Hier geht es vor allem um das verstehende Deuten des „subjektiven ^' Kausal^sammenhangs zwischen den Motiven einer historischen Person und ihren konkreten Handlungen unter Beriicksichtigung der „objektiven" Kausalzusammenhange und der Verwendung der idealtypischen Begriffe.

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Ein „objektiver" kausaler Zusammenhang soil als ein wahrnehmbarer Zusammenhang zwischen Situationsmerkmalen und der Reaktion eines Objektes bzw. eines Akteurs aufgefasst werden, wahrend mit einem „subjektiven" Kausakusammenhang die nicht wahrnehmbare und zu deutende Motivation einer Handlung eines Akteurs gemeint sein soll.^^ In den Naturwissenschaften ware ein hypothetischer „objektiver" kausaler Zusammenhang beispielsweise der Einfluss der Temperatur (Situationsbedingung) auf den Aggregatzustand eines Objektes (z.B. Wasser). Wenn die Temperatur von -5° C auf +5"* C steigt, verandert sich der Aggregatzustand des Wassers von fest zu fliissig. Andererseits ware ein hypothetischer „objektiver" Kausalzusammenhang in den Sozialwissenschaften beispielsweise der Einfluss von Preisen auf das Kaufs^erhalten von Akteuren unter der Annahme bestimmter Motive. Wenn der relative Preis von Apfeln im Vergleich zu Birnen ansteigt, werden die Akteure weniger Apfel als Birnen kaufen, wenn sie die Preise vergleichen (d.h. wenn sie die Perspektive eines homo oeconomicus besitzen) und sich nutzenmaximierend verhalten. Der Unterschied zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften liegt somit fiir Weber darin, dass das Forschungsobjekt in den Sozialwissenschaften menschliche Subjekte sind, deren Handeln iiber die Situationsgebundenheit hinaus auch von ihrer Situationsdefinition und ihren Motiven abhangt (Weber 1903-06, S. 6). Weber schlagt nun vor, von der Annahme zweckrationalen Verhaltens auszugehen, um die Kausalzusammenhange zwischen der Situation und dem Handeln aufzudecken (Weber 1903-06, S. 129, Esser 2003, S. 154). Er versucht somit die „subjektiven" Kausalzusammenhange auf rationalem Niveau konstant zu halten, um iiberhaupt die „objektiven" kausalen Beziehungen verifizieren zu konnen. Dies ist ein Punkt, auf den ich im Zusammenhang mit Popper zuriickkommen werde. Fiir Weber ist diese Forschungsstrategic einer rationalen Deutung allerdings — und wie sich zeigen wird, im Gegensatz zu Popper — nicht das Ziel der Soziologie, sondern lediglich das haufig geeignetste Mittel (Weber 1922, S. 3). Widerspriiche zwischen dem Modell und der Realitat fiihren fiir ihn nicht zwangslaufig zu einer Falsifikation des Modells, sondern zu einer Analyse der Abweichungen iiber mogHche irrationalere Handlungstypen bzw. Situationsdefinitionen (Weber 1922, S.

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Max Weber unterscheidet i^wei Bedeutungen der Kategorie der Kausalitat. Kausalitat bedeutet erstens fiir ihn eine Kegel bzw. ein Gesetz, welches der Auffassung von »Gesetzen« in den Naturwissenschaften entspricht. Zweitens verwendet er den Kausalitatsbegriff auch im Sinne eines kausalen Wirkens, d.h. ein durch bestimmte Motive kausal verursachtes Verhalten (Weber 1903-06, S. 134f, vgl, 1985a, S. 361). Die erste Bedeutung des Kausalitatsbegriffs verbindet Weber eindeutig mit einer Situationslogik, wie es spater von Popper genannt wurde: „In beiden Fallen aber nehmen wir nicht eine »psychologische« Analyse der »Personlichkeit« mit Hilfe irgendwelcher eigenartiger Erkenntnismittel vor, sondern vielmehr eine Analyse der »ohjektiv« gegebenen Situation mit Hilfe unseres nomologischen Wissens" (Weber 1903-06, S. 129, Hervorhebung im Original, vgl. 1919, S. 582, 1922, S. 15).

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2f, 1903-06, S. 130f, 1913, S. 432). Dariiber hinaus bedarf die Zweckrationalitatshypothese jedes Mai einer Verifikation (Weber 1903-06, S. 100, 1913, S. 437f). »So2iologische Regeki« umfassen dementsprechend nach Weber beide Kausalitatskriterien. Sie gelten nur, wenn sowohl ein statistischer Zusamtnenhang zwischen Situationsbedingungen und dem Handeln der Akteure vorHegt als auch dieser „objektive" Zusammenhang iiber einen Motivationszusammenhang unter Verwendung der idealtypischen Begriffe deutend verstanden werden kann (Weber 1922, S. 5f und S. 9). Die methodologischen VorsteUungen Max Webers konnen folgendermaBen zusammengefasst werden: A. Sinn^sammenhdnge fur den Akteur (Kealitdt)^ ^

Motivationsgebundenheit (von den Motiven zum Handeln): m => x Situationsgebundenheit (von den Situationsbedingungen zum Handeln): y =>x Lebensweltliche Begriffe mi, yi, Xi und seine Situations definition si => mi, B, V^erstehende Sitingschreihung durch den Forscher^^ 1) als So^ologen (Theoriehildung: von der Kealitdt ^r Theorie) a) Begriffsanaljse

Klarung der idealtypischen Begriffe M, Y, X und der Begriffsbeziehungen Y=:>X, M=^Y b) Situationsanalyse

„»Sinn« ist hier entweder a) der tatsachlich a. in einem historisch gegebenen Fall von einem Handelnden oder |3. durchschnittlich und annahernd in einer gegebenen Masse von Fallen von den Handelnden oder b) in einem begrifflich konstxuierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinter Sinn. Nicht etwa irgendetn objektiv »richtiger« oder ein metaphysisch ergriindeter »wahrer« Sinn." (Weber 1922, S. 1) Diese klassische Definition des »Sinns« von Weber ist eigentiich kaum ohne eine Kenntnis seiner methodologischen Arbeiten verstandlich. Der erste Punkt be^ieht sich auf die sinnhafte kausale Verursachung durch Motive, wahrend der zweite Punkt die statistisch feststeUbare Situationsgebundenheit aller Akteure betrifft. Der dritte Punkt ist meiner Meinung nach dagegen falsch formuliert, weil er die vom Akteur verwendeten lebensweltlichen Begriffe des Akteurs nicht von den wissenschafdichen Idealtj^pen des Forschers trennt. Eine Trennung ist hier logisch 2wingend geboten, gerade weil er eine getrennte Definition des »Verstehens« als einen Akt der Sinnzuschreibung fiir die Perspektive des Forschers vorlegt. „»Verstehen« heiBt in all diesen Fallen: deutende Erfassung: a) des im Einzelfall real gemeinten (bei historischer Betrachtung) oder b) des durchschnittUch und annaherungsweise gemeinten (bei soziologischer Massenbetrachtung) oder c) des fiir den reinen Typus (Idealt)^pus) einer haufigen Erscheinung wissenschaftHch zu konstruierenden (»idealtypischen«) Stnnes oder Sinnzusammenhangs." (Weber 1922, S. 4) Mit dem ersten Fall ist die Motivationsanalyse eines Historikers gemeint. Die beiden anderen betreffen die Situationsanalyse und die Begriffsanalyse des Soziologen.

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Erklarung der sitxiationsabhangigen Kausakusammenhange: Y=>X unter der vorlaufigen Anwendung der Zweckrationalitatshypodiese und unter Verwendung der idealtypischen Begriffe 2) als Historiker (Theorieanwendung: von der Theorie ^r Kealitdt) Motivationsanalyse

Erklarung der motivationsabhangigen Kausalverursachung eines konkreten Ereignisses: M:=>X unter Anwendung der situationsabhangigen Kausal^usammenhange und unter Verwendung der idealtypischen Begriffe Max Webers Handlungstheorie hat die methodologische Funktion — wie nun offensichtHch wird —, verschiedene Forschungsansatze ineinander zu integrieren. Handlungstypen sind noch viel mehr als andere idealtypische Begriffe eine essentielle Voraussetzung empirischer Situationsanalysen, weil sie nicht nur als Deutungsschema dienen, sondern die Zweckrationalitatshypothese auch ein elementarer Bestandteil jeder Verifikations- oder Falsifikationsstrategic ist. Die Handlungstypen werden ferner ziim zentralen Gegenstand bei der Erklarung historischer Phanomene. Es handelt sich bei ihnen um den Ausgangspunkt jeder soziologischen Erkenntnis. Webers Handlungstypen miissen vielseitig sein, um den Erkenntnisinteressen dieser verschiedenen Aufgaben gerecht zu werden, und sie miissen prazise definiert sein, um wiUkiirliche Interpretationen der Forscher zu vermeiden (vgl. Weber 1903-06, S. 121f, 1904, S. 195). 3 Handeln, soziales Handeln und die Definition det Situation bei Hartmut Esset Hartmut Esser (1999, S. IX f) vertritt mit seiner Handlungstheorie den Anspruch, die Tradition von Max Webers Verstehender Soziologie und von Karl Poppers Kritischem RationaHsmus fortzufiihren. Sein Ziel ist die Uberwindung des noch immer in der Soziologie existierenden Gegensatzes zwischen Makround Mikrotheorien. Es geht ihm um die ,,V^erbindung zwischen den Strukturen der Gesellschaft und dem Handeln des Menschen" (Esser 1999, S. 5, Hervorhebungen im Original). Die Makrosoziologie ist nach Esser nicht in der Lage, die Sinnhaftigkeit sozialer Phanomene in zufriedenstellender Weise zu behandeki, wahrend es der Mikrosoziologie nicht zu erklaren gelingt, wie „die Gesellschaft als objektive, den Menschen oft fremd gegeniiberstehende Wirklichkeit entsteht" (Esser 1999, S.8f).

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Handeln, soziales Handeln und Handlungstypen bei Weber und Esser

Darstellung 1: Essers Erklarung sozialer Phanomene iiber Poppers Situationslogiken

Makrophanomen (An fangsbedingung) lj)gik der Situation

Makrophanomen (Endzustand)

Erkldrungsproblem

hogik der Sekktion

Individuum (nach der Wahl)

Ijo^k der A^regation

1

Quelle: Etzrodt 2001, S. 16, nach einer Idee von Coleman 1990, S. 8.

Als Losung dieses Problems stellt er die Situationslogik von Popper vor (Esser 1999, S. 18f und S. 25). Die Veranderung von Makrophanomenen wird iiber Verhaltensanderungen der Individuen erklart. Diese Erklarung umfasst drei Schritte: in der Logik der Situation wird der Einfluss der Situation auf die Individuen analysiert, in der Logik der Selektion geht es um die rationale Reaktion der Individuen auf diese Situationsbedingungen und in der Logik der Aggregation werden die intendierten und unintendierten Folgen des Handelns der Akteure behandelt (siehe Darstellung 1). Ich werde mich zuerst mit Hartmut Essers Erklarung der »Logik der Selektion« auseinandersetzen, bevor ich seine »Logik der Situation« beschreibe. Ein solches Vorgehen erscheint angebracht, da Esser bei seiner »Definition der Situation« von der herkommlichen Rational Choice Theorie bzw. der okonomischen Theorie abweicht, was wiederum Auswirkungen auf die »Logik der Selektion« hat. Hartmut Esser definiert ein y>Handeln« in dem Sinne der okonomischen Lesart von Max Webers Definition des »Handelns« iiber den Grad der Rationalitat des Handelns fiir den Akteur (Esser 1999, S. 178). Eia Handeln ist fiir ihn ein Verhalten mit intentionakr und refkktierter Zukunftsanti^pation (Esser 1999, S. 181). Es verfolgt die Losung von Problemen, und jedes problemlosende Handeki beruht auf einer Wahl (Esser 1999, S. 40f). Motiviert wird es durch die erwartete Nutzenstiftung der gewahlten Alternative (Esser 1999, S. 44). Und der Nutzen witd durch die Befriedigung der Bediirfnisse nach sozialer Wertschatzung und physischem Wohlbefinden produziert (Esser 1999, S. 92). Letztlich unterscheidet sich das Handeln nur graduell vom Verhalten, well auch das Verhalten in der luogik der Sekktion der Nut^nmaximierungsregeI iolgt (Esser 1999, S. 182). Diese faktische Gleichsetzung der Begriffe des »Handelns« und des »Verhaltens« hat aber weniger mit Max Weber als mit der generellen Betrachtungsweise des menschlichen Verhaltens in der Okonomik zu tun, da jedes Verbal-

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ten als das Resultat einer Wahl aufgefasst wird (Esser 1999, S. 275, vgl. auch S. 318), wobei aber mit dieser Wahlfreiheit nicht Zwange, Fehler und Unsicherheiten ausgeschlossen werden. Dennoch will Esser Max Weber als Paten fur seinen Begriff des »Handelns« gewinnen, indem er Webers »subjektiven Sinn« im zweckrationalen Handeln (Esser 1999, S. 196) als die Intentionalitat des Tuns und die Antizipation der Folgen interpretiert (Esser 1999, S. 194). Wie aber schon gezeigt wurde, umfasst Max Webers »subjektiver Sinn« erhebUch mehr als nur die Orientierung an Zwecken. Fur Esser bezieht sich das Konzept des »Sinns« ausschlieBHch auf die Situationsgebundenheit des zweckrationalen Handelns in der Logik der Selektion bzw. Situation. Meines Erachtens nach handelt es sich daher bei seiner Definition des »Handelns« um ein eingeschrankteres Konzept als noch bei Max Weber, obwohl es dem Anspruch nach mehr Falle realen Verhaltens zu umfassen scheint. Der Begriff der y>Handkng« wird von Esser (1999, S. 191) zur „Unterscheidung zwischen dem Handeln als fortwahrender Selektion und der Selektion eines vorgestellten Modells des Handelns" verwendet. Eine »Handlung« ist eine typische Verhaltenssequenz, welche einem Akteur zur Orientierung fur sein »Handeln« dient. Sie wird haufig auch als Norm oder Rolle bezeichnet. Interessanterweise entwickelt Hartmut Esser sein Konzept des y>so^alen Handelnsii nun nicht aus diesem Begriff der »Handlung« im Sinne einer Rollentheorie iiber die von den Akteuren gemeinsam geteilten Bedeutungs- oder Normstrukturen (wie bei Schiitz oder Parsons), sondern aus dem Begriff des »Handelns« unter doppelter Kontingenz (Esser 2000a, S. 6Q. Wieder beruft sich Hartmut Esser (2000a, S. 4) bei seiner Definition des »sozialen Handelns« zuerst auf Max Weber, um dann aber die Vernachlassigung der Interdependenz bei Weber mit der Spieltheorie zu iiberwinden. Ein Ergebnis hangt nicht mehr nur von dem Handeki einer Person, sondern von mehreren ab. Die doppelte Kontingenz zwingt einen Akteur im Gegensatz zu einem Spiel gegen die Natur, das Verhalten seiner Mitakteure zu antizipieren und in seiner Entscheidung mit zu beriicksichtigen, mit dem Wissen, dass auch seine Mitakteure sein Verhalten antizipieren und mitberiicksichtigen. Hartmut Essers hogik der Selektion ist nun wie die okonomische Theorie im aUgemeinen in der Lage, Max Webers ^eckrationales (so^ales) Handeln zu beschreiben. Ebenso kann das affektuelle so^ale Handeln ohne weiteres mit Essers Logik der Selektion beschrieben werden (wenn die Egoismus-Annahme aufgegeben wird), obwohl Esser selbst das okonomische Altruismus-Konzept nicht beriicksichtigt. Auch das wertrationale Handeln in der Form des normativen Handelns stellt fur Essers Logik der Situation kein Problem dar. Esser unterscheidet die Bediirfnisse der sozialen Wertschatzung, welche einer Bewertung einer auf einer Norm basierenden Sanktion entspricht, und des physischen Wohlbefindens, welchem die Bewertung eines Zweckes zugrunde Uegt. Insofern beziehen sich seine idealtypischen Bediirfnisse schon auf die das zweck-

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und wertrationale Handeln betreffenden Werte. Hingegen kann das wertrationale Handeki im Sinne eines kategorischen Imperativs, das spontane affektuelle Verhalten und das traditionale Verhalten nicht zufriedenstellend mit Essers Logik der Selektion behandelt werden. U m aber auch diesen Handlungstypen gerecht zu werden, konstruiert Hartmut Esser sein Modell der Definition der Situation. Es ist nicht nur das Ziel von Esser, eine generelle Handlungstheorie liber die Logiken der Selektion und der Situation zu formulieren, die alle moglichen Handlungstypen umfasst (Esser 2001, S. 329), sondern gerade mit Hilfe der Logik der Situation zu erklaren, wanim ein Akteur sich zweck-, wertrational oder traditional verhalt (Esser 1999, S. 229). Die Definition der Situation ist fur Hartmut Esser (1999, S. 46) eine Selektion der Orientierung, wobei er die Phasen der Kognition und der Orientierung unterscheidet (Esser 2001, S. 205). In der kognitiven Phase werden Sinnesreize wahrgenommen und iiber ihre Ahnlichkeit mit aus vergangenen Erfahrungen abstrahierten Typen erkannt. Durch diese Ubereinstimmung (Match) zwischen dem Reiz und dem Typ wird ein Modell der Situation automatisch aktiviert. Falls es aber zu keiner Ubereinstimmung kommt, wird in der Orientierungsphase nach dem richtigsten oder niitzlichsten Modell gesucht und ein geeigneter Modusfur die nachfolgende luogik der Selektion gewahlt (Esser 2001, S. 219f und S. 259). Dabei folgt sowohl die Selektion des Modells als auch des Modus dem Nutzenmaximierungskriterium (Esser 1996, S. 30, 1999, S. 241, 2001, S. 259). Es handelt sich somit bei Esser u m zwei simultan zu losende Selektionsprobleme: die Selektion eines Modells der Situation (sj € S = {si, ..., Sn}) und die Selektion eines Modus (ap-Modus fur ein automatisches Verhalten bzw. rc-Modus fiir eine rationale Wahlentscheidung) fur die Auswahl der Alternativen (ai G A = {ai,..., am}) in der Logik der Selektion (Esser 1996, S. 18). A, Ijogik der Situation 1) Selektion des Modells Der Akteur muss eine Wahl zwischen dem habituellen Situationsmodell si und einem alternativen Situationsmodell S2 treffen. Diese Wahl erfolgt durch einen Vergleich des erwarteten Nutzens dieser beiden Modelle mui und (l-m)u2, wobei die Matchkomponente m den Grad der Ubereinstimmung der wahrgenommenen Elemente der realen Situation s* mit dem im Gedachtnis gespeicherten Modell angibt. Nach Esser muss eines der beiden Modelle gelten, wodurch die Summe von m und (1-m) eins wird. SEU(si) = mui; SEU(S2) = (l-m)u2.

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Das erste Modell wird gewahlt, wenn das habituelle Situationsmodell einen relativ groBeren Nutzen verspricht und relativ besser 2ut Situation passt: ui/u2 > (l-m)/m (Esser 1996, S. 21, 2001, S. 271). 2) Sekktton des Modus In einem zweiten Schritt muss sich dei: Akteur 2wischen zwei moglichen Modi entscheiden. Der erste Modus ap beschreibt das automatische Befolgen der zum ersten Situationstyp gehorenden habituellen Alternative. Der zweite Modus re stellt einen rationalen Suchprozess nach einer besseren Alternative dar. Der erwartete Nutzen des ap-Modus hangt von dem gewohnheitsmaBig reaUsierten Nutzen ui und einem Faktor d ab, der angibt, um wie viel der Situationstyp si besser als der Situationstyp S2 ist (d ist eine Funktion von ua/ui und m, wobei d groBer wird, wenn die »Distanz« zwischen ua/ui und der Ubergangsschwelle m/(l-m) zunimmt, d.h. je kleiner U2/U1 und je groBer m/(l-m), desto groBer wird d). Der erwartete Nutzen des rc-Modus wird auf der anderen Seite durch die WahrscheinHchkeit p, einen hoheren Nutzen U2 einer besseren Alternative zu finden, und den Suchkosten c bestimmt, wobei der Akteur immer noch auf die habituelle Alternative zunickgreifen kann, wenn er mit der WahrscheinHchkeit (1-p) keine bessere Alternative findet. SEU(ap) = dui. SEU(rc) = pu2 + (l-p)dui - c. Der zweite Modus wird somit gewahlt, wenn U2 - dui > c/p ist. Wird der zweite Modus bevorzugt, wird auch das Situationsmodell si fragHch. Daher handelt es sich bei der Modusselektion um die maBgebUche Selektion in der »Definition der Situation«, wahrend die ModeUselektion nur indirekt iiber die Variable d in die Situationsdefinition eingeht (Esser 1996, S. 22f, vgl Riker/Ordeshook 1973, S. 23). Diesen Punkt korrigierte Esser (2000b, S. 785, 2001, S. 273) in seinen spateren Arbeiten, indem er den Faktor d durch den Matchparameter m ersetzte. SEU(ap) = mui. SEU(rc) = p(l-m)u2 + (l-p)mui - c. Durch diese Modifikation ist der Spezialfall moglich, dass die Nutzenkomponente jede Bedeutung fxir die Erklarung der Selektion einer Situationsdefinition verliert. Esser (2000b, S. 786) fuhrt zurecht aus, dass die Variablen ui, U2, p und c keinen Einfluss auf die Modusselektion haben, wenn m = 1 ist bzw. ein bestimmter Situationstyp mit absoluter Sicherheit zu der realen Situation passt. In diesem Fall wird das Produkt p(lm)u2 gleich null, wodurch die Wahl des ap-Modus immer vorteilhafter

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ist, da das Produkt (l-p)mui immer groBer als die Suchkosten c ist (unter der Voraussetzung, dass p nicht ebenfalls gleich eins ist).^"^ B. Ijogik der Sekktion 1) beim „habituellen" (ap)-Modus: die habituelle Alternative ai witd befolgt 2) beim „rationalen" (rc)-Modus: die nutzenmaximierende Alternative ai wird gewahlt. Mit dieser Formulierung der Definition der Situation ist Esser nun in der Lage, die rationale Entscheidung, nicht zu wahlen, 2u modeUieren. Max Webers traditionaks und affektuelles Verhalten kann somit als ein automatisch durchgefuhrtes Verhalten in der Logik der Selektion interpretiert werden, welches einer rationalen Selektion eines Modells der Situation und eines Modus (ein habituelles bzw. ein affektuelles Skript) folgt. Demnach sind traditionales und affektuelles Verhalten nur in der Logik der Selektion irrational, wobei diese Irrationalitat aber rational in der Logik der Situation erklart werden kann (Esser 2001, S. 310). Hingegen stellt Max Webers ivertrationales Handeln im Sinne eines kategorischen Imperativs erst einmal ein Problem dar, weil es zwar ebenso wie das traditionale Verhalten modeUiert werden kann, dies aber der bewussten Befolgung der Werte in Webers Konzept widerspricht (Esser 2001, S. 314ff), zumal Esser (2001, S. 219) die kognitiven Prozesse in der ModeUselektion als automatisch ablaufend bezeichnet. Er lost dieses Problem dadxirch auf, dass er den Eigenwert eines wertrationalen Handekis als den Zweck einer Regel fiir die Gesellschaft umdefiniert (Esser 2001, S. 319fQ. Ein wertrationales Handeln ist demnach ein Handeln, welches einer zweckrational festgelegten »Verfassung« folgt (um notwendige soziale Konsequenzen zu garantieren), wahrend das zweckrationale Handeln auf immer wieder neu auszuhandelnden »Vertragen« beruht. Daher folgt es in der Logik der Selektion dem ap-Modus, welcher durch ein bewusstes Setzen des Matchparameters auf 1 in der ModeUselektion aktiviert wird (Esser 2001, S. 323). SchlieBUch kommt Hartmut Esser zu dem Ergebnis, dass seine auf dem Framing-Konzept basierende Definition der Situation nicht nur auf dem besten Wege zu einer y>general theory of action« sei, sondern sie bereits verwirkUcht habe, wodurch die „Einseitigkeiten [der Okonomie, der (Sozial-)Psychologie und der Soziologie] zugunsten [..] einer allgemeinen Theorie des Handelns fur alle Gesellschaftswissenschaften aufgelost" werden (Esser 2001, S. 330, Hervorhebungen im Original). Ich stimme mit der Position von Hartmut Esser insofern iiberein, dass er liber sein Modell der Definition der Situation tatsachlich die verschiedenen Handlungstypen Max Webers erklaren kann. Problematisch daran ist aUerdings,

Esser (2003, S. 160f) nahm aber i^uletzt diese Anderung wieder zioriick.

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dass ihm dies mit einem sachlich falschen Modell gelingt. Es gibt vier wesentliche Einwande gegen die Richtigkeit seiner Logik der Situation. 1) Die urspriingliche Version der Definition der Situation (Esser 1996) bestand aus drei simultan zu losenden Maximierungsproblemen. Menschen besitzen jedoch nur eine eingeschrankte Rationalitat (das »bounded rationality«Problem von Herbert A. Simon), was eine Anwendung dieses Modells in der Realitat auBerst unwahrscheinlich werden lasst. Es fuhrt desweiteren zu der paradoxen Situation, dass die Erklarung eines traditionalen Verhaltens (drei Maximierungsprobleme) komplexer ist als die Erklarung eines zweckrationalen Handelns (ein Maxknierungsproblem). Dies widerspricht aber dem Alltagsbegriff von Traditionen und Habits als Gewohnheiten, worunter normalerweise eine Reduktion des Aufwandes in einer Handlungssituation verstanden wird (Etzrodt 2000, S. 775). Dieses Problem behebt Esser durch die Revision seines Modells (Esser 2000b/2001), da bei einem perfekten Match (m=l) zwischen der realen Situation und einem Situationsmodell jede weitere rationale Selektion unterbleibt. Ein automatisches traditionales Verhalten wird somit auch im Modell einfacher dargestellt als eine zweckrationale Selektion von Situationsmodell, Modus und Alternativen. Allerdings wird das »bounded rationality«Problem nur beitn Match behoben, wahrend bei einem Mismatch die drei Maximierungsprobleme immer noch die kognitiven Kapazitaten der Menschen liberfordern diirften. 2) Bei der revidierten Version von Essers Definition der Situation tritt nun das Problem auf, dass es nur dann zu einem automatischen Verhalten fuhrt, wenn eine reale Situation zu 100% mit einem Situationsmodell iibereinstimmt (schon bei einer Plausibilitat einer Situationsdefinition von 99,99% wird die Nutzenkomponente fur die Modusselektion relevant). Da sich reale Situationen niemals gleichen, wird es kaum vorkommen, dass ein Situationstyp perfekt zu einer realen Situation passt. Es ist ja gerade die Aufgabe von Situationstypen, fiir leichte V^ariationen von realen Situationen als angemessene Annaherung zu dienen. Beispielsweise wird eine Person, die taglich in derselben Mensa isst, niemals mit derselben Situation konfi:ontiert, da sie jedes mal andere Personen mit anderen Speisen wahrnehmen wird und auch sie jedes mal um die Erfahrung eines Tages reicher ist. 3) Das eigentliche Problem ist aber die Verkniipfung des Matchparameters mit Nutzenabwagungen in der Definition der Situation. Ich habe weder Probleme mit der Existenz des Matchparameters in seinem Modell, noch mit der Vorstellung, dass Bedeutungszusammenhange durch ein Situationsmodell aktiviert werden. Ich kann aber nicht akzeptieren, dass diese Selektion von Modell und Modus ebenfalls vom Nutzenkalkiil abhangen soil, wenn es zu keiner hundertprozentigen Ubereinstimmung zwischen Situationsmodell und der wahrgenommenen Situation kommt. Das folgende Beispiel wird verdeutlichen, dass die Wahl einer angemessenen Situationsdefinition nichts mit der

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Nutzenkomponente zu tun hat. Eine Person betritt einen Saal (das 1. Merkmal der realen Situation), in dem viele Menschen an Tischen sitzen (das 2. Merkmal der realen Situation) und Nahrung zu sich nehmen (das 3. Merkmal der realen Situation). In diesem Beispiel assoziiert der Akteur zu diesen realen Merkmalen drei Situationstypen, fur die solche Merkmale typisch sind: ein teures Restaurant, ein Fast-food Restaurant und die Mensa einer Universitat {der Matchparameter m istjur alle Situationstypen gleichgroj^. Der Akteur hat nun die Schwierigkeit, aus diesen und weiteren problematischen Situationstypen einen angemessenen zu selektieren. Esser geht in seinem Modell davon aus, dass ein Akteur sich zuerst iiberlegt, ob er nach weiteren passenden Situationstypen suchen soil oder nicht. Nehmen wir an, dass er sich aus Kostengriinden gegen eine weitere Suche entscheidet, zumal er ja schon drei Situationstypen zur Auswahl hat. Die Wahl eines Situationstyps hdngt in diesem Fall alleine von dem erwarteten Nut^n der Situationsdefinitionen ab, da alle drei Situationstypen in gleicher Weise zu der realen Situation passen {mfdlltdamitm^. Der Akteur wird demnach die Situationsdefinition »teures Restaurant« wahlen, wenn er ein Feinschmecker und bereit ist, ftir ein gutes Essen auch den entsprechenden Preis zu zahlen. Es ist allerdings offensichtlich, dass eine solche Selektion einer Definition der Situation vollig irrational ist. Die Tatsache, dass ein Akteur teures Essen gegeniiber einem gunstigen Essen praferiert, heiBt noch lange nicht, dass er glaubt, sich in einem teuren Restaurant zu befinden (Etzrodt 2004, S. 78). Der Akteur ist vielmehr auf der Suche nach einem Situationstyp, der »bedeutungs«voll zu der realen Situation passt. Er diirfte das Problem dadurch losen, dass er weitere Merkmale der realen Situation betrachtet und diejenigen Situationsmodelle aussondert, die diese Merkmale nicht in idealisierter Form besitzen. 4) Ein weiteres Problem ist die Korrelation der habituellen (bzw. rationalen) Modellselektion mit der habituellen (bzw. rationalen) Modusselektion. Es ist doch vorstellbar, dass in einer habituellen »De£inition der Situation« automatisch ein rationaler Modus zur Auswahl einer geeigneten Alternative aktiviert wird. Borsenhandler ermitteln beispielsweise automatisch den Kurs eines Wertpapiers (habituelle »Definition der Situation«), ohne deswegen dieses Papier sofort zu kaufen (habituelles Verfahren), sondern iiberlegen sich in der Regel, ob sich ein Handel zu diesem Preis lohnt (»rationales« Verfahren). ^"^ Empirische Untersuchungen legen sogar nahe, dass Akteure das rationale Verfahren der Subjektiven Erwartungsnutzentheorie haufiger anwenden, wenn dieses Verfahren automatisch dutch eine habituelle Situationsdefinition aktiviert wurde. Fehlt eine solche automatische Aktivierung, werden weniger kom-

Esser (2003, S. 164) interpretiert diesen Fall neuerdings als einen „Spezialfall des normativen h'£^. des traditionellen Handelns" im Sinne einer automatischen rationalen Modusselektion. Diese Interpretation steht aber kn Widerspruch zu seinem formalen Modell, in dem Modellund Modusselektion nicht unabhangig voneinander sind.

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plexe Heuristiken (wie das »satisficing«-Verfahren) angewendet (Etzrodt 2000, S. 775, vgl. Schoemaker 1980, S. 99ff, Fong/Nisbett 1991, S. 39). Die Kritik lauft darauf hinaus, dass die Situationsdefinition und damit die Festlegung von Modell und Modus realer Akteure unabhangig von ihren Nutzenerwartungen erfolgt, wodurch Essers Modell der Definition der Situation die Gnmdlage entzogen wird.^^ Esser fuhrt nun wiederum zwei Argumente gegen diese Kritikpunkte an. 1) Esser (2000b, S. 786) empfindet diese Kritik als unberechtigt, weil sie sich ledigHch auf das formale ModeU bezieht, ohne aber den Inhalt dieses ModeUs 2u benicksichtigen. Ich denke allerdings, dass ein solches Vorgehen durchaus angemessen ist, zumal er selbst prazise Modellkonstruktionen von anderen Wissenschafdern einfordert (Esser 1999, S. 20). N u n ist das Ergebnis der Betrachtung seines formalen Modells eindeutig: Sowohl in der ModeU- als auch in der Modus selektion ist die Nutzenkomponente eine zentrale erklarende Variable. Und an dieser SteUe hat sie schlicht nichts zu suchen. Wenn es aber tatsachlich auch Essers Meinung sein soUte, dass die Bedeutungskomponente die entscheidende Variable ist, ist es ihm nicht gelungen, ein formales Modell zu konstruieren, welches seine Ideen wiedergibt. Ich bezweifle allerdings, dass es iiberhaupt mogHch ist, diese Ideen formal in ein Rational Choice Modell zu iibertragen, da die Rational Choice Theorie eine Theorie der nut^enorientierten Wahlist, wahrend es sich bei der Situationsdefinition um ein Problem der bedeutungsorientierten Asso^ation von realen Merkmalen zu typischen gespeicherten Merkmalen handelt. 2) Essers zweites und entscheidenderes Gegenargument beruht auf den methodologischen Arbeiten von Milton Friedman. Friedman (1953, S. 8f) geht davon aus, dass der Wahrheitsgehalt einer Theorie ausschUeBHch durch deren Ubereinstimmung mit der ReaHtat beurteilt werden kann. Daher kommt es bei einer Theorie nicht auf eine deskriptiv »realistische« Darstellung, sondern auf eine gute Prognosefahigkeit an (Friedman 1953, S. 16f). U m zhex guU Prognosen He fern zu konnen, muss eine Theorie von der Viekahl der Elemente der ReaUtat abstrahieren und deskriptivfalsch sein (Friedman 1953, S. 14). Esser (1999, S. 21) formuliert diesen Gedanken vorsichtiger: Eine Theorie muss nicht, sondern darf deskriptiv falsch sein. SchlieBlich miissen Theorien nach Esser so einfach wie moglich und so reaHstisch wie notig sein (Lindenberg 1992, S. 18, Esser 1999, S. 22). Davon einmal abgesehen, dass ich Essers Definition der Situation weder fur einfach noch fur reaHstisch halte, konnen zwei Punkte %^%^n diese Position von Friedman eingewendet werden. Erstens bedeutet Abstraktheit nicht Falschheit (Tietzel 1981, S. 254). Abstraktheit als ein methodologisches

^5 Ein alternatives Modell der Definition der Situation, welches die angesprochenen Probleme vermeidet, habe ich an einem anderen Ort vorgesteUt (Etiirodt 2000, S. 777).

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Ideal bedeutet, sich auf die wichtigen Elemente zu konzentrieren und unwichtige nicht zu beriicksichtigen. Und selbstverstandlich miissen die Elemente, die als wichtig erkannt wurden, auch richtig dargestellt werden. Dies ist erforderlich, da ^eitens keine Aussage iiber den Wahrheitswert einer Theorie moglich ist, wenn falsche Annahmen fiir eine Erklarung oder Prognose herangezogen wurden. Der Wahrheitsgehalt kann nur getestet werden, wenn auch die Annahmen in ihren zentralen Eigenschaften als richtig unterstellt (und der Kritik ausgesetzt) wurden (Tietzel 1981, S. 247, vgl. Samuelson 1963, S. 233f, 1964, S. 736). Die Tatsache, dass Essers Modell der Definition der Situation ausgesprochen erfolgreich „alle" moglichen Handlungstypen erklaren kann, rettet ihn somit nicht vor der Kritik.

4 Methodologische Funktion det Handlutigstheorie von Hattmut E s s e t U m zu verstehen, warum Hartmut Esser in der Logik der Situation und nicht in der Logik der Selektion von der okonomischen Theorie abweicht, muss man die Funktion der Logik der Selektion in Karl R. Poppers Methodologie beriicksichtigen, auf die sich Esser bezieht. Nach Popper (1972, S. 7) kann der uneingeschrankte Wahrheitsgehalt einer erklarenden Theorie nicht bewiesen werden. Daher fordert er, Theorien einer Uberpriifung in der Realttat auszusetzen, und solche Theorien, die diesen Test nicht bestehen, auszusondern (Popper 1935, S. 6f und 12ff). Demnach ist nur die Feststellung moglich, dass eine Theorie falsch ist, wenn sie falsifiziert wurde. Eine solche Falsifikationsstrategic lasst sich nun relativ einfach in den Naturwissenschaften anwenden, wenn alle Variablen erhoben bzw. kontrolliert werden konnen. In diesem Fall kann der Zusammenhang zwischen einer erklarenden und der zu erklarenden Variable determiniert (und moglicherweise falsifiziert) werden. Entscheidend ist fiir die eindeutige Bestimmung eines solchen Zusammenhanges, dass andere relevante erklarende Variablen konstant gehalten werden. Bei dem Ubergang von den Natur- zu den Sozialwissenschaften tritt nun das Problem auf, dass soziale Phanomene das Resultat menschHchen Handelns sind und dieses Handeln nicht nur von den objektiven Situationsbedingungen, sondern auch von den subjektiven Motiven und Situationsdefinitionen der Akteure abhangt, die dem Forscher nicht ohne weiteres zuganglich sind. Um die Probleme mit der Erhebung dieser subjektiven Daten und die Gefahr willkiirlicher Motiv- und Situationszuschreibungen zu vermeiden (vgl. Popper 1965, S. 124, Esser 1999, S. 24f), schlagt Popper letztlich vor, die Motive der Akteure als ein zweckrationales, nutzenmaximierendes Handeln konstant zu halten und von den subjektiven Situationsdefinitionen zu abstrahieren. Somit wird es mogUch, Verhaltensanderungen eindeutig auf Restriktionsanderungen bzw. auf Anderungen der objektiven Situationsbedingungen zuriickzufiihren. Dieses Ziel erklart auch, warum

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ein nutzenmaximierendes Handeln angenommen werden muss, da lediglich dieser Handlungstyp eine vollstandig elastische Anpassung an Restriktionsanderungen garantiert.^^ Es handelt sich bei Karl R. Poppers Forschungsprogramm um eine Reduktion des Weberschen Forschungsprogramms. Popper geht es nur um das Auffinden von objektiven Kausahusammenhangen, und daher betreibt er lediglich eine Situationsanalyse, ohne sich um Idealtypenkonstruktionen oder Erklarungen historischer Einzelphanomene im Detail 2u kummern. Um eine Falsifikationsstrategie anwenden zu konnen, muss ein vollstandig elastisches und konstant gehaltenes Handlungsmotiv (das Nutzenmaximierungsprinzip) angenommen werden, im Gegensatz zu der flexiblen und undogmatischen Handhabung der Handlungstypen bei Max Weber. Obwohl dieses Forschungsprogramm von Popper ziemlich erfolgreich in der Okonomie angewendet werden kann, ergeben sich immer wieder Probleme, wenn soziale Phanomene behandelt werden, die nicht iiber (reale) Markte koordiniert werden. Es gibt eine ganze Reihe von Versuchen, die strikte Annahme der Nutzenmaximierung in der Logik der Selektion aufzuweichen, um auch solche Phanomene behandeln zu konnen. Allerdings werden die willkiirlich gewahlten alternativen Annahmen so gut wie nie empirisch erhoben, wodurch nichts mehr vorausgesagt und somit auch nicht mehr falsifiziert werden kann, weil alles mogHch wird (Stigler/Becker 1977, S. 89, McKenzie 1983, S. 15 und S. 31, Brennan/Buchanan 1993, S. 66). Daher kommen fur die meisten Okonomen reaHtatsnahere Aufweichungen der Nutzenmaximierungsannahme in der Logik der Selektion nicht in Frage. Stattdessen gibt es eine Tendenz, andere »weichere« Handlungstypen iiber die Restriktionen bzw. iiber die Logik der Situation zu modeUieren (Gafgen/Monissen 1978, S. 140f, Lindenberg 1995, S. 86f, Opp 1995, S. 79). Das bekannteste Beispiel fur einen solchen Versuch ist Gary Beckers Humankapitaltheorie, welche vom Prinzip her dieselbe Funktion erfiillt wie Hartmut Essers Definition der Situation. Essers Handlungstheorie ist demnach nicht der erste Versuch, die EindimensionaHtat der okonomischen Theorie iiber eine Erweiterung des Restriktionsbegriffs bzw. iiber die Logik der Situation zu iiberwinden. Dennoch ist sein Versuch besonders erwahnenswert, da zum ersten Mai ein anderes Selektionskriterium (der Matchparameter) neben dem Nutzenkriterium in einem okonomischen Modell akzeptiert wird. Was Esser allerdings verschweigt, ist die Tatsache, dass eine Behandlung »weicher« Handlungstypen in der Logik der Situation das Problem fur Poppers Methodologie nicht lost, sondern nur verschiebt Es sollten ja Verhaltensande-

Ein sequentielles affektuelles Verhalten reagiert chaotisch auf Restriktionsanderungen, wahrend sich dispositionelle Selektionsverfahren in den meisten Fallen gar nicht anpassen.

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rungen durch objektiv feststellbare Restriktionsanderungen erklart werden. Wenn aber die subjektiven Motive liber die Situationsdefinitionen modelliert werden, umfassen die Situationsbedingungen eben nicht mehr nur objektiv feststellbare Variablen (Meyer 1979, S. 309). Und wenn diese subjektiven Variablen nicht empirisch festgestellt werden, kann es nur zu ad hoc-Zuschreibungen kommen, welche das Modell zwangslaufig tautologisieren (vgl. Opp 1983, S. 211, 1989, S. 121, Fireman/Gamson 1979, S. 20f, Tietzel 1985, S. 41). Eine Falsifikationsstrategie wird so aber unmoglich. Esser scheint dieses Problem sehr wohl zu erkennen. Er schrankt die individuelle subjektive Leistung bei der Definition der Situation erheblich ein, wenn er von einer .^esellschaftlichen »Definition« von Eigenschaften, Ressourcen, Objekten, Giitern, Ereignissen und Leistungen" spricht (Esser 1999, S. 98). Der subjektive Beitrag verkiinimert zur Suche und Anwendung der „»objektive[n]«, sozial »gultige[n]«" Definition der Situation (Esser 1999, S. 102). So stellt Esser (1999, S. 75) auch konsequent die Fragen, ob die subjektiven Interpretationen iiberhaupt von den objektiven Merkmalen einer Situation abweichen und ob es nicht ausreichen wiirde, „ledigUch die ~ wie dies Max Weber ausgedriickt hat — objektiv gegebenen »Chancen« fur bestimmte subjektive Deutungen zu erfassen und alle individueUen Ideosynkrasien zu libergehen?" Letztlich kommt er zu dem Schluss, dass Verhaltensanderungen durch Anderungen der »objektiven« Situationsbedingungen bewirkt werden. „Das Sein bestimmt das BewuBtsein und das Handeln der Menschen" (Esser 1999, S. 107). Dementsprechend wird bei ihm die Analyse der subjektiven Definition der Situation auch zu einer Analyse der »objektiven« institutionellen Rahmenbedingungen (vgl. Esser 1999, S. 53). Esser verkennt aber, dass Institutionen eben nicht objektiv gegeben sind, sondern nur existieren, weil sie fur die Akteure, die in ihnen handeln, eine Bedeutung haben. Dies ist ja gerade der Grund, warum Max Weber die Methode des Verstehens (im Sinne einer Klarung idealtypischer Konzepte) zu der naturwissenschaftlichen Methode der reinen Situationsanalyse hinzugefugt hatte. Im Gegensatz dazu vertritt Esser (1999, S. 177) den Standpunkt, dass eine besondere, von den Naturwissenschaften abweichende Methode nicht notwendig sei. Ich sehe aber nicht, wie willkiirHche Annahmen liber sogenannte »objektive« Institutionen vermieden werden konnen, wenn nicht versucht wird, die subjektive Bedeutung der Institutionen fiir die betreffenden Akteure zu verstehen. Erstaunlicherweise gibt Esser (1999, S. 214, vgl. Braun/Franzen 1995, S. 233f, Opp/Friedrichs 1996, S. 547f) nun als Losung fiir die Ermittlung dieser subjektiven Bedeutungszusammenhange die empirische Sozialforschung an. Ich stimme diesem Losungsvorschlag zu. Allerdings frage ich mich, warum Hartmut Esser iiberhaupt Karl R. Poppers methodisches Vorgehen akzeptiert hat, denn es war ja Poppers Grundannahme, dass eine solche Erhebung dieser subjektiven Bedeutungen und Motive eben nicht mogHch sei. Wenn aber die subjektiven Situationsdefinitionen und Motive mit der empirischen Sozialfor-

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schung erhoben werden konnen, frage ich mich wiedenim, warum Esser dogmatisch an der Nut2enmaximierungsannahme in der Logik der Selektion festhalt und andere Handlungstypen liber ein sachlich falsches Mod'ell in die Logik der Situation einfugt. Dies ware nach Essers eigenen Aussagen gar nicht notwendig gewesen. 5 Bewettung det Integtationsfahigkeit von Hattmut Essets Ansatz Es stellt sich nun die Frage, inwieweit Hartmut Esser seinem Anspruch gerecht wird, eine allgemeine Handlxmgstheorie fur alle Sozialwissenschaften vorzulegen. 1st ihm gelungen, was Max Weber nicht vollenden konnte? Ich denke, dass es ihm nicht gegliickt ist, obwohl er mit seinem Modell der Definition der Situation ausgesprochen erfolgreich verschiedene Handlungstypen darstellen kann. Dies liegt vor allem an drei Griinden. Erstens ist seine Handlungstheorie fiir die Gesetzessuche in der Situationsanalyse konzipiert. Es besitzen aber nicht alle Sozialwissenschaftler ein Interesse an der Theoriebildung. Vielen geht es auch um ein hermeneutisches oder historisches Erklaren singularer Phanomene. Max Weber verwies darauf, dass auch bei einer solchen Motivations analyse Theorien angewendet werden soUten. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Hartmut Essers Handlungstheorie dafur ebenso geeignet ist. Zweitens verwendet Esser ein sachlich falsches Modell der Definition der Situation, um nicht die Nutzenmaximierungsannahme aufgeben zu miissen. Ich halte es hingegen fiir angemessener, gerade weil ich Poppers Ziel der Wahrheitsfindung ernst nehme, in der Logik der Situation nur objektive Restriktionen (wie Einkommen und Preise bzw. Ressourcen und Opportunitaten) zu behandeln und die Hypothesen liber die typischen subjektiven Motive und Situationsdefinitionen in der Logik der Selektion empirisch zu uberpriifen. Dies wiirde es drittens ermogHchen, auch einen Handlungstyp ausfuhrlicher zu behandeln, der sowohl bei Max Weber (traditionales Verhalten) als auch bei Hartmut Esser (perfekter Match) kaum adaquat formuHert wird: das habituelle und sinnvolle Handeln der Phanomenologischen Soziologie und der Ethnomethodologie bzw. der darauf basierende Spezialfall der Kommunikation. Meiner Meinung nach wirkt sich der Rational Choice Ansatz fur Hartmut Essers Integrationsversuch hemmend aus, weil er ihn dazu verleitet, rationale (logische) Modelle rationalen (nutzenmaximierenden) Handelns anstelle rationaler (logischer) Modelle verschiedener Handlungstypen zu konstruieren. Besonders die Methodologie von Karl R. Popper stellt sich in diesem Zusammenhang als Problem heraus. Selbstverstandlich sollte ein Falsifikationsprogramm in der Situationsanalyse dxirchgefuhrt werden. Ebenso selbstverstandlich miissen aber auch die Hypothesen liber die Motive und Situationsdefinitionen bzw. ihre lebensweltlichen Bedeutungsstrukturen getestet werden,

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u m falsche objektive KausaLzusammenhange aufdecken 2u konnen. Dies erfordert neben den Methoden der Naturwissenschaften auch die spezielle sozialwissenschafdiche Methode des Verstehens. Hartmut Essers Handlungstheorie ist sicherlich nicht der letzte Schritt in Richtung einer allgemeinen Handlungsdieorie fur alle Sozialwissenschaften, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Gerade wegen seiner einseitigen methodologischen Ausrichtung ist es kein integrativer Ansatz. D e n n o c h stellt seine Handlungstheorie einen zentralen Bestandteil einer allgemeinen Handlungstheorie dar. Insbesondere das von Esser soziologisch aufgearbeitete strategische Handeln der Spieltheorie ist es wert, beriicksichtigt zu werden. Insgesamt betrachtet sind Alfred Schiitz's Weiterentwicklungen der Verstehenden Soziologie von Max Weber beziiglich ihrer Integrationsfahigkeit wesentlich ergiebiger. Dies ist aber ein anderes Thema.

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Det Sinn des Handelns. Esser und Webet^ WilMartens

1 Zut Einfuhtung Essers Soziologie versteht sich als eine Gesetzeswissenschaft, die versucht, soziale Gebilde durch Riickgang auf Handeln zu erklaren.^ Eine derartige Soziologie braucht seiner Ansicht nach eine Theorie des Handelns, in der ein allgemeines Gesetz, das „eine allgemeine und kausale funktionale Beziehung zwischen den situational gepragten Erwartungen und Bewertungen beim Akteur und dem Handeln" herstellt, den Kern bHdet (Esser 1993, S. 95, 1999, S. 241ff, 2001, S. 75ff, 2003, S. 154-155). Dieses Gesetz ist eine aUgemeine Kegel, die alle Selektionen des Handelns bestimmt. Ein solches Gesetz erblickt Esser in der Kegel der egoistischen Nutzenmaximierung, die sowohl fur die Auswahl der Handlungen als auch fur die Selektion von Frames, innerhalb des sen Handlungen selektiert werden, zutrifft. Esser meint, mit dieser Selektionstheorie konnte man aUes Soziale erklaren. Alle sozialen Strukturen und Systeme sind Folgen eines durch das Gesetz der Nutzenorientierung bestimmten Handelns, Auch die Losung des Problems sozialer Ordnung muss auf dieser Grundlage verstanden werden (Esser 2001, S. 36ff). Kurz, es geht beim Gesetz egoistischer Nutzenorientierung dem Anspruch nach u m eine fachuniversale Handlungstheorie und ein unverzichtbares Kernstiick der Soziologie. Diese Handlungstheorie ist m der Soziologie umstritten' (Srubar 1992, Miller 1994, Nassehi 2003).^^ Hier woUen wir sie in zwei Kichtungen iiberpnifen. Erstens in einem Vergleich mit Webers Handlungstheorie. Dieser Vergleich wird angestellt, um Kontraste zwischen beiden Autoren zu gewinnen. Zweitens wird Essers Theorie, angeleitet durch die Vergleichsergebnisse, auf ihre Stimmigkeit hin untersucht.

Ich danke Rainer Greshoff, der einen allzu lang geratenen Text mit leichter Hand zu einem langen Text gekiirzt hat und fur Diskussionen iiber Weber und Esser immer bereit stand. Was fiir Esser aber nicht bedeutet, dass er die Emergens sozialer Gebilde negiert (siehe dazu nur: Esser 1993, S. 403ff, 1999, S. 413, Greshoff, Kneer, Schimank 2003, Albert 2005). Nicht nur in der Soziologie. Es gibt vor allem in der praktischen Philosophie (Parfit 1984, Scanlon 1998, Dancy 2000a) Argumente, die auf rationale Griinde als Selektionskriterien hinweisen. Nutzen kann dann als ein Grund auftreten.

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Leitfaden bei diesen Diskussionen sind folgende zwei Fragen. Erstens'. muss, beziehungsweise kann man in der Soziologie von einem allgemeinenpsychischen Gesef!(^ wie dem Gesetz der egoistischen Nutzenmaximierung ausgehen? Zweitenr. Trifft die These 2u, dass es sich bei Selektionen immer um Nut^enmaximierung handelt? Der Aufsatz ist dann folgendermaBen aufgebaut. Im ^eiten Abschnitt, geht es um eine Erorterung von Webers Stellungnahmen zu den genannten Problemen. Im dritten Abschnitt werden Essers Antworten diskutiert. In einem vierten Abschnitt werden aus den vorhergehenden Diskussionen einige Schliisse gezogen. Dabei werden Konturen einer aUgemeinen Handlungstheorie skizziert, die es ermoglichen, die erarbeiteten Bestimmungen und Argumente zu integrieren. In diesem vierten Abschnitt wird zudem versucht die in der philosophischen Handlungstheorie und praktischen Philosophic der letzten Jahrzehnten gereiften Einsichten zur Konstitution und Bestimmung von Handlungen in die Ausarbeitung einzubeziehen. 2 Max Webet: Nutzenniaximietung als typische Sinngestalt 2.11st die Sof^ologie eine Geset^eswissenschaft? Weber steht dem Versuch einer psychologischen Erklarung sozialer und kultureUer Gebilde aus „tiefer liegenden" psychischen GesetzmaBigkeiten wie Nutzenorientierung oder Egoismus, sehr skeptisch gegeniiber. Methodische Ausgangspunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die vorgefundene Wirklichkeit sozialer Gebilde und kultureller Ordnungen einerseits und der Mensch als ein Sinn setzendes, offenes und plastisches Kulturwesen andererseits. Webers Aversion gegen einfache (psychologische) Gesetze (a), seine Auffassung von Soziologie als WirkUchkeitswissenschaft (b) und sein Begriff des Menschen als ein Kulturwesen (c), miissen jetzt dargestellt werden. Ad, a. Psychische Gesetze. Weber halt eine Soziologie, die bei der Erklarung sozialer Gebilde von einfachen und allgemeinen GesetzmaBigkeiten ausgeht, fur unangemessen. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „modernen wissenschaftlichen Griindungsfieber" (Weber 1988, S. 168). Ich konzentriere mich im Folgenden auf Webers Urteil iiber eine Begriindung der Soziologie auf psychische Gesetze. In den „Soziologischen Grundbegriffen" hat Weber unmissverstandHch zum Ausdruck gebracht, dass er von psychischen Gesetzen im Sinne einer naturwissenschaftlich inspirierten Geset^swissenschaft (Weber 1976, S. 9) fiir die Soziologie keinen besonderen Beitrag erwartet. Bei einer „naturwissenschaftlichen Psychologic" denkt er allgemein an eine Wissenschaft, die irgendwie am

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subjektiven Sinn vorbeiforscht und sich auf allgemeine Gesetze, die das menschliche Vethalten bestimmen sollten, konzentriert. In diesem Sinne sucht man z.B. nach physiologischen, neurologischen oder Wahrnehmungsgesetzen. Eine derartige Psychologic ist fur seine Soziologic nicht besonders intcrcssant (Weber 1988, S. 390, S. 77ff, S. 362), wcil sic liber den subjektiven Sinn, der das Handcln orientiert, nicht aufklart. Der Grund fur dieses fehlende Vertrauen in allgemeine psychische Gesetze ist Webers Auffassung, dass das Handeln nur verstanden werden kann als Ausfluss einer konkreten mentakn Ursache, als Folge der Vorstellung eines Erfolges, die Ursache einer Handlung wird (Weber 1988, S. 183). Die handlungs verursachende Vorstellung muss man verstehen. Diese Auffassung macht es unzulassig, das Handeln allein durch Hinweis auf psychische GesetzmaBigkeiten, die doch nur Bedingungen oder Anlasse von handlungsleitenden Vorstellungen siad, zu erklaren, weil dadurch gerade der Grund des Handekis — der subjektiv gemeinte Sinn — verfehlt wird. In Konsequenz dieser Auffassung geht er weiter davon aus, dass durch Riickgang auf isoHerte, und seien es auch sehr viele verschiedene psychologische Gesetze, die Ursachen der in teres sierenden sozialen Gebilde, die aus spezifischen geistigen Vorgangen resultieren, unkenntlich wiirden, weil die Vorstellungen sich eben nicht auf eine noch so groBe Zahl abstrakter Gesetze reduzieren HeBen (Weber 1988, S. 173, S. 178, S. 188). Heute wiirde man sagen: Reduktion ist unzulassig, weil es sich bei dem gemeinten Sinn u m ein emergentes Phanomen handelt."^ Nuancierter denkt Weber allerdings liber die verstehende Psychologie, „die menschUches Verhalten auf seiaen gemeinten Sinn hin" deutet (Weber 1976, S. 9). Seine Soziologie ist gerade am gemeinten Sinn interessiert und wiQ die Produktion sozialer Gebilde erforschen. Weber sucht nach den Sinnformen und deren Zusammenhangen, die beim Handeln, das die sozialen Gebilde produziert, eine Rolle spielen. Zudem interessiert er sich fiir die Zusammenhange, die die Sinngestalten auf der Ebene der Person haben. Die psychologische Interpretation kann unter dieser Voraussetzung zur „Aufhellung der psychologischen Voraussetzungen und Wirkungen der Institutionen fiihren" (Weber 1988, S. 189): „Wir werden durch sie, von der Kenntnis der einzelnen Institutionen ausgehend, deren Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung in steigendem MaBe geistig verstehen lernen, nicht aber die Institutionen aus psychischen Gesetzen deduzieren oder aus psychologischen Elementarerscheinungen erklaren ^oW-tn'' (Weber 1988, S. 189).

Mit Emergenz meine ich hier, dass es nicht um ein Aggregat geht, sondern, dass sich aus der Kombination verschiedener Momente etwas Neues und Eigen-Artiges ergibt. Siehe Polanyi (1985, S. 38ff); vgl. auch Esser (1993, S. 401f£).

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Es geht der verstehenden Psychologic nicht u m Erkenntnisse von abstrakten psychischen Zusammenhangen, sondern u m Sinn als Resultat von „hochst heterogene(n) und hochst konkret kombinierte(n) psychische(n) Motive(n) und Einflusse(n)" (Weber 1988, S. 189). Ausgehend von den Institutionen, so schlagt Weber vor, geht man zuriick auf die dafiir konstitutiven Handlungen und vor allem auf den darin enthaltenen gemeinten Sinn. Dieser kann v o m verstehenden Psychologen mit aufgehellt werden. Ausgehend vom Handeln und zudem von den beeinflussenden Momenten wie Situationsdeutung, relevante Werte, Motive, Fahigkeiten und Charaktereigenschaften der Handelnden, ergibt sich so die bestmogliche Deutung und Beschreibung v o m gemeinten Sinn. Weber schHeBt also fur die Soziologie sinnvolle psychologische Erkenntnis nicht aus. Jede liber die Alltagserfahrung hinausgehende „wissenschaftliche" Psychologic, die Handeln durch allgemeine psychische Gesetze erklaren mochte, sollte aber abgelehnt werden (Weber 1988, S. 396). Ad. b. Wirklichkeitswissenschaft. Weber pladiert fur eine Sozialwissenschaft, die unbefangen die Tatsachen ermittelt und diese durch den gemeinten Sinn verstandHch zu machen versucht (Weber 1924, S. 26). Ausgangspunkt sind die „sehr trivialen, aber unbestreitbaren, Tatsachen der Alltagserfahrung" (Weber 1988, S. 391), in denen wir Handlungen und soziale Gebilde, im Sinne wiederholter Handlungszusammenhange, vorfinden und benennen. Die Rekonstruktion der Sinnformen und -inhalte geschieht bei Weber ausgehend von den vorhandenen sozialen Gebilden, die vorher begrifflich abgesteckt und einer wissenschaftlichen Analyse unterworfen werden miissen (Weber 1976, S. 7, S. 9, 1988, S. 189). Nur diese Vorarbeit kann „uns unter Umstanden dasjenige soziale Handeln herausfinden helfen, dessen deutendes Verstehen fur die Erklarung eines Zusammenhangs mchtigist" (Weber 1976, S. 7). Ausgehend von der Alltagserfahrung versucht der Soziologe also die soziale WirkMchkeit, in welche er hineingestellt ist, in ihrer Eigenart zu verstehen und dadurch zu erklaren (Weber 1988, S. 170). Das Verstehen ist notwendig, well es sich „in den Sozialwissenschaften u m die Mitwirkung ^^/j/z^^r Vorgange handelt" (Weber 1988, S. 173). Weber versucht daher den typischen Sinn der typischen RegelmaBigkeiten der aufeinander bezogenen sozialen Handlungen, die wir im AUtag als jeweils besondere soziale Gebilde erfahren, zu beschreiben. Dieser typische Sinn ist in seinen Augen nicht von vornherein auf eine bestimmte, z.B. wirtschaftHche Auffassung der Welt und damit auf bestimmte GesetzmaBigkeiten festgeschrieben. Solche GesetzmaBigkeiten wiirden nur dann bestehen, wenn es feste, natiirliche Sinngebungen geben wiirde. Die beim Alltagsverstandnis der Institutionen ankniipfende Vorgehensweise ist in Webers Augen auch typisch fur die Okonomie, obwohl das Selbstverstandnis der Okonomen manchmal in die umgekehrte Richtung geht (Weber 1988, S. 189).

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Soweit Weber im Rahmen dieser Wirklichkeitswissenschaft von „Gesetzen" menschlichen Handelns spricht, meint er damit nichts anderes als theoretisch konstruierte typische, empirisch ausgewiesene, regeknaBige Ablaufe des Handelns (Weber 1988, S. 394-395), die eben als solche die typischen Institutionen (re-) produzieren. Die aber gibt es nur, indem die Handelnden einen gemeinten Sinn hervorbringen. In Webers Augen ist das menschliche Handeln nicht fest in einer bestimmten Richtung orientiert, so dass bestimmte Umstande auch nicht „geset2maBig" 2u bestimmten Handlungen und Handlungsablaufen fiihren. D e m Sozialwissenschaftler bleibt keine andere Wahl, als ausgehend von den vorgefundenen Institutionen die sie (mit) produzierenden Sinngestalten verstehend zu entschliisseln. Man muss daher die typischen empirischen Ablaufe des Handelns „nicht auf dem Wege der ,Psychologie' zu ergriinden suchen" (Weber 1988, S. 395). Ein allgemeines Gesetz, z.B. im Sinne der Nutzenmaximierung, das das menschUche Handeln bestimmt, gibt es nach Weber nicht. Es handelt sich bei den regelmaBig vorkommenden Zusammenhangen menschHchen Handelns nicht u m Gesetze im naturwissenschaftHchen Sinne, sondern u m typische RegeknaBigkeiten, die von typischem Sinn abhangig sind.^ Ad. c. Das Kulturwesen Mensch. Hintergrund von Webers Gedanken liber Sinn und Gesetz bildet die Idee einer grundsatzHchen VariabiHtat und damit Historizitat menschHcher Sinngebung. Ausgangspunkt ist der Mensch „mit der Fahigkeit und dem WiUen, bewuBt zur unendUch mannigfaltigen Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen" (Weber 1988, S. 180, Hennis 1996, S. 19). Der Sinn der Welt — die Bedeutungen und Bewertungen der Erscheinungen, das Wollen bestimmter als wertvoll vorgesteUter Phanomene — ist eine Sache gedankUcher Tatigkeit. Das nennt Weber einen subjektiv gemeinten Sinn (Weber 1976, S. 4, S. 6, S. lOf, Greshoff 1999, S. 182). Der Sinnhegriff Wild dabei in einer allgemeinen Bedeutung verwendet. Er betrifft jedes Meinen von wirkHchen oder gewollten Phanomenen, in „Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken des Einzelnen" (Weber 1976, S. 245), ist also durchaus nicht auf im Bewusstsein reflektiertes Intendieren eines Gegenstandes zu reduzieren. Er bezieht sich auch auf den im Alltagshandeln „in dumpfer HalbbewuBtheit oder UnbewuBtheit" gemeinten Sinn (Weber 1976, S. 10). Weber betont die „Selektivitat" von Sinn. Die SteUungnahme zur unendUch mannigfaltigen Welt bedeutet das Herausheben eines endHchen, zusammenhangenden Ausschnittes, der irgendwie fiir uns bedeutsam ist (Weber 1988, S. 181). Auf Grund eines Gesichtspunktes oder einer Wertidee wird „aus einer absoluten UnendUchkeit ein winziger Bestandteil als das herausgehoben

Zu diesem Punkt ist es immer noch aufschlussreich den Aufsatz Tenbrucks (1986) „Das Werk Max Webers: Methodologie und So'zialwissenschaften" zu lesen.

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..., auf dessen Betrachtung es ... allein ankommf (Weber 1988, S. 181). Fiir den Sozialwissenschaftler sind nur jene Phanomene von Interesse, denen „wir eine allgemeine Kulturbedeutung beimessen ... sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklamng" (Weber 1988, S. 178; siehe auch S. 165). Weil der Mensch der Welt Sinn verleiht und darauf sein Handeki basiert, kann dem Verstehen dieses Sinnes eine wichtige Rolle zugewiesen werden fur die Erklarung des Handekis und daher indirekt fiir die Erklarung bestehender sozialer Gebilde, die durch das Handeln (re-) produziert werden. Die Soziologie, die sich auf das Verstehen von Sinnzusammenhangen als Erklaren des tatsachHchen Ablaufs des sozialen Handelns konzentriert (Weber 1976, S. 1), untersucht die Sinngehalte, die zu einer bestimmten sozialen Beziehung bzw. zu einem sozialen Gebilde gehoren und diese erst in ihrer Bestandigkeit versteh- und erklarbar machen.^ Handlungsstrukturen und soziale Gebilde werden (re-) produziert, wenn bestimmte Handlungsorientierungen verwendet werden, d.h. wenn Akteure ihren Handlungen koordinierte Einstellungen, Werte und Ziele zu Grunde legen (Weber 1976, S. \A)? Das Vw^^t dieser Uberlegungen zur Bedeutung des Gesetzesbegriffs bei Max Weber ist vor allem, dass er die Idee einer gesetzmaBigen Bestimmung des gemeinten Sinnes, welche bedeutet, dass dieser als Resultat von einfachen und allgemeinen GesetzmaBigkeiten der Psyche abgeleitet werden konnte, abweist. Menschen handeln seiner Auffassung nach auf der Grundlage einer Vorstellung eines noch zu verwirklichenden Erfolges. Diese Vorstellungen sind die VorsteUungen eines offenen, freien, die Welt interpretierenden und andernden Wesens. Sie sind konkret und emergent und lassen sich nicht auf allgemeine psychische Gesetze reduzieren. Sie konnen daher auch nicht aus solchen Gesetzen abgeleitet werden. Man kann mit Weber sagen, dass es eine allgemeine Charakteristik des Handelns ist, dass wir der Welt, in der wir leben, immer in einer selektiven Weise Sinn verleihen miissen. Nur dadurch ist es mogUch, darin Vorstellungen von Zielen und Mitteln herzustellen, die das Verhalten orientieren. Es ist sonnenklar, dass es sich dabei nicht u m biologi-

Webers Soziologie ist eine Kulturwissenschaft. Sinnzusammenhange — subjektiv gemeinter und objektiver Sinn - sind ihr centrales Untersuchungsfeld (Weber 1988, S. 148, Francis 1966, Balog 2001, S. 33f, Schluchter 2000, S. 132). Dabei sieht Weber durchaus, dass der Sinn der Dinge und der Handlungen sich andern kann, obwohl die durch diese Handlungen produzierten sozialen Gebilde fortbestehen. So andern sich die Wertbeziehungen im Falle einer kapitalistischen Wirtschaft, ohne dass dadurch die wirtschaftlichen Organisations- und Austauschformen geandert werden. Offenbar muss hier zwischen dem objektiven Sinn einer Vorgehensweise, die von einem Handelnden ohnehin vollzogen werden muss und dem objektiven Sinnzusammenhang, in den er eingebettet ist, unterschieden werden. Davon unterscheidet sich dann wieder der rein individuelle Sinnzusammenhang, der zwar vom objektiven gepragt wird, aber in dem ganz andere Werte und Motive dominieren konnen.

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sche oder psychische Mechanismen handeln kann, die im Zusammenhang mit der angetroffenen Situation zur Auswahl der Orientierung fiiihren. Die verhaltensleitende Vorstellung ist das emergente Resultat vieler verschiedener aufeinander bezogener psychischer Prozesse, nicht die einfache Resultante eines oder einiger isolierter psychischer Gesetze. Die Psyche kennt bestimmte Vorgehensweisen, die ein Resultat produzieren, das dem Tun zu Grunde liegt und das wir vor allem und in erster Linie verstehen miissen. Der Soziologe ist nur an denjenigen Vorstellungen in teres siert, die bei der Produktion der Institutionen eine Rolle spielen.

2.2 Nutfienmaximiemng Auf der Grundlage seines eben beschriebenen Verstandnisses der „Gesetze der menschlichen Psyche" kann man nicht erwarten, dass Weber beziiglich der Selektion von Handlungen von einer auf Eigeninteresse orientierten GesetzmaBigkeit der Nutzenmaximierung ausgeht. Dass er diese Auffassung in der Tat explizit zuriickweist, wird im Folgenden zuerst belegt (a). Weiter macht er klar, dass die nutzenorientierte Interpretationen und Selektionen, die bei Esser als Naturgesetze dargestellt werden, in Wirklichkeit typische, sowohl empirisch als auch normativ geltende Interpretationen und Regeln sind. Er versucht sie mit Hilfe der Begriffe „Maxime" und „Ordnung" zu erfassen (b). AnschlieBend daran findet man bei Weber hochreflektierte Uberlegungen liber die Vorgehensweise der Sozialwissenschaften, die sich selbst als Naturwissenschaften des Sozialen missverstehen. Weber formuliert damit eine kritische Deutung der Sozialwissenschaft, die, wie im Falle Essers, von dieser „GesetzmaBigkeit" ausgeht (c). AbschlieBend bleibt im Rahmen der Weberschen Theorie dann noch die Frage, wie sich das „naturliche" Problem der Fiirsorge in Bezug auf Nutzleistungen zum historisch und kulturell verstandenen wirtschaftlich orientierten Auswahlen verhalt (d). a) Das Geset^ der Nutzenmaximierung. Weber behandelt die Regel der egoistischen Nutzenmaximierung vor allem in Verbindung mit einer Diskussion des Wirklichkeitsgehalts der Wirtschaftstheorie. In der Wirtschaftstheorie wird von bestimmten psycho-physischen Bedingungen, wie Knappheit der Giiter, Erwerbstrieb und der psychischen GesetzmaBigkeit der (Grenz-) Nutzenmaximierung ausgegangen. In „Die Grenznutzlehre und das ,psycho-physische Grundgesetz'" betont Weber (1988, S. 384-399) dieser naturalisierenden Auffassung gegeniiber, dass es beim „Gesetz" der Nutzenmaximierung u m eine auf trivialen, aber unbestreitbaren Tatsachen der AUtagserfahrung basierende theoretische Vorstellung v o m Menschen geht, Der Mensch wird so vorgesteUt, als wiirde rational „uber die ihm ... verfugbaren ,Gutervorrate' und ,Arbeitskrafte' zu dem alleinigen und ausschlieBlichen Zweck disponiert, auf friedli-

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chem Wege ein ,Optinium' von Sattigung seiner verschiedenen miteinander konkurrierenden ,Bedurfnisse' zu erreichen" (Weber 1988, S. 391). Wenn dieses Geset2 2utrafe, ware das Handeln ausschlieBlich „an der Fiirsorge fur einen Begehr nach Nutzleistungen orientiert" (Weber 1976, S. 31). Bei der Nutzenmaximierung geht es aber keineswegs um eine psycho-physische GesetzmaBigkeit. Es handelt sich beim „Nutzenmaximierungsgesetz" „nur" um einen rein dargesteUten, weit verbreiteten, „besondersartigen gemeinten Sinn". Fur Weber ist das „Gesetz" der Nutzenmaximierung, wie alle anderen „Gesetze" des menschlichen Handekis, nichts weiter als eine idealtypisch iiberhohte, einseitige Interpretation von Handlungszusammenhangen, ein theoretisch konstruierter, typischer Ablauf des Handelns (Weber 1988, S. 394-395). In solchen Konstruktionen wird davon ausgegangen, dass die Handelnden ihrem Handeln bestiimmte typische Vorstellungen — einen typischen gemeinten Sinn — zu Grunde legen. Dieser typische gemeinte Sinn ist wichtig fiir die Erklarung eines betreffenden sozialen Gebildes. WirtschaftHch orientierte Handlungen „haben einen besondersartigen gemeinten Sinn: dieser allein konstituiert die Einheit der betreffenden Vorgange und macht sie allein verstandlich" (Weber 1976, S. 31). Handeki kann primar an diesem Sinn — an der Fiirsorge fiir einen Begehr nach Nutzleistungen — orientiert sein, aber es kann auch primar an anderen Zwecken orientiert sein und auf Fiirsorge fiir Begehr nach Nutzleistungen mehr beilaufig Riicksicht nehmen. Die Wirtschaftswissenschaft stellt Handlungen nur dar, soweit und insofern sie von diesem besondersartigen Sinn gepragt werden. Die uns tagHch begegnende primare Orientierung des sozialen Handelns an Nutzenmaximierung bedeutet daher „nur" die Dominanz eines besonderen Sinnes. „Die historische Eigenart der kapitaHstischen Epoche, und damit die Bedeutung der Grenznutzlehre ... fiir das Verstandnis dieser Epoche, beruht darauf, daB ... unter den heutigen Lebensbedingungen jene Annaherung der Wirklichkeit an die theoretischen Satze eine stetig ^nehmende ... ist ... Auf dieser kulturhistorischen Tatsache ... beruht die heuristische Bedeutung der Grenznutzlehre" (Weber 1988, S. 395). Diese historische RegelmaBigkeit wird in der Rede vom Gesetz der (Grenz-) Nutzenmaximierung naturaHsiert. h) Empirisch und normativ geltende Kegeln. Der Gedanke, dass ein historischtypischer Sinn — und nicht ein Naturgesetz — die Handlungen orientiert, die im Rahmen besondersartiger sozialer Gebilde an der Fiirsorge fiir einen Begehr nach Nutzleistungen ausgerichtet sind, wird bei Weber vor allem als eine Sache der Regelbefolgung verstanden. Regeln nennt er „Maximen", Regelkomplexe „Ordnung". Mit Hilfe dieser Begriffe versucht er zu klaren, wie die historischspezifische Orientierung an Fiirsorge fiir Nutzleistungen durch Regeln und Regelkomplexe erst konstituiert und operationaUsiert wird. Eine Maxime ist eine Regel in der empirischen Vorstellung des Handelnden, von der dieser annimmt, dass sie als Norm fiir sein Verhalten „gelten

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solle" (Weber 1988, S. 331). So konnen rechtHche oder konventionelle Regeln, die andeuten, wie in bestimmter Weise „2u geben", „2usammen2uarbeiten" usw. ist, als Maximen be2eichnet werden. Das macht klar: Wit verleihen nicht nur einen bestimmten Sinn in Verbindung mit einer Wertbeziehung, sondern wir verbinden mit dem gemeinten Sinn auch bestimmte Regeln, die, wenn man sich daran orientiert, mitbestimmen, wie man handelt. Einen Regel- oder Maximenkomplex, der mit einer sozialen Beziehung oder einem sozialen Gebilde verbunden ist, nennt Weber eine Ordnung. Eine „Ordnung" betrifft die Gleichartigkeiten, RegelmaBigkeiten und Kontinuitaten der Einstellung der Handelnden (Weber 1976, S. 15). Es geht Weber u m diejenigen Maximen, an denen das Handeln, das eine soziale Beziehung produziert, durchschnittUch orientiert ist. Das ist der Sinngehalt einer sozialen Beziehung (1976, S. 16). Diese sein-sollenden Sinngehalte bestimmen und „ordnen" das Handeln so, dass es die sozialen Beziehungen mehr oder weniger dauerhaft produziert. A n den gelten sollenden Maximen kann der Handelnde sich orientieren. Wenn er das tut, sind sie kausal mit-bestimmend fur das tatsachlich erfolgende Handeln (Weber 1976, S. 17).^ Eine Ordnung besitzt sowohl eine empirische als auch eine normative Geltung. Regeln bilden fur Weber, erstens, nur dann eine Ordnung, wenn man sich daran im Handeln tatsachlich orientiert. „Einen Sinngehalt einer sozialen Beziehung woUen wir ... nur dann eine Ordnung nennen, wenn das Handeln an angebbaren „Maximen" ... orientiert wird" (Weber 1976, S. 16). In diesem Falle besitzt eine Ordnung „empirische Geltung", denn „die Chance ihres ,Befolgtwerdens'" sieht Weber (1988, S. 445) als „Ausdruck der empirischen Geltung einer Ordnung". Gleichzeitig gilt aber ^weitens, dass eine Ordnung nur geltend ist, wenn man die Regeln als verbindlich, vorbildHch und gelten sollend betrachtet. „Wir woUen ... nur dann von einem ,Gelten' dieser (den Handelnden tatsachlich als Orientierung dienenden, WM) Ordnung sprechen, wenn diese tatsachliche Orientierung an jenen Maximen mindestens auch ... deshalb erfolgt, weil sie als irgendwie fiir das Handeln geltend: verbindHch oder vorbildHch, angesehen werden" (Weber 1976, S. 16). Aus der Kombination dieser Bestimmungen ergibt sich, dass jede Ordnung sowohl in einem empirischen Sinne — die tatsachliche Orientierung an den Maximen — als auch in einem normativen Sinne — die Vorbildlichkeit und VerbindHchkeit der Maximen fiir

Bei Weber hat das Wort „Ordnung" eine andere Bedeutung als bei Esser. Wahrend Weber die Regeln — das heiBt Sinnformen — Ordnung nennt, und damit die kulturelle oder SinnOrdnung fiir das Handeln und das So'ziale meint, bezieht Essers Ordnungsbegriff sich direkt auf die Kooperation der Handlungen. Die von Weber als „Ordnung" angedeuteten Sinngestalten nennt Esser dagegen Regeln, Frames oder Kultur. Dieser unterschiedliche Wortgebrauch muss im Weiteren zur Vermeidung von Missverstandnissen bedacht werden.

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die Handelnden^ — eine geltende Ordnung sein muss. Anders gesagt, eine Ordnung liegt nur dann vor, wenn die Handelnden sich an einem Regelkomplex orientieren, den sie zumindest auch als vorbildlich und verbindlich betxachten.VO Diese Auffassung, dass die Regeln, an denen Handelnde sich orientieren, immer empirisch und normativ geltend sein miissen, passt sehr gut zu Webers generellen These der Auswahl unter Wertgesichtspunkten. Wir wahlen diejenigen Regeln, die wir fur wertvoll halten. Dasjenige, was als wertvolle Idee ausgewahlt wird, gilt uns dann als vorbildlich, als gelten-sollend. In diesem Sinne hat jede Handlung eine normative Dimension. Wertbeziehung, sein-soUende Ordnung und empirische Geltung gibt es auch im Falle der Maximenkomplexe moderner sozialer Gebilde, wie Staat, Aktiengesellschaft, Markt oder FamiHe. In Bezug auf den Staat schreibt Weber: „Die Deutung des Handelns muC von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz nehmen: daB jene dem AUtagshandeln oder dem juristischen ... Denken angehorigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem in den Kopfen realer Menschen (der Richter und Beamten nicht nur, sondern auch des ,PubUkums') sind, an denen sich deren Handeki orientiert, und daB sie als solche eine ganz gewaltige ... kausale Bedeutung fur die Art des Ablaufs des Handelns der realen Menschen haben" (Weber 1976, S. 7). Die von Weber beschriebenen Regelkomplexe betreffen vorgestellte RegelmaBigkeiten des Handelns, von denen man sich denkt, dass sie so sein sollen. Das Handeln im Rahmen von Staat, Markt und Familie wird „von Seiten der Beteiligten an der l^orstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert" (Weber 1976, S. 16). Die Beteiligten nehmen wechselseitig an, dass sie sich alle annahernd und durchschnittiich gemaB eines bestimmten Regelkomplexes verhalten werden. Die modernen Institutionen der Wirtschaft bestehen also nur, weil die Handelnden zumindest auch unter der, teilweise fiktiven, besondersartigen Vorstellung einer faktisch akzeptierten und normativ begriindeten Ordnung ihre Handlungen selektieren. Die Denkfigur, die fragt, welche Alternativen die Niitzlichsten sind und die auf Grund einer Beantwortung dieser Frage eine Selektion vornimmt, ist faktisch erst in der Moderne empirisch und normativ geltend geworden. Anders formuHert: Ein aUgemeines natiirliches Gesetz im Sinne der Nutzenma-

Es ist vielleicht nicht iiberfliissig, hier noch zu betonen, dass Weber mit normativer Geltung nur die Geltung in den Vorstellungen der Handelnden meint (Weber 1988, S. 330-331). AhnHch Hubert Treiber (1998). Vor diesem Hintergrund muss Webers Ausdruck „legitime Ordnung" (1976, S. 16) als ein analytischer Ausdruck aufgefasst werden. Analytisch, weil das Wort „legitim" explicit zum Ausdruck bringt, was im Begriff Ordnung schon enthalten ist: wir orientieren uns immer an Maximenkomplexen, die vorbildlich und verbindlich, das heiBt legitim sind.

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ximierung, das das menschliche Handeln durchgehend bestimmt, gibt es nicht. Es handelt sich bei den regeknaBig vorkommenden Zusammenhangen nutzenorientierten Handelns nicht u m Gesetze kn naturwissenschaftlichen Sinne, sondern u m typische sinnhafte RegeknaBigkeiten, die von damit zusammenhangenden Maximen abhangig sind.^^ c) Die Kolle der ^^naturwissenschaftlichen So^almssenschaften ^' bei der Merhreitung der Nut^enorientierung. Die im Rahmen eines sozialen Gebildes verwendeten Maximen konnen explicit formuliert werden. „Der Sinngehak, welcher eine soziale Beziehung perennierend konstituiert", so Weber (1976, S. 14), „kann in jMaximen' formukerbar sein, deren durchschnittkche oder sinnhaft annahernde Innehaltung die Beteikgten von dem oder den Partnern erwarten und an denen sie ihrerseits (...) ihr Handeki orientieren". Expkzit formukert werden sie sowohl im AUtag als auch in Wissenschaften, die sich auf diese Gebilde beziehen. Einmal formukert, sind die dadurch immer wieder in Gedanken zu rufenden und systematisierbaren Regeki eine Stiitze bei dem weiteren Ausbau dieser Umgangsweise mit den Phanomenen und konnen das Handeki dauerhaft-systematisch orientieren. Das ist eine der Funktionen der Sozialwissenschaft. Der Wissenschafder entwkft auf Grund des typisierten Sinnes und der darauf basierenden Regeki Lehrsatze von hypothetischer Geltung (Weber 1988, S. 188). Diese Satze besagen, was unter jeweils angegebenen Bedingungen geschieht, wenn der betreffende typische Sinn und die dazugehorigen Regeki beim Handeki konsequent verwendet werden. Diese letztere Vorgehensweise, so Weber (1988, S. 190), ist typisch fiir die Wktschaftswissenschaft. Sie geht davon aus, dass die Wek — soweit es den typischen Sinn der Handekiden betrifft — als eine Gesamtheit knapper Giiter aufgefasst wkd, aus denen gemaB der Maxime der (Grenz-) Nutzenmaximierung eine Auswahl getroffen wird. Und sie fragt, was aus dieser Sinnverleihung unter verschiedenartigen Randbedingungen resultiert. Mit Hilfe dieser Prozedur steUt sie Lehrsatze von hypothetischer Geltung auf Solche Lehrsatze nennt Weber „idealtypisch". Sie beschreiben die Vorgange, die es auf der Grundlage einer ausschkeBkchen Orientierung an bestimmten Bedeutungen und Maximen geben wiirde. Eine idealtypisch vorgehende Wktschaftstheorie bietet „ein Ideah'Ad der Vorgange auf dem

Man muss sie daher nicht als allgemeine Gesetze widedegen wollen. Sie treten nur unter der Bedingung bestimmter Sinngestalten auf. Darum kann der Idealtypus auch nicht - was Michael Schmid (2004, S. 550) wiinscht — korrigiert oder revidiert werden, wie man das bei einer „echten" GesetzmaBigkeit tun kann. Man kann aber durchaus einerseits die Logik eines Idealtypus verbessern und andererseits z.B. konstatieren, dass die Handelnden fast wie im Idealtypus dargestellt handeln und daraus auch beinahe die auf dieser Grundlage erwartbaren sozialen Gebilde resultieren.

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Giitermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesellschaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln. Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgange des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhange. Inhaltlich tragt diese Konstxuktion den Charakter einer Utopie an sich, die dutch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist" (Weber 1988, S. 190). Die Wirtschaftstheorie ist fur Weber aber nicht nur eine idealisierende Beschreibung wirkHcher Handlungszusammenhange, sie hat auch selbst eine die Wirklichkeit mitbestimmende Rolle. „Ein Idealtypus bestimmter gesellschaftHcher Zustande, welcher sich aus gewissen charakteristischen sozialen Erscheinungen einer Epoche abstrahieren laBt, kann ... den Zeitgenossen selbst als praktisch zu erstrebendes Ideal oder doch als Maxime fur die Regelung bestimmter sozialer Beziehungen vorgeschwebt haben" (Weber 1988, S. 196). Diese praktische Wirkung ist in den Augen Webers an sich nicht problematisch. Problematisch wird sie nur, wenn man, erstens, glaubt, die betreffende Interpretation der Weh wiirde eine empirische Darstellung der Wirklichkeit betreffen. Denn, „in seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit vorfindbar" (Weber 1988, S. 191f). Beim Idealtypus geht es in diesem Sinne nicht einmal u m eine Hypothese (Weber 1988, S. 190).^2 Zweitens ist es problematisch, wenn man denkt, dass sie eine generelle psychische GesetzmaBigkeit betreffen. „Das naturalistische Vorurteil, daB in jenen Begriffen etwas den exakten Naturwissenschaften Verwandtes geschaffen werden sollte, hatte eben dahin gefuhrt, daB man den Sinn dieser theoretischen Gedankengange falsch verstand. Man glaubte, es handele sich u m die psychologische Isolierung ... des Erwerbstriebes, im Menschen" (Weber 1988, S. 188). Die sich selbst als eine nomologische Naturwissenschaft miss vers tehende Sozialwissenschaft der Wirtschaft spielt, gerade well sie empirisch gelten-sollende Sinngestallten als naturlkhe Triehe ausgibt, eine wichtige RoUe bei der Verbreitung und Naturalisierung der Regel der Nutzenmaximierung. Die sich als Naturwissenschaft vers tehende idealtypisch formuHerende Wirtschaftstheorie gibt a) eine expUzite Beschreibung der wirtschaftHchen Bedeutungen von Dingen, Handlungen und sozialen Gebilden. Im Anschluss an die Bedeutungszuschreibungen im Alltag und unter Bezugnahme auf das naturwissenschaftliche VorbUd werden diese Bedeutungen naturalisiert. b) Sie macht eine Beschreibung der RegelmaBigkeiten, die in Verbindung mit den

Die Kluft zwischen so genannten Geseti^en und empirischen RegelmaBigkeiten wird in der Okonomie selbst — und auch bei Esser (1999, S. 313ff) — zugegeben.

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Bedeutungszuweisungen bestehen. Diese werden als (Hypothesen von) empirische(n) GesetzmaBigkeiten beschrieben, an denen man sich als Erwartungen orientieren kann. c) Eigentlich in krassem Widerspruch zum Anspruch einer Gesetzeswissenschaft, werden gleichzeitig Maximen kn Sinne normativer Regeln aufgestellt. Sie geben an, wie ausgehend von den wirtschaftlichen Bedeutungen und einer durchschnittlichen und annahernden Orientierung daran durch die Handelnden im wirtschafdichen Sinne rational zu handeln ist. Als N o r m e n formuliert, werden die ^GesetzmaBigkeiten" in der Offentiichkeit fur die Orientierung des Handelns zur Verfugung gestellt, Als Naturgesetz beschrieben, wird die Idee einer okonomischen GesetzmaBigkeit leicht akzeptiert und ihr Folge geleistet. Das bringt unter der Bedingung ihrer Verbreitung viele Vorteile. Sie ist hilfreich bei der Fiirsorge fiiir knappe Giiter, insbesondere weil es in der Wirtschaftswissenschaft nicht nur u m Regeln fur die Verwirklichung des „wirtschaftlichen Gesetzes", sondern auch u m Regeln fur die Verwirklichung unter verschiedenen Bedingungen geht. So schaukeln sich die Idee einer Naturwissenschaft der Okonomie und die Verbreitung okonomischer Orientierungen wechselseitig hoch. Die „naturaHsierende" idealtypische Beschreibung von wirtschaftHchen Bedeutungen, wirtschaftlichen Maximen und deren Folgen im Bereich der Fiirsorgeproblematik, so wie sie in einer hoch generaUsierten F o r m bei Esser vorHegt, erscheint vor diesem Hintergrund ein wichtiges Moment in der Verbreitung von okonomischen „GesetzmaBigkeiten". d) Fiirsorge Jur Nut^leistungen und mrtschaftliche Orientierung. Das alles bedeutet nicht, dass es keine „naturHchen" Probleme mit der Versorgung von Glitern gibt. Im Gegenteil, es ist wahrscheinHch, dass ihre Existenz eine wichtige Stiitze fur die beschriebene NaturaHsierung okonomischer Muster ist. Webers FormuUerungen iiber die historische Verbreitung der okonomischen Sinngestalten schlieBen nicht aus, dass die wirtschaftHche Orientierung gleichzeitig etwas „Naturliches" hat. Weber meint durchaus nicht, dass Fiirsorgeprobleme in Bezug auf begehrte Nutzleistungen nur bestehen, wenn der oben beschriebene, besondersartige Sinn auftritt. Er glaubt im Gegenteil, dass die Fiirsorge fur begehrte Nutzleistungen uns konstitutionell aufgegeben ist. Er denkt jedoch nicht, dass diese Fiirsorge jede Handlung und jede soziale Beziehung durchdringt. Die „Fiirsorge-Problematik" spielt manchmal keine Rolle bei der Bestimmung des Handelns, manchmal spielt sie nur eine untergeordnete RoUe. Das Handeln ist dann primar an anderen Werten und Zwecken orientiert, behalt aber gleichzeitig die Fiirsorge fur Nutzleistungen mit im BHck (Weber 1976,S. 32f). „WirtschaftHche Orientierung" kann in bestimmten Situationen als gemeinter Sinn das Bewusstsein orientieren und in anderen eben nicht. Die eine Person macht sich immer Gedanken iiber zukiinftige Mittel, eine andere nur in bestimmten Lagen. In der einen GeseUschaft wird die wirtschaftHche Orientie-

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rung in sozialen Handlungen, Gewohnheiten, Traditionen oder auch expliziten Maxitnen als erster Gesichtspunkt festgehalten und den Individuen knmer wieder in Erinnerung gebracht, in anderen dagegen wirkt sie nur als midaufender Gedankengang und manchmal in bestimmten Situationen gar nicht. Das schlieBt es keineswegs aus, dass in jeder Gesellschaft und bei jeder Person eine gewisse wirtschaftliche Orientierung und damit verbundene Regeln notwendig sind. Wir setzen uns irgendwie mit der Notwendigkeit auseinander, uns Mittel fur vorgestellte erwiinschte Weltzustande zu besorgen. Diese Uberlegung bedeutet jedoch nicht, dass Nutzeniiberlegungen stets ins Bewusstsein treten und schon gar nicht^ dass sie immer die primare Selektionswahl betreffen.

3 Hattmut Esser und das Gesetz egoistischer N u t z e n m a x i m i e r u n g Wenn Weber mit seiner historisierenden Analyse der Nutzenorientierung Recht hat, muss das an den theoretischen Ausfuhrungen Essers gezeigt werden konnen. D a n n muss sich sein Versuch, menschliches Handeln allgemein als nutzenmaximierende Selektion zu beschreiben, als wenig plausibel ausweisen. Weil es dabei dem Anspruch nach u m eine universale GesetzmaBigkeit geht, darf die Modellierung uns aus dem Alltag bekannten Erfahrungen nicht widersprechen. Dass dies aber der Fall ist, wird in diesem Teil meines Beitrages gezeigt. Dariiber hinaus fordert Essers Theorie aber dazu heraus, tiefer auf die Produktion von Interpretationen der Welt und die Erzeugung von Regeln fur das Handeln einzugehen. Viel tiefer, als dies von Weber gefordert wird. Die dadurch gebotene Moglichkeit, iiber Max Weber hinauszugehen, soil genutzt werden. Deshalb werden im Folgenden auch die positiven Anregungen aufgenommen, die Essers Theorie fiir eine soziologische Handlungstheorie gibt. Die daraus folgenden Uberlegungen fiir eine von Weber ausgehende, einheitliche Handlungs theorie werden im Schlussteil zusammengefasst.

3.1 So:^ologie als Geset^eswissenschaft Genauso wie Weber geht es Esser in seiner Soziologie u m eine Erklarung von vorhandenen sozialen Gebilden (1993, S. 85ff). Die leitende Frage ist: Wie kommt es zu diesem oder jenem typischen Gebilde? Wie bei Weber geschieht die Erklarung eines sozialen Gebildes durch einen Riickgang auf Handeln. In Essers Theorie witd dieses Handeln als ein gesetzmaBiges Geschehen aufgefasst. Er versteht seine Soziologie als eine nomologisch erklarende Wissenschaft und meint daher: „Die Logik der Selektion verlangt nach einer (kau-

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salen) Kegel" (2003, S. 155). Grob formuliert meint dies, dass es unter bestimmten Bedingungen zu bestimmten sozialen Gebilden kommt, well die Handelnden, diirch Gesetze getrieben, dann in einer bestimmten Art und Weise handeki. Handeln bedeutet dabei, dass in einer gesetzmaBigen Weise eine Vorstellung und ein Verhalten selektiert werden. Diese Selektionen werden durch ein grundlegendes Gesetz reguHert das besagt, dass die niitzlichste der vorgestellten Moglichkeiten ausgewahlt wird. Essers Soziologie ist nicht nur eine nomologisch erklarende, sondern gleichzeitig eine verstehende Wissenschaft (Esser 1999, S. 201 ff). Das zu erklarende Phanomen wird durch eine Riickfuhrung auf Handlungen von Akteuren, die in ihren Selektionen auf von ihnen in ihren Vorstellungen konstruierte Umstande, Erwartungen und Bewertungen rekurrieren — die suhjektiven Definitionen der Situation —, erklart. Der Akteur selektiert eine bestimmte Handlung, weil sie ihm eine Umsetzung wert erscheint. „Die Grundlage des Handelns sind subjektive Vorstellungen und Griinde ihres T u n s " (Esser 1999, S. 206). Es geht bei der Handlungserklarung also nicht u m eine Selektion aus den objektiv vorhandenen Alternativen, Konsequenzen und Werten, sondern um eine Selektion aus denjenigen, die vom Handekiden gesehen und bewertet werden. Die Kognition und die subjektive Definition der Situation bilden die „Brucke" zwischen Situation und Handlungsselektion. Die gesetzmaBige Selektion findet immer auf der Basis einer subjektiven Definition der Situation statt. Dennoch, so Esser, gibt es bei der Handlungs selektion ein objektives kausales Gesetz. „Gegeben bestimmte subjektive Zielsetzungen und gegeben bestimmte subjektive ,Theorien' iiber die Verbindung der Handlungen zu gegebenen Zielen, folgt die Auswahl der Handlung immer den objektiven Regeki der Rationalitat" (Esser 1999, S. 204). Diese RationaHtat betrifft die „Regeln der Entscheidung, nicht aber die RationaHtat in der Substanz und F o r m seiner Motive und seines Wissens" (Esser 1999, S. 208). „Objektive Regeln der RationaHtat" heiBt hier, dass diejenigen Alternativen, die den maximalen Nutzen erzeugen, ausgewahlt werden. Die aUgemeine Regel aUes menschHchen Selektierens ist die Regel, die in der Wert-Erwartungstheorie formuHert wird: Maximiere die Nutzenerwartung (Esser 1999, S. 216). Sowohl zwischen beiden Bestimmungen des menschHchen Handekis — der objektiven GesetzmaBigkeit und der subjektiven Konstruktion —, als auch zwischen den damit korrespondierenden Vorgehensweisen der Soziologie — der nomologischen Erklarung und dem Verstehen —, besteht eine Spannung. Wenn die These der nomologischen Erklarung zutrifft, betreffen die subjektiven Konstruktionen und Interpretationen im Grunde objektive GesetzmaBigkeiten. Daher kann die das Verhalten steuernde VorsteUung sozusagen errechnet werden und man braucht sie eigentHch nicht zu verstehen. Denn: Unter bestimmten Bedingungen werden bestimmte VorsteUungen selektiert. Wer die Ausgangsbedingungen kennt, kann auf Grund des Gesetzes das Ergebnis er-

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rechnen. Das Verstehen, so Esser, benotigt man „nur" fur die Erkenntnis der Ausgangsbedingungen. Der Soziologe muss die jeweiligen Definitionen der Situation der relevanten Akteure kennen, damit er seine berechnenden Erklarungen voUziehen kann. Diese Ausgangsbedingungen werden durch Verstehen entschliisselt. Die subjektive Konstruktion und das Verstehen spielen eine sehr bescheidene Rolle im Rahmen der soziologischen Erklarung Essers. Das ist anders bei Weber, der dem Verstehen der subjektiv konstituierten, emergenten — also nicht aus Gesetzen errechenbaren — handlungsleitenden Vorstellungen eine zentrale Stellung in seiner soziologischen Vorgehensweise zugemessen hat. Diese Differenz beruht auf den unterschiedlichen Annahmen, die Weber und Esser von der Herstellung der handlungsleitenden Vorstellungen der Handelnden haben. Weber betont den synthetisierenden Charakter der Psyche, in der viele Motive, Bewertungen, Gefuhle usw. zusammenkommen und in der ihre Verbindung die Vorstellung eines Erfolges, die dem Verhalten zu Grunde liegt, erzeugt. Die von Esser vorgesteUte Psyche dagegen „errechnet" auf Grund einer Definition der Situation und einer Rechenregel eine Selektion. Dass und wie das Bewusstsein das nach Esser macht, muss nun dargestellt werden. Erst dann kann beiirteilt werden, ob die Vorstellung der gesetzmaBigen Arbeitsweise der menschlichen Psyche plausibel ist. Dazu werden im Folgenden untersucht: (a) die Grundsatze von Essers Selektionsthese, dann (b) die Selektion der Definition der Situation, (c) die Selektion der Evaluation und (d) die Selektion von Handlungsprogramm und Handlung. a) Grundsdtf^e der Selektionsthese. Ausgangspunkt der von Esser beschriebenen allgemeinen Selektionsregel ist die Vorstellung, dass alles menschUche Tun eine Wahl zwischen Alternativen voraussetzt, deren Ausfiihrung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Konsequenzen erzeugt, denen der Akteur einen Wert beimisst. Eine Selektion wird in dieser Sicht von (1) den vorhandenen Alternativen, (2) den Konsequenzen der Alternativen, (3) der subjektiven Bewertung der Konsequenzen, (4) der Wahrscheinlichkeit des Aufi:tetens der Konsequenzen und (5) der Regel: wahle die Alternative mit dem hochsten erwarteten Wert — maximiere den Nutzen — bestimmt. Der so bestimmte Selektionsvorgang ist nach Esser universell. Die Wert-Erwartungstheorie „ist ... eine ganz allgemeine Angelegenheit ... Sie ist eine Supertheorie" (Esser 1999, S. 386). Die Regel der Nutzenmaximierung betriffi: bei Esser die Auswahl der Handlungen, das heiBt die Auswahl der beabsichtigten Weltzustande und der dafiir benotigten Verhaltensweisen. Sie bezieht sich weiter auf die Auswahl des Interpretationsrahmens, der beim Handeln (meistens stillschweigend) vorausgesetzt wird. Esser thematisiert die Auswahl des Interpretationsrahmens unter dem Titel „Frame-Selektion". Es geht dabei u m die Kombination von, erstens, Selektion der Interpretation der Situation — die wiederum aus einem mentalen

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Modell und einem Code (oder Wert) zusamtnengesetzt ist —, zweitens, Auswahl eines Sets von Handlungsmustern und drittens, Auswahl eines Modus der Informationsverarbeitung. Vor dem Hintergrund von Webers Diskussion der Bildung handlungsleitender Vorstellungen mutet Essers Darstellung der Gestaltung solcher Vorstellungen bemerkenswert verkiirzt an. Weber betont, dass es beim menschlichen Handeln u m die sinnhaft-selektive Bedeutsamkeit der Welt dutch Wertbeziehung geht. Gleichzeitig betont er, dass die Selektion einer handlungsleitenden Vorstellung Resultat der Synthesis eines komplexen Gefuges heterogener und konkreter Motive, Wertbeziehungen, Bedeutungen und psychischer Gesetze ist. Essers Beschreibung der psychischen Aktivitaten (1999, S. 165), die das overte Handeln vorbereiten, ergibt dagegen nur das Bild wiederholter Selektivitdt. Die Konstitution der psychischen Einheiten, aus denen selektiert wird, bleibt ausgeklammert. Dadurch erscheint die Psyche als ein gesetzmaBig arbeitender Selektionsmechanismus, wahrend die Aktivitaten und Einfliisse, die zu den VorsteUungen fuhren, aus denen selektiert wird, aus dem Blickfeld verschwinden. Daraus ergeben sich mit Bezug auf Essers „Selektionsregel" einige Fragen. Ist es angemessen, fiir die verschiedenen Momente der Handlung so pauschal von Selektion aus Alternativen zu sprechen, wie Esser es tut? Webers Auffassung legt es nahe, neben der Selektion, die synthetisierende und evaluierende Aktivitat der Psyche und den emergen ten Charakter der resultierenden VorsteUungen zu betonen. Und: konnen „lF>r/' und .JSiut^en"' fiir den Akteur wirkHch so leichthandig identifiziert werden, wie Esser das suggeriert? Auch hier hat Weber eine differenziertere Sichtweise. Die erste Frage, die direkt das Thema der „GesetzmaBigkeit" der Psyche betrifft, wird in den restHchen Teilen dieses Abschnittes diskutiert. Die zweite Frage, die sich auf die inhaltHche Orientierung der handlungsleitenden Vorstellungen bezieht, wird im folgenden Abschnitt (3.2) erortert. b) Die Selektion der Definition der Situation. Ausgangspunkt der Definition einer Situation sind bei Esser Akteure mit internaUsierten Modellen, Erwartungen und Werten. Diese Akteure befinden sich in einer Situation, in der Handlungen Folgen haben (sollen). Auf der Grundlage einer basalen, vor allem liber Sinnlichkeit ablaufenden (subjektiven) Konstitution von Objekten (Esser 1999, S. 163f), selektiert der Akteur nun zunachst die Definition der Situation. Sie betrifft „die vereinfachende und strukturierende Selektion eines mentalen ModeUes liber die Situation aus alternativ moglichen mentalen Modellen" (Esser 1999, S. 164). Bei dieser Selektion spielen die Wahrnehmung und die in der Identitat eines Akteurs vorhandenen Erwartungen und Bewertungen — gespeicherte Modelle — die Hauptrolle. Auf der Grundlage der Wahrnehmung der Situation und den in der Identitat gespeicherten Modellen (Esser 2001, S. 269) kommt

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der selektierende Akteur zu „bestimmte(n) situationsspe2ifische(n) Einstellung e n " ( E s s e r l 9 9 9 , S . 165). Bei diesem Vorgang „spielt insbesondere die ... Interpretation von ... Symbolen eine entscheidende Rolle. Symbole zeigen die Wahrscheinlichkeit fiiir die Geltung einer Situation und fur die Relevant eines bestimmten mentalen Modells an" (Esser 1999, S. 165). Z u welchem Modell es kommt, „ist in erster Linie von der ,Passung' der in der Situation beobachteten Objekte und den im Gedachtnis fur das Modell gespeicherten Erwartungen abhangig, vom Match zwischen vorhandenen und erwarteten ,Symbolen' also" (Esser 2001, S. 261). 1st ein Modell selektiert, wird die Situation unter dem ausgewahlten Bezugsrahmen gesehen. Die grundlegende Idee bei der Selektion der Situationsdefinition besteht darin, dass der Akteur auf Grund seiner Biographie uber ein Arsenal alternativer Modelle fur die Kategorisierung von Situationen verfugt und diese Modelle auf eine aktueU vorliegende Situation bezieht. Eine Selektion findet nun statt im Falle einer Pas sung der relevanten Eigenschaften (Symbole) der Situation einerseits, und der Situationsmodelle der Akteure andererseits. Dabei geht es nach Esser u m eine Selektion fur das „eine" oder das „andere" Modell. „Es wird davon ausgegangen, dass immer nur Paare von einander ausschHeBenden Alternativen zur Wahl stehen" (Esser 2001, S. 264). Zu fragen ist aber, ob es tatsachHch u m die Selektion einespassenden Modells aus Alternativen geht. Wer mit einer „Situation" konfrontiert wird, interpretiert die Situation und bestimmt, wie er darin am besten handeln (soil). Ich glaube nun nicht, dass es gerade im Falle einer praktisch orientierten Interpretation nur u m die Suche nach einem passenden Modell — eine richtige Kategorisierung — fur die vorHegende Situation geht, fiir die gilt: Wenn die Symbole a, b und c vorHegen, handelt es sich u m Situationstypus x, weil diese Symbole als Merkmale dieser Situation im Gedachtnis gespeichert sind. Wenn dagegen die Symbole c, d, und e vorliegen, handelt es sich u m Situationstypus y usw. Wir suchen vielmehr eine gedankMche Bestimmung der konkreten Situation, die es ermogUcht zu bestimmen, wie wir darin am besten handeln soUen. Dazu geniigt eine einfache Subsumtion einer Situation unter einen Typus auf der Grundlage der Anwesenheit/Abwesenheit von Eigenschaften/Symbolen keineswegs. Eine „mechanische" Selektion eines fix undfertigen Situationstyps gibt zu wenig und manchmal auch falsche Hinweise fur die „Selektion" eines Handlungsprogramms und erst recht fur die „Selektion" einer Handlung.^"^ Ein Grund dafur

Man konnt hier einwenden, dass auch Esser nicht behauptet, dass eine einfache Subsumtion einer Situation auf Grund vorhandener Symbole und Modelle geniigt. Wenn Symbole nicht eindeutig sind, sieht Esser doch das Einschalten des Reflexions-Modus vor. Das andert aber nichts daran, dass am Ende immer nur das bestens zu den Symbolen passende Modell selektiert wird.

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ist, dass wir nicht nur nach einer Handlung, die in einer typischen Situation, sondern nach einer Handlung, die in einer konkreten Situation passt, suchen. Dariiber hinaus kommt nicht zuerst die Selektion des Situationsmodells und dann spater die Selektion eines Handlungsprogratnms in den Blick. Die Idee einer Handlung spielt schon eine Rolle bei der Interpretation der Situation. Die An-/Abwesenheit der von einem Modell vorgegebenen Eigenschaften/Symbole ist nicht ausschlaggebend fur die Interpretation der Situation. So einfach „geset2maBig" gehen wir nicht vor und konnen wir auch nicht vorgehen. Wir konnen das nicht, weil es keine eindeutigen, unfehlbaren und ausschlieBHchen Merkmalskataloge fur bestimmte Gegenstande und Situationen gibt. Schon fur so etwas „einfaches" wie einen Hund kann nicht eindeutig durch einen Merkmalskatalog angegeben werden, wann die betreffende Situation— ein H u n d — (nicht) vorUegt. Das gilt noch starker fur Situationen wie „ein ertrinkendes Kind" und ganz und gar fur „Betrug in einer Transaktion". Die gleichen Merkmale konnen in verschiedenen Zusammenhangen auf verschiedene Situationen hinweisen, Wenn bestimmte Merkmale vorHegen, bedeutet das noch nicht, dass nun auch eine bestimmte Situation vorHegt. D.h. wir konnen Situationen gar nicht mit alternativen Modellen der Situation vergleichen und dann das passende Modell auswahlen.^^ Wir erkennen stattdessen eine konkrete Situation als diese konkrete Situation auf Grund der Gesamtheit der Merkmale, die erst im Zusammenhang eine hoHstische Bedeutung der Situation abgeben. Dieses Erkennen geschieht mit Hilfe von Begriffen, die wir als Identitaten im Laufe einer Wahrnehmungsgeschichte auf Grund einer Anwendung von synthetisierenden Bewusstseinsoperationen in wiederholten und multiperspektivischen Rezeptionen konstituiert haben (Husserl 1985, S. 339, Kant 1998, S. B 129f, Lohmar 1998). Die vielen synthetisierten Wahrnehmungen ergeben im Laufe der Zeit „a clear but confused idea" (Wiggins 1993, S. 207), eine verschwommene Uberlagerung von bildhaften Vorstellungen (Kant 1968, S. B 57/S. A56f), die selbst eben keine Vorstellung mehr ist. Je mehr VorsteUungen sich iiberlagern, u m so weniger geht es beim Begriff selbst u m eine Vorstellung und umso mehr ergibt sich doch eine klare Idee irgendeines Gegenstandes. D e r Begriff tmcs Gegenstandes oder einer Eigenschaft ist so ,etwas in Gedanken', in dem viele Vorstellungen 2u einer nicht-mehr-bildhaften Einheit synthetisiert worden sind. Der Begriff eines Hundes etwa ware so Produkt der Verarbeitung von tausend gesehenen Hunden. Diese vereinheitHchte Vielheit hat selbst keine klare Hundegestalt

^'^

In der analytischen Philosophic wird vor allem in Bezug auf die natiirlichen Arten — z.B. Kat^e, Zitrone, PCind, Wasser — diskutiert, dass sie nicht durch einen Eigenschaftskatalog bestimmt werden konnen (Donnellan 1962, S. 652f, Putnam 1973, S. 710f, Kripke 1980, S. 133f, Wittgenstein 1984, S. 277ff).

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mehr, denn sie vereinigt die roten, gelben, langen, kleinen, mageren, vierbeinigen, Schwanz tragenden, schwanzlosen, langhaarigen, kurzhaarigen usw. Hunde in einer notwendigerweise gestaldosen Gestalt. Hat ein Begriff sich einmal ausgebUdet, dann gibt er Anweisungen zur Beurteilung und Kategorisierung neuer Vorstellungen und Bilder ab (Kant 1968, S. A 58/S. B 58). Die Anweisungen zur Kategorisierung nennt Kant Schemata. Schemata sind notwendig fur eine Verbindung von bildhafter Vorstellung und Begriff. Durch sie wird ein „klare(r) und dennoch dunkle(r)" Begriff mit einer konkreten Situation in Beziehung gesetzt. Weil der Begriff jedoch selbst keine bildhafte VorsteUung und keine Beschreibung einer VorsteUung ist, kann die Deutung einer konkreten Situation nicht in einem einfachen Vergleich von Begriff und konkreter Situation bestehen. Letzteres wiirde Vergleichbarkeit von Begriff und Wahrnehmung voraussetzen (Kant 1998, S. A 141,S. B180). Weil die Gesamtkonstellation fiir die Bedeutung einer Situation bestimmend ist und Merkmale im Rahmen verschiedener Kontexte andere Bedeutungen haben, korrigieren wir vielfach unsere Situations deutung, wenn wir eine Situation besser kennen lernen. Wir priifen eine Situation bis wir „sicher" sind, es mit einer bestimmten Situation zu tun zu haben. Ein schreiendes Kind im Wasser sehen wir zunachst als ein ertrinkendes Kind, bis wir bemerken, dass es sich u m einen H u n d kiimmert. Dann aber versuchen wir noch, uns davon zu vergewissern, dass es sich u m eine Rettungsaktion handelt und das Kind schwimmen kann. Auch solche Korrekturen sprechen gegen die Theorie von einer Pas sung von Modell- und Situationsmerkmalen. Die oben angefiihrten Beschreibungen der Interpretation einer Situation machen klar, dass es nicht um eine Selektion aus alternativen Modellen geht, bei der Paare von Alternativen zur Auswahl stehen. Der Modellvergleich, der voraussetzt, dass Objekte durch Merkmalskataloge bestimmt und mit ebenfalls durch Merkmale bestimmte Modellen verglichen werden konnen, ist ungeeignet als Beschreibung der kognitiven Vorgange der Interpretation einer Situation, sondern wir versuchen zu einer holistischen Interpretation einer Situation zu kommen. Das bedeutet selbstverstandUch, dass es bei der Interpretation der Situation keine gesetzmaBige Selektion aus Alternativen gibt. Die fortschreitende Interpretation der Situation geschieht, das machen die Beispiele ebenfalls klar, immer schon in HinbHck auf ein mogUches Handeki. Ich habe — sobald ich das Kind im Wasser sehe usw. — die Vermutung, dass ich (vielleicht) etwas tun sollte. Wahrnehmung und Interpretation einer Situation finden im Lichte einer (zunachst meist sehr globalen) normativen Handlungsvermutung statt. Die Definition der Situation geht nicht einfach der Handlungs(programm)selektion voraus, wie Essers Konzept impliziert. c) Die Selektion der Evaluation. In Essers Darstellung gehort die Auswahl der Wertorientierung — die Evaluation — zur Interpretation der Situation. In

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seinen Augen sind mit dem Modell der Situation, wie er es nennt, Oberziel und Code und damit die fur die selektierte Situation giiltige Praferenzordnung gegeben (Esser 2001, S. 263). Eine Praferenzordnung bedeutet in Essers Theorie eine Bewertungsordnung m'dglicher Merkmale und Situationen. Die Praferenzordnung eines Akteurs bezieht sich auf „alle denkbare(n) Situationen, die durch sein Handeln eintreten konnen" (Esser 1999, S. 315). Das heiBt, die verschiedenen Merkmale und Situationen sind beim Akteur nicht nur als alternative Modelle der Situation, sondern auch als eine Wertordnung gespeichert. Von daher ist es selbstverstandHch, dass mit der Auswahl des Situationsmodells die Bewertung der Situation automatisch gegeben ist. Wenn nun aber die Bedeutung der Situation das emergente Resultat der Gesamtheit der konstituierenden Telle ist, entfallt automatisch die MogUchkeit eine Situation mit einer fertig vorgegebenen Praferenzordnung zu vergleichen. Die zu bewertenden Situationen sind konkrete Situationen, angesichts welcher eine vorgegebene Praferenzordnung immer unangemessen zu sein droht. Das heiBt, eine vorgegebene Praferenzordnung kann niemals mechanisch angewendet werden. Denn jede Anderung der Merkmale einer Situation kann zu einer „anderen Situation" fiihren. Diese unendlich vielen Situationen konnen niemals aUe in einer Praferenzordnung vorhergesehen werden. Was zunachst der wichtigste Wert zu sein scheint, kann bei genauerer Kenntnis der Situation als viel weniger wichtig erscheinen. Daher kann eine Praferenzordnung, wenn es sie denn iiberhaupt gibt, genau so wenig wie der Merkmalskatalog eines mentalen Modells bei der Interpretation der Situation und bei der Bewertung einer Situation „angewendet" werden. Nur wenn wir von einer beschrankten Zahl von Situationsmodellen ausgehen, kann die Bewertung der Situation als eine Anwendung einer ebenfalls beschrankten Zahl moglicher Bewertungen betrachtet werden. Das ist im Rahmen der Bestimmung von Handlungen aber keineswegs der Fall. Mit der Interpretation der Situation ist also nicht schon bestimmt, in welcher Richtung gehandelt werden soil. Wenn wir wissen, was der Fall ist, kann daraus noch keine eindeutige Schlussfolgerung fiir die Frage „was ist hier ein erstrebenswerter Zustand?" gezogen werden. Es gibt kein Gesetz, das von den Eigenschaften einer vorliegenden Situation und den Einstellungen der Akteure zu einer Evaluation der Situation hinsichtlich einer Anderung f^hrt. Man sieht erst recht, wie kompHziert die Bewertung einer Situation ist, wenn man bedenkt, dass Situationen sich nicht einfach abgrenzen las sen und Kontexte sich andern konnen. Wir alle wissen, dass dasjenige, was in der einen Situation positiv bewertet wird, in einer anderen Situation als negativ gelten kann. Wir bewerten es normalerweise als positiv wenn der Vater ein Geschenk fiir den Geburtstag seines Kindes kauft, finden das aber hochst bedenklich, wenn die Mutter gerade im Sterben liegt. Das relative Gewicht der verschiede-

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nen relevanten Werte kann in Kontext a zudem ganz anders sein als in Kontext b oder c.^^ Die Frage ist dabei immer, was gehort alles zum relevanten Kontext? Das ist nicht eindeutig bestimmbar und kann sich im Laufe der Zeit andern. Die Kontextabhangigkeit betont nochmals, dass eine Praferenzordnung, die von der konkreten Situation und den darin vorhandenen Merkmalen und Handlungsmoglichkeiten abstrahiert, ein viel zu grobes Instrument fur praktische Entscheidungen ist. d) Die Sekktion von Handlungsprogramm und Handlung. Oben wurde schon kurz auf eine wichtige Charakteristik der Handlungs(programm)selektion hingewiesen: Sie kommt nicht — wie Esser meint — erst am Ende der Operationssequenz vor. Die Interpretation der Situation findet im Rahmen einer — und sei es auch relativ unbestimmten — Idee einer angemessenen Handlung statt. Beim Fortgang des Versuchs, die Frage „Was ist der FaU?" zu beantworten, wird diese anfangliche Idee bestatigt oder widerlegt. Wird sie bestatigt, kommt es zu einer weiteren Bestimmung des vorlaufigen Handlungs(programm)entwurfes. Die Vorstellung eines Handlungsprogramms wird so im Laufe der Vorbereitung der Handlung korrigiert und detaiUtert. Dabei werden die vorhandenen Mittel ab einem bestimmten Augenblick in die Uberlegungen einbezogen. Am Ende liegt ein meistens ziemlich gut bestimmtes Handlungsprogramm vor, bei dem eigentlich nur noch gefragt werden muss: Soil ich das so machen? Diese Frage versuchen wir zu beantworten, indem das Handlungsprogramm evaluiert wird. Dazu wird bestimmt, welche Griinde fur bzw. gegen das inzwischen klarer konturierte Programm angefuhrt werden konnen. Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, spielen die Bewertungen der Zustande, die das Programm in verschiedenen Hinsichten realisieren wiirde, eine Hauptrolle. Wenn vom ausgewahlten Programm ein positiv bewertetes Resultat erwartet wird, entscheiden wir uns dafur. Wenn erhebHche negative (Neben-) Effekte erwartet werden, beginnen wir meistens zu zweifeki und iiberlegen, ob die negativ bewerteten Merkmale in der konkret vorHegenden Situation vermieden werden konnen. Wenn das mogUch ist, wird das Programm aus dieser Perspektive geandert. Die Uberlegungen konnen auch dazu fuhren, dass, weil keine befriedigende Losung erreicht wird, mehr oder weniger von vorne anzufangen ist. Beide Entscheidungen sind keine Selektion aus Alternativen. e) Die Selektion der Modi der Informationsverarheitung. Es geht bei den Modi der Informationsverarheitung um das MaB an reflektierender Durchdringung einer Situation (Esser 2001, S. 273). Esser geht von zwei alternativen Modi aus.

15 Ausfuhrlich zu diesen Punkten Jonathan Dancy (2004). Instruktiv ist auch die Auseinandersetzung von Scanlon (2000, S. 301-318) und Dancy (2000b, S. 319-338).

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dem spontan-automatischen sowie dem reflektiert-kalkulierenden Modus (Esser 2003, S. 159f). Zunachst muss in Bezug auf die Modi bemerkt werden, dass es hier nicht u m ein Moment in der Bestimmung einer Handlung geht, sondern u m ein Merkmal der Bewusstseinstatigkeit dieses Bestimmungsprozesses. Auf der Grundlage der oben beschriebenen Konstitution und Evaluation von Situation und Handlung(sprogramm) ist dann klar, dass fiir die hierbei vorkommende Bewusstseinstatigkeit nicht von einer klaren Unterscheidung zweier alternativer Modi gesprochen werden kann, sondern wir es mit flieBenden Ubergangen zu tun haben. Fast immer gibt es ein wenig Reflexion. Wir iiberpriifen z.B. eine Situation jeweils soweit, bis wir geniigend sicher sind, mit dieser konkreten Situation zu tun zu haben. Immer geht es u m ein mehr oder weniger der reflexiven Uberpriifung, in keinem Falle u m eine Selektion zwischen den Alternativen „Automatismus" und „Reflexivitat". Hier kann also ebenfalls nicht von einer Selektion aus Alternativen gesprochen werden. Aus den bisherigen Uberlegungen konnen nun Schlusse in Bezug auf die Frage gezogen werden, ob Frame- und Handlungsauswahl gesetzmaBige Selektionen aus Alternativen sind. Zunachst ist klar geworden, dass die FrameSelektion in viel geringerem MaBe einen einheitlichen Block bildet, als man von Essers Beschreibung her erwartet. Interpretation der Situation, Bewertung und Handlungsprogrammierung sind durchaus drei verschiedenartige Phanomene, die insgesamt wiederum von Reflexionsmodi unterschieden werden konnen. Diese vier Momente werden alle ^dem wenig zutreffend charakterisiert, wenn man sie als Selektion aus Alternativen bezeichnet. Die Momente der Handlungsbestimmung sind durch einen fortwahrenden Bezug auf die Probletnatik der Gestaltung einer konkreten Handlung in einer konkreten Situation gekennzeichnet. Dadurch sind sie, erstens^ vor allem fortwahrend aufeinander bezogene und verschrankte Formen von Konstitution und Evaluation. Zweitens haben sie keineswegs den Charakter eines Merkmalsvergleichs. Die von Esser zu Grunde gelegte Metaphorik der Passung von Modell und Situation trifft nicht zu. Es gibt hier keinerlei Selektion aus Alternativen im Sinne von Essers Theorie. Drittens gilt in Bezug auf die Evaluation, dass so etwas wie fertige Praferenzordnungen im Rahmen der Handlungsgestaltung sinnlos sind. Es gibt allgemeine Werte, die in Bezug auf die konkrete Situation zu einer Bewertung fiihren, die jeweils von der Situation als einer Ganzheit abhangig ist. Viertens sind die von Esser als Alternativen betrachteten Reflexionsmodi nicht einfach zwei Vorgehensweisen, aus denen gewahlt werden kann. Sie sind zwei Endpunkte einer flieBenden Skala. SchlieJ^lich ist die Konstitution eines Handlungsprogramms am allerwenigsten eine Selektion aus fertigen Alternativen. Die Entscheidung fiir ein Handlungsprogramm findet letztendlich statt durch die Abwagung der relevanten, wertbasierten Grunde

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fur und gegen das Programm. Das ist weder ein automatisches Vorgehen noch eine Selektion aus Alternativen. Die Diskussion von Essers Vorschlag, eine nomologische Handlungstheorie auf die Begriffe „Alternative" und „Selektion" zu griinden, fuhrt so zu einem negativen Resultat. Es gibt keine „Alternativen", von denen Esser annimmt, sie wiirden zur Auswahl da sein. Wir wahlen nicht aus Alternativen, sondern schaffen Interpretationen, Evaluationen und Handlungen. Daher gibt es keine kausalen Selektionsgesetze, die Situation und Handlung verbinden. Damit haben sich die oben dargestellten Bedenken Webers gegen eine von psychischen Gesetzen ausgehende Soziologie bestatigt. Angeregt durch Essers Analyse der Momente einer Handlungsgestaltung wurde oben nicht nur Kritik an seiner Soziologie vorgenotnmen. D e n n man bekommt durch Essers Ausarbeitung einer soziologischen Handlungstheorie eine bessere Einsicht in die Griinde fiir die Unzulanglichkeiten einer nomologischen Soziologie. Seine Analyse der Herstellung von Handlungen fordert dazu heraus, die Umrisse einer Alternative — eine Theorie der wertbezogenen, allmahlichen Verfertigung einer konkreten Handlung — herauszuarbeiten. Damit werden erste Schritte in Richtung einer Ausarbeitung der Weberschen Handlungstheorie gemacht, die am Ende noch einmal aufgegriffen werden.

3,2 Nut^enmaximierung Mit der Ablehnung einer psychischen GesetzmaBigkeit bei Situations- und Handlungswahl ist Essers These, „es gehe bei Interpretation und Bewertung der Situation und bei der Produktion einer Handlung um Nutzen und Nutzenmaximierung", noch nicht ausgeschlossen. Die Plausibilitat dieser These wird nun untersucht. Zunachst einige Bemerkungen zur Funktion von ,Nutzenmaximierung' in Essers Theoriegebaude. Manchmal formuHert Esser, es gehe beim Maximierungsgesetz u m eine reine Pro^edur. Ware das der Fall, wiirde seine Theorie die Orientierung des menschlichen Handelns als beliebig begreifen. Wenn es beim Nutzen nur darum geht, die Handlungen mit dem hochsten erwarteten Wert herzustellen und der Wert durch die subjektive Definition der Situation bestimmt wird, ist es von der Subjektivitat der Akteure abhangig, welche Handlungen als wertvoll und daher als rational erscheinen. Damit handelt man sich, wie nun zu erlautern ist, einen grundsatzlichen Kelativismus ein. Eine Handlungsauswahl, die nur auf der Grundlage einer subjektiven Definition der Situation statt findet, ist beUebig. Wenn keine weiteren Bestimmungen dazu kommen, bedeutet sie, dass irgendwelche subjektiven Bewertungen von Gegenstanden und Eigenschaft:en vorliegen und diese Bewertungen in Verbindung mit der formalen Maximierungsregel dazu fiihren, eine Kombina-

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tion von Gegenstanden und Eigenschaften auszuwahlen, und als die 2u verwirklichende Alternative vorzustellen. Folglich wiinscht man sich diese Zustande der Welt (diese verbrauchten Mittel und dieses realisierte Ziel). Dieser Wunsch motiviert und fuhrt 2um Handeln. Eine ebenfalls rein formal rationale Selektion des Frames kann die bei der Selektion der Handlung drohende Beliebigkeit nicht verhindern. Die Selektion eines Frames wird bei Esser nicht prinzipiell anders gedacht, als die Selektion einer Handlung. Sie ist daher logischerweise selbst von einer Definition der Situation abhangig. Die Auswahl eines Frames hangt also von einer allgemeineren Interpretation der Welt ab. Diese allgemeinere Interpretation der Welt bedeutet nicht weniger eine subjektive Definition der Situation, als die spezifischere Definition, die nur als Rahmen fiir die Selektion von Handlungen fiingiert. Bei der Auswahl eines Interpretationsrahmens findet der Vergleich der erwarteten Werte der mogUchen Interpretationsrahmen ebenfalls auf der Grundlage einer nicht weiter begriindeten, nun aber allgemeineren und umfassenderen Definition der Situation statt. Der Interpretationsrahmen fiir die subjektive Definition der Situation wird also selbst auch auf der Grundlage einer subjektiven Definition der Situation ausgewahlt. Die Idee, dass diese Auswahl rational verlauft, andert an der grundsatzlichen BeUebigkeit der fundierenden Definition nicht das aUergeringste. Die bei jeder Selektion 2u Grunde liegende subjektive Definition der Situation macht eine Losung der Beliebigkeitsproblematik grundsatzHch unmoglich. Bei aller formalen RationaHtat der Selektionsregel bleiben die Selektionen prinzipiell wiUkiirlich. Die drohende BeUebigkeit wird in Essers Theorievorschlag vermieden, indem neben der FlexibiHtat und Subjektivitat der Interpretationen und Bewertungen sowie neben der rein formalen RationaHtat der Wertmaximierung eine biologische Festlegung menschlicher Selektionen angenommen wird. Die in einem Frame enthaltenen Ziele und Werte sind nicht rein subjektiv, weil sie, so Esser, an die korperUchen Funktionserfordernisse der Menschen riickgebunden sind. „Die Bewertungen spiegeln ... die allgemeinen und primaren biologischen Reproduktionsbedingungen und in sekundarer Hinsicht die individuelle Lerngeschichte des Organismus ... wieder" (Esser 1993, S. 225). Die Erganzung der These der Wertmaximierung u m die Behauptung, dass es dabei um den Nutzen fiir den je eigenen Organismus geht, ist eine wichtige Achse der Theorie. Wenn es bei der Wertmaximierung letztendUch u m Maximierung der „fitness unter den ... Erfordernissen des Organismus und unter den Bedingungen in der ... Umgebung" (Esser 1993, S. 222) geht, gibt es einen letzten Grund fiir jeweiHge Auswahlen. Wenn sie vom Nutzen fiir den jeweils eigenen Organismus gesteuert werden, sind diese nicht beliebig. Fiir eine Beurteilung von Essers These der Nutzenorientierung ist es nun wichtig, (a) die These der Maximierung des Nutzens genauer zu beschreiben, damit klar wird, wie sie die These der Wertmaximierung inhaltHch spezifiziert.

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Auf der Grundlage dieser Klarung muss (b) gepriift werden, ob die These einer Orientierung der Selektionen durch korperliche Funktionserfordernisse gerechtfertigt werden kann. a) Die Nut^enmaximierungsthese. „Geset2;maBigkeit der Selektion" meint bei Esser nicht lediglich eine formale Prozedur, sondern auch eine auf Fortbestand und Wohlbefinden des Menschen hin gerichtete Orientierung. Er ist davon iiberzeugt, dass wir Menschen, weil wir lebende Organismen sind, letztendlich unseren eigenen Nutzen maximieren (miissen). Die Nutzenmaximierung hat sich evolutionar herausgehildet und ist uns von derNatur aufgegehen.

Die Argumentation fur diese These geht, glaube ich, folgendermaBen. (1) Die Basisthese lautet: „Der letzte Bezugspunkt aller Aktivitaten lebender Organismen ist ihre bestandige Reproduktion. Auch das Handeln der Menschen ist letztlich durch nichts anderes motiviert" (Esser 1999, S. 91). (2) Fiir die Reproduktion eines Organismus gibt es bestimmte Funktionserfordernisse, die Esser Bediirfnisse nennt (Esser 1999, S. 92). (3) Ob die Funktionserfordernisse/Bediirfnisse erfiillt werden oder nicht, wird vom Organismus selbst erfahren. Das „Erlebnis des zutraglichen inneren Funktionierens des Organismus durch den Organismus selbst sei als Nutzen bezeichnet" (Esser 1999, S. 92). Nutzenmaximierung bedeutet daher die Maximierung positiver Erlebnisse. (4) Die Kopplung der Funktionserfordernisse des Organismus an Erlebnisse ist eine evolutionare Errungenschaft. Die evolutionare Auslese hat dafur gesorgt, dass wir diejenigen Phanomene als Nutzen erleben, die Funktionserfordernisse fiir den Organismus erfullen. Zumindest ein Teil der Nutzenerlebnisse ist daher als evolutionare Errungenschaft vererbt (Esser 1993, S. 227). (5) Die Funktionserfordernisse betreffen zwei Grundbediirfnisse: einerseits die biologischen, andererseits die psycho-sozialen Bedingungen des menschlichen Organismus (Esser 1999, S. 93). (6) Diejenigen Zustande und Aktivitaten des Korpers, die mit den korperlichen und psycho-sozialen Funktionserfordernissen iibereinstimmen, sind mit positiv bewerteten Erlebnissen verbunden.^^ (7) In der Evolution sind auch die Giiter, die die Erfiillung der Grundbediirfnisse gewahrleisten, mit Nutzen verbunden. Wir empfinden nicht nur die Ernahrung, sondern auch den Erwerb von Nahrungsmitteln als Nutzen. Wir empfinden nicht nur die Bestatigung unserer Ziele und unseres Selbstbildes als Nutzen, sondern auch den Erwerb der Mittel fur z.B. soziale Achtung durch Andere. Hier vor allem scheint es auch angelernte Zusammenhange zu geben. (8) Menschen handeln auf Grund von erwarteten Erlebnissen und erstreben dabei eine Maximierung positiver Erlebnisse. Das Auftreten der Werte und die

1*^ „Bewertungen bedeuten die Zuweisung von emotionalen Besetiiungen auf bestimmte ... Folgen der Selektion von Alternativen. Diese Zuweisung von Bewertungen erfolgt nach Mafigabe ihrer eingeschatzten Zutraglichkeit fiir den Organismus" (Esser 1993, S. 225).

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darauf bezogene, selektierende GesetzmaBigkeit fiihren schlieBlich zur Auswahl der niitzlichsten Kombination von Zielen und Mitteln. Dieses Streben bedeutet gleichzeitig eine maximale Erfullung der Funktionserfordernisse unseres Organismus. Diese Argumentation wiirde es rechtfertigen von einer natiirlichen Nutzenmaximierung auszugehen — wobei es darum ginge, die (erwarteten) positiven Gefuhle zu maximieren. Und: Wenn diese Thesen richtig waren, wiirden die Situationsdeutungen und die Gestaltung von Handlungen tatsachlich nicht nur prozedural-rational und daher subjektiv-willkurlich, sondern in einem materiellen Sinne rational sein, weil sie den Anforderungen des menschlichen Organismus gehorchen. b) Prufung der Nut^enmaximiemngsthese. Die von Esser dargestellte Verbindung von korperlichen Funktionserfordernissen und Wertmaximierung ist nur plausibel, wenn erstens die positiven Erlebnisse mit den korperlichen Funktionserfordernissen korrespondieren, ^eitens die lustvollsten Erlebnisse auch tatsachlich als die wertvollsten gelten. N u r wenn diese beiden Identifikationen zutreffen kann man sagen, dass die Kegel der Wertmaximierung zum korperlichen Wohlbefinden beitragt und daher an die korperlichen Funktionserfordernisse gebunden ist. Die Antwort auf die Frage, ob diese Voraussetzungen tatsachlich erfiillt werden, scheint mir fur beide Identifikationen allerdings mit einem Nein beantwortet werden zu miissen. Das zeige ich im Folgenden fur die Produktion und Auswahl von (a) Handlungen und (b) Frames. 1) Nut^en und Handlung. In Bezug auf die erste Bedingung fallt es nicht schwer zu sehen, dass einerseits vielfach Vorstellungen von gewiinschten Handlungen, die fiir die Funktionserfordernisse wichtig siad, nicht mit Lustempfindungen verbunden sind. Eine Chemotherapie ist ein furchtbares Erlebnis, manchmal ist sie aber notwendig, damit der Korper iiberlebt. Obwohl sie ihr Leben als eine Qual erleben und keine Aussichten auf Verbesserung bestehen, wollen verschiedene Personen doch weiter leben. Andererseits kommt es haufig vor, dass dasjenige, was Lust bringt, den Funktionserfordernissen des Korpers zuwiderlauft. So ist z.B. klar, dass das lustvolle und viele Essen als Ursache von Fettsucht den Funktionserfordernissen des Korpers zuwiderlauft. Wir trinken Alkohol, weil das „locker" macht, was lustvoU ist. Manchmal ist das Triaken aber schddlich fiir korperUches und soziales Wohlbefinden. Diese Beispiele machen klar, dass (erwartete) Lust- bzw. Unlustempfindungen und korperliche Funktionserfordernisse keineswegs identisch sind. Die liber viele Jahrhunderte mogUcherweise hilfreiche Verbindung von Lusterlebnissen und Funktionserfordernissen besteht, vor allem durch die Entwicklung technischer Vermogen und Anderungen ia der Natur, heute so nicht mehr. Man kann vermuten, dass heute zwischen Lust und Funktionserfordernissen vieknehr eine Unvereinbarkeit besteht. Wer Lust-/Unlustgefuhle

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als Kompass verwendet, ruiniert unter den heutigen Lebensumstanden seinen Korper. Unter anderem weil wir einsehen, dass es fur den eigenen Korper schadlich ist, tun wir Lustvolles manchmal nicht. Das sieht auch Esser. Darum formuliert er, dass die „Zuweisung von Bewertungen ... nach MaBgabe ihrer eingeschatzten Zutraglichkeit fur den Organismus (erfolgt, WM), wobei die Zutraglichkeit sowohl biologisch verankert, als „. auch: gelemt sein kantf' (Esser 1993, S. 225; Kursivsetzungen WM). Dabei unterlasst er es jedoch zu bemerken, dass diese richtige Feststellung der These einer Verbindung von Funktionserfordernissen und (erwartetem) Wohlempfinden widerspricht. Die Aussage, dass neben der biologischen Verankerung das Gelernte eine Rolle spielt, bedeutet doch, dass der evolutionar erworbenen Verbindung von Korpererfordernis und Lusterlebnis gerade nicht gefolgt wird, weil eingesehen wird, dass sie den Korpererfordernissen widerspricht. Einsicht in die Dinge ersetzt hier Verfolgung erwarteter Lust. Es ist vor dem Hintergrund, dass Lusterwartungen nicht unbedingt positiv mit Korpererfordernissen verbunden sind, nur gut, dass auch die ^eite Bedingung von Essers These zur Beziehung von Wertmaximierung und Korpererfordernissen — die oben so genannte Identitat von Lust und Wert — nicht erfullt wird. Wir produzieren zum Gliick nicht immer Dinge und Handlungen, die als Lust bringend empfunden werden. Und umgekehrt betrachten wir manches, was Lust bringt, nicht als wertvoll. Die Lust-/Unlusterwartung ist nur ein mbglicher Grund etwas zu tun oder nicht zu tun. Die oben diskutierten eingesehenen Korpererfordernisse sind Beispiele fur andere Griinde. Neben Lust und Korperbediirfnissen gibt es viele andere gute Griinde fur Handlungs orientierungen, die letztendlich alles betreffen, was irgendwie fiir sich selbst als wertvoll betrachtet wird und worum ich mich als Wert an sich kiimmern mochte. Wenn ich etwas fur meine Eltern tue, meinen Kindern helfe, mich frage, wie ich sie am besten unterstiitzen kann, dann denke ich nicht nach iiber den Nutzen, die die Alternativen „unterstutzen/nicht-unterstutzen" fur mich haben wiirden. Im Vordergrund steht die Frage, was ich in Anbetracht ihrer Probleme am besten fur sie tun kann. Der Wert steckt nicht in der Lust und schon gar nicht in den Lustunterschieden der Alternativen. In alien solchen Fallen ist klar, dass ich eine Handlung nicht auswahle, weil sie mir Lust bringt und fur meine Korpererfordernisse niitzlich ist, sondern weil sie mir in irgendeiner anderen Hinsicht als die wertvollste erscheint.^^ Die Differenz von Lusterwartung und Wert beobachtet man vielleicht noch klarer an dem Pro!(ess, in dem wir, ausgehend von einem auftauchenden

^^

Mit den angefiihften Beispielen mochte ich natiirlich nicht behaupten, dass das an sich Wertvolle keineswegs mit Lusterwartungen verbunden sein kann.

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Wunsch, zior Auswahl einer Handlung kommen. Wenn m k an einem warmen Sommertag der Gedanke an ein Eis kommt und ich Lust spiire, ein Eis zu kaufen und zu essen, kann es gleichwohl passieren, dass ich zu denken anfange und frage, ob die erwartete, jetzt schon spiirbare Lust, die das Eis mir bringen wucde, mit meinem Streben abzunehmen, kompatibel ist. Der aufkommende Wunsch ist offenbar nur ein moglicher Grund fur eine Handlung, der in vielen Fallen mit anderen Griinden, vor allem Werten, in Bezug gesetzt wird. Was uns irgendwie „geschieht", das Aufkommen eines Wunsches oder einer Neigung, ist offen fur Fragen, Reflexion, Korrektur und Modifikation (siehe ScanIon 1998, S. 65ff). Die Unmoglichkeit, Wert auf Lust zu reduzieren, ist relativ schwierig einzusehen wegen der Lust, die in den meisten Fallen mit Wertrealisierung verbunden ist. Wir freuen uns, wenn es geHngt, ein als wertvoll betrachtetes Ziel zu verwirklichen. Wenn ich ein Kind aus dem kalten Wasser gerettet habe, gibt das ein gutes Gefiihl. Dagegen habe ich Gewissensbisse, wenn ich keinen Rettungsversuch unternommen habe. Wegen solcher Lust-/Unlustgefiihle konnte man denken, dass in diesen Fallen aus Lusterwartung gehandelt wird. Fur derartige Konstellationen ware es entscheidend, dass der Handelnde bestimmte Werte verinnerHcht und sich auch emotional mit diesen Werten identifiziert (Esser 2001, S. 363). Verinnerlichung und Identifikation erfolgen „nach erlebten Konsequenzen, Belohnungen und Bestrafungen unter typischen Bedingungen, und diese Erfahrungen werden gespeichert und generalisiert" (Esser 2003, S. 169). In Folge der Internalisierung freut bzw. schamt man sich, wenn die verinnerlichten Werte verfolgt respektive nicht verfolgt werden. Zudem zieht die Einbettung in ein kognitives sowie soziales System hohe Anderungskosten, kognitive Dissonanzen und soziale Missbilligung, nach sich (Esser 2003, S. 170). Insgesamt hat diese Konstellation dann zum Resultat, dass die Verwirklichung der internalisierten Werte Lust und die Abweichung Unlust bereitet. Mit dieser Konstatierung verbindet Esser den Schluss, dass wegen des erwarteten Nutzens, der als Folge der Internalisierung mit der WertverwirkHchung verbunden ist, gehandelt wird. N u n ist die Feststellung, dass die VerwirkHchung eines Zieles zufrieden stimmt, zwar richtig, daraus lasst sich aber nicht schliefien, dass aus Anlass der erwarteten Lust gehandelt wird. Das sieht man, wenn versucht wird, folgende Frage zu beantworten: Stimmt es, dass in jedem Fall, in dem der Wert einer selektierten Handlung nicht auf der erwarteten Lust zu beruhen scheint, dutch Hinweise auf Internalisierung und damit zusammenhangende kognitive und soziale Kosten dennoch nachgewiesen werden kann, dass letztendlich die erwartete Lust bestimmend war? Nehmen wir wieder den Fall eines ertrinkenden Kindes. Wenn ich sehe, dass ein Kind im kalten Wasser Hegt und zu ertrinken droht, versuche ich es zu retten, weil ich unmittelbar mit dem Kind mitfiihle und finde, dass ich es

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retten soil. Man bedenkt nicht 2unachst die soziale Venirteilung und die Gewissensbisse, die bei unterlassener Hilfe drohen. Solche Gedanken gelten nicht als gute Griinde fur das Retten eines Anderen. Dass die so^alen Vor- und Nachteile im beschriebenen Fall nicht entscheidend sein konnen, sieht man leicht, wenn man sich ihn so vorstellt, dass er nicht von einem Dritten wahrgenomm e n werden kann. In dieser Lage wiirde ich, und ich nehme an, dass gilt auch fut Esser, mit dem Kind mitfuhlen und es 2u retten versuchen. Ein letzter Zweifel bleibt dann nur noch in Bezug auf die moglichen psychischen Kosten. Konnte der Wert des Rettens nicht von der drohenden Scham und den Gewissensbissen herriihren, die in Essers Argumentation Folge der Internalisierung eines Werts sind? Gegen diesen Gedanken spricht schon, dass die Aufmerksamkeit sich auf das Kind richtet und ich mich in Gedanken nicht u m die Gewissensbisse kiimmere. Vollends absurd wird diese Annahme, wenn man sich vor Augen fuhrt, dass es logisch gesehen unmoglich ist, dass Scham oder Gewissensbisse den Wert des Rettens erklaren. Wir halten etwas nicht fur wertvoll, weil sonst Scham und Reue auftreten, sondern Scham und Reue treten auf, weil wir gegen etwas Wertvolles verfehlt haben. Der umgekehrte Gedanke, dass wir etwas fur wertvoll halten, weil sonst Scham und Reue auftreten, ist widersinnig. Ich werde von Gewissensbissen gequalt, weil ich das Leben des Kindes wichtig finde, es aber dennoch nicht gerettet habe.^^ Das fiihrt 2u dem Schluss, dass der Wert, den das Leben des Kindes fur mich hat.

1^

Esser geht davon aus, dass Selektionen immer „im eigenen Interesse" sind (Esser 1993, S. 223). Der Begriff des Egoismus hat in diesem Zusammenhang eine recht weite Bedeutung. Esser unterscheidet daher sein Verstandnis von Egoismus klar von einem Egoismus, den er mit Ellbogenmentalitat und Ausbeutung in Verbindung bringt. „Maximieren heiBt keineswegs ,egoistische Ausbeutung' und ,Darwinismus', sondern oft genug: Altruismus, Investition in so'ziale Kooperation und die Starkung der Gemeinschaft" (Esser 1993, S. 223). Menschen haben nach Esser ein Interesse „an sozialen Kontakten, Altruismus oder Freundlichkeiten" (Esser 1993, S. 342, 1999, S. 313f). Das ist erstens der Fall, weil sie von Natur aus oder durch Socialisation und Internalisierung dieser ,Tugenden' freundlich, altruistisch oder solidarisch sind. Zweitens haben sie ein genuines Bediirfnis nach Zusammenarbeit und sozialer Ordnung, weil sie dadurch ihre Interessen am besten verwirklichen konnen (Esser 1993, S. 223, 2000, S. 117£). Diese Interpretation von SoHdaritat und Altruismus als Formen von Egoismus wurzelt im Boden eines naturalistisch aufgefassten Strebens, die individuelle Fitness im Sinne des korperHchen und sozial-psychischen Wohlergehens zu maximieren. Solches Handeki gehort zu unseren angeborenen oder internalisierten Praferenzen. Da die Auffassung, dass Praferenzen an Korpererfordernisse gebunden sind, sich als unhaltbar erwiesen hat, muss logischerweise auch die Egoismusthese aufgegeben werden. Solidarisches und altruistisches Handeki konnen vor diesem Hintergrund nicht mehr unbedingt als Funktionen von Korpererfordernissen und auch nicht als von Lust- und Nutzenerwartungen veranlasst begriffen werden. Die Charakterisierung von Selektionen als „egoistisch" ist daher ohne Fundament. Diese theoretische Schlussfolgerung wird durch Ergebnisse von Experimenten und Diskussionen in der Sozialpsychologie unterstiitzt. Siehe dazu Batson (1991, 1992, 1997) und Hofmann (1981, 2000).

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der G r a n d des Rettens sein muss. Dieser Wert kann nicht auf den Nutzen fur den Rettenden zunickgefuhrt werden. b) Nutf^en und Frame. Wenn die These der Orientierung an den Funktionserfordernissen fur die Handlungsauswahl nicht zutrifft, ist noch nicht gesagt, dass sie fur die Auswahl eines Frames nicht gilt. Gilt die These hierfur, hieBe das 2.B., dass Werte wie Freundschaft, Sorgen fur seinen Nachsten, Gerechtigkeit usw. als Orientierungspunkte ausgewahlt und festgehalten werden, weil sie als allgemeine Werte fur mich niitzlich sind. Sobald man diesen Gedanken ernst nimmt, kommen gleich Zweifel Wie soil man sich vorstellen, dass ein Wert, der fiir einen Akteur in einem konkreten Fall kein niitzlicher, aber durchaus ein wertvoller Orientierungspunkt ist, dennoch niitzlich ist? Man muss an dieser Stelle jedoch vorsichtig sein, denn es scheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Geltung eines Wertes — gerade weil er allgemein ist — fiir den Einzelnen niitzlich ist. Letzteres scheint der Gedanke Essers zu sein, wenn er Max Webers Begriff der „Wertrationalitat" diskutiert. Der Kerngedanke Essers ist hier, dass ein Individuum ein so genanntes konstitutionelles Interesse an unbedingt giiltigen Werten hat und diese Werte daher bewusst vertritt. Wertrationalitat ist das bewusste unbedingte Festhalten an Werten, die fur die Nutzenproduktion eines Kollektivs als notwendig angesehen werden. Solche Werte „entstehen als eine Art von ,rationalem' inneren Tun von Akteuren dann, wenn die Akteure bestimmte konstitutionelle Interessen, speziell an der stets gefahrdeten Produktion von Kollektivgiitern, haben und glauben, dass fiir deren Produktion und Sicherung die tJbernahme der Werte und ihre unbedingte Befolgung notwendig sind" (Esser 2003, S. 177). Akteure wiirden sich dann wertrational verhalten, wenn die Entsprechung von Wertorientierung und Situation zerstort worden ist und sie, statt sich dieser Situation anzupassen, an dem Wert, den sie als notwendig beurteilen, als einem „Sollen" festhalten (Esser 2003, S. 183/184). In dieser Auffassung halt man an Werten dann bewusst fest, wenn eingesehen wird, dass sie fiir die Nutzenproduktion notwendig sind. An dieser Argumentation ist erstens problematisch, dass man nach den vorstehenden Uberlegungen nicht sieht, warum nur im Ausnahmefall — wenn eine Wertorientierung gefahrdet ist — bewusst an einem Wert festgehalten wird. Wir sind uns im Alltag oft genug einer ganzen Reihe von Werten bewusst und fragen uns, ob wir dem einen oder dem anderen Wert in einer bestimmten Situation mehr oder weniger Gewicht geben sollen. Vielleicht meint Esser nicht solche Situationen, wenn er von Wertrationalitat spricht. Sie deuten meiner Meinung nach aber darauf hin, dass wir iiber Interpretationsrahmen und Werte im Alltag vielfach nachdenken und an bestimmten Werten festhalten, ohne dass von Nutzen und Korpererfordernissen des Handelnden oder von einer gefahrdeten Produktion von Kollektivgiitern gesprochen werden kann.

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Der Gedanke, dass wir uns nur in Ausnahmesituationen bewusst u m Werte kummern, findet sich bei Esser wohl deshalb, well er davon ausgeht, dass eine Werteorientierung, die in einer Gemeinschaft gilt, wegen der mit einer abweichenden Orientierung verbundenen sozialen und psychischen Kosten ohnehin nicht bewusst angestrebt zu werden braucht. Werteorientierung ist dann eine selbstverstandliche Bedingung fur die individuelle Nutzenproduktion, an der man nicht bewusst festhalten muss. Das ist in Wirklichkeit jedoch anders. Es gehort zum Alltag, sich bewusst an Werten zu orientieren, auch wenn das fur die soziale Anerkennung nicht notwendig ist. Zweitens soil hier betont werden, dass gerade die von Esser dargestellte Befolgung eines Wertes aufEinskht heruht. Es ist die Einsicht, dass die korperliche und geistige Integritat des Menschen, die Fiirsorge u m die Familienmitglieder usw. es erfordern, Gewalt auszuschliel^en, die zur Befolgung eines Wertes treibt. Wir verteidigen die angedeuteten Ansichten meistens nicht, weil sie uns selbst hinsichtlich unserer Korpererfordernisse oder Lusterwartungen in eine bessere Position bringen wiirden. Wir verteidigen Werte manchmal in Situationen, in denen ansonsten eine Verschlechterung der eigenen Bedingungen erwartet wird. Wer sieht, dass die Orientierungen an Solidaritat, Wahrheit, Gesundheit gefahrdet sind und diese Werte bewusst verteidigt, tut das oft, obwohl er die hohen sozialen und kognitiven Kosten dieser Vorgehensweise kennt. Die Verteidigung der Werte kann mit den eigenen Korpererfordernissen und Lustgefiihlen im Widerspruch sein. Diese Einsicht bedeutet nicht, dass die genannten Werte aufgeben werden. Solche Entscheidungen sind nicht von Lusterwartungen oder konstitutionellen Interessen abhangig, sondern von einer Wertschatzung, der viele verschiedene Werte zugrunde liegen konnen. Z u m Ahschluss der Diskussion von Essers These, dass die menschlichen Selektionen allesamt an den Erfordernissen ihres Korpers orientiert sind, sollen folgende Punkte festgehalten werden: Mit Recht sucht Esser nach „Nichtbeliebigkeit" bei der Selektion von Handlungen und Frames. Wenn die Handlungen im Rahmen einer subjektiven Definition der Situation und die Definitionen der Situation im Rahmen einer globalen Interpretation der Welt selektiert werden, sind aber beide von Beliebigkeit und Relativismus bedroht. Eine Riickbindung der Selektion von Handlungen und Frames an die organischen und psychischen Funktionserfordernisse des Menschen soil fur diese Problematik die Losung bringen. Das bedeutet bei Esser: Wertmaximierung = Nutzenmaximierung = Erfiillung von Funktionserfordernissen. Diese Identifikationen haben sich aber in der Diskussion als inexistent erwiesen. Die Ablehnung des Gedankens, dass die menschlichen Selektionen iiber den Mechanismus der Nutzenmaximierung an der Erfullung der Korpererfordernisse orientiert sind, bedeutet aber nicht schon, dass Relativismus und BeHebigkeit des menschlichen Handekis unabweisbar sind. Die oben angefuhrten

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Uberlegungen deuten an, in welcher Richtiing man eine Losung vermuten kann. Die Ablehnung der These, dass die Funktionserfordernisse des Korpers unbedingt liber Lust-/Unlusterlebnisse im Bewusstsein erscheinen, bedeutet nicht, dass diese Funktionserfordernisse als Griinde fur Interpretation, Evaluation und Handlungsselektion aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden. Im Gegenteil, wir sahen, dass die Korpererfordernisse uns in vielen Fallen nicht als Lusterlebnisse, sondern als solche ins Bewusstsein kommen. Und: nicht nur Lust und Korpererfordernisse, sondern viele andere Phanomene, wie das Wohlergehen Anderer erscheinen als wichtig. In aUen diesen Fallen geht es nicht um beUebige Angelegenheiten, sondern um Phanomene, fiir die wir sorgen woUen. Wir konnen die Gesamtheit der in einer Situation als relevant erscheinenden Werte bei der Konstitution, Evaluation und Selektion von Handlungen als Grunde beriicksichtigen. Durch die Abwagung von Werten und Griinden kommen wir zu einer vielseitig begriindeten, das heiBt nichtbeUebigen Konstitution und Auswahl von Handlungen. Dieser Gedanke wird nun ausgearbeitet.

4 Das verniinftige Handeln Ausgangspunkt der nun folgenden Uberlegungen zur Handlungstheorie ist die sowohl von Weber als auch von Esser ausgesprochene Einsicht, dass Menschen, im Rahmen ihres praktischen Verhaltnisses zur Welt, dieser Sinn verleihen. Gegenstande und Ereignisse erhalten Bedeutung und Wert, indem sie wertend erfahren werden. Auf dieser Grundlage kommt es zum Handeln und resultiert eine geanderte Welt. Handeln wird durch die Vorstellung eines sein-soUenden Weltzustandes geleitet. Diese Sinngestalt steuert die Operationen, in denen Akteure sich materiell zur Welt verhalten. Weber bestimmt den subjektiv gemeinten Sinn der Handlungen als die vereinheitHchten Gedanken und Vorstellungen, die die mentale Ursache des Handelns bilden. Zentral geht es dabei um die Vorstellung eines sein-sollenden Erfolges, die das Handeln auslost und orientiert.^^ Diese Vorstellung ist Resultat eines Bewusstseinsprozesses, in der eine PluraHtat von Einflussen aufeinander bezogen und vereinheitUcht wird. Die Prozesse, die zum Entwurf eines positiv bewerteten zuktinftigen Weltzustandes fiihren, werde ich nun, auf der Grundlage der bisherigen Ausfiihrungen, in ihrem Zusammenhang zu beschreiben versuchen. Eine Soziologie, die soziale Gebilde handlungstheoretisch erklaren wiU, muss sich fiir derar-

1^ Ursache ist hier nicht gemeint als bloBes anstoBen, sondern bedeutet, initiieren und orientieren. Ich komme darauf noch zuriick.

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tige Erkenntnisse iiber die Produktion von Handlungsentwurfen interessieren. Im Prozess der Handlungsproduktion findet man die Operationen und Strukturen des Bewusstseins und die Bedingungen, unter denen ein so^al passender Handlungsentwurf verfertigt wild. Eine allgemeine Einsicht in den Prozess der Produktion handlungsleitender Vorstellungen ist also hilfreich u m zu klaren, wie eine Sinngestalt, deren Befolgung Handeln als Moment sozialer Gebilde gestaltet, entsteht. Diese Erkenntnis wiederum ist nxitzlich, u m zu wissen, wie typische soziale Gebilde durch typische psychische Operationen und Strukturen produziert werden. Bei der Verfertigung typischer Handlungen, die Momente solcher Gebilde sind, spielen andere Handelnde und deren Handlungen eine wichtige Rolle. Wenn Handlungen sich aufeinander beziehen, entstehen soziale Gebilde. Fur eine Darstellung der Produktion sozialer Gebilde durch Handlungen ist eine allgemeine Handlungstheorie daher unzureichend. D e n n in ihr ist undifferenziert von Gegenstanden und Ereignissen, deren Eigenschaften und Bedeutungen die Rede. Das heiBt die Akteure, Handlungen und sozialen Gebilde werden nicht von den anderen Objekten des Handelns unterschieden. Diese Abstraktion muss fiir eine soziologische Handlungstheorie riickgangig gemacht werden, weil sonst die typischen Bestimmungen sozialer Gebilde nicht verstanden werden konnen. Gerade ein derartiges Verstandnis ist aber von einer soziologischen Handlungstheorie zu leisten. Dieser Schritt wird hier aus Platzgriinden nicht mehr gemacht. Im Folgenden wird nun zuerst ganz allgemein der Prozess der Verfertigung einer Handlung dargestellt (4.1), dann werden einige Themen der allgemeinen Handlungstheorie diskutiert (4.2).

4.1 Die Verfertigung der Handlung In der folgenden Darstellung der Produktion von Handlungen unterscheide ich im Anschluss an die oben gefiihrte Diskussion fiinf einander jeweils voraussetzende Momente: Interpretation, Evaluation, Konstitution, Selektion und Wo Hen. Interpretation. Situationen werden in HinbUck auf mogHches Handeln (was auch Unterlassen von Handeln bedeuten kann) interpretiert. Ihre Wahrnehmung und Interpretation findet im Lichte einer (anfangHch meist ziemHch globalen) normativen Handlungsvermutung statt. Auf Grund von Empfindungen kommt der Handelnde, durch die Synthetisierung derselben in Verbindung mit in der Vergangenheit gebildeten Begriffen, zur Interpretation einer konkreten Situation. Angesichts einer Situation versucht er zu einer, sowohl in Bezug auf die Empfindungen als auch die Begriffe koharenten und in diesem Sinne rational begriindeten Interpretation derselben zu kommen (vgl. Smith 2004, S. 302f, Bratman 1993, 2000). Die Bezugnahme auf Begriffe von Gegenstanden,

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Eigenschaften, Bedeutungen und Werten ist dabei enorm hilfreich, well sie Hinweise auf das Zusammengehorige und daher Hinweise fur die Suche nach Wahrnehmungen und Beziehungen derselben abgibt. Welche Gegenstande, Ereignisse und Bedeutungen einer Situation relevant sind, wird nicht nur durch die Begriffe, sondern auch durch die vom Handelnden mitgebrachten Handlungsvermutungen bestimmt. Durch die wahrgenomtnenen Gegenstande, Ereignisse und Bedeutungen wird irgendeine Handlungsvermutung hervorgerufen. Die Handlungsvermutung, die Wahrnehmungen und die Begriffe werden im Fortgang der Interpretation aufeinander bezogen. Sie erganzen sich und werden immer konkreter. Die Handlungsvermutung wird weniger formal, indem sie von Wahrnehmungen und Begriffen korrigiert wird. Die Wahrnehmung richtet sich auf die Handlungsvermutung und auf die in den Begriffenen enthaltenen Hinweise, die andeuten, was alles an Eigenschaften und Bedeutungen erwartbar ist. Die Begriffe fiillen sich mit situationsgebundenen Einzelheiten zu Vorstellungen der Situation. Eine zentrale RoUe bei der Interpretation der Situation spielen die Begriffe verschiedener Gegenstande, Eigenschaften, Situationen und Werte. Sie bilden den strukturierenden Hintergrund beim Versuch herauszufinden, welche Merkmale in der gerade vorHegenden Situation am wichtigs ten sind, und welche Eigenschaften usw. zudem in Betrachtung gezogen werden soUen. Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Koharenz von Empfindungen, Vorstellungen, Begriffen und Handlungsvermutungen. Es geht darum, dass sie geniigend konkretisiert koharent versichern, dass wir es mit dieser und nicht mit einer anderen Situation zu tun haben. ^^ Weil die Gesamtheit der Merkmale fur die Erfassung und Interpretation einer Situation bestimmend ist, korrigieren wir vielfach unsere Interpretationen einer Situation. Kohdren^ rechtfertigt eine bestimmte Interpretation der Situation, Inkonsisten^ fiihrt zu Weitersuchen. Diese Art der Begriindung einer Interpretation einer Situation darf nicht mit Essers Passung von Modell und Wahrnehmung verwechselt werden. Synthesis und Begriindung konnen auch nicht als kausale Vorgdnge verstanden werden. Die miteinander verbundenen Empfindungen, Vorstellungen usw. schaffen als eine emergente Einheit die Griinde fur eine bestimmte Interpretation. Der komplexe kognitive Prozess der Konstitution der Wahrnehmung unter Riickgriff auf Handlungsvermutung und Begriffe kommt mit Essers Begriffen Modell und KausaHtat nicht in den Blick. Evaluation. Die Interpretation einer Situation impHziert, weil sie auf einem (unklaren) Vorentwurf einer Handlung beruht, immer schon eine (meist auch unklare) Wertbeziehung. In einer Situation habe ich etwa unmittelbar den

20 „(A)n adequate reason for belief must be such that one could not easily believe falsely in believing P for that reason" (Millar 2004, S. 44).

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Eindruck, „das ist die Lage und sie gefallt mir", oder: „ich mochte dieser Situation entfliehen" usw. Interpretation und Evaluation einer Situation gehen im Rahmen einer Handlungsausrichtung Hand in Hand. Gegenstande, Ereignisse und Eigenschaften haben Bedeutungen im Rahmen einer vorerst unterbestimmten moglichen Handlung, die als solche immer auf Werte hinweist. Dabei ist die Wertbeziehung ein Grund fur die Interpretation — man konzentriert sich auf etwas wegen ihres Wertes — und ist die Interpretation umgekehrt ein Grund fiir die Wertbeziehung — wenn etwas der Fall ist, z.B. ein Kind ertrinkt, werden bestimmte Werte hochrelevant. Weil der Handelnde bestimmte Werte strukturell hochschatzt, kommt es zu einer bestimmten Aufmerksamkeit und Interpretation der Situation. In dieser Interpretation werden ausgewahlte Werte erst wirklich relevant; das fiiihrt zu neuen Wahrnehmungen und so geht es weiter, bis die Interpretation und die Evaluation eine sowohl innere als auch aufeinander bezogene Koharenz erworben haben. Bei der Evaluation geht es um ein Gesamturteil, in diesem Falle um eine Gesamtevaluation einer Situation. Dabei sind normalerweise mehrere Werte gleichzeitig relevant. Die Situation eines Schiilers z.B. hat fur einen Lehrer mehrere relevante Hinsichten, in denen er zu einer Bewertung der vorHegenden Situation kommt. Das konnte sein: Er rechnet gut, ist in Geschichte nicht interessiert, arbeitet autonom, ist den anderen Schiilern gegeniiber ehrHch. Zudem bedenkt der Lehrer: Ich mag ihn personHch und habe Zeit, mich um ihn zu kiimmern. Das betrifft aUes Hinsichten, die der Lehrer fiir sein Handeln als relevant erachtet und in denen er eine Bewertung vornimmt. Auf dieser Grundlage kommt der Lehrer zu einem Gesamturteil in Bezug auf den Schiiler und zu einer vorlaufigen Handlungsrichtung, hinsichtUch der ihm von vornherein vorschwebenden Frage, wie in seiner Situation zu handeln ist. Die aUgemeinen Werte, hier: aUgemeine, gesellschaftHch niitzHche Fahigkeiten wie Rechnen und sich unterhalten, Autonomic, EhrHchkeit, die die Hinsichten der Beurteilung abgeben, werden bei einer Bewertung meist als selbstverstandliche Gesichtspunkte verwendet und nicht als solche thematisiert. Sie sind die nicht beleuchteten Lichter, die die Eigenschaften des Schiilers erst aufscheinen las sen und eine Beurteilung mogHch machen. Konstitution. Bei den Uberlegungen zur Evaluation der Situation spielen die Begriffe moglicher, positiv bewerteter Zustdnde und mbglicher Mittel ihrer Errei-

chung schon eine Rolle. Ich interpretiere und beurteile nicht nur die vorliegende Situation. Der Lehrer ,hat' irgendwie im Rahmen seiner Uberlegungen immer schon eine Idee eines in verschiedenen Hinsichten wiinschenswerten Zustandes des Schiilers. Eine Ahnung desselben spielt eine RoUe bei der Interpretation und Bewertung der vorliegenden Situation. Unter anderem diorch die Interpretation und Bewertung der vorUegenden Situation hinsichtUch einer zukiinftigen Situation erheUt sich, ob diese letztere tatsachHch eine mogliche und positiv bewertete Situation sein konnte: viel-

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leicht sollte man besser nichts andern; sind die negativen Werte eines vorgestellten Zustandes doch wichtiger als die positiven; und: konnte der Handlungsentwurf nicht in diesem oder jenem Punkt geandert werden, damit er in seinen Wertfolgen positiver abschneidet? Das sind typische Fragen, die bei der Konstitution eines Handlungsentwurfs beantwortet werden. Der Handelnde kommt alknahlich durch eine Reihe von Vorgriffen auf wiinschenswerte Weltzustande und Betrachtungen der bestehenden Welt in ihrem Lichte, sowie durch Riickgriffe auf schon produzierte Interpretationen und Bewertxingen 2u immer konkreteren Vorstellungen dessen, was er als Sein-sollendes und ein dafiiir notwendiges Handeln gut findet. So kommt es zu einer Bestimmung der Situation, der darin wichtigen Gegenstande und Ereignisse, ihrer Bedeutung in dieser Situation, der relevanten Werte und deren Gewichte und schlieBUch zur Konstitution und Bewertung einer Vorstellung eines zukiinftigen Zustandes, inklusive des dafur notwendigen Handelns und seiner Mittel. Der Handelnde verfugt dann liber einen konkretisierten Handlungsentwurf, dessen Merkmale das Gewicht der jeweiligen Werte in der Situation angemessen beriicksichtigen. Selektion. Die Griinde fiir die Akzeptanz eines konstituierten Handlungsentwurfs als Grundlage fiir das Handeln sind mannigfaltig. Die Akzeptanz beruht erstens auf den Bedeutungen der bestehenden Situation und deren Bewertung, zweitens auf den Bedeutungen einer vorgestellten moglichen Situation und deren Bewertung. Diese Bedeutungen und Bewertungen fiihren zu einer Reihe von positiven und von negativen Griinden in Bezug auf eine bestimmte Handlung. Wenn die Handlung wichtige Werte in einem angemessenen MaB zu verwirklichen gestattet und der Handelnde nicht (unmittelbar) sieht, wie durch Anderung bestimmter Eigenschaften derselben eine bessere Wertbilanz erreicht werden konnte, wird ein bestimmter Handlungsentwurf ausgewahlt. Fiir die definitive Auswahl wird in etwas anspruchsvolleren Fallen noch einmal gepriift, ob man so tatsachlich dasjenige tun wird, was in dieser Situation verniinftig ist. Dann vergewissert man sich reflexiv der positiven Wertebilanz. Die positiven Werte der vorgestellten Situation Hefern ebenso viele Griinde, tatsachlich das vorgenommene Verhalten zu unternehmen, wie umgekehrt negative Bewertungen von erwarteten Eigenschaften dagegen sprechen. Zudem kann man sich dann fragen, ob nicht bestimmte relevante Bedeutungen und Werte aus den Uberlegungen ausgeschlossen waren. SchlieBlich ergibt sich eine Ahwdgung der verschiedenartigen Werte mit unterschiedlichem Gewicht. Das betrifft eine Wertesynthesis, die wir, ohne die verschiedenen Werte in einer einzelnen Dimension kommensurabel zu machen, vollziehen.^^

Siehe zu diesem Begriff von Inkommensurabilitat Nussbaum 2001, S. 294ff.

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Diese Synthesis betrifft kein Errechnen, sondern eine Bestdmmung dessen, was in der vorliegenden Gesamtsituation eine gut passende und daher sein-sollende Handlung ist. Das Resultat ist eine holistische Bewertung der Situation und des Handlungsprogranmis, das dafiir ausgearbeitet wurde (vgl. Dancy 2004, S. 199ff). Auch hier, bei der Synthesis und Begnindung eines praktischen Urteils, geht es, wie im Falle der Interpretation der Situation, nicht urn kausale Bef(iehungen. Wenn ein Grund eine Ursache ware, miisste er ein Ereignis (eine Bewusstseinsoperation etwa) sein, der ein anderes Ereignis (eine andere Bewusstseinsoperation z.B.) und letztendlich eine Interpretation und eine Evaluation einer Situation und einen selektierten Handlungsentwurf gesetzmaBig hervorbringt. Ein Grund wird jedoch neben anderen Griinden in Uberlegungen zur Konstitution eines Handlungsentwurfs einbezogen, und in der holistisch bestimmten Bewertung des konstituierten Entwurfs in der vorliegenden Situation sind die verschiedenen Griinde jeweils ein Argument fiir oder gegen einen Entwurf mit bestimmten Merkmals-, und daher Bedeutungs- und Wertfolgen in der vorliegenden Situation. Man sieht, dass solche Uberlegungen liber Griinde nicht als kausale Beziehungen von Bewusstseinszustanden verstanden werden konnen. Die bisherige Darstellung zeigt, dass der Handelnde immer eine begriindete Handlung wahlt, von der er, zumindest im Augenblick der Auswahl, erwartet, dass sie insgesamt etwas positiv Bewertetes verwirkHcht. Das Ziel des Handelns ist immer die VerwirkHchung von etwas Gutem/Wertvollem. So einfach formuHert ist das aber keine haltbare Position. Erstens muss dazu bemerkt werden, dass ,etwas Wertvolles reaHsieren' nicht bedeutet, dass es dabei immer u m ,die richtigi Handlung geht. Wir rechtfertigen nicht alle Handlungen. Wenn ich an einem freien Tag mit einer Freundin eine Kneipe besuche, weil ich dazu Lust habe, dann ist das zwar etwas Wertvolles, aber nicht etwas, was ich als das Richtige rechtfertigen kann (vgl. MiUar 2004, S. 57ff). Zweitens wissen wir, dass wir manchmal von einem Begehren mitgerissen werden und dann eben nicht das Gute tun. Das heiBt, wenn ich nachher iiberlege, weiB ich, dass es nicht gut war, mich etwa von der Wut auf einen Betriiger mitreiBen zu lassen. Drittens konnen wir natiirlich Fehler machen, etwa dadurch, dass in einer bestimmten Situation gerade relevante Werte auBer Betracht gelassen werden. Weil wir nicht immer lange iiberlegen (konnen), sind die gelernten Fahigkeiten und Gewohnheiten in den beiden letzteren Fallen sehr wichtig. RationaUtat im Sinne der Auswahl eines guten Handlungsentwurfs ist offenbar nicht etwas SelbstverstandHches oder Natiirliches, wie Esser nahe legt, sondern vieknehr eine Aufgahe. Ein hohes MaB an RationaHtat bedeutet die Aneignung und Anwendung angemessener Denk- und Handlungsfahigkeiten. Das erfordert Reflexion und Einiibung von Tugenden. Wo lien. Wenn ein Handlungsentwurf selektiert worden ist, kommt der AugenbHck, wo ich mich fragen muss, ob ich ihn tatsachlich ausfiihre. Durch

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das Wollen, die Operation des endgiiltigen ]a-Sagens ^r Ausjuhrung^ womit das Verhalten anfangt, lege ich mich zeitweilig auf diesen Entwurf fest (vgl. Zhu 2004, S. 177ff). Der Entwurf ist fur diese Zeit als Sein-sollender verbindlich. Eine gewisse Dauerhaftigkeit der Verbindlichkeit ist no tig, weil sonst Handlungen und langerfristige Projekte unmoglich sind. Das Wollen ist daher kein nur aufblitzendes Ereignis. Es bedeutet die andauernde Prasenz einer normativen Vorstellung eines sein-sollenden Weltzustandes, verbunden mit dem ebenfalls andauernden Gedanken, sie tatsachlich ausfuhren zu wollen. Die Wichtigkeit des Wollens versteht man gut vor dem Hintergrund des bekannten Phanomens, dass ich wis sen kann, dass ich eine begriindete Vorstellung verwirklichen soil, es aber dennoch nicht will oder kann. Es konnen in mir Widerstande gegen das vorgestellte Handeln auftreten, obwohl sie sich nicht als geniigende Griinde fiir die Aufgabe des sein-sollenden Entwurfs im Rahmen einer rationalen Uberlegung liber die Werte der Bedeutungen der Situation legitimieren lassen. Diese Affekte sind offenbar starker als sich durch die die Werte abwagenden Uberlegungen begriinden lasst. Begierde oder Angste konnen mich nicht nur vom Handeln liberhaupt abhalten, sie konnen auch wahrend des Handelns selbst auftreten. In alien solchen Fallen, wo die Affekte die Verbindung von einem rational begriindeten Handlungsentwurf und Handeln unterbrechen, wird oft von Willenschwache (Akrasia) gesprochen. Das Festhalten an einem rational begriindeten Handlungsentwurf ist liber weite Strecken eine Sache von Gewohnung. ,Wollen-Konnen' ist eine erworbene Kompetenz, die eingeiibt werden muss.^^ Wenn eine Handlung willentlich verwirklicht wird, wird das Handeln durch den Handlungsentwurf gesteuert. In diesem Sinne hat Weber Recht, wenn er formuHert, dass der subjektiv gemeinte Sinn als ,Ursache' des Handelns betrachtet werden muss. Der subjektiv gemeinte Sinn bestimmt das Handeln aber nur, wenn er die Griinde fiir das Handeln in der Vorstellung eines sein-sollenden Zustandes zusammenfasst, sie festhalt und ein Ja zur Ausfiihrung enthalt. Die beiden letztgenannten Momente sind fur die Ausfiihrung eines Handlungs entwurfs notwendig. Der subjektiv gemeinte Sinn ist daher nicht nur eine eigentiimHch — weil durch Synthetisierung und nicht durch Kausalbeziehungen — produzierte Ursache des Handelns, er wirkt auch in einer eigentiimlichen Weise auf das Verhalten. Man darf sich den Handlungsentwurf namHch nicht kausaltheoretisch als ein Ereignis — einen zeitHch begrenzten Bewusstseinszustand —, das einem anderen Ereignis — einem Ver-

Es ist allzu einfach, wie Esser zu formulieren, dass es hier um einen natiirlichen Gegensatz von aktuellen und langfristigen Bediirfnissen geht. Die Behauptung, „jeder konnte sich ... gleichwohl immer noch entschlieBen, einer Versuchung wirklich nicht nachzugeben" (Esser 1999, S. 308), scheint mir einfach falsch zu sein.

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halten — vorausgeht und es anstoBt, vorstellen. Die Vorstellung der Handlung geht dem Handeln zwar voraus, sie begleitet und orientiert das Handeln aber auch wahrend des ganzen Prozesses, der den Entwurf tealisiert (Frankfurt 1988, S. 69ff). Die gemeinte Vorstellung ist im Vergleich zu den Ursachen der Naturwissenschaften eine merkwiirdige Ursache des Handelns. Sie ist mental und muss offenbar immer mit-prasent gehalten und vor Willensschwache geschiitzt werden.^^ 42 Einige umstrittene Themen AnschHeBend an die DarsteUung der Handlungsverfertigung soUen nun zwei Punkte kurz diskutiert werden, die fur die Klarung des Verhaltnisses der hier vorgeschlagenen Konzepte zu denjenigen Essers wichtig sind. Erstens die Frage, wie Korperbediirfnisse und Wohlempfinden/Lust in die hier prasentierte Auffassung des durch Werte orientierten Handelns passen. Der ^eite Punkt betrifft die Einheitlichkeit der Handlungstheorie und gilt insbesondere der Frage, ob Zweck- und Wertrationalitat im hier prasentierten Vorschlag auf konsistente Weise thematisiert werden konnen. Korperetfordemisse und Wohlempfmden. Nicht nur Lust und Korpererfordernisse, sondern auch viele andere Phanomene erscheinen als wichtig und werden wertgeschatzt in einer Situation. Das kann die Achtung durch Andere, aber auch das Wohlergehen der Freunde, den Bestand einer Gemeinschaft, die Erhaltung der Jahrhunderte alten Walder, schone Musik und vieles andere mehr betreffen, die alle als Werte an sich betrachtet werden. Es gibt also viele gute Griinde fur Handlungsentwiirfe, die let^tlich alles betreffen, was als in sich selhst werfpo//hG^ti2Lchttt wird: dasjenige, worum ich mich als Wert kiimmere und wofur ich um seiner selbst Willen sorge. Uber die Werte miissen hier in aller Kiirze zwei Bemerkungen gemacht werden. Sie betreffen beide die Nicht-Beliebigkeit der Werte. Die erste Bemerkung schHeBt an der Wahrnehmung an, dass Werte immer ,etwas' sind, um das die Handelnden sich kiimmern. In alien oben genannten Fallen geht es nicht um BeHebiges, sondern um Phanomene, bei denen es uns schwer fallt, uns nicht um sie zu kummern. Die Grundlage der Bewertung ist letztendlich die

23 Es gibt also, anders als Albert (2005, S. 406f) meint, kein aUgemeines Geset^, das zwischen Absicht und Handeln vermittelt und das lautet: „Fur jede Person x: Wenn x beabsichtigt, den gewiinschten Zustand w herbei^ufiihren und x meint, dass in der gegebenen Situation w nur durch Handlung h herbeigefuhrt werden kann, dann macht sich x daran, h auszufiihren." Denn auch wenn alle Bedingungen, die von Albert genannt werden erfiillt werden, ist es keineswegs notwendig, dass die Handlung h von x ausgefuhrt wird. Damit er zur Ausfiihrung kommt, muss der Entwurf festgehalten und gewollt werden.

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primdre psychische Gegebenheit, dass wir eine ganze Reihe von Gegenstanden und Ereignissen, ob wir es nun wollen oder nicht, um ihret selbst WiUen schatzen. Dieses Wertschatzen betrifft die Phanomene, mit denen wir zu tun haben, als solche; sie erscheinen uns nicht (nur) als Mittel, sondern als Werte, und zwar als Werte, um die wir uns kummern sollen. Die zweite Bemerkung betrifft den allgemeinen Charakter vieler Werte. Ein allgemeiner Wert betrifft viele irgendwie zusammengehorige und positiv bewertete Situationen. Wir fassen diese Situationen in bestimmter Hinsicht zusammen und sprechen dann allgemein von Freundschaft, Gerechtigkeit, Gesundheit usw. als allgemeine Begriffe solcher positiv evaluierten Zustande. Die allgemeinen Werte beruhen auf der primaren psychischen Gegebenheit der Sorge fiir die ,in sich' geschatzten Gegenstande und fassen das Kummern um sie in allgemeine Begriffe zusammen. Allgemeine Werte betreffen, wenn sie sich als Begriffe gebildet haben, Generalisierungen, die besondere Evaluationen von konkreten Situationen orientieren konnen. Wir wenden die allgemeinen Werte an, indem wir den Wert einer Situation in verschiedenen Hinsichten — Gerechtigkeit, Freundschaft, Gesundheit usw. - schatzen (Darwall 2002, S. 16ff, Raz 2003, S. 37ff). Fiir alle (mehr oder weniger generalisierten) Werte gilt, dass sie Einfluss auf die Handlungsentwiirfe nehmen, indem sie im Bewusstsein erscheinen und dort in den handlungsbezogenen Bewusstseinsprozessen der Interpretation, Evaluation usw. eine RoUe spielen. Soweit Werte und Wertschatzungen von Handlungen regelmaBig symbolisiert werden,^"^ werden sie standig im Gedachtnis der Handelnden impragniert und konnen so leicht ins Bewusstsein treten. Korpererfordernisse melden sich sowohl unwillkiirlich (Mangelempfindung) als auch iiber Erinnerung und Kommunikation im Bewusstsein. Wir empfinden Hunger, Kalte usw. auch wenn nicht darauf hingewiesen wird und wenn wir es nicht wollen. Ich kann mich aber auch erinnern, dass ich Hunger bekomme, wenn ich mehr als vier Stunden nichts gegessen habe. Vor allem iiber Kommunikation werden wir auf die Rolle etwa von Bewegung fiir die Fitness, von stabilen Beziehungen fiir die Gesundheit usw. als wichtige Dinge hinsichtlich der Gesundheit als Wert fiir den Korper hingewiesen. Nicht anders geht es in Bezug auf z.B. die Werte Gerechtigkeit und Schonheit. Verbrechen, ein Verbot meiner Lieblingsmusik und die Beschadigung einer schonen Landschaft konnen wir als schmerzhaft empfinden. Wir konnen aber auch auf der Basis friiherer Erfahrungen ahnen, dass bei einem Bauplan eine Landschaftsschadigung droht und deshalb schon vorher handeln.

Das kann hier nur vermerkt werden. Eine Diskussion dieses Punkts hatte in einer Theorie der Produktion von aufeinander bezogenen Handlungen zu geschehen. Diese Wendung der hier vorgeschlagenen Handlungstheorie kann hier nicht erfolgen, sondern wird fur eine spatere Gelegenheit reserviert. Siehe fur einen ersten Ansatz Martens (2003, S. 198ff).

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Wir konnen schlieBlich kommunikativ auf diese oder jene nicht unmittelbar wahrnehmbare Gefahi: hingewiesen werden. Und in Bezug auf diese Werte gilt ebenfalls: wenn sie regeknaBig dutch Handlungen und Kommunikation symbolisiert werden, nimmt die Wahrscheinlichkeit 2u, dass sie bei der Verfertigung von Handlungsentwiirfen beriicksichtigt werden. Es gibt in diesen Hinsichten also kerne grundlegenden Unterschiede 2wischen den Werten ,Wohlempfinden', ,Gerechtigkeit' und ,Schonheit'. Sie sind alle Werte in sich, u m die wir uns kummern. Sie kommen alle iiber die angedeuteten Wege ins Bewusstsein, wo sie dann in Uberlegungen, die 2u Handlungsentwiirfen fuhren, eine Rolle spielen. Dabei sind die verschiedenen Werte ebenso viele Griinde fiir bzw. gegen eine bestimmte Handlung, die ki einer Uberlegung positiv bzw. negativ zu einer zusammenfassenden Bewertung beitragen. In der hier vorgeschlagenen Handlungstheorie kommen die Korpererfordernisse und das Wohlempfinden daher durchaus als wichtige Werte vor, die sich unablassig in der Form unwiUkurlicher Empfindungen, aber auch als erinnerte und kommunizierte Erkenntnisse, im Bewusstsein melden. Die Werte konnen jedoch nicht auf Korpererfordernisse reduziert werden. Zweckrationalitat und Wertrationalitat. Zweckorientiertes und wertorientiertes Handeln werden manchmal gegeniibergestellt: Im ersten FaUe wiirde es u m Erfolgsorientierung, im zweiten dagegen u m eine unbedingte, enttauschungsfeste Orientierung normativer Art gehen (Esser 2003, S. 173, Greve 2003, S. 623f). Auf der Grundlage dieser Gegeniiberstellung wiirde es keine einheitHche, konsistente Handlungstheorie geben konnen. Esser (2003) versucht das unbedingte Festhalten an Werten als eine unter bestimmten Bedingungen auftretende Form der Nutzenorientierung darzustellen und dadurch eine einheitliche Handlungstheorie herzustellen. Auf der Grundlage der in diesem Beitrag vorgeschlagenen Handlungstheorie erscheinen Werte und Zwecke als zusammenhangende Wertorientierungen jedes Handelns. Zwecke sind, so sahen wir oben, als Werte geschatzte zukiinftige Zustande der Welt, die fiir eine gewisse Zeit als sein-sollende Zustande das Handeln orientieren. In diesem Sinne ist die systematische Verfolgung eines Zweckes ein besonderer Fall des wertorientierten Handelns. AUes zweckorientierte Handeln ist de facto durch eine Wertekonstellation als wertbegriindetes Handeln bestimmt. Das sieht man den gebildeten Zwecken nur nicht mehr unbedingt an. Diese Beschreibung des Zwecks hat zwei Folgen. Erstens erscheinen dadurch auch die Mittel als wertvoll. Der Wert des Zweckes wird auf die Mittel transferiert (Korsgaard 1986, S. 13). Die Mittel sind wertvoll, weil sie den wertvoUen Zweck zu verwirklichen helfen. Die richtigen Mittel zu wahlen, ist daher nichts anderes, als die wertvollen Mittel auswahlen, das heiBt, diejenigen Mittel, die zur Wertverwirklichung beitragen. Das bedeutet zugleich, dass eine rationale Auswahl der Mittel mehr als nur eine Beziehung auf einen einzelnen (positiv bewerteten) Zweck impUziert.

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Die anvisierten Mittel werden ebenfalls auf ihre Folgen in anderen Wertbeziigen hin iiberpriift. Wenn die negativen Wertfolgen in diesen Bereichen wichtiger sind als der Wert des zunachst angestrebten Zweckes, lasst man letzteren fallen. Rationale (jjrichtige'") Mittelauswahl betrifft daher im Grunde immer Wertrationalitat. Diesen Sachverhalt meint Weber (1988, S. 150), wenn er fragt: „Was ,kostet' die Erreichung des gewollten Zwecks in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte?" Im Falle der Zmckrationalitdt geht es daher letztlich u m Wertabwagung. Es geht darum, die wertvollen Zwecke und Mittel auszuwahlen. Man lasst den Zweck nicht nur dann fallen, wenn es dafiir keine Mittel gibt, sondern auch, wenn der Effekt im Wertebereich derart ist, dass die Verwirklichung des Zweckes durch die Werteffekte der Mittel unter dem Strich negativ ist. Die Aufgabe eines Zweckes bedeutet in diesem Kontext nicht, dass der oder die betreffende(n) Wert(e), die diesem Zweck seinen Wert geben, ebenfalls aufgegeben werden. Diese Werte bleiben geltend und gerade weil die geltenden Werte auf den Zweck bezogen werden, erscheint der Zweck manchmal als letztendlich unbegriindet. Im anderen FaUe, wenn es iiberhaupt keine Mittel gibt, u m den geschatzten Zweck zu realisieren, wird der Handlungsentwurf vorerst aufgegeben, nicht aber werden die Werte, die diese Vorstellung wertvoll machten, fallen gelassen. Die Werte bleiben in beiden Fallen als „enttauschungsfest" geltende Orientierungspunkte beibehalten. Vor diesem Hintergrund erscheint die von Esser (2003, S. 179) formulierte GegensatzHchkeit von Zweck- und WertrationaHtat — wobei die ZweckrationaHtat durch Erfolgsorientierung, das heiBt durch Anpassung an die Realitat, die WertrationaHtat durch enttauschungsfeste Orientierung an einen Wert gekennzeichnet wird — als falsch. In beiden Fallen fungieren die Werte als unverriickbare allgemeine Orientierungspunkte. Wenn man einen Zweck fallen lasst, entweder weil er nicht verwirkUcht werden kann oder weil die Verwirklichung unter dem Strich nicht wertvoll ist, wird an den Werten festgehalten. Der Zweck ist im ersten Falle ein funktional aquivalentes Mittel fiir WertverwirkHchung. Folglich wird, wenn ein Zweck aufgegeben wird, nach anderen Zwecken gesucht, die die im Spiel befindHchen Werte reaUsieren konnen. Im zweiten FaUe, bei negativer Wertbalance, werden zunachst Mittel mit anderen Wertecharakteristiken gesucht, die den Zweck als etwas nun wirkHch Wertvolles bestehen lassen. Max Webers Aussage (1976, S. 13), dass die Auswahl aus konkurrierenden und koUidierenden Zwecken wertrational orientiert sein kann^ der Akteur eine derartige Rationalisierung aber auch unterlassen kann, indem er die Zwecke als gegebene subjektive Bedurfnisregungen betrachtet, die in einer Skala von bewusst abgewogener Dringlichkeit zueinander stehen, kann im Rahmen des hier prasentierten Verstandnisses der Handlungskonstitution ebenfalls rekonstruiert werden. Im ersten von Weber genannten FaUe wird die Auswahl

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von wertvollen Zwecken und Mitteln durch die bewusste Anwendung und Abwagung von Werten gefuhrt. Im zweiten Falle, wenn von Bediirfnisbefriedigung als letztem Richtpunkt ausgegangen wird, hat man auf den ersten Blick den Eindruck, dass liberhaupt keine Werte kn Spiel sind. Faktisch geht es dann aber darum, dass die die Bediirfnisse befriedigenden Giitet als Werte ins Bewusstsein treten. Wenn sie in eine Skala der DringHchkeit gebracht werden, werden sie rational abgewogen. SchlieBlich gibt es den Fall des zweckrationalen Handelns ohne jegliche WertrationaHtat. D a n n werden die letzten Richtpunkte des Handelns iiberhaupt nicht bewusst ausgearbeitet und planvoll bei der Konstitution und Auswahl von Zwecken und Mitteln verwendet. Die Zwecke erscheinen vielmehr als Gegebenheiten und es wird bloB nach den angemessenen Mitteln fur diese Zwecke gefragt. Aus irgendeinem, in diesem Falle aber eben nicht selbst noch uberlegten Grund wird dabei ein bestimmter vorgestellter Zustand positiv bewertet und als sein-sollend behandelt. Die Wertabwagungen bleiben in solchen Fallen unreflektiert. So kann man leicht vergessen, dass Zwecke immer Vorstellungen positiv bewerteter, sein-sollender Weltzustande bedeuten und dass die Mittel nur dann als angemessen beurteilt werden, wenn ihre Anwendung den Wert des Zweckes nicht durch negative Folgen in anderen Wertebereichen zunichte macht. In alien Fallen, auch wo es scheinbar „nur" u m Zweck und Mittel geht, werden Handlungen durch Werte orientiert. Die allgemeine Handlungslogik ist die verniinftige Werteabwagung, die von allgemeinen Werten ausgeht, von dort aus die relevanten Eigenschaften von Situationen bewertet und in Bezug auf eine vorgenommene Aktion zu einem Wertevektor kommt. O b die Zwecke und Mittel dabei expli^t im Lichte von Werten durchleuchtet werden, ist offen und weitgehend von den kommunikativ zirkulierenden Bedeutungen und Werten sowie den dadurch dem Bewusstsein gewohnten Denkmustern abhangig. Rationalitat im Bereich der Werte bleibt aber immer eine normative Aufgabe fiir die Akteure. Der Einfluss der Kommunikation von potentiellen Griinden fiir die jeweils individuellen Interpretationen und Bewertungen von Situationen und fiir die Produktion von Handlungen ist auf der Grundlage der hier vorgeschlagenen Theorie der verniinftigen Produktion von Handlungen leicht verstandlich. Eine Soziologie, die auf dieser Handlungstheorie basiert wird, geht in Bezug auf die Verkniipfung von Situation und Handeln nicht von einer nomologischen GesetzmaBigkeit aus. Sie sieht die Handlungen als Resultat der Operationen der Vernunft, die, von vornherein gefuhrt durch die Leitidee, Wertvolles zu verwirklichen, Situationen begriffsgeleitet koharent zu interpretieren und zu evaluieren versucht. Dadurch kommt sie letztendlich in Abwagung der verschiedenen Werte des allmahlich konstituierten Handlungsentwurfs zur Selektion einer Handlung. Auf diese begriindete Vorstellung legen die Akteure sich

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zeitweilig fest. Sie betrifft die sein-sollende Vorstellung eines wertgeschatzten Weltzustandes mitsamt einer Reihe von normativen Regeln, um dorthin handelnd zu gelangen. Alle sozialen Gebilde und Strukturen werden durch diese mehr oder wenig konsequent und streng durchgefuhrte Vorgehensweise der Vernunft produziert. Die Handlungen der jeweils Anderen verschaffen jedem Ego dabei Griinde fur einen bestimmten Handlungsentwurf. Alters Handlungsentwurf und seine Griinde werden durch die als Symbol fungierenden Handlungen fur Ego sichtbar. In Bezug auf Egos Uberlegungen liber Griinde fiir oder wider eine bestimmte Interpretation oder einen bestimmten Handlungsentwurf, haben die Symbolisierung von Bedeutungen und Bewertungen und letztendHch auch von Handlungsentwiirfen Alters die Funktion, Ego auf mogliche Griinde fur eine Interpretation oder eine Bewertung aufmerksam zu machen. Die Handlungen Alters fungieren nicht nur als „Ursachen", sondern auch als Symbole von Griinden, die in der Handlungsproduktion von Ego aufgenommen werden konnen. Auf dieser Grundlage kann man verstehen, dass wiederholte Kommunikationen Bedeutungen und Werte im Vordergrund der Uberlegungen der Handelnden halten konnen und dadurch die intersubjektive Koordination von Interpretationen und Evaluationen und letztendlich von Handlungsentwiirfen erleichtern und unterstiitzen. Das sind zentrale Themen fur die Soziologie. Eine Handlungstheorie beweist ihren Wert erst richtig, wenn sie diese adaquat zu bearbeiten erlaubt. Dass die hier vorgeschlagene Theorie das kann, konnte zum Schluss nur angedeutet werden. Die Ausfuhrung des darin enthaltenen Versprechens muss einer spateren Schrift vorbehalten werden.

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Die Rationalitat sozialer Ordnung. Die Ordnungskonzeptionen von Max Webet und Hartmut Esset itn Vetgleich^ A.ndrea Maurer

1 Soziale Intefdependenzen und stabile soziale Beziehungen Zu den zentralen Aufgaben der Soziologie zahlt die Analyse und Erklarung der verschiedenen Formen des sozialen Zusammenlebens. Bereits die Klassiker Max Weber und Emile Durkheim haben vor dem Hintergrund individueller Handlungsfreiheiten auf die Notwendigkeit sozialer Regeln hingewiesen und die Soziologie als die WissenschaftsdiszipHn angesehen, welche soziale RegelmaBigkeiten erklart und analysiert (vgl. Durkheim 1999, Weber 1985). In der Soziologie wird seither davon ausgegangen, dass die Menschen weder durch natiirUche noch durch transzendentale Krafte in ihrem Handeki determiniert seien, sondern in gesellschaftlich mehr oder minder vorstrukturierten Handlungsraumen (inter)agieren, und dass soziale Beziehungen nicht immer spontan zustande kommen, sondern sozialer Abstimmungsmechanismen bediirfen. „Ich kann nur in dem MaBe frei sein, in dem ein anderer daran gehindert wird, seine physische, okonomische oder andere Uberlegenheit, die er besitzt, auszuniitzen, um meine Freiheit zu unterdriicken; nur soziale Regeln konnen einen Missbrauch der Macht verhindern." (Durkheim 1992, S. 43) Wahrend Durkheim das methodologische Postulat vertreten hat, dass ,So^ales nur durch So^ales\ ohne Bezug auf Individuen und deren Handeln, zu erklaren sei (vgl. Durkheim 1999), hat Max Weber der Soziologie einen explizit handlungstheoretischen Zugang zur Ordnungsthematik anempfohlen (vgl. Weber 1985). Max Weber gilt heute mehr denn je als Vertreter eines handlungs- bzw. mikrofundierten Ordnungskonzepts und zusehends auch als Mitbegriinder des struktur-individualistischen Erklarungsprogramms (vgl. Boudon 1980, Maurer 1999, Schluchter 2000, Norkus 2001). In der Tradition Webers werden gegenwartig verschiedene Angebote unterbreitet, Struktur- und Handlungsebene zu verbinden, soziale Ordnung als geplantes wie als ungeplantes Ergebnis individuell intentionaler Handlungen zu erklaren und dariiber die Funktionsweise verschiedener sozialer Abstimmungsmechanismen zu analysieren (vgl. Raub/ Voss 1981, Coleman 1990, Giddens 1992, Esser 1993). Struktur-individuaHs-

Ich mochte Rainer GrCvshoff sehr herzlich fur seine konstruktiven Hinweise danken.

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tische Erklarungen gehen zwar vom methodologischen Primat des Handelns aus (Methodologischer Individualismus), wollen dieses aber als ein sozial bedingtes, aus spe2ifischen Interdependenzen hervorgehendes behandelt wissen. „Gerade der empirisch /rei', d.h. nach Erwagungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach MaBgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Borse hilft der Glaube an seine ,Willensfreiheit' herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen okonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des okonomischen Gebarens." (Weber 1988, S. 133) Handlungstheoretische Ordnungskonzepte setzen beim individuellen Handeki an, ihr soziologischer Gehalt und ihre Heuristik liegen jedoch in der Behandlung sof^aler Interdependen^situationen^ die bei den Einzelnen ein nachvoUziehbares Interesse am Handeln der anderen, an stabilen Be^ehungen und so^alen Kegeln wecken.^ 2 Klassische Otdnungstnodelle det Soziologie Soziologinnen und Soziologen bemangeki in der Kegel an der neoklassischen Okonomie, dass diese mit dem Modell des Wettbewerbsmarktes ein Ordnungskonzept vorsteUen wiirde, das von autonomen, voUstandig informierten und eigeninteressierten Akteuren ausgeht, deren wechselseitige Kontakte sich auf den preisvermittelten Tausch von Giitern und Leistungen beschranken und mit keinen sozialen Interdependenzen oder Institutionen verbunden sind. Der Okonomie des 20. Jahrhunderts wird vorgehalten, die Ordnungsfrage durch die Annahmen autonomer, rationaler Akteure und eines Wettbewerbsmarktes entscharft zu haben, so dass wirtschaftliche Beziehungen ausschUefiHch auf der Grundlage preis- und marktvermittelter Tauschakte zu beruhen scheinen und weder einer gemeinsamen Moral noch anderer Abstimmungsmechanismen — wie etwa Hierarchien, Organisationen, Verfassungen, Genossenschaften usw. — bediirfen, damit das Handeln aneinander orientiert erfolgt und koordiniert werden kann.^ In der Soziologie wird hingegen dezidiert davon ausgegangen,

Die grundsatzliche methodologische Schwierigkeit handlungstheoretisch fundierter Erklarungen sozialer Phanomene ist die Verbindung von Mikro- und Makroebene. Vertxeter des struktur-individualistischen Programms, zu denen Hartmut Esser zu zahlen ist, setzen dazu Briickenhypothesen ein (vgl. FuBnote 17, vgl. einfuhrend Kunz 2004). Theoriekritik und Theorieverbesserung setzen denn auch vor aUem an der gewahlten Handlungstheorie und der Verbindung von Handlung und Struktur an (vgl. Maurer/Schmid 2002, 2004, Schimank 2002). Die Neue Institutionenokonomie etnt mit dem Neuen Soziologischen Institutionalismus der Bezug auf die von Max Weber vorgetragene These, dass (Tausch-) Beziehungen durch die Einbettung in {Markt-)Ordnungen Stabilitat erlangen (vgl. Maurer/Schmid 2002).

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dass die Menschen ihre Welt und ihre Beziehungen zumeist in Situationen so^aler Interdependent gestalten miissen, die sie mitunter weder bewusst geschaffen noch gewollt haben, und dass die verschiedenen sozialen Abstimtnungsmechanismen und Beziehungsformen ihre Existenz der sozialen Verbundenheit des menschlichen Handelns verdanken. Karl Marx, Emile Durkheim, Max Weber, Norbert EUas, Andiony Giddens, James Coleman u.v.a. haben unterschiedHchste Interdependenzstrukturen offengelegt und die Schwierigkeiten und Mechanismen diskutiert, die trotzdem soziale Ordnung mogUch und vorteilhaft werden las sen.

2.1 Die institutionell-normative Kahmung sof^aler Be^ehungen (Max Weber) In der verstehenden Soziologie hat Weber den methodologischen Anspruch formuHert, iiber den verstehenden NachvoUzug der individuellen Handlungsmotive und deren Einordnung in gesellschaftUche Sinnzusammenhange verschiedenste soziale Phanomene und Prozesse als das Ergebnis verstandlicher individueller Handlungen ursachHch zu erklaren (vgl. WeiB 1992, Esser 20016). In seinen universalgeschichtlichen, materialen Studien hat er die Bedeutung von Kulturideen und Richtigkeitsvorstellungen fur die Ausbildung sozialer Handlungs- und Beziehungsformen untersucht und in den religions-, wirtschafts- und herrschaftssoziologischen Studien die Wirkung gesellschaftHcher Legitimitatsprinzipien auf die Rationalitat verschiedener Herrschaftsgebilde herausgearbeitet. Konigreiche, Staaten, Betriebe usw. werden als das Ergebnis von Vorstellungen iiber das Geltensollen oder auch NichtgeltensoUen bestimmter Regeln und als ein spezifisches Zusammenhandeln von Menschen, die sich in ihrem Handeln an Regeki orientieren, erklart (Weber 1985, S. 7). Bezugspunkt soziologischen Denkens und Arbeitens ist fur Weber so^ales Handeln, das er als ein menschHches Tun definiert, das sich am gegenwartigen, zukiinftigen oder vergangenen Verhalten anderer orientiert (vgl. Weber 1985, S. 11). Die Soziologie wollte er entsprechend auch als die Wissenschaft verstanden wissen, die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursachHch erklaren will (vgl. Weber 1985, S. 1), D e m sozialen Handeln ist immer ein MindestmaB an Orientierung am Handeln anderer zu eigen, d.h. es benotigt verstandliche und relativ sichere Erwartungen iiber das eigene und das Handeln der anderen. Solche Erwartungen sind aber angesichts komplexer, zukunftsoffener Umwelten und vielfaltiger individueller Motive unweigerHch mit dem Problem der doppelten Kontingen^ behaftet — vor allem zweckrationale Handlungen und das gemeinsame Zweckhandeln vieler sind

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auf verlassliche Handlungserwartungen angewiesen, da sie das Handeln der Einzelnen als Mittel bewusst und zweckrational berechnen miissen.'^ Soziale Beziehungen werden als Unterform des sozialen Handelns bestimmt und als ein seinetn Sinngehalt nach aufeinander bezogenes Tun mehrerer definiert. Soziale Beziehungen — sei es nun Herrschaft, Freundschaft, Tausch oder Konkurrenz — eint bei allet inhaldicher Verschiedenheit, dass sich die Beteiligten erwartbar als Herrscher und Untergebene, Freundin und Freund, Tauschpartner oder Konkurrenten zueiaander in Beziehung zu setzen vermogen. Dieses Handeln der Einzelnen, das soziale Beziehungen hervorbringt, kann nach Weber sowohl durch Interessen, Gewohnheiten, Affekte oder aber aufgrund von Handlungspflichten motiviert sein, die dann eine objektive Erfolgs- und Bestandschance ausmachen, weil durch die Orientierung der Beteiligten an allgemeinen Regeln, die labilen, vielfaltigen individuellen Handlungsgriinde durch Maximen gerahmt werden, die den Sinngehalt der jeweiligen Beziehung zur sozialen Norm erheben (Weber 1985, S. 13). Uber die Yorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung werden stabile soziale Beziehungen objektiv verstandHch und erklarbar. „Tatsachlich findet die Orientierung des Handelns an einer Ordnung naturgemaB bei den Beteiligten aus sehr verschiedenen Motiven statt. Aber der Umstand, daB nehen den anderen Motiven die Ordnung mindestens einem Teil der Handelnden auch als vorbildHch oder verbindlich und also gelten sollend vorschwebt, steigert naturgemaB die Chance, daB das Handeln an ihr orientiert wird, und zwar oft in sehr bedeutendem MaBe." (Weber 1985, S. 16) Bei Weber wird der Erfolg sozialer Beziehungen erst unter der Annahme einer legitimen Ordnung objektiv erwart- und erklarbar. Stabile soziale Beziehungen beruhen demnach auf der handlungsleitenden Wirkung sozialer Regeln, die situationsspezifische, individuelle Interessen, Gewohnheiten oder Affekte rahmen und so wechselseitig sichere Handlungserwartungen mogUch machen. Soziale Ordnung wird nicht direkt aus den Interessen oder Gewohnheiten der Menschen abgeleitet, sondern unter der Bedingung sozial anerkannter Regelsysteme, in denen freiHch die Interessen und Gewohnheiten der Menschen Ausdruck finden, behandelt (vgl. Esser 1993, S. 3ff, Greshoff 1999, S. 174ff).5 Von dieser Konzeption sozialer Beziehungen ausgehend behandelt Weber Verbande und insbesondere das gemeinsame Zweckhandeln mehrerer Personen

Das zweckrationale Kalkiilieren und Abwagen von Handlungsfolgen ist nach Weber die evidenteste Handlungsorientierung und sollte von der Soziologie deshalb als Normalfall angesehen werden (vgl. Weber 1988). Stabile, widerspruchsfireie Herrschaftsbeziehungen erklaren sich nach Weber (1985, S. 28) daraus, dass sich das Handeln der Subjekte an der legitimen Geltung einer Ordnung orientiert, und Befehlen gehorcht wird, weil diese als richtig und die Befehlsgeber als legitimiert betrachtet werden (vgl. Maurer 2004, Kap. 3.1).

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als einen Spezialfall sozialei: Beziehungen. Verhdnde^ sind demnach eine durch eine Mitgliedschaftsregel nach auBen geschlossene soziale Beziehung, der eine legitime Verbandsordnung zugrunde liegt, deren Einhaltung eigens und zusatzlich dutch das Handeln etaes Leiters und unter Umstanden eines Verwaltungsund Erzwingungsstabes (Sanktionsinstanz) auBerlich garantiert witrd. Zweckverbdnde beruhen zudem auf einer zweckrational gesatzten Ordnung, die entweder aus einer Konvention oder aus einer positiven Satzung hervorgeht, an deren Legalitat geglaubt wird, und manifestieren sich in dem an der Verbandsordnung orientierten Handeln aUer Mitglieder. Aus der Annahme einer legitimen Ordnung folgt fur Verbande, dass diese ein HochstmaB an wechselseitiger Erwartungssicherheit und Rationalitat der Zweckverfolgung garantieren, da die Geltung der Ordnung sowohl innerUch durch deren Geltungsanspruch wie auBerlich durch einen Erzwingungs- und Verwaltungsstab gesichert ist. Zweckverbande auf der Basis legitimer, sanktionsgestiitzter Regeln helfen, die Handlungen formal unabhangiger Akteure im HinbUck auf beliebige Zwecke zu koordinieren, weil entsprechende Handlungen wechselseitig und dauerhaft erwartbar sind. Die Verbreitung groBer Verbande in modernen Gesellschaften erklart Weber mit den Rationalisierungseffekten des Verbandshandelns auf der einen Seite und dem gewachsenen Abstimmungs- und Koordinationsbedarf auf der anderen Seite. Der Rationalitatsgrad eines Verbandes hangt dabei von der Rationalitat der Ordnungssetzung sowie der Ordnungsum- und -durchsetzung ab, witrd also auf die Regeldefinition und -umsetzung zunickgefiihrt. In welchem AusmaB Staaten, Wirtschaftsbetriebe usw. zu einer rationalen Handlungskoordination fiihren, wird zuvorderst aus der dort praktizierten Art der Setzung und Umsetzung der zugrundeliegenden Ordnung abgeleitet. Zweckrational und formal legal gesatzte Ordnungen, deren Geltung durch einen biirokratisch strukturierten Verwaltungsstab garantiert wird, verkorpern den Idealtyp eines kontinuierlichen Zweckhandelns (Weber 1985, S. 28): die Form der Handlungskoordination zwischen formal freien Subjekten, die ein HochstmaB an RegelmaBigkeit, Stabilitat und Rationalitat bei der kollektiven Realisierung beliebiger Zwecke erreicht, weil das Handeln der Verbandsmitglieder an allgemeinen, zweckrational gesatzten Regeln orientiert und weil auch die Ordnungssetzung und -durchsetzung durch die Herrschaftsstabe von personHcher Willkur oder Gewohnheiten weitgehend frei gehalten ist.

^

Wie verschiedentlich bemerkt (vgl. Miinch 1982, Greshoff 1999), verzichtet Weber auf den GeseUschaftsbegriff. Meines Erachtens steht bei Weber das Verbandshandeln im Zentrum seiner Gesellschafts- und Rationalisierungsthese (vgl. Sackmann 1990, Maurer 1999). Ich folge in meiner Darstellung der bei Weber vorgestellten Sozialformen dem ,Rationalitatskriterium' und konzentriere mich deshalb auf das Verbandsmodell; vgl. weitergehend zur Struktur der weberschen Begriffe Allerbeck (1982) und Schluchter (2000).

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Die Schwierigkeit eine soziale Ordnung 2u errichten, resultiert fur Weber aus der Komplexitat der Welt und den vielfaltigen, labilen Handlungsmotiven der Menschen, welche einen Bedarf an wechselseitig verstandlichen und sicheren Handlungserwartungen immer dann wecken, wenn soziale Interdependenzen bestehen, dann aber eben nicht ohne weiteres gegeben sind. Daher machen soziale Interdependenzen — und dazu zahlt insbesondere das gemeinsame Zweckhandeln vieler — institutionalisierte und sanktionsgestiitzte Regeln notwendig, welche die Handlungs situation sozial rahmen und eine objektive Chance dafur bieten, dass sich die Beteiligten in der sozial vorgeschriebenen Art und Weise eines Herrschers und eines Untergebenen, eines kapitalistischen Unternehmers und eines lohnabhangigen Arbeitnehmers, als Freund und Freundin usw. verhalten und sich wechselseitig aufeinander einstellen. Verbande mit einer zweckrational gesatzten Ordnung und einem biirokratischen Verwaltungsstab konnen als technisch rationalste Form einer Handlungskoordination zwischen freien Menschen gelten, weil dort ein HochstmaB an Regelgeleitetheit und Zweckorientierung erreicht wird, indem sowohl individuelle Interessen wie auch Gewohnheiten und Affekte institutionell gerahmt werden. Die Konzeption des Zweckverbandes bei Weber setzt eine legitime, gesicherte Ordnung voraus, in der die individueUen Zwecke, Gewohnheiten und Affekte eingebunden sind. Der institutionellen Rahmung wird gegeniiber kurzfristigen, situationsspezifischen Interessen und Gewohnheiten eine handlungsleitende Wirkung zugesprochen, wodurch deren Geltung von den direkten individueUen Motiven losgelost wird. Soziale Ordnung gilt wegen der Vielfalt der Handlungsmotive als grundsatzHch problematisch, aber als allgemein gesichert, wenn anerkannte, sozial institutionalisierte Regelsysteme vorliegen. Selbst die Einsetzung reprasentativer Herrscher und SteUvertreter, denen Herrschaftsrechte und -mittel iibertragen werden miissen, kann dann als relativ unproblematisch gesehen werden, wenn von deren regelgeleitetem Handeki ausgegangen wird. Dass diese aufgrund ihrer Position Machtsicherung und Machtausbau auch gegen den Verbandszweck betreiben konnen (Oligarchiebildung), dass ihnen eine zweckentfremdete Nutzung von Herrschaftsmitteki (Korruption) moglich ist und dass sie auch eigene Zwecke realisieren, die nicht dem Verbandszweck entsprechen und enorme Probleme sowie RationaHtatsverluste zur Folge haben konnen, wird dann freiUch nicht mehr theoretisch fassbar. D a ein direkt interessengeleitetes Handeln nur an der Spitze von Verbanden vorgesehen ist, das Verbandshandeln aber allgemein als ordnungs- und regelgeleitet konzipiert wird, bleiben Interessen direkt fiir die Erklarung stabiler sozialer Beziehungen auBen vor. Die Abstimmungseffekte und RationaHsierungsgewinne in Verbanden sind denn auch nur unter der Bedingung einer normativ-institutionellen Einbindung des Handelns zu erwarten.

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Weber sieht zwar den Zusammenhang zwischen menschlichen Bediirfnissen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Ideen und Richtigkeitsvorstellungen auf der anderen Seite und will, was die bekannte Formulierung in den Protestantismus-Studien deutlich macht, auch materielle Strukturen und Interessen fiir soziologische Erklarungen und Analysen beriicksichtigen (vgl. Weber 1981, S. 6), macht aber ein erwartbares, kontinuierliches Zweckhandeln von der Existenz einer legitimen Ordnung und von Sicherungsmechanistnen abhangig. Die handlungsleitende Wirkung sozialer Regeln greift iiber situationsspezifische Interessen und Affekte hinweg und macht damit era (zweckgerichtetes) Verbandshandeln angesichts komplexer Verhaltnisse erst moglich. Die Soziologie ist Weber in dieser Konzeption lange Zeit gefolgt und hat die normativinstitutionelle Konstruktion moderner Gesellschaften zum Normalfall erklart. Soziale Ordnungsbildung wird unter der Annahme existierender sozialer Institutionen erklart und analysiert, wobei erfolgreiche Sanktionsinstanzen vorausgesetzt und Interessenkonstellationen weitgehend ausgeblendet werden (vgl. Maurer 2003).

2.2 Ahstimmungsertrdge und vorteilhafte Be^ehungen (Rational Choice)

Das Gegenprogramm dazu hat Thomas Hobbes begriindet, der bereits im 17. Jahrhundert die Grundziige eines Rationaknodells sozialer Ordnung zwischen Egoisten entworfen hat, die ihr Handeln an privaten Nutzeniiberlegungen und nicht an sozialen Ideen ausrichten (vgl. Hobbes 1966). Auch das Rationalprogramm findet im Zuge der aufkommenden Mikro-Makro-Diskussion zunehmend Resonanz und steUt eine Erklarung sozialer Ordnungsbildung und eine Analyse der verschiedensten Formen der Handlungskoordination in Aussicht, die beim Handeln der Akteure ansetzt. Im Anschluss an die Schottische MoralphiloSophie und den dort vertretenen Methodologischen Individualismus soU soziale Ordnungsbildung aber ohne Riickgriff auf Werte und institutionell gestiitzte Regeln, allein aus dem sozial verbundenen Handeln rationaler Akteure abgeleitet werden. Wahrend bei Weber die Wahl bzw. der Wechsel zwischen den vier Handlungstypen theoretisch unbestimmt bleibt und das zweckrationale Handeln als evidenteste Handlungsform hervorgehoben ist, wird nun aus methodologischen Griinden fiir eine Beschrankung auf rationale, egoistische Handlungsentscheidungen und den Einsatz einer Theorie der rationalen Handlungswahl pladiert. Die soziologische Relevanz folgt aus der ModeUierung sozialer Interdependenzen, die angesichts eines egoistischen Handelns der Einzelnen zu erwarten sind und einen Bedarf an sozialen Handlungsregeki aufdecken, der dann sozialtheoretisch behandelt werden kann. Es stehen somit Handlungssituationen im Mittelpunkt, in denen die Einzelnen zwar am Handeln der anderen und an sozialen Beziehungen interessiert sind, die jedoch

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nicht ohne weiteres zustande kommen, weil Egoisten und Opportunisten jede Abhangigkeit, Unbestimmtheit oder soziale Verflechtung nuteen, um Sonderrenten, Abweichungsgewinne und Ausbeutungsertrage auch auf Kosten der anderen zu bekommen, und dafiir alle Erwartungen ,uber den Haufen werfen'. Die Herausforderung liegt im Nachweis, dass und wie es rationalen Egoisten gelingt, solche Situationen sozial zu gestalten, etwa in dem sie zur Realisierung gemeinsamer Ziele Verbande griinden und Herrschafts- und Sanktionsinstanzen einsetzen. Es wird also nicht schon aus dem Bedarf und der allgemeinen Vorteilhaftigkeit sozialer Ordnungs- und Sicherungsmechanismen auf deren Entstehung und Aufrechterhaltung geschlossen, sondern diese miissen aus dem interessengeleiteten Handeln in spezifischen sozialen Konstellationen erklart werden. Das gemeinsame Zweckhandeln rationaler Egoisten wird seit einiger Zeit in Anlehnung an Thomas Hobbes (1966) und Mancur Olson (1968) unter der Perspektive offentlicher Giiter diskutiert und als ein typisches Gefangenendilemma modelliert, das Schwierigkeiten beim kollektiven Handeln mit Anreizen zum Trittbrettfahren erklart, oder anders formuHert: mit dem Auseinanderfallen von individueller und kollektiver Rationalitat. Daraus folgt, dass die kollektive Bereitstellung offentlicher Giiter nicht schon damit erklart ist, dass diese fiir alle Vorteile hatten, sondern den Nachweis von Sicherungsmechanismen erfordert, welche die Akteure davon abhalten, kurzfristige Abweichungsgewinne anzustreben. Die Errichtung solcher Sicherungen kann als ein second order Problem diskutiert werden (vgl. Coleman 1990, Maurer 1999), weil Sanktionsinstanzen in diesem Fall dem allgemeinen Vorteil dienen, und sich dann wieder die Frage stellt, warum Egoisten dazu beitragen soUten. Wahrend Weber fur den Zweckverband sowohl eine legitime Ordnung wie auch die Existenz eines Erzwingungs- und Verwaltungsstabes unterstellt, wird im Rationalprogramm daran gearbeitet, angesichts rationaler Egoisten und Opportunisten — die nichts anderes als ihre privaten Interessen kennen — eine vorteilhafte, erfolgreiche Handlungskoordination zu erklaren. Das Rationalprogramm hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen, die sie an Max Weber heranfiihrt und einen Vergleich zwischen diesem und Hartmut Esser aussichtsreich erscheinen lasst: die Erweiterung des handlungstheoretischen Kerns in Verbindung mit der Explikation sozialer Interdependenzstrukturen (vgl. Maurer/Schmid 2002, Maurer 2004).

3 Votteilhafte soziale Regeln (Hartmut Esset) „Die ertragreiche Kooperation in den groBen Verbanden einer offenen Gesellschaft war die einzigartige befreiende Leistung der menschUchen ZiviHsation, von der David H u m e —und andere Aufklarer— zu Recht so schwarmten."

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(Esser 2000-3, S. 224) Esser scheint wie seine Vorganger"^ von der Suche nach so^^akn Formen der Handlungskoordination fasziniert zu sein, die soziale Interdependenzen ziim Vorteil der Menschen zu regeln versprechen. Ordnungsfragen werden zuvorderst mit der Notwendigkeit in Verbindung gesetzt, zu einer bestmoglichen Befriedigung der existenziellen Grundbediirfnisse: physisches Wohlbefinden und soziale Anerkennung, zu gelangen. Handlungsabstimmung und Handlungsregelung wird so vor allem mit der effizienten Organisation der Giiter- und Leistiingserstellung in Bezug gesetzt — Ausdruck davon sind soziale Produktionsfunktionen.^ Esser will aber auch die Grundpramisse der verstehenden Soziologie aufgreifen und der Strukturierung der Welt durch kollektive Ideen und Werte, sowie deren Wahrnehmung durch die Individuen, Rechnung tragen und diese systematisch mit den materiellen Strukturen und Anreizen verbinden (vgl. Esser 1991, 1993, 1999-1). Das kann als ein vielversprechender Versuch gedeutet werden, die Dichotomie zwischen rationalen und normativen Ordnungskonzepten zu durchbrechen und einen integrativen Zugang zur Ordnungsthematik zu eroffnen (vgl. Greshoff/Schimank 2003), der stabile soziale Beziehungen auf der Grundlage von Gewohnheiten ebenso erklaren und analysieren will wie auf der Basis von Wis sen, Interessen und Werten. Sollte dies im Modell soziologischen Erklarens moglich sein, dann ware den Spe^ellen So^ologien Essers in der Tat das Verdienst zuzusprechen, „die verschiedenen Konzepte der Soziologie miteinander und mit den jeweils relevanten Ansatzen der Nachbarwissenschaften unter dem Dach des Modells der soziologischen Erklarung systematisch und in sich gegenseitig erganzender Weise in Verbindung zu bringen" (Esser 2000-5, S. XI).

3.1 Das Modell soziologischen Erklarens Der Methodologie und der Gegenstandsbestimmung Max Webers folgend sieht Esser in der Soziologie die Wissenschaft, welche soziale RegeknaBigkeiten aus dem Handeln miteinander verbundener Menschen ursachlich erklart und dabei verschiedene Handlungslogiken in Rechnung stellt (Esser 1993, S. X,

Verstreut iiber verschiedene Schriften hat Esser Parallelen zwischen der verstehenden Soziologie Webers und dem Modell des soziologischen Erklarens herausgestellt (vgl. Esser 1989, 1993, Kap. A, B, 2000-3, Kap. 1). In den jiingeren Arbeiten (1996, 2001-6) unternimmt er die theoretische Integration der bei Max Weber selbst unverbunden gebliebenen vier Handlungstypen (vgl. Miinch 1982, Maurer 1999) in einem Modell. In friiheren Arbeiten hat er bereits die Figurations soziologie von Norbert Elias (Esser 1984) und die Arbeiten von Alfred Schiitz (Esser 1991) als Teil des Modells soziologischen Erklarens rekonstruiert; ein Anspruch der innerhalb der Soziologie nicht unbestritten geblieben ist. Essers Arbeiten sind dem naturalistischen Erklarungsprogramm zuzurechnen, das eine unabhangige materielle AuBenwelt, eine objektive Realitat annimmt (vgl. Esser 1993, 2001, 2003a).

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1999-1, Kap. 1). Bereits in frxihen Schriften hat Esser (1989, S. 72, 1991, Kap.l, 1993, Kap. A) auf der Gnindlage des Kritischen RationaHstnus gefordert, die Soziologie als eine erklarende und verstehende Wissenschaft zu konzipieren, die allgemeine wissenschaftstheoretische Standards erfuUt, an andere Sozialwissenschaften Anschluss halt und eine systematische Theoriearbeit betreibt.^ Dies bedeutet konkret, dass die Soziologie die Realitat mittels moglichst einfacher und praziser Modelle und Theorien zu beschreiben, zu erklaren und zu analysieren hat. „Soziologische Analysen und Erklarungen laufen itnmer (auch) auf die Konstruktion von vereinfachenden und typisierenden Mode Hen hinaus." (Esser 1993, S. 119)^^ Das Modell soziologischen Erklarens umfasst zwei Ebenen: a) die Struktur- und b) die Handlungsebene sowie c) der en Verbindung iiber die Logik der Situation, die Logik der Selektion und die Logik der Aggregation. a) Strukturehene Der soziologische Gehalt besttmnit sich aus der Kennzeichnung typischer so^aler Situationen, in denen „die Akteure wechselseitig in Rechnung steUen (miissen), daB das Ergebnis ihres Tuns von den Absichten und Handlungen der anderen mitbestimtnt ist und daB aUe auch wissen, daB das so ist" (Esser 2000-3, S. VII, vgl. auch 1993, S. X). Strukturen gelten „zuaUererst durch die Interdependenzen der Akteure, durch die Art der Verteilung von Interesse und Kontrolle bestimmt" (Esser 2000-3, S. 14, vgl. auch Coleman 1990). Erst in neueren Arbeiten beriicksichtigt Esser neben den materiellen Opportunitaten und Restriktionen auch institutionelle Regeln, kulturelle Symbole und Werte zur Kennzeichnung von Handlungssituationen. Es stehen also nicht die Akteure und deren Motive im Mittelpunkt, sondern die Modellierung typischer, sozial relevanter Verhaltnisse, in denen die Menschen ihr Leben sichern, soziale Beziehungen eingehen und dabei Umgangs- und Koordinationsformen schaffen, ohne dass sie dies immer bewusst und gewollt tun (Esser 2003c, S. 78).^^

Diese wissenschaftstheoretische Kennzeichnung der Soziologie (vgL Esser/Klenovits/Zehnpfennig 1977) ist fiir Vertreter des struktur-individualistischen Erklarungsprogramms typisch (vgl. Maurer/Schmid 2004) und folgt der Aufforderung Poppers (2000), wissenschafdiche Theorien zu widerlegen und zu verbessern. Modelle dienen diesem Verstandnis nach nicht der detailgetreuen Wiedergabe der Realitat, sondern als vereinfachende Konstruktionen derselben fiir ganz bestimmte Erklarungsaufgaben (vgl. Esser/Klenovits/ Zehnpfennig 1977, Esser/Troitzsch 1991). Sie sind moglichst einfach zu gestalten und soUten mit moglichst wenigen Annahmen iiber die Situation und die Akteure auskommen, einfache Briickenhypothesen aufstellen und eine gut bestatigte, aber auch einfache Handlungstheorie verwenden, die in der Lage ist, iiber die von ihr benannten Parameter eine fiinktionale Beziehung zu den Situationsvariablen herzustellen (vgl. Lindenberg 1991, Esser 1993, Kap. 7, 1999-1, Kap. 1). Diese SteUe erinnert zugleich an die bekannte marxsche FormuHerung von den Verhaltnissen,

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Nach Weber sind soziale Beziehungen grundsatzlich von der doppelten Kontingen^ durchzogen und daher mit der Schwierigkeit behaftet, wechselseitig verstandliche und stabile Handlungserwartungen auszubilden. Nach Esser folgt das Zusammenleben der Menschen hingegen grundsatzlich der Logik der antagonistischen Kooperation, was besagt, dass soziale Kooperation und Handlungsabstdmmung zwar vorteilhaft fiir die Produktion wichtiger Giiter, Leistungen und Ereignisse sind, dass dabei aber Anreize zu einem egoistisch-opportunistischen Handeln bestehen, die ihr Zusammenkommen erschweren oder gar verhindern. Das gemeinsame Zweckhandeln ist etwa immer dann, wenn es sich um die kollektive Bereitstellung offentlicher Giiter handelt, durch systematisches Trittbrettfahren gefahrdet, weil die individuellen Nutzeniiberlegungen gegen das Allgemeinwohl stehen (vgl Esser 1993, Kap. 13). Esser modelliert die materiell-strukturelle Verbundenheit der Menschen in Anlehnung an Coleman (1990) als Verteilung der Interessen an Ressourcen und der Kontrollrechte iiber Ressourcen und unterscheidet damit drei Situationstypen. Parametrische Situationen sind dann gegeben, wenn die Akteure die fur sie bedeutsamen Ressourcen selbst kontroUieren — etwa Robinson ohne Freitag die einsame Insel. Derartige Situationen, in denen einzelne ihre Bediirfnisse allein in Auseinandersetzung mit der Natur befriedigen, sind fiir die Soziologie weitgehend uninteressant, da weder ein soziales Handeln noch soziale Regeln zu erwarten sind (vgl. auch Coleman 1990, S. 28ff).^^ Dependen^^situationen kennzeichnet dagegen, dass ein Akteur alle Ressourcen kontrolliert, die fur einen oder mehrere andere wichtig sind, was eindeutige Abhangigkeiten und Zwangsverhaltnisse bewirkt. Esser teilt die webersche Auffassung, wonach die Soziologie sich mit sozialem Handeln bzw. mit so^alen Interdependen^ituationen zu beschaftigen habe. Er modelliert dies iiber Ereignisse, an denen Akteure in teres siert sind, die sie aber nicht aUein bestimmen konnen — wie im Falle koUektiver Giiter, externer Effekte oder bei der Nutzung von Gemeineigentum usw. —, weil diese auch

die sich hinter dem Riicken der Akteure durchsetzen und die von diesen weder gewollt noch bejaht sein miissen, wie auch an die sitxiationslogische Argumentation Poppers und vieler Struktur-Individualisten, die gani; selbstverstandlich auch beriicksichtigen, dass nicht wenige Situationen durch den Zwang der Verhaltnisse bestimmt sind, etwa wetl eine Handlungsalternative einen sehr hohen Nutzen oder sehr gute Realisierungschancen hat, so dass soziologische Erklarungen ohne weitere Annahmen iiber die Motive und Befindlichkeiten der Akteure auskommen. Dann „genugen die Kenntnis der grundlegenden strukturellen Muster der GeseUschaft und die Benennung der Opportunitaten des Handelns in der Situation" (Esser 2000-4, S. 269). Beispielhaft hierfur seien empirische Studien zum Verzicht auf Btldungsinvestitionen niederer Schichten bei schlechten Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt genannt, der auf der Strukturebene zu dem paradoxen Effekt fiihrt, dass zusatzliche BildungsmaBnahmen keine soziale Mobilitat in Gang setzen (vgl. Boudon 1980, Esser 2000-3). Solche Robinsonaden konnen jedoch fiir die Okonomie oder die Psychologic durchaus relevant sein.

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vom Tun der anderen abhangen, was zu Tauschtransaktionen und Beziehungen zwischen den Beteiligten fiihrt. Dann sind wechselseitige Handlungserwartungen und soziale Handlungsregelungen vorteilhaft und deren Einsetzung kann mit all den zu erwartenden Schwierigkeiten zum Gegenstand soziologischer Erklarungen und Analysen gemacht werden (Esser 2000-3, S. lO).^-"^ Soziale Interdependenzen werden also von Esser zuvorderst in der Logik der antagonistischen KooperatM"^ modelliert, Daraus folgt, dass soziales Handeln und soziale Beziehungen aus Sicht der Einzelnen vorteilhaft und rational sind, dass aber die Realisierung mit Koordinationsproblemen, sozialen Dilemmata und Konflikten einhergehen kann, was nichts anderes besagt, als dass soziale Beziehungen nicht ohne weitere Sicherungen entstehen, die den Egoismus und Opportunismus der Akteure einschranken und Handlungen wechselseitig erwartbar machen (Esser 2000-3, Kap. 5). Ob und wann die rein materiellen Anreize an Bedeutung verlieren, und neben den materiellen Strukturen auch Vulturelk und kognitive Aspekte b^. institutionelle Kegeln und Normen Wichxig werden, d.h. fiir

unsere Fragestellung hier, wann Egoismus und Opportunismus der Menschen soziale Beziehungen nicht be- und erschweren, erklart Esser im Modell der Frame Selektion.^^ h) Handlungsebene

Analog zur Struktur werden die Akteure als materielle Wesen beschrieben, die zuallererst ihr Tun auf die Befriedigung ihrer Bediirfnisse ausrichten und dazu in einer natiirlichen (parametrische Situationen) und einer sozialen Umwelt (Dependenzen, Interdependenzen) agieren miissen. Wahrend in den friihen Arbeiten die Akteure mit einer Variante der Nutzentheorie: der Wert-

Nicht umsonst betont Esser mit Verweis auf Marx und Weber immer wieder, dass sich materielle Struktur und gesellschaftliche Ideen durchdringen und mentale Modelle hervorbringen, die erprobte und bewahrte Antworten auf existentieUe Probleme darstellen und gerade fiir rationale Akteure auBerst dienlich sein konnen. Das Konzept der ,antagonistischen Kooperation' hat bereits Graham Sumner fiir die Soziologie aufbereitet (vgl. Lenski 1977, S. 50); es hat durch die formale spieltheoretische Darstellung an Verwendung in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen gewonnen. Zur Kennzeichnung der objektiven Situation bezieht sich Esser (1999-1, S. 91 ff) auf das von Lindenberg (1989) entwickelte Konzept der so^alen Produktionsfunktion. Soziale Produktionsfunktionen definieren ausgehend von den beiden Grundbediirfnissen (physisches Wohlbefinden und soziale Anerkennung) Ziele, zeigen effiziente Ressourcennutzungen, vermitteln Grundprinzipien und weisen Handlungen als adaquat und effizient aus. Soziale Produktionsfunktibhen stellen den Zusammenhang zwischen Ressourcen und Bediirfnissen auf der gesellschaftlichen Ebene her. Fehleinschatzungen sind fiir die Betroffenen mit erheblichen Nachteilen verbunden, weil sie zu einer ineffizienten und suboptimalen Versorgung fiihren wiirden. Daraus folgert Esser, dass sich die subjektive Situationsdeutung mittel- und langfristig der objektiven Situation annahert (vgl. Esser 1999-1, insbes. Kap. 7.2).

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Erwartungs-Theorie und dem KREEM-Mode//^^, beschrieben wurden, werden in den spateren Arbeiten — wie auch bei anderen Struktur-Individualisten (z.B. Williamson, Boudon, Vanberg usw.) — zwei Erweiterungen am Handlungsmodell vorgenommen. Etstens wird mit Herbert Simon von der begrenzten Rationalitat der Akteure ausgegangen und zweitens mit Bezug auf den Neurowissenschafder Gerd Roth von der Existenz gesellschaftlicher Wahrnehmungsund Deutungsmuster (frames), die den Akteuren Grundprinzipien (codes) einzelner Handlungsfelder und angemessene Handlungsprogramme (scripts) vermitteki. In der Wert-Erwartungs-Theorie wird individuelle Rationalitat darin gesehen, dass die Akteure ihre Handlungssituation in Handlungsalternativen iibersetzen, deren Folgen und Eintrittswahrscheinlichkeiten abschatzen und schlieBlich die Handlung mit dem groBten Nutzen wahlen.^"^ Die Situationswahrnehmung bleibt dabei auf das Wissen der Akteure und deren Bewertungen beschrankt und bezieht sich allein auf die Anreizwirkungen objektiver HandlungsmogHchkeiten (vgl. Greshoff/Schimank 2003). Durch die Erweiterung mit dem Modell der Frame Selektion werden alle vier von Weber aufgefiihrten Handlungstypen und dariiber auch die Relevanz ideeller und institutioneller Situationsaspekte erfasst. Rational ist unter bestimmten Bedingungen auch das Gewohnheitshandeln bzw. das Interpretieren von Situationen und die darauf aufbauende Orientierung an gedanklichen Mustern. c) Die 3 Ijogiken Das inzwischen weit iiber das struktur-individualistische Programm hinaus bekannte Makro-Mikro-Makro-Modell^^ verbindet Handlung und Strukturen in drei Schritten. A m ersten Schritt, der Logik der Situation, setzt das Modell der Frame Selektion an. Es soil dem Postulat der verstehenden Soziologie Webers gerecht werden und die Situationsdeutung der Menschen beriicksichtigen hel-

Esser begriindet die Verwendung der Wert-Erwartungs-Theorie (vgl. FuBnote 10) mit der Formulierung von Briickenhypothesen, die Handlungsannahmen und Situationsparameter verbinden, und der relativ einfachen Situationsmodellierung in Form von Erwartungsmatrizen (vgl. daiiu kritisch Greshoff/Schimank 2003, EndreB 2002). Das Formulieren von Briickenhypothesen, d.h. die Ubersetzung konkreter Situationen in die Parameter einer Handlungstheorie, gilt aUgemein als wichtigster und schwierigster Schritt einer Erklarung (vgl. Boudon 1980, Coleman 1990, Esser 1993, Wippler/Lindenberg 1987). Theorien rationaler Wahl erklaren Handlungsentscheidungen als eine Optimierung unter gegebenen Bedingungen (wozu das Wissen der Akteure genauso zahlt wie die natiirlichen und sozialen Ressourcen). Auch das Essersche Modell beruht auf der Unterscheidung von externen Situationsbedingungen (natiirliche und soziale Umwelt) und internen Funktionsweisen des Menschen (Wissen, Bewertungen) (Esser 1993, Kap. 13; vgl. kritisch dazu Greshoff/Schimank 2003), die aber in der Logik der Situation aufeinander bezogen werden. Als dessen ,Vater' gelten heute Raymond Boudon, James Coleman und Hartmut Esser. Eine gute, erlauternde Darstellung findet sich in Coleman (1990, S. 9ff).

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fen. Im Zentrum des Modells steht die Wahl von Informationsverarbeitungsmodi und Situationsrahmungen, d.h. von Handlungsorientierungen. Esser hat dazu das Mode-Modell von Russell Fazio in verschiedenen Schritten ausgebaut und formalisiert.^^ Es beruht auf der Pramisse, dass die Situationswahtnehmung der Akteure im Normalfall durch ein vorgegebenes Wahrnehmungs- und Deutungsmuster: ein mentales Modell, bestimmt ist, das situationsadaquate Prinzipien und Handlungsprogramme bereitstellt. Dutch die formalisierte Darstellung wird es moglich, exakte Schwellenwerte anzugeben, bei denen das gewohnheitsmaBige Handeln in interpretative Prozesse und diese wiederum in eine bewusste, Interessen oder Werte reflektierende Situationswahrnehmung iibergehen. Die Bestimmung des Modus der Informationsverarheitung (mode) und des Frames wird von Esser formal auf der Basis der Wert-Erwartungs-Theorie durchgefiihrt (vgl. Esser 1996, 2001-6, S. 92ff; vgl. dazu auch ausfiihrlich S. 352ff).20

Das Modell der Frame Selektion bietet gegeniiber dem strikten Rational Choice Programm wie auch gegeniiber der Konzeption Webers eine erweiterte Handlungstheorie und eine verbesserte Modellierung der Situation, weil es verschiedene Handlungstypen integrieren und mit verschiedenen Situationsdimensionen in Verbindung setzen kann: „Mit ihm (Modell der Frame Selektion, A.M.) wird es moglich, nicht allein die (materiellen und immateriellen) Interessen der Akteure, sondern auch gewisse institutionelle Regeln und kulturellsymbolische Rahmungen gleichzeitig und in ihrer wechselseitigen ,Interaktion' zu beriicksichtigen, die wechselseitigen Beziehungen von Interessen, Institutionen und Ideen also." (Esser 2003b, S. 155) Es wird exakt bestimmt, wann die materiell-strukturelle 'Verbundenheit ijhti Ressourcen (vgl. Esser 1993, 2000-3, Kap. 3), die kulturell-symbolische Verbundenheit liber die wechselseitige gedankliche Orientierung an Symbolen (vgl. Esser 2001-6) oder die normative Integration liber Maximen (vgl. Esser 2000-5, 2003a, 2003b) sozialen Beziehungen vorausgeht.2^ Das Modell weist die Bedingungen auf, unter denen materieUe Anreize, gesellschaftliche Deutungsmuster, Wissen oder institutionelle Regeln an situationsdefinierender und handlungsleitender Kraft gewinnen.^^ „Die Definition

Eine Beschreibung des Modells der Frame Selektion findet sich in Esser 1996 und 2001-6 und eine formale DarsteUung der Ubergange zwischen den ein^elnen Handlungsorientierungen in Esser 2003a, 2003b, 2004. Kritische Auseinandersetzungen finden sich bei Liidemann/Rotiigang (1996), Etzrodt (2000), Schimank/KjTon/Greshoff (2002) und Rohwer (2003). Der Nachweis einer normativ-institutionellen Verbundenheit der Akteure betont symbolische und institutionelle Situationsmerkmale und stellt die Verbindung /.wm Modell des Zweckverbands bei Weber und zum Konzept der Lebenswelt bei Alfred Schiitz her, wohingegen materielle Situationsmerkmale und das zweckgerichtete Handeln den Bogen zum Rationalprogramm schlagen. Meines Erachtens ^eichnen die neueren Arbeiten Essers vor aUem die Ausarbeitung der

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der Situation ist danach keine Frage der kulturellen Vorstellungen alleine, sondern auch eine, bei denen Knappheiten und relative Preise eine wichtige Rolle spielen." (Esser 1996, S. 269)

32 Ordnungsprohleme und ihre Usungen Was macht das Modell fiir die soziologische Ordnungsdiskussion interessant, und was bietet es gegeniiber der weberschen Ordnungskonzeption an neuen Einsichten?^^ Grundlegend fur die Beantwortung beider Fragen ist das hier rekonstruierte Kernargument: die Wahl von Handlungslogiken. Zwar raumt Esser den materiellen Sitxiationsaspekten und den (existentiellen) Interessen der Akteure bei der Modellierung sozialer Interdependenzen Vorrang ein, beriicksichtig aber nunmehr auch, dass dies nicht immer und iiberall der Fall sein muss, sondern dass unter bestimmten Bedingungen institutionelle Regeln, kulturelles Wis sen oder auch Werte die Situationswahrnehmung der Menschen bestimmen. Daraus folgt fur die Ordnungsdiskussion, dass sich je nach Situationsdeutung und Handlungsprinzip verschiedene Ordnungsproblematiken kennzeichnen und deren Bewaltigungen differenzierter beantworten las sen, als dies bislang bei Weber der Fall war, der zwar sein VerbandsmodeU als ein K o ordinationsproblem in Form der doppelten Kontingenz entwickelt, dem aber eine ausgebaute Handlungstheorie fehlt, die das Problem konturieren und auch andere Losungen als die normativ-institutionelle Rahmung erfassen konnte. Dieser Vorwurf gilt im librigen auch in Bezug auf das Rationalprogramm, das bislang Abstimmungsprobleme allein aus Anreizstrukturen und den Interessenkonstellationen zwischen den Akteuren herleitet, dabei allerdings zumindest drei Problemlogiken unterscheiden, wenn auch noch nicht theoretisch verkniipfen kann. Indem Esser neben materiellen Anreizstrukturen nun auch die Relevanz von Ideen fur die Entstehung sozialer Wirklichkeit im Kontext einer struktur-

Modellierung sozialer Interdependent en und die entwickelte Handlungstheorie aus. Der dritte Schritt im Makro-Mikro-Makro-ModeU: die 'Logik der A^regation (vgl. Esser 1993, S. 96ff), scheint mir zumindest in den expMzit methodologischen Hinweisen dahinter zuriickzutreten; Esser verweist hierzu auf bekannte Verfahren wie das einfache Summieren, SchweUenwertbzw. Stufenmodelle und institutionelle Regeln. Es sei nochmals betont, dass fur Weber soziale Beziehung nicht mehr meint, als dass eine wechselseitige Orientierung an einem gemeinsamen Sinngehalt stattfindet, Eine legitime Ordnung beinhaltet eine objektive Chance dafur, weil der Sinngehalt in Maximen formuliert und in Handlungspflichten iibersetzt wird. Esser scheint den Begriff der sozialen Beziehung bei Weber ausschHeBlich fiir institutionell-normativ geregelte Beziehungen vorzusehen (vgl. Esser 2000-3; kritisch dazu EndreB 2002) und iibersieht dariiber, dass nach Weber soziale Beziehungen ganz unterschiedHche Grundlagen haben konnen (z.B. auch Interessen).

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individualistischen Erklarung erfasst, dehnt er die Grenzen des Rational Choice Programms aus; liberschreitet diese vielleicht sogar. Das Modell der Frame Selektion ermoglicht eine systematische Erweiterung des Handlungsmodells und der Logik der Selektion iind kann dadurch im Unterschied zu Weber einerseits beriicksichtigen, dass die Menschen ihr Handeln normalerweise an mentalen Modellen orientieren, die erprobte und bewahrte Losungen fiir gesellschaftliche (Abstimmungs- und Koordinations-) Probleme darstellen und trotz ihrer begrenzten Rationalttat zu vorteilhaften Verhaltnissen kommen konnen. Andererseits erfasst das auch, dass die Orientierung an mentalen Modellen prekar werden kann, weshalb nicht immer und unter alien Bedingungen mit der Befolgung institutioneller Regeki zu rechnen ist. „Das Modell der Frame Selektion Hefert im Ubrigen eine Erklarung dafiir, wann die Menschen mal ,Subjekte' sind, die Konsequenzen bedenken, und mal ,Automaten', die nur durch die gegebenen Verhaltnisse getrieben sind." (Esser 2003d, S. 361) Das Modell des Zweckverbandes ist ein Spezialfall des Modells soziologischer Erklarung: es erklart Ordnungsbildung auf der Basis institutioneller Regeln, denen gefolgt wird. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass weder das rein zweck- noch das absolut wertrationale Handeln der Normalfall sind, dass beide Handlungslogiken vielmehr nur unter sehr spezifischen Bedingungen auftreten, also sowohl das strikte Rationalprogramm wie auch rein normative Konzeptionen jeweils Spezialfalle sozialer Ordnungsbildung erfassen. a) Frames, Skripte und unhinteffragte so^ale Be^iehungen Das Modell der Frame Selektion (vgl. Esser 1996, 2001-6) unterstellt fur den Normalfall ein aktiviertes men tales Modell (frame), dem die Akteure automatisch-spontan folgen, des sen Geltung sie erst aufgrund externer Storungen in Frage zu stellen beginnen. Da die mentalen Modelle als Spiegel der sozialen Produktionsfunktion, als bewahrte und erprobte Problemlosungen verstanden werden, die situationsadaquate Ziele, Mittel, Codes und Handlungsprogramme vermitteki, kann auf problemlose und zudem vorteilhafte soziale Beziehungen geschlossen werden. Weil weiter davon ausgegangen wird, dass die Akteure dem Modell folgen, sofern es auf die Situation passt, und sie deshalb wie immer vorgehen und sich so verhalten, wie es die anderen auch erwarten, ist eine wechselseitige Handlungsorientierung auch angesichts begrenzter individueller Rationalitaten ganz einfach. Vielmehr noch kann die unhinterfragte Ubernahme gesellschaftlicher Deutungen, Wertungen und Handlungsmuster als individuell und kollektiv rationale Form der Handlungskoordination verstanden werden, solange keine Anzeichen auftreten, dass sie nicht die adaquate Form der Situationsdeutung sind. „Denn: Die Ubereinstimmung von interaktiv entstandenen und danach abgespeicherten, kulturell definierten Prototypen mit den Objekten einer Situation ist ja nichts als eine Erwartung, daB auch die aktuelle Situation wie iiblich und das vorgestellte Modell das richtige sei." (Es-

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ser 1996, S. 30) Die mentalen Modelle sagen den Akteuten, was in gesellschaftlichen Handlungsbereichen an Zielen und Mitteln pas send ist und wie sie sich adaquat als Herrscher und Beherrschte, als Tauschpartner, als Freunde usw. aufeinander beziehen sollen und konnen. Soziale Beziehungen kommen ohne weitere Mechanismen und Sicherungen aus. b) Interpretation, Aushandlung und wechselseitige

'Brwartungen

Das Modell der Frame Selektion zeigt aber auch, wann der Modus der automatisch-spontanen Informationsverarbeitung und der gewohnheitsmaBigen Befolgung eines mentalen Modells aufgegeben und durch eine bewusstere Wahrnehmung der Situation ersetzt wird, wodurch dann die anderen Situationsmerkmale und Handlungsorientierungen ins Spiel kommen. Das Frame Modell besagt, dass Storungen zwischen dem aktivierten Modell und der objektiven Situation zu einer bewussten Reflexion, Interpretation und Kalkulation der Situation und bewussten Handlungsentscheidungen fuhren, weil dies fiir die Akteure vorteilhafter ist, als das Befolgen falscher, ineffizienter Muster. Im ersten Schritt bietet sich zur weiteren ErschlieBung der Situation die kostengiinstige, individuelle oder soziale Interpretation von Symbolen, Zeichen oder Riten an. Kommt es dadurch wieder zu einer stimmigen Deutung der Handlungs situation, dann ist erneut die wechselseitige Koorientierung an gesellschaftHchen Deutungs- und Handlungsmustern handlungsleitend und Grundlage stabiler sozialer Beziehungen. Die im Interpretativen Programm der Soziologie hervorgehobenen Prozesse des Deutens und Aushandekis von ReaHtat werden als eine Form sozialen Handelns erklart, das immer dann stattfindet, wenn Gewohnheiten prekar werden und eine Neueinschatzung der Situation auf der Basis gesellschaftHcher Symbole wieder zuverlassige Handlungserwartungen und stabile soziale Beziehungen begriinden kann, ohne dass weitere, soziale Einrichtungen geschaffen werden miissten. Der typische Anwendungsfall dafur sind nach Esser einfache Koordinationsprobleme, die mit dem richtigen Wissen um das richtige Tun relativ einfach gelost werden konnen, wie etwa das Nutzen der Vorfahrtsregel oder ein klares Nein in Verhandlungen. Soziale Ordnung entsteht dann vermittels einer konventionellen Koordination, die von Symbolen, Riten und der Sprache getragen ist und die eine Koorientierung ganz ohne direkte Interaktion, ohne Normen und auch ohne Herrschaft begriindet (vgl. Esser 2000-3, Kap. 8). c) Kalkulation und vorteilhafte so^ale Kegeln

Das im Rationalprogramm so gern und vielbeschworene egoistische, opportunistische Handeln, das die Logik der antagonistischen Koordination heraufl^eschwort und Ordnungsbildung so schwer macht, wird im Modell der Frame Selektion dagegen mit einem Mismatch zwischen mentalem Modell und objek-

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tiver Situation erklart, der zudem von einer hohen Relevan2 der Handlungsentscheidung, dem Vorhandensein von Alternativen und ertraglichen Kosten einer weiteren Modellsuche begleitet sein muss. Erst wenn diese drei Zusatzbedingungen in ausreichendem Mafie erfiillt sind^^^ wird von einer bewussten, kalkuHerenden Situationsdeutung (rc-Modus) ausgegangen, die dann entweder individuelle Zwecke und Anreizstrukturen oder aber auch Werte fur die Handlungswahl bedeutsam werden lassen. Die Berechnung von Handlungskonsequenzen (vgl. S. 349) erklart, dass Handlungserwartungen durchaus verletzt und Ungewissheiten auch ausgenutzt werden, so dass soziale Beziehungen einen Schutz gegen Eigennutz und Opportunismus auf der einen Seite und gegen begrenzte Rationalitat auf der anderen Seite erforderlich machen. Das Paradebeispiel dafur sind Gefangenendilemmata, in denen zwar alle von sozialen Regeln profitieren wiirden, die aber niemand wegen der Abweichungsvorteile einhalt. Unter den beschriebenen Bedingungen miissen Abstimmungs- und Sicherungsmechanismen — wie Herrschaft, Organisation, soziale Netze usw. — gefunden und errichtet werden, damit stabile, vorteilhafte soziale Beziehungen, erst recht aber ein gemeinsames Zweckhandeln, aussichtsreich werden. „Es ist die Frage nach der sozialen Ordnung, die alien nutzt, wenn es sie denn gabe, deren Kosten und Risiken aber niemand ohne weiteres zu tragen bereit ist." (Esser 2000-3, S. 90) Die Auflosung sozialer Dilemmata wird sozialen Regeln zugeschrieben, die geeignet sind, die Kosten und Ertrage bestimmter Handlungsweisen zu erhohen und Anreize fiir ein bestimmtes Handeln zu setzen, die aber noch nicht allein damit zu begriinden sind. Dies bietet eine endogene Erklarung fiir das Entstehen vorteilhafter sozialer Regeln, die entweder durch individuelle Nutzenertrage direkt motiviert sind oder aber aufgrund ihrer Ertrage die Einrichtung regelgarantierender Sanktions- und Herrschaftsinstanzen erklaren helfen (vgl. Esser 2000-3, Kap. 3). Nicht ganz so einfach ist die Regelung sozialer Konfliktkonstellationen, wenn es dabei nichts zu gewinnen gibt^^, weil dann nach Esser nur repressive Normen und Herrschaft einen Ausweg bieten, die einseitige Vorteikiahmen der Diktatoren begriinden (vgl. Esser 2000-3, S. 106). Die Modellierung sozialer Interdependenzen iiber materielle Anreize und eigeninteressierte Handlungen verweist auf Situationen, in denen es auch zur Bildung stabiler sozialer Beziehungen kommt, wenn weder ein gewohnheitsmaBiges N o r m - und RoUenhandeln noch ein unbedingtes Werthandeln zu

Vgl. wiederum die formale Darstellung bei Esser (2003a, 2003b, 2004). Verschiedene soziologische Ansatze weisen iiberdies darauf hin, dass die Regelung von Konflikten durchaus auch fur alle Beteiligten ertragreich und deshalb rational sein kann — wodurch sie durchaus einer struktur-individuaHstischen Erklarung zuganglich werden (vgl. Maurer 1999, Kap. 4).

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erwarten sind, sondern allein Vorteilsuberlegungen und entsprechende Sicheningen vorliegen. Damit ware gezeigt, wann von einer normativen Losung wie dem Zweckhandeln bei Weber ausgegangen werden kann, wann eine antagonistische Kooperation Schwierigkeiten bei der Ordnungsbildung zwischen rationalen Egoisten aufwirft und wann dann jeweils schon Symbole zu einer erwiinschten Koordination fuhren, bzw. wann soziale Regeln und Sanktionsinstanzen notwendig werden, um vorteilhafte Handlungsabstimmungen herbeizufuhren. „Nicht alle gesellschaftlichen Probleme verlangen einen gleich massiven Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Akteure." (Esser 2000-3, S. 113) Die soziologische Analyse konnte damit verschiedene Problemlagen identifizieren und nach geeigneten sozialen Mechanismen fragen, die entweder Komplexitat reduzieren, Risiken sozialen Handelns ndldern oder aber Interessengegensatze rahmen. Je nach Problemlage waren Mechanismen vorzuschlagen, die in die Handlungsfreiheit der Einzelnen nur soweit eingreifen, als es die Sicherung vorteilhafter sozialer Beziehungen erfordert. d) Werlfixierung, Werthindung und so^ale Be^ehungen

In seinen jiingsten Arbeiten stellt sich Esser (2003a, 2003b, 2004) auch der Herausforderung, erklaren zu konnen, wann die Menschen losgelost von alien materieUen Anreizen ihr Handeln ganz unhedingt und ganz bewusst an Werten orientieren, wodurch Gefahrdungen einer allgemein vorteilhaften Ordnung durch Egoismus und Opportxinismus ausgeschlossen werden konnen (vgl. Esser 2003b, S. 48). Grundlage des individuellen Handelns ist die Vorstellung vom Gelten bestimmter Werte und der daraus begriindeten Richtigkeit und VerbindHchkeit bestimmter Handlungsweisen. Soziale Beziehungen basieren dann auf erwartbaren Pflichthandlungen und sind solange unproblematisch, als die Akteure den gleichen Werten verbunden sind. Da Esser Werte als gute Grunde versteht, die im gesellschaftlichen Leben definiert werden und mit den Grundbediirfnissen und existentieUen Problemen der Menschen korrespondieren (vgl. Esser 2004, S. 107), ist auch das wertrationale Handeln und die darauf fuBende soziale Integration rational, da sie ja eine bewusste Begriindung von und Bindung an Uberzeugungen darstellt, die fiir die Sicherung der Lebensweise als unentbehrHch und unersetzbar gelten. „Es sind keine punktueUen und individuellen Ziele und Erfolge, sondern zeitiibergreifende und kollektive Projektionen, die das Tun bestimmen und ihm gegen alle punktueUen und individuellen Schwankungen seine ,unbedingte' Widerstandigkeit geben — wie das bei den konstitutionellen Interessen ja auch der Fall ist." (Esser 2004, S. 108)

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4 D i e Rationalitat sozialer Ordnung Hartmut Esser verbindet mit Max Weber das Anliegen, die Soziologie als eine erklarende und verstehende Wissenschaft 2u betceiben, in deren Zentrum die Frage nach dem Gelingen vorteilhafter sozialer Beziehungen angesichts sozialer Interdependenzen steht. Im ModeU soziologischen Erklarens von Esser ist der Anspruch zu erkennen, durch eine Erweiterung des Handlungsmodells^^ und eine Ausarbeitung der Logik der Situation exakte Bedingungen anzugeben, unter denen soziale Ordnung auf der Basis von Gewohnheiten, Wis sen, materiellen Anreizen oder Werten entsteht. Weil so erklart werden kann, wann und warum institxitionelle Regeln, gesellschaftliches Wis sen, materielle Anreizstrukturen oder Werte die Situationswahrnehmung leiten, lasst sich zeigen, wann das individuelle Handeln bewahrten und bekannten Programmen folgt, von der interpretativen ErschlieBung von Symbolen abhangt, rein eigennutzorientiert auf die maximale Befriedigung von Nutzen — auch gegen das Wohl der anderen — oder aber strikt wertbezogen orientiert ist und was daraus fiir die Errichtung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen folgt. Je nachdem las sen sich dann soziale Beziehungen bereits liber die gemeinsame Koorientierung an oder die Interpretation von gesellschaftUchen Deutungs- und Handlungsmustern erklaren. Oder es muss dazu angesichts des egoistisch-opportunistischen Handelns die Bewaltigung sozialer Dilemmata durch entsprechende soziale Regeln und Sicherungsmechanismen beleuchtet werden. Oder es muss gezeigt werden, wie existentielle Probleme zur Fixierung und Unbedingtheit von Werten fiihren, die mit Handlungspflichten einhergehen und die das Handeln gegen Gewohnheiten und Interessen immunisieren und so wiederum stabile soziale Beziehungen bewirken, zumindest wenn keine Wertkonflikte auftreten. Das koordinierte Zweckhandeln vieler wird auch von Esser als eine Sonderform sozialer Beziehungen beschrieben, die gerade in modernen Gesellschaften die Aufmerksamkeit der Soziologie verdient, weil sie — was schon die Auflklarer im BUck hatten — eine vorteilhafte, rationale Handlungskoordination zwischen freien Akteuren ist. Wahrend Weber das kontinuierliche Zweckhandeln allgemein unter dem Aspekt der doppelten Kontingenz problematisiert und daraus den Bedarf an wechselseitig verstandHchen, sicheren Handlungser-

Esser setzt an den verschiedendich vorgetxagenen Kritiken der Handlungstypologie Webers an, die eben keine entwickelte Handlungstheorie ist, und macht als erster einen Vorschlag, durch die dieoretische Verbindung der vier Handlungsorientierungen Webers in der Logik der Situation die Wirkung von Gewohnheiten, Symbolen, materieUen Anreizen und von Ideen und Werten (zuletzt auch Emotionen) systematisch zu erfassen. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass damit eine Differenzierung der Ordnungsfrage verbunden ist, die gerade durch die Briicke zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken und Situationsaspekten moglich wird, und kennzeichnen hilft, dass die doppelte Kontingenz nur eine Schwierigkeit ist, stabile soziale Beziehungen einzugehen.

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wartungen und einer institutionellen Rahmung gefolgert hat, ist kn Anschluss an Esser festzuhalten, dass sich das gemeinsame Zweckhandeln sowohl als regel-, interessen- wie auch als wertbasierte soziale Beziehungsform erklaren las St, der unterschiedliche Funktionsweisen und Folgeprobleme zugeschrieben werden konnen. Fur die soziologische Analyse bedeutet dies, dass keineswegs fur alle Formen eines gemeinsamen Zweckhandelns immer und iiberwiegend positive Koordinations- und Rationalisierungseffekte angenommen werden diirfen, sondern dass im Falle eines interessenbasierten Zweckhandelns zu zeigen ist, wie es iiberhaupt und entgegen der zu erwartenden Dilemmastrukturen zustande kommt und wie das Handeln von Staben und Agenten bei Bedarf erfolgreich zu regeln ware. Die Bedeutung des ModeUs soziologischen Erklarens fur die Ordnungsdiskussion liegt in der theoretischen Verbindung der drei bzw. vier Handlungstypen Webers und der damit moglichen Erklarung des Wechsels zwischen Handlungsorientierungen, weil daraus dann auf die dargestellten Ordnungsproblematiken geschlossen und die Frage nach entsprechenden Abstimmungsmechanismen gestellt werden kann. Indem erkldrt wird, wann sich das Handeln der Ein^lnen an gesellschaftlichen Programmen, an Wissensbestdndeny an individuellen Zwecken oder an Werten orientiert, kann auch ge^eigt werden, wann welche Probleme bei der Etablierung und Aufrechterhaltung so^aler Be^ehungen auftreten und welche weiteren Regeln und Formen der Handlungskoordination daraus unter Umstdnden hervorgehen. Die Erklarung sozialer Beziehungen kann demnach als unproblematisch gelten, wenn die Akteure auf erprobte soziale Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zuriickgreifen und sich auf deren Sinngehalt beziehen bzw. wenn sie durch Interpretation wieder zu passenden Deutungs- und Handlungsmustern gelangen. In beiden Fallen sind die sozialen Beziehungen durch und durch rational, weil angesichts der individuell begrenzten Rationalitat die Orientierung an bewahrten Mustern den eigenen Entscheidungen iiberlegen ist. Erst wenn keine adaquaten Modelle vorHegen, es sich aber u m wichtige Entscheidungen handelt, Alternativen bekannt und weitere Informationen zu beschaffen sind, sagt das ModeU Schwierigkeiten in der Ordnungsbildung voraus. Dann namlich ist es fiir die Akteure rational, die Situation ganz bewusst im HinbHck auf die Konsequenzen des eigenen Handelns und das der anderen zu taxieren und eigenniitzig bzw. mitunter sogar opportunistisch zu handeln, so dass selbst vorteilhafte soziale Beziehungen nicht ohne weitere soziale Regeln und Sicherungen mogUch sind. Dass solche Regeln und Sicherungen — dazu wiirde auch der bei Weber schlicht und einfach vorausgesetzte Erzwingungs- und Verwaltungsstab zahlen — aber nicht allein aufgrund des Bedarfs entstehen, ist eine der zentralen Erkenntnisse des Rationalprogramms, die auf diesem Wege in die soziologische Ordnungsdiskussion Eingang findet. Aber auch das unbedingte Ausrichten des Handelns an Werten, das zwar von den beschriebenen Schwierigkeiten egoistisch-opportunistischen Handelns frei ist, erklart nicht immer

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und iiberall die Bildung sozialer Beziehungen, sondern halt dazu an, die Bedingungen fur eine Sozialintegration liber Werte systematisch auszuleuchten. Das Modell soziologischen Erklarens ist bestens geeignet, die uralte Streitfrage liber die Grundlagen und die Rationalitat sozialer O r d n u n g beizulegen und klarzumachen, dass sowohl das normative als auch das Rational Choice Programm nur einen Ausschnitt aus der komplexen Ordnungsdiskussion behandeln. D e r Vorschlag Essers verdient Beachtung, weil er in einem Modell soziale Ordnungsbildung iiber Gewohnheiten, Kultur, materielle Anreize oder Werte behandelt, und auch das kontinxiierliche Zweckhandeln vieler allgemeiner zu fas sen und differenzierter zu analysieren erlaubt, als das Modell des Zweckverbands bei Weber.

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Rationalitatskonzepte in det Systemtheorie Niklas Luhmanns und in der Handlungstheorie Hartmut Essers: ein Theotievetgleich DietmarBraun

1 Einfuhfung^ Ziel dieses Artikels ist es, anhand des Rationalitatsbegriffes nachzupnifen, inwiefern dem Anspruch Hartmut Essers, eine „integrative und nichtreduktionistische erklarende Sozialtheorie" vorzulegen, stattgegeben werden kann. Dies wird durch eine Gegeniiberstellung von Essers Rationalitatsbegriff mit dem Rationalitatsbegriff der Systemtheorie, insbesondere der Systemtheorie von Niklas Luhmann, erreicht, dessen Theorie — aufgrund der diametralen epistemologischen Ausgangspunkte (Kneer 2003) — als genuiner Kontrastfall 2u Essers Theorie gesehen werden kann und darum in besonderer Weise geeignet erscheint, das „conceptual stretching" bzw. die Reichweite von Essers Theorie 2u uberpriifen. Als „integrativ" soU eine Theorie dann betrachtet werden, wenn sie in der Lage ist, eine unterschiedene Rationalitatssemantik — in diesem Fall die der Luhmannschen Systemtheorie — im Rahmen der eigenen Theorie und auf der Grundlage eigener Pramissen und Theoriesatze darzusteUen. Integrativ ist keineswegs eine bloBe Addition von verschiedenen RationaHtatssemantiken, die nebeneinander gestellt werden, also etwa ein TheorienpluraHsmus. Die unterschiedHchen RationaHtatssemantiken miissen im Rahmen des eigenen Theoriegebaudes vermittelt werden. Erst wenn es Esser gelingt, die aus der Luhmannschen Theorie entstehenden Erkenntnisgewinne auch im Rahmen seiner eigenen Theorie hervorzubringen, kann von einem erfolgreichen Anspruch auf eine integrative Sozialtheorie gesprochen werden. Die Struktur dieser Abhandlung ist folgendermaBen: An den Anfang wird eine kurze Diskussion der Veranderungen des RationaUtatsbegriffs in der Ideengeschichte gestellt, um eine Einordnung der Theorieanspriiche Essers und Luhmanns vornehmen zu konnen und die vorlaufige These aufzustellen, dass es sich hier zwar um unterschiedliche Rationalitatskonzepte handelt, aber

^

Ich bedanke mich bei Rainer Greshoff fiir wertvolle Hinweise. Alle Irrtiimer liegen selbstverstandlich bei mir.

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sich doch auch einige Affinitaten aufzeigen las sen, die beide Theorien von zwei anderen Interpretationen von Rationalitat — gesellschaftliche und utilitaristische Rationalitat — unterscheiden. Im Anschluss daran wird Essers RationaHtatsbegriff zunachst einmal mit der Parsonschen Handlungsdieorie konfrontiert, bevor die „Rationalitatsseniantik:" Luhmanns naher ausgefiihrt wifd. Luhmanns RationaUtatskonzept ist nicht einheitlich. Es lasst sich zwei Schaffensperioden Luhmanns zuordnen, in denen Rationalitat andere Akzente erhalt. Beide Interpretationen werden mit der Esserschen Theorie abgeglichen, u m schUeBUch den Integrationsgehalt dieser Theorie festhalten zu konnen.

2 Metamorphosen des Rationalitatsbegtiffs „Rationalitas" stammt bekanntHch vom lateinischen Begriff „ratio", der wieder auf den Begriff des griechischen „logos" zunickgefiihrt werden kann. Logos heiBt zunachst nicht mehr als „Wort", erhielt aber im Laufe der philosophischen Debatte zwei umfassendere Bedeutungen: Zunachst einmal in der aristotelischen Version als Fahigkeit des Menschen, mit Hilfe der Vernunft zu universellen Einsichten in die GesetzmaBigkeiten von Natur und Gesellschaft zu gelangen und zum anderen bei den Stoikern als Glaube an die Existenz einer universellen gottlichen Vernunft, die sich in Natur und Gesellschaft entauBert und von daher verstandesmaBig erfasst werden kann. Diese Vorstellung wurde v o m Christentum aufgegriffen und fand spater in der Lehre vom Weltgeist bei Hegel ihren vorlaufigen Endpunkt. Diese „metaphysische" Interpretation ging also von der Idee aus, dass es eine einzige, umfassende und objektive Vernunft gibt, die die Welt verniinftig strukturiert und sich, wie bei Hegel, im Laufe der Menschheitsgeschichte entfaltet und schUeBHch alle Gegensatze aufhebt (Bonacker 1997, Brentel 1999). Wahrend in der metaphysischen Interpretation der Rationalitat der Mensch eigentUch nur die Verniinftigkeit der Welt erkennen lernen muss, verschiebt sich mit der Modernisierung die Auffassung iiber Vernunft und Rationalitat hin zu einer aktiven Komponente: Von einer automatischen Durchsetzung eines Weltgeistes kann nun keine Rede mehr sein. Der Mensch muss selbst Verniinftigkeit in die Welt bringen, sie nach eigenen Regeln gestalten. Dabei verHert der Begriff der Vernunft an Substanz und Einheit: Teikationalitaten durch gesellschaftliche Differenzierung sowie die Prozesse der aktiven Veranderung hin zu einer verniinftigen Welt riicken in den Vordergrund. Im 20. Jahrhundert entsteht so die Auflosung der „objektiven Vernunft" und die Hinwendung zur aktiv handelnden Vernunft (Brentel 1999, S. 23), die allerdings noch einmal eine theoretische Spaltung erfahrt: Z u m einen erfolgt eine Wende zum „methodischen RationaHsmus", bei dem die Vernunft zu einer „Eigenschaft menschlichen Denkens, Sprechens

Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

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und Handelns in einer prinzipiell vernunfdosen auBeren Realitat geworden ist" (Brentel 1999: 24). Rationalitat wird zur Fabigkeit und Kompeten^ zum Vermogen von Personen, die iiber bestdmtnte Handlungsmoglichkeiten — z.B. iiber zweckrationales Verhalten — verfugen, namlich Ziele auf koharente und konsistente Weise mit geeigneten Mitteln zu verfolgen. Diese Linie ist dann in der utilitaristischen Tradition und hier insbesondere in der Theorie rationaler Wahlhandlung ausgefuhrt worden. Rationalitat wird zum Kompetenzbegriff. Die Vorstellung einer verniinftigen Welt wird aufgegeben. Dies ist bei den Vertretern einer ^^esellschaftlkhen Kationalitdf vollig anders. Diese Interpretation ist „deontischen, universalistischen und anerkennungstheoretischen Traditionen" verbunden (Brentel 1999, S. 33). Habermas Kommunikationsphilosophie (Habermas 1981) und Apels Diskursethik (Apel 1976) verkorpern diese Interpretation am deutHchsten. Eine objektive, substantiaUsierte Vernunft gibt es hier zwar nicht mehr, trotzdem kann die Welt verniinftig gestaltet werden. Dies bedeutet konkret zum Beispiel, das Konfliktpotential in der GeseUschaft iiber Integration zu reduzieren. Dabei spielen die Moral, die gemeinsamen Werte, im Konzept eine wichtige RoUe. Die Moglichkeit, iiber Prinzipien der wechselseitigen Anerkennung „Sittlichkeit" in die Welt zu tragen und so die Welt rational und verniinftig zu machen, ist in dieser Tradition explizit vorgesehen. In der utilitaristischen Version des „okonomisch-strategischen Handelns" dagegen ist eine solche gesellschaftsweite Dimension der Rationalitat abwesend. Hier handelt es sich u m eine subjektive Rationalitat, die auf den Grundlagen des .^methodologischen Individualismus'' steht. Innerhalb dieses Spannungsfeldes zwischen einem universeUen, gesellschaftHchen RationaHtatsbegriff und einem subjektiven, individuaHstischen RationaHtatsbegriff sind Luhmanns und Essers Vorstellungen zu verorten. Es wird sich zeigen, dass Luhmanns RationaHtatsbegriff zwar aufgrund seiner Ansiedlung auf der Makroebene starker in die Richtung der gesellschaftUchen Vernunft geht, dabei aber zum Teil ganz eigene Akzente setzt. Er grenzt sich im Grunde genommen gegen beide Traditionen ab und wendet sich erst der funktionalistischen Interpretation Talcott Parsons zu, u m dann, nach der autopoietischen „Wende", einen Begriff der „okologischen RationaHtat" zu entwickeln, der die Wechselbeziehung zwischen Systemen ernst nimmt. Esser ist ganz zweifellos der utiHtanstischen Interpretation zuzurechnen; er halt sich aber ebenfaUs zugute, iiber den rein individuaHstischen und instrumenteUen Charakter dieser Tradition hinauszugehen und mit Hilfe von Konzepten wie „begrenzte RationaHtat" sowie der „subjektiven Werterwartungstheorie" (WETheorie) eine „aufgeklarte Version" von utiHtaristischer RationaHtat zu entwickeln. Ich meine, dass beide Theorien trotzdem etwas Gemeinsames haben, das sie grundlegend von den beiden anderen RationaHtatskonzepten unterscheidet: das ist die Bindung von RationaHtat an evolutionstheoretisches Den ken. Bei Luhmann fiihrt dies zur Betonung von Komplexitat, Kontingenz und Auto-

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poiesis als Grundlagen der Rationalitat, bei Esser zur Rechtfertigung der Zweckrationalitat als evolutional liberlegenem Handlungsprinzip. Trotz der epistemologisch vollig unterschiedlichen Herangehensweise^ und — so meine Ausgangshypothese — auch unterschiedlichen Rationalitatskonzepte, verbindet Esser und Luhmann somit das Gedankengebaude der Evolu-

2

Esser ist einer kausal-nomologischen Erklarung, Luhmann einer konstxuktivistischfunktionalistischen Erklarung verpflichtet (siehe Kneer 2003). Luhmann wendet sich seit Iangem sehr deutlich (siehe Luhmann 1970) gegen Theorien wie Rational Choice, die auf Axiomatik und KausaUtat nach dem Hempel-Oppenheim-Schema funktionieren. Zwar sei dies legitim, aber es lieBe sich hierauf keine einheitdiche Theorie des So^ialen griinden. Diese Schlussfolgerung basiert vor allem auf seiner Entscheidung, soziale Systeme als Sinnsysteme zu behandeln. Gerade diese seien kausalgesetzlich nicht auf spezifische Ursachen 'zuriickzufiihren. Ihre interne Kausalstruktur sei so komplex und variabel, „dass jeder Versuch, bestimmte Ursachen mit bestimmten Wirkungen zu korrelieren, ceteris paribus Annahmen machen muss, die von vornherein nur minimale Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen konnen" (Luhmann 1970, S. 129). Luhmann kampft gegen die Annahme monokausaler Verhaltnisse und pladiert fur „Offenheit": Konstatierte Kausalbeziehungen konnten auch ganz anders sein, ja der Kausalitatsbegriff soil gar auf eine „heuristische, strategische, vergleichende Kategorie" umgestellt werden, die immer auch andere Moglichkeiten zulasst. KausaUtat ist immer schon Selektion und damit auch Konstruktion. Hierauf lassen sich dann aber keine unumstoBlichen Wahrheiten griinden. Stattdessen brauchen wir funktionale Analysen, die den „Sinn von Ereignissen erhellen" konnen, „namHch den strukturell-umrissenen Bereich von Moglichkeiten, von denen eine sich ereignete" (Luhmann 1970, S. 130). Esser halt dagegen mit seinem Dreischritt von Logik der Situation, der Selektion und der Aggregation an der Moglichkeit, GesetzmaBigkeiten und Unear-kausale Beziehungen zu finden, fest (siehe insbesondere Esser 1993, Kap. 6 und 7 und Esser 1999, Kap. 6). Erklarung Hegt dann vor, wenn ein Explanandum „logisch aus den Randbedingungen und einem Gesetz ableitbar" ist (Esser 1999 S. 205). Die Analogie zur naturwissenschaftlichen Erklarung ist hier eindeutig. Esser steht fest auf den FiiBen des Hempel-Oppenheim-Schemas, sieht dies aber schlieBlich nur als Mittel, um Makrophanomene mit Hilfe der Transformationsregeln und -bedingungen erklaren zu konnen (Esser 2000a, S. 13-29). Essers Anspruch geht auch insofem weiter, als er zwar in diesem Punkt nicht die Briicke zur funktionalistisch-konstruktivistischen Methode, wohl aber zum „interpretativen Paradigma" schlagen will. Dies findet sich in dem Ansatz der dcppelten Hermeneutik wieder, den er nach Alfred Schiitzs „Konstruktionen erster und zweiter Ordnung" entwickelt (Esser 1999, S. 211): Akteure erkennen sich selbst Sinn zu und richten sich nach ihren subjektiven Praferenzen. Davon zu unterscheiden sind die Konstruktionen der Wissenschaftler, Handeln zu erklaren, wie z.B. die Annahme des homo oeconomicus. Gute wissenschaftliche Modelle sind solche, die die Alltagskonstruktionen der handelnden Menschen aufnehmen konnen und zwar auf korrekte Weise (Esser 1999 S. 212). Diese Leistung miissen Naturwissenschaftler nicht vollbringen. Es bedarf also eines „hermeneutischen" Verstandnisses der realweltlichen Konstruktionen wirklicher Akteure. Erkenntnis basiert auch immer auf Hermeneutik, auf Interpretation. Zumindest hier zeigt sich eine Differenz zu den naturwissenschaftlich-analogen Modellannahmen wie sie in der neoklassischen Rational Choice Theorie zu finden sind, wenn dies auch nicht ausschlieBt, die „Regeln der objektiven kausalen Erklarungen" anzuwenden (Esser 1999, S 214-215). Das interpretative Element schafft Distanz zu diesem Modell, weil es — wie im iibrigen bei Luhmann — moglich wird, den „Sinn von Ereignissen" zu erhellen und Kontingenz in das ModeU einzubeziehen.

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Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

tionstheorie und grenzt sie damit von der gesellschaftlichen und utilitarischsubjektiven Rationalitat ab. Die folgende Ubersicht halt diese unterschiedlichen „Spielarten" von Rationalitat fest.

Spielarten det Rationalitat

Metaphysische Rationalitat

Makroebene

Gesellschaftliche Rationalitat

Mikroebene

Utilitaristische Rationalitat

Luhmann

Funktionalistische Rationalitat

Okologische Rationalitat

Begrenzte Rationalitat

t Essef

3 D i e Entwicklung des Rationalitatsbegtiffs bei Patsons U m den Luhmannschen Zugang zur Rationalitat zu verstehen, ist es niitzlich zu wis sen, dass sich die Systemtheorie seit Parsons vor allem gegen die utilitaristische Lehre abgrenzte, um genau das Element wieder in die Diskussion einzufuhren, das im Mittelpunkt der geseUschaftHchen Rationalitatskonzeption steht, namlich die Werte. In einem lesenswerten Ubersichtsartikel zeigt Stichweh (1995), wie Parsons die utilitaristische Handlungstheorie in seinem Systemmodell transzendiert, indem er Normen und Werte als „innere" und nicht als auBere Umwelt des Handelns sieht, u m so den Weberschen Begriff der Wertrationalitat nicht als einen Typus des Handelns neben dem Typus der Zweckrationalitat stehen zu lassen, sondern beide Typen unter ein theoretisches Dach zu bringen. Handlungen sollten auf Zwecken und auf Werten basieren, wobei in der Parsonschen Konzeption die Werte in der Hierarchic ganz oben stehen, wahrend Ziele und Mittel am unteren Ende der Hierarchic angesiedelt sind.

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Diese Integration von Werten (und Normen) in das Handlungskonzept hat viel spater auch in den Theorien rationale! Wahlhandlung und hier insbesondere auch bei Esser eine wichtige Rolle gespielt und 2u einer Korrektur der Theorie gefuhrt. N o r m e n und Werte wurden endogenisiert und auf dem Grundgeriist der Nutzenmaximierung interpretiert (siehe z.B. Buchanan and Tullock 1962, Margolis 1982, Axelrod 1988, Coleman 1990; siehe hierzu auch Brentel 1999, S. 38). Esser selber — so viel kann bereits gesagt werden — wendet sich hier von der die Rational Choice Theorie dominierenden neo-klassischen Interpretation hin zur klassischen Okonomie, wie sie von Adam Smith und David H u m e vertreten wurde. Sein anhand von Kahnemann und Tverskys sowie Lindenbergs Theorie entwickelter Begriff der „Frames" dient dazu, Normen und Werte als Bestandteil der Wahl von Akteuren zu etabUeren, ohne dabei, wie viele andere Autoren, „Sittlichkeit auf NiitzHchkeit" zu reduzieren (Brentel 1999, S. 38). Mit dem Begriff der Frames offnet Esser die Theorie fiir „geseUschaftlich relevante Einfliisse" und versucht diese in das ModeU zu integrieren, ohne eine Hierarchie herzustellen, wie sie sowohl von Parsons (Werte vor Zwecken und Mitteln) wie von der Rational Choice Theorie (Zwecke und Mittel vor Werten) vertreten wird. Parsons ging aUerdings noch weiter — und hier beginnt sich die Systemtheorie deutHch v o m utilitaristischen wie vom metaphysischen RationaHtatsbegriff zu unterscheiden: RationaHtat wird namHch weder als umfassende und universale Handlungskompetenz noch als objektive Vernunft verstanden, sondern als „geschichtsabhangige gesellschaftUche Institution" (Stichweh 1995, S. 397). An eine Handlung kann jetzt die Erwartung gestellt werden, dass sie rational ist. Andere Erwartungen sind aber auch moglich. Es hangt also von den so^alen Erwartungen ab, die in bestimmten gesellschaftHchen Bereichen institutionaHsiert sein konnen, ob RationaHtat gefragt ist anstatt von „Spontaneitat, Expressivitat, Selbstverwirklichung etc." (Stichweh 1995, S. 397). Nach Stichweh wechselt so bei Parsons RationaHtat auf die Seite der Normen, Werte und Institutionen. Und dies erst erzwinge den Wechsel zu einer Systemtheorie, weil „jetzt aUe Bedingungen des Handelns (inklusive von RationaHtat) im System des Handekis zu explizieren sind" (Stichweh 1995, S. 397). AUes andere - Biologic, Physik usw. — werden „Umwelten des Handelns, so dass System/Umwelt als eine universaHstische Leitunterscheidung die Unterscheidung Akteur/Situation verdrangt" (Stichweh 1995, S. 397). Der entscheidende Gedanke, den wir schHeBHch auch bei Luhmann wiederfinden, ist, dass RationaHtat de-subs tan tiaHsiert, in einen geschichtHchen Prozess eingebunden und an institutionaHsierte Erwartungshaltungen gebunden wird. Damit grenzt sich die Systemtheorie, wie gesagt, von den VorsteUungen einer metaphysischen RationaHtat ab, aber auch von der methodischen Annahme der Theorien rationaler WahUiandlungen, dass RationaHtat als uni-

Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

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versale und omniprasente Kompetenz alle Handlungen begleiten miisse. Sie ist nach Parsons nur eine der moglichen Modi des Handelns. Die System/Umwelt-Unterscheidung ist der entscheidende Perspektivenwechsel, der dann zur funktionalistischen Rationalitat bei Luhmann fiihrt. Im Handlungssystem („action frame of reference'*) finden sich jetzt alle Bedingungen des Handelns (das heiBt also alle moglichen sozialen Erwartungen), die unterschiedliche Handlungsmodi erlauben.

4 Essets Rationalitatsbegriff im Vefgleich 2ut Systemtheotie Patsons Es ist interessant, an dieser Stelle die Esserschen Vorstellungen von Rationalitat mit der Parsonschen Konzeption zu vergleichen: Esser sieht Rationalitat ganz in der utiHtaristischen Tradition als universale Kompetenz der Menschen, die beim Handeln grundsatzlich in Anspruch genommen wird. Er geht sogar noch weiter als die Rational Choice Theorie in der Tradition von Milton Friedman (Friedman 1968 (1953)), der Rationalitat ledigHch als „Als-ob"-ModeU einfiihrt, das stimmen oder nicht stimmen mag, aber seiner Meinung nach angewandt werden kann, solange es gute Vorhersagen ermogUcht (vgl. Braun 1998). Esser schlieBt sich einem anderen theoretischen Zugang an, den MacDonald mit .^domain response'' bezeichnet (MacDonald 2003). In dieser Fassung von utilitaristischer Rationalitat verhalten sich die Menschen auch in WirkHchkeit rational. Rationalitat ist nicht nur eine methodische Annahme. Dies stimmt mit Essers VorsteUung einer doppelten Hermeneutik liberein (siehe FuBnote 2), bei der Erklarungen auf mit den AUtagstheorien von realen Menschen ubereinstimmenden Konzepten beruhen miissen. Rationalitat — die bei der „Logik der Selektion" zur Anwendung kommt und bei Esser das aUgemeine Gesetz ist, nach dem die Handlungsalternativen ausgewahlt werden, die den vom Individuum aus gesehen maximalen Nutzen versprechen"^ — ist ein Prinzip der Evolution, das am besten die Reproduktion der menschlichen Spezies ermoglicht (siehe z.B. Esser 1993, 1999, S. 223-224 und S. 317-318). Esser spricht von einer rationalen Logik der Selektion, „wenn der Akteur bei seinen Selektionen fiir die Gewichtung der moglichen Alternativen nach seinen Zielen und Erwartungen eine bestimmte Regel anwendet: die

Genauer (Esser 1999, S. 297): „Erstens hat jeder Akteur eine klar definierte Menge von A.ltematmn vor sich, aus denen eine ausgewahlt wird. Jeder Akteur verfiigt iiber eine klar definiert, konsistente und vollstandige Praferenzordnung fiiir alle nur denkbaren Situationen, die durch sein Handeln eintreten konnten [..] Drittens wird angenommen, dass jeder Akteur alien kiinftigen Ereignissen eine gemeinsame und konsistente Verteilung von Wahrscheinlichkeiten zuweisen kann. Es wird schlieBlich die Alternative gewahlt, die den aus den Praferenzen und Wahrscheinlichkeiten gebildeten erwarteten Nutzen maximierf' (Hervorhebungen im Text).

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Maximiening der Nutzenerwartung" (Esser 1999, S. 216). Nicht die Wkklichkeit ist hier rational, aber die Handlungen der Menschen sind es. Derjenige, der die Kegel nicht anwendet, wird damit konfrontiert, dass er Schaden erleiden wird und seine physischen und sozialen Grundbediirfnisse (Essers grundlegende Ausgangspunkte der Handlungsmotivation) nicht befriedigen kann. Dies wird ihn lehren, sich an Rationalttat zu halten. Eine Handlung kann demnach aus der Sicht eines neutralen Beobachters volHg unzutreffend sein und gerade nicht zu der beabsichtigten Wirkung des Akteurs fuhren, trotzdem kann sie nach dieser Definition rational sein, weil der Akteur sich bei der Wahl an das Prinzip der Nutzenmaximierung gehalten hat. Er hat lediglich die Randbedingungen falsch eingeschatzt. Das ist ein Irrtum, aber nicht irrational. Esser folgt hier nicht den heroischen Rationalitatsannahmen des homo oeconomicus, sondern integriert sowohl die Arbeiten von Herbert Simon und James March iiber die ,,begren^e Rationalitdf in seine Analyse wie auch Webers ,,subjektive Vemunff\ u m dem „wirklichen Menschen gerechter" zu werden (Esser 1999, S. 314, S.340ff). Die Theorie der begrenzten RationaHtat heiBt fiir Esser, dass sich Akteure in vielen Situationen anhand von bestehenden Interpretationsmustern und Routinen entscheiden und keine umfangreichen Suchaktionen nach den Nutzen maximierenden Losungen starten. Im Normalfall reicht Routine und nur in „high-cost"-Situationen erscheint der neoklassische homo oeconomicus. Dies wiederum ist fur Esser evolutionar optimal: „Das so skizzierte VerhaltensmodeU gibt es nicht aus purem Zufall oder aus einem Versehen der Evolution. Im Gegenteil. Es spiegelt eine tiefe Vernunft des okonomischen Umgangs mit knappen Mitteln wieder: die Vernunft, sich in einer nicht einfachen una im Prinzip unfreundlichen Umgebung auf die jeweils nachst-wichtigen Dinge zu konzentrieren und einmal erfolgreiche und erprobte Losungen zu habituaHsieren, sich zu merken und bei der nachsten ^passenden' Gelegenheit wieder hervorzuholen und zu benutzen" (Esser 1999, S. 354). Aus dieser Uberlegung heraus entwickelt Esser dann seine wichtige Unterscheidung der „automatisch-spontanen Reaktion" und der „reflexiven Reaktio n " (Esser 2001, Kap. 7), die aber an dieser Stelle nicht weiter interessieren muss. Webers „subjektive Vernunft" eroffnet die „Sinndimension", die interpretative Dimension. Akteure geben jeder Handlung einen „subjektiven Sinn", den es so gut wie mogHch in der Theorie zu ermitteln gilt (siehe zur doppelten Hermeneutik FuBnote 2). Die subjektive Werterwartungstheorie (WE-Theorie), der Esser sich zuwendet, beriicksichtigt diesen subjektiven Sinn, weil sie nicht versucht, von auCen Handlungsmotive in die Akteure hinein zu interpretieren, sondern die

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Bewertungen und Erwartungen der Akteure als Variablen in ihr Modell aufnimmt. Wie Akteure Situationen bewerten, kann nicht a priori bestimmt werden. Wis sen konnen wir nur, nach Esser, dass Akteure eine Wahl treffen werden anhand ihrer Erwartungen und Bewertungen und dass diese Wahl rational sein wird, namlich sich am besten Nutzen-Kosten-Verhaltnis der Alternativen 2u orientieren. Esser und die subjektive WE-Theorie vertreten damit, was ich eine ^^aufgekldrte Version der V^tionalitdf genannt habe (Braun 1998, S. 37), die im Gegensatz zur „radikalen Version der Rationalitat" steht. Im let2teren Fall wird angenommen, dass die Akteure ausschlieBlich ihren okonomischen Vorteil suchen. Maximierung heiBt hier die Vermehrung von Giitern wie Macht, Einkommen und Besitz. Der Rationalitatsbegriff ist also eng mit der Vorstellung des Egoismus verbunden, der Ichbezogenheit des Handelns. Auf dieser Grundlage kann dann auch vom wissenschaftlichen Beobachter unterstellt werden, welche Erwartungen und Bewertungen die Akteure haben. Dies ist bei der WE-Theorie nicht mehr gegeben. Sowohl Egoismus wie Altruismus sind moglich. Eine Orientierung an Werten der sozialen Gruppe kann sehr rational sein, weil im Fall des Zuwiderhandelns hohe Kosten entstehen konnen. Die WE-Theorie ermoglicht es Esser, die normative und kulturelle Dimension im Modell zu beriicksichtigen. Die radikale Version der Rationalitat hatte hier immer Schwierigkeiten. Essers Rationalitatsbegriff ist zwar offen fiir die Bedeutung von Werten und N o r m e n fiir die Handlxingswahl. Handlungen sind aber nicht eine „brave oder durch Sanktionen erzwungene Befolgung sozialer Normen". Esser folgt hier nicht der Parsonsschen Hierarchie. Der utilitaristische Rationalitatsbegriff las St dies auch nicht zu, weil das Rationalitatskalkiil im Grunde genommen Selbstbestimmung voraussetzt. Ein „social dope" ist hiermit nicht vereinbar. Entscheidungen Hegen immer vor und dabei kann sich der Akteur fiir oder gegen etwas entscheiden. Trotzdem ist der Akteur bei Esser nicht vollig frei, sondern eingebettet in „objektive Umstande", die definieren, was gewollt werden muss, u m das physische und soziale Wohlbefinden zu maximieren^. Sie definieren auch, wie das Wohlbefinden erreicht werden kann. Esser baut hier auf marxistischen und okonomischen Analogien auf: Er bezeichnet die Abhangigkeit der Akteure von den objektiven Umstanden als ^^so^ale Produktionsfunkti-

Dies sind die beiden grundlegenden, natiirlichen Triebe des Menschen. Das Soziale, das Normative, wird so in die Bediirfnisstruktur der Individuen aufgenommen. Esser arbeitet dies in Esser 1999, S. 93 aus. Fiir ihn sind diese beiden Bediirfnisse allgemeine und hinreichende Bedingungen menschlichen Funktionierens, weil sie aus den biologischen und pwSychosozialen Bedingungen der Reproduktion des menschlichen Organismus entstehen. Esser rekurriert immer wieder auf diese Grundbedingungen des Organismus, um seine Theorie zu entfalten. Dies zeigt noch einmal, dass er sein Modell fiir realistisch halt

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^/^"^, u m auszudriicken, dass Akteure Nutzen „produ2ieren" und dass hierfur Produktionsbedingungen (das sind die gesellschaftlichen, kulturellen und institutionellen Bereiche wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik — ganz in Anlehnung an Luhmann definiert) und die Produktionsmittel (die prknaren ^ und indirekten Zwischengiiter "^ notwendig sind (siehe Esser 1999, Kap. 3). Je nach gesellschaftlichem Bereich gibt es also unterschiedHche soziale Produktionsfunktionen, streben die Akteure nach anderen Zwischengiitern (wie der Wahrheit itn Wissenschaftsystem (primares Zwischengut) und Geld von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) (indirektes Zwischengut)). Das verbindende Element ist lediglich, dass die Motivation hierzu jeweils gleich ist, namlich sich ein Maximum an sozialer und physischer Wertschatzung zu verschaffen. Die Akteure miissen sich ledigHch an die „Situation" anpassen und auf „intelligente" Weise ihre „eigenen Intentionen in ein sinnhaftes Handeln" umsetzen^. Akteure sind also nicht unabhangig, sondern eingebettet in Produktionsbedingungen, die wiederum ia sinnhafte Bereiche ausdifferenziert sind. Dies erinnert an Parsons. Esser sieht aber, wie gesagt, Rationalitat als Wahlhandlung, die in jedem Bereich alien Handlungen zugehorig ist. Trotzdem lassen sich weitere Briicken zu Parsons an dieser Stelle schlagen: Esser erkennt namHch durchaus

Der Begriff der Produktionsfunktion stammt aus der Okonomie und deutet an, dass jede Produktion von Nutzen abhangig von den Produktionsfaktoren, vom Input, ist. Dies lasst sich als Produktionsfunktion Y=f(x) ausdriicken. Der Nutzen ist abhangig vom Einsatz der Produktionsfaktoren. 6

Esser 1999, S. 97: „Soziale Wertschatzung und physisches Wohlbefinden erlangen Menschen nur^ wenn sie iiber Eigenschaften, Ressourcen, Objekte, Giiter oder Leistungen verfugen, die andere Menschen dazu bringen, ihre Anerkennung auszudriicken, oder die fiir eine befriedigende biologische Reproduktion wichtig sind". Zwischengiiter heiBen sie, weil sie „zwischen den Bedingungen der Situation und dem obersten Gut ..., dem Nutzen, vermitteln" (S. 98). Sie kann man unmittelbar zur Produktion des Nutzens verwenden. Sie sind also Produktionsfaktoren. Dies sind praktisch die Produktionsmittel wie eine Stelle an der Universitat, Geld von der DFG usw. Die primaren Zwischengiiter sind ja nicht einfach da, sondem miissen produziert werden, namlich „unter Einsatz von Talent, Zeit und einer Reihe vieler anderer nichtprimarer Zwischengiiter, die teilweise erst noch auf verschiedenen Markten erworben werden miissen" (Esser 1999, S. 105). AUe moglichen Ressourcen, Objekte, Ereignisse und Leistungen konnen zu solchen indirekten Giitern werden. Diese Giiter sind meist knapp. GrundsatzUch knapp ist vor aUem die Zeit. Esser 1999, S. 98: „Kurz: Fiir die Erlangung von sozialer Wertschatzung und fiir das physische Wohlbefinden ihres Organismus miissen die Menschen meist etwas tun. Was sie dafiir tun miissen, liegt nicht fiir alle gleich fest, sondern ist stets spef^^ell begrenzt und geregelt Und zwar insbesondere in dtt gesellschaftlichen „Definition" von Eigenschaften, Ressourcen, Objekten, Giitern, Ereignissen und Leistungen, die zu sozialer Wertschatzung und physischem Wohlbefinden fiihren. Hier ist die Grenze des Organismus erreicht, an der er sich im Interesse der Nutzenproduktion an seiner natiirHchen und sof^alen Umwelt orientieren muss'' (Hervorhebungen im Text).

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an, dass es bestknmte gesellschaftliche Bereiche gibt, die einen bestdmmten Modus des Handelns, zum Beispiel Zweckrationalitat verlangen (wie z.B, in der Wirtschaft), wahrend Wertrationalitat im Weberschen Sinne in ganz anderen Kontexten dominant werden kann. U m dies genauer zu verstehen, muss noch ein anderer Begriff Essers genauer ausgefiihrt werden, namlich der Begriff des ^JPrames'': Akteure miissen sich, wenn sie erfolgreich handeln wollen ~ bei Esser ist aber auch durchaus erfolgloses Handeln moglich —, an den Produktionsbedingungen orientieren. Das heiBt fur Esser, die soziale Umgebung bzw. die soziale Situation mit den existierenden sozialen Regeln zu verstehen. Wenn man die Situation falsch interpretiert, also z.B. als Wissenschaftler nur aufs Geldverdienen aus ist, wird man nicht erfolgreich sein. Die sozialen Regeln steuern, sagt Esser (1999, S. 101) die „situationsJ;^^^J'A Effizienz der sozialen Produktionsfunktion"'. Der jeweils richtige „soziale Sinn" einer Situation muss verstanden werden. Dieser Sinn ist „ob)ektiv" vorgegeben, weil er auf institutionellen, normativen und kultureUen Fundamenten beruht, die supraindividuell sind. Die Interpretation bleibt aber subjektiv. Man kann sich irren oder auch richtig lieU m soziale Situationen nun richtig zu deuten, verfiigen die Akteure iiber angelernte Gedankenmodelle, „gedankliche Prototypen, die die Akteure miteinander teilen und individuell in ihrem Gedachtnis, in ihren Einstellungen, in ihrer Identitat gespeichert haben". Dies sind die so genannten „Frames", die der Akteur abrufen kann und die die primaren Zwischengiiter in einer Situation verstandlich machen^. Sie sagen, was zu tun ist^^. Insbesondere enthalten Frames aber das Oberziel, um das es dann in einer sozialen Situation geht. Das Oberziel definiert den funktionalen, kulturellen oder normativen Code des Frames, (vgl. hier Esser 1999, Kap. 6.7, 2000a, Kap. 3). Codes legen die Rahmung des „primaren" Sinns der Situation fest (Esser 1999, S. 103). Damit sind sie auch verantwortlich fur die Bewertungen von mogHchen Handlungsergebnissen und fiir eine bestimmte Praferenzordnung (Esser

Der Begriff stammt aus der Kognitionspsychologie und wurde in der Soziologie von Lindenberg (Lindenberg 1989, 2000) eingefiihrt. Zwischen Esser und Lindenberg gibt es aber, was die genaue Definition der Frames betrifft, Unterschiede, die hier nicht naher ausgefiihrt zu werden brauchen. Ein Frame ist fiir Esser ein „kulturelles System" (Esser 2001, S. 261). Esser nennt auBerdem Skripte als die Handlungsprogramme, die an Frames angebunden sind. „Frames und Skripte sind im Gedachtnis gespeicherte, mit spezifischen Inhalten verbundene, die Wirldichkeit drastisch vereinfachende und auf gewisse Aspekte zuspitzende gedankliche ModeUe von typischen Situationen bzw. von t}^pischen Handlungssequenzen" (Esser 2001, S. 262). „Soziale Normen und vor aUem die sozialen Rollen sind die wichtigsten institutionellen Grundlagen der Frames und der Skripte" (Esser 2001, S. 262). Wie es zu tun ist, ist Sache der Skripte.

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1999, S. 263). Die Codes sind also „normativ geforderte Orientierungen", die die Situation „ra]inien" (Esser 1999, S. 228). Der Akteur wendet, wenn er klug ist, diesen Code an, weil er namHch nur dann Aussicht auf Erfolg und das heiBt auf VerwirkHchung seines Nutzens hat. In der Wirtschaft z.B. — und damit komme ich auf die ZweckrationaUtat zuriick — ist es klug, im Sinne von effizient und zweckrational zu agieren (Code). „AhnItches gilt fur gewisse Emotionen, die, etwa in der Liebe oder am offenen Grab, in genau bestimmter Weise erwartet werden" (Esser 1999, S. 228). Codes sind in dieser Funktion ein Teil der subjektiven Definition der Situation. Codes und „Skripte" bzw. „Progranime" fuBen aber in den Institutionen der GeseUschaft und im „damit jeweils verbundene(n) kulturelle(n) Be^ugsrahmen des Handekis" (Esser 1999, S. 103). O b z.B. Forschung soziale Wertschatzung erfahrt, hangt von der Existenz eines eigenen institutionellen Bereichs ab — namHch der der Wissenschaft. Hier kommt Esser also konkret auf die Differenzierung der GeseUschaft zu sprechen. Fiir ihn gibt es im Unterschied zu Parsons und Luhmann aber zahllose Moglichkeiten der Herausbildung solcher institutionellen Bereiche^^. Aber einige davon sind die wichtigsten, namHch die, die sich um die soziale Differenzierung der GeseUschaft herum organisieren (siehe hierzu Esser 2000a, S. 7Iff). Und diese Bereiche stimmen weitgehend mit den Luhmannschen TeUsystemen iiberein. Das Konzept der Frames erlaubt es Esser, die Sinnhaftigkeit der GeseUschaft mit in sein ModeU aufzunehmen, ohne deswegen, wie Luhmann, auf ein Kommunikationsparadigma zu rekurrieren. Bei Esser sind Frames gleichsam verdichteter, von den Menschen gemachter, aber nicht geplanter Sinn, der den Akteuren gegeniibertritt und sie verbindet im Sinne von: in Bande schlagt. Diese Bande sind zwar keine FesseHi — jeder kann sich anders verhalten als gewiinscht —, aber wenn man seine Grundbediirfnisse befriedigen wiU, dann ist es geraten, die sozialen Regeln einer Situation zu verstehen und sich anzupassen. Der Unterschied zum h o m o sociologicus von Parsons besteht hier in der Fahigkeit der Akteure, klug zu sein. Bei Parsons entkommt man kaum der Hierarchic im Handlungssystem. Bei Esser kann es passieren, dass Werte und N o r m e n auBer Acht gelassen werden. Sie haben aber hohe Wirkungskraft, da sich Akteure aus Eigennutz auf die Befolgung sozialer Regeln einlassen miissen. Im tatsachHchen Handeln gibt es also wohl nicht mehr so viele Unterschiede zwischen der Parsonschen und der Esserschen Konzeption: Werte und N o r m e n — die ja bei Esser die Fundamente der Frames sind — sind iiberaU wirksam und gestalten das Handeln wesentHch mit.

Esser 1999, S. 104: „Es gibt so viele und so unterschiedliche pritnare Zwischengiiter, wie es Moglichkeiten der Institutionalisierung gesellschaftlicher Bereiche gibt".

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Wenn man Rationalitat als Zweckrationalitat versteht — also als effizienter Mitteleinsatz zur Verwkklichung von subjektiven Zielen —, dann zeigen sich auch hier groBe Ubereinstknmungen zwischen Esser und Parsons: Es gibt ausdifferenzierte Sinnbereiche, wo Zweckrationalitat — im Unterschied zu anderen Modi des Handekis, wie z.B. Emotionen zeigen — eine herausragende Rolle besitzt. Fiir Esser ist dies aber kein Grund, nun zur Systemtheorie zu wechseln, u m alle diese unterschiedlichen Modi des Handelns zu verstehen. Sein Konzept der RationaHtat ist nicht gleichzusetzen mit Zweckrationalitat (Esser 1999, S. 197ff, S. 244ff). Essers Grundidee ist die folgende: Er stimmt mit Weber (und Parsons) darin iiberein, dass man unterschiedHche Handlungstypen unterscheiden kann (also nach Weber Zweckrationalitat, Wertrationalitat, affektives und traditionales Handeln; Esser 1999, S. 224ff). Und er ist sich auch mit Parsons darin einig, dass man diese unterschiedlichen Handlungstypen nicht einfach nebeneinander stehen las sen und somit unterstellen sollte, dass Akteure nach BeHeben zwischen diesen Typen wechseln konnen. Es bedarf einer Erklamng, eines iibergreifenden Theoriegebaudes, das allgemeine Regeln enthalt, die verstandlich machen, wann welcher Typus dominant ist. Bei Parsons ist dies die Systemtheorie und die Einbettung der Typen in eine Hierarchic, bei der die Werte ganz oben stehen. Fiir Esser ist es ein allgemeines Gesetz, das die „Logik der Selektion" anleitet. Dieses allgemeine Gesetz lautet: „Subjektiven Sinn gewinnt ein Tun also durch eine optimierende Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen zur Verwirklichung hoch hewerteter Ziele bzw. Zwecke nach MaBgabe von Hrwartungen iiber die TaugHchkeit bestimmter Mittel und iiber die Konsequenzen der verschiedenen denkbaren Alternativen. Das Prinzip der Handlungswahl nach den Regeln der Zweckrationalitat ist das allgemeine Gesetz, das, zusammen mit den subjektiven Erwartungen und Bewertungen iiber Ziele und Mittel, das Handeln erklart — und es dadurch gleichzeitig mit einer hohen „Evidenz" verstandHch macht" (Esser 1999, S. 199, Hervorhebungen im Text). Akteure stehen bei Esser immer vor Wahlentscheidungen, auch vor solchen, die bestimmen, welcher Handlungstypus nun der „richtige" ist (nach MaBgabe der sozialen Produktionsfunktion und des Frames). Sogar die Entscheidung, sich an Routinen zu halten und einfach den Frame anzuwenden, der sich unmittelbar anbietet, ist fur Esser eine Entscheidungsangelegenheit, die allerdings nicht wie in der neoklassischen Version durch die rationale Kalkulation von zukiinftigen Folgen gepragt ist, sondern als eine „besonders kluge Art des verniinftigen Handelns" gesehen werden muss (Esser 2000b, S. 95). Diese kluge Art beruht auf den Erfahrungen, die mit den Frames in der Vergangenheit gemacht wurden. Sie ist insofern mit einer rationalen Handlung vergleichbar, als Routineentscheidungen gleichsam „kurzgeschlossene Kalkulationen" sind.

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„uber Folgen, die man in zuvor vergleichbaren Situationen schon tausendmal ganz handgreiflich erlebt hat" (Esser 2000b, S. 96). Es handelt sich um eine „unbewusste Optitnierung" und diese wird von Esser auch mit dem Begriff der Rationalitat versehen (Esser 2001, S. 33Iff). A n diesem Punkt distanziert sich Esser deutlich von Parsons: Es gibt keine Hierarchie zwischen den Typen und N o r m e n sowie Werte sind keineswegs als hoherrangig oder determinierend einzustufen. Werte und Normen konnen eine wichtige Rolle spielen, aber nur dann, wenn es rationale Griinde gibt, sich ihnen zu unterwerfen. Dieser Grund liegt in der Abwagung, welche Handlung optimal in einer gegebenen Situation ist. Dazu bedarf es der Bewertung und der Erwartungen sowie der „objektiven Umstande". Die Kegel der Optimierung, so Esser abschUeBend, ist das „allgemeinste Gesetz des Handekis" und dutch und durch evolutionar sinnvoll (Esser 1999, S. 241). Damit ist das Ratsel gelost: Es kann geseUschaftliche Bereiche geben wie die Wirtschaft, wo der Handlungstypus ZweckrationaHtat sinnvoll und optimal im Sinne intentionaler Anpassung an die objektiven Umstande ist. Die Akteure entscheiden aber jeweils in der Situation anhand des Optimierungsprinzips, ob dieser Handlungstypus der ZweckrationaHtat der richtige ist oder doch ein anderer. Damit hat Esser gezeigt, dass seine Theorie zumindest was die Reichweite, das „conceptual stretching" betrifft, die von Parsons gestellten Probleme (namHch die Vereinbarkeit von Werten und Zwecken in einer umfassenden Theorie) losen kann. Dies bedeutet nicht, dass seine Theorie auch die letzte Losung fur alle Probleme der Soziologie ware. Sie kann an dieser Stelle aber ihren Anspruch erfiillen, eine „integrative Theorie" zu sein. Man braucht Parsons nicht, um dieses Grundproblem der Handlungstheorie zu losen, wenn man Esser folgt. Dies ist der erste Schritt in der Begutachtung des Esserschen Anspruchs auf Umfassendheit seiner Theorie. Wie sieht es nun in Bezug auf Luhmanns Theorie aus?

5 Rationalitat bei Luhmann und E s s e t Luhmann distanziert sich sowohl vom „individualistisch-handlungstheoretischen Zweckbegriff" wie auch von Parsons Werteschema. Fiir Luhmann ist Parsons nicht radikal genug gewesen, weil er nach wie vor Webers von der utilitaristischen Theorie beeinflusste Handlungstypen als die grundlegende theoretische Herausforderung begriff Hinzu kommt, dass bei Parsons nicht mehr von Zweck- versus Wertrationalitat gesprochen, sondern ein Gegensatz von rational und nicht-rational konstruiert wird. Parsons schrankt den RationaHtatsbegriff damit auf den okonomisch-biologischen ein. Soziologie ist fiir ihn

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die Theorie des Nicht-rationalen und fur Parsons geht es, wie Stichweh schreibt, gerade darum zu erklaren, wie das Nicht-rationale Wirklichkeit iiber das Handeln gewinnt. Die „voluntaristische Handlungstheorie" Parsons „meint damit vor allem eine Zuriickdrangung jeder biologischen Determination und eine Indienstnahme rationaler Kalkiile durch nichtrationale Leitgesichtspunkte" (Stichweh 1995, S. 396). Hierin will ihm Luhmann nicht folgen. Luhmann ubernimmt weder die anerkennungstheoretische Version der Rationalitat von Habermas und ApeP^ noch Parsons Verstandnis von Rationalitat, noch das utilitaristische Konzept. Der friihe Luhmann ^^ will den Zweckbegriff als Kern des Rationalitatskonzepts sowohl vom Zweck-Mittel-Schema (wie bei Max Weber) als auch vom Wertbegriff unabhangig machen. Dies geschieht vor allem in seiner Schrift „Zweckbegriff und Systemrationalitat" (Luhmann 1973), in der der Begriff der „funktionalen Rationalitat" entwickelt wird. Im Folgenden soU dieser Versuch dargestellt werden, bevor die Fas sung der okologischen Rationalitat auf der Grundlage des Kommunikationsparadigmas analysiert wird. 5.1 Funktionale Rationalitat heimfmhen Ijuhmann Der Ausgangspunkt von Luhmann Hegt weit weg vom utiUtaristischen RationaHtatsbegriff. Er grenzt sich sogar expUzit hiervon ab, indem er bestreitet, dass Rationalitat ein an Individuen angebundener Akt sein kann. Rationalitat ist supra-individueU, auf der Makro-, der Systemebene angesiedelt. Jeder „Einzelbeitrag, jede Einzelwirkung oder Zwecksetzung kann fiir sich keine Rationalitat behaupten, sie konnen rational nur sein im Rahmen und nach MaBgabe von Systemreferenzen" (Luhmann 1970, S. 47). Handlungen miissen im Gesamtkontext, mit Verweis auf „ein komplexeres Netz strukturgegebener System-

^2 Hier grenzt sich Luhmann dann deutlich von Habermas ab, der ja Gesellschaft eigendich auch immer noch als Subjekt und im Grunde genommen als potentiell verniinftig beschreibt. Dagegen will die Systemtheorie behaupten, dass moderne Gesellschaften keine Identitat mehr ausbilden konnen. Aus der Sicht von Habermas, so Luhmann, konne man GeseUschaft nicht zureichend begreifen (Luhmann 1984, S. 250). Auf die Frage nach der Rationalitat des Systems muss deshalb nach Luhmann mit einer Anderung der Problemstellung reagiert werden. Auf jeden Fall gibt es in funktional differenzierten Gesellschaften keine Einheit mehr. Dies ist nicht moglich. Niemand kann den Anspruch haben, das Ganze zu vertreten. Dies sind die beschrankenden Bedingungen jeder theoretischen Bemiihung um ein Konzept der Rationalitat (Luhmann 1984, S. 252). i-'^

Allgemein wird der friihe und der spate Luhmann unterschieden. Der spate Luhmann ist durch den Aufbau einer soziologischen Systemtheorie gekennzeichnet, in der der Kommunikationsbegriff zentral ist (siehe dazu vor allem Luhmann 1984).

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probleme" beurteilt werden. Und dies heiBt schlieBlich, dass Rationalitat fur Luhmann funktionalistisch gedeutet werden muss. Sie dient der Bestandserhaltung und der funktionalen ^ffi:(ien^ von Systemen. Luhmann will also weg von der individualistischen HandlungsrationaHtat und gleichzeitig Parsons Einschrankung der RationaHtat auf das „Okonomisch-biologische" aufheben. Die Systemtheorie ist auch bei ihm das geeignete konzeptuelle Instrument hierfiir, aber Rationalitat ist bei ihm umfassender als bei Parsons. Sie ist funktionaler Bestandteil der Reproduktionsfahigkeit von Systemen. Sein Argument ist hier eng an zwei Kernbegriffe angelehnt, namUch Komplexitat und Sinn. Die moderne Welt ist durch eine hohe Komplexitat gekennzeichnet. Wenn man soziale Systeme als Sinnsysteme versteht, wird diese Komplexitat unmittelbar einsichtig, weil Sinn praktisch eine Welt unbegrenzter mogUcher Deutungen eroffnet. Komplexitat ist wichtig, aber eine wesentHche Aufgabe besteht darin — damit die Welt auch handhabbar und nicht von ihrer eigenen Komplexitat verschlungen wird —, diese Komplexitat sinnhaft zu reduzieren, ohne sie allerdings abzubauen. Komplexitat muss fur Luhmann erhalten bleiben. Systeme dienen dazu, diese Komplexitat zu reduzieren, ohne sie abzubauen. Dies vollbringen sie, indem sie ,^sich in einer komplexen und verdnderltchen Umwelt durch Stahilisierung einer InnenIAufien-Differen^ erhal-

ten'^ (Luhmann 1973, S. 175). Systeme bilden so eine hohere Ordnung mit „weniger MogHchkeiten, an der sich das Erleben und Handeln besser orientieren kann" (Luhmann 1973, S. 176). Nur so sind Erleben und Handeln liberhaupt moglich. Diese hohere Ordnung wird durch Sinn gesteuert (Luhmann 1973, S. 176). Das Besondere von Sinn ist, dass so zwar Selektion von einer im Prinzip unbegrenzten Vielfalt von Deutungen geleistet wird und dabei andere mogUche Deutungen ausgeschaltet werden, dass aber trotzdem diese anderen moglichen Deutungen erhalten bleiben. „Der Erlebende und Handelnde wird zwar davon entlastet, aU diese MogHchkeiten zu aktuaHsieren, aber sie bleiben als MogHchkeiten erhalten und fur andere Situationen aufbewahrt" (Luhmann 1973, S. 177). Luhmann ist ganz explizit in seiner Ablehnung von jeder vernunftstiftenden Einheit, sei es in Form einer „ob)ektiven Vernunft" oder in Form von einheitsstiftenden Werten. Damit steUt sich ihm das Problem — oder besser die Funktion — der RationaHtat neu. Fiir Luhmann muss Welt komplex bleiben. Jede einheitsstiftende Funktion wiirde dies aber verhindern. Das Offenhalten von MogHchkeiten und damit Komplexitat geschieht eben iiber Differenzen und Grenzziehungen. Differenzen sind Verweisungszusammenhange, die mal auf die eine, dann wieder auf die andere Seite zeigen konnen. Da im Grunde

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genommen die nicht bezeichnete Seite einer Different die Umwelt bezeichnet, bestehen alle Moglichkeiten der Verweisung, bleibt Komplexitat erhalten^^ Ratdonalitat nun soil nach Luhmann am Erhalt und der Funktionalitat von Systemen mitwirken. „Als rational wiirde danach jedes sinnkonstituierende Erleben. und jedes Handeln zu gelten haben, sofern es zur Losung von Systemproblemen und damit zur Erhaltung reduktiver Strukturen in einer auBerst komplexen Welt beitxagt" (Luhmann 1970, S. 79). Rationalitat ist also funktional fur den Systembestand in einer komplexen Umwelt. Luhmann fuhrt dies am aus der Handlungstheorie stammenden Zweckbegriff aus. Luhmann verwendet den Begriff des Zweckes, u m zu argumentieren, warum es notwendig ist, beim Rationalitatsbegriff von Handlungs- auf Systemtheorie umzustellen. Der Zweck ist die wichtigste Rationalitatskomponente funktional differenzierter Systeme (Luhmann 1973). In der Handlungstheorie ist, so Luhmann, der Zweck die entscheidende Komponente, die das Handeln bewirkt; sie ist vorgestellte Wirkung des Handelns. Und erst durch den Zweck erhalt die Handlung einen Sinn. In der okonomischen Theorie, so fahrt Luhmann fort, wird im AUgemeinen der Zweck nur aus der Handlung als Mittel des Zweckes erschlossen. Direkt beobachten konne man den Zweck ja nicht. Gleichzeitig sind Zwecke subjektiv und damit nicht wahrheitsfahig. Sie sind an einen WiUen und an ein Subjekt gebunden. Dahinter stehe die VorsteUung des freien, sich seine Zwecke selbst wahlenden Subjekts (Luhmann 1973, S. 14)^^ Fiir Luhmann ist diese VorsteUung von Zwecken briichig geworden (Luhmann 1973, S. 10). Fiir ihn bedeutet die Existenz einer groBen Zahl sich frei bestimmender Subjekte eine Steigerung von Komplexitat. RationaHtat konne nur in der Reduktion dieser Komplexitat verstanden werden und nicht als Ausdruck eines Handlungsaktes. Er schlagt schlieBHch vor, von der Frage nach dem We sen der Zwecke auf die Funktion von Zwecken umzusteUen.

^'^ An dieser Stelle lasst sich kufz ein Querverweis auf Esser einflechten. Essers Koni^ept arbeitet auch mit moglichen Deutungen, hier aber als Bestandteil der individuellen Kompetenzen, auf soziale Situationen zu reagieren. Er lehnt sich dabei an Alfred Schiitz an. Die Menschen verfiigen iiber eine ganze Reihe von mentalen Modellen oder, wie oben bereits diskutiert, Frames, die im Gehirn gespeichert und abrufbar sind. Frames sind ja Sinndeutungen fur bestimmte Situationen und konnen in mehreren Fallen, vor aUem wenn sie deutiich institutionaUsiert sind, mit den differenzierten Teilsystemen Luhmanns gleichgesetzt werden. Auch Frames dienen der Komplexitatsreduzierung. ^5 Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, dass sich an dieser Stelle Esser vom neo-klassischen Ansatz der Rational Choice Theorie unterscheidet Die Individuen sind eingebettet in sinnhafte, kulturelle und institutionelle Umwelten, an die sie sich anpassen miissen. Zwecke sind bei Esser also gepragt, praformiert und stehen nicht beliebig zur Verfiigung. Das Individuum kann sich zwar immer wieder frei gegen diese vorgegebenen Zwecke entscheiden, wird es aber kaum tun, um sein Wohlbefinden zu erhalten.

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Zwecke sind fur die Absorption von Komplexitat zustandig. „Zwecke dienen der Spezifikation von Konsens zwischen System und Umwelt und reduzieren dadurch die Umweltkomplexitat und die Anderungsaussichten, die ein System beachten muss, wenn es sich erhalten will" (Luhmann 1973, S. 188). Genauer heiBt dies, dass Systeme erst einmal das Problem ihrer Bestandserhaltung gar nicht thematisieren konnen. Hierfur gibt es keine Entscheidungsgrundlage. Diese wird erst — gleichsam hinter dem Riicken der Systeme — von den Zwecken gegeben: Zwecke geben dem Bestandsproblem eine „systemintern beschreibbare Fassung", namlich indem sie zu erstrebende Wirkungen definieren, die eine Selektion aus einer Vielzahl von Moglichkeiten bedeuten. „Was in der Umwelt als Vielzahl widerspruchsvoller, fluktuierender Werte und Verhaltensanforderungen erscheint, wird durch Zwecksetzung in ein Knappheitsproblem umgewandelt und so programmierbaren systeminternen Entscheidungsprozessen libergeben" (Luhmann 1973, S. 191). Wenn sich also ein System an Zwecken orientiert, kann es systemintern eine beschreibbare Fassung der Umweltproblematik anfertigen und Entscheidungsgrundlagen vorbereiten, „indem sie zu erstrebende Wirkungen definiert, in Bezug auf welche geeignete Mittel in rationalen Entscheidungsverfahren ausgewahlt werden konn e n " (Luhmann 1973, S. 191). Erst durch Zwecke werden nun die „Folgeprobleme der Systemerhaltung" in einen „angstfreien Bereich" verlagert, der „rationaler Kalkulation zuganglich ist". Zwecksetzung dient also als Strategic der Unsicherheitsab sorption ^^. Alle diese Bemerkungen deuten darauf hin, dass es fiir Luhmann bei der RationaUtat um die Usung des Problems der Bestandserhaltung von Systemen in einer komplexen Umwelt geht. RationaUtat macht so nur auf der Systemebene Sinn, eben als Systemkategorie, als Systemrationalitdt. Das obige Zitat zeigt deutlich, dass nur jenes Handeki rational sein kann, welches der Losung von Systemproblemen dient und damit „zur Erhaltung reduktiver Strukturen in einer auBerst komplexen Welt beitragt". Insofern ist Rationalitat rein funktional in ihrem Beitrag zum Erhalt eines Systems, nicht aber, u m einen individuellen Zweck zu verwirklichen. Die Nahe zur Handlungstheorie zeigt sich beim friihen Luhmann noch darin, dass er trotzdem die Idee des Zweck-MittelSchemas beibehalt, wenn er sie auch systemtheoretisch uminterpretiert: Zwecke dienen der Reduktionskomplexitat. Indem zu erstrebende Wirkungen definiert werden, konnen Systeme nun auch rationalerweise die geeigneten Mittel aussuchen, u m diese Wirkungen zu erreichen. Diese Mittel konnen falsch sein

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„Sie ermoglicht es im zweckstrukturierten System, bis auf weiteres so zu handeln, als ob mit der Zweckerfiillung der Systembestand gesichert sei. Wenn diese Voraussetzung nicht zutrifft oder ihre Umweltpramissen sich andern, werden storende Gerausche auftreten; dann wird das System seine Zwecke umdefinieren miissen oder untergehen" (Luhmann 1973, S. 191).

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und litat von und

auch die Zwecke konnen sich als die falschen in bezug auf die Systemstabierweisen. Sie fungieren aber fur eine bestimmte Zeit als Simplifizienxngen Systemen, u m die System-Umwelt-Unterscheidung im System einzufuhren fur Entscheidungen zuganglich zu machen. Im Unterschied zu Parsons versucht Luhmann also gar nicht erst, die Wertedimension als Handlungsbestandteil zu integrieren. Er transformiert den individuell-rationalen bzw. den biologisch-okonomischen Rationalttatsbegriff in einen Systembegriff, der Rationalitat zum funktionalen Bestandteil der Systemreproduktion werden lasst. Dies hat gewisse Affinitaten mit den Vorstellungen, nach der RationaHtat mit eiaer verniinftigen Entwicklung von Gesellschaft gleichgesetzt werden konnte. TatsachUch geht Luhmann aber nicht so weit. Rationalitat ist zwar funktional, aber nur fiir das System (vgl. auch Kneer 1992). Uber die Reproduktion der Gesellschaft lasst sich aufgrund des Rationalitatsbegriffs hier nicht viel sagen, auBer dass Komplexitat bearbeitbar wird, wenn sich jedes System rational verhalt.

5.2 'EssersAntn^ortaufljdhmannsfunktionalistische Kationalitdt Wie lasst sich hiermit Essers Rationalitatsverstandnis vergleichen? ZweckrationaHtat als Selektionsregel ist nach ihm evolutionar sinnvoll, was auch bei ihm heiBt, dass sich die Individuen auf erfolgreiche Weise an die zunehmend komplexer werdende Welt anpassen konnen. Auch bei Esser lasst sich hieraus keine „vernunftige" Entwicklung von Gesellschaft ableiten, wohl aber, dass so Reproduktion und Umgang mit Komplexitat mogHch witd. Sowohl bei Luhmann wie bei Esser heiBt Rationalitat die Moglichkeit, Komplexitat zu reduzieren: bei Luhmann, indem bearbeitbare Entscheidungsformeln geliefert werden, bei Esser, indem Individuen aus moglichen Sinnschemata auswahlen und dadurch handlungsfahig werden. In beiden Fallen ist also RationaHtat funktional zur Anpassung an eine komplexe Umwelt, ist sie Bestandteil von Evolution. Es zeichnet sich hier also eine gewisse Ahnlichkeit zwischen Esser und Luhmann in der Verwendung des RationaHtatsbegriffs ab, auch wenn die epistemologischen Grundlagen unterschiedHch sind und Luhmann sich expHzit gegen die individualistische Interpretation wehrt. Essers Framekonzept macht hier aber eine Offnung m Richtung Luhmann mogHch. Wit werden dies bei der okologischen RationaHtat im nachsten Abschnitt noch einmal diskutieren.

5.3 Okologische Kationalitdt heim spdten Ijdhmann Der spate Luhmann wechselt zu Kommunikation und zu Autopoiesis als Hauptelementen der soziologischen Systemtheorie. Ab diesem Punkt wird

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Dietmar Braun

Luhmanns Theorie „postmodern": In der autopoietischen Wende werden die Funktionssy Sterne nicht mehr unter leistungssteigernden Gesicht spunk ten von der Gesellschaft ausdifferenziert, die den Funktionssystemen dann nach dem Input-Output-Modell ihre spezifischen Leistungen abverlangt und sie im Gegenzug mit anderen Leistungen versorgt (vgl. Lange/Braun 2000, S. 54). Dieses Model! wird aufgegeben. Funktionssysteme differenzieren sich nun anhand von spezifischen Problemlagen anhand einer gemeinsamen Leitorientierung und werden so funktionale Kommunikationszusammenhange, die sich „rekursiv" schlieBen. Rational ist das nicht und es gibt auch kein Mastermind dahinter: Alles basiert auf Zufall und Ko-Evolution. Deswegen gibt Luhmann den Rationalitatsbegriff aber noch nicht auf. Die Ausdifferenzierung von Sinnzusammenhangen bedeutet auch jetzt noch Komplexitatsreduzierung. Allerdings stellt sich nach der „autopoietischen Wende" die Frage nach dem Zusammenhalt von Gesellschaft neu. Operativ geschlossene Systeme konnen nicht miteinander kommunizieren. Fragmentierung — und, wie Luhmann vor allem in seiner Schrift „Okologische Kommunikation" deutlich macht, sogar okologische Selbstgefahrdung^'^ — ist der Preis fiir die Komplexitatsreduktion, die durch Ausdifferenzierung von Sinnzusammenhangen geleistet wird^^. Die Schliisselfrage wird so, wie soziale Ordnung und gesellschaftliche Evolution im Rahmen einer solchen Koexistenz von Sinnbereichen moglich ist. Die Rolle der Rationalitat kommt genau an dieser Stelle hinein. Sie ist eine mogliche, wenn auch unwahrscheinliche Antwort auf das Problem der okologischen Gefahrdung. Allerdings wird der Rationalitatsbegriff jetzt auf der Grundlage des Autopoiesisbegriffs entwickelt: Jede „Operation" in sozialen Systemen voUzieht sich in Differenzen, wobei den Akteuren aber meist nur die eine Seite der Differenz bewusst ist. Dies ist gerade die „Beobachtung erster Ordnung". Jemand, der Tee kochen will, denkt nicht dariiber nach, dass er auch ein anderes Getrank hatte brauen konnen und wenn das Wasser noch nicht kocht, stellt er sich die Situation nicht unter der Differenz von Kochen/Nicht-Kochen vor, sondern ganz einfach als

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Und zwar im doppelten Sinn: als Gefahrdung durch ^Fortsetzung der Autopoiesis ohne Riicksicht auf Umwelt" (Luhmann 1986, S. 38) und als Gefahrdung durch „rucksichtsloses" Verhalten von Teilsystemen gegenemander. Gesellschaft gefahrdet sich durch die NichtBeriicksichtigung der Umwelt und Teilsysteme durch Nicht-Beriicksichtigung der anderen Teilsysteme. Der Begriff der okologischen Rationalitat, den ich hier verwende, bezieht sich genau auf diese Art der Gefahrdung durch geschlossenes Operieren von Teilsystemen und von Gesellschaft Luhmann sucht, wie Habermas auch, die Antwort in der Steigerung des Reflexionspotentials von Gesellschaft Bei beiden wird Rationalitat etwas, das „in der Gesellschaft kommunikativ als Reflexion der eigenen Destruktivitat 'zu entwickeln ware" (Bonacker 1997, S. 117/118). Und sie ist bei beiden „innerhalb des gesellschaftUchen Kommunikationsprozesses als Reflexionspotential situiert".

Rationalitatskoniiepte bei Luhmann und Esser

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Nicht-Kochen. So banal diese Erorterung erscheinen mag, so sehr fuhrt sie doch ins Zentnim der Diskussion. Fur Luhmann ist namlich auf dieser Grundlage keine Rationalitat moglich. Die Einzelhandlung mit Beobachtung erster Ordnung — die er im iibrigen als die dominante Beobachtungsform in der Theorie rationaler Wahlhandlung sieht — kann nicht die Differenz selbst reflektieren — und das ist die Grundvoraussetzung fiir Rationalitat. Erst das Wahrnehmen der „Einlieit der Differenz" ermogHcht die notwendige „Distan2" (Luhmann 1984, S. 597), der es bedarf, um rational zu sein. Erst mit der Uberlegung, dass ich anstelle von Tee ja auch einen Kaffee hatte machen konnen, dass ich dies aber eigentlich gar nicht will, schafft die notige Distanz, u m zu erkennen, dass es „Umwelt" gibt, dass Anderes moglich ist und schafft gleichzeitig Identitat, indem bewusst wird, was ich eigentlich will. Jedes Teilsystem der Gesellschaft handelt aufgrund eigener Differenzen, die sich in Codes manifestieren^^. Wenn aber jedes Funktionssystem seinem Code folgt, schaffen sie Distanz fiireinander, weil ja die Codes nicht kompatibel sind. Jedes System sieht etwas anderes im selben Phanomen. Und jedes Phanomen geht mit einer Sache anders um. Distanz bedeutet aber, wie bereits angedeutet, auch Gefahrdung, weil es nun keine Einheit mehr gibt, keine Vereinheitlichung. Von daher erzeugt jedes System fiir das andere Irritationen, ohne dass es zu einer Abstimmung kommen wiirde. Irritationen schaukeki sich auf. Und genau hierum geht es nun: Wie — wenn uns Ethik und Vernunft nicht mehr helfen konnen — ist Gesellschaft in der Lage, sind Funktionssysteme in der Lage, „die von ihnen praktizierte Differenz von System und Umwelt als Einheit zu reflektieren"? D e n n nur diese schafft Distanz zu sich selbst und ermogHcht so Umweltberiicksichtigung und damit moglicherweise sinnvollen Umgang mit okologischer Selbstgefahrdung. Im Grunde geht es nun darum zu zeigen, dass solche fiireinander intransparenten und geschlossenen Systeme durchaus in der Lage sein konnen — ohne dass dies eine notwendige Voraussetzung fiir die Reproduktion von Gesellschaft sein muss —, sich gegenseitig zu beriicksichtigen. Im Unterschied zu WiUke und vielen anderen (siehe nur Lange/Braun 2000) will Luhmann hier aber nichts von Verhandlungen, Kooperation, Erziehung oder Sonstigem wissen. Rationalitat als die Denkfigur fiir eine die Umwelt beriicksichtigende KoEvolution von Teilsystemen muss streng aus dem autopoietischen Modell abgeleitet werden. Luhmann entwickelt dies nun folgendermaBen: GrundsatzHch kann es nie zu mehr kommen, als dass Systeme es schaffen, ihre „Einwirkungen auf die Umwelt an den Riickwirkungen auf es selbst" zu kontrollieren (Luhmann 1984,

Ich verzichte auf eine Beschreibung der Grundlagen von Luhmanns Theorie, die ich als bekannt voraussetze.

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Dietmar Braun

S. 641). Genau das ist Rationalitat bei Luhmann. Um dorthin zu gelangen, bedarf es aber einiger Denkschritte: Grundsatzlich meint Autopoiesis „Selbstreferen2". Sie ist die „unterscheidende und Unterschiedenes bezeichnende Bezugnahme eines Selbst auf sich selbst". Allerdings gibt es unterschiedliche Arten von Selbstreferenz (Luhmann 1984, S. 601). Luhmann unterscheidet zwischen hasaler Selbstreferen^^, pro^essualer Selbstreferen^^'' und Sjstemreferen^^.

Et spricht von Keflexion, wenn das System sich selbst in der Unterscheidung von Umwelt und System bezeichnet. Das System muss sich selbst als System erfahren, wahrend es beobachtet, und das tut es, wenn es auf der Grundlage der System-Umwelt-Differenz beobachtet. Dies tritt vor aUem dann ein, sagt Luhmann, wenn die Umwelt das System nicht ohne weiteres so akzeptiert, wie es sich selbst verstanden wissen mochte (Luhmann 1984, S. 602)^^. Reflexion ist fur Luhmann eine „hoherstufige Kontrolle" (Luhmann 1984, S. 617), die es ermoglicht, „Konditionierungen", die in der Kommunikation entstehen, „nicht ganz dem ZufaU zu iiberlassen". Die Orientierung an sich selbst, das „Selbstbewusstsein" von Systemen in Differenz zur Umwelt ermoglicht dies. Die Einfuhrung der System-Umwelt-Differenz in das System liber Reflexion ist eine Sache. Die Thematisierung der Einheit dieser Unterscheidung innerhalb des Systems ist dann aber eine Leistung der Rationalitat (Luhmann 1984, S. 617)24 ]sjuj^ diese schafft Distanz zu sich selbst und erlaubt so Umweltbenicksichtigung. Warum? Weil es eine Sache ist, zu sehen, dass es Umwelt gibt, sich dann aber nicht weiter darum zu kiimmern, eine andere aber zu verstehen, dass Umwelt und System untrennbar aneinander gekoppelt sind. Umweltberiicksichtigung erlaubt, sich selbst als System besser zu verstehen, seine Identitat zu erfahren, aber gerade in Bezug auf die Umwelt. Und genau diese

Elemente ermoglichen sich durch Bezugnahme auf sich selbst; hier dient die Unterscheidung ^Element-Relation" als Grundlage. Dies ist die Keflexivitaty in diesem Fall beziehen sich relationierte Elemente auf sich selbst. Zugrunde Uegt hier die Unterscheidung „Vorher-Nachher". Dies ist Rsjlexion: „wenn ein System als ein abgrenzbarer sich selbst ermoglichender Zusammenhang von Elementen sich auf sich selbst als System bezieht" (Krause 1999, S. 178). 23

Es ist nicht selbstverstandHch, dass Systeme auf dieser Grundlage beobachten. Im normalen Fall pro'zessieren Systeme ihren binaren Code, z.B. „gesund-krank" und beobachten auf der Grundlage dieses Codes. Dies grenzt Systeme von ihrer Umwelt ab. Diese Abgrenzung als solche muss aber weder erfahren, noch thematisiert werden. Und solange das so ist, gibt es keinen Grund, die Umwelt konkret wahrzunehmen. Dies geht eben erst, wenn die SystemUmwelt-Differenz selbst in der Kommunikation thematisiert wird. „Rationalitat kann mithin nur iiber Reflexion erreicht werden, aber nicht jede Reflexion ist rational" (Luhmann 1984, S. 617).

Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

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Leistung, die nur das System vornehmen kann, ist Rationalitat. Reflexion ist dagegen, wie Luhmann zeigt, eine Vorstufe: sie erlaubt es, uber die Erfahrung der System-Umwelt-Unterscheidung in der Kommunikation sich selbst als System zu erfahren, aber sie reflektiert noch nicht die Einheit der Differen2. Sie ist eher no tig, u m in Abgrenzung zur Umwelt sich selbst und anderen deutlich zu machen, wer man ist. Erst wenn man sich als Teil der Umwelt betrachtet und diese als relevant fur die eigene Reproduktion sieht, ist Rationalitat vorhanden. Es reicht nicht, die System-Umwelt-Differenz in das System „wieder einzufiihren, sondern sie muss auch genutzt werden, um die Einheit dieser Differenz und nicht nur die Einheit des Systems zu thematisieren" (Kneer 1992, S. 97). Rationalitat ist nicht wie selbstverstandlich da, sondern wird nur unter bestimmten Umstanden aktualisiert. Normalerweise kommen soziale Systeme ohne „Reflexion ihrer Einheit aus" (Luhmann 1984, S. 617). Aktualisiert wird sie, wenn: Interaktionssysteme als System handeln miissen, „also einzekie Handlungen als das System bindend auszeichnen miissen" (Luhmann 1984, S. 617); - Interaktions systeme ihre Identitat iiber latente Phasen durchhalten miissen. Vorbedingung ist ein „MindestmaB an Ausdifferenzierung der Reflexionskommunikation im System", weil ansonsten nach Luhmann nicht klargestellt werden kann, „dass es sich u m eine im System praktizierte Unterscheidung handelt, die der Differenz von System und Umwelt einen Sinn gibt, der nicht ohne weiteres auch fiir die Umwelt gilt" (Luhmann 1984, S. 619). Nur wenn die Systeme in der Lage sind, sich selbst als Einheit in der Umwelt und in Bezug auf die Umwelt zu verstehen, sind Systeme in der Lage, Riickwirkungen zu kontroUieren, die sie als Konsequenzen ihres eigenen Handelns in der Umwelt verstehen. Der NormalfaU ist, dass Systeme „iiber die Umwelt andere Funktions systeme" belasten. Der Aufbau einer „Reflexionskommunikation" ist eine wichtige Vorbedingung, u m Rationalitat zu generieren. Ansonsten „bleibt wohl nur die MogHchkeit, das Problem mit der notigen Scharfe zu formulieren, die funktionssystemspezifischen Umweltorientierungen zu verbessern und die gesellschaftsinternen Riickbelastungen und Problemverschiebungen mit mehr Transparenz und KontroUierbarkeit auszustatten" (Luhmann 1984, S. 645). Fiir Evolution ist Rationalitat keine notwendige oder gar hinreichende Bedingung. Der RationaHtatsbegriff formuHert nur die „anspruchsvollste Perspektive der Selbstreflexion eines Systems" und eroffnet so sicherHch Chancen kompatibler Ko-Evolution. Luhmann ist aber ganz deutUch darin, dass Rationalitat nicht systemiibergreifend sein kann, was dann wieder hieBe, dass, ganz im Sinne der metaphysischen Vernunft, die Einheit wiederhergesteUt ware. Rationalitat meint bei Luhmann

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Dietmar Braun „keine Norm, keinen Wert, keine Idee, die den realen Systemen gegeniibertritt (was dann jemanden voraussetzt, der sagt, es sei verniinftig, sich danach zu richten). Sie bezeichnet nur den Schlusspunkt der Logik selbstreferentieller Systeme. Fiihrt man sie in das System als Bezugspunkt der Selbstbeobachtung ein, wird sie auf eigentiimliche Weise ambivalent: Sie dient dann als Gesichtspunkt der Kritik aller Selektionen und als MaB der eigenen Unwahrscheinlichkeit (Luhmann 1984, S. 646).

Damit wird deutlich, dass Rationalitat nach der autopoietischen Wende nicht mehr den gleichen Status hat wie vor der Wende. Vor der Wende war sie ein wichtiges Instrument, reduktive Strukturen in einer komplexen Umwelt zu erhalten. Zwecke als Bestandteil der Rationalitat machten es moglich, dass Systeme sich an die Umwelt anpassen konnten. Sie sind auch hier schon „SimpHfizierungen" und besitzen keinerlei Anspruch auf „Wahrheit" oder gar integrations stiftende Fahigkeit. Zwecke miissen sich andern und werden sich andern, wenn sich herausstellt, dass es zu Fehlanpassungen in einer turbulenten Umwelt kommt. Auch in dieser Version ist RationaHtat aber SystemrationaHtat und nicht gesellschaftUche Rationalitat ^5, d.h. sie ist Bestandteil der Reproduktion von Systemen, nicht aber der Reproduktion von Gesellschaft. Dies andert sich mit der autopoietischen Wende nicht. Allerdings ist nun RationaHtat insgesamt unwahrscheinlicher geworden: Zur Reproduktion von Systemen reicht ja basale Selbstreferenz und nur in ganz besonderen Fallen wird die Reflexion auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt tatsachHch beansprucht. In diesen Fallen kann Rationalitat eine mogHche Form der Selbstreferenz von autopoietischen Systemen werden, wenn es denn bereits entwickelte „Reflexionskommunikation" gibt. Sie wird „okologische SystemrationaHtat" (Kneer 1992, S. 98)26. Wer so von der Losung „okologischer Probleme" traumt, wird durch diese Analyse eher skeptisch gestimmt werden. Funktionale Differenzierung, so Luhmann, verscharft die Umweltprobleme und macht so die „RationaHtatsfrage dringHcher — und zugleich unlosbarer" (Luhmann 1984, S. 645). Luhmann bewegt sich noch insofern im Konzeptbereich der geseUschaftHchen RationaHtat, als er versucht, das Reflexionspotential der GeseUschaft

„Systemrationalitat bleibt eine systemrelative GroBe — und zwar bezogen auf ein System-ineiner-Umwelt" (Kneer 1992, S. 97). 26

„Systenirationalitat bemisst sich nun nicht mehr an Bestandserhaltung und funktionaler Effizienz. Soziale Systeme sind rational nicht dann, wenn sie durch Einbau funktionaler Analysen moglichst flexibel und effektiv ihre Bezugsprobleme losen, sondern wenn sie sich intern an der Einheit der Differenz von System und Umwelt orientieren. Die technokratisch ausgerichtete Rationalitatskonzeption weicht einer eher okologischen SystemrationaHtat" (Kneer 1992, S. 98).

Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

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freizulegen und zu diskutieren, wie sie die Probleme der Gesellschaft losen helfen kann. Im Unterschied zu anderen Theorien gesellschaftlicher Rationalitat will er aber nicht mehr die Differenz zwischen dem Aktuellen und dem Potentiellen offen legen. Luhmann besitzt keinen Begriff mehr fiir dieses Potentielle. Dies wiirde schon wieder einen unabhangigen Beobachterstandort fur mogliche gesellschaftliche Entwicklungen voraussetzen^^. AuBerdem ist der Bezugspunkt von Habermas und Apel der eines „Idealfalls einer konfliktfreien Gesellschaft, die ihre Teilrationalitaten integrieren kann". Und genau dies macht Luhmann nicht mehr mit: Er versucht die Spannung auszuhalten, keinen Begriff einer potentiell guten Gesellschaft zu entwerfen und trotzdem nicht auf den Begriff der Rationalitat zu verzichten.

5.4 'BssersAntwortaufljdhmanns okologiscbe Rationalitat Dieser Kontext von Differenzierung und okologischer Selbstgefahrdung bildet nun den Hintergrund, vor dem Essers Theorie behandelt werden muss. Dabei ist es fraglich, ob er den Rationalitatsbegriff no tig hat. Ausschlaggebend fur die Beurteilung ist aber lediglich, ob Esser die Reichweite der Luhmannschen Theorie anhand seiner eigenen Begrifflichkeiten erreichen kann oder nicht. Tatsachlich werden wir sehen, dass wohl Differenzierung und soziale Ordnung bei Esser eine RoUe spielen, dass es aber keiner weitergehenden Diskussion des Rationalitatsbegriffes bedarf, wie sie schon im vorigen Teil dargestellt wurde, u m hier Losungen anzubieten. Ich mochte meine Ausfiihrungen liber Esser in zwei Schritte gliedern: Zuerst soil der Begriff der Komplexitat diskutiert werden. Komplexitat ist auch bei Esser ein Grundbegriff zum Verstandnis moderner Gesellschaften. Komplexitat ist eine Herausforderung, die bei ihm allerdings anders als bei Luhmann gelost wird. Der Rationalitatsbegriff spielt hierbei eine zentrale Rolle. Zweitens soil die Theorie der funktionalen Differenzierung aufgegriffen werden und Essers Auf fas sung iiber die damit verbundenen Ordnungsprobleme diskutiert werden.

Eine objektive Vernunft kann es nach Luhmanns Erkenntnistheorie ja nicht mehr geben, weil alle Erkenntnis Beobachten und die Konstruktion von Wirklichkeit voraussetzt. So entstehen erst Gegenstande. Jedes System beobachtet eben auf seine Weise und es gibt auch mit der Gesellschaft kein System, das als „ubergreifender Beobachter" existiert. Wenn also jede Beobachtung selbstreferentieU ist, kann auch kein Standpunkt von auBen gewonnen werden. Deshalb sagt Luhmann, Rationalitat muss „standortfi:ei" gedacht werden.

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5.4.1 Komplexitat Bei Luhmann ist Komplexitat der Dreh- und Angelpunkt seiner Systemtheorie. Fxir Esser gilt es, Komplexitat als Herausforderung evolutionarer Entwicklung im Rahmen einer Handlungstheorie 2u verstehen. Bei Luhmann sind die theoretischen Schritte zur Rationalitat: Komplexitat > Notwendigkeit zur Komplexitatsreduzienmg iiber funktionale Differenzierung > autopoietische Entwicklung der Teilsysteme > Evolution iiber strukturelle Kopplung > mogHche okologische Selbstgefahrdung und aufschaukekide gegenseitige Irritationen > MogHchkeit zur reflektierten Entwicklung iiber Rationalitat unter bestimmten Bedingungen. Bei Esser ist die Antwort auf Komplexitat Rationalitat, aber eben nicht die RationaHtat im neoklassischen Sinne — also eine Rationalitat, die auf vollstandiger Information und sicheren Erwartungen sowie einem maximierenden Verhalten beruht —, sondern, wie oben bereits angefiihrt, begren^e Kationalitdt Diese ist die Antwort auf die durch Komplexitat ausgeloste Unsicherheit und dementsprechende evolutionare Anpassungsstrategien von Akteuren. Begrenzte Rationalitat optimiert, d.h. sie hilft den Akteuren, sich mit dem notigen Aufwand an Energie auf optimale Weise an Herausforderungen anzupassen, anstatt iiberschiissige Energien zu vergeuden, die im Falle einer „vollstandigen Rationalitat" eingesetzt wiirden. Die Grundausstattung des Menschen, namMch „weltoffen" zu sein, hilft weiter, evolutionar erfolgreiche Anpassungsstrategien herauszubilden: Die Menschen sind in der Lage, unterschiedlichste mentale Modelle zu speichern, die in den entsprechenden Situationen abrufbar sind und so komplexitatsreduzierend wirken. Gleichzeitig bilden sich in der Evolution liber funktionale Differenzierung Frames heraus, die ganze Weltausschnitte unter ein Oberziel stellen konnen und so die Widdichkeit strukturieren (siehe oben Kapitel 4.). Essers Konstruktion ist hier also ganz ahnUch zu der Luhmanns: Wirklichkeit wird ia Sinnsysteme aufgegHedert, deren Oberziele, Codes, Skripte usw. von den Akteuren in mentalen Modellen gespeichert werden konnen. Der Unterschied besteht natiirlich darin, dass Esser versucht, den Akteur, das Individuum und seine Handlungsmoglichkeiten als Grundlage der Evolution beizubehalten. Auch bei Esser wird selektiert. In Luhmanns Theorie wird in Systemen eine Seite einer Unterscheidung selektiert und dadurch die Selbstreferenz des Systems sichergestellt. Bei Esser selektieren die Akteure auf optimale Art und Weise. Der RationaHtatsbegriff — in seiner „schwachen Form" als Optimierung — bleibt bei der Selektion bei Esser immer prasent. Die Akteure wahlen ja, selbst wenn sie dies nicht bewusst vollziehen. Die Wahl des Frames kann in einer bestimmten Situation durchaus „automatisch" vollzogen werden, ohne jede Anstrengung des Akteurs, weil die Signale, die er wahrnimmt, unmittelbar in das Schema des mentalen Modells passen, das zur Verfiigung steht. Wie oben gezeigt, modeUiert Esser selbst diese automatische Anpassung noch als

Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

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rationale Wahl. Implicit stehen ja knmer alternative Modelle zur Verfugung. Unter Abwagung von Nutzen- und Kostenverhaltnissen oder zumindest auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen prozessiert der Akteur seine Wahl, d.h. er schaut, welche Alternative tatsachlich seine Grundbediirfnisse optimiert. Wenn die erste und offensichtliche Alternative schon gut passt, ist die Wahl schnell vollzogen. Ansonsten kann es zu Such- und Abwagungsprozessen kommen, bei der dann die optimalste Alternative ausgewahlt wird. Esser unterstellt dieses Wahlverhalten. Sie ist eine Modellannahme. Er geht aber davon aus, dass die Akteure auch in WirkHchkeit eine solche optimierende Wahl voUziehen, auch wenn dies nicht immer bewusst geschieht. Diese Annahme kann man kritisieren, aber das soil hier nicht der Gegenstand der Analyse sein. Wichtig ist nur, dass fur Esser (begrenzte) Rationalitat als Antwort auf Komplexitat eine Eigenleistung der Akteure ist (so wie sie eine Eigenleistung der Systeme bei Luhmann ist), aber im Unterschied zu Luhmann keinen hoherrangigen Status im Sinne einer reflektierten systemischen Kommunikation besitzt, sondern zur Grundausstattung des Menschen gehort. Begrenzte Rationalitat (und jjWeltoffenheit'") ist eine Eigenschaft der Menschen, die erklart, wie Evolution moglich ist. Rationalitat besitzt keinen supraindividuellen Status, sie hat nichts mit Kommunikation zu tun. Und trotzdem wird Evolution gerade auch hierdurch mogHch. Rationalitat erklart, warum sich Menschen sinnvoU an gegebene Verhaltnisse anpassen konnen und wie sie das tun. Der Begriff der Rationalitat bei Esser ist nicht dazu da, die Integration komplexer Gesellschaften zu verstehen. In diese Richtung geht der Rationalitatsbegriff bei Luhmann. Rationalitat bei Esser ist individuell und eine adaquate individuelle Anpassungsstrategie. Die Integration „komplexer sozialer Gebilde" ist dann aber eine „unintendierte Folge rationalen Handelns" unter Bedingungen begrenzter Rationalitat (Esser 1990, S. 245). Esser argumentiert so: Begrenzte Rationalitat als evolutionsoptimale Strategic der Akteure fdhrt dazu, dass die bestehende (institutioneUe) WirkHchkeit mehr oder weniger akzeptiert wird (solange sie „legitim" ist). Akteure verzichten dann auf eine Anderung institutioneller Strukturen. Erst wenn es eine „nachhaltige Veranderung der Knappheitsverhaltnisse und der Opportunitatskosten fiir alternative Strukturen" gibt, konnen sich die Bewertungen der Akteure so verschieben, dass Veranderung moglich wird. Wieder muss Essers Konstruktion im Zusammenspiel von „objektiver Struktur", den sozialen Produktionsfunktionen, den „kulturellen Systemen" zur Wahrnehmung dieser objektiven Strukturen sowie der grundlegenden Fahigkeit der Akteure zu zweckrationaler und optimierender Wahl verstanden werden. Die Vermitdung der objektiven Struktur durch die Frames macht es moglich, dass Institutionen akzeptiert werden — solange keine besseren Alternativen zur Verfiigung stehen. Individuelle Rationalitat, soziale Produktionsfunktionen und

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kulturelle Systeme wirken also zusammen, u m die Stabilitat von Gesellschaft zu erklaren. Damit ist Esser allerdings noch nicht grundlegend auf das Problem der okologischen Selbstgefahrdung eingegangen, wohl aber erklart er, wie sich individuelle Rationalitat und gesellschaftliche Stabilitat (im Sinne der Integration von Individuen) vereinbaren lassen. Die neoklassische Theorie rationaler WahUiandlung argumentiert hier iiber kollektive Dilemmata und kooperative Spieltheorie und verbleibt dabei ausschlieBlich auf der Ebene des methodologischen Individualismus. Esser verlasst diese Ebene ebenfalls nicht, bezieht aber Makrostrukturen wie kulturelle Systeme konsequent in die Analyse ein. Kulturelle Systeme treten dem einzelnen Akteur gegenuber und betten ihn gleichsam in institutionelle Strukturen ein. Sie sind selbst aber wiederum von „den Akteuren koUektiv geteilte Modelle des sozial ,richtigen' Denkens, Fiihlens und Handelns fur typische Situationen" (Esser 2001, S. 1) und bleiben so an Akteure nickgebunden. Zumindest konnen sie iiber eine Analyse auf der Grundlage des methodologischen IndividuaHsmus erklart werden. Zusammenfassend: Bei Luhmann ist Rationalitat als Antwort auf Komplexitat eine besondere Form der Selbstreferenz von Systemen, die nur zu besonderen Anlassen generiert werden kann und hochst unwahrscheinlich ist. Sie wiirde zwar das Problem der „okologischen Selbstgefahrdung" losen — namlich dass Systeme nicht aufeinander reagieren —, aber sie ist hochst voraussetzungsvoll und schHeBlich geht es auch ohne Rationalitat, mit alien Gefahrdungen, die die Evolution mit sich brkigt. Bei Esser ist Rationalitat als Antwort auf Komplexitat begrenzte Rationalitat und Grundeinheit der Handlungstheorie. Sie ist zudem standiger Bestandteil des menschlichen Handelns. Sie alleine kann aber nur dazu beitragen, dass Menschen sich optimal an die Entwicklung von Natur und Gesellschaft anpassen. Nur im Zusammenspiel mit den sozialen Produktionsfunktionen und den kulturellen Systemen aber erhalt sie eine supraindividuelle Bedeutung, weil so erklart werden kann, wie Integration komplexer sozialer Gebilde geleistet werden kann.

5.4.2 Funktionale Differenzierung Funktionale Differenzierung ist der theoretische Ausgangspunkt zur Erfassung von Problemen „okologischer Kommunikation" in der Gesellschaft bei Luhmann. RationaHtat war die anspruchvollste Form autopoietischer Systeme, mit diesem Problem umzugehen. Esser verwendet — was im Rahmen der neoklassischen Theorie ungewohnHch ist — ebenfalls die Denkfigur der funktionalen Differenzierung und beschaftigt sich, wie Luhmann auch, mit einer „der zentralen Fragen der Soziologie iiberhaupt: die nach der sozialen Ordnung angesichts der funktionalen Widerspriiche" (Esser 2000a, S. 78). Auch hier versucht

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er also die Reichweite seiner Theorie so umfassend zu spannen, dass Luhmanns Probleme ins Blickfeld seines eigenen Ansatzes gelangen. Allerdings geht es ihni nicht um Luhmanns Theorie, sondern danam, dass er funktionale Differenzierung, die ja nicht nur von Luhmann, sondern von vielen anderen Autor/innen behandelt wird, fur eine wesentliche Struktur der heutigen Gesellschaft halt. Seine Konzeption der funktionalen Differenzierung ist eng an die Vorstellung der arbeitsteiligen Gesellschaft angelehnt^^. Seine Darstellung der funktional differenzierten Gesellschaft weicht aber ansonsten nicht von der Luhmanns ab: In der Gesellschaft bilden sich ganze funktional speziaHsierte Bereiche mit einem Oberziel, einem „funktionalen Imperativ" heraus, der die Handlungen der Menschen wesentlich pragt. Der Prozess geht so weit, dass man von einer „reflexiven Verselbstandigung" sprechen kann (Esser 2000a, S. 77), bei der das „System" den Akteuren in verselbstandigter Form gegeniibertritt und die Akteure gleichsam nur noch Rollen erfiillen und „Charaktermasken" (Esser 2000a, S. 78) im Marxschen Siane sind, „damit es zu dem reibungslosen Funktionieren kommt" (Esser 2000a, S. 78). Dies kann perverse Konsequenzen, lies: unintendierte Effekte haben, die schHeBlich die Frage nach der „Integration funktional differenzierter sozialer Systeme" stellen lassen (Esser 2000a, S. 78)2^. Im Unterschied zu Luhmann sieht Esser die Aufrechterhaltung dieser funktionalen Bereiche aber nicht in der Komplexitatsreduzierung, sondern im Eigeninteresse der Akteure, deren ganze „Nutzenproduktion" ja von der Aufrechterhaltung dieses Bereichs abhangt" (Esser 2000a, S. 77). Wahrend Luhmann sich aufschaukelnde Irritationen der Systeme durch die Verselbstandigungsprozesse autopoietischer Systeme sieht, die schlieBUch nur durch RationaHtat geglattet werden konnten, erkennt Esser solche unkontroUierten Entwicklungen aufgrund der reflexiven Verselbstandigung funktionaler Teilsysteme gegeniiber den Akteuren. Esser beharrt natiirHch darauf, die theoretische Dominanz der Akteure zu bewahren, weicht aber ansonsten in nichts von der Luhmannschen Analyse funktionaler Differenzierung ab. Dies wird erst anders, wenn es (bei Luhmann) zur Diskussion des zentralen Problems der „okologischen Selbstgefahrdung" bzw. (bei Esser) „gesellschaftHcher

„Als funktionale Differen^erung wird ... die Unterteilung des sozialen Systems der Gesellschaft in arheitsteilig spe^^ialisierte, deshalb t}^pisch unterschiedliche und in Austausch befindliche Systeme der Nutzenproduktion bezeichnet" (Esser 2000a, S. 64). „Einerseits bringt die funktionale Differenzierung die Akteure in eine iibergreifende Abhangigkeit voneinander, von der sie letztlich auch wissen ..., andererseits tendieren die funktionalen Spharen aufgrund der Eigendynamik der Spezialisierung und - insbesondere — wegen der reflexiven Verselbstandigung zu ihrer Radikalisierung und Trennung, eventuell sogar so weit, dass daraus nachhaltige negative Folgen fur die Menschen entstehen, wie bei dem wildgewordenen Turbokapitalismus unserer Tage, der nur noch eines kennt: Efftzienz, Leistung und Profit, egal wofiir" (Esser 2000a, S. 78).

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Integration" kommt. Der Stellenwert von Akteuren als aktive, selbstandige Handlungseinheiten beginnt aber zu degradieren, well die Verselbstandigungsprozesse — und hier muss man an die Marxsche Analyse des Kapitalismus denken — die Akteure eher zu „Charaktermasken" werden lassen als zu autonomen und eigenstandigen Einheiten. Die Denkfigur der „unintendierten Effekte" individuellen Handelns sind fur Esser der theoretische Baustein, u m den Akteuren eine vergegenstandUchte Welt gegeniibertreten zu lassen, derer sie nicht mehr Herr werden konnen. Zwar reproduzieren sie diese Welt fortwahrend — es bedarf ja der Handlungsmotive, der Ziele und der Zweckrationalitat, um sich in dieser Welt zu behaupten —, tatsachlich aber voUziehen sie nur das, was die verselbstandigten Wertspharen ihnen diktieren. Wenn sie es nicht tun, werden sie ihre Grundbediirfnisse nicht erfallen konnen. Diese Analyse koppelt die Theorie funktionaler Differenzierung an grundlegende Gedanken der Marxschen Theorie. Wie nun behandelt Esser das Problem der „okologischen Selbstgefahrdung" bzw. das der gesellschaftlichen Integration? Auch an dieser Stelle findet man kaum Revolutionares bei Esser. Im GroBen und Ganzen reproduziert er Luhmanns Analyse einer funktional differenzierten Gesellschaft als „eine Gesellschaft, die ganz der ihr eigenen Funktionslogik und Eigendynamik unterliegt — und in diesem Prozess ihre StabiHtat und Integration gewinnt" (Esser 2000a: 452). Er bleibt aber dabei sogar hinter Luhmann zuriick, wenn er diese StabiHtat und Integration nicht kritisch hinterfragt und das Problem der Gefahrdung durch mangelnde okologische Kommunikation gleichsam wegfallen lasst. Sein eigener Beitrag besteht hier lediglich darin, dass er nach wie vor versucht, die StabiHtat mit der Akteursfundierung zu vereinbaren. Dies erreicht er, indem er anhand von David Lockwood neben die Prozesse der Sjstemintegration^^ die Notwendigkeit der sof^alen Integration steUt^^. Es bedarf der Orientierung der Akteure, ihrer Motivation und Ubereinstimmung mit den systemischen Anforderungen, u m StabiHtat und Integration zu erklaren. Entscheidend hierfiir ist schHeBHch, inwiefern das soziale System — das Esser hier wohl im Sinne von „Gesellschaft" versteht — in der Lage ist, eine „relativ spannungsfreie und stabile Nutzenproduktion" zu garantieren (Esser 2000a, S. 266). Nur dann kann es auch Zustimmung der Akteure zum System geben und der LoyaHtat der Akteure bedarf es, um Systeme zu erhalten. Diese LoyaHtat ist die Voraussetzung,

^^ Die seiner Ansicht nach durch Markt, Organisation und durch Interpenetration anhand von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gekennzeichnet ist 31 Die erste meint die Verbindung der einzelnen Teile des Systems miteinander („globale Eigenschaft, die das Netzwerk als Ganges betrifft"; Esser 2000a, S. 269), die zweite meint, inwiefern die Akteure in Kontakt '/.u anderen Akteuren stehen. Je mehr Kontakte vorhanden sind, um so sozial integrierter sind sie (soziale Einbettung der individuellen Akteure).

Rationalitatskonzepte bei Luhmann und Esser

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sozusagen der Motor des Systems. Wenn sie aber garantiert ist, dann ist das „meist unintendierte Ergebnis die Integration des jeweiligen Systems". Esser verwendet also diese Denkfigur der sozialen Integration, um sich von Luhmann abzusetzen, der ledigHch von Systemintegration ausgeht. Ohne die Unterstiitzung der Akteure gehe es aber nicht. „Aber die miissen die Integration der Gesellschaft nicht wollen, sondern besorgen sie als oft genug ganz unintendierten Effekt ihrer Verkettung in die Maschinerie des Prozessierens der Funktionssysteme und als Folge ihres kurzfristig und kurzsichtig an der gegebenen Situation orientierten Handekis" (Esser 2000a, S. 285). Systemintegration findet also hinter den Riicken der Akteure statt, solange die Systeme auf die Loyalitat ihrer Mitglieder zahlen konnen. Esser lehnt, ebenso wie Luhmann, eine systemische Integration iiber moralische SoziaHntegration ab. Insofern folgt er Luhmann und nicht Parsons und Habermas. „Die Integration wird iiber eine Legitimation dutch, formale „Verfahren", und eben nicht iiber inhaltlich bestimmte moralische Werte, besorgt" (Esser 2000a, S. 284)^2. Wenn man Esser also richtig versteht, dann reichen die Mechanismen der Systemintegration wie Markt, Organisation und Kommunikationsmedien aus, u m Gesellschaft zu reproduzieren — wenn denn die soziale Integration sichergesteUt ist, also das soziale System Nutzen produziert. Die „reflexive Verselbstandigung" sorgt dann fiir den Rest, namUch den Anschluss der Prozesse an sich selbst. Die Akteure selbst werden zu Charaktermasken und so in den Prozess integriert. Integration ist unintendiert, aber sie ist in den meisten Fallen problemlos in differenzierten GeseUschaften'^"^. Damit bleibt Esser aber hinter der Problematisierung von funktionaler Differenzierung im Sinne der „okologischen Selbstgefahrdung" zuriick. Seine Analyse in Band 2 der „Speziellen Grundlagen" diskutiert Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft, ohne aber wirklich Probleme der Abstimmung zwischen den Systemen zu diskutieren. Er beschrankt sich darauf, die perversen Effekte von reflexiver Verselbstandigung wie den oben erwahnten TurbokapitaHsmus zu nennen.

Legitknierende iibergreifende Werte kann es nun nicht mehr geben (auch hier folgt er also Luhmann, weil „jeder spezifische Inhalt sich unweigerHch gegen den funktionalen Imperativ irgendeines der vielen Funktionssysteme richten miisste ..." (Esser 2000a, S. 454). Es gibt kein „Ganzes" mehr. Weil: „Mit dem eigenstandigen Operieren der Systeme und mit der Uberkreu^ung der soi^ialen Kreise und Interessen bei den Akteuren stabilisiert und integriert sich das System der funktional differenzierten Gesellschaften sozusagen von selbst — und das unter Umstanden auch gegen die Absichten der Akteure, die in dieses Funktionieren eingebunden sind" (Esser 2000a, S. 455). 33

„Und weil die strikte Orientierung an den Codes und den Programmen der Funktionssysteme fur die Nutzenproduktion der Akteure immer wichtiger wird, konnen die Systeme ihre Eigendynamik ganz entfalten" (Esser 2000a, S. 455).

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Dies entspricht in etwa dem, was Luhmann unter Irritation fur andere Systeme verstehen wiirde. Die Auswirkungen auf andere Systeme werden bei Esser aber, soweit ich es sehe, nicht angedacht. An dieser Stelle tritt Esser also hinter Luhmann zuriick und halt sich an Parsons, der mit dem Interpenetrationsbegriff die Integration der Systeme als gegeben ansah (siehe auch Miinch 1992). Dies hinterfragt Esser nicht weiter. Ihm erscheint Interpenetration ausreichend. Damit wird auch deudich, dass er nicht die Theorie der autopoietischen Systeme vertritt. Die operationale SchlieBung von Systemen gerat nicht in sein BUckfeld. Damit entgeht ihm also das Problem der okologischen Selbstgefahrdung, fur das RationaUtat eine mogliche Losung darstellt. In der Diskussion der Systemintegration bei Esser braucht es keiner iibergreifenden Rationalitat und sie wird auch nicht weiter angefuhrt. Von Bedeutung ist Rationalitat nur insofern, als sie Bestandteil des sozialen Integrationsprozesses ist.

6 Schlussbemetkungen Diskutieren wir zum Schluss die Reichweite der Esserschen Theorie noch einmal aus dem BHckwinkel des Rationalitatskonzeptes, indem wir die drei Stationen unserer Reise in Schnellfahrt durchlaufen, d.h. die „voluntary action theory" von Parsons, die funktionale Rationalitat beim friihen Luhmann und die okologische Rationalitat beim spaten Luhmann. (1) Parsons woUte Werte und Normen als Bestandteil einer Handlungstheorie neben dem Zweck-Mittel-Schema einfiihren, wobei schHeBHch die nichtrationale Dimension die rationale Dimension determinieren sollte. Esser stellt sich diesem Problem der Vermittlung von Zweck-Mittel-Schema und der Wertedimension. Er folgt Parsons aber nur zum Teil. Er ist mit ihm einig, dass es unterschiedliche Handlungstypen (wie die ZweckrationaHtat) gibt, die sich in bestimmten Systemen institutionalisieren konnen. Rationalitat ist aber vor allem Selektion des richtigen HandlungsmodeUs in einer gegebenen Situation anhand eines allgemeinen Gesetzes (der Optimierungsregel). In dieser Eigenschaft ist Rationalitat universal und nicht bereichsbeschrankt. Werte und Normen werden insofern integriert, als die kultureUen Systeme, die Frames, bei der Bewertung der Handlungsalternativen einflieBen und damit ein Datum bei der rationalen Selektion darstellen. Der Wahlakt selber basiert dann aber auf der Optimierungsregel, die wiederum den am groBten mogHchen Nutzen fiir den Akteur herstellen muss. Dabei vertritt Esser nicht eine Hierarchic im Siane einer Unterordnung von Werten und Normen unter das Zweck-Mittel-Schema, sondern sie sind ein Bestandteil der Informationen, die der Akteur braucht, um zu einer NutzHchkeitsbewertung einer Situation zu kommen. Die eigentHche Wahl ist dann

Rationalitatskoni!:epte bei Luhmann und Esser

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aber utilitaristisch, well es darum geht, das physische und soziale Wohlbefinden zu steigern. (2) Essers Theorie ist ebenso in der Lage, die wesentlichen Aspekte des funktionalistischen Rationalitatsbegriffes beim friihen Luhmann zu erfassen. In beiden Versionen bedeutet Rationalitat erfolgreiche Anpassung an die Umwelt, bei Luhmann im Sinne der Systemanpassung iiber Zwecke, bei Esser im Sinne der Akteure iiber die begrenzte Rationalitat. Die Analyseebenen unterscheiden sich, der Rationalitatsbegriff besitzt hier aber eine aquivalente Bedeutung. (3) Essers Rationalitatsbegriff folgt allerdings nicht mehr der okologischen Rationalitat des spaten Luhmann. Bei Esser stellt sich soziale Ordnung relativ problemlos iiber Systemintegration (Markt, Organisation und Medien) sowie — dies ist die Akteurskomponente — iiber Loyalitat der Akteure zum System her. Solange Systeme in der Lage sind, geniigend zum Nutzen der Akteure beizutragen, handeln diese systemkonform und reproduzieren Gesellschaft. Lediglich im Fall versagender Systeme kann es zu Loyalitatsentzug und zum Aufbau neuer Strukturen kommen. Luhmann halt sich hier eher an die Parsonsche Theorie, die Interpenetration durch Medien als gesellschaftsstabilisierendes Element sieht. Das reflexive Potential, das die okologische Rationalitat bei Luhmann erreicht, wird also im Rationalitatskonzept von Esser nicht erreicht. Einig sind sich Esser und Luhmann lediglich darin, dass es keine einheitsstiftende Wertedimension geben kann, die zum Erhalt von Gesellschaft beitragt. Damit lasst sich abschlieBend festhalten, dass Essers Handlungstheorie — wenn man das Rationalitatskonzept als Messlatte nimmt — tatsachlich hohen Integrationswert hat, gemessen an der konzeptuellen Reichweite seiner Theorie. Sowohl die Integration von Werten, Zwecken und Mitteln innerhalb einer Theorie, wie sie Parsons versuchte, wie auch das Problem erfolgreicher Anpassung iiber Komplexitatsreduzierung, wie sie in Luhmanns Behandlung des Zweckbegriffs auftaucht, werden von Esser in seiner Handlungs theorie aufgenommen und konzeptkonform verarbeitet. LedigHch die Dimension der okologischen Selbstgefahrdung ist im Rationalitatsbegriff von Esser nicht wieder zu finden. Insgesamt aber gelingt es Esser durchaus, sein Theorienetz so weit zu spannen, dass man mit ihr einen groBen Teil der systemtheoretischen Probleme und Konzepte einfangen kann.

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Rationales Handeln/Rationalitat bei Weber und Esset im Vergleich* Zenonas Norkus

Den Vergleich, der im Titel des Aufsatzes angekiindigt ist, muss ich mit der Feststellung beginnen, dass Weber mit den Begriffswortern „rational", „Rationalitat" usw. durchaus weniger sparsam umgeht als Esser, da er Rationalitat nicht nur dem Handeln, sondern auch institutionellen „Ordnungen", dem Staat, dem Recht, der Musik und anderen „Etwassen" (Greshoff 1999, S. 20) zuschreibt. Esser verwendet diese Begriffe nur im Kontext seiner Handlungstheorie. Ich werde mich deswegen auf den Vergleich der Auffassungen beider Soziologen vom rationalen Handeki konzentrieren, und nur abschlieBend einige Uberlegungen darlegen, welche Herausforderung oder vielmehr Anregung fur die Ausarbeitung von Essers Theorie Webers kulturbezogener Gebrauch von „Rationalitat", insbesondere aber sein Begriff der rationalen Lebensfuhrung, bieten konnte. Im 1. Abschnitt mochte ich einige klarungsbediirftige Aspekte in Essers Rezeption der Wert-Erwartungstheorie (WET) im AUgemeinen und in ihrer Anwendung in seiner Theorie der Definition der Situation im Besonderen behandeki. Dann folgt im 2. Abschnitt der Versuch, Webers handlungsbezogene Verwendungen des Pradikats „rational" zu sichten. Weil sie in Webers Spatwerk ein Teil der umfassenderen Typologie des Handelns sind, kann ich nicht vermeiden, in diese Systematisierung auch andere Typen des Handekis einzubeziehen. Im 3. Abschnitt stelle ich verschiedene „Lucken" fest, welche man in Webers Auffassung des rationalen Handelns bemerken kann, wenn seine Auffassung vor dem Hintergrund der gegenwartigen analytischen Theorie des Handelns betrachtet wird. Weiter bespreche ich Essers Rekonstruktion des wertrationalen Handelns im Rahmen seiner Theorie der Definition der Situation. Den 4. Abschnitt schlieBe ich mit einigen Betrachtungen zu der Frage ab, welche Anregungen bzw. Herausforderungen fur die weitere Ausarbeitung von Essers „strukturtheoretischindividualistischer Soziologie'' und der Theorie der Definition der Situation insbesondere, diejenigen Bezugnahmen Webers auf „Rationalitat" bieten konnten, die Esser bisher nicht beriicksichtigt hat. Die Bekanntschaft mit den Einzelheiten der Werke beider Denker, insbesondere mit den Formeln von

Ich danke Rainer Greshoff fiir die sprachliche Bearbeitung meines Textes und sachliche Nachfragen. Der Verfasser allein bleibt fiir alle bleibenden Ungereimtheiten verantwortlich.

400

Zenonas Norkus

Essers Theorie der Definition der Situation, muss wegen der Raumknappheit bei den Lesenden vorausgesetzt werden. Meine Ausfuhrungen sind als eine wohkneinende und konstruktive Kritik 2u verstehen. Zuerst will ich aber zwei allgemeine Vorziige von Essers Ansatz angeben, die ihn zum Anspruch auf Webers Erbe durchaus berechtigen. Den ersten von ihnen versteht Esser selbst am besten zu beschreiben: „das Modell der Frame-Selektion komhiniert damit die in den liblichen soziologischen Handlungstheorien stets getrennten Aspekte der materiellen Anreize bzw. Kosten und Erwartungen und der kulturell oder institutionell verankerten Ideen und erklart, wie sie zusammenspielen. Es ist nicht zuviel gesagt, dass die Analyse dieses Zusammenspiels von Interessen, Ideen und Institutionen ein Kern der soziologischen Programmatik von Max Weber gewesen ist" (Esser 2003, S. 161-162). Zweitens nistet die Theorie der Definition der Situation Essers Soziologie mit der theoretischen Apparatur aus, die sie im Unterschied zu anderen Versionen des Rational Choice Ansatzes (RCA) grundsatzlich fur Webers Fragestellung von der Rationalisierung des sozialen Handekis anschlussfahig macht. In derjenigen Version des RCA, die den RCA als die Anwendung der neoklassischen Okonomik auf neue sachliche Bereiche betrachtet, macht eine solche Fragestellung namlich keinen Sinn, weil hier die (strenge) Zweckrationalitat der Akteure immer als Annahme zugrunde gelegt wird. Durch die Anwendung der WET auf zwei Ebenen — sowohl fur die Erklarung der Wahl der „auBeren" Handlungen in denjenigen Situationen, die die Frames rahmen, die durch den „Code" der Zweckrationalitat ausgezeichnet sind (in der Logik der Selektion), als auch fur die Erklarung der „Wahl" (Selektion) des Frames selbst und des Modus der Informationsverarbeitung im „inneren Tun" (in der Logik der Situation) — eroffnet Esser den logischen Raum, in welchem man sinnvoll fragen kann, wovon der Grad der (Zweck-) Rationalitat des Handekis abhangig ist, und ob es etwa sakulare Veranderungen, interkulturelle und andere Variationen in diesem Grad gibt. Weil es dabei aber um Fragen geht, die in anderen Beitragen dieses Bandes behandelt werden, gehe ich auf diese Punkte hier nicht weiter ein.

1 Welche Wert-Erwaftungstheotie? Wenn ich nun die Auseinandersetzung mit Essers Konzept des rationalen Handekis beginne, konzentriere ich mich zuerst auf zwei problematische Momente in seiner Behandlung der WET. Es ist erstens namkch nicht klar, welche von zwei Versionen der WET Esser vorzieht, die nach der Entdeckung des sog. Newcombs Problems unterschieden werden: die sogenannte kausale oder die evidenziale (evidential) Entscheidungstheorie (siehe Nozick 1969/1985,

Rationales Handeln/Rationalitat bei Weber und Esser im Vergleich

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Gibbard and Harper 1978/1985, Joyce 1999).i Newcombs Problem entsteht bekanntlich in den Situationen, in welchen die Entscheidungsfindung, die durch die Kegel der Maximierung der SEU {subjective expected utility) geleitet ist, zu einem Ergebnis fiihrt, das einer anderen grundlegenden Kegel der W E T — der Dominanz-Kegel — widerspricht. Es geht iibrigens u m das Problem, mit welchem auch Weber in seiner Erklarung der Entstehung der sakularen Arbeitsethik in der protestantischen Ethik zu tun hatte (siehe Norkus 2001, S. 510-517). Es handelt sich nicht u m irgendwelche rein entscheidungslogischen Spitzfindigkeiten, die von einem empirisch orientierten Forscher ignoriert werden konnten. Die Entscheidungstheoretiker haben inzwischen die Ahnlichkeiten zwischen dem Newcombs Problem und dem benihmten Gefangenendilemma-Spiel oder wenigstens einigen Fallen desselben entdeckt, das bekanntlich die empirische Forschung herausgefordert hatte die Frage zu beantworten, warum es eigentlich in Gefangenendilemma Situationen so viel Kooperation (z.B. Wahlbeteiligung) gibt (Lewis 1985/1979, S. 251-255, Sobel 1985, S. 263-274). Eine der moglichen Antworten auf diese Frage ist nun die Hypothese, dass die Akteure in solchen Situationen nicht nach dem D o m i -

1

Die Begriinder der kausalen Entscheidungstheorie (Lewis 1981/1990 und Sk)Tms 1980, S. 128-139) schlagen vor, das Prinzip der Maximierung der konditionalen SEU durch das Prinzip der Maximierung der kausalen Wert-Erwartung (CEU, causal expected utility) zu ersetzen. Die traditionelle Entscheidungstheorie, deren am meisten einflussreiche Version von Richard Jeffrey 1965/1983 herausgearbeitet wurde, lasst sich aus ihrer Sicht als Theorie der evidenzialen {evidential) Wert-Erwartung beschreiben. Sowohl „Kausalisten" als auch „Eviden2ialisten" stimmen darin iiberein, dass die Wert-Erwartung einer Handlung A durch die Aufsummierung der Produkte der Nutzenwerte der Ergebnisse (Weltzustande) dieser Wahl mit den WahrscheinHchkeitswerten der Ergebnisse bestimmt werden soil: EU (Ai) = E pij X Uij. Ihre Ansichten unterscheiden sich aber in der Frage, was unter den p Werten verstanden werden soil. Nach Jeffrey sollen dabei konditionale Wahrscheinlichkeiten P(wij/Ai) benutzt werden, die die Wahrscheinlichkeiten des Auftretens eines bestimmten Weltzustandes wij unter der Voraussetzung sind, dass der Akteur A; gewahlt hat. Die konditionale WahrscheinHchkeit bringt aber nur die statistische Abhangigkeit zwischen der bestimmten Handlung Aj und Weltzustand wjj zum Ausdruck, die durchaus nicht immer auch eine kausale Abhangigkeit bedeutet. Die KausaHsten meinen deswegen, dass die Nutzenwerte mit den Wahrscheinlichkeiten P(Ai —>Wij) gewichtet werden sollen, die die kausalen Glaubenseinstellungen der Akteure beschreiben. Es geht dabei um die subjektiven Wahrscheinlichkeiten, die die Uberzeugungen der Akteure iiber die kausale Wirksamkeit ihrer Handlungen zum Ausdruck bringen. Geht ein Akteur, der in eine Situation mit der Struktur von Newcombs Problem oder Gefangenen-Dilemma verwickelt ist, in seinen Uberlegungen zu p von Werten vom Typ P(Ai —>Wij) aus, so kommt er niemals mit dem Dominanz-Prinzip in Widerspruch. Mit wenigen Ausnahmen (Morgan 1981/1985) sind auch die Anhanger der orthodoxen Entscheidungstheorie der Meinung, dass in Konflikt-FaUen das Dominanz-Prinzip die Prioritat gegeniiber dem Prinzip der Maximierung der WE hat. Sie glauben aber, dass diese Konflikte sich durch kleinere Veranderungen in der Formulierung der orthodoxen Theorie oder durch die Kegel, wie sie richtig angewendet werden soil, beseitigen lassen (Jeffrey 1981, Eells 1982).

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nanz-Prinzip, sondern nach der Regel der Maximierung der konditionalen SEU entscheiden, wobei sie bei der Erwartxingsbildung, wie andere Akteure entscheiden werden, als Evidenz ihre eigenen Entscheidungen und die Informationen benutzen, wie ahnlich sie als Akteure untereinander sind (siehe z.B. Grafsteia 1999). Obwohl Esser in seinen „Spezielien Grundlagen" und anderswo alles tut, u m eine Briicke zwischen der W E T und der neuesten Forschung in der kognitiven (Sozial-) Psychologie zu schlagen, wird die W E T selbst von ihtn fur die breitere soziologische Leserschaft grundsatzlich in derjenigen Gestalt vorgestellt, die sie vor 1969 hatte. Zweitens kann man bei Esser die Neigung feststellen, die W E T auf die Regeln der Bewertung der zu erwartenden Handlungsergebnisse durch die MultipUkation ^^'Brwariung-mal-Werf und ,,Wdhle die Handlung mit der grbfiten Wert-lBrwartun^' zu reduzieren. Diesen Eindruck macht jedenfalls seine folgende Erorterung der Unterschiede der W E T von der behavioristischen Lerntheorie von Burhus F. Skinner: „Die Verhaltenstheorie ist immer auch eine hemtheorie (vgl. dazu noch Kapitel 9). Die sog. Handlungstheorien, wie wir sie in Kapitel 7 kennenlernen werden (es geht u m folgende Kapitel im ersten Band von Essers ^^So^ologie. Spe^^elle Grundlagen": Kap. 7 beinhaltet Essers Einfuhrung in die W E T , Kap. 9 bietet eine Zusammenfassung der Lerntheorie an; Z.N.), erklaren dagegen nur die Selektion von Handlungen in einer gegebenen Situation, nicht dagegen den Erwerb der Erwartungen und Bewertungen iiber eine Lerngeschichte vorher. Dazu muBte man die Lerntheorien noch gesondert heranziehen" (Esser 1999, S. 189). Es ist freiHch richtig, dass die Erklarung des Erwerbs von Bewertungen nicht zu den urspriingHchen Aufgaben der W E T gehort. Die Vorgegebenheit der Praferenzen oder tastes (zusammen mit ihrer UnveranderHchkeit) gehort ja zu den Standardannahmen, die bei ihrer empirischen Anwendung in der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft und in der Politikwissenschaft (in der public choice theory) gemacht werden. Wie Gary S. Becker aber gezeigt hat (Becker 1976/1982), gibt es die Moglichkeit, die residuelle Varianz im Verhalten, die bei den Standardanwendungen der W E T den Veranderungen und Unterschieden in tastes zugerechnet werden, so in den Begriffen der neoklassischen Produktionstheorie zu umschreiben, dass sie in den Erklarungsbereich der RCT einbezogen wird. Esser will diese Erweiterung des Anwendungsbereiches der RCT, die die W ^ T zu einer Supertheorie macht, durch die VeraUgemeinerung des wirtschaftswissenschaftHchen Begriffes der Produktionsfunktion zu demjenigen der sozialen Produktionsfunktion und durch manche Begriffe seiner Theorie der Definition der Situation soziologisieren. Diese Theorie soU auch eine andere angebUche Enge der urspriingHchen W E T liberwinden helfen, indem sie zeigt, wie man durch die Anwendung der W E T auf die Vorgange beim „innerlichen T u n " auch den Erwerb von Erwartungen oder beliefs erklaren kann. Man kann aber zweifeln, ob die W E T eine solche Erweiterung

Rationales Handeln/Rationalitat bei Weber und Esser im Vergleich

403

iiberhaupt braucht, well die Erklarung des Erwerbs von Erwartxingen zu ihrem urspninglichen Aufgabenbereich gehort. Der wichtigste Unterschied zwischen vielen psychologischen Theorien, die auch von der Annahme ausgehen, dass die Akteure oder Organismen ihre Verhaltensalternativen nach der Kegel Triebmal-hahit oder 'Erwartung-mal-Wert gewichten, und der W E T besteht darin, dass diejenige Version der W E T , die man als Theorie der SEU kennt und die auf Frank P. Ramsey zuriickgeht (Ramsey 1926/1931), eine Theorie der rationalen Wahl und der rationalen Erwartungsbildung (d.h. des rationalen Lernens) zugleich ist. Diese ihre Besonderheit verdankt die Theorie der SEU der Ubernahme der gesamten Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung, aus welchen u.a. das sogenannte Bayesische Theorem folgt. Fiir den Fall, dass ein Akteur nur mit einer Hypothese und ihrer Verneinung zu tun hat, lasst sich das Bayesische Theorem durch die Formel (1) zum Ausdruck bringen (siehe z.B. E e l l s l 9 8 2 , S . 11-23).

(l)I^(h):.I>,(h/e)-

^(h)x^(e/hl^ Po(h) X P,(e/h)] + [Po(~ h) X P,(e/ - h)]

Z u fragen ist nun, in welcher Beziehung die W E T als Theorie auch der rationalen Erwartungsbildung zu Essers Theorie der Definition der Situation steht. Die mentalen Modelle, die Esser auch als Frames oder Bezugsrahmen bezeichnet, kann man ja auch als Hypothesen betrachten (im Weiteren beziehe ich mich auf die neueste Darstellung von Essers Theorie der Definition in Esser 2001, S. 259-303). Als h in (1) konnen ja nicht nur Einzelaussagen auftreten („Es wird morgen sonnig'"), sondern auch komplexe („molekulare*') Satze, auch ganze Theorien. Die Wahrscheinlichkeit Po(h) kann vermutHch mit der Variable m in Essers Modellen identifiziert werden, die zeigt, wie gut der Bezugsrahmen auf die Situation passt und die die Bedeutungen im Intervall 0 < m < 1 hat. Dieses „Passen" oder „Nicht-Passen" des Bezugsrahmens wird anhand der „signifikanten Symbole" bestimmt, die mit der „Evidenz" e identifiziert werden konnen. Im Weiteren beginnen freHich die Schwierigkeiten mit diesem Versuch, Essers Theorie in das Idiom der Bayesischen Theorie des Lernens zu iibersetzen. Wenn Po(h)=l ist, folgt aus (1), dass keine weitere Evidenz den Glauben an diese Hypothese erschiittern kann. In Essers Theorie immunisiert die Starke „Auferlegtheit" eines Modells in einer Situation (mit m = l ) dieses ModeU nur gegeniiber den „Versuchungen" der alternativen Modelle durch ihren manchmal auch unendlich anwachsenden Nutzenwert. Ein mit m = l auferlegtes Modell kann aber nach Esser durch neue Informationen erschiittert werden, die die Diskrepanz des Modells und der „objektiven Situation" zeigen und dadurch den Wert m vermindern.

404

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Esser schteibt von neuen signifikanten Symbolen, die mit dem auferlegten Modell nicht zusammenpassen und dadurch m absenken. Konnen aber diese Symbole „an und fiir sich", also unabhangig vom schon auferlegten Bezugsrahmen, wahrgenommen und dann befragt werden, ob sie mit diesem Bezugsrahmen zusammenpassen? 1st es nicht vielmehr so, dass alle nicht „passenden" Symbole als bloBe „Gerausche" im Falle m = l weginterpretiert werden, wie dies aus der Bayesischen Theorie fur den Fall Po(h)=l folgt? In diesem Fall konnte aber der Wechsel des Bezugsrahmens nach Essers Modell niemals stattfinden — wie dies auch tatsachHch etwa bei einem Paranoiker der Fall ist. Kann aber ein solcher Wechsel durch neue e oder signifikante Symbole dennoch ausgelost werden, dann soil das bedeuten, dass m auBer im Falle mancher psychischer Krankheiten und vielleicht des wertrationalen Handelns, niemals den Wert von 1 annimmt, was abermals vielen Aussagen Essers widerspricht. In der Bayesischen Theorie darf ein rationaler Akteur den Wert 1 nur etwa den Behauptungen zuschreiben, die logische Wahrheiten ausdnicken. Wenn namJich die Praferenzen und probabilistischen Erwartungen eines Akteurs den Axiomen der W E T entsprechen und er einer Hypothese h den WahrscheinHchkeitswert P = l zuschreibt, so soil er ja bereit sein, eine Wette einzugehen, in welcher er einen Cent (oder noch viel weniger) bekommt, wenn h wahr ist und sich die Augen ausreiBen oder sich das Leben nehmen lasst, wenn h falsch ist (siehe z.B. Kaplan 1996, S. 91-92). Will ein Bayesianer eine solche Wette vermeiden, so soil er verzichten, P = l den empirischen Aussagen zuzuschreiben. Man kann auch Esser daher raten, etwas vorsichtiger mit den extremen p Werten (0 und 1), wie auch mit den „ins UnendHche wachsenden" U Werten umzugehen, auf welche er ja so gerne zugreift. Derzeit ist mir nur eine einzige veroffentlichte Stellungnahme Essers bekannt, in welcher er sich auf diese Frage bezieht: „die interaktive Erweiterung auf Prozesse der sozialen Konstitution, etwa gemeinsam geteilter Situationsdefinitionen, ist vor diesem Hintergrund nichts weiter als eine einfache Fortschreibung des Grundmodells zu einem ,genetischen^ Prozess der wechselseitigen Beeinflussung, stets freilich unter der Annahme der Wahrnehmung des Handelns der jeweils anderen Akteure und der Anderung der Parameter der Situation dadurch. Eine solche Annahme konnte beispielsweise das Theorem des Bayesianischen Lernens sein, und allein dies belegt, dass selbst im Rahmen der ganz herkommlichen RC-Theorie Platz fiir ,Interaktion' und kollektive Situationsdefinitionen ist" (Esser 2000b, S. 784). Dieser Bemerkung lasst sich entnehmen, dass Esser das Bayesische Theorem bei der Erklarung derjenigen Vorgange anzuwenden empfiehlt, in denen eine Definition der Situation durch den Akteur an die vorangehende Definition derselben Situation durch denselben Akteur anschUeBt. Hat ein Akteur die Situation (egal wie) definiert, und hat er eines der Skripte gewahlt, die mit dieser Definition assoziiert sind, so bewirkt sein Handeln Wirkungen, die auch

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das Auslosen des Handelns anderer Akteure einschlieBen konnen. Dieses Handeln wild v o m Akteur als „signi£ikantes Symbol" oder als Evidenz wahrgenommen, die den Akteur u. U. zur Umdefinition der Situation bewegen kann. Diese Umdefinition kann — so verstehe ich Esser — unter bestimmten Umstanden auch nach (1) verlaufen. AuBer der Erklarung, wie dieses Umdefinieren bei m = l (oder Po(h)=l) stattfinden kann, sollte Esser noch die Bedingungen spezifizieren, unter welchen die besagte Umdefinierung nach den Regeln der Bayesischen Theorie verlauft. Geht es dabei um dieselben Umstande, unter welchen eine „reflexiv kalkulierende" Informationsbearbeitung aktiviert ist? Wie kann aber eine solche Hypothese mit der Uberzeugung vieler Forscher im Bereich der kognitiven Psychologie vereinbart werden, dass schon menschliches Wahrnehmungsvermogen („automatisch" und also unreflektiert) in bayesischer Weise funktioniert (Knill and Whitman 1996)? Man kann iibrigens auch vermuten, dass Esser die Po(h) aus der Bayesischen Theorie nicht mit m in der Gleichung des Modells fur die FrameSelektion, sondern mit p aus der Gleichung fur die Modus-Selektion in Beziehung setzen mochte, die er als „die Wahrscheinlichkeit, durch eine weitere Reflexion richtig herauszufinden, daB in Wicklichkeit statt Frame i der Frame j gilt" (Esser 2001, S. 272), definiert. Aber wie kann diese Beziehung analytisch bestimmt werden? Es sollte dabei u.a. der Umstand beachtet werden, dass die Bayesische Theorie selbst so etwas wie eine Behandlung der Modus-Selektion einschUeBt, indem sie Regeln enthalt, die vorschreiben, wie der Wert der zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht verfugbaren Informationen eingeschatzt werden soU, die nach ihrer Beschaffung (mit bestimmten Kosten) eventuell eine bessere Entscheidung zu treffen helfen konnen.

2 Webets Skizze einer soziologischen Handlungstheotie Webers Beschreibungen des rationalen Handelns im „Kategorien"-Aufsatz (Weber 1913/1982) sind auf der Gegeniiberstellung des „richtigkeitsrationalen" und des „subjektiv zweckrationalen" Handekis begriindet. Unter dem ersteren versteht Weber das Handeln, das fur die Erreichung der Ziele eines Akteurs effizient, also situationsadaquat und erfolgreich ist. Es geht um das Handeln, das aus der Perspektive des Beobachters, der die Ziele des betreffenden Akteurs kennt, optimal fur die Erreichung dieser Ziele ist. Das subjektiv zweckrationale Handeln ist das Handeln, welches durch die bewusst iiberlegten zweckrationalen Griinde (empirische Erwartungen und Ziele) bestimmt ist und das aus der Perspektive des Akteurs selbst optimal fur die Erreichung dieser Ziele ist. In Webers Spatwerk (dem sog. neuen Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft") wird die Gegeniiberstellung zwischen dem

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„zweckrationalen" und dem „wertrationalen" Handeln zentral. In den friiheren Texten war der Begriff des „wertrationalen Handelns" dutch die Erwahnungen eines durch „Norm-Maximen" bestimmten (Weber 1907/1982, S. 334) oder „wertorientiert(en)" (Weber 1913/1982, S. 442) Handelns dagegen nur angedeutet. Ich bin der Meinung, dass die Gegeniiberstellung von „subjektiver Rationalitat" und „Richtigkeitsrationalitat" (oder „objektiver Rationalitat'") von Weber dabei nicht verworfen, sondern zur Gegeniiberstellung von „formaler" und „materialer" Rationalitat verallgemeinert wird. Ich habe hier nicht den Raum, u m diese Meinung zu begriinden (siehe Norkus 2001, S. 282-287 sowie Norkus 2003) und konzentriere mich daher auf die zweite Neuerung Webers in seiner zweiten Fas sung der Begriffe des rationalen Handelns/der RationaHtat. In seinem Spatwerk sind diese Begriffe namHch in seine benihmte Handlungstypologie eingebettet, die Esser in seiner Theorie der Definition der Situation erklarend zu rekonstruieren versucht. Dabei kniipft er an Schluchters Systematisierung von Webers Typologie an (Schluchter 1979, S. 191-192). Sie hat den Vorteil, die Idee zum Ausdruck zu bringen, dass jedes Handeln, insofern es sich durch Sinnhaftigkeit oder kausale Bestimmung durch Griinde vom bloBen Verhalten unterscheidet, wenigstens im Keim rational ist. Sie widerspricht aber (1) einem expliziten Hinweis von Weber, dass im Falle der „absoluten ZweckrationaHtat" die Werte an der kausalen Bestimmung des Handelns nicht beteiligt sind (Weber 1922/1976, S. 13); (2) sie impliziert, dass wertrationales Handeln weniger rational als zweckrationales Handeln ist, was abermals Webers Auffassung widerspricht2; (3) und sie ist nicht imstande, Webers expUziten Hinweis zu benicksichtigen, dass seine vier „reinen" Typen des Handelns nur Teil einer „erschopfende(n) Klassifikation" sind (Weber 1922/1976, S. 13), die offensichtHch auch Mischtypen einschlieBen soil. Gewohnheiten, Affekte, Wert- und Normverpflichtungen sowie bewuBt iiberlegte Mittel- und Zielkalkulationen sind namlich keine inkompatiblen „Mechanismen" der Steuerung des Handelns. Versucht man alle Determinanten (oder, modern gesprochen, „Variablen'') aufzuzahlen, die Weber in seiner Handlungstypologie ins Spiel bringt, so ergibt sich die folgende Liste: Opportunitaten oder in Webers Terminologie die „Chancen" des Handelns (O), Ziele (Z) und die Erwartungen (E) des Akteurs, Wertverpflichtungen (W), Gewohnheiten (G) und Affekte (A). Alle diese Variablen kann man in einer Formel zusammenbringen, die man als den Entwurf einer Regel des Handels betrachten kann, die der Skizze einer erklarenden soziologischen Theorie des

Es soil hinzugefugt werden, dass Schluchter die auf diese Weise rekonstruierte Handlungstypologie selbst sachlich unzureichend findet und sie modifiziert hat.

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Handelns zugrunde liegt. Diese umfassende soziologische Theorie des Handelns betrachtet das Handeln als die Funktion H = h (O, E, Z, W, G, A). Insofern die Bedeutungen der Variablen im Argument der Funktion unabhangig voneinander variieren und dabei auch die Bedeutung 0 haben konnen^, ergeben sich als die Grenzfalle einer solchen Theorie die reinen Typen des zweckrationalen ( H = h (O, E, Z)), des wertrationalen oder gesinnungsethischen ( H = h (O, W)), des traditionalen ( H = h (O, G)) und des affektueUen ( H = h (O, A)) Handelns. AuBer diesen reinen Typen sind in rein kombinatorischer Hinsicht noch elf „Mischtypen" moglich. Insgesamt schlieBt Webers Handlungstypologie also 15 Handlungstypen ein: (1) H = h (O, E, Z) (zweckrationales Handeln; entscheidungsformiges wollensgepragtes, affektiv neutrales Handeln); (2) H = h (O, W) (wertrationales Handeln; sollensbesetztes, affektiv neutrales Handeln); (3) H = h (O, G) (traditionales Handeln; routineformiges, affektiv neutrales Handeln); (4) H = h (O, A) (affektuelles Handeln; affektiv geladenes Handeln); (5) H = h (O, E, Z, W, G, A) (entscheidungs- und routineformiges, sollensund wollensgepragtes, affektiv geladenes Handeln); (6) H = h (O, E, Z, W, G) (entscheidungs- und routineformiges, sollens- und wollensgepragtes, affektiv neutrales Handeln); (7) H = h (O, E, Z, W, A) (entscheidungsformiges, sollens- und wollensgepragtes, affektiv geladenes Handeln); (8) H = h (O, E, Z, W) (verantwortungsethisches Handeln; entscheidungsformiges, sollensgepragtes, affektiv neutrales Handeln); (9) H = h (O, E, Z, G, A) (entscheidungs- und routineformiges, wollensgepragtes affektiv geladenes Handeln); (10) H = h (O, E, Z, G) (entscheidungs- und routineformiges, affektiv neutrales Handeln); (11) H = h (O, E, Z, A) (entscheidungsformiges, affektiv geladenes Handeln); (12) H = h (O, W, G, A) (sollensgepragtes, routineformiges affektiv geladenes Handeln); (13) H = h (O, W, G) (sollensgepragtes, routineformiges affektiv neutrales Handeln); (14) H = h (O, W, A) (sollensgepragtes, affektiv geladenes Handeln);

In diesem Fall iibt die betreffende Variable keinen Einfluss auf die Ausrichtung des Verhaltens aus. Man kann freilich die Bedeutungen 0 und 1 auch als Endpunkte in einer Ordinalskala betrachten, wie dies in Uwe Schimanks „Zusanimenfugung" der verschiedenen Akteurmodelle angenommen wird, an welche diese Systematisierung von Webers Typologie des Handelns sich im weiteren anschlieBt (siehe Schimank 2000, S. 145-167).

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(15) H = h (O, T, A) (routineformiges, affektiv geladenes Handeln). Manche dieser Mischtypen (z.B. das verantwortiingsethische Handeln in Weber 1919/1980, S. 552-553, S. 557-559) werden von Weber selbst explicit angezeigt und behandelt. In anderen Fallen benutze ich als Namen fur die Mischtypen Bezeichnungen aus dem Vokabular, das Uwe Schimank in seinen Vorschlagen ausgearbeitet hat, wie die in der gegenwartigen soziologischen Theorie gangigen Akteurmodelle — der H o m o Sociologicus, der (soziologisierte) H o m o Oeconomicus, der „Emotional Man" und der Identitatsbehaupter — zusammengefiigt werden konnen (Schimank 2000, S. 145f). Dafur soil aber Schimanks zweidimensionales Schema (Schimank 2000, S. 150) der Handlungswahl, in welchem Dimensionen des Handlungsantriebs (SoUen vs. Wollen) und des AusmaBes der Reflexion (Routine vs. Entscheidung) unterschieden sind, durch eine dritte Dimension der Affektivitat vervollstandigt werden, welche durch die schon von Talcott Parsons und Edward A. Shils als „Mustervariablen" beschriebenen Pole der affektiven Neutralitat und der affektiven Besetzung oder Ladung (die wiederum positiv oder negativ sein kann) eingegrenzt ist (Parsons/Shils 1951/1967, S. 77-78, S. 80-81, S. 248249). Die Benutzung des (vervollstandigten) Schemas von Schimank empfiehlt sich fiir die Einordnung der meist von Weber nicht benannten Mischtypen umso mehr, weil es Weber in seiner spaten handlungstheoretischen Skizze grundsatzlich u m dasselbe ging: u m die „Zusammenfugung" verschiedener Akteurmodelle, also u m die Ausarbeitung einer umfassenden soziologischen Theorie des Handelns, in welcher reine und Mischtypen rationalen Handelns als Sonderfalle untergebracht werden sollten. Es handelt sich dabei freilich in beiden Zusammenfugungen nur um eine Skizze einer solchen Theorie, weil die funktionale Beziehung zwischen den Variablen nicht spezifiziert wird (vgl. Esser 1993/1996, S. 136). Es geht u m einen Entwurf, der hinsichtHch der rein phanomenologischen und der erklarenden Theorie im „Zwischen" bleibt.

3 E s s e t s Rekonsttuktion von Webefs Begtiff des wetttationalen Handelns: bleibende Ftagen Vergleicht man Webers Begriffe der Rationalitat und des rationalen Handelns mit den gegenwartigen phanomenologischen (bloB beschreibenden und klassifizierenden) Theorien des Handelns, so kann man Weber einen Mangel an differenzierender Kraft vorwerfen — was die Autoren der betreffenden Theorien auch machen. Man kann besonders bei Jiirgen Habermas viel dariiber nachlesen, wo und wie Weber die Erscheinungsformen der menschUchen RationaHtat unzureichend genau beschreibt, weil ihm der Begriff der kommunikativen Rationalitat fehlt (Habermas 1981, S. 369-452; siehe auch Joas 1992). Man kann aber auch v o m Gesichtspunkt der gegenwartigen analytischen The-

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orien des rationalen Handelns Weber manches vorwerfen, was kein minderer Kenner dieser Theorie als Jon Elster zuletzt in einem Aufsatz gemacht hat, der einen Vergleich von Webers Auffas sung von der Rationalitat des Handelns mit derjenigen in der analytischen Theorie beinhaitet (Elster 2000). Elster behauptet (siehe auch Elster 1979, S. 68ff), dass Weber keinen Sinn und deswegen auch keine Begriffe hatte, u m die Eigenart strategischer Situationen wenigstens 2u beschreiben. Seine handlungs- und rationalitatstheoretischen Begriffe seien auf parametrische Situationen zugeschnitten, in welchen die Ergebnisse des Handelns eines zweckrationalen Akteurs nur von den „blinden" Naturkraften oder von den Handlungs selektionen anderer Akteure determiniert seien. Letztere lieBen sich in ihrem Handeln nicht durch iiber „strategische Empathie" angeleitete zweckrationale Kalkulationen bestimmen, sondern handelten pflichtgetreu gemaB ihren Gewohnheiten oder nach den „geltenden Ordnungen". Deswegen sehe Weber nicht, dass es in vielen Situationen unmoglich sei zu bestimmen, welche Handlung substanzieU zweckrational oder richtig ist. Es geht vor allem u m die Situationen, die in der Theorie des strategisch rationalen Handelns (Spieltheorie) als undeterminiert klassifiziert werden, weil es in diesen Situationen multiple oder sogar keine Gleichgewichte gibt. Dies aber bedeutet, dass es in sehr vielen Fallen unmoglich ist, Webers methodische Empfehlung forschungspraktisch umzusetzen: namlich das verstehende Erklaren des sozialen Handelns von der kontrafaktischen „NuUhypothese" des „streng rationalen Handelns" zu beginnen, u m die „Ablenkungen" des tatsachlichen Verlaufes des Handelns von dem unter der Annahme der perfekten RationaHtat und vollstandigen Information zu erwartenden Verlauf des Handelns zu beschreiben und dann iiber Bezug auf den „subjektiven Sinn" verstehend zu erklaren (siehe z. B. Weber 1922/1976, S. 10). Will man ein mogUchst umfassendes Bild von den AhnHchkeiten und Unterschieden zwischen den Auffassungen von Esser und Weber in den Fragen der RationaHtat und des rationalen Handelns bekommen, so sind auch diese von Elster ganz triftig beschriebenen „Lucken" in Webers begrifflicher Apparatur zu benicksichtigen. D e n n in diesen „Lucken" kommt ein Unterschied zu Essers Werk zum Ausdruck, in dem das strategische Handeln als eine der drei Grundformen des sozialen Handelns (neben der Interaktion und der sozialen Beziehung) vorkommt und in Esser 2000a auf mehr als zweihundert Seiten behandelt wird. Im Denken Webers Hegt der Schwerpunkt namlich auf den sozialen Beziehungen, in welchen die strategischen Situationen durch die K o o rientierung, die symbolische Interaktion, die Kommunikation und die Institutionaltsierung je bestimmter Handlungsmuster schon in parametrische Situationen transformiert sind. Weber bietet zwar eine idealtypisierende Morphologic von RegelmaBigkeiten des sozialen Handelns, die es in sozialen Beziehungen gibt; die Prozesse aber, die zu ihrer Entstehung aus den strategischen Situatio-

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nen heraus fiihren (konnen), bleiben weitgehend auBerhalb seines Blickfeldes, well sie ohne den Begriff des strategischen Handelns nicht sichtbar und ohne die Spieltheorie auch theoretisch nicht erschlieCbar sind. Ich mochte mich aber nicht auf diese „Lucken", sondern auf Essers Umgang mit Webers handlungsbegrifflichem Beitrag konzentrieren, weil es offensichtlich wenig Sinn macht, liber die Frage nachzudenken, warum Weber die Spieltheorie nicht erfunden hat. Dabei beschranke ich mich auf den Typ des wertrationalen Handelns, der offensichtlich eine sehr interessante Herausforderung fiir Essers Theorie der Definition der Situation ist. Folgt man den Vorgaben der Rekonstruktion Schluchters (1979, S. 191-192), so lasst sich behaupten, dass wertrationales Handeln nicht nur durch einen besonderen „Code", sondern auch durch ein Weniger an Uberlegung und Nachdenken ausgezeichnet ist. In seinem neueren Anlauf zur Rekonstruktion von Webers Begriff des wertrationalen Handelns will Esser vor allem diejenigen Beschreibungen Webers beriicksichtigen, die der Annahme widersprechen, dass ein wertrationaler Akteur etwa weniger iiberlegt (im Vergleich zu einem zweckrational Handekiden) oder sich der Folgen seines Handelns nicht bewusst ist (siehe Esser 2001, S. 311-329 und Esser 2003). Esser schlagt dabei eine etwas unkonventionelle Rekonstruktion auch fur die beriihmte These von Weber vor, dass es keine rationale Begnindung der letzten wertenden Stellungnahmen gibt. Statt sich mit dem Hinweis auf die logische Binsenwahrheit zu begniigen, dass SoUens- und Wertaussagen nie nur aus empirischen Aussagen folgen und dass die Menschen — ahnlich den Ohren oder den Augen — keine Organe fiir die Wertwahrnehmung haben, appeUiert er an den Grundsatz, dass alle Behauptungen, die notwendige Bedingungen fiir die Produktion von kollektiven Giitern beschreiben, wie alle empirischen Behauptungen fehlbar sind, also nur Hypothesen bleiben. Deswegen konnen die Akteure niemals hinreichende Griinde dafiir haben, solche Behauptungen als ausgewiesene Wahrheiten zu akzeptieren — was aber fiir die Fixierung des Wertes von m auf 1 notwendig sei. Ich habe drei kritische Bemerkungen zu Essers Rekonstruktion. Z u m Ersten: sollte sie richtig sein, wie konnte Essers Modell dann erklaren, dass auch philosophisch aufgeklarte Personen m manchmal auf 1 fixieren? Ich meine z.B. den FaU, in dem eine Person als guter kritischer Rationalist glaubt oder weiB, dass es keine „Letztbegrundungen" gibt. Essers Modell impliziert, dass bei der Entscheidung, ob m auf 1 festzusetzen ist, so gut wie alles von der Einschatzung der Wahrscheinlichkeit q fiir die Richtigkeit der Hypothese von der Notwendigkeit des Wertes abhangig ist (vgl. Esser 2003, S. 182). So weit z.B. Peter ein guter kritischer Rationalist ist, kann seine Einschatzung von q aber gar nicht hoch genug sein, u m ihn zu einer solchen Entscheidung zu bewegen. So ist er entweder zum wertrationalen Handeln konstitutioneU nicht fahig oder er kann wertrational nur handeln, solange er etwas macht, was zwar

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duirch Essers Modell erklarbar, aber zugleich auch irrational vom Standpunkt seiner eigenen philosophischen Grundiiberzeugung ist. Weil auch Hartmut Esser ein kritischer Rationalist ist, sollte er dieser Paradoxie gegeniiber nicht gleichgiiltig bleiben. Zweitens, Essers Rekonstruktion passt weniger fur den Fall, der in Webers Typologie als „reines" wertrationales Handeki vorkommt, sondern sie passt besser fur denjenigen Mischtypus, der in Webers Typologie als „verantwortungsethisches Handeln" eingeordnet wird. Rein wertrationales Handeln ist in Webers Typologie mit dem „gesinnungsethischen Handeln" identisch. Diesem will Esser aber letztendlich jegliche Beziehung zur WertrationaHtat absprechen: „Die unumstbfilich auf einen Wert festgelegte und darin von alien Konsequenzen losgeloste Gesinnungsethik ist daher kein Fall des Typs der WertrationaHtat" (Esser 2003, S. 186). Diese Behauptung ist als Essers eigene Meinung iiber „die Sachen selbst" vollig akzeptabel, widerspricht aber Webers eigenem Standpunkt. D e n n gemaB letzterem ist auch gesinnungsethisches Handeln durch die „bewuBte Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handelns" (Weber 1922/1976, S. 12) bestimmt, welche aber von anderer Art sind als diejenigen, die Esser seinem rein wertrationalen Akteur unterstellt, Somit kann man — drittens — fragen, ob Essers Modell, obwohl es offensichtlich als ein allgemein giiltiges gemeint ist, nicht dennoch in seinem Geltungsanspruch auf moderne Bedingungen begrenzt werden sollte. In seinem Modell der Wahl des wertrationalen Handelns rekapituliert Esser namHch grundsatzlich die Gedankengange der ethischen Theorie, die unter dem Namen des „Regel-Utilitarismus" bekannt geworden ist (siehe z.B. Lyons 1965/1978, S. 119-160). Genau wie Esser es beschreibt, verbietet diese Theorie Ausnahmen von einer einmal angenommenen Regel (etwa einen festgenommenen Terroristen-Anfiihrer zu foltern), egal wie groB der Nutzen ist, den sich „die Gesellschaft" von dieser Ausnahme gegebenenfalls erhoffen konnte. Esser unterstellt also in seinem Modell, dass alle diejenigen Akteure, die wertrational handeln, sich durch regel-utilitaristische Griinde dazu bestimmen las sen. Es handelt sich aber u m eine sakulare und moderne Motivation, die historisch keineswegs UniversaHtat fur sich beanspruchen kann. Wollte man Essers Rekonstruktion akzeptieren, so miisste man behaupten, dass das wertrationale Handeln ein modernes Phanomen ist. Zwar hat eine solche Hypothese eine gewisse Plausibilitat fur den Fall des verantwortungsethischen Handelns (= wertrationales Handeln im Sinne Essers), nicht jedoch fiir das gesinnungsethische Handeln oder fur das rein wertrationale Handeln im Sinne Webers. D e n n man kann ja nicht verneinen, dass etwa auch die reUgiosen Fundamentalisten zu ihren „gesinnungsethischen" Wertiiberzeugungen nicht nur wegen der Besonderheiten ihrer individuellen Lerngeschichte wahrend der Friihsozialisation oder durch die Einbettung in stark vernetzte und werthomo-

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gene Bezugsgruppen kommen konnten, sondern auch durch autonome „bewuBte Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handelns" (Weber 1922/1976, S. 12). Will man sich aber einen Eindmck von der Eigenart ihrer Griinde oder IJberlegungen verschaffen, so muss man das ihre „gesinnungsethischen" Wertiiberzeugungen einrahmende — religiose — Weltbild ernst nehmen, und damit auch den „subjektiven Sinn" ihres Handelns. Ein wenig Lesen etwa von Soren Kierkegaard kann dabei ganz gut helfen. In solchen Texten fehlen auch meist Spuren von Gedanken iiber die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen der Moglichkeit von Nutzenproduktion. 4 Webers Fragestellung von der Rationalisierung des sozialen Handelns als bleibende Hetausfotdetung und Chance Ich habe oben von den „Lucken" in Webers Konzeptualisierungen der Handlungsrationalitat gesprochen, die sich bemerken las sen, wenn man Webers Begriffe mit denjenigen in der gegenwartigen analytischen Theorie des rationalen Handelns vergleicht. Andererseits ermoglicht aber ein solcher Vergleich auch „Lucken" in Essers Ansatz festzustellen. Wenn man Webers Fragestellung von der Rationalisierung des sozialen Handelns in die Terminologie von Essers Theorie der Definition der Situation libersetzt, ergibt sich folgende Frage: stimmt es, und wenn ja, warum, dass die Akteure zunehmend in durch den Code der Zweckrationalitat gepragten Bezugsrahmen handeln sowie aufwendige Heuristiken der Informationsverarbeitung einsetzen sollen oder miissen? Doch wird der Inhalt von Webers „Rationalisierungs-These" durch diese Frage nicht ausgeschopft. Man kann sie nicht auf die kulturpsychologische oder psychogenetische Behauptung reduzieren, dass es etwa einen sakularen Trend gibt, mit dem die Zunahme des Anteils bewusster Uberlegungen in der Steuerung des menschlichen Handelns einhergeht, wie dies auch Norbert Elias behauptet hat. Weber wurde zu seiner These vielmehr durch die Beobachtung inspiriert, dass der Zuwachs der substanziellen Rationalitat des Handelns, der in der zunehmenden „Weltbeherrschung" zum Ausdruck kommt, nicht immer durch den Zuwachs des Anteils an „aufwendigen Heuristiken" oder bewussten Uberlegungen in den psychologischen Mechanismen des Verhaltens bedingt ist (Weber 1913/1982, S. 473; siehe auch Norkus 2001, S. 366-373 sowie Norkus 2003). Es handelt sich um die Paradoxic des liberlegenen (Minder-) Wis sens des modernen Menschen, welche Weber in seiner beriihmten Rede „Wissenschaft als Beruf" (Weber 1917-19/1982) zum Ausgangspunkt seiner Erorterungen zu der Frage macht, worin eigentlich die Rationalisierung und Intellektualisierung des sozialen Lebens besteht. Wenn man Webers Antwort auf diese Frage in Essers Terminologie auszudriicken versucht, ergibt sich die

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These, dass die spezifische „Rationalitat" des modernen (westlichen) sozialen Lebens vielmehr von der Eigenart der kulturellen Modelle und Skripte sowie der Eigenart ihrer institutionellen Organisation bedingt ist. Diese Ditnension der „Rationalitat" als Thema von Webers Soziologie bleibt bisher in Essers Werk weitgehend unbeachtet — auch im abschlieBenden „kulturso2iologischen" Band 6 seiner ,,So^ologie. Spe^elle Grundlageff\ Er gibt sich namlich mit dem kognitiv-anthropologischen Begriff der Kultur als Gesamtheit der Modelle der Wirklichkeit und ftir die Witrklichkeit zufrieden, ohne auf Webers Weise zu fragen, ob alle diese Modelle gleich formal oder material rational sind. Ware er daran interessiert, miisste er auch Webers zweites Begriffspaar — das der formalen und der materialen Rationalitat — in seiner Theorie der Definition der Situation zu rekonstruieren versuchen. V o n besonderem Interesse fur die weitere Ausarbeitung der Theorie der Definition der Situation kann aber gerade Webers Begriff der (rationalen) Lebensfuhrung sein, dem Wolfgang Schluchter zusammen mit demjenigen des „Weltbildes" die Schliisselrolle in Webers Werk zuschreibt (Schluchter 1989, XIV-XV, siehe auch Schluchter 1996, S. 186-199). Wenn man Essers Rekonstruktionen des „AUtagshandelns" liest, wird manche Leserin den Eindruck haben, dass nicht der Akteur selbst, sondern die Umstande fur ihn das Ziel, den Modus der Informationsverarbeitung und danach auch die Handlung selektieren (vgl. Rohwer 2003, S. 345). An Griinden fur einen solchen Eindruck fehlt es nicht. In Essers Theorie der Definition der Situation beschrankt sich die „Aktivitat" eines Akteurs darauf, die Art der sozialen Situation zu identifizieren, in welcher er sich gerade befindet. Diese Aktivitat ist librigens gar nicht immer notig, weil die Identifikation meist automatisch erfolgt. Wird dies (im „innerHchen Tun'") getan, so werden die Skripte aktiviert, die den Verlauf des Handelns steuern. Wechselt die Situation, wird ein Oberziel meist reibungslos durch ein anderes verdrangt. Dazu kommt noch, dass Essers begrenzt rationale Akteure (RREEMM)4 zu globaler Maximierung nicht fahig sind. Bei der Handlungswahl konnen sie nicht zugleich aUe ihre Ziele beriicksichtigen. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt konnen sie ihren Nutzen nur in Beziehung auf das eine, fur die betreffende Situation geltende Oberziel maximieren. Das „Leben" eines solchen Akteurs zerfaUt also kaleidoskopisch in eine Folge situationsspezifischer Episoden, die von innen heraus keine Einheit haben, die etwa durch ein solches Oberziel erzeugt worden ware, das in alien Situationen saHent bltebe, also durch situationsspezifische Oberziele nicht verdrangt werden konnte.

.^Resourceful, restricted, expecting^ evaluating maximi^ng man" (siehe Esser 1993/1996 S. 237-239).

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Genau eine solche Moglichkeit, die m.E. in Essers Modell der Wahl eines Bezugsrahmens in seiner jetzigen Gestalt nicht ohne weiteres hineinpasst, wird von Weber in seinen Beschreibungen der „rationalen Lebensfuhrung" in den Blick genommen. Fiir den innerweltUchen Asketen oder den religiosen Virtuosen, wie Weber ihn schildert, bleibt die „Erlosung" ein Bezugsrahmen, der alle Situationen rahmt, nicht nur diejenige, in welcher er sich etwa am Gottesdienst durch rituelle Handlungen beteiligt. Dasselbe lasst sich vermutlich auch von anderen Arten von Virtuosen sagen (etwa von Hochleistungsspordern). Es geht also u m Akteure, fur die ein Ziel eine lexikographische Praferenz hat, Als weitere Besonderheit, die eine „rationale Lebensfuhrung" im Sinne Webers auszeichnet, kann die Anleitung durch langfristige „Lebensplane" gelten. Plane sind im allgemeinen die Mittel der Selbststeuerung des Verhaltens, auf welche begrenzt rationale Akteure zugreifen, um trotz dieser Grenzen manchmal so zu handeln, als ob sie „perfekt rationale" Akteure waren.s Die langfristige Planung ermoglicht es den begrenzt rationalen Akteuren, global rational zu handeln, indem sie bei der Verfolgung des situationellen Oberzieles auch andere fiir sie wichtige Ziele zu beriicksichtigen wis sen. Es geht u m eine besondere Art von Modellen und Skripten, die von den Akteuren selbst konstruiert werden. Die Plane sind normalerweise nur skizzenhhaft und dadurch bei ihrer Ausfiihrung fiir eine Vervollstandigung durch die Beriicksichtigung situationeller Kontingenzen of fen. Bei ihrer Konstruktion verwenden die Akteure selbstverstandHch als „Bausteine" kulturelle Modelle und Skripte, die sie gelernt und in ihrem Gedachtnis gespeichert haben. Es geht aber nur um Bausteine fur die Programme und Skripte, die von den Akteuren selbst konstruiert werden. Wenn Esser seine Theorie der Definition der Situation durch die Einbeziehung dieses besonderen Mechanismus der Selbststeuerung des Verhaltens vervollstandigen konnte, so wiirde dem Vorwurf, dass seine Theorie ein durch eine „mentalistische" Terminologie getarntes „behavioristisches Modell" sei, vielleicht jede Uberzeugungskraft genommen. D e n n nicht die Nutzenmaximierung, sondern die Fahigkeit, autonom Plane zu entwerfen und auch auszufiihren, kann als wichtigster „phanomenologisch" festzustellender Zug der menschlichen (Zweck-) RationaHtat gelten.6

Eine bemerkenswerte Analyse des Begriffs der praktischen Rationalitat, die auch die Rolle von Planen beim Umgang mensclilicher Akteure mit den Grenzen ihrer Rationalitat beachtet, siehe in Bratman 1987. Eine „Rekonstruktion" von Webers Theorie des rationalen Handelns, die konsequent von dieser Einsicht ausgeht, siehe in Lachmann 1971, S. 17-48, S. 88-91; siehe auch Parsons 2003.

Rationales Handeln/Rationalitat bei Weber und Esser im Vergleich

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Zenonas Norkus

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A

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Abnehmende Abstraktion, Idealtypen, Erklarungslogik und Theorieverstandnis bei Webef und der erklatenden Soziologie im Vetgleich Rafael Witteh

1 Einleitung Hartmut Esser kommt das Verdienst 2u, die Theorie der Rationalen Wahl — und hier insbesondere Siegwart Lindenbergs erweiterte Version derselben — einem breiteren Publikum zuganglich zu machen. Vielleicht mehr noch als bei den meisten soziologischen Theorierahmen nimmt die Explikation der Erklarungslogik sowie die Losung der Probleme des systematischen Modellbaus in diesem erweiterten Ansatz eine zentrale Rolle ein. Die Methode der ahnehmenden Ahstraktion (Lindenberg 1991) ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, da sie das Vorgehen beim Modellbau transparent macht und konkrete Richtlinien und Heuristiken fur die Theoriekonstruktion zur Verfugung stellt. Soziologische Arbeiten, die sich explizit dieser Vorgehensweise bedienen, sind jedoch nach wie vor selten (eine Ausnahme ist Sprengers 1992), wahrend wirtschaftswissenschaftHche Arbeiten die Prinzipien der abnehmenden Abstraktion meist impHzit in die Praxis umzusetzen scheinen. An Kritik an diesem in einer positivistischen Wissenschaftsauffassung verankerten Vorgehen mangelt es nicht. Bei der Suche nach einer alternativen ,methodischen Begriindung der modernen Soziologie' (Gerhardt 2001) wird dabei vor allem Max Webers Methode der Konstruktion von Idealtypen als besonders vielversprechende Alternative betrachtet, Auch diese Methode, dariiber scheint sich die Weberforschung einig zu sein, gehort nicht gerade zu den am meisten gebrauchten Hilfsmitteln in der soziologischen Forschung: „Die soziologische Theorie, die heute Max Weber einen ihrer unbestrittenen Klassiker nennt, verwendet keine Idealtypen" (Gerhardt 2001, S. 11). Vor dem Hintergrund dieser Renaissance, die den Weberschen Idealtypus als methodologische Grundlage einer anti-positivistischen Sozialwissenschaft und mithin eine Alter-

ICS/Department of Sociology, University of Groningen, Grote Rozenstraat 31, 9712 TG Groningen, The Netherlands. Email: [email protected], Phone: +31 (0) 50 3636282. Der Autor dankt Theo Kuipers und Siegwart Lindenberg fiir wertvolle Hinweise und Anregungen sowie fiir ihre ausfuhrHchen Kommentare IM einer fruheren Version dieses Artikels. Mogliche Irrtiimer sind ausschlieBlich dem Autor zuzurechnen.

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Rafael Wittek

native zur Theorie rationaler Wahl zu entwickeln trachtet, scheint es lohnenswert, Erklarungslogik, Moglichkeiten und Grenzen beider Heuristiken des Modellbaus genauer zu untersuchen. Ziel dieses Beitrages ist es, die Methode der abnehmenden Abstraktion und die Methode der Konstmktion von Idealtypen zu rekonstruieren, die ihnen zugrunde liegende Erklarungslogik herauszuarbeiten und miteinander zu vergleichen. Zentral ist dabei die Frage, inwieweit beide Ansatze geeignet sind, eine fruchtbare Grundlage fur die Konstruktion soziologischer Theorien zu bieten. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut. Im ersten Abschnitt skizziere ich die meinem Vergleich zugrunde liegende Methodik. Es handelt sich u m das von Kuipers (2001) entwickelte Dekompositionsmodell zur Erklarung von Gesetzen, das gewissermaBen als neutraler Referenzpunkt fiir diesen Theorienvergleich dienen soil. Im zweiten Abschnitt rekonstruiere ich dann erst die Methode der Konstruktion von Idealtypen, u m die zugrunde liegende Erklarungslogik dann anhand des Kuiper'schen DekompositionsmodeUs herauszuarbeiten. Ebenso verfahre ich in Abschnitt drei mit der Methode der abnehmenden Abstraktion. In Abschnitt vier erfolgt eine Analyse der wesentHchen Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Ansatze. Diese Vorarbeiten bilden dann schlieBHch die Grundlage fur eine abschHeBende Bewertung der Frucht- und Brauchbarkeit der Ansatze fur eine theoriegeleitete empirische Sozialwissenschaft.

2 Methodologie Kuipers fragt zurecht, ob das gangige Modell der Sub sumption nach dem Prinzip des Modus Ponens den Kern wissenschaftHcher Erklarungen darsteUt: „It is tempting to say that after an explanation of an individual event by subsumption under a law the really important question then becomes to explain this law" (2001, S. 75). Es geht also genau genommen u m die Erk/arung von Gesetzesaussagen. In der Praxis beinhaltet dies die ReduMon von Gesetzesaussagen. Beim Vergleich der Methode der Idealtypuskonstruktion mit der Methode der abnehmenden Abstraktion sollte demnach die Frage zentral sein, auf welche Weise beide Ansatze zu einer (formal korrekten) Reduktion von Gesetzesaussagen gelangen. An diesem Punkt wird man jedoch sehr schneU mit einer groBen Anzahl von Unscharfen und offensichtHch impHziten Annahmen konfrontiert. Dies gilt vor allem fiir die Methode der Idealtypuskonstruktion, die hierfiir auch haufig kritisiert wurde. Allerdings kann auch die Methode der abnehmenden Abstraktion keineswegs als hinreichend ausgearbeitet angesehen werden. Zur Systematisierung des Vergleichs ist es daher notwendig, beide Heuristiken zunachst zu rekonstruieren, indem implizite Annahmen und Analyseschritte expUzit gemacht werden.

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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U m dies zu bewerkstelligen, ist es sinnvoll, ein externes Strukturierungskriterium heranzuziehen. Kuipers' (2001) Vorschlag scheint m k hierzu aus zwei Griinden besonders geeignet. Z u m einen hat die dort entwickelte Methode explizit zum Ziel, ein Modell formal korrekter Reduktionen z\ir Verfiigung zu stellen. Es ermogUcht es uns also, bestehende Reduktionen auf ihre formale Korrektheit hin zu beurteilen und Unscharfen offen zu legen. Z u m anderen stellt das Dekompositionsmodell ein Instrumentarium zur Verfiigung, mit welchem bestehende Theorien schrittweise in ihre Kernbestandteile zerlegt werden konnen, was einen Theorienvergleich ansehnlich vereinfacht.^ Ich werde in diesem Abschnitt die wesentlichen Elemente des Dekompositionsmodells skizzieren. Ausgangspunkt fiir Kuipers' (2001, Kapitel 3) Modell ist das Postulat, dass jede Erklarung einer Gesetzesaussage in maximal fiinf Standardschritte zerlegt werden kann: (1) Anwendung, (2) Aggregation, (3) Identifikation, (4) Korrelation, (5) Approximation. Im yAnwendungsschritt wird eine Theorie auf die spezifische Situation „zugeschnitten", auf die sich die betreffende Gesetzesaussage jeweils bezieht. Hierzu sind meistens mehrere Hilfshypothesen notwendig, in denen Variablen angegeben werden, die in der Theorie vorkommen. Olson's Gesetz besagt z.B., dass die Realisierung eines kollektiven Gutes desto unwahrscheinlicher wird, je groBer die Gruppe ist, die es produziert. Der Anwendungsschritt besteht darin, dass das aus der Theorie der rationalen Wahl stammende Prinzip der Nutzenmaximierung (Beitrag oder Nichtbeitrag zum kollektiven Gut hangt davon ab, welche Alternative den meisten subjektiven Nutzen bringt) mit zwei Hilfshypothesen kombiniert wird. Die erste betrifft individueUe Nutzenzuordnungen: der subjektive Nutzen des Gutes und subjektive Kosten der Teilnahme sind konstant. Der zweite betrifft individueUe WahrscheinHchkeitseinschatzungen: die subjektive Einschatzung der Zunahme der WahrscheinHchkeit, das Gut zu produzieren dutch ein zusatzHches GruppenmitgHed ist unabhangig von der Anzahl der bereits beitragenden Individuen und nimmt ab mit zunehmender GruppengroBe. Dies fiihrt zu dem ,individuellen Gesetz', dass jedes Individuum seine eigene ,switch group size' besitzt: die Anzahl der Gruppenmitglieder, bei der das Individuum von Teilnahme zu Nichtteilnahme verandert.

2

An dieser SteUe kann noch ein dritter Grund hinzugefiigt werden. Kuipers argumentiert, dass die Subsumptionsrekonstruktion intentionaler Erklarungen wie sie von Nagel und Hempel vorgenommen wird, nicht der wissenschaftlichen Praxis entspricht. Sein Alternatiworschlag besteht in einer „Erklarung durch Spezifikation" (Kuipers 2001, S. Kapitel 4). In diesem Ansatz ist es mogHch, auch kausale Erklarungen singularer Ereignisse zu kitegrieren. Letztere sind hierin, ebenso wie intentionale oder funktionale Erklarungen, Spezialfalle. Da letzteres eines der wesentlichen AnHegen Max Webers war und intentionale Erklarungen den Kern der Theorie der Rationalen Wahl darstellen, eignet sich Kuipers Ansatz besonders fur einen Vergleich.

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Rafael Wittek

Im A^regationsschritt wird der Gesamteffekt des individuellen Gesetzes fiir eine groBere Anzahl von Analyseeinheiten bestimmt. Dies geschieht unter Hinzunahme einer meist statistischen Hilfshypothese. Das Resultat dieser Operation ist ein ,aggregiertes Gesetz'. Im Olson-Beispiel lautet die statistische Hilfshypothese, dass die Gruppen vergleichbar sind hinsichtiich des Mittelwerts und der Varianz der individuellen switch group si^e. Die hieraus ableitbare Gesetzesaussage auf dem Aggregationsniveau des KoUektivs lautet: je groBer die Gruppe, umso geringer der Anteil derjenigen, die zur Produktion des Kollektivguts beitragen werden. Bei einem Identifikationsschritt wird das aggregierte Gesetz unter Zuhilfenahme einer oder mehrerer Identitatshypothesen umgeformt. Identifikation entspricht dem Ersetzen eines theoretischen Begriffs durch beobachtbare Indikatoren: die in der Gesetzesaussage verwendeten Begriffe werden mit den Begriffen der Theorie identifiziert. So handelt es sich etwa bei der Bestimmung eines Gens als Aggregat von DNA-Molekiilen u m einen Identifikationsschritt. V o n einem Korrelationsschritt spricht man hingegen, wenn das aggregierte Gesetz unter Zuhilfenahme von kausalen Hypothesen umgeformt wird, wobei Begriffe aus der Gesetzesaussage mit Begriffen aus der Theorie korreHert werden. Im Olson-Beispiel geschieht dies mit Hilfe der folgenden Aussage: „Je niedriger der Teilnahmegrad, desto geringer die WahrscheinHchkeit, dass das Kollektivgut produziert wird". Identifikation und Korrelation werden auch als Transformationsschritte bezeichnet und die dazugehorenden Hilfshypothesen als Transformationsregeln.^^ Unter einem Approximationsschritt versteht man die Vereinfachung einer Gesetzesaussage durch eine Hilfshypothese die besagt, dass ein bestimmter Parameter in einer Theorie T l relativ klein ist und deshalb vernachlassigt werden kann. Der Approximationsschritt ist im Kontext der Diskussion zur sogenannten „Idealisierung und Konkretisierung/Faktualisierung" zu sehen und kann an einem Beispiel iUustriert werden. Das Prinzip der ,vollen RationaUtat' (VR) wurde z.B. durch Simon's Begriff der ,bounded rationality' (BR) konkretisiert/faktualisiert: Annahmen liber eingeschrankte RationaUtat — im Sinne z.B. selektiver Wahrnehmung (SW) und reduzierter Informationsverarbeitungskapazitaten (RI) — entsprechen der empirischen WirkHchkeit besser als die ideaHsierte Auffas sung voller RationaUtat. Durch Konkretisierung (oder auch, wenn man so will, ,De-Idealisierung' oder Prazisierung) von VR erhalt man BR. Durch Idealisierung von BR erhalt man VR. Dabei wird dann mit Hilfe einer

Eine ausfiihrliche Behandlung des Unterschiedes zwLschen Identifikation und Korrelation findet sich in Kuipers (2001, Kapitel 5). Beinhaltet die Reduktion einer Gesetzesaussage keinen Aggregations- oder Approximationsschritt, dafiir aber einen Transformationsschritt, dann handelt es sich bei den Transformationsregeln um Identitaten.

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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sogenannten Limesoperation angenommen, dass die GroBen SW und RI vernachlassigbar klein sind. Diese Operation wird auch als Approximation bezeichnet: die komplexere Theorie BR wird durch die ,einfachere' Theorie VR korrigiert, ohne dass sie deshalb als falsifiziert gelten muss. Ausgehend von diesen funf Schritten lassen sich drei Arten der Reduktion bzw. Erklarung von Gesetzen durch Theorien identifizieren. •

Erstens lassen sich homogene vs. heterogene Reduktion voneinander unterscheiden. Eine Erklarung basierend auf heterogener Reduktion bedient sich eines Identifikationsschrittes, wahrend eine homogene Reduktion keinen Identifikationsschritt vornimmt. Sie kommt auch ohne Korrelation aus und bedient sich entweder einer Aggregation oder einer Approximation.

•

Zweitens kann einer Erklarung eine deduktive vs. eine korrektive Keduktion zugrunde liegen. Eine deduktive Reduktion bedient sich entweder eines Aggregations- oder eines Identifikationsschrittes, nicht jedoch eines Approximations schrittes, wahrend sich korrektive Reduktionen eines Approximations schrittes bedienen.

•

Drittens konnen Mikroreduktionen von Iso-Keduktionen unterschieden werden. Eine Mikroreduktion beinhaltet einen Aggregationsschritt. IsoReduktionen machen Gebrauch von einem Identifikations- oder Approximations schritt. Tabelle 1 fasst die verschiedenen Formen der Reduktion zusammen.

Tabelle 1: Formen der Reduktion im Kuiper'schen Dekompositionsmodell Typ der Reduktion Mikro Iso Heterogen Homogen Korrektiv Deduktiv

Eigenschaft mit Aggregation ohne Aggregation (mit Identifikation oder Approximation) mit Identifikation ohne Identifikation (mit Aggregation oder Approximation) mit Approximation ohne Approximation (mit Aggregation oder Korrelation)

Eine Reduktion, die z.B. aus einem Anwendungsschritt und einem Aggregationsschritt besteht, wiirde man dann als deduktive, homogene Mikroreduktion bezeichnen. Eine Theorie, die nach der Anwendung einen Identifikations- und einen Approximations schritt vollzieht, bedient sich dementsprechend einer korrektiven, heterogenen Reduktion. Erklarungen, die einen Aggregationsschritt und einen Korrelationsschritt, aber keinen Identifikationsschritt beinhalten, wie dies etwa bei Olson's Gesetz der FaU ist, nehmen in diesem

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Rafael Wittek

Modell eine komplkierte Zwischenposition ein (Kuipers 2001, S. 91). Strenggenommen handelt es sich bei Erklarungen, die sich ledigHch eines Korrelationsschrittes bedienen, nicht u m Reduktionen. Da bei der Erklarung von Olsons Gesetz aber auch einer der drei ,reduktiven' Operationen vorhanden ist — der Aggregations schritt —, quaUfiziert sich auch diese Erklarung als Reduktion. Allgemein formuHert erklart eine Theorie X die Gesetzesaussagen L, wenn: „formal condition: there are auxiliary mutually consistent hypotheses A l , . . . A5 such that L can be derived strictly or approximately from X using one or more times one or more of the five steps (...). Empirical condition: there are good reasons for accepting theory X and required auxiliary hypotheses A1,...A5 as approximately true." (Kuipers 2001, S. 86). Eine formal korrekte Keduktion hmgegen Hegt vor, wenn die folgenden Bedingungen erfiillt sind: „Theory X reducesc law L or ,L can be reduced t o / b y X' if and only if systematic condition: X explains L in accordance with the five-step-model, with at least one of the steps being aggregation (provided it is non-trivial), identification (3) or approximation. Temporal condition: L has been established before X " (Kuipers, 2001, S. 90). Dementsprechend gibt es Reduktionen von Gesetzesaussagen, die dem genannten Kriterium nicht entsprechen, z.B. weil sie ledigHch Gebrauch machen von einem Anwendungs- und einem Korrelationsschritt. AbschHeBend ist noch anzufugen, dass eine Erklarung nicht notwendigerweise alle fiinf Schritte beinhalten muss, dass einzelne Schritte mehrmals auftreten konnen und dass auch die Reihenfolge der Schritte variieren kann: „The only claim with respect to the number and order of steps is that reconstruction of any particular case of a generally accepted explanation leads to a definite number and order of stepps" (Kuipers 2001, S. 87).

3 D i e Konstmktion von Idealtypen Webers Idealtypusbegriff wurde wegen seiner notorischen Unscharfen haufig kritisiert. Weber gebraucht den Idealtypus in zwei grundlegenden Bedeutungen: als Begriff und als Hypothese. Wenngleich die erstgenannte Variante lange Zeit favorisiert wurde, erscheint sie bei genauerer Analyse als wenig fruchtbar (Schmid 1994, S. 424-432, siehe kritisch hierzu Hirsch Hadorn 1997). Michael Schmid folgend richte ich mich daher im Folgenden auf die Rekonstruktion der hypothesengenerierenden Eigenschaften von Idealtypen."^ Auch hier gilt leider:

Esser (1999, S. 475) geht auf den Unterschied zwischen Idealtypus als Begriff und als Hypothese nicht naher ein und betrachtet die ,Herauspfaparierung bestimmtef Typen sozialer Kategorien' als einen wesentlichen Schritt der Situationsanalyse. Ihm geht es hier zum einen um empirische Klassifikation und 2um anderen um gedankliche Abstraktion. Letztere ist in zwei Schritten zu voUziehen. Erst werden die bedeutsamen Einzelvariablen identifiziert (Merk-

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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J m m e r noch aber scheint sich die genauere Logik des Idealisierungsverfahrens nicht endgiiltig herauszuschalen' (Schmid 1994, S. 433). Hinzu kommt, dass sich mindestens vier Formen von Idealtypen als hypothesenbildende Modelle unterscheiden las sen (Kalberg 2001, Kapitel 4). Idealtypen als djnamische Modelle werden aus einer Reihe von regeknaBigen Handliingsorientierungen gebildet. Idealtypen als kontextuelle Modelle „formulieren Hypotiiesen hinsichtlich der Wirkung spezifischer sozialer Kontexte auf regeknaBiges Handeln" (Kalberg, 2001, S. 133). D u t c h den Bezug verschiedener Idealtypen aufeinander kann man dtittens logische Wechselwirkungen regeknaBigen Handekis untersuchen. Idealtypen als Entwkklungsmodelle schkeBkch dienen dazu, Hypothesen iiber den Verlauf regeknaBigen Handekis zu generieren. Ich gehe aus Plat^griinden nicht naher auf die Unterschiede ein. Die folgenden Analysen gehen von der Annahme aus, dass die der Bildung von Idealtypen zugrunde kegende Erklarungslogik in aUen vier Fallen dieselbe ist. Burgers (1976, S. 160ff) Vorschlag zur Rekonstruktion der Bildung von Idealtypen verdient in diesem Zusammenhang aufgrund seiner analytischen Transparenz und empkischen Anschaukchkeit besondere Beachtung. Burgers Vorschlag sei hier inklusive der von ihm gebrauchten lUustration am Beispiel von Webers Biirokratietheorie kurz umrissen. Demnach umfasst die Konstruktion von Idealtypen sechs Schritte. 1.

Im ersten Schritt wahlt der Forscher eine universeUe Aussage, wonach Individuen in bestimmten Situationen entsprechend einer bestimmten Maxime handeki, z.B. „Individuen in poktischen Fiihrungspositionen probieren die effizientesten Mittel, die ihnen zur Verfugung stehen, zum Ausiiben ihrer Macht und der Kontrolle anderer zu gebrauchen". Webers Instrumentarium zur Formukerung derartiger Aussagen besteht in seiner Theorie der Handlungstypen, wobei er zwischen vier Handlungs/^/^^i?;^^^;/ unterscheidet (zweckrational, wertrational, affektueU, traditional). Die oben genannte universeUe Aussage geht also von einer zweckrationalen Handlungs tendenz bei den Akteuren aus.

2.

Der zweite Schritt besteht in der Spezifizierung der sozialen Situationen, in der Handlungen, wie sie im ersten Schritt beschrieben wurden, vorkommen. Die Situation wird dabei ,konstruiert', indem von den Merkmalen bekannter Situationen abstrahiert wkd, wie etwa die Situation einer Wahlkampagne zur Erlangung eines wichtigen poktischen Amtes in einem

malsraum als Resultat der Kombination von Einzelvariablen), dann geht man iiber zu dessen Reduktion nach einer theoretischen Kegel. Er spricht hier von einer typologischen Theorie. Empirische Daten alleine, so Esser, fuhren nur selten zu soziologisch sinnvoller Typenbildung. Um letzteres zu erreichen, ist die FormuUerung von Briickenannahmen notwendig. Diese wiederum werden aus dem Verstandnis des Funktionierens des betreffenden sozialen Systems gewonnen.

426

Rafael Wittek demokratischen Staat. Im Falle der Biirokratieanalyse wird die Situation dutch den Begriff des Herrschaftsverbandes beschrieben. Ein Herrschaftsverband muss zwei Bedingungen erfullen. Z u m einen muss der Herrscher geniigend Ressourcen zur Verfugung haben, um die Ausfuhnang seiner Anweisungen sichern zu konnen. Z u m anderen ist ein Uberzeugungssystem erforderlich, welches den Gehorsam der beteiligten Akteure legitimiert und sanktioniert.

3.

Im dritten Schritt erfolgt nun die Analyse des Handelns (und des sen Konsequenzen) von Akteuren, die sich in den im zweiten Schritt beschriebenen Situationen befinden. D e n Ausgangspunkt bilden dabei Annahmen iiber individuelle Entscheidungen wie sie im ersten Schritt gemacht wurden. Im Wahlkampfbeispiel ging es um Aktivitaten, mit denen die Unterstiitzung der Wahler sichergestellt werden soil, also die Griindung einer Partei, die Akquisition von Spenden etc. Im Biirokratiebeispiel fuhrt dies zu der Hypothese, dass Individuen in Fiihrungspositionen, die in Herrschaftsverbanden nach dem Prinzip des effizienten Machtgebrauchs handeln, sehr wahrscheinlich MaBnahmen treffen, die letztlich zu dem bekannten Profil der Biirokratie fiihren: Trennung von Amt und Position, Karrieren fur Beamte etc. In diesem Schritt findet die Konstruktion des Idealtypus als Begriff statt. Webers Strategic ist hierbei die Hervorhebung des WesentHchen, wobei unwesentliche Aspekte weggelassen werden.

4.

Im vierten Schritt werden Unterkategorien von Situationen, wie sie im zweiten Schritt beschrieben wurden, gebildet. Im Wahlkampfbeispiel kann man etwa reiche und weniger begiiterte Kandidaten fur das Amt unterscheiden. Im Biirokratiebeispiel kann hier der Unterschied genannt werden zwischen unkiindbaren Beamten mit Fes tans tellung einerseits, und solchen MitgHedern von Herrschaftsverbanden, deren MitgHedschaft willkurHch gekiindigt werden kann, andererseits.

5.

Ausgehend von der im ersten Schritt postulierten Handlungsmaxime werden nun im funften Schritt Hypothesen dariiber formuHert, wie Akteure unter den im vierten Schritt unterschiedenen Bedingungen jeweils handeln wurden. Im Wahlkampfbeispiel: reiche Kandidaten sind weniger abhangig von finanzieller Unterstiitzung reicher Lobbygruppen, wodurch diese weniger politischen Einfluss bekommen. Im Biirokratiebeispiel: unkiindbare Beamte lassen sich nicht durch personUche Profitmaximierung leiten und fiihren ihre Aufgaben den Regeln entsprechend aus. Kiindbare Beamte hingegen werden ihre Aufgaben immer mit einem Auge auf die Wahrung ihrer AnsteUung ausfuhren.

6.

Die Konfiguration von Aktivitaten und ihrer Folgen, wie sie im dritten Schritt beschrieben wurden, wird als Idealtyp bezeichnet, wobei die ersten beiden Schritte auch als dessen Annahmen angesehen werden konnen.

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

427

Durch den Vergleich des Handelns und seiner Folgen (Schritt 5) in unterschiedlichen Bedingungen (Schritt 4) konnen im sechsten Schritt nun Hypothesen oder Gesetzesaussagen abgeleitet werden. Im Wahlkampfbeispiel ist der Idealtypus der eines Machtkampfes in einer Demokratie und das dazugehorige ,idealtypische Gesetz' besagt: ,je wohlhabender der Kandidat in einem Kampf u m politische Macht in einer Massendemokratie, des to geringer der Einfluss von reichen Lobbygruppen — und desto groBer das AusmaB der Kontrolle, das der Kandidat selbst ausiiben kann'. Fiir den Biirokratiefall: ,je sicherer die materielle Situation der Amtsinhaber in einer modernen Biirokratie, desto weniger werden personliche Belange eine Rolle fur die Ausiibung ihrer Funktion spielen, d.h. desto ,objektiver' werden ihre Entscheidungen sein — und desto effizienter wird die moderne Biirokratie ihre Aufgaben erfullen.' Ich werde Burgers' Rekonstruktion der Bildung von Idealtypen nun im Lichte von Kuipers' Dekompositionsmodell betrachten. Zunachst das Wahlkampfbeispiel. Die 2u erklarende Gesetzesaussage, wie sie im oben genannten sechsten Schritt beschrieben wurde, wollen wir als Machtkampfgesetz bezeichnen (GM). Der Anwendungsschritt formuliert eine Hypothese iiber den optimalen Gebrauch von Ressourcen durch individuelle Akteure, das Prinzip des effizienten Machtgebrauchs (PEM). Die in Schritt 2 beschriebene soziale Situation definiert die Randbedingungen, unter denen die Akteure ihre Ressourcen einsetzen: eine Wahlkampagne. Bei einer ausfiihrHchen Analyse miissten nun die vielen hinter diesem Begriff stehenden impliziten Annahmen expUzit gemacht werden. Etwa dass alle Kandidaten das passive Wahkecht besitzen. Diese Annahmen miissten dann als Hilfshypothesen eingefiihrt werden. In Kombination mit P E M ergibt sich dann das im dritten Schritt Burgers implizit bleibende individuelle Verhaltensgesetz (GI-1): Kandidaten fur politische Amter betrachten die Griindung von Parteien, das Abhalten von Parteikongressen, das haufige Auftreten in den Medien als effiziente Instrumente zur Erlangung einer Machtposition. An dieser SteUe erfordert die Rekonstruktion der Methode einige Vorsicht, da einige zentrale Annahmen impHzit bleiben. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass nun zwei Schritte vollzogen werden. Erstens erfolgt ein Aggregationsschritt dieser beruht auf der impHziten — und fiir demokratische poHtische Systeme vielleicht selbstevidenten — Annahme, dass es mehrere Kandidaten fur das poHtische Amt gibt, welche dann auch ahnliche Verhaltensmuster im Streit u m die poHtischen Amter an den Tag legen. Zweitens scheint an diesem Punkt auch ein Transformationsschritt in Form einer Identifikation vollzogen zu werden, da hier die Begriffe der Gesetzesaussage verkniipft werden mit den Begriffen der Theorie: das Konstrukt jBiirokratie' etwa wird hier als eine Konfiguration von Handlungen und ihren

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Folgen beschrieben,^ wobei wesentliche Aspekte hervorgehoben und unwesentliche Aspekte weggelassen werden. Im Wahlkampfbeispiel handelt es sich u m die durch den Idealtypus des politischen Machtkampfes in einer Demokratie beschriebene Identitatshypothese (HH-5), derzufolge die wesentlichen Aspekte eines solchen Machtkampfes etwa im Gninden einer Partei, in offentlichen Auftritten in den Medien und dem Sicherstellen der Parteifinanzen bestehen konnten. Das Phanomen ,Machtkampf wird also identifi2iert durch eine Anzahl von Elementen, die ihrerseits das Resultat der sich aus dem Anwendungs- und Aggregations schritt ergebenden Handlungen der Akteure sind. Die im vierten Schritt vorgenommene Unterscheidung zwischen wohlhabenden und minder begiiterten Kandidaten stellt wiederum einen Anwendungsschritt dar. Die Hilfshypothese lautet hier, dass es lediglich eine Bedingung gibt, die die effiziente Machtausiibung in einem Wahlkampf beeinflusst: die finanziellen Ressourcen des Kandidaten. Der von Burger in Schritt 5 beschriebene Zusammenhang — je wohlhabender der Kandidat, desto geringer der Einfluss von Lobbygruppen — kann dann als aus der Hilfshypothese ableitbares individuelles Verhaltensgesetz (GI2) aufgefasst werden. Im letzten, auf einer Korrelation beruhenden Transformationsschritt, wird GI-2 kombiniert mit den in Schritt 3 angegebenen Handlungskonsequenzen (den Aktivitaten einer Wahlkampagne). Es ergibt sich gewissermaBen eine Vierfeldertafel, wobei die erste Dimension aus dem Vorhandensein bzw. der Abwesenheit von Aktivitaten einer Wahlkampagne besteht und die zweite Dimension zwischen wohlhabenden und weniger begiiterten Kandidaten unterscheidet. Die Korrelationshypothese besagt: ,je wohlhabender der Kandidat in einem Kampf u m poUtische Macht in einer Massendemokratie, desto geringer der Einfluss von reichen Lobbygruppen'. Dieser Rekonstruktion zufolge geht die Konstruktion von Idealtypen in zwei Stufen vor sich, wobei die Sequenz Anwendung, Aggregation, Identifikation gefolgt wird von der Sequenz Anwendung, Aggregation, Korrelation (siehe Tabelle 2). Es handelt sich also im ersten Fall um eine deduktive heterogene Mikroreduktion und im zweiten Fall um eine deduktive homogene Mikroreduktion. Die Frage ist nun, ob sich diese an einem hypothetischen Beispiel vollzogene Analyse auch zur Rekonstruktion von Webers einflussreichem Idealtypus der Biirokratie eignet. Die zu erklarende Gesetzesaussage, wie sie im oben genannten sechsten Schritt beschrieben wurde, wollen wir als Webers Biirokratiegesetz bezeichnen (GW).

„The configuration of activities and their results referred to in (3), (a hypothetical configuration of events), is what is described by an ideal type" (Burger 1976, S. 161).

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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Der A.nwendungsschntt beinhaltet mehrere Elemente. Z u m einen wird eine itn methodologischen Individualismus verankerte Annahme gemacht: das im ersten Schritt genannte Prinzip des Effizienten Machtgebrauchs (PEM). Hinzu kommen zwei Hilfshypothesen, wie Burger sie im zweiten Schritt beschrieben hat. Erstens betrachten die Untergebenen die Herrschaft als legitim, wenn sie auf einem System von rationalen Regeln beruht (HH-1). Zweitens stehen den Fiihrern in Herrschaftsverbanden ausreichend Ressourcen zur Verfugung (HH-2). Die Anwendung von P E M unter der Annahme von H H - 1 und H H - 2 fuhrt 2u dem itn dritten Schritt implicit enthaltenen individuellen Verhaltensgesetz (GI): Herrscher betrachten die im Idealtypus der Biirokratie genannten MaBnahmen als effiziente Instrumente zur Ausiibung ihrer Macht. Die zur Ausfuhrung des A.^regationsschrittes notwendigen Annahmen finden sich in Webers Beschreibung der Geltungsgriinde der Herrschaft.^ Aus seiaen Ausfuhrungen lasst sich schlieBen, dass der erfolgreichen Implementierung einer Biirokratie immer eine kollektive Handlung zugrunde liegen muss. Sie hangt somit von der Fahigkeit der Herrschenden ab, sich zu koordinieren, beziiglich der Erhaltung des Herrschaftsverbandes zu kooperieren und sich gegen etwaige Putschversuche zu wappnen: die wesentliche Gefahrdung ihrer Position verbkgt sich itn „Massen- oder Gemeinschaftshandeln" der Widerstrebenden. Der hieraus abzuleitende Aggregationsschritt stiitzt sich auf die folgende (statistische) Hilfshypothese (HH-3): je geringer die Zahl der Herrschenden, desto wahrscheinlicher ist die Erhaltung ihrer Macht und somit desto starker ihre Machtstellung. Aus diesen Annahmen lasst sich das folgende aggregierte kollektive Verhaltensgesetz (GK-1) ableiten: Je starker die Machtstellung der Herrschenden, desto wahrscheinlicher ist es, dass die MitgUeder ihres Herrschaftsverbandes den Anweisungen der Herrschenden Folge leisten. An diesem Punkt wicd auch ein auf einer Identitatshypothese (HH-4) beruhender Transformations schritt vollzogen. Dieser gibt an, aus welchen Elementen eine Biirokratie besteht. Das resultierende soziale Verhaltensgesetz (GS-1)

^

„Die beherrschende Stellung des jenem Herrschaftsgebilde zugehorigen Personenkreises gegeniiber den beherrschten ,Massen' ruht in ihrem Bestande auf dem neuerdings sog. ,Vorteil der kleinen Zahl', d.h. auf der fiir die herrschende Minderheit bestehenden Moglichkeit, sich besonders schnell zu verstandigen und jederzeit ein der Erhaltung ihrer Machtstellung dienendes, rational geordnetes Gesellschaftshandeln ins Leben zu rufen und planvoll zu leiten, durch welches ein sie bedrohendes Massen- oder Gemeinschaftshandeln solange miihelos niedergeschlagen werden kann, als nicht die Widerstrebenden sich gleich wirksame Vorkehrungen zur planvollen Leitung eines auf eigene Gewinnung der Herrschaft gerichteten Gesellschaftshandelns geschaffen haben. Der ,Vorteil der kleinen Zahl' kommt voll zur Geltung durch GeheitTki'Awxx^^ der Absichten, gefaBten Beschliisse und Kenntnisse der Herrschenden, welche mit jeder VergroBerung der Zahl schwieriger und unwahrscheinlicher wird" (Weber 2002 [1922], S. 548).

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lautet: Je genauer die Mitglieder eines Herrschaftsverbandes den Anweisungen der Herrscher Folge leisten, desto wahrscheinlicher ist es, dass die im Idealtypus einer modernen Biirokratie enthaltenen Elemente realisiert werden. Genau genommen beschrankt sich die Konstniktion des Idealtypus ,Burokratie' bis zu diesem Punkt auf die Bedingungen, unter denen Biirokratien iiberhaupt realisiert werden. Hierbei stehen die Handlungen der Herrschenden im Mittelpunkt und werden zunachst durch Hilfshypothesen mogliche Variationen in deren Situation ausgeschlossen: die Herrscher haben ausreichend Ressourcen zur Verfugung, sind in der Lage kollektiv zu handeln und konnen auf hinreichende Akzeptanz bei ihren Untergebenen rechnen. In den Schritten 4-6 richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Handlungen von Mitgliedern des Herrschaftsverbandes, die Untergebenen bzw. Beamten. Hier werden Typen von Akteuren unterschieden, z.B. hinsichtlich der Sicherheit des Arbeitsverhaltnisses. An dieser Stelle wird dann differenziert, unter welchen Bedingungen die gewahlten Instrumente tatsachlich effizienten Machtgebrauch hervorbringen. Im vierten Schritt wird durch die Bildung von Unterkategorien wiederum ein A.nwendungsschntt vorgenommen. Die Hilfshypothese lautet hier, dass es ledigHch eine Bedingung gibt, die die tatsachliche Effizienz einer modernen Biirokratie beeinflusst, namHch die Sicherheit des Arbeitsverhaltnisses: unkiindbare vs. kiindbare Beamte (HH-5). Implizit bleibt offensichtHch die Annahme, dass Untergebene in ihrem eigenen Interesse handeln, falls sie hiervon nicht durch entsprechende institutionelle MaBnahmen abgehalten werden. Der Hilfshypothese miisste also der Vollstandigkeit halber noch ein Prinzip der individueUen Nutzenmaximierung hinzugefugt werden. Der von Burger im funften Schritt beschriebene Zusammenhang — je sicherer die Position, desto geringer das Eigeninteresse — kann dann als aus der Annahme der individueUen Nutzenmaximierung und H H - 5 ableitbares individuelles Verhaltensgesetz (GI-2) aufgefasst werden. An dieser Stelle witd auch ein A^regationsschritt vollzogen. Webers Annahme, dass die beiden Gruppen von (kiindbaren und unkiindbaren) Beamten hinsichtlich der Bevorzugung ihrer Sicherstellung im Alter sowie der Ablehnung von willkurlichen Kiindigungen denselben Mittelwert aufweisen,'^ kann als statistische Hilfshypothese (HH-6) festgehalten werden. Das hieraus ableitbare aggregierte koUektive Verhaltensgesetz (GK-2) lautet: je groBer die Anzahl der unkiindbaren Beamten, desto geringer die Anzahl der Verletzungen biirokratischer Regeln. Im letzten, auf einer Korrelationshypothese beruhenden Transformationsschritt, wird GI-2 kombiniert mit den im dritten Schritt angegebenen Eigen-

„Der Durchschnitt der Beamten selbst erstxebt naturgemaB ein ,Beamtenrecht', welches, neben materieller Sicherstellung im Alter, auch die Garantien gegen willkiirHche Entziehung des Amtes erhoht" (Weber, 2002 [1922], S. 555).

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schaften (in diesem Fall der modernen Biirokratie). Es ergibt sich eine Vierfeldertafel, wobei die eine Dimension das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit der Weberschen Elemente der modernen Biirokratie bezeichnet und die andere Dimension die (Un-) Kiindbarkeit der Untergebenen. Eine effiziente Biirokratie ist 2u erwarten, wenn beide Bedingungen erfullt sind, d.h. wenn die Elemente einer modernen Biirokratie realisiert sind und die Beamten unkiindbare Positionen besetzen. Die Hilfshypothese, die hierzu fiihrt, besagt: je niedriger das Eigeninteresse, desto objektiver und regelkonformer die Entscheidungen der Beamten (HH-7). Tabelle 2 fasst den gesamten Gedankengang zusammen. Drei Punkte verdienen besondere Beachtung. Erstens fallt auf, dass die Konstruktion des Idealtypus ,Biirokratie' — jedenfalls wenn man Burgers Analysen folgt — zwei Anwendungsschritte beinhaltet. Dies an sich ist kein Problem, da das Dekompositionsmodell wiederholtes Ausfuhren desselben Schrittes zulasst. Da im Biirokratiebeispiel aber genau genommen beide Anwendungsschritte fur zwei unterschiedliche Typen von Akteuren gelten — einmal fur den Herrscher, einmal fiiir seine Untergebenen —, ist die kausale Ableitung unvollstandig. Dies las St sich auch dadurch zeigen, dass Tabelle 2 zwei verschiedene Explananda behandelt: zum einen die Implementation einer modernen Biirokratie, zum anderen deren Effizienz. Betrachtet man beide Schritte getrennt voneinander, handelt es sich im ersten Fall — der Erklarung, unter welchen Bedingungen Biirokratien realisiert werden — um eine deduktive heterogene Mikroreduktion, wahrend im zweiten Fall — der Erklarung, unter welchen Bedingungen Biirokratien effizient sind — eine deduktive homogene Mikroreduktion vorHegt. Sofern die hier vorgenommen Rekonstruktion der Annahmen korrekt ist, entspricht die Erklarung des Zustandekommens und der Effizienz von Biirokratien den im Dekompositionsmodell festgelegten formalen Erfordernissen einer formal korrekten Reduktion. Zweitens ist festzustellen, dass die Konstruktion von hypothesenbildenden Idealtypen keinen Approximations schritt aufweist. Dies entspricht der Schlussfolgerung Schmids (1994, S. 437), wonach Webers IdeaHsierungsverstandnis die Approximation von Hypothesen iiber eine Limesoperation gar nicht vorsieht. Hier liegt, wie zu sehen sein wird, ein wesentHcher Unterschied zur Methode der abnehmenden Abstraktion vor, bei der der Approximationsschritt ein zentraler Bestandteil ist. Drittens kann festgehalten werden, dass die Konstruktion von hypothesengenerierenden Idealtypen, da sie sowohl einen Aggregations- als einen Korrelations schritt beinhaltet, nicht aber einen Identifikations schritt, einen komplizierten Sonderfall darstellt (dies gilt im iibrigen auch fiir die Erklarung von Olson's Gesetz, wie Kuipers anfuhrt). Streng genommen konnen Erklarungen, die sich eines Korrelationsschrittes bedienen, nur dann auch als Reduktion aufgefasst werden, wenn es zusatzliche Hilfshypothesen gibt (etwa iiber Ma-

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krorestriktionen, in denen Elemente gebraucht werden, die in die Domane des reduzierten Gesetzes gehoren). Tabelle 2: Schematische Zusammenfassung der Weberschen Idealtypuskonstxuktion nach Burger anhand des Dekompositionsmodells von Kuipers (1. Schritt) Deduktive heterogene Mikroreduktion Anwendung

PEM

HH-1

HH-2 1 Spezifikationshypothese

GI-1

1

Aggregation

HH-3

1 Statistische Hypothese

individuelles Verhaltensgesetii

GKl

1

Identifikation

HH-4

1 Trans formationsregel

GS-1

1

kollektives Verhaltensgesetz soiiiales Geset2

(2. Schritt) Deduktive h o m o g e n e Mikroreduktion Anwendung Aggregation Korrelation

HH-5

PEM

GI-2 HH-6 GK-2 HH-7 GS-2

1

1 1 1 1 1

Spezifikationshypothese individuelles Verhaltensgesetz Statistische Hypothese kollektives Verhaltensgesetz Trans formationsregel soziales Gesetz

4 Abnehmende Absttaktion Ausgangspunkt der Methode der abnehmenden Abstraktion ist die Frage nach dem niinitnal notwendigen MaB an Komplexitat, das notig ist, um sinnvolie Aussagen iiber die Realitat machen zu konnen. Dabei ist der trade-off zwischtn analytischer Starke und empirischer Akkuratheit bzw. Realitatsnahe zentral. Bei der Entwicklung eines Modells werden dabei einfache, sehr allgemeine Modelle mit groBer analytischer Kraft durch schrittweise Hinzufugung zusatzlicher Erklarungsfaktoren komplexer gemacht. In den Wirtschaftswissenschaften geschieht dies etwa dadurch, dass man die Existenz von z.B. Transaktionskosten, Risiko oder Informationsasymmetrie vernachlassigt. Ist der Modellfit zu gering, fiihrt man zusatzliche Annahmen zu diesen Dimensionen ein. Welche Annahmen dabei abgeschwacht werden und welche nicht, geschieht meist ad hoc und entbehrt bisher einer systematischen theoretischen Fundierung. Dies ist auch der Punkt, an dem eine spezifisch soziologische Weiterentwicklung der Heuristik ansetzt (Lindenberg 1991). Diese Version der Methode der abnehmenden Abstraktion besteht aus sechs Schritten. 1. Der erste Schritt besteht in der Formulierung von vereinfachten Bnickenannahmen. Briickenannahmen stellen die Beziehung her zwischen der objektiven

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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Sitxiation (den sich aus der Situation der Akteure ergebenden Restriktionen) und den subjektiven Zielen der Akteure (der Handlungstheorie). Briickenannahmen dienen somit dazu, die typischen Aspekte der Handlungssituation zu identifizieren. Zwei Bedingungen miissen hierbei jedoch erfullt sein. Erstens miissen, um iiberhaupt Bnickenannahmen formulieren zu konnen, zu jeder dem Menschen unterstellten Eigenschaft Akteursannahmen vorliegen. Lindenberg (1996a) pladiert hier fiir den Gebrauch theoriereicher Bruckenannahmen. Das bedeutet, dass man sich bei der Formulierung von Akteursannahmen leiten lasst von einer theoretischen Heuristik, wie etwa der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen (z.B. Lindenberg 1996b). Letztere spezifiziert Annahmen im Rahmen des aUgemeinen RREEMMModells der rationalen Wahl.^ Zweitens muss das Prin^p hinreichender Komplexitdt beriicksichtigt werden.^ Dieses Prinzip besagt, dass die einfachsten Modellannahmen immer realistisch genug sein miissen, so dass eine Beschreibung des zu erklarenden Phanomens moglich ist. 1st z.B. ,Unsicherheit' Teil des Explanandums, darf das Modell Unsicherheit nicht von vornherein ausschHeBen indem man annimmt, dass die Akteure voll informiert sind. Somit erfordert die erste Stufe der Methode der abnehmenden Abstraktion zwei Unterschritte. Z u m ersten die Formulierung von Akteursannahmen (etwa zu den im R R E E M M Modell angegebenen sechs Elementen der Handlungstheorie). Zweitens eine Uberpriifting, ob die Annahmen das Prinzip hinreichender Komplexitat verletzen. Ist dies der Fall, muss erst die entsprechende Akteursannahme revidiert werden, bevor mit dem ModeUbau fortgefahren werden kann. Beim Prinzip der hinreichenden Komplexitat handelt es sich also bereits u m ein erstes Bewertungskriterium, das zum Ausschluss von Annahmen, die nicht hinreichend komplex sind, fiihren kann. Nehmen wir als Beispiel die von Esser in diesem Kontext herangezogene Erklarung der Studentenproteste in den sechziger Jahren, wie sie urspriingHch von Boudon skizziert wurde. Das statistische Gesetz, das hier erklart werden soil, lautet: „Je besser die Reputation der Universitat, desto starker das AusmaB der Studentenproteste". Als Akteursannahme wird hier das Prinzip individueller Nutzenmaximierung gesetzt. Eine Briickenhypothese besagt, dass das Belohnungssystem fiir Forscher einen kosmopolitischen Charakter hat. U m dem Prinzip hinreichender Komplexitat geniige zu leisten, muss in diesem Schritt davon ausgegangen werden, dass Reputationsunterschiede zwischen Universi-

^ ^

Das Akronym RREEMM steht fiir sechs Kernannahmen iiber menschliche Akteure: Resourceful, Restricted, Expecting, Evaluating, Motivated, Meaning. Esser geht in seiner Darstellung von Lindenbergs Ansatz auf diesen Punkt nicht ein.

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taten bestehen und dass diese Unterschiede bei den Akteuren bekannt und fur deren Handeln relevant sind. Hieraus folgt eine weitere Akteursannahme: nicht alle Professoren streben alleine nach finanzieller Endohnung — jedenfalls fur einige unter ihnen ist die Realisierung von sozialen Zielen, wie die Produktion von Status, ein wichtiger Bestandteil ihrer sozialen Produktionsfunktion.^^ 2. Der zweite Schritt besteht in der weiteren Problematisierung der einfacheren strukturellen Akteurs-, Briicken-, Transformations-, und Messmodellannahmen, wobei darauf zu achten ist, dass die Anzahl der Akteure und die Komplexitat der Interaktion niedrig bleiben. In diesem Schritt wird der Gebrauch von Heuristiken wie der SPF-Theorie empfohlen. Ein wichtiges Element bei der Ausfuhrung des Trans formations schrittes ist der Gebrauch von Hintergrundwissen. Sowohl bei der Formulierung von Bnickenannahmen (welche die Verbindung zwischen dem Explanans auf dem Makroniveau und dem Explanandum auf dem individuellen Niveau herstellen) als auch bei Trans formationsannahmen (welche die Verbindung zwischen dem Explanans auf dem individuellen Niveau und dem Explanandum auf dem Makroniveau herstellen) ist es notwendig, allgemeine Hypothesen zu vermeiden — das Kennzeichen dieser Annahmen ist eben gerade, dass sie nicht allgemein im Sinne von universell giiltig sind, sondern nur in bestimmten sozialen Situationen gelten (Lindenberg 1985). Beide Typen von Annahmen sollten vielmehr die Form von statistischen Quasigesetzen haben. Im Studentenprotestbeispiel ist eine strukturelle Akteursannahme, dass es drei Typen von Akteuren gibt: Professoren, Studenten und den korporativen Akteur ,Universitat'. Die oben formulierte strukturelle Briickenannahme des kosmopoHtischen Charakters des Belohnungssystems fur forschende Professoren (Esser 2000, S. 81) kann nun weiter ausgearbeitet werden. So kann z.B. aufgrund der Theorie der sozialen Produktionsfunktionen angenommen werden, dass Professoren nicht nur nach einem hohen Einkommen streben, sondern auch nach Prestige und Status in ihrem Forschungsgebiet. Eine Moglichkeit, u m Status zu produzieren, ist die Publikation von Artikeln in internationalen Zeitschriften, eine andere der Besuch internationaler Kongresse. MogUche strukturelle Transformationsannahmen werden von Esser (2000, S. 406-413) im Rahmen seiner Diskussion von Schwellenwerten beschrieben, wie etwa dem des Spezialfalls des Dominoeffektes. Dieses Modell geht davon aus, dass es mindestens einen Akteur gibt mit einem Teilnahmeschwellenwert

Man konnte natiirlich argumentieren, dass das Erlangen von Status kein Ziel an sich ist, sondern letztlich selbst nur ein Instrument zur Erhohung des Einkommens, da Professoren mit hohem Status mehr Chancen haben, um von besser bezahlenden Universitaten angestellt zu werden. Es ist jedoch fraglich, ob die besten amerikanischen Universitaten auch wirklich hohere Gehalter zahlen.

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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von Null. Die Tatsache, dass dieser agent provocateur aktiv wird, ist wiedenim ausschlaggebend far die Teilnahmeentscheidung des Akteurs mit dem nachst niedngen Schwellenwert, usw. Eine zentrale stnikturelle Transformationsannahme ist hier, dass die Schwellenwerte in der Studentenpopulation liickenlos aneinander anschlieBen, da sonst die Kettenreaktion unterbrochen witd und somit keine hinreichende Anzahl von Studenten mobilisiert wird. Esser (2000, S. 413) weist zugleich auf eine struktxirelle Messmodellannahme bin, wenn er vor der begrenzten Aussagekraft von Mittelwerten 2ur Kennzeichnung von Kollektiven warnt: bei gleichen Mittelwerten konnen verschiedene Kollektive ganz unterschiedliches Verhalten an den Tag legen. Es ist also sinnvoll, neben den Mittelwerten auch deren Verteilung als stnikturelle Messmodellannahme in die Analyse einzubeziehen. 3. Der dritte Schritt richtet sich auf die Problematisierung der kognitiven Restriktionen, falls man trotz der in Schritt 2 gemachten strukturellen Annahmen immer noch nicht zu einem befriedigendem Modell gelangt ist. Hierzu wird der Gebrauch von Heuristiken liber kognitive Restriktionen (wie sie etwa in der Framingtheorie postuliert werden) empfohlen. Hier wird also derselbe Zyklus wie in der zweiten Stufe durchlaufen, nur dass nun das bestehende Modell durch Hinzufiigung von kognitiven Akteurs-, Briicken-, Transformations- und Messmodellannahmen erweitert wird. Hier geht es etwa u m Annahmen iiber die Informationsverarbeitungskapazitat von Individuen (z.B. ,alle Individuen schatzen objektive Wahrscheinlichkeiten richtig ein', oder ,kleine WahrscheinHchkeiten werden iiber-, groBe unterschatzt'). 4. Im vierten Schritt geht es darum, den Punkt zu bestimmen, an dem das Modell so einfach wie moglich und so komplex wie notig ist. Man stoppt z.B., wenn die Zunahme an Realitatsnahe den hierfiir notwendigen Zusatzaufwand nicht mehr rechtfertigt. Dies ist, wie Lindenberg betont, Erfahrungssache und keine methodologisch begriindbare Schwelle. In die Bexirteilung konnen sowohl empirische Befunde (der Modellfit eines statistischen Modells wird als zu schlecht befunden) als auch Hintergrundwissen (etwa aus dem Stand der bisherigen Forschung) einflieBen. 5. Der fiinfte Schritt ist dem Umarbeiten der Resultate der komplexeren Modelle gewidmet. Ziel ist es hierbei, dass sie auch schon in einfacheren Modellen zum Zuge kommen konnen. D.h. nun wird gepriift, ob die auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau hinzugefugten Variablen und die ihnen zugrunde liegenden Annahmen nicht auch einfacher eingefuhrt werden konnen. So konnen zum Beispiel Framingeffekte bereits im ersten Schritt als situations spezifische Elastizitaten eingefuhrt werden. 6. Im sechsten Schritt werden Briicken-, Akteurs-, Transformations- und Messmodellannahmen am Stand der jetzigen Kenntnis auf dem Gebiet beurteilt.

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Ich wende nun wieder Kuipers Dekompositionsmodell an, um die Erklaningslogik der Methode der abnehmenden Abstraktion zu analysieren. Ausgangspunkt sei wiederum eine zu erklarende Gesetzesaussage. Nehmen wir als Beispiel Olson's Gesetz (OG): je groBer die Gruppe, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ein kollektives Gut produziert wiid.^^ A m Beginn der Erklarung steht ein Anwendungsschritt. Im Olson-Beispiel besteht er darin, dass bei den Akteursannahmen vom Prinzip individueller Nutzenmaximierung (PUM) ausgegangen wird, d.h. von der Annahme, dass Teilnahme bzw. Nichtteilnahme davon abhangt, welche Alternative den hochsten erwarteten Nutzen hat. Diese Annahme wird kombiniert mit der Briickenhypothese, dass mit zunehmender GruppengroBe die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass das Gut produziert wird, abnimmt (HH-1). Piieraus lasst sich das folgende individuelle Gesetz ableiten: je groBer die Gruppe, desto wahrscheinlicher ist es, dass der subjektive erwartete Nutzen fur Nichtteilnahme hoher ist als fur Teilnahme (GI-1). ZusatzHche Briickenhypothesen sind denkbar. Kuipers etwa fuhrt an, dass jedes Individuum seine eigene ,switch group size' hantiert (GI-2). Hierbei handelt es sich u m die GruppengroBe, bei der ein Akteur von Nichtteilnahme zu Teilnahme iibergeht. N u n folgt der Aggregationsschritt Dafiir wird zunachst auf Hintergrundwissen iiber historische Tatsachen und bekannte RegelmaBigkeiten zuriickgegriffen. Lindenberg fuhrt als Beispiel an, dass KoUektivgiiter auch von Akteuren auBerhalb der Gruppe produziert werden konnen, etwa durch die Regierung. Kuipers hantiert hier eine statistische Hilfshypothese, wonach die zu vergleichenden Gruppen ahnUche Mittelwerte und Varianzen hinsichtlich der switch group size a u ^ e i s e n miissen (HH-2). Hieraus folgt das Aggregationsgesetz (GK-1): je groBer die Gruppe, desto geringer die Teilnahmewahrscheinlichkeit individueller Gruppenmitglieder. Der Transformationsschritt kann entweder iiber eine Korrelation oder iiber eine Identifikation stattfinden, abhangig von der Art der Aggregation. In Kuipers' Rekonstruktion wird ein Korrelationsschritt vorgenommen: je geringer der Teilnahmegrad, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass das kollektive Gut produziert witrd (HH-3). N u n hat man ein auf strukturellen Bedingungen basierendes Modell, das empirisch getestet werden kann. Wir konnen dieses Modell T l nennen. Es handelt sich dabei um eine deduktive homogene Mikroreduktion.

Dieses Beispiel eignet sich besonders fiir unsere Zwecke, da es sowohl von Lindenberg als auch von Kuipers, der sich auf Lindenberg stiitzt, zur Illustration herangezogen wurde. Um die Illustration zu vereinfachen, kotnbiniere ich hier Elemente aus Kuipers und Lindenbergs Rekonstruktionen. Letztere weicht in einigen Punkten von Olson's Argumentation ab (Lindenberg 1983, S. 42-43).

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Die weitere Problematisierung des Modells durch Hinzufiigung von kognitiven Annahmen ist nicht automatisch notwendig. Es kann z.B. so sein, dass das Modell bei der empirischen Uberpriifung bereits sehr gute Resultate liefert. Streng genommen ist man also bereits hier an einem Punkt angelangt, an dem man priift, ob der Modellbau beendet werden kann. Lindenberg macht diesen Schritt jedoch nicht explicit. Die weitere Ausarbeitung kann natiirlich auch aus theoretischen Griinden angestrebt werden. In beiden Fallen wird das erste Modell als unzulanglich betrachtet, aber nicht als falsch bzw. falsifiziert. Lindenberg geht nicht naher auf die KompHkationen ein, die sich an diesem Punkt ergeben konnen. Zwei Situationen verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens: Bewertet man die Giite von T l an ihrer empirischen Uberpriifung, so kann es sein, dass der behauptete Zusammenhang tatsachHch in den Daten gefunden wird, aber schwach ist (also nur einen geringen Teil der beobachteten Varianz erklart). In diesem Fall sucht man mit T2 ein Modell, welches zusatzHche Variablen beinhaltet, wodurch die Erklarungskraft des Modells steigt. Das Resultat ware dann eine Integration beider Theorien iiber eine additive Verbindung ihrer Wenn-Komponenten. Zweitens ist es jedoch auch moglich, dass die in T l aufgestellten Hypothesen empirisch falsifiziert werden. N u n wird angenommen, dass es eine andere Theorie T2 gibt, die T l widerspricht, „ohne dass daraus die zwingende Konsequenz zu Ziehen ist, dass die widerlegte Theorie die Biihne zu verlassen hat" (Schmid 2001, S. 487). In diesem Fall geht es darum, eine Theorie T2 zu formuHeren, welche T l so korrigiert, dass man T l als eine Approximation an T2 verstehen kann. Hierbei wird also ein Approximationsschritt vorgenommen.^^ Auch die in der fiinften Stufe beschriebene Operation der Vereinfachung oder Entproblematisierung bereits gemachter Annahmen kann als ein Approximationsschritt betrachtet werden. Die Approximation steUt die dritte Stufe der Methode der abnehmenden Abstraktion dar. Hier wird der Zyklus Anwendung — Aggregation — Transformation wiederholt, wobei zu den bisherigen strukturellen Annahmen nun Annahmen iiber kognitive Restriktionen hinzugefiigt werden. Fiir das Beispiel beschranke ich mich auf die Ausarbeitung einer kognitiven Akteursannahme. Auf der Grundlage von Befunden zur Framingtheorie konnte man z.B. annehmen, dass Individuen heftiger auf Verluste reagieren als auf Gewinne des gleichen Umfangs (HH-1*). Man unterscheidet in diesem Fall also zwischen Akteuren, deren Motiv darin besteht, einen zukiinftigen Verlust zu vermeiden bzw. einen erlittenen Verlust zu kompensieren und Akteuren, die danach streben, einen mogUchen Gewinn zu realtsieren. Hieraus HeBe sich

^2 Eine kompakte Beschreibung dieses Vorgangs findet sich in Schmid (2001).

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dann das auch als Verlusthypothese (Lindenberg 1993, S. 24) bekannte individuelle Gesetz ableiten: je groBer der Verlust, mit detn ein Individuum konfrontiert wkd, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Individuum bereit ist, Kosten zu machen, die hoher sind als der Verlust selbst (GI*). Die statistische Hilfshypothese fur den Aggregationsschritt konnte dann lauten, dass die zu vergleichenden Gruppen ahnltche Mittelwerte und Varianzen hinsichtlich ihrer Verlustsensitivitat aufweisen miissen (HH-2*). Hieraus folgt das Aggregationsgesetz (GK-1*): je groBer der Verlust mit dem die MitgHeder einer Gruppe konfrontiert wurden, desto hoher ist die Teikiahmewahrscheinlichkeit individueller GruppenmitgHeder. Der auf einer Korrelation beruhende Transformationsschritt bleibt derselbe: je geringer der Teilnahmegrad, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass das kollektive Gut produziert wird (HH-3). Dieser Erklarung zufolge ist kollektives Handeln wahrscheinlicher, wenn die betroffenen Akteure einen Verlust vermeiden oder kompensieren wollen, als wenn es darum geht, einen Gewinn zu reaHsieren. An diesem Punkt hat man das erste ModeU konkretisiert. Das Gesamtresultat ist eine korrektive homogene Mikroreduktion. Grob vereinfacht gesagt, geht es bei der Methode der abnehmenden Abstraktion also u.a. darum zu priifen, inwieweit ein ModeU T l , das sich auf strukturelle Erklarungsfaktoren stiitzt, durch ein komplexeres ModeU T2 ersetzt werden soU, in welchem zusatzUch Annahmen iiber kognitive Faktoren problematisiert werden.^^ Dabei wird ideaUter danach gestrebt, dass die in T l gemachten Annahmen nicht falsifiziert, sondern ledigHch erganzt werden. Die in der vierten und sechsten Stufe beschriebene Operation der Beurteilung des Abbruchkriteriums und der AktuaHsierung und KaUbrierung der verwendeten Annahmen am Stand der Forschung sind nicht Teil der logischen Operation und stehen somit auBerhalb der Schritte des DekompositionsmodeUs.

Dies schlieBt natiirlich nicht aus, dass man das Modell erst weiter mit zusatzlichen strukturellen Annahmen anreichert.

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Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

Tabelle 3: Schematische Rekonstruktion von Lindenbergs Methode der abnehmenden Abstraktion anhand des Dekompositionsmodells von Kuipers Theofie 1 Anwendung Aggregation

PUM

HH-1

GI-1

GI-2

HH2 GK-l

Transformation

HH-3

Speiiifikationshypotiiese individuelles Verhaltensgesetz Statistische Hypotiiese kollektives Verhaltensgesetz Trans formationsregel soziales Gesetz

OG

Konkretisierung

Approximation

Theorie 2 Anwendung

PUM HH-1 HH-1* GI-1

Aggregation

GI-2

GI-2*

HH-2* GK-l*

Transformation

HH-3 OG*

Spezifikationshypotiiese individuelles Verhaltensgesetz Statistische Hypotiiese kollektives Verhaltensgesetz Trans formationsregel so'ziales Gesetij

5 Die Idealtypuskonstruktion und die Methode det abnehmenden Abstraktion im Vetgleich: Schlussfolgening und Ausblick Sowohl Weber als auch die erklarende Soziologie Lindenbergs und Essers betonen die Bedeutung der Abstraktion fiir den Modellbau.^"^ Bevor ich auf die

Fiir Weber (1982, S. 277) lauten die entsprechenden Schliisselstellen: „die Formulierung des historischen Kausal^usammenhanges ... (bedient sich, R.W.) nicht nur der Abstraktion in ihren beiden Wendungen: Isolierung und GeneraUsierung. ... das einfachste historische Urteil iiber die geschichtiiche ,Bedeutxing' einer ,konkreten Tatsache' ... auch sachlich nur dadurch Giiltigkeit empfangt, daB wir zu der ,gegebenen' WirkHchkeit den ganzen Schatz unseres ,nomologischen' Erfahrungswissens ^/«f^/^bringen." „Schon der erste Schritt zum historischen Urteil ist ... ein A.bstraktions^to'z.t^, der durch Analyse und gedankliche Isolierung der Be-

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Unterschiede beider Heuristiken eingehe, will ich zunachst auf die Ahnlichkeiten hinweisen. Beide Methoden betonen die Bedeutung der Spezifizierung der sozialen Situation der Akteure, wobei Hintergrundwissen und Vertrautheit des Forschers mit dem Handlungskontext eine entscheidende Rolle spielen. Wie die Anwendung von Kuipers' Dekompositionsmodell zeigt, stimmt bei beiden Heuristiken formal die erste Phase liberein — in beiden Fallen handelt es sich u m deduktive homogene oder heterogene Mikroreduktionen. Technisch gesehen erscheinen die Unterschiede zwischen beiden Ansatzen durchaus nicht so unuberbriickbar — jedenfalls auf den ersten Blick. Diese Einschatzung andert sich jedoch, sobald die Unterschiede einer genaueren Analyse unterzogen werden. Der erste Unterschied ist allgemein und bezieht sich auf die Auffassungen liber den Abstraktionsprozess selbst. Webers Idealtypuskonstruktion beinhaltet zwei Arten von Abstraktion (Hirsch Hadorn 1997). In der isolierenden Abstraktion „wird mindestens eine der tatsachlich eingetretenen Verlaufskomponenten variiert" (S. 290). Unter Zuhilfenahme der zweiten, generalisierenden Abstraktion wird untersucht, „wie der Vorgang dann in seinem Ablauf zu denken ist. Dies fiihrt zu Moglichkeitsurteilen'*. Letztere priifen somit, ob die in der isolierenden Abstraktion identifizierten Komponenten fiir das zu erklarende Geschehen notwendig sind. Lindenberg hingegen betont, dass Abstraktion nichts mit dem Hervorheben des ,Wesentlichen' zu tun hat (Lindenberg, 1991, S. 50). Es geht nicht um die Hervorhebung des Wesentlichen durch Weglassen unwesentHcher Aspekte, sondern darum, dass der Modellbau durch die Heuristik von dem, was Lindenberg Typ 1 Aspekte nennt, geleitet wird: Aspekte, die in ganz verschiedenen Situationen gleich sind und auch in all diesen Situationen die Hauptaspekte darstellen. Damit steht die Methode der abnehmenden Abstraktion im grundlegenden Gegensatz zu Webers Auf fas sung iiber den Idealtyp. Ein Modell ist eine Menge verschiedener Versionen, wobei die simpleren Versionen analytische Kraft haben und die spateren Versionen beschreibende Akkuratheit. Bei Weber gibt es keine Heuristik dariiber, welche Variablen hinzugefiigt werden miissen und in welcher Dimension das Abstraktionsniveau reduziert werden soil. D e r zweite wesentliche Unterschied besteht in der Handlungstheorie. D a Weber lediglich Handlungstendenzen unterscheidet (rationalistisch vs. traditionalistisch) und dadurch auf eine Handlungstheorie verzichtet, verbaut er sich die Moglichkeit einer systematischen Analyse von Restriktionen (Lindenberg, 1991, S. 46). Konkret bedeutet dies, dass die Formulierung von theoriereichen

standteile des unmittelbar Gegebenen, — welches eben als ein Komplex moglicher ursachlicher Beziehungen angesehen wird, — verlauft und in eine Synthese des ,wirklichen' ursachlichen Zusammenhanges ausmiinden soil" (S. 275).

Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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Bnickenannahmen dadurch wesentlich erschwert, wenn nicht sogar unmoglich gemacht wird. Drittens ist, wie Schmid (1994, S. 437) gezeigt hat, bei der Konstruktion von Idealtypen die theoriegesteuerte Ausarbeitxing korrektiver Mikroreduktionen nicht vorgesehen. Die Formulierung korrektiver Mikroreduktionen scheitert bei Weber an der Tats ache, dass er keine theoriegesteuerte Heuristik zur Konkretisierung bzw. De-IdeaHsierung des ersten Modells zur Verfiigung hat. Tabelle 4: Typen so^ialwissenschaftlicher Heuristiken zur Erklarung von Gesetisen Aft der Bruckenannahme

koffektiv Aft def Mikfofeduktion deduktiv

theoriereich

theoriearm

Methode der abnehmenden Abstraktion

Wirts chaftswis senschaftliche Varianten

Soziologische Varianten

Methode der Konstruktion von Idealtypen

Tabelle 4 fasst die wesentHchen Unterschiede zwischen den beiden Ansatzen zusaminen. Demnach unterscheiden sich die beiden Ansatze hinsichtUch ihrer Auspragung auf zwei zentralen Dimensionen: der Art der angestrebten Mikroreduktion und der Art der verwendeten Bruckenannahme. Die Methode der abnehmenden Abstraktion, wie sie von Lindenberg und Esser propagiert wird, stiitzt sich auf theoriereiche Briickenannahmen und richtet sich auf die Ausarbeitung einer korrektiven Mikroreduktion: man beginnt mit einfachen, sehr abstrakten Modellen und fiillt diese theoriegeleitet und schrittweise mit reaHtatsnaheren Annahmen und Hypothesen an. Die Methode der Konstruktion von Idealtypen stiitzt sich nicht auf eine Handlungstheorie und ist dadurch gezwungen, sich auf theoriearme Briickenannahmen zu beschranken. Idealtypische Modelle, die nur unbefriedigende Erklarungen der WirkHchkeit liefern, werden verworfen und durch andere idealtypische Modelle ersetzt. Der Suchprozess nach besseren Erklarungsfaktoren wird dabei nicht expHzit durch eine Handlungstheorie geleitet. Ist einmal ein befriedigendes ModeU gefunden, ist dieses nicht als eine Approximation des urspriingHchen ModeUs zu sehen, da das urspriingHche Modell verworfen werden musste. So gesehen entspricht die Methode der Idealtypuskonstruktion einem unstrukturierten trial-and-error Prozess, bei dem man nie weiB, wo man bei der Suche nach besseren Erklarungsfaktoren weitermachen bzw. aufhoren soil, Tabelle 4 zeigt des Weiteren, dass es zwei ,hybride' andere Strategien gibt, die in den Sozialwissenschaften haufig gebraucht werden. In den Wirtschafts-

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wissenschaften wird die Methode der abnehmenden Abstraktion haufig angewandt, allerdings bevorzugt man hier den Gebrauch theoriearmer Briickenannahmen, da man vor komplexen Akteursannahmen — was einer Erweiterung oder sogar Modifikation des Kerns der Theorie rationalen Handelns entsprache — zunickschreckt. Diese Scheu ist verstandlich. Sie ist aber angesichts der zunehmenden Evidenzen und Einsichten iiber die — aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ,kognitiven Anomalien' von Individuen — nicht mehr wirklich zu verteidigen. In der Soziologie, und hier vor allem in ihren handlungstheoretischen Varianten, wird hingegen txaditionell mit theoriereichen Briickenannahmen gearbeitet (vgl. fur eine Gegeniiberstellung etwa Etzrodt 2003). Hier hat man jedoch mit dem komplementaren Problem zu tun: die Vielzahl und Komplexitat der Annahmen erhoht zwar moglicherweise die Realitatsnahe der Modelle, reduziert aber zugleich ihre analytische Tragweite. Dariiber hinaus geben sie der Forscherin meist keinerlei Heuristik zur Hierarchisierung von Annahmen bzw. zur schrittweisen Korrektur eines fehlgeschlagenen Modellierungsversuches an die Hand. Beide ,Hybride' konnen auf ihre Weise als Versuche interpretiert werden, die Beschrankungen des Idealtypus zu iiberwinden, wobei das Heil entweder in der Anreicherung der Handlungstheorie oder in der Ausarbeitung korrektiver Mikroreduktionen gesucht wurde. Die hier vorgestellte Variante der Methode der abnehmenden Abstraktion geht davon aus, dass eine Heuristik zur Erklarung und Reduktion soziahvissenschaftlicher Gesetze nur dann fruchtbar sein kann, wenn sie die Formulierung korrektiver Mikroreduktionen auf der Basis theoriereicher Briickenannahmen anstrebt. Solange die Methode der Idealtypuskonstruktion auf den Gebrauch einer Handlungstheorie verzichtet und sich auf theoriearme Briickenhypothesen stiitzt, wird sie bei der Suche nach einer alternativen ,methodischen Begriindung der modernen Soziologie' der Methode der abnehmenden Abstraktion auch in Zukunft unterlegen bleiben.

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Abnehmende Abstraktion, Idealtypen,...

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Erklaning, Kausalitat und Theorieverstandnis bei Esser und Luhmann im Vetgleich Wolfgangl^ Schneider

1 Votbemetkung Essers Version der Wert-Erwartungs-Theorie (im Folgenden als WE-Tbeorie bezeichnet) vmd Luhmanns Systemtheorie erheben beide Anspruch auf fachuniversale Geltung. Theorien dieses Typs bilden den Ausnahmefall. Ihr universalistischer Anspruch wird aus der Perspektive bereichsspezifischer Theorien oft als „imperialistisch" wahrgenommen und deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit und Skepsis registriert. Er bedarf deshalb besonderer Plausibilisierung. Eine attraktive Plausibilisierungsstrategie fur universaHstische Theorien besteht darin, eine enge Verbindung zu methodologischen Ansatzen mit hoher Reichweite herzustellen und den Nachweis zu versuchen, dass kein konkurrierendes Theorieprogramm geeignet ist, die Anforderungen der angesteuerten Methodologie in gleicher Weise zu erfuUen. Esser und Luhmann machen gleichermaBen Gebrauch von dieser Strategie. Esser, indem er die von ihm entwickelte Variante der WE-Theorie als Kern jeder deduktiv-nomologischen Erklaning prasentiert und konkurrierenden Ansatzen die Fahigkeit abspricht, Erklarungen dieses Typs anbieten zu konnen. Luhmann, indem er die Systemtheorie als Komplement der funktionalanalytischen Methode prasentiert mit dem Anspruch, dass diese Methode ohne ein derartiges theoretisches Komplement nicht liber die einschrankenden Vorgaben verfugen wiirde, deren sie bedarf, um arbeitsfahig zu sein. Die enge Verkniipfung von Theorie und Methode hat zur Folge, dass die theoretische Konkurrenz auch als methodologische Kontroverse ausgetragen wird, die an entsprechende Debatten im Bereich der Wissenschaftstheorie ankniipfen kann: Mit C.G. Hempel und E. Nagel behauptet Esser die Riickfiihrbarkeit korrekter funktionalanalytischer Aussagen auf das Modell der deduktivnomologischen Erklarung, wahrend Luhmann dies schon in seinen friihesten Publikationen energisch bestreitet. Fur den Vergleich zwischen beiden Positionen ist die Differenz der methodologischen Pramissen deshalb ein gut geeigneter Ausgangspunkt, geht doch die unterschiedHche Bedeutung, die Konzepte wie Erklarung und Kausalitat fiir Esser und Luhmann haben, als eine wesentHche Pramisse in ihre unterschiedHchen Auffassungen dariiber ein, was eine Theorie ist und was sie leisten soil. Beginnend mit der Art des methodologisch vorgezeichneten Bezugs auf Empirie, soU im folgenden zunachst die Architektonik der

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jeweiligen Theorie in ihren Grundziigen diskutiert werden (2-4), um dann zu priifen, in welcher Weise jede Theorie sich zu zentralen Aussagen der Gegentheorie verhalt (5-6). 2 Essers erweitette Vetsion der SEU-Theorie und ihte Veranketung im DN-Modell det kausaleti Erklarung In Essers Argumentation spielen wissenschaftstheoretische Argumente von Beginn an eine zentrale Rolle. Dabei wird ein spezifisches Theorieverstandnis zum allgemeingiiltigen Standard erhoben. Ziel sozialwissenschaftlicher Forschung miisse es sein, kausal erkldrende Theorien deduktiv-nomologischen Typs zu entwickeln. Als „Theorie" im strengen Sinne kann ein Komplex miteinander verbundener Aussagen demnach nur dann gelten, wenn darin zumindest eine Gesetzesaussage enthalten ist, die allgemeine Geltung beansprucht und die deshalb gemaB den Regeln des Popperschen Falsifikationismus im Prinzip bereits durch ein einziges empirisches Gegenbeispiel falsifiziert werden kann (vgl. Esser 1993, S. 44f£). Diese Deutung des Theoriebegriffs verbindet sich mit einer individualistischen Handlungstheorie: Als Basiseinheiten der Beobachtung, Beschreibung und Erklarung gelten suhjektiv-intentionak Handlungen im Sinne Webers; als kausale Determinanten von Handlungen erscheinen die (sozial strukturierten) Motive der Akteure. Eine deduktiv-nomologische Handlungstheorie muss deshalb nach universalen Merkmalen der Handlungsmotivation suchen. Esser sieht ein derartiges Merkmal in der zweckrationalen Struktur aUer Handlungsmotive. Dabei geht er davon aus, dass zwei Grundantriebe das Handeki von Akteuren leiten: „die Gewinnung von so^^aler Wertschdt^ng und die Sicherung dts, physischen Wohlhefindens'' (Esser, Bd.l, 1999, S. 92).^ Die ErfiiUung dieser beiden Grundbedurfnisse sei eine notwendige Voraussetzung fur die Reproduktion menschHcher Organismen. Abhangig vom jeweiligen Grad der Befriedigung dieser Bediirfnisse werde ein bestimmter Nut^n erzeugt, der als oberstes Gut zu betrachten und in mogUchst groBem Umfang zu produzieren sei. Dieses Ziel konne jedoch nicht unmittelbar, sondern nur liber sogenannte^fwJri? Zwischengiiter reaUsiert werden. Als „primare Zwischengiiter" werden aUe Ressourcen und Objekte bezeichnet, deren Erlangung unter den jeweiligen geseUschaftlichen Randbedingungen die direkte ErfuUung der beiden Grundbedurfnisse ermoglicht; aUe Mittel schlieBHch, die zur Production der primaren Zwischengiiter eingesetzt werden, gelten als „indirekte Zwischengiiter" (vgl. Esser, Bd.l, 1999, S.98f und S. 105).

Hier und im Folgenden sind, soweit nicht ausdriicklich anders vermerkt, alle Hervorhebungen in Zitaten aus dem Original ubemommen.

Erklarung, Kausalitat und Theorieverstandnis bei Esser und Luhmann im Vergleich

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Prknare Zwischengiiter sind das Ergebnis sozialer Definitionsprozesse. Sie spiegeln die Differenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Handliingsbereiche. „Es gibt so viele und so unterschiedliche pritnare Zwischengiiter, wie es Moglichkeiten der Institutionalisierung gesellschaftlicher Bereiche gibt. Im Prinzip also unendlich viele. Die wichtigsten sind urn die soziale Differenzierung der Gesellschaft herum organisiert" (Esser, Bd.l, 1999, S. 104). Als Beispiele fur pritnare Zwischengiiter erwahnt Esser u.a.: „Wahlerstinimen in der PoHtik, Geldgewinne in der Wirtschaft, Beifall und gute Kritiken im Theater, Zitationen in der Wissenschaft, Tore in der BundesHga, Einschaltquoten im Fernsehen ..." (Esser, Bd.l, 1999, S. 104). Schon hier ist klar zu erkennen, dass Essers Handlungstheorie eine Theorie sozialer Differenzierung, wie sie Luhmann vorgelegt hat, voraussetzt und in den handlungstheoretischen Rahmen zu integrieren versucht. Esser nimmt nun an, dass Akteure iiber entsprechende, die Struktur der institutionellen Differenzierung spiegelnde mentale Modelle typischer Situationen verfiigen, in denen bestimmte primare Zwischengiiter erzeugt werden konnen (vgl. Esser, Bd.l, 1999, S. 102f). Sind die entsprechenden situativen Bedingungen gegeben, dann werde ein Akteur jeweils das Handlungsziel (d.h. die Produktion desjenigen primaren Zwischengutes) anstreben, das fur Situationen dieses Typs sozial als erreichbar und erstrebenswert definiert und deshalb auch Teil seines psychischen Modells dieser Situation ist. Ankniipfend an die SEU-Theorie wird dabei unterstellt,^ dass Akteure, gleichgiiltig, welches materiale Ziel sie im einzelnen unter diesen Voraussetzungen verfolgen mogen, jeweils die Alternative aus einer Menge wahrgenommener HandlungsmogHchkeiten auswahlen, die den subjektiv erwarteten Nut^n ihres Handelns maximiert. Diese SEU-Regel der Handlungsselektion umreiBt den deduktivnomologischen Kern von Essers Handlungstheorie. Sie wird gedeutet als universeU giiltiges Kausalgeset^i (vgl. Esser 1993, S. 94ff). Die so bestimmte, zugleich individualistische (d.h. an der Handlungswahl des ein^lnen A.kteurs ansetzende), rational verstehende und kausalgesetzlich erklarende „Logik der Selektion" von Handlungen ist die Kernkomponente des Esserschen Ansatzes, die erganzt wird um Annahmen dariiber, wie der Akteur die Situation wahrnimmt, d.h. u m die „Logik der Situation". Als ersten und wichtigsten Schritt fiir deren Rekonstruktion nennt Esser die „Identifizierung der primaren Zwischengiiter" (Esser, Bd.l, 1999, S. 104). Insgesamt verlangt die Rekonstruktion der „Logik der Situation", dass die objektiven Randbedingungen der Situation aus der Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters erfasst und dann mit Hilfe von Briickenhypothesen in die suhjektive Situationsdefinition iiber-

SEU steht fiir „subjectively expected utility".

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fiihrt werden, die der einzelne Akteur zugrunde legt bei der Bestimmung seiner Ziele und Handlungsmoglichkeiten, der damit verbundenen Kosten- iind Nutzenbetrage sowie der Wahrscheinlichkeiten, mit denen die Realisierung des Nutzens fiir jede Handlungsalternative erwartet wird. Fiir die empirische Bewaltigung dieser Aufgabe, so konnte man meinen, lage die Konsultation von Forschungsmethoden aus der Tradition von Phanomenologie und Hermeneutik nahe, weil sie besonders geeignet sind, die Situationsdefinitionen von Akteuren detailgenau zu ermitteln. Obwohl Esser derartige Beriihrungspunkte selbst markiert (vgl. u.a. Esser, Bd.l, 1999, S. 21 Iff), zieht er fiir die Bedeutung rekonstruktiv-verstehender Verfahren jedoch eine klare Grenze. Als Regel fur die Dosierung des Auflosungsniveaus der Rekonstruktion fungiert das sogenannte „Prinzip der abnehmenden Abstraktion" (vgl. bes. Esser, Bd.4, 2000, S. 337ff): Weil die Rekonstruktion von subjektiven Situationsdefinitionen und Handlungsmotiven kein Selbstzweck sei, sondern nur eine dienende Funktion far die Konstruktion einer kausalen Handlungserklarung habe, sei deren verstehende Analyse nur soweit voranzutreiben, wie fiir die Konstruktion einer solchen Erklarung erforderlich (vgl. Esser 1993, S. 135). Die Zielsetzung, das Handeln einer Viel^hl von Akteuren durch Riickfuhrung auf ubereinstimmende Handlungsantriebe zu erklaren, zieht dabei enge forschungsokonomische Grenzen fiir die Tiefe der Exploration der subjektiven Deutungen und Motive und lasst deren interindividuelle Variation tendenzieU irrelevant erscheinen.^^ Dies fiihrt in der Forschungspraxis dazu, dass hermeneutisch-rekonstruktive Methoden fiir die Entwicklung kausaler Handlungserklarungen im Rahmen der WE-Theorie in der Regel keine RoUe spielen (vgl. jedoch Reckling 2002). Konzipiert als deduktiv-nomologische Theorie, lasst die WE-Theorie keine einzige empirische Ausnahme zu. Sie ist streng deterministisch gedacht. Jede festgestellte Abweichung von der Regel der Maximierung des subjektiv erwarteten Nutzens muss sie falsifizieren. In der Praxis jedoch werden Differenzen zwischen theoretisch prognostiziertem und beobachtetem Handeln auch dann nicht als Widerlegung verbucht, wenn sich die Prozentzahlen der abweichenden FaUe im zweistelligen Bereich bewegen. Das bedeutet, dass die Theorie nur nach

In einer zugespitzten und wohl auf Luhmann icuriickgehenden Formulierung aus einem gemeinsamen Diskussionspapier von Esser und Luhmann wird daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass — ahnlich, wie fiir die Systemtheorie — auch fiir rational choice „... Handlung keinen quasi-ontologischen Realitatsausschnitt bezeichnet, den man als Let^teurechnung akzeptieren muss. Im rational-choice-Ansati; ist Handlung eine aus ausschlieBlich metiiodischen Griinden hineinpraparierte Komponente eines ErklarungsmodeUs, die nur mit den Merkmalen eingefiihrt werden muss, die man fiir die Erklarung braucht. Die Systemtheorie ... begreift Handlung als Produkt von typisierenden Attributionsprozessen und bevorzugt Zurechnung auf den Beobachter, das heiBt auf beobachtende Systeme, aus deren Sicht erst etwas als Handlung bezeichnet wird" (Esser/Luhmann 1996, S. 134).

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dem Muster einer induktiv-probabilistischen Theorie getestet wird (vgl. Briiderl 2004, S. 168). Theorietyp und Testmodus stehen so im Widerspruch zueinander. Dieser Widerspruch kann ebenfalls mit dem Hinweis auf die forschungsokonomischen Grenzen aufgelost werden, die der Aufklarung der Deutungen und Motive der Akteure gesetzt sind. Sie zwingen dazu, ein gewisses MaB an unaufgeklarter interindividueller Variant der subjektiven Situationsdefinitionen in Kauf zu nehmen. Hypothesenwidriges Handeln kann mit Verweis darauf erklart werden. Die Zurechnung der registrierten Abweichungen wird so vom nomologischen Kern der Erklarung, der Maximierungsregel, wegdirigiert und auf die Rekonstruktion der Situationsdeftnition hin umgeleitet.^ Weil die Randbedingungen grundsatzHch nur in iibervereinfachter Form festgestellt werden konnen, beeintrachtigen abweichende FaUe zwar die Giite der Erklarung, ohne jedoch das streng deterministisch konzipierte Gesetz nutzenrationaler Selektion zu falsifizieren. Das „Prinzip der abnehmenden Abstraktion" macht es auf diese Weise moglich, strengste methodologische Anforderungen mit einer auBerst elastischen Handhabung der Kdterien empirischer Priifung zu verbinden. Die Situationsdefinition von Akteuren zusammen mit der befolgten Regel zur Auswahl von Handlungen erklart zunachst nur das Handdnjedes em^ehen Akteurs. Es fehlt also noch ein weiterer analytischer Schritt, der klart, wie die Handlungsselektionen vieler Akteure zusammenwirken und dadurch makrosoziale Effekte erzeugen. U m die damit angesprochene „Logik der Aggregation" zu bestimmen, miissen Transformationsregeln identifiziert werden (wie z.B. die Regeln der Addition und Umrechnung von Stimmen in Parlamentssitze bei politischen Wahlen oder die Regeki der Preisbildung auf okonomischen Markten), die festlegen, wie die individuellen Handlungsbeitrage zu kollektiven Resultaten kombiniert werden. Das Gesamtmodell entspricht der bekannten „Colemanschen Badewanne": Die „Ljogik der Situation ^^moddS^&ct den Ubergang von der Ebene der makrosozial vorgegebenen Bedingungen, institutionalisierten Normen und Deutungsmuster zur Ebene der Situationsdefinition des einzelnen Akteurs; die Selektionsregel sf^x.kniipft die subjektive Definition der Situation mit der Entscheidung fur eine bestimmte Handlung, operiert also auf der Mikroebene; Mechanismen bzw.

Ganz in Ubereinstimmung mit der von Lakatos (1974) fofmulierten Devise, bei falsifiiiierenden Widerspriichen zwischen theoretisch abgeleiteten Aussagen und empirischen Beobachtungen den Theoriekern so lange wie moglich unberiihrt zu lassen und Anderungen nur innerhalb des umgebenden Schiitzgiirtels von Hilfshypothesen vorzunehmen, fordert Esser hier kategorisch: „Hute Dich sehr, albu rasch Anderungen in der Logik der Selektion und in der Handlungstheorie vorzunehmen! Und noch etwas deutlicher ausgedriickt: Hande weg vor allem von der Maximierungsregel!" (Esser, Bd.4, 2000, S. 342).

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Regeln der A^regation transformieren die Viekahl der so erklarten individuellen Handlungsselektionen wiederum in makrosoziale Ereignisse iind Stxukturen. Esser schlieBt die Existenz universell giiltiger makrosozialer Gesetze aus (vgL Esser, Bd.2, 2000, S. 329f£). Zwar gebe es gewisse RegeknaBigkeiten bzw. Stadien der gesellschafdichen Entwicklung. Diese hatten jedoch nur den Status von Beschreibungen, deren Geltung zudem nie ohne Ausnahme angenommen werden konne. Kausal erkldrt werden konnten derartige Regularitaten nur durch Riickfuhrung auf die Ebene der individuellen Handlungsauswahl und der dafiir maBgeblichen Regeln. D e n Status eines streng allgemeinen Kausalgeset^s hat innerhalb dieses Erklarungsmodells allein die Regel nutzenrationaler Selektion. Esser diskutiert auch Alternativen zu dieser Selektionsregel, verwirft aber andere Moglichkeiten, well sie — gemessen an der Regel subjektiver Nutzenmaximierung — zu kompliziert, zu unprazise oder zu inflexibel seien, um die Verkniipfiing mit soziologischen Briickenhypothesen zur Modellierung der „Logik der Situation" zuzulassen (vgl. Esser 1993, S. 138f). Esser hat freiiich keinerlei Zweifel, dass Individuen auch normorientiert, affektgeleitet oder gewohnheitsmaBig handeln konnen. Er behauptet also nicht, d2issjedes Handeln auf einer vorgangigen, vom Akteur expli^t vorgenommenen subjektiv-rationalen Kalkulation des zu erwartenden Nutzens griindet Statt dessen geht er davon aus, dass nicht-nutzenrationale Modi des Handelns immer dann seligiert werden, wenn ihre Auswahl nach dem Kriterium der Nutzenmaximierung rational erscheint. Die These, dass auch nicht nutzenrational orientiertes Handeln durch das Prinzip der Nutzenrationalitat gesteuert sei, erscheint paradox. Sie ergibt sich jedoch folgerichtig aus der Problemsituation, in die sich Esser mit seiner methodologisch motivierten Ausgangsentscheidung manovriert, auf einer Handlungstheorie deduktiv-nomologischen Typs zu insistieren. Gegeniiber der Annahme, dass die Maximierung des subjektiv erwarteten Nutzens als Kriterium der Selektion von Handlungen diene, darf er deshalb keine Ausnahme zulassen, weil dadurch der nomologische Kern der Theorie, das Prinzip nutzenmaximierender Selektion, falsifiziert wiirde. Im Gegensatz zu Rational Choice-Theoretikern wie Boudon oder Elster, die mit wertrationalem bzw. normativem Handeln als Handlungsmodi rechnen, die nicht dem Prinzip der Nutzenmaximierung folgen und die damit auf die Stilisierung dieses Prinzips zum streng allgemein giiltigen Selektionsgesetz verzichten (kritisch dazu Esser, Bd.6, 2001, S. 309f und S. 316ff sowie Esser 2004), ist Esser daher gezwungen, auch Handlungen, die aUem Anschein nach nicht nutzenrational erklarbar erscheinen, gleichwohl auf dieses Prinzip der Handlungsselektion zuriickzufuhren. Rationalitat (im Sinne der W E Theorie) wird so fiir Esser zum differenzlosen Begriff, der auch noch sein ,scheinbares' Gegenteil einschlieBen soli. Die Unterscheidung rational/nicht-

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rational muss dazu als Unterfall von Rationalitat rekonstruiert warden. Das Prinzip der Nutzenmaximierung soil seine eigene Anwendung regeln,^ d.h. der Akteur soil rational gesteuert seligieren, ob er in einen Prozess der rationalen Abwagung zwischen unterschiedHchen Handlungsmoglichkeiten eintritt oder nicht. Damit wechselt die Theorie von der Erklarung der psychischen Handlungsselektion zur Erklarung der Selektion der unterschiedHch mogHchen Modi der Handlungsselektion. Das Prinzip der Nutzenmaximierung wird auf sich selbst angewendet, um seine durch das DN-ModeU der Erklarung verlangte TotaUsierung zu ermogUchen. Die WE-Theorie wird reflexiv. Zugleich wird die Theorie um eine kognitive Komponente erweitert, welche die Selbstdetermination des Prinzips der rationalen Selektion ohne infiniten Regress ermogHchen soil: um sozio-kultureU standardisierte Modelle fur die Interpretation des Handlungsrahmens (Frames) und darauf abgestimmte Muster des Handelns (Skripts). Voraussetzung fur die Auswahl von Handlungen ist eine bestimmte subjektive Definition der Situation, die durch die Selektion eines Frames eingeleitet wird. Frames sind „drastisch vereinfachende ... gedankliche Modelle von typischen Situationen"; Esser bezeiehnet sie, mit einer terminologischen Anleihe bei der Systemtheorie, auch als die ,,kulturellen Systeme ..., die bei der (Ko-)Konstitution der psychischen und sozialen Systeme als Verbindungsglieder fungieren" (Esser, Bd.6, 2001, S. 262). Sie implizieren ein .fiher^el, um das es in der betreffenden Situation geht" (Esser, Bd.6, 2001, S. 263). Den Frames sind bestimmte c5'/^;7/)/j' zugeordnet, d.h. mogliche Handlungssequenzen, mit denen die framespezifischen Ziele erreichbar erscheinen. In Anlehnung an Luhmanns Systemtheorie spricht Esser auch vom „Code" eines Frames, der die Bewertungen von mogHchen Handlungsergebnissen festlege; ebenso bezeiehnet er das Skript, das mit einem Frame verbunden ist, als dessen „Programm" (vgl. Esser, Bd.6, 2001, S. 263).

„Die Theorie des rationalen Handelns steuert offenbar ihre eigene Anwendbarkeit. Sie ware damit eine Art von Meta-Theorie iiber sich selbst" (Esser, Bd.6, 2001, S. 332). Die Zweifel, die sich hier einsteUen und denen ich spater ausfiihrlich nachgehen mochte, formuliert und dementiert Esser gleich mit: „Und geht denn das? Kann man sich denn — zum Beispiel — rational entscheiden, nicht rational zu handeln? Kann man beschlieBen, nichts zu beschlieBen? ... Und fiihrt die einmal begonnene Meta-Entscheidung nicht obendrein in einen unendlichen Regress immer hoher geschraubter Meta-Entscheidungen? ... Die Antwort lautet eindeutig: nein" (Esser, Bd.6, 2001, S. 332f). — „Fur die Systemtheorie ist diese Darstellung ein Fall von reentry (Spencer Brown) einer Unterscheidung (hier rational/irrational) in sich selbst, wobei dann fiir die Rationalitat des rational-choice ein Gegenbegriff fehlt. Nach Auffassung der Theorie beobachtender Systeme kann es aber keine gegenbegriffsfitreien Begriffe geben", kommentiert Luhmann diesen Gedanken in dem bereits oben (FuBn. 3) zitierten, mit Esser gemeinsam verantworteten Diskussionspapier und schJieBt daraus, dass „die Unvollstandigkeit der Figur als Indikator fur ein nicht gelostes, moglicherweise unlosbares, Problem dienen mag" (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 133).

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Die Selektion von Frames und Skripts kann in verschiedener Weise erfolgen. Esser unterscheidet vereinfachend 2wei Modi der Entscheidung: „die spontanautomatische Aktivierung eines gedanklichen Modells ohne besondere Beriicksichtigung von Konsequenzen und die refkxiv-kalkulierte Bildung einer Jntention' mit dem Versuch, dabei moglichst systematisch die Konsequenzen des Handelns zu bedenken" (Esser, Bd.6, 2001, S. 266). Zu einer reflexiv-kalkulierten Bewertung erwarteter Handlungsfolgen kommt es etwa, wenn die wahrgenommenen Merkmale einer Situation gleichzeitig zu verschiedenen subjektiven Modellen passen. So z.B., wenn bei der Durchfiihrung eines Forschungsprojektes fur einen zahlungskraftigen Auftraggeber Ergebnisse anzufallen drohen, die den Interessen des Auftraggebers schaden, ihn deshalb verargern und so eine bisher iippig sprudelnde Quelle der Forschungsforderung schlagartig ziim Versiegen bringen konnten. Das Streben nach einwandfreien Forschungsresultaten und der Wunsch nach Sicherung des Ressourcenzuflusses treten hier in Konflikt. Diese Ziele und die damit verkniipften Bewertungen sind Elemente unterschiedlicher Frame-Modelle^ zwischen denen es dann zu entscheiden gilt. Eine reflexive Abwagung der Konsequenzen der Entscheidung (= Aktivierung des reflexivkalkulierenden Frame-Modus) ist dabei moglich, ohne dazu die fur jedes dieser Ziele einschlagigen Handlungsalternativen mit in die Abwagung einzubeziehen. Zu entscheiden ist zunachst nur die vorgelagerte Frage, ob der Akteur in dieser Situation als unabhangiger Forscher oder als Vertreter der Interessen seines Auftraggebers handeln will. Wenn die Entscheidung liber das Frame-Modell gefaUen ist, kann das dazugehorige Skript-Modellkn spontan-automatischen Skript-Modus aktiviert oder, z.B. wenn ein fix und fertiges Skript dafiir nicht vorhanden ist, im reflexiv-kalkulierten Modus nach passenden HandlungsmogHchkeiten gesucht werden. Die Wahrnehmung von Situationsdaten fiihrt so von der Aktivierung eines Frame-ModeUs und eines Frame-Modus zur Initialisierung eines SkriptModells und eines Skript-Modus (vgl. Esser, Bd.6, 2001, S. 267f). Jeder dieser vier Selektionsschdtte wird dabei nach Esser in Ubereinstimmung mit der Selektionsregel der WE-Theorie prozessiert. Passen die wahrgenommenen Situationsdaten (anders als im gerade behandelten Beispiel) voUstandig zu einem und nur einem Frame (Esser spricht in diesem FaUe von einem „Match" des Frames, der annahernd gleich 1 ist), dann wird dieser im spontan-automatischen Modus, d.h. ohne Alternativenbewusstsein, unmittelbar aktiviert. Ist dieser Frame mit einem fertigen Skript verbunden, das routineformig abgerufen werden kann, dann prozessiert auch die Auswahl des Skript-Modells im spontan-automatischen Modus. Unter diesen Voraussetzungen weiB der Akteur sofort, wie die Situation zu deuten und was zu tun ist. Die Pointe dieser Argumentation steckt in der Behauptung, dass sich dieser Selektionsprozess auch dann in Ubereinstimmung mit dem Prinzip der Nutzenmaximierung voUzieht, wenn der Akteur keine rational reflektierte Entscheidung trifft, sondern unmittelbar aktivierte Handlungsroutinen exekutiert. Esser kann

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diese These mathematisch auf einfache Weise plausibilisieren (vgl. Esser Bd.6, 2001, S. 274f). Nehmen w k an, ein Akteur verfUge iiber zwei verschiedene Framing-Modelle i und j fur eine Sitxiation S. Er wird in diesem Fall das Modell mit dem Oberziel auswahlen, bei dessen Realisierung er den hochsten erwarteten Nutzen E U erwarten kann. Fiir die Bevorzugung des Frames j gegeniiber dem Frame i muss also die einfache Bedingung E U 0 > EU(i) erfuUt sein. Der Nutzen ist dabei jeweils zu gewichten mit dem Grad des Passungsverhaltnisses zwischen Modell und Situationsdaten, d.h. dem „Match" m des jeweiligen Frames, der einen Wert zwischen 0 und 1 annehmen kann. Angenommen wird dabei, dass die Werte der Matches zweier alternativer Frames zusammen 1 ergeben, weil nur der eine oder der andere gelten kann und der Grad der Passung zur Situation des einen Frames sich in dem MaBe verringert, wie der Passungsgrad des anderen sich erhoht und umgekehrt. Wenn dies in die Rechnung mit einbezogen wird, dann wird der Frame j gegeniiber dem Frame i nur dann bevorzugt werden, wenn gilt: (1-m) Uj > m Ui Durch Umformung wird diese Ungleichung transformiert in die Bedingung: Uj/U, > m / ( l - m ) Sobald m sich dem Wert 1 annahert, strebt der Nenner der rechten Seite der Ungleichung gegen 0, so dass der Quotient m / ( l - m ) gegen unendlich geht und infolgedessen kein endlicher Wert Uj groB genug sein kann, u m die Ungleichung (und damit die Bedingung fur die Bevorzugung von Uj gegeniiber Ui) zu erfiillen. Zur Maximiemng des Nutans bedatfes unter diesen Vorausset^ngen keiner Nutf^nkalkulation, weil es im Falle von m = 1 fur jeden angebbaren Wert von Uj und Ui rational im Sinne der Maximierungsbedingung ist, Ui auszuwahlen.^ Auf analoge Weise zeigt Esser dann auch, dass bei einem perfekten Match der Modus der automatischen Selektion ohne Dazwischenschaltung rationaler Reflexion aufgerufen wird: „Ein Akteur muss also bei einem perfekten Match im Grunde nur wissen, dass Ui groBer als 0 ist. Das aber ,erlebt' er ja gerade ganz aktuell im Einklang mit seiner bisherigen Erfahrung mit diesem Typ von

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Kron (2004, S. 199, FuBn.25) moniert den VerstoB gegen das mathematische Verbot der Division durch 0. Diese Schwierigkeit ist nicht einfach dadurch zu losen, dass man von einem Match m von annahemd 1 spricht, weil bereits eine geringfugige Unterschreitung des Wertes 1 ausreicht, um eine (gleichgiiltig, ob bewusst oder ,unbewusst', subjektiv sinnhaft oder nur hirnphysiologisch prozessierte) Berechnung durch den Akteur erforderlich zu machen. Am Beispiel verdeutlicht: Bei einem Wert von m = 0,99 lautet die Bedingung fiiir den Ubergang von einem Frame i zu einem Frame j: Uj/Ui > 99; diese Bedingung ist z.B. fur Ui = 1 und Uj = 100 erfiillt.

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Situation. Wenn es anders ware, lage eine Stoning vor; aber gerade das ist hier ja nicht der Fall. Alles geschieht automatisch-spontan, ohne jede innere Abwagung oder gar ,Entscheidung', alleine iiber den (physikalisch-neurologischen) Akt des Matchings von Erinnerung und Symbolik" Esser, Bd.6, 2001, S. 274). Esser versucht auf diese Weise zu zeigen, dass die Theorie des rationalen Handelns in der Lage ist, ihre eigene Anwendung 2u steuern, sie also als ihre eigene Meta-Theorie gelten kann und dies, ohne dabei in einen unendlichen Regress hoherstufiger Meta-Ebenen zu geraten. U m diesen Anspruch zu begriinden, muss Esser klar unterscheiden zwischen der bewusst vollzogenen Abwagung und Entscheidung zwischen verschiedenen Moglichkeiten der Situationsdeutung und des Handelns im Modus rationaler Wahl einerseits und der bewusstseinsextern, d.h. „physikalisch-neurologisch" prozessierten Frame- und ModusSelektion andererseits. Ausgelagert in den Bereich hirnphysiologisch gesteuerter Prozesse jenseits des Bewusstseins, transzendiert die Ebene der Meta-Selektion die Grenzen des psychischen Systems ebenso, wie die Orientierung an subjekivem Sinn.'^ Damit gewinnt auch der Begriff der Rationalitat einen doppelten Sinn: Kann fur die theoretische Explikation des Rationalitatskalkiils unter der Annahme, dass der Akteur eine Handlungswahl im Modus reflexiv-kalkulierter Selektion trifft, noch der Status einer „Konstruktion zweiten Grades" (vgl. Schiitz 1971, Bd.l, S. 68) beansprucht werden, die den subjektiven Sinn expliziert, den der Akteur mit diesem Akt der Selektion verbindet, so ist dies bei der Selektion des Modus der Handlungssekktion nicht mehr der Fall. Die Annahme der Rationalitat kann hier nicht mehr subjektiv-intentional, sondern nur noch objektiv-strukturell, d.h. aus der Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters, erfiillt sein. Als Korrelat auf der Seite des Akteurs ist keine sinnformige Deutung mit bedeutungsgleichem Inhalt, sondern ein neurophysiologischer Mechanismus anzunehmen, der das als objektiv rational (oder: als rationalanalog) beschreibbare Ergebnis generiert. Esser betont selbst ausdriicklich, dass die WE-Theorie auf der Meta-Ebene der Modell- und Modus-Selektion in anderer Weise angewendet wird, als dies auf der Objekt-Ebene der subjektiv-rationalen Auswahl der Fall ist: „Zwar wird die WE-Theorie formal auf die ModeU- und ModusSelektion angewandt. Aber der alles bestimmende inhaltliche Vorgang ist eben keine innere ,Entscheidung', sondern die Bildung der Geltungs-erwartungen m bzw. 1-m fiiir ein Modell iiber das Matching der Objekte der Situation mit den Gedachtnisstrukturen. Das aber ist immer eine automatische, vom Willen und vom Bewusstsein des Akteurs

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Vgl. dazu die Kritik von Rohwer (2003, S. 353) mit der These, dass Esser hier mit einem behavioristischen Modell arbeite, das mit einem Akteur-ModeU inkompatiheH&i.

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unahhdngige Angelegenheit" (Esser, Bd.6, 2001, S, 333). Und weiter unten: „Der ,automatisch' erfolgende (Mis-)Match aber beendet den ansonsten durchaus denkbaren unendlichen Regress ,definitiv'. Und so wird plausibel, dass es eine ,Entscheidung' geoen kann, nicht zu entscheiden. Nur sind das keine ,bewussten' Entscheidungen, sondern durch den Grad des Matches ausgeloste Selektionen des Organismus. ... Der Begriff der ,Selektion' — statt dem der ,Entscheidung' — wurde fiir das Framing-Konzept nicht ohne Uberlegung verwandt" (Esser, Bd.6, 2001,8.334). Esser arbeitet hier mit der Unterscheidung zwischen „inhaltUcher" und nur „formaler" Anwendung der WE-Theorie und projiziert diese Differenz auf die Unterscheidung von bewusster Entscheidung und unbewusst automatischer Selektion. Wenn die automatische Selektion aber dem Modell der WE-Theorie nur „formal" entspricht, dann bedeutet dies, dass damit — zumindest fur die Situation eines perfekten Match — auch der Anspruch aufgegeben wird, mit diesem Modell eine Rekonstruktion des faktischen kausal mrksamen Selektionsmechanismus zu geben. Die Begnindung dafur haben wir schon gehort: Wenn fur m = 1 kein endHcher Wert Uj groB genug sein kann, um eine Praferenz fur Uj gegeniiber Ui zu begriinden, dann ist ein Vergleich zwischen diesen beiden Nutzenbetragen liberflussig und kann reaUter entfallen. Indem sie eine Aussage dariiber macht, unter welchen Voraussetzungen ein Selektionsprozess ohne Nutzenvergleich zwischen den verschiedenen Alternativen gleichwohl die Anforderungen der erweiterten WE-Theorie objektiv erfuUt, enthalt diese Theorie eine Hypothese iiber die Grenzen ihrer eigenen kausalen Relevanz, aus der hervorgeht, inwiefern die Theorie ,formar 2i\xc\i unter Voraussetzungen gilt, unter denen sie empirisch-kausalg^t2id^ nicht ^t.^

Die „fofmale" Erfiillung der WE-Theorie durch einen im Organismus verankerten Selektionsmechanismus versucht Esser evolutionstheoretisch zu erklaren: Weil ein so gesteuertes Verhalten zur Maximierung des Reproduktionserfolgs seines Tragerorganismus und damit zur maximalen Verbreitung der entsprechenden genetischen Dispositionen fiihre, habe sich ein derartiger Modus der Verhaltensselektion als evolutionar stabile Strategie etabHeren konnen (vgl. Esser 1993, S. 227). Die „forniale" Erfiillung der WE-Theorie wird demnach biogenetisch mit Rekurs auf die naturale Variante des Maximierungsprin^ps (d.h. durch die natiirliche Auslese von Verhaltensmustern aufgrund ihrer Eignung zur Maximierung des Reproduktionserfolgs) kausal erkldrt. — Mit dieser Argumentation kann Esser freilich nicht ausschlieBen, dass sich bei giinstigen IVIilieubedingungen immer wieder auch solche Varianten einer Art erfolgreich reproduzieren konnen, deren Modus der Verhaltensselektion nicht das Maximierungsprinzip erftillt. Statt mit seiner ausnahmslosen Geltung im Sinne eines streng allgemeinen Gesetzes ware deshalb eher mit einer statistisch mehr oder weniger hohen ijbereinstimmung der Verhaltensselektion mit dem Maximierungsprinzip zu rechnen. Sein Status ware in diesem Fall nur der eines induktiv-probabiHstischen Gesetzes.

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Die theorietechnische Funktion der Unterscheidiing zwischen formaler und realer Geltung ist es, das Regressproblem 2u losen: Weil mit den Mitteln der WE-Theorie gezeigt werden kann, dass etne vergleichende Nutzenkalkulation nicht erforderlich ist, kann sie unterbleiben und dennoch eine Selektion so vollzogen werden, ah oh ein Nutzenvergleich durchgefuhrt worden ware. Wenn aber die Nutzenkalkulation komplett entfallt, dann kann es auch nicht zum Regress kommen. Wie wir gleich sehen werden, ist das Regress-Problem damit freilich nicht vollstandig erledigt, sondern nur an eine andere Stelle verschoben. 3 Kann Essers Ansatz das Regtess-Ptoblem losen? Das Regress-Problem taucht im Binnenkontext von Essers Theorie auf, sobald der Match kleiner als 1 ist und deshalb der Ubergang vom Modus der automatischen Selektion (= as-Modus) zum Modus der reflexiven Kalkulation (= rcModus) in den Bereich des MogHchen riickt.^ Auch wenn, wie Esser annimmt, die Selektion des rc-Modus selbst noch unterhalb der Schwelle des reflexiven Bewusstseins vollzogen wird, miissen jetzt Entsprechungen fiiir alle Parameter des theoretischen Modells und fiir deren mathematische Verkniipfung beim Akteur in irgendeiner Form vorhanden sein und den Selektionsprozess in einer zumindest unbewusst-rationalen Weise „inhaltltch" steuern. Sobald aber eine wie auch immer automatisierte und bewusstseinsextern prozessierte Kalkulation ablauft, kann die Frage nach der Kalkulation der Kalkulationspramissen aufgeworfen werden. Priifen wir diese These genauer. Als Ubergangsbedingung vom as-Modus in den rc-Modus nennt Esser (Bd.6, 2001, S. 275) die folgende Voraussetzung: EU(rc) > EU(as). Unter Beriicksichtigung der Matches der beiden Alternativen, der jeweiligen Erwartungswahrscheinlichkeiten und der Kosten, die zu erwarten sind, wenn die Suche nach einer Handlungsalternative im rc-Modus erfolgen soil, erhalt diese Voraussetzung die Form: p (1-m) Uj + (1-p) m U - C > m U Sobald der Wert, der sich aus der linken Seite der Ungleichung ergibt, groBer als der Wert der rechten Seite wird, muss ein rationaler Akteur in den Modus reflexiv-kalkuHerter Selektion wechseln. Die Bedingung, von der abhangig sein soU, ob die Handlungsselektion im Routinemodus oder im Modus der rationalen Wahl ausgefiihrt wird, hat offensichtlich die logische Struktur einer rationalen

Nicht jeder Mismatch fiihrt nach Esser '£ui Aktivierung des rc-Modus. Wenn z.B. die Zeit knapp, der Aufwand hoch und keine Alternative verfiigbar erscheint, werde dadurch zwar „eine gewisse Irritation und unspezifische Aufinerksamkeit des Gehirns" eri^eugt (Esser, Bd.6, 2001, S. 271), es wird aber keine Reflexion alternativer Moglichkeiten ausgelost.

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Kalkulation. Indem der Akteur — gleichgiiltig, ob bewusst oder unbewusst — so kalkuliert, tut er also eigentlich bereits das, liber dessen Nutzenrationalitat er erst eine Entscheidung erreichen soil, namlich nutzenrational zu kalkuHeren. Die Kosten fur diese Kalkulation sind in der Berechnung noch nicht enthalten. Es ware aber nur dann rational, die Kalkulation durchzufuhren, wenn ein Differenzbetrag zwischen den beiden Seiten der Ungleichung zu erwarten ist, der hoher ist als die Kosten Cmk einer solchen Meta-Kalkulation. Ubersteigen die Kosten der Meta-Kalkulation hingegen den Differenzbetrag, dann ware es rational, die Berechnung nicht durchzufuhren. Die Kosten der Meta-Kalkulation sind in Essers Rechnung noch nicht enthalten; C bezieht sich darin nur auf die Kosten fiir die Suche nach einer noch unbekannten neuen Handlungsalternative im rc-Modus. Notieren wir also diese Zus atzbedingung: |p (1-m) Uj + (1-p) m U - C ] - ( m U ) > Cn.k Haben wir die Kosten der Metakalkulation Cmk ermittelt und die vorstehende Berechnung durchgefiihrt, dann sind wir auch damit noch nicht am Ende unserer Kalkulation angelangt. Denn auch fur diese Kalkulation miissen Kosten angenommen werden, die in unserer Rechnung noch nicht beriicksichtigt sind. Ihre Einbeziehung wiirde eine erweiterte Rechnung verlangen, fiir die dann aber wiederum Berechnungskosten anzusetzen waren, die erst in einer neuerlichen Berechnung einbezogen werden konnten etc. ad infinitum.^^ Der rational kalkuHerende Akteur gerat hier in den Beobachtungsregress, der jedem Beobachter droht, der seine eigene Beobachtungsaktivitat mit zum Gegenstand seiner Beobachtung zu machen versucht. Er kann versuchen, einen Beobachtungsakt Bn zu beobachten, benotigt dazu jedoch eine weitere Beobachtung Bn+i, fiir die wiederum dasselbe gilt. Ein solcher Regress kann nicht nur bei dem Versuch der voUstandigen Erfassung der Kalkulationskosten entstehen. Ebenso kann die Frage aufgeworfen

Als Kosten sind dabei jeweils die Opportunitatskosten anzusetzen, die dadurch entstehen, dass jede Berechnung Zeit verbraucht, Zeit, in der ein Akteur etwas anderes tun konnte, das einen bestimmten Nutzen U fur ihn abwerfen wiirde, auf den er verzichten muss und in der Handlungsalternativen, die noch hatten realisiert werden konnen, u.U. unzuganglich werden (vgl. auch Kron 2004, S. 198). Um das skizzierte Regress-Problem zu umgehen, miisste Esser entweder zeigen, dass hier keinerlei Berechnungskosten entstehen oder einen Grenzwert fiir diese Kosten angeben konnen, der auch bei einer infiniten Anzahl von Berechnungen nicht iiberschritten wird. — Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik von Kay Junge (2004, S. 34), die sich gegen die von Esser und anderen vertretene Annahme wendet, dass „begrenzte Rationalitat als eine letztlich doch optimale Entscheidung begriffen werden konne, namlich als eine Entscheidung, bei der schlicht die Rechenkosten als eine zusatzliche Restriktion mitberechnet wiirden" (Junge 2004, S. 34, Fufin.lO).

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werden, wie hoch denn die Wahrscheinlichkeit anzusetzen ist, dass die angenommenen Wahrscheinlichkeits-, Nutzen- und Kostenwerte korrekt sind. Und wieder kann fiir jeden angenommenen Wahrscheinlichkeitswert erneut gefragt werden, wie zuverlassig dessen Schatzung ist und dafiir ein weiterer Wahrscheinlichkeitswert angenommen werden. SchlieBlich: Woher bezieht ein Akteur seine Wahrscheinlichkeitsannahmen, seine Schatzung des Nutzens fiir noch unbekannte Handlungsalternativen und der Kosten fiiir deren Ermitdung, wie sie bereits auf der untersten Ebene anfallen? Die Generalantwort auf diese Fragen, die sich aus Essers Darlegungen entnehmen lasst, lautet: aus Erfahrung. Auf Erfahrung gestiitzt gehen die Akteure auch von bestimmten Wahrscheinlichkeiten aus und unterlassen weitere Kalkulationen. Damit aber wiirde der infinite Kegress von den Akteuren selbst nur eingetauscht gegen die Strategic der Dogmatisiemng der entsprechenden Pramissen der Kalkulation. Denn Erfahrung kann zwar in Anspruch genommen, aber nicht in abschlicBender Weise auf ihre Zuverlassigkeit gepriift werden, weH die Frage nach der Zuverlassigkeit erfahrungsbasierter Erwartungswahrscheinlichkeiten auf der nachsten Ebene als Frage nach der Wahrscheinlichkeit, mit der die Ergebnisse der Priifung zutreffend sind, immer wieder von neuem gestellt werden kann. Weniger formal argumentiert geht es hier um das Problem, wie eine Theorie der rationalen Konstitution von Erfahrung auf der Grundlage der WE-Theorie zu formulieren ware. Wahrnehmungsdaten werden zu Erfahrungen erst durch Interpretation. Dies gilt nicht nur auf der ersten Stufe der Transformation von objektiven Daten in aktuelles subjektives Erleben, sondern ebenso fur die daraus gezogenen Schliisse und die fur zukiinftiges Handeln abgeleiteten Erwartungen. Verschiedene Personen konnen aus ahnlichen Erlebnissen vollig unterschiedliche Konsequenzen Ziehen und als Ergebnis ihrer „Erfahrungen" behaupten. Ein Schiiler etwa kann Zensuren als eine Frage von Gliick oder Pech betrachten, ein anderer als Ergebnis seiner Anstrengungen, und beide werden aus einer schlechten Zensur dementsprechend unterschiedliche praktische Konsequenzen Ziehen. Diese Differenz in der Lokalisierung der relevanten Kausalfaktoren konnte u.U. zuriickgefuhrt werden auf den habitualisierten Gebrauch divergierender Attributionsmuster (Praferenz fur externale vs. Praferenz fiir internale Attribution), deren Genese dann ihrerseits als Ergebnis rationaler Selektion vor dem Hintergrund vorausliegender Erfahrungen zu rekonstruieren ware, in deren subjektive Konstitution freilich wiederum kontingente Pramissen der Auslegung eingehen, fiir die wiederum dasselbe gilt. Auch dem Versuch einer nutzenrationalen Erklarung der Konstitution von Erfahrung droht also ein Regress, der nur durch Abbruch der Analyse zuverlassig zu stoppen ist. Dieser Regress ist wenig iiberraschend, hier aber dennoch bemerkenswert, well Esser eine Form der nutzenrationalen Erklarung anbieten will, die einen (jeden?) infiniten Regress vermeidet. Das aber, und nur darum geht es mir hier, erscheint unter den %^^^benen Voraussetzungen nur durch einen nicht rational begriindbaren Ahhruch

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der Erklarung moglich. Der Rekurs auf Erfahrung erfullt in Essers Argumentation die Funktion, diesen Abbruch 2u ermoglichen und zugleich 2u verdecken, indem er weitere Moglichkeiten rationaler Rekonstruktion anzeigt. Selbst nicht vollstandig rational (im Sinne der WE-Theorie) begriindbar, soil die Berufung auf Erfahrung bei Esser die Rationalitat des Selektionsvorganges tragen. Auch die Delegation des Kalkulationsvorgangs an neuronale Mechanismen, deren Aktivitat nicht bewusst ist, weil sie auf der Ebene der Hirnphysiologie operieren, kann dieses Regressproblem nicht losen. Wenden wir uns nun der Frage 2u, ob es Situationen gibt, in denen wesentHche Anwendungsbedingungen der WE-Theone nicht erfiiUt sind. Ankniipfungspunkte fur die Untersuchung dieser Frage bietet die Spieltheorie. Spieltheoretiker unterscheiden zwischen Entscheidungen unter Bedingungen des als sicher erwartbaren Eintretens relevanter Ereignisse (d.h. p = 1), Entscheidungen unter Bedingungen des Risikos (d.h. 0 < p < 1) sowie unter Bedingungen der Unsicherheit (p unbekannt) (vgl. dazu Luce/Raiffa 1989, S. 275ff). Dabei hangt der Nutzen, den der Akteur realisieren kann, davon ab, welche komplementare Auswahl sein Gegenspieler bzw. die Natur jeweils tnfft. Essers Ansatz verlangt nun, dass der Akteur jedem derartigen Ereignispaar, des sen Realisierung mit einer bestimmten Auszahlung U verkniipft ist, eine bestimmte subjektive ErwartungswahrscheinHchkeit zuordnet. Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit miissen deshalb in R£f/y^^entscheidungen umdefiniert werden. U m nicht dazu genotigt zu sein, dem Akteur unter aUen Umstanden spezifische Annahmen iiber die relevanten Wahrscheinlichkeiten zuzuschreiben, kann in Situationen, in denen der Akteur liber derartige Annahmen nicht verfiigt, auch eine Ersatzpramisse eingefiigt werden. Unterstellt wird dann, der Akteur verfahre unter der Voraussetzung, dass aUe relevanten Alternativen gleich wahrscheinlich seien. Diese Unterstellung hat freilich einen bedeutsamen Schonheitsfehler. Sie ist moglich, aber nicht zwingend. Jede andere Wahrscheinlichkeitsverteilung kann unter den Bedingungen der Unsicherheit mit gleichem Recht angenommen werden. Ebenso gut kann deshalb ein pessimistisch gesonnener Akteur annehmen, dass er in einer Welt handelt, in der er gut daran tut, verstarkt mit dem Eintritt der fiir ihn nachteiligen Alternativen zu rechnen und seine Auswahlentscheidungen darauf abzustimmen. In diesem Fall wiirde er nicht die Alternative auswahlen fiir die U — bei geeigneter Wahl seines Gegeniibers — maximal ausfaUt, sondern diejenige Moglichkeit bevorzugen, bei der er far den Fall des fiir ihn ungiinstigsten Komplementarereignisses den geringstmoglichen Verlust erleidet. Er wiirde damit, ohne sich auf quantifizierbare MutmaBungen iiber EintrittswahrscheinHchkeiten einzulassen, die sogenannte Minimax-Strategie (= Minimierung des maximalen Verlustes) befolgen. Ein anderer Akteur mag optimistisch gestimmt und nsikofreudig und deshalb (ebenfaUs ohne Wahrscheinlichkeiten zu quantifizieren) darauf aus sein, diejenige Alternative auszuwahlen, die ihm — bei Eintritt

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des passenden Komplementarereignisses — den maximalen Gewinn verspricht (= Maximax-Strategie). Ein dritter Akteur schlieBlich konnte diejenige Strategic auswahlen, die das maximal mbgliche Bedauem minirniert (= „minimax regret'*), das ihn riickblickend uberkommen konnte, wenn er den faktisch realisierten Nutzen mit dem Nutzen vergleicht, den er durch eine Wahl einer anderen Alternative hatte erreichen konnen. Jedes dieser drei PCriterien kann zur Selektion einer anderen Alternative fuhren und erscheint dennoch in seiner Weise ebenso rational, wie das Auswahlkriterium der Nutzenmaximierung in Verbindung mit der Pramisse der gleichen Wahrscheinlichkeit aller relevanten Alternativen (vgl. Luce/Raiffa 1989, S. 280ff, Rapoport 2004, S. 40f). Ein Metakriterium der Rationalitat, aus der die allgemeine Vorzugswiirdigkeit eines dieser Kriterien gegeniiber den anderen abgeleitet werden konnte, lasst sich nicht angeben. Im Bereich der Entscheidungen unter Unsicherheit mrd derMafistah der Rationalitat damit selbst kontingent Esser diskutiert Entscheidungen unter Unsicherheit nur kurz, registriert, dass in diesem Bereich keine allein rationale Entscheidung auszuzeichnen ist, markiert dies als unbefriedigende Auskunft und schlagt dann sofort den Weg zur Umformung der Situation in eine Situation der Entscheidung unter Risiko ein, die vom Akteur durch die Suche nach Informationen bewerkstelligt werden soil, welche ihm eine Schatzung von WahrscheinHchkeiten ermogHchen:^^ „Optimismus und Pessknismus oder Risikoscheu und Risikofreudigkeit als ,Erklarung' sind gleichwohl keine sehr befriedigenden Auskiinfte. Denn: Wann witd man Optimist und risikofreudig? Und wann bleibt man Pessimist und risikoavers?", notiert Esser, um gleich darauf in Ubernahme der Perspektive der Protagonistin aus einem seiner Beispiele die von ihm favorisierte Losung des Problems zu prasentieren: „Wir wissen nicht, was Frau Professor Dr. Hekna-Beate WiesbadenWohlbestallt getan hat. Wahrscheinlich hat sie (...) verlassHcher erkundet, wie es um ihre Chancen steht und die unberechenbare Unsicherheit in ein kalkulierbares Risiko abgewandelt. Dann aber hat sie sich — irgendwie — entschieden, nach den Regeln der WE-Theorie. Genau das ist auch wohl die verniinftigste Reaktion auf die Situation der Unsicherheit: Zu versuchen, die Unsicherheit zu vermindern — und dann erst eine Entscheidung zu treffen, wenn man die wichtigsten Parameter beisammen hat" (Esser, Bd.l, 1999, S. 289). Esser verfahrt hier tendenzieU ^rkuldr. Die Erklarung, die er sucht, ist eine auf der Basis der WE-Theorie, die unter den Bedingungen von Entscheidungen unter Unsicherheit nicht anzuwenden ist. Gleichwohl halt er an dem Rationali-

Wie Kron (2004, S. 191) moniert, iibergeht Esser in seinen Modellieningen ebenso das von ihm durchaus diskutierte Problem der moglichen Streuung der Risikoeinschat^ung um einen bestdmmten Wahrscheinlichkeitswert (vgl. Esser, Bd.l, 1999, S. 290ff).

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tatskonzept der WE-Theorie fest, legt es als MaBstab zugninde, an dem Entscheidungen unter Unsicherheit gemessen und als wenig befciedigend bewertet werden und empfiehlt die Suche nach Anhaltspunkten, die es ermoglichen, Konstellationen dieses Typs in Situationen der Entscheidung unter Risiko zu transformieren. Dem Akteur wird damit aufgetragen, Situationen der Entscheidung unter Unsicherheit zu eliminieren. Dass dies moglich ist, wird ungepriift unterstellt. Dass der Akteur so verfahren sollte^ wird aus der Voraussetzung abgeleitet, dass allein die WE-Erwartungstheorie einen befriedigenden Rationalitatsbegriff vorweisen konne. Esser verfahrt freilich konsequent genug, um auch die Frage, unter welchen Bedingungen es einem Akteur moglich und lohnend erscheint, eine Situation der Unsicherheit durch die Suche nach Informationen in eine Situation des Entscheidens unter Risiko zu transformieren, auf der Basis der WE-Theorie zu beantworten. Dazu muss der Akteur abschatzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit und welchen voraussichtHchen Suchkosten er zu einer hinreichend verlasslichen Einschatzung der Eintrittswahrscheinlichkeiten der unterschiedHchen moglichen Resultate kommen kann sowie, ob der dazu notige Aufwand angesichts des mogUchen Ertrags zu rechtfertigen ist, den er als Folge der Umwandlung von Unsicherheit in Risiko erwarten kann.^^ Intuitive Beispiele dazu lassen sich leicht finden.^^ Ebenso ist es aber auch mogHch, dass jemand mit einer Entscheidungs situation konfrontiert ist, in der er nicht weiB, ob und gegebenenfalls wie bzw. wie rasch er Informationen erhalten kann, um die Situation der Unsicherheit zu liberwinden und in der er gerade deshalb auch keine begriindete Hypothese iiber den Suchaufwand und die Wahrscheinlichkeit eines rechtzeitigen Sucherfolgs entwickeki kann. Unter solchen Bedingungen kann die WETheorie nicht als Instrument eingesetzt werden, das anzeigt, ob es geraten ist, den Versuch zu wagen, die Situation durch die Sammlung weiterer Informationen in eine Risiko situation zu trans formieren, oder ob der Aufwand als zu groB und die Erfolgschancen dafiir unter den gegebenen Bedingungen als unkalkuHerbar betrachtet werden miissen. In diesem FaU ware auch die Meta-Entscheidung

„Die Akteure kennen demnach zwar das ,richtige' Risiko nicht, aber sie wissen, dass sie dariiber eine minimal sichere Information erhalten kbnnten — wenn sie sich nur die Miihe der Suche nach Informationen machen wiirden: Telefonate, Hintergrundgesprache oder Interpretation von Andeutungen zum Beispiel" (Esser, Bd.l, 1999, S. 293). So etwa kann jemand, der eine Bergtour untemehmen mochte und um die Gefahr eines raschen Witterungsumschwungs in den Bergen zwar weiB, aber keine genauere VorsteEung dariiber hat, wie groB diese Gefahr an dem geplanten Termin ist, nach diesem Muster versuchen, seine Unsicherheit durch die Erkundigung bei der lokalen Wetterstation und einheimischen Bergfiihrem 'zu iiberwinden.

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daniber, ob man versuchen soil, Unsicherheit in Risiko zu liberfiihiren, eine Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit. Das Ausgangsdilemnia wiirde dann nur auf der Meta-Ebene reprodioziert. Die WE-Theorie wiirde den Akteur ohne Instruktion bei der Entscheidung der Frage lassen, ob er nach Informationen suchen soil, in der Hoffnung, mit vertretbaren Informationskosten die Transformation von Unsicherheit in Risiko zu erreichen. O b er einen derartigen Versuch dennoch wagt, konnte dann wiederum von der Tendenz zu einer eher optimistischen oder eher pessimistischen Situationseinschatzung abhangig sein. Ein optimistischer ^tionalist konnte mit der Informations suche beginnen in der Erwartung, dass er ohne zu groBen Aufwand fundig werden wird; ein pessimistischer Rationalist hingegen wiirde eher zu der Vermutung tendieren, dass die Suche bei vertretbarem Aufwand ohne greifbares Resultat bleiben wird und es deshalb vorzuziehen ist, eine Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit zu treffen. Sowohl der Optimist wie auch der Pessimist wiirden die Frage der Uberfiihrbarkeit von Unsicherheit in Risiko und damit die Frage, ob versucht werden solle, entsprechend den RationaUtatsanforderungen der WE-Theorie zu verfahren, als eine Entscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit behandeki. In diesem FaUe wiirde also die WE-Theorie in ihrer Funktion als Meta-Theorie durch eine Theorie der Entscheidung unter Unsicherheit ersetzt. Die Reichweite der modifizierten WE-Theorie ware dadurch eingeschrankt und der Universalitatsanspruch, den Esser mit ihr verbindet, nicht zu halten. Weil Esser Situationen dieses Typs nicht ausschHeBen kann, muss er sie mit rhetorischen Mitteki marginaltsieren. Dies kann jedoch nicht dariiber hinwegtauschen, dass an dieser SteUe eine Grenze fiir die Anwendung der W^-Theorie erreicht ist. Unabhangig davon, wie haufig oder selten FaUe der Entscheidung unter Unsicherheit sein mogen: Wenn hier die Regel der Maximierung des subjektiv erwarteten Nutzens als Grundlage der Erklarung von Handlungsselektionen nicht anwendbar ist, dann biiBt sie ihren Status als streng universal giiltige Selektionsgesetzlichkeit ein. Der rigoristische Anspruch des DN-Modells der Erklarung verbietety><^(? Ausnahme. Es ist daher nicht mogHch, Entscheidungen unter Unsicherheit als empirisches Randphanomen anzuerkennen und gleichwohl uneingeschrankt am nomologischen Status der WE-Theorie festzuhalten. Essers Darstellung versucht sich diesem Dilemma zu entziehen, indem sie die generelle Uberfiihrbarkeit von unsicheren in riskante Entscheidungen begriindungslos su^eriert und damit das, was eigentlich zu zeigen ware, namlich die generelle Anwendbarkeit der WE-Theorie auch auf Situationen der Unsicherheit, einfach voraussetzt. Meine Kritik an Essers modifizierter Version der WE-Theorie lasst sich abschlieBend wie folgt pointieren: Die vorgetragenen Argumente richteten sich gegen Essers Versuch, mit Hilfe der WE-Theorie zu erklaren, unter welchen Voraussetzungen Selektionen im Modus der automatischen Selektion bzw. im

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Modus der reflexiv-kalkulierten Wahl getroffen werden. Seine Argumentation lauft auf den Versuch einer rekursiven Selbstbegriindung der WE-Theorie durch den Nachweis hinaus, dass die Verwendung ebenso wie die Nicht-Verwendung des Prinzips der nutzenrationalen Selektion von Handlungen nach dem Kriterium subjektiver Nutzenmaximierung gesteuert werden konne. Eine derartige Selbstbegriindung kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Frage nach der Rationalitat des Selektionsprinzips nicht auf einer nachsten Meta-Ebene erneut stellt. Um den sonst unvermeidHchen infiniten Regress zu verhindern, muss sie die Rationalitatsfrage auf abschlieBende Weise beantworten konnen. Eine solche Antwort miisste insofern die logische Struktur einer reflexiven Ijet^^begmndung der WE-Theorie durch sich selbst annehmen. Nach dem von Albert sogenannten „Munchhausentrilemma" (vgl. Albert 1968) muss jeder Versuch einer Letztbegriindung scheitern, indem er entweder (1) in einen infiniten Regress fiihrt, (2) die Begriindungskette an einem bestimmten Punkt dogmatisch abbricht oder (3) sich in einen Begriindungszirkel verstrickt. Wie wir gesehen haben, finden sich in Essers Versuch Entsprechungen zu jedem Horn des Trilemmas: (1)

Die Beriicksichtigung der Kosten der je aktuell durchgefiihrten Kalkulation ist immer erst in einer anschlieBenden Kalkulation moglich, fiir die wieder dasselbe gilt, etc. ad infinitum.

(2)

Der Regress, der mit der Frage nach der Wahrscheinlichkeit einsetzen wiirde, mit der die in einer Kalkulation eingesetzten WahrscheinHchkeiten zutreffen, wird in Essers Modell vom Akteur selbst, insofern sich diese Frage fiir ihn nicht erhebt, faktisch durch dogmatische Festsetzung bestimmter Wahrscheinlichkeitswerte abgebrochen.

(3)

Die genereUe Anwendbarkeit der WE-Theorie auf Entscheidungen unter Bedingungen der Unsicherheit kann Esser nur um den Preis suggerieren, dass er die ausnahmslose ErfiiUbarkeit der dazu anzunehmenden Rationalitatsbedingungen in zirkularer Weise voraussetzt. Essers Ziel war es, mit der Verwendung der WE-Theorie als Meta-Theorie eine Version der Nutzentheorie zu entwickeki, die sowohl das Streben nach rationaler Nutzenmaximierung wie auch den Verzicht darauf durch Abrufiing automatisierter Handlungsroutinen (oder anderer Formen nicht-reflektierter Handlungsselektion) in formaler Ubereinstimmung mit dem Prinzip der Nutzenmaximierung ausnahmslos erklart, ohne dabei in einen infiniten Regress zu geraten. Diesen ambitionierten Anspruch kann Essers Versuch in der vorltegenden Form, wenn die hier unternommene Analyse zutrifft, nicht einlosen. Freilich muss dieser Umstand nicht gegen die Theorie gewendet, sondern kann auch als Folge iiberzogener Begriindungsanspriiche gedeutet werden, die so weder erfiillt werden konnen noch miissen: Essers modifizierte Version der WE-

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Theorie muss nicht den Anspruch erheben, eine universale, d.h. ausnahmslos giiltige Selektionsgesetzlichkeit zu explizieren. Ebenso wenig muss sie einen Regress um jeden Preis vermeiden, sondern sie konnte, wie in Luhmanns Systemtheorie vorexerziert, die Unvermeidlichkeit eines infiniten Regresses retrospektiver Beobachtungs- und Kalkulationsmoglichkeiten anerkennen und den Punkt, an dem dieser Regress durch den Akteur abgebrochen wird, als empirische Frage behandeln. Derartige Korrekturen setzen aber die Bereitschaft voraus, die Vorstellung eines sich selbst nach Gesichtspunkten subjektiver Rationalitat voUstandig determinierenden sowie ohne Ausnahme als Selektionsregel fungierenden Nutzenkalkiils aufzugeben und das Regressproblem als unuherwindhare Schranke fiir die rationale bzw. ,als ob'-rationale Kalkulation des subjektiv erwarteten Nutzens zu akzeptieren.

4 Zum Vethaltnis von fiinktionaler Analyse, kausaler Etklatung und Systemtheorie bei Luhmann Luhmann hat sich schon &ih mit der besonderen Struktur fiinktionaler Erklarungen auseinandergesetzt und sie gegeniiber dem Modell der DN-Erklarung aus Kausalgesetzen abgegrenzt Gegen die Versuche von Nagel (1956) und Hempel (1959), funktionale Beziehungen als Unterfall einer kausalen Beziehung zu deuten, setzt Luhmann die (in den anschlieBenden Kontroversen haufig missdeutete) These, dass Kausalitat als ein Fall der Anwendung fiinktionaler Kategorien zu betxachten sei (vgl Luhmann 1970a, S. 9f). Luhmann bestreitet damit keineswegs die Bedeutung des Kausalschemas. Er behauptet nur, dass der Gebrauch dieses Schemas notwendig den Begriff der fimktionalen Aquivalenz itnpliziere (vgl. ausfiiihrlicher dazu und zum Folgenden Schneider 2005). Die Suche nach Y^M^Ageset^n strebt nach dem idealisierten Grenzfall einer beidseitig ftxierten Kausalbeziehung, in dem eine genau bestimmte Ursache (oder besser: eine Konjunktion von ursachlich relevanten Faktoren) eine ebenso genau bestimmte Wirkung erzeugt. Wenn eine Erklarung aus Kausalgesetzen angestrebt wird, dann bedeutet die Verwendung des Konzepts der funktionalen Aquivalenz deshalb eine erhebHche EinbuCe an Erklarungskraft: Weil an die SteUe einer Aussage der Form, ,Wenn das Systemproblem P gelost wird, dann muss die BedtQgungskonstellation B erfiillt sein', eine Aussage der Form tritt, ,Wenn das Systemproblem P gelost wird, dann muss die BedingungskonsteUation Bi oder B2 oder B3 oder ... Bn erfullt sein', ist die prognostische bzw. retrospektiv erklarende Kraft einer solchen Aussage erheblich verringert. Wenn dariiber hinaus gilt, dass die Klasse der funktional aquivalenten Faktorenkonstellationen Bi bis Bn nicht voUstandig erfasst werden kann und man es schlieCUch damit zu tun hat, dass ein gegebenes Element Bi dieser Klasse nur bei Erfiillung weiterer, nicht erschopfend spezifizierbarer Randbedingungen tatsachlich Z verursacht, dann kann von

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einer deduktiv-nomologischen Erklarung, die Auskunft dariiber gibt, unter welchen Bedingungen Z notwendig eintreten wird, nicht mehr die Rede sein. An ihre Stelle tritt die Beantwortung einer ^wie mdglich-¥i2ig^\ Ob Systemprobleme tatsachlich gelost werden oder nicht, dariiber lassen sich so keine zuverlassigen Prognosen ableiten. Dies ist jedoch kein Defi2it, das nur bei funktionalanalytischen Aussagen auftritt. Es nimmt hier nur eine etwas andere Form an: Kausale Erklarungen nicht-funktionaler Art behaupten bestimmte ,Wenn ..., dann ...' Verkniipfungen in der Regel nur, sofem die ceteribusparibus-Klausel erfiillt ist oder schwachen sie zu einer Wahrscheinlichkeitsaussage ab. Funktionale Erklarungen behaupten die reale Existenz eines bestimmten Kausalzusammenhangs zwischen einem Bezugsproblem und einer potentiell kausal effektiven Losungsvariante nur, sofem es tatsachlich zur Losung des Problems kommt. In beiden Fallen werden also PGauseki eingefugt, die es weiterhin erlauben, den behaupteten Kausalzusammenhang als MogHchkeit zu untersteUen, die reaUsiert werden kann, wenn keine storenden bzw. blockierenden Bedingungen im Wege stehen. Dass es im ZweifelsfaUe immer mogUch ist, Abweichungen zwischen theoretisch zu erwartenden und tatsachlich eintretenden Ereignissen auf solche Bedingungen zuzurechnen, d.h. als Falsifizierung der ceteribus paribus-Klausel oder der situationslogischen Pramissen (und nicht: der behaupteten SelektionsgesetzHchkeit!) zu verbuchen, dafur sorgt bei Esser (s.o.) das „Prinzip der abnehmenden Abstraktion". Unter dem Gesichtspunkt, wie Kausalhypothesen gegen direkte Falsifizierung zu schiitzen sind, lassen sich demnach die fiinktionaUstische Aufweichung des Gesetzesbegriffs und das Prinzip der abnehmenden Abstraktion alsfunktional dquivaknte Einrichtungen begreifen. Funktionale Analyse erscheint, so haben wir gesehen, auch aus der Perspektive Luhmanns, notwendig auf KausaUtatsuntersteUungen angewiesen. Freilich kann man ebenso eine umgekehrte Abhangigkeitsbeziehung registrieren: Wenn es darum geht, die relative kausale Bedeutung hestimmter Faktoren in einem Ursachengeflecht fur die Erzeugung einer bestimmten Wirkung einzuschatzen, dann muss dazu von dem Konzept der funktionalen Aquivalen^ Gebrauch gemacht werden. Dies deshalb, weil die relative kausale Bedeutsamkeit eines einzelnen Faktors um so hoher eingeschatzt werden muss, je geringer die Anzahl denkbarer funktionaler Aquivalente ist, die — an seiner SteUe in die GesamtkonsteUation eingesetzt — den gleichen kausalen Effekt hatten auslosen konnen. Wenn etwa ein geringfiigiger Konflikt in einer bestimmten historischen KonsteUation nach der Analyse eines Historikers als „Funke im Pulverfass" gewirkt hat, der zu einer kriegerischen Konfrontation zwischen Staaten fiihrte, dann ist mit dieser Kennzeichnung die Annahme verkniipft, dass ein heliehiger anderer Kleinkonflikt in dieser KonsteUation ebenfaUs hinreichend gewesen ware, um die gleiche Gesamtwirkung hervorzurufen. Hochgradige Austauschbarkeit eines Kausalfaktors gegen funktional aquivalente Ursachen bedeutet also, dass sein Beitrag zur be-

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obachteten Gesamtwirkung in Relation zu anderen Kausalfaktoren gering einzuschatzen ist. Geringe Austauschbarkeit hingegen bedeutet hohe kausale Relevanz. So jedenfalls die These, die Max Weber in Anschluss an die Arbeiten des Physiologen von Kries lonter dem Titel „Objektive Moglichkeit und adaquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung" formuliert hat (vgl. Weber 1985, S. 266££)}'^ Insofern also konnen wir fiir die Untersuchung von Zusammenhangen sozialen Handelns auch mit Berufung auf Webers Methodologie feststellen: Die Feststelliing der relativen kausalen Bedeutung eiaes Kausalfaktors setzt das Konzept der funktionalen Aquivalenz ebenso voraus, wie umgekehrt der Begdff der funktionalen Aquivalenz das Konzept der Kausalitat.^^ Jede kausale Erklarung eines Ereignisses verwickelt sich dabei in ein Komplexitatsproblem, das sie nur durch drastische Selektion losen kann (vgl. zum folgenden bes. Luhmann 1994/95). Die dafiir kausal relevanten Faktoren lassen sich nicht erschopfend aufzahlen.^^ Jede Kausalfeststellung muss deshalb aus der unbestimmbar groBen Menge mogHcher Ursachen und Wirkungen eine eng begrenzte Zahl auswahlen und miteinander koppeki.^-^ Ahnlich wie Sprache als ein Medium lose gekoppelter Elemente (den Worten einer Sprache) betrachtet werden kann, aus dem jede AuBerung eine Reihe von Elementen seligiert und in fester Kopplung zu Satzen formiert, kann auch die Gesamtheit potentieller Kausalfaktoren als lose (aber nicht beliebig) gekoppeltes Medixim betrachtet werden, das zur Bildung von Formen durch feste Koppelung ausgewahlter Elemente des Mediums genutzt wird, indem bestimmte Ursachen mit bestimmten Wirkungen in Kausalbehauptungen verbunden werden. Welche Kausalfaktoren dazu jeweils

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Die praktische Anwendung dieser Lehre findet sich in Webers umfangreichen vergleichenden Untersuchungen zur Religionssoziologie, welche die hohe kausale Bedeutsamkeit der protestantischen EtMk fiir die Herausbildung des kapitaHstischen Geistes dadurch belegen sollen, dass im Einflussbereich aUer anderen WeltreHgionen keine analoge Wirtschaftsgesinnung ausgebildet wurde, obwohl eine Viekahl anderer kausal relevanter Voraussetzungen dafiir gegeben waren. Der Status der protestantischen Ethik als notwendiger (aber natiirUch nicht hinreichender) Kausalbedingung fiir die Entstehung des kapitalistischen Geistes (wenn nicht gar der kapitalistischen Wirtschaftsweise) soil hier durch den Nachweis gesichert werden, dass sich dafiir im welthistorischen MaBstab kein funktionaks jAquivaknt feststellen lasst. Vgl. dazu Luhmann 1977, S. 168, mit der FeststeUung: „Vergleich ist eine unentbehrHche Voraussetzung jeder Kausalfeststellung." Siehe auch Luhmann 1970b, S. 53, Anmerk. 54, wo er Webers „groB angelegte vergleichende Forschungen" (im Gegensatz zu dessen Methode der idealtypischen Analyse) als „vermutlich ... zukunftstrachtiger" beurteilt. Der Versuch zur Erklarung des Phanomens geldvermittelten Warentauschs etwa, miisste dann namlich auch so entlegene Dinge wie die Enstehung unseres Sonnensystems, der Erde, des Lebens und der menschlichen Gattung, die historische Entwicklung des Geldwesens und der dafiir notigen Voraussetzungen etc. miteinschlieBen, weil ohne diese Pramissen weder Waren noch Geld hatten entstehen konnen. Dass das Kausalschema derartige Endlosprobleme impHziert, ist freiUch keine neue Einsicht, wie auch Luhmann (1995b, S. 15) mit Hinweis auf Weber ausdriicklich vermerkt.

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seligiert werden, hangt vom Beobachter ab. Entscheidend sind die Kriterien, denen er dabei folgt. Diese Kriterien werden selbst zu Determinanten von Kausalitatsfeststellungen, ja u.U. sogar zu Mitursachen fiir die beobachteten Wirkungen: Wer Brande auf Gottesurteile zuruckfiihrt, kann vorbeugende BrandschutzmaBnahmen als widergottliche Intervention des Menschen ablehnen und so zu giinstigen Brandentstehungsbedingungen beitragen. Das wird freilich nur ein Beobachter zweiter Ordnung so sehen, der nicht an Gottesurteile glaubt, denen sich erfolgreich zu widersetzen nicht in der Macht des Menschen liegt. Weil er die Zurechnung auf Gott als kontingente Kausalzurechnung beobachtet, die nicht durch Umweltbedingungen erzwungen ist, kann er diese Zurechnxing als eine vom zurechnenden System durch den Gebrauch bestimmter Selektionspramissen selbst generierte Ursache analysieren, die eigene Wirkungen auslost. Die Systemtheorie begreift Kausalitat deshalb nicht als objektiv vorgegebenen Weltsachverhalt, sondern als Konstruktion eines Beobachters. Damit ist nicht gemeint, dass sich beHebige Kausalitasbehauptungen ohne jede Riicksicht auf Weltkompatibilitat durchhalten lieBen, sondern nur, dass es auch unter Beriicksichtigung der dadurch etablierten Restriktionen noch einen unabsehbaren Uberschuss mogHcher Kausalbehauptungen gibt, aus dem immer nur wenige Moglichkeiten aktualisiert werden konnen. Die iiberschiissige kausale Komplexitat muss durch die drastische Selektivitat jeder Beobachtung im Kausalschema reduziert werden (was auch Esser mit der Betonung des „Prinzips der abnehmenden Abstraktion" annimmt). Wie dies geschieht, und damit auch, welche Wirkungen dadurch erzeugt werden, hangt ab von den Auswahlkriterien des Beobachters, auf die zu achten die Systemtheorie deshalb empfiehlt.^^ Die Analyse von Kausalititat als Konstruktion eines Beobachters wirft die Frage nach der Funktion dieser Konstruktion auf Beobachtende Systeme miissen unterscheiden konnen, ob sie beobachtete Ereignisse und Prozesse internal oder external^ auf ihre eigene Aktivitat oder die Aktivitat ihrer Umwelt zurechnen und sie in ihren Anschlussoperationen dementsprechend als Resultat eigenen HandsIns oder extern ausgelosten Er/ebens definieren (vgl. Luhmann 1984, S. 123f). Ohne die MogUchkeit einer derart differenzierenden Kausalzurechnung fande ein System keinen Ansatzpunkt fik die Projektion unterschiedHcher Anschlussmoglichkeiten, ja, es ware nicht einmal in der Lage, zwischen Innen und AuBen, zwischen sich selbst und seiner Umwelt, zu unterscheiden, d.h. sich als System zu

1^ Hier liegen Anknupfungsmoglichkeiten an die sozialpsychologische Attributionsforschung, auf die Luhmann immer wieder verweist, birw. die kognitive Psychologie, fiir die sich die Systemtheorie und Essers Theorie des Framings gemeinsam interessieren (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 132).

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beobachten, eigene Operationen von anderem, Selbstreferenz von Fremdreferenz zu trennen und sich tekursiv, durch ausschlieBliche Ankniipfung dgener Operationen an eigene vorangegangene Operationen, gegeniiber seiner Umwelt zu schlieBen.^^ Die Verfugung iiber Schemata der Kausalattribution erscheint so als Bedingung der Moglichkeit der Konstitxition und Reproduktion selbstreferentiell geschlossener psychischer und sozialer Systeme. Auf der Basis spezifischer Kausalzurechnungen kann ein Beobachter unterscheiden zwischen dem, was er nur erlebend hinnehmen und dem, was er durch eigene Tatigkeit beeinflussen kann, zwischen Spielraumen und Grenzen fiir eigene Interventionen. Durch die Verkniipfung von manipulierbaren Bedingungen mit erwartbaren Folgen gewinnt er Handlungsfreiheit als Moglichkeit, beabsichtigte Wirkungen durch die Herbeifuhrung geeigneter Ursachen auszulosen bzw. die Auslosung unerwiinschter Wirkungen zu vermeiden. Verankert auf der Ebene sozial generalisierter Erwartungserwartungen konnen Kausalannahmen auch eingesetzt werden, um zu antizipieren, wie andere Beobachter das Verhaltnis von Freiheit und Notwendigkeit schematisieren. Sie definieren deshalb zugleich einen Auswahlbereich fur die Zuschreibung moglicher Handlungsintentionen und Verantwortlichkeiten. Erwartbar wird so nicht nur, welche Handlungen andere unter entsprechenden Bedingungen ausfiihren konnen, sondern auch, mit welchen Absichtsunterstellungen und Verantwortungszuschreibungen durch andere man selbst rechnen muss. Die nach sozial etablierten Kriterien erfolgende Konstruktion von Kausalitaten (Esser konnte hier vom „Framing" kausaler Relationen sprechen) ist demnach Bedingung der Moglichkeit fiir die Konstitution von Freiheit und tragt zugleich dazu bei, das Handeln sowie die Erwartungen anderer erwartbar zu machen und die Auswahl eigenen Verhaltens darauf abzustimmen. In dem MaBe, in dem diese Abstimmungsmoglichkeiten genutzt werden, werden die zugrunde liegenden Kausalitatskonstruktionen zirkular bestatigt und die mit diesen Konstruktionen verkniipften Handlungsmuster kontinuierlich reproduziert.2^ Die Rolle des Kausalitatskonzeptes im Rahmen der funktionalen Analyse und der Systemtheorie ist damit geklart. Betrachten wit nun das Verhaltnis zwischen funktionalanalytischer Methode und Systemtheorie. Die Methode funktio-

Aus diesem Grund kann die Systemtheorie „Handeln" nicht als elementares Konzept verwenden, sondern spricht statt dessen von „Operationen", die jeweils erst durch anschlieBende Operationen in artifiziell vereinseitigender Zurechnung als Selektionen definiert werden, die entmder durch „Handeln" (= Selektion durch das System) oder „Erleben" (= Selektion durch die Umwelt) ausgelost worden sind (vgl. dazu auch unten sowie Esser/ Luhmann 1996, S. 134). Luhmann verdeutlicht diese Wirkung von Kausalattributionen am Beispiel der Modernisierungsresistenz klientelistischer Beziehungsmuster in Siiditalien. Vgl. dazu Luhmann 1995a, S. 21 ff sowie Schneider 2005, Abschn. V.

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naler Analyse ist fur sich allein genommen nicht mehi als eine Technik des Vergleichs. Ihre Anwendung ist auf Vorgaben angewiesen, deren Inhalte aus ihr selbst nicht abzuleiten sind. Insbesondere ist jeder Vergleich abhangig von der vorgangigen Wahl eines Bezugsproblems. Fiir dessen Fesdegung gibt die Methode keine Anhaltspunkte. Die theoretisch begriindete Bestimmung von Bezugsproblemen ist Aufgabe der Systemtheorie. Parsons setzte hier die vier universalen Bestandsprobleme ein, die angeblich jedes Aktionssystem als Bedingung seiner Reproduktion losen muss und die er im AGIL-Schema (Adaptation; Goalattainment; Integration; Latent pattern-maintenance) zusammengefasst hat. Luhmann substituiert diese vier Probleme gegen ein einziges, denkbar abstrakt gefasstes Bezugsproblem, das Problem der „Reduktion von Komplexitat". Systeme reproduzieren sich demnach durch die kontinuierliche Aufrechterhaltung eines Komplexitatsgefalles zwischen Umwelt und System. Die Sicherung dieser Komplexitatsdifferenz ist die notwendige Bedingung fur die Bestandserhaltung des Systems. Gelost wird dieses Problem durch die Einrichtung von Strukturen, welche die Uberfulle des MogHchen absorbieren und in ein im System handhabbares Format transformieren. Im Falle von psychischen bzw. sozialen Systemen erfiiUen Erwartungen (genauer: Erwartungserwartungen) diese Funktion. In Bezug auf dieses Problem erscheinen beliebige Erwartungen fiireinander funktional aquivalent. Indem Erwartungsstmkturen einen Bereich erwartbarer MogHchkeiten eingrenzen, schHeBen sie aus, dass Beliebiges mogMch erscheint. Erst durch diesen Ausschluss von Beliebigkeit findet die Unterscheidung von Problem und Problemlosung, mit der die funktionale Analyse operiert, den benotigten Ansatzpunkt. Das Problem der Komplexitat erscheint so nicht nxir als abstraktestes Bezugsproblem fiir die Bildung und Reproduktion von Systemen, sondern zugleich als das aUgemeinste Bezugsproblem funktionaler Analyse und insofern als Indifferenzpunkt, an dem Theorie und Methode zusammentreffen (vgl. Schneider 1991, S.199ff). Durch die Bildung von Erwartungen erhalt das Komplexitatsproblem eine spezifischere Fassung, in der es als Bezugspunkt fiir die Fortfuhrung funktionaler Analyse dienen kann. Es nimmt die Form des Folgeproblems an, dass Erwartungen enttauschungsanfaUig sind. Sie miissen deshalb mit Strategien der Enttauschungsverarbeitung ausgeriistet sein. Isolierung von Abweichungen als ignorable Ausnahme, Normierung von Erwartungen oder deren Umbildung dxirch Lernen erscheinen als funktional aquivalente Bewaltigungsstrategien, die dafur sorgen, dass die Grenze zwischen Umwelt und System nicht durch Auflosung der komplexitatsabsorbierenden Erwartungsstrukturen zusammenbricht.^^

Diese Formulierung bezieht sich auf die ,vof-autopietische' Fassung der Systemtheorie und wird deshalb gleich noch zu modifi^ieren sein.

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Ausgehend vom Indifferenzpunkt des Komplexitatsproblems kann die Methode fiinktionaler Analyse endang einer Stufenordnung von Problem -> Losung(en)/Folgeproblem(e) -> Losung(en)/Folgeprobleni(e) ... gefiihrt werden (vgl. Luhmann 1970a, S. 22) und erzeugt dabei auf den ersten Stufen der Analyse Aussagen hohen Allgemeinheitsgrades, die 2u den Grundannahmen der Systemdieorie zahlen. Im Gegensatz zu Essers Theorieverstandnis, das Theorien als Aussagenzusammenhange begreift, die im Schema einer DN-Erklarung organisiert sind, nimmt die Systemdieorie damit die Form der funktionalen Auslegung von Problemen auf mogliche Usungen (inklusive ihrer funktionalen Alternativen) hin an (vgl. Luhmann 1984, S. 33, Schneider 2004, S. 52ff). Mit zunehmendem Niveau der Spezifikation solcher Aussagen durch die allmahliche Anreicherung ihres empirischen Voraussetzungsgehalts konnen theoretische und empirische Analyse dann stufenlos ineinander iibergehen. Die spatere Wende zum Konzept des autopoietischen Systems verlangt eine Modifikation dieser Antwort. Systeme unterscheiden sich jetzt nicht mehr allein durch eigene Strukturen von ihrer Umwelt, sondern erzeugen und reproduzieren diese Strukturen ausschUeBlich durch rekursive Verkniipfung eigener Operationen. Im Falle sozialer Systeme sind dies: Kommunikationen. Die Reproduktion sozialer Systeme hangt davon ab, dass der Strom aneinander anschlieBender kommunikativer Ereignisse nicht versiegt. Die Sicherung von Anschluss fahigkeit wird so zur Voraussetzung fur den Fortbestand eines Systems. Das Komplexitatsproblem wird dadurch transformiert in das Problem der hinreichend raschen Produktion anschlussfahiger Nachfolgeereignisse, das im System von Moment zu Moment neu gelost werden muss. Dazu muss der Bereich der in Frage kommenden Anschlussmbglichkeiten soweit komprimiert werden, dass das jeweils nachste Ereignis schneU genug seligiert werden kann, um die Kommunikation nicht stocken zu las sen. In der Losung dieses Problems besteht nun die Funktion von Erwartungen. Sie verdichten die Verweisungsstruktur von Sinn durch „Zwischenselektion eines engeren Repertoires von MogUchkeiten, im Hinblick auf die man sich besser und vor allem rascher orientieren kann" und machen dadurch die Selektionslast fiir Anschlussoperationen erst bewaltigbar (Luhmann 1984, S. 140). Der 'Envartungsbegriff a:&jXk hier in Luhmanns Systemtheorie eine analoge Aufgabe wie das Konzept des Frames bei Esser. In beiden Fallen geht es um die Selektion von Selektionsmbglichkeiten (vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 132f), die dann eine hinreichend rasche, damit auch okonomische und im Grenzfall quasiautomatisch ablaufende Selektion konkreter Verhaltensalternativen erlauben. Dies freiHch mit unterschiedUcher Systemreferenz und vor dem Hintergrund eines jeweils anderen Generalproblems, das die Selektion zweiter Ordnung in je spezifischer Weise konturiert: Fsser geht es um den Nachweis der nutzenrationalen Steuerung von „Selektionsselektionen" mit primarer Referenz Tcai psychische Systeme, wobei andere Theorien bemiiht werden miissen, wenn es um die Kla-

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rung der Frage geht, inwiefern diese psychisch prozessierten Selektionen sozial vorstrukturiert sind. Dabei muss er annehmen, dass die dafur benotigten Parameter von den Akteuren in irgendeiner Weise geschatzt werden, so dass Ungewissheiten immer die Form quantift^erbarer Erwartungswahrscheinlichkeiten annehmen. Als Einheiten, deren Selektion durch Ruckfijiirung auf das Prinzip der Nutzenmaximierung letztlich kausal erklart werden soil, gelten intentionale Handlungen (die freilich nicht als quasi-ontologische ReaHtatsausschnitte identifiziert, sondern als artifizielle Vereinfachungen durch Befolgung des methodologischen „Prinzips der abnehmenden Abstraktion" konstruiert werden; vgl. Esser/Luhmann 1996, S. 134). Ijihmann geht es um die so^ak, d.h. kommunikativ vollzogene Selektion von Selektionsmoglichkeiten durch institutionaHsierte Erwartungen, wobei der Selektionsmodus der mit Kommumkation strukturell gekoppelten psychischen Systeme weitestgehend offen bleibt. Als Einheiten, deren Konstitution erklart werden soil, gelten bei Luhmann kommunikative Ereignisse, die nicht erst durch die methodologisch instruierte Beobachtungstatigkeit des Wissenschafders, sondern bereits durch kommunikative Prozesse der Bedeutungsattribution im Objektbereich selbst zu Handlungen vereinfacht werden. Dies geschieht, indem ein Verhalten Alters von Ego als Mitteilung einer Information beobachtet und dabei in einer bestimmten, durch die Auswahl einer AnschlussauBerung mehr oder weniger genau angezeigten Weise verstanden wird. Die Unterscheidung von Mitteilung und Information ist dabei nichts anderes als die kommunikationsspezifische Auspragung der Differenz von Handeln und Erleben (vgl. Luhmann 1997, S. 335). Die verstehende AnschlussauBerung entscheidet jeweils, ob die vorausgegangene Mitteilung als vollzogene Handlung oder unter dem Gesichtspunkt des darin mitgeteilten Erlebens relevant wird. Wird z.B. eine AuBerung als „Indiskretion" zuriickgewiesen, dann impHziert dies ihre soziale Definition als kritikwiirdige Handlung eines bestimmten Typs; eine anschUeBende AuBerung von Zweifeki an ihrem sachlichen Wahrheitsgehalt (ohne Infiragestellung der Wahrhafiigkeit des Mitteilenden) definiert sie hingegen als mogUchen Ausdruck weltinadaquaten 'Erlebens und d.h. als FchUnformation. In jedem Falle entscheidet dabei die FolgeauBerung dariiber, welcher Sinn der vorausgegangenen AuBerung kommunikativ zugewiesen wird. Die Kommunikation organisiert sich so vom kommunikativen V^erstehen her (Luhmann 1986, S. 95). Wenn Alter sein Verhalten in der Absicht ausgewahlt hat. Ego dadurch eine Information mitzuteilen, reicht das also nicht aus, um diesem Verhalten den Status eines kommunikativen Ereignisses zuzuschreiben. Ebenso wenig reicht es aus, dass Ego die Mitteilung Alters nur psychisch als Mitteilung einer Information versteht. Ego muss dariiber hinaus ein Anschluss verhalten an den Tag legen, an dem erkennbar wird, dass das vorangegangene Verhalten Alters von Ego als Mitteilung einer Information verstanden worden ist. Inwiefern Alters Verste-

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hensanti2ipation, durch die er sich bei der Auswahl seines Mitteilungsverhaltens leiten lieB, tnit dem faktischen Verstehen Egos zur Deckung kommt bzw. davon abweicht, ist fur die Frage, ob Kommumkation zustande gekommen ist, sekundar. Das kommunikativ erreichte Verstehen schlieBt ,richtiges' und ,falsches' Verstehen gleichermaBen ein. O b hier eventuell bestehende Diskrepanzen wahi:genommen und gegebenenfalls thematisiert werden oder nicht, ist fur die Frage, ob uherhaupt ein kommunikatives Ereignis erzeugt worden ist, ebenso unerheblich wie der Umstand, ob die Mitteilung Alters durch Egos AnschlussauBerung akzeptiert worden ist oder nicht. Fiir den weiteren Verlauf der Kommunikation kann beides freilich von erheblicher Bedeutung sein. Die knappe Skizze des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs macht deutlich, dass Kommunikation die Koordination y^<9;^//;^^^;^/(?rVerhaltensselektionen von Alter und von Ego verlangt, die ^sammen bestimmen, ob eia Verhalten als Mitteilung einer Information beobachtet und wie es dabei verstanden wird. Weil in die Konstitution einer kommunikativen Handlung die kontingenten Selektionsleistungen mindestens ^eier Kommunikationsteilnehmer eingehen, erscheint jede Handlung hier von vornherein (1) als Resultat der A^regation von Beitragen verschiedener Akteure und (2) als Folge der dies verdeckenden Zurechnung eiaes kommunikativen Ereignisses auf den Mitteilenden als dessen Handlung. Der Beitrag des Verstehenden hingegen wird durch komplementar vereinseitigende Zurechnung zum bloBen Erleben der Selektion des Mitteilenden stiHsiert. Kommurdkative Ereignisse im Sinne der Systemtheorie sind demnach, wenn man sie vor dem Hintergrund des von Esser mit Coleman favorisierten Mikro-MakroModells betrachtet, schon nicht mehr als elementare Mikroeinheiten zu analysieren, sondern rangieren gegeniiber den individueUen Verhaltensselektionen von Alter und Ego bereits auf einer ersten Makro-'Ebene?'^ Konzipiert als Ergebnis doppelt kontingenter Selektion, ergeben sich in der Kommunikation aus der Interdependenz der Selektionen von Ego und Alter Schwierigkeiten fur die zuverlassige Kalkulation der anschUeBenden Selektionen des jeweiligen Gegeniibers. Damit schiebt sich das Problem der individuell nicht zureichend kontrollierbaren Komplexitat in Situationen strategischer Interdependenz von Verhaltensselektionen vor die Frage der subjektiven RationaHtat der Selektionen und limitiert die Moglichkeiten nutzenmaximierender Selektion. Die Frage, wie die fiir die BeteiHgten erzeugte Unsicherheit dariiber, mit welchem Verhalten des bzw. der anderen sie zu rechnen haben, absorbiert werden kann, erhalt den Rang eines ^entralen Problems, das durch die Systemtheorie als Bezugspunkt

22 Essers Kommunikationsbegriff, der sich terminologisch eng an die Systemtheorie anlehnt (vgl. Esser, Bd.3, 2000, S. 247ff), kann hier aus Raumgriinden nicht diskutiert werden.

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funktionaler Analyse eingefuhrt wird. Dieses Problem, so die Annahme, dirigiert die Bildung von Erwartungserwartungen.^^ Fiir die Evolution der Gesellschaft iiber die Grenzen archaischer Stammesverbande hinaus ist dabei aus systemtheoretischer Perspektive vor allem die Entwicklung von Erwartungsstrukturen relevant, welche die Unsicherheit der Annahme von Kommunikation jenseits der Grenzen der Interaktion unter Anwesenden hinreichend reduzieren, um die Nutzung von MogHchkeiten der Fernkommunikation mit Hilfe von Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck und schHeBlich den elektronischen Medien attraktiv 2u machen. Diese Funktion erfiillen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Macht, Wahrheit und Recht. Andere Einrichtungen und Strategien, die der Funktion der Unsicherheitsabsorption dienen, kommen in den Blick, wenn die Systembildungsebene der Organisation untersucht wird: So deutet Luhmann Hierarchie im Gegensatz zu Weber nicht als Einrichtung zur Zerlegung der Organisationszwecke in Unterzwecke und Mittel, die es ermogUcht, die Handlungsbeitrage eiaer Vielzahl von Akteuren durch Herrschaft nach dem Modell zweckrationalen Handekis zu steuern, sondern als „... die beste Moglichkeit ..., mit den Ungewissheiten des Umfeldes zurechtzukommen" (Luhmann 2000, S. 221).^4 Y^{^ Inhaber iibergeordneter Hierarchiepositionen erzeugen durch Entscheidungen unter Bedingungen der Ungewissheit Entscheidungspramissen fur Inhaber nachgeordneter Positionen, die fur letztere als kommunikatives Gewissheits^^^i^^/^;^/ fungieren. AhnHche Substitutionsbeziehungen registriert die Systemtheorie im Verhaltnis von Organisationen zu ihrer Umwelt. Begreift man das Verhalten von Unternehmen am Markt als ein Verhalten mit unhekannten und unkalkulierharen Risiken, dann ist „... Rationalitat nicht in icgendwelchen Effizienzkriterien oder Optimierungen zu suchen ..., sondern in der Robustheit: in der Fahigkeit, fremde und eigene Irrtiimer zu iiberstehen" (Luhmann 1988, S. 122). Robustheit dient hier 2\s> funktionales Aquivalent fiiir den Aus fall der Moglichkeit, Risiken adaquat einzuschatzen. Streben nach GroBenwachstum kann dann als Strategic verstanden werden, die auf das Erreichen hinreichender Robustheit zielt. Wie diese Beispiele illustrieren, rechnet die Systemtheorie als Produkt sozialer Evolution mit einer Mehrzahl von (alternativ oder kombiniert praktizierba-

Vgl. da^u u.a. Luhmann (1984, S. 158) mit der Feststellung: „Die Unsicherheitsabsorption lauft liber die StabiHsierung von Erwartungen". „.,. das Problem ist, wie man mit der Orientierungsunsicherheit zurechtkommt, die in den gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionssystemen laufend reproduziert wird. Dafiir und nur dafur brauchen Organisationen eine hierarchische Ordnung ihrer intemen Machtverhaltnisse" (Luhmann 2000, S. 221).

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ren) Moglichkeiten der Losung des Problems der Unsicherheitsabsorption. Statt von der universeUen Geltung des Prinzips der Maximierung des subjektiv erwarteten Nuteens auszugehen, unterstellt Luhmann die kontext- und gelegenheitsabhangige l/ariation des Umgangs mit Unsicherheit: „Man verfahrt, konnte man sagen, beim Absorbieren von Unsicherheit auch in der Einschatzung von Unsicherheit, Wahrscheinlichkeit und Risiko so, wie es am besten geht" (Luhmann 2000, S. 213). Die bei Esser durch das DN-Modell der Erklarung inspirierte Annahme einer ausnahmslos wirksamen Orientierungs- und Selektionsgesetzlichkeit wird programmatisch ersetzt durch die Unterstellung einer offenen Menge unterschiedlicher Losungen, die oft auf unterschiedliche Situationen abgestimmt, aber im Blick auf das Problem der Unsicherheitsabsorption als funktionale Aquivalente zu betrachten sind. Der Aufdeckung solcher Losungsmoglichkeiten gilt dann die weitere Analyse. Das Streben nach RationaUtat ist aus der Perspektive der Systemtheorie auch nicht als primdrpsychische Selektionsgesetzlichkeit zu analysieren, sondern als ein kommunikativer Modus der Handhabung des Problems der Unsicherheitsabsorption neben anderen Moglichkeiten, der auf der Ebene sozialer Systeme in der institutionalisierten Erwariung der rationalen Begriindbarkeit von Selektionen verankert ist. Rationalitat erscheint nicht als geschichtsenthobene anthropologische Konstante, sondern (und dies gilt bekanntlich schon fiir die Parsonssche Version der Systemtheorie) als gesellschaftliche Zumutung, mit der sich psychische Systeme durch Erwartungsstrukturen konfrontiert sehen, die selbst Resultat sozialer Evolution sind. Dariiber hinaus erscheint der Rationalitatsbegriff fiir sich genommen zu allgemein, um Verhaltensselektionen orientieren zu konnen und verlangt deshalb nach sozialen Einrichtungen situationsabhangiger Spezifizierung. Als Kontexte, in denen Personen unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft damit rechnen miissen, dass die rationale Begriindbarkeit von Verhaltensselektionen normativ erwartet wird und als soziale Einrichtungen der Respezifikation eines zu hoch generalisierten Rationalitatskonzepts, die orientierungstaugliche Rationalitatskriterien bereitstellen, nennt Luhmann „Organisationen und Professionen" (Luhmann 2002, S. 142). Mit einem vergleichenden BHck auf Rational Choice notiert er: „Man findet relativ rationales Verhalten bei MitgHedern von Professionen und Organisationen, aber gerade nicht im undirigierten Privatleben der Individuen. Man miisste daher fragen, ob jene Individualisierung der RationaHtatserwartungen nicht seit langem obsolet ist. ... Es ware dann kein Defizit, sondern eher der typische Fall, dass rationales Verhalten ein ,framing' voraussetzt, das das Individuum nicht in sich selbst und schon gar nicht in der Reflexion auf eigene Praferenzen oder auf verniinftige Griinde finden kann" (Luhmann 2002, S. 142). Mit dem Konzept des „framing" ist ein Begriff ins Spiel gebracht, der im Zentrum von Essers erweiterter Version der WE-Theorie steht. Luhmann ge-

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braucht diesen Begriff zur Bezeichnung einer sozial standardisierten Definition der Situation, an die sich Individuen halten konnen, um 2u antizipieren, wann rationales Verhalten von ihnen erwartet wird. Essers Darstellung der Rolle von Frames fiir die Selektion von Handlungen widerspncht dem nicht, sondern markiert gerade die Stelle, an der — wie gleich zu diskutieren — Importe aus der Systemtiieorie eingefiigt werden. Damit komme ich zur Diskussion der Frage, in welcher Weise in beiden Ansatzen zentrale Konzepte der jeweiligen Gegentheorie Beriicksichtigung finden. 5 Nutzenorientietung als Selektionsprinzip aus systemtheoretischer Perspektive Die Systemdieorie und Essers Theone der Frameselektion sind gleichermaBen als Theorien mit fachuniversalem Anspruch konzipiert. Uberschneidungen der Anwendungsbereiche sind deshalb kaum zu vermeiden. Zu priifen ist, wie sich beide Theorien dazu verhalten. Eine typische Strategie ist in diesem Falle, die jeweilige Konkurrenztheorie zu einer Theone mit nur eingeschrankt einlosbarem Anspruch herabzustufen und sie als Teiltheorie dem eigenen Ansatz einzuverleiben. Esser verfahrt exakt nach diesem Muster. Aber auch Luhmanns Systemtheorie enthalt markierte Stellen, an denen nutzenrationaler Kalkulation sowie der Verwendung von Frames und Skripts ein Platz angewiesen wird. Wenden wir uns zvir Untersuchung solcher Uberschneidungen zunachst der Systemtheorie zu. Systeme konnen ihre Autopoiesis nur durch die kontinuierliche Verkettung systemeigener Operationen aufrechterhalten. Die Reproduktion der System/Umwelt-Differenz verlangt deshalb, dass jede Operation anschlussfahig fiir weitere Operationen ist. Fiir soziale Systeme heiBt dies, es geht um die Sicherung der Anschlussfahigkeit von Kommunikation und um die damit eng verkniipfte Frage, inwiefern jeweils mit annehmenden oder ablehnenden Reaktionen zu rechnen ist. Eine Situation unbestimmter doppelter Kontingenz, in der keiner der Beteiligten antizipieren konnte, wie der andere auf eine Mitteilung reagiert, entspncht einer Situation des Handekis unter Unsicherheit, die keine Anhaltspunkte fiiir die Selektion eigenen Verhaltens enthalt. Fiir die Orientierung von Kommunikation erscheint die Unterscheidung Annahme/Ablehnung der Differenz niitzlich/schadlich deshalb systematisch vorgeordnet. Erst die Erwartbarkeit von Annahme/Ablehnung transformiert die Situation unbestimmter doppelter Kontingenz als Situation volliger Unsicherheit in eine Situation des Handelns unter Risiko (denn jede Erwartung kann enttauscht werden) und versorgt die Kommunikationsteilnehmer mit den notigen Orientierungen fur die Selektion von Mitteilungen. Erst die Losung dieses Problems ermogHcht dann auch die

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Beteiligung an Kommunikation mit dem Ziel der Maximierung von Eigennutz. Luhmann formuliert die entsprechenden Uberlegungen in der folgenden Passage: „Eine wichtige Konsequenz betrifft die Frage, unter welcher Different eigentlich ein System, aas auf doppelte Kontingenz gebaut ist, ^ndchst anlduft. Im Kontext des modernen Individuaiismus und der Handlungstheorie liegt es nahe, hier von Eigennutzen des Handelnden bzw. seinen (wie immer subjektiv, wie immer irrational, uninformiert vmd irrig gesetzten Zielen) auszugehen. Das Theorem doppelter Kontingenz fiihxt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Das System wird in Gang gebracht und orientiert sich daher zionachst durch die Frage, oh der Partner eine Kommunikation annehmen oder ahlehnen wird, oder auf Handlung reduziert: ob eine Handlung ihm nUt^^n oder schaden wird. Die Position des Eigeninteresses ergibt sich erst sekundar aus der Art, wie der Partner auf einen Sinnvorschlag reagiert. Die Verfolgung eigenen Nutzens ist eiae viel zu anspruchsvolle Einstellung, als dass man sie generell voraussetzen konnte (und die entsprechenden Theorien sind auch sehr spat entwickelte Theorien). Dagegen kame kein soziales System ia Gang, wenn derjenige, der mit Kommunikation beginnt, nicht wissen kann oder sich nicht dafur interessieren wiirde, ob sein Partner darauf positiv oder negativ reagiert. Eine in dieser Hinsicht ganzHch unbestimmte Situation wiirde, wenn nicht jeder Kontakt sogleich abgebrochen wird, zunachst Bemiihungen auslosen, die Voraussetzung fur die auf den Partner bezogene Differenz zu klaren" (Luhmann 1984, S. 160). Das Zitat macht deutlich, dass die Systemtheorie den Gedanken nutzenorientierter Selektion von Kommunikationsbeitragen nicht grundsatzUch ablehnt, sondern ihm gegeniiber der Frage nach den Bedingungen der Konstitution und Reproduktion sozialer Systeme einen abgeleiteten Status zuschreibt. Die Systemtheorie interessiert sich fur die Formierung sozialer Strukturen (d.h. von Erwartungserwartungen), die eine Situation der volligen Unsicherheit dariiber, unter welchen Bedingungen mit der Annahme von Kommumkationen gerechnet werden kann, aufheben und die deshalb auch von einer Theorie rationaler Nutzenmaximierung als Randbedingungen fiir die nutzenrationale Selektion von Handlungen vorausgeset^^ttdtn miissen. Die fiir Esser zentrale Frage der kausalen Erkldrung von Selektionen durch Riickfuhrung auf psychisch wirksame Selektionsregeln riickt sie demgegeniiber an den Rand des BUckfeldes. Handlungen werden nicht als psychisch konstituierte und motivational verursachte Eiaheiten eingefiihrt, sondern als Produkt der kommunikativen Zuschreibung von MitteHungsselektionen auf Adressen, deren Funktion ebenfalls darin besteht, durch diese Zuschreibung notwendige Orientierungsgrundlagen fur Anschlusskommunikationen bereitzusteUen. „Dass dieser Handlungsbegriff keine ausreichende Kausalerklarung des Handekis vermittelt, schon weil er Psychisches auBer Acht lasst, liegt auf der Hand" (Luh-

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mann 1984, S. 228). Andererseits halt Luhmann im Zusammenhang mit der Diskussion des spezifischen Zuschnitts des systemtheotetischen Handlungsbegfiffs und der theoriestrategisch sekundaren Bedeutung von Nutzenmotiven ausdnicklich fest, dass sich derartige Einwande „aus einer Vorordnung der Frage nach der Systemreferenz" ergeben, ohne deshalb „Bemuhungen um psychologische Erklarung" 2u prajudizieren (Luhmann 1984, S. 160, FuBn.15). Er lasst also die Frage der psychologischen Erklarung von Handlungen ausdriicklich offen. Uber die Richtung, die eine solche Erklarung einzuschlagen hatte, finden sich freiHch immer wieder Andeutxingen. Im Mittelpunkt stehen auch dabei kommunikativ fiingierende Erwartungsstrukturen, die von den involvierten Psychen antizipiert und als Orientierungspramissen ihres Verhaltens zugrunde gelegt werden konnen: „Die Tiir offnet man, weil es geklingelt hat; obwohl es ein Gesprach unterbricht; obwohl unsicher ist, welche Handlungsanschliisse nach der Offnung in Betracht kommen; weil Anwesende ein Nichtreagieren auf KlingeLn mit Verwunderung registrieren und eine Erklarung erwarten wiirden usw." (Luhmann 1981, S. 60). Fiir die Ausfuhrung einer Handlung geniigt hier, dass sie so^al erwartet wird und der Handekide sich an dieser Erwartung orientiert. Jede Abweichung von geltenden Erwartungen dirigiert die Zurechnung von der Situation auf den HandeLnden um, erzeugt Erlauterungsbedarf und provoziert individualspezifische Motivzuschreibungen, falls keine befriedigende Erlauterung gegeben werden kann. Erwartungswidriges Handeki produziert auf diese Weise Folgeprobleme, deren Antizipation im Normalfall ausreicht, um die Handekiden zu konformem Verhalten zu veranlassen. Mit den Mitteki der WE-Theorie konnte man versuchen, diese Situation unter dem Gesichtspunkt der Nutzenmaximierung bzw. Kostenminimierung zu rekonstruieren. ,Aufstehen und die Tiir offnen (und, abhangig vom Lautenden, eventuell weitere Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, die dann gesondert zu spezifizieren und nach Wahrscheinlichkeit und moglichen Nutzenwerten einzustufen waren)' oder ,Nicht offnen und Erklarung geben' oder ,Nicht offnen und Anlass fiir Riickfragen bzw. Spekulationen iiber besondere Motive geben (Warum offnet er nicht? Was befurchtet er? Was hat er zu verbergen? Eine Person, deren Bekanntschaft ihn in unseren Augen diskreditieren konnte? Eine vor uns und seiner Frau geheimgehaltene Freundin? Polizei? GerichtsvoUzieher? ...?)', so konnten die relevanten Alternativen lauten. An der Art der ausgewahlten Situation faUt freilich auf, dass es ebenso schwierig ist zu antizipieren, wer mit welcher Wahrscheinlichkeit kHngelt und wie sich die weitere Situation entwickeln konnte, wie auch, auf welche Ideen iiber meine Motive die Anwesenden verfaUen konnten, wenn ich nicht offne. Skizziert wird eine einfache Alltags situation mit konfli-

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gierenden Handlungsalternativen unter Bedingungen der Unsicherheit, in der die Bestimmung der mogHchen Folgeereignisse sowie der GroBen p und U fur jedes Ereignis nicht ohne weiteres moglich erscheint, die Zeit fur die Einholung der dafiir notigen Informationen zu knapp ist und damit die Anhaltspunkte fur eine Strategie der Nutzenmaxitnierung fehlen. Aber vielleicht, so konnte man mit Esser annehmen, vereinfacht der psychisch aktualisierte Frame (zusammen mit dem entsprechenden Frame-Modus, dem Skript sowie dem Skript-Modus) die Situation soweit, dass umfangliche Folgenkalkulationen unterbleiben und es nur u m die Abwagung einer vermutlich rasch abzuwehrenden Stoning gegeniiber lastigen Nachfragen bzw. Begriindungserwartungen geht und man sich dann fiir das sozial iibliche Verhalten als die giinstiger erscheinende Alternative entscheidet. Fiir eine Erklarung mit Hilfe von Nutzenmotiven ist hier insofern ein moglicher Einsatzpunkt markiert. Die Pointe des Beispiels ist freilich, dass eine genaue Beantwortung dieser Fragen kaum erforderlich erscheint, u m das resultierende Verhalten erfolgreich zu prognostizieren. In Ubereiastimmung mit dem „Prinzip der abnehmenden Abstraktion" konnte man deshalb auf Konformitat mit antizipierten Erwartungen als den Faktor setzen, der das Verhalten am besten zu erkldren erlaubt.^^ Eine ahnliche These formuliert Luhmann an anderer SteUe: „Zumeist dominiert — und dies gerade nach dem Selbstverstandnis des psychischen Systems! — die Situation die Handlungsauswahl. Beobachter konnen das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personkenntnis voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft, wenn nicht uberwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden, sondern dem Mitvollzug der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems" (Luhmann 1984, S. 229). Mit Essers Theorie der Frame-Selektion konnte man hier auch formulieren, dass das Verhalten der Akteure sich in solchen Situationen an sozial konventionalisierten Frames und Skripts orientiert, deren Match zu den Merkmalen der Situation hoch genug ist, um alternative Rahmungs- und Handlungsmoglichkeiten weitestgehend auszublenden, so dass die Akteure, ohne iiberlegen zu miissen, tun konnen, was in derartigen Situationen gemeinhin als angemessen gilt und ihr Handeln deshalb als durch die Situation gesteuert erleben. Luhmann miisste dem nicht widersprechen. Denn zum einen diskutiert er selbst Frames und Skripts (unter dem Titel „Schemata'*) als Einnchtungen struktureller Kopplung zwischen

Allerdings ohne mit einer solchen Erklarung dem Anspruch streng aUgemeiner Geltung im Sinne des DN-Modells gerecht zu werden.

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Kommunikation und Bewusstsein (Luhmann 1997, S. llOff);^^ zum anderen aber behauptet Esser in Situationen mit einem Match von annahernd 1 nur (s.o.), dass die WE-Theorie formal erfullt ist, eine bewusste Kalkulation durch den Akteur auf der Basis von genau bestimmten Nutzenwerten und Erwartungswahrscheinlichkeiten faktisch also nicht stattfindet, sondern die Situation vom Akteur als eindeutig erlebt wird und bestimmte, sozial vordefinierte Reaktionen zu erfordern scheint. Fiir diese Klasse von Fallen konvergieren daher die Aussagen beider Theorien. Aus der Perspektive des Beobachters gilt unter solchen Bedingungen, dass die Kenntnis sozial geltender Erwartungen geniigt, um Verhalten mit einem relativ hohen Grad an Verlasslichkeit zu prognostizieren bzw. zu erklaren und dass dariiber hinausreichende Motivannahmen deshalb iiberflussig sind. Der beobachtete Akteur tut, was in einer solchen Situation im Kontext eines sozialen Systems erwartet wird, und der Hinweis auf geltende Normalitatserwartungen geniigt daher. Mit Rationalitat als expli^ter Kicbtlinie des Verhaltens rechnet die Systemtheorie infolgedessen primar dort, wo sie als so^ale Hrwartung normiert ist in Organisationen und Professionen (Luhmann 1997, S. 189), aber auch — als Mittel der vorausschauenden Vermeidung von Sanktionen — bei abweichendem Verhalten (vgl. Luhmann 1984, S. 403). Dabei geht es fur Luhmanns Systemtheorie primar u m die kommunikative Darstellung von Entscheidungen als rational. In dem MaBe freilich, in dem Handekide antizipieren konnen, dass von ihnen die nachweisliche Erfiiillung von RationaHtatskriterien erwartet wird, kann angenommen werden, dass die Frage, ob sie im Bedarfsfalle in der Lage sind, befriedigende Griinde fiir ihr Handeki anzugeben, auch zu einem vorausschauend praktizierten Selektionskriterium fiir sie wird. Auf diesem Wege kann auch das Kriterium der Nutzenmaximierung zu einem relevanten Auswahlkriterium werden.^"^ Unter den Pramissen der Systemtheorie wird so dttpsychische Gebrauch von RationaHtatskriterien als Selektionsgrundlage als Ruckschlageffekt von Kommunikation gedeutet xind zugleich angenommen, dass die Aktivierung derartiger Anforderungen auf spezi-

Dementsprechend registrieren Esser und Luhmann in ihrem zusammen verfassten Papier „ ... ein gemeinsames Interesse an Forschungen der kognitmn Psychologie, die mit Begriffen wie schemes, scripts, frames, prototy'pes, habits, cognitive-maps, mental models, images u.a. arbeitet und auf die These der situationsbedingten Selektion der Selektionsweisen hinaus&uft, wobei die im Gedachtnis gespeicherten ModeUe von Selektionsweisen ebenfaUs zur Situation gehoren" (Esser/Luhmann 1996, S. 132). Jedoch: „Es sind eher Ausnahmesituationen, in denen auch die Erwartung rationalen Entscheidens im Sinne von Optimierung oder Maximierung, also im Sinne einzig-richtigen Entscheidens eine RoUe spielt. So mag man in organisierten Betrieben mit solchen Erwartungen rechnen miissen und dadurch genotigt sein, Entscheidungen iiber ein Entscheidungsverhalten zu treffen, das sich sehen lassen kann. Das normale Leben kommt ohne Superlative aus" (Luhmann 1984, S. 403).

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fische Kontexte beschrankt bleibt (ausfiihrlicher da2u Schneider 2003, S. 52ff). Koutinisiertes Handeln ergibt sich demgegeniiber durch die unmittelbare Orientierung an Erwartungserwartungen, die bestimmte Selektionen alternativlos vorzuzeichnen scheinen. Anders als Esser geht Luhmann dabei nicht davon aus, dass die routinisierte Fiihrung des Verhaltens als rational gedeutet und erklart werden konne, weil es in solchen Sitiiationen nutzenrational sei, auf eine kostspielige Kalkulation des erwartbaren Nutzens zu verzichten. Vor diesem Hintergrund lasst sich das Verhaltnis zwischen Luhmanns Systemdieorie und Essers modifizierter Version der WE-Theorie wie folgt zusammenfassen: Esser geht es um eine Theorie, die eine kausak Erklarung^j^/^^^j-Ar Selektionen im Sinne des DN-Modells der Erklarung iiber zwei Stufen ermoglicht; die initiale Selektion einer bestimmten Rahmung der Situation (Frame und FrameModus) fiihrt zur Aktualisierung von Biindeln von Handlungsmoglichkeiten [Skripts) sowie eines "Skiv^XrModus, der die anschlieBende Auswahl einer Handlung dirigiert. Als Selektionen zweiter Ordnung konstituieren diese vier Selektionsschritte zusammen den psychischen Be^^gsrahmen nutzenrational gesteuerter Handliongsselektion. — Demgegeniiber entwirft Luhmann eine Theorie, die zeigt, wie der Bereich wahlbarer Handlungen durch den kommunikativen Kontext konstituiert wird. Auch hier geht es also um die Selektion von Selektionsmoglichkeiten, freilich in so^aler Systemreferenz. Evolutionar ausschlaggebendes Selektionsprinzip ist hier die Erzeugung einer hinreichenden Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikation als Voraussetzung fiir ihre Expansion iiber den Bereich der Interaktion unter Anwesenden hinaus. Wie Luhmann zeigt, geniigen dazu Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck und elektronische Medien nicht. Dariiber hinaus bedarf es spezifischer Erfolgsmedien wie Geld, Macht, Recht, Wahrheit etc., die dafiir sorgen, dass Annahme jenseits direkter Interaktion wahrscheinlicher wird als Ablehnung. Diese Medien wiederum sind die Grundlage fur die Ausdifferenzierung geseUschaftUcher Funktionssysteme wie des okonomischen -, des politischen -, des Rechts- und des Wissenschaftssystems, in denen Kommunikation jeweils durch bestimmte Codes und Erwartungsprogramme orientiert wird. Codes und Programme konturieren den systemtypischen Selektionshorizont moglicher Kommunikationen. Organisationen und Professionen spezifizieren die systemabhangigen Rationalitatsstandards soweit, dass sie als Leitlinien der Verhaltensselektion fongieren konnen. Der kommunikativ aktualisierte Systemkontext seligiert jeweils einen Bereich von Selektionsmoglichkeiten, bei deren Auswahl mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit Annahmereaktionen gerechnet werden kann. Das Unsicherheit erzeugende Problem doppelter Kontingenz erhalt so eine durch sozial geltende Erwartungserwartungen strukturierte Form, in der die Unsicherheit auf ein praktisch handhabbares Format reduziert ist. Unsicherheitsabsorption erscheint als zentrales Bezugsproblem, das die Genese jo^'^/systemischer Strukturen antreibt und als Kri-

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teriiim fiingiert, an dem sich diese als taugliche Losiingsversuche zu bewahren haben. Rationalitdt ist dabei nur in besonderen Kontexten als Verhaltenserwartung verankert und deshalb primar dort sowie bei bewusst praktiziertem abweichendem Verhalten anzunehmen. 6 Kommunikationsmedien und fiinktionale Diffetenzietung det Gesellschaft aus def Petspektive des Essetschen Theorieprogramms Esser versucht nicht, die systemtheoretischen Thesen zur Evolution von Kommunikation, zur Bedeutung sozialet Verhaltenserwartungen und zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen zu entkraften. Er bestatigt sie vielmehr selbst ausdrucklich durch Einbau der entsprechenden systemtheoretischen Annahmen in die „Logik der Situation". So rezipiert Esser die Luhmannsche Theorie der Kommunikationsmedien und inkorporiert sie in seinen eigenen Ansatz (vgl. bes. Esser, Bd.3, 2000, S. 277ff). Symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation „... vereinfachen mit ihrem Gebrauch die Situation auf eine doppelte Weise: Sie rahmen die Situation in einem spezifischen Code; und sie stmktuneren das Handeln in einem besonderen Programm. Die Rahmung durch ein SGMK (= symboHsch generalisiertes Medium der Kommunikation; W.L.S.) in einem besonderen Code bezieht sich auf zwei Aspekte: Es wird durch das jeweilige SGMK ein spezifischer Sinn fur die Situation festgelegt; und damit gleichzeitig ein besonderes Ober^el, um das sich nun alles dreht. (...) Mit der Fesuegung von Code und Programm muss sich der Sender daher nicht mehr darum besonders kummern, welche sonstigen Eigenschaften ein Empfanger hat. Er weiB, dass der Empfanger im Rahmen des ,Sinns' dieses Mediums agieren wird. Und auch der Empfanger hat es sehr viel einfacher. Auch er weiB, dass der Sender an den Vorgaben dieses Rahmens orientiert handeln wird. (...) Das aUes erzeugt eine hohe Garantie, dass eine begonnene Kommunikation Anschliisse in ganz bestimmter Weise relativ sicher findet. Kurz: Die symbolisch generaltsierten Medien haben die spezifische Funktion, auch fiir eigentlich ganz unwahrscheinHche Umstande und Inhalte noch gesichertes Erreichen, Verstehen, Annahmebereitschaft, Rezeption und Wirkung zu verschaffen" (Esser, Bd.3, 2000, S. 282^ Fiir den ein^lnen Akteur resultiere daraus nicht nur ein Gewinn an Orientierungssicherheit, sondern auch der Zwang, sich den Anforderungen des jeweiUgen Kommunikationsmediums — und damit auch des Funktionssystems, das auf der Basis eines Mediums prozessiert — zu fiigen: „Wenn er etwas erreichen wiU, muss

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er sich dem Code und dem Progtamm fiigen. Liebe und Wahrheit -- beispielsweise - kann man fiir Geld nicht kaufen ..." (Esser, Bd.3, 2000, S. 285). Der standig 2u beobachtende Wechsel in den Orientierungen und dem Handeln der Akteure, so Esser an anderer Stelle, erfolge daher nicht beliebig, sondern sei „... vielmehr diktiert von den Vorgaben der funktionalen Imperative, wie sie u.a. auch in den Rollenerwartungen der jeweiligen Positionen enthalten sind. Der Wechsel von der einen funktionalen Sphare zur anderen ... (ist; W.L.S.) die Folge des eigentiimUch zwanglosen Zwangs des situationsgerechten Handelns und der Befolgung von sozialen Regeln im ganz eigenen Interesse einer moglichst effizienten Nutzenproduktion. (...) Auf diese Weise gewinnen arbeitsteilig organisierte, funktional differenzierte soziale Systeme ein enormes Potential: Sie werden von den ideosynkratischen privaten Motiven der Menschen nahezu vollkommen unabhdngig. Es muss fiir das Funktionieren der Systeme nicht verlangt werden, dass die Akteure das Ziel des Systems selbst unterstiitzen, schon gar nicht: emphatisch. Die Erfiiillung der funktionalen Aufgaben wird — wie dies Niklas Luhmann einmal ausgedriickt hat — von den Motiven der Menschen ,abgekoppelt'. Aber gleichwohl bleiben es immer nur die Menschen, die das Funktionieren und den Zusammenhalt des sozialen Systems bewirken. Die Integration der funktionalen Spharen ist ein unintendiertes Ergebnis des situationsgerechten Handelns der Menschen ..." (Esser Bd.2, 2000, S. S.70f). Die Zitate zeigen, wie weit die Anleihen reichen, die Esser hier bei Luhmanns Systemtheorie macht. Esser gibt dabei freilich systemtheoretischen Begriffen eine handlungstheoretische Wendung. Noch klarer erkennbar wird diese Umdeutung, wenn Esser feststellt, dass „der Code (eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums; W.L.S.) fiir den Typ, das Oberziel und den Sinn der Situation; und das Programm fiir das Handeln nach diesem Code" stehe (Esser, Bd.l, 1999, S. 165). Hier wird offensichtlich die Unterscheidung von Zweck und Mittelm. die Differenz von Code und Programm hineinprojiziert.^^ Das Verhalten der Akteure erscheint nach Essers Darstellung iiber weite Strecken durch funktionssystemische Erwartungsstmkturen gesteuert, weil dies fiir die Handelnden der einzige Weg ist, auf dem sie ihre Interessen realtsieren konnen. Die Strukturen sozialer Systeme gelten insofern als die primaren situativen Determinanten der Verhaltensselektion. Der eigenstandige Beitrag der WETheorie erscheint demgegeniiber geradezu marginal. Die komplette Theorie der

Aus systemtheoretischer Perspektive ist diese Deutung schon deshalb inadaquat, weil sie die fiir die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien konstitutive Differenz von Handeln und Erleben nicht angemessen beriicksichtigt (vgl. dazu Luhmann 1997, S. 332ff, Schneider, Bd.2, 2002, S. 317f^.

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Kommunikationsmedien und der funktionalen Differenziening wird vorausgesetzt und — wenn auch nicht ohne deformierende Assimilation an die eigenen Theoriegrundlagen — in die Randbedingungen des psychischen Selektionsgeschehens inkorporiert. Die theoretische Inhaltsarmut del WE-Theoiie macht dies moglich, aber auch notig, macht sie die Theorie doch abhangig von theoretischen Fremdimporten. Sie verlangt eine Spezifikation der „Logik der Situation" und der sie mit der „Logik der Selektion" verbindenden Briickenhypothesen durch externe Vorgaben. Diese Abhangigkeit von theoretischen Fremdprodukten kontrastiert deutlich mit den weitreichenden Erklarungsanspriichen, die Esser mit der erweiterten Version der WE-Theorie verbindet. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Esser nicht auch den Anspruch erheben kann, die Evolution funktionaler Differenziening mit den Bordmitteln seiner eigenen Handlungstheorie kausal ^ erkldren. Dass dies gnindsatzlich mogHch sein miisse, lasst sich mit Hinweis auf die formale Struktur des Mikro-Makro-ModeUs zumindest behaupten. Die materiale Einlosung dieses Anspruchs steht freiHch aus. Die Schwierigkeiten Hegen hier vor aUem im Ubergang von der Ebene der individuellen Handlungsselektion zur Makroebene, d.h. im Bereich der „Logik der Aggregation". Luhmann hat im BHck auf dieses Erklarungsmodell festgestellt, dass es leicht sei, von der makrosozialen Ebene auf die mikrosoziale Ebene hinunterzukommen, aber sehr schwierig, von der Mikroebene wieder hinauf zur Makroebene zu gelangen.^^ Es ist durchaus fragUch, ob bzw. inwieweit eine Theorie, die Vioxtss^gesellschaftlicher Evolution mit den Mitteln einer individualistischen Handlungstheorie zu erklaren beabsichtigt, erfolgreich sein kann. Insofern gewinnt eine Strategic der Theonebildung an Plausibilitat, die eine methodologisch individualistische Fundierung vermeidet und die damit verbundenen Anspriiche einer vollstandigen kausalen Erklarung sozialer Prozesse im Interesse des Gewinns einer hoheren Reichweite aufgibt. Die Systemtheorie versucht dies, und sie tut dies bereits auf der Ebene des Grundbegriffs der Kommunikation, den sie als Operation sozialer Systeme an die Stelle des psychisch definierten Handlungsbegriffs setzt. Sie analysiert die symboHsch generaHsierten Kommunikationsmedien funktional als evolutionare

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„Es ist relativ einfach, sich vorzustellen, wie individuelle Akteure auf gegebene so'ziale Bedingungen reagieren - etwa auf Inflation oder auf organisierte Zusammenschliisse riesiger Entscheidungsmengen oder auf institutionaJisierten politischen Wettbewerb. Viel schwieriger ist es, sich vorzustellen, welche Effekte auf der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen aus eben diesen Reaktionen erwachsen. Das gilt schon fiir H3^pothesenbildung und erst recht fiir Operationalisierung und Verifikation. Man kommt, mit anderen Worten, von der Makroebene hinunter, aber von der Mikroebene nicht wieder auf die Makroebene hinauf (Luhmann 1985, S. 117).

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Voraussetzung fiir die Differenziemng von Interaktion und Gesellschaft, deren kausal vermittelte Leistung auch nach Essers Uberzeugung darin besteht, die ohne diese Medien geringe Wahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen jenseits der Interaktion unter Anwesenden soweit zu steigern, dass die Aussicht auf Annahmeerfolg hinreichend groB wird, um zur Nutzung der Moglichkeiten der Fernkommumkation mit Hilfe von Verbreitxingsmedien zu motivieren. Diese funktionale These liefert einen kausal erkldrenden Beitrag zur Beantwortung der Frage, welche Voraussetzungen die Expansion von Gesellschaft iiber die Grenzen der interaktionsnahen archaischen Stammesgesellschaften hinaus ermbglicht haben. Sie beansprucht jedoch ausdriicklich nicht^ damit bereits hinreichende Bedingungen fiir diesen evolutionaren Prozess angegeben zu haben, aus denen die Notmndigkeit dieser Entwicklung deduktiv abgeleitet werden konnte. Und sie beansprucht ebenso wenig, eine individualistische Erklarung fiir die evolutiondre Entstehung dieser Medien im Sinne des von Coleman, Esser und anderen propagierten Mikro-Makro-Modells geben zu konnen, welche die soziale Emergenz dieser Medien aus der Aggregation einer Vielzahl von Individuakntscheidungen ableiten miisste, die durch eine einheitliche Sekktionsgeset^lichkeit gesteuert sind. Dass eine derartige individualistische Erklarung makrosozialer Strukturen dieser Generalisierungsstufe iiberhaupt mogHch ist, bezweifelt Luhmann aus Griinden der hohen Komplexitdt der dafiir zu untersuchenden Prozesse. O b das individualistische ErklarungsmodeU bei Fragen des Typs, wie sie die Systemtheorie untersucht, wegen Komplexitatsxiberlastung unpraktikabel wird, ist freilich eine empirische Frage.^^^ Der Umstand, dass Esser wesentliche Aussagen der Systemtheorie in sein ErklarungsmodeU zu integrieren sucht, ohne diese Pramissen zum Gegenstand einer individualistischen Erklarung zu machen, mag — je nach theoretischen Praferenzen — als Indiz fiir die Berechtigung dieser skeptischen Einschatzung oder als triviale Anzeige fur weiteren Forschungsbedarf gedeutet werden, dessen Befriedigung die zukiinftige SchHeBung dieser Liicke verspricht.

'^^ Esser sieht hier offensichtUch keinerlei Schwierigkeiten, meint er doch, dass „mit den Mitteln des situationslogischen Methodologischen Individualismus ... auch eine soziologische Systemtheorie mogHch" sei, „und zwar eine, die das Etikett ,Theorie' endlich wirklich verdient" (Esser 2002, S. 31). Aber auch dann, wenn man im Gegensat^ zu Esser hier eine uniiberwindliche Hiirde fiir eine individualistische Handlungstheorie sieht, muss man den Versuch einer Verkniipfung von handlungs- und systemtheoretischen Konzepten nicht vollstandig ablehnen. Neben der deformierenden Assimilation der Systemtheorie an handlungstheoretische Pramissen bleibt als weitere analytische Moglichkeit die These der irreduziblen Komplementaritdt beider Theorieansatze, wie sie u.a. Uwe Schimank vertritt (vgl. 1996, S. 205f^. Nicht erledigt sind damit allerdings die von systemtheoretischer Seite vorgetragenen Einwande gegen die Uberschatzung der Bedeutung rationaler Nutzenmaximierung als Selektionsregel.

Erklarung, Kausalitat und Theorieverstandnis bei Esser und Luhmann im Vergleich

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Zum bivalenten Denken bei Max Weber, Niklas Luhmann und Hartmut Esset Thomas Kron undlMrs Winter

1 Einleitung Es darf inzwischen als common sense gelten, dass die Dinge der Welt, die uns bewegen, nicht so sind wie sie sind, sondern so wie wii sie definieren. Die Definition der Situation orientiert das Handeln und verleiht ihm Sinn. Die Situationsdefinition funktioniert zumeist auch recht gut, selbst wenn die O b jekte der Situation keine signifikante Eindeutigkeit aufweisen. Im Alltagsleben kommen wir mit solchen „Vagheiten" ganz gut zurecht, wenigstens solange sie keinen groBeren Schaden anrichten. Betrachten wir etwa das so genannte Sorites Paradox. Dessen Bedeutung lasst sich beispielhaft gut veranschaulichen. Gegeben sei ein Sandhaufen. Man nimmt ein Sandkorn weg. 1st es immer noch ein Sandhaufen? Ja. Das andert sich auch nicht, wenn man ein zweites oder drittes Sandkorn wegnimmt. Irgendwann bleibt aber nur noch ein Sandkorn librig. Wann hat der Sandhaufen aufgehort, ein Sandhaufen zu sein? Derartige Fragen machen im Alltag nur selten Probleme, z,B. wenn die Mutter dem Kind sagt, es solle den Sandhaufen, den dessen Schuhe im Flur hinterlassen haben, beseitigen, obwohl nur ein paar Kornchen Sand herumliegen, denn das Kind wird dies wohl als Aufforderung zum Saubermachen verstehen — also eine bivalente Deutung im Sinne von schmutzig / nicht-schmutzig vornehmen. Notfalls werden Begriffe erfunden, mit denen sich derartige Paradoxien thematisieren las sen, ohne sie dann als solche noch auflosen zu miissen, z.B. bei der Rede von einer „HalbGlatze", bei der nicht mehr entschieden werden muss, wie viele Haare bis zu einer Voll-Glatze noch ausfallen miissen. Die Wissenschaft darf mit solchen Vagheiten allerdings nicht so sorglos umgehen, weil sie sich der Wahrheit verpflichtet hat. Der Ausdruck „Wahrheit" bezieht sich in der Kegel auf Aussagesatze und bezeichnet dann im Allgemeinen die Ubereinstimmung des Gehaltes dieser Aussagen mit der WirkHchkeit. Und hier wiinscht die Wissenschaft groBtmogliche Klarheit. Mehr oder weniger explizit gilt deshalb auch heute noch in weiten Teilen der Wissenschaft — inklusive der Soziologie — die Orientierung an den von Aristoteles formulierten logischen Gesetzen vom ausgeschlossenen Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten. Folglich ist Jede Auss2ige per definitionem wahr oder falsch, wobei ausgeschlossen wird, dass eine Aussage wahr und falsch ist.

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Z u dieser Vorgehensweise bemerkt Mario Bunge (1983, S. 141): „Die Historiker der Ideengeschichte haben gezeigt, dass es fur das archaische und noch fur das antike Denken charakteristisch ist, alles auf Gegensatzpaare zu reduzieren: Tag — Nacht, sterbHch — unsterblich, essbar — nicht essbar, bewegHch — unbewegHch etc. Dieses Charakteristikum wird beibehalten in der ersten Phase der wissenschaftlichen Behandlung eines Problems: wie der Neurophysiologe zu Beginn des Jahrhunderts alles auf ein Zusammenspiel von Reiz und H e m m u n g reduzieren wollte, so gerat der Soziologe [...] in die Versuchung, alles in Termini [...] von Paaren ahnUcher Gegensatze zu erklaren. ZweifeUos weisen einige reale Systeme, seien sie physische, seien es kulturelle, polare Charakteristika auf. Aber sie weisen auch andere auf, die es nicht sind. Die moderne Wissenschaft hat gezeigt, dass die ReaHtat nicht in die polaren Schemata passt, sei es das von Pythagoras, sei es das von Hegel: die polaren Systeme sind die Ausnahme, nicht die Kegel" (1983, S. 141) Und an gleicher Stelle heiBt es ein paar Zeilen weiter: „Diese Philosophic [der Bivalenz, d.V.] beginnt damit, die einander widersprechenden Komponenten oder Aspekte des fragHchen Systems auszusondern und findet in diesen Gegensatzen den Motor ihrer Entwicklung [...]. Diese Art der Erklarung ist so primitiv, wie die Dichotomisierung, die ihr vorausgeht, und ebenso unvereinbar mit einer wissenschaftHchen Betrachtung der Welt." Kritisiert wird also die Dichotomisierung der Welt — paradigmatisch in der DigitaHsierung der Welt mit Nullen und Einsen umgesetzt —, die der Wirklichkeit nur in AusnahmefaUen angemessen ist. Dichotomisierung fiihrt einfach zu groBen Informationsverlusten.^ Es sei ein kultureller Gliickstreffer gewesen, dass die friihen westHchen Theoretiker die Intuition, dass Menschen so etwas wie einen evolutionar erworbenen „Dichotomisierungstrieb" haben, u m mit ihrem chronisch unsicheren Wissen umgehen und so letztlich iiberleben zu konnen, mit den wissenschaftlichen Methoden dieser Tage reflektieren konnten. Das Beharren auf diesen Methoden sei nun aUerdings Ausdruck eines kulturellen Extremismus — vor allem des westlichen Wissenschaftsbetriebs:

Dies ist u.a. ein Grund dafiir, dass Charles C. Ragin die urspriinglich von ihm entwickelte Methode der „qualitativ-vergleichenden Analyse" (Ragin 1987), die mit strikt dichotom operationalisierten Variablen arbeitet, um fu2zy-sets erweitert hat (Ragin 2000). „A conventional (or 'crisp') set is dichotomous: An object (e.g., a survey respondent) is either 'in' or 'out' of a set, for example, the set of Protestant. Thus, a conventional set is comparable to a binary variable with two values, 1 ('in', i.e., Protestant) and 'out', i.e., non-Protestant). A fuzzy set, by contrast, permits membership in the interval between 0 and 1 while retaining the two qualitative states of full membership and full nonmembership. Thus, the fuzzy set of Protestants could include individuals who are 'fuUy in' the set (fuzzy membership = 1.0), some who are 'almost fully in' the set (membership = .90), some who are neither 'more in' nor 'more out' of the set (membership = .5, also known as the 'crossover point'), some who are 'barely more out than in' the set (membership = .45), and so on down to those who are 'fuUy out' of the set (membership = 0)." (Ragin 2000, S. 6)

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„Both Lao-Tze and the Buddha championed the A-And-not-A view of simultaneous opposites. The Taoist's ying-yang symbol makes this clear and today adorns the flag of South Korea and Mangolia. The Buddha built his whole world view on first breaking out of the black-white shell of words that still binds much of Western culture and the modern science it spawned. This lies at the heart of the satori enlightenment in Zen Buddhism in Japan. [...] In any case I cannot imagine any major Eastern thinker who would claim that P (/4 fl A^ — 0 holds for all events A. That is the height of logical and cultural extremism." (Kosko 1994, S. 33) Wir werden im Folgenden exemplarisch an Hartmut Essers Entwurf einer universalen soziologischen Theorie, die „die Zusammenfuhrung und die Integration disparat scheinender Ansatze und Erklarungen zu moglichst einer Theorie" (Esser 2001, S. 532) verfolgt, vergleichend priifen, ob diese Kritik zutrifft und Essers Theorie zu „primitiven Erklarungen" unter einem „kulturextremistischen" Bezugsrahmen neigt. Wir werden zeigen, dass Esser in seinem Integrationsvorhaben einem Wissenschaftsideal verhaftet bleibt, das das Prinzip der Zweiwertigkeit (uber)betont und dabei in Gefahr gerat, dieses Prinzip aus der Analyse- in die Objektebene zu iibertragen. In einem: Theorie und Gegenstand zu vermischen, respektive sich die Welt der Theorie gefugig zu machen. Dazu untersuchen wir zunachst (2) den Ansatz von Max Weber als einen der Griindungsvater der Soziologie, der Esser zugleich als „Gewahrsmann" fur das eigene Vorhaben dient. Es wird sich dabei zeigen, dass Weber auf der Gegenstandsebene durchaus die Vagheit der Welt (an)erkannt hat, allerdings keine Moglichkeit sah, diese Erkenntnis auf die soziologische Erfassungsebene zu iibertragen. Die Frage ist, mit welchen Losungen diesem von Weber aufgezeigten Problem der soTio-logischen Erfassung der Welt begegnet wird. Als scheinbare „KontrastfoHe" zu Essers Ansatz wenden wir uns anschlief^end (3) der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu, der einerseits die zweiwertige Logik und damit „Webers Problem" zu iiberwinden versucht, letztUch aber nur eine bivalent operierende Systemtheorie entgegensetzen kann. Dass Hartmut Esser in seiner Handlungstheorie einerseits xiber die Handlungstypologie Max Webers hinausgeht, indem er die verschiedenen Handlungstypen in einem handlungstheoretischen Argument zu integrieren versucht, andererseits dabei aber — logisch eher Luhmann folgend — ausblendet, was Max Weber fiir die Gegenstandsebene anerkannt hat, namHch Mischformen und Ungenauigkeiten, wird anschHeBend verdeutHcht (4). Im Ergebnis zeigt sich daher, dass die Esser'sche Theorieanlage (ebenso wie die Luhmann'sche Systemtheorie) nicht nur weiterhin dem bivalenten Denken verhaftet ist (und die damit verbundene Problematik nicht lost), sondern den bivalenten Ansatz sogar noch ein stiickweit durch Obertragung auf die Gegenstandsebene radikalisiert. Z u m Schluss (5) verweisen wir vor diesem Hintergrund auf eine alternative Perspektive.

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2 Max Webet Zweifellos hat Max Weber die Soziologie methodologisch wie inhaltlich nachhaltig gepragt. Uns geht es hier nunmehr darum zu zeigen, dass Weber die Soziologie beziiglich einer bivalenten Formatierung der Erfassungsebene beeinflusst hat. Vorab wird bei Lektiire von Webers Schriften offenkundig, dass dieser bei der Betrachtung sozialer Gegenstande durchaus deren Polyvalenzen, Vagheiten und graduelle Abstufungen zur Kenntnis nimmt. So stellt er z.B. in seinen „Methodologischen Gnindlagen" beziiglich des Handelns fest: „Die Grenze sinnhaften Handeln gegen ein bloB [...] reaktives, mit einem subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes Sichverhalten ist durchaus flussig'^ (Weber 1980, S. 2, Herv. d.V.) So steht etwa das traditionale Verhalten „ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ,sinnhaft' orientiertes Handeln iiberhaupt nennen kann." (Weber 1980, S. 12) Gleiches gilt fur das affektuale Handeln. Aber nicht nur gegeniiber Verhalten, sondern auch innerhalb der von Weber unterschiedenen Arten der Handlungsorientierungen sind derartige fliissige Ubergange zu konstatieren, denn, so Weber (1980, S. 13): „Sehr selten ist Handeln, insbesondere soziales Handeln, nur in der einen oder anderen Art orientiert." Die Hervorhebungen las sen sich als Ausdruck des Unbehagens von Weber bei der Anwendung der Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten auf die ModeUierung von Handeln deuten, weshalb letztlich, so Weber weiter, die ZweckmaBigkeit dieser Anwendung sich nur aus dem Erfolg ergeben kann. Derartige fliissige Ubergange findet Weber auBerdem in sozialen Strukturen. So ist fiir ihn (1980, S. 16) klar, dass die Soziologie „das Nebeneinander verschiedener, einander widersprechender Ordnungen innerhalb des gleichen Menschenkreises" anzuerkennen habe. „Zwischen Geltung und NichtGeltung einer bestimmten Ordnung besteht also fur die Soziologie nicht [...] absolute Alternative. Sondern es bestehen fliissige Ubergange zwischen beiden Fallen" (Weber 1980, S. 17, Herv. d. V.). Das gilt ebenfaUs fiir die Unterscheidung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, „Die groBe Mehrzahl sozialer Beziehungen aber hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung." (Weber 1980, S. 22) Selbst fiir den als reinsten Typus der Vergesellschaftung konstruierten Zweckverein gilt, dass dieser „in freilich hochst verschiedenem Grade" dazu neigt, „Gefiihlswerte" zu stiften. Derartige graduelle Abstufungen macht Weber, dies sei als letztes Beispiel angefiihrt, auch fiir die Offenheit und Geschlossenheit sozialer Beziehungen geltend, feststellend, „dass der Ubergang von Offenheit zu Reguliertheit und Geschlossenheit fliissig ist. [...] ,ReguHertheit' und ,Geschlossenheit' nach auBen sind also relative Begriffe." (Weber 1980, S. 24) Die an dieser Stelle von

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Weber angefiihirten empirischen Beispiele zeigen, dass „alle denkbaren Ubergange" bestehen. Allerdings konnte Weber diese Erkenntnisse der Gegenstandsebene nicht auf die Erfassungsebene libertragen und musste nach Wegen suchen, mit dieser Diskrepanz umzugehen. Bekanntlich schlagt er (1980, S. 2) eine ,,typenh'Adende wissenschaftliche Betrachtung" vor. Wir beschranken uns hier aus Platzgninden auf Webers das Handeln betreffende Vorschlage. Darin wird das rein zweckrationale Handeln zum MaBstab erhoben und andere Handlungsorientierungen als Storungen und Ablenkungen desselben angenommen — was Weber (1980, S. 3) ausdriicklich als methodisches Mittel zur Handhabung von Vagheiten der Handlungsorientierung und nicht als rationaHstisches Vorurteil verstanden haben wollte. Das zweckrationale Handeln (als Typus) ist dann per definitionem dasjenige mit dem hochsten Grad der Zugehorigkeit zu der Menge sinnhaften Handelns. Fiir die Typenbildungen gilt, so Weber (1980, S. 9, Herv. d. V.): „Verstandlicli und eindeutig sind sie im HochstmaJI soys^oit, als rein zweckrationale Motive dem typisch beobachteten Ablauf zugrunde liegen". Die Begriindung fur die Vorgehensweise Hefert Weber — Vor- und Nachteile abwagend — dann auch gleich hinterher: „Die Soziologie bildet [...] TypenBegriffe und sucht genereHe Regeln des Geschehens. [...] Wie bei jeder generaUsierenden Wissenschaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, dass ihre Begriffe gegeniiber der konkreten Realitat des Historischen relativ inhalts/^^r sein miissen. Was sie dafur zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe. Diese gesteigerte Eindeutigkeit ist durch ein moglichstes Optimum von J/;^/^adaquanz erreicht, wie es die soziologische Begriffsbildung erstrebt." (Weber 1980, S. 9f) Die technologisch-bivalente Erfassung des eigentlich „flussigen" Gegenstands hat also den Nachteil des Informationsverlustes, denn „[w]irklich effektiv, d.h. voll bewusst und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realitat stets nur ein Grenzfall" (Weber 1980, S. 10), dafiir bietet sie aber als Ausgleich eine hohere (und damit fiir Weber soziologisch modellierbare) Eindeutigkeit. Worin Hegt aber genauer das Problem bei der ModeUierung eines als vage erkannten sozialen Gegenstands? Dazu lesen wir bei Weber (1980, S. 4f): „Die handelnden Menschen sind gegebenen Situationen gegeniiber sehr oft gegensatzHchen, miteinander kampfenden Antrieben ausgesetzt, die wir samtlich verstehen." Hier wird noch mal deutlich gemacht, dass die Handlungen der Akteure als Gegenstand der Betrachtung zweifelsohne durch Handlungsorientierungen motiviert sein konnen, die sich u.U. durch „gegensatzHche Antriebe" auszeichnen, also ^gleich etwa rational und nicht-rational, traditional und nicht-traditional (vgl. Schwinn 1993, S. 227ff). N u n aber fahrt Weber fort: „In welcher relativen Starke aber die verschiedenen im ,Motivenkampf liegenden, uns untereinander gleich verstandlichen Sinnbezogenheiten im Handeln sich auszudriicken pflegen, lasst sich, nach aller Erfahrung, in auBerst vielen Fallen

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nicht einmal annahernd, durchaus regelmaBig aber nicht sicher, abschatzen." Weber fehlte demnach schlichtweg die Methode, u m graduelle Abstufungen — „relative Starke" — in seinen handlungstheoretischen Ausfuhrungen prazise modellieren zu konnen, so dass nur vage Schatzungen moglich sind. Er deutet dann noch an, dass folglich nur die Handlung selbst — die ouverte Handlung, nicht aber der Prozess der Handlungsentscheidung — geeignet sein kann, u m Aussagen iiber die relative Starke der miteinander „kampfenden" Handlungsantriebe treffen zu konnen. Allerdings wird diese Moglichkeit zugleich wieder relativiert, da Weber auch fur derartige Aussagen nicht sehen kann, wie man dies soziologisch fruchtbar nutzen konnte: „Der tatsachliche Ausschlag des Motivenkampfes allein gibt dariiber [iiber die relative Starke, d.V.] Aufschluss. Kontrolle der verstandHchen Sinndeutung durch den Erfolg: den Ausschlag im tatsachHchen Verlauf, ist also, wie bei jeder Hypothese, unentbehrlich. Sie kann mit relativer Genauigkeit nur in den leider wenigen und sehr besondersartigen dafur geeigneten Fallen kn psychologischen Experiment erreicht werden." (Weber 1980, S. 5) Und so schlieBt er an gleicher Stelle mit Bedauern: „Oft freilich bleibt leider nur das unsichere Mittel des ,gedanklichen Experiments', d.h. des Fottdenkens einzelner Bestandteile der Motivationskette und der Konstruktion des dann wahrscheinHchen Verlaufs, u m eine kausale Zurechnung zu erreichen." Derartige Gedankenexperimente sind etwa die idealtypisch formuHerten Bestimmungsgriinde des Handekis, denen typische Ordnungsmuster korrespondieren. Dass dieses Problem fur Weber ein auBerst wichtiges ist, zeigt sich wohl auch am Abschlusssatz der „Methodologischen Grundlagen", der als Wegweiser fiir die zukiinftige Soziologie gedeutet werden kann: „Man hat eben methodisch sehr oft nur die Wahl zwischen unklaren oder klaren, aber dann irrealen und ,idealtypischen' Termini. In diesem Fall sind die letzteren wissenschaftlich vorzuziehen." (Weber 1980, S. 11) Wir wollen nun schauen, ob sich Webers Vorgabe ia aktuellen Handlungs- und Systemtheorien fortgesetzt hat oder ob das Problem Webers mittels einer anderen Losung vieUeicht beseitigt werden konnte.

3 Niklas Luhmann: V o n det Paradoxie 2uf Binaritat Beginnen wir mit Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme als Beispiel fur eine — wir haben es bereits angedeutet: ebenfalls — bivalent angelegte Theorie, die nicht auf handlungstheoretischen Uberlegungen beruht, sondern dessen „operativer Konstruktivismus" darin resultiert, soziale Systeme als binar codiert zu beschreiben.

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Eindeutiges Beobachten Ausgehend von differenztheoretischen Annahmen iiber das Beobachten ist die Bivalenz dieses Ansatzes der systemtheoretisch grundlegenden Unterscheidung von System und Umwelt geschuldet. Der Start der Theorie mit der Beobachtung, dass System und Umwelt unterschieden sind, ist aber nicht unproblematisch, denn: „Die Unterscheidung ist der Grund der Beobachtung [...]. Die Unterscheidung kann aber nur selbst-implikativ eingefiihrt werden, und das wird zum Paradox, wenn man mit dem Unterscheiden beginnt. D e n n die Unterscheidung ist eine Form, die ihrerseits eine Innenseite (das Unterschiedene) und eine AuBenseite (das Sonstige) unterscheidet. Also kann man mit dem Unterscheiden nicht anfangen, ohne schon unterschieden zu haben." (Luhmann 1998, S. 84) Beobachten meint die Operation von Unterscheiden und Bezeichnen, die als Operation dutch einen anderen Beobachter beobachtet werden kann, aber nicht direkt dutch den Beobachter selbst. Die in einer Unterscheidung entstandene Differenz wird in derselben Unterscheidung eben nicht mitbeobachtet, die Einheit der Unterscheidung ist „das ausgeschlossene Dritte, das nicht beobachtet werden kann [...]"; „der Beobachter ist das ausgeschlossene Dritte seines Beobachtens," (Luhmann 1997, S. 62/69) Der Beobachter kann sich im Vollzug seiner Beobachtungen nicht selbst beobachten, mit der Konsequenz, „dass alle Beschreibungen [...] ein Paradox voraussetzen, dass sie selbst ausblenden miissen, da sie es nicht in die Beschreibung einfuhren konnen, ohne die Operation des Beschreibens dadurch zu blockieren." (Luhmann 2000, S. 43) Folglich wird nach Luhmann eine „Entparadoxierung" — nicht der Umgang damit, sondern die Auflosung des Paradoxes (!) ~ zur notwendigen Bedingung des Operierens, denn „[w]er beide Seiten zugleich verwenden will, verstoBt gegen den Sinn der Unterscheidung. Es geht nicht, es Hefe auf eine Paradoxic hinaus. D e n n man miisste dann in einem Zuge das Verschiedene als dasselbe bezeichnen." (Luhmann 1993b, S. 201) Die Frage ist nun, wie dieses „Ausblenden" geschieht? Luhmann beschreibt drei Moglichkeiten, das Paradox der Einheit des Differenten zu „entfalten": in der Sach-, Zeit- und Sozialdimension. •

In der Sachdimension gilt, dass die Blockade (die entstiinde, wenn man sich im Moment des Beobachtens selbst beobachten, also Unterscheiden und Bezeichnen wollen wiirde) dadurch aufgelost wird, dass sozusagen in „pragmatisch-bivalenter Absicht"^ dem Imperativ „Triff eine Unterscheidung!" Folge geleistet wird. „Ein Befehl kann ausgefuhrt werden oder nicht ausgefuhrt werden, dies ist seine Form, wenn man ihn ausfiihrt, kann

2

„Die Unterscheidung wird mit pragmatischer Intention getroffen, um die eine, aber nicht die andere Seite'L\Xbezeichnen." (Luhmann 1993b, S. 200, Herv. d.V.)

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man den Formenkalkul operativ volkiehen. Wenn nicht, dann nicht. Und wir iibertxeiben nicht, wenn wir hinzufugen: Wenn man den Befehl ausfuhrt, kann man beobachten. Und wenn nicht, dann nicht." (Luhmann 1993b, S. 201) •

Der Imperativ entfaltet die Wirkung der Entparadoxiening zudem in der Zeitdimension: „Strukturell gesehen existiert die Zwei-Seiten-Form im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit. Operativ gesehen ist sie nur im Nacheinander der Operationen aktuaHsierbar, weil die Operation von der einen Seite aus die Operation von der anderen Seite aus ausschUeBt. Die Form ist die Gleichzeitigkeit des Nacheinander." (Luhmann 1993b, S. 202) Diese EntparadoxierungsmogHchkeit lauft entiang der Differenz von Vorher und Nachher und konnte daher als operational-temporalisierte Bivalenz charakterisiert werden.

•

Die MogHchkeit der Entparadoxierung in der Sozialdimension bezieht sich auf eine Viekahl von Beobachterperspektiven, die jeweils eigene Leitdifferenzen zur Grundlage ihres Beobachtens machen. Mit der UmsteUung auf die Beobachterebene zweiter Ordnung wird dann darauf hin beobachtet, wie ein Beobachter beobachtet, d.h., welches Differenz-Schema er seinen Beobachtungen zu Grunde legt. Damit sieht ein Beobachter zweiter Ordnung, dass ein Beobachter erster Ordnung nicht sehen kann, was er nicht sehen kann und auch, dass er nicht sehen kann, dass er nicht sehen kann, was er nicht sieht, aber dass dies gerade die Bedingung seines Operierens ist.

Kurz: Der Beobachter ist der blinde Fleck seiner Beobachtungen"^ und dies selbst dann noch, wenn er sich selbst beobachtet. Dies lieBe sich wiederum unter dem Begriff einer de-ontologisierten Zweiwertigkeit zusammenfassen wir kommen darauf zuriick. Zusammenfassend kann man an dieser Stelle die — wenngleich oftmals unbemerkte"^ — bivalente Anschauung deutlicher machen.^ Zunachst gilt die

„Als Beobachter operiert das System blind, well es die Einheit der Unterscheidung, die ein Beobachten ermoglicht, weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Unterscheidung lonterbringen kann. Und weil alles, was geschieht, als Operation des Systems im System geschieht, ist weder die Einheit der Umwelt noch die Einheit der Autopoiesis des Systems fiir das System greifbar. Es gibt nur die im Beobachten benutzten, verkiirzenden Bezeichnungen." (Luhmann 1997, S. 99) „Auffallig ist, dass die Superioritat der Differenztheorie dabei oft nicht als rechtfertigungsbediirftig angesehen wird. Das moralische Klima, das vorschreibt, die Unterschiede von Kulturen, Menschen, Tieren und Dingen zu respektieren, scheint auch als Rechtfertigung fur eine wissenschaftliche Vorgehensweise zu geniigen. Das Differenzdenken wird als selbstverstandUcher MaBstab an andere Theorien herangetragen." (Martens 1995a, S. 229, vgl. Biihl 1969)

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Bivalenz fur Unterscheidungen: „Unterscheidungen implizieren, dass man nicht auf beiden Seiten zugleich sein, nicht an beiden Seiten zugleich anschlieBen kann." (Luhmann 1998, S. 80) Dies ist das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs. AuBerdem gilt das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: „A woman may be pregnant or not: she cannot be little pregnant. This is true of course, for ,system maintenance' as well." (Luhmann 1986b, S. 183) Die der Bivalenz widersprechende Paradoxic der Beobachtung der Einheit in der Unterscheidung muss Luhmann zufolge aufgelost werden, damit keine Systemblockaden entstehen (Luhmann 1994, S. 14). Es entsteht ein „Zwang zur EntParadoxierung", die — sich ebenfalls am Prinzip der Bivalenz orientierend — durch andere Beobachtungen ermoglicht wird. Dies ist der re-entry^ die Rekursion der Unterscheidung auf der Beobachtungsebene. Da die Differenzen beobachtender Beobachtungen die Paradoxic selbst wieder in sich tragen, wird die Paradoxic weder gelost, noch gibt es einen Umgang mit der Paradoxic, vielmehr wird die Paradoxic im System dauerhaft zeitversctzt und damit „invisibilisiert".^ Der Beobachter lost sich von einer Paradoxic, indem er u.a. der Anweisung „Triff cine Unterscheidung!" folgt, u m zugleich die Paradoxic der damit einhcrgchenden Unterscheidung cinzugehen, allerdings ist Zeit vergangen, die zur Ordnung der Welt genutzt werden kann (Luhmann 1993b, S. 201 ff). Ausgeschlossen ist das Bestehen-lassen der Paradoxic.

'bindr codierte Systeme Galten die bishcrigen Ausfiihrungen der Darstellung einer clcmcntarcn Theoriefigur des systemtheorctischen Denken Luhmanns, der „Beobachtertheorie" (Luhmann 1992), so geht es nunmehr um dessen soziologischen Zcntralgcgenstand: soziale Systeme. Wichtig ist dabei, was eingangs bereits impHzit gcsagt wurde: Soziale Systeme sind Beobachtersysteme, die sich durch die Bezugnahme von Beobachtungen auf Beobachtung qua Kommunikation ausdifferenzieren. Es geht somit u m die Frage, wie soziale Systeme ihre Autopoiesis voUziehen. Zunachst muss man in dieser Perspektive davon ausgehen, dass beobachtende Operationen notwendige Bedingungen auch fiir ausdifferenzierte soziale

Mit anderen Schwerpunkten wurde die Uberbetonung der Bivalen:^ bei Luhmann bereits an anderer Stelle kritisiert (siehe etwa Biihl 2000, Martens 1995a, 1995b, 2000, Schwinn 2001, S. 221, Grant 2004, vgl. Dieckmann 2004, S. 199ff). Man sollte von Invisibilisierungen der Paradoxie dennoch nicht auf ein Nicht-Vorhandensein der Paradoxie schlieBen (Luhmann 1993b, S. 173).

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Thomas Kron und Lars Winter

Systeme sindJ Im rekursiven Anschluss von Beobachtungen an Beobachtungen generiert das System „Eigenwerte", die es erlauben, die eigenen Operationen zu spezifizieren und sich in Distanz zur Umwelt zu identifizieren. Es sind die teilsystenispezifischen Codes, die den Systemen zur Selektion von kommunikativen Ereignissen dienen. „An Hand ihrer Codes vollziehen die Funktionssysteme ihre eigene Autopoiesis, und damit erst kommt ihre Ausdifferenzierung zustande." (Luhmann 1997, S. 752) Die Besonderheit der Codes ist ihre binare Codierung. So formuUert Luhmann z.B. fur das Wirtschaftssystem (1988, S. 184): „An die Stelle der Ausgangslage, die auf der Gleichsetzung von Mehr und Weniger (oder: von Uberfluss und Mangel) aufsitzt, wird die Unterscheidung von Haben und Nichthaben gesetzt. Aus ,A weil Nicht-A' wird damit ,A ist nicht Nicht-A'. Haben und Nicht-Haben werden in ein Verhaltnis wechselseitiger Exklusion gebracht". Und diese Transformation von graduellen Verhaltnissen in eine dichotome Unterscheidung geschieht nicht ohne Grund: „Wie man v o m Standpunkt einer Kybernetik zweiter Ordnung, also beim Beobachten von Beobachtungen sehen kann, hat jede binare Codierung die Funktion, das System, das unter diesem Code operiert, von Tautologien und Paradoxien zu erlosen. Die Hinheit, die in der Form einer Tautologie [...] oder in der Form einer Paradoxie [...] unertraglich ware, wird durch eine Differen^ ersetzt [...]. D a n n kann das System seine Operationen an dieser Differenz orientieren [...], ohne die Frage nach der Einheit des Codes ^ stellen'^ (Luhmann 1986a, S. 76f) Binare Codes eUminieren, wie gesagt, allerdings nicht die Paradoxie, weil auch die Einheit eines binar codierten Systems nur in Form einer Paradoxie (mittels einer Unterscheidung) beschrieben werden kann (Luhmann 1993a, S. 176).^ Aber Codes sind in praktischer Hinsicht leicht zu handhaben und somit leicht zu institutionalisieren.^ AUes, was von einem binaren Code erfasst wird, wird dem einen oder dem anderen Wert zugeordnet — tertium non datur. Damit konnen Codes insgesamt als „contrast sets" verstanden werden (Luhmann 1986a, S. 91), als scharfe Mengen^^, die den strengen bivalenten Kriterien geniigen, was vor allem auf die Bistabilitat der Codes zurlickgefiihrt werden kann (Luhmann 1993a, S. 177).^^ Dies ist die bivalente Basis

„Komplexe soziale Systeme kommen ohne beobachtende Operationen nicht aus, ihre Autopoiesis ist darauf angewiesen." (Luhmann 1990, S. 77) Die Limitation binarer Codes kann hochstens durch die Anwendung bestimmter Kriterien der Codes (Programme) unterlaufen werden, so dass der Code auf einen dritten Wert hin angewandt wird (Luhmann 1994, S. 15). „Der Ordnungs- und Separierungseffekt der Codierung beruht auf ihrer Zweiwertigkeit." (Luhmann 1993a, S. 178) Luhmann (1994, S. 14) spricht auch von „scharfer Reduktion". Luhmann (2002, S. 116) macht sich expliicit fiir die bivalente Anschauung sozialer Systeme stark, wenn er zum Autopoiesisbegriff bemerkt: „Ich finde es wichtig, dass man die Harte des Begriffs bewahrt, dass man also sagt: Ein System ist entweder autopoietisch oder nicht-

Zum bivalenten Denken bei Max Weber, Niklas Luhmann und Hartmut Esser

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det Theorie sozialer Systeme, ohne die soziale Systeme in Luhmanns (1993a, S. 180) Perspektive „nicht mehr sicher genug operieren" konnten. V^on der Effassungs- aufdie Gegenstandsebene I

Ein Argument fur eine strikte Aufteilung der Welt in Binaritaten findet sich bei Luhmann allerdings nicht — im Gegenteil ist jede Beschreibung der Gesellschaft immer nur eine Beobachterperspektive und selbstverstandlich konnte man es auch mit anderen Unterscheidungen versuchen.^^ Allenfalls konnen Vermutungen geauBert werden, dass die bivalente Operation des Beobachtens, die Gleichzeitigkeit von Unterscheiden und Be2eichnen, „unter der Hand" von Luhmann als empirisch vorhandenes Prinzip und damit als Faktum der Gegenstandsebene eingefuhrt wird. So liest man bei Luhmann, dass das Prinzip der Zweiwertigkeit zwar die Beobachterperspektive invisibilisiert, jedoch im Modus der Beobachtung erster Ordnung gar nicht anders verfahren kann. „Und dies ist weder ein Vorwurf noch eine AuBerung zur Sache selbst, um die es hier geht. Sondern behauptet wird nur: es ist anders gar nicht moglich. Denn Beobachten ist unterscheidendes Bezeichnen." (Luhmann 1997, S. 1113) D.h., der bei Luhmann vorausgesetzte Imperativ „Triff eine Unterscheidung!" determiniert auch auf der Gegenstandsebene alle Anschlussoperationen auf ein striktes Entweder-Oder hin. Zwar erkennt Luhmann durchaus eine Differenz zwischen Beobachtungen und bivalenter Logik: „Man muss [...] unterscheiden zwischen dem Gebrauch von Zwei-Seiten-Formen in allem Beobachten (also der schlichten Tatsache, dass man nur etwas bezeichnen kann, wenn man es unterscheiden kann) und der zweiwertigen Logik, die iiber einen positiven und negativen Wert verfugt und eine Bezeichnung als wahr oder falsch bezeichnet bezeichnen kann." (Luhmann 1997, S. 905) Dies andert jedoch nichts daran, dass das tertium non datur und der Ausschluss des (logischen) Widerspruchs im Vollzug des Beobachtens^/^//j-^A als Bedingung systemischer Operationen reaHsiert

autopoietisch, Es kann nicht ein bisschen autopoietisch sein. [...] Hier gilt ein Entwederoder." Luhmann (1997, S. 562f) verweist allerdings immerhin auf evolutionare — und damit faktische? — Vorgange: Die sprachliche Codierung des Ja und Nein verbreitet sich als evolutionare Errungenschaft innerhalb des GeseUschaftssystems, d.h. der Erfolg des Ja-Nein-Prinzips findet sich schlieBlich auch in den teilsystemischen Codes wieder. Zu fragen ware dann nur, wie es zur genannten Codierung von Sprache kommt. Anders: Wieso existiert in der Sprache fiir Luhmann kein „Jein" — also ein Zugleich von Ja und Nein, das durchaus anschlussfahig ist? Sprache selbst ist vage, wie bereits Hempel (1939, S. 170) konstatiert hat: „As it is rather generally admitted today, that the terms of our language in scientific as well as in ever)^day use, are not completely precise, but exhibit a more or less high degree of vagueness."

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Thomas Kron und Lars Winter

werden. Das Argument dafur wurde schon genannt: Man kann an Widerspniche nicht anschlieBen, denn das wiirde bedeuten, an zwei Seiten einer Unterscheidung zugleich anschlieBen 2u wollen. D e n n o c h versucht Luhmann sich von der zweiwertigen Logik abzugrenzen. In seiner Lesart der zweiwertigen Logik erscheint diese als Reflektionstheorie der klassischen ontologischen Different von Sein und Nicht-Sein: „Man unterscheidet im Sein Denken und Sein und kommt mit Llilfe dieser Unterscheidung 2u den Pramissen der klassischen Logik: zum Satz von der Identitat, zum Widerspruchsverbot und zu der Einsicht, dass die zweiwertige Logik alles Dritte ausschlieCt." (Luhmann 1997, S. 905) Luhmann sieht aber gerade im Beobachter das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte, das theoretisch reflektiert werden muss, wahrend in der ontologischen Beobachterform „[a]lle Grenzen, alle Zasuren, alle ,Zwischens' [..] in den Bereich des ,Nichts', oder genauer: in den Bereich des ontologisch (durch die Beobachtungsform des ,Seins') ausgeschlossenen Dritten" fallen. In der Sozialdimension zeigt sich fur Luhmann die Notwendigkeit der Reflextion des tertium non datur (= Beobachter) gerade darin, dass die polykontextural verfasste GeseUschaft eine Vielzahl an Beobachtern zulasst, die einen identischen Gegenstand verschieden beobachten konnen. Die Zweiwertigkeit wird mehrfach gespiegelt, d.h. die Objekte stellen sich verschiedenen Beobachtern auch verschieden dar. Man kann und muss daher „[a]uf eine [den Beobachtungen, d.V.] dahinter-Hegende, unbeobachtete Realitat, die so ist, wie sie ist [...] verzichten." (Luhmann 1997, S. 767) Eine solche Griindung auf einer „Letzt-ReaUtat" versucht in Luhmanns Perspektive allerdings die ontologische Beobachterperspektive mit Hilfe der zweiwertigen Logik und ihren Aussagesatzen. Fiir ihn hingegen gilt in „konstrukivistischer Absicht"^^, dass das Wesen eines Objekts den Beobachtungen unzuganglich bleibt und Beobachter (= Systeme) somit darauf hin hinterfragt werden miissen, welche Motive den Unterscheidungen zu Grunde Hegen und wie Systeme Identitaten konstruieren. Die Antwort darauf lautet bei Luhmann: Systeme operieren autopoietisch, d.h. sie generieren Identitaten indem sie im Vollzug der eigenen Operationen die Elemente generieren, die sie fur die Fortsetzung der Autopoiesis benotigen. Dies kann jedoch nur unter der genannten Bedingung geschehen, dass binare Codes evolutionar entstehen, die, wie gesagt, die Selektion von Anschlussoperationen erst ermogUchen, indem sie die Einheit des Differenten entparadoxieren. Zusammenfassend lasst sich also sagen, dass Luhmann nicht die Zweiwertigkeit alien Unterscheidens per se kritisiert, sondern „lediglich" den fehlenden Bezug einer zweiwertigen Logik auf das ausgeschlossene Dritte der

1-"^ Zur konstruktivistischen Theorieperspektive der Luhmann'schen Systemtheorie siehe vor allem Luhmann 1993c und 2001.

Zum bivalenten Denken bei Max Weber, Niklas Luhmann und Hartmut Esser

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Unterscheidung — die Einheit der Different, den Beobachtei:, der diese Unterscheidung volkieht. Letzteres ist nun mit der Luhmann'schen Systemtheorie reflektierbar. In dieser der Gegenwartsgesellschaft nach Luhmann angemessenen systemtheoretischen Beschreibung (als funktional differenzierte Gesellschaft), in der die Interpretation vorgenommen wird, dass die Einheit der Systeme eine Differenz ist, liegt die unterschweUige Ubertragung von der Erfassungs- auf die Gegenstandebene nahe, zumal es sich, wie gesagt, um evolutionare Prozesse handeln soil. Mit anderen Worten, es bleibt die Vermutung bestehen, dass die funktional differenzierte Gesellschaft in der Perspektive Luhmanns tatsachlich das tut, was nun (system)theoretisch beschreibbar (beobachtbar) geworden ist, namHch bivalent operiert. Somit kann Luhmann das Weber'sche Problem der angemessenen soziologischen Welterfassung nicht in eine andere Richtung losen als in die Radikalisierung der Weber'schen Typologisierung mittels einer die Unterscheidung von System/Umwelt begriindenden Beobachtertheorie. Die Frage ist nun, ob Hartmut Esser eine andere Losung finden konnte.

4 H a t t m u t Esset: V o n eindeutigen Rahmen und Selektionen Gehen wir nun auf das Integrationsvorhaben Essers am Beispiel der Handlungstheorie, dem so genannten „Frame-Selektion-Modell" (1999, 2000a, 2001, S. 259ff, 2002, 2003a, 2003b, 2004) ein. Zunachst ist offensichtlich, dass Esser zumindest die methodologischen Grundlagen seiner Handlungstheorie eng an die Vorgaben von Weber anlehnt, insofern er sich auf die „klassische" Definition der Soziologie als Wissenschaft bezieht, nach der die Soziologie „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursachlich erklaren will." (Weber 1980, S. 1, vgl. Esser 1999, S. 13). Im Rahmen des Erklarungsdreischritts — Darlegung der Situations-, Selektions-, und Aggregationslogik — nimmt das Frame-Selektions-Modell eine wichtige Stellung ein, da Esser damit nicht nur beansprucht. Situations- und Selektionslogik modelHert zu haben, sondern dass diese Modellierung dem Anspruch einer „General Theory of Action" geniigt: „Es scheint so, als ob sich die verschiedenen Gesichtspunkte und ,Typen' der diversen Theorien des Handelns und Verhaltens iiber das Framing-Konzept in eine Logik der Selektion integrieren lassen. [...] Damit scheint ein altes Problem der soziologischen Handlungstheorie endlich gelost: Man kann bestimmte Typen des Handelns unterscheiden — und hat dennoch eine einheitliche und damit allgemeine Theorie des Handelns. [...] Eine Handlungstheorie fiir alle Paradigmen und Handlungstypen. [...] Kurz: Das Framing-Konzept ist bereits eine ,general theory of action'! Es ist nicht bloB ein Schritt ,towards' einer solchen." (Esser 2001, S. 329, vgl. Kron 2004a)

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Wir verzichten an dieser Stelle - ebenso wie schon bei Luhmanns Systemtheorie — auf eine ausfiihrliche Darstellung des theoretischen Modells und setzen dies als hinreichend bekannt voraus. Statt dessen mochten wir ausfuhren, dass sich das Erbe der Bivalenz deutlich an drei Stellen der Esser'schen Handlungstheorie zeigt: Erstens bei der Modellierung dichotomer Frames, zweitens in der binaren Codierung von Alternativen und drittens bei der wahrscheinlichkeitstheoretischen Modellierung von Erwartxingen.

Dichotome Frames Zunachst wird ersichdich, dass Esser keine symhiotischen Frames in seinem Modell modelliert, d.h., er geht davon aus, dass sich Akteure imtner an einem Handlungsprinzip orientieren. Dies wird bereits in dem MODE-Modell der Einstellung von Russell H. Fazio deutlich, das fur Esser „ein wichtiger und groBer Schritt [ist] hin zu einer fieneral Theory ofAction\ die alle Aspekte des menschUchen Handelns umfasst: die Vernunft und die Werte, die Gefuhle und Leidenschaften, sowie die Neigung, alles laufen zu lassen, wenn nichts dagegen spricht." (Esser 2001, S. 257) D e n n in diesem Modell sind eindeutig „automatische Aktivierung" sowie „rationales Handeln"^"^ — man konnte vielleicht auch sagen: homo sociologicus und h o m o oeconomicus — voneinander getrennt.

Eigentlich miisste es ^rationale ¥[2indlungsonentierun£' heiBen, da mit dem Frame-SelektionProzess das ouverte Handeln noch nicht gegeben ist (vgl. Kron 2004a, S. 193ff).

Zum bivalenten Denken bei Max Weber, Niklas Luhmann und Hartmut Esser

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Match Mentales Mo dell / Situation

nicht perfekt

perfekt

Motivation Opportunitaten Kosten

automatisch/spontan

r

1 1

emotional

1

kognitiv

1

1 gunstig

ungiinstig

1 Rationales Handeln

„Anspruch"

Affe
Traditic nales Hand eln

„Interpretation'

Wertrationalitat

„Erwartung"

Zweckrationalitat

Quelle: nach Esser 2003a: 184

Dieses tertium non datur, der Ausschluss symbiotischer Frames, wird von Esser auch dann nicht aufgehoben, wenn es u m die Modellierung eines Frames geht, der eigentlich ein „symbiotischer Frame" ist: Wert-Rationalitat. „Es handelt sich bei der Wertrationalitat also offenbar u m eine Art von Kombination des rationalen und des normativen bzw. traditionalen Handekis" (Esser 2001, S. 313). Essers Losung dieses Modellierungsproblem ist, dass er Wert-Rationalitat als einen neuen Frame mit einer Einfachorientierung modelliert. Die Modellierung von Wert-Rationalitat im Frame-Selektion-Modell erzwingt nicht nur den schwierigen Umbau des Grundmodells (Esser 2004), sondern WertRationalitat selbst wird als ein einziges Handlungsprinzip verstanden. D.h., die verschiedenartigen Orientierungen der Handlungen an Werten (homo sociologicus) und an Rationalitat (homo oeconomicus) werden zu einem Handlungsprinzip zusammengefasst. Ausgeschlossen wird demnach eine Modellierung eines Frames mit einer Mehrfachorientierung. Damit werden zuvor analytisch getrennte Handlungsorientierungen eben nicht kombiniert, so wie sich dies z.B. in den von Schimank (2000a, S. 19ff) bevorzugten Akteurmodellen darstellt. Dieser geht davon aus, dass sich Aktture parallel 2in N o r m e n orientieren, rationale Zweck-Mittel-Uberlegungen anstellen, sich von Emotionen leiten lassen

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Thomas Kron und Lars Winter

sowie eine bestitnmte Identitat behaupten (konnen).^^ Es wird nicht kombiniert, sondetn ein neuer Frame geschaffen. Im Fall der Wert-Rationalitat bedeutet dies die Implementierung von Werten auf unterschiedlichen Ebenen der Modellierung, so dass der Kunstgriff gelingt. Wahrend sich die Geltung von Werten im automatischen Modus schon friih, namlich beim Abgleich der Passung des Modells zeigt, geschieht dies im rationalen Modus viel spater, namlich dann, wenn sich das Modell als nicht passend herausgestellt hat und Motivation, Opportunitaten sowie Kosten fur rationales Handeln giinstig sind und der Akteur auf Anspruch und nicht auf Erwartung eingestellt ist. Es kann somit kaum von einer Gleichrangigkeit der rationalen Orientierung und der Orientierung an Werten die Rede sein, da Esser etwas anderes meint, wenn er von Orientierung an Werten spricht, je nachdem, in welchem Modus man sich gerade befindet. Auch gilt hier insgesamt, dass entweder das eine Handlungsprinzip gelten muss, oder das andere; eine dritte Moglichkeit wird im FrameSelektion-Modell nicht modelliert.

Bimre Codierung Diese bivalente Grundlage des Frame-Selektion-Modells, das der ganzen Modellierung den Charakter eines Umschaltens von einer zur anderen Seite verleiht: z.B. entweder Reflexhaftigkeit oder Reflexion, ist der bindren Codierung der Altemativen der Frames bzw. Skripte sowohl auf der Modell- als auch bei den Heuristiken auf der Modus-Ebene sowie der Wert-Erwartungstheorie als Selektionsmechanismus geschuldet, die im Ergebnis nur eindeutige Gewichtungen zulasst: entweder £ [ / / oder EL/;. Das ganze Modell ist aufgebaut wie ein Flipper.^^ Zwar herrscht kein deterministisches Chaos, aber welches gedankliche Modell gewahlt, welcher Modus geschaltet und welches Skript dann auch immer selegiert wird: es gibt per definitionem ausschlieBlich die eine oder die andere Seite des P fades zur ouverten Handlung, so wie die Flipper-Kugel vor einem Hindernis entweder nach links oder nach rechts rollen kann. Z u m Einen muss einer dieser Pfade durchlaufen werden. Z u m Anderen wird a priori ausgeschlossen, dass ein Modell, ein Modus oder ein Skript ein sowohl-alsauch beinhaltet und z.B. mit seinem Gegenteil (ein Stuck weit) identisch ist. In Essers beispielhaften Veranschaulichungen gibt es z.B. kein Modell, das auch sein Gegenteil involviert. In seiner ModelUerung des Weges in die Ehescheidung etwa ist das Modell — iiberspitzt formuliert — entweder Liebe oder nicht-

^5 Wenn Esser dies modellieren wollte, miisste er wiederum ein Handlungsprinzip definieren, das diese parallele Anwendung verschiedenartiger Orientierungen definiert. 1^ Zur Flipper-Analogie siehe auch Schimank (1999).

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Liebe. Eine „Hass-Liebe"^^ als Modell kann es nicht geben, es sei denn, sie wiirde wiederum von etwas Anderem unterschieden, das als Modell das Gegenteil einer Hass-Liebe ausdriickt.^^ Auf keinen Fall kann die Dichotomisierung aufgehoben werden, so wie die Flipper-Kugel nicht durch die Mitte eines Pins (also links und rechts zugleich) rollen kann. Und wenn Etwas, wie die Hass-Liebe, an sich der Bivalent widerspricht, dann muss man mit Essers ModeU so fragen, dass die Dichotomisierung doch 2ustande kommt. Statt 2u fragen „Wie gtoB ist Rainer?", wobei die Gefahr in einer Antwort besteht, bei der Rainer sowohl groB als auch klein ist, fragt man dann eben „Ist Rainer groB?" und lasst nur zwei Antworten (, J a " und „Nein'') zu.

Ljogik der Wahrscheinlichkeit Ebenso wird in der Vetwendung von Wahrscheinlkhkeiten zur Modellierung von Erwartungen im Rahmen der Wert-Erwartungstheorie, die Esser sowohl zur Modellierung der Situations- als auch der Selektionslogik einsetzt, die bivalente Grundlage offenkundig. Zur Berechnung der Erwartungen ist die Kontrolle des Akteurs liber die Mittel zur Zielerreichung sowie die Moglichkeit, diese Mittel effektiv einzusetzen, zu ermitteln, d.h., das Produkt aus Kontrolle c und Effizienz e bestimmt die erwartete Wahrscheinlichkeit p des Eintretens der Folgen des Handelns {p^ c"" e) (Esser 1999, S. 256). Man kann diese Bedeutung von Erwartungen am besten beispielhaft verdeutlichen. N e h m e n wir an, ein Akteur erwartet zu 80 Frozent, dass eine bestimmte Handlungsalternative (das Veroffentlichen eines Aufsatzes) zu einer bestimmten Handlungsfolge fuhrt (Steigerung der Reputation). Was bedeuten diese 80 Prozent? Sie bedeuten zunachst, dass der Akteur annimmt oder gelernt hat, dass von 100 veroffentHchten Aufsatzen 80 Aufsatze zu einer Steigerung seiner Reputation fuhren bzw. gefiihrt haben und dass 20 Aufsatze nicht zu einer Steigerung der Reputation fuhren bzw. gefuhrt haben. Das ist die wahrscheinlichkeitstheoretische Bedeutung der Erwartung von 80 Prozent in der Wert-Erwartungstheorie. U m die Bivalenz deutlich werden zu lassen, nehmen wir nun aber den Fall an, die Erwartung betrage nicht 80, sondern 50 Prozent. Dies ist in der wahrscheinlichkeitstheoretischen Deutung der unsi-

Oder auch ein „Halbglaube", wie ihn Rainer Paris (2005a, S. 110) beschreibt: „Unter ,Halbglaube' verstehe ich einen besonderen Typ von Bewusstsein, der sich dadurch auszeichnet, dass er Glauben und Nichtglauben in charakteristischer Weise verschrankt, dass der Halbglaubige, das was er glaubt, gleichzeitig glaubt und nicht glaubt. Halbglaube ist halbierter Glaube, Glauben und Nichtglauben in einem." Hier schlieBt Esser implizit an die strikte Zweiwertigkeit des Beobachtens an, wie sie Luhmann formuHert.

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cherste Fall, denn nun weiB der Akteur, dass entweder die Reputation bei VeroffentHchung eines Aufsatzes gesteigert wird oder nicht — aber dies weif^ er sicker. Das Entweder-oder gilt, ein sowohl-als-auch bleibt nach wie vor ausgeschlossen. Mit anderen Worten, modelliert werden in dieser Perspektive Erwartungen, in denen eine Handlung eine Handlungsfolge zeitigt oder nicht zeitigt (selbst wenn die Verteilung beide Moglichkeiten gleich gewichtet ist). Nach der von Esser angewandten Logik der Wahrscheinlichkeit fragt der Akteur immer, ob eine Handlung eine bestimmte Handlungsfolge mit sich bringt; er fragt nicht, ^ welchem Grad eine Handlungsfolge die Konsequenz einer Handlung ist. Ausgeschlossen wird damit eine Erwartung iiber eine Handlung, die eine Handlungsfolge sowohl zu einem gewissen Grad zeitigt und zugleich (zu einem bestimmten Grad) nicht zeitigt. N e h m e n wir ein anderes Beispiel an: Ein Mann muss entscheiden, ob seine Lebensgefahrtin nach einem Unfall an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden soil, da diese Organe, im Gegensatz zum Gehirn, als Folge des Unfalls nicht mehr funktionieren. In der Esser'schen Anschauung kann es nur um Leben oder Tod gehen. Damit befindet sich Esser ganz auf der Linie von Luhmann, der bemerkt: „Hier gilt ein Entweder-oder. Fiir das Leben ist das klar, man lebt entweder oder man ist tot. Es gibt nur Sekunden, in denen Arzte zweifeln konnen, ob man nun noch lebt oder schon tot ist." (Luhmann 2002, S. 116) Nicht moglich ist somit die Erwartung, dass ein derartiger vegetativer Zustand zu einem gewissen Grad zwar Leben, aber zu einem bestimmten Grad auch bereits schon T o d bedeutet. „Even when dealing with emotionally charged issue of human Hfe and death it is not clear that the Law of the Excluded Middle always applies. Consider the case of a person in a 'persistent vegetative state', i.e., one who exhibits no brain activity and whose heart and lung functions are controlled by external devices. T o assign to this person the same degree of membership in the set of all living persons as that accorded to the physician attending the patient would seem to be a gross mis categorization" (Entemann 2002, S. 73). Ein weiteres Indiz dafiir, dass Esser derartige Bivalenzen ausschlieBen mochte, ist, dass er Ambiguitdten im Entscheidungshandeln der Akteure in der Modellierung des Frame-Selektion-Modells unberiicksichtigt lasst.^^ Auch wahrscheinlichkeitstheoretisch konnte man modellieren, dass sich der Akteur doch nicht so sicher liber seine Erwartungen ist, indem man z.B. eine Standardabweichung fiir diesen Wert mitmodelliert, so wie Esser (1999a, S. 290ff) dies vorgeschlagen hat (ohne dies allerdings, wie gesagt, in seiner weiteren Modellierung zu beriicksichtigen). Man konnte z.B. annehmen, dass unser

^^

Genauer muss man sagen, Esser formuliert sinnsemantisch die Moglichkeit der Beriicksichtigung von Ambiguitaten in der Wert-Erwartungstheorie, modelliert dies aber de facto nicht in seinem Frame-Selektion-Modell (Kron 2004a, S. 190ff, vgl. Schmid 2004, S. 118f, 178ff).

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Akteur nur davon gehort hat, dass man 80 Prozent bezuglich einer positiven Reputation als Folge einer Veroffentlichung erwarten konne, aber aus einer nicht ganz zuverlassigen Quelle. Selbst fur den Fall, dass die Unsicherheit in einer Situation fur den Akteur maximal ist, d.h., wenn fiir diese Situation eine Standardabweichung von 1 vorherrschen wiirde, konnte man dies nicht so deuten, dass fur den Akteur die Erwartung und dessen Gegenteil zugleich Giiltigkeit batten. Denn analytisch ist der Akteur nicht ambiguent im Sinne der Giiltigkeit des Gegenteiligen, sondern er ist nach der Wahrscheinlichkeitslogik nur ungewiss iiber eine sichere Erwartung, die eventuell sogar beide moglichen Ereignisse gleich gewichtet. Der Akteur weiB dann eben nicht genau, ob die Handlungsfolge zutrifft oder nicht, aber diese Unsicherheit verletzt nicht die Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs oder des ausgeschlossenen Dritten, denn noch immer ist prinf^piell€m
Von der Etfassungs- aufdie Gegenstandsebene II

Essers Modellierung setzt also an entscheidenden Stellen seiner Handlungstheorie auf Bivalenz. Die Begriindung dafiir liefert er (2001, S. 264f) gliicklicherweise selbst. Dort heiBt es: „Es wird also davon ausgegangen, dass immer nur Paare von einander ausschlieBenden Alternativen zur Wahl stehen [...]. Diese Annahme hat einen einfachen Grund: Ihre Funktion als Vereinfachung konnen die gedanklichen Modelle nur dann haben, wenn sie wirklich deutlich vereinfachen und wenn sie mit ganz bestimmten ,typischen' Objekten verbunden sind — und mit anderen eben nicht. Die Aktivierung eines binar codierten Paares von Alternativen fur die Beurteilung einer Situation und die Selektion aus nur zwei Alternativen ist die denkbar simpelste." Esser unterstellt also, dass die einfachste Vereinfachung der Situationsdefinition durch einen Dichotomisierungsprozess gewonnen wird. Dazu konnte man zumindest anmerken.

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dass diese Begriindung fiir Bivalenz nicht zwingend ist. Schon in der alltaglichen Lebensfuhning wird die Frage, was denn nun schon wieder los ist, gerade nicht immer dadurch erleichtert, dass man 2u einer Entscheidung im Sinne eines Entweder-oder gezwungen wird (vgl. zur Entscheidungsproblematik Schimank 2004). Die Ambiguitat und Ambivalenz von Situationsdefinitionen legt vielmehr oftmals eine ambiguente und ambivalente Haltung nahe. D o c h Esser lasst diese Basis-Annahme ja nicht ohne weitere argumentative Unterstiitzung so stehen, sondern zieht als weiteren Gewahrsmann Niklas Luhmann und dessen binaren Schematismus der Kommunikation sowie Talcott Parsons' „pattern variables" heran. Dariiber hinaus verweist er (2001, S. 265) auf „verlasslichere Belege fur die Triftigkeit dieser Annahme als Parsons, Luhmann und die iibrige Systemtheorie." Gemeint sind damit „eine Reihe von gut belegten, kulturanthropologisch, ja fast schon: biologisch-evolutionaren Hinweisen", die er mit einem Zitat von Edward O. Wilson an gleicher Stelle beispielhaft andeutet: „Rei£ikationPO] ist der schnelle und einfache mentale Algorithmus, u m Ordnung ia einer Welt zu schaffen, die ansonsten unbegreiflich und liberwaltigend detailreich ware. Eine Ausdrucksform davon ist der sogenannte dyadische Instinkt, also die Tendenz, Zweierbiindnisse einzugehen oder duale Klassifizierungen vorzunehmen, u m wichtigen sozialen Ordnungsstrukturen zu begegnen." (Wilson 1998, S. 206) In diesem Zitat von Wilson wird aber ledigHch ausgedriickt, dass die bivalente Einteilung der Welt eine Ausdrucksform eines mentalen Algorithmus fiir die Reduktion der Komplexitat in der Situations definition ist. Wer wiirde dies auch bestreiten? SelbstverstandHch gibt es die bivalente Situationsdefinition. Damit ist aber nicht — auch nicht bei Wilson — zugleich gesagt, dass es nicht auch weitere Ausdrucksformen gibt. Mit anderen Worten: man sollte mogHcherweise auf der Erfassungsebene das bivalente Definieren von Situationen in der handlungstheoretischen ModeUierung beriicksichtigen, ohne zugleich auszuschlieBen, dass dies nur ein Aspekt bzw. nur eine MogHchkeit ist, wie der soziologische Gegenstandsbereich — der Akteur — tatsachUch operiert.

5 Schluss Insgesamt sollte klar geworden sein, dass die bivalente Perspektive im Bereich der soziologischen Theorie — hier an Weber, Esser und Luhmann exemplifi-

20 Reifikation bezeichnet hier Verdinglichung oder Vermenschlichung. „Dabei geht es um die Komprimierung von Vorstellungen und komplexen Phanomenen zu einfacheren Begriffen, die dann mit vertrauten Objekten und Handlungsweisen verglichen werden konnen." (WUson 1998, S. 205)

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ziert — einen festen Platz eingenommen hat. Mit Blick auf das Integrationsvorhaben Essers zeigt sich also deutlich, dass er in der Beriicksichtigung von Vagheiten weder iiber Weber noch iiber Luhmann hinaus geht, sondern viekneht beiden Autoren in diesem Aspekt verhaftet bleibt. D e r Weber'schen Vorgabe bspw. auf der Erfassungsebene Eindeutigkeiten auch fur den Preis des Informationsverlustes 2u bevorzugen, folgt Esser wie gezeigt. Dariiber hinaus fallt Esser insofern hinter Weber zuriick, als er im Gegensatz zu diesem soziobiologistisch dafiir argumentiert, auf der Gegenstandsebene ebenfalls von Bivalenzen auszugehen. Dafiir scheint Esser in seiner evolutionsbiologisch inspirierten Argumentation naher an Luhmanns Argumentation einer evolutionaren Entwicklung des Zweiwertigkeitprinzips fiir das Soziale zu sein als ihm wohlmoglich selbst bewusst ist Hier wird dann eben die Welt der Theorie angepasst. Eine wahre Reduktionsleistung^^ hatte Esser geschafft, wenn er mogliche Bivalenzen als Option in seine Theorie integriert hatte, ohne Vagheiten auszuschlieBen. Damit wird jedoch nicht behauptet, dass die Theorien von Esser oder Luhmann (oder anderer bivalenter Ansatze) falsch seien, weil sie die bivalente Perspektive zum Ausgang nehmen.^^ Vielmehr soil dafiir sensibilisiert werden, dass der Gedanke des strikten Entweder-oder einer bestimmten „BeobachterPerspektive" geschuldet bleibt - und dass es Alternativen gibt! Die bivalente Anschauung kann nicht zwangslaufig Richtigkeit beanspruchen, auch wenn sie — wie bei Esser und Luhmann - als Letztprinzip eingefiihrt wird. Problematisch ist zudem in diesen Fallen, dass das Prinzip der Bivalenz sowohl auf der Erfassungs- als auch Gegenstandsebene angewandt wird. Gerade mit Weber hatte man jedoch lernen konnen, dass diese Ebenen getrennt zu beobachten sind. Zwar sieht auch Weber auf der Erfassungsebene keine Alternative zu einem Entweder-oder, aber der Grund dafiir liegt nicht in der Eindeutigkeit der Gegenstandsebene, sondern vielmehr in den fehlenden Analysetechniken im Umgang mit unscharfen Objekten. Esser und Luhmann gehen einen Schritt weiter und libertragen — wenigstens tendenziell — ihre analytische Methodologie auf die Gegenstandsebene und sehen dort in den eindeutigen Operations-

Reduktion bedeutet nicht, dass irgendetwas „schrumpft", sondern unter Reduktion wird in der Logik die Erklarung einer spet^ellen Theorie durch eine allgemeinere Theorie verstanden (Esser

2000b, S. 10). Allerdings sollte man — ganz im Sinne Luhmanns - nach den Motiven der Anwendung der Unterscheidung „Entweder/Oder" fragen, zumal hinter Dualismen auch nicht immer erwiinschte Radikalisierungen stecken konnen. Soziale Bewegungen etwa nutzen die Radikalisierung durch Dichotomisierung, um die Dynamik der Bewegung in Gang zu halten, wie Rainer Paris (2005b, S. 147) anschaulich am Beispiel der Frauenbewegung exemplifiziert: „Es ist der Primat des Handelns, der den Akteuren auferlegt, kognitive Differenzen zu verleugnen, in simplen Freund/Feind-Schemata zu argumentieren und Abweichung im Inneren nach der Logik von Haresie und Sauberung zu behandeln."

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weisen der unterstellten binar codierten Systeme bzw. scharf-selektierenden Akteure ein So-und-Nicht-Anders. Empirisch ist die Unterstellung der Aufteilung der Welt in Schwarz und WeiB zumindest kritisch zu bewerten und kann als Versuch gesehen werden, die Welt dem wissenschaftlichen Ideal aristoteUscher Grundsatze anzupassen. Dies beschreibt Bart Kosko (1995, S. 19, vgl. Kosko 2001) als „Problem der Feblpassung: Die Welt ist grau, aher die Wissenschaft ist scbwar^ und weij^. Wir reden iiber Nullen und Einsen, aber die Wahrheit liegt dazwischen. Eine ungenaue Welt, eine prazise Beschreibung. Die Aussagen der formalen Logik und Computerprogramme sind alle entweder falsch oder richtig, 1 oder 0. Aber zutreffende Aussagen iiber die Welt sind anders." Zumindest fur die Gegenwartsgesellschaft wird mitunter behauptet, dass die Soziologie dem Umstand Rechnung tragen miisse, dass die moderne Gesellschaft eine andere methodologische Grundlage benotigt als das Prinzip der Bivalenz: „Wir leben in einer anderen Welt als in der, in der wir denken. Wir leben in der Welt des und, denken in Kategorien des entweder-oder!''' (Beck 1993, S, 651) Diese Forderung ist so neu nicht. Schon Bunge hat sich friih fur die wissenschaftliche Verwendung von Zugehorigkeitsgraden ausgesprochen: „Es scheint anerkannt zu sein, dass Argentinien ein abhangiges Land ist und ebenso, dass Kanada unabhangig ist. Die Begriffe, die in diesem Fall eine Rolle spielen, sind dichotomisch, d.h. vom Typ schwarz-weiB. TatsachHch gibt es Grade von Abhangigkeiten. Z.B. ist Argentinien zwar in mancher Hinsicht abhangig, aber nicht in jeder, und es ist weniger abhangig als Paraguay. Es ist also offensichtlich, dass wir einen differenzierteren Begriff brauchen: man muss von Abhangigkeit in bestimmter Hinsicht und in bestimmten Graden sprechen. Eine Analyse der Situation in Termini dieser Begriffe bote einer exakteren Beschreibung Raum und wiirde vielleicht den Weg offnen fur Theorien im engeren Siane" (Bunge 1983, S. 127). Richard Miinch (1982, 1984, 1987, 1991, 1994, 1995, 1996, vgl. Kron 2000, 2004b, Wagner 1996) versucht dieser Forderung systemtheoretisch z.B. mit dem Theorem der Interpenetration zu entsprechen, das er als Alternative zu Luhmanns Perspektive autopoietischer Systeme anempfiehlt, da aus Miinchs (1996, S. 34ff) Sicht die „Vermengung von analytischer und empirischer Differenzierung" bei Luhmann dazu fiihrt, dass sich auf diese Weise die Theorie einer empirischen Falsifikation entzieht, auch wenn es den Anschein hat, als gewanne die Luhmann'sche Systemtheorie eine groBere inharente K o harenz und damit Glaubwiirdigkeit. Riickendeckung erhalt Miinch dabei von Ulrich Beck (1993, S. 175): „Ist es nicht etwas langweilig (gut, das ist keine wissenschaftliche Kategorie), sagen wir also: etwas unterkomplex, immer nur den Zerfall der alten Welt in ,binare Codes' nachzuzeichnen? Ware es nicht an der Zeit, dieses groBe soziologische Simplifikations-Tabu zu brechen und beispielsweise nach Code-Sjnthesen zu fragen [...]?" Einer der Autoren dieses Beitrags (Kron 2005a, 2005b) versucht mit ahnlichem Anliegen mittels Fu^^-

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luogik einen integralen akteurtheoretischen Bezugsrahmen 2u konstruieren. U n d Charles C. Ragin (2000) argumentiert schlieBlich in die gleiche Richtung mit Blick auf die empirische Sozialforschung. Auch wenn die soziologische Beriicksichtigung v o n „Vagheiten", Ambiguitaten, „Fu22iness" etc. methodisch schwierig bzw. ungewohnt ist^^: es ist Zeit, Webers Problem in eine andere Richtung aufzulosen, als er selbst in der Lage gewesen ist — statt der Simplifikation der Erfassungsebene durch das Prinzip der Bivalenz die Ubertragung der Gegenstandsebene auf die Erfassungsebene mittels Pol3rvalen2en beriicksichtigende Techniken, Logiken und Theorien.

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Selbst aus der Perspektive einer „relationalen Soziologie" ist immer noch ein Hauptproblem „the problem of boundary specification, of moving from flows of transactions to clearly demarcated units of study, from continuit)^ to discontinuity, is perhaps the most frequentiy encountered of all challenges to relation analysis. [...] No definitive solution has been found to such difficulties." (Emirbayer 1997, S. 303)

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Das Essersche „Modell der soziologischen Erklarung" als zentrales Integrationskonzept im Spiegel det Esser-Luhmann-Webet-Vetgleiche - was resultiett fur die weitere Theotiediskussion? Ramer Greshoff

1 Votbemetkung: kein abschlieBendet Beittag (1) Ein Buchbeitrag am Ende eines Buches, der — wenn auch nicht nur — die anderen Beitrage dieses Buches zum Gegenstand hat, steht inuner eia wenig in der Gefahr, so verfasst oder interpretiert 2u werden, als solle durch ihn die dort entfaltete Diskussion zu einem definitiven Abschluss gebracht werden, kommen doch die Autorin und Autoren dieser Beitrage danach im Buch nicht mehr 2u Wort. Kurz, ein solcher Beitrag mag den schlechten Geschmack hinterlassen, dass sich hier jemand das letzte Wort nimmt. Dass die nachstehenden Ausfiihrungen so gedeutet werden konnen, lasst sich nicht ausschlieBen. Intendiert ist ein solches letztes Wort jedoch nicht. Das gilt auch dafur, dass ich in den Buchbeitragen eingenommene Positionen kritisch beurteile, wenn mir dies von der Sache her und zur Stimulierung einer konstruktiven Auseinandersetzung damit geboten schien. Was „von der Sache her" heiBt oder heiBen kann, ist natiirlich ebenso strittig und diskussionsbediirftig wie das, was „geboten" heiBt. Von daher ware es zu begriiBen, wenn die am Buch Beteiligten zusammen kommen konnten, um solcherart Punkte, vor allem aber das Buchprojekt und die sich daraus ergebenden Perspektiven fur die weitere Theoriediskussion, gemeinschaftlich zu erortern (dazu gleich mehr). (2) Primares Ziel meiner Ausfiihrungen ist es, einen konzeptuellen Rahmen zu skizzieren, in dem die in den Beitragen vertretenen Positionen systematisierend einzuordnen sind, um dariiber die weitere Theoriediskussion zur Vergleichs- und Integrationsproblematik voran treiben zu konnen, Nach einer Rekapitulation der Anlage von Essers Soziologie (2) geht es unter der gerade dargelegten Zielsetzung vor allem darum, die Grundlogik seines zentralen Konzeptes, des „Modells der soziologischen Erklarung" (MSE), zu entfalten (3), Zur Illustration dieser Grundlogik und um dazu erste Vergleichsbeziige herzustellen, werden ihr anschlieBend in knappen Aufrissen Grundlagenkonzepte von Weber und Luhmann zugeordnet (4). Um diese Zuordnung in ihren

Mein herzlicher Dank gilt Uwe Schimank fiir seine produktive Kritik.

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Konsequenzen besser nachvolkiehen zu konnen, ist dann die Grundlogik des MSE in einigen Punkten zu konkretisieren (5). Darauf aufbauend werden dann mit Blick auf die weitere Theoriediskussion verschiedene Punkte der Auseinandersetzungen mit Essers Integrationsansatz erortert (6). Beendet wird die Arbeit mit einer kurzen Schlussbetrachtung (7). „Weitere Theoriediskussion" ist das Stichwort, u m meine nachstehenden Ausfdhrungen nochmals „normalisierend" einzuordnen. Der Rahmen, den ich darlege und dem ich Positionen der Buchbeitrage zuordne, ist natiirlich nur ein Vorschlag. Andere Rahmen und andere Zuordnungen waren zu diskutieren. Insofern stellt mein Buchbeitrag nichts anderes als eine Etappe dar und ist, wie fur Wissenschaft ja selbstverstandlich, der Kritik und Auseinandersetzung anheim gegeben. Konkrete Gelegenheit dazu wird es vielleicht schon in absehbarer Zeit geben. D e n n geplant ist eine Tagung zur Thematik des Buches, auf der vor allem auch Hartmut Esser Gelegenheit haben soil, seine Sicht der Dinge vorzustellen.

2 W o n i m geht es dem Gnindsatz nach in der Soziologie von Hartmut Esset? (3) Die folgenden Ausfiihrungen sollen im weiteren darlegen und begriinden, yon welchem konzeptuellen Rahmen aus der Integrationsanspruch von Esser sowie die Auseinandersetzungen damit in diesem Buch erortert werden. Dass die Angabe eines solchen Rahmens von erheblicher Bedeutung ist, kann in besonderer Deutlichkeit exemplarisch daran gezeigt werden, wie Wolfgang L. Schneider in seinem Buchbeitrag den Esser-Luhmann-Vergleich anlegt. Sein Vorgehen wird hier auch deshalb aufgegriffen, weil daniber die Anlage von Essers Soziologie in instruktiver Weise zu rekapitulieren ist. Dafiir ist zunachst etwas auszuholen. Die Bearbeitung der Themenstellung „Erklarung, Kausalitat und Theorieverstandnis bei Esser und Luhmann im Vergleich" beginnt Schneider damit, dass er „zunachst die Architektonik der jeweiligen Theorie in ihren Grundziigen" vorstellt (Schneider S. 445f). Seine Darstellung der Architektoniken hat zum einen Essers Handlungstheorie, also eine Variante der Wert-ErwartungsTheorie (WE-Theorie), zum anderen Luhmanns funktionalistische Systemtheorie, und dabei vor allem dessen Sozialsystemtheorie, zum Gegenstand. Unter Bezug auf diese Theorien wird dann auch der Vergleich aufgezogen. Welche Konsequenzen diese Vergleichsanlage hat, lasst sich gut an Schneiders (hier nur ansatzweise wiederzugebender) Bilanzierung des Verhaltnisses der beiden Ansatze ablesen: Esser gehe „es u m eine Theorie, die eine kausale Erklarung^j)/^/?/scher Selektionen im Sinne des DN-Modells der Erklarung ... ermoglicht", wahrend Luhmann eine Theorie entwerfe, „die zeigt, wie der Bereich wahlbarer Handlungen dxirch den kommunikativen Kontext konstituiert wird. Auch hier geht

Das Essersche „Modell der soziologischen Erklarung"

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es also urn die Selektion von Selektionsmoglichkeiten, freilich in so'^aler Systemreferenz" (Schneider S. 480, siehe auch S. 471). (4) Worauf ich mit der Wiedergabe dieser Bilanzierung hinaus will, verdeutlicht folgende Frage: wieso kommt Schneider zu einer Gegeniiberstellung von psychischer — bzw., wie es auch bei ihm heiBt, individualistischer — und sozialer Referenz? Wieso werden zwei so verschiedene Referenzen gegeniibergestellt, wieso wird nicht auch hinsichtlich Essers Ansatz die soziale Referenz gewahlt? Dass eine solche Wahl nicht nur moglich ist, sondern geboten erscheint, und dass es von Schneiders Position zum Theorienvergleich her (vgl. Schneider 1996) erstaunlich ist, dass er so vorgeht, wie er vorgeht, soil nun kurz erortert werden. Dazu ist die WE-Theorie zu thematisieren, die in Schneiders Bilanzierung hinsichtlich Esser von zentraler Bedeutung ist. Zunachst ist der Stellenwert zu vergegenwartigen, den Esser dieser Theorie fiir soziologische Erklarungen zumisst: „Die WE-Theorie ist notwendig, aber in keiner Weise hinreichend fur eine angemessene soziologische Erklarung ohne logische Liicke" (Esser 1999a, S. 253). An anderer Stelle findet sich diese Einordnung bestatigt. „Die Handlungstheorie ist im Kontext des Modells der soziologischen Erklarung eigentHch nur ein vergleichsweise unwesentHches — wenngleich unentbehrliches — BindegHed. Sie hat eher nur eine instrumentelle Funktion: die logische und kausale Verbindung der Situation mit dem Handeln der Menschen und der erst dann moglichen Ableitung der aggregierten Effekt e " (Esser 1999, S. 243). Von diesen Aussagen her lasst sich erst einmal festhalten, dass die WE-Theorie bei Esser „nur" eine — wenn man so will: dienende — Komponente in einem umfassenderen Konzept ist, welches der Erfassung sozialer Phanomene dient. Dieses Konzept wird im letzten Zitat auch genannt - das „Modell der soziologischen Erklarung" (MSE).^ Was mittels des MSE erklart werden soil, lasst sich der Aussage ebenfalls entnehmen. Neben Handlungen (respektive Selektionen) sind dies Situationen bzw. aggregierte Effekte, und zwar aUes drei, wie an vielen anderen Stellen deutHch wird, in sozialer Referenz (dazu gleich mehr). Die Situationen bzw. aggregierten Effekte als so genannte kollektive Phanomene sind in sozialwissenschaftHcher Perspektive Essers zentraler Erklarungsgegenstand. Und erst unter V^orausset^ng dieser, wie er ihn nennt, „kollektiven E b e n e " kommen mit (sozialen) Handlungen und

„Dienende Komponente" ist die WE-Theorie auch noch in einem anderen Sinne. Esser verwendet sie als T
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Selektionen die Gegenstande ins Spiel, die liber die WE-Theorie erklart werden sollen.2 Was das heiBt, ist nun zu erlautern. (5) Esser hat an programmatischer Stelle deutlich formuliert, was das maBgebliche Bezugsproblem ist, das seinem soziologischen Ansatz zu Grunde liegt. Erstaunlicherweise, und zwar, wie eben schon angedeutet, erstaunlicherweise von seinen eigenen Pramissen her (vgl. Schneider 1996, S. 266), wird dieses Bezugsproblem von Schneider nicht aufgegriffen. Es lasst sich mit Esser folgendermaBen wiedergeben: das Erklarungsinteresse „liegt in der Soziologie ausschlieBlich auf der kollektiven Ebene. Mit einem Begriff, den . . . Wippler und . . . Lindenberg eingefuhrt haben, kann man sagen, daB der analytische Primat der Soziologie auf der kollektiven Ebene Hege" (Esser 1999, S. 14). Dieses Erklarungsinteresse wird von Esser aber nicht „rein makrosoziologisch" umgesetzt, sondern mittels einer tiefenerklarenden Vorgehensweise.-"^ Bei der Erklarung muss „von der koUektiven Ebene auf eine darunter liegende Mikroebene hinabgestiegen werden", und zwar „letztHch bis auf die E b e n e der Akteure . . . Erst auf dieser Ebene finden sich — wenn iiberhaupt — ,allgemeine' und ,kausa-

Essers eben zitierte Aussage, die WE-Theorie sei „unentbehrlich", muss man nicht nur ernst nehmen, sondern in verschiedener Hinsicht noch verstarken. Dass er die WE-Theorie fur die von den gegenwartig verfiigbaren Handlungstheorien am meisten geeignete Handlungstheorie halt, schreibt er immer wieder. Diese Einschatzung kommt auch in den Empfehlungen zur „Methode der abnehmenden Abstraktion" zum Ausdruck, die er seiner Soziologie zu Grunde legt: „Hute Dich sehr, allzu rasch Anderungen in der Logik der Selektion und in der Handlungstheorie vorzunehmen! Und noch etwas deutUcher ausgednickt: Hande weg vor aUem von der Maximierungsregel" (Esser 2000b, S. 342). Auch in einem anderen Punkt kommt die Starke SteUung der WE-Theorie zum Ausdruck, denn die Art der Beschreibung einer jeweiligen Situationslogik wird von ihr maBgeblich bestknmt: „es ist dann die Art der Handlungstheorie, die festiegt, in welcher Weise die Situation zu beschreiben ist" (Esser 1999, S. 404). Diese Aussagen andern zwar am „dienenden" Stellenwert der WE-Theorie im MSE nichts, sie sollen aber deutlich machen, was ich mit dem „noch verstarken" eingangs dieser Anmerkung meine. Noch ein letzter Punkt in diesem Zusammenhang. Wenn Esser schreibt, die „WE-Theorie flingiert im Modell der soziologischen Erklarung ... «^r an einer^ in der Tat ganzlich ,unsoziologischen', Stelle der kausalen Umsetzung der situativen Stmkturvariablen in das Handeln der Akteure, von dem alle struktureUen Folgen abhangen" (Esser 1999a, S. 253), dann mag das „unsoziologisch" zwar verstandlich sein, um Rezeptionsverkiirzungen des MSE auf „Handlungstheorie" abzuwehren, es ist aber in dieser Allgemeinheit nicht nur falsch (siehe Nr. 8), sondern auch eine argerliche, weil Missverstandnisse erzeugende Ubertreibung. Esser versteht seinen Ansatz somit nicht als eine „Makrosoziologie", welche intendiert, „soziale Prozesse nur iiber Gesetze, die sich auf die Ebene der sozialen Systeme selbst beziehen" (Esser 2000 S. 5), zu erklaren. Die Schwierigkeiten einer Makrosoziologie, die mit solchen „sui generis"-Annahmen arbeitet, will er gerade vermeiden. Er sieht deren Probleme einmal im Problem der UnvoUstandigkeit - auf der Ebene kollektiver Phanomene lassen sich keine brauchbaren Gesetze nachweisen, sowie dem der Sinn-losigkeit — die Subjektivitat der die koUektiven Phanomene tragenden Akteure sowie die Sinnhaftigkeit ihres Handelns wird ausgeblendet (Esser 1999, S. 8f, 2000, S. 330). Den Bezug auf die Subjektivitats- bzw. Akteurskomponente halt Esser fiir unverzichtbar, aber auch den auf GesetzmaBigkeiten. Letzteren konzeptualisiert er allerdings anders, als eine Makrosoziologie ihn ansetzt. Daran kommt auch, wie gleich deutlich wird, Essers spezifisches Erklarungsverstandnis zum Ausdruck.

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le' Gesetze, die ja fiir eine korrekte Erklarung unerlaBlich sind: die Gesetze der Selektion des Handelns ... Deswegen (Hervorh. R.G.) liegt — erneut dem Diktum von Wippler und Lindenberg folgend — der theoretische Primat einer soziologischen Erklarung auf der individuelkn Ebene. Auf diese Weise - und nur so! — kommen die Akteure und das soziale Handeln ins Spiel. Die Forderung nach einer Tiefenerklarung der sozialen Prozesse ist der Hintergrund dafur; nicht aber die Vorstellung, daB die individueUen Menschen das einzige Reale und das Wichtigste in der Welt seien, fur das sich die Soziologie zu interessieren hatte" ( E s s e r l 9 9 9 , S . 15). Der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist, einmal, dass nicht die individuelle, sondern die kollektive Ebene im Zentrum von Essers Soziologie steht^ und weiter, dass die Einbeziehung der individueUen (Mikro-) Ebene mit Erfordernissen fiir die kausale Erklarung von Makrophanomenen begriindet wird. Letzteres macht das von mir hervorgehobene „deswegen" im vorstehenden Zitat deutHch. Von kausalen Erklarungen hat Esser bestimmte Vorstellungen: kausale Erklarung heiBt fur ihn FormuHerung eines Erklarungsargumentes, also eines „logischen Ableitungszusammenhanges'V ^ dem ein Gesetz vorkommen muss (Esser 1993, S. 39-44). Gesetze gibt es fiir den Bereich des Sozialen, so Esser, nicht fiir die Makroebene, wohl aber fur die Mikroebene. Seinem Erklarungsanspruch geniigende kausale Erklarungen von Makrophanomenen sind daher nur dann realisierbar, wenn fur diese Phanomene Erklarungsargumente formuHert werden konnen, in denen Gesetze vorkommen. Und diese ReaHsierbarkeit schafft Esser sich durch die im vorstehenden Zitat genannten Tiefenerklarungen von individueUen Vorgangen auf der Mikroebene. D e n n solche Tiefenerklarungen implizieren zum einen Gesetze, zum anderen baut Esser in seine Makroerklarungen, wie noch zu zeigen ist, derartige Tiefenerklarungen als eine Komponente ein. „Theoretischer Primat auf der individueUen E b e n e " und somit Tiefenerklarung bedeutet also im Grunde nichts anderes, als die ErmogHchung der kausalen Erklarung von sozialen Makrophanomenen. (6) Erst aus dem gerade skizzierten Begriindungszusammenhang erhalt somit die individueUe Ebene ihren SteUenwert und auch Uire soziale Referenz in Essers MSE. In letzterem wird beides, Makro- und Mikro-Ebene, konzeptuaHsiert, und zwar in Verbindung miteinander: „Das MSE ... bedeutet die simultane system- und handlungstheoretische Analyse ... es ist ... weder eine einseitig mikro- noch eine ebenso einseitig ^^/^ri^theoretische Angelegenheit" (Esser 2004a, S. 279). Diese Verbindung wird im MSE, was gleich noch zu erlautern ist, in drei Schritten als „Logik der Situation", „Logik der Selektion" sowie

^ ^

Das zeigt auch die Wahl der fiinf Musterbeispiele, die Esser gleichsam programmatisch seiner Allgemeinen Soziologie voranstellt (1993, S. 31-37). Zur Bedeutung von Erklarungsargumenten vgl. Greshoff/Schtmank 2005, S. 21-26.

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„Logik der Aggregation" beschrieben. Wichtig ist hier zunachst festzuhalten, dass fur die Erklarung des operativen (Selektions- h'zw. Handlungs-) Geschehens auf der Mikroebene in erheblichem MaBe die WE-Theorie zustandig ist, wahrend das fur die Er fas sung der Makrophanomene so nicht gilt. Das heiBt dann aber, dass der Gesamtzusatnmenhang, den das MSE intendiert, liber die WE-Theorie allein iiberhaupt nicht in den Blick kommt. Das ist ja auch die Aussage der Esser-Zitate zur WE-Theorie in Nr. 4! Dieser Gesamtzusammenhang, wie ihn das MSE konzeptuell reprasentiert, wird nun von Schneider dadurch ignoriert und unterlaufen, dass er die WE-Theorie fur seinen Vergleich mit Luhmann auf eine Weise zentral setzt, die deren „abgeleiteten" Stellenwert von der kollektiven Ebene im MSE, wie er in den vorstehenden Ausfuhrungen erlautert wurde, nicht beriicksichtigt. Die Konsequenz ist, dass er dadurch das soziologische Erklarungsproblem, u m dessen Bearbeitung es Esser mit dem MSE geht, gar nicht zum Gegenstand hat. Das wird deutlich, wenn er hinsichtlich der Erklarung von Strukturen sozialer Systeme vom diesbeziiglich marginalen eigenstandigen Beitrag der WE-Theorie schreibt, die fur eine solche Erklarung auf „externe Vorgaben" bzw. „theoretische Fremdprodukte" angewiesen sei (Schneider S. 483f). Anders ausgedriickt, das MSE wird von Schneider gar nicht als ein integrales Erklarungskonzept wahrgenommen, welches dem Anspruch nach auch die gerade genannten Strukturen (als Makrophanomene) erfassen soU. (7) Dass er die WE-Theorie nicht aus dem eben skizzierten Begnindungszusammenhang heraus, sondern gleichsam „isoliert" begreift, zeigt sich im Kontext der gerade zitierten Stelle auch daran, wie Schneider die Sozialtheorie von Luhmann im Verhaltnis zu der von Esser einschatzt. Erstere habe deshalb eine groBere Reichweite, weil Luhmann auf Kommunikation als operative Grundeinheit sozialer Gebilde setze und nicht wie Esser auf das psychisch definierte individuelle Handeln. Diese kontrastierende Beurteilung mittels „Kommunikation versus individuelles Handeln" ist aus verschiedenen Griinden schief und irrefiihrend. Zur Begriindung soil hier zunachst nur der gerade entfaltete Argumentations Strang weiter verfolgt werden. Ihn vorausgesetzt kann man so sagen: hatte Schneider den oben entfalteten Begriindungszusammenhang beachtet, konnte er seiner Maxime folgen, dass ein Vergleich von Theorien u m so eher gelingen kann, je mehr sie unter einem sie iibergreifenden Problemkontext subsumiert und von daher verglichen werden (Schneider 1996, S. 266f). Ein solcher iibergreifender Problembezug, der vom Abstraktionsgrad her den Grundlagen der Sozialtheorien von Luhmann wie Esser derart nahe ist, dass von ihm her deren typische Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede ohne viel Konkretionsaufwand in den BHck zu bekommen sind, kann durchaus

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entwickelt werden.^ Dafur miisste man nur Essers — zumal programmatische! — Position benicksichtigen, dass „die soziologische Erklarung ... niemals mit den individuellen Akteuren, sondern immer mit einem so^alen Explanandum und einer Analyse der so^alen Situation" startet (Esser 2003a, S. 78). Das bedeutet dann auch 2ur Kenntnis zu nehmen, dass eine soziale Situationen eine solche ist, „bei der die Akteure wechselseitig in Rechnung stellen (miissen), dass das Ergebnis ihres Tuns von den Absichten und Handlungen der anderen Akteure mitbestimmmt ist und dass alle auch wissen, dass das so ist" (Esser 2000a, S. VII). Derartige soziale Situationen, die Esser in dynamischer Perspektive als soziale Systeme begreift (Esser 2001, S. 499f), bilden fur ihn wegen ihres grundlegenden Charakters den zentralen Gegenstand soziologischer Erklarungen.'7 Sie werden aber nicht iiber Erklarungen bloBen E//^5^i?/handelns, sondern iiber Erklarungen doppelt kontingenten Handelns — sowie der zugehorigen Strukturen! — erklart. Folglich hat das MSE, welches Erklarungen dieser Art ermogHchen soil, nicht nur soziale Situationen bzw. Systeme, sondern auch mindestens zwei Akteure und deren soziales Handeln zum Gegenstand. Das individuelle Handeln, das im MSE auf der Mikroebene angesiedelt ist, wird dort also in sozialer Referenz thematisch, namlich als eingebettet in Zusammenhange aneinander anschUeBenden Handelns. In diesem Sinne ist auch Essers Aussage zu verstehen, dass im „Mittelpunkt des Modells der soziologischen Erklarung ... die Unterscheidung von Akteuren und sozialen Systemen als gleichermafien und gkich gewichtig erscheinende Entitaten der sozialen Wirklichkeit (steht, R G . ) " , das MSE also „nicht nur soziale Systeme ..,, sondern auch ,leibhaftige Menschen' ... (die, R.G.) immer und notwendigerweise wechselseitig auf einander bezogen sind", zum Gegenstand hat (Esser 2005, S. 242). Die strukturelle AhnHchkeit der vorstehend dargelegten KonsteUation mit der, die mit Luhmanns Konzepten „doppelte Kontingenz" sowie „soziales System" zu verbinden ist, kann hier nicht naher ausgefuhrt werden.^ Ebenso

7

Siehe zur Konstxuktion geeigneter/weniger geeigneter Problembeziige Greshoff 1999, S. 2225. Sie bilden aber nicht deren einzigen Gegenstand, wie er im Anschluss an die gerade zitierte Aussage deutlich macht. Viele soziologische Fragen, so Esser, lassen sich danach schon ohne diese Annahme des „Sich wechselseitig in Rechnung steUen" bearbeiten (Esser 2000a, S. VII; siehe auch 1999, S. XII). Esser denkt dabei an Phanomene wie soziale Verteilungen (Einkommensaggregate, Scheidungsraten usw.) bzw. an soziale Kategorien, weiter an soziale Systeme, die nicht auf sozialen Handlungen, sondern auf dem beruhen, was er „auBerliche Beeinflussung" nennt (Esser 2000, S. 47-50). Diese Entitaten sind hier erst einmal aber nicht gemeint, wenn im Folgenden von den Gegenstanden des MSE zu lesen ist. Auf sie wird an anderer Stelle noch einzugehen sein. Worin sie besteht, diirfte aber klar geworden sein. Abstrakt formuliert bestehen beide Konstellationen aus zwei sinn- und verhaltensfahigen Entitaten (vielfach Alter und Ego genannt) in ihrem von diesen Fahigkeiten getragenen wechselseitigen Bezug aufeinander und dem sich daraus entwickekiden sozialen Gebilde. Konzeptuell umfassender zu derartigen Ahnlichkeiten

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wenig ist hier 2u explizieren, wie im Ausgang von den diese Konstellationen erfassenden Essetschen und Luhmannschen Konzepten ein iibergreifender Problembezug hergestellt werden kann. Man kann an dieser Stelle aber bereits die Konsequenz absehen, die sich fur Schneiders eben referierte These liber die Reichweite der beiden Sozialdieorien ergibt, wenn man nun deren Architektoniken von den gerade genannten Konzepten her rekonstruiert. Eine an diese Konzepte ankniipfende Reichweitenbestdrnmung miisste namlich Luhmanns „Konimunikation" mit Essers „so2ialem Handeln" kontrastieren, welches nicht nur „Gegenseitigkeit",^ sondern auch „Konimunikation" als Unterfall impliziert (Esser 2000a, S. 15-18). Daraus folgt dann, dass die These iiber die Reichweite schlicht umgekehrt zu formulieren ware, als Schneider es macht. (8) Zuriick zur WE-Theorie als zentralem Bezug von Schneiders Rekonstruktion der Esserschen Theoriearchitektonik. Auch die im Vorstehenden skizzierte soziale KonsteUation bekommt man mit der WE-Theorie alleine iiberhaupt nicht in den Blick. Mit ihr ist noch nicht einmal Essers Konzept von sozialem Handeln zu er fas sen. D e n n die WE-Theorie hat, was ihr Kennzeichen als allgemeine Handlungstheorie angeht, keinen genuin sozialwissenschaftHchen Charakter. Sie benennt fur jegliche Handlungen eine Regel (die der Nutzenmaximierung), nach der Akteure Handlungsalternativen unter „Verrechnung" der Bewertungen der jeweiHgen Folgen der Alternativen und der Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Folgen gewichten und als umzusetzen auswahlen. Das ist ihr Kennzeichen, und diesbezxiglich wird sie auch bei Esser fiir Erklarungen sozialer Handlungen wichtig — aber eben in konkretisierter Form und somit ausgerichtet an den koUektiven Phanomenen, die im Zentrum des MSE stehen. (9) Indem Schneider die „bloBe" WE-Theorie der soziologischen Systemtheorie gegeniiberstellt, relationiert er also Konzepte ohne soziale Referenz mit solchen mit sozialer Referenz. Von diesem Ausgangspunkt her lasst sich aber kein gemeinsamer Problembezug einnehmen, der fur Vergleiche in sozialer Referenz aussagekraftig ist. U m diese soziale Referenz geht es aber Schneider auch hinsichtlich Esser, denn sonst wiirde er nicht bezweifeln, dass mit des sen Handlungstheorie Prozesse gesellschaftlicher Evolution zu erfassen sind (Schneider, S. 483). Das Problem von Schneiders Vorgehen besteht darin, dass sich nur von den thematischen Vergleichsbeziigen seines Aufsatzes her — „Theorie", „Kausalitat" und „Erklarung" - nicht erschlieBen lasst, warum er W E Theorie und soziologische Systemtheorie gegeniiber stellt. Von derart abstrakten Beziigen her ergibt sich schliissig weder die eine noch die andere Theorie-

zwischen verschiedenen Konzeptionen und eine Konvergenzthese entwickelnd siehe jetzt Lindemann 2005. Esser meint mit „sozialem Handeln" also anderes als Weber.

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wahl. Hinsichtlich Esser verweist der Bezugspunkt „Theorie" nicht zwingend auf „WE-Theorie", denn auch das MSE insgesamt begreift Esser als Theorie, namlich als „Universaltheorie" (Esser 2004, S. 12, vgl. auch 2002, S. 149). Gleiches gilt fur „Erklarung". Beim MSE etwa kennt Esser nicht nur einen auf individuelle Handlungen bezogenen mikrotheoretischen, sondern auch einen auf iiberindividuelle Einheiten bezogenen makrotheoretischen Teil der Erklarung (Esser 2000b, S. 342f). Und auch „Kausalitat" reklamiert Esser nicht nur fiir Mikrophanomene, sondern bringt sie auch mit Makrophanomenen in Verbindung — Stichwort „Makro wirkt auf/pragt Mikro" (was gleich noch zu problematisieren sein wird). Fiir Luhmann lieBe sich ahnliches zeigen. Man kann das folgendermaBen andeuten: wiirde man Schneiders Umgang mit Esser, also seinen umstandslosen Bezug auf die WE-Theorie, auf Luhmann libertragen, diirfte man bei Luhmann nur das thematisieren, was einzelne sinnhafte Selektionen psychischer bzw. sozialer Systeme ausmacht — wie eine Mitteilung, ein Verstehen, eine Anschlussentscheidung usw. Kurz, man hatte dann Luhmanns entsprechende Selektionstheorie zum Gegenstand^^ — und damit genauso wenig eine Theorie mit sozialer Referenz gewahlt, wie mit der WE-Theorie. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Uberlegungen kann das Problematische von Schneiders Vorgehen folgendermaBen zugespitzt werden. Er bilanziert seinen Vergleich ja dahin gehend, dass es Luhmanns Theorie im Unterschied zu der von Esser darum gehe, zu zeigen, wie der Bereich wahlbarer Handlungen durch den kommunikativen Kontext konstituiert werde (siehe Nr. 3). U m genau eine solche Konstitution, wenn auch nicht begrenzt auf Kommunikation, geht es auch Esser mit „Makro wirkt auf Mikro" (siehe Nr. 38)! Dass hier eine ParaUele vorHegt und keine Differenz, wie Schneider schreibt, bekommt man aber erst dann zu sehen, wenn man das MSE insgesamt in den BHck nimmt. (10) Ich komme zu einem Zwischenresiimee. Will man Esser wie Luhmann in sozialer Referenz auf gleicher Augenhohe erortern und dafiir einen gemeinsamen Problemkontext herausarbeiten, ware hinsichtHch beider Konzeptionen konsequent nach deren soziologischen Grundlagen zu fragen. Und zwar dergestalt: was steht als „Soziales" im Zentrum bei Esser bzw. Luhmann und wie wird dies als Theorie, wie unter Erklarungs- und KausaUtatsgesichtspunkten konzeptualisiert?^^ Beziiglich Luhmann wiirde sich dann an Schneiders Konzeptauswahl im wesentlichen nichts andern, aber hinsichtlich Esser ware das MSE in der oben skizzierten Form und mit der dariiber implizierten gegenstandlichen Konstellation in den BHck zu nehmen (siehe Nr. 7).

1° Dass Luhmann zu dieser Selektionstheorie wenig Aussagen macht, ist eine andere Sache (siehe Greshoff 1999, S. 76-78). ^1 Mit Blick auf die Anlage des vorliegenden Buches ist auch Weber unter dieser FragesteUung einzubeziehen.

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(11) Mit dieser These ist nun auf die den vorstehenden Erorterungen zugninde Hegende Problemstellung 2umck zu komtnen, namlich von welchem konzeptuellen Rahmen aus in meinem Beitrag der Integrationsanspruch von Esser sowie die Auseinandersetzungen damit in diesem Buch erortert wiird. Die einleitenden Uberlegungen haben gezeigt, dass und warum dem MSE fur Essers Ansatz ein besonderer Stellenwert zukommt. Als soziologische Grundlegung setzt es einen Rahmen dafdr, wie aus seiner Sicht Soziologie zu betreiben ist. Auch fur die Erorterung von Essers Integrationsperspektive ist das MSE der maBgebMche Bezug. D e n n ausdriicklich hat er beansprucht, „die verschiedenen Konzepte der Soziologie miteinander ... unter dem Dach des Modells der soziologischen Erklarung systematisch und in sich gegenseitig erganzender Weise in Verbindung" gebracht zu haben (Esser 2000c, S. XI, siehe auch 1999, S. XVf). Eine Beurteilung von Essers Integrationsanspruch (wie auch seines soziologischen Ansatzes) muss daher immer sein MSE, so meine These, als Ausgangspunkt wahlen. Gleiches soil genauso fiir die Erorterung der in diesem Buch versammelten Auseinandersetzungen mit seinem Integrationsanspruch gelten. Mit dieser Vorgehensweise verbinde ich folgende Annahmen: (12) U m das MSE mit Bezug auf die hier zusammen gesteUten Auseinandersetzungen mit Essers Integrationsprojekt fruchtbar diskutieren zu konnen, ist erst einmal auf eine abstrakte Weise die methodisch-konzeptuelle Beschaffenheit des MSE zu expHzieren. Dies ist deshalb notwendig, well die grundlegenden Linien und Konturen eines solcherart abstrakter gefassten MSE eine Art von rahmender Vorgabe bilden, unter der die jeweiligen Konzepte der verschiedenen Ansatze von Esser zusammen gefiihrt werden. O h n e diesen Rahmen und die relativ dazu erfolgende Zusammenfdhrung ist sein Integrationsvorgehen, so mein Ausgangspunkt, gar nicht zu verstehen. N u n ist die besagte Vorgabe, die ja eine von Esser gesetzte ist, nicht irgendetwas „Neutrales". Sondern durch die methodischen und gegenstandlichen Annahmen, die sie impHziert, strukturiert sie den Umgang mit den Konzepten, die unter ihr integriert werden.^^ p ^ ^\^^ Erorterung von Essers Integrationsunternehmen ist es von daher wichtig, um diese „Grundlogik" des MSE (Esser 1999, S. XVI) zu wissen. In den folgenden Ausfiihrungen wird es deshalb zunachst u m die Explikation dieser Grundlogik gehen.^-"^ Spater werden dann (in ausgewahlten Schwerpunkten) die Hauptlinien des MSE in der Konkretionsform darzulegen sein, wie Esser es als Grundlagenkonzept seines Ansatzes vorsieht. Beides erfolgt unter Beriicksichtigung der eben gestellten Frage, was als „Soziales" im

Das bedeutet aber nicht, dass sie inhaldich an bestimmte Theorieansatze gebunden ist, etwa an den rc-Ansatz. Davon ist sie unabhangig. Zu dieser Grundlogik wird hier auch die Konfiguration sozialer Geschehnisse in dem oben in Nr. 7 bzw. Anra. 7 genannten Zuschnitt gezahlt. Bezug ist damit also weiter soziales Geschehen in dynamischer — sich reproduzierender, wandekider usw. — Perspektive.

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Zentxum des Esserschen MSE steht und wie dies imter Erklarungs- und Kausalitatsgesichtspiinkten konzeptualisiert wird, Bevor dies geschieht, noch eine orientierende Bemerkung vorweg. Tilmann Sutter hat hinsichtlich Essers Konzepte von einer „ininianenten Mehrstimmigkeit" geschrieben (Sutter 2005, S. 62) und damit auf deren Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten angespielt. Fiir die Richtigkeit dieser Annahme lassen sich, das zeigen auch die Beitrage dieses Buches, viele Belege finden. Das kann aber einerseits bei einem umfassenden Werk wie dem von Esser auch nicht liberraschen.^'^ Andererseits bin ich gleichwohl der Ansicht, dass sich, hier vor allem mit Blick auf das MSE formuliert, so etwas wie ein konsistenter roter Faden ausmachen lasst, relativ zu dem Ungereimtheiten und dergleichen als Fehler identifiziert, damit „transparent entscharft" und gegebenenfalls auch konstruktiv gewendet werden konnen (siehe fur ein Beispiel bereits oben Anm. 2). In diesem Sinne zielen hier die Ausfiihrungen zu Essers Ansatz vor allem darauf ab, das konzeptuelle Geriist des MSE herauszuarbeiten, welches diesen roten Faden erkennen lasst.

3 D i e Gmndlogik des M S E (13) Als Einstieg in die Explikation der Grundlogik des MSE scheint es sinnvoll, zunachst auf des sen Makro-Mikro-Ebenenkonzeption einzugehen, wird diese doch in der Diskussion auf verschiedene Weise kritisch eingeschatzt. Etwa durch folgende Position, die immer wieder aufgegriffen wird (auch in diesem Buch): Die Ebenenkonzeption impliziere einen ontologischen „Vorrang der Mikro- vor der Makroperspektive" (Nassehi 2004, S. 105); sie hebe die individuelle Mikroebene einseitig heraus und sehe von der Kommunikation unter den Beteiligten mehr oder weniger ab. Dadurch werde „dem Gegenstandsfeld in weitem Umfange das (entzogen, R.G.), was als sozial bezeichnet werden kann" (Luhmann 1985, S. 117). Man komme mit dieser Konzeption zwar „von der Makroebene auf die Mikroebene hinunter, aber von der Mikroebene nicht wieder auf die Makroebene" hinauf (Luhmann 1985, S. 117, 1997a, S. 30), so dass der Makrobereich in seiner Eigenstandigkeit mit der Ebenenkonzeption nicht erklart werden konne.

^"^ Und gilt auch fiiir andere umfassende Werke. Siehe etwa die Auflistung von Inkonsistenzen und Ungereimtheiten, die ich in meinem Weber-Luhmann-Vergleich hinsichtlich Luhmann zusammengestellt habe (Greshoff 1999). Aber auch bei Luhmann lasst sich so etwas wie ein roter Faden seiner Konzeption erkennen, relativ zu dem solche „Mehrstimmigkeiten" aufgelost und dann vernachlassigt werden konnen. Man sollte als Verfasser umfangreicher Werke jedoch vorsichtig sein mit AuBerungen wie diesen: „Die erklarende Soziologie macht keine Denkfehler" (Esser 1999, S. 210).

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(14) An dieser Position kann man gut zeigen, dass und warum sie die Anlage des Esserschen MSE verfehlt. Dafiir sind vor dem Hintergrund des bereits oben Ausgefuhrten folgende Punkte der Ebenenkonzeption zu pointieren: Der Grund fiir die Anlage des MSE liber zwei Ebenen ist ein methodischerklarungstechnischer. Das ist zunachst der zentrale Punkt, den man klar haben muss. Das MSE ist eine Heuristik. In Essers Worten: „Es ist eher eine Methode der Sozialwissenschaften als bereits eine inhaltliche Analyse" (Esser 2004, S. 15). Das heiBt im Grundsatzlichen erst einmal nichts anderes, als dass im MSE ein materialer Aspekt, namHch grundlegende Gegenstandsannahmen, und ein methodischer Aspekt, namHch wie die jeweiligen GegenstandHchkeiten kausal zu erklaren sind, miteinander verkniipft werden. Diese Verkniipfung umsetzen zu konnen, dient das Konzept der Ebenendifferenzierung. Durch die Unterscheidung von Makro- und Mikroebene sowie die Angabe von diese Ebenen verbindenden Makro- und Mikroprozessen sollen bestimmte KausalHnien nachvoUziehbar gemacht werden. Es geht darum, iiber die KonzeptuaUsierung von Wirkungs- und Bewirktwerdens-Prozessen die Dynamik sozialer Gebilde in den BUck nehmen und erklaren zu konnen. U m in ein paar (noch zu konkretisierenden) Strichen anzudeuten, was damit gemeint ist: wie wirkt sich die auf der Makroebene verortete soziale Situation, also Zusammenhandeki und soziale Strukturen, auf das auf der Mikroebene Angesiedelte aus, also auf die einzelnen Akteure, die sich mit ihren individuellen Selektionen relativ zu den jeweiligen sozialen Situationen positionieren?^^ Welche Folgen ergeben sich aus dem overten Handeln dieser Akteure, das aus dem „von Makro Bewirktwerden" resultiert, fiir dieses Makro? Wie geht das overte Handeln in Makro ein, wie schlagt es sich dort nieder? Auf welche Weise verandert/reproduziert Makro sich dariiber und wie wirkt sich das veranderte/reproduzierte Makro dann wieder auf Mikro aus? Usw., usf (15) Bei den gerade skizzierten Ebenenverbindungen und -prozessen ist zu vergegenwartigen, und das ist ein weiterer zentraler Punkt, den man klar haben muss, dass nicht nur die Makroebene eine soziale Referenz hat, sondern ebenso die Mikroebene.^^ „Individuell" bedeutet hier also nicht „nicht-sozial"! Man kann somit die beiden Ebenen nicht dahin gehend gegeneinander ausspielen, dass nur auf der einen soziales Geschehen thematisch wird, sondern es geht in dieser Referenz immer um das Zusammenwirken der Geschehnisse auf beiden Ebenen (Esser 2004a, S. 273-275). Bedenkt man die soziale Referenz beider Ebenen, dann wird auch deutiich, warum es das Problem des von der Mikroebene auf die Makroebene Hinaufkommens in dem Sinne, wie Luhmann

Die Annahme einer solchen Makro- bzw. Situations-,,Wirkung" auf Mikro macht das aus, was Esser „Situationslogik" nennt - die somit auch zur Grundlogik des MSE gehort Ich hatte oben bereits darauf hingewiesen (Nr. 7).

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es der Ebenenkonzeption attestiert, nicht gibt. Sein Argument, diese Konzeption hebe die Mikroebene einseitig hervor, sehe von der Kommunikation unter den Beteiligten mehr oder weniger ab und habe daher im Grunde keinen sozialen Bezug, ist beziiglich Esser in mehrfacher Hinsicht unzutreffend: Z u m einen werden die Handlungen auf der Mikroebene ja als soziales Handeln konzipiert, welches, wie eben bereits erwahnt, als Unterfall Kommunikation umfasst (Esser 2000a, S. 15-18, siehe auch 292f). Mit Verweis auf die Mikroebene kann also nicht plausibel argumentiert werden, dass von Kommunikation unter den Beteiligten abgesehen werde. Wie in Nr. 5 bereits angesprochen, wird die Mikroebene aus dem Grund einbezogen, u m die Entwicklung sozialer Systeme erklaren zu konnen. Denn, so Esser, nicht „die sozialen Gebilde ,sui generis' treiben den (sozialen, R.G.) ProzeB voran und geben ihm seine Dynamik, sondern die Akteure, deren Probleme und Situationssichten, das daraus folgende Handeln und die daraus entstehenden Folgen" (Esser 1999, S. 26). „Daraus entstehende Folgen" meint das „Hinau£kommen" des Mikro-Makro-Schrittes. Es geht mit diesem Schritt nicht u m eine „nachtragli~ che" Soziologisierung individuellen Handelns, sondern darum, wie koUektive Folgen, also Makrogeschehen, in noch zu benennenden Vermittiungen aus den individuellen Selektionen und Handlungen der Akteure resultieren. Dieses Mikro-Makro-Geschehen soil dann mittels eiaes bestimmten Erklarungsargumentes, namlich den Transformationshypothesen, erklart werden konnen. Wie oben unter dem Stichwort „Tiefenerklarung" erlautert, gehort zu dieser Transformationserklarung als eine — notwendige, aber gleichwohl nachgeordnete — Komponente die Erklarung des individuellen Handelns. Und da die Produktion dieses Handelns auf der Mikroebene verortet wird, muss diese Ebene bei der Erklarung einbezogen werden (ausfiihrlicher zur Transformationserklarung gleichin Nr. 16). Z u m anderen ist die Behauptung vom ontologischen Primat bzw. einer einseitigen Hervorhebung der Mikroebene dann nicht nachvoUziehbar, wenn man Essers zentrale Aussagen und Konzepte erst einmal beriicksichtigt und ernst nimmt. Die Annahme eines solchen Primates ist vor dem Hintergrund von folgender programmatischer Aussage dann schwerlich mogHch: „Die Analyse beginnt mit der sozialen Situation 1 und endet... mit der sozialen Situation 2. Die Entstehung der sozialen Situation 1 kann natiirHch selbst wieder zum Gegenstand einer soziologischen Erklarung gemacht werden" (Esser 1999, S. 16). Es geht eben primar und letztHch um die Erklarung von Makrogeschehnissen - unter Bezugnahme auf die eben angedeuteten „Aus- und Bewirkungszusammenhange" zwischen Makro und Mikro. Letzteres heiBt dann auch, und damit will ich ein weiteres Missverstandnis aufgreifen, das immer wieder im Zusammenhang mit der Ebenenkonzeption

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auftaucht, dass gegenstdndlich gedacht die Sachverhalte der Makroebene nicht auf die der Mikroebene redu^ert^ssfttdtn. (konnen).^'^ Zusammenhandeln und soziale Strukturen werden also nicht als Orientierung, Selektion und overtes Handeln eines einzelnen Akteurs begriffen (= gegenstandliche Perspektive), sondern Makro wtrd „lediglich" auch — aber eben nicht nur! — unter iterative! Bezugnahme auf Prozesse und Produkte der sie tragenden individuellen Akteure erkldrt. Und diese erklarende Bezugnahme auf die Mikroebene wird als „Reduktion" bezeichnet (= methodische Perspektive).^^ (16) Will man Anlage und Intentionen des MSE auf eine abstrakte Kurzformel bringen, kann man es hinsichtHch seiner materialen Komponente dahin gehend umschreiben, dass es konzeptuell soziale „Vorgange in ihre Bestandteile und einzelnen Mechanismen ,analytisch' zerlegt — und ... in ihrer Genese und in ihren Folgen ... wieder ^sammen fiihrt" (Esser 2003a, S. 80), u m sie auf diesem Wege kausal erklaren zu konnen. Und beziiglich seiner methodischen Komponente kann man das MSE mit BUck auf ein solches Erklaren als ein mehrschrittiges Erklarungsargument beschreiben, das darauf angelegt ist, Makrophanomene erklaren zu konnen. Weil mit diesem zuletzt genannten Punkt immer wieder Missverstandnisse und Verkiirzungen verbunden werden, sei noch einmal betont: Im Zentrum des MSE steht nicht die Erklarung von individuellen Selektionen und Handlungen. Die Explanation von solchen Mi/^n?phanomenen hat eine „dienende" Funktion, um Makrophanomene erklaren zu konnen. Damit dies moglich ist, miissen zudem die Mikrophanomene in einem bestimmten Zuschnitt konzeptuaHsiert und erklart werden — was unter dem Stichwort „Framingkonzept" noch zu erlautern sein wird. Das heiBt also: Erklarungen von Selektionen und Handlungen mittels des Framingkonzeptes haben im MSE nur deshalb einen Stellenwert, weil sie fiir die Erklarung von Makrophanomenen benotigt werden. M^y^r^phanomene werden dann mittels dessen erklart, was ich „Transformationshypothese" genannt habe.^^ Transformationshypothesen bestehen aus drei logisch miteinander verbundenen Komponenten. Eine Komponente sind die Transformationsregeln. Diese definieren den Makrozustand, der zu erkla-

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Den auf den beiden Ebenen 2u verortenden Geschehnissen wird von Esser eine gewisse Eigenstandigkeit zugedacht (was das heiBt, changiert allerdings bei ihm). Sie werden dabei aber auch, das folgt aus der eben skizzierten „Wirk-/Bewirktwerden-Verknupfung" von Makro und Mikro, als aufeinander verwiesen angenommen (Esser 2001, S. 499-501). Mit einer solchen Reduktion ist also definitiv nicht gemeint, was Luhmann mit „Reduktion" verbindet, namlich dass „die Erklarung durch Reduktion beim Individuum angehalten und nicht iiber es hinausgefuhrt wird" (Luhmann 1997a, S. 24). Das mag es auch geben, beschreibt aber nicht das Erklarungsvorgehen von Esser. Statt ,,Transformatiomhy^otht?.Q^' konnte ich auch von „y4^r(?g^//
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ren ist, also etwa ein Entwicklungs- oder Reproduktionsstadium eines sozialen Gebildes. Eine weitere Komponente sind die Transformationsbedingungen. Diese formulieren eiae (als giiltig 2u belegende) Annahme dariiber, auf welche Weise sich iiber welche sozialen Selektionen und Handlungen das zu erklarende Makrophanomen mit einer bestimmten RegelmaBigkeit entwickelt. Und die dritte Komponente schUeBlich sind die so genannten individuelkn Effekte, die nichts anderes als Erklarungen von individueUen Selektionen und Handlungen sind, mittels denen belegt werden kann, dass die Selektionen und Handlungen so abgelaufen sind, wie in den Transformationsbedingungen angegeben. (An dieser Stelle wird also auf Erklarungen von Mikrophanomenen zuriickgegriffen.) Aus den drei Komponenten wird ein Erklarungsargument gebildet, das die Form eines allgemeinen Wenn-dann-Aussagenzusammenhanges hat, der logische Schliisse ermoglicht. Abstrakt kann man sich ihn so vorstellen: Wenn die Trans formationsregel (TR) so und so lautet, und wenn die Trans formationsbedingung (TB) in der so und so skizzierten Form tatsachlich gilt, und wenn der individuelle Effekt (IE) so und so der Fall ist, dann liegt das Makrophanomen X Y vor (vgl. Esser 2000, S. 17).^^ Ein solches Erklarungsargument formuHeren und dariiber Makrophanomene kausal erklaren zu konnen, das ist letztendlich das Ziel des MSE. Und noch einmal: der Selektions-/Handlungstheorie sowie der Erklarung von Mikrophanomenen kommt dafiir, wie im Vorstehenden deutlich werden sollte, eine rein „dienende" Bedeutung zu. Der gerade skizzierte Erklarungsanspruch ist ein Kennzeichen der Grundlogik des MSE. Und das bedeutet dann auch, dass die Konzepte, die unter dem Dach des MSE integriert werden, mit diesem Anspruch fest verwoben sind.

4 D a s M S E im Vetgleich mit Grundlagenkonzepten von Weber und Luhmann (17) Bevor nun die abstrakten Grundlinien des MSE auf die oben (Nr, 12) angekiindigte Weise zu konkretisieren sind, soUen in einer Art von vergleichendem Zwischenschritt Anlage und Intention des gerade dargelegten MSE mittels Bezug auf Konzepte von Weber und Luhmann vertiefend erortert werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Annahme, dass eine Integrationseinschatzung besser begriindet gelingen mag, wenn man die Konzepte der verschiedenen Ansatze vergleichend zugeordnet hat und mit Bezug auf diese Zuordnung dann argumentieren und zeigen kann, ob bzw. welche integriert

20 Am Beispiel „Freundschaft" hat Esser in einer knappen (und aus verschiedenen Griinden nicht etnfach zu verstehenden) Skizze entwickelt, wie er sich das vorstellt, was ich hier „Transformationshypothese" nenne (Esser 2000, S. 14-19).

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wurden. Interessieren sollen in dieser Perspektive wie oben angekiindigt diejenigen Konzepte, welche das zum Gegenstand haben, was als „So2iales" itn Zentrum der drei Ansatze steht. Es geht also um die Theoriereferenz, die man mit „Allgemeine Theorie des Sozialen" umschreiben kann. Die Konzepte, die ich dafur im Blick habe, sind neben dem MSE (und dabei zunachst primar des sen gegenstandliche Komponente im oben (Nr. 7) genannten Zuschnitt) Luhmanns „soziales System" und Webers „soziale Beziehiing". Der Punkt, auf den ich hinaus will, lasst sich so umschreiben: Das soziale Geschehen, welches Esser mit dem MSE erfasst, entspricht der groben Linie nach dem, was Weber mit „soziale Beziehung" sowie Luhmann mit „soziales System" intendieren.^^ Worauf es mir hier ankommt, ist, dass in alien drei Konzepten soziale Gebilde zentral sind, die sich iiber operatives Geschehen — gegenseitiges soziales Handeln u n d / o d e r Kommunikation — sowie soziale Strukturen (reflexive Erwartungen, Einstellungen usw.) abgrenzen und reproduzieren. Es geht also um eine soziale Aggregation, die im Horizont von doppelter Kontingenz von mindestens zwei Tragerinnen (Alter und Ego) getragen wird. (18) Entscheidend fur eine anschlussfahige Zuordnung der drei Konzepte zueinander ist nun folgender Punkt. Weber und Luhmann arbeiten nicht wie Esser mit einer Makro-Mikro-Ebenenunterscheidung. Das heifit aber nicht, dass die Vorgange, die Esser auf Makro- und Mikroebene thematisiert, in den genannten Konzepten von Weber und Luhmann nicht enthalten waren. Die einzelnen individuellen Selektionen und Handlungen von Alter und Ego etwa, deren Produktion Esser auf der Mikroebene verortet, sind z.B. in Luhmanns Konzept ebenfaUs thematisch (weiter der groben Linie nach bedacht). Auch hier las sen sich individuelle Selektionen ausmachen (wobei wie oben erlautert zu benicksichtigen ist, dass „individuell" nicht „nicht-sozial" bedeutet, sondern nur das Tun eines einzelnen der jeweiligen Trager des sozialen Geschehens meint). Und zwar die Selektion „Information" und die Selektion „Mitteilung" auf der Seite von Alter, die Selektion „Verstehen", sowie, nimmt man als Bezug ein dynamisches soziales System, die Selektion „Anschlussentscheidung" und die Selektion „Anschlussmitteilung" auf der Seite von Ego. Nur macht Luhmann (wie Weber) eben keine Ebenenunterscheidung, sondern verortet die Selektionen inklusive deren Herstellung als Komponente sozialer Systeme sozusagen auf einer Ebene, zusammen mit den anderen Komponenten (Struk-

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Die Formulierung von der „groben Linie" soil auf icwar nicht zu vernachlassigende, hier aber zunachst nicht naher zu erorternde Unterschiede zwischen den drei Konzepten hinweisen. Und sie soil vor allem darauf hinweisen, dass diese Konzepte von der Abstraktionsanlage her und in der angegebenen Referenz so nahe zusammen liegen wie sonst keine aus den drei Ansatzen. Bei alien drei Konzepten geht es um die grundlegende Bestimmung von Geschehnissen und Konstellationen, wie sie oben in Nr. sowie Anm. 7 skizziert wurden. — Allgemein zur Beurteilung von Abstraktionslagen der Konzepte verschiedener Ansatze siehe Greshoff 1999, S. 23-25.

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turen usw.). Daran lasst sich ein Unterschied 2u Esser verdeutlichen. Luhmann und auch Weber verwenden den Terminus so2iales System bzw. Gebilde im Vergleich zu Esser auf folgende Weise mit verschiedenen Merkmalen. Wahrend Luhmann — und fur Webers gegenseitige soziale Handlungen einer sozialen Beziehung kann man gleiches annehmen^^ — auch die Herstellung der einschlagigen Selektionen in sozialen Systemen verortet, ist das bei Esser nicht der Fall. Die Herstellung der Selektionen/Handlungen verortet Esser bei Akteuren (genauer: psychischen Systemen) auf der Mikroebene. V o n letzterem unterscheidet er auf der Makroebene soziale Systeme als sich reproduzierende bzw. sich wandelnde soziale Situationen. Auf die Verbindung zwischen beiden Ebenen wird gleich noch einzugehen sein. Festzuhalten ist, dass bei Esser die gerade genannte Herstellung kein Teil sozialer Situationen bzw. Systeme ist. (19) Diese unterschiedlichen Konzeptanlagen will ich per Negation verdeutlichen. Bedenkt man, dass Esser soziale und psychische Systeme als im System-Umwelt-Verhaltnis zueinander stehend begreift, konnte man meinen, dass das, was Esser bei den psychischen Systemen auf der Mikroebene ansiedelt, dem entspricht, was Luhmann und Weber in der Umgebung sozialer Systeme bzw. Beziehungen verorten. Es zeigt sich aber, dass letzteres nicht der Fall ist. Wie schon im vorstehenden Abschnitt dargelegt, kennen auch Luhmann und Weber eine Herstellung von individuellen Selektionen bzw. Handlungen, wie Esser sie auf der Mikroebene ansiedelt. Allerdings hat sie bei ihnen innerhalb sozialer Systeme bzw. Beziehungen ihren Platz. U m dies hinsichtlich Luhmanns Position zu erlautern: die Selektionen, die kommunikatives Geschehen ausmachen, werden in Luhmanns Sicht nicht von den psychischen Systemen in der Umwelt, sondern im bzw. vom sozialen System produziert, sonst waren diese Systeme ja nicht als autopoietisch zu charakterisieren; gleiches gilt fur die Herstellung der Strukturen sozialer Systeme, also fiir soziale Erwartun-

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Weber begreift in der bekannten — und auch beziiglich seiner Position ist 'zu betonen: methodisch gemeinten - Reduktionsiiberlegung im Kategorienaufsatz das Einzelindividuum und sein Handeln ja als unterstes „Atom" sozialer Gebilde (Weber 1973, S. 439). Dass er die Herstellung solcher Handlungen durch Individuen ebenso in sozialen Gebilden verortet, wird sehr schon deutlich in seinem Beispiel einer sozialen Beziehung „Tausch" zwischen einem „Wilden" und einem Europaer (Weber 1973, S. 331 f) sowie bei seinen Uberlegungen zur Identitat und zum Wandel von Ordnungen des sozialen Gebildes „Zweckverein" (Weber 1973, S. 449). — Man muss hier noch klar sagen, dass Essers Einschatzung von Webers Konzept „soziale Beziehung" als eine spezieUe Form sozialen Handelns, „die insbesondere bestimmten Festiegungen und gewissen ... Normierungen und institutionellen Regeln folgt" (Esser 2000a, S. 16), eine Fehleinschatzung ist. „Soziale Beziehung" ist bei Weber viel abstrakter angelegt siehe meine Einordnung „der groben Linie nach" — und nicht auf die gerade zitierten Punkte fixiert Grundlegend zum Thema „soziale Beziehung" bei Weber siehe Greshoff 2006a.

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gen.2^ Es ware speziell hinsichtlich Luhmann noch genauer zu diskutieren, in welchem Verhaltnis das, was er als die „Herstellungsinstan2" dieser Selektionen anfiihrt — das soziale System/die Kommunikation, Alter und Ego —, zu dem steht, was Esser als Produktionsinstanz annitnmt, namlich Akteure in Ausschnitten, die er psychische Systeme nennt. Aber das muss an anderer Stelle erfolgen (bzw. ist dort bereits erfolgt; siehe Greshoff 2005, 2006). Der Punkt, auf den es mir fiir eine Zuordnung der drei Konzepte hier ankommt, ist der: (20) Das, was die drei als soziales Gebilde begreifen, ist in folgender Weise unterschiedlich zugeschnitten: Essers soziale Gebilde umfassen merkmalsmaBig gesehen weniger als die von Luhmann und Weber. Dieses „weniger" betrifft bei Esser die individuellen Produktionen des operativen Geschehens sowie der (strukturrelevanten) Erwartungen und Bewertungen. Das, was Essers soziale Gebilde ausmachen, machen auch die von Luhmann und Weber aus, aber bei ihnen kommt noch das hinzu, was bei Esser nicht zu diesen Gebilden gehort. Aber das, was bei den beiden dazu kommt, fehlt in Essers Konzept des So^alen nicht, sondern wird dort nur anders verortet, namlich auf der Mikroebene und als Umwelt zu dem, was er als soziales Gebilde begreift.^^ Wenn Esser schreibt: ,^lle sozialen Vorgange ... sind ... letztlich nichts anderes als Spezialfalle von typischen Sequenzen dieses Dreierschrittes" (Esser 2004a, S. 274), dann meint er mit „Sequenzen dieses Dreierschrittes" die iterative Abfolge der Logik der Situation, der Selektion und der Aggregation, die als MakroMikro-Makro-Prozess im MSE konzeptualisiert wird. Die Produktion des Selektions- und Handlungsgeschehen der Mikroebene, welche er psychischen Systemen zuordnet, ist unter dem gerade zitierten „soziale Vorgange" ebenso mitgemeint wie der Phanomenbereich, welchen er als soziales System begreift. Kurz und biindig kann man dann beziiglich des sen, was als Soziales bei den Dreien im Zentrum steht, folgende Zuordnung treffen: das, was Esser mit dem MSE konzeptualisiert, entspricht dem, was Luhmann und Weber mit sozialem System bzw. sozialer Beziehung in den Blick nehmen. Man hat es also lediglich mit einer unterschiedlich verteilten Konzeptualisierung auf zwei Ebenen bei

Essers Annahme, dass bei Luhmann dessen psychische Systeme die Kommunikationen erzeugen, trifft also ebenso wenig 2u wie sein Verstandnis von Autopoiesis als Vorgang der wechselseitigen Hervorbringung der psychischen und sozialen Systeme (Esser 2001, S. 493). Das wird, schaut man sich an, wie Esser in expUziter Anlehnung an Luhmann „Kommunikation" konzeptualisiert (Esser 2000a, S. 288f, S. 292f), im dort - und in Nr. 28 - verwendeten Schaubild sehr anschaulich. Auch seine einschlagigen Bestimmungen sind ganz deutHch: „Soziale Systeme prozessieren ... nur als (aggregierte und daher emergente) Folge der Selektionen von Akteuren. Soziale Systeme selegieren als ,soziale Systeme* selbst nichts" (Esser 1993, S. 516). Das aber machen die psychischen Systeme auf der Mikroebene bei ihrer „Produktion der Kommunikation" (Esser 1993, S. 517). Fiir die kulturellen Systeme, die Esser neben den sozialen und psychischen Systemen unterscheidet, gilt iibrigens auch, dass sie selber nichts selegieren.

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Esser bzw. auf einer Ebene bei Luhmann und Weber von — der groben Linie nach — gleichen Vorgangen zu tun. Geht man von einer solchen Zuordnung aus, kann man den methodischen Grund fur Essers Makro-Mikro-Schema an konkreteren Konzepten von Weber und Luhmann nun etwas nachvollziehbarer exemplifizieren. Dafur ist wieder etwas auszuholen. (21) In der protestantischen Ethik formuliert Weber die These, dass die ,,heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ... ein ungeheurer Kosmos (ist, R.G.), in den der einzelne hineingeboren wird und der fiir ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabanderHches Gehause, in dem er zu leben hat, g'tg^ben ist. Er zwingt dem Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des ,Marktes' verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird okonomisch ebenso unfehlbar eUminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will" (Weber 1993, S. 16). Mit dieser historischen These lasst sich ein systematischer Kern verbinden. Aus ihr kann man namlich die Situationslogik heraus lesen, die zur Grundlogik von Essers MSE gehort. D e n n was Weber fiir das soziale Gebilde „moderner Kapitalismus" und die ihm „ausgesetzten Einzelnen" beschreibt, ist genau eine solche Makro-Mikro-Konstellation, wie sie Essers MSE zugrunde liegt.^^ Man kann diese KonsteUation, die damit bei Weber angenommen wird, in Anlehnung an das MSE folgendermaBen skizzieren: Soziale Gebilde — also ein Makrophanomen, in Webers These das, was er modernen Kapitalismus nennt —, die aus von jeweiHgen Akteuren getragenen sozialen Strukturen (Normen usw.) sowie dem an diesen Strukturen orientierten Zusammenhandeki dieser Akteure bestehen, bilden fur den einzelnen Akteur — also ein Mikrophanomen, in Webers These der einzekie Fabrikant oder Arbeiter —, der sich einer solchen Situation gegeniiber sieht und in ihr handeki will, eine im wortHchen Sinne wirksame KonsteUation. Das zeigt sich darin, dass der Akteur fiir sein beabsichtigtes Tun die Strukturen und das Zusammenhandeki des Gebildes rezipiert und sich daran orientiert — im positiven wie im negativen. D.h. „orientieren" kann heiBen, dass er den rezipierten Strukturen folgt oder davon abweicht. Makrophanomene „wirken" aber nicht nur in der

Es gibt noch eine bekanntere Stelle bei Weber, aus der diese Situationslogik heraus gelesen werden kann. „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, — wir miissen es sein. Denn indem die Askese aus den Monchszellen heraus in das Berufsleben iibertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie jenen machtigen Kosmos der modernen, an die technischen und okonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden — nicht nur der direkt okonomisch Erwerbstatigen - , mit iiberwaltigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs vergliiht ist" (Weber 1993, S. 153).

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gerade ski22ierten Art auf Akteure, sondern sie werden auch durch das Handeln der Akteure ^,hemrkf\ d.h. sie werden dariiber reproduziert bzw. gewandelt. Dass Weber ein solches „Bewirktwerden'* von sozialen Gebilden durch individuelles Handeln im Blick hat, ist gleich zu belegen. Zur Hinfuhrung ist zunachst auf eine weitere Parallele zwischen Weber und Esser hinzuweisen. Diese betrifft das Explanandum, um das es Weber an den gerade zitierten Stellen aus der protestantischen Ethik geht. Dazu schreibt er: „Damit jene der Eigenart des Kapitalismus ,angepaBte' Art der Lebensfuhrung und ,Berufs'-Auf fas sung ,ausgelesen' werden, liber andere den Sieg davontragen konnte, musste sie offenbar zunachst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschen^f^^^/? getragen wurde. Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklarende" (Weber 1993, S. 17). Genau auf ein derartiges zu erklarendes Makrophanomen „Entstehung der Anschauungsweise einer G r u p p e " im Sinne von „Entstehung der Kultur, Regeln und Interessen eines sozialen Gebildes" zielt auch das Essersche MSE mit seinem Makro-Mikro-MakroVerfahren. (22) Dass man nun bei Weber, wie in den vorstehenden Abschnitten gezeigt werden soUte, nicht nur den „Makro-Mikro-Strang" finden kann,^^ sondern auch den Mikro-Makro-Strang, lasst sich von verschiedenen Stellen her erschHeBen. So etwa von seinen Ausfiihrungen zum Kampf- sowie AusleseBegriff in den „Grundbegriffen" her (darauf rekurriert Weber auch in der protestantischen Ethik), Weber bezieht „Kampf" und „Auslese" dort auf soziale Beziehungen, betont dabei aber, dass dies nur in einem iibertragenen Sinne mogHch sei, denn „,Beziehungen' existieren ja nur als menschHches Handeln bestimmten Sinngehalts. Und eine ,Auslese' oder ein ,Kampf zwischen ihnen bedeutet also: daB eine bestimmte Art von Handeln durch eine andere, sei es der gleichen oder anderer Menschen, im Lauf der Zeit verdrdngt wird. Dies ist in verschiedener Art mogHch. MenschHches Handeln kann sich a) hewufit darauf richten: bestimmte konkrete, oder: genereU bestimmt geordnete, soziale Beziehungen, d.h. das ihrem Sinngehalt entsprechend ablaufende Handeln zu stbren oder im Entstehen oder Fortbestehen zu verhindern ..., oder durch Pramiierung des Bestehens der einen Kategorie zuungunsten der andern bewuBt zu beeinflussen: EinzeHie sowohl wie viele verbundene Einzelne konnen sich derartige Ziele setzen. Es kann aber auch b) der ungewollte Nebenerfolg des Ablaufs sozialen Handelns und der dafiir maBgebenden Bedingungen aUer Art sein: daB bestimmte konkrete, oder bestimmt geartete, Beziehungen (d.h. stets:

Ohne dass, um es noch mal zu betonen, Weber eine solche Ebenenunterscheidung explizit benutzt oder darauf reflektiert; vgl. in diesem Zusammenhang mit diesbei^iiglich aQerdings etwas anderen Akzenten Albert 2005 sowie Schluchter 2005.

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das betreffende Handeln) eine abnehmende Chance haben, fortzubestehen oder neu zu entstehen" (Weber 1976, S. 21). Wenn von Weber in den vorstehenden Aussagen auch nicht genauer spezifiziert wird, wie man sich vom Ablauf her vorzustellen hat, dass soziale Beziehungen durch individuelles Handeki reproduziert oder gewandelt werden konnen, die „Wirkrichtung" von Mikro auf Makro, wenn man die sozial giiltigen Strukturen einer sozialen Beziehung sowie das dadurch orientierte Zusammenhandeln, auf deren bzw. dessen Anderung abgezielt wird, als Makro- und „individuelles (menschliches) Handeln" als Mikrophanomen konzipiert, ist doch deutlich erkennbar.^^ Und es macht keine Miihe auszubuchstabieren, wie (auch) iiber einen solchen Mikro-Makro-Strang nach und nach das entstehen kann, was Weber erklaren will, nanJich die (gewandelte) Anschauungsweise einer Gruppe. Die angesprochene fehlende Spezifizierung ist mogUcherweise auch kein Zufall, denn Weber sah wohl keinen Sinn darin, diese „Mikro-MakroWirkrichtung" zu systematisieren. Nach den Griinden zu fragen, warum auf dem von ihm dargelegten Wege ein soziales Gebilde fort existierte oder gesprengt wurde, scheint ihm deshalb wenig aussichtsreich, well „diese Griinde so mannigfaltig sind, daB ein einheitlicher Ausdruck dafiir unpassend erscheint" (Weber 1976, S. 21). Man muss hier aber bedenken, dass Weber an dieser Stelle expUzit mit Bezug auf „jeden ein^lnen Fall" argumentierti MogUcherweise dachte er fiir typische Falle anders.^^ (23) Bevor nun die im vorstehenden skizzierte Position Webers mit den Intentionen des Esserschen MSB kontrastiert wird (siehe Nr. 26), soil zuvor Luhmanns Position einbezogen werden und dafiir dann gleiches geschehen. HinsichtHch Luhmann werden exemplarisch Konzepte aus seiner Evolutionstheorie herangezogen. Dabei soil es primar um den Aspekt gehen, dass deren

Auch in friiheren Schriften lasst sich belegen, dass Weber diese „Wirkrichtung" im Blick hat. Etwa im Kategorienaufsatz in seinen Uberlegungen zum Zweckverein: „Die im Verein VergeseUschafteten konnen Ordnungen durch neues Vergesellschaftungshandeki bewuBt andern" (Weber 1973, S. 449). Schaut man sich allerdings an, welche typischen Falle er iiber sein Erklarungsargument in den Grundbegriffen erfassen konnen will, dann sind dies Handlungen in ihren Sinnzusammenhangen (Stichwort „verstandlicher Handlungstypus" bzw. „so2iologische Regeki"; siehe Weber 1976, S. 4-6 sowie unten Nr. 52). Auch fiir seine Erklarungsmethode der „objektiven Moglichkeit" scheint die individuelle Ebene der maBgebliche Bezug zu sein: „Ein ,Moglichkeits'urteil ... bedeutet also stets die Bezugnahme auf Erfahrungsregeki ... hier die Bezugnahme auf ein positives Wissen von ,Regeln des Geschehens', auf unser ,nomologisches' Wissen, wie man zu sagen pflegt... Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeki, insbesondere iiber die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen (,nomologisches Wissen*)" (Weber 1973, S. 276f). Andererseits zielen seine eben zitierten Aussagen zu Kampf/Auslese sozialer Beziehungen auf so etwas wie Makroerklarungen (vgl. ahnlich Schmid 1998, S. 41-45). Moglicherweise woUte Weber auf eine ihm nicht weiter systematisierbar scheinende Weise, namlich vermittels einer Art von Aggregation mehrerer soziologischer Regeln, Erklarungen von Entwicklungen sozialer Gebilde vornehmen konnen.

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eigentliche Leistung „in der theoretischen Spezifikation des Problems der Strukturanderung" besteht (Luhmann 1997, S. 575). Strukturanderung beschreibt er in einer allgemeinen Aussage so: „Ereignisse, die immer wieder vorkommen, werden gelegentUch (aber aufs ganze gesehen haufig genug) durch Prozesse zirkularer Abweichimgsverstarkung benutzt, um Strukturen zu bilden, die es vorher nicht gab ... Wenn die Kommunikation ... eine abweichende Variante aktualisiert, kann diese zur Struktur gerinnen" (Luhmann 1997, S. 476f). Meine These ist, dass das, was Luhmann als Abweichungsverstarkung/Strukturgerinnung skizziert, der groben Linie nach nichts anderes ist als das, was Esser als Strukturwandel mit seinen Konzepten als iteratives Makro-MikroMakro-Geschehen erfassen will. (24) Diese Zuordnung ist nun allerdings insofern etwas schwierig verstandHch zu machen, weil Luhmann sehr „kompakt" argumentiert^^ und man diese Kompaktheiten analytisch auflosen muss, um Relationierungen zu ermogHchen. Bevor dies zumindest ansatzweise geschieht,-^^ ist kurz Luhmanns Vorstellung von Evolution zu vergegenwartigen, wie er sie iiber die Darstellung der Ablaufe „Variation", „Selektion" und „Restabilisierung" vornimmt: „Die Variation erzeugt ... eine Differenz, namlich im Unterschied zum bisher UbHchen eine Abweichung. Diese Differenz erzwingt eine Selektion — gegen oder fiir die Innovation. Die Selektion wiederum erzwingt, wenn sie das Neue wahlt, Kaskaden von Anpassungs- oder Abgrenzungsbewegungen im System, und, wenn sie es beim Alten belasst, Bestatigungen fiir diese Option, da das vordem Selbstverstandliche kontingent geworden ist" (Luhmann 1997, S. 451).^^^ Da es mir hier um Strukturanderung geht, muss, wie aus dem gerade Zitierten deutlich wird, die Evolutionskomponente „Selektion" erlautert werden: „Die Selektion betrifft die Strukturen des Systems, hier also Kommunikation steuernde Erwartungen. Sie wahlt an Hand abweichender Kommunikation solche Sinnbeziige aus, die Strukturaufbauwert versprechen, die sich fiir wiederholte Verwendung eignen, die erwartungsbildend und -kondensierend wirken konnen" (Luhmann 1997, S. 454). Das ist wieder sehr kompakt formuUert, und wie man sich Auswahlen vornehmende Selektionen genauer vorzustellen hat, was dabei ablauft und passiert, bleibt bei Luhmann einigermaBen dunkel. Im Zusammenhang mit seiner Aussage, dass „man davon ausgehen (muB, R.G.), daB Systeme ihre Strukturen nur mit den eigenen Operationen andern konnen" (Luhmann 1997, S. 477) — soziale Systeme andern sie also mit Kommumkationen —, findet

An anderer Stelle habe ich statt „kompakt" etwas polemisch von „grobschlachtig" geschrieben (Greshoff 2006). Ausfiihrlich zu solchen Auflosungen siehe etwa Greshoff 1999, 2003, 2005. Mit dem zuletzt genannten Systemgeschehen („Kaskaden von" usw.) ist der Punkt „Restabilisierung" gemeint; fiir eine ausfiihrlichere Skizze der drei Evolutionskomponenten siehe Luhmann 1997, S. 454f.

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man aber einen Hinweis bei Luhmann, der etwas mehr Aufklarung verspricht. Dazu ist 2u vergegenwartigen, dass Kommunikation, reproduktiv gesehen, aus aneinander anschUeBenden Kommunikationen besteht. Solches reproduktives soziales Geschehen setzt sich dann iterativ aus den Selektionen Information, Mitteilung, Verstehen und Anschlussentscheidung zusammen, die jeweils von den Alters und Egos als Tragern eines sozialen Systems produziert werden. Es sei nun exemplarisch angenommen, dass eine von Alter mitgeteilte Information von Ego verstanden wird und Ego liber das Verstehen auch erschHeBt, welche sozialen Strukturen (also Erwartungen) mit der mitgeteilten Information einhergehen. Egos auf das Verstehen folgende Anschlussselektion, mit der Ego liber Annehmen oder Ablehnen des Mitgeteilten entscheidet, findet somit im Horizont der auf dem gerade skizzierten Wege erschlossenen Erwartungen statt. Zu einer solchen Anschlussentscheidung im Horizont derart identifizierter Erwartungen schreibt Luhmann: „Die Erwartung gibt die MogHchkeit, die Entscheidung nicht nur zu entscheiden, sondern sie auch zu beobachten (zu antezipieren, zu erinnern) als etwas, was in bezug auf die Erwartung einen Unterschied ausmacht, namlich die Erwartung bestatigt, bekraftigt, reproduziert oder umgekehrt sie durchbricht, gefahrdet und damit eine abweichende Strukturbildung nahelegt" (Luhmann 1988, S. 283). Es sei nun weiter angenommen, dass Egos Anschlussentscheidung, iiber die er eine Information aufbaut, welche er intendiert mitzuteilen, eine, wie Luhmann schreibt, „abweichende Strukturbildung nahelegt". Wird die intendierte Mitteilung dann ausgefiihrt, wird diese nahe gelegte Strukturabweichung fiir die Gegeniiber von Ego iiber dessen Verhalten „overt". Diese Strukturabweichung werde von diesen Gegeniibern, so die weitere Beispielkonstruktion, iiber deren Verstehen, Anschlussentscheidungen, mitgeteilte Informationen nicht nur positiv aufgenommen, sondern noch verstarkt. Dies fiihre bei den Tragern des sozialen Geschehens zu einem nachhaltigen Wandel der bisherigen Strukturen und schUeBHch zu einem gewandelten sozialen System, welches sich iiber diese Strukturen abgrenzt. (25) Das im Vorstehenden etwas aufgeschliisselte Geschehen entspricht dem, so meine These, was Luhmann meint, wenn er, wie gerade (Nr. 24) zitiert, formuUert, die Selektion wahle etwas aus bzw. Systeme anderten ihre Strukturen nur mit ihren Operationen. Und meine weitere These ist, dass Esser — nicht nur, aber auch — genau ein solches Geschehen vor Augen hat, welches er mit seinem MSE kausal erklart. Will man zeigen, wie letzteres vorzustellen ist, muss man den im vorstehenden Abschnitt aus der Sicht von Luhmanns Ansatz skizzierten Geschehensablauf mit einer etwas anders zugeschnittenen Begrifflichkeit darsteUen. Luhmanns sozialsystemische Operationen und Strukturen sind dann namlich, wie oben (Nr. 18-20) bereits erlautert, auf Makro- und Mikroebene zu „verteilen" — was mogHch ist, ohne dass sich, so meine These, da-

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dutch fur die 2u erfassende „Sache" etwas verandert (wiederum der groben Linie nach).-^^ Fiir eine solche „Verteilung" ist als „Makro" folgende Konstellation anzunehmen: von den Alters und Egos umgesetzte und aneinander anschlieBende Mitteilungen sowie die damit verbundenen (und iiber die Mitteilungen zum Ausdruck kommenden) sozialen Strukturen (Erwartungen). Als „Mikro" ist ein sich Verorten der einzelnen Trager sozialen Geschehens (Alter bzw. Ego) in einer MakrokonsteUation der gerade skizzierten Art anzusetzen, die insofern, liber das „sich verorten wollen", auf den einzelnen Trager „wirkt".'^''^ Dieses Verorten geschieht operativ mittels Unterscheidungen und Bezeichnungen, wie sie Selektionen ausmachen. Im einzelnen: Alter oder Ego deuten die Situation, und zwar iiber ihr Verstehen einer Mitteilung, also ihr Identifizieren eines Ansinnens oder dergleichen eines Gegeniibers (mittels der Unterscheidung von Information und Mitteilung). Damit einher geht das Identifizieren der Strukturen (Erwartungen), in deren Horizont Information und Mitteilung vom Gegeniiber selegiert wurden, sowie weiter, so sei hier angenommen, ein an diesen (oder modifizierten) Erwartungen orientiertes anschlieBen Wollen an die Mitteilung bzw. an die mitgeteilte Information des Gegeniiber, und zwar mit einer eigenen Mitteilung einer Information. Eigene Mitteilung einer Information bedeutet zunachst Wahlen einer Information und weiter das Mitteilen der Information durch Wahl und Umsetzung eines Mitteilungsverhaltens, welches die Information „transportiert". Durch dieses Umsetzen wird die Mitteilung overt, d.h. sie geht dann in Makro ein und reproduziert oder wandelt es dadurch. In seiner jeweiHgen Beschaffenheit wirkt dieses reproduzierte/gewandelte Makro dann auf ein anderes Alter oder Ego, d.h. es setzt ein weiteres sich Verorten eines Tragers des sozialen Geschehens in diese neue MakrokonsteUation ein mit einem im Prinzip gleichen Verlauf wie gerade beschrieben. Usw., usf. D e n Fall, den Luhmann wie oben zitiert andeutet, namlich dass Alter oder Ego in ihrer Anschlussentscheidung eine identifizierte Erwartung „durchbrechen" (wollen) und das in ihrer Mitteilung auch zum Ausdruck bringen, dies somit in Makro eingeht und dariiber, wie Luhmann es nennt, „eine abweichende Strukturbildung nahelegt" (Luhmann 1988, S. 283) und schHeBlich einen Strukturwandel auslosen mag, kann man sich leicht in die gerade skizzierten

Konzeptuelle Unterschiede zwischen Esser und Luhmann, etwa die Systembegrifflichkeit oder die Konzeptualisierung der Alters und Egos sowie deren Selektionen als subjekthaft bzw. nicht-subjekthaft betreffend, werden damit natiirlich nicht geleugnet. Darauf kann an dieser SteUe aber nicht naher eingegangen werden; ausfuhrlicher dazu siehe etwa Greshoff 2005. Eine solche Situationslogik ist Luhmann keineswegs fremd (Luhmann 1984, S. 229). Siehe ausfuhrlicher dazu Schneider 2003, der dort mehr ParaUelen zwischen Esser und Luhmann auflistet, als ihm klar zu sein scheint.

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Makro-Mikro-Makro-Verlaufe eingebaut denken. Von dahet kann man die These plausibel machen, dass derart dynamisierte Makrophanomene und solcherart iterative Mikrophanomene zusammengenommen nichts anderes sind als ein dynamisches Sozialsystemgeschehen im Luhmannschen Sinne — weiterhin der groben Linie nach. (26) D e r Vorteil, den Esser mit einer derartigen Verteilung sozialer Phanomene und Geschehnisse auf die Makro-Mikro-Makro-Verlaufe des MSE verbindet, ist der, dadurch iiber ein standardisiertes Erklarungsargument zu verfiigen, dass durch seine analytischen Unterscheidungen kontrolliert Ablaufe und Kausallinien nachzeichnen lasst, um Transformationshypothesen aufstellen und dariiber Makrokonstellationen erklaren zu konnen.^"^ Bei Weber und Luhmann ist ihm dieser Punkt zu wenig ausgepragt.'^^ Das „Auseinanderziehen" sozialen Geschehens iiber die Ebenendifferenzierung schafft die Moglichkeit, z.B. die fiiir Aufstellung von Transformationsbedingungen relevanten Sachverhalte (etwa Framingprozesse) in den Blick nehmen und erklaren zu konnen, u m sie dann, wie oben beschrieben (Nr. 16), in das Erklarungsinstrument „Transformationshypotliese" einbauen zu konnen. Das Plus des MSE fur die Erfassung sozialer Phanomene konnte man mit Esser knapp so umreiBen: kein Verlust, was die Beschreibungsmoglichkeiten sozialen Geschehens angeht, aber Gewinne auf der Erklarungsseite. Und man konnte noch hinzufugen: u m vor allem keine Defizite auf der Beschreibungsseite zu haben, ist es notwendig, Konzepte verschiedener Ansatze zu integrieren. Was aus dieser Integration resultiert, ist das MSE in der konkretisierten Form, von der oben schon ver-

„Das Modell der soziologischen Erldarung edaubt es ..., in flexibler und gleichzeitig gezielter Weise mit Anomalien und unerwarteten Fehlern umzugehen. Das ist eine Folge der ... Trennung der Erklarung in einen makro- und einen mikrotheoretischen Tell und die gezielte Betrachtung von Fehlern in den beiden Ubergangen zwischen diesen Ebenen" (Esser 2000b, S. 343). Webers Position wurde oben (Nr. 22) bereits erortert Hinsichtlich Luhmann ist auf dessen Aussage zu verweisen, dass fur „die soziologische Betrachtungsweise und besonders fur systemtheoretische Analysen ... Kausalerklarungen so schwierig (sind, R.G.), daB sie auf der Ebene allgemeiner theoretischer Aussagen nicht ratsam sind ... Entsprechend kann die Theorie gesellschaftlicher Evolution keine Theorie sein, die es sich vornimmt, den Verlauf der Geschichte oder auch nur besttmmte Ereignisse kausal 2u erklaren. Die Zielvorstellung ist nur, ein theoretisches Schema fiir historische Untersuchungen bereitzustellen, das unter giinstigen Umstanden zur Einschrankung der moglicherweise kausal relevanten Ursachen fiihren kann" (Luhmann 1997, S. 570). Das ist weniger, als Weber mit seiner Methode der „objektiven Moglichkeit" intendiert, die ja zur Gewichtung kausaler Wahrscheinlichkeitsaussagen fuhren soil. Luhmanns Position, wie sie im Zitat zum Ausdruck kommt, passt gut zu seiner funktionalen Methode. Denn damit sollen ja, eingegrenzt durch jeweilige Bezugsprobleme, allein mogliche Kausalzusammenhange erfasst werden. Um solche Moglichkeiten zu wissen, ist sicher wichtig, Ein weiterer Schritt ist es aber, derartige Moglichkeiten zu gewichten, um sie in wissenschaftliche Erklarungsargumente einbauen und dariiber Hypothesen iiber empirische Kausalzusammenhange bestatigen oder verwerfen zu konnen.

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schiedentlich die Rede war. Das ist nun in einigen Hauptlinien kurz vorzustellen.

5 D i e Hauptlinien des Essetschen M S E (27) Zunachst ist zu vergegenwartigen, dass Essers MSE verschiedene anthropologische und evolutionar-historische Annahmen impliziert, die mit seinem Sozialitatsverstandnis folgendermaBen verkniipft sind. Grundlage der alltaglichen Reproduktion der Menschen ist die Produktion von Ressourcen und deren Verteilung. Dieser Annahme Hegt ein weiter Ressourcenbegriff zugrunde; alle moglichen materiellen wie immateriellen Dinge konnen Ressourcen sein. Z u m langerfristigen Uberleben der Menschen miissen Produktion wie Verteilung sozial gestaltet werden. Das ist der Hintergrund fur die Entstehung sozialen Handelns bzw. sozialer Situationen. „Beachtung", so Esser, „finden die anderen Menschen erst dann, wenn sie fiir das eigene Handeln wichtig werden. Und das werden sie erst dann, wenn sie Kontrolle liber interessante Ressourcen haben. Erst diese Verbundenheit iiber die gegenseitige Kontrolle interessanter Ressourcen erzeugt den Hintergrund fiir das soziale Handeln" (Esser 2000a, S. 8, 2000, S. 31). Soziale Situationen haben also eine materiell-strategische Struktur als Grundlage und beruhen daher letztlich immer auf Interdependenzen folgender Art: Menschen sind aus verschiedensten Griinden an Ressourcen interessiert, iiber die sie selber nicht verfugen, die aber jeweilige Gegeniiber kontrollieren. Das bringt ein Motiv zum Austausch von Ressourcen hervor — und damit soziale Situationen und soziales Handeln (welche(s), je nach dem in welche Richtung sich der dem Menschen eigene „Grundzug der antagonistischen Kooperation" auswirkt (Esser 2001, S. 534), verschiedene Formen annimmt). Fiir diese Situationen sind drei Arten sozialer Strukturen typisch,^^ die sich in solchen Interdependenzzusammenhangen iiber das handelnde Zusammenwirken von Akteuren ebenso herausbilden, wie sie dieses Zusammenwirken als Rahmen ermoglichen (Esser 1999, S. 29-57, 2000, S. 264f):

^^ Was Essers abstrakt unter „Struktur" bzw. „Stfuktur fiir den Bereich des Sozialen" versteht, ist alles andere als klar. Einerseits wird man als soi^iale Strukturen „sozial gultige Bewertungen und Erwartungen" (nebst zugehoriger MateriaHtaten) begreifen konnen (diese stehen im Folgenden im Vordergrund), aber auch „soziale Verteilungen" wie Scheidungsraten, Eiakommens- oder Stimmenverteilungen (wiederum nebst zugehoriger Materialitaten). Was der Oberbegriff fiir beides bei Esser ist, bleibt dunkel. Eine Aussage wie die fi)lgende ist diesbeziiglich jedenfaUs wenig aussagekrafiig: „Die Strukturen der ... sozialen Systeme und Gebilde ganz allgemein ... bestehen nicht irgendwie unabhangig von den Handlungen der individuellen Akteure, sondern sind deren immer wieder neu konstituiertes und konstruiertes, oft genug natiirlich auch unintendiertes Ergebnis ... Alle Strukturen sind nichts als Prozesse" (Esser 2000, S. 310).

Das Essersche „ModeU der soziologischen Erklamng"

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i) Zum einen spielen sich iiber die Interdependenzen bestimmte Formen sozialer Produktions- und Verteilungsweisen von Ressourcen ein, die so genannten „materiellen Interessen und Opportunitaten" (Esser 2000a, S. 8-14). Hier wird festgelegt, um welche Ressourcen es jeweils geht und wer iiber deren Produktion/Verteilung wie bestimmen kann. ii) Weiter werden solche Zusammenhange liber sozial giiltige Regeln (Verpflichtungen, Normen usw.) fur das Handeln der Akteure institutionell verankert. Dadurch erhalten die materiellen Konstellationen eine informelle oder formelle Verfassung (Esser 2000c, S. 6). iii) SchlieBlich bilden sich in derart strukturierten Situationen kulturelle Rahmungen („Frames'*), d.h. es entwickeln sich bei diesen Akteuren gedankliche Modelle als kollektiv giiltige Beschreibungen jeweiliger sozialer Situationen. In diesen Frames, die mit bestimmten Symbolen markiert sind, wird die Situation gemaB der in ihr giiltigen materiellen und institutionellen Strukturen auf zweierlei Weise reprasentiert und dariiber von anderen Situationen abgegrenzt. Zum einen wird darin beschrieben, worum es in einer Situation geht, was dort das Oberziel ist. Letzteres definiert den „Code" eines Frame, also die leitenden Interessen und, damit verbunden, die Festlegung von Bewertungen moglicher Handlungsergebnisse. Zum anderen enthalt der Frame auch Handlungsmodelle („Skripte''). Solche Skripte sind Programme zur Umsetzung des Codes. Als Erwartungen iiber die Wirksamkeit typischer Mittel beinhalten sie Vorstellungen ganzer Ablaufe von typischen Handlungen und deren Folgen (Esser 2001, S. 263). Die besondere Relevanz von Frames liegt darin, dass sie es den Akteuren ermoglichen, sich in sozialen Situationen zu orientieren. Uber die Selektion von Situationsmodellen konnen die sozial giiltigen („objektiven'') Strukturen identifiziert und dann — sei es beibehalten oder gewandelt — den individuellen Handlungswahlen und -ausfiihrungen zugrunde gelegt werden (Esser 2001, S. 1-10). Wie auf diese Weise die Beschaffenheit sozialer Gebilde von den Akteuren sowohl rezipiert als auch reproduziert (oder gewandelt) wird, ist noch naher zu erlautern. (28) Den in den vorstehenden Abschnitten beschriebenen Zusammenhang fundiert Esser mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen. Dessen — auch evolutionstheoretische — Implikationen konnen hier nur folgendermaBen angedeutet werden: Der letzte Bezugspunkt menschlicher Handlungen ist die Reproduktion des eigenen Organismus. Diese Reproduktion erfahrt der Organismus als Erlebnis des zutragUchen Funktionierens, und dieses Erlebnis bezeichnet Esser als „Nutzen". Die fiir die Nutzenproduktion notwendigen Selektionen und Handlungen werden nach der universalen Selektionsregel der Nutzenmaximierung vollzogen. Universal sind auch die beiden Grundbediirfnisse, von deren Befriedigung die Nutzenerzeugung abhangig ist: „soziale Wertschatzung" und

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„physisches Wohlbefinden". Das Bedxirfnis nach physischem Wohlbefinden deckt die Sicherung der biologischen Reproduktion des Organismus ab, das nach sozialer Wertschatzung die sozial vermittelte Handlungssicherheit. Letzterer bediirfen die Menschen deshalb, weil es keine ausreichende genetische Steuemng ihres Handelns gibt (Esser 1999, S. 91-110). Die Kegel der Nutzenmaximierung als ein evolutionar bewahrtes Prinzip der „Logik der Selektion" ist nach Esser im Zusammenhang mit zwei Grundvariablen zu sehen, die fur die Reproduktionsbedingungen lebender Organismen von zentraler Bedeutung sind. Die eine betrifft die Beachtung der externen Bedingungen, wie sie die Umwelt jeweils vorgibt. Diese Bedingungen verweisen auf die Relevanz von Erwartungen iiber mogliche Folgen von mogHchen Selektionen. Und die andere betrifft die Beriicksichtigung der internen Funktionsbedingungen des Organismus. Dieser Punkt verweist auf die Relevanz von Bewertungen der Konsequenzen moglicher Selektionen. Die Reproduktionsbedingungen konnen nun in besonders effektiver Weise durch die gleichzeitige Beriicksichtigung beider Variablen in einer optimierenden Kombination erfiiUt werden, und zwar dahin gehend, „dass das Produkt der Sicherheit einer Erwartung und der H o h e der Bewertung in bezug auf die verschiedenen Folgen eines Handelns maximiert wird" (Esser 1993, S. 226). Diese Kombination begiinstigt den Reproduktionserfolg von Organismen, die bei ihren Selektionen dieser Regel folgen, gegeniiber anderen Organismen, die eine andere Strategic favorisieren. Von daher, so die These, hat sich diese Strategic iiber Organismen, die durch ihre Anwendung erfolgreich waren, als Maximierungsregel gegeniiber anderen Regeln durchgesetzt und bis heute als evolutionar stabile Strategic erwiesen. Soweit die Nutzenproduktion nicht durch rein individueU erzeugte Giiter befriedigt werden kann, entwickeln sich die eben skizzierten sozialen Konstellationen. Deren Erklarung dient dann das MSE. Die Anlage des MSE iiber zwei Ebenen und der Grund dafiir wurden oben (Nr. 14/15) bereits expliziert. Im Schaubild kommt diese Anlage dergestalt zum Ausdruck: Auf einer Makroebene werden soziale Situationen (Sit) als Sequenzen sozialen Handelns bzw. als Auspragungen sozialer Strukturen angesiedelt, wie sie sich als Prozess von einem Zeitpunkt Sito hin zu einem Zeitpunkt Siti (Sit2 usw.) entwickeln. Die einzelnen Akteure A und E,'^'^ die angesichts von und mit Bezug auf Situation Sito bzw. Siti diese iiber ihr Tun hin zu Siti bzw. Sit2 (usw.) verandern, werden einer Mikroebene zugeordnet (aus darstellungstechnischen Griinden wird die Mikroebene im Schaubild oberhalb und unterhalb der Makroebene eingezogen).

^"^ A steht fiiir einen Akteur Alter, E fiiir einen anderen Akteur Ego, H fiir deren Selektionen und Handlungen.

Das Essersche „Modell der soziologischen Erklarung"

HA

Sito

•

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A

Siti

^

\

Sit2

/ - • H E

•

HA

>•

Sit3

\ E

•

HE..

Schaubild: Das MSE nach Hairtmut Esser Im Folgenden soil nun etwas genauer dargestellt werden, wie man sich die Ebenenkon2eption vor allem mit Blick auf den Aggregationsvorgang vorzustellen hat. (29) Fiir die Umsetzung der Intention des MSE, namlich zu erklaren, wie das Geschehen auf der Makroebene sich auf das auf der Mikroebene auswirkt, u m dann dariiber erklaren zu konnen, wie das soziale Selegieren und Handeln der jeweiligen individuellen Akteure und dessen Folgen im Makrobereich „aggregierend" wirkt, wird das soziale Geschehen auf drei „Logiken" verteilt: i) Die „Logik der Situation" (Makroebene) betrifft zum einen die Beschaffenheit der Situation: das Zusammenhandeln der Akteure sowie die sozialen Strukturen, die auch die Grenze von sozialen Situationen bilden. Als Situationslogik interessieren Esser insbesondere die oben genannten drei typischen Strukturen. Die Relevanz der Situation besteht darin, dass deren Beschaffenheit auf die sie tragenden und sich in ihr verortenden Akteure „wirkt". D.h. iiber Zurechnungen und Deutungen machen die einzelnen Akteure sich ein Bild von der Situation und orientieren daran ihr Handeln — und zwar vor allem an den geltenden Strukturen, aber auch daran, wie das Handeln der anderen Akteure in der Situation von den Strukturen gepragt wird. U m dies en Sachverhalt — Makro wirkt auf Mikro — zu erfassen, werden zum anderen so genannte „Bruckenhypothesen" formuliert (Esser 1998). Mittels solcher Hypothesen wird beschrieben, wie die Beschaffenheit der Situation sich bei den einzelnen Akteuren als deren Erwartungen und Bewertungen niederschlagt und dariiber ihr Handeln pragt. Dies geschieht in folgender Form: die abhangigen Variablen der Situationsbeschreibung fungieren als die unabhangigen Variablen der im nachsten Schritt zugrunde gelegten Selektions- bzw.

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Handlungstheorie und bilden die Randbedingungen fur die Erklarungen des individuellen Tuns. Die Briickenhypothesen greifen auf diese Weise schon iiber zur jetzt folgenden „Logik der Selektion". ii) Die dadurch situationslogisch eingebettete „Logik der Selektion" (Mikroebene) betrifft dann vor allem zweierlei. Z u m einen werden hier die coverten (inneren) Selektionen erklart, iiber die sich die einzelnen Akteure in der Sitxiation orientieren, zum anderen deren overte, auf jeweilige Andere ausgerichtete Handlungen. Bei den coverten Selektionen ist zweierlei zu unterscheiden. Erklart wird einmal, wie die Akteure die Situation definieren, d.h. welches Modell der Situation — welchen Frame nebst welchem Skript — sie wahlen. Ferner wird erklart, welchen „Modus der Informationsverarbeitung" die Akteure ihrer Situationsdefinition zugrundelegen: ob die Situation, weil sie auf Grund der auBeren Anzeichen voUig vertraut erscheint, unreflektiert-automatisch eingeschatzt wird (as-modus) oder ob die Situation unbekannt und wichtig erscheint und daher Alternativen kalkuliert werden (rc-modus). Das overte Handeln wahlen die Akteure auf der Basis ihrer Situationsdefinitionen und fdhren es dann in der Situation aus. Sowohl die Erklarungen der Modell- und der Moduswahlen als auch die des overten Handekis erfolgen mittels der WE-Theorie. AUe diese Erklarungen sind bei Esser in seiner libergreifenden Handlungstheorie angesiedelt, namlich dem „Modell der Frame-Selektion" (MFS). Dieses ist der „Versuch, die ... strukturellen Gegebenheiten ... in ein handlungstheoretisches Argument einzubauen, so daB aus gewissen Konstellationen von Interessen, Institutionen und Ideen (damit meint Esser die drei typischen Strukturen sozialer Situationen, R.G.) hestimmte Handlungen der Akteure abgeleitet und (nomologisch) erklart werden konnen" (Esser 2003, S. 158, 2001, S. 308, S. 329 £). Der Wechsel von einem gewahlten Modell der Situation bzw. Modus der Informationsverarbeitxing zu einem anderen wird ebenfalls im Rahmen des MFS konzipiert und erklart. Dabei benutzt Esser die WE-Theorie auch in einem „nur formalen" Sinne, u m so die erwahnten unreflektiert-automatischen Selektionen als nicht-kalkulierende Selektionen beriicksichtigen zu konnen (Esser 2003, S. 159, 2006, ich komme darauf zuriick). iii) Die „Logik der Aggregation" (Makroebene) betrifft die Erklarung der Auswirkungen des individuellen Handelns auf das Makrogeschehen: iiber welche typischen Muster sich die vor allem strukturelle Beschaffenheit von sozialen Gebilden durch das Aggregieren (Relationieren, Zusammenfiihren usw.) von individuellen Handlungen und deren Folgen sukzessive und vielfach jenseits der Absichten und Einschatzungen der Akteure transformiert. Welche Kausallinien Esser mit diesem dritten Schritt des MSE in den Blick nehmen konnen will, ist fiir die aggregierende Transformation von sozialen Strukturen exemplarisch so vorzustellen. Angenommen sei eine soziale Situation, in der ein Akteur sich durch Framing orientiert und daran ausgerichtet handelt. Dieses Handeln

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geht itn Moment seiner Umsetzung fur andere Akteure erkennbar in die soziale Situation ein und verandert diese, so sei weiter angenommen, dahingehend, dass bislang giiltige Strukturen der Situation in Frage gestellt werden. Diese Veranderung wird von anderen Akteuren mittels Framingprozessen gedeutet und rezipiert, liber die sie die veranderte Situation reflektieren und ihre strukturrelevanten Erwartungen und Bewertungen der neuen Situation anpassen. Das anschlieBende overte Handeln dieser Akteure ist dann also durch entsprechend gewandelte Erwartungen/Bewertungen gepragt. Die durch ein Handeln sichtbar gewordene in Fragestellung von Strukturen wird also durch das Deuten/Rezipieren anderer Akteure und deren Handlungen aufgegriffen. Auf diese Weise kann es nach und nach aggregierend zu einer Verbreitung der Anderungen bei den die sozialen Gebilde tragenden Akteuren und schlieClich zu neuen kollektiv giiltigen Strukturen kommen. Warum es wichtig ist, u m Verlaufe von Strukturdynamiken in der gerade skizzierten Weise zu wissen, sie also — denn u m nichts anderes geht es ja dabei — im Prinzip ausbuchstabieren zu konnen, lasst sich so begninden. Wenn Strukturen sozialer Gebilde als sozial giiltige Bewertungen und Erwartungen — u m sich erst einmal hierauf zu beschranken — bei den Tragern sozialer Gebilde zu verorten sind, dann kann eine Anderung von Strukturen nur liber eine Veranderung von deren Erwartungen/Bewertungen erfolgen. Die Erklarung von Strukturwandel muss also auf Anderungen dieser Erwartungen/Bewertungen bei den Tragerinnen dieser Strukturen rekurrieren, und zwar auf Anderungen, die in sozialer Giiltigkeit miinden. Die Griinde fur jeweilige Anderungen sind also irgendwie immer an die Trager der Strukturen riickgebunden. Jenseits der Tragerinnen gibt es keine Strukturanderung. Erklarungen solcher Anderungen miissen also, auch um typische Muster fiir solche Wandlungsprozesse ausmachen zu konnen, auf die entsprechenden Selektionen der Akteure, iiber die dieser Wandel lauft und die ihn zur Folge haben, zuriickgreifen konnen — jedenfalls im Prinzip. Dabei kann man aber weder beim einzelnen Akteur beginnen — notwendig ist eine sozialsituativ-strukturelle Einbettung, wie sie iiber die „Logik der Situation" intendiert wird —, noch beim einzelnen Akteur stehen bleiben. Ein Wandel von Erwartungen/Bewertungen beim je einzelnen Trager ist zu wenig, u m sozial giiltig sein zu konnen. Strukturdynamiken im Horizont von sozialer Giiltigkeit sind daran festzumachen, dass eine geniigend qualifizierte Anzahl von Tragern des sozialen Gebildes fiir sich und ihre zum sozialen Gebilde gehorenden Gegeniiber davon ausgeht, und zwar gegenseitig irgendwie bestatigt davon ausgeht, dass „jetzt" die sei es gewandelten, sei es neuen Erwartungen/Bewertungen XY fiir ihre Orientierungen und Handlungen in diesem Gebilde maBgeblich sind. Das andert aber nichts daran, dass solche Wandlungsprozesse nicht als etwas Jenseits der Tragerinnen angenommen werden konnen. Anderungen werden stets iiber - wie zufallig oder gezielt, auf welchen falschen/richtigen

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Wahrnehmungen und Deutungen auch immei: benihend zustande gekommene(n) — Anderungen von Erwartungs-/Bewertungshaltungen dieser Trager prozessiert, die jeweiligen Gegeniibern wie gezielt/zufallig auch knmer vermittelt werden, was bei diesen zu Anderungen fuhren mag, die ihrerseits wieder entsprechend vermittelt werden, usw., usf. — bis es zu irgendwie gewandelten Strukturen kommt (Esser 2001, S. 489-518, 1999, S. 167-169). Verschiedenes muss also erklart werden konnen. Etwa: erste Wandlungen, die overt werden; das Prozessieren von Anderungen im sozialen Geschehen als zunachst ergebnisoffener Prozess; schHeBlich das Giiltigwerden von Veranderungen, also eine entsprechende Anerkennung und Bestatigung der Anderungen als sozial giiltige unter den Tragern des Gebildes. Alle diese Ablaufe und also auch das, was daraus letzdich als soziale Aggregation resultiert (und dann neuen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist), beruhen auf Selektionen und Handlungen der Akteure, die diese oder jene Griinde haben und sich aus diesen oder jenen Griinden ereignen. Will man typische Verlaufe von Veranderungen auf den erklarenden Begriff bringen, miissen dafur diese Geschehnisse — also Framingprozesse wie overte Handlungen — in geeigneter Weise analysiert und erklart werden konnen. In geeigneter Weise meint, dutch ihre analytische Einbettung in Aggregationsprozesse der im Vorstehenden skizzierten Art. Und eine solche Einbettung soil moglich werden mittels des Instrumentariums der Trans formationshypothesen, wie es oben (Nr. 16) dargestellt wurde. D e n „Clou" des MSE kann man denn darin sehen, dass dariiber im Prinzip ausbuchstabier- und erklarbar wird, wie Makrozustande aggregativ aus iterativen Makro-Mikro-Makro-Verlaufen entstehen.

6 E s s e t s Integtationsvotschlag in def Diskussion -- was tesultiett fiit die weiteten Theodedebatten? Im Folgenden ist nun zu erortern, wie die Integrationskraft des MSE in den verschiedenen Esser-Luhmann/Weber-Vergleichen eingeschatzt wird. Im Grunde entfaltet jeder der Beitrage eine Komplexitat, die einigermaBen angemessen zu beurteilen langerer Ausfiihrungen bediirfte. Das kann hier jedoch nicht geschehen, sondern mogHch ist nur eine sehr selektive Beschaftigung mit ihnen, die vor aUem mit Blick auf die weitere Theoriediskussion vorgenommen wird.

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6.1 Perspektiven der Esser-Luhmann-Vergleiche (30) Ein Diskussionsgegenstand, der auch immer wiederkehrende Theorieauseinandersetzungen beriihrt, ist, ob Konzepte aus einem dezidiert nichtmethodologisch-individualistischen Ansatz (Luhmann) in einen methodologisch-individualistischen Ansatz (Esser) integriert werden konnen. Dieser Punkt wird vor allem in den Beitragen von Georg Kneer, Wolfgang L. Schneider und Tilmann Sutter vorgetragen. Kennzeichen einer methodologischindividualistischen Position wie der Esserschen sei die Annahtne, so die Beitrage, dass operatives soziales Geschehen, auch solches auf der Basis von doppelter Kontingenz, auf das Handeln individueller Akteure zunickgefdhrt/reduziert werden kann. Diese Position weiche aber vollkommen ab von der der soziologischen Systemtheorie Luhmanns. Das basale Ereignis sozialer Systeme, Kommunikation, konne weder auf ein solches Handeln zuriickgefdhrt werden, noch sei es iiberhaupt als Handlungsgeschehen zu begreifen.^^ (31) HinsichtHch des „Zuruckfuhren/Reduzieren auf" hatte ich oben (Nr. 15) schon vorgeschlagen, dies als gegenstandlich oder methodisch gemeint zu unterscheiden. Man kann diese Unterscheidung an Essers Kommunikationsbegriff diskutieren. Esser begreift Kommunikation (in starker Anlehnung an Luhmann) als aus fiinf Handlungen bestehend, die von zwei Akteuren produziert und getragen werden (Esser 2000a, S. 247-298). Eine gegenstandlich gemeinte Ruckfiihrung in dem Sinne, dass man meint, ein solches funfstelliges Handlungsgeschehen auf eine Handlung reduzieren zu konnen, macht dann keinen Sinn und wird von Esser auch nirgendwo postuliert. Etwas anderes ist aber eine methodische Reduktion in dem Sinne, dass solcherart mehrgHedriges kommunikatives Geschehen (auch) iiber die Erklarung der verschiedenen individuellen Handlungen der beteiligten Akteure erklart wird. Wobei hier direkt hinzuzufugen ist, dass diese Handlungen nicht als „bloBes" Handeln, sondern als je spezifisches Handeln, das es zu einer Komponente von kommunikativem Geschehen macht, erklart werden soUen. Die individuellen Handlungen, die dann im Rahmen des MSE erklart werden, sind also die Handlungen Informationsgewinnung, Mitteilung, Verstehen usw.^^ Aber auch hinsichtHch dieses Kommunikationsverstandnisses ware unter Integrationsgesichtspunkten geltend zu machen, dass Luhmann Kommunikation gerade nicht als ein solches

Pointiert kommt diese Position bei Stichweh '/.um Ausdruck: „Communication theory is clearly incompatible witii metiiodological individualism" (Stichweh 2000, S. 10). Verstehen als Handeln zu begreifen, stoBt immer wieder auf Bedenken. Begreift man es aber mit Tomasello als „eine Art von intentionaler Wahrnehmung" (TomaseUo 2002, S. 86), kann man es in sozialen Zusammenhangen leicht als ein inneres Sichverhalten auffassen, das so etwas wie ein soziales Handeln im Weberschen Sinne ist (Weber 1976, S. 11). Essers coverte Selektionen sind begrifflich ganz ahnlich einzuordnen (Greshoff 2006).

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Handlungsgeschehen meint begreifen 2u konnen, sein Kommunikationskonzept somit nicht als in Essers Ansatz integriert angenommen werden kann. (32) O b aber Luhmanns Selbsteinschatzung zutrifft, ware erst einmal genauer 2u erortern. Dafur ist zu priifen, ob ein Verstandnis von „Kommunikation als Handlungsgeschehen" — „Handeln" dabei zunachst einmal im Max Weberschen Sinne verstanden — nicht doch mit Luhmanns Position vereinbar ist. Und zwar wiederum, u m den Argumentationsgang nicht zu komplex werden zu las sen, zunachst der groben Linie nach.^o Zu diskutieren ist dann verschiedenes: sind die Luhmannschen Selektionen/Operationen, die Kommunikationen ausmachen, als ein Handeln im gerade genannten Sinne zu begreifen?;^^ sind die Luhmannschen Alters und Egos der sozialen Systeme, die diese Selektionen herstellen und tragen, als individuell-subjekthafte Akteure aufzufassen? Stellte sich heraus, dass beide Fragen zu bejahen sind, wiirde sich nicht nur Luhmanns Einschatzung als illusionar erweisen, sondern Essers Integrationsanspruch konnte zumindest ein Stuck weit als bestatigt gelten. D e n n Kommunikation raumt er ja auch deshalb einen betrachtlichen Stellenwert ein, weil er die — lange Zeit vernachlassigte — Relevanz, die gerade durch Luhmann Kommunikation als sozialem Geschehen zugemessen wird, teilt (Esser 2005), wenn er auch, anders als Luhmann, in Kommunikation nicht die Grundform sozialen Geschehens sieht, sondern sie als Unterform sozialen Handelns begreift. Mit dem gerade skizzierten Diskussionsstrang ware sinnvollerweise noch ein weiterer zu verbinden, der immer wieder Verwirrung stiftet: namlich zu klaren, in welchem Verhaltnis Luhmanns Handlungsbegriff zu dem von Esser steht. Meinen beide mit „Handeln" einen im Groben gleichen Gegenstand oder beziehen sie sich auf ganz unterschiedliches? Letzteres ware dann der Fall, wenn sich folgendes bestatigte: Luhmann meint mit „Handeln" das Ergebnis einer ganz speziellen Operation, namlich einer bestimmten Zurechnung, die eine beobachtete Operation als Handeln auffasst — und dieses „als Handeln auffassen" ist es, was Luhmann „Handeln" nennt.^^ Esser dagegen meint mit „Handeln", abstrakt umrissen, einen der Moglichkeit nach reflexiven ZielMittel-Zusammenhang, der umgesetzt (realisiert) wird. Trifft diese Deutung zu, konnte man so sagen: das, was Luhmann mit „Handeln" meint, ist das Ergeb-

'^^ Deshalb wird auch iiunachst Webers Handlungskonzept als Referenz herangezogen, weil es weniger voraussetzungsreich ist als das von Esser, aber eine vergleichende Annaherung an die Position von Esser ermogUcht. Zu Webers Handlungsbegriff siehe Greshoff 2006a. '^1 Bei diesen „Selektionen/Operationen" sind hier Beobachtungen — Verstehen, Informationsgewinnen — mitgemeint. '^2 Fiir eine ausfiihrliche Diskussion von Luhmanns Handlungsverstandnis siehe Greshoff 1999, S. 116-137.

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nis eines im Esserschen Sinne spezifischen Handelns, namlich der Handlung „Zurechnung", welche ein bestimmtes Verhalten als Handeln einschatzt.'^'^ (33) Neben den in den vorstehenden Abschnitten intendierten Klarungen zeichnet sich auch Diskussionsbedarf hinsichtlich des Punktes ab, in welchem Verhaltnis die der Makro- bzw. Mikroebene zugeordneten sozialen, psychischen und kulturellen Systeme Essers zu Luhmanns sozialen — und auch psychischen — Systemen stehen. Fiir eine Erorterung ist zunachst die Relationierung zu erinnern, die ich oben (Nr. 18-20) vorgeschlagen habe: die Gegenstande, die Luhmann als soziales System erfasst, entsprechen denen, die Esser mit Makro- und Mikroebene eines dynamisch gedachten MSE in den Blick nimmt. Danach thematisiert Esser mit sozialen und — als deren Teil — kulturellen Systemen auf der Makroebene mehr oder weniger beobachtbare kollektive Phanomene, namlich aneinander anschlieCende (overte) Handlungen sowie die darin erkennbaren sozialen Strukturen mindestens zweier Akteure bzw. psychischer Systeme. Die Produktion dieser Phanomene nimmt er als individuelle Tatigkeiten von Akteuren (psychischen Systemen) auf der Mikroebene in den BHck, auf der er auch als Teil der Identitaten der Akteure kulturelle Systeme ansiedelt. Luhmann dagegen verortet das, was Esser als Makro/Mikroebene unterscheidet, beides in sozialen Systemen. Die individuelle Selektions-/Handlungsproduktion von Essers Akteuren auf der Mikroebene lasst sich dann parallelisieren mit der Herstellung der jeweiligen Selektionen von Alter bzw. Ego, die bei Luhmann das kommunikative Geschehen als etwas Sozialsysteminternes ausmachen. Das kann man ansatzweise so konkretisieren: Das Verstehen und Rezipieren einer Situation durch Essers Akteure korrespondiert dem Verstehen und (in Teilen) der Anschlussentscheidung von Luhmanns Alters und Egos. Wahl und Umsetzung einer overten Handlung bei Esser entspricht (wiederum in Teilen) der Anschlussentscheidung sowie der

^^ Diese Deutung vorausgesetzt ist 2u beachten, dass Esser fur das, was Luhmann unter „Handeln" fasst, einen ahnlich gelagerten Begriff kennt, namlich „Handlung". Unter „Handlung" (allerdings, wie er betont, immer nur in An-/Abfuhrungszeichen) beiiieht Esser sich auf Vorstellungen vom Handeln, genauer auf „Vorstellungen der Akteure iiber das Programm ihres Handelns" (Esser 1999, S. 193). „Handlung" steht also auch fur das, was Esser „Kultur/kulturelle Systeme" nennt, namlich fiir die Skripte als Komponente kultureller Systeme. „Handlung" meint bei ihm dann die Ebene „Modell" bzw. „Selbstbeschreibung". In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass Esser mit seiner Deutung, Luhmanns Handlungsbegriff sei der Ebene „Selbstbeschreibung" zuzuweisen, nicht ganz verkehrt liegt (Esser 2001, S. 494). Denn ein soziales System, so Luhmann, entwickelt im Anschluss an das, was er „Selbstbeobachtung von Kommunikation durch die Beobachtung der Mitteilung als Handlung" nennt, eine Reflexion auf „seine eigene Einheit als Bezugspunkt fiir Beobachtungen ... und dann empfiehlt es sich, Texte anzufertigen ... Solche Texte ... wollen wir Selbstbeschreibungen nennen" (Luhmann 1997, S. 880). Allerdings ist das, was Luhmann „Handlung" nennt, noch nicht eine solche Selbstbeschreibung — und insofern trifft Essers Deutung nicht zu.

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Wahl und Realisierung eines Mitteilungsverhaltens bei Luhmann (ausfuhrlicher dazu Greshoff 2005). SchlieBlich stehen die Systeme des MSE ebenso im System/Umwelt-Verhaltnis zueinander wie Luhmanns soziale und psychische Systeme. Zu dieser kurzen Sktzze w k d vor allem zweierlei zu diskutieren sein: zum einen, ob Esser und Luhmann mit „System" gleiches meinen, zum anderen, wieso nach den Parallelisierungen der vorstehenden Skizze Essers Akteur/psychisches System in Luhmanns sozialem System aufgeht, Luhmanns psychisches System abet Umwelt zu seinem (Luhmanns) sozialem System ist. (34) Beim ersten Punkt wird schnell deutlich, dass Luhmann gegeniiber Esset einen klareren Systembegriff hat. Bei Luhmann bilden, grob gesprochen, Systeme iiber je typische Operationen und Strukturen abgegrenzte Einheiten, wobei die Operationen und Strukturen immer in den (und „von den'*) Systemen hergestellt werden (Greshoff 1999, S. 74-96). Einen ahnlichen Systemgedanken reklamiert Esser fiir sich auch (Esser 1993, S. 494-496). Es fallt dann aber auf, dass er seinen drei Systemen, die, so denkt man, unter diesen Begriff fallen, unterschiedliche „Fahigkeiten" zumisst. Wahrend Akteure/psychische Systeme ihre Operationen und Bewertungen/Erwartungen selber produzieren konnen, gilt dies fiir soziale und kulturelle Systeme nicht. Soziale Systeme etwa bestimmt Esser empirisch als selbstorganisierend (Esser 1993, S. 109-111, S. 494f), stattet sie im MSE aber nur mit einem reduzierten operativen Geschehen aus, namlich ohne die Produktion der individuellen Framingprozesse und des overten Handelns, die er bei den Akteuren/psychischen Systemen auf der Mikroebene verortet. Die sozialen Systeme hangen diesbezuglich also vollig „am Tropf" der Akteure/psychischen Systeme. Von „selbstorganisierend" in dem Sinne, dass die sozialen Systeme ihre Elemente und Strukturen selber herstellen, kann also nicht die Rede sein."^ Gleiches gilt fur die kulturellen Systeme, welche als je sozial geteilte/giiltige Frames ja nichts anderes als mit Symbolen markierte gedankliche Erwartungs- und Bewertungskonstrukte sind, die ihre Verankerung sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene immer

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Die Ambivalenz, auf die ich hier hinaus will und die Jens Greve in seinem Beitrag ebenfalls im Blick hat, kommt auch bei Esser zum Ausdruck: „Ein soziales System ist danach nichts anderes als der — mehr oder weniger: beobachtbare — Ablauf der Reproduktion oder Veranderung typischer sozialer Situationen ... Das ist ... keineswegs ein Vorgang, der auf der Ebene des sozialen Systems irgendeine Eigenstandigkeit hatte, sondern der indirekte und (meist so jedenfalls) nicht intendierte Effekt des individuellen Framings, der Selektion des Handeln(s) und dessen aggregierter Wirkungen auf die jeweils neue Situation (statt „auf die" muss es „hin zur" heifien, R.G.)." Interessant ist, wie Esser unmittelbar anschlieBt: „Die Eigenstandigkeit und die Eigenlogik der so rekonstruierten sozialen Systeme ergeben sich aus zwei Sachverhalten ...'' (Esser 2001, S. 500). An diesem Oszillieren zwischen „Nicht-Eigenstandigkeit" und „Eigenstandigkeit" von sozialen Systemen kommt die angesprochene Ambivalenz dessen zum Ausdruck, was er alles „System" nennt.

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in den (Identitaten der) Akteure(n) haben (Esser 2001, S. 4f). Folglich konnen sie von diesen auch nur aktiviert, geandert oder was auch immer werden — was Esser, wie beschrieben, auf der Mikroebene lokalisiert. Gleiches gilt hinsichtlich der Produktion ebenso fur die aneinander anschlieBenden (overten) Handlungen der sozialen Systeme. (35) Zieht man eine weitere Parallele 2u Luhmann, so entsprechen Essers kulturellen Systemen bei Luhmann bestimmte gegenseitige Erwartungen der Alters und Egos, die das soziale System tragen. Auf die gleiche Weise sind die anderen Strukturen der Esserschen sozialen Systeme in Luhmanns sozialen Systemen lu verorten. D a Luhmann davon ausgeht, dass alle Selektionen und Strukturen sozialer Systeme i m / v o m System hergestellt werden (Autopoiesisgedanke), muss man im System irgendwelche Potenziale („Instan2en'') annehmen, die dies leisten konnen. D e n n Selektionen, also die Wahl von Unterscheidungen, das Auswahlen einer Seite des Unterschiedenen, Informationsbildung relativ 2ur gewahlten Seite sowie gegebenenfalls die Wahl eines overten Verhaltens, fallen ja nicht vom Himmel. Die psychischen Systeme, die Luhmann in der Umwelt ansiedelt, kommen als solche Instanzen fiir sozialsystemintern zu Produzierendes nicht in Frage. In Frage kommen aber die Alters und Egos, die Kommunikationen mit ihren Selektionen tragen. Damit ist man wieder bei der oben bereits aufgeworfenen Frage angelangt, ob die Alters und Egos der Luhmannschen sozialen Systeme als individuell-subjekthafte Akteure zu begreifen sind. Bejaht man die Frage,^^ wird verstandlich, warum die drei Systeme des MSE komplett mit dem parallelisiert wurden, was Luhmann als soziales System begreift (siehe Nr. 33). Von einer Bejahung und von Essers Akteurkonzept her (wie es in Anm. 46 erlautert wird) waren dann Akteure/psychische Systeme innerhalb jeweiliger sozialer Systeme von solchen auBerhalb sozialer Systeme zu unterscheiden. Von diesem Konzept her entsprachen dann Luhmanns psychischen Systemen die gerade genannten Esserschen Akteure/psychischen Systeme auBerhalb sozialer Systeme — allerdings mit einem Unterschied zu Luhmanns Theorieannahmen: diese Akteure/psychische Systeme auBerhalb sozialer Systeme stiinden nicht mehr in einer ErmogHchungsbeziehung zu den

Eine Bejahung konnte auch ein neues Licht auf die Sinnthematik werfen. Denn das Merkmal von Luhmanns Sinnbegriff, das Rainer Schiitzeichel bei diesem als sich iiber die Jahre durchhaltend feststeUt, namlich der Assoziationshorizont „Etwas steht im Zentrum der Intention und anderes wird marginal angedeutet", ist im Grunde dasselbe wie die standig virulente Reflexivitat solcher Akteure, die - als ErmogHchung, zu handeln — einen derartigen Horizont impliziert. Diese ParalleHtat von „Sinn" und „Reflexivitat" bestatigt sich, wenn man bedenkt, dass Reflexivitat bei Esser mit dem in Verbindung steht, was er als „Modi der Informationsverarbeitung" begreift - sozusagen als Reflexivitat zwischen 0 (as-modus) und 1 (rc-modus). „Form/Modus der Informationsverarbeitung" nennt Luhmann auch „Sinn" (Luhmann 1984, S. 609, 1986, S. 43); „Modus" bleibt dann allerdings bei ihm im Vergleich zu Esser unbestimmt und wird nicht in z.B. as- und rc-modus polarisiert

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sozialen Systemen, wie sie Luhmann liber das Konzept „struktui:elle Kopplung" annimmt (zur Erlauterung siehe Greshoff 2006). (36) Lenkt man den Blick zuriick auf die dargelegten Ambivalenzen der Esserschen Systemkonzeption sowie darauf, was Georg Kneer ausfiihrlich thematisiert, namlich dass zuweilen schwer zu erkennen ist, was Esser mit seinen jeweiligen Systemen genauer meint,"^^ dann ware angeregt durch Luhmanns Sozialsystembegriff zu iiberlegen, Essers drei Systeme in einem (dann soziales System zu nennenden) umfassenderen System aufgehen zu lassen — und dabei die Ebenendifferenzierung des MSE in der von Esser intendierten Weise beizubehalten. Das scheint deshalb problemlos moglich zu sein, weil die sozialen Systeme (im Esserschen Sinne) und ebenso die kulturellen Systeme gegeniiber anderen sozialen bzw. kulturellen Systemen durch ihre jeweils zentralen Codes und Programme abgegrenzt sind (Esser 2000, S. 53f). Diese Codes und Programme sind nach Esser in den Akteuren verankert und werden von diesen zu Orientierungszwecken ihrer Handlungen aktiviert. Nur Akteure konnen diese Codes und Programme immer wieder wahlen oder modifizieren, anders konnen die kulturellen und sozialen Systeme (weiter im Esserschen Sinne gemeint) nicht reproduziert oder gewandelt werden. Wenn also Akteure durch eine Orientierung ihrer Handlungen an in ihren Identitaten verankerten Codes/Programmen die sozialen und kulturellen Systeme wie gerade skizziert tragen und deren Grenzen reproduzieren, kann man sie sich auch als „produzierende Instanzen" des angedeuteten umfassenderen Systems vorstellen. In letzterem wiirden dann die Akteure sowie die sozialen und kulturellen Systeme Essers aufgehen."^^ Durch ein solches umfassenderes (Sozial-) System wird in

Schwierig nachzuvoll^iehen ist etwa, in welchem Verhaltnis „Akteur" und „psychisches System" bei Esser zueinander stehen. Esser scheint es folgendermaBen zu sehen: Akteure als Systeme bestehen aus vier Segmenten: dem Organismus (= bioiogischer Korper, um dessen physische und psycho-soziale Erhaltung es geht), der Identitat, auch „Person" genannt (= integriertes und mehrdimensionales Gefuge von Erwartungen/Wissen, Bewertungen/Werten, Frames/Skripte), der Subjekthaftigkeit (= Fahigkeit zur Reflexivitat, Absichten zu entwickeln, 2u handeki) und dem Segment „psychisches System". Letzteres steht dafiiir, dass Akteure nur mit einem bestimmten Ausschnitt ihrer Identitat, mit bestimmten Frames als gewahlten Orientierungen am Prozessieren jeweiliger sozialer Systeme beteiligt sind. „Akteur" meint dann also im MSE „Akteur" mit jewels unterschiedlicher Auspragung des Segmentes „psychisches System", eben je nach dem, an welchen sozialen Systemen ein Akteur beteiligt ist. In dieser Bedeutung wird „Akteur" auch synonym mit „psychisches System" benutzt (Esser 2000, S. 34f, 2001, S. 500); das geschieht hier ebenenfalls. - Was die kulturellen Systeme angeht, so gehe ich davon aus, dass es im MSE nicht ein kulturelles System, sondern kultureUe Systeme nur im Plural gibt. Namlich als die sozial giiltigen Frames der Tragerinnen der sozialen Situation auf der Makroebene sowie als die entsprechenden Frames der jeweiligen Trager der Mikroeberie (Esser 2001, S. 500f). Man muss sich nur vergegenwartigen, wie eng zusammenhangt, was die drei Esserschen Systeme ausmacht. Einen abgegrenzten Zusammenhang bilden soziale Gebilde durch die Jewells sozial giiltigen Codes der Frames sowie die damit verkniipften Handlungsprogrammatiken. HergesteUt und getragen werden solche Codes durch Akteure, die sich in ihrem Tun an-

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einen System2usamttienhang eingebunden, was im MSE bislang zwar als miteinander Verknupftes, aber auf Gnind der Verteilung auf drei Systeme mit den dargelegten Ambivalenzen und beklagten Unklarheiten konzeptualisiert wird. Um die Konstxuktionslogik des MSE in fmchtbarer Weise beibehalten zu konnen, ware fur eine solche „Neujustierung" der materialen Konzepte des Modells darauf zu achten, dass man gegenstandliche und methodischerklarungstechnische Bestimmungen zunachst auseinander halt und dann verbindet. D.h. erst ist eine „saubere" Gegenstandsbestimmung des Sozialen vorzunehmen — was sind die Operationen, Strukturen, Grenzen usw. des umfassenderen sozialen Systems"^^ — und dann ist in methodischer Absicht, um KausaUinien fur Erklarungen nachzeichnen zu konnen, explizit vor^juhren^ wie diese Gegenstandsbestimmung in ein Makro-Mikro-Makro-Schema iibersetzt werden kann."^^ Im Grunde ist das nichts anderes, als die beiden Forschungslogiken, die Rainer Schiitzeichel bei Luhmann bzw. Esser jeweils dominant sieht ~ „Wie ist X moglich" (Luhmann) bzw. „Warum ist X der Fall" (Esser) — in der gerade beschriebenen Weise zu unterscheiden und dann zu verkniipfen. (37) Ein solches „erst auseinander halten und dann verbinden" mag auch verschiedene Probleme besser diskutieren lassen. So etwa das von Thomas Schwietring (welches in manchem ahnlich gelagert ist wie die Problemsicht, die Wil Martens einbringt), der kritisiert, dass Esser in seinem MSE die Dynamik und Vielfaltigkeit von Kultur dadurch ignoriert, dass er sie als Archiv feststehender Formen begreift. Seine These ist also im Grunde, dass Essers Konzept „soziale Konstitution" nicht ausreicht (Esser 2001, S. 489-518), Kultur angemessen zu er fas sen. Weiter und im Zusammenhang mit dem gerade genannten Problem ware das zu erortern, welches von Jens Greve stark gemacht wird, namHch was genau mit „Makro als eigene ReaUtat" bzw. mit der so genannten

einander ausrichten. Reproduktion soiiialer Gebilde bedeutet dann, dass die Akteure gegenseitig davon ausgehen, dass sie und ihre Gegeniiber oiientiert an diesem Code sozial handeln und ihr je eigenes Handeln im Hori^ont dieser Annahme herstellen. Daran wird dann auch deutlich, an welche Bedingungen die Teilhabe an einem sozialen Gebilde gekniipft ist — was umgekehrt auch heiBt, dass an soi^ialen Gebilden nicht beliebig teilgenommen werden kann. Soziales System bzw. Gebilde gebrauche ich hier im Sinne von: es ist immer das abgegrenzte Zusammenspiel mindestens zweier mit jeweiligen Einstellungen, Erwartungen und dadurch orientierten Handlungen aufeinander ausgerichteter „Trager" (Akteure), die nur zusammen, in der gerade skizzierten Relationierung, ein soziales Gebilde ausmachen konnen. Letztere ist nichts jenseits dieser Relationierung und ist nicht reduzierbar auf Teile dieser Konstellation. Die Teile sind nicht dem Gebilde vorzuordnen und das Gebilde nicht den Teilen. Kurz, das eine ist nicht gegen das andere auszuspielen. Vor dem Hintergrund des in Anm. 48 skizzierten Verstandnisses von sozialem Gebilde konnte eine solche (mogliche) Makro-Mikro-Neubestimmung dann wie folgt aussehen: „A macro-fact is a fact occurring in the system as a whole. A micro-fact is a fact occurring in or to some or all members of the system at the given level" (Bunge 1996, S. 147, siehe ahnlich Mayntz 2005, S. 214f).

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„Makrodetermination" bei Esser gemeint ist. W o m m es hierbei geht, lasst sich in folgender Weise entwickeln: „Makro als eigene Realitat" kann den Eindruck erwecken, als sei dieses Makro etwas ganzlich Jenseits der Akteure auf der Mikroebene. So etwa wenn Esser exemplarisch fur „Gesellschaft" als Makro schreibt, „sie ist eine den konkreten Individuen tatsachlich vorgangige und ihr Handeln stark pragende Kraft" (Esser 1993, S. 404). Wenn daraus auch hervor geht, dass Makro etwas anderes ist als das, was Mikro ausmacht, so muss man an dieser Stelle aber ebenso bedenken, dass dieses Makro als ein „Aggregationsprodukt" Folge dessen ist, was auf der Mikroebene von den sozial ausgerichteten Akteuren mit Bezug auf ihre jeweiligen Gegeniiber hergestellt wird: aneinander anschlieBende Handlungen sowie die dariiber mittels Symbolen 2um Ausdruck kommenden sozial giiltigen Regeln, Frames und Interessenkonstellationen. Dabei ist zu vergegenwartigen, dass die Symbole ja nicht bloB die jeweiligen Strukturen einer Situation zum Ausdruck bringen. Sondern den Symbolen als Zeichen korrelieren ja in den Identitaten der Tragerinnen der Situation bestimmte Vorstellungen, die die sozial giiltigen Erwartungen/Bewertungen ausmachen — und insofern sind die Strukturen in der Situation existent (Esser 1999, S. 117). Von daher ist Makro keineswegs etwas ganzHch Jenseits von Akteuren. Der Punkt, auf den es Esser mit der Makro-Mikro-Unterscheidung ankommt, ist der, fiir Erklarungen KausaUinien nachvollziehen zu konnen (siehe dazu schon oben Nr. 14). Darauf hebt er auch mit „Makrodetermination" ab.^^ D e n n gemeint ist damit ja, dass Makro irgendwie auf Mikro „wirkt" oder Mikro von Makro „bewirkt" wird, Makro also irgendeine Art von kausalem Einfluss auf Mikro ausiibt. (38) Die Frage, die sich einem dann aber stellt, ist, wie man sich das kausale Wirken eines Aggregationsproduktes „Makro" vorstellen konnen soil. Ist damit Makro als eine (Gesamt-) Wirkinstanz gemeint, die als solche Zustande bei Mikro herbeifuhrt? Schaut man sich Essers einschlagige Ausfiihrungen an, dann faUt zunachst auf, dass gerade auch fiir die Aufklarung von „Makrodetermination" die Vorgange relevant sind, die er unter dem Punkt „Verstehen" thematisiert (ich komme darauf zuriick). Weiter wird deutHch, dass mit „Makrodetermination" nicht eine Wirkinstanz gemeint ist, die als solche bei Mikro kausal Zustande herbeifiihrt: „Situationen ,wirken' nicht einfach ,kausar auf die Akteure. Alles, was geschieht, ist eine fortlaufende Strukturierung der Bedingungen fiir die ,sinnhafte' Wahl eines bestimmten Handelns der jeweiligen Akteure." Esser hebt darauf ab, dass „die Akteure aufgrund der jeweiligen ,Logik' der Situation ein ihnen sinnhaft vorkommendes Handeln wahlen ... Immer geht es letzdich um die so^ologische Frage: Welche stmkturierten Umstande in der jeweils

Synonym mit Makrodetermination ist das, was Esser „Konstitution von oben" nennt.

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gegebenen Situation sind es, die dazu fiihren, daB die Akteure in stmkturierttypischer Weise agieren — und dadurch stmkturierte externe Effekte und daniber jeweils stmkturierte neue Situationen schaffen" (Esser 1999, S. 31). Makro als strukturierte Umstande bringt also Akteure dazu, in bestimmter Weise zu handeki. Dieses „dazu bringen" aber ist eine Akteurstatigkeit. Akteure verorten sich in einer Situation und beriicksichtigen dabei deren Beschaffenheit. Soil auf diese Weise tatsachlich auf eine bestimmte (je typische) soziale Situation als Makro reagiert werden und nicht auf irgendwas, bedeutet das folgendes. Etwas, das in bestimmter Weise „da ist"/"vorliegt", namUch Makro (Tauschungen erst einmal beiseite gelassen), muss liber eine VorsteUung davon als solches gedeutet/rezipiert werden, um daniber handlungswirksam werden zu konnen. Bezogen auf den Punkt Makrodetermination im MSE heiBt das also: erst wenn ein Akteur eine Situationsdefinition vornimmt, die im Kern eine solche Vorstellung von einem Makro enthalt, kann iiberhaupt von einem Wirken von Makro auf Mikro ausgegangen werden. (39) Fiir die Frage nach dem kausalen Stellenwert von Makro („Makro wirkt auf Mikro'"), den ja auch Esser in seiner gerade zitierten Aussage anspricht, kann man dann so sagen: bestimmt man das „HerbeifLihren (konnen) von Wirkungen" als maBgebUch fiir einen kausalen Faktor, dann wird man in Makro keinen solchen Faktor sehen konnen. Der kausale Faktor sind hier Akteure, liber deren Deutung sich Makro etwa in Selektionen — iiber eine Situationsdefinition, die in einem bestimmten overten Handeln miindet — als Wirkung „niedersclilagt". Denn beides, die Deutung und die Selektionsproduktion, wird von ihnen produziert. Das bedeutet nun nicht, dass Makro keine Relevanz fiir das liber die kausalen Faktoren „Akteure" erzeugte Kausalgeschehen hat. Ganz im Gegenteil. D e n n etwas zuspitzt kann man sagen, dass die Akteure als solche Faktoren, u m Wirkungen erzielen zu konnen, auf Makro verwiesen sind. Sie sind durch ihre Zuordnung zu einem sozialen Gebilde ja grundsatzHch darauf eingestellt, sich bei ihrem Tun an den Strukturen des Gebildes zu orientieren. Also nehmen sie dieses Gebilde und dessen Strukturen — kurz, ihre situativen (Makro-) Umstande — auch in den BHck, und zwar iiber die eben erwahnten VorsteUungen von Makro. Diese Vorstellungen umschreibt Esser als „sozial geteilte und sozial giiltige ,Selbstbeschreibungen' der kollektiven Ablaufe" (Esser 2001, S. 500). Das sind koUektive Frames, mittels derer die Akteure das vornehmen, was er metaphorisch ,„Selbstbeobachtung' sozialer Systeme'* nennt. Letztere ist „nichts anderes als die gegenseitige und auch die innere Kontrolle der Akteure, sich in ihren Handlungen, Orientierungen und Gefiihlen eben von diesen ... mentalen Modellen (d.h. den Selbstbeschreibungen, R.G.) ... leiten zu las sen" (Esser 2001, S. 500). Eine solche Selbstbeobachtung kann man somit als eine Anwendung der „Vorstellungen von Makro" begreifen, mittels derer sich die Akteure in sozialen Gebilden verorten, um dort angemessen handeln zu konnen.

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Von hierher lasst sich nun ein Bogen zu Luhmanns Konzepten schlagen. D e n n das, worauf Esser mit „Selbstbeschreibung" bzw. „Selbstbeobachtung" abhebt, lasst sich auch mit dem erfassen, was Luhmann hinsichtlich sozialer Systeme als „basale Selbstreferenz" bzw. „Reflexion" begteift (beides Formen dessen, was er allgemein „Selbstreferenz" nennt). Das „Selbst", auf das sich die (systeminterne) Operation „basale Selbstreferenz'* bezieht, ist eine gesamte Kommunikation, das „Selbst" der (systeminternen) Operation ^Reflexion" ein gesamtes (hier: soziales) System. Die Alters und Egos konnen sich mittels solcher Operationen bei der Produktion von z.B. Mitteilungen in Kommunikationen bzw. sozialen Systemen, an denen sie teilhaben und die sie durch ihr Operieren mit ausmachen, verorten (Greshoff 2005, S. 106-116). Wenn hinsichtHch Luhmanns sozialer Systeme bzw. kommunikativem Geschehen so etwas wie Makrodetermination vorstellbar werden soil, dann ware diese im Anschluss an die beiden Selbstreferenzkonzepte zu erfassen. Diese Uberlegung lasst sich mit der RationaHtatsthematik verkniipfen, wie sie Dietmar Braun fur den spaten („autopoietischen^') Luhmann herausgearbeitet hat. Dieser basiert RationaHtat auf der gerade genannten Reflexion. Rationalitat als systeminterne Thematisierung der Einheit der Unterscheidung, die Reflexion zu Grunde liegt, namlich der Unterscheidung „System/Umwelt", ermoglicht es den Alters und Egos,^^ sich in einem System auf dieses System zu beziehen und dann mit Zustanden dieses Systems operativ umzugehen. Das ist meiner Ansicht nach nichts anderes als so etwas wie die oben skizzierte Makrodetermination: liber eine Vorstellung von einem System und dessen situativer Beschaffenheit konnen Zustande dieses Systems handlungswirksam werden. Schlagt man nun wieder einen Bogen zu Essers oben erorterten Konzepten, dann miisste Luhmanns Rationalitatsbegriff mit Essers Konzepten „Selbstbeschreibung" und „Selbstbeobachtung" problemlos einhol- und insofern integrierbar sein. Von daher ware dann auch dieses Luhmannsche Verstandnis von Rationalitat, welches nach Braun bei Esser gesellschaftstheoretisch zu kurz kommt, fiir seine (Essers) Gesellschaftstheorie nutzbar zu machen.^^ (40) Manche Beitrager — Rainer Schiitzeichel, Tilmann Sutter — gehen sehr entschieden davon aus, dass sich Esser und Luhmann dahin gehend unterscheiden, dass Luhmanns Ansatz differenztheoretisch orientiert ist, Essers dagegen identitatstheoretisch. O b das aber tatsachlich so ist, oder ob nicht auch

Die Formulierung von „den Alters und Egos" deutet natiirlich schon eine Auflosungsrichtung von Luhmannschen Kompaktformuliefungen wie „das soziale System macht/stellt her" usw. an, wie sie gerade mit Blick auf „Reflexion" aufklarungsbedurftig werden (ausfuhrlich dazu Greshoff 2005). Esser selber fasst „Rationalitat" ja anders, als Eigenschaft bestimmter Selektionen, namHch beim Selegieren Alternativen nach der Kegel der Nutzenmaximierung zu gewichten (ich komme darauf :«uruck).

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in diesem Punkt eher eine Gemengelage aus Unterschied und Gemeinsamkeit existiert, scheint aus mehreren Gninden eine Erorterung wert. D e n n zu vergegenwartigen ist ja etwa, dass das MSB auf einer Unterscheidung — also Differenz — basiert, namlich der von Makro und Mikro. Diese wird von Esser auch pointiert so formuliert, wenn er davon ausgeht, dass im „Mittelpunkt des Modells der soziologischen Erklarung ... die Unterscheidung von Akteuren und sozialen Systemen ... (steht, R.G.)" (Esser 2005, S. 242). Auch seine drei Systeme hat Esser iiber den System/Umwelt-Bezug differenztheoretisch konzipiert. Und nicht zuletzt findet sich eine differenztheoretische Orientierung auch auf der operativen Ebene. Framingprozesse finden in einem (eher mehr) automatischen oder in einem (eher mehr) kalkulierenden Modus der Informationsverarbeitung statt und als Frame zur Wahl stehen nach Esser „immer nur zwei gedankliche Modelle" (Esser 2001, S. 265). In welchem MaBe und in welcher (selbst-) reflexiven Elaboriertheit diese Differenzorientierung bei jeder einzelnen Selektion, die ausgehend von der Situationsverortung bis zum overtem Handeln produziert wird, zur Anwendung kommt, ware genauer zu priifen. Aber dass Esser seine „Gegenstande" — zumindest auch — in ahnlicher Weise wie Luhmann mittels Differenzen und Unterscheidungen konzeptualisiert, scheint mir unabweisbar.^"^ (41) Daran macht sich ja gerade die Kritik von Thomas Kron und Lars Winter fest, die bei Esser (und auch bei Luhmann) eine zu strikte Differenzorientierung am Werke sehen, die ein „entweder-oder" dominant setzt und Differenzierungen zu dieser strikten Differenzorientierung nicht zulasst. Bemangelt wird, dass die Welt allein oder zumindest zu sehr als nach dem Prinzip „schwarz oder weiB" funktionierend angenommen wird, wahrend doch faktisch bei jeweiligen Auswahlen nicht nur a oder b, sondern auch Mischungen von a und b, auch mit noch weiteren Komponenten (c, d usw.), vorkommen konnen. Handlungen etwa ereignen sich nicht nur in einer an reine Typen angenaherten Form, sondern auch als Mischtypen. Der konzeptuelle Vorschlag, u m alle diese Formen er fas sen und modellieren zu konnen, geht dann dahin, strikte Binaritat als Leitlinie bei Auswahlen aufzugeben zugunsten einer Ausrichtung, die nicht nur strikte Zweiwertigkeiten, sondern auch so etwas wie ein „sowohl als auch" zulasst, u m Ubergange, Vagheiten und Schattierungen aller Art konzeptualisieren zu konnen.

Die jeweiligen erkenntnistheoretischen Annahmen der oben verhandelten Positionen konnen an dieser Stelle nicht diskutiert werden (dazu einiges in den Beitragen von Martin EndreB und Thomas Schwietring). Dafiir bediirfte es einer zunachst gesonderten erkenntnistheoretischen Debatte, um nicht soziologische und erkenntnistheoretische Referenzen miteinander zu vermischen. Man sollte auch in diesem Punkt Dinge erst einmal trennen und dann wieder zusammen fiihren. Hier geht es erst einmal primar um die Diskussion von soziologischen Konzepten.

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Bei der Diskussion dieser Kritik werden verschiedene Strange zu unterscheiden sein. Zum einen wird man sich mit dem Einwand auseinandersetzen miissen, bei der strikten Differenzorientierung handele es sich um ein empirisches Phanomen im Gegenstandsbereich, welches man nicht einfach negieren konne (so ja auch Essers Position hinsichtiich der Binarisierung bei der Frame/Skriptwahl; Esser 2001, S, 264f). Davon zu unterscheiden ist eine Beschrankung etwa auf reine Handlungstypen oder auf 2wei polare Modi der Informationsverarbeitung, die allein als pragmatische Vereinfachung begriffen wird und jederzeit aufgehoben werden kann.^^ Yon daher kann denn Esser auch darauf verweisen, dass Binaritat bei ihm kein striktes „Letztprinzip" ist — was sich ja auch daran zeigt, dass bei der Alternativenerwagung im rc-Modus nicht nur zwei, sondern beliebig viele Alternativen zugelassen sind (Esser 1999, S. 252258). Ahnliches gilt fur Luhmanns Methode der funktionalen Analyse, die im Prinzip beUebig viele Moglichkeiten als zu vergleichen zulasst (Luhmann 1984, S. 85f). Das alles bedeutet allerdings noch nicht, die KonzeptuaHsierung von Ubergangen, Mischungen und Vagheiten als expHzit zu beriicksichtigende Aufgabe in die Theorie eingebaut zu haben.^^ Dafur bediirfte es, und darauf wiU die Kritik ja aufmerksam machen, eines eigenen konzeptuellen Instrumentes.^^

Dass Esser denn auch fiiir Mischtypen offen ist, lassen einschlagige Formulierungen annehmen. Etwa wenn er auf folgende Weise von den Typen des Handelns schreibt: „... welcher ,Typ' des Handelns — rational oder normativ oder was auch immer — jeweils ,gilt' ..." bzw. „Typ des Handelns — rational, normativ, kreativ, whatever ..." (Esser 1999, S. 238). Dai^u passt, dass beziiglich der „reinen" Handlungsformen inzwischen von „Mischungen sind natiirlich moglich" zu lesen ist (Esser 2006, S. 163). Die Beschrankung auf zwei Modi der Informationsverarbeitung wird expUzit als konzeptuelle Vereinfachung eingefuhrt (Esser 2001, S. 266), so dass es nicht verwundert, dass er hinsichtiich der beiden Modus-Pole bei der Informationsverarbeitung von „unendlich vielen denkbaren Zwischenvarianten" schreibt (Esser 2006, S. 161). Die empirische Position, dass bei Frame-/Skriptwahlen immer nur zwei Alternativen moglich sind, wird inzwischen von Kroneberg, einem Wissenschaftler aus dem Umfeld von Esser, aufgegeben (Kroneberg 2005, S. 359). Wie es etwa tendenziell bei Max Weber der Fall ist, der nicht nur immer wieder auf „flieBende Ubergange" zwischen den verschiedenen Handlungst}^pen, sondern auch darauf verweist, dass jede „eigentlich soziologische Untersuchung ... die Begriffe ungemein viel feiner differenzieren (miisste, R.G.), als wir es hier ... tun" (Weber 1976, S. 238). Allerdings war fiiir Weber auch klar, dass solche Differenzierungen nur von scharf geschnittenen Idealtj^pen her zu entwickeln — und zu verbessern! — sind. „Nur vom reinen (,Ideal'-) Typus her ist soziologische Kasuistik moglich" (Weber 1976, S. 10). Zunachst sind also grenzscharfe Konzepte herzustellen, dann erst lassen sich relativ dazu Ubergange usw. angeben. Vernachlassigt man diese Maxime, ist konzeptuelle Diffusitat die zwingende Folge. Kron/Winter schlagen hierfiir Fuzzy-Logik vor.

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6.2 Perspektiven derEsser-Weber-Vergleiche (42) Als ein Gnindproblem wkd in verschiedenen Beitragen diskutiert (EndreB, Etzrodt, Martens, Maurer, Norkus, Prosch/Abraham, Schwinn), ob bzw. in welchem AusmaBe Webers Handlungskonzeption mit Essers Handlungstheorie vereinbar ist. Tenor mancher Beitrage ist, dass Esser Webers Konzeption — wenn iiberhaupt — nur in einer reduzierten Form integrieren konne (was allerdings bei Maurer und Prosch/Abraham auf Widerspruch stoBen wiirde). Zentraler Punkt dieser Kritik ist die besondere Bedeutung, die Esser der W E Theorie und der damit einher gehenden Orientierung an der Selektionsregel der Nutzenmaximierung in seiner Handlungstheorie einraumt. Der grundlegende Stellenwert der WE-Theorie habe 2ur Folge, so die Kritik, dass er alle Handlungen allein iiber einen Leisten schlagend erklare: den der Nutzenorientierung und -maximierung, zu dem auch die zur Produktion von Nutzen zu befriedigenden zwei Grundbediirfnisse gehorten. Im Grunde, so kann man die Kritik zuspitzen, geht damit eine Nivellierung des Erklarungspotenzials einher, welches Weber mit seinen vier Handlungstypen eroffnet. Schon die Erklarung von traditionalem Handeln, vor allem aber die von wertrationalem Handeln, sei unter den Pramissen der WE-Theorie nicht wirklich vorstellbar. Allenfalls konne etwa Wertrationalitat mit den Mitteln von Essers Theorie als Randbedingungen lediglich vorausgesetzt, nicht aber eigens erklart werden. Kurz, die differenzierten Erklarungsmoglichkeiten von Handlungen, die Webers Ansatz biete, gingen bei Essers Integrationsversuch verloren. (43) Mir scheint es fur weiter fiihrende Uberlegungen aufklarend zu sein, diese Einwande in Ankniipfung an eine These von Max Weber zu diskutieren. Im Zusammenhang mit dem Thema „kausales Erklaren von Handlungen" macht Weber folgende Aussage: „Die Moglichkeit ist nun gegeben, daB kiinftige Forschung auch ///A^erstehbare RegelmaBigkeiten fur sinnh.2iit besondertes Verhalten auffindet... die Anerkennung ihrer kausalen Bedeutung wiirde natiirlich die Aufgaben der Soziologie ...: die sinnhaft orientierten Handlungen deutend zu verstehen, nicht im mindesten andern. Sie wiirde in ihre verstandlich deutbaren Motivationszusammenhange an gewissen Punkten nur ///A^erstehbare Tatsachen (etwa: typische Zusammenhange der Haufigkeit bestimmter Zielrichtungen des Handelns, oder des Grades seiner typischen Rationalitat, mit Schadelindex oder Hautfarbe oder welchen andren physiologischen Erbqualitaten immer) einschalten, wie sie sich schon heute ... darin vorfinden" (Weber 1976, S. 3). Weber halt also der Moglichkeit nach nicht-sinnhafte, d.h. unverstehbare RegelmaBigkeiten bei der Erklarung von Handlungen fur bedeutsam („Anerkennung ihrer kausalen Bedeutung'*). Allerdings steht bei solchen Erklarungen die sinnhafte Deutung ganz eindeutig im Vordergrund. D e n n an einer

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fniheren Stelle formuliert Weber mit Bezug auf „Regeln" (als Aussagen iiber RegelinaBigkeiten)^'^: „Unser kausales Bediirfnis verlangt nun aber auch, daB da, wo die Moglichkeit der ,Deutung' prinzipiell vorliegt, sie volkogen werde, d.h. die bloBe Beziehung auf eine lediglich empicisch beobachtete noch so strenge ^egel des Geschehens geniigt uns bei der Interpretation menschlichen ,Handelns' nicht. Wir verlangen die Interpretation auf den ,Sinn' des Handekis bin" (Weber 1973, S.69f).58 (44) Itn Anschluss an diese Position Webers ware nun zu diskutieren, ob nicht Essers Selektionsregel „Nut2enmaxiniierung" eine Variante dessen ist, worauf Weber mit „unverstehbare RegelmaBigkeiten" abhebt. D e n n die Selektionsregel der Nutzenmaximierung ist nach Esser ein Produkt der Evolution, die sich als erfolgreiche und evolutionar stabile Strategie den menschlichen Organismen auf organisch-genetischer Ebene „eingebrannt" hat.^^ Als eine solche Kegel ist sie gleichsam Teil der ,„Natur' des Menschen" (Esser 2000a, S. 23) und steht den Akteuren sinnhaft nicht zur Disposition, kommt aber bei sinnhaften Selektionen regeknaBig (gesetzmaBig) zur Anwendung. Sinnhaft nicht zur Disposition stehend bedeutet, dass jeweilige Selektionen und Handlungen durch die Kegel — um eine Denkfigur von Weber zu variieren — kausal^ aber nicht sinnhaft bestimmt sind (Weber 1976, S. 12). Sie ist somit nicht, was typisch fiir Sinnhaftigkeiten wie Motive, Zwecke, Interessen oder Werte ist, kontingent und historisch variabel, sondern iiberhistorisch und — in den Grenzen von Evolution — invariant (Esser 1999, S. 126f, S. 223f). Von daher kennzeichnet die Kegel nicht das, was verstehbare Sinnhaftigkeiten charakterisiert und insofem kann man sie als unverstehbar begreifen.^^

„Regeln" und „RegelmaBigkeiten" sind bei Weber '/.u unterscheiden: „RegelmaBigkeiten" werden hier verstanden als unter bestimmten Bedingungen regeknaBig vorkommende Sinnzusammenhange (im Gegenstandsbereich des So2;ialen) und „Regeki" als Aussagen iiber solche RegeknaBigkeiten. Diese Regeki sind dann etwas anderes als „Ordnungen/Maxinien als Regeln" — eine zweite Bedeutung von „Regel" („Regel" steht hier fiir so etwas wie genereUe Einstellungsmuster von Akteuren, durch deren Anwendung Handlungs-RegelmaBigkeiten erzeugt werden), die Weber auch kennt; vgl. Weber 1973, S. 322f sowie Greshoff 2006a. Mit Bezug auf eine solche Regel des Geschehens heiBt es an der Stelle dann weiter: „Gesetiit, es gelange kgendwie der strengste empirisch-statistische Nachweis, daB auf eine bestimmte Situation seitens aller ihr jemals ausgesetzt gewesenen Menschen immer und iiberaU in, nach Art und MaB, genau der gleichen Weise reagiert worden sei und, sooft wir die Situation experimentell schaffen, noch immer reagiert werde ... so wiirde das an sich die ,Deutung' noch keinen Schritt weiterbringen; denn es wiirde ein solcher Nachweis, fiir sich aUein, uns noch nicht im mindesten in die Lage versetzen, zu ,verstehen', ,warum' iiberhaupt jemals und vollends, warum immer in jener Art reagiert worden sei" (Weber 1973, S. 69f). Sieh dazu oben Nr. 28 sowie Esser 1993, S. 219-229. Die WE-Theorie mit ihrer Selektionslogik der Nutzenmaximierung „gilt, so wird angenommen, ganz allgemein und ist von raumlichen, sachlichen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen unabhangig ... Die Logik des Handekis nach der WE-Theorie ist hio-psychisch strukturiert und in der Hardware des menschHchen Organismus verankert. Sie unterkegt des-

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(45) U m nun die Parallele zu Weber, auf die ich hier hinaus will, sehen zu konnen, muss man sich vergegenwartigen, dass Selektionen und Handlungen im Rahmen des MSE nicht allein unter Bezug auf die Selektionsregel erklart werden,^^ sondern immer auch — und pnoritar, wie gleich deutlich wird — unter Bezug auf die Inhalte, die sich aus den Fragestellungen ergeben, die die Akteure jeweiHgen Selektionen situativ zu Grunde legen: Worum geht es hier/um was fiir eine Situation handelt es sich? Und: Wie soll/will/werde ich hier handeln? Selektionen und Handlungen werden im MSE also situationsspezifisch erklart, d.h, unter Beriicksichtigung der von den Akteuren als Antworten und Reaktionen auf diese Fragen zu Grunde gelegten Situationsverortungen, Motive, Interessen bzw. Werte. U m diese in den Blick zu bekommen, bedarf es zunachst des nachvollziehenden Verstehens des sen, wie sich die Akteure in den jeweiligen Situationen sinnhaft verorten. Diese inhaltUche Ebene gilt es bei Mikroerklarungen angemessen einzubeziehen. Und dafur misst Esser dem, was er Kultur bzw. kulturelle Systeme nennt, also den als sozial giiltig in den Identitaten der Akteure verankerten Modellen von Situationen (jjErames'"), iiber welche sie sich orientieren, eine groBe Bedeutung zu. „Kultur ist ... der Schliissel zum Sinn, den die Akteure mit ihrem Tun verbinden, und daher isty^^^j* ,verstehende' Erklaren des Handelns der Akteure an eine Untersuchung der ,kulturellen Systeme' gebunden, die die Akteure als gedankliche Modelle miteinander teilen" (Esser 2001, S. 4). Folglich beginnt jede „soziologische Erklarung ... mit dem jdeutenden Verstehen' der objektiven Umstande, in denen sich die Akteure in der betrachteten Situation subjektiv befinden. Daran schlieBt sich die (jUrsachHche") Erklarung ihres jeweiligen Handelns an" (Esser 2004a, S. 273). Das, worauf Weber bei soziologischen Erklarungen so groBen Wert legt, namlich die Deutung auf den von den Akteuren gemeinten Sinn hin, findet sich also explizit auch bei Esser, denn „,Verstehen' heiBt ja, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, die Situation aus dessen Sicht zu betrachten und seine guten Grunde fiir das beobachtete Tun herauszufinden" (Esser 1999, S. 263).

halb keinem gesellschaftlichen Wandel, hochstens einem der biologischen Evolution. Und das dauert" (Esser 2000, S. 428). Es gibt allerdings auch Anklange bei Esser, die eine Wahl der Kegel annehmen lassen (Esser 1999, S. 258). Die Formulierung „Erklaren unter Be'zug auf die Selektionsregel" ist ungenau. Gemeint ist damit, dass die Selektionsregel als allgemeines Gesetz betrachtet und als solches in die HandlungstHeorie eingebaut wird. „Die Evaluation der Alternativen nach der Kalkulationsregel ... wird als ein ,allgemeines* Gesetz des Handelns betrachtet, das fur alle Menschen als giiltig angenommen wird" (Esser 1999, S. 257). Erklart wird dann also unter Bezug auf das Gesetz der WE-Theorie: „Dieses Gesetz (der WE-Theorie, R.G.) gelte im Prinzip fiir alle Akteure in alien Situationen. Es lautet...: Fiir alle menschlichen Akteure gilt: Wenn zwei Alternativen i und j 'L\xt Wahl anstehen, dann wahlt der Akteur die Alternative mit der jeweils hoheren Nutzenerwartung" (Esser 1993, S. 96).

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(46) liber das deutende Verstehen, wie sich die Akteure in Situationen verorten, erschlieBen sich fur Esser also deren Situationssichten, Motive usw., die ihrem Tun zu Grunde liegen, kurz, es erschlieBen sich dariiber, erklarungstechnisch gesprochen, die subjektiv-situationsJ^^^^JA/^ Randbedingungen.^^ Die Selektionsregel ist dagegen situations^/^j/)^^/^^. Erklarungen jeweiliger Handlungen geht es aber nicht primar u m das Situationsunspezifische, nicht u m bloBes Maximieren, sondern u m das Maximieren hinsichtlich dessen, woru m es Akteuren in einer Situation spezifisch und typisch geht (Esser 2006a). Und u m das herauszufinden, bedarf es eben des deutenden Verstehens. Letzteres macht denn auch die Grenzen der Selektionsregel deutHch. Sie determiniert nicht, welche Situationssichten, Ziele, Handlungsalternativen usw. Gegenstand jeweiliger Selektionen sind. Durch die Maximierungsregel sind die Akteure, so Esser, „niemals auf bestimmte Reaktionen deterministisch festgelegt" (Esser 1993, S. 228).^-^ Folglich determiniert sie auch nicht die Situationsbeschaffenheit, relativ zu der die Akteure Situationssichten, Handlungen usw. als zu selegieren in den Blick nehmen. Weiter sagt die Selektionsregel nichts iiber die Art der Bedingungen aus, die vorHegen miissen, damit sich ein perfekter match bzw. ein missmatch einstellt oder ein Wechsel von Situationsdefinitionen bzw. von Modi der Informationsverarbeitung moglich wird (alles Punkte iibrigens, zu denen man bei Weber und Luhmann so gut wie nichts Erhellendes findet).^"^ Die Selektionsregel determiniert nur, auf welche Weise (nach welcher Regel) jeweils selegiert wird. Erklarungen von Selektionen/Handlungen sind also nicht auf die Selektionsregel zu reduzieren, sondern die subjektiven Situationsverortungen, weiter die Situationsbeschaffenheit, relativ zu der die Akteure ihre Problemstellungen verfolgen sowie das angedeutete Bedingungsgefiige fur Anderungen von Situationsdefinitionen, sind immer einzubeziehen. Und fur dies alles: nach welcher Regel selegiert wird und unter welchen Umstanden bzw. Bedingungen zu Selegierendes zustande kommt, sind Konzepte anzugeben. Das geschieht bei Esser wie in Kapitel 5 skizziert durch die Angabe eines Situationskonzeptes sowie iiber die Konzeptualisierung von an maximierender Nutzenproduktion orientierten und dabei die Beschaffenheit ihrer Umgebung beriicksichtigenden Akteuren.

Um dieses ErschlieBen transparent zu machen, sind die oben (Nr. 29) erlauterten Briickenhypothesen zu formulieren, in denen sich dann das Verstehen „niederschlagt" (Esser 1998, 2003,S. 153f). Es ist, so Esser weiter, „nie auszuschUeBen ..., dass die findigen Menschen in ihrer Situation noch Alternativen aufspiiren, an die bis dahin keiner gedacht hatte ... Aber wenn sie bestimmte Alternativen ... sehen, dann wahlen sie eine davon immer nach der Regel des Maximierens (unter bounded rationality) aus" (Esser 1993, S. 228). Fiir knappe Skizzen dazu siehe Esser 2003, 2006.

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(47) U m auf die obige Kritikposition zuriickzukommen, Essers Handlungstheorie sei gegeniiber Webers Handlungskonzeption zu unterkomplex (Nr. 42), ist noch einmal an bereits dargelegte Punkte anzukniipfen. Die vorstehenden Ausfuhrungen haben unterstrichen, dass im MSE nicht nut: overte soziale Handlungen erklart werden, sondern auch coverte Vorgange (Esser 2001, S. X).^5 Die Erklarung von individuellen Selektionen geschieht im MSE also in einem mehrgHedrigen Vorgehen — das ist die Konsequenz von Essers Framing-Konzept als aUgemeine Handlungstheorie. Vorgesehen ist daniber die Erklamng der Selektion einer Situationsdefinition (eines Frames), eines damit einher gehenden Handlungsprogramms (eines Skriptes, das jeweiHge Handlungsformen in den BUck nehmen lasst, die Webers Handlungstypen entsprechen) sowie einer overten Handlung, also die Erklarung der Umsetzung des gewahlten Handlungstyps. Und vorgesehen ist zudem die Erklarung der Selektion eines Modus, nach welchem die gerade genannten Selektionen selegiert werden. Esser unterscheidet zwei Modi: entweder wird ^^automatisch'^ und nichtkalkuHerend, Routinen abrufend selegiert (as-modus) oder es werden Alternativen entwickelt, die in ihren mogUchen Folgen sowie Graden der Zielerreichung kalkulierend gegeneinander abgewogen und dann entschieden werden (rcmodus). Die Selektion, die den Modus der Informationsverarbeitung festlegt, kann ihrerseits ebenfalls automatisch oder kalkuHerend erfolgen. (48) Des weiteren entwickelt Esser fiir solche Erklarungen ein komplexes Bedingungsgefuge — werden Situationen als bekannt/unbekannt sowie wichtig/unwichtig eingeschatzt; welche Frames sind wie zugangHch in den Identitaten der Akteure verankert; sind mit den Frames verkniipfte Symbole storungsfrei erkennbar; wie ist es um die Motivation, die Opportunitaten und die Kosten bestellt, u m gegebenenfalls auf eine Situationsbeschaffenheit reflektieren zu konnen/woUen usw. (Esser 2001, S. 205-334, 2006) —, das Kriterien dafur nennt, unter welchen Umstanden von den Akteuren welcher Modus, welcher Frame (usw.) selegiert bzw. unter welchen Voraussetzungen ein Modus bzw. ein Frame (usw.) beibehalten oder gewechselt wird. Dieser „Apparat" (nebst Essers Orientierung an den Konzepten „Nutzenproduktion" und „gesetzmaBige Nutzenmaximierung"") wird gleichsam vor die Weberschen Handlungstypen gesetzt. Genauer: die Weberschen Handlungstypen werden als zu selegierende Handlungsprogramme und daniber als Telle von Frames begriffen. A m Inhalt der Handlungstypen wird dadurch dem Anspruch nach nichts geandert. Der Gewinn besteht nach Esser darin, dariiber erklaren zu konnen.

„Overt" meint sinnhafte Vorgange mit wahrnehmbarer Verhaltenskomponente, „covert" solche, die vor allem als innere sinnhafte Vorgange ablaufen, also primar ohne eine intendiert wahrnehmbare Verhaltenskomponente.

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warum welcher Handlungstyp in welcher Situation gewahlt und warum von einem Typ zu einem anderen gewechselt wird. (49) Um tatsachlich alle Handlungstypen Webers erklaren zu konnen, muss Esser auch den Fall vorsehen (und sieht ihn auch vor), dass nichtkalkulierend selegiert wird, dass nicht-kalkuHerend 2u selegieren ist. Kann er eine solche Selektionsverkettxing im MSE nicht zulassen, sondern muss als „letzte" Selektion immer eine kalkuHerende Selektion postulieren, ist strikt traditionales Handeln nicht zu erklaren und kommt er, was Schneider kritisiert, in einen unendlichen Regress, weil jeder kalkulierenden Selektion eine diese kalkuHerende Meta-Selektion zugrunde liege. Nun sieht Esser im MSE iiber das, was er „perfekten match" nennt, explizit die Moglichkeit vor, nichtkalkulierend zu selegieren, wie zu selegieren ist (Esser 2001, S. 329-334). Die inhaltliche Festlegung, so schreibt er, nicht-kalkulierend zu selegieren, wie zu selegieren ist, „ist eben kerne innere ,Entscheidung'", eben kein Kalkulieren von Alternativen, sondern ^^immer eine automatische, vom Willen und vom Bewusstsein des Akteurs unahhdngige Angelegenheit" (Esser 2001, S. 333). Er kann also den unendlichen Regress vermeiden. Aber es stellt sich dann mit Prosch/Abraham die Frage, wie ein solches Selegieren mittels der dem MSE zu Grunde gelegten WE-Theorie und deren „allgemeinem Gesetz des Handelns" erklart werden konnen soil. Denn die WE-Theorie und das allgemeine Gesetz sind liber Alternativenkalkulation definiert (siehe Anm. 61). Esser sieht das Problem selber und wendet hier die WE-Theorie, wie er schreibt, „nur formal" an,^^ d.h. er konzipiert die automatische Selektion zwar unter Bezug auf die fiir diese Theorie zentralen Parameter „Bewertung" und „Erwartung", aber ohne kalkulierende Alternativenerwagungen.^'^ (50) Geht man davon aus, dass das Konzept ernes perfekten matches von der Sache her — mit Einschrankungen — iiberzeugen kann^^ und Esser fiir die

Nach Kroneberg „folgen automatisch-spontane Selektionen nicht einmal mehr formal ... den Regeln der SEU-Theorie (also der WE-Theorie, R.G.)" (Kroneberg 2005, S. 360). Die formale Verwendung geschieht aus dem Grunde, dadurch mit einheitlichen Parametern arbeiten zu konnen, also eine anschlussfahige Modellierung zu verwenden, um dann etwa weitere Selektionen, die sich im Kontext ergeben mogen (etwa die eines miss-matches und die daraus resultierenden Folgen), problemlos einbeziehen zu konnen. Das „mit Einschrankungen" resultiert daraus, dass man bei Esser nicht so recht weiB, in welchem, wenn man so will, „Emergenzbereich" er das matching prioritar verortet: im Emergenzbereich „Gehirn" (also im Bereich des Neurophysiologischen) oder im Emergenzbereich des „Sinnhaften" (also der reflexiven Identitats-, Gedanken- und Vorstellungswelt). Einerseits geht er davon aus, dass dieser Vorgang automatisch-spontan passiert, „ohne jede innere Abwagung oder gar ,Entscheidung', alleine iiber den (physikalisch-neurologischen) Akt des Matchings von Erinnerung und Symbolik" (Esser 2001, S. 274; statt von „physikalischneurologisch" ist auch von „neurophysiologischen Prozessen" zu lesen; Esser 2001, S. 280). Andererseits geht es beim matching als eine Art von Mustererkennung zentral um Symboldeutung und die Frage ist, ob ein solcher Deutungsvorgang prioritar dem Emergenzbereich

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automatische Selektion die beiden fur die WE-Theorie grundlegenden Parameter „Erwartung" und „Bewertung" durchaus plausibel anwenden kann, bleibt trotzdem das Problem, dass eine solche Selektion nicht unter das allgemeine Geset2 des Handelns fallt. Indem Esser diese Selektion als „Optimierung" begreift und damit in die Nahe von Maximierung riickt, will er sie aber doch „irgendwie" unter diesem Gesetz subsumieren. Sein Argument ist, dass der iiber einen perfekten match erfolgte Riickgriff auf eine bewahrte und erfolgreiche Problemlosung eine hochst unaufwendige, kostensparende Selektion ist, die eine Optimierung gegeniiber einem immer irgendwie aufwendigen und, wie der perfekte match zeigt, in der Situation uberfliissigem Kalkulieren darstellt. Eine iiber einen perfekten match zustande gekommene Selektion habe insofern auch eine Rationalitat, und zwar die einer bewahrten Problemlosung.^^ Es handelt sich u m eine Art von substantieller Rationalitat. Daneben kennt Esser aber noch eine andere Form der Rationalitat (und das ist die „ublicherweise" von ihm behandelte), namlich eine Art von prozeduraler Rationalitat (Simon 1976), die mit der Anwendung der Selektionsregel „Nut2enmaximierung", also dem Kalkulieren zukiinftiger Konsequenzen von alternativen Moglichkeiten, einher geht. (51) Mit dem einen Wort „RationaHtat" werden also, und das ist fast sicher eine Quelle von Missverstandnissen, verschiedene Begriffe verbunden bzw. unterschiedliche Vorgange erfasst. Fragt man, ob beide Rationalitaten unter einen gemeinsamen Oberbegriff zu fas sen sind, so kann man so sagen: es geht beide Male u m die Findung oder Auswahl von Selektionen nach einer allgemeinen, evolutionar bewahrten Regel, die eine moglichst optimale Reproduktion von lebenden Organismen gewahrleistet (Esser 1993, S. 227). „Opti-

„Gehirn" zugeordnet werden kann, wie es bei Esser — siehe die Zitate — der Fall zu sein scheint. Denn „Symbole" definiert er als „Zeichen, die in einer sozialen Gruppe fest mit bestimmten Vorstellungen, Haltungen, Gefiihlen oder Handlungsbereitschaften assoziiert sind" (Esser 1999, S. 117). Symboldeutung, die ja immer von Akteuren produziert wird, hat also mit „Bedeutung" und „Reprasentation" zu tun — und zwar, da es beim matching um die Verortung in einer soi^akn Situation geht, mit Reprasentation von Akteuren in ihrem Verhaltnis zueinander, genauer mit der von Anderen im Verhaltois zu demjenigen, der die Symboldeutung vollzieht. Einen solchen Deutungsvorgang prioritar als neurophysiologisch zu beschreiben, scheint seine Charakteristik zu verfehlen. Denn auch wenn das matching als unreflektiertunbewuBte Mustererkennung ablauft, immer geht es dabei doch, wie in Nr. 45 beschrieben, um intentional-reflexive Situationsverortungen von Akteuren — also um etwas, was dem Bereich des „Sinnhaften" zugehorig zu sein scheint. — Mit der Problematisierung des Verhaltnisses von ,,Gehirn" und „Sinnhaftem" wird allerdings ein Themenkomplex beriihrt, der im Moment sehr kontrovers diskutiert wird und bei dem vieles ungeklart ist. „Die (spontane) Befolgung von Regeln ist - wenn der ,match' stimmt - so gesehen sogar eine besonders kluge Art des verniinftigen Handelns. ,Vernunft' hat eben nicht alleine mit ,Berechnung' und mit ,Konsequenzen' zu tun, sondern mit dem gesamten Aufwand bei der Selektion des Handelns und alien Aspekten der Optimierung der Nutzenproduktion" (Esser 2000c, S. 95).

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malitat" in diesem Sinne, so kann man Esser deuten, wird einmal erreicht dutch das Befolgen der Maxknierungsregel, zum anderen durch das Befolgen del Kegel, bewahrten Problemlosungen unter bestknmten Umstanden zu folgen, nanJich wenn sich situativ ein perfekter match ergibt Fiir letztere Kegel waren bewahrte Problemlosungen gleichsam als ehedem iiber die Maximierungsregel zustande gekommene Problemlosungen vorzustellen, die in der Identitat der Akteure „gespeichert" wurden und als solche unter den angedeuteten Umstanden ^abzurufen^' sind. Hinsichtlich bewahrter Problemlosungen miisste dann folgendes nachzuweisen sein: wird in einer Situation iiber einen perfekten match selegiert, dann miisste in dieser Situation, wiirde man nicht, wie gerade angenommen, automatisch, sondern nach der Maximierungsregel kalkulierend selegieren, dariiber dieselbe Selektion gewahlt werden, wie es durch das perfekte matching der Fall ist. Trifft das zu, dann konnte man sagen, dass aus dem perfekten matching eine tatsachlich optimierende Selektion resultiert, weil sie der entspricht, die aus einem maximierenden Selegieren folgen wiirde, Folgt man dieser Argumentation, wird auch folgende Aussage Essers plausibler: „Damit ware die Optimierung schlieBlich doch das allgemeinste Gesetz des Handelns. Sie ist ... ein zentrales und unaufgebbares Ergebnis der Evolution des homo sapiens und der menschlichen Gesellschaft allgemein. Eine andere Kegel ware kaum vorstellbar" (Esser 1999, S. 241). Die Argumentation kann zudem in einer bestimmten Hinsicht verstandlich machen, warum er den Vorgang, der, wie oben zitiert (Nr. 49), kein inneres Entscheiden darstellt, formal wie eine Entscheidung modelliert. D e n n unter Voraussetzung der gerade vorgestellten Annahmen sind auch die beiden Kationalitaten dahin gehend wieder zusammenzufiihren, dass man sagen kann, die substantielle Kationalitat resultiere aus einer prozeduralen Kationalitat, weil sie auf letztere riickfiihrbar sei. Man kann die Probleme, die sich bei Esser wie gerade dargelegt im Zusammenhang mit perfektem match und allgemeinem Gesetz des Handelns ergeben, so transparent machen, wie gerade versucht und auf der Basis dieser Transparenz damit kontrolliert umgehen. Man kann aber auch fragen, ob man sich diese Probleme aufladen muss oder ob man nicht mit Weber auch ohne die Annahme eines allgemeinen Gesetzes des Handelns kausal erklaren kann. Dass letzteres der Fall ist, dafiir hat nachdriicklich Martin EndreB in seinem Beitrag argumentiert. U m diesbeziiglich Unterschiede zwischen Esser und Weber auf den Begriff bringen zu konnen, soil auf Webers Position kurz eingegangen werden. (52) Weber erklart soziales Geschehen kausal iiber „soziologische Regeln"."7^ Dazu konzipiert er mittels seines Konzeptes „Sinnzusammenhang" (=

Synonym: „generelle Regeln des Geschehens"; Weber 1976, S. 5£, S. 9, S. 195.

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Motiv-Handeln-Verbindung als kausaler Zusammenhang)'^^ bestimmte Sinnzusammenhange, namlich sinnaddquate Sinnzusammenhange (= typische MotivHandeln-Zusammenhange). Bei diesen Zusammenhangen handelt es sich um solche, die nach den durchschnittlichen Denk-, GeJSihls- und Einstellungsgewohnheiten als typische im Sinne von: „gelaufige", „ublichen Denkgepflogenheiten folgend", eingeschatzt werden^^ welche sich nach einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad mit einer diesem Grad entsprechenden RegelmaBigkeit itnmer wieder ereignen (= Kausaladdquan^ die auf „Regeln der Erfahrung" beruht und, so Webers Forderung, die empirisch belegt sein muss). Aussagen iiber als sinnadaquat belegte und als kausaladaquat erwiesene soziale Sinnzusammenhange nennt er „so2iologische Regeki". Kausales Erklaren eines jeweiHgen sozialen Handelns bedeutet dann, dieses Handeki unter eine solche Kegel zu subsumieren, d.h. das Handeln dariiber deutend zu erfassenJ^ In diesem Sinne deute ich seine Aussage, dass „Einzelvorgange ... kausal ,erklaren'" heiBt: sie „unter Regeln bringen" (Weber 1976, S. 6). Kausal erklart wird also iiber empirisch bestatigte soziologische Regeln und nicht iiber ein allgemeines Gesetz des Handelns. Ein solches Gesetz kannte Weber, anders als Esser meint bei ihm nachweisen zu konnen (Esser 1999, S. 198f), nicht.'^'^ Eine allgemeine Selektionsregel, fundiert in evolutionstheoretisch-anthropologischen Annahmen iiber Nutzenorientierung/-maximierung sowie bestimmten Grundbediirfnissen, zieht Weber bei kausalen Erklarungen von Sinnzusammenhangen nicht heran. Die „Natur des Menschen" hielt er als Erklarungsanhaltspunkt

„Grunde als Motive sind fur Weber die Ursachen von Handlungen" (Albert 2005, S. 406). Statt „typisch" schreibt Weber auch von „richtig" im Sinne von: „auf giiltigen Erfahrungen beruhend". Sein Beispiel fiir Sinnadaquanz in den „Grundbegriffen" ist eine „nach den uns gelaufigen Normen des Rechnens oder Denkens richtige Losung eines Rechenexempels" (Weber 1976, S. 5, siehe zu „richtig" auch S. 2 sowie 1973, S. 432; vermutHch steht „richtig" fiiir einen Uberrest des Kon^eptes „Richtigkeitsrationalitat", das Weber in den „Grundbegriffen" nicht mehr eigens aufgenommen hat). Die „durchschnittlichen Denkgepflogenheiten" sind, so wird man Weber deuten konnen, solche, die sich in bestimmten Situationen zu jeweiligen „Problemlagen" ausgebildet haben, die natiirlich immer von irgendwelchen Akteuren getragen werden. - An dieser SteUe ist auch darauf hinzuweisen, dass Weber mit „t)^pisch" hier nicht „idealt}^pisch" meint! „BloBes" Erklaren scheint dagegen zu meinen, ein Handeln nicht unter Bezug auf eine solche Kegel, sondern aUein iiber das Konzept „Sinnzusammenhang" deutend zu erfassen (Weber 1976, S. 4). Dass es auch strikte GesetzmaBigkeiten im Bereich des Sinnhaften geben kann, schHeBt Weber nicht prinzipiell aus (Weber 1973, S. 12, S. 178f). Allerdings hielt er die Feststellung solcher GesetzmaBigkeiten Hir (zunachst?) wenig aussagekraftig (Weber 1973, S. 11 If). Wenn auch manches dafur spricht, dass Weber annahm, zweckrationales bzw. strikt rationales Handeln verlaufe gesetzesartig (Weber 1973, S. 127, Hopf 1991, S. 136), so kann man von daher nicht folgern, dass er dieses rationale Handeln als allgemeines Gesetz des Handelns begriffen hat. Die Gesetzesartigkeit gilt nur fiir dieses Handeln!

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wohl eher fiir irrelevantJ^ Das lasst sich zeigen an der Art und Weise, wie charakteristische historische Situationsbeschaffenheiten Webers maBgeblicher Bezug fur die Konstruktion „so2iologischer Regeln" sind. (53) Im Ausgang von solcherart Situationsbeschaffenheiten — man wird auch sagen konnen: „Situationslogiken" ~ will er „Erfahrungsregeln ... insbesondere liber die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen" (Weber 1973, S. 276f), aufsteUen. Derartige Erfahrungsregeln — also soziologische Regeln — zu bilden ist nur mogHch, weil es, so deute ich Weber, so etwas wie „Situationslogiken" gibt, an denen sich die Akteure bei ihren Handlungen orientieren. Was er sich unter „Situationslogik" vorstellt, lasst sich einer Aussage entnehmen, in der er die okonomischen „Geset2e" seiner Zeit als Schemata — man kann auch sagen: Regeln — deutet, die „nicht durch psychologische Analyse der Individuen, sondern durch idealtypische Wiedergabe des Preiskampf-Mechanismus aus der ... in der Theorie hergestellten ohjektiven Situation deduziert werden, welche da, wo sie ,rein' zum Ausdruck kommt, dem in den Markt verflochtenen Individuum nur die Wahl laBt zwischen der Alternative: ,teleologische' Anpassung an den ,Markt' oder okonomischer Untergang" (Weber 1973, S. 140). Nicht die Analyse von Akteuren ist der prioritare Bezug fiir die Aufstellung von soziologischen Regeln, sondern die jeweilige Situationsbeschaffenheit: die durch den „Preiskampf-Mechanismus" charakterisierte soziale Situation macht im vorliegenden Fall deren - kapitalistische — Situationslogik aus, und an dieser Logik wird das Handeln der in dieser Situation agierenden sowie sie tragenden Akteure immer wieder in typischen Weisen orientiert.'^^ Man konnte auch so sagen: aus dieser Situationslogik entwickeln sich Sinnadaquanzen, auf die man fiir kausale Erklarungen rekurrieren kann.

Die „Natur des Menschen" scheint nach Weber eher gewohnheitsmaBiges Handeln zu befordern, wie folgende Aussage belegt: „Dies ist nun dasjenige Verhalten, welches — im AnschluB an den iiblichen Sprachgebrauch — als ,Tfaditionalismus' bezeichnet werden soil: der Mensch will ,von Natur' nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er 2u leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist" (Weber 1993, S. 20). Die These von der Irrelevant der Natur des Menschen als Erklarungsbezug ware zusammen mit der von Martens zu diskutieren, dass Essers evolutionstheoretisch fundierte Annahme der Nutzenorientierung alien Handelns die gleiche ist, wie die der zeitgenossischen okonomischen Theorie Webers und insofern deren Spezialsicht auf okonomisches Handeln von Esser unzulassig fiir alles Handeln veraUgemeinert wird. Als weiteren Beleg fiiir diese These siehe seine ironische Bemerkung gegen Knies, dieser glaube, dass es zur Analyse, „daB Fabrikanten generell ihre Rohstoffe biUig zu kaufen und ihre Produkte teuer zu verkaufen beabsichtigen, eigentlich nicht viel weniger als einer Analyse des gesamten empirischen menschlichen Handelns und seiner psychologischen Triebfedern iiberhaupt" bediirfe (Weber 1973, S. 140f). Der moderne Kapitalismus, um den es im Zitat geht, lasst sich nach Weber aber auf diese Weise eben gerade nicht erklaren, wohl aber durch Bezug auf die „Situationslogik" des „Preiskampf-Mechanismus". Zum Konzept der „objektiven Situation" siehe auch Weber 1973, S. 133.

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(54) Wenn Weber auch kein allgemeines Situationskonzept prasentiert, so scheint ihm ein solches aber doch vorgeschwebt zu haben, wie seine hier zusammen gestellten Aussagen dazu, dass „Situationslogiken" das Handeln von Akteuren pragen, mutmaBen lassenJ'^ Danach konzipiert er typische Sinnzusammenhange — zixmindest auch — unter der Annahme, dass Situationen so etwas wie „Leitideen/-niotive" kennzeichnet (Weber 1993, S. 20),^^ die bei den in solchen Situationen handelnden Akteuren bestimmte Motiv-HandelnZusammenhange „bewirken", welche fur diese Situationen bzw. die sie tragenden Akteure als gelaufige, iibliche usw. zu belegen sind. Der Konstruktion soziologischer Regeln unterliegt dann die These, dass Akteure in erkennbaren RegeknaBigkeiten situationsangemessen und -typisch orientiert Handeln. Dafur spricht auch seine Aussage, dass wir „sehr wohl generell giiltige Urteile dahin fallen (konnen, R.G.), dass durch bestimmte Situationen eine in gewissen Merkmalen gleiche Art des Reagierens seitens der ihnen gegeniibergestellten Menschen in mehr oder minder hohem Grade ,begunstigt'" wird (Weber 1973, S. 285). Weber macht bei kausalen Erklarungen keine naheren Angaben dariiber, warum — im Sinne von: nach welcher allgemeinen Regel — in Situationen jeweiUge Situations sichten/Motive und Handliingen von den Akteuren ausgewahlt wurden. Sondern er konzipiert allein unter Bezug auf situationslogischdurchschnittHche Denk- und Einstellungsgepflogenheiten typische Sinnzusammenhange, die solche Auswahlen impUzieren. 1st dieser Sinnzusammenhang als kausaladaquat nachzuweisen, verfugt Weber iiber eine „soziologische Regel", der in jeweiHger Weise motivierte Handlungen subsumiert und dariiber erklart werden konnen. (55) Das Auswahlproblem habe ich im vorstehenden Abschnitt deshalb eingebracht, u m eine Differenz zu Esser zu verdeutHchen. D e n n auch wenn Weber seine Erfahrungsregeki „nomologisches Wissen" nennt (Weber 1973, S. 178f, S. 276f), so ist das darauf beruhende Erklaren doch kein nomologisches Erklaren im Sinne Essers. „Richtiges" kausales Erklaren bedeutet fur Weber nicht, wie fur Esser, Erklaren unter Anwendung von Gesetzen. Weber erklart kausal unter Bezug auf WahrscheinUchkeitsregeln. Diese sind keine Notwendigkeitsurteile wie naturwissenschaftHche (oder Essers) Gesetze, sondern in „Regeln ausgedriickte addquate ursachliche Zusammenhange" (Weber 1973, S. 179), mittels derer ein, wie er sich ausdriickt, zu erklarender Vorgang unter Voraussetzung bestimmter Absichten und (richtiger oder falschHcher) Einsich-

Siehe dazu auch seine obigen Aussagen (Nr. 21), die ich mit dem Makro-Mikro-Konzept in Zusammenhang gebracht habe; siehe auch das Zitat in Anm. 58. Die maBgeblichen Wertideen der so genannten „Wertspharen" wird man auch hier zuordnen konnen.

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ten und eines dadurch bestimmten Handelns als „,2ureichend' motiviert" befunden werden kann (Weber 1973, S. 69). Weber erklart also liber mehr oder weniger gesicherte stochastische Aussagen. Das, worauf es Esser bei Handlungserklarungen ankommt (und worin Andrea Maurer und auch Rafael Wittek einen Vorteil gegeniiber Webers Handlungskonzeption sehen), namHch unter Bezug auf ein Gesetz anzugeben, warum unter welchen Bedingungen in einer bestimmten Situation welche Situations sicht gewahlt wurde und warum unter der Voraussetzung einer bestimmten Zielsetzung eine bestimmte Handlung selegiert wurde (Esser 1999, S. 204f, S. 241-244), findet sich bei Weber nicht Framingprozesse, also die Wahl wie auch der Wechsel von Orientierungen und Handlungsformen, werden von Weber nicht eigens erklart (Lindner 1986, S. 162). Gleiches gilt fur die Selektion eines „Modus der Informationsverarbeitung", der bei ihm explizit kaum Thema ist. Sie flieBt sozusagen implizit uber die mit den Handlungstypen einher gehende Art der Informationsverarbeitung ein,'^^ wahrend Esser dafUr expHzite Konzepte entwickelt — was als eine Mehrleistung gegeniiber Weber zu begreifen ist (Esser 2001, S. 261-297). Von daher kann man denn auch nicht so ohne weiteres auf Webers Erklarungskonzept als gleichgewichtige Alternative zu dem von Esser zunickgreifen. (56) Trotz dieser Differenzen lassen sich, vor allem von Weber her gedacht, auch Ahnlichkeiten im Erklarenskonzept zwischen Esser und Weber ausmachen. Diese sind folgendermaBen zu entwickeln. Zunachst ist festzustellen, dass es auch Esser beim kausalen Erklaren von Selektionen vor allem um typische Selektionen innerhalb typischer sozialer Situationen bzw. Gebilde geht. Von daher kann man eine Nahe zu Webers Konzept der Sinn- und Kausaladaquanz bzw. zu dem, was er „soziologische Regeki" nennt, konstatieren. Bei Erklarungen von Selektionen konzipiert Esser, wie man z.B. an seiner Erorterung von „Wertrationalitat" erkennen kann, einen typischen — durchaus im Sinne von: sinnadaquaten — Sinnzusammenhang.^^ In bestimmten Situationen bildet sich xiber einen kalkulierenden Modus der Informationsverarbeitung, also liber die Gewichtung von Griinden, bei Akteuren die Orientierung, bestimmte Prinzipien (Werte), egal welche konkrete Situation vorHegt, als unbedingt einzuhalten und zu befolgen festzulegen. Mit der unbedingten Giiltigkeit dieser Orientierung geht dann einher, dass bei ihrer situativen Umsetzung eine Reflexion auf die jeweiHgen Folgen der Umsetzung entfaUt. Dieses Ausblenden

^^

An dieser Stelle waren die Thesen von Wil Martens zu diskutieren, dass Weber die Herstellung von Situationssichten und Handlungen ganz anders als Esser konzipiert, namlich nicht orientiert an gespeicherten Modellen von Frames und Handlungstypen, sondern iiber ein spezifisch synthetisierendes Denken. ^0 Implizit formuliere ich hier die These, dass das, was Esser mit „t}^pisch" meint, der groben Linie nach dem entspricht, was Weber mit „Sinnadaquanz" beschreibt (welche ja das Moment des „Typischen" umfasst; s. Anm. 72).

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von Konsequenzen ist in der Wirkung gleich dem, das bei einem perfekten match und dem daraus resultierenden automatischen Selegieren der Fall ist. Der -Unterschied besteht darin, dass die wertrationale Unbedingtheit Folge einer kalkulierenden Entscheidung ist und sich nicht auf evolutionarem Wege als Automatismus „eingebrannt" hat (Esser 2003, S. 177-182).8i Die skizzierte Herleitung der Entstehung von Wertrationalitat kniipft zunachst an eine jeweilige Situationslogik an, aus der heraus sich der Sinnzusammenhang „Wertrationalitat" entwickelt. Dieser Sachverhalt ist fur Esser — wie fur Weber — nur iiber deutendes Verstehen von sinnhaften Situationsverortungen in solchen Situationslogiken zu erschlieBen. Von daher sind die Bnickenhypothesen, in denen dieses Verstehen formuliert wird, „notwendigerweise historisch spezifisch" (Esser 1999, S. 16). Die deutend erschlossene Situationsverortung und die weiteren Selektionen, die die Entstehung des Sinnzusammenhanges „Wertrationalitat" ausmachen, werden bei Esser mit seinem allgemeinen Gesetz des Handelns bzw. der allgemeinen Selektionsregel der W E Theorie erfasst. Die Kausaladaquanz der Ablaufe dieses Sinnzusammenhanges ist dann eine auf Gesetzen basierende — und darin unterscheidet sie sich von der stochastischen Kausaladaquanz, die Weber fur solche Zusammenhange annimmt. Dass Esser bei seinen Erklarungen als Erklarungsargument das Hempel-Oppenheim-Schema benutzt, kann man als weiteren Unterschied zu Weber stark machen. Man kann hiermit aber auch eine Ahnlichkeit verbinden. D e n n Webers soziologische Regeln las sen sich in die Form des HempelOppenheim-Schemas bringen (Albert 2005, S. 406, Hopf 1991, S. 124). Dazu waren fiir ein konkretes Handeln als Explanandum a) aus bestatigten Annahmen iiber typische Sinnzusammienhange Randbedingungen zu gewinnen und b) die Aussagen iiber einen als kausaladaquat belegten typischen Sinnzusammenhang, den Weber als einen stochastisch-generellen „Wenn-dann-Zusammenhang" beschreibt, an die Stelle eines Gesetzes in das Erklarungsargument von Hempel-Oppenheim einzufiigen. Man muss bei einer solchen Zuordnung allerdings vergegenwartigen, dass Weber nicht davon ausgeht, dass sich jedes typische Handeln bzw. jeder typische Sinnzusammenhang von Einzelnen bzw. verschiedenen Akteuren mit einer bestimmten RegelmaBigkeit ereignet. D.h. ob Sinnadaquanzen mit Kausaladaquanzen einher gehen, sich also tatsachlich mit einer bestimmten RegelmaBigkeit ereignen, muss immer erst empirisch gepriift und belegt werden (Weber 1976, S. 6). Einen empirischen Bezug fordert auch Esser fiir seine Erklarungen. Die Gesetze, die Regeln sowie die Randbedingungen, iiber die erklart wird, miissen empirisch priifbar und wahr sein (Esser 1993, S. 43).

^1 Ob Esser damit alle Formen von Wertxationalitat erfassen kann, was Etzrodt und Norkus mit Blick auf Gesinnungsethik bezweifeln, ware in Spezialdiskussionen zu klaren (Greve 2003).

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(57) Vergegenwartigt man sich noch einmal die Erklarungsprogrammatiken von Weber und Esser, und zwar im Lichte der Ausfiihrungen von Rafael Wittek, dann zeigt sich ein Unterschied, der die Methodik fur die Herstellung von Erklarungen betrifft. Essers Interesse an kausalen Erklarungen ist darauf gerichtet, Erklarungshypothesen daniber zu bilden, aus welchen typischen Situationslogiken welche typischen Situationssichten bzw. Handlungsformen unter welchen Bedingungen und in welcher Form nach dem allgemeinen Geset2 des Handelns und der Selektionsregel der WE-Theorie gewahlt und dann als Handeln umgesetzt werden; darauf aufbauend will er weiter erklaren, welche kollektiven Folgen aus welchen Formen des Zusammenhandelns mit bestimmter RegelmaCigkeit resultieren. Das MSE ist dann ein Vorschlag, um die gerade skizzierten Forschungsaufgaben in kontrollierter Weise durchfuhren zu konnen. In diesem Sinne ist es mit seinen analytischen Unterscheidungen dafiir gedacht, die Erforschung jeglicher Sozialkonstellationen anzuleiten, und zwar mit folgenden Konsequenzen. Die analytische Unterscheidung verschiedener Schritte — die drei Logiken bzw. die Briickenhypothesen, Selektionserklarungen, Transformationshypothesen — ermogUcht es, in der Anwendung auf den konkreten Fall verschiedene Kausalstrange nicht nur explizit in den Blick zu nehmen, sondern auch partielle (oder umfassendere) Korrekturen vornehmen und deren Auswirkungen kontrolliert beriicksichtigen zu konnen, so dass bei Fehlern nicht immer alles in Frage gestellt und komplett umgeworfen werden muss. Das MSE ermoglicht es somit auch, dass Konzeptualisierungen und Erklarungen erst mogUchst einfach gehalten und dann, je nach empirischem Bedarf, partiell bzw. insgesamt „angereichert" (konkretisiert) werden konnen — ein Vorgehen, das mit „abnehmende Abstraktion" umschrieben wird (Esser 2000b, S. 337-352). (58) Weber geht es bei kausalen Erklarungen darum, Erklarungshypothesen daniber zu bilden, aus welchen typischen Situationslogiken sich welche typischen Motiv-Handeln-Zusammenhange mit bestimmter RegelmaBigkeit ereignen. Die daraus resultierenden Folgen fur die Beschaffenheit der Situationslogik miissen dann, was oben (Nr. 22) bereits thematisiert wurde, „irgendwie aggregierend" aus solchen Zusammenhangen heraus erklart werden. Fiir diese Forschungsaufgaben hat er nun nicht so etwas wie ein MSE entwickelt. Webers zentraler Bezug ist hierfiir die Konstruktion von Idealtypen. Damit zieht er eine bestimmte Konf^ep^chenc ein. Auf dieser werden Idealtypen von jeweiligen sozialen Konstellationen/Situationslogiken — etwa: FeudaUsmus, KapitaHsmus, mittelalterliche Stadt usw. — konstruiert, die fiir die empirische Forschung der Hypothesenbildung den Weg weisen sollen.^^ ^Jdealtypus" ist

Der Idealtypus hat in Webers Soziologieprogrammatik eine zentrale Stellung: „Die Soziologie bildet ... Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens" (Weber 1976, S. 9). Hopf kommentiert diese Programmatik meines Erachtens zutxeffend so: „Die Bildung reiner

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also kein ubergreifendes So2ialkon2ept wie das MSE, sondern eine bestimmte Begriffsbildungsstrategic. Sie soil verschiedenes leisten. Zunachst muss man sich klar machen, dass ein Idealtypus kein Gattungsbegriff ist; letzterer fasst „lediglich" das empicischen Erscheinungen Gemeinsame zusammen (Weber 1973, S. 202). Im Idealtypus dagegen werden jeweilige Vorgange und Zusammenhange in denjenigen ihrer Bestandteile begrifflich erfasst, von denen angenommen wird, dass darauf die Kulturbedeutung der Vorgange usw. beruht. Die Zumessung von Kulturbedeutung, die an Wertideen gekoppelt ist, bildet nach Weber ein unumgangliches Auswahlprinzip, mittels dessen aus der, wie er sich ausdriickt, unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit uns interessierende Gegenstande ausgewahlt werden. Mit dem Konzept „Idealtypus" will er solche Auswahlen in ihrer Kontingenz transparent machen und somit dem Rechnung tragen, dass „alle unsere ,Erkenntnis' sich auf eine kategorialgeformte Wirklichkeit bezieht" (Weber 1973, S. 290). Zudem haben idealtypische Begriffe einen besonders selektiven Zuschnitt dadurch, dass sie gewonnen werden „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch ZusammenschluB einer Fiille von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Ein^ekrscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fugen, 2u einem in sich einheitlichen Gedankenh'Mt'' (Weber 1973, S. 191). Eine idealtypische Konstruktion ist also eine Art von gesteigertem Idealbild, das der empirischen Forschung als FoHe dienen soU, die gleichsam liber das empirische Material gelegt wird, um Abweichungen von der Konstruktion (oder auch Ubereinstimmung damit) feststellen und entsprechende empirische Hypothesen — etwa iiber generelle Regeln des Geschehens — formuHeren zu konnen. Als solche „gesteigerte" Konstruktionen sind Idealtypen keine empirisch be- oder widerlegbaren Hypothesen, sondern richtig oder falsch konstruiert, niitzlich oder nutzlos fur die empirische Hypo the senbildung. Die Niitzlichkeit von Idealtypen will Weber vor allem auch dadurch gewahrleisten, dass mit ihrer wie gerade beschrieben „gesteigerten F o r m " konzeptuelle Eindeutigkeit und Ubersehbarkeit einher geht, die ihre skizzierte Funktion als FoHe fruchtbar zur Geltung bringen lasst (Weber 1976, S. 2f, S. 10, 1973, S. 130f, S. 175-214). (59) Diese konzeptuelle Eindeutigkeit und Ubersehbarkeit vor allem ist der Punkt, an den Esser ankniipft. Da er seine erklarenden Modellierungen moglichst einfach halten will (zumindest zunachst), begreift er sie, und zwar als eine Art von „gesteigerte" Nullhypothese, als idealtypisch konstruiert (Esser

Typen macht den theoretisch-konstruktiven, ja fiktiven Teil der Soi^iologie, die Suche nach generellen Regeln des Geschehens ihren empirisch kontroUierten Teil aus" (Hopf 1991, S. 124). Zwischen beidem, den Idealtypen und den Regeln, gibt es bei Weber ein Wechselspiel. Fiir die Idealtypenkonstxuktion werden Regeln gebraucht und fur die Regelerforschung Idealtypen.

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1999, S. 200). Ob Esser dabei alle die oben aufgelisteten Punkte, die zu einem Idealtypus gehoren, beriicksichtigt — Martin EndreB ist hier eher skeptisch —, ware gesondert 2u priifen (Esser 2000, S. 459-470). Aber tatsachlich kann man das MSE, auch wenn es zunachst als Gattungsbegriff konzipiert ist (jedenfalls ist das meine Vermutung), fur idealtypische Konstruktionen nutzen.^^ Dariiber waren dann die in Nr. 57 beschriebenen Vorteile des MSE mit denen des Idealtypus zu kombinieren. Will man daraus eine systematische Begriffs- und Hypothesenbildungsstrategie machen,^"^ miissten allerdings die erkenntnistheoretischen Probleme, die bei Weber mit dem Konzept „Idealtypus" verbunden sind — um nur ein paar anzudeuten: was hat es mit „Wirklichkeit als unendliche Mannigfaltigkeit", „Wertideen", „Kulturbedeutung" auf sich — einer genaueren Klarung zugefuhrt werden, als es bei ihm der Fall ist.^^ Bei einer solchen Klarung wiirde es sich unter integrativen Gesichtspunkten anbieten, Luhmanns erkenntnistheoretische Beobachterkonzeption einzubeziehen, und zwar hinsichtlich des von Weber genannten Punktes „kategorialgeformte WirkHchkeit". Im Anschluss an diesen Punkt ware zu entwickeln, woran es bis heute mangelt, namlich ein pragmatischer, aber zugleich erkenntnistheoretisch geniigend abgesicherter Umgang mit diesem „Sachverhalt", der ermogUcht, dass nicht immer wieder aufs Neue erkenntnistheoretische Debatten gegenstandsbezogene Forschungen erschweren. 7 Schlussbetrachtung (60) Die vorstehenden Ausfiihrungen machen deutlich, dass eine differenzierte Bilanzierung von Essers Integrationsprojekt langerer Ausfiihrungen bedurfte — was an dieser SteUe nicht moglich ist. Einige Punkte sollen aber benannt werden. Dafur will ich ankniipfen an das Verstandnis von „integrativ", welches

Weber selbst kennt ja explicit „idealtypische Gattungsbegriffe" (Weber 1973, S. 205). Die dann auch noch Webers Methode der „objektiven Moglichkeit" als einen Vorschlag, fiiir Erklarungen Kausali^usammenhange gewichten zu konnen, einbeziehen sollte; vgl. dazu Weber 1973, S. 266-290, Greshoff/Schimank 2005, S. 33f, EndreB 2005. Siehe hierzu auch, zwar in verschiedenen Punkten zu stark zuspitzend, Schmid 2004. Die von Schmid behauptete „Begriffslastigkeit" von Weber nimmt dessen in Anm. 82 zitierte Soziologieprogrammatik nicht ernst genug und iibersieht etwa, dass Weber schon friih „Kausalitat" in den Mittelpunkt seiner Uberlegungen gestellt hat und davon ausgeht, dass „alle ,Kulturwissenschaften' ... diese Kategorie („Kausalitat", R.G.) durchweg in ihrer vollen Entfaltung" verwenden: „sie betrachten Zustande und Veranderungen der Wirklichkeit als ,bewirkt' und jwirkend' und suchen teils aus den konkreten Zusammenhangen durch Abstraktion ,Regeln' der jVerursachung' zu ermitteln, teils konkrete ,ursachliche' Zusammenhange durch Bezugnahme auf ,Regeln' zu ,erklaren'" (Weber 1973, S. 135f; WeiB 1994). Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang dann auch auf Webers oben belegte Erforschung von Situationslogiken, der es um eine solche Regelsuche geht.

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Dietmar Braun seinem Aufsatz voran gestellt hat. Danach kann eine Theorie den Anspruch, integrativ zu sein, dann erfullen, wenn es ihr gelingt, Erkenntnisgewinne, die aus Konzepten anderer Theorien entstehen, auf der Grundlage der Pramissen und zentralen Vorstellungen der eigenen (also integrierenden) Theorie hervorzubringen. Gemeint ist damit nicht, so Braun, eine bloB „addierende" Hinzufiigung anderer Konzepte in den eigenen Theorierahmen, sondern eine eigene und andere Konzepte „verniittelnde" Einarbeitung. Dieses Verstandnis von „integrativ" ist in verschiedenen Hinsichten fruchtbar. Daran ankniipfend ist namlich hinsichtlich Esser die Frage zu stellen, was „seine Theorie" ausmacht, in die integriert wird. Diese Frage ist aus verschiedenen Griinden nicht so ohne weiteres zu beantworten. Die Antwort etwa, dass seine Theorie im wesentlichen eine rc-Theorie sei, ist sicher irrefiihrend. Einmal betrifft „rc" primar die Selektionsebene und sagt nichts iiber Situationsund Aggregationslogiken aus. Weiter ist das Etikett „rc" insofern unzureichend, als Esser ja auch explizit nicht-kalkulierende Selektionen einbezieht, wie oben im Zusammenhang mit dem Konzept der „formalen WE-Theorie" erlautert wurde (Nr. 49). Und schlieBlich ist die Frage schwer zu beantworten, weil seine heutige Theorie ja dem Anspruch nach bereits Integrationsprodukt ist, also schon Integriertes impHziert. Im Ausgang von seiner aktuellen Sozialtheorie lassen sich aber dann doch so etwas wie „rahLmensetzende Konzepte" nennen, an die zu integrierende Konzepte anderer Ansatze — etwa Webers Handlungstypen oder Luhmanns Kommunikationsbegriff — angepasst werden. Dies geschieht in folgender Weise: Esser ubernimmt — und anders funktioniert vermutlich nicht, was ich hier thesenartig beschreiben will — in einer von bestimmten Bedeutungen abstrahierenden Weise im Kern die Gegenstandsannahmen, die mit einem jeweiHgen Konzept eines anderen Ansatzes dort (in diesem Ansatz) verbunden sind — etwa dass zu einer Kommunikation die Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen gehoren —, vermittelt diese abstrahierten Annahmen mit seinen rahmensetzenden Konzepten und bildet von dieser Vermittlung her einen Begriff zu diesen Gegenstandsannahmen, der dann in seinen Ansatz passt. Das ist eine Art von ReformuHerung der Begriffe aus anderen Ansatzen, die es ermogHcht, Erkenntnisgewinne anderer Theorien auf konzeptuell vermittelte Weise in den eigenen Theorierahmen einzubeziehen. Mit der Formulierung „in einer von bestimmten Bedeutungen abstrahierenden Weise" will ich ausdriicken, dass Esser dadurch die Gegenstandsannahmen gleichsam von den rahmensetzenden Konzepten der anderen Ansatze „entkleidet", mit denen sie dort verbunden waren und die nicht in seinen Rahmen pas sen. Und das bedeutet dann auch, dass diese rahmensetzenden Konzepte der anderen Ansatze in seine Theorie keinen Eingang finden — eben weil sie mit seinen Rahmenannahmen nicht zu vereinbaren sind. Daraus lasst sich weiter folgern, dass Esser keineswegs, was (auch) bei ihm zu lesen ist (Esser 2002a, S. 28), ganze Paradigmen

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oder Ansatze unter dem Dach des MSE integriert, sondern dass er auf die gerade beschriebene Weise Konzepte aus Ansatzen integriert - wie es iiberwiegend von ihm formuliert wird (siehe oben Nr. 11 sowie Esser 2001, S. 531, 534). (61) Zu Essers Rahmensetzungen zahle ich die Konzeptualisierung folgender Punkte: ein sozialsituativer Ausgangspunkt, der methodologischindividualistisch bzw. akteurtheoretisch fundiert ist; Dynamiken solcher sozialer Situationen, die in den Kausallinien verlaufen, wie sie in Briickenhypothesen und Transformationshypothesen beschrieben werden; als die Dynamik produzierenden Instanzen Akteure, die mit einer bestimmten „Natur" ausgestattet, d.h. die an ihrer eigenen Reproduktion interessiert und von daher in ihren Selektionen wie Handlungen nutzenorientiert und nutzenmaximierend ausgerichtet sind; kausale Erklarungen von Selektionen/Handlungen sowie von Aggregationen, die an irgendeiner Stelle die Einbeziehung von Gesetzen erfordern. Mit diesem Geflecht von Annahmen sind aUe (sonstigen) Konzepte der Esserschen Sozialtheorie, also auch die, die er aus anderen Ansatzen integriert hat, auf irgendeine Art vermittelt. Wer diese Rahmensetzungen ablehnt oder nicht teilt und statt des sen, wie Luhmann, etwa gesetzmaBige Erklarungen letztUch fur unmogHch halt, von einer strikten Trennung von sozialen und psychischen Systemen ausgeht (in der Konsequenz also seine Sozialkonzeption nicht methodologisch individualistisch fundiert) und Selektionen nicht in dem Sinne, wie gerade skizziert, von der „Natur des Menschen" gepragt annimmt, wird mit Essers Ansatz sehr wenig anfangen konnen. Das wird man in dieser Starke fur die Position von Max Weber nicht sagen konnen. Aber auch hier sind Vorbehalte anzunehmen. D a Weber Wirklichkeit als eine „intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigkeiten" begreift (Weber 1973, S. 134f), geht er nicht davon aus, dass Selektionen und Handlungen als strikt gesetzmaBig verlaufend nachgewiesen werden konnen. In der Konsequenz vertritt er dann eine andere, wenn man so will „offenere" Handlungskonzeption, die ohne die Annahme einer strikten Selektionsregel auskommt und je historisch-situationslogisch bestimmten SelektionsmodaHtaten mehr Gewicht einraumt. D e m korrespondiert, dass er von einer anderen (ebenfalls offeneren) „Natur des Menschen" ausgeht, als es bei Esser der Fall ist. (62) Die gerade genannten Punkte von Luhmann und Weber sind solche, die Esser, wie oben erlautert (Nr. 60), nicht integriert. Gleichwohl schatze ich seine integrative Sozialtheorie so ein, dass sie gegenstandUch gesehen — weitgehend — aUes das erfassen kann, was Luhmann und Weber erfassen konnen — und mehr. Dieses „mehr" betrifft verschiedene Punkte. Operatives soziales Geschehen ist bei Esser nicht eingeschrankt auf Kommunikation, bezieht aber Kommunikation, anders als es etwa bei Weber der Fall ist, als zentralen sozialen Sachverhalt explizit mit ein. Ahnliches gilt mit Blick auf Luhmann fiir die

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Beriicksichtigung von Strukturen wie materiellen Opportunitaten sowie Verteilungen verschiedenster Art. Ein weiterer Punkt ist unter dem Stichwort „Framing" die explizite Konzeptualisierung der Situationsverortungen und -sichten von Akteuren sowie — und im Zusammenhang damit — die des Wandels von eingenommenen Situations sichten bzw. abgespeicherten Situationsmodellen. V o n besonderer Relevanz ist dabei der Wandel der strukturrelevanten Bewertungen und Erwartungen, vor allem die Konzeptualisierung solcher Anderungen, die in sozialer Giiltigkeit miinden. Bedenkt man diesen zuletzt genannten Punkt in seinen Konsequenzen, dann wird deutMch, dass das „integrative Plus" des Esserschen Ansatzes nicht so sehr in diesem oder jenem Konzept zu sehen ist, sondern in der Verbindung der situationslogisch ausgerichteten Erklarungsperspektive auf individuelle Selektionen und Handlungen mit der Erklarungsperspektive auf Transformationsprozesse des Makrogeschehens. Die Konzeptualisierungen, die das Essersche MSE fiir die Strukturen sozialer Situationen, fur das operative soziale Geschehen (Framingprozesse sind hier mitgemeint) sowie fur Aggregationsprozesse vorsieht, sind als differenziert genug einzuschatzen, u m daniber in den eben skizzierten Erklarungsperspektiven sowohl ein umfassendes Ausbuchstabieren des Geschehens zu ermoglichen, aus dem Strukturdynamiken resultieren, als auch liber ein solches „Ausbuchstabieren konnen" Muster solcher Dynamiken auf den Begriff zu bringen. Das gilt erst recht, wenn manche Vorschlage fiir Modifikationen an Konzepten des MSE, wie sie oben im Zusammenhang mit den Esser-Luhmann/Weber-Vergleichen erortert wurden, umgesetzt werden. Die meisten Vorbehalte werden die Konzepte des MSE mobilisieren, die das betreffen, was nach Esser die „Natur des Menschen" ausmacht (also NutzenorientierungZ-maximierung usw.). Aber die Frage nach deren Giiltigkeit sollte zum einen ein letztlich empirisch zu losendes Problem sein und zum anderen ist die Grundlogik des MSE nicht von diesen Konzepten abhangig. Von daher bleibt dessen integrative Kraft erhalten.

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Das Essersche „Modell der so2:iologischen Erklarung"

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— Beitrage zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft", Frankfurt/M, S. 71-113 Greshoff, Rainer (2005): Soziologische Grundlagen kontrovers: erklarende Soziologie (Esser) versus soziologische Systemtheorie (Luhmann) - wie groB sind die Unterschiede?, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 78119 Greshoff, Rainer (2006): Die Esser-Luhmann-Kontroverse als unbefriedigender Streit um die Grundlagen der Soziologie — Uberlegungen zur Klarung der Debatte, in: Soziologie, 35, S. 161-177 Greshoff, Rainer (2006a): „Soziales Handeln" und „Ordnung" als operative und strukturelle Komponenten sozialer Beziehungen, in: Klaus Lichtblau (Hg.), Max Webers „Grundbegriffe". Kategorien der kultur- und sozialwissenschafdichen Forschung, Wiesbaden Greshoff, Rainer, Uwe Schimank (2005): Einleitung: Was erklart die Soziologie?, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 7-42 Greve, Jens (2003): Handlungserklarungen und die zwei Rationalitaten?, in: Kolner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, 55, S. 621-653 Hopf, Wulf (1991): RegelmaBigkeiten und Typen, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 20, S. 124137 Kroneberg, Clemens (2005): Die Definition der Situation und die variable Rationalitat der Akteure, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 34, S. 344-363 Lindemann, Gesa (2005): Theorievergleich und Theorieinnovation, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 44-64 Lindner, Clausjohann (1986): Max Weber als Handlungstheoretiker, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 15, S. 151-166 Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, Frankfurt/M Luhmann, Niklas (1985): „Neue Politische Okonomie", in: Soziologische Revue, 8, S. 115120 Luhmann, Niklas (1986): Okologische Kommunikation, Opladen Luhmann, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M Luhmann, Niklas (1997a): Selbstorganisation und Mikrodiversitat: Zur Wissenssoziologie des neuzeitUchen IndividuaUsmus, in: Soziale Systeme, 3, S. 23-32 Mayntz, Renate (2005): Soziale Mechanismen in der Analyse geseUschaftlicher MakroPhanomene, in: Uwe Schimank, Rainer Greshoff (Hg.), Was erklart die Soziologie?, Miinster, S. 204-227 Nassehi, Armin (2004): Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 33, S. 98-118 Schluchter, Wolfgang (2005): „Wie Ideen in der Geschichte wirken": Exemplarisches in der Studie iiber den asketischen Protestantismus, in: ders., Handlung, Ordnung und Kultur, Tiibingen, S. 62-85 Schmid, Michael (1998): Soziales Handeln und strukturelle Selektion, Opladen/Wiesbaden Schmid, Michael (2004): Kultur und Erkenntnis. Kritische Bemerkungen zu Max Webers Wissenschaftslehre, in: Berliner Journal fiir Soziologie, 14, S. 545-560

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Rainer Greshoff

Schneider, Wolfgang Ludwig (1996): Die Komplementaritat von Sprechakttheorie und systemtheoretischer Kommunikationstheorie, in: Zeitschrift fiir Soziologie, 25, S. 263277 Schneider, Wolfgang Ludwig (2003): Handlung-Motiv-Interesse-Situation, in: Hans-Joachim Giegel, Uwe Schimank (Hg.), Beobachter der Moderne — Beitrage zu Niklas Luhmanns „Die GeseUschaft der Gesellschaft", Frankfurt/M, S. 42-70 Simon, Herbert A. (1976): From Substantive to Procedural Rationality, in: ders.. Models of Bounded Rationality, Vol. 2, Cambridge MA, S. 424-443 Stichweh, Rudolf (2000): Systems Theory as an Alternative to Action Theor}^? The Rise of „Communication" as a Theoretical Option, in: Acta Sociologica, 43, S. 5-13 Sutter, Tilmann (2005): Der Traum von der „Grand Unified Theory'', in: So^^iologie, 34, S. 54-64 Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt/M Weber, Max (1973): Gesammelte Aufsat^e zut Wissenschaftslehre, Tubingen Weber, Max (1976): Wirtschaft und GeseUschaft, Tubingen Weber, Max (1993): Die protestantische Ethik und der „Geist" des Kapitalismus, Bodenheim WeiB, Johannes (1994): Kausale Durchsichtigkeit, in: Gerhard Wagner, Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt/M, S. 507-526

Verzeichnis der Autorin und Autoten Abraham, Martin Prof. Dr. Universitat Bern Institut fur Soziologie Lerchenweg 36 CH-3012Bern Braun, Dietmar Prof, Dr. Universite de Lausanne Faculte des SSP Quartier UNIL-Dorigny Batiment Humense 5122 CH-1015 Lausanne Endrefi Martin Prof Dr Bergische Universitat Wuppertal Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften D-42097 Wuppertal Etf^odt, Christian Dr. 602 Kyoto-shi Kamigyo-ku Shimochojamachi-dori Oomiyanishiiru Higashitatsumicho 129-2 Detomu Wan Nishijinjuraku Part II No. 103, Japan Greshojf, Rainer Dr. FernUniversitat in Hagen Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften D-58084 Hagen Grem, Jens Dr. Universitat Bielefeld Fakultat fiir Soziologie D-33501 Bielefeld Kneer, Georg Prof Dr. Hochschule fiir Gestaltung Schwabisch Gmiind Rektor-Klars-Str.lOO D-73525 Schwabisch Gmiind Kron, Thomas PD Dr. FernUniversitat in Hagen Fachbereich Kultur- und Soi^ialwissenschaften D-58084 Hagen Martens, WilDr. Radbound University Nijmegen Thomas von Aquinostraat 1 NL-6525 G D Nijmengen Maurer, Andrea Prof. Dr. Universitat der Bundeswehr Miinchen Werner Heisenberg Weg 39 D-85577 Neubiberg

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Norkus, Zenonas Prof. Dr. Philosophische Fakultat Universitat Vilinius Universiteto 9/1 LT-01513 Vilnius Prosch, Bernhard Dr. Friedrich-Alexander-Universitat Erlangen-Niirnberg Sozialwissenschaftliches Institut Findelgasse 7-9 D-90402 Niirnberg Schimank, Um Prof. Dr. FernUniversitat in Hagen Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften D-58084 Hagen Schneider, Wolfgang, hudmg Prof. Dr. P H Freiburg Institut fiir Sozialwissenschaften Kunzenweg 21 D-79117 Freiburg Schutt^ichel, Kainer Dr. FernUniversitat in Hagen Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften D-58084 Hagen Schwietring Thomas Dr. Universitat Kassel Fachbereich 5 Gesellschaftswissenschaften Nora-Platiel-Str. 1 D-34109 Kassel Schwinn, Thomas Prof Dr. Katholische Universitat Eichstatt-Ingolstadt Ostenstr.24 D-85072 Eichstatt Sutter, Tilmann Prof. Dr. Universitat Bielefeld Fakultat fiir Soziologie D-33501 Bielefeld Winter, Lars BA FernUniversitat in Hagen Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften D-58084 Hagen Wittek, Rafael Prof Dr University of Groningen Department of Sociology Grote Rozenstraat 31 NL-9712 T G Groningen