Der Albtraum beginnt ...
Chronik eines Albtraums ein Horror-Trip in 6 Teilen
Erster Tag Für Mike, Stefan und Frank so...
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Der Albtraum beginnt ...
Chronik eines Albtraums ein Horror-Trip in 6 Teilen
Erster Tag Für Mike, Stefan und Frank sollte es die Erfüllung eines Jugendtraums werden: eine Motorradreise quer durch die USA. Aber von Anfang an scheint ein Fluch auf den Freunden zu lasten, ein uralter Fluch, geboren aus den Mythen der Anasazi, eines Indianerstammes, der vor vielen Jahrhunderten spurlos verschwunden ist, deren Götter aber bis heute keine Ruhe gefunden haben ...
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14800 1. Auflage: September 2002 Vollständige Taschenbuchausgabe Deutsche Erstausgabe © 2002 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Lektorat: Stefan Bauer Titelfoto: Rene Durant Umschlaggestaltung: Van De Schans GmbH, Printed in Germany ISBN 3-404-14800-2
Erster Tag Es hatte die Erfüllung eines Jugendtraums werden sollen: Born To Be Wild in den Kopfhörern, das dumpfe Grollen einer Harley zwischen den Schenkeln und das endlose graue Band der Route 66 vor dem Lenker - aber zumindest dieser erste Tag hatte alles aufgeboten, um zu einem glatten Albtraum zu werden. War es überhaupt noch der erste Tag? Wahrscheinlich nicht. Mike gähnte, hob den linken Arm und sah auf die Uhr, doch die Zeiger verschwammen ebenso wie der Rest der Ankunftshalle vor seinen Augen. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte es ihm nicht viel gebracht: Er hatte die Uhr auf dem Flug quer über den Atlantik und anschließend noch einmal über einem Gutteil des nordamerikanischen Kontinents viel zu oft umgestellt, um noch ein echtes Zeitgefühl zu haben. Er schätzte, dass sie alles in allem seit vierundzwanzig Stunden unterwegs waren, und das bedeutete, dass er jetzt seit mindestens sechsunddreißig Stunden auf den Beinen war. Seine Augen brannten. Sein Herz schlug so schwer und hart, als wäre er die gesamte Strecke von Chicago bis nach Phoenix gelaufen statt geflogen. Und das Allerschlimmste war: Er war ganz allein daran Schuld, dass er sich am ersten Tag seines so lang herbeigesehnten Urlaubs so miserabel fühlte wie schon seit Monaten nicht mehr. Mike gähnte erneut, fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht und wartete darauf, dass das Sammelsurium von Koffern, Reisetaschen und anderen Gepäckstücken auf dem verchromten Rondell vor ihm endlich weiterlief. Das Gepäckband war vor gut zehn Minuten mit einem Geräusch zum Stehen gekommen, über das er lieber nicht nachdachte, und hatte sich seither um keinen Millimeter
bewegt. Sein Gefühl sagte ihm, dass es sich auch in den nächsten drei oder vier Stunden nicht mehr bewegen würde. Was auch sonst?, dachte er resigniert. Murphys Law besagte schließlich, dass alles, was schiefgehen konnte, auch schiefging. Wenn er sich richtig erinnerte, war Ed Murphy Captain der amerikanischen Airforce gewesen. Nun, erstens waren sie hier in Amerika, und zweitens waren die Amerikaner dafür bekannt, es mit ihren Gesetzen ganz besonders genau zu nehmen. Er verscheuchte den Gedanken. Ihm war nicht nach Spott zumute, und den Moment, in dem er sich noch in Sarkasmus retten konnte, hatte er schon vor ein paar Stunden hinter sich gelassen. Es war irgendwo in Chicago gewesen - seinem Gefühl nach auf der anderen Seite der Galaxis - und wahrscheinlich ziemlich genau in dem Augenblick, im dem ihm Frank die Lautsprecherdurchsage übersetzt hatte, die den verspäteten Abflug ihres Anschlussfluges nach Phoenix verkündete. Aus der halben Stunde waren eine ganze, dann zwei und schließlich fünf Stunden geworden, in denen sie auf unbequemen Plastikstühlen gesessen und darauf gewartet hatten, dass es endlich weiterging. Überhaupt war auf dem Flug alles Erdenkliche schief gegangen. Abgesehen von einer Flugzeugentführung und einem Absturz waren sie in den Genuss des vollen Katastrophenprogramms gekommen. Es hatte damit angefangen, dass sie bereits in Düsseldorf gut anderthalb Stunden verspätet eingecheckt hatten. Danach hatte die Maschine, quasi um im gleichen Rhythmus zu bleiben, fast zweieinhalb Stunden auf dem Rollfeld gestanden, bevor endlich die Startfreigabe vom Tower gekommen war. Warum, hatten sie nie erfahren. Die drei Stewardessen, die Frank, Stefan und er unabhängig voneinander nach dem Grund der Verzögerung gefragt hatten, hatten ihnen drei vollkommen unterschiedliche und ebenso
beruhigend wie unglaubwürdig klingende Antworten gegeben. Schließlich hatten sie es aufgegeben. Irgendwann war es dann endlich losgegangen und der Flug ... Nein, er wollte lieber nicht mehr daran denken. Die absolute Krönung war der Kaffee gewesen, den er irgendwo in der Mitte des Atlantiks bekommen hatte. Bekommen, aber nicht getrunken. Er hatte geschlagene fünf (fünf!) Mal nach der Stewardess geklingelt, und als sie ihm endlich den Kaffee serviert hatte, war dieser kalt gewesen und hatte nach etwas geschmeckt, worin man sich höchstens die Hände waschen konnte - vorausgesetzt, man legte nicht allzu viel Wert auf Hygiene. Zwei Minuten später hatten die Piloten die Boeing zielsicher in ein Luftloch gesteuert und etliche Meter weit durchsacken lassen, zusammen mit den Sitzen, den Passagieren, die darauf saßen, und der Kaffeetasse in seiner Hand. Der Kaffee war oben geblieben - ungefähr eine Sekunde lang, dann war er der Tasse gefolgt, hatte sie aber weit verfehlt und stattdessen Mikes Schoß in einen braunen See verwandelt. Frank war in schallendes Gelächter ausgebrochen, während Stefan eine wenig originelle Bemerkung gemacht hatte, die irgendetwas mit der Kombination aus weißen Jeans und Transkontinentalflügen zu tun hatte. Angesichts des deutlich sichtbaren gelbbraunen Flecks auf dem Schoß seiner weißen Jeans hatte es Mike für den Rest des Fluges nicht mehr gewagt, von seinem Platz aufzustehen. Und das war nur eine von Dutzenden kleinerer und größerer Gehässigkeiten gewesen, die das Schicksal für sie auf dem Flug von Düsseldorf nach Phoenix bereitgehalten hatte. Wenn er zurück war, dachte er, würde er ein Buch darüber schreiben. Oder vielleicht auch nicht. Glauben würde ihm diese Anhäufung gottgewollter Bosheiten sowieso niemand. »Mike!« Er drehte sich erschrocken herum und blinzelte in die Runde. Im ersten Moment sah er nichts außer einer Ansammlung
ausnahmslos schlecht gelaunter Fluggäste, die wie er darauf warteten, dass ihr Gepäck endlich auftauchte. Die Stimme, die seinen Namen gerufen hatte, gehörte Frank - glaubte er wenigstens. Und es hatte so geklungen, als riefe er nicht zum ersten Mal nach ihm. Mike spürte einen völlig sinnlosen, aber heftigen Ärger. Was erwarteten die beiden Schwachköpfe denn von ihm? Dass er das Gepäck aus dem festgefressenen Transportband herausprügelte? Der erste der beiden »Schwachköpfe« tauchte in diesem Moment am anderen Ende der Halle auf, winkte ihm fröhlich zu und deutete mit dem anderen Arm zum Ausgang. Als Mike hinübersah, entdeckte er Stefan, der einen Gepäckwagen mit ihren drei Reisetaschen vor sich herschob. Mike machte sich kopfschüttelnd auf den Weg. Er wollte gar nicht wissen, wie es den beiden gelungen war, ihr Gepäck aus dem Flieger zu bekommen. Er wollte einfach nur schlechte Laune haben! Natürlich entblödete sich Frank nicht, ihm seinen Erfolg auch noch genüsslich unter die Nase zu reiben: »Jetzt erzähl mir noch einmal, dass man niemals lügen sollte«, stichelte er grinsend, während sie Stefan durch die automatisch aufgleitenden Türen folgten. Das Sonnenlicht war so grell, dass Mike instinktiv den Kopf senkte und die linke Hand über die Augen hob. Ihm fiel erst jetzt auf, dass die Fenster des Ankunftsgebäudes offenbar abgedunkelt waren. »Ich habe ganz dreist gelogen und behauptet, dass eine Gruppe von dreißig Leuten auf uns wartet und wir den Anschluss verpassen, wenn wir hier noch länger rumhängen. Ein netter junger Mann von der TWA hat nach unseren Gepäcknummern gefragt und die Taschen höchstpersönlich aus dem Laderaum geholt.« »Spannend«, murrte Mike. Er konnte kaum noch etwas sehen. Es war nicht einmal außergewöhnlich heiß, aber das Sonnenlicht war fast unerträglich hell. Seine Augen brannten nicht mehr, sie taten, regelrecht weh.
»Ist wohl wahr, was man über die Amis sagt«, plapperte Frank so fröhlich weiter, als wolle er mit Smalltalk einen Interviewpartner locker quatschen - eine Angewohnheit, die er aus seiner Zeit als Journalist beibehalten hatte. »Sie sind wirklich sehr freundlich. Kannst du dir vorstellen, was ein Mitarbeiter einer deutschen Fluggesellschaft machen würde, wenn du ihn bittest, dein Gepäck aus dem Flugzeug zu holen? Wahrscheinlich würde er dafür sorgen, dass es ganz besonders tief vergraben wird. »Bei euch in Bayern vielleicht«, murmelte Mike. Frank zog die linke Augenbraue hoch und maß ihn mit einem leicht verstörten Blick, beließ es aber ansonsten bei einem Achselzucken und beschleunigte seine Schritte ein wenig; gerade genug, dass Mike das neu angeschlagene Tempo als unangenehm empfand. Allmählich begann er sich selbst albern vorzukommen. Gut, er war hundemüde, weil er auf die grandiose Idee gekommen war, die Nacht vor dem Abflug durchzumachen, um den achtstündigen Flug zu verschlafen - überflüssig zu erwähnen, dass er kein Auge zugetan, Frank und Stefan aber rechts und links von ihm um die Wette geschnarcht hatten - und die Reise war eine glatte Katastrophe gewesen, aber sie waren im Urlaub, verdammt noch mal! Und es war nicht irgendein Urlaub, sondern eine Tour, auf die sie sich seit zwei Jahren gefreut und gründlich vorbereitet hatten - warum also tat er sein Möglichstes, um sich selbst den ersten Tag nach Kräften zu vermiesen? Weil er hoffnungslos übermüdet war, weil er in einer Hose herumlief, die aussah, als hätte er mindestens zweimal hineingepinkelt, und weil er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte und sein Blutzuckerspiegel deshalb im Keller war. Am besten sagte er jetzt gar nichts mehr, sondern sah zu, dass er es noch irgendwie bis ins Hotel schaffte, um dann bis zum nächsten Morgen durchzuschlafen.
Er ignorierte Franks von fragenden Blicken flankiertes Schweigen, zwang seine Augen, sich gegen das grelle Sonnenlicht zu öffnen und blinzelte das erste Mal wirklich aufmerksam in die Runde. Was er sah, hätte ihn enttäuscht - wenn er zu einem solchen Gefühl überhaupt noch in der Lage gewesen wäre. Eine Menge Beton, vor allem. Das Innere des Flughafengebäudes hatte klein gewirkt - kein Vergleich mit Düsseldorf oder gar München oder Frankfurt - und schon fast provinziell, auf gar keinen Fall aber amerikanisch, wie man es sich so aus Film und Fernsehen vorstellte. Und auch hier draußen war alles ganz anders als erwartet. Die - zugegebenermaßen gewaltigen Gebäude bestanden hauptsächlich aus monotonem Sichtbeton, dem auch die futuristische Architektur nicht viel von seiner tristen Ausstrahlung nehmen konnte. Die Straßen waren breit, aber überall schlampig geflickt und hier und da schon wieder zur Beute heftig nachwuchernden Unkrauts geworden. Und statt der Armada von Taxis und Limousinen, die er erwartet hatte, entdeckte er gerade vier oder fünf Wagen, von denen zwei so aussahen, als würden sie den Weg bis zum nächsten Hotel und zurück nicht ohne Reparatur durchhalten. Und so etwas nennt sich Sky Harbour!, dachte er spöttisch. Na ja, zumindest der Name hatte ja amerikanische Dimensionen ... Stefan steuerte mit seiner Gepäckkarre den größten der hintereinander geparkten Wagen an - eine cremefarbene, sechstürige Limousine, deren Fahrer (ganz offensichtlich einer von Franks ach so hilfsbereiten Amis) mit gelangweiltem Gesicht und hartnäckig verschränkten Armen am Kotflügel seines Straßenkreuzers lehnte und Stefan dabei zusah, wie er sich mit dem sperrigen Gepäck abmühte. Stefan richtete sich ächzend auf und begann unverzüglich mit dem Fahrer zu verhandeln. Mike fragte sich, wozu. Der junge Bursche im Reisebüro hatte gesagt, dass sie ungefähr fünfundzwanzig Dol-
lar bis zum Hotel bezahlen müssten, nicht mehr und nicht weniger. Wie bereits gesagt: Die Tour war gründlich vorbereitet. Stefan strahlte über das ganze Gesicht, als sie endlich heran waren. »Zehn«, krähte er. »Zehn was?«, fragte Mike. »Zehn Dollar«, erklärte Stefan stolz. »Er fährt uns für zehn Bucks ins Hotel.« Bucks, dachte Mike spöttisch. Sieh an. Selbst Zahnarzt Dr. Stefan Böttcher hat schon gemerkt, dass wir in Amerika sind. Und er sorgt selbstverständlich dafür, dass wir auch merken, dass er es gemerkt hat. Laut sagte er: »In welches Hotel?« »Ins Best Western«, antwortete Stefan in leicht beleidigtem Tonfall. »Hältst du mich für doof?« Die ehrliche Antwort wäre ein glattes Ja gewesen, aber die schluckte Mike vorsichtshalber hinunter. Während der letzten Stunden war er alles andere als freundlich zu den beiden gewesen, und er hatte keine besondere Lust, ihren gemeinsamen Urlaub mit einem handfesten Streit zu beginnen. Schlechte Laune hatte mitunter die unangenehme Eigenschaft, ansteckend zu wirken. Der Chauffeur, der seelenruhig zusah, wie Stefan das Gepäck in den Kofferraum der Limousine wuchtete, betrachtete mit ausdrucksloser Mine den gelbbraunen Fleck auf Mikes Hose. Einen Moment lang fürchtete Mike, er würde sich weigern, jemanden mit einer »voll gepinkelten« Hose mitzunehmen. Doch stattdessen kam endlich Bewegung in den Mann, und er ließ sich dazu herab, zwei der zahllosen Türen seines rollenden Einfamilienhauses aufzureißen. Endlich wieder sitzen, dachte Mike spöttisch, während er in den Wagen stieg. Ihm tat schlicht und einfach der Hintern weh, so viel hatte er in den letzten vierundzwanzig Stunden gesessen. Die Vorstellung, die nächsten zwölf Tage im Sattel eines Motorrades verbringen zu müssen, jagte ihm einen kalten
Schauer über den Rücken. Wenigstens waren die breiten Sitze der Luxuslimousine deutlich bequemer als die Economy-Class der TWA, und vermutlich würde es hier auch keinen Kaffee regnen. Mike ließ sich zurücksinken, schloss für einen Moment die Augen und registrierte zu seiner eigenen Überraschung, dass sich fast sofort ein Gefühl wohliger Entspannung in ihm breit machte. Vollkommen absurd, aber im ersten Moment wehrte er sich fast dagegen. Doch dann atmete er tief durch und beschloss, die Ruhe so lange zu genießen, wie sie ihm die beiden überdrehten Motorradfreaks zugestanden, die er vor sechsunddreißig Stunden noch für seine besten Freunde gehalten hatte. Als dunkle Schatten nach ihm griffen, um ihn mit sich in das verlockende Reich des Schlafes mitzunehmen, riss er erschrocken die Augen wieder auf- nur um nicht versehentlich hinwegzudämmern und den Beginn des »Spaßes« zu verpassen, auf den er sich völlig blödsinniger Weise zwei Jahre lang gefreut hatte. Frank und Stefan waren hinter der hochgeklappten Kofferraumhaube verschwunden und alberten lautstark herum, und von ihrem Fahrer war überhaupt nichts mehr zu sehen. Also würde ihn niemand daran hindern, sich diesen Wagen einmal genauer anzusehen, der sie billiger als ein herkömmliches Taxi ans Ziel bringen sollte. Das Innere der Limousine war weit weniger geräumig, als ihre enormen äußeren Abmessungen vermuten ließen, und sie hatte ihre besten Tage wohl schon eine Zeit lang hinter sich. Die Lederpolster waren leicht abgewetzt, und in der linken unteren Ecke der Windschutzscheibe befand sich ein haarfeiner Riss. Das Radio dudelte Country-Musik der übelsten Art. Willkommen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dachte Mike spöttisch. Doch dieser sichtbare Beweis dafür, dass selbst in diesem Sonnenstaat nicht alles Gold war, was glänzte, stimmte ihn irgendwie versöhnlich.
Der Kofferraum fiel mit einem dumpfen Knall zu, und Stefan und Frank schwangen sich aus entgegengesetzten Richtungen und so schwungvoll in den Wagen, dass die gesamte Limousine ins Schwanken geriet. Mike fand, dass die beiden geradezu widerwärtig guter Laune waren. »Das wäre geschafft«, sagte Stefan in einem Ton wohltuender Erschöpfung. »Freunde, wir sind in den USA.« »Scharf beobachtet«, murmelte Mike. »Ein Hotel und vor allem ein Bett wären mir allerdings lieber.« Stefan warf ihm einen leicht irritierten Blick zu, aber Frank schüttelte nur den Kopf und versetzte Mike einen Rippenstoß, den er normalerweise als freundschaftlich empfunden hätte. Jetzt musste er sich beherrschen, um nicht zurückzuschlagen und das alles andere als freundschaftlich. »He, Mann, wir sind im Urlaub!«, sagte Frank aufmunternd. »Jetzt hör gefälligst auf, Trübsal zu blasen, und genieß deinen ersten Tag im Land der T-Bone-Steaks und Harley-Davidsons. Morgen früh sitzen wir im Sattel und lassen uns den Wind des Wilden Westens um die Nasen wehen!« »Falls ich morgen früh noch lebe«, antwortete Mike mit einem gequälten Lächeln. Er unterdrückte ein Gähnen. »Entschuldigt. Ihr habt ja Recht. Ich bin im Moment nicht ganz zurechnungsfähig. Nehmt mich nicht ernst.« »Wieso im Moment?«, wollte Stefan wissen, und Frank fügte mit einem angedeuteten Stirnrunzeln hinzu: »Hast du den Eindruck, wir hätten dich jemals ernst genommen?« Mike seufzte. »Wer ist eigentlich auf die hirnrissige Idee gekommen, dass wir gemeinsam diese Tour machen?« »Du«, antworteten Stefan und Frank einstimmig. »Und sag jetzt nicht, wir hätten dich nicht gewarnt«, fuhr Frank ernst fort. »Du weißt doch: Einzeln sind wir nur schlimm.« »Aber zusammen werden wir unerträglich«, schloss Stefan. »Zusammen braucht ihr eigentlich einen Waffenschein«,
seufzte Mike. Der reichlich gequälte Humor seiner ansonsten vollständig unterschiedlichen Freunde ging ihm gehörig auf die Nerven, aber ihm war natürlich auch klar, dass sie nur versuchten, ihn irgendwie aufzumuntern. »Lasst gut sein«, seufzte er. »Am besten ignoriert ihr mich einfach ... wo ist eigentlich unser hilfsbereiter Chauffeur?« »Der angelt sich noch einen Fahrgast«, antwortete Frank. »Gibt immer einen, der in die gleiche Richtung will. Das macht es für alle billiger.« »Prima«, maulte Mike. »Warten wir noch ein bisschen. Darin haben wir ja mittlerweile Übung.« Frank blinzelte, während Stefan flüchtig die Stirn runzelte und für einen Moment nun wirklich beleidigt aussah. Zwei oder drei Augenblicke lang breitete sich Schweigen im Wagen aus, aber gerade, als es wirklich unangenehm zu werden drohte, ging die Tür auf und eine vielleicht fünfzigjährige Frau ließ sich neben Mike auf die Sitzbank fallen. Mike starrte sie an, blinzelte, starrte sie noch einmal an und wandte dann hastig den Blick ab, ehe sein Gesicht entgleisen und er die Frau möglicherweise beleidigen konnte. Sie sah nicht einmal schlecht aus, aber sie entsprach so sehr dem Klischee der typischen Amerikanerin, dass er um ein Haar laut aufgelacht hätte: aufgedonnerte Klamotten, eine strassbesetzte Brille, hochtoupiertes und vollkommen unnatürlich gefärbtes Haar und dazu so viel Schminke im Gesicht, dass man sich vermutlich vor herumsausenden Farbspritzern in Sicherheit bringen musste, falls sie laut lachte. Endlich setzte sich die Limousine in Bewegung. Mike legte den Kopf gegen die Scheibe, schloss die Lider und riss die Augen mit einem Ruck wieder auf, als er spürte, dass er fast sofort einzuschlafen drohte. Noch zehn Minuten bis zum Hotel, so lange würde er schon noch durchhalten. Alles andere wäre albern, nach allem, was hinter ihm lag. Er versuchte sich damit wach zu halten, dass er den Verkehr
beobachtete. Obwohl er so etwas schon tausend Mal im Fernsehen gesehen hatte, beeindruckte ihn die schiere Größe der Straße: achtspurig, vier Spuren in die Stadt hinein und vier hinaus, von denen jede einzelne fast so breit war wie eine normale zweispurige Landstraße in Deutschland. Die Größe der meisten Wagen war entsprechend; anscheinend hatten Automobile und Aquarienfische nicht nur eine gewisse Farbenvielfalt gemein, sondern auch die Eigenart, ihre Größe der ihrer Umgebung anzupassen. Im ersten Moment schien diese gewaltige Stadtautobahn die pure Verschwendung zu sein, denn sie wirkte kaum befahren - aber das kam ihm nur so vor. Stefan fasste es in Worte: »Bei uns zu Hause wäre das schon wieder etwas für den Verkehrsfunk: Zwölf Kilometer zähfließender Verkehr am Autobahnkreuz Heumar durch hohes Verkehrsaufkommen.« Er hatte Recht, dachte Mike. Es waren eine Menge Autos auf der Straße. Sie fielen nur nicht auf, weil dieser Highway, oder wie immer man das hier nannte, derart gigantische Ausmaße hatte. »Bin ich froh, auf dich gehört zu haben und mit in die USA gekommen zu sein, statt nach Paris oder Madrid zu fahren,« pflichtete ihm Frank bei. »In Europa wäre das der blanke Terror. Aber die Amis fahren ja Gott sei Dank viel defensiver als wir.« Mike nickte, fühlte einen neuen Schub von Müdigkeit und brauchte fast eine Minute, um sie niederzukämpfen und wieder halbwegs klar sehen zu können. Frank und Stefan unterhielten sich leise mit Miss Piggy, aber Mike war viel zu müde, um sich auf ihre Worte zu konzentrieren; außerdem war sein Amerikanisch viel zu schlecht. Viel schlechter, nebenbei bemerkt, als er seinen Freunden gegenüber zugegeben hatte. Er stand vor dem spannenden Problem, die nächsten beiden Wochen mit viel Geschick bluffen zu müssen, um sich nicht
bis auf die Knochen zu blamieren. Das Gefühl, angestarrt zu werden, riss ihn aus seinen Gedanken. Es war nicht gerade angenehm. Mike löste die Stirn von der kühlen Glasscheibe, drehte den Kopf und sah, dass ihre Mitfahrerin ihn tatsächlich nicht aus den Augen ließ. Genauer gesagt: nicht ihn, sondern den gelbbraunen Kaffeefleck auf seinem Schoß. Mike sah mit einem Ruck hoch. Miss Piggy fuhr erschrocken zusammen und beeilte sich, hastig aus dem Fenster auf der anderen Seite zu starren. Stefan grinste unverschämt, und Frank sagte: »Lass dir keine grauen Haare wachsen. Ich habe ihr erklärt, dass du unter ganz schrecklicher Flugangst leidest.« Mike hätte ihm am liebsten sein Flugticket quer in den Mund geschoben aber er beherrschte sich und reagierte lieber überhaupt nicht. Erstens war Frank mindestens einen Kopf größer als er und ungefähr dreißig Kilo schwerer; und auch wenn das meiste davon kein Muskelgewebe war, sondern wohl eher die Auswirkungen von gutem bayerischem Hefeweizen: Dreißig Kilo blieben dreißig Kilo. So ganz nebenbei waren sie seit ungefähr ebenso vielen Jahren befreundet, und außerdem war das genau die Art von derben Scherzen, zu denen Mike selbst normalerweise neigte. Trotzdem verlief der Rest der Fahrt, den sie zusammen mit Miss Piggy zurücklegten, in unbehaglichem Schweigen. Nach gut zehn Minuten bog der Straßenkreuzer ab und hielt vor einem Hotel, dessen Foyer vermutlich größer war als das gesamte Hotel, in dem die drei Freunde die kommende Nacht verbringen würden. Ihre Mitfahrerin stieg aus, verabschiedete sich von Stefan und Frank - Mikes Blick wich sie geflissentlich aus - und bedeutete dem Taxifahrer gestenreich, wohin er ihr Gepäck bringen sollte. »Ich habe es Miss Rheinkiesel erklärt«, sagte Frank in versöhnlichem Ton.
»Und?«, schnappte Mike. »Ob du's glaubst oder nicht, es ist mir herzlich egal, was sie von mir denkt.« »Miss Rheinkiesel?« Stefan runzelte die Stirn. »Ihre Brille«, erklärte Frank. »Strasssteine. Rhinestones auf Amerikanisch. Die meisten zweitklassigen Übersetzer machen Rheinkiesel daraus. Kannst du dir eine Brille vorstellen, die mit Rheinkieseln besetzt ist?« »Kommt ganz darauf an, wer sie trägt.« Stefan lachte und sah auf die Uhr. »Leute, allmählich werde ich müde. Es wird Zeit, dass wir ins Bett kommen.« Endlich fuhren sie weiter. Es konnte jetzt nicht mehr weit bis zum Hotel sein, aber Mike hatte hart zu kämpfen, um auf den letzten Meilen nicht doch noch einzuschlafen. Schließlich rollte die Limousine die Zufahrt eines Hotels hinauf, das weitaus größer war, als Mike insgeheim befürchtet hatte. Mit nur noch mühsam koordinierten Bewegungen öffnete er die Tür, fiel mehr aus dem Wagen, als er hinausstieg, und schlurfte mit hängenden Schultern die Treppe hinauf und auf die Rezeption zu. Das junge Ding dahinter hätte er normalerweise als attraktiv empfunden; jetzt fiel ihm nur auf, dass sie ziemlich geschmacklos gekleidet war - und auf seine Hose starrte. Mike schenkte ihr das eisigste Lächeln, das er zustande brachte, griff wortlos in die Tasche und legte ebenso wortlos das Heft mit den Hotelcoupons auf die Theke, das er im Reisebüro bekommen hatte. Das Mädchen sagte irgendetwas, das er nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte, und Mike drehte sich wieder herum und ging nach draußen. Stefan mühte sich mit ihren Gepäckrollen und den beiden übergroßen Nylontaschen ab, die Frank zusätzlich mitschleppte - wie Mike ihn kannte, hatte er wahrscheinlich einen Wintermantel, drei Paar pelzgefütterte Handschuhe und mindestens ein halbes Dutzend Wollpullover eingepackt, obwohl sie im schon recht heißen Mai mitten durch die Wüsten von Arizona, Utah und Nevada fahren würden! Frank selbst schien einen kleineren
Disput mit dem Chauffeur der überdimensionierten Limousine auszufechten. Mike hatte eine ungefähre Vorstellung, worum es dabei ging. Er wollte gerade zurückgehen und seinem Freund in schlechtem Englisch beispringen, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: Ein schwarzer, schon ziemlich betagter Van rollte auf den Parkplatz, und als die Türen aufgingen, hatte er den endgültigen Beweis, dass sie in Nordamerika waren. Indianer. Es waren richtige, echte Indianer: ein Mann, eine Frau, eine zweite, sehr viel ältere Frau und ein vielleicht fünfjähriger Junge; offensichtlich eine ganze Familie. Sie trugen weder Mokassins noch Federschmuck im Haar, sondern ganz normale Freizeitkleidung, Jeans, Hemden und Straßenschuhe, aber es waren eindeutig Indianer, und etwas Seltsames geschah: Mike kam sich eindeutig albern vor, aber er fühlte sich plötzlich wie ein Kind, das leibhaftigen Helden aus seinen Abenteuergeschichten gegenübersteht. Natürlich war das Blödsinn. Die vier sahen weder besonders gut noch irgendwie edel aus. Die Frau war alles andere als eine Schönheit, der Mann wirkte eher wie ein alkoholkranker Reservatsindianer als wie Winnetous großer Bruder, und der Junge machte einen verhaltensgestörten, beinahe schwachsinnigen Eindruck. Trotzdem waren es Indianer - Navajos, vermutete Mike, jedenfalls nach allem, was er sich in der Vorbereitung auf diesen Trip über Arizona und Utah angelesen hatte -, und Mike starrte sie mit unverhohlener Faszination an. Offensichtlich fiel dies nicht nur Stefan auf, der kurz und irritiert zu ihm hochsah, sondern auch den Indianern selbst. Der Mann sah ihn kühl und fast feindselig an und sagte dann etwas zu der älteren Frau, was sie mit einem Achselzucken und einer wenig freundlichen Geste quittierte. Der Junge aber blieb stehen, legte den Kopf auf die Seite und blickte Mike aus
schmalen, zu Schlitzen verengten Augen an. Dann hob er die Hand, deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Mike und sagte ein einzelnes Wort, das nicht amerikanisch klang. Sein Vater antwortete mit einem rauen Lachen darauf, sah wieder in Mikes Richtung und schlug sich dann mit der flachen Hand auf den Schritt. Mike drehte sich abrupt zur Seite und ballte in einer Aufwallung sinnlosen Zorns so heftig die Fäuste, dass seine Gelenke krachten. Er musste sich beherrschen, um nicht etwas Unhöfliches zu sagen, etwas, das sogar die vier Rothäute begriffen hätten. Es war schließlich nicht ihre Schuld. Der Junge war ein Kind, verdammt noch mal, und Kinder waren nun einmal per Definition brutale kleine Monster. Was erwartete er eigentlich, wenn er in einer Hose herumlief, die aussah, als hätte er hineingepinkelt? Frank kam die Treppe herauf und machte ein langes Gesicht. »Mach dir nichts draus«, knurrte er. »Ich habe gerade auch mein Fett abgekriegt.« »Lass mich raten«, sagte Mike. »Die zehn Dollar ...« »... waren pro Fahrgast gemeint«, führte Frank den Satz zu Ende, »ganz genau. Jedenfalls behauptet er, er hätte es Stefan vorher gesagt... Nicht, dass sich einer von uns beiden daran erinnern könnte.« »Willkommen in Amerika«, brummte Mike. Natürlich gingen sie nicht früh zu Bett, wie Mike es sich vorgenommen hatte, sondern gönnten sich gerade einmal eine knappe Stunde Ruhe, bevor sie das Best Western wieder verließen und bis weit nach Mitternacht das Vergnügungsviertel Scottsdales unsicher machten. Wider Erwarten erwachte Mike am nächsten Morgen ausgeruht und bester Laune. Während er unter der Dusche stand, fragte er sich immer häufiger, wieso er gestern eigentlich so mies drauf gewesen war. Alles in allem waren ihm gestern ein paar kleine Missgeschicke zugestoßen, aber mehr auch nicht.
Kein Grund, der ganzen Welt den Krieg zu erklären. Das Hotel verfügte über einen großzügigen Patio, in dem ein amerikanisches Frühstücksbüfett aufgebaut war - zum größten Teil Grünzeug und Körnerfutter, die Mike mit Verachtung strafte, während sich Frank und Stefan mit wahrer Begeisterung darauf stürzten. Mike selbst begnügte sich mit einer Tasse Kaffee und zwei Scheiben Buttertoast. Frank bedachte seine Auswahl stirnrunzelnd, ersparte sich aber jeden Kommentar. Die beiden Toastscheiben waren schon mehr, als Mike zu Hause frühstückte. »Leute, wir sind in Amerika!«, sagte Stefan zwischen zwei Löffeln voll Müsli, das ganz bestimmt schrecklich gesund war, aber zwischen seinen Zähnen knirschte wie Glassplitter. »Unser erster Urlaubstag!« »Der war gestern«, sagte Mike. »Gestern war Anreise«, widersprach Stefan. »Heute ist unser erster Urlaubstag. In ein paar Stunden sitzen wir auf unseren Böcken und donnern über die Route 66.« »Bis dahin sind es noch gut hundert Meilen«, warnte Frank. »Ist das ein Problem für drei schneidige Kerle wie uns, auf drei Harleys?«, griente Stefan. Mike verkroch sich hastig hinter seiner Kaffeetasse. Was die Harleys anging, stand den beiden noch eine Überraschung bevor, und es war keine von der unbedingt angenehmen Sorte. Spätestens jetzt wäre der Moment gekommen, ihnen die Wahrheit zu sagen, aber er schreckte davor zurück. Es würde so oder so Ärger geben, und es gab keinen Grund, diesen jetzt schon zu provozieren. Sie sprachen eine Weile über die bevorstehende Tour und die Strecke, die sie heute noch bewältigen wollten - von hier aus nonstop nach Flagstaff und dann weiter die Bundesstraße 89 hinauf bis zu einem Kaff, das auf den klingenden Namen Tuba City hörte. Eine ziemliche Ochsentour, gerade für den ersten Tag. Selbst der Mann im Reisebüro hatte ihnen davon
abgeraten, sofort am Anfang ein so langes Stück zu fahren. Sie hatten sich jedoch trotzdem dafür entschieden. Wenn sie am nächsten Morgen zeitig genug aufbrachen, konnten sie schon am frühen Vormittag den Grand Canyon erreichen, ihr erstes wirkliches Etappenziel. Aber nur, wenn sie nicht noch länger hier herumsaßen und kostbare Zeit vertrödelten. Mike sah auf die Uhr. »Du hast Recht, es ist spät«, meinte Stefan, der die Geste richtig deutete. »Der Verleih macht in zwanzig Minuten auf. Wir wollen unsere Fat Boys doch nicht warten lassen.« Kaum, dachte Mike. Die dürften sich jetzt bereits schon irgendwo in Nevada befinden. Stefan stand auf. »Ich kümmere mich um ein Taxi. Trinkt in Ruhe euren Kaffee aus - oder das, was sie hier Kaffee nennen.« Er ging. Frank sah ihm kopfschüttelnd nach, stopfte sich ein Salatblatt in der Größe eines Sombreros in den Mund und stand auf. »Er freut sich wie ein kleines Kind auf den Weihnachtsmann«, sagte er. »Du nicht?« »Doch«, antwortete Frank, wenn auch erst nach sekundenlangem Überlegen. »So war das nicht gemeint. Ich finde es toll, wenn jemand seine Freude so zeigen kann. Ich selbst bin eher neugierig.« »Neugierig?« »Auf den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit.« Frank machte eine flatternde Handbewegung in unbestimmte Richtung. »Von dem, was wir jetzt tun, habe ich immer geträumt. Bin gespannt, wie es nun wirklich wird.« »Ich auch«, sagte Mike, und aus einem plötzlichen Impuls heraus fügte er hinzu: »Wegen gestern ...« »Du warst nicht gut drauf.« Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das passiert uns allen mal. Vergiss es einfach.« Das tat Mike nur zu gerne. Und es war auch gewiss nicht der
richtige Moment, Frank zu erzählen, dass ihm da noch etwas »passiert« war, etwas mit ihren Motorrädern. In zwanzig Minuten würden sie es sowieso erfahren. »Hauen wir ab, bevor Stefan sich vor lauter Ungeduld die Fingernägel bis auf die Knöchel abkaut«, sagte Frank grinsend. »Und ich mich so voll fresse, dass ich nicht mehr auf die Maschine passe.« Mike stand auf und wandte sich zum Ausgang. Als er sich umdrehte, streifte sein Blick den Tisch am anderen Ende des Patios, und er verhielt automatisch einen Moment in der Bewegung. An dem achteckigen Pinienholz saß die Indianerfamilie von gestern Abend. Sie trugen noch immer die gleichen Kleider wie gestern, nur dass sie jetzt so aussahen, als hätten sie darin geschlafen. Und alle starrten ihn an. Einen Moment lang erwiderte Mike ihren Blick ausdruckslos und höchstens mit leiser Verwirrung, dann verspürte er plötzlich das - eigentlich grundlose - Bedürfnis, sich für den gestrigen Abend entschuldigen zu müssen. Er lächelte dem Jungen freundlich zu, hob die Hand und winkte, und der Junge lächelte zurück. Wenigstens kam ihm das im ersten Moment so vor. Dann erkannte er seinen Irrtum. Der Junge lächelte nicht. Er grinste. Er grinste auf eine ganz außergewöhnliche, schmutzige Art, die einem Kind seines Alters nun weiß Gott nicht zukam. Dann sagte er etwas in seiner guttural klingenden Muttersprache, worauf sein Vater und seine Mutter mit dem gleichen schmutzigen Gelächter wie am vergangenen Abend reagierten. Einem sehr lauten Gelächter, sodass einige der Gäste an den anderen Tischen überrascht und neugierig zu ihnen herübersahen. Auch Frank hatte den Kopf gedreht und sah ihn stirnrunzelnd an. Der Indianer lachte noch einmal und machte eine spöttische Bemerkung, diesmal im breiten Westernslang und in einer Lautstärke, die keinen Zweifel daran ließ, dass die Worte nicht
nur für seine Familie bestimmt waren. Die meisten Gäste reagierten gar nicht - und wenn, dann höchstens mit peinlichem Schweigen, aber einige sahen doch in Mikes Richtung, und zumindest an einem Tisch klang ein kurzes, spöttisches Gelächter auf. »Was hat er gesagt?«, fragte Mike. Nicht, dass diese Frage nötig gewesen wäre. Er hatte die Worte tatsächlich nicht verstanden, aber das brauchte er auch gar nicht, um zu wissen, was der Kerl gemeint hatte. Einen Moment lang musterte Mike den Indianer auf jene ganz bestimmte Art, die normalerweise einer tätlichen Auseinandersetzung vorausging. Mike schätzte ihn auf ungefähr dreißig, allerhöchstens fünfunddreißig Jahre, also mindestens zehn Jahre jünger als er selbst. Ungefähr seine Größe, und auch ungefähr sein Gewicht, aber eindeutig besser in Form. Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Frank: »Das lohnt sich nicht. Vergiss ihn einfach. Er ist ein Idiot.« Irgendetwas an dem anzüglichen Grinsen des Indianers ... veränderte sich. Seine Augen wurden schmal, und Mike dachte voller Unbehagen daran, dass das Wort »Idiot« im Englischen auch nicht viel anders klang als auf Deutsch. Dann verscheuchte er den Gedanken. Der Bursche konnte Frank unmöglich verstanden haben. Der Tisch, an dem er saß, war mindestens fünfzehn Meter weit weg. Außerdem hatte Frank vollkommen Recht: Es lohnte sich nicht. Sollte dieser Blödmann doch noch seinen Urenkeln am Lagerfeuer von der großen Schlacht am Frühstücksbüfett des Best Western erzählen, in der er den weißen Trottel in die Pfanne gehauen hatte! Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und folgte Frank, der bereits mit schnellen Schritten dem Ausgang zustrebte. Zehn Minuten später saßen sie im Taxi und waren unterwegs, um ihre Maschinen abzuholen. »Intruder?« Frank betonte das Wort auf eine Weise, die jede weitere Erklärung im Grunde überflüssig machte. »Was soll
das bedeuten?« »Es heißt in etwa so viel wie Eindringling«, begann Mike, »oder auch ...« Frank drehte sich auf dem Absatz um und fuhr ihn in derart scharfem Ton an, dass Mike den Rest seiner Erklärung sicherheitshalber hinunterschluckte. »Ich weiß was es bedeutet, verdammt noch mal«, schnappte er. »Ich weiß nur nicht, was es auf diesem Mietvertrag zu suchen hat. Als ich das Ding das letzte Mal gesehen habe, stand Harley-Davidson drauf.« Das war nicht ganz korrekt. Genau genommen hatte Frank seinen Mietvertrag noch nie gesehen, ebenso wenig wie Stefan. Der Einzige, der die drei Verträge in Deutschland in die Hand genommen hatte, war Mike, und da hatte Suzuki VL 800 Intruder auf jedem einzelnen dieser verdammten Formulare gestanden. Schließlich hatte Mike es eigenhändig hineingeschrieben, nachdem er die Typenbezeichnung Harley-Davidson Fat Boy durchgestrichen hatte. Wenn überhaupt, dann war jetzt der Moment, seinen beiden Freunden zu beichten, dass er ziemlichen Mist gebaut hatte. Vor drei Monaten, als sie die Tour vorbereitet hatten, hatte er es übernommen, sich um die Anmietung der Motorräder, die Versicherungen und alles, was sonst noch dazugehörte, zu kümmern. Natürlich war vom ersten Moment an, in dem aus einer gelegentlichen Schwärmerei allmählich Ernst zu werden begann, eines klar gewesen: Wenn sie mit dem Motorrad durch Amerika fuhren, dann selbstverständlich auf einer Harley, und ohne zu zögern hatte er deshalb drei der legendären Maschinen angemietet, in identischer Ausführung und Farbe. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles glatt gegangen, bis hin zu dem Hochglanzprospekt des Vermieters, in dem die Maschinen abgebildet waren. So weit der Teil, der funktioniert hatte. Der Rest hätte
vermutlich auch funktioniert, wäre er nicht plötzlich zur Vernunft gekommen. Immerhin: Es war eindeutig vernünftig gewesen, sich vorab eine Harley zu leihen und auf einer abgelegenen Seitenstraße ein paar Proberunden zu drehen! Unglückseligerweise hatte diese Probefahrt prompt im Straßengraben geendet, mit einem Sachschaden in vierstelliger Höhe und der Bestätigung dessen, was Mike schon vorher vermutet hatte: nämlich dass dieser Koloss von Motorrad um mehrere Nummern zu groß für ihn war. Es war eindeutig unvernünftig, mit einem Motorrad über enge Passstraßen fahren zu wollen, das Mikes Eigengewicht beinahe um das Sechsfache übertraf. Er war noch am gleichen Tag ins Reisebüro gegangen und hatte den Mietvertrag geändert. »Ich habe mit dem Chef gesprochen«, sagte Stefan mit langem Gesicht. »Der Mietvertrag ist in Ordnung. Er ist genau so aus Deutschland gefaxt worden. Da hat jemand gewaltigen Mist gebaut, aber nicht hier.« Er machte ein noch finstereres Gesicht, warf Mike einen kurzen, prüfenden Blick zu und schien dann innerlich den Kopf zu schütteln, als hätte er sich selbst eine Frage gestellt und die Antwort als vollkommen unmöglich verworfen. Mike schwieg. Er fühlte sich alles andere als wohl, aber was zum Teufel sollte er sagen? Tut mir Leid, Jungs, aber ich habe ganz aus Versehen den Mietvertrag für alle drei Maschinen geändert. Und als ich es gemerkt habe, war es zu spät, um alles noch einmal umzumodeln. Wirklich, es tut mir Leid, dass ich euch den Spaß verdorben habe, aber so was passiert nun mal, wenn man das Maul zu voll nimmt und dann Schiss vor der eigenen Courage bekommt. Ja, genau das sollte er sagen. Spätestens jetzt. Aber er sagte es nicht, sondern hob nur die Schultern und fragte: »Können wir den Vertrag nicht ändern?« »Theoretisch schon«, knurrte Stefan. »Praktisch hat er die letzten beiden Harleys vorgestern rausgegeben. Es sind nur
noch die Susis da.« Er lachte humorlos. »Wisst ihr, was der größte Witz ist? Er hat die dritte Intruder extra von einem befreundeten Motorradverleih besorgt, weil der Dödel im Reisebüro auf drei identischen Maschinen bestanden hat.« »Aber das ist doch Scheiße!«, sagte Frank zornig. »Ich fahre doch nicht mit einer abgespeckten Reisschüssel über die Route 66!« »Das werden wir wohl müssen«, sagte Stefan resignierend. »Ist die Intruder nicht so etwas Ähnliches wie eine Harley?«, fragte Mike harmlos. Natürlich wusste er, dass sie es nicht war. Er hatte die Kiste schließlich ausgesucht. Was tat er hier eigentlich? Sich mit aller Gewalt um Kopf und Kragen reden? Spätestens wenn sie wieder zurück waren, würden Frank oder Stefan im Reisebüro Krach schlagen: Und dann würde der ganze Schwindel auffliegen. Frank knirschte mit den Zähnen, bevor er mühsam beherrscht hervorquetschte: »Eine 1500er Intruder steht einer Harley sicherlich in nichts nach.« Er lachte humorlos auf. »Wenn es wenigstens noch die 800 Volusia wäre - die hat nämlich ein Wahnsinnsdrehmoment für eine 800er. Aber ausgerechnet die brave alte VL 800!« »Aha.« Mike versuchte möglichst unbekümmert auszusehen. »Was ist denn mit der?« »Die taugt vielleicht für einen Abstecher durch die Eifel«, antwortete Stefan an Franks Stelle. »Aber für einen 3000Kilometer-Trip durch Wüste, Sand und Staub ist sie eine so krasse Fehlbesetzung - das kannst du dir gar nicht vorstellen.« »Genau«, pflichtete ihm Frank bei. »Um es mal auf den Punkt zu bringen, Mike: Die VL 800 ist nur halb so groß wie ein Fat Boy, sieht nur ein Viertel so gut aus und bringt bei niedrigen Drehzahlen höchstens ein Achtel der Leistung auf die Straße.« »In diesem Satz waren jetzt mindestens drei grammatikalische Fehler«, sagte Mike. Frank starrte ihn nur finster an.
»Sehen wir sie uns wenigstens an«, schlug Stefan vor. »Wir müssen sie ja nehmen, ob wir wollen oder nicht. Also kommt. Machen wir das Beste draus.« »Meinetwegen«, sagte Frank übellaunig. »Aber die Sache hat ein Nachspiel, das verspreche ich euch. Sobald wir zu Hause sind, drehe ich diesem Blödmann im Reisebüro den Schreibtisch auf links, mein Wort darauf.« Das klang nicht gut. Mike kannte Frank fast so lange, wie er sich zurückerinnern konnte, und in all dieser Zeit hat Frank seines Wissens nach niemals eine leere Drohung ausgestoßen. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen, um den beiden möglichst schonend die Wahrheit beizubringen, und zwar, bevor sie wieder nach Hause flogen. Sie betraten die große, pedantisch aufgeräumte Garage, deren hinteres Drittel zugleich als Werkstatt diente. Sie bot gut und gerne Platz für fünfzig Motorräder, war aber im Moment fast leer. Die drei dunkelroten Suzuki Intruder wirkten tatsächlich winzig und irgendwie verloren. Natürlich waren sie es nicht. Mit 800 ccm Hubraum, fünfzig PS und fast zweihundertfünfzig Kilogramm Leergewicht waren es ausgewachsene Motorräder, die Mike in kritischen Situationen durchaus Kopfzerbrechen bereiten konnten. »Na ja«, maulte Frank, der immer noch kurz davor stand, aus der Haut zu fahren. »Da bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig.« Der Vermieter - ein hoch gewachsener, dünner Bursche undefinierbaren Alters, der Cowboykleidung und den dazu passenden Hut trug und bisher schweigend neben ihnen gestanden hatte, richtete ein paar Worte auf Amerikanisch an ihn, die Frank ebenso rüde wie knapp beantwortete, hob dann die Schultern und trollte sich in einen winzigen Verschlag, der an die Werkstatt grenzte und mit Office gekennzeichnet war. »Was hat er gesagt?«, wollte Mike wissen. »Irgendwas von einer Einweisung.« Frank zog eine Grimasse.
»Ich kann Motorrad fahren.« »Auch so eine Reisschüssel?«, grinste Stefan. Frank würdigte ihn nicht einmal eines Blickes als Antwort, sondern stiefelte mit finsterem Gesichtsausdruck zum Büro. Stefan schaltete sein Grinsen ab und schloss sich ihm an. Mike atmete innerlich auf. Er kannte die beiden gut genug, um zu spüren, dass der gefährlichste Moment vorbei war. Frank würde noch eine Weile vor sich hin muffeln und sich dann in das ohnehin Unausweichliche fügen, und Stefans Maxime war es ohnehin, immer das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen, statt lange über verpasste Chancen zu jammern. Bevor er den beiden und ihrem stetsonbewehrten Führer folgte, warf er noch einen Blick über die Schulter. Auf der Straße, an der der Motorradverleih lag, herrschte nur wenig Verkehr, was er mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm. Auf diese Weise blieb ihm noch eine kleine Gnadenfrist, bis er sich mit einem bis zum Zusammenbrechen voll geladenen Motorrad in den Berufsverkehr von Phoenix stürzen musste. Ein schwarzer Van älteren Baujahres fuhr vorbei, und Mike fuhr wie elektrisiert zusammen. Sein Herz begann zu pochen. Die Scheiben des Wagens waren schwarz, sodass er nicht erkennen konnte, wie viele oder gar welche Personen sich im Van befanden, aber für einen winzigen Moment, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde, war er hundertprozentig sicher, einen Mann, ein Kind und zwei Frauen unterschiedlichen Alters darin zu erblicken, die höhnisch zu ihm herüberstarrten. Unsinn! Natürlich war es Unsinn. Es war nicht derselbe Van. Es musste Tausende Wagen dieser Bauart und Farbe in den USA geben, wahrscheinlich Hunderte allein hier in Arizona und Dutzende in Phoenix. Der Van rollte an der Auffahrt vorbei, ohne auch nur langsamer zu werden, und die Scheiben wurden auch nicht heruntergefahren. Niemand warf ihm böse Blicke
zu, und es gab auch keine Indianerkinder, die ihn hämisch auslachten. Was war nur mit ihm los? Die Geschichte war vorbei, endgültig und vollkommen vergessen von allen Beteiligten, abgesehen natürlich von ihm selbst. Nicht einmal dieses widerliche kleine Indianerbalg würde sich morgen noch daran erinnern. Mike drehte sich mit einem Ruck um und betrat als Letzter das winzige, fensterlose Büro. Die Einweisung dauerte eine gute halbe Stunde und bestand in der Hauptsache aus einer nicht enden wollenden Aufzählung von Dingen, die sie alle nicht tun durften, solange sie im Besitz der gemieteten Motorräder waren. Mike hatte am Anfang große Schwierigkeiten, sich auf die Worte des Händlers zu konzentrieren. Ob er es wollte oder nicht, seine Gedanken wanderten immer wieder zu jenem schwarzen Van und den vier Indianern zurück, die (ganz bestimmt nicht, verdammt noch mal!) darin gesessen hatten, aber schließlich holte ihn die Wirklichkeit doch ein - spätestens in dem Moment, als die Unterrichtsstunde beendet war und John Wayne Junior sie darauf hinwies, dass er den ganzen Müll samt ihren verständnislosen Gesichtern auf Video aufgenommen hatte; nur für alle Fälle, natürlich. »Ich wollte, ich hätte auch nur ein Wort verstanden«, murmelte Mike. »Sei froh, dass du es nicht hast«, erwiderte Frank. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht ganz sicher, ob wir nicht schon gegen irgendeine Vertragsbedingung verstoßen, wenn wir diese Maschinen auch nur anlassen.« »Geschweige denn, damit fahren«, fügte Stefan hinzu. »Und jetzt kommt noch die Krönung: Wir dürfen eine Proberunde auf dem Hof drehen.« »Proberunde?«, wiederholte Mike verständnislos. »Klar.« Frank zog eine Grimasse. »Daddy will sich doch
davon überzeugen, dass wir auch wirklich Motorrad fahren können - und nicht nur so tun.« Er seufzte übertrieben. »Also los. Augen zu und durch.« So ungefähr kam es dann auch. Der humorlose Cowboy bestand darauf, dass sie auf dem weitläufigen Hof einige Runden drehten und eine Vollbremsung vollzogen (bei der sich Mike beinahe hingelegt hätte), und als krönenden Abschluss mussten sie noch eine Runde um den Block fahren - mit voll beladenen Maschinen, und es handelte sich um einen amerikanischen Block, der für sich allein genommen ungefähr so groß war wie so manche deutsche Kleinstadt. Mike wackelte mehr auf die Straße hinaus, als dass er fuhr er konnte die misstrauischen Blicke des Händlers fast körperlich im Rücken spüren - und musste dann notgedrungen kräftig Gas geben, um nicht den Anschluss an die beiden anderen zu verlieren. Er fühlte sich unsicher wie nie zuvor. Es war noch keine zweiundsiebzig Stunden her, dass er zu Hause auf seinem eigenen (deutlich schnelleren) Motorrad gesessen hatte, aber plötzlich war es, als versuche er zum ersten Mal ein Fahrzeug zu steuern, das weniger als vier Räder hatte. Mike verstand sich allmählich selbst nicht mehr. Die beiden ersten Kurven waren ein Albtraum, zumal sie sehr eng waren und es dazu noch leicht bergab ging, aber irgendwie schaffte er es, und dann lag endlich eine von den Straßen vor ihm, wie er sie sich bei der Planung der Tour vorgestellt hatte: ein sechsspuriger, breit ausgebauter Highway, auf dem der Verkehr gemächlich dahinrollte. Er gab etwas mehr Gas, um zu Frank aufzuschließen, und spürte, wie er ganz allmählich ein Gefühl für die Maschine zu gewinnen begann. Wahrscheinlich würde es noch Stunden dauern, bis er sich auch nur einigermaßen sicher auf der Intruder fühlte, aber sein Herz klopfte jetzt wenigstens nicht mehr bis zum Hals. Behutsam beschleunigte er das Motorrad weiter und schielte dabei mit einem Auge auf den Tacho, mit dem anderen in
einen der beiden Rückspiegel. Der Tacho zeigte beruhigende fünfunddreißig Meilen, der Rückspiegel das ganz und gar nicht beruhigende Bild eines schwarzen Van mit abgedunkelten Scheiben. Mike verriss den Lenker. Die Maschine kam ins Trudeln, näherte sich in einem gefährlich engen Bogen dem entgegenkommenden Verkehr und richtete sich schwerfällig wieder auf, als Mike den Gashebel mit einem Ruck bis zum Anschlag aufdrehte und sich gleichzeitig mit aller Kraft nach rechts warf. Hinter ihm quietschten Reifen. Ein zorniges Hupen erscholl, und Mike sah im Rückspiegel, wie der schwarze Van im buchstäblich allerletzten Moment auswich und dabei nun tatsächlich auf die Gegenfahrbahn geriet. Aus dem einzelnen Hupen war mittlerweile ein wahres Hupkonzert geworden, aber Mike hatte keine Zeit mehr, in den Spiegel zu sehen; er hatte alle Hände voll damit zu tun, die Maschine daran zu hindern, sich aufzuschaukeln oder zur Seite zu kippen. Irgendwie - er konnte beim besten Willen nicht sagen, wie gelang es ihm, die Kontrolle über die Intruder zurückzugewinnen und die Maschine zum Stehen zu bringen, kurz bevor sie die nächste Ecke erreichten und abbiegen mussten. Frank hielt unmittelbar neben ihm, während Stefan noch ein Stück weiterrollte, ehe auch er anhielt und einen irritierten Blick zurückwarf. Frank klappte sein Helmvisier nach oben und legte fragend den Kopf auf die Seite. Er sagte nichts, aber das war auch gar nicht nötig. Noch bevor Mike jedoch antworten konnte, hupte es erneut laut hinter ihnen. Mike drehte erschrocken den Kopf und sah den schwarzen Van direkt auf sich zurasen. Der Fahrer hatte das Fenster auf der rechten Seite heruntergelassen, zeigte ihm den hochgereckten Mittelfinger und überschüttete ihn, Frank und Stefan mit einer wahren Flut von Beschimpfungen, deren Sinn Mike nur zu gut verstand, ohne die im Westen Amerikas
üblichen Schimpfwörter jemals zuvor gehört zu haben. Das Gesicht des Mannes war zu einer Grimasse verzerrt, und in seinen Augen flackerte eine Wut, die an pure Mordlust grenzte. Mike war ziemlich sicher, dass er nur aus einem einzigen Grund nicht anhielt und ausstieg: weil sie zu dritt waren. Außerdem war der Fahrer ein Schwarzer, kein Indianer. »Was ist los?«, rief Stefan über die Schulter zurück; mehr als nur ein wenig ungeduldig. Mike antwortete, allerdings erst nach ein paar Sekunden und an Frank gewandt: »Entschuldige«, sagte er. »Ich dachte für einen Moment...« Er ließ den Satz unvollendet, aber Frank sah ihn einen Augenblick lang durchdringend an und sagte dann in einem sonderbar ernsten Tonfall: »Ich weiß. Ich dachte dasselbe.« Der Van hatte mittlerweile die nächste Ampel erreicht und bog mit kreischenden Reifen und ohne zu blinken nach links ab. Auf der anderen Seite erscholl ein ärgerliches Hupen, und Stefan kippte seine Maschine auf den Ständer, um mit schnellen, aber trotzdem irgendwie schwerfällig wirkenden Schritten zu ihnen zurückzukehren. »Was ist los?«, fragte er. »Glaubt ihr, das hier wäre der richtige Platz für ein Picknick? Ich meine: Ich kann Kaffee und Donuts besorgen, wenn ihr wollt.« Während Mike noch nach einer passenden (und wenigstens halbwegs glaubhaft klingenden) Ausrede suchte, machte Frank eine Geste in die Richtung, in der der Van verschwunden war. »Wir bewundern nur die Fahrkünste der einheimischen Bevölkerung.« »Ich hatte eher den Eindruck, als wären es die MotorradFahrkünste deutscher Greenhorns, die es hier zu bewundern gibt.« Stefan zog eine Grimasse, aber für einen kurzen Augenblick schlich sich doch ein Ausdruck echter Sorge in sein Grinsen. Dann schüttelte er den Kopf. »Jetzt lasst uns weiterfahren, bevor wir unsere erste Tagestour gleich mit
einem Strafticket beginnen. Vergesst den Blödmann.« Das musste Mike gar nicht. Den »Blödmann« hatte er bereits vergessen. Er dachte an den schwarzen Van. Und es war verrückt: Irgendwie hatte er das Gefühl, dass doch noch jemand anderes darin gesessen hatte ... Bevor Mike dazu kam, den ersten Gang hereinzuhämmern, um wieder Land zu gewinnen, stieß Stefan einen markerschütternden Schrei aus - ein Geräusch, das Mike unangenehm an das gequälte Freudengeheul eines FußballFans erinnerte, dessen Verein in letzter Sekunde den lang ersehnten Ausgleichstreffer erzielt hatte. Während Frank ein entgeistertes »Was ist los?«, abschoss, hatte Mike alle Hände voll zu tun, um seine Maschine vor dem Abwürgen zu bewahren. Die Hand, mit der er den Kupplungshebel bis zum Anschlag gezogen hatte, zitterte und fühlte sich so seltsam kraftlos an, dass er einen Herzschlag fürchtete, die Kupplung nicht mehr halten zu können. Es hätte gerade noch gefehlt, mit einem unfreiwilligen Kavalierstart loszuschießen. »Seht ihr die Kiste da?« Stefans Stimme zitterte geradezu vor Neid. »Das ist ein Motorrad. Nicht so eine FernostPappschachtel mit Rasenmäher-Motor, wie wir sie fahren.« Mike hätte wirklich gerne in die Richtung geblickt, in die seine beiden Freunde jetzt starrten wie zwei Erstklässler, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine nackte Frau sahen; aber dazu musste er erst mal den verdammten Leerlauf finden. Zumindest konnte er sich damit Zeit lassen. Denn so, wie sich Stefan gebärdete, war es kein schwarzer Van, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, sondern irgendein heißer Hobel, dessen Sound die Kaffeetassen der Straßencafes erzittern ließ, an denen er vorbeidonnerte. »Das ist doch keine Harley, oder?«, fragte Frank. »Doch, doch«, murmelte Stefan vollkommen hingerissen. »Das erkennt man an dem kopfgesteuerten Vollaluminium-
Motor. Harley baut die Dinger seit vierundachtzig.« »Und das Fahrwerk ist dann Marke Eigenbau aus Edelstahl«, vermutete Frank. »Wohl kaum. Auch wenn die ganze Kiste blitzt, als wäre sie in ein Chrombad getaucht worden - sieht schon irgendwie klasse aus. Obwohl das nicht unbedingt mein Geschmack wäre.« Mittlerweile hatte Mike den Kampf mit dem Getriebe gewonnen und den Leerlauf reingewürgt. Mit einem erleichterten Seufzer gaben seine verkrampften Finger den Kupplungshebel frei. Erst dann drehte er sich betont langsam zu seinen Freunden um. »Wovon sprecht ihr eigentlich?«, fragte er gedehnt. Stefan stöhnte auf. »Mann, du siehst wohl ein Scheunentor selbst dann nicht, wenn du direkt drauf zuhältst, was?« »Scheunentor?« Mike kniff die Augen zusammen, wobei er sich bemühte, den einsitzigen Chopper auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu übersehen, der blitzte und blinkte, als hätte man ihn aus Sechziger-Jahre-Chromstoßstangen zusammengeschweißt. »Ich seh kein Scheunentor.« Stefans begeisterter Gesichtsausdruck gefror, und einen Augenblick später warf er Mike einen fast traurigen Blick zu, der letztendlich mehr schmerzte als jeder Wutausbruch. »Intruder VL 800«, stieß er verächtlich hervor. »Das ist ja wohl eher das, was dich begeistern kann, oder?« Offensichtlich erwartete er keine Antwort, denn er stiefelte zu seiner Maschine zurück, startete sie und brauste mit quietschenden Reifen los. Mike starrte ihm einen Moment lang gedankenverloren nach, bevor er einen langen Blick auf das chromblitzende Ungetüm warf, das Stefan so fasziniert hatte. Der Anblick der aufgemotzten Harley, die bis auf ihre schwarzen Packtaschen, den Sattel und die breiten Reifen aus geradezu unanständig funkelndem Metall bestand, versetzte ihm einen scharfen Stich. Eine solche Maschine hätten sie zwar
kaum leihen können - sicher aber eine Harley Fat Boy oder auch eine Intruder 1500 LC. Auch wenn er sich das nur sehr ungern eingestand: Das war eben doch etwas ganz anderes als die zwar grundsolide, aber leider auch stinklangweilige VL 800. »Wenn wir eine Pause machen sollen ...«, begann Frank vorsichtig, der seinen Blick wohl falsch gedeutet hatte. »Eine Pause, bevor wir überhaupt richtig losgefahren sind?« Mike quälte sich ein schiefes Grinsen ab. »Ich halte es schon noch eine Weile aus, bevor ich mir wieder einen Glimmstängel zwischen die Zähne schieben darf. Komm, lass uns die Probefahrt beenden, und dann geht es los!« Frank öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schüttelte dann aber nur den Kopf. Mike trat mit voller Wucht auf den Schalthebel, als wolle er ausprobieren, ob die Japaner wirklich robuste Motorräder bauen können, und ließ die Kupplung mit einem ärgerlichen Ruck kommen. Die Intruder machte einen fast hilflos wirkenden Satz nach vorne, fing sich dann aber wieder, als er vorsichtig Gas gab. Es hatte keinen Sinn, seine Wut an der Maschine auszulassen. Als er einen letzten Blick auf Frank warf, der sich nun endlich anschickte, ihm zu folgen, sah er den glücklichen Besitzer der Chrom-Harley auf seine Maschine zusteuern. Es war ein großer, schlanker Kerl in schwarzer Lederkluft, der fast aussah, als wolle er Schwarzenegger in der Rolle des Terminators beerben. Dieses Bild passte irgendwie nicht zusammen. Mike hatte einen angejahrten, dicklichen HarleyFahrer erwartet, der seine Fettpolster unter einer abgewetzten Lederjacke verbarg - aber nicht einen solchen BodybuilderTyp. Einzig die langen Haare passten zu dem Klischee des typischen Arizona-Rockers. Als der Typ sich auf seinen Sattel schwang, rutschte etwas, das an seiner Seite baumelte, nach vorne und rauschte nur
knapp über den edlen Tank hinweg. Es sah fast aus wie eine Kamera. Aber ein Harley-Fetischist in Lederkluft, der wie ein x-beliebiger Touri herumlief? Das passte zusammen wie Rambo und Mickey Mouse. Frank zog an Mike vorbei, und Mike blieb nichts anderes übrig, als sich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren, wollte er nicht schon wieder in eine prekäre Situation schlittern. Er wusste, dass er sich keinen Schnitzer mehr leisten konnte. Der Urlaub hatte kaum begonnen: Und er hatte schon alles darangesetzt, ihn gründlich zu ruinieren. Sie verließen Phoenix auf dem Highway 17 in nördlicher Richtung und erreichten gegen fünf Flagstaff. Es war tatsächlich die Erfüllung eines Jugendtraums, ganz egal, wie man es betrachtete. Auch wenn aus der Harley eine Suzuki geworden war und auf den ersten zweihundert Kilometern anstelle von »Steppenwölfen« hauptsächlich genervte Truckfahrer die Begleitmelodie beitrugen. Abgesehen von dem Van-Fahrer in Phoenix traf das, was Frank über die defensiv fahrenden Amis gesagt hatte, durchaus zu, aber es gab eine Ausnahme: Trucks. Mike hatte irgendwann aufgehört, in den Rückspiegel zu sehen. Es war ganz und gar kein beruhigendes Gefühl, einen Vierzigtonner darin zu erblicken, der auf weniger als zwei Meter Abstand auffuhr und über einen zusätzlichen Hebel für die Lichthupe zu verfügen schien, dafür aber über so wenig Bremsen wie sein Fahrer Verstand. Der Mann von der Motorradvermietung hatte sie ganz genau darauf vorbereitet. Die Route 17 war gebirgig. Lang gestreckte Steigungen wechselten sich mit ebenso langen und steilen Gefällstrecken ab. Die gewaltigen Trucks hatten trotz ihrer zahllosen Pferdestärken manchmal alle Mühe, die Steigungen zu schaffen, und die Fahrer dachten nicht daran abzubremsen, wenn sie ihre schwerfälligen Gefährte endlich einmal auf Touren hatten; schon gar nicht wegen dreier Motorräder, die vor ihnen mit den vorgeschriebenen fünfundsechzig Meilen
über einen Highway zuckelten. Von diesem einen Wermutstropfen abgesehen, war es ein Tag wie aus dem Bilderbuch gewesen - ein Bilderbuch für die großen Jungs, die am liebsten mit Spielzeugen aus Chrom und Stahl und mindestens 100 PS spielten. Seit sie Phoenix verlassen hatten, waren sie abwechselnd durch Gebirge, malerische Wälder, trockene Wüstengebiete und dann wieder durch Landstriche gefahren, die sich kaum von denen im weitaus kühleren Mitteleuropa unterschieden. Nach einer Weile hatte selbst Mike seine anfängliche Scheu vor dem unbekannten Motorrad verloren und nach einer weiteren, etwas länger dauernden Weile sogar seine Angst vor den Truckdrivern. Alles, was danach kam, war ein Traum. Nicht einmal der Umstand, dass sie praktisch keine Chance mehr hatten, ihr erstes Fahrziel vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, vermochte das Hochgefühl zu dämpfen, das von Mike Besitz ergriffen hatte; ein Gefühl, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte: eine Art stiller Euphorie, die sich, von innen heraus kommend, langsam in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte. Stefan, der von Anfang an vorne geblieben war, drückte kurz auf die Hupe und gab dann das vereinbarte Zeichen, bei nächster Gelegenheit rechts heranzufahren. Mike sah automatisch auf den Tachometer und rechnete nach, wie viele Meilen sie seit ihrem letzten Tankstopp zurückgelegt hatten. Seiner Einschätzung nach hatten sie noch für siebzig oder achtzig Kilometer Sprit in den Tanks. In Deutschland hätte er keinen Gedanken daran verschwendet, jetzt schon nachzutanken, aber Stefan hatte natürlich Recht: In diesem Land war alles ein bisschen größer - auch die Entfernungen zwischen den Tankstellen. Er drängte das Easy-Rider-Gefühl zurück (nicht weit genug, um es nicht noch immer in vollen Zügen genießen zu können) und konzentrierte sich dann wieder etwas mehr auf seine Umgebung.
Während der letzten zwei oder drei Stunden war das Motorradfahren selbst mehr und mehr in den Hintergrund getreten; war nur noch ein Teil des Ganzen - ein unverzichtbarer vielleicht, aber längst nicht mehr die Hauptsache. Mike war fast enttäuscht, aber nur fast. Flagstaff, Arizona, klang vielleicht nach Wildem Westen und Lagerfeuerromantik, aber zumindest auf den ersten Blick war es eine Stadt, die ebenso gut in Deutschland, Belgien oder Italien oder irgendeinem anderen Land der Welt hätte liegen können. Die Straßen waren vielleicht ein wenig breiter, als er es gewohnt war, die Autos etwas größer (und vor allem lauter), und es gab sogar zwei oder drei Leute, die mit Stetson und Cowboystiefeln herumliefen: Aber das war auch schon alles. Doch gerade das scheinbar so Vertraute an dieser Umgebung machte die Situation auf schwer zu fassende Weise noch exotischer. Er entdeckte eine Texaco-Tankstelle am Ende der Straße und erwartete, dass Stefan sie ansteuern würde, aber ihr selbst ernannter Scout fuhr plötzlich deutlich schneller und bog an der nächsten Ampel nach rechts ab, ohne die Bremse auch nur zu berühren und - um den Spaß komplett zu machen - das Ganze auch noch bei Rot. Frank folgte ihm nur unwesentlich langsamer und auf die gleiche gesetzwidrige Weise. Mike schluckte einen Fluch herunter, sah hastig in den Rückspiegel und fuhr dann ebenfalls bei Rot über die Ampel. Ihm war alles andere als wohl dabei zumute - nicht wegen der Gesetzesübertretung, sondern weil er nicht besonders begierig darauf war, gleich am ersten Tag herauszufinden, ob die amerikanischen Cops tatsächlich so scharf waren, wie allgemein behauptet wurde. Aber noch viel weniger wild war er darauf, jetzt den Anschluss an seine beiden Freunde zu verlieren. Ein wenig zu spät fiel ihm ein, dass er der Einzige war, der die Adressen der Hotels im Gepäck hatte.
Er versuchte, zu den beiden anderen aufzuschließen, aber irgendwie gelang es ihm nicht. Der Verkehr wurde dichter, je mehr sie sich dem Zentrum von Flagstaff näherten, und die Intruder besaß nicht einmal einen Bruchteil der Durchzugskraft, die er von seiner heimatlichen Hayabusa gewohnt war. Er war schon froh, nicht noch weiter zurückzufallen. Als Stefan endlich anhielt und rechts ranfuhr, war Mike regelrecht wütend auf ihn; nicht einmal so sehr wegen des kleinen Fehlers an der Ampel, sondern weil sein Freund drauf und dran war, ihm die gute Laune zu verderben. Er würgte den Gedanken ab, bevor er zum Selbstläufer werden und ihm tatsächlich die Laune verderben konnte, parkte das Motorrad und riss sich den Helm vom Kopf, während er abstieg und auf Stefan zuging. »Was sollte denn das gerade?«, schnappte er, zwar nicht annähernd so scharf, wie er beabsichtigt hatte, aber immer noch zornig genug. »Was?« »Der kleine Scherz mit der Ampel. Bist du scharf auf einen Strafzettel? Ich glaube nicht, dass sie Touristen Rabatt gewähren.« »Vor allem solchen nicht, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben«, sagte Stefan grinsend. »Was soll das heißen?« »Rechts abbiegen bei Rot ist hier erlaubt«, sagte Frank. »Es ist sogar vorgeschrieben«, fügte Stefan hinzu. »Du bekommst ein Ticket, wenn du es nicht tust. Stand alles in dem Reiseführer, den wir bekommen haben. Aber den hast du ja wahrscheinlich nicht gelesen, wie ich dich kenne.« Mike verzichtete auf eine Antwort. Er hatte den Reiseführer tatsächlich nicht einmal angerührt. Er las niemals Reiseführer, ebenso wenig wie Betriebsanleitungen, Handbücher oder Programmzeitschriften. Stefan hatte schon mehr als einmal und nicht ganz zu Unrecht - gewitzelt, dass Mike Anleitungen
jeglicher Art wohl prinzipiell erst dann las, wenn seine eigene Fantasie für Fehlbedienungen erschöpft war. Außerdem hatten seine Worte durchaus versöhnlich geklungen. »Also gut«, knurrte Mike. »Und warum hast du angehalten? Wir haben bisher allerhöchstens die Hälfte geschafft. In drei oder vier Stunden wird es dunkel.« »Also, meine Karre hat ein Lampe«, sagte Stefan spöttisch. »Außerdem habe ich Hunger. Kommt. Ich spendiere ein Bier und ein paar Hotdogs.« Mike zögerte. Sie hatten tatsächlich noch eine Menge Meilen vor sich, vermutlich mehr, als sie bis zum Einbruch der Dunkelheit schaffen konnten. Auch das gehörte zu den Dingen, die man ihm zwar zuvor gesagt hatte, die er aber trotzdem erst am eigenen Leibe erleben musste, um sie wirklich zu glauben: Vierhundert Kilometer waren auf deutschen Autobahnen ein Klacks; eine Sache von einem halben Tag oder weniger. Auf einem amerikanischen Highway war es fast mehr, als man an einem Tag schaffen konnte, wenn man sich an die rigorosen Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt. Dabei hatte Stefan natürlich Recht: Sie würden das Hotel ohnehin nicht mehr im Hellen erreichen. Es spielte keine Rolle, ob sie eine halbe Stunde früher oder später ankamen. Sie überquerten die Straße und steuerten ein Cafe im Western-Stil an, eine wuchtige Holzhütte mit kleinen Fenstern, hölzernen Dachschindeln und einer weitläufigen Terrasse, in deren Inneren sich allerdings eine hochmoderne McDonald'sFiliale verbarg. Stefan und Frank gingen in Richtung Eingang, aber Mike schüttelte nur den Kopf und schritt zielsicher zur Terrasse. Zwar war es viel zu heiß, um draußen zu sitzen, aber Mike hatte die letzte Zigarette vor mehr als drei Stunden geraucht. Wenn er seinen Nikotinspiegel nicht bald wieder anhob, würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren. Frank verdrehte die Augen, protestierte aber nicht, und Mike verspürte ein flüchtiges, aber sehr tiefes Gefühl der
Dankbarkeit. Frank war so ziemlich der überzeugteste Nichtraucher, dem er jemals begegnet war. Trotzdem akzeptierte er Mikes Sucht stillschweigend, auch wenn Mike wusste, wie sehr Frank manchmal darunter litt. »Was darf ich den Herren holen?«, fragte Stefan. »Kaffee und Hotdogs?« »Gibt's bei McDonald's nicht«, sagte Frank. »Aber Kaffee und Donuts tun's auch.« Er deutete auf einen freien Tisch. »Wir braten inzwischen ein bisschen, damit unser Suchtpuckel seinen inneren Schweinehund füttern kann.« Stefan lachte und verschwand in der Tür. Auch Mike rang sich ein gequältes Grinsen ab und setzte sich auf eine der niedrigen Steinbänke, die tatsächlich noch unbequemer waren, als sie aussahen. »Vielen Dank«, sagte er. Frank hob die Schultern. »Es ist deine Gesundheit. Obwohl sie mir ganz und gar nicht egal ist.« »Weil ich sozusagen dein Chef bin?« Mike kramte in der Tasche und zog Zigaretten und Feuerzeug hervor. »Mein größter Kunde«, korrigierte ihn Frank. Er lächelte. Aber Mike hörte trotzdem das Klingeln einer (leisen) Alarmglocke in seinem Kopf und beschloss, das Thema zu wechseln. Frank und er kannten sich jetzt seit mehr als dreißig Jahren, aber irgendetwas hatte sich geändert, seit sie auch zusammen arbeiteten. Frank hatte sich als freiberuflicher Schriftsteller und Journalist selbstständig gemacht und übernahm in Mikes Auftrag oft die Recherchen für dessen eigene Bücher. Nicht zum ersten Mal fragte Mike sich, ob es wirklich klug gewesen war, aus einer so langjährigen Freundschaft auch eine Geschäftsbeziehung zu machen. Er kannte zwar eine Menge Geschäftsbeziehungen, aus denen im Laufe der Zeit Freundschaften entstanden waren, aber er war sich nicht sicher, ob es auch umgekehrt funktionierte. Aber jetzt war nicht der Moment, um das auszudiskutieren.
Gerade jetzt nicht. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm einen so tiefen Zug, dass ihm leicht schwindelig wurde, und warf einen langen, nachdenklichen Blick in die Runde. Während der letzten Minuten war er so damit beschäftigt gewesen, seinen Groll auf Stefan zu pflegen, dass er kaum auf seine Umgebung geachtet hatte. Dafür fiel ihm jetzt umso mehr auf, wie krass sich diese Straße von dem breit ausgebauten Highway unterschied, über den sie Flagstaff erreicht hatten. Was er vorhin vermisst hatte, das sah er nun geradezu im Überfluss. Sie mussten sich in dem Teil Flagstaffs befinden, den die Planer dieser auf dem Reißbrett entstandenen Stadt zur Altstadt erkoren hatten. So ziemlich alles hier sah aus, als stammte es aus dem vergangenen Jahrhundert - oder vielleicht sogar aus dem davor. Die Häuser waren klein und größtenteils im Kolonialstil erbaut. Andere, wie das Restaurant, auf dessen Terrasse sie saßen, waren Blockhütten oder aus grobem Stein erbauten Katen nachempfunden. Die Straße hätte ihm gefallen müssen, aber sie tat es nicht. Vielleicht, weil alles so unecht wirkte - und das auf eine schwer fassbare, aber nicht besonders angenehme Art. Amerikanische Plastik-Kultur eben. Er nahm einen weiteren, noch tieferen Zug und behielt den Rauch diesmal so lange in den Lungen, bis er Atemnot bekam. Er sah nicht einmal in Franks Richtung, aber er spürte trotzdem, dass dieser ihn durchdringend anstarrte. Unbehaglich drehte er sich wieder zu ihm um, versuchte einen Moment lang vergeblich, seinem Blick standzuhalten, und rettete sich schließlich, indem er einen weiteren Zug aus seiner West inhalierte. Diesmal konnte er nur noch mit Mühe ein Husten unterdrücken, und zu allem Überfluss brachte sich sein Herz mit einem dünnen, aber durchdringenden Stechen wieder in Erinnerung. Wieder einmal, um genau zu sein. Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann diese
verdammten Herzbeschwerden angefangen hatten. Es mussten zehn Jahre oder mehr sein. Aber seit zwei oder drei Jahren waren sie jenem Stadium entwachsen, das er in blauäugiger Selbstdiagnose als Lappalie eingestuft und mit begeisterter Naivität verdrängt hatte. Manchmal hatte er ein taubes Gefühl in Händen oder Fingerspitzen und seit einigen Wochen auch immer öfter echte Schmerzen. Nicht schlimm und nicht besonders oft, aber mit wachsender Tendenz. Sobald sie wieder zu Hause waren, dachte er, würde er das Rauchen aufgeben und zum Arzt gehen. Oder wenigstens eines von beiden. »Allmählich müssen wir uns entscheiden«, sagte Frank plötzlich. »Entscheiden?« Frank deutete zur Straße, setzte dazu an, etwas zu sagen und stockte dann mitten in der Bewegung. Ein seltsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Überraschung spiegelte sich darin, aber auch ein noch nicht ganz erwachter Schrecken, als wäre das, was er gesehen hatte, eher unerwartet als wirklich bedrohlich. Mike wollte sich umdrehen und in die Richtung sehen, in die seine Hand wies, aber Frank ließ rasch den Arm sinken und suchte dann wieder den direkten Augenkontakt mit Mike. »Ich wette, du hast nicht einmal auf die Karte gesehen«, sagte er spöttisch. »Ein paar Straßen weiter kreuzt die 17 die Route 66. Wir können weiter zum Grand Canyon fahren, oder wir schlagen einen Bogen nach Osten und schauen uns die Anasazi-Ruinen an. So oder so kommen wir erst nach Einbruch der Dämmerung im Hotel an.« »Und? Ist das ein Problem?« »Für mich nicht.« Franks Blick irrte für eine Sekunde zu einem Punkt irgendwo hinter Mike. »Aber ich dachte, du fährst nicht gerne bei Dunkelheit.« Mike verzog das Gesicht. »Ich habe heute schon eine Menge
Sachen gemacht, die ich eigentlich nicht gerne tue«, sagte er. »Auf eine mehr oder weniger kommt's nicht mehr an. Bist du scharf auf diese Indianer-Ruinen?« »Wenn ich ehrlich sein soll, ja«, gestand Frank. »Du weißt doch, wie ich mich für so was interessiere. Aber du bist der Boss.« Mike antwortete nicht sogleich, sondern überlegte erst eine Weile, ob sich mehr hinter diesen Worten verbarg, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Wahrscheinlich nicht. Frank war niemand, der ein Blatt vor den Mund nahm. Trotz der gutmütigen Sticheleien, die zwischen ihnen an der Tagesordnung waren, pflegte er normalerweise sehr klar und direkt zu sagen, wenn ihm etwas nicht passte. »Kein Interesse an dem Job«, sagte er lächelnd. »Ich bin nicht in Urlaub gefahren, um Verantwortung zu übernehmen. Du hast doch Erfahrung in Menschenführung, oder?« »Ja. Mit dem Erfolg, dass sie mich vor zwei Jahren gefeuert haben«, sagte Frank und zog eine Grimasse. »Und dir damit vermutlich den größten Gefallen deines Lebens getan haben«, fügte Mike hinzu. Er machte eine entsprechende Geste.»Warten wir, bis Stefan zurückkommt. Ich beuge mich einfach der Mehrheit.« »Du meinst: Du drückst dich vor der Entscheidung.« Erneut spürte Mike, wie Frank sich bemühte, seinen Blick nicht abschweifen zu lassen, und das war genug. Mike drehte sich auf der Bank um - und starrte ungefähr zehn Sekunden lang auf den schwarzen Van, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hatte. »Sie sind es«, sagte Frank. Mike hatte Mühe, zu antworten. Er fühlte sich ... Nein. Er konnte nicht einmal sagen, wie er sich fühlte. Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass er so etwas überhaupt spürte. Schrecken, sicherlich. Angst, ganz bestimmt. Aber da war noch mehr. Etwas derart Fremdes, dass es ihn bis in die Seele zu
erschüttern schien. Viel mehr auf jeden Fall, als es der Anblick der Indianerfamilie tat, die aus dem Van stieg. »Warum gehen wir nicht rein und sehen nach, wo Stefan mit dem Kaffee bleibt?«, schlug Frank vor. In seiner Stimme lag eine ganz leichte Spannung, und Mike konnte nur knapp mit dem Kopf nicken und aufstehen. Er widerstand mit Mühe dem Impuls, sich allzu zügig umzudrehen, aber es gelang ihm nicht, lässig auf den Eingang zuzugehen. Er betrat das Innere des McDonald's eindeutig zu hastig. Nach dem grellen Sonnenlicht und der brütenden Hitze draußen war er im ersten Moment fast blind, und der Luftstrom aus der Klimaanlage erschien ihm so eisig, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Oder hatte das einen ganz anderen Grund? Wie auch immer, darüber wollte er im Augenblick lieber nicht nachdenken. Stefan stand an der erstaunlich langen Schlange an der Kasse und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er seine beiden Freunde sah, machte zugleich aber auch ein bedauerndes Gesicht. »Falls ihr vor der Sonne flüchtet, muss ich euch enttäuschen«, sagte er. »Auf die Idee sind schon ein paar andere gekommen.« Mike drehte sich einmal im Kreis und verstand, was er meinte. Das Schnellrestaurant war hoffnungslos überfüllt. Auf den vielleicht dreißig Plätzen drängten sich mindestens vierzig Besucher, und einige hatten sich sogar gegen die Wände oder Fenster gelehnt, um die frisch erstandenen Köstlichkeiten im Stehen zu vertilgen. Mike war gelinde gesagt überrascht. Es war heiß draußen, aber keineswegs unerträglich, während er es hier drinnen eindeutig zu kalt fand. Trotz der verärgerten Blicke, die ihnen einige der Wartenden zuwarfen, reihten sie sich neben Stefan in die Schlange ein und geduldeten sich wortlos, bis sie an der Reihe waren. Mike stockte seine Bestellung um ein Dutzend Chicken McNuggets und eine große Portion French Fries auf, woraufhin auch Stefan
und Frank nachzogen, sodass sie schließlich mit einem schon fast überladenen Tablett wieder zur Tür zurücksteuerten. Stefan warf noch einen letzten, fast sehnsüchtigen Blick in die Runde, zuckte dann aber resignierend mit den Achseln und fügte sich in sein Schicksal. Kurz bevor sie die Tür erreichten, wurde diese von außen aufgestoßen, und ein knapp zwei Meter großer Indianer in Jeans, Karohemd und Cowboystiefeln kam ihnen entgegen. Sein Haar war zu einem schwarzen Zopf geflochten, der über die rechte Schulter fast bis zur Brustmitte herunterhing, und sein Gesicht kam Mike weitaus kräftiger und indianischer vor als gestern. Aber es musste der gleiche Mann sein. Er trug den Jungen locker in der Armbeuge, und seine Frau (die übrigens weitaus hübscher war, als er sie in Erinnerung hatte), folgte ihm in zwei Schritten Abstand. Für einen kurzen, verwirrten Moment fragte er sich, ob es wirklich die Indianer waren, die ihn gestern so genervt hatten. Eine Familie von Rothäuten, Frau, Mann und Kind nebst Schwiegermutter in einem schwarzen Van, der aussah, als hätte die Alte ihn zur Feier ihrer ersten Menstruation bekommen. Das war eine Kombination, die im Herzen Arizonas wahrscheinlich mehr als einmal vorkam. Aber dann sah er ins Gesicht des Jungen, und all seine Zweifel verflüchtigten sich schlagartig. Der Junge hatte dunkle Haut, die eigentlich eher braun als rot war, das gleiche, blauschwarz schimmernde Haar wie seine Eltern und den leicht erstaunt wirkenden Gesichtsausdruck, der typisch für Kinder war, die ihrer Entwicklung ein wenig hinterherhinkten. Seine Augen waren viel klarer, als Mike erwartet hatte. Sie blickten stechend und intelligent, doch etwas lag in ihnen, das er nicht fassen konnte und das ihn verunsicherte. Der Junge grinste blöde und entblößte dabei auffallend schlechte Zähne, selbst für ein Kind seines Alters. Und es gab nicht einmal den Hauch eines Zweifels, dass es
der Junge von gestern war, denn er hatte Mike im gleichen Moment erkannt wie dieser ihn. In seinen Augen blitzte es tückisch auf, und sein breitflächiges Gesicht verzog sich zu einer noch breiteren Grimasse, die ihn nun wirklich idiotisch aussehen ließ. Zwei, drei Sekunden lang stand Mike einfach wie vom Donner gerührt da und starrte den Jungen an, und für die gleiche Zeitspanne schien das Grinsen des Jungen zu ... etwas anderem zu werden. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass sich in seinem Gesicht auch nur ein Muskel zu regen schien, so, als trüge er tatsächlich eine Maske, hinter der vielleicht etwas anderes, noch viel Schlimmeres lauerte, etwas Uraltes und Nichtmenschliches. Unsinn, dachte Mike. Jedenfalls glaubte er, es nur gedacht zu haben, aber vielleicht hatte er es doch laut ausgesprochen, denn der Junge antwortete darauf. »Fühl dich nicht zu sicher, weißer Mann«, sagte er mit einer unheimlichen, ganz und gar unpassenden Altmännerstimme. »Du solltest dieses Land verlassen, solange du es noch kannst.« Ein Schlag ins Gesicht hätte Mike nicht härter treffen können. Was hatte der Junge da gesagt? Und wieso um alles in der Welt hatte er ihn verstanden? Die Lippen des Indianerjungen bewegten sich weiter, aber nun kamen keine Laute mehr hervor, sondern nur eine Anzahl kleiner, ölig schimmernder Speichelblasen, die rasch hintereinander platzten und sich zu einem dünnen Speichelfaden sammelten, der eine glitzernde Spur an seinem Kinn hinunterzog. Dann sagte er doch etwas, und seine Worte brachen den Bann. Mike fand schlagartig in die Realität zurück, und abgesehen davon, dass ihm klar wurde, wie dicht er davor stand, sich vor Angst in die Hosen zu pinkeln, kam er sich absolut lächerlich vor. Diesmal verstand er nicht, was der Junge von sich gab, denn er sprach kein Amerikanisch, sondern
wieder den gurgelnden Indianer-Dialekt von gestern. Und auch eben konnte Mike ihn unmöglich verstanden haben - denn der Junge hatte, verdammt noch mal, gar nichts gesagt! Nein, Mikes Fantasie lief Amok, das war alles. Stefan balancierte mit seiner Last mühsam an der Indianerfamilie vorbei und versuchte, die Tür aufzubekommen, ohne dabei das Essen über den halben Fußboden zu verteilen. Frank legte Mike die Hand auf die Schulter und sagte sehr ruhig: »Unser Essen wird kalt.« Mit einiger Mühe riss Mike den Blick von dem Indianerjungen los, drehte sich mit einem Ruck um und ging zur Tür. Er sah nicht zurück, aber er konnte fast körperlich spüren, wie ihm der Blick des Jungen folgte. Es war irgendetwas ... Klebriges an diesem Gefühl. Stefan war zum anderen Ende der Terrasse gegangen und hatte einen Platz gefunden, der halbwegs im Schatten lag. Mit erheblich mehr Lärm als nötig stellte er sein Tablett ab, setzte sich und machte eine übertrieben einladende Handbewegung. »Tretet näher und seid meine Gäste«, sagte er feixend. »Und erschreckt nicht. Gegen das, was ihr in den nächsten beiden Tagen wahrscheinlich sonst noch zu Essen bekommen werdet, ist das hier die reinste Köstlichkeit.« Er sah Mike an, legte die Stirn in Falten und ließ das Feixen bleiben, als die erhoffte Reaktion ausblieb. »Was ist los?« »Nichts.« Mike setzte sich ganz bewusst mit dem Rücken zur Tür. Er wollte nicht sehen, wer aus dem Imbiss kam. Oder was. »Du bist blass«, sagte Stefan. »Das ist nichts«, wiederholte Mike. »Nikotinentzug, das ist alles.« »Davon wird man nicht blass«, beharrte Stefan. »He, ihr zwei habt doch nicht etwa ein Geheimnis vor mir?« »Natürlich haben wir das«, behauptete Frank. »Wir beide sind nämlich in Wirklichkeit Geheimagenten einer außerirdischen
Macht, die den Auftrag haben, dich zu überwachen. Aber nun bist du uns auf die Schliche gekommen. Schade, weil wir dich jetzt nämlich töten müssen.« Franks Scherz klang so lahm, dass es schon beinahe peinlich war, aber Stefan ging trotzdem darauf ein. »Spart euch die Mühe, Jungs. Wenn ich noch zwei Tassen von diesem Kaffee trinke, sterbe ich wahrscheinlich sowieso.« Er grinste jetzt wieder, aber in seinen Augen lag noch zu viel Ernst - und vielleicht sogar so etwas wie Misstrauen. Er spürte, dass seine Freunde irgendetwas vor ihm verbargen, und vermutlich kränkte ihn dieser Gedanke. Um seine Behauptung über den Nikotinentzug zu untermauern, zog Mike die Zigarettenpackung heraus und zündete sich eine West an, griff aber schon nach dem ersten Zug nach dem panierten Formfleisch (ein schmeichelhafter Ausdruck für gehäckselte Fleischabfälle), das sie hier als Hühnchen verkauften, und biss die Hälfte davon ab. Es schmeckte grauenhaft, vor allem zusammen mit dem Zigarettenrauch. Seine Frau behauptete immer, dass gleichzeitiges Zigarettenrauchen und Essen ganz besonders schädlich sei, was natürlich Blödsinn war - aber er sah an der Reaktion auf Stefans Gesicht, dass es offenbar ganz besonders unästhetisch war. Hinter ihnen glitt die Tür des McDonald's auf, und in der kurzen Zeit, die es dauerte, bis sie wieder zufiel, hörte Mike ein hässliches Lachen, das wie ein Geräuschfetzen aus einer anderen Welt zu ihnen heranwehte. Es klang irgendwie gehässig, fand Mike. Auf eine verletzende Art schadenfroh. Frank warf ihm einen raschen, leicht besorgten Blick zu, der Stefan nicht entging und konzentrierte sich dann scheinbar auf sein Essen. Die Indianer hatten nicht über ihn gelacht, versicherte sich Mike. Das konnten sie gar nicht. Er hatte die verdreckte Jeans nicht mehr an, und ohne irgendeinen sichtbaren Grund würden
nicht einmal diese bekloppten Amis über einen harmlosen Touristen lachen. Dieses Gelächter galt nicht ihm. Es. Galt. Nicht. Ihm. »Also jetzt raus mit der Sprache, ihr beiden«, sagte Stefan. »Was ist los?« »Nichts«, sagte Frank zwischen zwei Bissen Salat. »Wir waren uns nur nicht ganz einig, in welche Richtung wir weiterfahren.« »Wir können es vielleicht doch noch bis zum Einbruch der Dunkelheit zum Hotel schaffen«, sagte Stefan. »Ich habe mich drinnen erkundigt. Die Straße zum Park hinauf ist gut ausgebaut. Keine Trucks. Wir brauchen höchstens zwei Stunden.« »Aber dann schaffen wir die Ruinen nicht mehr«, sagte Mike. Stefan grinste. »Das ist kein Problem«, sagte er. »Wie gesagt, ich habe mich schlau gemacht. Die Ruinen bei Montezuma Castle am Exit 289 sind nur Plunder, der für die Touristen aufbereitet worden ist. Es gibt ein viel besser erhaltenes Pueblo-Dorf, keine dreißig Meilen von hier. Und das Beste ist: Es liegt direkt auf dem Weg zum Grand Canyon. Wenn wir nicht zu lange hier rumtrödeln, bleibt uns noch genug Zeit, um sie anzusehen.« »Und trotzdem noch ins Hotel zu kommen, bevor es dunkel wird«, fügte Frank hinzu. »Klingt gut.« »Nicht verzagen, Stefan fragen«, grinste Stefan. »Also, was hältst du davon, Mike?« Mike hatte keine Ahnung, was die beiden von ihm wollten. Er hatte nicht einmal richtig hingehört. Die Tür war längst wieder zugefallen und hatte das Gelächter abgeschnitten, aber er hörte es trotzdem noch; beinahe lauter als zuvor. »Gute Idee«, murmelte er. »So machen wir es.« »Jetzt fallt mir vor Begeisterung nur nicht beide gleichzeitig um den Hals«, sagte Stefan beleidigt. »Ich dachte, ich tue euch einen Gefallen.«
»Hast du auch«, sagte Frank. »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich erkläre es dir. Später.« Das letzte Wort betonte er etwas anders. Nicht besonders viel, aber deutlich genug, um das Thema wenigstens für den Augenblick zu beenden. Ein unbehagliches Schweigen begann sich auszubreiten, und wenn von der guten Stimmung, in der sie angekommen waren, überhaupt noch etwas geblieben war, so schien sie in diesem Schweigen zu versickern wie Wasser in einem ausgetrockneten Schwamm. Mike verfluchte sich dafür. Der Trip hatte schlecht angefangen, war gut weitergegangen und drohte nun endgültig in eine Katastrophe zu münden, und alles nur, weil er überreagierte, seine Fantasie nicht im Zaum hatte und weil er ein gottverdammter Feigling war. Die Tür ging abermals auf. Das Gelächter war verstummt, und Mike widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen. Es war auch nicht nötig. Ein einziger Blick in Franks Gesicht reichte aus, um ihm zu sagen, wer das Restaurant verlassen hatte. Stefan sah rasch in die gleiche Richtung, machte ein überraschtes Gesicht und sagte dann: »Oh! Ich glaube, ich verstehe.« »Das glaube ich nicht.« Mike sog nervös an seiner Zigarette. »Haltet euch zurück, okay? Das sind doch nur ein paar Spinner. In zwei Minuten sind sie weg, und in zwei Stunden wissen sie nicht einmal mehr, dass es uns gibt.« »Ja, aber du weißt, dass es sie gibt.« Frank schüttelte langsam den Kopf, stand ebenso langsam auf und trank noch einen Schluck Kaffee. »Ich kläre die Sache jetzt.« »Tu das bitte nicht«, sagte Mike. »Misch dich nicht ein. Es lohnt sich nicht.« »Ich mische mich nicht ein«, antwortete Frank ruhig. »Sie mischen sich ein - und zwar in meinen Urlaub. Sie haben dich gestern den ganzen Tag provoziert, und jetzt tauchen sie hier auf und machen weiter.«
»Das ist bestimmt nur ein Zufall«, sagte Mike. »Wahrscheinlich. Und wenn nicht, dann werde ich das jetzt herausfinden. Ich habe nämlich weder Lust, mich die nächsten zwei Wochen mit einem ausgeflippten Indianer herumzuärgern, noch vierzehn Tage lang deine schlechte Laune zu ertragen.« Damit wandte er sich um und ging. Mike wollte das nicht. Seit sie sich kannten, spielte Frank auf seine ganz besondere Weise den Beschützer, und er hatte diesen Schutz immer ohne zu zögern angenommen, sich manchmal vielleicht mehr darauf verlassen als gut war, aber hier und jetzt, in diesem ganz besonderen Fall, ging ihm das entschieden zu weit. Nein, das hier war sein Kampf. Dieses Kind - dieses ... Etwas, das in die Maske eines Kindes geschlüpft war - hatte ihn herausgefordert, nicht Frank, nicht Stefan oder sie alle drei, sondern ihn. Er wusste einfach, dass alles nur noch schlimmer werden würde, wenn er zuließ, dass Frank sich wieder einmal schützend vor ihn stellte. Aber er sagte nichts. Weil er ein erbärmlicher Feigling war. »Mach keinen Unsinn«, sagte Stefan alarmiert. »Ich habe nicht vor, das Kriegsbeil auszugraben, keine Sorge«, antwortete Frank. »Ich will nur mit ihm reden.« Nein!, dachte Mike. Ich flehe dich an, tu es nicht! Du weißt nicht, was du anrichtest! Frank trank seinen Kaffee aus, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und drehte sich um. Mike fragte sich, ob er sich der Tatsache bewusst war, wie kämpferisch diese an sich so harmlose Geste wirkte. Ein neuer, erschreckender Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Was, wenn die Situation außer Kontrolle geriet und eskalierte? »He, Chief!« Frank hob die Hand, während er mit ausgreifenden Schritten hinter den Indianern hereilte, die die Straße bereits halb überquert hatten. »Just a moment, please!« Die beiden erwachsenen Indianer reagierten nicht, sondern
gingen ruhig weiter und überquerten in vorbildlicher Weise die Straße, nachdem sie zuerst einen Blick nach links, dann nach rechts geworfen hatten. Nur der Junge, der noch immer auf dem Arm seines Vaters saß, drehte den Kopf und sah zu Frank zurück. Wenigstens war es das, was Frank und wahrscheinlich auch Stefan glaubten, und was sie möglicherweise sogar sahen. Aber Mike wusste es besser. Der Junge starrte ihn an, nicht Frank, nicht Stefan, sondern ihn. »Was war eigentlich los?«, erkundigte sich Stefan. »Ich meine: Habe ich irgendetwas Wichtiges verpasst, als ich drinnen war?« »Nein«, antwortete Mike knapp. Er ersparte es sich, Stefan von den Indianern zu erzählen. Es hätte wenig Sinn gehabt. Er hatte sie weder vorhin ankommen sehen noch heute Morgen im Hotel oder am vergangenen Tag. Auch das gehörte irgendwie zu dem perversen Spiel, das der Junge mit ihm spielte. Perverses Spiel? Mein Gott, was dachte er da? Hatte er jetzt endgültig den Verstand verloren? Mike konnte sich nicht erklären, warum seine Fantasie derartige Purzelbäume mit ihm schlug. »Irgendwie fällt es mir schwer, dir zu glauben«, sagte Stefan. »Raus mit der Sprache: Was ist los?« »Nichts«, betonte Mike noch einmal. »Sie haben irgendeine dumme Bemerkung gemacht, glaube ich.« Stefans Blick machte deutlich, was er von dieser Antwort hielt. Aber er schien wohl auch begriffen zu haben, dass er keine andere bekommen würde, denn er beließ es bei einem leicht beleidigten Achselzucken. Winnetou und seine Familie hatten den Van mittlerweile erreicht und stiegen ein. Der Junge starrte Mike noch immer an, selbst als sein Vater die Tür öffnete und ihn an die alte Frau
übergab, die im Wagen gewartet hatte ... Warum kommst du nicht her, und wir regeln die Sache unter uns? Das hier geht nur dich und mich etwas an, das weißt du doch. Aber dazu bist du zu feige, nicht wahr? Schickst lieber deinen großen Freund. Mike schloss die Augen und hoffte, dass Stefan seine Gedanken nicht einfach auf seinem Gesicht ablas. Die Stimme war nicht da! Es war nicht dieses seltsame Indianerkind, das er hörte. Wenn überhaupt, so war es eine Stimme in ihm, die er nur zu gut kannte. Aber er hatte gedacht, sie schon vor mehr als zwanzig Jahren endgültig zum Schweigen gebracht zu haben. Sein großer Freund hatte den Van mittlerweile ebenfalls erreicht. Der Indianer hatte die Tür bereits geschlossen und fummelte irgendwo unter dem Lenkrad herum, vermutlich, um den Motor zu starten, aber er kam nicht dazu: Frank legte die linke Hand in das offene Fenster, langte mit der anderen nach dem Schloss und zog die Tür mit einem Ruck wieder auf. Nicht so schnell, um aus der Bewegung tatsächlich eine Provokation zu machen, aber eindeutig zu schnell, um sie nicht ein ganz klein wenig aggressiv wirken zu lassen. »Was wird das denn, wenn's fertig ist?« Stefan klang überrascht, aber da lag noch mehr in seiner Stimme; etwas zwischen Verwirrung und einem Hauch von Furcht. Mike vermutete, dass es dem Indianer in diesem Moment kaum besser erging und dass er in diesem Moment deutlich mehr als nur einen Hauch von Furcht verspürte. Genau das sollte er wohl auch. Frank war einer der friedfertigsten Menschen, die Mike kannte, aber er wusste auch sehr genau, wie er mit seinen einsneunzig und den gut zweihundert Pfund (den Rettungsring um seine Hüften nicht mitgerechnet) Eindruck machen konnte. Soweit Mike das beurteilen konnte, hatte Frank nie Hemmungen gehabt, diese Wirkung gezielt einzusetzen. Zusammen mit seiner meisterhaften Beherrschung der Körpersprache (die bei ihm ganz und gar nicht zufällig war) und der Aura von gelassener Kraft, die ihn umgab und die
er nach Belieben ein- und ausschalten konnte wie der Kommandant eines Science-Fiction-Raumschiffes seine Deflektorschirme, konnte diese Wirkung verheerend sein. »Das gefällt mir nicht«, sagte Stefan leise. »Vielleicht sollten wir hingehen und ...« »Nein!« Nicht nur Stefan, sondern auch Mike selbst erschrak über die Heftigkeit, mit der er dieses Wort ausstieß. Er schüttelte den Kopf, lächelte nervös und sagte noch einmal und gezwungen ruhig: »Nein. Das ist bestimmt nicht nötig. Er macht das schon. Wenn wir uns einmischen, ist er höchstens beleidigt, glaub mir.« Und außerdem ist es so sicherer, nicht wahr?, spöttelte die Stimme des Indianerjungen hinter seiner Stirn. Das ist es doch, was du wirklich meinst, habe ich Recht? Es könnte doch sein, dass die Sache außer Kontrolle gerät. Dass plötzlich doch ein Messer im Spiel ist oder eine Pistole. Dann ist es immer noch besser, wenn er den Kopf für dich hinhält. So wie immer andere den Kopf für dich hingehalten haben. »Sei endlich ruhig, verdammt noch mal!«, stöhnte Mike. Stefan blinzelte. »Was?« »Nichts«, murmelte Mike. Seine Hände begannen zu zittern, und er hatte sie erst mehrere Sekunden später wieder unter Kontrolle. Dafür schlug nun sein Herz umso heftiger. Es tat jetzt ganz eindeutig weh. Sehr weh. »Ich habe nichts gesagt«, sagte er noch einmal. »Aber vielleicht hast du Recht. Gehen wir besser hin und sehen nach, was los ist.« Dieser Vorschlag schien Stefan nun doch eher unangenehm zu sein. Aber nach einer Sekunde des Zögerns zuckte er mit den Schultern und stand auf. Nebeneinander traten sie von der Terrasse des Restaurants herunter und näherten sich dem Wagen, wobei Mike das Tempo vorgab und sorgsam darauf achtete, nicht so schnell zu
gehen, dass es wie ein Angriff wirkte, aber auch nicht so langsam, dass sein Zögern als Furcht ausgelegt werden konnte. Was für ein komplizierter Gedanke, weißer Mann, spöttelte die Stimme hinter seiner Stirn. Warum machst du es dir nicht einfach und gibst zu, dass du nur sichergehen willst, dass er, dein Freund, das Messer in den Bauch bekommt, falls doch noch eines ins Spiel kommt? Als sie näher kamen, konnten sie Franks Stimme hören. Er sprach leise und sehr ruhig mit dem Indianer, und noch bevor Mike Gelegenheit bekam, seine bescheidenen Englischkenntnisse zusammenzukratzen, um wenigstens den Tenor der Unterhaltung zu erraten, lachte Frank. Der Indianer erwiderte dieses Lachen, und sosehr Mike sich auch bemühte, er hörte nicht die leiseste Spur von Gehässigkeit oder Hohn darin. Im Gegenteil: Der Indianer sagte etwas zu Frank, aber er drehte dabei den Kopf, sah Mike an und lächelte, und auch dieses Lächeln wirkte so überzeugend und echt wie es nur ging. Mike brauchte all seine Kraft, um wenigstens mit einem angedeuteten Kopfnicken darauf zu reagieren, und der Rote lächelte noch breiter, tippte sich mit zwei Fingern an eine gar nicht vorhandene Hutkrempe und startete mit der anderen Hand den Motor. Nur einen Augenblick, bevor sie den Wagen endgültig erreichten, fuhr er los. Mike versuchte, noch einen Blick auf den Jungen zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht. Es war auch nicht nötig. Er wusste auch so, was er in dessen Augen gelesen hätte. »Was war denn das für ein Manöver?«, fragte Stefan. »Manöver?« Frank sah dem immer schneller davonfahrenden Van eine Sekunde lang nach, ehe er sich zu Stefan herumdrehte und weitersprach. »Es war kein Manöver. Ich habe ihn nach dem Weg gefragt, das ist alles.« »Dem Weg? Wohin?« »Möglicherweise ins nächste Krankenhaus, wenn wir noch lange hier mitten auf der Straße herumstehen und quatschen.«
Frank deutete auf die nebeneinander abgestellten Intruder auf der anderen Straßenseite und sprach erst weiter, nachdem sie sich alle drei umgedreht hatten und auf ihre Maschinen zugingen. »Er kennt die Ruinen, von denen du gerade erzählt hast. Ich habe ihn nur gefragt, wie wir dort hinkommen.« Stefan beäugte ihn misstrauisch, sah dann - etwas länger und deutlich misstrauischer - in Mikes Richtung, bevor er abermals mit den Schultern zuckte. Bis sie die Straße überquert und die Maschinen erreicht hatten, hüllte er sich in beleidigtes Schweigen. »Gut«, sagte er dann. »Wenn es mich nichts angeht, ist es in Ordnung. Ich gehe noch mal auf die Toilette, und dann fahren wir weiter.« Mike sah ihm nach, bis er im Inneren der imitierten Blockhütte verschwunden war. Immer noch ohne Frank direkt anzusehen, sagte er: »Danke.« »Keine Ursache«, antwortete Frank. »He - das war nicht nur so dahin gesagt. Es gibt wirklich keinen Grund, dich zu bedanken.« »Wie meinst du das?« Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. »Anscheinend haben wir beide was in den falschen Hals gekriegt. Sie sind wirklich nur zufällig hier vorbeigekommen.« »Zufällig? Nach zweihundert Kilometern und nach gestern und heute Morgen?« »Sie haben im gleichen Hotel übernachtet wie wir, und das hier ist nun mal die Hauptverkehrsstraße, die von Phoenix nach Norden führt«, antwortete Frank. »Da ist es kein Wunder, wenn man immer mal wieder übereinander stolpert. Unsere Indianer-Freunde sind dabei ja nicht die Einzigen, die den gleichen Weg wie wir nehmen. In meinem Rückspiegel habe ich es ein paar Mal silbern aufblitzen sehen ...« »Silbern aufblitzen?«, echote Mike alarmiert. »Du erinnerst dich vielleicht noch an die verchromte Harley,
die wir in Phoenix gesehen haben. Das könnte sie gewesen sein. Oder vielleicht auch nicht.« Frank zuckte mit den Achseln. »Aber was soll's. Wahrscheinlich haben wir heute mindestens zwei Dutzend Autos überholt, die zur gleichen Zeit wie wir aus Phoenix Richtung Flagstaff aufgebrochen sind. Aber würdest du auch nur ein Einziges davon wieder erkennen? Ich jedenfalls nicht. Das Einzige, was mir auffallen würde, wären silberne Harleys und schwarze Vans - und vielleicht noch der rote Sportwagen mit der kleinen Blonden, der vor zwanzig Meilen an uns vorbeigerauscht ist. Der steht übrigens dort hinten auf dem Parkplatz.« »Und? Was soll mir das mit der Blondine sagen?« »Das hier der einzige McDonald's im Umkreis von fünfzig Meilen ist, mehr nicht«, sagte Frank ungeduldig. »Und was unseren Indianer angeht: Wegen heute Morgen hat er sich bei mir entschuldigt. Ich soll dir ausrichten, dass es ihm Leid tut.« »Ach?«, sagte Mike. »Und das glaubst du?« Frank machte ein ärgerliches Gesicht. »Verdammt, was ist los mit dir? Suchst du mit Gewalt einen Grund, um unglücklich zu sein? Du hast doch gesehen, was mit dem Jungen los ist, oder? Er hat 'ne Schraube locker. Wahrscheinlich bringt er seine Eltern andauernd in unangenehme Situationen. Dem Mann war es jedenfalls sehr peinlich. Er sagt, er ist froh, dass er uns noch einmal getroffen hat, um sich entschuldigen zu können.« Er starrte Mike fast herausfordernd an, wartete zwei oder drei Sekunden lang auf eine Antwort und griff schließlich nach seinem Helm, als er keine bekam. Ohne ein weiteres Wort schwang er sich auf seine Maschine und startete den Motor. Sie folgten der Route 89 ungefähr fünfzig Meilen weit nach Norden, ehe sie Cameron und damit die Abzweigung zur 64 in Richtung Grand Canyon National Park erreichten. Seit sie Flagstaff verlassen hatten, waren sie weitaus schneller vorangekommen als zuvor, und obwohl die Landschaft in zunehmendem Maße abweisender und monotoner wurde, hatte
sie Mike doch schon nach kurzer Zeit wieder in ihren Bann geschlagen. Nach dem Zwischenfall in Flagstaff hatte er dies nicht mehr für möglich gehalten, aber zumindest ein guter Teil der Hochstimmung vom Nachmittag hatte sich tatsächlich wieder eingestellt. Er hatte die Indianerfamilie und ihr unheimliches Kind nicht wirklich vergessen, aber sie beherrschten sein Denken jetzt nicht mehr vollkommen. Stefan und Frank erging es anscheinend nicht anders; zumindest verlor keiner von ihnen mehr ein Wort über die hässliche Episode, als sie in Cameron ankamen und eine Zigarettenpause für Mike einlegten. Sie alberten nur eine Weile herum, warfen noch einen (vollkommen überflüssigen) Blick auf die Karte und fuhren dann weiter. Zehn Minuten später erreichten sie eine Abzweigung, die auf ihren ADAC-Karten gar nicht eingezeichnet war. Der vorausfahrende Stefan wurde langsamer, signalisierte etwas mit der Hand und hielt schließlich an. »Also?«, fragte er, nachdem die anderen Bikes rechts und links von ihm zur Ruhe gekommen waren. »Das muss es sein. Fahren wir hin?« Frank schob sein Helmvisier hoch und musterte die schmale Straße misstrauisch. Mike zog es vor, gar nicht hinzusehen. Die Straße verdiente diesen Namen kaum, sie war nicht befestigt, sondern stellte nur eine ausgefahrene Spur dar, die noch dazu mit Steinen, Unkraut und losen Geröll übersät war. Er dachte daran, dass sie vor ein paar Stunden eigenhändig einen Vertrag unterschrieben hatten, der ihnen ausdrücklich verbot, solche Straßen zu befahren. Aber er sprach es nicht aus. »Wie viel Tageslicht haben wir noch?«, erkundigte sich Frank. Stefan schob seinen Handschuh zurück und sah auf die Uhr. »Massig«, antwortete er. »Mindestens zwei Stunden, wenn nicht mehr. Wenn wir nicht mehr als eine Stunde bleiben, kommen wir noch im Hellen im Hotel an. Also?«
Statt zu antworten warf Frank einen fragenden Blick in Mikes Richtung, den dieser aber so gut es ging ignorierte. Er nahm an, dass Frank die unbefestigte Straße so wenig gefiel wie ihm, aber was zum Teufel erwartete er von ihm? Dass er ihm den Spaß verdarb, nachdem Frank vor kaum einer Stunde quasi sein Leben für ihn riskiert hatte? Kaum. »Warum nicht?«, sagte er schließlich und in - wie er hoffte einigermaßen beiläufigem Tonfall. »Ein paar schöne alte Ruinen wären doch mal eine Abwechslung, nachdem wir so lange keine Steine mehr gesehen haben.« Frank seufzte. Seit sie Flagstaff verlassen hatten, hatte die Welt praktisch nur noch aus Stein bestanden. Die Wüste, durch die sie fuhren, war eine Steinwüste. Aber Mikes Rechnung ging auf. Frank ließ sich von seiner spöttischen Bemerkung provozieren, klappte sein Helmvisier mit einer übertrieben heftigen Bewegung wieder zu und fuhr so schnell an, dass das Hinterrad der Intruder durchdrehte. Stefan lachte herzhaft und folgte ihm nur unwesentlich langsamer, und schließlich kuppelte auch Mike wieder ein und fuhr los. Obwohl er sehr viel langsamer fuhr als die beiden anderen, holte er sie schon nach wenigen Augenblicken wieder ein. Die Straße war noch viel schlechter, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Sie wurde im gleichen Maße schmaler, in dem die Anzahl und Größe der Steine darauf zunahm, und stieg zu allem Überfluss auch noch steil an, wobei sie sich schlangengleich in immer engeren Kurven und Windungen nach oben wand. Ein paar Mal war sich Mike nicht mehr ganz sicher, ob sie sich überhaupt noch auf einer Straße befanden. Aber die Mühe wurde belohnt. Obwohl sie praktisch Schritttempo fuhren, brauchten sie nur knapp zehn Minuten, dann erreichten sie eine letzte, halsbrecherisch steil ansteigende Kuppe, und als sie diese überwunden hatten, lag einer der schönsten Flecken Erde vor ihnen, die Mike jemals gesehen hatte.
Auf der anderen Seite des Hügels begann ein dichter Tannenwald, durch den sich eine zwar immer noch schmale, aber jetzt wieder gut befestigte Straße schlängelte. Nach den monotonen Rot-, Braun- und Sandtönen war das kräftige Grün eine Labsal für ihre Augen, und selbst das Licht wirkte hier anders; nicht mehr so hart und gewalttätig wie in der Wüste, durch die sie die letzten anderthalb Stunden gefahren waren, sondern weich und auf schwer in Worte zu fassende Weise lebendig. »Das muss es sein.« Sie hatten nebeneinander angehalten, und Mike war ein wenig überrascht, auch in Franks Stimme einen deutlichen Unterton von Erleichterung zu hören. Auch wenn er es nicht für möglich gehalten hatte - selbst Frank hatte offensichtlich seine Schwierigkeiten mit diesem Weg gehabt. »Die Ruinen liegen hinter diesem Wald. Ungefähr eine Meile.« »Wer sagt das?«, fragte Stefan. »Ich«, antwortete Frank. »Und der Indianer, mit dem ich gesprochen habe. Also los. Schlimmer kann es ja kaum noch werden.« Frank übernahm die Führung, und er fuhr jetzt so schnell, dass selbst Stefan Schwierigkeiten hatte, mit ihm Schritt zu halten. Mike versuchte es erst gar nicht. Während der letzten zehn Minuten war er so durchgeschüttelt worden, dass ihm buchstäblich jeder Knochen im Leib wehtat. Seine Handgelenke, die den Großteil der brutalen Stöße abgefangen hatten, mit denen die Intruder auf die grobe Behandlung reagierte, waren fast gefühllos, so dass er es regelrecht genoss, in langsamem Tempo zur Abwechslung einmal wieder über eine richtige, geteerte Straße zu gleiten. Den Gedanken an den Rückweg, der bergab führte und damit noch schwieriger werden würde, ließ er erst gar nicht
aufkommen. Er verlor zuerst Frank und einen Augenblick später auch Stefan aus den Augen, machte sich aber keine Sorgen darüber. Auf einer Straße, die nur in eine Richtung führte, bestand kaum die Gefahr, dass sie sich verloren. Und wie Frank gesagt hatte, war sie ja nur eine Meile lang. Allerdings schien es sich um eine ziemlich lange Meile zu handeln. Mike sah weder auf die Uhr noch auf den Tachometer, aber selbst bei langsamer Geschwindigkeit konnte es kaum länger als zwei oder höchstens drei Minuten dauern, eine Entfernung von sechzehnhundert Metern zurückzulegen. Seinem Gefühl nach zu urteilen dauerte es Stunden. Der Wald wurde immer dichter. War er auf dem ersten Stück noch durch eine Schlucht aus goldfarbenem Licht gefahren, so hatte er bald das Gefühl, sich im Inneren eines lebenden Tunnels zu befinden, denn die Zweige der Bäume vereinigten sich über der Straße zu einem immer dichter werdenden Dach, das kaum noch Sonnenlicht durchließ. Hätte er den Gedanken an sich herangelassen, hätte es ein durchaus unheimliches Gefühl sein können. Aber natürlich tat er das nicht. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, den Lenker der Intruder immer fester zu halten und sein Tempo allmählich zu steigern, so weit das der sich scheinbar willkürlich windende Weg zuließ. Irgendwann musste dieser verdammte Wald ja schließlich einmal aufhören! Als er es tat, geschah es so plötzlich, dass es um ein Haar ein Unglück gegeben hätte. Er sah das Ende des Weges nicht. Der lebende grüne Tunnel war von einem Sekundenbruchteil auf den anderen einfach nicht mehr da, und an seiner Stelle erstreckte sich vor ihm ein halbrunder, kaum fünfzehn Meter messender Parkplatz, der von einem kleinen, aber überraschend modern aussehenden Gebäude begrenzt wurde. Und von Stefan und Frank, die auf ihren Motorrädern saßen,
die Helme abgenommen hatten und mit einer Mischung aus Ungeduld und Sorge in seine Richtung starrten. Mike trat so hart auf die Bremse, dass das Hinterrad der Intruder ausbrach und sich quer stellte. Für einen winzigen, aber grässlichen Moment war er überzeugt, die Gewalt über das Motorrad endgültig zu verlieren und zu stürzen oder schlimmstenfalls mit Frank und Stefan zu kollidieren, aber das Wunder geschah: Er verlagerte blitzartig sein Gleichgewicht, arbeitete abwechselnd mit beiden Bremsen, Kupplung und Gas und bot jedes bisschen Kraft auf, das er in sich fand, um den bockenden Lenker in den Händen zu behalten - und irgendwie gelang es ihm tatsächlich, nicht zu stürzen. Das Vorderrad der Suzuki schlitterte kreischend in die schmale Lücke zwischen Franks und Stefans Maschine, und wie in einer bizarren SlowMotion-Aufnahme sah er, wie sich auf Franks Gesicht ein Ausdruck ungläubigen Erschreckens breit machte, während Stefan blankes Entsetzen zeigte. Doch dann kam er mit einem letzten, wippenden Ruck zum Stehen. Die Intruder wankte, geriet haarscharf an den Punkt, an dem sie nach links kippen und Stefan doch noch mit sich zu Boden reißen würde, und richtete sich schließlich wieder auf. »Donnerwetter!«, sagte Stefan. »Das war eine reife Leistung. Ich bin nicht sicher, ob ich das geschafft hätte.« »Bist du mit der Nummer noch frei?«, fügte Frank hinzu. Beide grinsten, aber es war ihnen auch die Erleichterung anzusehen, dem schon sicher geglaubten Aufprall in letzter Sekunde doch noch entgangen zu sein. Mike schloss die Augen, zählte in Gedanken langsam bis drei und atmete erst dann weiter. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper zitterte. Die Intruder hustete noch einmal, schüttelte sich und ging aus. »Puh«, machte Mike. »Ja, so kann man es auch ausdrücken«, pflichtete ihm Frank bei. Er grinste noch immer, aber es wirkte jetzt noch weniger
echt. »Und du behauptest, du könntest nicht gut fahren? Ich hätte das wahrscheinlich nicht geschafft.« »Ich auch nicht«, sagte Stefan - ohne auch nur andeutungsweise zu lächeln. »Aber ich hätte es auch erst gar nicht versucht. Der falsche Ort, um Schnellfahren zu üben.« Mike fummelte mit einiger Mühe den Leerlauf hinein und kippte die Maschine dann auf den Ständer. »Die Maschine ist halt doch gar nicht so schlecht«, wiegelte er ab. »Und ich hatte Angst, den Anschluss zu verlieren«, gestand er. »Ihr wart plötzlich weg, und da habe ich Gas gegeben.« »Den Anschluss zu verlieren?« Stefan und Frank tauschten einen verwunderten Blick aus. »Auf ein paar Metern?« Mike wollte etwas sagen, aber aus irgendeinem Grund drehte er sich stattdessen um und sah zum Wald zurück. Eine kleine, dunkelhaarige Gestalt war wie aus dem Nichts auf dem Weg aufgetaucht und starrte ihn an. Sie war allerhöchstens einen Meter groß und hatte die leicht zusammengestaucht wirkenden Proportionen eines Kindes, aber trotz der viel zu großen Entfernung konnte Mike das boshafte Glitzern in ihren Augen erkennen. Er blinzelte. Als er die Lider wieder hob, war der Junge verschwunden, und aus dem unheimlichen Schattenwald war wieder ein ganz normaler Wald geworden, zwischen dessen Stämmen das Sonnenlicht bizarre Muster bildete. Stefan hatte Recht: Es waren wirklich nur ein paar Meter. Nicht einmal annähernd eine Meile. Wenn man genau hinsah, konnte man zwischen den Bäumen noch die Kuppe des Hügels erkennen, den sie überwunden hatten, um hierher zu kommen. Er stieg ab, zog Helm und Handschuhe aus und versuchte, einen möglichst gelassenen Ausdruck auf sein Gesicht zu zwingen, bevor er sich zu den beiden anderen umdrehte. Frank lehnte in einer schon übertrieben lässig wirkenden Art an seiner Maschine und sah ihn auf jene Weise an, die Mike stets Unbehagen verursachte, aber Stefan war bereits auf dem Weg
zu dem Gebäude, das den Parkplatz begrenzte. Zum ersten Mal musterte Mike den eingeschossigen Bau genauer. Er wirkte nagelneu, und obwohl er hauptsächlich aus Glas und Chrom bestand, passte er sich so harmonisch in die natürliche Umgebung ein, dass er fast wie natürlich gewachsen wirkte. Stefan ging zur Tür, rüttelte einen Moment vergeblich daran und presste schließlich die Stirn gegen das Glas, um einen Blick ins Innere zu werfen. »Und?«, fragte Mike. »Moment«, rief Stefan zurück. »Da steht ein Schild, aber ich kann es nicht richtig ...« Er schwieg ein paar Sekunden, dann seufzte er und sagte in übertrieben weinerlichem Ton: »Das ist gemein.« »Was ist gemein?«, wollte Frank wissen, ohne Mike dabei aus den Augen zu lassen. Auf seinem Gesicht lag immer noch dieser sonderbare Ausdruck. Mike spürte etwas wie eine flüchtige Berührung zwischen den Schulterblättern, aber er widerstand der Versuchung, sich umzudrehen. Der Junge war nicht da! Er konnte gar nicht da sein, weil er nämlich gar nicht existierte außer in seiner durchgeknallten Fantasie. »Das wird ein kleines Touristen- und Informationszentrum«, antwortete Stefan. »Die Eröffnung ist in einer Woche.« Er drehte sich zu ihnen um und grinste. »Warten wir so lange?« »Sehr komisch«, knurrte Frank. Er deutete auf einen schmalen, mit unregelmäßigen Bruchsteinen gepflasterten Weg, der hinter dem Haus verschwand. »Wo geht's denn da lang?« »Finden wir es doch heraus«, schlug Mike vor. Frank blinzelte verwirrt. Schließlich wusste er, dass Mike Spaziergänge regelrecht hasste und sich im Übrigen für nordamerikanische Indianerkultur nicht die Bohne interessierte. Es ging Mike jedoch gar nicht um die Geheimnisse, die sich hinter dem Haus verbergen mochten. Es ging ihm um das, was sich
im Wald hinter ihm verbarg. Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er sich von seiner Maschine ab und ging mit schnellen Schritten los. Der Weg führte ein kurzes Stück in den Wald hinein und gabelte sich dann. Ein auf einem meterhohen Pflock angebrachtes Schild erklärte (wie Frank vorlas), dass es links zur Indianersiedlung ging und rechts zu einer Schlucht, in der sich außer einem alten Indianerfriedhof irgendein Zeremonienplatz befand. »Ein Friedhof«, spottete Stefan. »Wie unheimlich. Traut ihr euch hin, oder habt ihr Angst vor Geistern?« Das »ihr« war vollkommen überflüssig. Mike wusste, dass die Worte einzig und allein ihm galten. Er schoss einen wütenden Blick in Stefans Richtung ab, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte nach rechts. Stefan lachte leise, während Frank sich beeilte, zu ihm aufzuschließen. »Manchmal kann er ein richtiges Arschloch sein«, murmelte er. Mike antwortete nicht. Frank hatte Recht, aber dasselbe galt auch für ihn selbst und Frank. Das war das Problem, wenn man eine Freundschaft auf der hart-aber-herzlich Ebene pflegte: Man überschritt manchmal Grenzen, die nicht klar definiert, aber dennoch vorhanden waren. Frank zog seinen Fotoapparat hervor und begann im Gehen einen neuen Film einzulegen. »Hoffentlich lohnt sich die Mühe überhaupt«, sagte er. »Das letzte Stück Weg war wirklich hart. Ich war nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, sich daran zu wagen.« »Ich bin nun mal kein Motocross-Fahrer«, verteidigte sich Mike. Frank klappte seinen Apparat zu und sah ihn verblüfft an. »Habe ich du gesagt?«, fragte er. »Ich wollte dir gerade ein Kompliment machen, aber wenn du es nicht hören willst ...«
»Entschuldige«, murmelte Mike. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Franks Worte waren aufrichtig gemeint gewesen. Allem Anschein nach war ein Teil von ihm wirklich wild entschlossen, ihnen allen den Tag zu verderben. »Entschuldige bitte«, sagte er noch einmal. »Ich bin heute ... einfach nicht gut drauf. Am besten, du nimmst mich nicht ernst.« »Hast du das Gefühl, dass ich das schon jemals getan hätte?«, erkundigte sich Frank. »Blödmann«, antwortete Mike. Sie lachten; ein kurzer, nicht gänzlich befreiender Laut, der die Spannung aber zumindest wieder auf ein erträgliches Maß senkte. Frank schüttelte den Kopf und fummelte im Gehen weiter an seinem Fotoapparat herum. Sie beschleunigten ihre Schritte ein wenig. So schön es hier war, keiner von ihnen wollte den Einbruch der Dunkelheit auf diesem abgelegenen Flecken Erde erleben. Der Weg machte einen scharfen Knick und ging dann in eine teils natürlich entstandene, teils gemauerte Steintreppe über, die in einen schmalen Canyon hinabführte, der weniger als zwanzig Meter tief, allem Anschein nach aber sehr lang war. Mike schwindelte ein wenig, als er sah, wie steil die Treppe in die Tiefe führte, aber Frank stieß einen begeisterten Laut aus und hob seinen Fotoapparat. Mike hoffte insgeheim, dass er mindestens dreihundert Bilder machen und dann umkehren würde, ohne in diese verflixte Schlucht hinunterzusteigen. Frank machte genau drei Aufnahmen, dann steckte er den Apparat wieder ein und begann mit einem Geschick die Treppe hinunterzuturnen, dass Mike vor Neid erblasste. Er selbst folgte ihm weit weniger schnell und auch nicht annähernd so elegant mit dem Ergebnis, dass er vor lauter Unsicherheit tatsächlich fast ins Stolpern gekommen wäre und nur im letzten Moment an einem vorstehenden Ast Halt fand. Schwer atmend und mit heftig klopfendem Herzen erreichte er den Grund des Miniatur-
Canyons. Stefan, der dicht hinter ihm ging, deutete zwar ein Kopfschütteln an, war aber klug genug, sich jeden Kommentar zu verkneifen, während Frank von Mikes Ungeschick nicht einmal etwas gemerkt zu haben schien. Er fotografierte bereits wieder. Die Schlucht war an der schmälsten Stelle keine fünf Meter breit und so steil, dass das Sonnenlicht den Grund nicht mehr erreichte, wodurch sie tiefer wirkte, als sie tatsächlich war. Unter Mikes Stiefeln knirschte trockener Sand, und als er nach unten sah, stellte er fest, dass es sich tatsächlich um einen Canyon handelte: Sie standen auf dem Grund eines ausgetrockneten Flussbettes, das sich offensichtlich im Laufe etlicher Millionen Jahre in den weichen Sandstein gegraben hatte. Mikes Blick wanderte an der Felswand hinauf und blieb an einer dunklen Linie hängen, fast einen Meter über dem Boden. Ganz so ausgetrocknet schien der Fluss wohl doch noch nicht zu sein. Der Fels unterhalb der Wasserlinie war so glatt, als hätte ihn jemand mit großer Sorgfalt poliert. Wenn es hier über längere Zeit hinweg regnete, musste sich diese harmlose Schlucht in einen reißenden Gebirgsbach verwandeln. Ganz automatisch legte er den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Aber der Himmel war leer. Auf dem strahlenden Blau zeigte sich nicht einmal ein Wolkenfetzen. »Keine Sorge«, sagte Stefan hinter ihm. »Ich habe heute Morgen im Hotel den Wetterbericht gehört. Es wird nicht regnen.« Er machte eine Geste in Richtung der glatt polierten Felswände. »Das war auch mein erster Gedanke. Wenn dieses Flüsschen Wasser führt, dann ist hier garantiert die Hölle los.« Er schüttelte den Kopf. »Komischer Platz für einen Friedhof.« »Die Gräber sind da oben, in den Wänden«, sagte Frank, der seinen Fotoapparat bereits in die entsprechende Richtung geschwenkt hatte und emsig den Auslöser drückte. »Seht ihr
die Höhlen? Sie haben sie in den weichen Fels gemeißelt und ihre Toten darin bestattet. Auf diese Weise waren sie vor Tieren und Grabräubern geschützt.« »Donnerwetter«, sagte Stefan anerkennend. »Du weißt eine Menge darüber, wie?« »Ja«, bestätigte Frank. »Außerdem steht es auf dem Schild, über das ihr beide gerade fast gestolpert wärt.« Mike sah sich überrascht um und entdeckte tatsächlich einen weiteren Holzpflock mit einem Schild, das dicht über der Wasserlinie angebracht war. Er hatte so viel damit zu tun gehabt, heil die Treppe herunterzukommen, dass er es nicht bemerkt hatte. Neugierig ging er hin, überflog die unter Plastik geschützten Zeilen und betrachtete mit etwas mehr Interesse die daneben liegende Skizze. »Hinter der nächsten Biegung scheint etwas Besonderes zu sein«, sagte er. »Gehen wir hin?« »Das ist mindestens ein Kilometer, hin und zurück«, sagte Stefan. »Ihr denkt hoffentlich daran, dass wir noch gute fünfzig Meilen vor uns haben?« »Gott sei Dank müssen wir sie ja nicht zu Fuß gehen«, antwortete Mike. »Außerdem hasse ich es, etwas umsonst zu tun. Ich latsche doch nicht die ganze Strecke hier hinunter und kehre dann zehn Schritte vor dem Ziel um!« »Stimmt«, sagte Frank. »Aber Stefan hat auch Recht. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich habe keine Lust, diesen Berg im Dunkeln runterzudonnern. Also beeilen wir uns lieber ein bisschen.« Der Weg zog sich länger hin, als sie angenommen hatten, allein schon deshalb, weil das Gehen auf dem feinkörnigen trockenen Sand des Flussbettes äußerst mühsam und kräftezehrend war. Doch die Anstrengung lohnte sich: Nachdem sie die fast rechtwinklige Biegung hinter sich gelassen hatten, erweiterte sich das Flussbett auf das gut Dreifache seiner ursprünglichen Breite. Unmittelbar vor ihnen lag eine
etwa anderthalb Meter hohe ebene Plattform aus härterem Gestein, die wie eine Insel aus den Fluten ragen musste, wenn der Fluss Wasser führte. Jetzt war sie nicht mehr als ein Miniatur-Tafelberg, den sie ohne besondere Mühe erklettern konnten. Genau in seiner Mitte erhob sich der Überrest eines halb zusammengestürzten Kuppelbaus, der aus rechteckigen Lehmziegeln erbaut worden war. »Na toll«, maulte Stefan. »Und dafür die ganze Mühe? Für einen Iglu aus Lehm?« »Das ist kein Iglu«, antwortete Frank betont. »Das müssen Anasazi-Ruinen sein! Fantastisch! Ich wusste gar nicht, dass es sie in dieser Gegend gibt. Normalerweise findet man sie eher in Neu-Mexiko.« »Aha«, sagte Stefan. »Annawas?« »Anasazi«, antwortete Frank begeistert. Er zückte schon wieder seinen Fotoapparat. »Das waren die eigentlichen Ureinwohner Nordamerikas, lange vor den Sioux, Apachen und wie sie alle hießen. Sie waren ein relativ friedliches Volk, das von Ackerbau und der Jagd gelebt hat.« »Und was ist aus ihnen geworden?«, erkundigte sich Stefan. In seiner Stimme lag nicht die leiseste Spur wirklichen Interesses. »Das weiß niemand so genau.« Frank fotografierte, was das Zeug hielt, und wedelte unwillig mit der Hand, als Stefan in den Bereich vor der Kamera treten wollte. »Sie sind einfach verschwunden. Manche glauben, dass sie nach Süden gegangen sind. Vielleicht waren sie die Vorfahren der Azteken.« Er schwenkte die Kamera hin und her und fotografierte wie wild. »Die alten Legenden behaupten, sie wären in eine andere Welt gegangen.« Ein eisiger Windhauch strich über Mikes Nacken. Er schauderte, drehte sich instinktiv um und sah zum Rand der
Schlucht hinauf. Im grellen Gegenlicht der Sonne war die Gestalt des Jungen nur als verschwommener, tiefenloser Schatten zu erkennen, dessen Konturen sich in der gleißenden Helle wie in flüssiger Säure aufzulösen schienen. Mike konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er spürte seinen Blick. Die Eiseskälte, die ihn getroffen hatte, war nicht der Wind gewesen. »Ich bin kein Spezialist, was die Anasazi angeht.« Frank plapperte so fröhlich weiter, als würde er einen Artikel zu diesem Thema planen. »Aber es ist eine faszinierende Geschichte. Hätte ich gewusst, dass wir so etwas finden, hätte ich mich vorbereitet.« Mike starrte weiter zu dem Schatten am Rand der Schlucht empor. Er war nicht wirklich da! Nein, es konnte nur eine Ausgeburt seiner Fantasie sein. Unglücklicherweise änderte diese Erkenntnis nichts an dem Schrecken, mit dem die Erscheinung ihn erfüllte. Es spielt keine Rolle, ob das Monster echt oder eingebildet ist. Es kann dir so oder so den Kopf abreißen. Da hast du vollkommen Recht, Blödmann, kicherte die Stimme des Indianerjungen hinter seiner Stirn. Der Unterschied ist gar nicht so groß, wie du glaubst. Aber das wirst du bald herausfinden. »Was willst du von mir?«, flüsterte Mike. Er sah aus den Augenwinkeln, dass Stefan irritiert den Kopf wandte und in seine Richtung sah, aber es gelang Mike nicht, den Blick von der schrecklichen Erscheinung auf dem Felsen zu lösen. Ich habe dich gewarnt, höhnte der Junge. Ich habe dir gesagt, du sollst diesen Ort meiden, aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Jetzt sieh zu, wie du hier wieder heil herauskommst. Diesmal gelang es Mike zumindest, seine Antwort nicht laut auszusprechen und nur in Gedanken zu formulieren. Du kannst mir nichts tun, dachte er trotzig. Du bist nicht echt. Nur ein Phantom, das ich mir selbst ausgedacht habe.
Und? Meinst du, das ändert etwas?, kicherte der JungeEs ändert alles. Du bist nicht real. Du hast keine Macht über Dinge. »Mike?«, fragte Frank. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Ach?, höhnte der Junge. Glaubst du? Nun, wenn ich nicht real bin, dann erklär mir doch mal, wie ich zum Beispiel das hier mache. Er hob einen zerfließenden, halb in verschwimmendem weißen Licht aufgelösten Arm und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Mikes Blick folgte der Geste. Im ersten Moment geschah nichts, doch dann hörte er ein leises, aber sehr machtvolles Grollen, das rasend schnell an Lautstärke zunahm. Es wurde schlagartig kälter, und etwas geschah mit dem Licht. Es wurde nicht dunkel, aber alles sah mit einem Male ... anders aus, ohne dass er diesen Unterschied in Worte kleiden konnte. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Frank noch einmal. Mike wollte antworten, aber die Zeit reichte nicht mehr. Aus dem Grollen wurde ein Brüllen, das jeden anderen Laut einfach verschlang. Der massive Fels unter ihren Füßen begann zu vibrieren. Dann kam das Wasser. Es war keine Welle, sondern eine kompakte, zehn Meter hohe Wand, schimmernd und hart wie Glas, die mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges den Canyon hinterraste, um die Biegung tobte und mit unvorstellbarer Gewalt an der gegenüberliegenden Wand zerbarst. Mike schrie gellend auf, wirbelte herum und wandte sich verzweifelt zur Flucht, aber natürlich hatte er nicht die Spur einer Chance. Das Wasser war im Bruchteil eines Augenblickes heran, überspülte das Plateau und riss alles mit sich. Stefan und Frank waren von einem Sekundenbruchteil auf den anderen einfach nicht mehr da. Die Ruine des Kuppelbaus explodierte wie unter
einem Hammerschlag, und erst dann wurde auch Mike ergriffen und mit unwiderstehlicher Kraft in die Höhe gerissen. Das Wasser war so kalt, dass es auf der Haut brannte, und es hämmerte wie mit Fäusten aus allen Richtungen zugleich auf ihn ein. Er wurde wie ein Spielzeugschiff herumgewirbelt, das aus Versehen in einen richtigen Sturm geraten war, verlor augenblicklich die Orientierung und prallte mit Rücken und Hinterkopf gegen eisenharten Fels. Irgendwie gelang es ihm, nicht vor Schmerz aufzubrüllen und damit sein letztes bisschen kostbare Atemluft zu verschwenden - aber dadurch wurde es nicht besser. Er wurde in den Schlamm des Flussgrundes gepresst, herumgewirbelt und wieder nach oben geschleudert und schließlich einfach vom tobenden Wasser ausgespien, stürzte aber zu schnell zurück, als dass ihm Zeit zu einem Atemzug geblieben wäre. Seine Lungen waren mit Feuer gefüllt. Noch zwei oder drei Sekunden, und er würde gierig das Wasser in sich einsaugen und weitere zwei oder drei Sekunden danach tot sein. Er ... Jemand schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, und als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass es wohl Frank gewesen sein musste. Er lag auf dem Rücken. Frank kniete neben ihm, hatte die Hand noch halb erhoben und sah ihn mit einem Ausdruck von Sorge an, der fast an Panik grenzte. »Was ...?«, murmelte er. »Er ist wieder bei sich«, sagte Stefan erleichtert. »Gott sei Dank.« »Da bin ich nicht sicher.« Frank legte den Kopf schräg und sah ihn durchdringend an. »Ist wieder alles in Ordnung mit dir?« »Ich bin nicht ganz sicher«, murmelte Mike. Er richtete sich mühsam auf und betastete mit spitzen Fingern sein Gesicht. Seine Wange brannte wie Feuer. »Wolltest du mir die Zähne ausschlagen?« »Mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Stefan grinsend. »Ich
mache dir ganz preiswert schöne neue. Bessere, als du je hattest.« Mike starrte ihn benommen an. Meistens zwang er sich wenigstens ein Grinsen ab, wenn Stefan darauf anspielte, dass er Zahnarzt war. Aber diesmal hatte er für eine solche Bemerkung überhaupt keinen Nerv. Auch Frank blieb ernst. »Tut mir Leid, wenn ich zu hart zugeschlagen habe, aber ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen.« »Was ist passiert?«, fragte Mike. Dann beantwortete er seine eigene Frage, indem er erschrocken herumfuhr und zur Biegung starrte. Nichts hatte sich verändert. Das Wasser war verschwunden, und der Boden war mit staubfeinem, trockenem Sand bedeckt. Er lag nur wenige Schritte neben dem Kuppelbau, der eben noch vor seinen Augen vom Wasser in Stücke gesprengt worden war. Aber die einzigen Zerstörungen, die er erkennen konnte, waren die, die die Zeit angerichtet hatte. »Das wollte ich eigentlich von dir wissen«, sagte Frank. »Du bist plötzlich zusammengebrochen und hast wild um dich geschlagen.« »Und du hast dauernd etwas von Wasser geschrien«, fügte Stefan hinzu. »Wasser?« Frank nickte, stand auf und streckte die Hand aus, um ihm ebenfalls auf die Füße zu helfen. »Jedenfalls hat es sich so angehört. Was war los?« »Keine Ahnung«, sagte Mike. Er sah zum Canyonrand hinauf. Dort oben stand niemand. »Kannst du gehen?«, fragte Frank. »Natürlich kann ich gehen«, antwortete Mike automatisch, obwohl er nicht sicher war, ob er wirklich dazu in der Lage war. »Selbst wenn ich es nicht könnte, bliebe mir wohl nichts anderes übrig. Oder wollt ihr mich etwa zu den Maschinen
zurücktragen?« »Wenn es sein muss«, meinte Stefan. »Nimm die Sache nicht auf die leichte Schulter«, warnte Frank. »Man bricht nicht einfach so zusammen.« »Ich hatte einen Schwächeanfall«, sagte Mike. »Das ist etwas anderes. Vielleicht war es einfach zu heiß.« Er spürte, dass seine Worte die beabsichtigte Wirkung verfehlten, zwang sich zu einem Lächeln, und setzte noch einmal neu an: »Wirklich, mir fehlt nichts. Ich bin noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber das ist alles. Gehen wir.« Sowohl Frank als auch Stefan sahen nicht besonders überzeugt aus, aber Mike gab ihnen keine Gelegenheit, weitere Einwände vorzubringen. Mit einem schon übertrieben kraftvollen Satz sprang er von dem Felsplateau herunter und marschierte los. Er widerstand dem Impuls, noch einmal zum Rand der Schlucht hinaufzublicken. Er fürchtete sich zu sehr vor dem, was er dort sehen könnte. Der Aufstieg zum Wald hinauf kostete ihn den Rest seiner Kraft, sodass er sich einen Moment setzen musste, um auszuruhen; ein zwar vernünftiger Entschluss, der aber nicht unbedingt dazu angetan war, Franks Sorge zu dämpfen. »Bist du auch wirklich in Ordnung?«, fragte er, nachdem er schwer atmend hinter ihm die Felsentreppe erklommen hatte. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Auch er begann allmählich an seine Grenzen zu stoßen. »Ja«, antwortete Mike. »Ich brauche nur einen Moment Ruhe. Geht schon weiter und seht euch das Dorf an. Ich rauche eine Zigarette und komme dann nach.« »Klasse Idee, um wieder zu Atem zu kommen«, sagte Frank sarkastisch. »Aber du musst ja wissen, was du tust. Ruf einfach, wenn du Hilfe brauchst.« Mike musste sich beherrschen, um nicht etwas Unhöfliches zu sagen. Franks Sorge war echt, aber gerade das war es ja, was ihn wütend machte. Verdammt, er war alt genug, um auf
sich selbst aufzupassen! Statt zu antworten, zog er die Packung aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch schmeckte so, wie er eigentlich immer schmeckte, wenn er ehrlich war: schal und ein ganz kleines bisschen nach der Krankheit, die er mit sich bringen konnte. Mike nahm wie zum Trotz noch einen zweiten, tieferen Zug, hustete den Rauch aus und hätte die Zigarette um ein Haar angeekelt weggeworfen. Stattdessen zwang er sich, sie bis zu Ende zu rauchen. Er brauchte wirklich einen Moment, um wieder neue Kraft zu schöpfen. Außerdem wäre er sich albern vorgekommen, Stefan und Frank schon nach ein paar Augenblicken nachzurennen; wie ein kleiner Junge, den seine Freunde allein im Wald zurückgelassen hatten und der es nun mit der Angst zu tun bekam. Er achtete sorgsam darauf, dass keine Funken oder glühende Asche zu Boden fielen und die trockenen Tannennadeln entzündeten, denn er hatte keine Lust, einen Waldbrand auszulösen. Erst dann drückte er die Zigarette im Deckel der Packung aus, steckte die Kippe in die Jackentasche und überzeugte sich davon, dass nirgendwo etwas schwelte, ehe er Stefan und Frank folgte. Nachdem er die Weggabelung hinter sich gebracht hatte, waren es nur noch ein paar Dutzend Schritte, und als er die kleinere Lichtung erreichte, auf der die Siedlung lag, war er im ersten Moment fast enttäuscht. Es gab keine Zelte aus Büffelhaut, keine Lagerfeuer und Totempfähle, sondern nur eine Handvoll kleinerer und zwei etwas größere Kuppelbauten, so genannte Hogans, die jenem unten auf der Flussinsel ähnelten, nur dass diese hier aus Ästen und Laub bestanden. Selbst die beiden großen waren so niedrig, dass man nur gebückt darin stehen konnte. In den anderen konnte man sich vermutlich nur auf Händen und Knien fortbewegen.
Stefan stand mit verschränkten Armen vor einem Baum auf der anderen Seite der Lichtung, der ihm nicht einmal ganz bis zur Brust reichte, und Frank kam in genau diesem Moment tatsächlich auf Händen und Knien aus einer der Hütten herausgekrochen und machte noch im Aufstehen ein weiteres Bild. Mike warf erneut einen Blick auf Stefan, der noch immer reglos dastand und den Baum anstarrte (was machte er da eigentlich, zum Teufel noch mal?); dann ging er zu Frank hinüber. »Das ist ja großartig«, sagte Frank. »Der Ausflug hat sich ja wirklich gelohnt.« »Disneyland wäre bequemer gewesen.« »Disneyland?« »Das hier ist doch alles falsch«, behauptete Mike. »Oder glaubst du wirklich, dass diese Hütten fünfhundert Jahre alt sind?« Frank verdrehte die Augen. »Natürlich haben sie sie nachgebaut«, sagte er. »Aber an Originalplätzen und so naturgetreu wie möglich und mit den alten Techniken und Materialien. Ich weiß, dass du für so etwas keine Antenne hast, aber ich finde es faszinierend. Dieser Ort hat etwas ... Mystisches.« Keine Antenne? Mike hatte ungefähr ein Dutzend Antennen mehr in dieser Richtung, als ihm lieb war. Allerdings hätte er anstelle von mystisch ein etwas anderes Wort gewählt. Als er keine Antwort bekam, wechselte Frank das Thema. »Fühlst du dich besser?« »Bombig«, log Mike. »Die Pause hat mir gut getan - aber wir können gerne noch ein paar Minuten bleiben, falls du noch ein paar Aufnahmen machen willst.« »Zehn Minuten?«, fragte Frank. »Kein Problem«, antwortete Mike. »Zeit genug, um noch eine zu rauchen. Oder zwei.« Frank nickte nur knapp und verschwand mit gezücktem
Fotoapparat in einer der größeren Hütten, und Mike drehte sich unschlüssig um, um zu Stefan zu gehen. Er konnte ihn nirgendwo sehen. Stattdessen registrierte er aus den Augenwinkeln eine hastige, flüchtige Bewegung. Mike fuhr wie elektrisiert herum und sah gerade noch, wie eine kleine Gestalt mit kurzen Gliedern und viel zu großem Kopf in einem der beiden größeren Hogans verschwand. Sein Herz begann zu hämmern, und die Angst war wieder da, plötzlich, ohne die geringste Vorwarnung und zehnmal schlimmer als zuvor. Seine Hände und Knie begannen zu zittern. Furcht breitete sich wie eine Welle klebriger Lähmung in seinem Körper aus. Unsinn, dachte er hysterisch. Der Junge war nicht da! Es gab keinen Jungen. Der reale Junge war schon mindestens hundert Meilen weit weg. Nein, er hatte kein Kind gesehen. Er hatte gar nichts gesehen, allenfalls einen Schatten - oder vielleicht Stefan, der in die Hütte gegangen war. Es nutzte nichts. Die Angst, sein uralter Wegbegleiter, war wieder da, und sie zerrte nicht an ihrer Kette, sondern hatte sich losgerissen. Er versuchte sie mit Logik zu bekämpfen, aber Logik war keine Waffe gegen die Furcht. Es spielte keine Rolle, dass ihm sein Verstand sagte, dass der Junge nicht da sein konnte. Er spürte, dass er da war, irgendwo in dieser Hütte in den Schatten hockte und ihn aus seinen schmalen Augen anstarrte. Ich habe es dir gesagt. Du hättest nicht hierher kommen sollen. »Ich habe keine Angst vor dir«, murmelte Mike. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es wirklich sagte oder vielleicht nur dachte. Sein Herz hämmerte, als wolle es aussetzen. Er zitterte am ganzen Leib. Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, hätte er geschrien. Er hatte Angst wie nie zuvor in seinem Leben. Noch ein Deut mehr - und er würde einfach den Verstand verlieren. Ich . Habe . Keine . Angst . Vor . Dir ., hämmerten seine Ge-
danken. Du kannst mir nichts tun. Du existierst nicht wirklich. Du bist ich. Langsam, in einer Bewegung, als schleppe er eine Zentnerlast hinter sich her, drehte er sich um und ging auf den Hogan zu. Jeder Schritt kostete ihn größere Überwindung. Seine Beine weigerten sich, seinen Befehlen zu gehorchen. Alles in ihm schrie danach, herumzufahren und davonzustürzen, so schnell und so weit er nur konnte. Stattdessen ging er langsam auf die aus Holz und Laub erbaute Hütte zu, sammelte noch einmal alle Kraft und trat gebückt ein. Nichts geschah. Es war vollkommen dunkel. Fast schien es, als hindere irgendetwas das Tageslicht daran, durch den weit offen stehenden Eingang hereinzuströmen. Und es war fast vollkommen still. Stefan war nicht hier - und der Junge auch nicht. Und trotzdem: Etwas war hier. Etwas Böses. Etwas Uraltes und Mächtiges und auf eine grässlich falsche Weise Lebendiges. Mike ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich die Fingernägel in seine Handflächen gruben und Blut an seinen Gelenken herab zu Boden tropfte. Es tat weh, aber vielleicht war dieser Schmerz das Einzige, was ihn in diesem Moment noch daran hinderte, wirklich den Verstand zu verlieren. Er klammerte sich mit aller Macht an diesen Schmerz, presste die Hände noch fester zusammen und keuchte laut auf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Trotzdem lockerte er den Griff nicht, denn dieser Schmerz war etwas Reales, ein Teil der Welt, die er begreifen und anfassen konnte, nicht das mahlende Chaos, das dahinter lauerte. Er begriff, dass er tatsächlich nicht allein hier drinnen war. Aber kein mythischer Dämon lauerte auf ihn, sondern ein viel vertrauterer - und deshalb viel schlimmerer - Feind: seine eigene Angst. Cleverer Versuch. Du bist feige, aber nicht dumm.
Der Junge stand hinter ihm, und er war nun kein Schatten mehr, der sich im Sonnenlicht auflöste, sondern körperlich und real, eben jener seltsame Indianerjunge, den er gestern im Hotel und heute Nachmittag in Flagstaff getroffen hatte. Nur seine Augen hatten sich verändert. Sie waren jetzt keine Augen mehr, sondern unheimliche, glühende Tümpel, die in einem giftigen Grün loderten. »Du ... bist... nicht real«, stammelte Mike. »Ich glaube nicht an dich.« Er schloss seine Fäuste noch fester. Der Schmerz war unglaublich, aber dieser Schmerz war die Wirklichkeit, und obwohl er schon nach einer Sekunde so schlimm wurde, dass Mike wimmernd auf die Knie sank, schöpfte er trotzdem die Kraft daraus, die er brauchte, um dem Blick des Dämons standzuhalten. »Ich glaube nicht an dich«, sagte er noch einmal. »Du bist nicht wirklich. Du hast keine Macht über mich.« Du bist ein Dummkopf, weißer Mann. Ich mag keine Dummköpfe. Du beginnst mich zu langweilen. Auch diese Worte waren nicht real, redete Mike sich ein, so wenig wie die ganze Gestalt! Nichts hier war wirklich da, vielleicht nicht einmal die Hütte selbst. Er selbst war nicht hier, weder an diesem Ort, noch in dieser Zeit; er war zurückgereist in die Vergangenheit, war ein Kind, vier oder fünf Jahre alt, vielleicht noch jünger, das allein im Dunkeln saß und Angst hatte, Angst vor der Dunkelheit, Angst vor den Ungeheuern, die sich darin verbergen mochten, Angst vor dem Alleinsein. Angst war immer das stärkste Gefühl in seinem Leben gewesen; vielleicht das Einzige, das er jemals wirklich empfunden hatte. Angst hatte ihn durch jeden einzelnen Tag seines Lebens begleitet. Aus der Angst des Kindes vor dem Alleinsein und der Dunkelheit war die Angst des Jugendlichen vor dem Verprügeltwerden und dem Spott seiner Klassenkameraden geworden, später hatte sie sich in die Furcht vor dem
Zurückgewiesenwerden gewandelt, vor dem Versagen allgemein, vor Frauen und Freunden, vor Enttäuschung und davor, Fehler zu machen. Und schließlich war da die schlimmste aller Ängste überhaupt: die Angst vor der Angst. Mike war ein Feigling, ein Mann, der die Furcht kannte wie vielleicht kein anderer. Er war in seinem Leben gescheitert, bei Frauen, im Beruf und bei Freunden, und jedes Scheitern hatte denselben Grund gehabt: Angst. Irgendwann einmal hatte er angefangen, gegen sie zu kämpfen, und er hatte geglaubt, sie besiegt zu haben, oder wenigstens gebändigt. Er hatte sie in Ketten aus Worten gebunden, sie in Gefängnisse aus Papier verbannt und zwischen Buchdeckeln eingesperrt, und er hatte geglaubt, sie fast zu so etwas wie einem finsteren Verbündeten gemacht zu haben. Fast alle seine Bücher handelten von ihr, und er war sich stets darüber im Klaren gewesen, dass er ihr einen Großteil seines Erfolges zu verdanken hatte, wenn nicht sogar alles. Aber er hatte geglaubt, den Preis dafür bereits bezahlt zu haben, mit einem Leben voller Furcht, voller unsicherer Blicke, quälender Gedanken und schweißfeuchter Handflächen. Es war ein Irrtum gewesen. Die Angst hatte sich aus ihrem Gefängnis befreit und stand nun vor ihm, um ihm die Rechnung zu präsentieren. Aber so leicht würde er nicht aufgeben. Nicht jetzt. Nicht nach all dieser Zeit. Nicht, nachdem er so viel erreicht hatte. Was soll ich jetzt mit dir tun, weißer Mann?, fragte die Furcht, die die Gestalt eines fünfjährigen Indianerjungen angenommen hatte. Ich könnte dich auslöschen, aber das wäre zu leicht für dich. Oder ich könnte dich leiden lassen. Aber ich weiß nicht, ob du der Mühe wert bist. »Du kannst mir gar nichts tun«, murmelte Mike. Plötzlich
war er ganz ruhig. Seine Hände schmerzten grässlich, aber mit jeder Welle dumpfer Pein, die von seinen Handflächen ausgehend im Takt seines Herzschlages durch seinen ganzen Körper schossen, wuchsen seine Entschlossenheit und seine Kraft. Dies hier war die finale Schlacht. Er begriff, dass er sich auf schreckliche Weise geirrt hatte. Sein alter Feind war niemals besiegt gewesen, nicht einmal gebändigt. Die Angst hatte nur gewartet, geduldig wie ein lauerndes Raubtier, das seine Beute beschleicht und auf einen günstigen Moment wartet, um sie zu schlagen. Und nun war dieser Moment gekommen. Mike begriff mit einer sonderbar ruhigen Art von Entsetzen, dass es nun keinen Ausweg mehr gab, kein Zögern, keine Ausflüchte und Lügen, niemanden mehr, den er vorschicken konnte. Es gab nur noch ihn und das Ding mit den grün leuchtenden Augen, das gekommen war, um ihn zu vernichten. »Du kannst mich nicht besiegen«, murmelte er. »Töte mich, wenn du willst. Aber das ist alles, was du mir antun kannst. Ich habe keine Angst mehr vor dir.« Und das war die Wahrheit, auch wenn Mike es erst in dem Moment begriff, in dem er die Worte aussprach. Das Ding starrte ihn aus seinen unheimlichen, grün lodernden Augen an, und Mike spürte plötzlich die Wut, die es erfüllte, einen grenzenlosen, vernichtenden und trotzdem hilflosen Zorn, der im gleichen Maße schlimmer wurde, in dem es begriff, dass es ihm tatsächlich nichts mehr anhaben konnte. »Verschwinde«, sagte er. »Bring mich um - oder verschwinde.« Das Ding stieß einen zischelnden Laut aus und schlug mit einer Hand nach ihm, die zur Kralle geformt war. Es traf ihn nicht. Seine Wut erfüllte den Hogan mit knisternder elektrischer Energie, und seine Augen loderten wie winzige, grelle Sonnen. Aber Mike begriff - plötzlich und mit einer Klarheit jenseits aller Zweifel -, dass es vorbei war. Das
Ungeheuer hatte seine Macht über ihn verloren. Sein Fauchen und Schlagen war nur noch ein Rückzugsgefecht, die Drohgebärden einer Wildkatze, die von einem überlegenen Feind in die Enge gedrängt worden war. Es war vorbei. Er hatte gewonnen. Mike stand auf, öffnete endlich seine Fäuste und stöhnte vor Schmerz, als die Qual für einen Moment noch schlimmer wurde, ehe sie fast ganz erlosch. Seine Gedanken waren mit einem Male von einer seltenen, fast gläsern anmutenden Klarheit. Er zitterte nicht mehr, und sein Herz schlug ganz ruhig. Vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen Leben hatte er das Gefühl, wirklich frei durchatmen zu können. Das Ding tobte. Es spuckte und fauchte vor Wut, schlug immer wieder mit den Klauen nach ihm oder täuschte einen Angriff vor, wagte es aber nicht, ihn wirklich zu berühren. Es hatte endgültig seine Macht über ihn verloren. Ruhig und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, richtete sich Mike auf, drehte sich um und trat mitten durch die Erscheinung hindurch und aus der Hütte hinaus. Seine Hände waren nicht annähernd so schlimm verletzt, wie er geglaubt hatte. Der grausame Schmerz war zu einem allenfalls noch lästigen Brennen herabgesunken, und als er die Hände vor das Gesicht hob, konnte er nur ein paar winzige, halbmondförmige Kratzer in seinen Handballen entdecken, die er vermutlich schon morgen nicht mehr spüren würde - und die übrigens auch weitaus weniger heftig geblutet hatten, als es den Anschein gehabt hatte. Mike wischte die wenigen Tropfen kurzerhand an der Hose ab, kramte nach seinen Zigaretten und sah sich suchend nach den beiden anderen um, während er sein Feuerzeug aufschnappen ließ. Frank kam gemächlich über den Platz auf ihn zugeschlendert. Er schien für heute genug Beute gemacht zu haben, denn er hatte den Fotoapparat wieder weggesteckt
und trug einen äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck zur Schau. »Du solltest hier besser nicht rauchen«, sagte er, allerdings in einem eher resignierenden als tadelnden Tonfall. »Wieso?«, fragte Mike. Er nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch provozierend in Franks Richtung und fuhr mit einem breiten Grinsen fort: »Hast du Angst, dass ich die Geister der Ahnen gegen mich aufbringe? Ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen haben. Immerhin ist das Tabakrauchen ein Geschenk der Indianer an uns.« »Ich dachte eher daran, dass hier alles zundertrocken ist«, antwortete Frank. »Ein Funke am falschen Platz, und wusch.« Er runzelte die Stirn. »Was ist mit deiner Hand passiert? Du blutest ja.« »Nur ein Kratzer«, sagte Mike. »Keine Angst, ich passe schon auf, dass dieser Disneyland-Verschnitt nicht in Flammen aufgeht. Nicht, dass uns am Ende doch noch Manitus Rache trifft.« Für ein oder zwei Sekunden erlosch das Lächeln in Franks Augen. »Bitte sprich nicht so«, sagte er ernst. »Das hier ist ein heiliger Ort. Vielleicht nicht für uns, aber für die Menschen, die hier gelebt haben. Ich finde, man sollte das respektieren.« Mike setzte zu einer spöttischen Antwort an, aber dann wurde ihm klar, dass er Frank damit verletzt hätte. Er schwieg. Nicht aus Scheu vor den Geistern dieses Ortes, sondern weil er Franks Gefühle respektierte. »Ich passe auf«, sagte er. »Keine Angst. Außerdem wird es sowieso Zeit für uns. Wo ist Stefan?« Frank grinste. »Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, ist er auf dem Bauch über den Boden gekrochen und hat komische Geräusche von sich gegeben. Ich schätze, er sucht einen Baum, der in seine Satteltaschen passt.« Sie lachten beide. Stefan und seine Vorliebe für Bäume - vor allem möglichst kleine Bäume - waren schon mehr als einmal
Anlass für gutmütige Spottattacken gewesen. Mike hatte nie verstanden, wie sich ein erwachsener Mann für die Zucht von Bonsais begeistern konnte. Seiner Meinung nach handelte es sich dabei einfach um verkrüppelte Pflanzen, die in der freien Natur aus gutem Grund kaum vorkamen. »Suchen wir ihn«, schlug er vor. »Bevor er noch etwas tut, was wir mehr bedauern als er.« Es war kein großes Problem, Stefan zu finden. Frank hatte nicht übertrieben - Stefan hockte tatsächlich auf Händen und Knien am Boden und bewunderte mit leuchtenden Augen etwas, das wie eine Eiche aussah, aber kaum größer als dreißig Zentimeter war. »Unglaublich«, sagte er, als er ihre Schritte hörte, ohne sich zu ihnen umzudrehen. »Seht euch das an!« »Ein Baum«, sagte Mike. »Eher ein Bäumelchen«, fügte Frank hinzu. »Was ist daran so spannend?« »Ihr seid Banausen«, sagte Stefan. »Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was dieser Baum bringen würde?« »Sechs Monate, falls sie uns am Zoll damit erwischen«, vermutete Frank. »Mindestens. Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken ... ?« »Ihn mitzunehmen?« Stefan seufzte. »Nichts, was ich lieber täte.« »Lass es lieber«, sagte Mike belustigt. »Wenn du hier etwas anrührst, könnte dich ein uralter Fluch treffen.« Frank warf ihm einen giftigen Blick zu, aber Stefan seufzte nur abermals und richtete sich kopfschüttelnd in eine sitzende Position auf. »Er würde den Transport nicht überleben«, sagte er. »Unglaublich! Für so etwas zahlst du bei uns mindestens zwanzigtausend. Wenn nicht mehr!« »Warum nimmst du dir nicht einen Ableger mit?«, fragte Mike. Stefan lächelte. »So geht das nicht«, sagte er in nachsichtigem
Tonfall. »Du kannst nicht einfach einen Ast abbrechen und ihn zu Hause ins Wasser stellen. Das da ist ein richtiger Baum, verstehst du?« »Und wieso ist er so klein?«, fragte Mike. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte. Aber er wusste natürlich, welche Freude es Stefan bereitete, über sein Hobby zu reden, und er war in Geberlaune. Er hatte gerade den wichtigsten Sieg seines Lebens errungen. »Eigentlich dürfte er gar nicht existieren«, antwortete Stefan. »Seht euch nur an, auf welchem Boden er wächst. Reiner Fels. Die Wurzeln krallen sich in mikroskopisch kleine Risse des Steins. Er ist so klein geblieben, weil er einfach nicht genug Nahrung bekommt, und wahrscheinlich auch zu wenig Licht. Alle guten Plätze hier waren schon besetzt, als er kam. Und trotzdem steht er seit mindestens hundert Jahren hier. Wahrscheinlich noch viel länger.« »Und was ist daran so besonders?«, fragte Frank. »Für mich ist es ein Beweis, wie zäh das Leben ist.« Stefan stand auf und schenkte dem Zwergenbaum einen letzten, fast wehmütigen Blick. »Ganz egal, wie ungünstig die Umstände auch sein mögen: Das Leben findet einen Weg.« »Jeff Goldblum in Jurassic Park«, bemerkte Frank. »Ich habe den Film auch gesehen«, ergänzte Stefan. »Aber nur, weil irgendein Drehbuchautor diesen Satz verwendet hat, ist er ja nicht zwangsläufig falsch, oder?« Er seufzte. »Lasst uns gehen, bevor ich noch etwas Dummes tue.« »Ich denke, er würde den Transport nicht überleben?« »Er nicht«, bestätigte Stefan. »Aber ein paar von den Kleineren dort hinten vielleicht schon, wenn man sie sorgfältig verpackt und feucht hält...« »Dann tu es doch«, sagte Mike. »Wen interessiert es schon, ob hier ein Baum mehr oder weniger steht?« »Jeden, der nach uns hierher kommt«, sagte Frank. »Schluss jetzt! Ich will nichts mehr davon hören. Habt ihr beide denn gar
keinen Respekt vor der Natur?« »Doch«, antwortete Stefan. »Vor allem vor gewissen Gesetzen, nach denen es hier bald stockduster wird. Fahren wir weiter.« Mike enthielt sich vorsichtshalber jeden Kommentars. Er hatte keine Lust auf eine endlose Diskussion mit Frank, und er hatte vor allem keine Lust, auch diese Situation mit einem Missklang enden zu lassen. Nicht an diesem Tag. Er warf seine Zigarette zu Boden - Frank quittierte es mit einem missbilligenden Stirnrunzeln, aber schweigend -, trat die Glut sorgsam aus und wandte sich dann um. Schatten huschten in alle Richtungen davon und verschwanden zwischen den Bäumen. Irgendwo blitzte etwas auf, grün, unheimlich und zu schnell, um es identifizieren zu können. Anderthalb Stunden, bevor die Sonne untergehen würde, kamen sie zu den Motorrädern zurück. Frank machte noch einige abschließenden Aufnahmen, während Stefan und Mike bereits Handschuhe und Helme aufsetzten und ihre Maschinen wendeten. Es war immer noch warm, aber nicht mehr so unerträglich heiß wie am Nachmittag, und am Himmel waren sogar vereinzelte Wolkenfetzen zu sehen. Eine leichte Dämmerung hatte bereits eingesetzt. »Meinetwegen kann's losgehen«, sagte Stefan. Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss, startete den Motor aber noch nicht, sondern sah mit einer Mischung aus gutmütigem Spott und Ungeduld zu Frank zurück, der immer noch emsig fotografierte. »Falls du heute noch einmal fertig wirst, heißt das.« »Lass ihn«, sagte Mike grinsend. »Wann bekommt man schon die Chance, einen so mystischen Ort zu fotografieren? Vielleicht erleben wir ja alle eine Riesenüberraschung, wenn wir zu Hause die Fotos ansehen.« Frank machte ein abschließendes Foto, steckte die Kamera ein und musterte sie nacheinander kopfschüttelnd. »Schade,
dass ich keinen Recorder dabeihabe«, sagte er. »Wisst ihr eigentlich, wie ihr euch anhört?« »Albern?«, schlug Stefan vor. »Respektlos«, antwortete Frank. »Aber warum sage ich das überhaupt? Ihr hört mir ja doch nicht zu.« Stefan grinste nur noch breiter, während Mike fast hastig sein Helmvisier schloss, damit Frank seinen zufriedenen Gesichtsausdruck nicht bemerkte. Respektlos? Natürlich war er respektlos. Er hatte jeden Grund dazu. Er hatte den schlimmsten Feind besiegt, dem er jemals gegenübergestanden hatte. Es gab nichts mehr, was ihn noch erschrecken konnte. Abgesehen von der kleinwüchsigen Gestalt, die am Anfang des Waldweges stand und ihn aus grün leuchtenden Augen anstarrte. Mikes Herz machte einen Sprung bis direkt in seine Kehle hinauf, um dort mit zehnfacher Schnelligkeit weiterzuhämmern. Er blinzelte, und die Gestalt war verschwunden. Sein Herz hämmerte immer noch, und seine Hände und Knie wollten zu zittern beginnen, aber er ließ es nicht zu, sondern zwang seine Glieder mit purer Willenskraft, ruhig zu bleiben. Mit der gleichen Anstrengung verhinderte er, dass aus dem kurzen Schrecken richtige Angst werden konnte. Sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Alles, was er gesehen hatte, war ein Schatten gewesen. Allenfalls ein letzter böser Gruß seiner Fantasie, die noch nicht ganz kapiert hatte, dass die Sache vorbei war. Er schüttelte zornig über sich selbst den Kopf, rammte den Zündschlüssel ins Schloss und drückte den Startknopf. Der Anlasser heulte auf, aber das war auch schon alles. »Das kommt davon«, feixte Stefan. »Du hättest auf unseren großen Guru hören und den Geistern dieses Ortes etwas mehr Respekt erweisen sollen.«
Mike zog eine Grimasse und versuchte es erneut. Der Elektrostarter wimmerte schrill, aber der Motor sprang nicht an. Stefan lachte leise. Allerdings nicht sehr lange. Sein Grinsen erlosch augenblicklich, als er den Daumen auf den Anlasser senkte und nichts geschah. Die Elektrostarter der beiden Intruder heulten eine halbe Minute lang um die Wette und verstummten dann. »Probleme?«, fragte Frank feixend. »Das wird euch beide lehren, die Geister der Ahnen nicht herauszufordern.« Er stieg auf seine Maschine, kippte sie vom Ständer und betätigte den Anlasser. »Irgendwie«, sagte Stefan, nachdem Frank es nach einer guten halben Minute aufgegeben hatte, »scheinst du wohl auch dem ein oder anderen Geist auf die Zehen getreten zu sein.« Frank reagierte nicht darauf, sondern starrte den Anlasserknopf an seinem Lenker mit einem so verdatterten Ausdruck an, dass Mike um ein Haar laut aufgelacht hätte. »Was zum Teufel ist denn jetzt los?«, murmelte er. »Das ist doch kein Zufall.« »Vielleicht hast du irgendetwas fotografiert, was du besser hättest bleiben lassen«, sagte Stefan spöttisch. Dann runzelte er die Stirn. »Natürlich ist es Zufall«, sagte er betont. »Was soll es denn sonst sein?« Er versuchte zu starten. Der Anlasser heulte, drehte schneller und schneller und schien dann wieder an Kraft zu verlieren. Die Intruder stieß ein einzelnes, schweres Blubbern aus und verstummte. »Mist!«, sagte Stefan mit Nachdruck. »Aber sie kommt, keine Angst.« »Das will ich hoffen«, sagte Frank besorgt. »Lange halten die Batterien das nicht aus.« Wie um seine Worte sofort unter Beweis zu stellen, ließ er den Anlasser seiner eigenen Maschine fast eine Minute lang ununterbrochen mahlen. Ohne den geringsten Erfolg. Mike sah erst ihn, dann Stefan fragend
an, zog die Kupplung und startete ebenfalls. Nach ein paar Sekunden schrie Stefan über das Wimmern des Starters hinweg: »Lass es sein!« Mike nahm gehorsam den Daumen vom Starter, und Stefan fuhr fort: »Frank hat Recht. Lange halten die Batterien das nicht durch. Wir müssen sparsam damit umgehen. Ich habe keine Lust, zehn Meilen bis zur nächsten Siedlung zurückzulatschen.« Er versuchte zu starten. Der Motor tuckerte zwei, drei Mal, ging dann wieder aus, und für einen Moment stank es durchdringend nach Benzin. »Aha«, sagte Mike. »Sparsam, wie?« Stefan blickte ihn finster an, startete erneut und ließ den Anlasser so lange heulen, bis das Geräusch hörbar an Kraft zu verlieren begann und langsamer wurde. »Sie will kommen«, sagte er, »das spüre ich. Es fehlt nicht mehr viel.« »Und deine Batterie ist im Arsch«, beendete Frank den Satz. »Deshalb habe ich ja gesagt, ihr sollt es bleiben lassen«, antwortete Stefan gereizt. »Wenn meine Batterie schlappmacht, nehmen wir deine.« Er deutete in Mikes Richtung. »Und dann seine. Es reicht, wenn wir eine Kiste zum Laufen bringen.« »Und damit holst du dann Hilfe?«, fragte Frank. »Damit starte ich dann eure beiden«, antwortete Stefan. »Wir können natürlich auch einen Indianertanz aufführen oder dem großen Geist einen Finger opfern. Hat einer von euch zufällig einen übrig?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern betätigte wieder den Anlasser. Das Geräusch hörte sich jetzt deutlich mühsamer an und nicht mehr annähernd so schnell. Der Motor spuckte, sprang an, rülpste zweimal lautstark und erstarb wieder. Als Stefan den Daumen erneut auf den Startknopf senkte, war das einzige Ergebnis ein metallisches, ziemlich ungesund klingendes Schnarren.
Stefan fluchte hemmungslos. »Verdammter Mist! Also gut! Dann eben auf die harte Tour. Runter von den Mühlen, Jungs, und weg mit den Sätteln!« Mike stieg gehorsam vom Motorrad, ließ sich neben dem Sattel in die Hocke sinken und fummelte so lange ziellos herum, bis sich Frank seiner erbarmte und das Sitzpolster mit einem einzigen Griff entfernte. Was darunter zum Vorschein kam, war genau das, was Mike erwartet hatte: ein einziges Gewusel aus Streben, Kabeln, Plastikschläuchen und Dingen, die er nicht identifizieren konnte. »Wunderbar«, spöttelte Stefan. »Der weiße Klotz ist die Batterie. Rühr sie am besten nicht an.« »Ich dachte, ich sollte sie ausbauen«, sagte Mike. Stefan verdrehte die Augen, schob ihn mit sanfter Gewalt aus dem Weg und befestigte ein rotes und ein schwarzes Kabel an den Polen der Batterie. Noch immer schweigend, ging er zu seiner eigenen Maschine zurück, befestigte das Überbrückungskabel und startete den Motor. Er erwachte blubbernd zum Leben, lief diesmal für zwei oder drei Sekunden und ging dann wieder aus. »Das klappt schon«, sagte Stefan grimmig. »Keine Panik.« Mike war von einem Gefühl wie Panik so weit entfernt wie nie zuvor in seinem Leben. Er war ein wenig besorgt - die Vorstellung, drei oder vier Stunden lang bis zu den nächsten Häusern zurückmarschieren zu müssen, um dort mühsam Hilfe zu organisieren, hatte rein gar nichts Verlockendes, aber die Vorstellung war nur unangenehm, nicht beängstigend. Panik? Stefan wusste ja nicht einmal, was Panik wirklich war! Er sah noch einige Augenblicke zu, wie Stefan auch die zweite Batterie leer orgelte, dann entfernte er sich ein paar Schritte und zündete sich eine Zigarette an. Hinter ihm malträtierte Stefan verbissen weiter den Anlasser. Auch die zweite Batterie begann jetzt hörbar an Kraft einzubüßen. Aber sie hatten ja schließlich noch eine Dritte.
Und im Notfall drei Paar gesunder Beine. Er sah wieder zum Waldrand hin. Der Junge stand da - ein Schatten vor einem noch dunkleren Schatten, der nur für ihn sichtbar war - und starrte ihn an. Mike war nicht überrascht. Er hatte nicht wirklich erwartet, dass er so schnell aufgeben würde. Selbst Entscheidungsschlachten beendeten einen Krieg nicht sofort. Und?, dachte er. Ist das etwa alles, was du kannst? Hinter ihm gab auch die zweite Batterie den Geist auf. Stefan fluchte noch lauter und machte sich mit Franks Hilfe daran, die dritte und letzte Batterie anzuschließen. Deine Taschenspielertricks beeindrucken mich nicht, dachte Mike ruhig. Du willst, dass wir spazieren gehen? Gut. Das Ding fauchte, schlug mit den Klauen in seine Richtung und trat einen halben Schritt aus dem Wald heraus. Aber es wagte nicht, näher zu kommen. Hinter Mike begann die dritte Batterie zu orgeln. Der Motor der Intruder stotterte, sprang an, stotterte noch einmal - und erwachte mit einem gewaltigen Brüllen endgültig zum Leben. Der Dämon verschwand, und Mike nahm einen letzten genussvollen Zug aus seiner Zigarette, warf sie zu Boden und trat sie sorgsam mit dem Absatz aus. Er wollte sich umdrehen, zögerte aber dann noch einmal, griff in die Tasche und zog die Zigarettenpackung hervor. Lächelnd zerquetschte er die Packung samt der vier Zigaretten, die sich noch darin befanden, zu einem Ball, holte aus und schleuderte ihn so weit davon, wie er nur konnte. Stefan war voll und ganz damit beschäftigt, an den Maschinen herumzufummeln, aber Frank war Mikes Manöver nicht entgangen. Er starrte ihn verwirrt an, sah dann nachdenklich in die Richtung, in die er die Zigarettenpackung geschleudert hatte, und setzte ein demonstrativ fragendes Gesicht auf. »Ich brauche sie nicht mehr«, sagte Mike. Frank seufzte. »O nein. Sag nicht, du hörst wieder einmal auf
zu rauchen. Wie lange willst du es diesmal aushalten? Eine Stunde oder zwei?« Mike verzichtete auf eine Antwort. Er hatte schon so oft versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, dass Frank gar nicht mehr anders konnte, als mit Spott auf jede weitere derartige Ankündigung zu reagieren. Es war ihm niemals gelungen, auch nur einen einzigen Tag ohne Nikotin durchzustehen. Aber diesmal war die Situation vollkommen anders. Seine Worte waren mit Bedacht gewählt gewesen. Es war nicht wieder einer jener halbherzigen Vernunftentschlüsse, das Rauchen aufzugeben, weil es ungesund und widerlich war. Es war genau so, wie er gesagt hatte: Er brauchte die Zigaretten nicht mehr. Ihm war klar, dass die nächsten Tage alles andere als leicht werden würden, aber er wusste, dass er es diesmal schaffen würde. Ganz einfach, weil es nichts mehr gab, vor dem er sich noch fürchten musste. Stefan brauchte nur noch wenige Minuten, um auch die beiden anderen Maschinen zu starten. »Jetzt aber nichts wie los«, sagte er; nachdem auch Mikes Intruder wieder zu dem gewohnten, ruhigen Grollen erwacht war. »Wir müssen uns ranhalten, wenn wir pünktlich im Hotel sein wollen.« »Kein Problem«, sagte Frank. »Ich glaube nicht, dass sie den Nationalpark abschließen, wenn wir zu spät kommen. Gut gemacht. Ohne dich würden wir wahrscheinlich noch morgen früh hier stehen und auf Hilfe warten.« Er schwang sich auf sein Motorrad und gab ein paar Mal spielerisch Gas. »Läuft wieder wie geschmiert.« »Ja«, bestätigte Stefan. »Aber jetzt fragt mich bloß nicht, was los war. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Vielleicht der Staub, die trockene Luft... « Er hob die Schultern. »Keine Ahnung. Hauen wir ab und reden heute Abend bei
einem Bier darüber. Also los. Wer zuletzt an der Straße ist, gibt einen aus.« Er fuhr so schnell los, dass sein Hinterrad einen schwarzen Streifen auf dem noch fast jungfräulichen Asphalt des Parkplatzes hinterließ, und war nach kaum zwei Sekunden im Wald verschwunden. »Also ich weiß nicht...«, seufzte Mike. »Aber gut - ich denke, er hat es sich verdient.« »Der arme Kerl ist vollkommen frustriert«, sagte Frank. »Er würde es nie zugeben, aber ich weiß, dass es ihn rasend macht, nicht zu wissen, was mit den Karren los war. Ist ja schon komisch.« Er wedelte mit der Hand. »Worauf wartest du?« »Ich habe nicht vor, ein Rennen mit dir zu fahren«, antwortete Mike. »Verschwinde schon. Aber tut mir einen Gefallen und wartet unten an der Straße auf mich.« Frank setzte zu einer Antwort an, zuckte dann aber nur mit den Schultern und drehte den Kopf, um einen Blick zum Waldrand zu werfen. Schließlich grinste er, rammte knirschend den Gang hinein und fuhr los. Mike dachte einen Augenblick über den möglichen Grund dieses schon fast anzüglichen Grinsens nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Es war auch nicht wichtig. Er wollte einfach nur noch einen Moment hier sein, allein mit sich und diesem Ort. Die Schatten kamen, kaum dass das Grollen der Intruder im Wald verklungen war. Etwas bewegte sich zwischen den Bäumen. Unsichtbare Augen starrten ihn an, und er spürte die Berührung federleichter, eisiger Spinnenbeine, die an seiner Seele kratzten und Einlass verlangten. Mike lächelte. Natürlich hatte er gewusst, dass die Angst zurückkommen würde. Er hatte die feindlichen Heerscharen besiegt, aber nicht vollkommen ausgelöscht. Es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass sich die versprengten Überlebenden nicht zu dem einen oder anderen Überfall zusammenschließen würden. Nun musste er sich einfach beweisen, dass er in der
Lage war, damit fertig zu werden; allein, ohne Hilfe, nur aus eigener Kraft. Er war aus dem gleichen Grund hier geblieben, aus dem ein Feldherr nach dem Sieg noch einmal ganz allein das Schlachtfeld abschreitet, und mit dem gleichen Ergebnis: Er fühlte sich nicht als Sieger. Aber er wusste, dass er gewonnen hatte und dass er wieder gewinnen konnte, wenn es sein musste. Während er im Sattel der beruhigend im Leerlauf tuckernden Suzuki saß, den Blick über den weiten, leeren Platz schweifen ließ und dabei in Gedanken noch einmal das Schlachtfeld abschritt, setzte die Furcht zu einem letzten, heimtückischen Angriff auf ihn an. Unsichtbare Dinge schlichen durch den Wald. Er hörte Geräusche, die nicht da waren, und sah hundert Gefahren, die in der Dunkelheit des Waldweges auf ihn lauern mochten; ein umgestürzter Baum, der auf dem Weg lag und den er zu spät entdeckte, um noch ausweichen zu können. Hervorstehende Äste, die sich wie Speere durch sein Helmvisier bohrten und ihn aufspießten, Dinge mit Zähnen und Krallen, die ihn aus den Schatten heraus ansprangen. Seine Fantasie war in diesem Punkt erstaunlich flexibel. Schließlich hatte er sie mehr als zwei Jahrzehnte lang sorgsam darauf trainiert, auch noch auf das abwegigste Was-wäre-wenn zu kommen. Mike lauschte in sich hinein. Sein Herz schlug ganz ruhig. Er hatte keine Angst. Nicht wenige der Gefahren, die in einer schier endlosen Aufzählung an seinem inneren Auge vorbeizogen, verlangten, ernst genommen zu werden, aber es waren reale Gefahren, die zum realen Leben gehörten. Nicht mehr die gestaltlose Angst vor der Angst, die ihn fast vierzig Jahre lang gequält hatte. Er hatte gewonnen. Mike lächelte. Er fühlte sich frei. Endlich frei! Fast behutsam fuhr er los. Der Motor der Intruder lief gleichmäßig und ruhig. Er hatte es nicht eilig. Stefan und Frank würden unten an der Straße auf ihn warten; es gab keinen
Grund, irgendein Risiko einzugehen. Der Waldweg war so dunkel und schattig, wie er ihn in Erinnerung hatte, aber nicht annähernd so lang. Nach kaum einer Minute tauchte das Ende der asphaltierten Straße vor ihm auf, und damit die Hügelkuppe, hinter der die steinige Gefällestrecke begann. Mike schaltete herunter, ließ die Intruder ausrollen und näherte sich der Kuppe fast im Schritttempo. Dass er die Dämonen aus seiner Vergangenheit besiegt hatte bedeutete nicht, dass er auch automatisch zum Motocross-Profi mutiert war. Keine Angst zu haben war schließlich etwas ganz anderes, als alle Vorsicht über Bord zu werfen. Mike lenkte das Motorrad behutsam über die Kuppe und von einer Sekunde auf die Nächste war alles anders. Im Halbdunkel vor ihm stand der Indianerjunge, und er war kein Gespenst mehr, kein Dämon mit glühenden Augen und Gliedern, die dem Licht keinen Widerstand boten, sondern real und körperlich. Außerdem stand er weniger als zwei Meter vor ihm und unmittelbar in der Fahrspur, sodass ein Ausweichen nicht mehr möglich war. Mike versuchte es trotzdem. Er trat hastig auf die Bremse, riss die Maschine herum und versuchte gleichzeitig die Kontrolle über die Intruder zu behalten und dem Jungen auszuweichen. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Unter dem blockierenden Hinterrad des Motorrades spritzten Sand und Steine hoch. Der Motor brüllte auf, als Mike brutal und ohne zu kuppeln den ersten Gang hineintrat, um die Wirkung der Bremsen noch zu verstärken, was vollkommen sinnlos war: Beide Räder der Maschine blockierten ohnehin schon, doch sie schlitterte trotzdem unaufhaltsam weiter. Mike spürte, wie sich der Schwerpunkt der Maschine immer weiter neigte. Ein Sturz war nicht mehr zu vermeiden - und er würde zu spät kommen. Das Schrecklichste aber war, dass der Junge einfach dastand
und ihm lachend entgegensah. Er schien nicht etwa gelähmt vor Schrecken oder die Gefahr, in der er schwebte, nicht zu begreifen. Er stand einfach nur da und grinste Mike an. Ein glänzender Faden lief an seinem Kinn herab, und in seinen Augen loderte ein böses, durch und durch nicht dämonisches Feuer, die pure Schadenfreude über den gemeinen Streich, den er Mike gerade spielte. Er machte nicht einmal einen Versuch, dem heranschlitternden Motorrad auszuweichen. In der nächsten Sekunde hätte er es auch nicht mehr gekonnt. Das Vorderrad der Intruder traf ihn mit unbarmherziger Gewalt und schleuderte ihn zu Boden. Alles schien noch langsamer zu geschehen, als hätte eine perfide Macht die Zeit noch mehr verlangsamt, damit Mike auch nicht das geringste grässliche Detail entging: Die Maschine kippte, aber noch stürzte sie nicht, sondern rollte weiter, obwohl ihm der Anprall den Lenker aus der Hand geprellt hatte. Eine grausame Laune des Schicksals wollte es, dass der Junge nicht davongeschleudert wurde, was ihm vielleicht noch eine winzige Überlebenschance gegeben hätte, sondern mit weit ausgebreiteten Armen auf den Rücken fiel. Das Motorrad schlitterte weiter, walzte mit seinen mehr als vierhundert Pfund über den zerbrechlichen Kinderleib hinweg und kippte schließlich über den Punkt hinaus, an dem die Erdanziehung der Fliehkraft überlegen war. Mike wurde regelrecht aus dem Sattel katapultiert, rollte sich instinktiv zu einem Ball zusammen und prallte so hart auf, dass er fast das Bewusstsein verlor. Etwas schrammte knirschend über seinen Helm, und von irgendwo her - unendlich weit entfernt und auf eine sonderbar distanzierte Art erschreckend - hörte er das Klirren von Glas und einen dumpfen, metallischen Aufprall. Er hatte nicht das Gefühl, tatsächlich das Bewusstsein verloren zu haben. Sein Zeitgefühl erfuhr keine Unterbrechung, aber für ein oder zwei Sekunden schien er von jeglichen Sinneseindrücken abgeschnitten zu sein. Das Geräusch, mit dem sich das Motorrad in den Fels rammte, verklang nicht auf
normale Weise, sondern war einfach von einem Moment zum anderen nicht mehr da. Der Felsen neben seinem Gesicht verschwand, um eine Sekunde später und ein wenig versetzt wieder aufzutauchen. Es war wie ein unsauberer Schnitt in einem Film. Vielleicht der Moment, den die Zeit brauchte, um wieder zu ihrem normalen Verlauf zurückzukehren. Vielleicht auch die Zeit, die Mikes Bewusstsein brauchte, um die Halluzination abzuschütteln und wieder in die Realität zurückzufinden. Mike blieb eine weitere Sekunde reglos und mit angehaltenem Atem auf dem Rücken liegen und lauschte in sich hinein. Er hatte keine Schmerzen. Das hatte nichts zu bedeuten, wie er wusste. Er war in seinem Leben noch nie ernsthaft verletzt worden, aber er wusste, dass Menschen schon mit den schrecklichsten Verletzungen aufgestanden und fröhlich herumspaziert waren, ohne auch nur das Geringste zu spüren. Ein ganz normaler Schutzmechanismus, den die Natur entwickelt hatte, damit auch Dummköpfe wie er wenigstens die Chance bekamen, Extremsituationen zu überleben. Er konnte Knochenbrüche davongetragen haben, möglicherweise auch Schlimmeres. Aber er atmete. Sein Herz schlug, er konnte sehen, und als er es versuchte, konnte er sich auch bewegen; und das war im Moment alles, was zählte. Das und der Junge, den er überfahren hatte. Mike stemmte sich auf die Ellbogen hoch und drehte langsam, Millimeter für Millimeter, den Kopf, und seine letzte, verzweifelte Hoffnung zerplatzte. Es war keine Einbildung gewesen. Kein letzter böser Streich, den ihm seine Fantasie gespielt hatte. Der Junge lag zwei Meter entfernt auf der Seite. Er hatte sich fast zu einer Fötus-Haltung zusammengerollt, nur sein linker Arm, der gebrochen sein musste, stand in unnatürlicher Haltung von seiner Schulter ab. Vielleicht war es ja wirklich nur der Arm. Großer Gott, lass es nur den Arm sein, bitte nicht mehr als den Arm! Er war über
etwas ... Weiches gefahren, etwas, das schon unter dem Gewicht des Vorderrades zerbrochen war, aber vielleicht war es ja wirklich nur die Schulter gewesen. Oder eine Rippe. Mike stemmte sich in die Höhe, biss die Zähne zusammen, als nun doch ein stechender Schmerz durch seine Hüfte schoss, und humpelte auf den reglos daliegenden Jungen zu. Warum bewegte er sich nicht? Warum schrie er nicht oder stöhnte wenigstens? Er erreichte den Jungen, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und streckte die Arme aus, aber er wagte es nicht, ihn zu berühren. Der Junge bewegte sich noch immer nicht. Der Boden um ihn herum war voller Blut. Mike sah noch etwas, etwas, das so grässlich und zugleich so bizarr war, dass er einen kleinen, keuchenden Laut ausstieß: Das Gewicht des Motorrades hatte den Jungen regelrecht in den Boden gepresst. Wenn er ihn bewegte, dann mussten seine Umrisse deutlich sichtbar zurückbleiben, in den Boden gestanzt wie die Silhouette von Karl Coyote, der bei seiner endlosen Jagd nach dem Roadrunner wieder einmal von einer meilenhohen Felswand gestürzt war. Es war ein vollkommen idiotisches Bild, aber es stieg ganz unwillkürlich in Mike auf, so bizarr erschien ihm die Situation. Das alles passiert nicht wirklich, dachte er hysterisch. Der Junge war nicht wirklich da! Er konnte es nicht sein. Es war ganz und gar ausgeschlossen, dass er zufällig hier aufgetaucht war. Die Chancen für einen solchen Zufall waren astronomisch gering. Lass ihn nicht da sein. Bitte, bitte Gott, auch wenn ich nicht an dich glaube, lass ihn nicht da sein! Mit aller Willenskraft führte er die Bewegung zu Ende und berührte weiches, nasses Fleisch. Mike keuchte vor Entsetzen, beugte sich jedoch trotzdem weiter vor und griff auch nach der anderen, verletzten Schulter des Jungen, um ihn auf den Rücken zu drehen. Es war, als hätte er einen Sack voll nassen Mehls und loser
Knochen umgedreht. Die Schultern des Jungen lösten sich aus der Vertiefung, die sein Körper in den Boden gerammt hatte. Sein Kopf, der nahezu abgerissen war, pendelte ein paar Mal hin und her, als wolle er seine Missbilligung darüber zum Ausdruck bringen, so roh aus seinem Bett gerissen zu werden. Die Suzuki musste ihn tatsächlich zur Gänze überrollt haben, und Mike stöhnte erneut und noch lauter, als er sah, was der Motorblock oder vielleicht auch die Kette seinem Gesicht angetan hatte. Der Junge war tot, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Mike zog die Hände wieder zurück, starrte in das zerstörte Gesicht des Jungen und wartete darauf, dass das Entsetzen zuschlug. Aber es kam nicht. Er spürte ... nichts. Wo gerade noch Schock, Unglauben und verzweifelte widersinnige Hoffnung gewesen waren, spürte er jetzt nur noch eine bodenlose, saugende Leere. Der Junge war tot! Es war real, keine Halluzination, die ihm ein Feind geschickt hatte, der vielleicht doch noch nicht so vollkommen besiegt gewesen war, wie er sich eingebildet hatte. Das hier war wirklich. Der Junge war tot, und er hatte ihn umgebracht, so einfach war das. Mike stand auf, drehte sich um und schloss für einen Moment die Augen. Die Leere in ihm blieb. Es war fast unheimlich still. Er wartete darauf, dass irgendetwas geschah, jemand kam, sich etwas regte. Es blieb still. Nach einigen weiteren Sekunden öffnete er die Augen wieder, drehte sich abermals um und sah wieder auf den Jungen hinab, der immer noch da war. Zum ersten Mal fragte er sich, wo der Junge hergekommen war, was er hier tat, ausgerechnet hier und noch dazu allein. Es konnte kein Zufall sein, das war einfach unmöglich. Nicht einmal ein total bescheuerter Indianer würde einen Fünfjährigen allein durch die Wüste marschieren lassen. Der Junge hatte eindeutig auf ihn gewartet. Natürlich hatte er nicht vorgehabt, sich überfahren zu lassen, sondern eher, ihm einen
Riesenschrecken einzujagen. Vermutlich hatten sein Vater und er ihn und seine Freunde die ganze Zeit über beobachtet und sich insgeheim darauf gefreut, ihm dabei zuzusehen, wie er sich ablegte. Ja, hatten sie nicht diesen Weg hierher beschrieben? War das alles geplant gewesen? Es hatte wunderbar geklappt, dachte Mike kalt. Bis auf den kleinen Schönheitsfehler, dass der Junge jetzt tot war. Und auch er, Mike, würde es bald sein - wenigstens, was seine bisherige Existenz betraf. Mike hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie diese Geschichte weitergehen würde. Was ihm bevorstand, war im allerbesten Fall eine wochenlange, hochnotpeinliche Untersuchung. Endlose Verhöre in einer Sprache, die er nicht beherrschte, der Ansturm von Reportern und Fernsehleuten, Besuche von seinem Anwalt und - vielleicht - eine Rückkehr in ein Leben, das sich in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte. Aber diese Vorstellung war ... naiv. Realistischer war, dass sie ihn lynchen würden, entweder gleich oder später, vor Gericht und laufenden Fernsehkameras. Er konnte sich gut vorstellen, welches Bild sie von ihm zeichnen würden, dem reichen Touristen, der sich und seinen Freunden einen Trip in die USA spendierte und so ganz nebenbei ein unschuldiges und noch dazu offensichtlich behindertes Kind überfuhr. Wahrscheinlich würden sich sogar Zeugen finden, die aussagten, dass er schon am Tag zuvor Streit mit dem Vater des Jungen gehabt hatte. Falls er jemals wieder aus dem Gefängnis kam, war er wahrscheinlich fünfundsiebzig, seine Karriere vernichtet und er selbst ein körperliches und geistiges Wrack. Nein. Es war einfach nicht fair! Der Junge wurde nicht wieder lebendig, wenn man ihn, Mike, ins Gefängnis warf und sein Leben ruinierte. Er und sein Vater hatten ein böses Spiel getrieben und gar nicht begriffen, wie sehr sie den Einsatz erhöht hatten. Aber er, Mike, würde nicht dafür bezahlen! Mike drehte sich einmal um seine Achse und sah sich dabei
aufmerksam um. Er war allein. Zweifellos war der Vater des Jungen irgendwo in der Nähe, aber wäre er hier gewesen, dann hätte er ihm vermutlich längst den Schädel eingeschlagen. Mikes Gedanken arbeiteten plötzlich so kalt und präzise wie ein Computer. Er hatte durchaus eine Chance, davonzukommen. Keine besonders große, aber sie war da. Und er hatte nichts zu verlieren. Es spielte keine Rolle, ob er sich freiwillig stellte oder sie ihn irgendwann aufspürten. Sie würden ihn so oder so massakrieren. Mike ging zu seinem Motorrad und unterzog die Maschine einer kritischen Musterung. Der Schaden war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Der Scheinwerfer war zerborsten, und die Scheibe hatte einen hässlichen Riss, aber das waren auch schon alle sichtbaren Beschädigungen, die er auf Anhieb erkennen konnte. Mit einiger Mühe wuchtete er die Maschine in die Höhe, kippte sie auf den Ständer und versuchte den Motor zu starten. Was er kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah: Der Motor sprang auf Anhieb an und lief ruhig und gleichmäßig. Die Seite, auf die die Intruder gefallen war, war verbeult. Chrom und Lack sahen aus, als hatte man sie mit Sandpapier bearbeitet. Aber sie war fahrbereit. Er ließ den Motor laufen, ging zu dem toten Jungen zurück und verwarf den Gedanken, die Leiche irgendwie zu beseitigen, augenblicklich wieder. Es war vollkommen unmöglich. Der Boden hier bestand unter der ersten Lehmschicht aus Felsen, den er schon hätte sprengen müssen, und ihm würde niemals genug Zeit bleiben, den Jungen in den Wald hinaufzutragen und zu vergraben. Sein Vater musste jeden Moment hier auftauchen, und wenn nicht er, dann würden sich Stefan und Frank irgendwann fragen, wo er eigentlich blieb, und zurückkommen. Außerdem war hier alles voller Blut. Er hätte einen Dampfstrahler gebraucht, um den Boden und die Felsen zu säubern. Mike ging zum Mo-
torrad zurück, nahm im Sattel Platz und fuhr los. Frank und Stefan warteten am vereinbarten Ort auf ihn. Sie hatten ihre Maschinen am gegenüberliegenden Straßenrand abgestellt, saßen aber noch in den Sätteln, und die Motoren liefen. Vermutlich wagte es Stefan nicht, sie abzustellen, aus Angst, dass sie nicht wieder anspringen würden. Mike fuhr sehr vorsichtig. Auf den ersten zwei- oder dreihundert Metern war er in einem halsbrecherischen Tempo gerast, das vermutlich nicht einmal Stefan geschafft hätte, gepackt von der ebenso grundlosen wie absurden Furcht, der Vater des toten Jungen könne plötzlich doch noch auftauchen und sich auf ihn stürzen. Es grenzte an ein Wunder, dass er nicht abermals die Kontrolle über die Intruder verloren hatte und gestürzt war. Mittlerweile hatte er jedoch alle Mühe, sich überhaupt noch im Sattel zu halten. Seine Hüfte schmerzte so sehr, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh, und er hatte sich wohl zahlreiche Prellungen und Hautabschürfungen zugezogen. Trotzdem war er fast dankbar für die Schmerzen. Sie machten das Fahren zur Qual, aber sie lenkten ihn auch ab. Die zweifache Anstrengung, den Schmerz irgendwie zu unterdrücken und zugleich das Motorrad in der Gewalt zu behalten, ließ nicht mehr sehr viel Platz für andere Gedanken. Er balancierte die Intruder (Intruder! Großer Gott, was für eine Ironie! Eindringling!) vorsichtig auf die Straße hinaus und hätte ausgerechnet auf dem letzten, asphaltierten Stück beinahe doch noch das Gleichgewicht verloren. Als Frank ihn erblickte, schrak er merklich zusammen. Stefan riss die Augen auf und war für die gleiche Zeitspanne einfach fassungslos - dann kippten beide gleichzeitig ihre Maschinen auf die Ständer und kamen ihm zu Fuß entgegengeeilt. »Was ist passiert?«, stieß Stefan hervor und griff nach dem Lenker, falls Mike im letzten Moment doch noch die Gewalt
über die Maschine verlieren sollte. »Bist du verletzt?«, keuchte Frank. »Das seht ihr doch«, murmelte Mike. Erleichtert nahm er die Hände vom Lenker und richtete sich ein wenig auf. Erst jetzt spürte er, wie schwer es ihm auf den letzten Metern tatsächlich gefallen war, die Kontrolle zu behalten. Sein Rücken fühlte sich an, als würde er im nächsten Moment einfach in der Mitte durchbrechen. Stefan packte fester zu, und Frank eilte um die Maschine herum und griff nach seinem Arm, um ihn zu stützen, als er abstieg. Mike riss sich los und schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Danke.« Etwas in seiner Stimme oder in seinem Blick schien Frank bis ins Innerste zu erschrecken. Er wich zwei volle Schritte zurück und sah für einen Moment einfach nur hilflos aus. Dann fragte er noch einmal: »Was ist passiert?« »Ich bin gestürzt«, antwortete Mike. »Aber es sieht schlimmer aus, als es ist. Keine Sorge. Ich bin okay.« Das war er nicht. Nicht körperlich und von seiner Psyche ganz zu schweigen. Frank schien das wohl auch so zu sehen, denn er legte den Kopf auf die Seite und maß ihn mit einem sehr langen, sehr besorgten Blick von Kopf bis Fuß, dann zog er eine Grimasse. »Du siehst schrecklich aus.« »So fühle ich mich auch«, murmelte Mike. »Aber im Ernst: Es ist nicht schlimm. Ein paar Schrammen, mehr nicht.« »Wenn sie so schlimm sind, wie die an deiner Kiste«, fügte Stefan hinzu, »dann sind sie schlimm genug. Ein Wunder, dass das Ding noch läuft.« Er schob das Motorrad an den Straßenrand, stellte es ab und betrachtete abwechselnd die zerbeulte Suzuki und ihren kaum weniger mitgenommenen Fahrer. »Wie sieht es aus?«, fragte Mike. »Schafft sie es noch bis zum Hotel?« »Sie schon, aber wie sieht es mit dir aus?«, wollte Frank
wissen. »Was ist denn nur passiert?« »Keine Ahnung«, behauptete Mike. »Es ging viel zu schnell. Ich muss wohl einen Stein übersehen haben oder ein Schlagloch. In der einen Sekunde saß ich noch im Sattel, und in der nächsten lag ich auf der Nase. Aber es hätte schlimmer kommen können.« Frank überwand seinen Schrecken endlich und trat mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, aber Mike machte eine so hastige, abwehrende Bewegung, dass er wieder stehen blieb und ihn erneut mit einer Mischung aus Schrecken und Verständnislosigkeit ansah. »He, ich will dir doch nur helfen!« »Das brauchst du nicht«, schnappte Mike. Die vollkommen grundlose Feindseligkeit in seiner Stimme überraschte ihn selbst, aber vielleicht war es ganz gut so. Was er am allerwenigsten hatte, war Zeit. Es machte nichts, Frank vor den Kopf zu stoßen, wenn die Alternative bedeutete, endlose Minuten hier herumzustehen und immer wieder zu beteuern, dass nichts passiert war. Bevor Frank sich daran erinnern konnte, dass er nicht nur sein ältester Freund war, sondern auch der vielleicht sturste Mensch, den er je kennen gelernt hatte, drehte er sich mit einem Ruck zu Stefan um, ließ sich ächzend in die Hocke sinken und tat so, als interessiere ihn wirklich, was dieser an der demolierten Susi tat. »Kriegst du sie hin?« »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn wir die Karren wieder abliefern«, antwortete Stefan, nickte aber zugleich und fügte etwas leiser hinzu: »Ich denke schon. Wenigstens provisorisch, damit wir weiterfahren können. Bis zum Hotel hält sie schon durch. Die Frage ist - hältst du so lange durch.« »Verdammt, hört endlich auf, euch meinen Kopf zu zerbrechen«, fuhr ihn Mike an. »Ich bin in Ordnung. Und selbst wenn nicht - wir können ja schlecht mitten in der Wüste
sitzen bleiben und darauf warten, dass ein Wunder geschieht.« »Ich könnte zurück nach Cameron fahren und einen Krankenwagen holen«, schlug Frank vor. »Das dauert zehn Minuten.« Prima Idee, dachte Mike. Und bring die Cops gleich mit. Er stand auf. Sein Bein und sein Rücken quittierten die unüberlegt schnelle Bewegung mit einer derartigen Schmerzattacke, dass er gequält aufstöhnte und für eine Sekunde ins Taumeln kam. Er hatte sich fast sofort wieder in der Gewalt, aber eben nur fast und eindeutig nicht schnell genug, damit die beiden anderen nichts bemerkten. »Es geht schon«, murmelte er. »Wirklich. Gebt mir zehn Minuten, und ich bin wieder in Ordnung.« »Aber klar«, sagte Frank. »Und morgen früh kletterst du mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen den Grand Canyon hinunter.« »Wenn du darauf bestehst.« Mike machte einen vorsichtigen Schritt. Es tat weh, wobei er den Schmerz nicht genau lokalisieren konnte. Aber er konnte sich bewegen, und er war ziemlich sicher, sich weder etwas gebrochen zu haben noch vielleicht innerlich schwer verletzt zu sein. Spätestens morgen früh würde er vor Schmerzen wahrscheinlich aufheulen, wenn er sich aus dem Bett quälte, aber das spielte keine Rolle solange es ein Hotelbett war und nicht die Pritsche einer Gefängniszelle. »Hört endlich auf, mich zu bemuttern, zum Teufel noch mal! Wenn ihr euch so große Sorgen um mich macht, dann frage ich mich, warum ihr eine halbe Stunde hier herumgestanden und auf mich gewartet habt, statt zurückzukommen.« Das war unfair, und das sollte es auch sein. Ein kleiner Streit war vielleicht das Einzige, was ihm jetzt noch half, endlich von hier wegzukommen, bevor der Vater des toten Jungen auftauchte.
»Ich habe gedacht, du wärst zurückgegangen, um deine Zigaretten zu holen«, sagte Frank ernst. Er klang leicht verärgert, aber auch resignierend. »Aber gut, ganz wie du willst. Du bist schließlich alt genug, um zu wissen, was du tust.« Um ein Haar hätte Mike schrill aufgelacht. Du bist schließlich alt genug, um zu wissen, was du tust. Was für ein Witz! Großer Gott, was für ein köstlicher Witz! Und konnte es sein, dass er ein Lachen hörte, ein hohes, gehässiges Lachen wie aus weiter Ferne? Mike war alles andere als nach Lachen zu Mute. Er sagte kein Wort mehr, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und starrte in die tiefer werdende Dunkelheit hinein. Zwischen den Bäumen glaubte er ein grünes Leuchten zu erkennen, doch es mochten auch die Lichtreflexe der Sonne sein, die sich anschickte, unterzugehen und den ersten Tag ihrer Reise zu beenden.
Ende des ersten Tages. Fortsetzung folgt
BASTEI LUBBE TASCHENBUCH Band 14801 l Auflage Oktober 2002 Vollständige Taschenbuchausgabe Lektorat Stefan Bauer Titelbild ReneDurand Umschlaggestaltung Van De Schans GmbH, Werbeagentur, Mulheim an der Ruhr Satz KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung Eisnerdruck, Berlin Printed in Germany
ISBN 3-404-14801-0
Zweiter Tag Der Junge hatte kein Gesicht mehr. Wo es gewesen war, gähnte eine schreckliche, nasse rote Wüste, in der der Mund und die leeren Augenhöhlen blutige Krater bildeten. Auf seinem fast skalpierten Schädel waren nur noch wenige, blutige Haarbüschel, dafür umflatterten ihn losgerissene Hautfetzen wie ein neuer, grässlicher Haarkranz. Als sich der Junge bewegte, rollte der fast abgerissene Schädel haltlos von einer Seite auf die andere. Mike war sich in jeder Sekunde der Tatsache bewusst, dass er träumte, aber anders als in einem normalen Albtraum half ihm dieses Wissen nicht, den Traum abzuschütteln. Im Gegenteil: Es machte ihm nur klar, dass er vollkommen hilflos war. Ausgeliefert. Der tote Junge torkelte wie ein Betrunkener auf ihn zu, langsam und in einem scheinbar ziellosen Hin und Her, aber trotzdem unaufhaltsam näher kommend. Er war nicht betrunken. Er war tot, überrollt und in den Boden gerammt von vierhundert Pfund Stahl und Chrom, und seine zerbrochenen Knochen und gerissenen Muskeln ließen sich nicht mehr richtig koordinieren. Er näherte sich nur langsam, aber er kam näher. Mike andererseits war nicht fähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Er blinzelte nicht. Er atmete nicht, und auch sein Herz schlug nicht. In der trostlosen Albtraumwelt, in der er gefangen war, war Leben nicht möglich, denn es war das Land der Toten, eine graue Einöde unter einem sonnenlosen Himmel, in der die Zeit keine Bedeutung hatte und in der nur die Furcht regierte Das Andere Land der Anasazi. Er wusste, dass etwas unvorstellbar Grauenhaftes geschehen würde, wenn der tote Junge ihn berührte, nicht nur in diesem Traum, sondern auch in der Wirklichkeit, von der er so weit
entfernt war wie ein Tiefseefisch vom heißen Herzen der Sonne. Der tote Junge kam unaufhaltsam näher. Mike wollte schreien, aber auch das konnte er nicht. Hilf- und regungslos musste er zusehen, wie sich die Albtraumgestalt in einem torkelnden Zickzack auf ihn zuschleppte, wobei sie schmierige rote Fußabdrücke auf dem Boden hinterließ. Sie hob die Arme, um nach ihm zu greifen. Ihr linker Arm führte die Bewegung auch gehorsam aus, aber der andere war im Ellbogengelenk gebrochen, der Oberarm bewegte sich schief in der zerschmetterten Schulter, der Unterarm und die Hand pendelten haltlos hin und her. Die andere Hand hatte nur noch zwei Finger, die drei anderen waren abgerissene blutige Stümpfe, die sich unaufhaltsam Mikes Gesicht näherten. Sie rochen nach Blut, nach warmem Fleisch, heißem Metall und Öl, und gerade, als sie sein Gesicht zu berühren drohten schlug er die Augen auf und fand sich schweißgebadet und mit hämmerndem Puls auf der anderen Seite der Albtraumbarriere wieder Jetzt konnte er atmen Sein Herz schlug so hart, dass es wehtat, und sein Hals schmerzte, als hätte er laut geschrien. Frank saß in Unterhemd und Shorts neben ihm auf der Bettkante, hatte den rechten Arm aufgestützt und blickte auf eine Art auf ihn herab, die Mike mehr als nur unangenehm war. Er sah müde aus, aber auch sehr besorgt, und es war genau diese Mischung, die Mike die Situation peinlich erscheinen ließ. »Alles in Ordnung?«, fragte Frank. Seine Stimme war die eines besorgten (und leicht übermüdeten) Vaters, der die ganze Nacht am Bett seines kranken Kindes Wache gehalten hatte. Nichts war in Ordnung, rein gar nichts. Und es würde auch nie wieder in Ordnung kommen Mike nickte trotzdem, richtete sich benommen auf und sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. Er versuchte erst gar nicht, die Quelle der einzelnen Schmerzen zu lokalisieren, die durch seinen Körper schossen. Keiner war für sich genommen besonders schlimm, aber
zusammen waren sie die reinste Qual. Mike musste sich stark beherrschen, um nicht laut aufzustöhnen. »Ich glaube, ich ziehe die Frage lieber zurück«, sagte Frank »Und die nächste stelle ich erst gar nicht. « »Ob ich gut geschlafen habe?« Mike unterdrückte im letzten Moment den Impuls, den Kopf zu schütteln. Seine Schläfen pochten unangenehm. Wenn er sich zu heftig bewegte, würde sein Schädel vermutlich explodieren wie ein Behälter voller Nitroglycerin. »Habe ich etwa geschrien?« Frank grinste »Sagen wir lieber gequietscht. Wundert mich kein bisschen. Kaffee?« »Was für eine Frage Du weißt doch, dass ich vor meinem ersten Kaffee kein Mensch bin. « »Vor deiner ersten Kanne, meinst du. « Frank stand auf und angelte in der gleichen Bewegung nach seiner Hose, die er wohl gestern Abend achtlos fallen gelassen hatte. Jedenfalls nahm Mike das an - obwohl er sich nicht mehr genau daran erinnern konnte, wie er ins Hotelzimmer gekommen war, geschweige denn aus seinen Kleidern und ins Bett. Er hatte das unbehagliche Gefühl, dass Stefan und Frank ihn ausgezogen und wie ein krankes Kind zu Bett gebracht und zugedeckt hatten, aber er hütete sich, eine entsprechende Frage zu stellen. Während Frank umständlich in seine Hose schlüpfte und sich dann an der Kaffeemaschine auf der Anrichte zu schaffen machte, stemmte er sich mit zusammengebissenen Zähnen weiter in die Höhe, schlug die Decke zur Seite und schwang behutsam die Beine aus dem Bett. Für einen Moment war er nicht ganz sicher, ob er wirklich aufgewacht oder nur von einem Albtraum in einen anderen gewechselt war. Sein komplettes linkes Bein war ein einziger Bluterguss. Das Knie sah aus wie ein schief aufgeblasener Fußball, und sein Knöchel war auf das annähernd Doppelte des normalen Umfanges angeschwollen. Der Fuß war von den
Zehen bis hinauf zur Wade bandagiert. So viel zu seiner Frage: Er hatte sich diesen Verband ganz bestimmt nicht angelegt. Die Vorstellung, dass ihn seine beiden Freunde ausgezogen und wie eine Mumie eingewickelt hatten, war ihm peinlich - aber was hatte er erwartet? Dass sie ihn in eine Ecke legten und zusahen, wie er still vor sich hin blutete? Er unterzog seinen Körper einer gründlichen Inspektion und fand genau das, was er erwartet hatte. Ein halbes Dutzend weiterer Verbände und Pflaster und eine Unzahl kleinerer Schrammen, Hautabschürfungen und blauer Flecken. Aber wenigstens war er nicht schwer verletzt, was ihm bei der Wucht, mit der er auf die Felsen geschlagen war, fast wie ein kleines Wunder erschien. Der Gedanke war ein Fehler, denn er brachte die Erinnerung an den vergangenen Abend und seinen Sturz zurück. Für einen kurzen Moment drohte er den Halt im Hier und Jetzt zu verlieren und sich wieder in dem Grauen zu verlieren, in das er in seinem Traum abgeglitten war. Er schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Selbst diese kleine Bewegung tat weh. Seine Muskeln waren verspannt. Er hatte geruht, sich aber nicht wirklich erholt. »Ich schätze, wir fahren heute nirgendwo mehr hin«, sagte Frank. »Da sollten wir mit dem Hotel-Kaffee sparsam umgehen - eh, schau dir das an: Eine Filtertüte mit eingebautem Kaffee! Das nenne ich praktisch!« Er wedelte mit einer runden Papierscheibe, die genau die Form des dazugehörigen Filteraufsatzes hatte und offensichtlich mit Kaffeepulver gefüllt war. »Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, murmelte Mike. Er stand auf und biss die Zähne zusammen, als ein schmerzhafter Stich durch seinen geprellten Knöchel fuhr. Gottlob war es der Linke. Sein Schaltfuß, nicht der, den er zum Bremsen brauchte. Was für ein alberner Gedanke.
»Es wird schon irgendwie gehen«, sagte er. »Wie war das doch gleich? Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter. War das nicht dein Lieblingsspruch?« »Zur der Zeit, als sich Neandertaler und Homo sapiens um die Vorherrschaft auf unserer schönen Welt stritten und ich meine Artikel noch in Steintafeln meißelte.« Frank zuckte mit den Schultern. »Ich weiß zwar, dass es sinnlos ist: Aber geh zum Arzt.« »Stefan ist doch Arzt«, knurrte Mike. »Zahnarzt«, korrigierte Frank. »Du kannst überhaupt von Glück reden, dass er genug von Notfallmedizin versteht, um dir wenigstens grundlegend helfen zu können. Aber ob du innere Verletzungen davongetragen hast oder nicht - das kann er ohne Ultraschall und den ganzen Röntgenkrempel nicht präziser beantworten, als wenn er das Orakel von Delphi befragen würde.« »Erst die Neandertaler und jetzt das Orakel von Delphi«, murrte Mike. »Du bist ein wandelnder Anachronismus.« »Und du ein in Mullbinden eingeschlagenes Fremdwörterlexikon.« Frank schüttelte den Kopf. »Es geht diesmal nicht darum, mit ein paar flotten Wortspielen einen deiner Romane noch ein bisschen spannender zu machen. Es geht darum, ob du unsere Tour durch halb Amerika unbeschadet überstehst.« Er machte eine kleine Kunstpause. »Ich habe mich erkundigt. Es gibt einen Doc im Nachbarhotel.« Prima Idee, dachte Mike. He, Doc, flicken Sie mich doch mal auf die Schnelle zusammen. Und wo Sie schon mal dabei sind: Ein paar Meilen von hier liegt ein Indianerjunge, den ich mit meiner Maschine in den Boden gerammt habe. Der braucht zwar keinen Arzt mehr, aber Sie könnten seine Einzelteile aufsammeln. Wirklich, eine prima Idee! Mike drehte sich einfach herum und humpelte mit zusammengebissenen Zähnen in das winzige Bad, das zu dem nicht nennenswert größeren Hotelzimmer gehörte. Er war noch
immer nicht vollkommen zurück in der Wirklichkeit: Er betätigte den Lichtschalter, und in dem sekundenlangen Flackern, das dem gleißenden Licht der Neonröhre vorausging, glaubte er eine kleinwüchsige Gestalt zu erkennen, die bewegungslos dastand und ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Sie existierte nur in den fast nicht messbaren Momenten der Finsternis zwischen den einzelnen Schaltimpulsen der Lampe und war selbst da nicht mehr als ein schwacher Schemen. Mike gestattete sich nicht, die Vision ernst zu nehmen und Angst zu haben, sondern trat mit einem entschlossenen Schritt mitten durch die Chimäre hindurch und drehte die Dusche mit einem Ruck bis zum Anschlag auf. Es war ein Schock. Das Wasser war so kalt, dass sein Herz mit einem Sprung bis in seine Kehle hinaufzuhüpfen schien und er sekundenlang keine Luft mehr bekam. Aber die Kälte vertrieb auch die Vision. Er begann am ganzen Leib zu zittern und war einfach viel zu sehr damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen, um noch Angst empfinden zu können. Mike blieb mehrere Minuten unter dem eiskalten Wasserstrahl stehen, ehe er begann, die Temperatur ganz allmählich zu erhöhen. Am Ende duschte er so heiß, dass ihm der Wasserstrahl beinahe die Haut verbrannte. Er verbrachte fast eine Viertelstunde unter der Dusche und wäre wahrscheinlich noch länger geblieben, hätte Frank nicht irgendwann an die Tür geklopft und den Kopf hereingesteckt, ohne eine Antwort abzuwarten. »Alles in Ordnung?« »Ja«, antwortete Mike. »Ich suche nur jemanden, der mir den Rücken schrubbt.« »Sag mir Bescheid, wenn du ihn gefunden hast«, grinste Frank. »Der Kaffee ist fertig.« Er ging, ohne die Tür ganz hinter sich zu schließen. Mike drehte die Dusche ab und trocknete sich ausgiebig ab - und sehr vorsichtig. Es ging besser, als er erwartet hatte. Die Wech-
seldusche hatte seine Lebensgeister geweckt und die diversen Schmerzen halbwegs betäubt. Dummerweise hatte er nicht daran gedacht, frische Kleidung mit in die Dusche zu nehmen; also schlang er sich nur ein Handtuch um die Hüften und schlurfte ins Zimmer zurück, wobei er eine nasse Spur auf dem Linoleumboden hinterließ. Anschließend ließ er sich auf die Bettkante sinken, beugte sich ächzend über seine Tasche und kramte saubere Sachen hervor: Jeans, Polohemd und leichte Sportschuhe. Es kostete ihn einige Mühe, sich anzuziehen, aber hinterher fühlte er sich wohler. Frank schlürfte währenddessen geräuschvoll seinen Kaffee und sah ihm stirnrunzelnd, aber schweigend zu. »Wo ist Stefan?«, fragte Mike. Frank machte eine Kopfbewegung zur Tür und goss eine zweite Tasse Kaffee ein. »Draußen. Er schraubt schon seit zwei Stunden an deiner Maschine rum.« »So schlimm?« »Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Reparaturen sind nicht meine Stärke. Ich kann Motorräder nur fahren.« »Ich nicht, willst du damit sagen«, vermutete Mike. Franks Blick blieb vollkommen undeutbar. »Ich will gar nichts sagen«, antwortete er. »Nur, dass ich die Kiste nicht reparieren kann. Aber Stefan meint, er kriegt sie wieder flott mit viel Klebeband, Draht und Improvisationstalent.« »Glaubst du wirklich, dass er sie wieder hinbekommt?« Seine vorhergehende Frage war ihm peinlich. Er konnte sich im Nachhinein kaum noch erklären, warum er sie überhaupt gestellt hatte, denn selbstverständlich hatte Frank nichts mit seinen Worten andeuten wollen. »Keine Ahnung.« Frank blies in seinen Kaffee, nahm einen großen Schluck, verzog das Gesicht, als hätte er versehentlich an einer Tasse mit Salmiakgeist genippt, und nahm gleich darauf einen zweiten, noch größeren Schluck. »Trink deinen Kaffee, und wir sehen nach.«
Mike nahm tatsächlich einen Schluck, und danach wusste er, warum Frank eine Grimasse geschnitten hatte. Er verzog ebenfalls das Gesicht, stellte die Tasse mit spitzen Fingern wieder zurück und stemmte sich ächzend in die Höhe. Sein Knöchel protestierte mit stechenden Schmerzen. Er konnte sein Körpergewicht zwar tragen, aber Mike humpelte sichtbar, während er zur Tür ging. Immerhin: Er ging. »Du willst wirklich nicht zum Arzt?«, fragte Frank hinter ihm. »Ich weiß, du willst es nicht hören, und ich sage es auch nur noch dieses eine Mal: Dir ist schon klar, dass du nicht nur deinen Urlaub aufs Spiel setzt, wenn du so weitermachst, sondern auch unseren?« »Und du setzt deine Schneidezähne aufs Spiel, wenn du nicht sofort das Thema wechselst«, knurrte Mike. »Ich weiß schon, was ich tue.« Er öffnete die Tür, machte einen Schritt nach draußen und kniff erschrocken die Augen zusammen. Das Licht war so grell, dass es im ersten Moment regelrecht wehtat. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er seine Umgebung wirklich erkennen konnte. Mike musste gestehen, dass er sich tatsächlich nicht erinnerte, wie er hierher gekommen war. Der Anblick war ihm vollkommen fremd. Das Motel bestand aus einem halben Dutzend niedriger, mit Holzschindeln gedeckter Blockhütten, die jeweils vier nebeneinander liegende Zimmer beherbergten und sich in typisch amerikanischer Platzverschwendung um einen Parkplatz von den Abmessungen eines Fußballfeldes gruppierten. Am Ende dieses Areals befand sich ein größeres, aus Bruchstein erbautes Gebäude, das vermutlich die Anmeldung und das Restaurant enthielt. Der Name über der Tür sagte Mike nichts - aber er war sich ziemlich sicher, dass es nicht der Name war, der auf seinen Hotelgutscheinen stand. »Wir haben das Billigste genommen, das wir auf die Schnelle
finden konnten«, sagte Frank. Mikes leicht verwirrter Blick war ihm nicht entgangen. »Du warst gestern Abend nicht mehr in der Lage, das Heft mit den Gutscheinen herauszusuchen oder auch nur auf eine Frage zu antworten.« »Das ist in Ordnung«, sagte Mike. »Die Mehrkosten übernehme ich.« Frank winkte ab. »Du würdest nicht glauben, was ein Zimmer hier kostet. Es ist spottbillig.« »Dafür ist es ja auch nicht größer als ein Schuhkarton. Und der Kaffee schmeckt nach Rattengift.« Mike humpelte in die Richtung, in der er Stefan und die drei Maschinen entdeckt hatte. Sie standen nicht direkt vor ihrer Blockhütte, sondern näher zur Anmeldung hin. Ihre Ankunft hier schien tatsächlich ziemlich überstürzt gewesen zu sein. Stefan lag auf der Seite und schraubte fluchend am Hinterrad einer der drei eineiigen Drillinge herum, die ihre Intruder gestern Abend noch gewesen waren. Jetzt waren es nur noch Zwillinge: Mikes Suzuki bot einen Anblick des Jammers. Tank und vorderes Schutzblech waren verbeult, der linke Blinker abgerissen. Frank hatte kein bisschen übertrieben, denn Stefan hatte den Blinker und den ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen Scheinwerfer mit breitem, silberfarbenem Klebeband fixiert, das er Gott-weiß-woher hatte. Die losgerissene Satteltasche hatte er mit Draht festgebunden. Über all die kleineren Schrammen und Blessuren, die Mike auf den ersten Blick entdeckte, wollte er erst gar nicht nachdenken. Totalschaden, dachte er. Genau wie der Junge, den er damit in den Boden gerammt hatte! »Nein, wen haben wir denn da?« Stefan ließ den Schraubenschlüssel sinken und richtete sich in eine halb sitzende Position hoch. »Bist du aus dem Bett gefallen?« Mike sah auf die Uhr, ehe er antwortete. Es war nicht einmal acht. Zu Hause wäre er nach einer durchgearbeiteten Nacht um
diese Uhrzeit gerade in seine erste Tiefschlafphase gefallen. »Dasselbe wollte ich dich gerade fragen.« Stefan grinste und schlug mit seinem Schraubenschlüssel leicht auf den Auspuff der Intruder. Es gab ein helles, metallisches Pling! »Ich habe einen Patienten, wie du siehst.« »Und wie lautet die Diagnose?« »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, antwortete Stefan. »Anscheinend sind keine lebenswichtigen Organe verletzt, und der Patient befindet sich in unerwartet gutem Allgemeinzustand. Die Kiste hält die Tour wahrscheinlich besser durch als du, mach dir keine Sorgen. Allerdings möchte ich nicht in deiner Haut stecken, wenn wir die Maschinen zurückgeben. Unseren Freund aus Phoenix trifft glatt der Schlag.« »Deshalb habe ich ja auch eine Vollkasko abgeschlossen«, knurrte Mike, während sich seine Gedanken überschlugen. Wenn sie nach der Tour mit der notdürftig zusammengeflickten Intruder nach Phoenix zurückkehrten, als wäre nichts geschehen, konnte er genauso gut gleich in die nächste Polizeiwache marschieren und ein Geständnis ablegen. Aber da war noch etwas anderes gewesen, was flüchtig in ihm aufgeblitzt war, als Stefan von ihrer Rückfahrt gesprochen hatte. Etwas, das er auf gar keinen Fall außer Acht lassen durfte. »Warum machst du nicht eine kleine Pause, und wir gehen frühstücken?«, schlug Frank vor. »Lohnt sich nicht.« Stefan setzte sein Werkzeug wieder an. »Ich brauche noch fünf Minuten. Wieso humpelt ihr nicht schon los, und ich komme gleich nach? Einer von euch beiden schuldet mir eine Riesenportion Rühreier mit Speck. Bestellt sie schon mal.« Verdammt, dachte Mike, wie hatte er das nur übersehen können? Es war möglicherweise lebenswichtig. Wenn sie die Reise wie geplant fortsetzten und die Polizei ihm mittlerweile nicht nur auf die Schliche gekommen war, sondern auch noch seine Identität ermittelt hatte, hatten sie ihn in null Komma nichts am
Kanthaken. Das musste er auf alle Fälle vermeiden. Hinter seiner Stirn begann ein irrsinniger Plan Gestalt anzunehmen. Den Plan in die Tat umzusetzen, würde sich vermutlich als nicht so einfach erweisen, aber er hatte einen ganzen Tag Zeit und war sicher, dass sich schon eine Gelegenheit ergeben würde. Alles, was er für Phase Eins brauchte, waren zehn Minuten allein in ihrem Hotelzimmer. Phase Zwei sah dann nichts weiter vor, als erst einmal in einen Nachbarstaat abzutauchen und abzuwarten, ob man in Arizona tatsächlich eine Großfahndung nach ihm einleitete. Sollten sich seine Befürchtungen bewahrheiten und die lokalen Fernsehanstalten über den Fall berichten, würde er improvisieren müssen. Im Notfall konnte er versuchen, sich von einem anderen Bundesstaat aus mit einer x-beliebigen Airline nach Europa abzusetzen. Wie er das in solch einem Fall seinen Freunden begreifbar machen wollte - daran wagte er gar nicht zu denken. Aber wenn es wirklich so weit kommen sollte, würde ihm schon etwas einfallen. Im Augenblick war er schon froh, die paar Schritte zum Empfangsgebäude zu schaffen. Sein Knöchel machte jeden Schritt zur Qual, und zu allem Überfluss begann nun auch noch sein Knie zu pochen. Mike war klar, dass er das Bein unter allen Umständen schonen musste. Ihm war allerdings auch klar, dass er dies unter gar keinen Umständen in Arizona tun durfte. Sie mussten hier so schnell wie möglich weg! »Bereite dich auf einen Kulturschock vor«, sagte Frank, als sie das Gebäude betraten. Mike setzte zu einer entsprechenden Frage an, klappte den Mund dann aber wieder zu, als er sah, was Frank gemeint hatte. Das Foyer entsprach genau dem Bild, das die äußere Erscheinung des Gebäudes suggerierte: Holz und Stein. Gediegene Gemütlichkeit, gepaart mit Hightech. Hinter der Empfangstheke standen drei Angestellte in rot-weißen Fantasie-Uniformen,
daneben führte ein gemauerter Torbogen in einen hoffnungslos überfüllten Souvenirladen. Das alles hätte er erwartet. Was er nicht erwartet hatte, war das Restaurant, das auf der anderen Seite lag. Es hatte die Dimensionen einer Tennishalle und war ungefähr genau so gemütlich. Dutzende von schmalen, plastikbezogenen Bänken drängelten sich um runde Tische, die viel zu klein waren, als dass mehr als zwei oder drei Personen halbwegs bequem daran essen konnten. Die Küche erinnerte an die Massenabfertigung eines McDonald's, nur dass die Auswahl nicht so groß war. Eine lange, dreifache Schlange hatte sich davor gebildet und reichte fast bis zum Eingang. »Oh«, sagte Mike. Frank verzog das Gesicht. »Komisch. Dasselbe habe ich auch gedacht, als ich vorhin hier reingekommen bin. Such dir irgendwo einen Platz. Ich bring dein Frühstück mit. Kaffee und Rühreier?« »Gibt's was anderes?«, fragte Mike ohne viel Hoffnung. »Rühreier und Kaffee«, antwortete Frank ungerührt. »Oder einen Hamburger. Aber davon würde ich dir abraten. Ich hatte schon einen.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Verschwinde schon.« Mike widersprach nicht. Sein Fuß schmerzte heftig. Er war nicht sicher, wie lange der gestauchte Knöchel das Gewicht seines Körpers noch tragen konnte. Und er musste sich schonen! Frank und Stefan wussten noch nichts von ihrem Glück, aber spätestens heute Nachmittag würden sie wieder in den Sätteln sitzen und Arizona auf dem schnellsten Weg verlassen. Er steuerte einen freien Tisch gleich neben der Tür an, setzte sich und legte das verletzte Bein hoch, aber nur für einen Moment - es schmerzte stärker als zuvor, sodass er den Fuß nach Sekunden behutsam wieder zu Boden setzte. Die Schmerzen ließen jetzt rasch wieder nach, aber das synchrone Pochen in Knöchel und Knie wurde eher schlimmer. Er würde noch eine
Menge Spaß mit der Beinverletzung haben! Die Schlange, in die sich Frank eingereiht hatte, rückte nur allmählich vor. Mike schätzte, dass es wahrscheinlich eine halbe Stunde dauern würde, bis er an der Reihe war. Zeit genug, in aller Ruhe über seinen Plan nachzudenken. Es brachte nicht viel. Mike war nie gut darin gewesen, Pläne zu ersinnen oder sich irgendetwas zurechtzulegen, was dann auch wirklich funktionierte. Außerdem gab es zu viele Unbekannte in dieser Rechnung. Er würde wohl oder übel abwarten müssen, was geschah, und dann darauf reagieren - aber das machte ihm keine Angst. Improvisation war schon immer seine Stärke gewesen. Mit ein wenig Glück hatten sie Arizona bereits verlassen, bevor die Polizei herausbekam, wer den Indianerjungen überfahren hatte. Und mit etwas weniger Glück ... Mike verscheuchte den Gedanken. Wenn er Pech hatte, würde er ziemlich viel Zeit haben, darüber nachzudenken, was er falsch gemacht hatte. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre, schätzte er. Er wartete eine Viertelstunde - Frank hatte die Schlange zum Futtertrog mittlerweile ungefähr zur Hälfte abgearbeitet -, bevor er aufstand und ins Foyer zurückhumpelte. Er hatte Glück: Der Hotelangestellte, mit dem er sprach, war des Deutschen ebenso wenig mächtig wie er des Amerikanischen, aber der Mann war offenbar Kummer gewohnt und äußerst geduldig. Es dauerte eine Weile, bis Mike schließlich zu seinem Tisch zurückhumpeln konnte; er hatte bekommen, was er wollte. Kurz darauf kam Frank mit einem hoffnungslos überladenen Tablett auf den Tisch zubalanciert und setzte dieses mit einem gewaltigen Scheppern und Klirren darauf ab. »Du musst dich nicht beeilen«, sagte er. »Das Zeug ist sowieso nicht mehr heiß. Ich weiß nicht, wie, aber irgendwie schaffen sie es hier, Rühreier mit Speck kalt zuzubereiten.« Er setzte sich, begann Kaffeebecher, Besteck und Teller aus Plastik auf
dem Tisch zu verteilen und runzelte die Stirn, als er sich mit der logistischen Aufgabe konfrontiert sah, mehr Teile auf der Tischplatte unterbringen zu müssen, als Platz darauf hatten. Mike humpelte um den Tisch herum, nahm das mittlerweile leere Tablett und lehnte es aufrecht gegen ein Stuhlbein. Frank war ein brillanter Theoretiker, aber manchmal hatte er ein Brett vor dem Kopf, das so dick war wie der Hoover-Damm. »Ist ja gut«, nörgelte Frank. »Sag nichts.« Mike sagte nichts. Er nahm wortlos Platz, arrangierte eine der drei Frühstückportionen, die Frank gebracht hatte, auf seinem Drittel der Tischplatte und begann zu essen. Das Essen war lauwarm, nicht eiskalt, wie Frank behauptet hatte, schmeckte aber ausgezeichnet, und Mike langte so kräftig zu, dass Frank erstaunt die Augenbrauen hochzog. Normalerweise war er es, der sich nicht nur eine extra große Portion bestellte, sondern auch noch die Reste verputzte, die Stefan und Mike übrig ließen. Mike wunderte sich selbst über den gewaltigen Appetit, den er entwickelte - vor allem nach der Nacht, die hinter ihm lag -, aber er aß mit einem wahren Heißhunger und leerte seinen Teller bis zum letzten Krümel. Als er fertig war, hatte Frank nicht einmal die Hälfte seiner Rühreier gegessen, und Mikes Magen knurrte noch immer. »Ich denke, ich hole mir noch was«, sagte er. Frank riss ungläubig die Augen auf. »Hast du gestern vielleicht doch irgendwelche inneren Verletzungen davongetragen?«, erkundigte er sich misstrauisch. »Ein Loch im Magen zum Beispiel?« »Ich habe Hunger«, antwortete Mike. »Das ist alles.« »Also gut«, seufzte Frank. »Ich hole dir noch was.« »Ich gehe selbst.« »Aber dein Bein ...« »... wird schon nicht abfallen«, fiel ihm Mike ins Wort. Er stand auf, bückte sich nach dem Tablett und schaffte es mit Mühe und Not, nicht das Gesicht zu verziehen, als dabei ein
scharfer Schmerz durch sein Knie schoss. Er ging zum Ende der Schlange und reihte sich ein. Sie rückte nur langsam voran, aber er brauchte aus irgendeinem Grund nicht annähernd so lange wie Frank, bis er an der Reihe war. Immerhin reichte die Zeit, um das bohrende Hungergefühl in seinem Magen zu besänftigen. Sein Heißhunger war nicht wirklich Hunger gewesen. Er hatte mehr gegessen, als er sonst in einer ganzen Woche frühstückte, und als er dabei zusah, wie die Bedienung Rührei mit Schinkenstreifen mittels eines fettverkrusteten Spachtels von einer quadratmetergroßen Herdplatte kratzte und lieblos auf einen Plastikteller klatschte, wurde ihm fast übel. Er war nahe daran, seine Bestellung zurückzunehmen und sich mit dem Kaffee zu begnügen, der schon auf seinem Tablett stand, überlegte es sich dann aber doch anders. Auch Stefan war mittlerweile eingetroffen. Er hatte ein frisches Hemd angezogen, seine Hände offensichtlich gründlich mit einer Bürste geschrubbt, und er roch durchdringend nach Seife. Trotzdem war es ihm nicht gelungen, die Spuren seiner frühmorgendlichen Reparaturaktion gänzlich zu beseitigen. Unter seinen Fingernägeln waren schwarze Ränder, und er hatte einen schmierigen Fleck am linken Handgelenk. Als Mike sich zu ihnen an den Tisch setzte, unterbrachen Frank und Stefan ihr Gespräch; hastig und auf eine Art, die ihm klar machte, dass sie über ihn gesprochen hatten. Natürlich hatten sie über ihn hergezogen! Was hatte er erwartet? »Weißt du, warum man das Zeug Fast Food nennt?«, fragte Stefan mit einer Geste auf seinen Teller. »Weil es fast Essen ist.« Mike lächelte pflichtschuldigst und stocherte einen Moment lustlos auf seinem Teller herum. Er schaffte es sogar, zwei oder drei Gabeln hinunterzuwürgen, dann ließ er sein Besteck sinken, trank einen Schluck Kaffee und deutete auf Stefans schmutzige Fingernägel. »Wie ist es gelaufen? Operation gelungen, Patient tot?«
»Operation gelungen, Patient verkrüppelt, aber gehfähig«, antwortete Stefan. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Mechaniker, aber ich denke, die Kiste hält durch. Wenigstens bis wir zu einer richtigen Werkstatt kommen. Erstaunlich widerstandsfähig, die Maschine! Hätte ich gar nicht gedacht. Sie verliert irgendwo Öl, aber ich kann nicht genau sagen, wo. Wäre besser, wir würden nachsehen lassen. Was ist die nächste größere Stadt, in die wir kommen?« »Moab«, antwortete Frank. »Da gibt es bestimmt eine Motorrad-Werkstatt. Ungefähr dreihundert Meilen.« »Vierhundert Kilometer«, sagte Stefan nachdenklich. »Das schaffen wir. Aber ich sehe mir die Kiste trotzdem noch einmal an.« Er blickte stirnrunzelnd auf seinen Teller. »Sobald ich diese Köstlichkeit gegessen habe.« »Das wirst du nicht«, sagte Mike. »Jedenfalls nicht gleich.« »Aufessen?« »Am Motorrad herumschrauben«, antwortete Mike. »Dafür hast du nämlich gar keine Zeit.« »Und wieso nicht?« »Weil wir in ...« Mike sah auf die Uhr. »... knapp zwanzig Minuten im Taxi sitzen müssen.« »Was für ein Taxi?« Stefan tauschte einen fragenden Blick mit Frank, erntete aber nur ein Kopfschütteln. »Im Taxi, das uns zum Heliport bringt.« Mike griff in die Tasche und zog den schmalen Umschlag heraus, den er vorhin an der Rezeption erstanden hatte. »Ich habe uns einen Hubschrauberrundflug über den Grand Canyon gebucht«, sagte er. »Er geht in einer Stunde los.« »Eine Helitour? Über den Canyon?« Stefans Augen leuchteten vor Begeisterung. »Toll! Aber sprengt das nicht unsere Urlaubskasse?« »Ich lade euch ein«, sagte Mike. »Als kleine Wiedergutmachung für den Schrecken, den ich euch eingejagt habe, und die Umstände, die ihr meinetwegen wahrscheinlich noch haben
werdet.« »Ärger?«, fragte Frank stirnrunzelnd. »Sind meine Knochen etwa kaputt?« »Oder muss ich damit rechnen, dass mir der Ersatzcowboy bei der Motorradvermietung den Kopf abreißt, wenn du diesen Schrotthaufen zurückbringst?«, fügte Stefan hinzu. »Ihr wisst genau, was ich meine«, sagte Mike. »Und jetzt hört gefälligst auf zu nörgeln, und freut euch lieber. Außerdem wäre es kompletter Schwachsinn, am Grand Canyon zu sein und auf einen Hubschrauberflug zu verzichten. Ich wollte ein Flugzeug mieten, aber sie machen keine Flüge mehr durch den Canyon. Sind wohl ein paar Maschinen abgeschmiert.« »Die Fallwinde dort sind höllisch«, bestätigte Frank. Er deutete mit einem Nicken auf den Umschlag. »He - das ist super! Ziemlich übertrieben, aber super. Danke.« »Zwanzig Minuten, sagst du?« Stefan schob seinen Teller mit einer demonstrativen Bewegung zurück. »Dann bleibt uns ja noch Zeit, zur Schlucht zu gehen und ein paar Fotos zu machen. Schaffst du das, mit deinem Bein? Es sind nur ein paar Schritte.« »Kein Problem«, antwortete Mike. Es waren mehr als ein paar Schritte, und es war ein Problem. Die Hotelanlage befand sich inmitten eines kleinen, aber sehr dicht bewachsenen Waldstücks, und die einzige Straße, die zum Rand des Grand Canyon hinunterführte, war so abschüssig, dass Mike das Gehen schon unter normalen Umständen Mühe bereitet hätte. Mit seinem angeschlagenen Bein wurde es zur Qual. Aber die Mühe wurde belohnt. Die Straße mündete in eine etwas breitere Fahrbahn, die von einer knapp brusthohen Natursteinmauer begrenzt wurde. Dahinter hörte die Welt auf, um viele Kilometer weit entfernt wieder anzufangen. Natürlich hatten sie alle gewusst, was sie erwartete. Sie hatten
die letzten beiden Wochen vor Antritt der Reise mit praktisch nichts anderem verbracht, als Bücher zu wälzen, in Prospekten zu blättern und sich Videos über den geplanten Trip anzusehen, wobei der Grand Canyon natürlich einen besonderen Schwerpunkt gebildet hatte. Nicht nur Mike wusste mittlerweile so ziemlich alles über dieses Naturwunder, was es darüber zu wissen gab. Aber das änderte nichts daran, dass ihnen der Anblick die Sprache verschlug. Mike vergaß für einen Moment alles andere - die Schmerzen in seinem Knie, Frank und Stefan, die - was für ein Zufall, haha - dicht genug bei ihm standen, um im Notfall rasch zugreifen zu können, wenn er stürzen sollte. Ja, er vergaß selbst die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht. Der Anblick war im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Es war Mikes Beruf, mit Worten umzugehen, und er war gut darin, aber es war ihm in diesem Moment nicht einmal möglich, seine Empfindungen auch nur in Gedanken zu formulieren. Klein. Vielleicht war das das einzige Wort, das der Wahrheit nahe kam. Er fühlte sich klein, winzig und so unwichtig wie niemals zuvor. Er stand am Rande einer Schlucht, die drei Kilometer tief und an der weitesten Stelle dreißig Kilometer breit war - und halb so lang wie das Land in Europa, aus dem sie zu diesem Trip aufgebrochen waren. Das waren die ihm bekannten abstrakten Zahlen, wie sie in jedem Reiseprospekt nachzulesen waren. Er hatte geglaubt, mit diesen Zahlen im Hinterkopf dem Anblick dieser zu Stein erstarrten Naturgewalt gewachsen zu sein, aber das stimmte nicht: Jeder Versuch, ihre gewaltigen Ausmaße wirklich zu erfassen, schien an seiner eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts ihrer Monstrosität zu zerbröseln. »Wow!«, machte Stefan neben ihm. »Genau das wollte ich auch gerade sagen«, murmelte Frank. »Unglaublich. Allein dafür hat es sich schon gelohnt, hierher
zu kommen!« Sie gingen weiter. Frank war der Einzige, der sich weit genug von dem Anblick lösen konnte, um wenigstens nach rechts und links zu sehen, als sie die Straße überquerten, aber diese Vorsicht erwies sich als unnötig. Der einzige Wagen, der die Straße im Moment befuhr, war eine Art elektrisch betriebener Traktor, der an ihnen vorbeisummte und vier offene Anhänger mit hölzernen Sitzbänken hinter sich herzog. Mikes Herz schlug langsam und sehr schwer, als er die Hände auf die Bruchsteinmauer legte und sich langsam vorbeugte. Er zelebrierte diese Bewegung regelrecht, denn er wusste, dass dies einer der ganz seltenen, kostbaren Momente war, die sich so nie wiederholen lassen würden; und sei es nur, weil es einen Ort wie diesen kein zweites Mal auf der Welt gab. Unter ihnen stürzte der Boden in mehreren Terrassen bis in dunstverhangene Tiefen ab. Die vorherrschenden Farben der wild zerfurchten Felswände waren Rot und alle nur vorstellbaren Gelb- und Brauntöne, aber er sah auch Sprenkel von Weiß und Gold und überraschend viele und großflächige Grünschattierungen. Obwohl es nicht sehr warm war, flimmerte die Luft unter ihnen vor Hitze, sodass er den Fluss unten am Grund der Zyklopenschlucht nicht wirklich erkennen konnte. »Da geht ein Weg runter«, sagte Stefan. Seine ausgestreckte Hand deutete auf eine bleistiftdünne gewundene Linie, die sich unter ihnen in die Tiefe schlängelte. Ameisengroße Gestalten krochen darauf entlang. »Er führt nur bis zur ersten Terrasse«, sagte Frank. »Schlappe sechzehnhundert Meter. Nach unten, nicht in der Länge. Es gibt eine Lodge da unten.« »Das wäre doch was, oder?«, schlug Stefan vor. »Kein Problem«, sagte Frank. »Vier Stunden hin und schätzungsweise fünf oder sechs zurück. Bei fünfunddreißig Grad im Schatten. Falls du welchen findest, heißt das.« Er schüttelte den Kopf. »Ohne mich. Wusstest du, dass sie jedes Jahr hier
ungefähr vierzig Tote haben? Sie fallen nicht runter oder so was, sondern kriegen einen Hitzschlag, weil sie sich überschätzen.« »Spielverderber«, maulte Stefan. Mike hörte kaum hin. Er war noch immer zutiefst erschüttert; auf eine Art, die er sich bis zu diesem Moment nicht einmal hatte vorstellen können. Die ganze Größe und Gewaltigkeit der Schöpfung kam ihm zu Bewusstsein, während er dastand und in die ungeheuerliche Leere starrte, die unter ihnen klaffte. »Und jetzt die Bilder!«, sagte Frank. »Hast du es dabei?« »Klar«, grinste Stefan. Er griff in die Tasche und zog eine Magnum-Tüte Haribo-Konfekt heraus. »Das sind wir unseren Frauen schuldig, oder?« Mike sah nicht einmal hoch. Sie hatten sich wochenlang mit der Vorstellung amüsiert, am Rande des Grand Canyon zu stehen und genüsslich eine Tüte Colorado zu mampfen, und selbstverständlich würden sie dieses geschichtsträchtige Ereignis im Bild festhalten, aber in diesem Augenblick kam ihm der Gedanke einfach nur kindisch vor. Mehr noch: Die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen. Er hatte das seltsame Gefühl, mit dieser Lästerung etwas heraufzubeschwören, das besser nicht geweckt wurde. Aber natürlich konnte er den beiden diesen Spaß nicht verderben. Und sich selbst auch nicht, verdammt noch mal. Ganz egal, was passiert war! Sie waren hier, und es war sein Problem, mit der Sache fertig zu werden. Die beiden wussten ja nicht einmal, was gestern Abend geschehen war. Vielleicht zum ersten Mal bekam Mike eine schwache Ahnung von dem, was noch auf ihn zukommen mochte. Als er sich entschieden hatte, Stefan und Frank nichts von dem Unfall zu erzählen, hatte er möglicherweise eine Geschichte losgetreten, die ihm schon jetzt über den Kopf wuchs. »Ihr zuerst!« Stefan riss die Colorado-Tüte auf, zupfte sie so
sorgsam auseinander, dass man den Schriftzug lesen konnte, und drückte sie Frank in die Hand. Dann zog er einen kleinen Fotoapparat aus der Tasche und bewegte sich einige Schritte rückwärts, um Frank, Mike und die Colorado-Tüte (und ja, gut, wenn es denn sein musste, auch ein Stück des Grand Canyon) gemeinsam aufs Bild zu bekommen. »Was ist los, Mike? Jetzt sei kein Spielverderber!« Mike riss sich mühsam von dem unglaublichen Anblick der Schlucht los. Es war nicht nur die Schönheit des Anblicks. Mike hatte das Gefühl, etwas zu zerstören. Die Magie des Augenblicks war dahin, ein für alle Mal. Widerwillig drehte er sich um. Um ein Haar hätte er die Tüte fallen gelassen, die Frank ihm hinhielt. Mike sah es nicht wirklich. Es war eines jener ... Dinge, die sich schattengleich in den Augenwinkeln bewegen und sofort verschwinden, sobald man versucht, sie mit Blicken zu fixieren - etwas, das nicht zu erkennen, aber gerade deshalb umso grässlicher war: ein blutiggrauer Schatten, der ihn höhnisch angrinste und ihm mit einer Hand zuwinkte, die haltlos an zerschmetterten Gelenkknochen und zerrissenen Sehnen hinund herschlenkerte. Stefan ließ die Kamera erschrocken sinken, sodass sie beinahe zu Boden gefallen wäre. »Was ist los?«, fragte er. Mikes Herz hämmerte so schnell und unrhythmisch, dass er im ersten Moment gar nicht antworten konnte. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Die Haribo-Tüte in seiner Hand raschelte hörbar. Er konnte kaum atmen. »Alles in Ordnung?«, fragte Frank alarmiert. »Sicher«, antwortete Mike. Selbst dieses eine Wort auszusprechen, bereitete ihm unendliche Mühe. »Das sieht aber nicht danach aus«, stellte Stefan fest. Mike fuhr sich über die Augen. Hinter Stefan war nichts. Ein leicht ansteigender Hang mit dichtem Baumbewuchs und
ungefähr eine Million Touristen. Keine Gespenster. Keine toten Indianerkinder. »Mein Knie«, sagte er gepresst. »Ich habe mich zu schnell umgedreht. Es tut verdammt weh.« »Wir können das auf später verschieben«, sagte Stefan. »Der Grand Canyon wird noch eine Weile hier sein.« Frank sagte nichts. Aber der Blick, mit dem er Mike maß, gefiel ihm nicht. Er war ziemlich besorgt - aber da spiegelte sich auch noch etwas anderes in seinen Augen. »Unsinn«, sagte er. »Jetzt mach dein Foto, bevor mir endgültig die Tränen kommen.« Stefan musterte ihn noch eine Sekunde lang durchdringend, zuckte dann aber mit den Achseln und hob die Kamera wieder. »Ganz wie du meinst. Du bist der Boss.« Er hielt den Sucher ans Auge. »Sagt: Cheeese!« Mike hielt die Haribo-Tüte in die Höhe und rang sich ein gequältes Lächeln ab, und Stefan drückte drei, vier Mal hintereinander auf den Auslöser. »Fertig«, sagte er. »Der nächste Herr, dieselbe Dame.« Frank nahm die Hand von der Tüte (nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass Mike in der Lage war, sie aus eigener Kraft zu halten), tauschte den Platz mit Stefan und machte ebenfalls ein halbes Dutzend Fotos. Er wirkte nicht besonders begeistert. »Jetzt du«, sagte er. Mike schüttelte den Kopf. Sein Herz jagte, und obwohl es hier oben am Rande der Schlucht überraschend kühl war, war er am ganzen Leib in Schweiß gebadet. »Mir ist nicht nach Fotos«, sagte er. »Außerdem habe ich meinen Apparat gar nicht dabei.« »Das weiß ich«, sagte Stefan. »Er lag auf dem Tisch, nachdem du das Zimmer verlassen hast. Ich habe ihn mitgebracht.« Er griff in die Jackentasche und zog eine zweite, futuristisch anmutende Kamera heraus; Mikes digitalen Fotoapparat, den er
sich eigens für diesen Trip gekauft hatte. »Aber tu mir den Gefallen und mach auch noch ein paar Aufnahmen mit meinem«, sagte er. »Ich traue diesem ComputerKram nicht, weißt du?« Natürlich hatte er Recht - nicht, was die Kamera anging. Es war ein kindisches Spielchen, aber sie waren schließlich hier, um Spaß zu haben und sich wie Kinder zu benehmen. Mike humpelte auf die andere Straßenseite, machte ein halbes Dutzend Aufnahmen mit Stefans und ganze zwei mit seiner Kamera; danach noch einmal zwei oder drei mit Franks Fotoapparat, den dieser ihm extra brachte. Die beiden würden sich wundern, wenn die Bilder entwickelt waren, dachte Mike. Sie sahen kein bisschen nach überschäumend guter Laune aus, wie sie so mit ihrer Fruchtgummi-Tüte in der Hand am Rande des Grand Canyon standen; nicht einmal cool, sondern einfach nur infantil und ein bisschen lächerlich. So ähnlich wie vermutlich er auf den Bildern, die Stefan und Frank geschossen hatten. »Ich glaube, es wird Zeit«, sagte Stefan, als er fertig war und auch die dritte Kamera sinken ließ. »Du hast das Taxi auf deinen Namen bestellt?« »Ja«, antwortete Mike. Er hoffte wenigstens, dass ihn der Mann an der Rezeption verstanden hatte. »Ist vielleicht besser, wenn ich zurücklaufe und dem Fahrer Bescheid sage«, meinte Stefan. »Wartet einfach hier. Ich komme euch mit dem Wagen abholen.« Mike zuckte nur mit den Schultern und gab Stefan den Fotoapparat zurück. Frank wartete nur so lange, bis er halbwegs sicher sein konnte, dass Stefan außer Hörweite war, ehe er zu Mike herumfuhr und ihn in rüdem Ton anfuhr: »Was ist eigentlich los mit dir, verdammt noch mal?« Mike erschrak bis ins Mark. »Was ... meinst du?« »Du weißt verdammt genau, was ich meine!«, antwortete Frank, nur noch eine Winzigkeit davon entfernt, ihn anzubrül-
len. »Und jetzt erzähl mir nicht wieder irgendeinen Scheiß, dass dir das Knie wehtut oder so was!« Vielleicht nur, um nicht sofort antworten zu müssen, reichte Mike ihm den Fotoapparat zurück und wartete, bis Frank ihn mit einer unwilligen Bewegung weggesteckt hatte. »Ich fühle mich nicht sehr gut«, sagte er spröde. »Und mir tut tatsächlich das Bein weh, ob du es glaubst oder nicht.« »Das glaube ich dir gerne«, antwortete Frank. »Aber das ist es nicht, habe ich Recht?« »Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, behauptete Mike. »Du hast Angst, uns den Spaß zu verderben«, antwortete Frank. »Du hast einen Satz mit deinem Bike gebaut, und das geht gegen deine Ehre, wie? Aber weißt du, das ist uns auch schon passiert. Mir und auch Stefan, auch wenn er es niemals zugeben würde. Das ist nichts Besonderes. Kein Grund, um stolz zu sein, aber auch keiner, um jetzt die beleidigte Mimose zu spielen, verdammt. Fällt es dir so schwer, zuzugeben, dass du etwas nicht perfekt gemacht hast?« Mike wollte auf diese - seiner Meinung nach - völlig absurden Vorwürfe antworten, aber in diesem Moment geschah etwas, das ihn alles andere vergessen ließ. Auf der Straße hinter Frank fuhr nun doch ein Wagen. Nicht irgendein Wagen. Es war ein schwarzer Van. Sein Herz machte einen Sprung. Er fuhr zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, und begann am ganzen Leib zu zittern. Frank zog die Augenbrauen zusammen, wandte den Kopf und sah einen Moment lang konzentriert in die gleiche Richtung wie er. Dann drehte er sich wieder zu Mike um und führte seine angefangene Rede - wenn auch in versöhnlicherem Tonfall - fort: »Hey - ich will dir doch nichts! Aber wir kennen uns verdammt noch mal lange genug, um ehrlich zueinander zu sein, finde ich.«
Das wievielte Mal war es, dass er das Wort verdammt benutzte?, dachte Mike. Und wieso sah er den schwarzen Van nicht? »Ich verstehe wirklich nicht, was du meinst«, sagte er mühsam beherrscht. Es gelang ihm nicht, Frank dabei in die Augen zu sehen. Er starrte den Van an. Der Wagen rollte im Schritttempo dahin; die einzige Geschwindigkeit, die überhaupt möglich war, denn die Straße war voller Menschen. Mike konnte nicht ins Innere des Wagens sehen, denn die Scheiben waren mit einer lichtschwächenden Folie beklebt, doch er hatte umgekehrt das intensive Gefühl, angestarrt zu werden. »Und ob du das tust«, beharrte Frank. »Ich weiß, dass du es gut meinst. Weißt du, du bist schon immer spitze darin gewesen, in bester Absicht Scheiße zu bauen. Du hast einen lächerlichen kleinen Unfall gehabt - und?« Einen lächerlichen kleinen Unfall - bei dem er ein Kind in Stücke gerissen hatte. Ein Kind, das ihn nun in seinen Träumen verfolgte. Und möglicherweise in einem schwarzen Van, der langsam von hinten auf Frank zurollte. »Du bist verletzt«, fuhr Frank fort. »Aber du willst nicht zum Arzt, weil du Angst hast, dass du uns damit den Urlaub versaust. Das ist Blödsinn. Wenn du morgen von der Kiste fällst oder einen richtigen Unfall baust, weil du mit dem Bein doch nicht fahren kannst, dann versaust du uns den Urlaub! Schon mal daran gedacht?« »Keine Sorge«, sagte Mike steif. »Ich werde euch schon nicht zur Last fallen.« »Manchmal kannst du ein richtiges Arschloch sein«, stellte Frank fest. Er starrte ihn noch eine Sekunde lang wütend an, dann fuhr er auf dem Absatz herum. »Warte hier. Wir kommen mit dem Taxi zurück.« Mike hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Es kam selten vor, dass Frank die Beherrschung verlor. Seine polternde Art war normalerweise nur geschauspielert, vielleicht, weil er aus irgendeinem Grund der Meinung war, sie passe zu seiner hü-
nenhaften Erscheinung. Aber jetzt war er wirklich wütend. Mit Recht. Mike bedauerte es zutiefst. Ihre Freundschaft bestand nicht nur schon fast ein Leben lang, sondern war auch etwas ganz Besonderes. Sie verkraftete mit Sicherheit einen Streit, und es hatte auch schon einige davon gegeben. Mit Sicherheit wäre dieses Gespräch für Frank in ein paar Tagen völlig vergessen. Was Mike allerdings nicht wusste, war, ob er es sich selbst verzeihen konnte. Er hatte Frank belogen; nicht zum ersten Mal, aber noch nie so schwerwiegend und konsequent. Er konnte sich nicht einmal einreden, dass der Unfall allein seine Sache war und es die beiden anderen nichts anging. Es war allein sein Problem gewesen, als es passiert war. Im gleichen Moment, in dem er sich entschieden hatte, ihnen nichts davon zu erzählen, hatte er sie auf eine besonders heimtückische Art mit in die Angelegenheit hineingezogen - weil sie zwar die Veränderung spürten, die mit ihm vorgegangen war, aber nichts tun konnten, um ihm aus dem Teufelskreis herauszuhelfen. Und das Schlimmste war: Dieses Problem wuchs mit jeder Minute, in der er weiter schwieg. Warum beharrte er eigentlich auf seiner einsamen Entscheidung? Warum zum Teufel erzählte er Frank und Stefan nicht, was gestern Abend wirklich passiert war? Er konnte es ohne Risiko tun. Weder Frank noch Stefan würden ihn verraten oder gar die Cops anrufen, um ihn ans Messer zu liefern. Sie würden wenig begeistert sein, dass er so lange geschwiegen hatte, aber er konnte sich damit herausreden, dass er in Panik gewesen war und unter Schock gestanden hatte - was ja auch die Wahrheit war. Und dann? Sie würden ihm raten, sich zu stellen, und sie hätten verdammt Recht damit. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann blieb ihm gar keine andere Wahl. Er konnte nicht ernsthaft damit rechnen, ungeschoren davonzukommen. Vermutlich lag
die Leiche des Jungen jetzt schon auf dem Obduktionstisch. Und die amerikanische Polizei war nicht dumm. Sie würden Teile der Maschine finden, Lacksplitter, Reifenspuren. Vielleicht hatte sie jemand gesehen, wie sie von der Hauptstraße abgebogen waren. Wenn der hiesige Ermittlungsapparat erst einmal auf Touren gekommen war, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn hatten. Sehr kurzer Zeit, vermutlich. Er sollte sich stellen. Auch die Polizei würde ihm vielleicht glauben, dass er unter Schock gestanden hatte. Es wäre nicht nur das Vernünftigste, sich zu stellen, es war die einzige Möglichkeit, die ihm überhaupt blieb. Aber natürlich würde er das nicht tun. »Wussten Sie, dass in diesem Tal Menschen gelebt haben?« Mike erschrak so heftig, dass er beinahe aufgeschrien hätte, und fuhr mit einer Bewegung herum, die sein Knie mit einer derart heftigen Schmerzexplosion quittierte, dass er das Gleichgewicht verlor und gegen die Wand in seinem Rücken prallte - was einen neuen, noch heftigeren Schmerz in seiner Nierengegend zur Folge hatte. Im nächsten Sekundenbruchteil hatte er beides vergessen. Hinter ihm stand eine uralte Indianerin mit langem, zu grauen Zöpfen geflochtenem Haar. Sie trug ein bunt besticktes, schon reichlich schäbiges Folklore-Kleid. Ihr Gesicht war das einer Hundertjährigen, in dem zahllose Runzeln, Falten und möglicherweise auch Narben ein abstoßendes Muster bildeten, das an ein Spinnennetz erinnerte, wobei der nahezu zahn- und lippenlose Mund wie die Spinne in seinem Zentrum hockte. Ihre Augen waren trüb und hätten die einer Blinden sein können, aber sie konnte ohne Zweifel sehen. Mike konnte ihren Blick wie eine unangenehme, klebrige Berührung fühlen. Sie roch … tot. »Es ist wahr«, fuhr die Alte mit einem Nicken fort, obwohl er ihr gar nicht widersprochen hatte. »Als vor dreihundert Jahren die ersten Weißen hierher kamen, da dachten sie, es gäbe kei-
nen Weg nach unten. Sie haben monatelang gesucht, und manche sind bei dem Versuch ums Leben gekommen, aber als sie es endlich geschafft hatten, da fanden sie die Spuren anderer, die vor ihnen da gewesen waren. Lange vor ihnen.« Ein Teil von Mikes Bewusstsein registrierte verblüfft, dass er die Worte der Indianerin verstand, obwohl sie in ihrer Muttersprache redete. Aber das spielte keine Rolle. Sein bewusstes Denken - und vor allem seine Logik! - waren ausradiert. Er starrte die Alte an. Er hatte sie schon einmal gesehen. Es war die alte Frau aus dem Van. Die Großmutter des Jungen, den er getötet hatte. »Es waren Anasazi«, fuhr die Alte fort. »Das Alte Volk, dem dieses Land gehörte, bevor der erste Weiße seinen Fuß an diese Küste setzte.« »Was ... was wollen Sie?«, krächzte Mike. Er begann am ganzen Leib zu zittern. »Wir waren schon immer hier, weißer Mann.« Die Alte hob eine dürre, arthritisch verkrümmte Hand und streckte sie nach seinem Gesicht aus. Süßlicher Verwesungsgestank schlug Mike entgegen, und er konnte sehen, wie sich unter der pergamenttrockenen, halb durchsichtigen Haut etwas bewegte. »Wir waren hier, bevor es euer Volk gab, und wir werden immer noch hier sein, wenn selbst die Erinnerung an euch schon vergangen ist.« »Was wollen Sie?«, stammelte Mike. »Lassen Sie mich in Ruhe!« »Du hast einen von uns getötet«, sagte die Alte. »Du wirst dafür bezahlen.« »Es war ein Unfall«, wimmerte Mike. »Ich habe das nicht gewollt, bitte glauben Sie mir!« »Du wirst bezahlen«, sagte die Alte. Ihre Stimme war kalt, ohne die geringste Spur einer Drohung oder irgendeines anderen Gefühls. Vielleicht war es gerade das, was sie so schrecklich machte. »Du kannst eurer Gerechtigkeit entkommen, aber
unserer entrinnst du nicht. Du und deine Freunde werden den Zorn der alten Götter zu spüren bekommen. Ihr werdet leiden, wie unser Volk gelitten hat, seit ihr hierher gekommen seid.« Ihre Hand berührte jetzt fast sein Gesicht. Der Leichengestank nahm ihm den Atem, und Mike glaubte zu erkennen, dass es Maden waren, die unter ihrer Haut entlangkrochen. Als sie weitersprach, huschte unvermittelt eine Spinne aus ihrem Mund, lief an ihrem Kinn hinab und verschwand im Ausschnitt ihres Kleides. Mike wurde übel. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, wimmerte er. »Ich konnte nichts dafür! Es war ein Unfall! Ich wollte das nicht!« »Ihr werdet leiden«, sagte die Alte noch einmal. Dann floss ihr Gesicht auseinander, wurde für einen Moment zu einem konturlosen grauen Fleck und ordnete sich dann neu. Es war jetzt nicht mehr das Gesicht einer hundertjährigen Indianerin, sondern das eines dunkelhaarigen, sehr großen Mannes in den Dreißigern, der Mike mit einer Mischung aus Sorge und misstrauischer Vorsicht ansah. »Are you okay?«, fragte er. Mike starrte ihn an. Sein Herz klopfte so heftig, dass er spüren konnte, wie die Adern an seinen Schläfen und am Hals anschwollen. »Sir?« Der dunkelhaarige Mann wich vorsichtshalber einen halben Schritt zurück. »Christ, are you all right? Do you need help?« Sein Gesicht blieb, was es war. Aus seinem Mund krochen keine Maden, und er stank auch nicht nach Tod, sondern allenfalls nach Aftershave. Mike sah erschrocken nach rechts und links. Der Van hatte nur ein paar Meter entfernt angehalten, und ein junges Ehepaar stieg aus. Weiße, keine Indianer. Kein Kind. Keine alte Frau. »Sir?«, fragte der Dunkelhaarige noch einmal. In seiner Stimme war jetzt etwas, das an Panik grenzte. »Ich bin in Ordnung«, sagte Mike mühsam. »Es ... es geht
schon wieder, danke.« Er erinnerte sich daran, wo er war, und fügte mit einiger Mühe hinzu: »Everything is okay. Thank you.« Dem Gesichtsausdruck des Dunkelhaarigen nach zu schließen, sah er alles andere als okay aus, und er war auch nicht der Einzige, der aufmerksam oder irritiert in seine Richtung blickte. Er war sehr froh, dass in diesem Moment das Taxi mit Stefan und Frank kam, um ihn abzuholen. Der Heliport war weiter entfernt, als Mike erwartet hatte. Das Taxi brauchte gut zwanzig Minuten, um sie zu der Ansammlung flacher, ultramoderner Gebäude zu bringen, hinter denen sich ein doppelt fußballfeldgroßer, betonierter Landeplatz erstreckte. Gerade als sie aus dem Taxi stiegen, setzte einer der schreiend gelb lackierten Hubschrauber in unmittelbarer Nähe zur Landung an. Der Lärm war ohrenbetäubend. Stefan bezahlte das Taxi nachdem Mike sie zu der Tour eingeladen hatte, hatten die beiden anderen sich fast darum geprügelt, wer die Taxirechnung übernehmen durfte -, und Frank sagte etwas in Mikes Richtung. Sie waren kaum anderthalb Meter voneinander entfernt, und wie es aussah, brüllte Frank aus Leibeskräften, aber Mike hörte nur das Dröhnen des Hubschraubermotors. Mike gestikulierte in Richtung der Maschine, deutete dann auf sich und schließlich auf das Abfertigungsgebäude. Er hatte den Trip im Hotel gebucht, musste aber die gesamten Formalitäten hier erledigen. Nur eine Formsache, vermutete er. Wahrscheinlich nicht mehr als eine Unterschrift und ein Abzug von seiner Kreditkarte. Es war nicht nur eine Formalität. Sie verbrachten fast zwanzig Minuten damit, endlose Formulare auszufüllen, sich Verhaltensmaßregeln anzuhören und gleich ein Dutzend Verzichtserklärungen zu unterschreiben, die den Veranstalter von jeder nur denkbaren Haftung freistellten; von einem simp-
len technischen Fehler bis hin zur überraschenden Landung außerirdischer Invasionstruppen, vermutete Mike. Um das Maß voll zu machen, gab es Probleme mit der Telefonleitung, sodass noch einmal zehn Minuten vergingen, bis die Kreditkartengesellschaft ihr Okay gab. Der Flug, den sie eigentlich gebucht hatten, war natürlich längst weg. Mike verstaute die Belege und die Flugunterlagen in einem kleinen Herrenhandtäschchen, das er eigens für diesen Zweck mitgebracht hatte. Normalerweise hasste er diese Dinger. Auch wenn sie eine Zeit lang von aller Welt benutzt worden waren, kam er sich damit immer ein bisschen schwul und eindeutig mehr als ein bisschen lächerlich vor. Aber manchmal war so ein Ding einfach praktisch. Und für das, was er plante, war es sogar unumgänglich nötig. Frank, der seine Einstellung zu diesen Taschen kannte, zog fragend die Augenbrauen hoch, aber Mike hob nur die Schultern und hängte sich das Täschchen mit der Trageschlaufe ans linke Handgelenk. »Noch zehn Minuten«, sagte er. »Wir können schon mal rausgehen.« »Bist du scharf auf einen Gehörschaden?« Stefan bohrte demonstrativ mit dem kleinen Finger im Ohr. »Ich warte hier, bis das Ding gelandet ist.« »Wie du meinst.« Mike nahm auf einem der billigen Plastikstühle Platz; ganz bewusst so weit von den beiden anderen entfernt, dass sie nicht auf die Idee kommen würden, irgendeine belanglose Unterhaltung mit ihm zu beginnen. Er wollte nicht reden. Er war nervös, und er hatte über eine Menge Dinge nachzudenken. Er wusste nicht, ob Stefan und Frank etwas von dem Zwischenfall am Grand Canyon mitbekommen hatten, glaubte es aber nicht. Er selbst sah seine unheimliche Begegnung mittlerweile mit anderen Augen. So absurd es klang, stimmte ihn der Zwischenfall im Nachhinein beinahe optimistisch. Natürlich war keine alte Frau da gewesen, weder tot noch lebendig, sondern er war
das Opfer einer Halluzination geworden, und er wusste, dass Halluzinationen nicht so schlimm waren, wie die meisten Menschen glaubten, die sich noch nicht näher mit diesem Thema beschäftigt hatten. In manchen Extremsituationen (wie zum Beispiel der, in der er sich momentan befand), konnten sie sogar eine stabilisierende und damit heilsame Wirkung haben. Dazu kam, dass diese spezielle Halluzination so unglaublich real gewesen war. Er hatte sie nicht nur gesehen. Er hatte sie gerochen, und ihre Nähe mit fast körperlicher Intensität gespürt. Er war in diesen Sekunden innerlich vor Angst beinahe gestorben. Aber gerade das nährte seine Hoffnung. Wenn er die Umstände bedachte, dann hatte er sich ziemlich gut gehalten. Das nächste Mal würde er wissen, dass es sich um nichts weiter als Trugbilder handelte. Und wenn dies nicht real gewesen war, dann galt das Gleiche auch für den Schatten, den er aus den Augenwinkeln bemerkt hatte, und natürlich erst recht für das Ding, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Er dachte an den Hogan zurück. Er hatte geglaubt, seine Angst ein für alle Mal besiegt zu haben, aber das stimmte nicht. Es war nur eine Schlacht gewesen, die erste in einem Krieg, der vielleicht niemals enden würde. Die heutige hatte er verloren, aber er war weder in Panik geraten noch hatte er einen ernsthaften Fehler gemacht. Und nun wusste er, mit wem er es zu tun hatte. Beim nächsten Mal würde er vorbereitet sein. »Flight 107«, sagte eine melodische Frauenstimme, die aus einem Lautsprecher unter der Decke drang. »Das sind wir.« Stefan sprang auf. »Los geht's.« »Sofort.« Mike erhob sich deutlich langsamer als sein Freund und wandte sich mit einem fragenden Blick an eine der jungen Frauen hinter der Theke. »The restroom?« Blödes Wort. Er würde es nie verstehen, und er würde sich erst recht niemals daran gewöhnen.
Die junge Frau deutete wortlos auf eine Tür am anderen Ende des Raumes, und Mike deutete zum Ausgang, während er sich in die entsprechende Richtung wandte »Geht schon vor«, sagte er. »Es dauert nicht lange.« »Perfektes Timing«, spöttelte Stefan. »Sei froh, dass er es früh genug gemerkt hat«, fügte Frank hinzu. »Aber wenigstens hat er heute keine weiße Hose an.« Mike ignorierte die beiden Blödmänner - manchmal waren sie richtige Kinder - und setzte seinen Weg so schnell fort, wie es sein schmerzendes Bein zuließ. Er betrat eine der Kabinen, klappte den Deckel herunter, setzte sich darauf und streckte die Beine aus. Dann hob er den linken Arm und ließ das Täschchen an seiner Schlaufe langsam nach unten gleiten. Es blieb an seinen leicht gespreizten Fingern hängen. Mike löste den Halteclip der Schlaufe, vergrößerte sie um ein gutes Stück, dann wiederholte er seinen Versuch. Diesmal fiel die Tasche nur deshalb nicht herunter, weil er rasch die Finger um den dünnen Lederriemen schloss. Gut. Er betätigte die Spülung - nur für den Fall, dass einer der anderen ihm nachkommen sollte, um nach dem Rechten zu sehen - wusch sich vollkommen überflüssigerweise die Hände und ging nach draußen. Der Helikopter war eine kleine, zerbrechlich aussehende Maschine, die außer für den Piloten noch Platz für vier Passagiere bot, aber genug Radau machte, um mit einem startenden Tornado der Bundeswehr mithalten zu können. Stefan, Frank und ein dritter Passagier, den Mike in der Wartehalle nicht bemerkt hatte, hatten bereits auf den schmalen Bänken Platz genommen und sich wuchtige Kopfhörer übergestülpt, die mit kleinen Antennen mit einer silbernen Kugel an der Spitze versehen waren. Sie sahen albern aus, fand Mike, wie Marsmenschen aus einem Comic. Er kletterte umständlich in die Maschine, schnallte sich an und stülpte sich den Kopfhörer über, den ihm der Pilot reichte.
Der Rotorenlärm sank zu einem rauschenden Flüstern herab, das einen Moment später von belangloser Musik überlagert wurde; genau der Art von Musik, die Mike am allerwenigsten mochte. Der Motorenlärm wäre ihm fast lieber gewesen. »German?«, fragte der Pilot. Mike, Stefan und Frank nickten, während der vierte Passagier den Kopf schüttelte. Der Pilot legte einen Schalter auf dem Armaturenbrett vor sich um, und die Musik wurde von einer knarrenden Männerstimme abgelöst, die vom Band kam und Deutsch mit deutlich hörbarem Westküsten-Akzent sprach: »Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Wir von Helitours freuen uns, dass Sie ...« Mike hörte nicht weiter zu. Was die Tonbandstimme ihm zu sagen hatte, war nicht mehr als das, was er schon hundert Mal nachgelesen hatte, und vermutlich nicht halb so fundiert. Der Helikopter hob ab, kletterte senkrecht auf eine Höhe von sechs oder acht Metern und drehte dann auf der Stelle, ehe der Pilot beschleunigte und Kurs auf den Grand Canyon nahm. Sie flogen so dicht über den Bäumen dahin, dass die Schlucht nicht zu sehen war. Nach vielleicht fünf Minuten wurde die Tonbandstimme wieder von Musik abgelöst, Also sprach Zarathustra, und nicht nur Mike sah nun gebannt nach vorne. Es war perfekt inszeniert. Vom Showgeschäft verstanden die Amis etwas, das musste man ihnen lassen: Als das Stück seinen ersten Höhepunkt erreichte, wurde die Musik schlagartig lauter. Das Timing des Piloten war absolut präzise, denn buchstäblich im gleichen Sekundenbruchteil stürzte der Boden unter ihnen jäh in die Tiefe. Sie flogen jetzt nicht mehr in acht Metern Höhe, sondern über einer dreitausend Meter tiefen Schlucht, an deren Grund sich ein schimmerndes Silberhaar entlangschlängelte. Mike hatte nicht damit gerechnet, aber nach einer Weile schlug die grandiose Szenerie auch ihn in den Bann. Der Rundflug dauerte knapp zwanzig Minuten, und Mike lauschte eben-
so wie die drei anderen interessiert der Stimme in seinem Kopfhörer, die doch allerlei Interessantes über den Grand Canyon, seine Entstehungsgeschichte und die zum Teil uralten Indianerlegenden zu berichten wusste, die sich um ihn rankten. Sie blieben stets über dem Canyon und tauchten niemals ganz darin ein, aber es war trotzdem eines der unglaublichsten Erlebnisse seines bisherigen Lebens. Es war wie vorhin, am Rand des Canyons, nur viel, viel intensiver. Die ganze Herrlichkeit der Schöpfung kam Mike zu Bewusstsein, und diesmal waren es nicht nur die räumlichen Dimensionen, die ihn bis ins Mark erschütterten. Es war vor allem die ungeheuerliche Macht der Zeit, die er spürte, denn das, was er sah, war vor allem ihr Werk. Es war dieser vergleichsweise winzige Fluss, der die gigantische Schlucht in den Boden gegraben hatte, mit keinem anderen Hilfsmittel als Zeit, Millionen und Millionen und Millionen Jahre Zeit, die vielleicht größte und erstaunlichste Kraft im Universum. Welche Rolle spielte die Existenz von etwas so Nebensächlichem wie der Menschheit angesichts einer Macht, die imstande war, etwas Derartiges zu erschaffen? Und wie gleichgültig war es erst, ob er die nächsten fünfundzwanzig Jahre glücklich und zufrieden in Deutschland verbrachte oder vollkommen isoliert in einer amerikanischen Gefängniszelle? Es war dieser Gedanke, der ihn wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Die Antwort war ganz einfach: Der Unterschied war gewaltig! Seinetwegen konnte diese ganze verdammte Schlucht im nächsten Moment wie ein Kartenhaus unter ihnen zusammenbrechen, wenn er dafür einigermaßen ungeschoren aus dieser Geschichte herauskam. Sie befanden sich bereits auf dem Rückweg. Es wurde Zeit, dass er seinen Plan in die Tat umsetzte. Unauffällig sah er sich um. Frank, Stefan und auch der amerikanische Tourist wirkten völlig weggetreten und blickten aus glänzenden Augen hinaus. Stefan fotografierte fast ununterbro-
chen. Mike hob seinen eigenen Apparat, machte wahllos ein paar Bilder und drückte das Objektiv der Digitalkamera schließlich gegen die Fensterscheibe. Jetzt hieß es, schnell zu sein. Es war kein Problem. Er hatte die Schiebemechanik der kleinen Fenster unauffällig in Augenschein genommen, während er eingestiegen war. Sie funktionierte reibungslos. Mit einer raschen Bewegung schob er das Fenster auf, streckte beide Hände mit der Kamera nach draußen und hielt sie senkrecht nach unten. Die Tasche rutschte an seinem Arm hinab und blieb mit der Schlaufe an seiner linken Hand hängen. Sie begann wild hin und her zu pendeln. Ein warmer Windstoß fauchte herein. Die drei anderen sahen überrascht auf, und die Musik in seinem Kopfhörer verstummte. »Close the window!«, sagte der Pilot scharf und verriss vor Schrecken leicht den Steuerknüppel. Der Hubschrauber zitterte leicht. »Nur einen Moment!«, antwortete Mike. »Ein paar Bilder. Sie werden sensationell!« Er drückte drei, vier Mal hintereinander wahllos auf den Auslöser, während sich der Pilot in seinem Sitz herumdrehte und ihn beinahe anschrie: »Close the damned window!« »Sofort!« Mike zog die Kamera so hastig wieder herein, dass sie am Fensterrahmen hängen blieb und ihm beinahe aus den Fingern geprellt worden wäre. Hastig griff er zu, stellte sich dabei aber so ungeschickt an, dass die Schlaufe des Accessoiretäschchens über seine Hand rutschte. Er stieß einen überraschten Laut aus, griff hastig zu und verfehlte die Schlaufe haarscharf. Die Tasche geriet in den Luftstrom der Rotoren, machte zu Mikes nicht geringem Schrecken einen deutlichen Satz nach oben und verschwand dann. »Verdammt!«, fluchte er. »Gottverdammter Mist!« Stefan beugte sich wortlos vor und knallte mit solcher Wucht
das Fenster zu, dass das Glas knirschte. Der Pilot starrte Mike noch einen Moment lang wütend an und konzentrierte sich dann wieder darauf, die Maschine zum Rand des Grand Canyon zurückzusteuern. Sowohl Stefan als auch Frank blickten Mike an, als zweifelten sie an seinem Verstand. Mike beachtete sie gar nicht, sondern blickte mit einem - wie er hoffte - oscarverdächtigen Ausdruck von Betroffenheit auf sein leeres Handgelenk und dann wieder in die bodenlose Tiefe, in der die Tasche verschwunden war. Frank sagte irgendetwas, aber Mike sah nur, dass sich seine Lippen bewegten. Er deutete mit der freien Hand auf die Kopfhörer und zuckte die Achseln. Frank nickte. Der Pilot hatte die Musik nicht wieder eingeschaltet, aber der Lärm der Rotoren machte weiterhin jede halbwegs vernünftige Unterhaltung unmöglich. Der Rest des Fluges war schnell vorbei. Der Pilot flog keinen Umweg mehr, sondern lenkte die Maschine - vermutlich sehr viel schneller als geplant - direkt zum Heliport zurück. Er setzte ziemlich hart auf, schaltete den Motor ab und brachte irgendwie das Kunststück fertig, noch vor Mike aus der Maschine zu kommen. Als Mike ausstieg, streckte er den Arm aus, um ihm den Weg zu verwehren, und begann ihn mit einem Schwall von Vorhaltungen zu überschütten. Mike musste die Worte nicht verstehen, um ihren Inhalt zu begreifen. »Ich regle das schon«, sagte Frank. Er machte eine beruhigende Geste und unterbrach den Redeschwall des Piloten - mit dem Ergebnis, dass sich der Zorn des Mannes nun auf ihn entlud. Der Disput zog sich ein paar Minuten hin. Der Pilot deutete immer wieder wütend auf Mike, drehte sich aber am Schluss mit einem Ruck um und stapfte davon. Frank sah ihm kopfschüttelnd nach. »Und?«, fragte Mike. »Nichts«, antwortete Frank. »Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Er ist einfach nur sauer.«
»Nicht ganz ohne Grund«, fügte Stefan hinzu. »Das war nicht so richtig clever.« »Jetzt macht euch nicht ins Hemd«, sagte Mike. »Ich habe schließlich kein Schwerverbrechen begangen, sondern nur ein paar Fotos gemacht.« »Das sieht der Pilot offensichtlich anders«, sagte Frank. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, drehte sich ganz zu Mike und Stefan um und zwang etwas auf sein Gesicht, das er vermutlich für ein Lächeln hielt. »Genug jetzt. Es war trotzdem eine fantastische Tour. Vielen Dank.« »Kein Problem«, sagte Mike. »Das gilt auch für mich«, sagte Stefan. »Du hattest Recht. Es wäre Wahnsinn, am Grand Canyon zu sein, und diesen Rundflug nicht zu machen. Danke nochmals.« Er zögerte eine Sekunde, dann fragte er: »War in der Tasche was Wichtiges?« »Hm«, machte Mike. »Hm, ja oder Hm, nein?«, fragte Stefan. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Mike ausweichend. »Ich muss nachsehen.« »In der Tasche?« »Im Hotel«, antwortete Mike gereizt. »Ich muss nachsehen, ob ich sie vielleicht doch im Koffer habe.« »Die was?«, fragte Frank alarmiert. »Die Tickets?« »Die Hotelgutscheine«, gestand Mike zerknirscht. »Ich glaube, sie waren in der Tasche.« »Was?«, ächzte Frank. »Jetzt regt euch nicht auf«, sagte Mike rasch. »Vielleicht sind sie ja doch im Koffer.« »Aber warum, um Gottes willen, hast du sie denn mitgeschleppt?«, fragte Stefan fassungslos. »Weil ich blöd bin.« »Das scheint mir auch so«, sagte Stefan grimmig. »Bist du wahnsinnig geworden?« »Ich hatte vor, nachzusehen, wo wir heute übernachten«,
antwortete Mike. »Und jetzt reg dich gefälligst ab. Vielleicht sind sie ja noch da.« »Und wenn nicht, dann rufen wir im Reisebüro an und lassen uns Ersatz schicken«, fügte Frank hinzu. »Für heute haben wir ja ein Zimmer.« »Als ob es so einfach wäre!«, antwortete Stefan. Er spießte Mike regelrecht mit Blicken auf. »So was Blödes ist mir ja noch nie untergekommen.« »Mir auch nicht«, sagte Mike. »Kommt. Besorgen wir uns ein Taxi.« Der Rückweg zum Hotel verging in unangenehmem Schweigen. Der Taxifahrer - der gleiche, der sie hergebracht hatte gab sich redlich Mühe, sie zu unterhalten, stellte aber seine Animationsbemühungen ein, als keinerlei Reaktion erfolgte, und beteiligte sich am allgemeinen Schweigen. Auf Franks Bitte hin lud sie der Fahrer nicht vor dem Hauptgebäude ab, sondern fuhr die wenigen Meter bis zu der Blockhütte, in der sie übernachtet hatten. Mike stieg aus dem Taxi. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz. Direkt neben ihren Motorrädern parkte ein Streifenwagen. Zwei Beamte in kurzärmeligen kakifarbenen Hemden waren ausgestiegen und standen vor der beschädigten Intruder. Aus, dachte er. Sie hatten ihn. Sie hatten den toten Jungen gefunden und zwei und zwei zusammengezählt, und nun suchten sie ein Motorrad mit den dazu passenden Beschädigungen. In einer Minute würden die Handschellen klicken, und alles wäre vorbei. »Was ist denn da los?«, fragte Stefan. »Cops?« »Park Ranger«, antwortete Frank. Auch er klang ein wenig irritiert. »Cops gibt's hier nicht. Wir sind in einem Nationalpark. Aber sie haben hier die gleichen Befugnisse wie die Polizei, wenn nicht mehr. Ich frage, was sie wollen.« Er setzte sich in Bewegung. Nach kurzem Zögern folgten ihm Stefan und schließlich auch Mike.
Mike war in Panik. Es war vorbei. Gleich würden sie auf ihn zukommen, der eine mit gezogener Waffe, der andere schräg von hinten, um ihm Handschellen anzulegen. Er überlegte, ob sie ihn zu Boden werfen würden, um ihn zu fesseln. Alles war vorbei: schneller, als er geglaubt hatte. Frank wechselte einige Worte mit einem der beiden Ranger, einem breitschultrigen jungen Mann mit Bürstenhaarschnitt und einer schwarzen Sonnenbrille, der selbst ihn noch um ein gutes Stück überragte. Als Frank in seine Richtung deutete, wandte der Ranger den Kopf und starrte ihn durchdringend an. Mike konnte seine Augen hinter den schwarzen Gläsern der Sonnenbrille nicht erkennen, aber er spürte die Welle von Feindseligkeit, die von dem Mann ausging. Frank sagte noch etwas - und plötzlich lachte der Ranger. Sein Kollege stimmte in das Lachen ein, zog einen Notizblock aus der Brusttasche und kritzelte etwas darauf. Er riss das oberste Blatt ab und gab es Frank. Dann gingen beide zu ihrem Wagen zurück, stiegen ein und fuhren davon. »Was war denn los?«, wollte Stefan wissen. »Er hat mir die Adresse einer Suzuki-Werkstatt gegeben«, antwortete Frank. »Sie liegt direkt auf unserem Weg, gar nicht einmal weit von hier.« »Und das war alles?« Frank nickte. »Die beiden sind wohl selbst Motorradfahrer. Sie haben den Schaden gesehen und wollten nur wissen, ob dem Fahrer etwas passiert ist.« Er drehte sich zu Mike um. »Was ist los? Du bist kreideweiß. Kriegst du immer das große Flattern, wenn du einen Polizisten siehst?« Mike war im ersten Moment gar nicht in der Lage zu antworten. Er starrte Frank nur an, und der lähmende Schrecken wich allmählich einem Gefühl ungläubiger Erleichterung. Sie waren nicht gekommen, um ihn zu holen? Das war unglaublich! »Es ... ist schon in Ordnung«, sagte er lahm. »Mein Bein tut weh, das ist alles.«
Sie waren nicht seinetwegen gekommen. Niemand verdächtigte ihn. »Dann humpelst du besser ins Zimmer zurück«, sagte Stefan. »Ich wollte sowieso noch einmal nach der Maschine sehen.« »Und wir beide suchen in der Zeit die Hotelgutscheine«, meinte Frank. »Bete schon mal, dass sie nicht in der Tasche waren.« »Beten? Wieso?« »Weil wir dich sonst hinterherschmeißen, damit du sie suchst«, sagte Stefan grimmig. Mike lachte, laut und so herzhaft, dass Stefan nach einem Augenblick verwundert die Stirn runzelte angesichts so viel Heiterkeit wegen einer mehr dahingeworfenen als scherzhaften Bemerkung. Aber Mike lachte nicht über ihn. Während er zu ihrer Blockhütte ging, lachte er so laut und lange, bis ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Es war Erleichterung, aber auch Triumph. Das war nicht schlecht gewesen, dachte er. Der Dämon, den er aus dem Hogan mitgebracht hatte, besaß durchaus Fantasie. Diesmal hätte er ihn fast dazu gebracht, etwas ziemlich Dummes zu tun. Aber eben nur fast. Er hatte ihn erneut geschlagen, und er würde ihn wieder schlagen - und wieder und wieder. Er fühlte sich unbesiegbar. Frank und er durchsuchten sein Gepäck, und zwar sehr gründlich. Sie sahen an Stellen nach, an denen die Gutscheine gar nicht sein konnten, und Mike staunte über seine eigene Fähigkeit, perfekt den Zerknirschten zu spielen. Sie konnten das Heftchen mit den Hotelgutscheinen nicht finden. Es lag irgendwo am Grunde des Grand Canyon. Dafür hatte er schließlich gesorgt. »Ich fürchte, das hat keinen Zweck mehr«, sagte er, nachdem er die Reisetasche mit seinen Papieren zum dritten Mal durchsucht hatte. »Sie sind weg.«
»Sieht so aus«, seufzte Frank. »Mist! Und was tun wir jetzt?« »Packen?«, schlug Mike vor. Er sah auf die Uhr. Es war nach elf. »Eigentlich hätten wir das Zimmer schon vor zehn Minuten räumen müssen.« »Das meine ich nicht«, sagte Frank. »Wir wissen ja nicht einmal, in welches Hotel wir heute Abend müssen.« »Aber wir kennen die Stadt«, antwortete Mike. »Wir machen uns auf den Weg, und sobald es in Deutschland neun Uhr morgens ist, rufe ich im Reisebüro an und lasse mir die Adresse durchgeben. Sie können uns neue Gutscheine ins Hotel faxen.« »Hm«, meinte Frank zweifelnd. »Wenn du meinst, dass es so einfach ist.« »Ist es«, behauptete Mike. »Keine Sorge. Wenn alle Stricke reißen, spendiere ich uns für heute Nacht ein anderes Zimmer. Immerhin bin ich für den Mist ja auch verantwortlich.« »Da wage ich dir nicht zu widersprechen«, erwiderte Frank. Er sagte es in einem sonderbaren Ton, der Mike leicht alarmierte; so, als meinte er damit nicht nur das kleine Missgeschick im Hubschrauber. Aber Mike tat ihm nicht den Gefallen, nachzuhaken und ihm so das Stichwort zu geben, auf das er möglicherweise wartete. Stattdessen beugte er sich erneut über seine Tasche und begann diesmal, seine Sachen zusammenzupacken. Frank sah ihn noch einen Moment lang fast erwartungsvoll an, dann zuckte er mit den Schultern und begann ebenfalls seine Sachen zusammenzusuchen. Da sie nicht viel ausgepackt hatten, benötigten sie nur ein paar Minuten, um alles in ihren Gepäckrollen und Taschen zu verstauen. Mikes angeschlagenes Bein protestierte mit einem pochenden Schmerz, als er sich die Rolle auf die Schulter lud, und Frank blieb natürlich nicht verborgen, wie schwer es ihm fiel, aus dem Zimmer zu humpeln. Er bot ihm an, das Gepäck zum Motorrad zu tragen, aber Mike schüttelte nur wortlos den
Kopf und zwang sich, mit zusammengebissenen Zähnen (und Tränen in den Augen) weiterzuhumpeln. Er hatte den Dämon aus dem Hogan besiegt! Er hatte den Cops ein Schnippchen geschlagen, und er hatte auch seinen Plan einigermaßen erfolgreich auf den Weg gebracht. Er würde sich nicht von seinem eigenen verdammten Knie aufhalten lassen! Stefan schraubte am Vorderrad der Intruder herum, als sie den Parkplatz erreichten. Er sah nicht besonders zufrieden aus, aber als Frank ihn fragte, ob es irgendwelche Probleme gäbe, schüttelte er den Kopf. »Das wird schon halten, wenigstens bis zu der Werkstatt, von der der Ranger gesprochen hat. Habt ihr mein Gepäck mitgebracht?« »Ich hole es«, schlug Frank vor. »Nicht nötig. Ich muss mir sowieso noch die Hände waschen. Ihr könnt in der Zeit ja schon einmal auschecken, damit wir hier wegkommen. Wir haben noch ein hübsches Stückchen Weg vor uns. Der Helikopterflug war nicht geplant.« »Hat er dir nicht gefallen?« »Unsinn. Aber die Zeit könnte uns heute Abend fehlen.« »Wenn wir aus dem Park raus sind, kommt nur noch Wüste«, sagte Mike. »So interessant ist das nicht. Spielt doch keine Rolle, ob wir im Hellen oder im Dunklen durch die Wüste fahren.« »In einer fremden Umgebung macht das durchaus einen Unterschied, und das weißt du«, sagte Frank ärgerlich. »Also lasst uns so schnell wie möglich hier verschwinden.« Stefan ging in Richtung der Blockhütte davon. Frank wartete, bis er außer Hörweite war, dann drehte er sich mit einem Ruck zu Mike um und fragte in scharfem Ton: »Also - was ist los, zum Teufel?« »Los?« »Du weißt genau, was ich meine! Irgendwas stimmt nicht mit dir - und es hat nicht nur mit dem Unfall zu tun!« Und ob es das hat. Es hat nur damit zu tun. Aber das kann ich
dir nicht sagen. Vielleicht später, wenn wir zu Hause sind. In Sicherheit. »Ich bin nervös, das ist alles«, behauptete Mike. »Es hat nichts mit euch zu tun oder dem Unfall.« Er hob die Schultern. »Entzug.« »Entzug?« »Zigaretten«, erklärte Mike. »Ist dir nicht aufgefallen, dass ich seit gestern Nachmittag nicht mehr geraucht habe? Das macht ein bisschen kribbelig.« Frank sah ihn misstrauisch an. Er glaubte ihm kein Wort. Aber sein Argument war nicht so leicht zu widerlegen. »Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, ausgerechnet jetzt mit dem Rauchen aufzuhören«, wandte er ein. »Wer liegt mir denn seit Jahren damit in den Ohren?«, fragte Mike. »Ich«, antwortete Frank prompt. »Aber wenn du hier weiter so rumnervst, dann kaufe ich höchstpersönlich eine Stange Marlboro und stopfe sie dir in den Hals.« »West«, antwortete Mike. »Ich rauche West. Genauer gesagt, habe ich es bis gestern getan.« Und dabei würde es auch bleiben. Er verspürte nicht den geringsten Appetit auf eine Zigarette. Er hatte diese Schlacht gewonnen, und wenn er jetzt wieder freiwillig zur Zigarette griff, dann gab er nicht nur im Nachhinein die Schlacht, sondern den ganzen Krieg verloren. Die Zigaretten waren ein Symbol, das unvorstellbar wichtig geworden war. Er drehte sich zu seinem Motorrad um und begann sein Gepäck zu verstauen. »Sagtest du gerade: zweihundertfünfzig Meilen?« Stefan hörte sich nicht nur so an, als ob ihn gleich der Schlag treffen würde - er sah auch so aus. Die Cola-Dose, aus der er gerade getrunken hatte, zitterte leicht in seiner Hand. »So ungefähr«, antwortete Mike. »Plus/minus zehn oder zwanzig Meilen. Kommt drauf an, welche Strecke wir nehmen.
Es gibt zwei. Die eine ist kürzer, die andere schöner.« »Das sind gut und gerne vierhundert Kilometer.« Stefan nippte noch einmal an seiner Cola, stellte die Dose mit einem Knall auf den Tisch und stand auf. »Worauf warten wir dann noch? Lasst uns Gummi geben!« »Immer mit der Ruhe«, sagte Frank. »Es ist gerade mal zwei. Selbst wenn wir nur fünfzig Kilometer in der Stunde schaffen, sind wir um zehn in Moab. Spätestens um elf. Oder hast du heute Abend noch irgendetwas Besonderes vor?« Er ließ den Oberkörper zurücksinken, streckte die Arme aus und reckte sich ausgiebig. »Wir sind schließlich im Urlaub und nicht auf der Flucht. Leute, ist das nicht herrlich hier?« Das war es. Sie waren von der Hotelanlage aus in die gleiche Richtung aufgebrochen, aus der sie am vergangenen Abend gekommen waren, nachdem Mike eine Proberunde auf dem Parkplatz gedreht und festgestellt hatte, dass ihm sein lädiertes Bein beim Fahren unerwartet wenig Probleme bereitete. Seither hatten sie vier oder fünf kurze Zwischenstopps eingelegt, um die ein oder andere Sehenswürdigkeit zu besichtigen oder einfach nur den grandiosen Anblick zu genießen, den der Grand Canyon bot. Er hatte nichts von seiner Faszination verloren, sondern schien im Gegenteil in jedem Moment anders und beeindruckender zu sein, manchmal schon, wenn man sich nur einen Schritt zur Seite bewegte. Jetzt saßen sie auf einer kleinen, roh aus Eichenbalken zusammengezimmerten Bank, die von nichts weiter als einem hüfthohen Eisengeländer von einer Kante getrennt wurde, hinter der der rote Fels gute tausend Meter senkrecht in die Tiefe stürzte. »Das ist es«, gestand Stefan. Er sah zuerst Frank und dann Mike an, hob im selben Moment schon wieder die Schultern und nahm fast widerwillig wieder Platz. Sie hatten ein einfaches Mittagessen - paniertes Hühnchen und die schlabberigen Dinger, die die Amerikaner für Pommes frites hielten - in dem kleinen Imbiss eingenommen, der hier am Rande der Schlucht
lag, und Mike war offensichtlich nicht der Einzige, in dem sich ein gewisses Gefühl von Trägheit ausgebreitet hatte. Er hätte kein Problem damit gehabt, sich jetzt zurückzulehnen, die Augen zu schließen und hier am Rande des Grand Canyon einzuschlafen. Aber Stefan hatte natürlich vollkommen Recht. Sie hatten noch ein ziemlich langes Stück Wegs vor sich, wenn sie ihre heutige Tagestour schaffen wollten. Und das mussten sie. Moab, ihr nächstes Etappenziel, lag in Utah, einem anderen Bundesstaat. Es war ungeheuer wichtig, dass sie aus Arizona heraus waren, bevor man aus dem Fund des toten Jungen die richtigen Schlüsse zog und eine Hetzjagd auf einen Motorradfahrer mit reichlich demolierter Maschine eröffnete. »Ich geh dann schon mal bezahlen.« Stefan stand hastig auf. »Ihr beide könnt ja währenddessen noch ein bisschen Schönheitsschlaf halten.« »Prima Idee«, sagte Frank gähnend. »Lass dir Zeit.« Mike grinste. Fast zu seiner eigenen Überraschung fühlte er sich entspannt und so gelassen, als wäre gestern tatsächlich nicht mehr als ein kleines Missgeschick passiert. Er ließ die Einzelheiten seines Planes noch einmal in Gedanken Revue passieren, während er Stefan dabei zusah, wie er sich dem Imbiss näherte und darin verschwand. Es gab im Moment nur zwei Dinge, die wichtig waren: Sie mussten diesen Bundesstaat verlassen, und er musste ihre Spuren verwischen. Bis zur Staatsgrenze von Utah waren es knapp hundertfünfzig Meilen; vielleicht drei oder vier Stunden, wenn sie den Nationalpark erst einmal verlassen hatten. Wenn seine aus Spielfilmen und Romanen gewonnenen Informationen über das amerikanische Rechtssystem stimmten, dann waren sie erst einmal aus dem Schneider, sobald sie die Staatsgrenze überschritten hatten. Und wenn nicht... Genau wegen dieses »Wenns« vergammelte das Heftchen mit den Hotelgutscheinen jetzt auf dem Grund des Grand Canyon. Wenn die Polizei die Spuren, die er am Unfallort hinterlassen
hatte, richtig deutete und nach drei jungen Männern auf Motorrädern suchte, von denen eines beschädigt war, konnte es nicht allzu lange dauern, bis sie auf den Motorradverleih in Phoenix kamen, und dort war ihre genaue Route bekannt, einschließlich der Hotels, in denen sie übernachteten. Nur, dass sie dort nicht übernachten würden! Spätestens morgen Nacht würden sie nicht einmal mehr in der Stadt sein, in der die Cops sie möglicherweise vermuteten. Mike hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Stefan und Frank dazu bringen würde, von ihrer monatelang minutiös geplanten Route abzuweichen, aber irgendwie würde er es schon schaffen. Er würde einfach das tun, worin er wirklich gut war: sehen, was geschah, und dann entsprechend improvisieren. Er stand auf. »Komm, bevor Stefan noch der Schlag trifft.« Frank zog eine Grimasse, setzte sich aber trotzdem gehorsam auf und stemmte sich dann an der Tischkante in die Höhe. »Meinetwegen. Obwohl ich hier glatt überwintern könnte. Die Tour war zu knapp geplant, weißt du? Wir hätten einen ganzen Tag allein für das hier einplanen sollen. Mindestens.« »Vielleicht kommen wir ja irgendwann einmal wieder«, sagte Mike. »Weißt du, ich habe mir überlegt, dass wir die ganze Tour in ein oder zwei Jahren noch einmal machen könnten mit einem Wagen und unseren Frauen.« »Prima Idee«, sagte Frank, allerdings ohne sonderliche Begeisterung. Doch das war egal. Sie würden sowieso nicht wiederkommen. Falls es Mike gelang, dieses Land zu verlassen, würde er in seinem ganzen Leben keinen Fuß mehr auf amerikanischen Boden setzen. Er hörte ein Brummen; ein fernes Grollen, das wie das Geräusch eines Motorrades klang, aber irgendwie machtvoller war, als wäre es ein durch und durch gigantisches Motorrad mit einem Hubraum von zehn LKWs. Es näherte sich von Osten, aus der Richtung, in die sie fuhren. Frank legte den Kopf schräg und lauschte einen Moment,
dann hob er die Schultern und ging vor Mike her zu den Motorrädern. Kurz bevor sie sie erreichten, gesellte sich Stefan zu ihnen. Auch er hob für einen Moment den Kopf und lauschte, dann sagte er: »Harleys. Ziemlich viele.« Er hatte Recht. Das Grollen wurde lauter und wuchs zu einem so tiefen Dröhnen an, dass Mike das Geräusch als schwache Vibration in seiner Brust spüren konnte, dann tauchte das erste Motorrad hinter der Straßenbiegung auf. Es war eine Harley Davidson, ein sehr schweres, niedrig gebautes Motorrad mit einem hochgezogenen Lenker und mehr als einem halben Dutzend Scheinwerfern, deren Licht selbst jetzt am Tage blendend hell war. Der Fahrer war ein fetter, mindestens drei Zentner schwerer Bulle mit langem Haar, bis zum Bauchnabel reichendem Bart und Sonnenbrille, der Jeans und eine dazu passende Jacke mit abgerissenen Ärmeln trug. Hinter seinem Rücken flatterte eine Südstaaten-Flagge, die er mit einer Stange am Sattel der Harley befestigt hatte. Er trug Handschuhe ohne Finger, aber keinen Helm. Hinter der ersten tauchten eine zweite und dritte Harley auf, und dann ein ganzer Pulk; mehr als ein Dutzend, schätzte Mike, wenn nicht gar zwei. »Da kommt die Kavallerie«, sagte Frank. »Beeindruckend, nicht?«, fragte Stefan. »Muss ein geiles Gefühl sein, mit den Jungs zu fahren.« »Das meinst du nicht ernst«, behauptete Frank. »Das sind genau die Typen, denen die fünfundneunzig Prozent anderer Motorradfahrer ihren schlechten Ruf verdanken«, pflichtete ihm Mike bei. »Blödsinn!«, sagte Stefan. »Die Jungs sehen doch nur ein bisschen wild aus. Die meisten sind ganz harmlos.« »Wollen wir hoffen, dass du Recht hast«, sagte Frank. »Sie kommen nämlich hierher.« Der Motorrad-Pulk bog tatsächlich von der Straße ab und rollte, langsamer werdend, auf den Parkplatz, auf dem die
Maschinen der drei Freunde standen. Stefan hob die Hand und winkte, und zwei oder drei der Harley-Fahrer erwiderten den Gruß. Die meisten sahen allerdings nicht einmal in ihre Richtung. Mike hoffte, dass Stefan mit seiner Einschätzung richtig gelegen hatte, und es sich tatsächlich nur um ein paar harmlose Jungs handelte, die Spaß daran hatten, sich ausgeflippt anzuziehen und die Leute mit ihrem brachialen Auftreten zu erschrecken. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass Stefans Einschätzung grundsätzlich kaum falsch sein konnte. Die meisten so genannten Rocker waren friedlich, solange man sie nicht reizte. Aber eben nur die meisten. Es gab auch die Ausnahmen, und irgendetwas sagte ihm, dass diese Jungs hier dazugehörten. Er schüttelte den Gedanken ab. Es gab überhaupt keinen Grund für diese Annahme. Anderthalb Dutzend Motorradfahrer, die sich zu einem Tagesausflug im Grand Canyon getroffen hatten, mehr nicht. Was er spürte, war das Ding aus dem Hogan. Seine Angst war wieder da. Sie war die ganze Zeit über da gewesen und hatte geduldig auf ihre Chance gewartet; einen Hebel, den sie an der richtigen Stelle ansetzen konnte, um die Mauer niederzureißen, hinter der er sie eingesperrt hatte. Einen besseren Hebel als diese Hells-Angels-Kopien konnte sie sich kaum wünschen. »Lasst uns fahren«, sagte Frank. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Er klang ein bisschen nervös, und er musste mittlerweile fast schreien, um sich verständlich zu machen. Offensichtlich teilte er Stefans Begeisterung für die HarleyFahrer so wenig wie Mike. Die Harleys kamen näher, schwenkten plötzlich mit fast militärischer Präzision nach links und hielten eine neben der anderen am Straßenrand an, nicht einmal zehn Meter neben den drei Intrudern. Kaum einer der Männer sah auch nur in ihre Richtung. Dafür betrachtete Mike sie umso genauer. Er war jetzt sicher,
es nicht mit ein paar harmlosen Motorrad-Freaks zu tun zu haben. Keiner der Burschen war wesentlich kleiner als der Anführer mit der Rebellenfahne, und die meisten waren ähnlich wie er gekleidet. Einige wenige trugen schwarzes Leder, und eines war all diesen Männern gemein: Mike spürte die von ihnen ausgehende Gewaltbereitschaft. Vermutlich waren sie nicht mit dem festen Vorsatz hergekommen, einen Streit zu beginnen, aber sie waren sich der Tatsache bewusst, dass sie Furcht verbreiteten: Und sie genossen es. Einer der Männer unterschied sich vom Rest der Gang. Er war schlank, trug einen Motorrad-Anzug aus schwarzem Leder und als Einziger einen Helm. Er befand sich fast am anderen Ende der Gruppe, sodass Mike ihn kaum sehen konnte, aber irgendetwas an ihm erweckte seine Aufmerksamkeit, und es war nicht nur der Helm. Nein, der Helm mit dem schwarzen Visier war nicht das Einzige, was diesen Mann von den anderen unterschied. Er bewegte sich anders. Langsamer, aber zugleich auch irgendwie ... eleganter. Diese Harley-Fahrer waren wie ihre Maschinen, groß und behäbig, geballte Kraft. Dieser Mann wirkte ... anders. Auf seine Art vielleicht gefährlicher als der Rest der Hells Angels; eine Schlange unter Löwen. Dann drehte er sich halb um, hob beide Arme zum Kopf und nahm den Helm ab. Er hatte langes, bis weit über die Schultern fallendes glattes schwarzes Haar und ein schmal geschnittenes, fast aristokratisches Gesicht mit einer leichten Hakennase und rotbrauner, sonnengegerbter Haut. Mike erstarrte. Der Indianer legte den Helm auf den Soziussitz seines Motorrades, drehte sich vollends um und blickte zu ihm herüber. Mike glaubte zu spüren, wie sich eine eisige, unmenschlich starke Hand um sein Herz legte und es ganz langsam zusammendrückte. Der Indianer stand hoch aufgerichtet und reglos da. Sein Gesicht war vollkommen unbewegt, aber in seinen Augen war die
Andeutung eines wissenden Lächelns, und er sah Mike nicht einfach nur an - er schien ihn zu erkennen. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war nicht irgendein Indianer. Es war der Vater des Jungen, der gekommen war, um ihm die Rechnung zu präsentieren. »He, was ist los mit dir?« Frank legte Mike die Hand auf die Schulter, aber Mike reagierte nicht. Er starrte den Indianer weiter an und war gar nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es konnte Zufall sein. Es musste Zufall sein. Ein Indianer, na und? Sie waren hier schließlich im Land der Indianer, und warum sollten Indianer nicht Motorrad fahren? Es war nicht der Vater des toten Jungen. Er konnte es gar nicht sein, sondern sah ihm höchstens ähnlich. Das Motorrad des Indianers flackerte. Es ging so schnell, dass es schon wieder vorbei war, noch bevor Mike Zeit fand, genauer hinzusehen. Für einen winzigen Moment war die Maschine kein Motorrad mehr, sondern ... etwas anderes. Etwas Dunkles, Reißendes, mit Zähnen und Krallen und bösen, dunklen Augen. Etwas, das gar nicht sein konnte. »Verdammt, hör auf, die Typen anzustarren«, zischte Frank. »Bist du scharf auf Ärger?« Mike reagierte nicht, sondern starrte weiter auf das Motorrad. Es war ein Motorrad. Nur ein Motorrad. Es war niemals etwas anderes gewesen! »Verflucht, hör auf.«, keuchte Frank. »Willst du mit Gewalt Ärger haben?« Es war zu spät. Er hatte sich auffällig genug benommen, um die Aufmerksamkeit der Hells Angels auf sich zu ziehen. Mittlerweile starrte nicht nur der Indianer in seine Richtung, sondern auch einige der anderen. Mike fragte sich verzweifelt, was um alles in der Welt er jetzt tun sollte. Wenn er die Burschen weiter anstarrte, fühlten sie sich garantiert provoziert, aber dasselbe galt möglicherweise, wenn er sich abwandte und zu
seinem Motorrad ging. Hinter ihnen ertönte ein kurzes, schrilles Jaulen. Mike drehte sich um, und erblickte einen Wagen der Park Ranger, der im Schritt-Tempo näher kam. Das rote Licht auf dem Dach flackerte, und die Sirene stieß noch einmal dieses kurze, abgehackte Jaulen aus. Der Wagen rollte langsam heran und kam unmittelbar neben Stefans Intruder zum Stehen. Die Türen gingen auf, und zwei Park-Ranger stiegen aus. Frank atmete hörbar auf. »Das nenne ich Glück«, sagte er. »Manchmal sind die Bullen eben doch da, wenn man sie braucht.« Es waren die beiden Beamten, denen sie schon am Morgen auf dem Parkplatz begegnet waren. Mike atmete innerlich ebenfalls auf. Frank sagte etwas zu dem Beamten, der ihm den Zettel gegeben hatte, bekam aber keine Antwort. Die beiden Männer konzentrierten sich ganz auf die Motorrad-Gang. Sie wirkten nicht ängstlich oder nervös, aber ziemlich angespannt. Mike begriff nur zu gut, warum. »Los, hauen wir ab«, sagte Frank. »Bevor es hier noch Ärger gibt.« Mike humpelte zu seiner Maschine, löste den Helm vom Lenker und setzte ihn auf. Er brauchte einige Sekunden, bis er seinen Schlüssel in der Jackentasche gefunden und ausgegraben hatte. Stefan war etwas schneller. Er saß bereits im Sattel und drückte den Anlasser, aber einer der beiden Ranger drehte sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. Stefan machte ein fragendes Gesicht, schaltete aber gehorsam den Motor aus und setzte den Helm ab. »Was ist los?«, fragte Mike. Frank zuckte nur mit den Achseln. Stefan begann mit leiser Stimme auf den Ranger einzureden. Mike hatte zu große Probleme mit dem Western-Akzent, um mehr als ein paar Brocken seiner Antwort zu verstehen, aber er
hätte schon taub sein müssen, um nicht mitzubekommen, dass der Park-Ranger nicht mehr annähernd so freundlich war wie am Morgen. »Was ist los?«, fragte er noch einmal. »Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Irgendwas stimmt nicht.« Das hatte Mike mittlerweile auch schon mitgekriegt. Der zweite Ranger stand ebenfalls neben Stefans Intruder, sah aber nicht Stefan an, sondern die Maschine. Bei den Rockern war es still geworden. Mike riskierte einen raschen Blick und stellte fest, dass sie ausnahmslos in ihre Richtung blickten. Der Indianer hatte seinen Helm wieder aufgesetzt und war näher gekommen. Einer der beiden Ranger bedeutete Stefan mit Gesten, vom Motorrad zu steigen, während sich der andere unauffällig von hinten näherte. »Was ist los?« »Er will, dass er die Satteltaschen aufmacht«, sagte Frank stirnrunzelnd. »Und jetzt frag mich bitte nicht, warum. Ich verstehe es nicht.« Stefan offensichtlich auch nicht, denn er schüttelte zornig den Kopf und erwiderte etwas, das den Ranger regelrecht wütend zu machen schien, denn er fuhr ihn nun in scharfem Ton an. »Sei vernünftig«, sagte Frank laut und an Stefan gewandt. »Tu ihnen den Gefallen, und zeig ihnen, was sie wollen, damit wir endlich von hier verschwinden können.« Er stieg ab und wandte sich an den Ranger, mit dem er schon am Morgen gesprochen hatte, bekam aber offenbar nur eine rüde Abfuhr. Um die Satteltaschen zu öffnen, musste Stefan die Gepäckrolle vom Soziussitz nehmen, was nicht sonderlich kompliziert, aber ausgesprochen lästig war. Er zierte sich noch einen Augenblick, löste dann aber die Gummibänder und wuchtete das sperrige Gepäckstück zur Seite. Der Ranger deutete ungeduldig
auf die Packtaschen, Stefan zuckte resignierend mit den Achseln und begann auch sie auszuräumen. Darin war genau das, was Mike erwartet hatte: zusammengerollte Kleidungsstücke, ein Paar Ersatzhandschuhe, Karten, Stefans Regenkleidung und zwei sorgsam mit Gummibändern verschnürte, blaue Plastiktüten. Auf Stefans Gesicht erschien ein überraschter Ausdruck, als er die beiden Kunststoffsäcke hervorholte und auf den Sitz der Intruder legte. »Was ist denn das?«, murmelte er. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, interessierte den Ranger die Antwort auf diese Frage mindestens ebenso brennend wie Stefan selbst. Er machte eine entsprechende auffordernde Geste, Stefan hob abermals die Schultern und begann nervös an den Gummibändern herumzuzupfen, mit denen die Tüte zusammengehalten wurde. Einer der Harley-Fahrer kam näher und sagte etwas in spöttischem Ton, was von seinen Kumpanen mit schallendem Gelächter quittiert wurde. Der Ranger mit dem Bürstenhaarschnitt warf ihnen einen zornigen Blick zu, und das Gelächter wurde eine Spur leiser; aber wirklich nur eine Spur. Mike sah aus den Augenwinkeln, dass auch der Indianer näher gekommen war. Etwas bewegte sich zwischen den Motorrädern. Etwas Dunkles, Gefährliches, mit Klauen und mörderischen Reißzähnen. Mittlerweile hatte Stefan die Plastiktüte geöffnet und hineingegriffen. Mike sah, wie er für einen Moment in der Bewegung erstarrte und sein Gesicht alle Farbe verlor. »Sag nicht, dass es das ist, was ich glaube«, murmelte Frank. »Aber das ... das kann doch gar nicht sein«, stammelte Stefan. »Das ist doch nicht möglich.« Er zog die Hand aus der Tüte. Mike hätte das, was er darin hielt, für ein achtlos ausgerissenes Büschel Unkraut halten können. Aber er wusste nur zu gut, was es war. »Hast du den Verstand verloren?«, flüsterte Frank. Die Frage galt Stefan, aber er sah nicht ihn an, sondern starrte aus weit
aufgerissenen Augen auf den saftig-grünen Schössling, den Stefan in der Hand hielt. Er sah mickerig aus, verkrüppelt. Aber natürlich war das genaue Gegenteil der Fall. »Ich war das nicht«, beteuerte Stefan. »Ich habe keine Ahnung, wie das Zeug in meine Satteltaschen kommt. Das schwöre ich! Es war heute Morgen noch nicht darin!« »Du bist übergeschnappt«, sagte Frank leise. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Hast du dein Gehirn beim Zoll abgegeben und dort liegen lassen?« »Ich war es nicht!«, schrie Stefan. »Ich bin doch nicht komplett blöde!« Der Ranger unterbrach ihn in rüdem Ton und deutete dabei herrisch auf die zweite Plastiktüte. Keiner von ihnen war überrascht, als darin ein weiterer, sorgsam ausgegrabener Bonsai zum Vorschein kam. »Das war's dann wohl«, sagte Frank düster. »Das Zeug steht unter Naturschutz. Die Amis verstehen da keinen Spaß. Und die Park-Ranger schon gar nicht.« »Ich habe keine Ahnung, wie das Zeug in meine Satteltaschen kommt«, sagte Stefan noch einmal. Aus dem Schrecken in seiner Stimme wurde etwas anderes. Wut? »Ich war das nicht«, beteuerte er noch einmal. »Aber außer dir und uns beiden war niemand in diesem Park«, sagte Frank. »Eben«, sagte Stefan böse. »Was willst du damit sagen?« »Nichts«, antwortete Stefan. »Nichts anderes als du. Außer mir und euch beiden war niemand da. Und ich habe dieses verdammte Zeug nicht in meine Satteltaschen getan.« Das war nicht ganz die Wahrheit, dachte Mike. Außer ihnen dreien war noch jemand im Park gewesen. Er war vermutlich noch da, in den Boden gerammt und mit einem Gesicht, das zu Mus zermanscht worden war. »Was willst du damit sagen?«, fragte Frank noch einmal. Er
klang jetzt nicht mehr zornig, sondern einfach nur fassungslos. Stefan kam nicht dazu, zu antworten. Der Ranger packte ihn grob an der Schulter und zerrte ihn herum. Mit der anderen Hand griff er nach hinten, um die Handschellen aus dem Gürtel zu ziehen. Mike hielt die Luft an, als er sah, wie Stefan sich spannte. Stefan war nicht unbedingt der beherrschteste Mensch, den er kannte. Und er schleifte im Moment mit den Nerven am Fußboden, wie sie alle. »Tu jetzt nichts, was du bedauern würdest«, sagte Frank. Vermutlich hörte Stefan die Worte gar nicht, aber er riss sich im letzten Moment zusammen, entspannte sich sichtbar und zwang sogar ein verkniffenes Lächeln auf sein Gesicht. Der Ranger hatte die Handschellen aus dem Gürtel gezogen, machte aber noch keine Anstalten, sie Stefan anzulegen, sondern hatte sich halb umgedreht, um zu seinem Partner zu sehen. Der zweite Ranger war in eine hitzige Diskussion mit mehreren Rockern verstrickt. »Was geht da vor?« »Ärger«, antwortete Frank gepresst. »Die Jungs regen sich darüber auf, dass die Ranger nichts Besseres zu tun haben, als harmlose Biker zu terrorisieren.« »Ich dachte, Suzuki-Fahrer sind für echte Harley-Fans Abschaum«, sagte Mike. »Sind sie«, bestätigte Frank. »Gleich nach den Cops. Die Kerle sind schon mit dem festen Vorsatz hierher gekommen, jemanden aufzumischen. Wenn die Ranger nicht aufgetaucht wären, hätten sie sich wahrscheinlich uns vorgeknöpft.« Womit er vermutlich den Nagel auf den Kopf traf. Fanatische Harley-Fans verachteten jeden, der ein Motorrad einer anderen Marke fuhr, und japanische Chopper hassten sie regelrecht. Aber nun waren die Ranger aufgekreuzt, um ein paar deutschen Bikern Ärger zu machen, und ihr Auftreten als Staatsgewalt musste den Hells Angels geradezu wie die Aufforderung zu einer hübschen kleinen Provokation erscheinen. Mike war
allerdings nicht sicher, ob er froh darüber sein sollte. Ganz und gar nicht. Die beiden Ranger schienen das wohl genauso zu sehen, denn ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun ganz auf den Anführer der Hells Angels: den Mann mit der Rebellenfahne am Sattel. Mike verstand nicht, was gesprochen wurde, aber das musste er auch nicht. Allein die Körpersprache der beiden Ranger sagte ihm mehr als genug. Sie standen hoch aufgerichtet und in eindeutig aggressiver Haltung vor dem Rocker, als hätten sie es nur mit einem einzigen Mann zu tun, nicht mit annähernd zwei Dutzend. Vom Prinzip der Deeskalation, das die deutsche Polizei seit Jahren einigermaßen erfolgreich praktizierte, schien man hier in den Staaten nicht besonders viel zu halten. Staatsgewalt, dachte er. Die beiden Ranger repräsentierten die ordnende Macht des Staates, und diese Autorität durfte nicht nachgeben, nicht einem und nicht Hunderten von Hells Angels. Mike hatte immer gewusst, dass die Amerikaner ein ganz besonders inniges Verhältnis zur Gewalt hatten, aber ihm war noch niemals so deutlich wie jetzt zu Bewusstsein gekommen, wie fremd ihm diese Philosophie war. Sein Blick suchte den Indianer. Im ersten Moment konnte er ihn nirgendwo entdecken, doch dann bemerkte er ihn unmittelbar hinter dem Anführer der Hells Angels, so deutlich, dass er sich fragte, wie zum Teufel er ihn auch nur für einen Sekundenbruchteil hatte übersehen können. Er trug immer noch den Helm. Das schwarze Visier war heruntergeklappt, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und rührte sich nicht. Trotzdem wirkte er bedrohlicher als der drei-Zentner-Mann vor ihm, der hektisch mit beiden Händen in der Luft herumfuhrwerkte und die beiden Ranger mittlerweile offen anschrie. Es ging so schnell, dass selbst Mike es kaum sah, ganz zu schweigen seine beiden Freunde: Der Indianer hob den Arm, und der Rocker-Chef vollzog die Bewegung so getreulich nach
wie eine Marionette, deren Spieler an den Fäden zog. Sein erster Fausthieb verfehlte das Gesicht des Rangers, der offenbar mit einem Angriff gerechnet hatte, denn er drehte blitzschnell den Oberkörper zur Seite und steppte einen halben Schritt nach links. Aber auch der Indianer reagierte sofort. Er machte eine weitere Marionettenspieler-Bewegung, der Rocker trat nach vorne und rammte dem Ranger die Faust mit solcher Wucht in den Leib, dass dieser mit einem atemlosen Japser zusammenklappte. Der Indianer riss das Knie in die Höhe, das Knie des Hells Angels vollzog die Bewegung nach und landete mit einem dumpfen Laut genau im Gesicht des Park-Rangers. Die Rocker johlten Beifall, als der Mann bewusstlos zusammenbrach. »Scheiße!«, sagte Frank inbrünstig. Der Indianer ... verschwand. Er rannte nicht davon oder zog sich in den Kreis der anderen Rocker zurück, sondern er war von einem Sekundenbruchteil auf den anderen einfach nicht mehr da - aber damit war die Gefahr längst nicht vorüber! Der zweite Ranger beging nicht den Fehler, seinem Kollegen zu Hilfe zu eilen, oder den Schlagstock zu ziehen, der in seinem Gürtel steckte, sondern tat das einzig Vernünftige: Er wirbelte auf dem Absatz herum und rannte zu seinem Wagen. Es nutzte ihm nichts. Zwei oder drei Hells Angels amüsierten sich damit, die Festigkeit ihrer Stiefelspitzen an den Rippen des Rangers auszuprobieren, der verkrümmt zwischen ihnen am Boden lag, aber der Rest der Bande stürzte johlend hinter seinem fliehenden Kollegen her. Frank brachte sich mit einem fast verzweifelt wirkenden Sprung in Sicherheit, aber Stefan reagierte zu spät und wurde einfach über den Haufen gerannt. Er stürzte, rollte sich instinktiv auf den Bauch und schlug die Arme über dem Kopf zusammen, während zwei Rocker mit solcher Wucht gegen Mikes Maschine prallten, dass er um ein Haar zusammen mit der Intruder zu Boden gegangen wäre. Irgendwie schaffte er es, den Sturz zu vermeiden, und seine
nächste Handlung war nicht geplant, sondern ein reiner Reflex - und rettete ihm möglicherweise das Leben: Noch während er verzweifelt um das Gleichgewicht der kippenden Maschine kämpfte, drückte sein rechter Daumen den Anlasser. Er rammte den Gang hinein, riss mit aller Kraft am Gasgriff, und der Motor der Intruder brüllte auf und katapultierte ihn regelrecht nach vorne. Fast wäre er doch noch gestürzt, als das Hinterrad der Intruder ausbrach und er erneut das Gleichgewicht zu verlieren drohte; dann hatte er das Motorrad endlich wieder in der Gewalt und brachte es mit einem Ruck zum Stehen. Hastig drehte er sich im Sattel um. »Stefan! Frank! Worauf wartet ihr?!« Er bezweifelte, dass einer der beiden seine Worte hörte. Stefan hatte es irgendwie geschafft, sich in Sicherheit zu bringen, und Frank sprang genau in diesem Moment in den Sattel, um dasselbe zu tun wie Mike, nämlich seine Haut zu retten. Die Hells Angels hatten den Streifenwagen mittlerweile erreicht und eingekreist. Einige von ihnen hämmerten mit Fäusten auf das Dach ein oder traten gegen die Türen, und ein paar andere begannen den Wagen rhythmisch hin- und herzuschaukeln. Der Ranger war immerhin geistesgegenwärtig genug gewesen, die Türen von innen zu verriegeln. Er hielt das Mikrofon seines Funkgerätes in der Linken, die Rechte war irgendwo unter dem Armaturenbrett verschwunden. Trotz des Johlens und Brüllens der Rockerbande konnte Mike das Wimmern des Anlassers hören. Frank startete seine Maschine und brachte sie mit einem einzigen Ruck neben Mikes Intruder, aber Stefan tat etwas in Mikes Augen durch und durch Wahnsinniges: Statt auf sein Motorrad zu springen und sein nacktes Leben zu retten, kroch er auf Händen und Knien herum und raffte sein Gepäck zusammen! »Stefan!«, brüllte Frank.
»Bist du übergeschnappt? Wir müssen abhauen!« Stefan reagierte nicht, sondern fuhr fort, seine Habseligkeiten zusammenzuraffen und in die Gepäckrolle zu stopfen, aber mindestens zwei der Hells Angels wurden auf Franks Rufe aufmerksam. Sie ließen von dem Streifenwagen ab und wandten sich Stefan zu. Die Zeit schnappte zurück, und die Dämonen der Angst waren wieder da. Alles war wie früher. Mike starrte die beiden Rocker an, und er sah in einer blitzartigen, hyperrealistischen Vision, was weiter passieren würde. Die beiden Kerle würden sich auf Stefan stürzen und ihn zusammenschlagen, und selbstverständlich würde Frank ihm helfen. Weitere Rocker würden sich auch auf ihn stürzen und ihn halb totprügeln, und ebenso selbstverständlich würde er, Mike, sich nicht rühren, sondern wimmernd vor Furcht dasitzen und feige zusehen, wie seine beiden Freunde fertig gemacht wurden. Aber es würde ihm nichts nutzen, denn danach würden sie sich auf ihn stürzen, ganz gleich, ob er reglos zusah oder zu fliehen versuchte. Riesige, brutale Kerle mit schrecklichen Fäusten, die sie in sein Gesicht hämmern würden; Kerle, die Freude daran hatten, ihm wehzutun, ihn zu verletzen oder gar umzubringen. Er wimmerte vor Angst. Es kam alles ganz anders. Frank stieg nicht von seinem Motorrad ab, um Stefan zu Hilfe zu eilen und auf diese Weise Selbstmord zu begehen, und die beiden Rocker stürzten sich nicht auf ihr neues Opfer. Der Indianer war wieder da. Er stand plötzlich hinter Stefan - einfach so, wie ein Gespenst, das in der Lage war, zwischen Licht und Schatten zu wandeln. Diesmal war er kein Marionettenspieler. Er bewegte sich nicht, sondern starrte die beiden Hells Angels nur durch das schwarze Visier hindurch an. Die Wirkung war unheimlich: Die beiden Kerle erstarrten für eine halbe Sekunde mitten in der Bewegung, als hätte der Phantom-Indianer die Zeit
angehalten. Dann verloren sie schlagartig jedes Interesse an Stefan und kehrten ansatzlos zu den anderen zurück. Der Motor des Streifenwagens erwachte mit einem schrillen Heulen zum Leben, aber das Fahrzeug rührte sich nicht vom Fleck. Die meisten Scheiben des Wagens waren mittlerweile unter den Schlägen der Rocker geborsten und hatten sich in milchige Spinnwebmuster verwandelt, hielten dem wütenden Trommelfeuer aber wie durch ein Wunder weiterhin Stand. Vier oder fünf der Kerle hatten die hintere Stoßstange des Streifenwagens gepackt und hoben das Heck ohne Probleme hoch, sodass die Räder durchdrehten, ohne den Boden zu berühren. »Stefan!«, brüllte Frank. »Lass den Scheiß liegen und komm!« Stefan hatte seinen Scheiß mittlerweile vollends in die Gepäckrolle gestopft, warf sie sich wie einen Rucksack über die Schulter und bückte sich nach seinem Helm. Währenddessen griffen weitere Rocker die Idee ihrer Kumpel auf und stemmten den Wagen in die Höhe. Der Motor heulte gequält auf, und einer der Hells Angels sprang mit einem Schmerzensschrei zurück, als das Gummi der durchdrehenden Hinterreifen sein Bein verbrannte. Endlich sprang Stefan auf seine Maschine. »Fahrt!«, brüllte er. »Los!« Frank gab Gas, und auch Mike fuhr an und entfernte sich fünfzehn oder zwanzig Meter weit, ehe er wieder anhielt, um auf Stefan zu warten. Beinahe hätte Stefan es nicht geschafft. Seine Intruder sprang zwar sofort an und jagte mit einem Satz los, aber der Helm, den er in der linken Hand hielt, und das schlecht ausbalancierte Gewicht der Gepäckrolle auf seinem Rücken brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Das Motorrad schleuderte, geriet für einen Moment in eine so bedrohliche Schräglage, dass ein Sturz fast sicher schien, richtete sich dann aber wie durch ein Wunder
wieder auf. Stefan brachte die Intruder mit kreischendem Hinterreifen neben Mike zum Stehen, stülpte den Helm über und rückte fluchend die Last auf seinem Rücken zurecht. »Weg hier!«, keuchte er. »Los! Wir treffen uns am Ausgang!« Mike sah noch einmal zurück. Der Indianer war verschwunden. Genau in diesem Moment stürzte der Streifenwagen mit einem gewaltigen Krachen auf die Seite. Die Frontscheibe zerplatzte endgültig zu Millionen rechteckiger Splitter, und der Ranger wurde gegen das Lenkrad und halb aus dem Wagen geschleudert. Der Motor erstarb. Mike war sicher, dass die Kerle den Ranger umbringen würden. Er trat den ersten Gang hinein, ließ die Kupplung springen und raste los. Sie hielten erst wieder an, als die Grenze des Grand Canyon National Parks beinahe fünf Meilen hinter ihnen lag und rings um sie herum nichts anderes als Wüste und kantige rote Felsen waren. Mike hatte für eine Weile den Anschluss verloren. Stefan und Frank waren wie die Teufel gefahren, und seine eigene Maschine war mittlerweile zu angeschlagen, um mit ihnen mithalten zu können, selbst wenn er es fahrerisch vermocht hätte. Es bestand jedoch nicht die Gefahr, dass sie sich verloren. Es gab nur diese eine Straße, die aus dem Park hinausführte. Nachdem Mike fünf Minuten gefahren und halbwegs sicher war, weder von einer Bande durchgeknallter Harley-Davidson-Fahrer noch von einem Indianer auf einem Monstermotorrad verfolgt zu werden, hatte er sein Tempo etwas gedrosselt. Die Intruder lag nicht gut auf der Straße. Das Vorderrad schlackerte, und er hatte Mühe, die Maschine unter Kontrolle zu halten. Das Letzte, was er sich jetzt leisten konnte, war ein Sturz, bei dem entweder das Motorrad so stark beschädigt oder er so schwer verletzt wurde, dass er nicht weiterfahren konnte.
Endlich sah er Stefan und Frank vor sich. Sie parkten ein kleines Stück neben der Straße, und Mike erkannte schon von weitem, dass Stefan damit beschäftigt war, sein Gepäck wieder ordentlich auf dem Motorrad zu verstauen. Frank stand mitten auf der Fahrbahn und starrte ihm reglos entgegen, was Mike im ersten Moment fast absurd vorkam. Dann wurde ihm klar, dass die einzig denkbare Alternative zu diesem Verhalten wahrscheinlich ein Streit zwischen ihm und Stefan gewesen wäre, bei dem die Fetzen flogen. Sie würden um diesen Streit nicht herumkommen, aber Frank war vernünftig genug, um zu erkennen, dass jetzt nicht der passende Moment dafür war. Mike brachte die Maschine neben Frank zum Stehen. Seine Knie zitterten. »Alles in Ordnung?« »Klar«, antwortete Frank. »Ich fühle mich wunderbar. Es war ein herrlicher Tag, und jetzt genieße ich den Sonnenschein und freue mich darauf, in aller Ruhe im Hotel am Swimmingpool zu sitzen und ein Bier zu trinken.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Verdammt noch mal, was denkst du denn? Nichts ist in Ordnung! Wo warst du so lange?« »Die Maschine ist im Arsch«, antwortete Mike. »Ich konnte nicht schneller fahren. Aber ich glaube nicht, dass sie hinter uns her sind.« »Wer? Die Cops oder diese Irrsinnigen?« »Wo ist da der Unterschied?« Stefan hatte ihr kurzes Gespräch offenbar mitgehört, obwohl sie ziemlich leise gesprochen hatten. »Ich weiß wirklich nicht, von wem wir mehr zu befürchten haben. Von den Cops, den Rockern - oder von einem von euch beiden.« »Jetzt nicht«, zischte Frank. Mike revidierte seine vielleicht etwas vorschnell gefasste Meinung über Franks Vernunft. Der Streit, über den er nachgedacht hatte, hatte offenbar schon begonnen. »Ganz wie du willst.« Stefan zurrte wütend sein Gepäck fest und stieg aufs Motor-
rad. »Wir haben noch genug Sprit, um bis nach Cameron zu kommen. Ich schlage vor, wir tanken dort und fahren dann über die 160 rauf nach Utah, so schnell wir können.« »Vielleicht besser nicht ganz so schnell«, wandte Frank ein. »Es sei denn, du hast Lust, wegen einer lächerlichen Geschwindigkeitsübertretung angehalten zu werden.« Stefan warf ihm einen wütenden Blick zu und setzte seinen Helm auf. »Ich halte jedenfalls erst wieder in Utah an«, sagte er. »Ihr beide könnt ja machen, was ihr wollt.« Er fuhr so brutal los, dass sie hastig die Köpfe einzogen, um nicht von den Steinen getroffen zu werden, die unter dem durchdrehenden Hinterrad der Suzuki wegspritzten. Frank sah ihm kopfschüttelnd und mit finsterem Gesicht nach. »Was ist los mit ihm?«, wunderte sich Mike. Frank drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Sein Gesicht wurde nicht unbedingt freundlicher. »Kannst du dir das nicht denken?« »Ich? Wie kommst du auf die Idee, dass ... ?« »Ich war es jedenfalls nicht«, sagte Frank. Er schüttelte den Kopf, als Mike etwas erwidern wollte. »Aber in einem Punkt hat er Recht: Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen. Reden können wir später.« Sie fuhren los. Kurz bevor sie Cameron und damit die Tankstelle erreichten, kamen ihnen zwei Patrol Cars der Staatspolizei und ein Krankenwagen entgegen, alle drei mit überhöhter Geschwindigkeit und heulenden Sirenen. Mikes Herz begann vor Entsetzen zu hämmern, aber die beiden Polizeiwagen wurden nicht langsamer. Vielleicht wäre das der Moment gewesen, erleichtert aufzuatmen. Er konnte es nicht. Es war nicht die Staatsmacht, die er fürchtete. Er wusste nicht, wieso, aber er war mittlerweile davon überzeugt, dass die Polizei nicht nach ihnen suchen würde. Weder wegen heute noch wegen gestern.
Unbehelligt erreichten sie Cameron und fuhren hintereinander an die gleiche Tanksäule. Als Mike als Letzter seine Maschine voll getankt hatte, wollte Frank seine Kreditkarte nehmen und ins Tankwarthäuschen gehen, um zu bezahlen, aber Stefan hielt ihn mit einer ärgerlichen Handbewegung zurück. »Bar«, sagte er. »Oder willst du vielleicht gleich deinen Reisepass hier lassen?« Frank sagte nichts, aber Mike stattete Stefan nicht nur in Gedanken einen kurzen Dank ab, sondern erteilte sich auch gleich selbst einen Verweis, nicht selbst daran gedacht zu haben. Kreditkarten hinterließen eine Spur, die so breit war wie eine Autobahn. Nachdem Frank zurückgekommen war, fuhren sie weiter. Die Straße führte noch gute zwanzig Kilometer weit nach Norden und teilte sich dann. Mike erwartete, dass Stefan die rechte Abzweigung nehmen würde, um auf die Route 160 zu gelangen, wie er es angekündigt hatte, aber Stefan hatte es sich anscheinend anders überlegt und fuhr weiter Richtung Norden. Mike hatte die Karte hinlänglich genug im Kopf, um sich zu wundern. Der Weg, den sie nun nahmen, war vermutlich etliche Meilen kürzer, aber er ahnte auch, dass die Strecke viel, viel schwieriger sein würde. Sie würden ein paar Meilen sparen, aber ein paar Stunden verlieren. Er gab ein wenig Gas, um an Franks Seite zu kommen und ihm einen fragenden Blick zuzuwerfen, erntete aber nur ein Achselzucken. Frank wusste so wenig wie er, was Stefan zu diesem plötzlichen Meinungswechsel veranlasst hatte. Gut anderthalb Stunden später und fünfzig Meilen weiter nördlich näherten sie sich dem Ende der Welt. Jedenfalls kam es Mike so vor. Am Anfang war es nur eine dünne Linie gewesen, kaum mehr als ein Schatten, der den Horizont nachzeichnete. Aber aus dem Schatten war bald eine Linie geworden, dann ein dicker, rostroter Strich, und mittlerweile ragte eine vollkommen senk-
rechte, mindestens tausend Meter hohe Felswand vor ihnen auf, die in beiden Richtungen so weit reichte, wie das Auge blicken konnte. Vor zehn Minuten hatten sie die Interstate verlassen. Die Straße, über die sie nun fuhren, war zwar auf ihrer detaillierten Karte eingezeichnet, hätte aber in ihrer Heimat diesen Namen niemals verdient; sie musste in der Hierarchie amerikanischer Straßen am unteren Ende rangieren und war entsprechend schlecht ausgebaut. Nicht alles in Amerika war größer als in der alten Welt. Mike hatte zweimal versucht, Stefan zum Anhalten zu bewegen, aber dieser war jedes Mal einfach noch schneller gefahren, und schließlich hatte er es aufgegeben. Sie rasten weiter auf die Felswand zu. Mike konnte immer noch keine Spur irgendeiner Straße entdecken, die durch diese gigantische Felsbarriere führte, aber es musste ja wohl eine vorhanden sein. Vielleicht gab es einen Tunnel, oder die Straße führte unmittelbar am Fuße der riesigen Felswand entlang. Immerhin kamen sie dann und wann an einem Schild vorbei. Mike konnte sie nicht hundertprozentig entziffern - die Straßenschilder waren hier viel textlastiger als die zum größten Teil aus Piktogrammen bestehenden europäischen Schilder, aber was er erraten konnte, trug nicht unbedingt zu seiner Beruhigung bei. Einige davon kündigten an, dass die Straße vor ihnen für Fahrzeuge über sechs Meter Länge gesperrt war, auf anderen wurden die Fahrer aufgefordert, auf Steinschlag zu achten und in einen niedrigeren Gang zu schalten, und einmal glaubte er etwas von sechsundzwanzig Prozent Steigung zu lesen - was ihm vollkommen absurd vorkam. Aber genau so war es. Mike sah die Straße nicht einmal dann, als sie am Fuß der Felswand anhielten. Der Weg wurde noch schlechter und verschwand einfach hinter einer Biegung, aber ein Stück über ihnen quälte sich ein schmutzig grauer VW-Bus in einer voll-
kommen absurden Schräglage die Straße hinunter auf sie zu. Der Auspuff qualmte, und der überdrehte Motor kreischte, als wolle er jeden Moment auseinander fliegen. Der Fahrer marterte den Wagen im ersten Gang, vermutlich, weil er die Bremsen des altersschwachen Gefährts auf diesem mörderischen Gefalle irgendwann überhitzt hatte. Stefan hatte beide Füße auf den Boden gestellt und den Helm abgesetzt. Er sah müde und ziemlich erschöpft aus. Aber zumindest war der lodernde Zorn in seinen Augen erloschen. »Was hast du vor?«, fragte Frank. »Eine kleine Mutprobe?« Stefan lächelte müde. »Die Straße ist auf den meisten Karten gar nicht verzeichnet«, sagte er. »Jedenfalls nicht auf den Karten für uns blöden Touries. Ein Insider-Tipp, den ich vor Jahren einmal in einer Motorradzeitschrift gelesen habe. Ist mir vorhin wieder eingefallen, als wir von Cameron Richtung Norden gebrettert sind.« »Und?«, fragte Mike misstrauisch. »Wir schneiden mindestens dreißig Meilen ab, wenn wir da rauffahren, statt außen rum«, antwortete Stefan. »Außerdem werden uns die Cops hier nicht vermuten. Niemand, der seine fünf Sinne noch beisammen hat, würde versuchen, mit einem Motorrad da raufzufahren.« »Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Mike grimmig. »Ich tue es jedenfalls nicht.« »Dann wirst du wohl zurückmüssen«, antwortete Stefan ruhig. »Bin gespannt, aufweichen von unseren Freunden du zuerst triffst. Die Hells Angels oder die Cops.« Mike wollte gereizt antworten, aber Frank kam ihm zuvor, indem er den Kopf in den Nacken legte und fragte: »Und was ist dort oben?« »Das ist ja die Sache«, sagte Stefan. »Eine Straße, die direkt Richtung Utah führt. Und von da aus sind es nur noch ein paar Dutzend Meilen bis zur Staatsgrenze. Ich glaube nicht, dass uns dort irgendjemand vermutet. Wie gesagt: Eigentlich ist es
Wahnsinn.« »Eigentlich?« Mike lachte schrill. »Es ist Wahnsinn!« »Der aber auch seine Vorzüge hat«, sagte Frank. »Wenn wir da oben sind, haben wir es geschafft.« Er lächelte aufmunternd. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« »Aber es ist vollkommen sinnlos!«, protestierte Mike. Der VW-Bus war mittlerweile unten angekommen und kroch an ihnen vorbei. Seine Bremsen rochen verbrannt, und sein Fahrer wirkte so erschöpft, dass er sich noch nicht einmal zu einem neugierigen Blick auf die Motorradfahrer mit den drei identischen Bikes aufraffen konnte. Mike wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder es als Warnung vor der sich windenden Strecke verstehen sollte, die wie eine in Stein gemeißelte Drohung vor ihnen lag. »Jetzt mal im Ernst«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass die Polizei hinter uns her ist. Wenn sie wirklich der Meinung wären, wir hätten irgendetwas mit der Sache zu tun, wären die Streifenwagen doch vorhin nicht an uns vorbeigedonnert, als ob wir unsichtbar wären.« »Sie werden im Moment alle Hände voll damit zu tun haben, zwei Dutzend durchgeknallter Hells Angels einzusammeln«, antwortete Frank. »Aber danach ...« »Du glaubst doch nicht wirklich, dass die Ranger sich unsere Kennzeichen aufgeschrieben haben.« »Die Ranger«, sagte Stefan ernst, »sind wahrscheinlich tot.« »Oder zumindest schwer verletzt«, bestätigte Frank. »Aber da waren noch mehr Leute. Die Bedienung im Restaurant, ein paar Gäste ...« Er hob die Schultern. «Ich glaube auch nicht, dass sich jemand unsere Nummern aufgeschrieben hat. Aber drei Typen auf identischen Motorrädern, von denen eines beschädigt ist, sind so schwer nun auch wieder nicht zu finden. Zumal es hier nur wenige Straßen gibt, die die größeren Städte miteinander verbinden.« Mike blinzelte nach oben, zum Rand der riesigen Felsbarrie-
re. Allein bei dem Gedanken, dort hinaufzufahren, fuhr ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Die Wand musste einen Kilometer hoch sein! »Wenn es Zeugen gibt, dann werden sie auch bestätigen, dass wir nichts mit dem Angriff auf die Ranger zu tun haben«, sagte er. Stefan lachte. »Spinn dich aus! Du weißt doch, wie das mit Zeugen ist. Zeig fünf verschiedenen Leuten den gleichen Film, und sie erzählen dir fünf vollkommen unterschiedliche Geschichten. Nein, darauf verlass ich mich nicht.« Frank seufzte. »So Leid es mir auch tut: Aber du dürftest damit voll ins Schwarze treffen. Es war ein einziges Chaos, und alles ging blitzschnell. Würde mich nicht wundern, wenn ein paar Leute sogar glauben würden, dass wir die Rocker aufgefordert haben, sich einzumischen - und dass wir ihnen dann auch noch geholfen haben, die Ranger zu verprügeln. Biker sind Biker, für die meisten jedenfalls.« »Und selbst wenn nicht«, fügte Stefan hinzu, »habe ich keine Lust, die nächsten zwei Wochen in einer Gefängniszelle zu verbringen und darauf zu warten, dass sich die Sache irgendwie aufklärt.« Er sah Mike durchdringend an. »Wir sind hier nicht in Deutschland. Wir sind Ausländer. Die sperren uns ein, bis die Sache restlos aufgeklärt ist. Die hiesige Justiz ist nicht gerade zimperlich. Wenn man den Fernsehberichten glauben kann, sitzt im schönen Arizona mindestens eine junge Deutsche unschuldig in der Todeszelle. Ich möchte ihr nicht Gesellschaft leisten.« Mike widersprach nicht länger. Natürlich hatte Stefan mit jedem seiner Worte Recht. Und schließlich war da noch die Sache mit dem toten Indianerjungen, aber darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken. »Ich werde mir wahrscheinlich den Hals brechen«, seufzte er, »aber ich kann es ja mal versuchen.« »Du schaffst es«, sagte Frank. »Hey - glaubst du, mir wäre
wohl dabei? Wir müssen einfach nur vorsichtig sein, dann passiert schon nichts.« Stefan setzte seinen Helm auf, überzeugte sich noch einmal vom sicheren Sitz seines Gepäcks und fuhr los. Frank wartete, bis er hinter der ersten Serpentine verschwunden war, dann warf er Mike noch ein aufmunterndes Lächeln zu und folgte ihm. Kurz darauf fuhr auch Mike an. Das erste Stück war gar nicht mal so schwierig, wie er befürchtet hatte, aber das galt wirklich nur für die ersten zehn, oder fünfzehn Meter. Danach wurde es tatsächlich schlimm! Die Straße war eigentlich keine Straße, sondern hatte eher die Oberflächenbeschaffenheit eines altmodischen Waschbretts. Sie bestand zu zwei Dritteln aus Schlaglöchern und zu einem Drittel aus Querrillen zwischen schmierseifenglatten Asphaltstreifen. Um das Maß voll zu machen, war sie mit Schotter und unzähligen runden Kieselsteinen übersät, sodass Mike das Gefühl hatte, über Murmeln zu fahren. Die Federung gab die Stöße und Erschütterungen der Straße fast ungemildert an ihn weiter, sodass seine Handgelenke schon nach wenigen Augenblicken zu schmerzen begannen, und noch bevor er die erste Biegung erreicht hatte, schlossen sich seine Oberarme und die Schultern an. Die erste Serpentine war ein Albtraum. Er ging sie viel zu langsam an. Was bei einem Auto vielleicht ein Vorteil gewesen wäre, brachte ihm bei der Intruder nur einen Nachteil ein: Aufgrund der fehlenden Fliehkraft musste er hart gegen das Gewicht der Maschine kämpfen, das ihn mit nach unten zu ziehen drohte. Aber er wagte es einfach nicht, schneller zu fahren. Das Vorderrad der Intruder hüpfte wild hin und her, von jeder Querrille in eine andere Richtung katapultiert, und der Motor lief untertourig und drohte fast zu ersterben. Irgendwie gelang es ihm, die erste Hundertachtzig-GradKurve zu bewältigen. Dahinter wurde es schlimmer.
Der Straßenzustand verschlechterte sich drastisch, und die Steigung erreichte nun tatsächlich die haarsträubenden sechsundzwanzig Prozent, die das entsprechende Schild angedroht hatte. Stefan und Frank hatten bereits die nächste Biegung erreicht und warteten dort auf ihn. Mike biss die Zähne zusammen und gab behutsam ein wenig mehr Gas. Der Motor der Intruder klang jetzt runder, und die Maschine hüpfte auch nicht mehr ganz so heftig hin und her, aber die Schläge, die der Lenker austeilte, wurden deutlich härter. Zu allem Überfluss waren auch noch seine Handflächen feucht. Er hatte trotz der Handschuhe Mühe, den Lenker zu halten, und seine Muskeln waren schon jetzt verkrampft. Er war nicht sicher, ob seine Kraft ausreichen würde, um bis oben durchzuhalten. Und selbstverständlich - was denn sonst? meldete sich sein Herz jetzt wieder mit dünnen, aber tief gehenden Stichen. Als er bei Frank und Stefan ankam, war er in Schweiß gebadet. Ein kleines, fast ebenes Fahrbahnstück versprach eine kurze Atempause - bevor es endgültig ernst wurde. »So schlimm war es doch gar nicht, oder?«, fragte Stefan. »Ich meine: Immerhin bist du hier.« Mike sparte sich eine Antwort und blickte mit einem verkniffenen Lächeln nach oben. Hundertfünfzig bis zweihundert Meter, schätzte er, bis zur nächsten Biegung, und dann immer so weiter. Es mussten Dutzende dieser höllischen Serpentinen sein, bis ganz nach oben. Das konnte er nicht schaffen. »Also, dann bis gleich.« Stefan brauste los. »Willst du vorfahren?«, fragte Frank. Mike schüttelte den Kopf, und Frank fuhr fort: »Tu dir selbst einen Gefallen, und fahr ein bisschen schneller. Du solltest den Motor die Arbeit machen lassen, die Kiste den Berg raufzuschleppen, und nicht deine Muskeln.« »Ich denke darüber nach«, knurrte Mike. »Hau schon ab.« Frank fuhr los, und Mike zählte in Gedanken langsam bis
zehn, ehe er den Fuß auf den Schalthebel setzte. Er fuhr nicht los. Er hatte den Fehler gemacht und den Kopf nach links gedreht, zum Tal hin. Einen Luxus wie eine Leitplanke gab es nicht, sondern nur eine zwanzig Zentimeter hohe Begrenzung aus rotem Sandstein, die keinerlei Sicherheit bot, sondern gerade niedrig genug war, um darüber zu stolpern und kopfüber in die Tiefe zu stürzen. Bei dem Anblick wurde ihm fast sofort schwindelig. Aber das war nicht der Grund, aus dem er vor Schrecken erstarrte. Die Wüste unter ihm ... ... flackerte. Er konnte es nicht besser beschreiben. Die Luft über der Wüste flimmerte wie vor Hitze - und doch anders. Für einen winzigen Moment schien die Ebene unter ihm zweimal da zu sein, einmal so, wie die drei Freunde sie seit Stunden gesehen hatten, und einmal in einer vollkommen anderen, älteren Dimension, grüner, weiter und unter einem Himmel, der viel klarer und höher war. Sonderbare Geräusche und fremdartige Gerüche wehten zu ihm empor, und weit entfernt, fast schon am Horizont, bewegte sich etwas Dunkles, Machtvolles. Büffel, dachte Mike verblüfft. Das waren Büffel; eine unvorstellbare, gigantische Herde, die nach Hunderttausenden zählen musste. Obwohl sie noch Meilen entfernt war, konnte Mike spüren, wie der Boden unter dem Gewicht der riesigen Tiere erzitterte. Er blinzelte, und die Halluzination verschwand. Die Wüste unter ihm war wieder eine Wüste, und die Luft flirrte vor Hitze, mehr nicht. Mike schloss für einen Moment die Augen, hob die Lider bewusst langsam wieder und überzeugte sich noch einmal davon, dass unter ihm weder eine geisterhafte Büffelherde noch die vor tausend Jahren verschwundene Grasebene lag.
Er fuhr los. Auf den ersten Metern hätte er fast die Gewalt über die Maschine verloren, weil er sich kaum noch im Schritttempo bewegte, dann beherzigte er Franks Rat und gab mehr Gas - immer noch nicht so viel, wie nötig gewesen wäre, um wirklich sicher zu fahren, aber genug, dass es ihm beinahe schon wieder zu schnell erschien. Frank und Stefan warteten an der übernächsten Biegung auf ihn. Stefan fuhr weiter, noch bevor Mike ganz angehalten hatte, aber Frank warf ihm einen fragenden Blick zu, den Mike allerdings geflissentlich ignorierte. Er wedelte mit der Hand, Frank hob die Schultern und fuhr los. Mike gönnte sich dreißig Sekunden, in denen sich sein hämmernder Pulsschlag ein wenig beruhigte; erst dann warf er wieder einen Blick in die Tiefe. Keine Büffel. Keine Grasebene. Die einzige Bewegung stammte von einem Wagen, der sich langsam auf den Fuß der Felswand zubewegte. Mike sah genauer hin und stellte erleichtert fest, dass es sich weder um einen Streifenwagen noch um einen schwarzen Van handelte. Er fuhr weiter, bewältigte die nächste und die übernächste Etappe und registrierte irgendwann verblüfft, dass sie ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft hatten. Die Straße unter ihm war zu einem hellen Bindfaden zusammengeschrumpft, und aus der dünnen Linie am oberen Rand der Felswand war rauchiges Grün geworden. Bäume, die sich dort oben der Witterung entgegenstellten? Er konnte es sich kaum vorstellen, und doch musste es so sein. Sie legten einen kurzen Zwischenstopp ein, vielleicht fünf Minuten, in denen Mikes Hände und Knie allmählich zu zittern aufhörten, dann fuhren sie weiter. Diesmal wartete Mike nicht, bis die beiden anderen fast außer Sicht waren, sondern fuhr gleichzeitig mit ihnen los. Zwei weitere Biegungen später war er zwar schon wieder ein gutes Stück zurückgefallen, bekam aber allmählich ein etwas sichereres Gefühl. Er war nun überzeugt davon, dass er sich auf dieser Etappe zwar nicht unbe-
dingt mit Ruhm bekleckern, aber dass er sie durchaus unbeschadet bewältigen würde ... ... bis ihm ein Schatten im Rückspiegel auffiel. Der Wagen, den er vorhin gesehen hatte, holte ständig auf und befand sich jetzt zehn oder zwölf Meter hinter ihm. Mike drosselte sein Tempo ein wenig, lenkte die Intruder so nah an die Felswand heran, wie er es wagte, und gab dem Fahrer mit der linken Hand Zeichen, ihn zu überholen. Der Wagen kam zwar näher, machte jedoch keine Anstalten, auszuscheren. Vor ihnen lagen noch mindestens hundert Meter bis zur nächsten Biegung, und die Straße war breit genug, um ohne Risiko vorbeizuziehen. Mike wiederholte seine Geste mit dem gleichen Erfolg, zuckte die Achseln und gab wieder etwas mehr Gas, während er die Maschine ein kleines Stück weiter auf die Straßenmitte hinauslenkte. Langsam wurde er nervös. Er beschleunigte noch ein wenig mehr, doch auch der Wagen hinter ihm gewann an Tempo und holte weiter auf. Er war vielleicht noch fünf Meter hinter ihm - entschieden zu nah für Mikes Geschmack. Er sah aufmerksamer in den Spiegel und versuchte, das Gesicht des Fahrers zu erkennen, sah aber nur einen verschwommenen Flecken. Mike bedeutete dem Fahrer mit Gesten, zurückzubleiben, aber die einzige Reaktion bestand darin, dass der Wagen noch weiter aufschloss und der Mann die Lichthupe betätigte. »Leck mich«, knurrte Mike. Das drängelnde Fahrzeug begann ihn zu nerven, und er war auch ein bisschen zornig, aber angesichts der Anspannung, die ihm diese schwierige Strecke abverlangte, empfand er kaum Angst vor dieser wie aus dem Nichts aufgetauchten Bedrohung. Der Kerl mochte es für lustig halten, hin und wieder Motorradfahrer vor sich herzuscheuchen, aber er würde kaum so weit gehen und tatsächlich einen Unfall riskieren. Auf dieser Straße wäre das für ihn genauso gefährlich wie für sein Opfer. Der Wagen fuhr noch dichter auf und hupte. Mike wagte es
nicht, noch mehr Gas zu geben - für seinen Geschmack fuhr er schon jetzt eindeutig zu schnell -, aber er machte eine zornige Handbewegung, sah in den Spiegel... ... und hätte um ein Haar den Lenker verrissen. Hinter ihm fuhr kein Wagen mehr. Stattdessen rollte da ein bizarres, schwarzes ... Etwas, eine ebenso absurde wie Furcht einflößende Mischung aus einem Motorrad und etwas, das auf schreckliche Weise lebendig zu sein schien, vielleicht aber auch das genaue Gegenteil jeglichen Lebens war. Sein Scheinwerfer leuchtete rot, nicht weiß, und der Indianer aus dem Grand Canyon hockte in seinem Sattel. Er trug jetzt Stiefel und lederne Motorradhosen, aber keinen Helm mehr. Sein Oberkörper war nackt und mit grellbunten Farben bemalt, und sein Gesicht, dessen Züge sich ebenfalls unter einer barbarischen Kriegsbemalung verbargen, war zu einer Grimasse verzerrt. Sein langes, schwarz glänzendes Haar flatterte waagerecht hinter ihm im Wind. Mike geriet in Panik. Er gab Gas, schaltete herunter und gab noch mehr Gas, und der Motor der Intruder heulte schrill auf und katapultierte die Maschine regelrecht die Steigung empor. Der Indianer hielt ohne Mühe mit und holte sogar noch ein wenig auf. Unter dem lodernden roten Scheinwerfer klaffte so etwas wie ein Maul auseinander, in dem mörderische Zähne blitzten. Mike schrie laut auf und gab noch mehr Gas. Der Indianer fiel nicht zurück. Er holte auf, ganz langsam, aber unbarmherzig. Das schwarze ... Ding, auf dem er saß, schien sich ununterbrochen zu verändern, mal mehr Maschine, mal mehr Kreatur zu sein, dann wieder beides zugleich oder auch nichts davon. Und es kam unaufhaltsam näher. Mike wusste, dass er ihm nicht entkommen konnte, ganz gleich, wie schnell er fuhr, denn es war einfach das Wesen dieser Kreatur, immer um eine Winzigkeit schneller zu sein als die Beute, die es jagte. Trotzdem beschleunigte er noch weiter. Zu schnell, viel zu
schnell, näherte er sich dem Ende der Steigung und damit der nächsten Hundertachtzig-Grad-Serpentine. Es war unmöglich, die Biegung in diesem Tempo zu bewältigen. Niemand konnte das, nicht er, nicht Stefan oder Frank, nicht der beste Fahrer der Welt. Er würde über den Straßenrand hinausschießen und wie ein Stein einen halben Kilometer weit in die Tiefe stürzen. Das Schicksal, das ihm bevorstand, wenn ihn das Ungeheuer einholte, erschien ihm jedoch ungleich schrecklicher. Mit absolut selbstmörderischem Tempo näherte er sich der Biegung. Der Indianer war hinter ihm, vielleicht noch drei Meter entfernt, vielleicht weniger. Etwas wie ein dumpfes, durch und durch böses Lachen erklang in seinen Ohren; es konnte jedoch auch nur der Wind sein, der sich unter seinem Helm fing. Im buchstäblich allerletzten Moment gewann seine Vernunft doch noch die Oberhand. Mit aller Kraft betätigte er beide Bremsen. Die Suzuki brach in den vorderen Federbeinen ein und schlitterte auf blockierenden Reifen weiter auf den Abgrund zu, ohne spürbar langsamer zu werden. Dann brach das Hinterrad aus, und die Maschine geriet ins Schleudern. Der Abgrund sprang regelrecht auf ihn zu. Mike ließ die Vorderbremse los, schaltete mit einem brutalen Tritt gleich zwei Gänge nach unten und riss den Gashebel bis zum Anschlag nach hinten, alles in einer einzigen, blitzschnellen Bewegung. Die Intruder schlitterte jetzt fast quer stehend auf den Abgrund zu und neigte sich unbarmherzig weiter. In purer Verzweiflung warf er sich zur Seite und versuchte, das stürzende Motorrad mit reiner Körperkraft in die Höhe zu reißen. Es schien unmöglich. Fliehkraft und Geschwindigkeit verliehen der Intruder eine Massenträgheit, die nur noch in Tonnen zu messen war. Aber er schaffte es! Die Suzuki drehte sich mit aufheulendem Motor fast einmal um die eigene Achse, dann packte das durchdrehende Hinter-
rad plötzlich wieder, und Mike wäre um ein Haar nach vorne über den Lenker geschleudert worden, als die Maschine von denselben Gewalten, die sie gerade noch in den Abgrund hatten reißen wollen, nach vorne geworfen wurde. Vor Mike lag jetzt wieder eine Gerade. Er gab weiter Gas, beschleunigte rücksichtslos und jagte an Frank vorbei, der so erschrocken zusammenfuhr, dass er um ein Haar den Lenker verrissen hätte. Nur einen Augenblick später passierte er Stefan. In dem Sekundenbruchteil, in dem er an ihm vorbeijagte, gewahrte Mike einen Ausdruck von blankem Entsetzen auf Stefans Gesicht, aber auch dieser erreichte sein Bewusstsein nicht wirklich. Alles, was zählte, war das Ding in seinem Spiegel, das Ungeheuer, das näher und näher kam. Es holte weiter auf. Schneller. Er musste schneller fahren! Er erreichte die nächste Biegung, schlitterte mit blockierendem Hinterreifen hindurch und wäre erneut fast gestürzt. Funken stoben unter dem Auspuff der Intruder hoch, als er über den Asphalt schrammte, aber irgendwie gelang es ihm, die Maschine noch einmal hoch- und herumzureißen und abermals zu beschleunigen. Die Straße eignete sich selbst für einen geübten Fahrer höchstens für zwanzig Meilen pro Stunde, allerhöchstens für fünfundzwanzig. Mike fuhr mittlerweile siebzig. Und er gab immer noch Gas. Schließlich schleuderte er um die letzte Hundertachtzig-GradKehre. Vor ihm stieg die Straße noch einmal steiler an, wurde zugleich aber auch breiter, und an ihrem Ende lag nur noch eine sanfte, von üppig wucherndem Grün eingefasste Kehre. Der Motor der Intruder heulte mittlerweile, als wolle er jeden Augenblick auseinander fliegen. Er war glühend heiß. Mikes linkes Knie blutete, weil er mindestens zweimal weit genug heruntergegangen war, um den Straßenbelag damit zu berühren, und jeder Muskel von den Schulterblättern abwärts bis in die Fingerspitzen war verkrampft und so hart und unbeweglich
wie Eisen. Aber er konnte es schaffen! Er wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen. Er wusste auch so, dass der Indianer noch hinter ihm war, so dicht, dass er den heißen Atem der Bestie, auf der er ritt, im Nacken spüren konnte. Es waren jedoch nur noch wenige Meter und eine sanfte Biegung, die vor ihm lagen, ein Witz im Vergleich zu dem, was hinter ihm lag. Mit dem letzten bisschen Kraft, das er noch aufbringen konnte, versuchte er den Gasgriff weiter zurückzuziehen, aber er war bereits längst am Anschlag. Die Tachonadel der Maschine zitterte dicht unter der Neunzig-Meilen-Marke. Mike beugte sich über dem Lenker nach vorne, um den Luftwiderstand zu verringern und auf diese Weise vielleicht noch eine halbe Meile mehr an Geschwindigkeit herauszuholen; den Bruchteil einer Sekunde, den er früher oben ankommen würde - aber vielleicht der entscheidende. Ja, er konnte es schaffen. Und er schaffte es! Plötzlich war die Straße unter ihm wieder gerade. Statt senkrecht aufsteigendem Fels auf der einen und einem knappen Kilometer Nichts auf der anderen Seite, sah er nur noch einen Teppich aus Moos und verfilztem Gras, auf dem hier und da ein Busch oder ein halbhoher Baum wuchs. Und die Straße war wieder eine Straße, kein Waschbrett mehr. Sein Rückspiegel war leer. Der Indianer war verschwunden. Mike ließ den Gasgriff los, trat hart auf die Bremse und lockerte den Druck sofort wieder, als er spürte, dass die Intruder abermals auszubrechen drohte. Fast behutsam lenkte er die Maschine an den rechten Straßenrand und ein kleines Stück auf den Moosteppich hinauf, ehe er endgültig anhielt und versuchte, den Ständer herauszuklappen. Es blieb bei dem Versuch. Seine Kräfte versagten endgültig. Er spürte, wie das Motorrad zu kippen begann, und versuchte nicht einmal, es aufzufangen, sondern ließ sich einfach zur Seite fallen. Er war gerade noch geistesgegenwärtig genug, das
Bein anzuziehen, damit es nicht unter die stürzende Maschine geriet oder er sich an dem glühenden Auspuff verbrannte. Die Intruder fiel mit einem sonderbar weichen Klappern ins Moos. Der Motor ging aus. Mike fiel schwer auf die Seite, rollte sich auf den Rücken und wartete darauf, dass er das Bewusstsein verlor - möglicherweise für immer. Er wurde nicht ohnmächtig, aber er war sich auch nicht ganz sicher, ob er noch völlig klar war. Alles drehte sich um ihn. Obwohl er nicht in der Lage war, auch nur einen Muskel zu rühren, kippte der Himmel unentwegt von rechts nach links und wieder zurück, und der Boden hob und senkte sich in rhythmischen Stößen, fast so, als würde er atmen. Eigentlich hätte Mikes Herz rasen müssen, aber es schlug so langsam, als befände es sich in einer Tiefschlafphase. Und anstelle der Angst erfüllte ihn nun etwas anderes; ein Gefühl, das ihm vollkommen fremd war, sodass er es nicht einzuordnen vermochte. Eine Gestalt trat in sein Gesichtsfeld. Sie war groß und dunkel gekleidet, das Gesicht von einer düsteren Kriegsbemalung bedeckt. Die Augen waren dunkel; schwarze Löcher ohne Pupille oder Leben, hinter denen etwas Uraltes, unvorstellbar Böses lauerte. Die Gestalt hielt etwas in der Hand, das an einen indianischen Tomahawk erinnerte, sich aber bewegte. Töte mich, dachte Mike. Bring es zu Ende. Er war nicht fähig, die Worte laut auszusprechen, aber er wusste, dass der Indianer ihn verstand. Er wusste auch, dass er ihn nicht töten würde. Nicht jetzt. Noch nicht. Noch lange nicht. Der Indianer löste sich auf, und Mike verlor nun doch das Bewusstsein. Er konnte nur wenige Augenblicke so dagelegen haben, denn das Geräusch, das er beim Aufwachen hörte, war das Quietschen von Bremsen und das charakteristische Klacken, mit dem ein Motoradständer herausgeklappt wurde.
Trotzdem hatte Mike das Gefühl, dass Stunden vergangen waren. Er erinnerte sich an einen Traum, ein sinnloses Durcheinander aus grellen Bildern und kreischenden Tönen; einen Traum, in dem er gerannt und gerannt und gerannt war, ohne von der Stelle zu kommen; nicht besonders originell, aber grauenhaft. Zugleich war er aber auch an einem anderen Ort gewesen, einem düsteren, feuchten Platz, der von den Schreien geplagter Seelen widerhallte. Ein Traum, mehr nicht, nur ein Traum. Trampelnde Schritte näherten sich ihm, und im gleichen Moment, in dem er die Augen aufschlug, ließ sich Frank neben ihm auf die Knie fallen und streckte die Hände aus. »Mike! Um Gottes willen! Bist du verletzt?« Er führte die Bewegung nicht zu Ende, als er sah, dass Mike bei Bewusstsein war, aber der Ausdruck in seinen Augen war nicht weit von reiner Panik entfernt. »Nein.« Mike stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch und verzog das Gesicht. Er konnte sich bewegen, und er hatte keine Schmerzen, aber jeder Muskel in seinen Armen pochte. »Ich glaube es jedenfalls nicht.« Er sah aus dem Augenwinkel, dass Stefan auf der anderen Seite neben ihm in die Hocke ging und die Unterarme auf die Knie legte. Er drehte den Kopf, blickte dann aber zu seiner Maschine hin, die fast fünf Meter entfernt im Gras lag. Seltsam - er konnte sich gar nicht erinnern, sich so weit von der Intruder entfernt zu haben. »Was ist passiert? Bin ich gestürzt?«, fragte er benommen. Er wusste die Antwort wirklich nicht. Er erinnerte sich zwar an jedes Detail - aber das, woran er sich erinnerte, war so bizarr, dass es ebenso gut ein Traum hätte sein können. »Ja«, sagte Stefan. »Aber offensichtlich schon vor längerer Zeit. Auf den Kopf. Und ziemlich hart.« Mike verstand auch das nicht ganz, aber Frank schoss einen zornigen Blick in seine Richtung ab. Stefan erwiderte ihn
gelassen. Nach einer Sekunde sprang er mit einem Ruck auf und drehte sich um. »Ich kümmere mich um deine Maschine«, sagte er böse. »Allmählich kriege ich ja Übung darin.« »Was war denn los?«, fragte Frank. Irgendwo lag auch Zorn in seinen Augen, aber er war nicht so verletzend wie der Stefans. »Ich bin fast gestorben vor Angst. Was ist denn in dich gefahren? Wolltest du dich umbringen?« Mike arbeitete sich mühsam in eine halb sitzende Position hoch. Erneut begannen sich Himmel und Erde um ihn zu drehen, aber diesmal war es nur ein ganz normales Schwindelgefühl. »Ich ... weiß es nicht«, sagte er stockend. »Ich dachte, ich schaffe es.« »Das hast du auch«, bestätigte Frank. »Du hast es überlebt. Und du hast mir fast zu einem Herzinfarkt verholfen. Und Stefan übrigens auch - auch wenn er es nicht zugibt. Was war los? Hattest du einen Blackout, oder bist du einfach nur durchgeknallt? Das war reiner Selbstmord!« »War es nicht.« Mike stand auf. Ihm war immer noch schwindelig. Er wankte und musste einen hastigen Schritt zur Seite machen, um nicht gleich wieder auf die Nase zu fallen. Diesmal rührte Frank keinen Finger, um ihm zu helfen. »Vielleicht ist dir ja das Wort Schwachsinn lieber«, sagte er. »Sag mal, was ist eigentlich ... ?« »Ich weiß es nicht!«, unterbrach ihn Mike, leise, aber in scharfem Tonfall. »Verdammt noch mal, ja, ich weiß, dass es Wahnsinn war! Aber ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Bitte frag mich nicht!« »Doch«, antwortete Frank. »Das werde ich. Aber nicht jetzt. Später, wenn du wieder halbwegs bei Sinnen bist. Wie fühlst du dich?« »Nennst du das später?« »Körperlich«, sagte Frank. »Kannst du fahren? Dein Knie
blutet.« »Darin habe ich Übung.« Der Scherz ging daneben. Mike machte eine abwiegelnde Handbewegung und sagte: »Es ist wirklich nur eine Schramme. Das nächste Mal ziehe ich Knieschoner an.« »Dann sollten wir weiterfahren«, sagte Frank, ohne auf Mikes untauglichen Versuch einzugehen, die Situation mit einem Scherz zu entspannen. »Kannst du das?« »Ja«, antwortete Mike. »Deine Maschine auch«, sagte Stefan. Er hatte die Intruder mittlerweile aufgerichtet und schob sie ächzend auf die Straße, damit der Ständer nicht im weichen Boden einsank und sie gleich wieder umfiel. »Sie scheint nichts abgekriegt zu haben, auch wenn ich es kaum glauben kann. Weißt du eigentlich, dass du mehr Glück als Verstand hast?« »So viel Glück war es nun auch wieder nicht«, sagte Mike. »Wie willst du es denn sonst nennen? Fahrerisches Können vielleicht?« Stefan kippte die Maschine auf den Ständer, nahm den Gang heraus und drückte auf den Starter. Der Motor sprang sofort an, stotterte zweimal und lief dann rund. »Unglaublich«, murmelte er. »Ich sage nie wieder was gegen japanische Motorräder.« »Kannst du wirklich weiterfahren?« Frank sah Mike durchdringend an, wartete eine Sekunde vergeblich auf eine Antwort und drehte sich schließlich mit einem Achselzucken um. Er machte jedoch nur einen Schritt, dann blieb er wieder stehen, ging in die Hocke und grub einen Moment mit den Fingern im Gras. »Hey!«, sagte er. »Seht mal, was ich gefunden habe!« Stefan wandte fast gelangweilt den Blick und sah auf Franks Hand hinab. »Interessant«, sagte er. »Aber so spannend nun auch wieder nicht. Die Dinger liegen hier überall rum. Wir sind auf Indianerland.« Mike sagte nichts. Er starrte Franks Hand an, und sein Herz
begann wie rasend zu hämmern. Was Frank aus dem Gras aufgehoben hatte, war eine Pfeilspitze. Eine uralte, aus Feuerstein geschnitzte Pfeilspitze. Sie brauchten noch eine gute Stunde bis zur Abzweigung in Richtung Navajo Indian Reservation, und eine weitere halbe Stunde, um Arizona zu verlassen und in die Sicherheit des Mormonenstaats Utah zu gelangen; deutlich länger, als Stefan prophezeit hatte, aber nicht annähernd so lang, wie es Mike vorkam. Als sich ihr Benzin dem Ende zuneigte, gab Stefan das vereinbarte Zeichen, an der nächsten Tankstelle Halt zu machen. Ihr Sprit reichte vielleicht noch für zwanzig Meilen; mehr als genug für deutsche Verhältnisse, aber auf den scheinbar endlosen Interstates hier schon gefährlich knapp. Mike war im Grunde seines Herzens davon überzeugt, dass sie irgendwann mit leeren Tanks liegen bleiben würden - ein paar hundert Meter vor der Staatsgrenze und genau im richtigen Moment, um von einem zufällig vorbeifahrenden Streifenwagen entdeckt zu werden. Es würde so kommen. Was immer schief gehen konnte, musste einfach schief gehen. Einige Minuten später passierten sie die Staatsgrenze, die nur von einem Schild am Straßenrand markiert wurde, und wiederum wenige Minuten danach erreichten sie eine einsam gelegene Trading Post, zu der auch eine kleine Tankstelle gehörte. Stefan verließ die Straße, ohne auch nur den Blinker zu betätigen, und kam nach einem unnötig harten Bremsmanöver inmitten einer gewaltigen Staubwolke zum Stehen. Als Frank und Mike ihn erreichten, hatte er bereits den Tankstutzen eingeführt und blickte scheinbar konzentriert auf das Zählwerk der uralten Tanksäule. Mike stellte den Motor ab und ließ sich erschöpft nach vorne sinken. Die Maschine schien eine Tonne zu wiegen, und er spürte, wie seine Knie zitterten. Sie waren nur etwas über eine Stunde unterwegs gewesen, aber er war vollkommen erschöpft.
Die Landschaft, durch die sie gefahren waren, hatte nichts mit der staubtrockenen Wüste gemein, aus der das Hochplateau herauswuchs. Es war, als wolle die Natur sie für die Lebensfeindlichkeit entschädigen, mit der sie sie zuvor gequält hatte. War das wirklich nur eine Stunde her? Mike kam es wie Tage vor. Er wusste selbst nicht mehr, wie er es bis hierhin geschafft hatte. Aber er spürte, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. »Warum gehst du nicht rein und besorgst uns was zu Trinken?« Frank war von seinem Motorrad abgestiegen und hatte mit beiden Händen den Lenker von Mikes Intruder ergriffen scheinbar in einer zufälligen Geste. Mike war jedoch klar, dass er in Wahrheit befürchtete, Mikes Kräfte würden nicht mehr reichen, um das Gewicht des Motorrades zu halten. Er empfand ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit. »Ich mache das hier schon.« Mike nickte wortlos, und das Gefühl von Dankbarkeit steigerte sich noch, als er vom Motorrad stieg. Er war so steif, dass er sich kaum bewegen konnte, und seine Knie zitterten. Ohne sich noch einmal zu den beiden umzudrehen, ging er auf die Trading Post zu und nahm unterwegs den Helm ab. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sich getäuscht hatte. Die Trading Post war gar nicht so einsam gelegen, wie er auf den ersten Blick angenommen hatte. Hinter der barackenförmigen Anlage ragten die Dächer weiterer Häuser und Nebengebäude auf, die eine regelrechte kleine Siedlung bildeten. Aber dafür hatte Mike keine Augen. Vollkommen fasziniert starrte er auf die Indianerzelte, die am Rande des Geländes standen. Ein einfaches Holzschild wies sie als Nachbau einer Paiute-Siedlung aus, die angeblich einst hier gestanden hatte. Als Touristenfalle taugte das nachgebaute Indianerdorf dennoch nicht, dafür waren die vier oder fünf Tipis viel zu heruntergekommen und schmuddelig. Insgesamt
wirkten sie in dieser abgelegenen Gegend eher wie ein Fremdkörper, doch als Mike blinzelte, sich den Schweiß aus der Stirn wischte und dann noch einmal zu dieser lieblos gestalteten Anlage hinüberblickte, da entdeckte er erstaunliche Details, die ihm zuvor entgangen waren ... Zwischen den bräunlich-grauen Zelten waren Holzgestänge aufgebaut, über denen mehrere Felle zum Trocknen hingen. Inmitten der Tipis quoll schwacher, bläulicher Rauch aus einer Feuerstelle, und hinter den Zelten grasten so selbstverständlich ein paar Pferde, als wären ihre Reiter nur einen Steinwurf weit entfernt. Das Erstaunlichste aber war die belustigte Stimme eines Mannes, die aus einem der vorderen Zelte drang - und das Kinderlachen, das ihr antwortete. Wie der Geräuschsfetzen aus einer anderen Welt wehte dieses hässliche Lachen zu ihm heran. Es klang boshaft und verletzend. Und es gehörte mit der gleichen tödlichen Sicherheit dem Jungen, den er mit dem Motorrad überfahren hatte, wie die erwachsene Stimme seinem Vater gehörte, dem Indianer, der ihn mit dem schwarzen Van verfolgt hatte. Mit einem Ruck wandte sich Mike um. Der Junge war genauso wenig da wie sein Vater! Er musste sich getäuscht haben. Ein paar Kinder, die in den Tipis spielten, die die Feuerstelle nutzten, um ein paar Marshmallows zu rösten oder irgendeinen anderen Unsinn anzustellen. Mehr war es nicht. MEHR NICHT! Mit steifen Beinen ging Mike auf das Tankstellengebäude zu, das ein regelrechter kleiner Supermarkt zu sein schien, und stieß die Eingangstür auf. Drinnen war es kühl und so dunkel, dass er zunächst so gut wie blind war. Seine Augen gewöhnten sich erst nach einigen Sekunden an das dämmerige Halbdunkel - und nachdem sie es getan hatten, wurde ihm klar, dass die Dunkelheit eher barmherzig gewesen war. Was sich hinter dem romantischen Namen Trading Post verbarg, ähnelte mehr der Garage eines sperrmüllbesessenen
Sammlers als einem Geschäft. Der schmale, unerwartet lange Raum war mit dilettantisch zusammengezimmerten Holzregalen voll gestopft, auf denen ein unglaubliches Sammelsurium aller nur vorstellbaren Waren feilgeboten wurde, ohne dass irgendeine Art von System erkennbar gewesen wäre. Hinter der aufgequollenen Spanplatte, die als Theke diente, saß ein grauhaariger dürrer Mann in einem karierten Hemd, der ihn auf eine Art ansah, die Mike im ersten Moment nicht deuten konnte - bis ihm klar wurde, dass es Angst war. Die Reaktion des Mannes kam ihm absurd vor - schließlich war er, Mike, es, der Angst hatte, Angst davor, dieses Gebäude wieder zu verlassen und einen Blick nach rechts auf die Indianersiedlung zu werfen. Aber dann erinnerte er sich, wo er dieselbe Angst schon einmal gesehen hatte. Genauer gesagt, wo er sie am eigenen Leib gespürt hatte. Es war erst wenige Stunden her, am Vormittag, am Rande des Grand Canyon. Der Tankwart reagierte nicht anders als er selbst auf den Anblick der Hells Angels reagiert hatte: mit Furcht. Ihr Auftreten und ihr Anblick verbreitete Furcht, und offenbar reichte die bloße Tatsache, dass er ähnlich gekleidet war, einen Helm unter dem Arm trug und dass sie zu dritt waren, um in dem Mann die gleiche Reaktion hervorzurufen. Plötzlich bedauerte Mike es mehr denn je, des Amerikanischen so wenig mächtig zu sein. Es erschien ihm ungeheuer wichtig, ein paar Worte mit dem Mann zu wechseln und ihn davon zu überzeugen, dass sie bloß harmlose Touristen waren. Da er nichts anderes konnte, zog er eine Zwanzig-Dollar-Note aus der Tasche, legte sie auf die Theke und versuchte, dem Mann mit Gesten begreiflich zu machen, dass er damit das Benzin bezahlen wollte, das die beiden anderen draußen tankten. Der Alte warf einen nervösen Blick durch die verdreckte Scheibe und griff dann zögernd nach dem Geldschein. Mike zwang sich zu einem Lächeln, machte eine ausholende Geste und fragte: »Coke? Coke, please.« Immerhin.
Der Tankwart schien einen Moment zu brauchen, ehe er wirklich glauben konnte, dass er Cola kaufen wollte und nicht Bier, irgendein anderes alkoholisches Getränk oder vielleicht auch eine scharfe Handgranate, dann deutete er mit einer zitternden Hand auf eine Kühltruhe, die Mike in dem allgemeinen Chaos bisher gar nicht bemerkt hatte. Mit ein paar Schritten war er bei der Truhe, schob den Kunststoffdeckel zur Seite und kramte mit einiger Mühe drei Coladosen aus dem Durcheinander darin, das dem im Laden in nichts nachstand. Als er sich umdrehte, hielt ein Streifenwagen draußen vor dem Laden. Diesmal war es keine Verwechslung. Keine ParkRanger. Mike zwang sich, mit möglichst ruhigen Schritten zur Theke zurückzugehen und dabei so zu tun, als studiere er das Warenangebot in den Regalen. An einem Ständer mit zerlesenen Zeitschriften blieb er stehen und begann darin herumzusuchen, ließ das Fenster aber keine Sekunde aus den Augen. Ein einzelner Beamter in einer braunen Lederjacke stieg aus dem Streifenwagen. Er maß Stefan - und vor allem die drei Maschinen - mit einem unverhohlen misstrauischen Blick, dann drehte er sich um und kam auf die Trading Post zu. Mikes Pulsschlag beschleunigte sich, und er war hundertprozentig davon überzeugt, dass man ihm seine Nervosität überdeutlich ansah. Deutlich genug jedenfalls, damit der Cop ihn schon einmal auf Verdacht verhaftete. Der Uniformierte kam herein und wechselte ein paar Worte mit dem Ladeninhaber, die Mike nicht verstand. Die Blicke, die er mit dem Tankwart tauschte, sprachen jedoch Bände. Im weiteren Verlauf des Gesprächs entspannte sich die Stimme des Polizeibeamten zunehmend. Mike konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, auf der Stelle herumzufahren und aus dem Laden zu stürmen. Stattdessen wandte er sich fast gemächlich zur Tür, nickte den beiden flüchtig zu und ging zu Stefan und Frank zurück.
Sie hatten das Tanken beendet und unterhielten sich, unterbrachen ihr Gespräch aber sofort, als Mike in Hörweite kam. Warum? »Die Herren hatten Champagner bestellt?«, fragte Mike. Frank lächelte knapp, aber Stefan verzog keine Mine. Mike warf jedem eine Coladose zu, lehnte sich gegen den Sattel seiner Maschine und riss den Verschluss auf, als auch Stefan die Aluminiumdose öffnete. Ihm war im Augenblick nach allem zumute, nur nicht danach, eine Pause einzulegen und etwas zu trinken, aber ihm blieb keine andere Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Der Polizist beobachtete sie unter Garantie. »Es ist schon ziemlich spät.« Stefan legte den Kopf in den Nacken und trank einen Schluck Cola. »Wir haben kaum noch eine Chance, nach Moab zu kommen - oder in irgendeine andere Stadt, die diese Bezeichnung verdient. Und in Moab gibt's außer der Hollywood Stuntmen's Hall of Farne nichts Sehenswertes.« »Und?« »Wir sind jetzt in Sicherheit«, sagte Frank. »Und um ehrlich zu sein, ich bin ziemlich fertig.« Er deutete auf ein windschiefes Schild am Straßenrand, das Mike bisher noch nicht aufgefallen war. Man musste kein Amerikanisch können, um zu erkennen, dass darauf für ein Motel geworben wurde, das noch fünf Meilen entfernt war. »Ich schlage vor, wir übernachten dort und fahren morgen früh weiter«, sagte Stefan. »Wenn wir den ganzen Tag durchziehen, können wir morgen Salt Lake City erreichen. Diese Wüste geht mir allmählich auf den Keks.« Das war kein Vorschlag. Mike war klar, dass Stefan und Frank längst beschlossen hatten, heute nicht weiterzufahren, und das war auch ein sehr vernünftiger Entschluss. Keiner von ihnen - er selbst am allerwenigsten - war noch in der Lage,
hundert Meilen weit zu fahren. »Meinetwegen«, sagte er. »Es sei denn, du bestehst darauf«, sagte Stefan. »Ich meine, so wie du plötzlich fahren kannst, müsstest du es heute eigentlich noch bis San Francisco schaffen.« Mike wollte gerade wütend werden, aber dann sah er das Funkeln in Stefans Augen und begriff gerade noch rechtzeitig, dass sich hinter dem Scherz keine versteckte Anspielung verbarg. Er grinste. »Ich dachte eher an Washington«, sagte er. »Wir könnten dort etwas essen und vor Einbruch der Nacht an den Niagara-Fällen sein.« Stefan wollte etwas sagen, klappte aber dann den Mund wieder zu und legte den Kopf auf die Seite, um einen Punkt irgendwo hinter Mike anzustarren. Mike drehte sich um. Die Tür der Trading Post hatte sich geöffnet, und der Cop kam mit weit ausgreifenden, schnellen Schritten auf sie zu. Etwas stimmte nicht mit seinem Gesicht. Es sah noch immer aus wie vorhin, hatte sich gleichzeitig aber auch seltsam verändert. Es war, als bewege sich etwas unter seiner Haut, ein anderes Gesicht, aus einer anderen Ebene der Realität. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte der Polizist. Wieso verstand Mike ihn? Der Mann sprach eindeutig einen breiten Westküsten-Akzent. Der Cop kam näher. Seine Haut brodelte, als die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit die Plätze tauschten. Seine Augen wurden schwarz und hatten plötzlich keine Pupillen mehr. »Du kannst nicht davonkommen, weißer Mann«, sagte er. »Lauf ruhig. Du und deine Freunde - lauft, so weit ihr wollt. Wir werden schon da sein.« Es war jetzt nicht mehr der Polizeibeamte. Sein Gesicht war das des Indianers. Ganz langsam hob er die Hand und hielt Mike etwas hin, das lebte und zuckte und ihn aus gierigen Augen anstarrte, in denen alle Bosheit und Heimtücke der Welt funkelten.
»Du hast einen von uns getötet, weißer Mann«, sagte er. »Du wirst dafür bezahlen. Du und deine Freunde. Wir werden da sein. Wir waren immer da.« Mike erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Er stieß einen krächzenden Schrei aus und prallte so heftig gegen sein Motorrad, dass die Maschine umzukippen drohte. »Mike?«, fragte Frank alarmiert. Doch Mike starrte nur den Polizisten an, dessen Gesicht nun wieder normal war. Seine Augen hatten Pupillen, und das Leben war darin zurückgekehrt - das Leben und eine gehörige Portion Misstrauen. »Sir?«, fragte er. Er hatte die Hand noch immer erhoben und in Mikes Richtung ausgestreckt. Mike starrte sie fassungslos und mit klopfendem Herzen an, unfähig, etwas zu erkennen. »Your change, Sir«, sagte der Cop. » Here, take it... Are you okay?« »Dein Wechselgeld«, sagte Frank. »Mike!« Mike blinzelte verständnislos in seine Richtung. »Was?« »Dein Wechselgeld«, sagte Frank noch einmal. »Du hast es drinnen liegen lassen. Verdammt, was ist denn los mit dir?« »Nichts«, murmelte Mike. In der Hand des Polizisten befanden sich tatsächlich nur ein paar zerknitterte Dollarnoten. Er wagte es nicht, sie zu berühren, sondern schüttelte fast entsetzt den Kopf. »You don't want it?«, vergewisserte sich der Polizist. »Tip«, antwortete Mike. Das Wort für Trinkgeld war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen. »Take it as tip.« Er deutete zum Laden. Der Cop sah ihn geschlagene drei Sekunden lang mit beinahe noch größerem Misstrauen an, aber dann hob er die Schultern und schloss die Hand um die Geldscheine. Er ging jedoch nicht zum Laden zurück, wie Mike erhofft hatte, sondern stellte eine Frage, die Frank an seiner Stelle beantwortete. »Wunderbar«, sagte Stefan.
»Was?« »Er hat gefragt, was mit dir los ist«, antwortete Stefan. »Frank versucht ihm gerade zu erklären, dass du dich nicht wohl fühlst. Stimmt ja wohl auch, oder?« Frank und der Cop redeten eine gute Minute miteinander eine weitere Ewigkeit -, ehe der Beamte sich fast widerwillig herumdrehte und zum Laden zurückging. Frank atmete hörbar auf. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich habe ihm versprochen, dass wir nur noch bis zu diesem Motel fahren und dort übernachten. Anscheinend hat er es mir geglaubt.« Er machte ein finsteres Gesicht. »Ich schätze, er ist davon überzeugt, dass du betrunken bist oder vollkommen high. Wenn dein zerschrammtes Knie nicht wäre, hätten wir jetzt eine Menge Ärger. Ich habe ihm gesagt, dass du gestürzt bist. Verdammt, was ist denn nur mit dir los?« »Ich ... nichts«, murmelte Mike. Ohne es zu merken, zerquetschte er die Aluminiumdose in der Hand. Klebrige Cola lief über seine Finger und tropfte zischend auf den noch immer heißen Auspuff des Motorrads. »Na wunderbar«, sagte Stefan abermals. Sein flüchtiger Anfall guter Laune war wie weggeblasen. »Bisher sind wir der Polizei in diesem Bundesstaat ja noch nicht aufgefallen.« »Und das wird auch so bleiben«, sagte Frank. »Und wovon träumst du nachts?«, erwiderte Stefan böse. »Was wollen wir wetten, dass er jetzt schon unsere Kennzeichen überprüfen lässt? So ein verdammter Irrsinn!« »Jetzt reg dich wieder ab«, sagte Frank. »Das hat er vermutlich schon getan, als er angekommen ist - oder warum glaubst du, hat er so lange in sein Mikrofon gesprochen? Nichts wird passieren. Wir fahren jetzt zu diesem Motel, nehmen ein Zimmer und schlafen uns gründlich aus, und morgen früh sehen wir weiter.« »Falls wir dann nicht schon in einer gemütlichen Gefängnis-
zelle sitzen«, grollte Stefan. »So ein Irrsinn! Ich weiß allmählich nicht mehr, welcher Teufel mich geritten hat, mit euch beiden auf diese Tour zu gehen!« »Du kannst es ja noch bleiben lassen«, antwortete Frank gereizt. »Du kannst jederzeit allein weiterfahren.« »Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee«, sagte Stefan heiser. Er starrte sie noch eine Sekunde lang finster an, dann setzte er sich auf sein Motorrad und raste los. Das Desert Inn war deutlich mehr Desert als Inn - eine Ansammlung windschiefer Bretterbuden, die sich wie eine Herde verängstigter Tiere um einen schlampig gepflasterten Platz drängelten. Der dadurch entstandene Eindruck von Enge, der angesichts des Überangebots an Platz geradezu bizarr erschien, passte zu den verzerrten Dimensionen des Nestes, in dem sie gelandet waren. Seit sie von der Trading Post losgefahren waren, war das Grün beiderseits der Straße allmählich dünner geworden und schließlich ganz verschwunden. Jetzt lag wieder die rote Felsenwüste vor ihnen, die einen Großteil des Mormonenstaates Utah beherrschte. Das Dutzend kleiner Motelgebäude wirkte in dieser ungeheuren Leere verloren, deplatziert und irgendwie kläglich, als warte die Wüste nur darauf, es zu verschlingen. Natürlich hatte Stefan auf sie gewartet. Seine Intruder stand bereits entladen vor einer der Hütten, von ihm selbst war jedoch keine Spur zu sehen. Frank und Mike lenkten ihre Maschinen vor das nicht weniger schäbige Empfangsgebäude und stiegen ab. Mike war erschöpft. Die wenigen Meilen, die sie noch hatten zurücklegen müssen, hatten ihn fast überfordert, und seine Energie begann nun ebenso rasch und unaufhaltsam zu verschwinden wie das Tageslicht an dem wolkenlosen Himmel über ihm. Die Dämmerung hatte noch nicht ganz eingesetzt, schickte aber ihre Vorboten. In einer halben Stunde würde es dunkel sein. Franks Entschluss war mehr als vernünftig gewesen. Wären sie wei-
tergefahren, hätten sie Moab kaum vor Mitternacht erreicht; wahrscheinlicher jedoch überhaupt nicht. Er wartete, bis Frank zurückkam, und beschränkte sich auf einen fragenden Blick. Er war selbst zum Reden zu müde. »Stefan hat die Zimmer schon gebucht«, sagte Frank. Er zog eine Grimasse. »Drei Einzelzimmer. Anscheinend hat er sich entschlossen, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Mir egal. Morgen früh hat er sich wieder beruhigt.« Er machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der Stefans Motorrad stand. »Die beiden Zimmer rechts und links daneben. Such dir eins aus.« »Ich ...« »Ich fahre deine Kiste hin und bringe dir dein Gepäck. Hau dich hin. Wir treffen uns später zum Abendessen. Ich wecke dich.« Mike widersprach kein zweites Mal. Er war zu müde dazu. Frank trat neben ihn, blieb plötzlich wieder stehen und hob den Kopf. Er sah nach Westen, und ein schwer zu deutender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Überraschung? »Sieh mal«, sagte er. »Wenn es noch ein Türmchen hätte, könnte man es glatt für Bates Motel halten.« Er lachte. Mike folgte seinem Blick und begriff, was er meinte. Nicht allzu weit entfernt erhob sich ein einzeln stehendes, etwas größeres Gebäude auf einem flachen Hügel über der Hotelanlage. Es wirkte düster und heruntergekommen, hatte in seinen Augen aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gebäude aus Psycho. Frank hatte einfach nur eine scherzhafte Bemerkung machen wollen, um die Atmosphäre aufzulockern. Mike fühlte sich nicht besonders entspannt, aber er wusste die gute Absicht zu schätzen. Mühsam rang er sich ein Lächeln ab, ging in sein Zimmer und ließ sich auf das unbequeme Bett fallen. Er erwartete, auf der Stelle einzuschlafen, und er wünschte sich nichts sehnlicher als das, ganz egal, welche Albträume und namenlosen Schrecken auf ihn warteten, aber er fand keinen
Schlaf. Etwas sehr Sonderbares geschah: Jetzt, wo er sich nach langer Zeit wirklich entspannen konnte, spürte er mindestens ein Dutzend neuer Stellen an seinem Körper, die auf die unterschiedlichste Weise mit Schmerz gegen die raue Behandlung der letzten Tage protestierten. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und selbst das Atmen schien ihm plötzlich Mühe zu bereiten. Mit jeder Sekunde, die verging, schien sein Geist dagegen wacher zu werden. Er war zum Sterben müde und zugleich so klar bei Verstand wie selten zuvor im Leben. Mit einem Schlag wurde ihm die ganze Ausweglosigkeit seiner Lage bewusst. Tatsache war, dass er nicht mehr die geringste Chance hatte, heil aus dieser Geschichte herauszukommen. Nicht allein. Nach einer Weile hörte er Stimmen, was an sich nichts Außergewöhnliches war: Die Wände in diesem so genannten Motel waren dünn wie Papier. Wären sich alle Gäste des Motels einig, hätte ein einziges Radio in einem beliebigen Zimmer ausgereicht, um die ganze Anlage mit Musik zu versorgen. Mike kannte diese Stimmen. Sie gehörten Stefan und Frank, die ganz offensichtlich miteinander stritten. Neben allem anderen war es vielleicht das, was ihm am meisten zu schaffen machte. Frank und er kannten sich ein Leben lang. Stefan war erst vor wenigen Jahren dazugestoßen, und vor allem zwischen ihm und Mike hatte sich rasch eine Freundschaft entwickelt, die nicht so oberflächlich war wie die üblichen lockeren Gut-Wetter-Bekanntschaften. Dieser Urlaub hatte so etwas wie der letzte Beweis ihrer aller Freundschaft sein sollen, die Erfüllung eines Kindheitstraumes. Jetzt war er zu einem Albtraum geworden. Und was immer er, Mike, auch tun würde, es würde in einer Katastrophe enden. Es sei denn ... Ja, dachte er entschlossen: Es sei denn, er tat endlich das, was er vom ersten Moment an hätte tun sollen, und sagte den bei-
den die Wahrheit. Er war es ihnen einfach schuldig. Selbst wenn es ihm selbst nicht mehr half, zumindest konnte er dafür sorgen, dass Frank und Stefan nicht mit in den Strudel hineingerissen wurden, der sein Leben zu verschlingen drohte. Er stemmte sich in die Höhe. Es war dunkel im Zimmer geworden. Namenlose Dinge schienen ihn aus den Schatten heraus anzustarren, und irgendetwas bewegte sich schleichend und auf zu vielen Beinen dicht am Rande seines Gesichtsfeldes. Die Angst umschlich ihn in immer kleiner werdenden Kreisen. Mike stand endgültig auf, ging ins Nebenzimmer und platzte mitten in einen handfesten Streit zwischen Stefan und Frank. »Ah, da kommt ja unser Stuntfahrer«, sagte Stefan bissig. Frank runzelte nur die Stirn und fragte: »Was tust du hier? Ich dachte, du ruhst dich aus.« »Ihr beide seid ein bisschen zu laut dazu«, antwortete Mike. Die falsche Eröffnung, aber irgendwie musste er schließlich anfangen. »Entschuldige, dass wir deinen Schönheitsschlaf gestört haben«, sagte Stefan. Frank funkelte ihn an, und Mike sagte rasch: »Bitte streitet euch nicht.« »Ach, sollen wir nicht?«, fragte Stefan höhnisch. »Ich habe aber Lust dazu, was sagst du jetzt? Ich fühle nämlich noch immer die Handschellen, die mir der Ranger beinahe angelegt hätte. Verdammt, euch beiden kann das ja vielleicht egal sein, aber ich wäre fast im Gefängnis gelandet. Ist euch das klar?« »Das hättest du dir vielleicht einen halben Tag früher überlegen sollen«, sagte Frank. Stefan keuchte. »Was willst du damit sagen? Dass ich die Ableger selbst ausgerissen habe? Das ist ungeheuerlich!« »Nicht ungeheuerlicher als die Unterstellung, dass es einer von uns gewesen sein soll«, sagte Frank. Er hob die Hand, als Stefan erneut auffahren wollte. »Bitte! Mike hat Recht - wir helfen uns nicht, wenn wir uns
streiten. Ich war es nicht. Und Mike auch nicht. Wann hätten wir das denn auch tun sollen? Überleg doch mal! Wir sind zusammen zu den Motorrädern zurückgegangen. Selbst wenn wir dir eins hätten auswischen wollen, warum hätten wir's tun sollen?« »Aber ich war es auch nicht!« Stefan klang noch immer gereizt, aber auch ein wenig unsicher. Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, während er versuchte, den genauen Ablauf der Ereignisse von gestern zu rekonstruieren. »Kaum«, bestätigte Frank. »Es sei denn, du bringst das Kunststück fertig, an zwei Orten zugleich zu sein.« Stefan schwieg einen Moment, aber dann sah er in Mikes Richtung, und das Misstrauen in seinen Augen flackerte noch einmal auf. »Du bist noch einmal zurückgefahren.« »Um die Bäume auszureißen und in seinem Gepäck zu verstecken«, sagte Frank spöttisch. »Sicher doch. Und nachdem er sich dann fast den Hals gebrochen hat, hat er nichts Besseres zu tun, als sich in der Nacht aus dem Hotelzimmer zu schleichen und dir die Dinger in die Satteltaschen zu stopfen. Aber vielleicht haben wir ja auch zusammengearbeitet. Ha! Du hast uns ertappt! Wir haben dich nur nach Amerika gelockt, um zuzusehen, wie du in Handschellen abgeführt wirst.« Er hob leicht die Stimme. »Wir waren es nicht!« »Aber außer uns war doch niemand da!« Stefan klang fast verzweifelt. »Doch«, sagte Mike. »Es war noch jemand da.« Sowohl Frank als auch Stefan drehten sich verblüfft in seine Richtung. »Wie?« »Da war noch jemand«, wiederholte Mike. »Als wir unten in dem ausgetrockneten Fluss waren, und dann später noch einmal... da war jemand.« »Wer?«, fragte Stefan. »Keine Ahnung«, sagte Mike.
»Was soll das heißen, keine Ahnung? Hast du jemanden gesehen oder nicht?« Mike zögerte genau lange genug, um nicht mehr ganz überzeugend zu wirken. »Ja, ich habe noch jemanden gesehen«, sagte er. »Hast du ihn erkannt?« Mike nickte. »Verdammt, lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen«, fauchte Stefan. »Wer war es?« »Der Indianer«, sagte Mike. Die beiden starrten ihn nur fassungslos an. »Der Indianer aus dem Van«, fuhr Mike fort. »Der Bursche aus dem Hotel, erinnerst du dich? Und später im Schnellimbiss. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass er uns verfolgt.« »Und du hast ihn gestern Abend unten im Reservat gesehen?«, vergewisserte sich Stefan. Er klang nicht überzeugt, aber noch unsicherer als bisher. »Blödsinn.« »Vielleicht auch nicht«, sagte Frank ruhig. Stefan sah ihn stirnrunzelnd an. »Wieso?« »Ich hatte auch das Gefühl, dass wir nicht allein waren.« Er hob die Schultern. »Ich habe nichts gesagt, weil ich geglaubt habe, ich bilde mir das nur ein.« »Ich bin sicher, dass er es war«, sagte Mike. »Der Indianer aus dem Van.« »Und das sagst du erst jetzt?« »Ich habe nicht mehr daran gedacht«, antwortete Mike. »Nach dem ... Sturz hatte ich einen solchen Brummschädel, dass ich kaum noch wusste, wie ich meine Maschine auf die Straße steuern sollte. Alles andere erschien mir da unwichtig.« Stefan blickte ihn nur finster an. Für einen Moment breitete sich ein unbehagliches Schweigen aus, dann sagte Frank: »Eigentlich spielt es keine Rolle, ob es dieser Indianer, Rumpelstilzchen oder Dagobert Duck war. Es war jedenfalls keiner von uns. Können wir uns jetzt wieder wie erwachsene Männer
benehmen?« »Du? Wie ein Erwachsener?« Stefan lachte. »Das konntest du doch noch nie.« Er lachte noch einmal, und diesmal klang es sogar echt. »Ihr seid ja beide verrückt. Ich gehe ein Bier trinken. Ihr könnt ja nachkommen, wenn ihr wollt.« Frank atmete erleichtert auf, nachdem Stefan das Zimmer verlassen hatte. »Du bist gerade rechtzeitig gekommen«, murmelte er. »Ich dachte schon, er geht mir an die Kehle. Er war fest davon überzeugt, dass einer von uns ihm die Dinger untergejubelt hat, um ihm eins auszuwischen.« Mike schluckte. Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen, aber er wusste, dass er es nie tun würde, wenn nicht jetzt. »Ich habe ... euch nicht ganz die Wahrheit gesagt«, begann er stockend. »Was soll das heißen?«, fragte Frank verwirrt. »Hast du den Indianer nun gesehen oder nicht?« »Ihn nicht«, sagte Mike. »Aber den Jungen. Ich habe ihn überfahren.« Frank riss die Augen auf. »Was?« »Ich habe ihn überfahren«, sagte Mike noch einmal. »Es war kein Sturz. Er stand ganz plötzlich auf dem Weg. Ich konnte nichts machen. Ich habe es versucht, aber es ... es ging einfach zu schnell.« Er spürte eine tiefe, unendliche Erleichterung, jetzt, wo er es endlich los war. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Lawine er damit vielleicht ins Rollen gebracht hatte, aber es war gut so. »Puh«, meinte Frank. »Kein Scheiß?« »Glaubst du, dass ich mit so etwas Scherze treibe?« »Nein«, sagte Frank. Er starrte ihn zwei, drei Sekunden lang mit undeutbarem Ausdruck an, dann ging er zum Tisch, zog sich einen Stuhl zurück und ließ sich schwer darauf sinken. »Und jetzt erzähl«, verlangte er. »Die ganze Geschichte.« Genau das tat Mike dann auch während der nächsten zehn
Minuten. Er ließ nichts aus, gab sich aber auch Mühe, nichts zu dramatisieren oder irgendwie auszuschmücken - was nun wirklich nicht nötig war. Erst jetzt, als er Frank die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden in einem Stück und ohne irgendwelche Versuche einer Erklärung erzählte, wurde ihm bewusst, wie bizarr die ganze Geschichte klang. »Langsam verstehe ich, warum du dich so komisch benommen hast«, sagte Frank, als er zum Ende gekommen war. »Ich bewundere deine Nerven, weißt du das? Ich an deiner Stelle hätte einen Herzschlag gekriegt, als der Bulle uns vorhin an der Tankstelle angesprochen hat.« »Soll das heißen, du glaubst mir?« »Um dich selbst zu zitieren: Würdest du mit so etwas Scherze treiben?« Er stand auf. »Trotzdem war es gut, dass du Stefan nichts davon erzählt hast. Vielleicht besser, wenn die Geschichte erst mal unter uns bleibt.« Er grinste. »Ein Geheimnis unter Männern, das wir mit ins Grab nehmen.« »Und was hast du jetzt vor?«, fragte Mike. »Ich muss ... nachdenken«, sagte Frank stockend. »Gib mir eine Stunde oder zwei. Vielleicht fällt mir ja eine Lösung ein. Du weißt doch: Ich bin gut im Pläneschmieden. Leg dich hin und schlaf eine Runde. Du siehst aus wie der Tod auf Latschen.« Diesmal schlief Mike sofort ein und fand sich augenblicklich in einem Traum wieder. Wie in der vergangenen Nacht war er sich dieses Umstandes vollkommen bewusst; vielleicht war dies etwas, das dieser besonderen Art von Träumen zu Eigen war. Darüber hinaus hatten die beiden Träume jedoch nichts miteinander gemein. Es war kein Albtraum. Er wurde nicht von sinnlosen und grässlichen Visionen geplagt, es gab keine toten Indianerjungen, die ihn verfolgten, und er hatte auch keine Angst. Der Traum war nicht surreal, sondern ausgesprochen realistisch.
Es war heller Tag. Er stand auf der Spitze einer hundert Meter hohen Nadel aus rotem Fels, die sich über eine zerschundene Öde aus Stein und rotem Sand erhob, welche sich in alle Richtungen erstreckte, so weit das Auge reichte. Der Himmel erschien ihm unnatürlich hoch und viel zu blau, und in seinem Zentrum loderte eine grelle, unbarmherzige Sonne, die eher weiß als gelb zu sein schien. Sie bewegte sich. Wenn er genau hinsah, konnte er sehen, dass sie langsam über den Himmel glitt, als gehörte diese unheimliche Marslandschaft nicht nur zu einem fremden Planeten, sondern auch zu einer anderen Zeit. Es war brütend heiß, doch obwohl er die Sonnenstrahlen wie die Berührung einer trockenen fiebrigen Hand auf der Haut spürte, wusste er, dass sie ihm nicht schaden würden. Er drehte sich einmal im Kreis. Das Plateau maß weniger als zehn Schritte und fiel in alle Richtungen fast senkrecht ab. Er hatte keine Ahnung, wie er hier heraufgekommen war und was er hier sollte. Aber er war nicht zufällig hier. Alter lastete wie etwas Unsichtbares, aber auf unleugbare Art Präsentes über der roten Steinwüste. Vielleicht war es eine Erde ferner Vergangenheit, die er sah, vielleicht auch die einer ebenso unvorstellbar fernen Zukunft; vielleicht war es auch eine Zeit neben der Zeit. Wir waren immer da, und wir werden immer da sein. Plötzlich wusste er, wo er sich befand. Als wäre dieser Gedanke der Schlüssel zu einer weiteren, noch verborgeneren Welt gewesen, befand er sich plötzlich nicht mehr über der roten Felsenwüste, sondern im Inneren einer niedrigen, weitläufigen Höhle, die aus dem gleichen rötlich braunen Fels bestand. Es gab keinen Ausgang, aber nicht weit entfernt brannte ein kleines Feuer, sodass er einigermaßen sehen konnte. Im Innern der Höhle war es so kalt, wie es draußen heiß gewesen war, aber auch diese Kälte konnte ihn nicht wirklich verletzten. Wie alles hier war sie Teil einer
Welt, in die er nicht gehörte und die so wenig Einfluss auf ihn hatte wie er umgekehrt auf sie. Er war nur Beobachter. Aber um was zu sehen? Er trat näher an die Wand aus rotem Fels und entdeckte, dass sie mit Zeichnungen übersät war; einfache, stark versinnbildlichende Malereien, jedoch nicht primitiv. Manche stellten Jagdszenen dar, Momentaufnahmen aus dem Leben eines Volkes, dessen Tagesablauf von der Suche nach Nahrung und von der Witterung bestimmt war. Es schien auch Szenen religiöser oder kultischer Bedeutung zu geben sowie eine Reihe Malereien ganz eindeutigen, erotischen Inhalts. Er sah keine Kampfszenen. Wenn es sich bei dem Volk, das diese Wandmalereien hinterlassen hatte, um Indianer handelte, dann war es kein kriegerischer Stamm gewesen. Hatten die Anasazi keine eigene Kriegerkaste gehabt? Waren sie nur ein Volk von Sammlern und Bauern gewesen, nicht einmal richtige Jäger? Mike hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich zum Feuer um. Es brannte jetzt heller, und auf der anderen Seite saß ein uralter Indianer mit hüftlangem grauem Haar und wettergegerbtem Gesicht. Er trug ein einfaches, weißes Kleid, dessen einziger Schmuck aus einem kunstvoll bestickten Kragen bestand. Auf dem Boden neben ihm lag etwas, das vielleicht eine Waffe war, vielleicht aber auch lebte. »Setz dich, weißer Mann«, sagte er. Seine Lippen bewegten sich nicht, während er sprach, aber Mike wunderte sich nicht einmal darüber. Schließlich befand er sich in einem Traum. Er gehorchte. Die alten, stechend klaren Augen des Indianers folgten jeder seiner Bewegungen. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. »Nun stell deine Fragen«, sagte der Alte. »Fragen?« »Du bist doch hierher gekommen, um Fragen zu stellen. Verschwende nicht deine Zeit. Du hast nicht mehr viel davon.« »Was meinst du damit?«
»Du hast den Wendigo herausgefordert«, antwortete der Alte. »Das hättest du nicht tun sollen. Er wird dich töten.« »Der Wendigo? Was soll das sein? Ich habe niemanden herausgefordert.« »Du bist hier«, sagte der Alte, als wäre das Antwort genug. »Bitte«, sagte Mike. »Ich weiß, dass das alles hier nur ein Traum ist und dass ich wahrscheinlich keine klaren Antworten erwarten kann. Aber ich kenne ja noch nicht einmal die Fragen, die du von mir erwartest.« Zum ersten Mal bewegte sich der Alte. Langsam, mit den umständlich wirkenden, in Wahrheit sehr präzisen Bewegungen eines wirklich alten Mannes hob er den Gegenstand auf, der neben ihm lag. Mike erkannte, dass es sich um nichts anderes als ein paar dürrer Reisigzweige handelte. Winzige weiße Funken stoben aus dem Feuer hoch, als er sie hineinwarf. »Ein Traum? Ja, vielleicht. Aber wer sagt dir, dass ein Traum weniger Ding ist als die Dinge, von denen du träumst?« Es war nur wenige Stunden her, da hatte etwas so wenig Existentes wie ein Trugbild fast zu seinem Tod geführt. Mike schwieg. »Vielleicht ist der Wendigo nur ein Traum«, fuhr der Alte fort, nachdem er eine Weile wortlos ins Feuer gestarrt hatte. »Vielleicht träumt er aber auch dich.« »Und was ist er?«, fragte Mike. »Der Mit Dem Wind Geht«, antwortete der Alte. »Aha«, sagte Mike. »Aber das meine ich nicht. Ich meine, was ist er? So eine Art... böser Geist?« »Böse?« Der Alte schüttelte den Kopf und warf eine weitere Hand voll Zweige ins Feuer. »Er ist«, sagte er. »Das genügt. Manchmal hilft er den Menschen. Manchmal spielt er.« »Und im Moment spielt er mit mir.« »Du hast ihn herausgefordert«, behauptete der Alte erneut. »Weil ich ihn ausgelacht habe?« Mike machte eine Bewegung, die ärgerlich gemeint war, aber nur hilflos wirkte.
»Das habe ich ja nicht einmal getan! Ich habe nur ... nur etwas gedacht, verdammt noch mal! Das wird doch noch erlaubt sein!« »Du hast ihn verspottet!« »Ein schwachsinniges Kind!«, protestierte Mike. »Einen ... einen Behinderten, der in seinem Leben wahrscheinlich schon tausend Dinge gehört hat, die schlimmer sind!« Der Alte antwortete nicht darauf. Das musste er auch nicht. Mike hatte mit seiner Antwort alles gesagt, was zu sagen war. Er fühlte sich schuldig. »Und ... und wenn ich mich bei ihm entschuldige?« »Manchmal ist er gnädig«, sagte der Alte. »Und manchmal grausam. Aber das sind Worte, die nur für dich von Bedeutung sind. Manchmal spielt er. Vielleicht wird er dich nur eine Weile quälen, um dich für deinen Hochmut zu bestrafen. Aber ich glaube, er wird dich töten, denn da ist noch mehr!« Mike schauderte. Es war nur ein Traum. Der alte Indianer existierte nicht wirklich, trotzdem jagten ihm seine Worte Angst ein. »Und was kann ich jetzt tun?«, fragte er. »Sterben«, antwortete der Alte. »Sehr witzig«, sagte Mike. »Aber den Film habe ich auch gesehen.« Etwas polterte. Irgendwo in der Dunkelheit der Höhle fiel ein Stein von der Decke. »Ich werde versuchen, dir zu helfen«, sagte der Alte. »Aber ich weiß nicht, ob ich es kann. Er ist sehr mächtig.« Wieder stürzte ein Fels. Diesmal war das Geräusch näher. Bedrohlicher. »Du musst jetzt gehen«, sagte der Alte. »Eine Frage noch«, sagte Mike rasch. Er machte eine ausholende Geste. »Das alles hier... die Wüste draußen ... ist es das, wofür ich es halte? Die Andere Welt der Anasazi?«
»Sie erschreckt dich«, stellte der Alte fest. »Weil du sie nicht verstehst.« »Ich hätte mir das Paradies ein wenig anders vorgestellt«, gestand Mike. »Um ehrlich zu sein, kommt es mir eher wie das Gegenteil vor.« »Weil es nicht die Welt eurer Dinge ist«, sagte der Alte. »Dinge? Was meinst du mit Dinge?« »Eine Frage«, sagte der Alte. »Mehr nicht. Geh jetzt!« Wie um seine Worte zu unterstreichen, krachte ein weiterer Felsen von der Decke, dieses Mal so nahe, dass Mike vor Schrecken zusammenfuhr. Und noch während das Geräusch in seinen Ohren verklang ... ... veränderte es sich. Mike fuhr erschrocken hoch und blinzelte in die Runde. Er war wieder in der Wirklichkeit. Er war wach. Jedenfalls hoffte er es. Jemand hatte das Licht eingeschaltet. »Jetzt mach endlich die Augen auf. Du bist weder im Zuchthaus noch in einer Klapsmühle. Ich habe dir ein Bier mitgebracht.« Frank knallte die mitgebrachte Bierdose auf den Tisch - vermutlich nicht zum ersten Mal. Das war das Geräusch gewesen, das Mike aus seinem Traum gerissen hatte. Kein Felsen. Mike setzte sich ganz auf und suchte verstohlen in Franks Gesicht nach irgendwelchen Ähnlichkeiten mit dem alten Indianer, fand aber keine. »Bier? Ich will kein Bier.« »Willst du doch«, behauptete Frank. Er warf ihm die Dose zu. Mike versuchte sie ungeschickt aufzufangen, griff aber daneben. Sie rollte über das Bett und fiel auf der anderen Seite zu Boden. »Und wie kommst du darauf? Haben wir einen Grund zum Feiern?« »Vielleicht«, antwortete Frank. Er versuchte, sich lässig auf die Tischkante zu setzen, richtete sich aber hastig wieder auf,
als das Möbelstück bedrohlich zu wackeln begann. »Ich habe mich ein bisschen umgehört, weißt du?« »Umgehört?« Mike war offensichtlich noch immer nicht ganz wach, denn er verstand nicht, worauf Frank hinauswollte. »Recherchiert«, sagte Frank. »Falls dir das Wort lieber ist. Ich kann das, weißt du? Immerhin bezahlst du mich seit Jahren dafür.« »Und wie es aussieht, viel zu gut«, murmelte Mike. Er beugte sich ächzend über das Bett, angelte die Bierdose vom Boden und fluchte gedämpft, als er den Verschluss aufriss und Schaum über seine Hände und Unterarme spritzte. Natürlich hatte Frank sie einzig und allein aus diesem Grunde ein paar Mal heftig auf den Tisch gestampft. »Manchmal bist du ein Depp«, sagte er. »Aber ein nützlicher.« Frank lachte. »Was willst du zuerst hören - die gute Nachricht oder die schlechte?« »Die Schlechte.« Eine andere Antwort hätte Frank sowieso ignoriert. »Die Schlechte, gut. Deine kleine Amokfahrt von vorhin war vollkommen umsonst.« »Ach. Und wieso?« »Weil du unschuldig bist«, sagte Frank. »Du hast niemanden getötet.« Mike blinzelte. »Ich habe ein bisschen herumtelefoniert, während du geschlafen hast«, erklärte Frank. »Keine Sorge - ich war sehr diskret. Ich habe mich als Reporter der New York Tribüne ausgegeben, so was klappt fast immer. Also, um es kurz zu machen: Der Park ist heute Morgen eröffnet worden. Es wimmelt dort von Personal und Besuchern, aber niemand weiß etwas von einem toten Indianerjungen.« »Du hast danach gefragt?«, keuchte Mike entsetzt. Frank zog eine Grimasse. »Hältst du mich für blöd?«, fragte er beleidigt. »Natürlich nicht. Ich habe mich nach dem Zwi-
schenfall mit den Rockern erkundigt. Sie sitzen alle hinter Schloss und Riegel, und was noch viel wichtiger ist: Niemand weiß etwas von uns. Den beiden Rangern geht es übrigens gut. Sie werden in ein paar Tagen schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Tja, und bei der Gelegenheit habe ich gleich noch ein bisschen weiter herumgefragt. Es gibt keinen toten Indianerjungen. Niemand hat irgendwelche Spuren gefunden.« »Aber ich habe ihn angefahren«, beharrte Mike. »Wenn, dann war er jedenfalls nicht so schlimm verletzt, wie du geglaubt hast«, antwortete Frank. »Allerdings glaube ich nicht, dass er überhaupt da war.« »Willst du mir auf diese Weise schonend beibringen, dass ...« »Ich will dir sagen, wie ich die Sache sehe«, fiel ihm Frank ins Wort. Er grinste noch immer, aber seine Augen blieben dabei ernst. »Du hast dich gestern ziemlich über diesen Jungen aufgeregt und noch viel mehr über seinen Vater. Sie haben dir Angst gemacht, habe ich Recht?« Mike reagierte nicht, was Frank als Zustimmung zu deuten schien, denn er fuhr mit einem Nicken fort: »Mir jedenfalls haben sie Angst eingejagt. Du bist gestern Abend gestürzt, nicht weil du den Jungen angefahren hast, sondern einfach so, weil du Pech hattest. Du bist ziemlich hart aufgeschlagen.« »Meinst du damit: auf den Kopf?« »Möglicherweise«, antwortete Frank ungerührt. »Jedenfalls hast du unter einem gehörigen Schock gestanden. Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung. Und da wunderst du dich, wenn dir dein Unterbewusstsein einen Streich spielt?« »Aber es war so real!« »An der Maschine ist jedenfalls kein Tropfen Blut«, antwortete Frank. »Und das sollte es, wenn du den Jungen wirklich so zugerichtet hast, wie du glaubst. Aber sie ist sauber. Ich habe sie mir angesehen, außerdem hätte Stefan das Blut entdeckt, als er sie reparierte.« »Und du meinst, den ganzen Rest habe ich mir nur eingebil-
det?« Warum wehrte er sich eigentlich mit solcher Kraft gegen diese Erklärung? Er sollte sie begierig akzeptieren! Dagegen suchte er fast verzweifelt nach irgendwelchen Argumenten, um sie zu entkräften. »Grob gesagt, ja«, antwortete Frank. »Wenn dir der Begriff lieber ist: Bewusstseinsstörungen. Hey, was erwartest du? Du hattest einen schweren Unfall. Andere in deiner Lage vergessen sogar ihren eigenen Namen! Du bist noch glimpflich davongekommen. Du gehörst ins Bett, nicht auf ein Motorrad!« Plötzlich grinste er wieder. »Ich fürchte nur, daraus wird erst einmal nichts.« »Wieso?«, fragte Mike misstrauisch. »Weil wir zwei jetzt nach vorne gehen«, antwortete Frank. »Es gibt hier eine kleine Bar, und ich gedenke nicht eher ins Bett zu gehen, bis wir beide bis zum Stehkragen abgefüllt sind. Schließlich haben wir allen Grund, zu feiern!« »Ich hoffe, da hast du Recht.« Mike hätte nicht einmal sagen können, warum: Aber Franks Euphorie ging ihm ganz gehörig auf die Nerven. »Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter«, beschwerte sich Frank. »Dabei kannst du doch froh sein, dass dein ganz persönlicher Albtraum zu Ende ist, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Mann, jetzt können wir endlich unbeschwert Urlaub machen!« »Unbeschwert!» Mike hätte beinahe laut aufgelacht. »Das glaubst du doch selbst nicht, oder? Hast du schon Stefans Sprösslinge vergessen? Spätestens wenn die Ranger aus dem Krankenhaus entlassen werden, setzen die doch Himmel und Hölle in Bewegung, um uns zu schnappen.« »Quatsch«, widersprach Frank lautstark, aber auch ein wenig verunsichert. »Wegen so einer Lappalie werden sie wohl kaum das FBI einschalten.« »Aber dem Motorradvermieter in Phoenix Feuer unterm Arsch machen, wenn sie Stefans Nummernschilder notiert
haben.« Mike stützte sich auf dem Bett ab; ihm war schwindlig und übel, aber er hatte nicht die geringste Lust, das Frank auf die Nase zu binden. »Mal ganz abgesehen davon, dass unser John-Wayne-Verschnitt im Dreieck hüpfen wird, wenn ich mit meiner Maschine auf seinen Hof fahre.« »Mag ja sein«, räumte Frank ein. »Aber das sind doch wirklich Bagatellen, verglichen mit dem, was du befürchtet hast...« Er zuckte zusammen, als das Telefon schrillte. »Wer kann das denn sein?«, fragte er, während er sich mit gerunzelter Stirn zum Telefonapparat umdrehte. »Vielleicht Stefan.« Mike wedelte ungeduldig mit der Hand. »Nun geh schon ran. Sonst wirst du es nie herausfinden.« Frank folgte der Aufforderung nach kurzem Zögern. Er sah eindeutig beunruhigt aus, fand Mike. Eine üble Vorahnung stieg in ihm hoch. »Ja?«, fragte Frank, nachdem er den Hörer abgenommen hatte. Mit seinem Gesicht ging fast augenblicklich etwas Merkwürdiges vor sich. Aus der leichten Besorgnis, die er bis jetzt zur Schau getragen hatte, wurde mit einem Male tiefer Schrecken. Unwillkürlich zuckte auch Mike zusammen. »I don't think so«, sagte Frank. »But why ... ?« Es war eindeutig nicht Stefan. Mike hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wer am anderen Ende der Leitung war. Aber diese Vorstellung wurde zur Gewissheit, als Frank nach einem kurzen Dialog in Amerikanisch den Hörer sinken ließ, ohne ihn allerdings aufzulegen. »Du wirst nicht glauben, wer gerade angerufen hat«, sagte er tonlos. Sein Gesicht, das eben noch leicht gerötet gewesen war, wirkte jetzt unnatürlich bleich, fast wächsern. »Es war der Typ, mit dem ich eben telefoniert habe ...« »Du hast ihm die Nummer von unserem Hotelzimmer gegeben?«, fragte Mike fassungslos. »Natürlich nicht«, antwortete Frank verwirrt. »Deswegen verstehe ich das Ganze ja auch nicht... Aber ...«
»Ja, was denn?«, drängte Mike, als Frank nicht weitersprach. »Es ... es scheint da ein Irrtum vorzuliegen.« Mike spürte, wie eiskaltes Entsetzen in ihm hochkroch. Das war ungerecht. Für ein paar Minuten hatte es so ausgesehen, als hätte ihn das Schicksal noch einmal davonkommen lassen wollen. »Also haben sie doch den Indianerjungen gefunden?«, fragte er. »Nein.« Frank schüttelte entschieden den Kopf und versuchte zu lächeln. »Vielleicht war mein Anruf doch nicht ganz so klug, wie ich gedacht habe. Verdammt, das kann doch mal vorkommen, oder?« »Was kann vorkommen?« »Ach, nichts.« Frank legte mit einer langsamen, fast bedächtig wirkenden Bewegung den Hörer auf die Gabel zurück und wandte sich dann dem Fenster zu, um gedankenverloren nach draußen zu starren. »Manchmal stöbert man durch eine Recherche erst das Wild auf, das man beschützen wollte.« »Was soll denn das heißen?« Mike schrie fast. »Hast du jetzt die Cops auf meine Spur gehetzt, oder was?« »Die Cops? Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Frank straffte sich und ging zur Tür. »Lass uns endlich zur Bar gehen. Ich brauch jetzt ganz dringend ein Bier.« Und so leise, dass es eigentlich nicht für Mikes Ohren bestimmt gewesen sein konnte, fügte er hinzu: »Ich wünschte, es wären die Cops gewesen!« Ende des zweiten Tages Fortsetzung folgt
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14802 l Auflage November 2002 Vollständige Taschenbuchausgabe Deutsche Erstausgabe © 2002 by Verlagsgruppe Lübbe Lektorat: Stefan Bauer Titelfoto: Rene Durant Umschlaggestaltung: Van de Schans GmbH, Werbeagentur Mülheim an der Ruhr Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck, Berlin
Printed in Germany ISBN : 3 404 14802 9 3
Dritter Tag
In Moab waren Kassenknüller wie Indiana Jones und Rio Grande gedreht worden, aber das war Mike herzlich egal. Er fand die kleine Stadt im Süden Utahs stinklangweilig. Sie waren vor Sonnenaufgang losgefahren -und, zumindest was Mike anging, mit hämmernden Kopfschmerzen, einem üblen Geschmack im Mund und einem leisen Anflug von schlechtem Gewissen. Sie erreichten ihr Etappenziel auf der Route 191 bereits am frühen Vormittag. Das lag nicht zuletzt an zwei Gründen: der schnurgeraden und überraschend wenig befahrenen Straße und dem forschem Fahrstil, den Stefan vorgab. Mike kam es im Nachhinein fast wie ein kleines Wunder vor, dass sie nicht in eine Radarfalle geraten oder von dem Streifenwagen angehalten worden waren, den sie überholt hatten. Im Grunde war ihm das auch vollkommen egal. Er war körperlich angeschlagen, was nach dem zurückliegenden Tag kein Wunder war. Außerdem hatten sie die Motelbar zwar nicht leer getrunken, wie Frank vorgeschlagen hatte, aber doch ihr Möglichstes getan. Trotzdem befand er sich in einer Hochstimmung, die an Euphorie grenzte. Das war umso erstaunlicher, da Frank in ihrem Hotelzimmer von irgendjemandem angerufen worden war, der ihm etwas sehr Beunruhigendes mitgeteilt hatte. Verdammt, Mike konnte sich an diesen bescheuerten Anruf einfach nicht mehr genau erinnern. Immer wenn er versuchte, die Erinnerung daran hervorzuzwingen, ve rschwamm die Szene vor seinen Augen. Er sah gerade noch, wie Frank sich mit dem Telefonhörer in der Hand zu ihm umdrehte, weiß wie eine Wand und so betroffen, als hätte er eine grauenhafte Nachricht aus der Heimat erhalten oder als sei er sich jetzt gewiss, dass die Cops hinter ihnen her waren. Doch dann kippte die Szene weg ... und da war nichts mehr.
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Egal. Er würde sich den Tag nicht verderben lassen, nicht durch einen Filmriss und schon gar nicht durch den schweren Schatten einer Erinnerung, die wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten hatte. Außerdem: Was konnten ein bisschen Kopfschmerzen und der unangenehme Nachhall irgendeines wahrscheinlich vollkommen belanglosen Telefonats schon gegen die Erkenntnis ausrichten, dass er kein Mörder war? Wären sie wegen zu schnellen Fahrens angehalten worden, hätte Mike ihre Strafzettel nicht nur mit Freude bezahlt, sondern die Cops vermutlich auch noch mit einem fürstlichen Trinkgeld entlohnt. Aber sie waren von niemandem aufgehalten worden, und so profitierte nun eine ziemlich verblüffte Kellnerin von Mikes Hochstimmung, als sie mit einer Rechnung von neun Dollar und ein paar Zerquetschten kam und Mike mit einem Zwanziger zahlte und großzügig abwinkte, als sie das Wechselgeld abzählen wollte. »Donnerwetter«, sagte Stefan feixend und vorsichtshalber erst, nachdem die Kellnerin außer Hörweite war. »Hast du heute deine Spendierhosen an oder ist der hormonelle Notstand ausgebrochen?« Er griff grinsend nach dem Styroporbecher mit Kaffee, den die Kellnerin gebracht hatte, nippte daran und verzog das Gesicht, ehe er weitersprach. »Ich meine, die Kleine ist ja ganz niedlich, aber so hübsch ist sie nun auch wieder nicht.« Normalerweise hätte Mike auf eine derartige Anspielung gar nicht oder allenfalls mit einem bösen Blick reagiert. Er hatte eine Menge Humor (vor allem, wenn es ums Austeilen ging), aber er mochte keine Zoten; nicht einmal Andeutungen in diese Richtung. Er wollte jedoch keinen Zweifel aufkommen lassen, dass er allen Grund für gute Laune hatte, und so hörte er sich fast zu seiner eigenen Überraschung antwo rten: »Du siehst das falsch. Frauen interessieren mich nicht.« Er machte eine Kopfbewegung zu Frank hin. »Hast du wirklich gedacht, wir wären seit dreißig Jahren nur
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befreundet!« Stefan blinzelte, und selbst Frank sah für einen kurzen Moment ziemlich verblüfft aus, aber dann grinste er und setzte noch eins drauf, indem er die Lippen spitzte und Mike einen Kuss zuwarf. »Großer Gott, das ist ja nicht auszuhalten«, stöhnte Stefan mit übertrieben gespieltem Entsetzen. Er stand auf. »Ich bin gleich wieder da. Haltet meinen Kaffee warm - dürfte euch ja nicht schwer fallen.« »Du bringst den armen Kerl vollkommen aus dem Konzept«, meinte Frank, nachdem Stefan gegangen und außer Hörweite war. »Die beiden letzten Tage warst du unausstehlich, und jetzt sprudelst du geradezu über vor guter Laune.« »Na und?«, schnappte Mike. »Gibt es daran vielleicht irgendetwas auszusetzen?« »Möglicherweise nicht.« Frank begann, in seinem Kaffee zu rühren, obwohl er gar keinen Zucker hineingetan hatte. »Aber dein Stimmungswechsel verblüfft selbst mich - so etwas kenne ich bei dir eigentlich nur, wenn du gerade den Abgabetermin von einem deiner Romane wider Erwarten doch noch eingeha lten hast. Abgesehen davon hat Stefan überhaupt keine Ahnung, was du seit deinem Sturz durchgemacht hast. Und ich finde, dabei sollte es auch ble iben.« Mike fand diese Bemerkung vollkommen überflüssig. Aber er spürte, dass Frank auf etwas Bestimmtes hinauswollte, und normalerweise war es nicht seine Art, lange um den heißen Brei herumzureden. Also würde er einfach warten - wie er es immer tat, wenn Frank zum Beispiel mit seinem journalistischen Spürsinn eine Idee ausgegraben hatte, um sie ihm dann bei passender Gelegenheit als interessante Wendung für ein aktuelles Romanmanuskript unter die Nase zu reiben. »Eigentlich müsste ich jetzt ja stinksauer auf dich sein«, sagte Frank nach einer Weile. »Bist du aber nicht.«
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»Aber ich sollte es«, beharrte Frank. »In erster Linie natürlich, weil du dich mir nicht gleich anvertraut hast. Außerdem hast du uns alle in Gefahr gebracht - vor allem mit dem kleinen Stunt auf der Bergstraße.« »Wie ich die Sache sehe, habe ich vor allem mich in Gefahr gebracht. Was soll das jetzt? Ich dachte, die Sache wäre erledigt.« Statt direkt zu antworten, drehte sich Frank auf dem billigen Plastikstuhl so weit herum, dass er zu den drei Motorrädern hinaussehen konnte, die schräg nebeneinander am Straßenrand vor dem Jailhouse Cafe abgestellt waren. Zwei der drei Intruder blitzten im hellen Licht der Vormittagssonne, als kämen sie frisch aus der Fabrik, aber die Dritte bot einen Anblick des Jammers. Stefans provisorische Reparaturen hatten die Maschine zwar wieder fahrtüchtig gemacht, den optischen Eindruck aber nur noch verschlimmert. Einige Teile waren mit Klebeband fixiert, damit sie nicht abfielen, bei anderen hatte Stefan mit Draht nachgeholfen. Die tiefen Schrammen und Kratzer im Lack wirkten wie schlecht verheilte Narben, und aus dem Motor tropfte eine ölige Flüssigkeit. Es sah schlimm aus. Stefan behauptete zwar, dass es halb so wild war, und Stefan verstand eindeutig mehr von Maschinen als Mike, aber er war kein Mechaniker, sondern Zahnarzt. Frank und Stefan hatten ihre Maschinen zu beiden Seiten seiner Intruder abgestellt; zwei chromblitzende, flache Raubtiere, die einen verletzten Kameraden in die Mitte genommen hatten, um ihn zu beschützen. »Wir sind vorhin an einer Werkstatt vorbeigekommen«, sagte er. »Sobald wir unser Hotel gefunden haben, fahre ich mal vorbei und sehe nach, ob sie mir helfen können.« »Du hättest es mir sagen sollen«, sagte Frank. »Ich dachte, wir wären Freunde.« Gerade deshalb habe ich nichts gesagt, dachte Mike, sagte
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aber nichts. Frank wusste es ohnehin. »Das nächste Mal rückst du gleich mit der Sprache raus, ist das klar?« »Klar, Chef«, antwortete Mike. »Aber es wird kein nächstes Mal geben.« »Hast du dir vorgenommen, in Zukunft nur noch Weiße zu überfa hren?« »Statistik«, antwortete Mike. »Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass einem so was zweimal im Leben passiert, ist verschwindend gering. Zweimal in einer Woche ist praktisch ausgeschlossen.« »Für solche Klugscheißereien bin ich zuständig«, sagte Frank. Er verzog keine Miene, während er das sagte, und Mike glaubte seine Unzufriedenheit geradezu körperlich zu spüren. Frank war nicht dazu gekommen, das loszuwerden, was ihm auf dem Herzen lag. Mike ließ es dabei bewenden. Es würde sich schon eine neue Gelegenheit ergeben. Vielleicht war »statistische Wahrscheinlichkeit« ein Thema, über das sich im Moment eher nachzudenken lohnte, schoss es ihm durch den Kopf, während er an Frank vorbei auf die Straße starrte. Wie hoch war zum Beispiel die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet in diesem Augenblick ein zerbeulter schwarzer Van mit einem Indianer am Steuer langsam auf der anderen Straßenseite vorbeifuhr? Nicht besonders hoch, entschied er. Frank drehte sich ebenfalls im Stuhl herum, blickte dem Wagen kurz nach und legte die Stirn in fast schon drohend wirkende Falten. »Fang nicht schon wieder an«, sagte er. »Das ist ein Zufall.« »Aber ein verdammt großer.« »Eben weil es solche Begebenheiten gibt, hat man das Wort >Zufall< erfunden«, knurrte Frank. »Schreib ein Buch darüber, dann verstehst du es vielleicht.« »Das habe ich sowieso vor«, antwortete Mike lächelnd, ohne
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den Van auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen. Der Wagen wurde immer langsamer. Der Blick des Indianers am Steuer war auf die drei Motorräder vor dem Jailhouse Cafe gerichtet, sodass er gezwungen war, langsam den Kopf zu drehen, während er weiterfuhr. Mike konnte sein Gesicht deutlich sehen, und für einen Moment war er sogar fast sicher, ihn zu erkennen. Aber eben nur fast. Und außerdem war da noch die Logik, die ihm sagte, dass für ihn als Europäer sowieso alle Indianer gleich aussahen. Er verscheuchte den Gedanken gewaltsam. Noch mehr Überwindung kostete es ihn, den Blick von dem schwarzen Wagen zu lösen und sich wieder Frank zuzuwenden. Die Art, wie Frank ihn musterte, gefiel ihm nicht. »Das tue ich sowieso«, sagte er noch einmal. »Stefan und du spielen auch mit. Also benimm dich und freu dich schon einmal auf die Rolle, die du spielst.« »Das erschreckt mich nicht«, antwortete Frank. »Schließlich bin ich der Redakteur. Also benimm du dich, oder ich lektoriere deinen Text so, dass dich die Kritiker in der Luft zerreißen.« »Das tust du doch immer«, gab Mike zurück. Innerlich atmete er auf. Wenn Frank sich auf diesen albernen Schlagabtausch einließ, bedeutete das, dass er zumindest im Moment nicht darauf bestand, sein Problem aufs Tablett zu bringen. Und später ... Mike zuckte in Gedanken mit den Schultern. Später war später. Wie bestellt kam in diesem Moment auch Stefan zurück, und damit war das Thema endgültig vom Tisch. Er war auf der Toilette gewesen. Seine Hände waren noch nass. Während er auf den Tisch zukam, wischte er sie an den Oberschenkeln seiner Lederjeans ab, was ihm einen verächtlichen Blick der gleichen Bedienung einhandelte, die gerade Mikes großzügiges Trinkgeld eingestrichen hatte. Eine glatte Fehlinvestition, dachte Mike. Aber es passte zu dem Bild, das er in den letzten drei Tagen
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vom »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« gewo nnen hatte. Auch der Traum von der grenzenlosen Freiheit im Sattel eines Motorrades war nur ein Traum - und nicht einmal ein amerikanischer. Biker waren im Land der Route 66 und der Heimat der Harley Davidson nicht besonders angesehen, um es vorsichtig auszudrücken. Die Reaktion der Kellnerin war typisch. Sie bediente sie, sie war freundlich und zuvorkommend, aber im Grunde verachtete sie sie, und ein bisschen fürchtete sie sich wohl auch vor ihnen. Mike war es im Moment fast recht. Er hatte in den zurückliegenden drei Tagen so viel Furcht empfunden, dass es beinahe gut tat, auch einmal ein wenig davon zu verbreiten. »Na, ihr beiden Turteltäubchen?« Stefan ließ sich übertrieben schwer auf seinen Stuhl fallen und griff nach seinem Kaffee. »Hattet ihr Zeit genug füreinander, oder komme ich zu früh?« »Kein Problem«, antwortete Frank. »Heute bekommst du sogar ein Zimmer für dich allein. Wir beide nehmen uns ein Doppelzimmer. Du hast doch nichts dagegen?« »Wer bin ich, das junge Glück zu stören?«, feixte Stefan. »Aber mal im Ernst: Ist dir mittlerweile der Name des Hotels wieder eingefallen?« Die Frage galt Mike, der mit einem bedauernden Kopfschü tteln antwortete. Er hatte gehofft, sich wieder erinnern zu können, wenn er den Namen des Hotels las, aber zumindest bis jetzt war das nicht der Fall. Moab wirkte zwar auf den ersten Blick wie ein überschaubares Kaff, das außer ein paar Dutzend Andenkenläden, T-Shirt-Druckereien und Touristenfallen auf der Mainstreet nichts zu bieten hatte, aber Mike wusste es besser. Die Fünftausend-Seelen-Gemeinde war die größte Stadt SüdUtahs und angesichts der felsigen Naturwunder in ihrer Umgebung so etwas wie das touristische Herz einer ganzen Region - mit unzähligen Hotels, Bed-&-Breakfast-Places und Spezialanbietern für Rafting-, Jagd-, Jeep- und Pferde-
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Ausflüge. Hier auf gut Glück ein bestimmtes Hotel zu finden, würde nicht ganz so einfach sein. »Wann wirst du anrufen?«, fragte Stefan. »Im Reisebüro?« Mike schüttelte den Kopf. »Gar nicht. Ich schicke ein Fax, sobald wir im Hotel sind.« »Dazu müssten wir es aber erst einmal finden«, sagte Stefan. »Wie gefällt dir das da drüben?« Mike machte eine Kopfb ewegung zur anderen Straßenseite, wo sich eine der typischen Motelanlagen Nordamerikas erhob: eine U- förmige Anlage winziger Apartments, die kaum breiter waren als die Parkplätze davor. Nur ein Teil dieser Parkplätze war belegt, was mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bedeutete, dass auch etliche Zimmer leer standen. Stefan warf ihm einen schrägen Blick zu, dann zuckte er mit den Schultern und trank einen Schluck von seinem inzwischen lauwarmen Kaffee. »Es ist dein Geld.« »Du sagst es.« Mike musste sich beherrschen, um nicht zu scharf zu antworten. Stefan war seit zwei Tagen nicht besonders gut drauf, aber wenn überhaupt jemand die Schuld daran trug, dann er, Mike. »Schlimmer als das Desert Inn kann es kaum sein«, nörgelte Stefan. Er bekam keine Antwort, was wohl vor allem daran la g, dass er von seinem Standpunkt aus vollkommen Recht hatte. Mike und Frank hatten bis tief in die Nacht zusammengesessen, geredet und vor allem getrunken, während Stefan sich allein auf seinem Zimmer gelangweilt hatte. Sie hatten ihn nicht ausdrücklich ausgeschlossen, aber Stefan war sensibel genug, um zu spüren, wenn er nicht erwünscht war. Und natürlich war er ein bisschen beleidigt - zu Recht. Mike nahm sich vor, es bei der nächsten Gelegenheit wieder gutzumachen; auch wenn er noch nicht wusste, wie. »Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Frank. »Ich habe das Gefühl, dass dieses hübsche Städtchen die Magnum-Ausgabe
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des Desert Inn ist.« Er warf Mike einen fragenden Blick zu. »Wird man hier verhaftet, wenn man auf offener Straße lacht?« »Keine Ahnung.« Mike stand auf. »Kommt. Suchen wir uns ein Zimmer.« Zur Abwechslung waren die drei Freunde einmal zu Fuß unterwegs, und es dauerte keine zehn Minuten, bis Mike diesen Entschluss bereute. Aus einem ganz profanen Grund: Seine Füße taten weh. Sie hatten ein Zimmer bekommen - es war überhaupt kein Problem gewesen -, aber das Apartment war erst in einer guten Stunde frei. Immerhin hatten sie ihre Motorräder abstellen und dank fünf Dollar Trinkgeld den Moteldirektor dazu überreden können, ihr Gepäck in Verwahrung zu nehmen. Dummerweise befanden sich auch Mikes Schuhe in den Satteltaschen. Er hatte flüchtig daran gedacht, sie auszugraben, statt in den schweren, ziemlich unbequemen Motorradstiefeln loszustapfen, war dann aber schlichtweg zu faul dazu gewesen Nun bekam er die Quittung dafür, noch bevor sie den ersten Kilometer zurückgelegt hatten. Er hatte sich ein wenig Sorgen wegen seines lädierten Knies gemacht, aber gegen die Qualen, die ihm seine Füße bereiteten, war das Pochen in seinem Knie die reinste Labsal. Immerhin entpuppte sich Moab als nicht ganz so öde, wie sie im ersten Moment geglaubt hatten. Es gab abseits der vierspurigen Mainstreet, die sie einmal entlanggefahren waren, eine Anzahl hübscher Seitenstraßen und Plätze, denen man einen gewissen Charme nicht absprechen konnte. Vor allem Stefan wuselte von einem Andenkenladen zum nächsten, ohne allerdings auch nur eine einzige Kleinigkeit zu kaufen. Mike machte die ersten drei dieser Exkursionen noch mit, klinkte sich bei der vierten allerdings aus und wartete vor dem Geschäft, in dem Stefan und nach kurzem Zögern auch Frank verschwanden. Er hatte drei dieser Geschäfte gesehen - und damit alle.
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Mike legte den rechten Fuß auf das linke Knie, löste die Schnallen des schweren Motorradstiefels, um den Druck ein wenig zu mindern, und dachte daran, den Stiefel ganz auszuziehen, ließ es aber dann vorsichtshalber bleiben. Wenn er die Stiefel jetzt auszog, würden seine Füße wahrscheinlich zu Melonengröße anschwellen, und er würde nie wieder hineinkommen. Zum ersten Mal seit drei Tagen verspürte er einen regelrechten Heißhunger auf eine Zigarette. Das plötzliche Bedürfnis überraschte ihn nicht; er war im Gegenteil eher erstaunt, dass dieser Anfall erst jetzt kam. Sein heldenhafter Entschluss, das Rauchen aufzugeben, war nicht der Erste dieser Art gewesen. Mike hatte längst aufgehört, seine vergeblichen Versuche zu zählen, dieses Laster endlich zu besiegen. Ganz automatisch glitt sein Blick auf der Suche nach einem Zigarettenautomaten über die Straße. Er fand keinen, und wenn er es recht bedachte, dann hatte er, seit sie amerikanischen Boden betreten hatten, noch keinen einzigen gesehen. Die meisten Geschäfte, die die kleine Plaza säumten, boten Dinge wie bedruckte T-Shirts, Cowboystiefel, breitkrempige Hüte und schlechte Indianerschmuckimitationen feil, aber es gab zumindest zwei Aspiranten, in denen er wahrscheinlich Zigaretten würde kaufen können. Einer der Läden befand sich nur ein paar Schritte entfernt. Ein paar schmerzhafte Schritte zwar, aber trotzdem. Er ... ... sah, wie sich die Tür des kleinen Drugstores öffnete und ein hoch gewachsener, schlanker Indianer heraustrat. Er hatte tiefschwarzes, fast bis zur Hüfte reichendes Haar, das er offen trug, nicht zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden wie bei ihrer ersten Begegnung, und anders als damals hielt er jetzt kein geistig behindertes Kind an der Hand. Aber es war der Indianer, dem sie in Phönix begegnet waren. Der Mann aus dem schwarzen Van. Diesmal gab es nicht den geringsten Zweifel.
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Mikes Herzschlag stockte. Er starrte den Mann an, und der Indianer erwiderte seinen Blick ruhig und mit steinernem Gesichtsausdruck. Er trug ein kariertes Hemd und eine Wildlederjacke mit langen Fransen, wie man sie sonst nur noch in alten Wild-West-Filmen mit John Wayne sieht, und darunter etwas, das gut und gerne ein Revolvergurt mit einem chromblitzenden Fünfundvierziger sein konnte. Langsam schob er die Hand unter die Jacke. Mikes Herz schlug noch immer nicht. Er wusste nicht, was geschehen würde. Vielleicht zog der Indianer eine Waffe, um es zu Ende zu bringen, vielleicht auch etwas so Banales wie ein Tasche ntuch. Es war ihm egal. Er hatte nicht einmal Angst, ja, er war nicht einmal wirklich erschrocken. Nicht nur sein Herzschlag schien eingefroren zu sein, sondern auch seine Gedanken, und das Einzige, was in seinem Hinterkopf hämmerte, war die Gewissheit, dass das Auftauchen des Mannes etwas mit dem Telefonat gestern Abend in ihrem Hotelzimmer zu tun hatte, an das er sich nur noch schemenhaft erinnern konnte. Der Indianer führte seine Bewegung zu Ende, und als er die Hand wieder unter der Jacke hervorzog, hielt sie weder einen Colt noch ein Kleenex, sondern eine Schachtel Zigaretten. West. Mikes Marke, die hier im Marlboro-Country kaum zu bekommen war. Der Indianer schnippte eine Zigarette heraus, schob sie sich zwischen die Lippen und riss ein Streichholz an. Sein Gesicht war noch immer vollkommen unbewegt, aber in seinen Augen blitzte es ebenso spöttisch wie böse auf, während er den ersten Zug nahm und die Rauchwolke in Mikes Ric htung blies. Manchmal spielt er. Mikes Herz tat endlich einen einzelnen, mühsamen Schlag. Seine Hände begannen zu zittern, und er spürte, wie sich irgendetwas tief in ihm zusammenzuziehen begann. Hatte er wirklich geglaubt, dass es so leicht war? Großer
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Gott, war er tatsächlich so naiv gewesen? Es war nicht vorbei. Nichts war vorbei! Es hatte noch nicht einmal richtig angefa ngen! Hinter ihm ging eine Tür. Mike wandte den Kopf und sah, wie Frank aus dem Laden trat. Auf seinem Gesicht lag ein amüsierter Ausdruck, eine Mischung aus gespielter Verzweiflung und unverhohlener Schadenfreude. Eine Mischung, die jedoch rasch verflog, als er Mike erblickte. Es war, als hätte er in Mikes Gesicht irgendetwas gesehen, was ihn zutiefst erschreckte. Sein Grinsen erlosch schlagartig, und er wurde sogar ein bisschen blass. »Was ist passiert?«, fragte er geradeheraus. Sah man es Mike so deutlich an? Natürlich. Wie hätte es auch anders sein können? Mike spürte, dass alles Blut aus seinem Gesicht gewichen war. Sein Herz hämmerte, als versuche es, seinen Brustkorb zu sprengen. Statt zu antworten, drehte er sich wieder in die andere Ric htung. Der Indianer war verschwunden. Nein. Nicht verschwunden. Er war niemals da gewesen! Frank war mit zwei schnellen Schritten neben ihm und fragte noch einmal: »Alles in Ordnung?« »Ja«, antwortete Mike. »Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein. Mir tun die Füße weh.« »Ich wundere mich, dass du überhaupt laufen kannst. Du solltest dein Knie schonen.« »Ich sagte: Meine Füße tun weh«, wiederholte Mike. »Nicht mein Knie. Diese verdammten Stiefel.« Frank sah ihn noch eine Sekunde lang aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an, aber dann konnte Mike regelrecht sehen, wie hinter seiner Stirn etwas einrastete. Frank entspannte sich sichtbar, setzte den rechten Fuß auf den Rand der schmucklosen Betonbank, auf der Mike sich niedergelassen
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hatte, und stützte den rechten Ellbogen auf das Knie; eine Haltung, die vermutlich leger wirken sollte, aber irgendwie linkisch aussah. »Jag mir gefälligst nicht so eine n Schrecken ein«, sagte er. »Im ersten Moment habe ich gedacht, es geht wieder los. Du hast genau so ausgesehen wie gestern.« Das liegt wahrscheinlich daran, dass du Recht hast, dachte Mike. Nur dass es nicht wieder losgeht. Es hat noch gar nicht aufgehört. Laut sagte er: »So leicht wird man mit so etwas nicht fertig.« »Stimmt.« Frank rutschte mit einer ziemlich kompliziert aussehenden Bewegung auf die Bank neben ihm. »Ich meine: Ich nehme an, dass es stimmt. Erlebt habe ich so was noch nie. Aber steigere dich jetzt nur nicht in die Sache rein. Mach das Beste draus und verarbeite es zu einem Buch.« »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, murmelte Mike. »Vielleicht sollte ich einfach versuchen, es zu vergessen.« Er wechselte bewusst die Tonlage. »Was macht Stefan?« »Was er immer tut«, antwortete Frank grinsend. »Er sucht nach Mitbringseln für seine Familie, und sobald er welche gefunden hat, stellt er fest, dass sie zu teuer sind.« »Das habe ich gehört.« Sowohl Mike als auch Frank fuhren überrascht zusammen, als Stefan mit lautlosen Schritten um die Bank herum kam. »Macht euch ruhig lustig«, grollte er. »Aber dieses so genannte original Navajo-Armband ist nicht älter als zwei Wochen. Und hoffnungslos überteuert. Das kriege ich bei uns in Deutschland für die Hälfte.« »Und wahrscheinlich stammt es aus der gleichen Fabrik in Taiwan«, pflichtete Frank ihm bei. »Schön, dass du es auch schon merkst.« Stefan streckte ihm die Zunge raus und maß Mike zugleich mit einem raschen, aber sehr aufmerksamen Blick. »Nepp«, murmelte er. »Alles Nepp. Aber wo wir schon
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einmal dabei sind: Ich habe Hunger. Gehen wir irgendwo was essen? Bis wir zurück sind, müssten unsere Zimmer eigentlich fertig sein.« Er machte eine wedelnde Handbewegung zur Straße hin. »Ich habe vorhin ein Denny's entdeckt.« »Denny's?«, wiederholte Mike fragend. »So etwas Ähnliches wie McDonald's«, antwortete Stefan. »Nur anders.« »Besser?« »Nö«, sagte Stefan. »Aber teurer.« »Klingt viel versprechend.« Mike schloss vorsichtig die Schnallen seines Stiefels und stand noch vorsichtiger auf. Im ersten Moment tat es sehr weh. Seine Füße dankten ihm die kurze Rast nicht, die er ihnen gegönnt hatte, sondern pochten heftiger als zuvor. Mike verzog keine Miene und ignorierte Franks fragenden Blick. Mit einem auffordernden Nicken wandte er sich an Stefan. »Auf zu Denny's.« Stefan drehte sich mit einem breiten Grinsen um und trat mit zwei, drei weit ausgreifenden Schritten über die Straße. Er machte dabei einen kleinen Schlenker, um die qualmende Zigarette auszutreten, die vor dem Drugstore auf dem Boden lag. Mike tat so, als würde er es nicht bemerken. Nachdem er die ersten Schritte gemacht hatte, ging es etwas besser. Sie verließen die Plaza und wandten sich nach rechts, fort vom Hotel, wie Mike leicht bekümmert feststellte. Die Anzahl der Schritte, die ihn von seinen Satteltaschen mit den bequemen Schuhen trennte, wuchs. »Wo ist denn dieses famose Restaurant?«, wollte Frank wissen. Stefan blieb für einen Moment stehen und sah sich um; Mike hatte das Gefühl, dass er ziemlich ratlos war, aber das würde Stefan natürlich niemals zugeben. Schließlich deutete er nach vorne, und Mikes Blick folgte seiner Geste. Er hatte niemals von einer Restaurantkette namens Denny's gehört und wusste
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nicht, nach welcher Art von Emblem er Ausschau halten musste - aber er entdeckte nichts, das einem Restaurant auch nur im Entferntesten ähnelte. »Ist vielleicht ein bisschen weiter, als ich gedacht habe«, räumte Stefan mit einem Achselzucken ein. »Aber was soll's? Wir haben uns vorgenommen, einen Kontinent zu durchqueren. Da werden wir doch nicht vor ein paar Schritten kapitulieren, oder?« Mike war sich nicht ganz sicher, ob der Blick, mit dem Stefan ihn dabei maß, feindselig oder nur spöttisch war, aber er zog es vor, im Augenblick nicht darüber nachzudenken. Stattdessen trat er mit einem schnellen Schritt vom Bürgersteig herunter, um die Straße zu überqueren. Franks erschrockener Ausruf und das zornige Hupen erklangen praktisch gleichzeitig. Mike sah aus den Augenwinkeln etwas Dunkles, sehr Großes auf sich zuschießen und begriff im gleichen Moment, dass ihm nicht einmal ausreichend Zeit bleiben würde, um zu erschrecken; geschweige denn, zu reagieren. Frank packte ihn am Kragen und riss ihn mit solcher Gewalt zurück, dass sie beide gestürzt wären, hätte Stefan nicht seinerseits zugegriffen und sie beide aufgefangen. Das Ergebnis war, dass sie nun zu dritt rückwärts über den Bürgersteig stolperten und vermutlich auch zu dritt gestürzt wären, hätte ein Schaufenster sie nicht gebremst. Ein gewaltiges Krachen und Scheppern erscholl, und Stefan stieß einen wütenden Fluch aus, als er mit dem Hinterkopf gegen die Scheibe knallte. Ein schrilles Hupen erklang. Der zerschrammte schwarze Van machte einen verspäteten Schlenker, um dem Hindernis auszuweichen, das schon gar nicht mehr da war. Stefan fand mit einiger Mühe sein Gleichgewicht wieder und brachte mit deutlich mehr Mühe sogar das Kunststück fertig, seine Arme und Beine aus dem Knäuel von Gliedmaßen zu lösen, in das sie sich verstrickt hatten, ohne dass er sich dabei
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irgendetwas brach oder verrenkte. In dem Laden hinter ihnen begann eine Alarmsirene zu heulen. Passend dazu blitzte hinter der Scheibe ein rotes Flackerlicht auf. »Was zum Teufel war denn das für eine Aktion?«, brüllte Stefan. »Wolltest du dich umbringen oder was?« Mike antwortete nicht, sondern starrte dem Wagen hinterher. Es war ein schwarzer Van, alt, hier und da schon ein wenig zerbeult und verkratzt und mit abgedunkelten Scheiben. Er wurde schneller, als hätte der Fahrer gar nicht bemerkt, was soeben passiert war. Doch Mike wusste es besser: Trotz der getönten Scheiben hatte er das Gesicht des Mannes hinter dem Lenkrad erkannt. Es war ein Indianer gewesen. * Sie aßen an diesem Tag nicht bei Denny's. Die Schaufensterscheibe hatte dem Schlag zwar standgehalten, dennoch hatte der aufgebrachte Ladenbesitzer, der drei Sekunden später aufgetaucht war, einen gewaltigen Aufstand gemacht. Zu allem Überfluss waren fünf Minuten später auch noch die Cops aufgetaucht; offensichtlich war die Alarma nlage direkt mit der Polizei verbunden gewesen. Mike hatte wenig bis gar nichts von dem verstanden, was zwischen den Polizisten, dem Ladenbesitzer, Frank und Stefan besprochen wurde, aber es gehörte nicht viel Fantasie dazu, den Inhalt des Gespräches zu erraten. Frank redete mit Engelszungen, jedoch vergeblich: Der Ladenbesitzer verzichtete zwar auf eine Anzeige (was vermutlich an dem Fünfzig- DollarSchein lag, den Frank ihm über die Theke zuschob), aber die Beamten ließen sich trotzdem ihre Reisepässe zeigen und notierten sich ihre Personalien. So viel zu Mikes Hoffnung, mit dem Grenzübertritt auch ihre Spuren verwischt zu haben. Wenigstens hatten sich Mikes Füße einigermaßen erholt, als
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sie das Geschäft endlich wieder verließen. »Das war eine fantastische Ak tion! Wirklich absolute Spitzenklasse. Ihr hättet mir vorher sagen können, dass wir einen Abenteuerurlaub der ganz besonderen Art planen!« Stefan sprühte vor schlechter Laune, als sie sich auf den Rückweg zum Hotel machten. »Kann mir einer von euch beiden sagen, was diese vollkommen hirnrissige Aktion sollte?« Mike antwortete nur mit einem Achselzucken, und auch Frank beließ es bei einem knappen, freudlosen Grinsen. Wie sie alle polterte Stefan mitunter grundlos herum, ohne dass es etwas zu bedeuten hatte. Nun allerdings lag eine Schärfe in seiner Stimme, die neu war. Mike konnte sich nicht erinnern, sie jemals an ihm bemerkt zu haben. Wahrscheinlich war es besser, ihn nicht noch weiter zu reizen. Sie gingen schweigend in Richtung Hotel zurück, und wahrscheinlich hätten sie auf dem ganzen Weg kein Wort mehr miteinander gewechselt, wäre Stefan nicht plötzlich stehen geblieben und hätte zur anderen Straßenseite gedeutet. »Seht mal.« Mikes Blick folgte der Geste. Ihm fiel nichts Außergewöhnliches auf: ein paar Läden - die meisten davon schon rein äußerlich in einem Zustand, der wenig Lust erweckte, sie zu betreten -, zwei oder drei schmale, leer stehende Grundstücke, auf denen das Unkraut wucherte ... Er sah Stefan fragend an. »Der Motorradladen.« Mike sah genauer hin. Was Stefan als Motorradladen bezeichnete, kam ihm vor wie eine heruntergekommene Bretterbude, über deren Eingang jemand ein Harley-Davidson-Schild festgenagelt hatte. »Und?« Stefan verdrehte die Augen. »Vielleicht finde ich das ein oder andere Ersatzteil, das ich brauchen könnte, um aus deinem Schrotthaufen wieder ein fahrtüchtiges Motorrad zu machen«, sagte er boshaft.
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Mike schwieg wohlweislich und folgte mit Frank zusammen Stefan über die Straße. Ihm war nicht ganz klar, was Stefan dort drüben zu finden hoffte: Die Intruder sah zwar ramponiert wie eine französische Fregatte nach der Schlacht von Trafalgar aus, aber sie war fahrtüchtig, und die Teile, die sie benötigt hätten, um sie auch optisch wieder herzurichten, würde es in diesem Laden ohnehin nicht geben. Aber Stefan machte ganz den Eindruck, als würde er explodieren, wenn er auch nur einen falschen Ton hörte. Besser, Mike hielt die Klappe. Das Geschäft war innen größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte, wirkte aber dennoch beengt, denn der lang gestreckte, L- förmige Raum war bis zum Überquellen mit allem möglichen Krempel voll gestopft, von dem weniger als die Hälfte auch nur entfernt mit Motorrädern zu tun hatte. Hinter einer niedrigen Theke, die nur aus einem über zwei leere Ölfässer gelegten Brett bestand, saß ein vielleicht anderthalb Meter großes - dafür aber ebenso breites - Etwas, das nur aus Haaren, nietenbesetztem, schwarzem Leder und einem gewaltigen grauen Rauschebart zu bestehen schien. Misstrauisch zusammengekniffene Auge n, in denen geplatzte Äderchen ein verschwommenes rotes Netz bildeten, taxierten die drei Freunde nacheinander ebenso rasch wie aufmerksam und blieben dann einen Moment auf Mikes Stiefeln hängen. Bildete Mike es sich nur ein, oder erschien ein spöttisches Glitzern in diesen Augen? »Ich frage mal nach«, sagte Stefan. »Rührt nichts an. Und passt vor allem mit dem Schaufenster auf.« Mike fand die letzte Bemerkung höchst überflüssig, aber er hütete sich, irgendetwas darauf zu erwidern, sondern trat nur (vorsichtig) ein Stück zur Seite, um Stefan Platz zu machen. Frank grinste, aber es war kein besonders freundliches Lächeln. Er folgte Stefan, ohne dessen Beistand heischenden Blick zu beachten. »Hi folks«, sagte das Haarbüschel hinter der Theke. Es stand
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auf, ohne dadurch wesentlich größer zu werden, und Franks Grinsen wurde noch breiter, während Stefan plötzlich ein bisschen hilflos aussah. Der Kerl hinter der Theke sah nicht nur so aus, als wäre er das Ergebnis eines geheimen GenExperiments, das zum Ziel hatte, den Archetyp eines HarleyDavidson-Verkäufers zu züchten, er sprach auch so. »Good morning«, antwortete Stefan zögernd. Der HarleyMann sah demonstrativ auf die Uhr - es war fast Mittag -, und der Blick, den Stefan Frank zuwarf, wurde regelrecht flehend. Frank griente und drehte sich demonstrativ weg. »Excuse us, Sir«, begann Stefan unbeholfen, »but we need your help. We had a little crash and need a mechanical.« Frank wandte sich noch weiter ab und presste die Lippen aufeinander. Seine Schultern zuckten, und selbst Mike musste ein Grinsen unterdrücken. Er war des Englischen kaum mächtig, aber auch ihm fiel Stefans grässlicher Akzent auf. Den Harley-Davidson-Mann schien das kalt zu lassen. Irgendwo in der Mitte des struppigen Vollbartes erschien wie hingeza ubert eine filterlose Zigarette. »Where are you guys coming from?«, fragte er. Stefan blickte sich hilflos um, und Frank übersetzte, ohne sich umzudrehen: »Er fragt, wo wir herkommen.« »Germanyl«, sagte Stefan stolz. »We are from Germany.« Frank begann leise zu kichern, und Stefan warf ihm einen bösen Blick zu, bevor er sich wieder radebrechend an den Harley-Mann wandte. Mike hörte nicht mehr hin. Er verstand ohnehin nur einen Bruchteil, und er hatte keine Lust, Stefan noch weiter zu reizen, nur weil er vielleicht im falschen Moment lachte oder die Stirn runzelte. Außerdem interessierte ihn der Laden, der offensichtlich von den gleichen Gen-Ingenieuren entworfen worden war wie sein Besitzer. Trotz seiner Größe wirkte er düster und beengt, denn er war buchstäblich bis unters Dach voll gestopft.
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Harley-Verkleidungen stapelten sich neben verchromten Lenkern und Sturzbügeln, zerschrammten Windschutzscheiben und halb auseinander genommenen Packtaschen, antiquierten Speiche nrädern und exotisch anmutenden Auspuffanlagen. Unweit der Theke thronte ein komplett verchromter Motorblock auf einem offensichtlich dafür angefertigten Podest. Mike schien er eher in einen ausgewachsenen Truck zu gehören und nicht in ein Motorrad, zudem bezweifelte er, dass das Ding noch funktionierte. Neugierig beugte er sich vor und streckte die Hand nach dem Zylinderkopf aus. »Hey, don't touch it!« Mike zog die Hand so hastig zurück, als hätte er um ein Haar eine rot glühende Herdplatte berührt, und drehte sich schuldbewusst um. Der Harley-Mann hatte die Zigarette aus dem Mund genommen und funkelte ihn aus seinen rot geränderten Augen feindselig an. Auch auf Stefans Gesicht war wieder ein missbilligendes Stirnrunzeln erschienen. Mike rettete sich in ein schuldbewusstes Lächeln, hob demonstrativ die Hände und wich zwei Schritte vom verchromten Heiligen Gral des Harley-Mannes zurück. Dieser wandte sich übellaunig wieder zu Stefan herum. Mike brauchte keinen Westküsten-Slang zu verstehen, um den überheblichen Ton in der Stimme des Fettsacks zu registrieren. Er fuhr fort, sich im Laden umzusehen, hütete sich aber sorgsam davor, irgendeinem der angehäuften Heiligtümer zu nahe zu kommen. Neben einer Unzahl von MotorradErsatzteilen und ausnahmslos schwarzer Lederkleidung gab es auch eine Menge Dinge, die hier eigentlich nichts zu suchen hatten. An einer Wand hing eine Art Miniatur-Ausstellung indianischer Artefakte: ein Bogen samt Köcher, in dem ein einzelner Pfeil steckte, ein wuchtiger Tomahawk mit einer Schneide aus Feuerstein, die obligate Friedenspfeife, zwei mit Federn verzierte kleine Lederbeutel und ein paar Dinge, deren Bedeutung Mike nicht einmal erraten konnte. Offensichtlich
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war der Fettsack nicht nur Motorrad-, sondern auch IndianerFan. Draußen wurde Motorengeräusch laut, ein dumpfes Dröhnen und Blubbern, wie von einem schweren Motorrad ... oder einem altersschwachen schwarzen Van mit verrostetem Auspuff. Mike fuhr so abrupt herum, dass Stefan und der Harley-Mann ihr Gespräch unterbrachen und alarmiert zu ihm hinsahen. Etwas Riesiges, Schwarzes glitt auf der anderen Seite der verdreckten Schaufensterscheibe vorbei. Dunkle Augen starrten Mike durch eine getönte Windschutzscheibe hindurch an, und er bemerkte glattes, schwarzes Haar, daneben ein uraltes Gesicht, das nur aus Runzeln und Falten zu bestehen schien. Mike blinzelte, und das Schaufenster war wieder leer. Manchmal spielt er ... »Was ist los?«, fragte Stefan. »Nichts«, antwortete Mike nervös. »Ich war nur ...« Er hob die Schultern. »Nichts.« Stefan runzelte die Stirn, der Harley-Mann stellte eine Frage in seinem breiten Slang und beantwortete sie selbst mit einem gehässigen Lachen. »Was hat er gesagt?« »Das willst du nicht wirklich wissen«, meinte Frank, und Stefan sagte; »Er sagt, er will auch was von dem Zeug, das du geraucht hast.« »Arschloch«, murmelte Mike - wohlweislich aber so leise, dass niemand außer ihm das Wort hören konnte. Der HarleyMann sprach mit Sicherheit kein Deutsch, aber es gab Worte, die überall auf der Welt verstanden wurden. Eigentlich nur, um den Blicken des Fettsacks auszuweichen, drehte er sich wieder weg und fuhr fort, die Sammlung indianischer Fundstücke zu begutachten. Neben dem Sammelsurium an Kult- und Alltagsgegenständen hing ein lieblos gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto an der Wand,
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allerdings so hoch oben, dass Mike sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um überhaupt etwas darauf zu erkennen. Mit Mühe machte er zwei oder drei Indianer in prachtvollem Federschmuck aus, zwischen denen eine betagte Harley stand. Der Mann in ihrem Sattel war ebenso breit wie hoch - zweifellos eine zwanzig Jahre jüngere und bartlose Ausgabe des Fettsacks hinter der Theke. Mike war ein wenig erstaunt. Wie es aussah, hatte HarleyDavidson diese seltsame Sammlung hier höchstpersönlich zusammengetragen. Sein Erstaunen verwandelte sich in Entsetzen, als er ein zweites, bräunlich gefärbtes Foto entdeckte, das oberhalb eines Balkens hing und so verstaubt war, als wäre es bereits vor Jahrzehnten dort hingehängt und dann vergessen worden. Er musste sich noch mehr recken als zuvor und ein schmutziggraues Spinnennetz beiseite wischen, um das Motiv deutlicher zu erkennen. Während er darauf starrte, schien es sich zu wandeln wie ein altes 3-D-Foto, das je nach Blickwinkel eine veränderte klare Ansicht zeigte und dabei doch verschwommen und auf geradezu unangenehme Weise unwirklich wirkte. Im ersten Moment glaubte er, dass der Mann im Vordergrund niemand anderer als Harley-Davidson war, aber dann wurde ihm bewusst, dass die Ähnlichkeit dafür nicht ausreichte. Der Gesichtsausdruck wirkte vertraut, ebenso der kräftige Körperbau, aber dieser Mann war deutlich größer - und er war älter. Das Motorrad, auf das er sich stützte, war relativ schmal und hatte einen erstaunlich kleinen Tank mit einem Harley-Emblem, das so altmodisch wie die ganze Maschine wirkte. Es konnte niemand anderes als der Vater - oder vielleicht sogar der Großvater! - des Typs sein, der sie wie Abschaum beha ndelte, nur weil sie die seiner Meinung nach falsche Motorradmarke fuhren. Doch dieser Gedanke verblasste angesichts der Ungeheue r-
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lichkeit, die den Hintergrund des Bildes ausfüllte. Es war ein Hogan, nein, es war der Hogan, den er voller Widerwillen und schlechter Vorahnungen betreten hatte, kurz bevor er den Jungen überfahren hatte. Vage erinnerte sich Mike an Franks Erklärung gestern Abend bei ihrem Saufgelage, wonach die Navajos kleinere männliche und größere weibliche Hogans unterschieden. Mit herkömmlichen Indianerzelten hatten diese zeremoniellen Behausungen wenig gemein. Während die weibliche Variante mit Großmut und mütterlichem Schutz in Zusammenhang gebracht wurden, galten die gedrungenen männlichen Hogans als aggressiv und kalt und das Zeremonienfeuer in ihnen als gefährlich. Das hier war eindeutig ein männlicher Hogan. Mike wusste aus Erfahrung, dass das noch nicht alles war. Es lag eine Aura über dieser Art von Behausung, eine Aura wie über dem Königsgrab in einer ägyptischen Pyramide, und wer - wie er selbst - offen für diese Ausstrahlung war, spürte etwas Uraltes und Mächtiges und auf eine grässlich falsche Weise Lebend iges, selbst hier und jetzt auf diesem alten, undeutlichen Foto mit Braunstich. Mikes Beine zitterten so stark, als hätte er gerade einen anstrengenden Spurt hinter sich. Er setzte die Füße wieder ganz auf den Boden und trat einen Schritt zurück, ohne dabei den Blick von dem uralten Bild wenden zu können. Hinter ihm ging die Türglocke. Er musste sich beherrschen, um nicht ruckartig herumzufahren. Der Kunde, der hereinkam, war allerdings kein zweitausend Jahre alter, kettenrauchender Schamane, der gerade aus einem Hogan trat, sondern genau die Art Besucher, die man in einem Geschäft wie diesem erwartete: ein langhaariger, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleideter Mann schwer zu schätzenden Alters, der einen Helm unter den linken Arm geklemmt hatte. Das einzige Attribut, das nicht ins Klischee passte, war die kleine Digitalkamera, die an einem schwarzen Lederriemen vor seiner Brust
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baumelte. Er kam Mike vage bekannt vor, aber er war in Gedanken noch immer so mit dem Foto beschäftigt, dass er nicht sicher war. Außerdem war es vielleicht besser, wenn er sich etwas zurückhielt. Wenn der Tag so weiterging, wie er angefangen hatte, dann standen seine Chancen nicht schlecht, eins auf die Nase zu bekommen, nur weil er jemanden auffällig musterte. Er zwang sich, nicht mehr in die Richtung des braunstichigen Hogan-Fotos zu blicken, und wandte sich stattdessen den indianischen Fundstücken zu. Vor allem die Streitaxt erweckte sein Interesse, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Es war eine sehr einfach gearbeitete, aber vielleicht gerade deshalb beeindruckende Waffe, vermutlich echt, und wenn nicht, dann eine perfekte Nachbildung. Fast gegen seinen Willen streckte er die Hand aus und schloss die Finger um den mit dünnen Lederriemen umwickelten Griff. Die Axt war nicht an der Wand verschraubt, sondern lag lose auf zwei Nägeln. Als er sie herunternahm, stellte er überrascht fest, wie schwer sie war. »Das kann ja wohl nicht wahr sein«, murmelte Frank hinter ihm. »Der Kerl regt sich seit zehn Minuten darüber auf, dass wir das englische Wort für Mechaniker benutzt haben, nicht das amerikanische.« »Ich dachte, das wäre dasselbe.« Mike wog die Axt nachdenklich in der Hand. Sie fühlte sich ... sonderbar an. Schwer und auf eine seltsam unangenehme Art vertraut. Eine düstere Verlockung schien von der rasiermesserscharfen Feuersteinschneide auszugehen; eine Art aggressiver Faszination, wie sie auch der Hogan in ihm ausgelöst hatte. »Die Schreibweise schon«, sagte Frank. »Man spricht es anders aus.« Mike sah nicht hin, aber er konnte regelrecht hören, wie Frank die Augen verdrehte. »Wir hätten ihm nicht sagen sollen, dass wir Susies fahren.« »Repariert er keine Reisschüsseln?« Die Axt schien in seiner
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Hand zu wispern. Sie hatte Blut getrunken. Menschliches Blut, und das vor sehr langer Zeit. Aber sie war immer noch durstig. »Er erklärt Stefan gerade den Weg zu einer Werkstatt für Traktoren und Rasenmäher«, antwortete Frank. »Er meint, dass man uns vielleicht dort helfen würde.« Mike spürte den Durst der Axt. Das zur Härte von Stein erstarrte Holz unter seinen Fingern schien zu pulsieren wie etwas Lebendiges und Uraltes, das durch und durch böse war, und ... Jemand starrte ihn an. Mike spürte es wie die Berührung einer unangenehm warmen, trockenen Hand. Er sah auf und bege gnete dem Blick des Motorradfahrers, der vorhin hereingekommen war. Dieser sah nicht einfach nur in seine Richtung, sondern starrte ihn durchdringend an, und das auf eine Art, die Mike ganz und gar nicht gefiel. Und definitiv: Der Mann kam Mike bekannt vor. Verdammt, er hatte ihn schon einmal gesehen, und zwar ... »Hey! I told ya, don't touch anything!« Die Stimme des Harley-Mannes riss Mike ungefähr ebenso angenehm aus seinen Gedanken, wie es das Geräusch einer Kreissäge getan hätte; nur deutlich aggressiver. Mike fuhr erschrocken herum und sah den Fettsack wie einen haarigen Gummiball auf sich zurollen. »C'mon, gimmy that fucking thing!« Mike war so verdattert, dass er im ersten Moment nicht einmal wusste, worum es ging. Dann aber wurde ihm bewusst, dass er hoch aufgerichtet dastand und die Streitaxt sogar halb erhoben hatte, noch nicht ganz zum Zuschlagen bereit, aber auch nicht sehr weit davon entfernt. Der Motorradfahrer blickte ihn stirnrunzelnd an, und seine Hand glitt in Richtung des Fotoapparates, der vor seiner Brust hing. Auch Stefan sah ein bisschen betroffen aus. Den Harley-Mann schien das jedoch nicht weiter zu stören, denn er walzte weiter auf Mike zu und riss ihm die Axt mit solcher Wucht aus der Hand, dass er fast
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das Gleichgewicht verloren hätte. Wütend rammte er sie an ihren Platz zurück, fuhr auf dem Absatz herum und ergriff Mike grob bei den Schultern, um ihn herumzudrehen. Der Kerl reichte Mike zwar kaum bis zum Adamsapfel, aber seine Pranken hatten die Größe von Schaufelblättern, und er war unglaublich stark. »He, he!«, rief Stefan. »Okay, get outa here!«, schnauzte Harley-Davidson. »That's it! Fuck off!« Er versetzte Mike einen Stoß, der ihn zu Boden geschleudert hätte, hätte dieser nicht hastig einen ungelenken Ausweichschritt gemacht. Stefan spannte sich sichtbar und hob die Hände. Plötzlich lag Gewalt in der Luft wie etwas Greifbares. Es war auch diesmal wieder Frank, der die Situation rettete. Er trat mit einem raschen Schritt zwischen Mike und HarleyDavidson und hob besänftigend die Hände. »Calm down«, sagte er. »We don't want any trouble. Everything is okay. We have to go now. Sorry.« »Fuck off!«, grollte Harley-Davidson. »Get your fucking asses out of here! Now!« »Okay, okay, Sir. We go.« Frank sprach mit sehr ruhiger, sanfter Stimme. Er lächelte, aber er tat es auf eine Art, die sein Gegenüber einen halben Schritt zurückweichen ließ. Franks zumeist zurückha ltende Art und seine ruhige Stimme ließen Mike manchmal verge ssen, dass er mindestens genauso breitschultrig war wie Harley-Davidson, aber ungefähr doppelt so groß. »Wir gehen jetzt besser«, sagte Frank leise. »Kommt.« Sie verließen das Geschäft nahezu fluchtartig. Im Hinausgehen drehte Mike sich noch einmal um und blickte zurück. Harley-Davidson funkelte ihn wütend an, während der Langhaarige dastand und mit schräg gehaltenem Kopf in ihre Richtung sah. Er hatte die linke Hand vor den Mund gehoben, und seine Lippen bewegten sich lautlos, als spreche er in ein
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winziges Diktiergerät, das er zwischen den Fingern verborgen hielt. Aber das war natürlich Unsinn. Stefan warf die Tür hinter sich zu, und Mike lief so hastig weiter, dass er um ein Haar gegen das riesige Motorrad geprallt wäre, das unmittelbar vor der Tür auf dem Bürgersteig stand. Frank riss ihn im letzten Moment zurück. »Danke«, murmelte Mike. »Kein Problem. Mittlerweile habe ich Übung darin, dich aus gefährlichen Situationen zu retten.« Er grinste. »Wir müssen meine Gage neu verhandeln. Ich dachte, du hättest mich als Dolmetscher mitgenommen, nicht als Bodyguard.« »Bei dem Unsinn, den er in letzter Zeit anstellt, läuft das fast aufs selbe hinaus«, maulte Stefan. »Können wir jetzt weiter?« Er selbst rührte sich allerdings nicht von der Stelle, sondern blieb gute fünf Sekunden lang stehen und musterte nachdenklich das Motorrad, gegen das Mike beinahe gerannt wäre. Sie überquerten die Straße und wandten sich nach rechts, zurück in Richtung Hotel. Mikes Füße taten schon wieder weh, und er fühlte sich ... unwirklich. Irgendetwas hatte ihn dort drinnen berührt. Er wusste nicht was, aber diese Berührung wirkte immer noch nach, und sie machte ihm Angst. »Das war wieder mal eine echte Spitzenleistung von euch«, maulte Stefan. »Können wir sonst noch irgendwo Ärger machen?« »Jetzt reg dich ab«, sagte Frank. »Der Kerl hätte uns sowieso nicht geholfen. Wir hatten schon verloren, als er gehört hat, dass wir Reisschüsseln fahren.« Stefan antwortete nicht, aber er maß Mike mit einem Blick, der ganz deutlich sagte: »Das war ja auch nicht so geplant«, und Frank fuhr kopfschüttelnd fort: »Irgendwie fand ich ihn trotzdem niedlich. Anscheinend hat er jahrelang trainiert, um auch wirklich jedem Klischee zu entsprechen, das es über Harley-Fahrer gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Lass gut sein, Stefan. Der Typ hätte uns nicht geholfen, sondern Mikes
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Maschine höchstens endgültig ruiniert.« »Da hätte er sich nicht mehr sehr anzustrengen brauchen«, nörgelte Stefan. Aber sein Zorn war bereits wieder verraucht; vermutlich, weil er wusste, dass Frank Recht hatte. Und plötzlich grinste er. »Denny's?« »Meinetwegen«, seufzte Frank. »Aber nicht mit diesen Schuhen«, fügte Mike hinzu. »Ich gehe jetzt zurück ins Hotel. Wir können mit den Maschinen hinfahren, wenn du willst, aber ich weigere mich, auch nur noch einen Schritt in die andere Richtung zu tun.« »Lass dich doch von deinem Bodyguard tragen«, schlug Stefan feixend vor. Dann blieb er stehen, sah noch einmal in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, und nickte. »Also doch.« »Also doch was?«, fragte Frank. »Die Maschine.« Stefan deutete mit einer Kopfbewegung auf die monströse, chromblitzende Harley auf dem Bürgersteig. »Eine aufgemotzte Harley mit kopfgesteuertem Vollaluminium-Motor. So was vergess ich nicht.« Mikes Herz begann zu klopfen. Er blieb stehen, sah abwechselnd von einem zum anderen und dann wieder zurück zu der Harley. »Am Grand Canyon«, sagte Frank. »Erinnerst du dich nicht? Er ist ganz langsam an uns vorbeigefahren, als wir deine Maschine begutachtet haben. Auf dem Parkplatz.« Und zuvor schon einmal, fügte Mike in Gedanken hinzu. Kurz bevor der schwarze Van zum ersten Mal aufgetaucht ist. Aber das konnte doch kein Zufall sein. Er spürte, wie seine Hände ganz sacht zu zittern begannen. Stefan bemerkte es offenbar gar nicht, denn er hob nur die Schultern und ging weiter, aber Frank warf ihm rasch einen warnenden Blick zu. Mike antwortete mit einem ebenfalls nur angedeuteten Nicken. Er wollte weitergehen, aber gerade in diesem Moment über-
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querte eine schlanke Gestalt mit schulterlangem, pechschwarzem Haar die Straße und betrat das Motorradgeschäft. Mikes Herz begann zu klopfen, und diesmal zitterten seine Hände so stark, dass man es einfach nicht mehr übersehen konnte. »Was?«, fragte Frank. »Jemand ... ist in den Laden gegangen«, sagte Mike mühsam. Frank nickte. »Das soll vorkommen. Dazu sind Ladengeschäfte da, weißt du? Damit Kunden hineingehen.« »Du verstehst nicht.« Mike fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Er wusste, dass es ein Fehler war, weiterzusprechen, aber er konnte nicht anders. »Es war nicht irgendein Kunde. Es ... es war ein Indianer.« »Und?« »Der Indianer aus dem Van.« Frank sagte etliche Sekunden lang gar nichts. Dann nickte er. »Aus dem schwarzen Van.« »Ja.« Frank seufzte tief. »Weißt du was?«, fragte er. »So ganz allmählich beginnst du mir auf die Nerven zu gehen.« Endlich zurück im Hotel, sparten sie sich die Mühe, erst in ihr Zimmer hinaufzugehen, und steuerten gleich das dazugehörige Restaurant an. Die Mahlzeit passte zur Stimmung - sie war miserabel -, und sie nahmen sie hastig zu sich, nahezu ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Als sie fertig waren, wollte Mike zum Empfang gehen, um ihre Zimmer klarzumachen, aber Stefan war schneller. »Ich fahr noch 'ne Runde«, sagte er und stand auf. »Statt eines Verdauungsspaziergangs?« »Ich brauche ein bisschen frische Luft«, antwortete Stefan. »Vielleicht finde ich ja dieses Denny's ... für heute Abend.« Er ging, ohne irgendeine Reaktion abzuwarten, und Frank sah ihm schweigend - aber mit vielsagend gerunzelter - Stirn nach. »Nimm's ihm nicht übel«, sagte Mike. »Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich nicht anders reagiert.«
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»Ihm?« Frank drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Sein Stirnrunzeln änderte sich nicht, bekam aber irgendwie eine andere Bedeutung. »Ihm?«, fragte er noch einmal und schüttelte den Kopf. »Ihm nehme ich gar nichts übel, mein Lieber«, sagte er betont. »Du hast völlig Recht, weißt du? Du verdirbst dir mit deiner Paranoia allmählich nicht nur selbst den Spaß, sondern uns allen.« »Ich weiß, aber ...« »Nichts aber.« Frank schüttelte energisch den Kopf. »Es war gut, dass du mir gestern Abend davon erzählt hast. Und nachdem ich auf meine Journalistenmasche rausgekriegt habe, dass überhaupt kein Unfall in der Gegend gemeldet ist, wo du den Indianerjungen zu überfahren geglaubt hast ...« Er brach ab, runzelte die Stirn und starrte dann einen Moment lang an Mike vorbei ins Nichts. »Obwohl ich diesen Rückruf nicht verstehe ...« »Den Rückruf?«, krächzte Mike. Ganz dunkel erinnerte er sich daran, dass da etwas gewesen war, kurz nachdem Frank in sein Motelzimmer gestürmt war, um ihm das Ende seines persönlichen Albtraums zu verkünden, die fast unglaubliche Tatsache, dass er den Indianerjungen eben nicht mit seiner Intruder in den Boden gerammt haben konnte, weil ein Unfall mit derart verheerendem Ausgang mit Sicherheit entdeckt worden wäre ... Das Telefon hatte plötzlich geklingelt, Frank hatte abgenommen, war bleich wie die Wand geworden und hatte sich zu Mike umgedreht ... Doch bevor Mike die Erinnerung richtig fassen konnte, entglitt sie ihm, sodass nichts weiter als ein beklemmendes Gefühl zurückblieb, ein Gefühl, das ihn fast an seinem Verstand zweifeln ließ. »Vergiss diesen Anruf.« Frank versuchte zu lächeln, aber sein rechtes Augenlid begann unvermittelt zu zucken, als habe es sich entschlossen,
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Franks wahre Gemütsregung zu verraten. »Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten.« »Na gut.« Mike schluckte trocken. »Aber es wäre immerhin ganz nett, wenn du mir erklären würdest, was nichts zu bedeuten hat.« Frank winkte ab. »Der entscheidende Punkt ist doch, dass du nichts getan hast, dessen du dich schämen müsstest. Die Sache ist vorbei.« »Da bin ich eben nicht so sicher«, antwortete Mike. »Blödsinn!«, widersprach Frank ungewohnt heftig. »Es gibt absolut nichts, was du fürchten müsstest. Und du musst dich auch für nichts verantworten oder vor irgendetwas davonla ufen, klar? Ich meine, ich kann dich ja verstehen. Ich an deiner Stelle hätte jetzt wahrscheinlich ebenfalls einen Anfall heftiger Paranoia. Aber benutz doch einfach deinen Verstand, verdammt noch mal!« »Das tue ich ja«, antwortete Mike. »Ich habe mir diesen schwarzen Van nicht eingebildet, der uns fast überfahren hätte - genauso wenig den Moment vor zwei Tagen, als ich den Indianerjungen mit meinem Motorrad erwischt habe.« »Das behaupte ich doch gar nicht.« Mike blinzelte. »Soll das heißen ... ?« »Was diesen Van angeht«, sagte Frank rasch. »Den habe ich auch gesehen. Und zwar einen Sekundenbruchteil vor dir. Sonst wärst du jetzt entweder tot oder hättest mehr gebrochene Knochen als deine Mühle Beulen.« »Umso weniger verstehe ich, dass du nicht ...« »Genauso paranoid reagiere wie du?« Frank lachte leise. »Sei lieber froh, dass ich vernünftig bin. Wenigstens einer.« »Und was hat das alles dann deiner >vernünftigen< Meinung nach zu bedeuten?«, fragte Mike böse. »Rein gar nichts«, antwortete Frank. »Es gibt Tausende von diesen Wagen. Und der Kerl am Steuer war einfach ein rücksichtsloser Idiot. Oder vielleicht auch betrunken, was weiß
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ich.« »Und der Langhaarige im Harley-Geschäft?« »Was soll mit ihm sein?« »Er war auch am Grand Canyon.« »Und? Glaubst du jetzt vielleicht, dass er uns verfolgt?« »Wieso nicht?« Frank verdrehte die Auen. »Ist dir vielleicht schon einmal die Idee gekommen, dass es auch noch eine andere Erklärung geben könnte?«, fragte er. »Und welche?« »Also, ich habe von Leuten gehört, die sich in diesem Land ein Motorrad mieten und eine ganz bestimmte Route fahren, auf der sie die meisten Sehenswürdigkeiten mitbekommen.« »Ein Tourist?« »Wie wir«, sagte Frank ruppig. »Ja, verdammt! Hast du dir den Kerl mal genauer angesehen?« »Nein«, gestand Mike, und Frank machte eine Kopfbewegung, als hätte er keine andere Antwort erwartet. »Also wenn ich das Gefühl hätte, dass mich jemand verfolgt, dann würde ich ihn mir genauer ansehen«, sagte er spöttisch. »Ich habe es jedenfalls getan. Die Maschine von dem Typ ist nagelneu und in einwandfrei gepflegtem Zustand. Sein Lederoutfit ist keine Woche alt. Und ich habe noch nie von einem Rocker gehört, der mit so einem Yuppie-Spielzeug um den Hals herumläuft. Wenn du mich fragst, ist der Junge dasselbe wie wir: ein Tourist, der für zwei Wochen Schlips und Anzug in den Schrank gehängt hat und der dem kleinen Jungen in sich die Zügel schießen lässt. Wahrscheinlich werden wir ihm noch öfters begegnen.« Mike nippte nachdenklich an seiner Cola. Franks Worte waren gena uso zwingend logisch, wie er es von ihm erwartet hatte, und sie ergaben einfach zu viel Sinn, um sie mit einer Handbewegung wegzuwischen. Dennoch wusste er, dass Frank Unrecht hatte. Es gab eine
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Ebene der Dinge, die mit Worten nicht zu erklären war, und mit Logik schon gar nicht. Es hatte im Hogan begonnen, vielleicht auch schon einige Augenblicke zuvor, auf der Insel im ausgetrockneten Flussbett. Er hatte irgendetwas geweckt. Aber das konnte er Frank nicht erklären. Nicht jetzt. »Und was schlägst du vor?«, fragte er. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, antwortete Frank ernst. »Die eine ist, du hörst auf der Stelle mit dem Unsinn auf und benimmst dich wie ein braver Tourist, der hierher gekommen ist, um seinen Spaß zu haben. Vielleicht vergisst Stefan den Rest ja.« »Witzbold.« »Dann sag ihm, was passiert ist«, fuhr Frank ungerührt fort. »Bist du verrückt?«, ächzte Mike. »Nein, aber du anscheinend«, antwortete Frank. »Bildest du dir wirklich ein, dass das noch eine Woche so weitergeht, ohne dass einer von uns etwas wirklich Dummes tut? Du hast absolut nichts zu befürchten. Schließlich hast du nichts getan, verdammt. Aber Stefan wird dann endlich begreifen, warum du dich so merkwürdig verhalten hast. Oder hast du Angst, zuzugeben, dass du voll daneben warst?« »Blödsinn«, sagte Mike - obwohl Frank durchaus Recht hatte. Es wäre ihm unangenehm, Stefan die ganze Geschichte zu erzählen. »Na also«, sagte Frank. »Dann erzähl ihm alles. Oder soll ich das besser tun?« »Es gibt auch noch eine dritte Möglichkeit«, sagte Mike. »Und welche?« »Wir trennen uns«, sagte Mike. Er hob die Hand, als Frank auffahren wollte. Als er weitersprach, klang seine Stimme ganz ruhig, aber auch sehr entschlossen. »Ich meine das ernst, Frank. Ich hätte euch gleich zurücklassen sollen. Ihr habt mit alledem nichts zu tun, weder Stefan
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noch du. Ich habe kein Recht, euch da mit reinzuziehen. Macht ihr eure Tour weiter, und ich ...« Er suchte einen Moment lang nach Worten und rettete sich schließlich in ein hilfloses Schulterzucken. »Ich komme schon durch.« »Du spinnst.« Frank schüttelte heftig den Kopf. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dich im Stich lassen und einfach so weitermachen, als wäre nichts passiert. Wir sind sowieso mit dran.« »Wieso denn das?« »Mitgefangen, mitgehangen«, antwortete Frank und schüttelte heftig den Kopf, als Mike widersprechen wollte. »Bildest du dir wirklich ein, die Cops würden uns glauben, dass wir von alledem nichts gewusst haben?« »Vielen Dank«, knurrte Mike. »Das habe ich jetzt noch gebraucht - mir sagen zu lassen, dass ich euch mit in die Sache hineingezogen habe.« »Hast du aber«, sagte Frank ruhig. »Und? Das kann nun mal passieren, wenn man zu einer gemeinsamen Tour aufbricht.« »Ich fürchte, so einfach ist das nicht«, antwortete Mike ernst. »Wieso? Habe ich was vergessen?« Frank hob die Hand, um der Kellnerin zu winken, und bestellte zwei Kaffee. Mike wartete, bis sie wieder allein waren, ehe er fortfuhr. »Es ist nicht so einfach«, sagte er noch einmal. »Da ... da war wirklich noch etwas. Aber ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« »Versuchs einfach«, schlug Frank vor. »Ich bin dein unve rständliches Gebrabbel gewohnt - oder hast du etwa vergessen, dass du mich seit Jahren dafür bezahlst, aus deinem sinnlosen Geschreibsel lesbare Texte zu machen? Wenn auch ziemlich schlecht - nebenbei bemerkt.« Mike blieb ernst. Er sah sich kurz und fast ängstlich um, wie um sich davon zu überzeugen, dass ihnen auch wirklich niemand zuhörte. »Ich fürchte, was ich zu erzählen habe, das klingt wirklich
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ziemlich ... verworren.« »Nur zu«, sagte Frank. »Ich bin Kummer gewöhnt.« Er grinste immer noch, aber hinter dem Lächeln in seinen Augen verbarg sich noch etwas anderes. Er spürte, wie ernst es Mike mit dem war, was er zu sagen hatte. Und dann erzählte Mike alles. Angefangen mit seiner kurzen Ohnmacht auf der Insel bis hin zu dem unheimlichen Gefühl vorhin, als er den Tomahawk berührt hatte. Er ließ nichts aus, und er war selbst erstaunt, wie leicht es ihm fiel, sich alles von der Seele zu reden, jetzt, wo er einmal damit begonnen hatte. »Da war irgendetwas, Frank«, schloss er. »Ich weiß, wie verrückt sich das anhört, aber in dieser Hütte ... war etwas.« »In diesem Tal, als unsere Maschinen nicht angesprungen sind, bevor … du den Indianerjungen überfahren zu haben glaubst ...« »Jetzt spar dir die Bemerkung, dass es vielleicht am Luftdruck gelegen hat oder so was. Ich sagte bereits: Ich weiß, wie verrückt es sich anhört. Aber es ist trotzdem die Wahrheit. Ich bin nicht zurückgegangen, weil ich meine Zigaretten vergessen hatte. Da drinnen ... war etwas. Etwas sehr Altes, Frank. Etwas Lebendiges.« Frank schwieg. Er sah ihn lange und durchdringend an, auf eine Art, die Mike nicht deuten konnte. »Das klingt wie eine Szene aus einem deiner Romane«, sagte er schließlich. Mike schloss enttäuscht die Augen. »Ich wusste, dass du mir nicht glaubst.« »Tue ich doch gar nicht.« Mike sah ihn verständnislos an. »Was?« »Dir nicht glauben«, sagte Frank lächelnd, aber nichtsdestotrotz mit großer Anspannung. Er seufzte. »Wie lange arbeite ich jetzt schon für dich?« »Zehn Jahre.« Frank nickte. »Und wie lange sind wir Freunde?«
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»Mindestens dreißig Jahre.« »Eben«, sagte Frank. »Ich sollte jetzt eigentlich ziemlich verletzt sein, mein Lieber. Hast du wirklich geglaubt, dass ich nach so langer Zeit nicht merke, wenn mit dir irgendwas nicht stimmt? Du warst verändert, als du aus dieser Hütte herausgekommen bist. Stefan ist es übrigens auch aufgefallen, und der kennt dich erst seit fünf Jahren.« »Ihr habt nichts gesagt«, wunderte sich Mike. Frank zuckte mit den Achseln. »Wir dachten, es läge an dienem heroischen Entschluss, das Rauchen aufzugeben. Ist doch bekannt, dass Ex-Nikotin-Junkies in den ersten Tagen unausstehlich sind.« »Ich bin von Berufs wegen unausstehlich«, sagte Mike. »Ich weiß«, sagte Frank. »Aber im Ernst: Ich habe es auch gespürt.« »Was?« »Dass dort etwas war«, antwortete Frank leise. Er nickte, als er Mikes erstaunten Blick registrierte. »In diesem Tal, in der Hütte ... jetzt schau mich nicht so ungläubig an. Nur, weil ich dich um Haupteslänge überrage, muss ich nicht automatisch ein unsensibler Klotz sein, oder?« »Natürlich nicht«, sagte Mike rasch. »Ich dachte nur ...« Er suchte einen Moment nach Worten. »Ich dachte nur, du wärst derjenige von uns beiden, der immer logisch denkt und mit beiden Beinen fest auf der Erde steht.« Frank stampfte zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken Fuß auf und tat so, als lausche er in sich hinein. Mike fand den ohnehin schalen Gag in diesem Moment reichlich überflü ssig. Frank fuhr auch nach wenigen Sekunden und wieder vollkommen ernst fort: »Damit hast du völlig Recht. Aber ich bin weder taub noch blind. In diesem Tal war etwas, da bin ich sicher. Und ich bin sogar davon überzeugt, dass Stefan es auch gespürt hat.« »Seit wann glaubst du an esoterischen Humbug?« Er benutzte
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ganz absichtlich eine Formulierung, die Frank selbst gerne verwendete, aber es gelang ihm nicht, ihn damit aus der Reserve zu locken. »Ich glaube durchaus daran, dass es Kräfte in der Natur gibt, die wir noch lange nicht verstehen und vielleicht niemals verstehen werden«, antwortete Frank. »Und ich glaube auch, dass es Orte auf dieser Welt gibt, an denen man diese Kräfte stärker spürt. Heilige Orte, meinetwegen. Orte, an denen die Menschen seit Urzeiten ihre Heiligtümer und Kirchen erbaut haben, ganz einfach, weil sie spürten, dass es richtig ist, sie dort zu bauen.« »Was ich gespürt habe, war jedenfalls ganz und gar nicht heilig«, antwortete Mike. »Es war ... unheimlich. Fremd. Es hat mir Angst gemacht.« »Das eine schließt das andere nicht aus«, sagte Frank. Er schüttelte abermals und noch heftiger den Kopf. »Verdammt, ich bin wirklich enttäuscht. Warum hast du mir nichts erzählt?« Er winkte ab, als Mike antworten wollte. »Schon gut, ich kann mir die Antwort denken. Aber du glaubst doch nicht, dass du jetzt von einem uralten indianischen Geist verfolgt wirst, oder?« Mike funkelte ihn an. Frank wusste ganz genau, wie sehr er Fragen hasste, die die einzig mögliche Antwort bereits vorgaben. »Was zum Teufel soll ich darauf antworten?« »Wie wäre es mit der Wahrheit?« Es wäre sinnlos gewesen, etwas zu antworten. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der ihn hätte verstehen können, dann Frank. Aber er hatte es vermasselt. Es war ihm nicht gelungen, seine Gefühle wirklich zum Ausdruck zu bringen. Oder hatte irgendetwas in ihm dies vielleicht sogar zu verhindern versucht? »Du hast Recht«, sagte er. »Vielleicht ... habe ich mich da einfach in etwas hineingesteigert.« Er zwang sich zu einem Grinsen. »Aber die Idee mit den heiligen Orten kriegst du
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nicht, damit das klar ist.« »Sehr komisch«, sagte Frank. Er lachte nicht. »Gehen wir ins Zimmer?« Mike schnitt eine Grimasse. »Wenn du zwanzig Jahre jünger und eine Frau wärst, würde ich spontan ja sagen, aber so ... Sollten wir nicht besser auf Stefan warten?« »Ich schätze, er ist alt genug, das Hotelzimmer auch ohne uns zu finden«, antwortete Frank. »Wahrscheinlich.« Mike stand auf. »Ich gehe nur noch mal rasch zum Restroom. Wartest du?« »Klar«, grinste Frank. »Jemand muss doch die Rechnung bezahlen. Oder glaubst du etwa, dass ich dich nach diesem Geständnis auch noch zum Essen einlade?« »Blödmann.« Mike griff in die Tasche, zog wahllos einen Fünfzig- Dollar-Schein heraus und legte ihn vor Frank auf die rotweiß karierte Tischdecke, bevor er sich umdrehte und mit schnellen Schritten davonging. Mike musste nicht wirklich zur Toilette. Er hatte vielmehr einfach nur den Drang verspürt, so schnell wie möglich das Weite zu suc hen. Er wollte nicht Gefahr laufen, etwas wirklich Dummes zu sagen oder Frank böse anzubrüllen. Das Lächeln auf seinem Gesicht täuschte. Hinter der Maske aufgesetzter Gelassenheit brodelte es. Sein Herz hämmerte (und tat übrigens auch wieder weh), und seine Hände zitterten so stark, dass er sie zu Fäusten ballen musste, um es zu verbergen. Frank beobachtete ihn. Mike widerstand dem Impuls, sich zu ihm herumzudrehen, während er im Slalom zwischen den gleichförmigen Tischen mit ihren rotweißen Plastikdecken und den dazu passenden billigen Kunststoffstühlen hindurchging und die mit RESTROOM beschriftete Tür ansteuerte. Aber Mike konnte Franks Blicke spüren. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Die Sache war noch lange nicht vorbei. Franks imposante Erscheinung konnte wirklich sehr leicht darüber hinwegtäuschen, dass er im Grunde ein äußerst sensibler Mensch war,
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dem selbst die kleinsten Gefühlsschwank ungen nicht verborgen blieben. Und Mikes Gefühle schwankten im Moment nicht. Sie schlugen Salti. Die Toilette war ebenso klinisch sauber und langweilig wie das gesamte Restaurant: ein schlichter, weiß gekachelter Raum mit zwei weiteren Türen auf der einen und zwei einfachen Waschbecken auf der anderen Seite. Mike stellte erleichtert fest, dass die beiden Kabinen leer und er somit allein war, schloss die Tür hinter sich und ging zu einem der Waschbecken, um sich schwer auf den eiskalten Porzellanrand zu stützen. Mittlerweile zitterten nicht nur seine Hände. Er zitterte am ganzen Leib. Alles drehte sich um ihn. Sein Herz hämmerte noch immer, schien jetzt aber irgendwie aus dem Takt gekommen zu sein, und jeder zweite oder dritte dumpfe Schlag wurde von einem dünnen, tief gehenden Stich begleitet. Mike hob müde den Kopf und starrte sein Konterfei in dem randlosen Spiegel über dem Waschbecken an. Sein Gesicht war blass und eingefallen, und in seinen Augen flackerte etwas, das er selbst nicht genau deuten konnte, das ihn aber zutiefst erschreckte. Die Stiche in seiner Brust wurden schlimmer, als würde eine dünne, glühende Nadel langsam immer tiefer in Richtung seines Herzens geschoben. Zum ersten Mal, seit er diese Beschwerden hatte, waren sie nicht nur lästig und beunruhigend, sondern sie taten wirklich weh. So viel zu seiner (total hirnrissigen) Hoffnung, dass die Beschwerden schon irgendwann von selbst verschwinden oder wenigstens nachlassen würden. Wäre es nicht witzig, wenn er hier und jetzt einen Herzinfarkt bekäme? Mike hob die rechte Hand und presste sie auf seine schmerzende Brust, dann sah er lange und sehr ernst sein Spiegelbild an und dachte ganz ruhig: nein, nicht lustig. Auch nicht sehr wahrscheinlich. Herzinfarkte kündigten sich nicht
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durch Schmerzen an, die über viele Jahre allmählich stärker werden, sondern pflegten im Allgemeinen warnungslos zuzuschlagen, so weit hatte er sich schon schlau gemacht. Aber es war vielleicht die Erklärung! Was immer es war - irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung, schon seit einer ganzen Weile. Dazu der Reisestress mit mehr als sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf, die Aufregungen der letzten Tage und als Krönung sein vollkommen meschugger Entschluss, ausgerechnet jetzt das Rauchen aufzugeben ... kein Wunder, dass er anfing, Dinge zu sehen, die es in Wirklichkeit nicht gab. Er drehte den Hahn auf, schöpfte sich zwei Hände voll eiskalten Wassers ins Gesicht und trank anschließend ein paar Schlucke. Es schmeckte ganz leicht nach Chlor, aber immer noch besser als das Gebräu, das sie hierzulande Kaffee nannten. Er trank noch einige Schlucke, schöpfte sich noch mehr Wasser ins Gesicht und tastete anschließend halb blind nach einem Handtuch. Natürlich war keines da; nur eines dieser ach so praktischen Heißluftgebläse, die nicht eben dazu geeignet waren, sich das Gesicht zu trocknen. Er fuhr sich mit dem Unterarm über Augen und Stirn und blinzelte in den Spiegel, konnte aber nicht richtig sehen, weil er vermutlich noch immer Wasser in den Augen hatte. Er blinzelte noch einmal, und sein Blick klärte sich, allerdings nicht ganz. Sonderbarerweise blieb der Spiegel leicht verschwommen. Dann lief eine rasche, wellenförmige Bewegung über das silberbeschichtete Glas, und aus dem Spiegel wurde ein Fenster. Es geschah so schnell und auf sonderbare Weise undramatisch, dass Mike im ersten Moment gar nicht begriff, was er sah, sondern nur verblüfft in den winzigen, bis unter die Decke voll gestopften Raum starrte, der sich dort erstreckte, wo eigentlich sein eigenes Spiegelbild und das des Restrooms sein
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sollten. Jetzt blickte er in den Motorradladen, in dem sie vorhin gewesen waren. Der Harley-Mann saß oder stand hinter seiner selbst gezimmerten Theke - so genau war der Unterschied nicht zu erkennen - und rauchte. Der Laden schien irgendwie kleiner geworden zu sein; was aber vermutlich nur an der seltsamen Perspektive lag, aus der heraus Mike ihn betrachtete - ungefähr von der Stelle aus, an der die Indianersammlung des Fettsacks hing, allerdings von einer Position fast unmittelbar unter der Decke. Ungefähr von dort aus, wo das Indianerfoto hing, schätzte er. Seine Fantasie begann ihm allmählich wirklich sonderbare Streiche zu spielen ... Harley-Davidson drückte seine Zigarette in den umgedrehten Zylinderkolben, der ihm als Aschenbecher diente, und zündete sich praktisch in der gleichen Bewegung einen neuen Glimmstängel an. Mike fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die plötzlich trocken und rissig waren. Er verspürte Appetit auf eine Zigarette ... nein, keinen Appetit. Gier. Unvorstellbare, fast körperlich schmerzende Gier. Bis jetzt war es ihm unerwartet leicht gefallen, auf das Rauchen zu verzichten. Aber das Verlangen war die ganze Zeit über da gewesen, und jetzt sprang es ihn an wie eine Spinne, die geduldig und lautlos in ihrem Netz gelauert hatte, bis sich ihre Beute endgültig und hoffnungslos in den klebrigen Fäden verstrickt hatte. Er brauchte eine Zigarette. Jetzt! Auf der Seifenschale neben dem Waschbecken lag eine Schachtel West. Das war vollkommen verrückt. Gerade hatte dort noch ein Stück Seife gelegen. Zigarettenschachteln tauchten nicht einfach aus dem Nichts auf, nicht einmal in Amerika! Soviel er wusste, gab es diese Marke hier noch nicht einmal. Nein, das musste Einbildung sein. Das Ding neben ihm war und blieb das, was es die ganze Zeit über gewesen war: ein Stück Seife.
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Seine Fantasie spielte ihm bloß einen Streich. Aber es wirkte so unglaublich real! Und er brauchte eine Zigarette. Unbedingt. Er würde sterben, wenn er nicht innerhalb der nächsten Sekunden eine Zigarette bekam! Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, streckte er die Hand aus und ergriff das Stück Kernseife. Es fühlte sich sogar wie eine Zigarettenpackung an, kühl und glatt, appetitlich aufgerissen wie in einer Kinowerbung, sodass drei Zigaretten verlockend herausragten. Er musste sie haben. Er ... Die Tür ging auf. Ein dunkelhaariger älterer Mann trat ein und blieb überrascht stehen, als er Mike erblickte, der in verkrampfter und nach vorne gebeugter Haltung dastand und ein Stück Seife in der Hand hielt, als wollte er jeden Moment hineinbeißen. Die West war verschwunden. Es war ein Stück Kernseife! Mike lächelte den Dunkelhaarigen über den Spiegel hinweg an (auch der Spiegel zeigte wieder nur das, was er zeigen sollte), legte die Seife an ihren Platz zurück und wartete, bis sich der andere mit einem angedeuteten Kopfschütteln wieder in Bewegung setzte und in einer der Toiletten verschwand. Mike verspürte noch immer einen grässlichen Heißhunger nach einer Zigarette, aber das Schlimmste war vorbei. Plötzlich musste er grinsen. Er hatte damit gerechnet, dass schlimme Momente kommen würden, aber nicht, dass es so schlimm würde. Doch er hatte es geschafft, und es war ein gutes Gefühl. Die Seife bewegte sich. Mike starrte sie an. Sein Herz schlug plötzlich ganz langsam, aber sehr hart. Der Schmerz war verschwunden und hatte einem Gefühl Platz gemacht, das schlimmer war. Sein Mund fühlte sich trocken und pelzig an - fast so pelzig wie das Seifenstück mit einem Mal war, ein runder, pumpender Balg, aus dem nun Beine und winzige schwarze Stecknadelaugen
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wuchsen. Ein Gefühl unbeschreiblichen Ekels machte sich in Mike breit. Wenn es etwas auf der Welt gab, das er hasste, dann waren es Spinnen. Und diese Tarantel war riesig. Sie erhob sich zitternd auf ihre dünnen, ekelhaft behaarten Beine und drehte sich um. Ihre winzigen, tückischen Augen musterten Mike voller Bosheit. Er wusste, dass die Spinne zum Sprung ansetzte, um mit einem einzigen Satz in seinem Gesicht zu landen und ... »Nein«, keuchte er. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, und er zitterte am ganzen Leib. Ihm war vollkommen bewusst, dass diese Tarantel so wenig real war wie zuvor die Zigarettenschachtel, aber dieses Wissen nutzte ihm jetzt so wenig wie eben. Er schloss die Augen, zählte in Gedanken langsam bis fünf und versuchte, die Mischung aus Entsetzen und Ekel niederzukämpfen, die in seinen Eingeweiden wühlte. Als er die Lider hob, war die Spinne immer noch da. Sie hatte sich auf die beiden hinteren Beinpaare aufgerichtet und streckte die vier Vorderbeine in seine Richtung. Er hatte nie zuvor im Leben ein Tier gesehen, das widerwärtiger und Furcht einflößender aussah. »Nein«, flüsterte er. »Du bist nicht real. Verschwinde!« Die Tarantel bewegte die Vorderbeine, wie um ihm zuzuwinken. »Du existierst nicht wirklich«, krächzte Mike. »Du kannst mir keine Angst machen. Verschwinde!« Die Spinne zitterte. Ihr Fell begann zu verblassen, gewann noch einmal Substanz und verschwand schließlich ganz. Die Beine begannen zu schmelzen und zogen sich in den Körper zurück, der plötzlich wieder rechteckig und von verblichener safrangelber Farbe war. Als Letztes blieben die Augen zurück, stecknadelkopfgroße Knöpfe voller boshafter Intelligenz, die ihn noch einen Moment lang anstarrten, ehe auch sie vergin-
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gen. Auf der Ablage lag jetzt wieder ein Stück Seife. Mike ließ sich mit einem Stöhnen zutiefst erschöpft nach vorne sinken. Für einen Moment war er so schwach, dass er sich mit beiden Händen am Waschbeckenrand aufstützen musste, um nicht zu stürzen. Er fühlte sich unendlich ausgelaugt, war in Schweiß gebadet und zitterte am ganzen Leib, aber als er den Kopf hob und in den Spiegel sah, erschien ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht. »O nein, du verdammter Schwächling«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »So leicht mache ich es dir nicht!« Der Spiegel flackerte, und statt in sein eigenes seitenverkehrtes Konterfei zu blicken, starrte Mike in das Gesicht eines mindestens tausend Jahre alten Indianers. Ganz wie du willst, weißer Mann, antwortete der Wendigo. Lass uns spielen. Der Indianer verschwand - und mit ihm das Spiegelbild des Waschraumes. Stattdessen blickte Mike wieder auf den HarleyLaden hinab. Der Fettsack saß noch immer hinter der Theke und rauchte, aber er war nicht mehr allein. Ein Kunde befand sich im Laden. Dieser wandte Mike den Rücken zu, doch Mike konnte erkennen, dass er sehr groß und schlank war und rückenlanges, pechschwarzes glattes Haar hatte; ein Indianer. Ein wimmernder Laut entrang sich Mikes Kehle, als sich der Mann umdrehte. Es war der Indianer aus dem Van. Der Indianer, dessen Kind er überfahren hatte. Illusion!, dachte Mike. Es war nichts als eine Halluzination, genau wie die Zigarettenpackung und die Spinne. Ein Trugbild aus den Tiefen seines Unterbewusstseins. Großer Gott, er war dabei, den Verstand zu verlieren! »Verschwinde!«, wimmerte er. »Geh weg! Lass mich in Ruhe!« Diesmal nutzte es nichts. Der Indianer verschwand nicht, sondern begann mit langsamen Schritten durch den Laden zu
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schlendern. Harley-Davidsons misstrauische Blicke folgten ihm schweigend. Mike wollte schreien, aber seine Kehle war plötzlich zugeschnürt. Er konnte die Hände nicht mehr vom Waschbecken lösen. Als er nach unten sah, stellte er fest, dass sie halb in das Porzellan eingesunken und damit verwachsen waren. Langsam schlenderte der Indianer auf Mike zu, blieb schließlich stehen und ließ seinen Blick nachdenklich über HarleyDavidsons Sammlung schweifen. Schließlich streckte er die Hand nach etwas aus, das sich unter und damit außerhalb von Mikes Blickfeld befand. Der Fettsack stampfte seine Zigarette mit solcher Wucht in den Aschenbecher, dass die Funken stoben, und wuselte hinter seiner Theke hervor. Er fuchtelte aufgeregt mit den fetten Händen, und seine Lippen bewegten sich lautlos, aber Mike konnte sich die dazu passenden Worte lebhaft vorstellen. Als Harley-Davidson die halbe Strecke zurückgelegt hatte, drehte sich der Indianer um, und der Fettsack blieb abrupt stehen. Aus dem Zorn auf seinem Gesicht wurde Überraschung, dann Schrecken, der den Bruchteil einer Sekunde später in nackte Panik umschlug. Auch der Indianer machte einen Schritt nach vorne und trat damit wieder ganz in Mikes Blickfeld, sodass dieser nun erkennen konnte, was er in der Hand hielt. Den Tomahawk. Mike war nicht überrascht. Harley-Davidson schrie irgendetwas, wirbelte auf der Stelle herum und rannte mit gewaltigen Sätzen davon. Der Indianer wartete, bis der Fettsack die Theke fast erreicht hatte, bevor er den Arm in die Höhe riss und die Axt schleuderte. Der Tomahawk verwandelte sich in einen wirbelnden Schatten, der den Harley-Mann genau zwischen die Schultern traf und mit solcher Wucht gegen die Theke schleuderte, dass eines der Ölfässer umfiel und die gesamte Konstruktion zusammenbrach. Der Indianer wandte sich wieder der Wand zu, suchte einen
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Moment konzentriert und streckte dann die Hand aus. Als sein Arm wieder in Mikes Blickfeld auftauchte, hielt er ein kunstvoll gefertigtes Feuersteinmesser in der Hand. Ohne Hast drehte er sich um und ging auf den gestürzten Harley-Mann zu. Mike warf sich mit verzweifelter Kraft zurück, aber seine mit dem Beckenrand verwachsenen Hände ließen sich keinen Millimeter bewegen. Verzweifelt schloss er die Augen und konzentrierte sich darauf, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er wusste, dass nichts von dem, was er zu sehen glaubte, wirklich geschah. Wenn er die Trugbilder als das entlarvte, was sie waren, dann würden sie verschwinden. Aber sie taten es nicht. Diesmal funktionierte der Trick nicht. Hilflos und leise wimmernd vor Entsetzen, war er dazu verurteilt, das weitere Geschehen zu verfolgen. Der Indianer hatte den Fettsack erreicht und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken. Der Harley-Mann lebte noch. Blut lief in Strömen über seinen Rücken und bildete eine schwarze, rasch größer werdende Lache rings um seinen Körper, aber er bewegte sich noch: Seine Hände tasteten verzweifelt umher und suchten einen Halt, an dem sie sich festklammern konnten. Der Indianer sah ihm eine Weile mit offensichtlichem Interesse dabei zu, dann rammte er das Messer mit der Spitze in den Boden, beugte sich vor und riss die Axt aus dem Rücken. Das Bild blieb stumm, aber Mike konnte den gequälten Aufschrei des Mannes tief in seiner Seele spüren. Wieder warf Mike sich zurück. Seine Hände waren noch immer mit dem Porzellan des Waschbeckens verwachsen. Er hörte ein helles Knirschen, und als er sich ein zweites Mal mit noch größerer Kraft nach hinten warf, spürte er einen scharfen Schmerz und konnte die Finger ein paar Millimeter bewegen. Vielleicht funktionierte es ja so. Irgendetwas war in seinem Kopf so gründlich durcheinander geraten, dass ihm das Wissen, nur einer Halluzination zu erliegen, nichts mehr nutzte. Aber vielleicht konnte er das Spiel ja mitspielen. Er warf sich wieder
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zurück, ignorierte den schlimmer werdenden Schmerz in seinen Händen und registrierte befriedigt, dass er die Finger nun eindeutig freier bewegen konnte. Aber auch das Drama im Spiegel nahm seinen Fortgang. Der Indianer hatte den Harley-Mann mittlerweile herumgedreht und sah ihm nun nachdenklich ins Gesicht, wobei er unentwegt den Kopf von der einen Seite auf die andere legte wie ein Künstler, der sein Modell begutachtet und noch nicht ganz sicher ist, aus welchem Blickwinkel heraus er es malen soll. Schließlich streckte er die Hand aus und grub die Finger in das Haar des Harley-Mannes, um dessen Kopf anzuheben. Der Harley-Mann bäumte sich trotz seiner schweren Verle tzung auf und versuchte, die Hand seines Peinigers zur Seite zu drücken. Die Aktion kostete ihn drei Finger, vielleicht auch vier, denn der Indianer ergriff seine Hand, presste sie auf den Boden und schlug mit dem Tomahawk zu. Die Feuersteinklinge fuhr fast bis zum Anschlag in den Boden und blieb zitternd stecken. Abgehackte Fingerglieder flogen davon wie blutiges Popcorn. Der Fettsack bäumte sich kreischend auf und schleuderte den Indianer von sich. Mike warf sich abermals zurück. Porzellan splitterte. Ein grässlicher Schmerz pulsierte durch seine Finger und raste in Wellen bis in seine Schulter hinauf. Etwas Warmes und Klebriges begann aus seinen Fingern zu quellen. Er schrie vor Schmerzen, verstärkte seine Anstrengungen aber noch. Zumindest in dieser Hinsicht half ihm das Wissen, dass nichts von alledem real war. Er konnte sich getrost verstümmeln. Die Wunden waren so wenig echt wie der Schmerz! Ein verschwommener Reflex huschte über das Bild. Hinter ihm trat der Dunkelhaarige aus der Toilette, und für eine Sekunde erschien das blasse Spiegelbild seines verstörten Gesichts über der unheimlichen Szene. Mike achtete nicht darauf, sondern warf sich immer wieder zurück. Porzellan
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knirschte und rieselte in winzigen Splittern zu Boden, Blut floss; nicht nur aus seinen Händen, sondern auch aus dem Spiegel. Der Indianer hatte sich wieder aufgerappelt, streckte den Fettsack mit einem derben Tritt zu Boden und ließ sich dann neben ihm auf die Knie sinken. Er streckte die Hand nach der Axt aus, verharrte auf halbem Weg und beschrieb dann einen Halbkreis, um nach dem Messer zu greifen. Alles geschah gleichzeitig und irgendwie »falsch«. Die Wirklichkeit war in ein Dutzend unterschiedlicher Ebenen zerfallen, die in unterschiedlicher Geschwindigkeit und parallel zueinander abzulaufen schienen, ohne sich gegenseitig zu berühren oder zu beeinflussen. Der Dunkelhaarige kam näher und sagte irgendetwas; sein verzerrtes Geisterbild im Spiegel streckte die Hand aus, um Mike zu berühren. Mike schrie vor Schmerz und Entsetzen und versuchte mit immer verzweifelterer Kraft, sich loszureißen. Auch das Drama in dem finsteren Gegenpart des Landes Oz hinter dem Spiegel näherte sich seinem Ende: Auch der Fettsack wehrte sich mit verzweifelter Kraft, aber er war zu schwer verletzt und der Indianer zu stark für ihn. Dieser trat erneut zu, diesmal mit solcher Wucht, dass Blut und abgebrochene Zähne spritzten, dann rammte er ihm das Knie gegen die Brust und drückte ihn mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Harley-Davidson begann mit den Beinen zu strampeln. Seine verstümmelte Hand fuhrwerkte wild und ungezielt herum, klatschte ins Gesicht des Indianers und hinterließ schmierige schwarze Streifen auf dessen Wange. Der Indianer hob das Messer, grub die Finger der anderen Hand in das strähnige graue Haar des Harley-Mannes und riss dessen Kopf in die Höhe. Dann begann er, den Harley-Mann zu skalpieren. Mike wurde übel vor Entsetzen. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung warf er sich zurück, und seine rechte Hand kam frei. Haut und rot melierte Fleischfetzen blieben in dem
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zerfransten Krater im Waschbeckenrand zurück, doch seine Hand war endlich frei! Keuchend vor Schmerz und Entsetzen ballte er sie zu Fäusten und schlug sie mit aller Kraft in den Spiegel. Glas zersplitterte. Das Blut, das diesmal über Mikes Hand lief, war echt, ebenso wie der brennende Schmerz, mit dem die Scherben in seine Haut schnitten, aber das spielte keine Rolle: Alles was zählte, war, dass dieses Horror-Szenario möglichst schnell aufhörte. Der Spiegel zerbarst - und mit ihm das Bild. Der HarleyMann begann in purer Agonie rasend mit den Beinen zu strampeln und aufzustampfen, bevor das Bild endgültig in Tausende von Puzzleteilen zerfiel, die in alle Richtungen davonflogen, als wäre der Spiegel von einer Granate getroffen worden. Das Letzte, was Mike von der dunklen Seite des Landes Oz sah, war das Gesicht des Indianers, der sich zu ihm umgedreht hatte und höhnisch lächelnd den blutigen Skalp des Fettsacks schwenkte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er übergab sich würgend in das Waschbecken. * »Clever.« Frank riss das Ende der Mullbinde weit genug ein, um sie um Mikes Handgelenk schlingen und verknoten zu können. »Einen Zentimeter tiefer, und mit dieser Hand hättest du nicht mehr geschrieben. Vielleicht nie mehr.« Mike verzichtete auf eine Antwort und biss stattdessen die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien, als Frank den Knoten zuzog. Dieser ging alles andere als behutsam zu Werke, aber Mike hütete sich, zu protestieren. Hätte Frank nicht wieder einmal mit Engelszungen geredet und sein gesamtes diplomatisches Geschick in die Waagschale geworfen, dann würde Mike jetzt vermutlich blutend auf der Straße
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liegen - oder sich auf dem Rücksitz eines Streifenwagens auf dem Weg zum nächsten Polizeirevier befinden. Er hatte allen Grund, dankbar zu sein. Trotzdem war ihre Situation schlimm genug. Sie saßen nicht mehr am gleichen Platz wie zuvor, sondern hatten sich einen Tisch in der hintersten Ecke des Restaurants gesucht - was natürlich nichts daran änderte, dass jedermann sie anstarrte. Die meisten waren diskret genug, wenigstens wegzusehen, wenn Mike den Blick hob, aber eben nur die meisten. »Du hast wirklich verdammtes Glück gehabt, ist dir das klar?«, fragte Frank, während er sein Werk kritisch begutachtete. Der Verband sah alles andere als fachmännisch aus, aber er tat seinen Dienst, und das war im Moment alles, worauf es ankam. »Wenn die Sehne verletzt worden wäre ...« »Ja, Onkel Doktor«, sagte Mike übellaunig. »Beweg die Finger«, erwiderte Frank. »Geht es?« Es ging. Mike schloss die Finger zur Faust, die aus dem weißen Verband wie aus einem klobigen fingerlosen Handschuh ragten. Es tat weh, aber es ging. Frank nickte zufrieden. »Ich frage jetzt nicht, was diese Schwachsinnsaktion sollte«, fuhr er fort. »Ich erwarte, dass du es mir freiwillig erzählst. Irgendwann.« Er schüttelte den Kopf. »Der Spaß hat mich einen Hunderter gekostet. Den will ich zurück.« »Kein Problem«, antwortete Mike. »Schreib ihn auf die Monatsrechnung.« »Worauf du dich verlassen kannst«, grollte Frank. Dann wurde er sehr ernst. »Ist alles in Ordnung mit dir?« In Anbetracht dessen, dass Frank ihn vor noch nicht einmal zehn Minuten halb bewusstlos und wimmernd vor Angst aus dem Restroom geführt hatte, empfand Mike das als ziemlich beknackte Frage. Aber er wusste natürlich auch, was Frank wirklich meinte, und machte eine Bewegung, die man mit einigem guten Willen als Kopfnicken deuten konnte. »Ich glaube, ich war ein bisschen überreizt. Tut mir Leid.«
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»Deine Körperchemie spielt verrückt«, dozierte Frank. »Vie lleicht solltest du dir eine Schachtel Zigaretten kaufen.« Mike wollte widersprechen, aber Frank schüttelte so heftig den Kopf, dass er den Mund wieder zuklappte. »Manchmal ist es nicht gut, zu viel auf einmal zu versuchen, weißt du? Verschieb die Aktion, bis wir wieder zu Hause sind. Ich kenne einen Therapeuten, der mit Akupunktur arbeitet. Er hat schon einer Menge Leuten geholfen. Wenn du willst, gehen wir zusammen hin.« »Du willst doch nur zusehen, wie jemand Nadeln in mich hineinsticht«, sagte Mike mürrisch. »Falsch.« Frank griff nach seinem Kaffee und nippte daran. »Eigentlich würde ich es gerne selbst tun. Ich suche nur nach einer überzeugenden Ausrede, dich foltern zu dürfen, ohne dass du es mir übel nimmst.« »Dann wärst du aber nicht mehr mein bester Freund«, sagte Mike schmollend. Frank grinste, trank einen etwas größeren Schluck und stellte die Tasse mit angewidertem Gesichtsausdruck wieder ab. »Wo wir gerade dabei sind«, sagte er mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Da kommt Stefan.« Stefan steuerte ganz automatisch den Tisch am Fenster an, an dem sie bis vor zehn Minuten noch gesessen hatten. Erst auf halber Strecke bemerkte er, dass der Platz verlassen war, und blieb überrascht stehen. »Er sieht irgendwie nicht begeistert aus«, sagte Frank. »Anscheinend hat ihm die Spritztour nicht gefallen.« Er hatte Recht. Stefan sah sich suchend und mit gerunzelter Stirn um, entdeckte sie schließlich an ihrem neuen Platz und kam mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zu. Er sah verwirrt und leicht verärgert aus. Aber da war auch noch etwas anderes. »Wieso seid ihr umgezogen?«, fragte er, während er sich einen Stuhl heranzog und sich setzte. Noch bevor einer von ihnen antwo rten konnte, bemerkte er Mikes bandagierte Hand
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und fragte: »Was ist denn jetzt schon wieder passiert?« »Ich war ungeschickt«, sagte Mike. »Quatsch«, sagte Frank. »Die Wahrheit ist, er hat unverhofft in einen Spiegel gesehen. Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich auch zugeschlagen.« Stefan blieb vollkommen ernst. »Ist es schlimm?« »Es geht«, antwortete Mike und ballte vorsichtig die Hand zur Faust. »Ich schätze, um diesem bayerische n Kuhtreiber die Fresse zu polieren, reicht es noch.« Frank grinste ihn an, aber Stefan machte nur eine ärgerliche Handbewegung. »Ich meine es ernst, verdammt noch mal«, schnappte er. »Kannst du damit fahren?« »Ich denke schon«, sagte Mike. »Warum?« Statt zu antworten, fragte Stefan. »Habt ihr die Zimmer schon klargemacht? Eingecheckt und das Gepäck hochgetragen?« »Noch nicht. Wir wollten gerade ...« »Die Anmeldung ausgefüllt? Die Kreditkarte abgegeben? Die Pässe?« »Nein, nein und nein.« Mike tauschte einen fragenden Blick mit Frank, erntete aber nur die Andeutung eines Schulterzuckens. »Was zum ... ?« »Das ist gut«, sagte Stefan. »Das heißt, niemand kennt unsere Namen.« »Könnte der Herr sich vielleicht so ausdrücken, dass auch zwei geistig minderbemittelte Biker der zweifellos vorhandenen Weisheit seiner Worte folgen können?«, fragte Frank spöttisch. »Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Stefan. »Wisst ihr, ich habe plötzlich Lust, heute noch weiterzufahren. Dieses Kaff ist tödlich langweilig. Im Monume nt Valley würde es mir jetzt besser gefallen, glaube ich.« »Tut dir sonst noch was weh?«, fragte Frank. »Wenn wir wie geplant über diesen Riesenstausee Lake Powell fahren, sind das zwei Tagestouren!«
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»Gute vierhundert Meilen«, fügte Mike hinzu. »Aber nur, wenn wir diesem bescheuerten Zickzackkurs folgen, den das Reisebüro uns vorgegeben hat«, maulte Stefan. »Es wäre sowieso klüger gewesen, auf der Hinfahrt Lake Powell mitzunehmen, statt diese Gewalttour bis nach Moab durchzuziehen und jetzt wieder schräg durch die Pupille zurückzudüsen.« »Das war wegen der Minikreuzfahrt«, erinnerte ihn Frank. »Die mussten wir vorher buchen, und da sonst keine Termine mehr frei waren ...« »Vergiss Lake Powell und die Bootstour.« Stefan warf dann einen schnellen, verstohlenen Blick nach rechts und links, bevor er mit deutlich gesenkter Stimme fortfuhr: »Wir sollten von hier verschwinden. Nicht nur aus dem Hotel, sondern aus der Stadt. Und zwar direkt in Richtung Monument Valley.« »Bist du jetzt auch übergeschnappt?«, fragte Frank. »Habt ihr die Sirenen nicht gehört?«, wollte Stefan wissen. Frank und Mike schüttelten unisono den Kopf. Sie hatten absolut gar nichts gehört, was jedoch nicht viel zu bedeuten hatte. Die dudelnde Country-Musik, die das Restaurant berieselte, hatte ge nau die richtige Lautstärke, um zwar nicht störend zu sein, aber jeden Laut von draußen zu übertönen. »Was ist passiert?«, fragte Frank. »Hat der Ladenbesitzer nun doch das FBI gerufen, weil wir gegen seine Scheibe getreten haben?« »Dir wird das Lachen gleich vergehen«, sagte Stefan leise. »Jemand hat den Typ aus dem Harley-Laden umgebracht.« Frank riss ungläubig die Augen auf, und Mike spürte, wie auch noch der letzte Rest Farbe aus seinem Gesicht wich. »Wie bitte?«, murmelte Frank. »Die ganze Straße ist voller Cops«, bestätigte Stefan. »Sie haben alles abgesperrt, aber ich habe mich unters Volk gemischt und die Ohren gespitzt.« Er schüttelte den Kopf. »Jemand hat den Kerl umgelegt, und zwar, kurz nachdem wir
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im Laden waren. Und nicht einfach nur erschlagen oder erschossen. Anscheinend hat man ihn regelrecht abgeschlachtet.« »Ich weiß«, sagte Mike tonlos. Stefan blinzelte, und auch Frank sah ihn fragend und ala rmiert zugleich an. »Woher?« »Ich habe es im Spiegel gesehen«, antwortete Mike. »Was soll jetzt dieser Blödsinn wieder?«, fragte Stefan. »Bist du betrunken?« »Vergiss es«, sagte Frank hastig. »Ich erkläre es dir später. Was soll der Unsinn? Wieso sollen wir die Stadt verlassen, nur weil jemand diesen Typen umgelegt hat? Wahrscheinlich hat er es verdie nt. Ich hätte ihm selbst gerne den Hals umgedreht.« »Und ob ich es ernst meine!« Stefan sah sich erneut misstrauisch und sehr schnell um. »Begreift ihr denn nicht?« »Nee«, sagte Frank. »Ich begreife absolut nicht, was wir damit zu tun haben sollen. Wir haben ihn schließlich nicht umgebracht, oder?« »Aber wir waren kurz vorher in seinem Laden«, antwortete Stefan. »Wahrscheinlich waren wir sogar die Letzten, bevor der Killer kam. Habt ihr Lust, den Rest der Woche im Untersuchungsgefängnis zu verbringen? Oder vielleicht den Rest des Jahres?« »Du bist völlig übergeschnappt!«, ereiferte sich Frank. »Ist dir eigentlich klar, dass wir uns erst recht verdächtig machen, wenn wir jetzt abhauen? Wenn sie uns dann erwischen, sitzen wir richtig in der Tinte.« »Du bist übergeschnappt, wenn du glaubst, dass ich hier bleibe und auf die Weisheit der amerikanischen Polizei vertraue«, antwortete Stefan scharf. »Verdammt, schalt dein Gehirn ein! Wir waren die Letzten, die den Laden betreten haben. Mindestens ein Dutzend Leute hat uns dabei beobachtet! Und noch mehr vermutlich, als wir rausgekommen sind und das ziemlich hastig, falls ihr es vergessen haben solltet.
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Wenn uns das nicht verdächtig macht, dann weiß ich nicht. Und dazu kommt noch etwas.« »Was?«, fragte Frank. Er warf Mike einen fragenden Blick zu, doch dieser saß nur wie betäubt vor sich hin starrend da und reagierte auf nichts. Sein Blick bohrte sich geradezu in Stefan. Er empfand nicht einmal Erschrecken, sondern nur so etwas wie eine vollkommene Leere. Nein, das war unmöglich! Und doch: Stefan deutete mit einer Kopfbewegung auf Mike. »Soviel ich gehört habe, wurde der Kerl mit einer indianischen Streitaxt erschlagen, bevor man ihn in Stücke geschnitten hat. Mit derselben Axt, mit der Mike herumgefuchtelt hat. Seine Fingerabdrücke sind da drauf, verdammt noch mal!« Frank schwieg eine ganze Weile, aber dann schüttelte er wieder den Kopf. »Es ist trotzdem ein Fehler«, beharrte er. »Wir sollten zur Polizei gehen.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Wir können doch beweisen, dass wir nichts mit dem Mord zu tun haben!« »Ach? Und wie?«, erkundigte sich Stefan; allerdings auf eine Art, die klar machte, dass er die Antwort bereits kannte - und nicht besonders viel davon hielt. »Wir haben einen Zeugen!«, sagte Frank. »Erinnerst du dich? Der Langhaarige, der hereingekommen ist! Der Bursche, dem wir schon im Grand Canyon begegnet sind.« »Der, dessen Motorrad Mike fast umgerannt hätte«, bestätigte Stefan. »Stimmt. Er könnte uns entlasten.« Er nickte bekräftigend, bevor er sagte: »Es sei denn, er ist der Killer.« Frank starrte ihn an. Stefan hielt seinem Blick einen kurzen Moment lang gelassen Stand, ehe er sich an Mike wandte. »Was ist jetzt? Kannst du mit der Hand fahren?« Mike reagierte noch immer nicht. Er konnte es nicht. Seine Gedanken bewegten sich nun langsam und träge, aber er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, es wäre bei der Paralyse geblieben: Er, Mike, hatte es gesehen. Er hatte den Mord definitiv miterlebt, auch wenn es noch so unmöglich schien!
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Lass uns spielen, weißer Mann. Stefan deutete sein Schweigen offensichtlich als Kritik, denn er drehte sich mit einer Beistand heischenden Geste zu Frank um. »Ich weiß, dass es riskant ist«, sagte er. »Verdammt, ich bin ganz bestimmt auch nicht scharf darauf, vor den Bullen davonzulaufen, aber alles andere wäre Wahnsinn!« Während er sprach, war seine Stimme immer lauter gewo rden. Etliche Gäste blickten bereits wieder stirnrunzelnd in ihre Richtung. Stefan schwieg erschrocken über sich selbst eine Sekunde, bevor er mit erzwungener Ruhe und deutlich leiser fortfuhr: »Glaubt bloß nicht, dass mir das gefällt, aber es ist nun mal eine beschissene Situation, und ihr wisst, wie so was hier läuft. Das Allermindeste, was uns blüht, ist, dass sie uns so lange festhalten, bis die Sache geklärt ist. Unser Urlaub wäre auf jeden Fall gelaufen. Und sie werden uns bestimmt nicht im Hotel wohnen lassen.« »Das ist einer kleinen Verfolgungsjagd mit dem FBI ja auch vorzuziehen«, sagte Frank mürrisch. Aber er klang schon nicht mehr ganz so überzeugt wie zuvor. »Niemand wird uns verfolgen«, behauptete Stefan. »Wenn wir erst einmal aus Moab raus sind, dann haben sie keine Chance mehr. Niemand weiß, wer wir sind und wohin wir wollen.« »Abgesehen von den Cops, die vorhin unsere Personalien aufgenommen haben«, sagte Frank. »Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden«, beharrte Stefan. »Und zwar schnell. Aber unauffällig. Ich schlage vor, wir fahren getrennt los und treffen uns außerhalb der Stadt. Wenn überhaupt, dann suchen sie nach drei Typen auf Motorrädern. Sie können unmöglich jeden einzelnen Biker anhalten.« »Hältst du das hier für einen beschissenen James-BondFilm?«, fragte Frank. »Ich halte es für die beschissene Wirklichkeit«, antwortete
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Stefan mit einem kalten Grinsen. »Ihr beide seid ja vielleicht scharf darauf, eine Gefängniszelle von innen kennen zu lernen, aber ich nicht.« Er funkelte Mike an. »Würdest du freundlicherweise auch mal was dazu sagen?« »Ich ... ich weiß nicht«, murmelte Mike. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Alles drehte sich um ihn. »Ja, das ist genau die Art von präziser Auskunft, die ich von dir erwartet habe«, sagte Stefan gehässig. Er begann unruhig mit den Fingerspitzen auf den Tisch zu trommeln. Fast eine Minute lang wartete er vergeblich auf eine Antwort, dann zuckte er trotzig die Schultern und stand auf. »Also gut, wie ihr wollt. Ich verschwinde jedenfalls von hier. Wenn ich das richtig aufgeschnappt habe, gibt es fünfundzwanzig Meilen südlich von hier an der 191 ein McDonald's. Da warte ich auf euch.« Er ging. Während Stefan sich umdrehte, bemerkte Mike aus den Augenwinkeln, wie Frank sich spannte, als wolle er ihn zurückhalten, was er aber dann doch bleiben ließ. Frank sagte gar nichts, sondern wartete schweigend, bis Stefan das Restaurant verlassen hatte. Selbst dann blieb er noch eine ganze Weile wie erstarrt sitzen, ehe er leise fragte: »Was hast du damit gemeint: Ich habe es im Spiegel gesehen?« »Genau das, was ich gesagt habe.« Mike betrachtete seine bandagierte Hand. »Ich habe es im Spiegel gesehen. Es war der Indianer aus dem Van. Er hat ihm mit der Axt drei oder vier Finger abgehackt und ihn anschließend skalpiert.« »Du weißt, dass du das gar nicht gesehen haben kannst«, sagte Frank. »Es sei denn, ich wäre da gewesen.« »Warst du aber nicht«, sagte Frank. »Dazu hätte die Zeit nicht einmal annähernd gereicht. Nicht die paar Minuten, die du allein warst.« Schon die Wahl seiner Worte machte Mike vollkommen klar, dass er über diese Möglichkeit allen Ernstes nachgedacht hatte,
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und Mike fragte sich, warum ihn der damit verbundene Verdacht kalt ließ. Vermutlich aus demselben Grund, aus dem er nicht wirklich erschrocken war und auch nicht wirklich Angst hatte. Er war innerlich noch immer wie paralysiert. »Du wirst mir eine Menge erklären müssen«, sagte Frank. »Aber nicht jetzt. Was ist mit deiner Hand? Kannst du damit fahren?« Mike nickte. »Gut.« Frank deutete zur Tür. »Dann wirf dich in deine Klamotten und fahr los. Aber unauffällig. Ich halte es zwar immer noch für Wahnsinn, aber Stefan hat ausnahmsweise Recht. Wenn wir hier bleiben, haben wir jede Menge Ärger am Hals. Nimm die Umgehungsstraße nach Norden - es gibt nur die eine.« »Und du?« »Ich komme in einer halben Stunde nach«, antwortete Frank. »Wenn alles gut geht.« * Mike fühlte sich nicht wohl dabei, Frank allein zu lassen obwohl es anders herum der Wahrheit wohl schon näher gekommen wäre: nämlich, dass er sich nicht wohl dabei fühlte, von Frank allein gelassen zu werden. Er war verletzt. Seine Hand tat erbärmlich weh, er war psychisch und physisch am Ende, und er war so nervös, dass er die Maschine dreimal hintereinander abwürgte, ehe es ihm endlich gelang, den Gang einzulegen und loszufahren. Während er vom Hof des Hotels rollte, hatte er das Gefühl, von Jedermann angestarrt zu werden, was der Wahrheit vermutlich auch nahe kam. Er hatte sich schließlich ungeschickt genug angestellt, um Aufsehen zu erregen. Und es wurde nicht besser: Als er sich in den fließenden Verkehr einreihte, schätzte er die Geschwindigkeit eines Wagens falsch ein, sodass der Fahrer hart auf die Bremse treten
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musste, um ihn nicht zu rammen. An der ersten Ampel würgte er die Intruder prompt erneut ab und bekam sie erst in Gang, als die Ampel bereits wieder rot zeigte. Das Ergebnis war ein wütendes Hupkonzert hinter ihm. So viel zu Franks Rat, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Und selbstverständlich fand er auch die Umgehungsstraße nicht, von der Frank gesprochen hatte. Vermutlich hätte er genau an der Ampel abbiegen müssen, an der er die Susie abgewürgt hatte, aber als ihm das bewusst wurde, war es bereits zu spät: Der Verkehr begann langsamer zu fließen und schien ein paar hundert Meter weiter vorne endgültig zum Stehen zu kommen. Dann erkannte er die Stelle wieder. Der Verkehr staute sich vor dem Harley-Davidson-Laden. Natürlich. Stefan hatte ihm ja berichtet, dass die Cops die Straße gesperrt hatten, und vermutlich hatten sie es nicht getan, weil sie so viel Spaß daran hatten, einen Verkehrsstau zu produzieren ... Aber jetzt war es zu spät. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die sperrige Maschine auf der vollkommen überfüllten Straße zu wenden (was er bezweifelte), hätte er dadurch erst recht Aufsehen erregt. Augen zu und durch - welch andere Wahl blieb ihm schon? Erstaunlicherweise verspürte er nicht die geringste Angst. Er war allenfalls ein wenig beunruhigt. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es ohnehin keine Rolle mehr spielte, was er empfand oder dachte. Lass uns spielen, weißer Mann. Während Mike die Intruder in einem nervigen Stop-and-go weiterbalancierte, begriff er vielleicht zum ersten Mal, wie diese Aufforderung gemeint gewesen sein mochte, und ein bitteres Lächeln breitete sich für einen Moment auf seinem Gesicht aus. Er hatte nichts gegen ein Spiel. Nicht einmal gegen ein unfaires. Aber er hatte gedacht, dass er als Spieler an diesem Spiel teilhaben würde.
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Nicht als Spielfigur … Mike brauchte fast zehn Minuten, um den Harley-DavidsonLaden zu erreichen, und als er sich ihm bis auf zwanzig, dreißig Meter genähert hatte, begann sich so etwas wie vorsichtige Erleichterung in ihm breit zu machen. Es war keine richtige Straßensperre, jedenfalls keine von der Art, die er befürchtet hatte, sondern eine Kombination aus einem halben Dutzend Patrol Cars, die mit zuckenden roten und blauen Lichtern im Halbkreis vor dem Harley-DavidsonLaden abgestellt waren und mehr als die Hälfte der Fahrbahn blockierten, und einer ganz besonderen Spezies von Autofa hrern, die es offe nsichtlich auf der ganzen Welt gab: Gaffern. Nicht, dass es besonders viel zu sehen gegeben hätte; ein Dutzend Polizeibeamte, die gelangweilt um ihre Wagen lümmelten oder sich unterhielten, und ein schäbiger Laden, dessen Tür verschlossen war. Und eine riesige, fast vollkommen verchromte HarleyDavidson, die schräg auf den Seitenständer gelehnt dastand und wie ein bizarres Alien-Raumschiff wirkte, das hier gestrandet war. Ihr Besitzer stand nur wenige Schritte daneben und unterhielt sich heftig gestikulierend mit zwei Polizeibeamten, von denen einer zuhörte und ab und zu eine Frage stellte, während der andere eifrig Notizen machte. Der Motorradfahrer deutete ein paar Mal die Straße hinab; in die Richtung, in die Mike und die beiden anderen davongegangen waren. Natürlich nur ein Zufall, dachte er, schließlich führte die Straße ja nur in zwei Richtungen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Mike war so sehr damit beschäftigt, den Biker und die beiden Cops anzustarren, dass er einen Sekundenbruchteil zu spät reagierte, als die Bremslichter des Wagens vor ihm aufleuchteten. Er bremste ebenfalls, aber er konnte nicht verhindern, dass die Intruder unsanft gegen die Stoßstange des Ford prallte. Trotz seiner enormen Größe zitterte der gesamte Wagen, und Mike spürte, wie die Intruder langsam, aber auch mit schreck-
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licher Unaufhaltsamkeit zu kippen begann. Hastig nahm er die Füße von den Trittbrettern und versuc hte, die Maschine abzufangen. Zu spät. Der Punkt, an dem er das enorme Gewicht der Intruder noch hätte halten können, war überschritten. Er wusste, dass er stürzen würde. Im buchstäblich allerletzten Moment hörte die Maschine auf zu kippen. Das Gewicht, das Mike erbarmungslos zur Seite drücken wollte, schien auf einmal vollkommen bedeutungslos zu sein. Die Intruder verharrte nicht nur, sie richtete sich im Gegenteil sogar wieder auf. Mike war so verblüfft, dass er eine halbe Sekunde lang den Lenker losließ, woraufhin die Intruder prompt erneut zu wanken begann. Hastig griff er wieder zu, stemmte das Motorrad vollends in die Höhe und trat den Ständer herunter, woraufhin der Motor mit einem protestierenden Blubbern ausging. Erst als er die Intruder auf den Ständer kippte, bemerkte er die Hand, die den Lenker ergriffen hatte. Sie war ungefähr so groß wie die Ladefläche eines Pick-ups und ragte aus einem kakifarbenen Hemdsärmel, der sich ungefähr einen Kilometer unter einem kantigen Gesicht mit verspiegelter Sonnenbrille und einem goldfarbenen Helm befand. Mike hätte beinahe aufgeschrien. Lass uns spielen? Das war ein verdammt beschissenes Spiel, in dem er gleich einen ganzen Stapel Arschkarten gezogen hatte. Der rettende Engel, der ihn vor dem Umfallen bewahrt hatte, war nicht nur der mit Abstand größte Mann, den Mike je gesehen hatte - was immerhin erklärte, wie er die knapp fünf Zentner schwere Intruder mit einer lässigen Handbewegung hatte auffangen können -, sondern auch ein Cop. Dieses Spiel war einfach nicht fair! Der Motorrad-Polizist sagte etwas in seiner Muttersprache, was Mike in diesem Moment vermutlich nicht einmal dann
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verstanden hätte, wenn es sich dabei um akzentfreies Hochdeutsch gehandelt hätte, wartete einen Moment lang vergebens auf eine Antwort und wiederholte seine Frage schließlich; lauter und in hörbar schärferem Ton. Immerhin gelang es Mike, sich in ein dümmliches Grinsen und ein Schulterheben zu retten. Die Kette von wundersamen Ereignissen war allerdings noch nicht zu Ende: Statt endgültig unangenehm zu werden, zuckte der berggroße Cop nur die Achseln und wandte sich um. Und er setzte sogar noch eins drauf: Als der Fahrer des Wagens, den Mike gerammt hatte, aussteigen wollte (Mike konnte sich lebhaft vorstellen, warum), fuhr ihn der Cop in derart scharfem Ton an, dass er hastig die Tür hinter sich zuknallte und es plötzlich sehr eilig hatte, weiterzufahren. Mike versuchte erst gar nicht zu verstehen, was da vor sich ging. Er fummelte einen Moment ungeschickt herum, bis es ihm gelang, die Maschine wieder zu starten und loszufahren, gab vorsichtig Gas und sah in den Spiegel, um seinem uniformierten Schutzengel noch einen dankbaren Blick zuzuwerfen. Er war nicht mehr da. Lass uns spielen? Warum eigentlich nicht?, dachte Mike. Er hatte nichts gegen ein Spiel, und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann nicht einmal gegen dieses. Nur hätte er es ganz nett gefunden, wenn ihm endlich irgendjemand die Regeln erklären würde. * Das McDonald's, von dem Stefan gesprochen hatte, befand sich keine halbe Stunde von Moab entfernt, sondern fast eine ganze; anscheinend war Stefan von der durchschnittlichen Geschwindigkeit ausgegangen, mit der er auf einer deutschen Autobahn gefahren wäre, die sich von einem amerikanischen
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Highway mit seinen zahllosen Radarfallen, Geschwindigkeitsbeschränkungen und 200-PS-Wagen, deren Fahrer den Te mpomat auf höchstens siebzig Meilen eingestellt hatten und am Steuer vor sich hin dösten, stark unterschied. Mike hätte auf die Geschwindigkeitsbegrenzung gepfiffen, wäre es möglich gewesen. Bei den zwei oder drei Malen, die die mit Kurven nur so gespickte Straße (auf der Landkarte war sie ein schnurgerader Strich, aber das mochte am Maßstab liegen. Nordamerika auf drei DIN-A-4-Seiten war wirklich nicht besonders detailliert), bei den drei Malen also, die die Straße ein Überholen zugelassen hätte, hatte ihn der Gegenverkehr daran gehindert; nur fünf entgegenkommende Wagen in einer guten Stunde - aber perfekt verteilt auf die fünf einzigen Möglichkeiten, zu überholen. Das an den Nerven zerrende Dahinzockeln, zu dem Mike gezwungen war, hatte einen unerwarteten Nebeneffekt: Mike wurde erst nervös, dann so wütend, dass er seinem Vordermann am liebsten nahe genug aufgefahren wäre, um ihn mit einem Fußtritt zum schnelleren Fahren zu bewegen. Bald jedoch schlug das Pendel in die Gegenrichtung aus. Eine fast unnatürliche Ruhe begann von ihm Besitz zu ergreifen. Nach einer Weile hörte er auf, bei den anderen Fahrern nervöse Blicke in den Rückspiegel zu provozieren, weil er zu dicht auffuhr, und nahm sein Tempo zurück. Eine sonderbare Mischung aus Gelassenheit und Fatalismus bemächtigte sich seiner, wobei der Fatalismus eindeutig überwog. Er hatte dieses Gefühl der Mutlosigkeit nie gekannt, nicht einmal in den zum Teil schlimmen Zeiten, die er durchgemacht hatte, aber nun lernte er es kennen. Während er langsam, mit gleichmäßigen fünfundsechzig Meilen pro Stunde nach Norden glitt und nur dann und wann den Horizont absuchte, darauf wartend, dass das rotgelbe McDonald's-Emblem über der Wüste erschien, kam er sich immer einsamer und allein gelassener vor. Nun, er war allein;
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fast am anderen Ende der Welt, Tausende von Kilometern von einem normalen Leben und fast allen Menschen entfernt, die er kannte und liebte, und die beiden einzigen lebenden Wesen auf diesem Kontinent, denen er nicht egal war, hatte er in höchste Gefahr gebracht. Er hatte sich auch schon früher in schlimmen Situationen befunden, ein- oder zweimal auch in eindeutig gefährlicheren, und er hatte festgestellt, dass er wie die meisten Menschen in der Lage war, auch die schlimmsten Entbehrungen durchzustehen, wenn es ein Licht am Ende des Tunnels gab. Am Ende dieses Tunnels war kein Licht, sondern nur eine Dunkelheit, die von namenlosen Schrecken erfüllt war. Vielleicht sollte er Schluss machen. Mike dachte diesen Gedanken ganz ruhig, auf einer vollkommen emotionslosen Ebene seines Bewusstseins, auf der es weder Raum für Gefühle noch für subjektive Wertungen gab und wo nur Fakten zählten. Seine Lage war in der Tat aussichtslos. Er hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen, ganz gleich, wie man es auch drehen und wenden mochte, und ganz egal, was Frank auch recherchiert hatte. Niemand verfolgte ihn wegen dieses Menschenlebens, aber nun würden sie ihn wahrscheinlich wege n eines anderen Menschenlebens jagen eine ganz besondere Art von ausgleichender Gerechtigkeit, die ihn mit der einen Sache davonkommen ließ, um ihn für die Schlimmere zu bestrafen, an der er keinerlei Schuld hatte. Er wusste mit vollkommener Klarheit, dass es so kommen würde. Er hatte die Spielregeln jetzt durchschaut, vielleicht nicht im Detail, aber im Prinzip. Was immer er tat oder auch unterließ, es würde alles nur noch schlimmer machen. Er hatte es sogar bereits geschafft, Frank - und jetzt auch Stefan - mit hineinzuziehen. Ja, dachte er. Vielleicht sollte er die Spielregeln eigenmächtig ändern und die Sache auf seine Weise zu Ende bringen. Es wäre ganz leicht: herunterschalten und abwarten, bis ihm
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wieder einer dieser Monstertrucks entgegenkam, ein kurzer Ruck am Gashebel, und alles wäre vorbei. Ein bedauernswerter Motorradunfall, wie er fast an der Tagesordnung war. Niemand würde Verdacht schöpfen. Vielleicht Frank, aber der würde nichts sagen. Was auch, und zu wem? Es wäre ganz leicht ... Statt des erwarteten Monstertrucks tauchte ein zwanzig Meter hoher Metallmast am Straßenrand auf, von dem herab ihn Ronald McDonald's Clownsgesicht angrinste. Mike wartete einen Moment lang allen Ernstes darauf, dass sich die geschminkten Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzogen, um ein blutiges Vampirgebiss freizugeben, wie Pennywise aus Stephen Kings ES, aber natürlich geschah das nicht. Mike schaltete herunter, tippte vorsichtig auf die Bremse und steuerte die Intruder auf den Parkplatz des Drive-in. Stefans Intruder stand unweit des Eingangs, und zu Mikes nicht geringer Überraschung entdeckte er auch Franks Motorrad, allerdings fast am anderen Ende des Parkplatzes. Wahrscheinlich, dachte er spöttisch, war es Stefans Idee gewesen, nicht unmittelbar nebeneinander zu parken, um nicht aufzufallen. Trotz allem schien Stefan insgeheim Spaß an diesem Räuber- und-Gendarm-Spiel zu finden. Obwohl Mike die Vorstellung selbst albern fand, parkte er ebenfalls ein gutes Stück abseits der beiden anderen Maschinen, stieg ab und ging mit erzwungen ruhigen Schritten in den Imbiss. Stefan und Frank saßen an einem Tisch unmittelbar am Fenster, von dem aus sie nicht nur den gesamten Parkplatz überblicken konnten, sondern auch die Straße. Offensichtlich hatten sie seine Ankunft bereits bemerkt, denn sie zeigten keinerlei Überraschung. Frank schob nur einen der Stühle zurück und forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, sich zu setzen. »Wir dachten schon, du kommst nicht mehr«, begann Stefan übergangslos. Er nagte an einem Chicken McNugge t und hatte eine halb ausgetrunkene Cola vor sich stehen. Er musste schon
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eine ganze Weile hier sitzen und warten. »Ich stand im Stau«, antwortete Mike. »Sie haben die halbe Straße abgesperrt.« »Deshalb habe ich auch die Umgehungsstraße genommen«, sagte Frank. »Die, die ich dir beschrieben habe.« »Ja, ich weiß. Ich muss wohl die Abzweigung verpasst haben. Und? Werde ich jetzt erschossen?« Frank verdrehte die Augen und schwieg. Er schien nicht besonders guter Laune zu sein; was aber auch mit dem angeknabberten Cheeseburger zu tun haben mochte, der vor ihm auf einem Pappteller lag. Seine Cola schien noch unberührt zu sein. Offensichtlich war er erst vor kurzem angekommen. »Und?«, fragte Mike. »Habt ihr schon Kriegsrat gehalten?« Den beredten Blicken nach zu urteilen, die Stefan und Frank miteinander tauschten, hatten sie das, wenn auch bestimmt nicht in dem Sinn, den er gemeint hatte. Statt direkt zu antworten, kramte Stefan eine zerknitterte Straßenkarte hervor und faltete sie auf dem Tisch auseinander, so gut er konnte. »Folgendes«, begann er. »Ob wir jetzt nach Lake Powell oder direkt nach Monument Valley fahren, bleibt sich von der Entfernung ziemlich gleich. Am Lake Powell gibt es aber nur dieses Mini-Nest Page, das sie damals in den fünfziger Jahren als Bauarbeitersiedlung in die Einöde gesetzt haben. Monument Valley liegt dagegen strategisch günstiger, nämlich exakt auf der Staatsgrenze zwischen Arizona und Utah - und bis nach Colorado und New Mexiko ist es nur ein Katzensprung. Damit sind wir flexibler, je nachdem, was die Nachrichten über drei flüchtige Motorradfahrer im Zusammenhang mit einem grausigen Mordfall berichten.« »Aber die Motelbuchung ...«, wandte Mike kraftlos ein. »Schon vergessen?« Frank grinste humorlos. »Die Reiseunterlagen hast du doch bei unserem Helikopterflug über den Grand Canyon so elegant entsorgt! Weißt du noch, wie das Motel in Page heißt, das wir für heute gebucht haben?«
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Mike kniff ärgerlich die Augen zusammen. »Nein, natürlich nicht.« »Na, siehst du. Aber falls die Cops unsere Personalien herausbekommen haben, wissen sie vielleicht bereits, dass wir heute Nacht in Page absteigen wollten.« Frank zögerte einen kurzen, aber bedeutungsvollen Moment und fuhr dann mit einem angedeuteten Schulterzucken fort: »Monument Valley hat dazu noch den unschätzbaren Vorteil, dass wir die Motela nlage dort kaum verfehlen können. In diesem speziellen Fall macht es also überhaupt nichts, dass wir die Reiseunterlagen nicht mehr haben.« »Wir müssen nur sehen, dass wir schon heute ein Apartment kriegen«, ergänzte Stefan. »Aber Hauptsache ist: Niemand weiß, dass wir erst einmal dort unterschlüpfen, um unsere Wunden zu lecken und die nächsten Schritte zu beratschlagen.« »Sagt mal, ihr glaubt doch nicht wirklich, dass sie hinter uns her sind, oder?«, fragte Mike heftig. »Nein«, antwortete Frank. »Wenn das so wäre, dann würde draußen auf dem Parkplatz wahrscheinlich schon ein SWATTeam stehen, und der Himmel wäre voller Hubschrauber.« »Aber sicher ist sicher«, fügte Stefan hinzu. Mike sah finster von einem zum anderen. »Ihr beide macht nicht zufällig Front gegen mich?« »Verdient hättest du es«, antwortete Stefan ruhig. Dann schüttelte er den Kopf. »Ist aber nicht so. Wir wollen nur auf Nummer sicher gehen, das ist alles. Ich habe genug amerikanische Krimis gesehen, um zu wissen, wie die Jungs hier reagieren. Früher oder später werden sie auf uns kommen, und sei es nur, um unsere Zeugenaussagen aufzunehmen. Und irgendwie habe ich gar keine Lust, eine Woche lang Fragen zu beantworten.« »Wie zum Beispiel die, wie deine Fingerabdrücke auf die Mordwaffe kommen«, fügte Frank hinzu. »Ihr wisst, dass das Irrsinn ist«, sagte Mike. Er musste sich
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beherrschen, um Frank nicht anzuschreien. Natürlich hatte er mit jedem Wort, das er sagte, Recht. Aber Mike fühlte sich auf absurde Weise im Stich gelassen, und er empfand ein noch viel absurderes Gefühl von Eifersucht. Frank war sein bester Freund, zum Teufel, nicht Stefans! Er hatte gefälligst zu ihm zu halten, und wenn er tausend Mal im Unrecht war! »Stimmt«, antwortete Frank ungerührt, »aber ...« »Weißt du, woran mich die Situation erinnert?«, unterbrach ihn Mike. »An etwas, das du mir selbst einmal erzählt hast, vor vielen Jahren.« Frank sah ihn fragend an. »Ich habe dich damals gefragt, wie du einen Krimi konzipieren würdest, erinnerst du dich?«, fuhr Mike fort. »Du hast gesagt, du würdest ganz harmlos anfangen. Mit einer Banalität, einer Alltagssituation, in der dein Held falsch reagiert.« »Ein potenziell Mordverdächtiger zu sein ist nicht gerade eine Alltagssituation«, warf Stefan ein. »Dem ersten Fehler folgt ein Zweiter, dann noch einer und noch einer, und schließlich ist es so weit, dass es kein Zurück mehr gibt. Dein Held würde sich selbst immer tiefer in die Scheiße reiten und es erst dann merken, wenn es zu spät ist. Woran erinnert mich das wohl?« »Und was schlägst du vor?«, fragte Frank ruhig. »Sollen wir vielleicht umkehren und zu den Cops sagen, dass alles nur ein großes Missverständnis war?« Er schüttelte den Kopf. »Dazu ist es schon zu spät, mein Lieber.« Natürlic h hatte er Recht. Mike fragte sich vergebens, warum er diese Frage überhaupt gestellt hatte. Er sagte nichts, aber er spürte plötzlich Stefans bohrende Blicke, und als er den Kopf hob, las er die Antwort auf seine Frage in dessen Augen. Letztlich war es seine Idee gewesen, vorsichtshalber das Weite zu suchen. Mike fragte sich, ob in Franks Worten vielleicht ein Vorwurf verborgen sein mochte, der ihm bisher entgangen war. »Natürlich nicht«, antwortete er mit einiger Verspätung.
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»Entschuldige. Du hast vollkommen Recht. Ich bin ... nur ein bisschen nervös.« »So wie wir auch, ja«, sagte Frank. Er schüttelte den Kopf. »Was ist jetzt? Versuchen wir es wenigstens? Falls wir nicht den ganzen Weg schaffen, übernachten wir irgendwo unterwegs.« Mike hob die Schultern. Dann nickte er. »Gut«, sagte Stefan. »Dort drüben steht übrigens ein Geldautomat. Ich schlage vor, wir quetschen unsere Kreditkarten bis zum Limit aus und zahlen die nächsten Tage nur noch bar. Auf diese Weise hinterlassen wir weniger Spuren.« Die Sache macht ihm tatsächlich Spaß, dachte Mike. So abstrus ihm selbst der Gedanke auch vorkam, er war sich plötzlich sicher, dass das alles hier für Stefan noch immer bloß ein großes Abenteuer war. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und griff nach seiner Brieftasche. Alles in allem hatten sie so viel Zeit verloren, dass sie es nicht mehr schafften, Monument Valley bei Tageslicht zu erreichen. Im Westen Nordamerikas wurde es sowieso relativ früh dunkel - und dabei bitterkalt. Mit dem Untergang der Sonne brach sich die Kälte ungeschützt Bahn und erinnerte daran, dass sich in Steppen- und Wüstenlandstrichen Tage und Nächte mit ungemütlichen und vor allem für Motorradfahrer schwer erträglichen Temperaturunterschieden abwechselten. Als sie endlich auf die vierundzwanzig Meilen lange Anfahrtsstrecke zum Monument Valley abbogen, fror Mike so erbärmlich, dass sich sein Zittern auf den Lenker seiner sowieso angeschlagenen Maschine übertrug. Vermutlich bestimmt - entging ihnen ein grandioser Anblick, aber keiner von ihnen wäre wohl noch in der Stimmung gewesen, diesen zu würdigen. Die riesigen Tafelberge, die die Kulisse für so viele John-Wayne-Filme abgegeben hatten, waren zu verschwommenen Flecken vor dem düsteren Abendhimmel
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geworden, und selbst die Straße schien sich in zunehmendem Maße aufzulösen, als würde die Leuchtkraft der Scheinwerfer mit jeder Meile abnehmen, die sie weiter nach Norden fuhren. Als sie das Hotel endlich erreichten, schaffte es Mike vor lauter Erschöpfung kaum, die schwere Maschine auf den Seitenständer zu stellen. Frank, der unmittelbar neben ihm geparkt hatte, nahm ihm den Helm ab und warf ihm einen eindeutig besorgten Blick zu, während Stefan bereits auf dem Weg zum Empfang war. Er ging grätschbeinig und mit steifen Schritten. Auch wenn er es niemals zugeben würde, konnte Stefan sich kaum besser fühlen als Mike und Frank. In den letzten drei Tagen hatten die Freunde mehr mitgemacht als viele andere in ihrem ganzen Leben. »Geschafft.« Frank hängte seinen Helm an den Lenker, lehnte sich im Sattel zurück und streckte die Arme nach beiden Seiten aus, um sich zu recken, ließ es dann aber mit einer schmerzerfüllten Grimasse bleiben. »Jetzt ein Bier, und dann die Beine lang machen und ungefähr zwölf Tage durchschlafen.« »Zwölf Stunden würden mir auch schon reichen«, sagte Mike erschöpft. Er blickte müde in Stefans Richtung, aber alles was er sah, war ein verschwommener Fleck trübgelber Helligkeit. Das Hotelgebäude ragte wie ein schwarzer Fels in der Nacht über ihnen auf, obwohl es nicht wirklich groß war: Der an einen indianischen Pueblo erinnernde Bau beherbergte nur den Empfang und ein paar Vorratsräume, wenn er sich richtig an den Prospekt erinnerte. Das eigentliche Hotel bestand aus zwei Dutzend zweigeschossiger Bungalows, die sich in einem lockeren Halbkreis an den Berg schmiegten und von einem weitläufigen, fast ganz aus Glas erbauten Restaurant gekrönt wurden, aus dem heraus die Gäste einen grandiosen Ausblick über das gesamte Valley hatten. Das behaupteten jedenfalls die Fotos im Prospekt. Zu sehen war im Moment rein gar nichts, nur Schatten und klobige Finsternis, die aus allen Richtungen zugleich auf sie einzustür-
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zen schien. Morgen, dachte Mike müde. Frank hatte Recht. Sofern sie das Glück hatten, schon einen Tag vor ihrer eigentlichen Buchung ein Zimmer zu bekommen, würden sie sich gründlich ausschlafen und den Anblick morgen gebührend bewundern. Falls sie dann noch lebten. Mike verscheuchte auch diesen Gedanken. Er war ganz eindeutig nicht in der Verfassung, irgendeinen komplizierten Gedankengang zu fassen. Vielleicht würde morgen alles ganz anders aussehen, sowohl im wortwörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Sie warteten schweigend, bis Stefan mit einem erleichterten Lächeln und dem Zimmerschlüssel zurückkam, und irgendwie brachte Mike sogar das Kunststück fertig, die Intruder noch einmal aufzurichten und die fünfhundert Meter bis zu ihrem Bungalow zu fahren. Das Apartment erwies sich als ebenso großzügig wie das gesamte Hotel - es war kein einfaches Zimmer, wie Mike es angesichts des günstigen Preises erwartet hatte, sondern eine behaglich eingerichtete Sechzig-Quadratmeter-Wohnung mit zwei Schlafzimmern, Küche, Bad und einem großzügigen Wohnraum, in dem es neben einem Großbildfernseher auch eine Schlafcouch gab, die Mike kurzerhand für sich reklamierte. Er machte sich gerade noch die Mühe, die Stiefel auszuziehen, ehe er sich komplett angezogen darauf niedersinken ließ und die Augen schloss. Stefan und Frank polterten mit ihrem Gepäck in die Schla fzimmer, kamen aber schon nach wenigen Augenblicken zurück und schalteten den Fernseher ein. Augenblicklich überflutete quäkende Country-Musik das Zimmer. Als Mike widerwillig das linke Augenlid hob, begriff er, dass er irgendetwas verpasst haben musste. Eben noch hatten Frank und Stefan komplett angezoge n ihr Gepäck neben den Betten verstaut, jetzt aber stand Stefan - mit nassen Haaren und nur
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mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet - mitten im Zimmer und zielte mit der Fernbedienung wie mit einer Waffe auf den Fernseher. Offensichtlich war Mike, ohne es zu merken, eingeschlafen. »Sag mal, musst du jetzt fernsehen?«, murrte er. Stefan erledigte das Country-Gedudel mit einem gezielten Schuss seiner Fernbedienung und wurde mit einem SonyWerbespot belohnt, der - wie hätte es anders sein können? ebenfalls mit Country-Musik unterlegt war. Mike war nicht ganz sicher, aber es hörte sich beinahe wie Dolly Parton an. »Ja, muss ich«, antwortete Stefan. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken.« « »Hast du aber«, maulte Mike. »Schalt die Kiste aus. Wenn du auf Country-Musik stehst, kaufe ich dir morgen früh eine CD. Lass mich schlafen.« Dabei stemmte er sich allerdings, als wolle er sich selbst Lügen strafen, auf die Ellbogen hoch und rieb sich mit der linken Hand den Schlaf aus den Augen. Erst jetzt bemerkte er, dass auch Frank sich im Zimmer aufhielt, ebenfalls umgezo gen und frisch geduscht. Mike war definitiv länger als ein paar Augenblicke weg gewesen. Nun, wenigstens hatte er keinen Albtraum gehabt! »Ich stehe nicht auf Country-Musik, sondern auf Nachrichten«, sagte Stefan, während er immer schneller durch die Kanäle zappte. »Nachrichten?« Mike stemmte sich weiter hoch und unterdrückte ein Gähnen. »Wieso?« »Moab-News«, sagte Stefan grinsend. Wieso war er eigentlich so unverschämt wach? »Ich bin publicity-geil, weißt du?« Mike verstand kein Wort, aber er setzte sich vollends auf, und Frank erklärte: »Vielleicht bringen sie was über den Mord in den Nachrichten.« »Welchen Mord?«, murmelte Mike. Dann erinnerte er sich. »Ach so, den.« Frank maß ihn mit einem schrägen Blick, sparte sich aber
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jeden Kommentar und verschwand in der Küche, um mit einer Kaffeekanne und drei Styropor-Bechern zurückzukommen. Mike wollte automatisch ablehnen - er wollte schlafen, verdammt -, aber dann fiel ihm wieder ein, was man hierzulande unter Kaffee verstand, und griff dankbar zu. Die beiden Quälgeister würden so schnell keine Ruhe geben, und von dem Zeug würde er höchstens noch müder werden. Während er vorsichtig an dem kochend heißen Gebräu nippte, hatte Stefan endlich einen Kanal gefunden, auf dem eine lokale Nachrichtensendung lief, und stellte den Ton lauter. Mike war viel zu müde, um seine bescheidenen Englischkenntnisse zusammenzuklauben, aber Stefan und Frank lauschten mit offensichtlicher Konzentration. Es dauerte eine ganze Weile, bis Stefan schließlich den Fernseher abschaltete und die Fernbedienung auf den Tisch legte. Er wirkte äußerst zufrieden. »Und?« »Nichts«, sagte Stefan. »Kein Wort in den Nachrichten. Weder über den Mord, noch über uns. Ich schätze, wir haben gewonnen.« »Oder sie wollen uns in Sicherheit wiegen, und die Nationa lgarde ist bereits dabei, das Hotel zu umstellen«, murmelte Mike. Er war selbst nicht ganz sicher, ob die Worte so scherzhaft gemeint waren, wie sie klangen. »Kaum«, antwortete Stefan, während er sich einen Kaffee eingoss. »Wenn sie wüssten, wer wir sind, hätten sie uns längst hopsgenommen. Irgendwo draußen in der Wüste, wo keine Unbeteiligten gefährdet wären.« »Wenn du meinst.« Stefan legte den Kopf auf die Seite und maß Mike mit einem Blick, der irgendwo zwischen Verwirrung und purer Feindseligkeit schwankte. »Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte er. »Wir haben gewonnen. Hast du das nicht kapiert, oder gefällt dir dieser Gedanke nicht? Es ist vorbei. Ab sofort sind wir
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wieder ganz normale Touristen. Was machen wir morgen? Fahren wir mit den Bikes durch das Valley, oder mieten wir uns ein paar Pferde?« »Ich hoffe, deine Erleichterung kommt nicht ein wenig verfrüht«, wandte Mike ein. »Ich will ja nicht den penetranten Schwarzseher spielen, aber denkt mal daran, wo wir sind.« »In einem Hotelzimmer«, antwortete Stefan. »Wieso?« »In einem Hotel, in dem ich vor drei Monaten ein Zimmer auf unsere Namen gebucht habe, auch wenn wir erst morgen hier sein sollten«, korrigierte ihn Mike. »Ich hab nämlich nachgedacht, wisst ihr? Euren Optimismus in allen Ehren: Aber jeder auch nur halbwegs begabte Schnüffler wird darauf kommen, hier nach uns zu suchen, wenn wir nicht in unserem für heute gebuchten Quartier am Lake Powell auftauchen. Weil er nämlich nacheinander alle Motels abklappert, die wir auf unserer Liste hatten und die innerhalb einer Tagestour erreic hbar sind!« »Und?« Frank sah ein bisschen betroffen aus, aber Stefan grinste unerschütterlich weiter und meinte: »Du machst einen Denkfehler, Chef. Es können noch so viele Typen wissen, dass wir hier sind, so lange niemand weiß, wer wir sind. Die einzigen Cops, die unsere Personalien haben, sind die, die nach eurem Schaufenster-Härtetest auf der Bildfläche erschienen sind. Aber die haben keinen Hinweis darauf, dass wir mit den drei deutschen Touristen identisch sind, die mit Motorrädern zum Monument Valley wollten.« »Und selbst wenn, macht das keinen Unterschied«, fügte Frank hinzu. »Wir hätten genauso gut auch in die andere Richtung fahren können. Zum Beispiel nach Salt Lake City, wie wir das ja mal ursprünglich vorhatten, bevor uns das Reisebüro doch noch in letzter Sekunde die Bootstour auf dem Lake Powell buchen konnte.« Stefan nickte, und Frank grinste beruhigend in Mikes Richtung. Fast wirkte er ein bisschen zu überzeugt.
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»Es ist vorbei«, sagte Stefan noch einmal. »War ein nettes Abenteuer, aber damit ist es nun auch genug. Morgen früh mutiere ich wieder zu einem dämlichen Touristen, der alles fotografiert, was ihm vor die Linse kommt, zu viel Trinkgeld gibt und sich beim Souvenirkauf bescheißen lässt.« »Das heißt, du benimmst dich wie immer«, meinte Frank. »Mit Ausnahme des Souvenirkaufs, natürlich. Dafür bist du ja viel zu geizig.« Stefan schnitt ihm eine Grimasse, trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Ich gehe ins Bett«, sagte er. »Gute Nacht, ihr Turteltäubchen. Treibt es nicht zu wild - oder seid wenigstens leise.« Frank schickte ihm einen übertrieben gespielt finsteren Blick nach, aber er sagte nichts und machte keine Anstalten, sich ebenfalls zurückzuziehen. Er wartete, bis er das Geräusch der zufallenden Schlafzimmertür hörte, dann nippte er an seinem Kaffee und sagte: »Der Spiegel.« Mike wusste sofort, was er meinte. Trotzdem fragte er: »Was?« »Du hast gesagt: >Ich habe es im Spiegel gesehen.< Das waren deine Worte. Ganz präzise.« »Kann schon sein«, brummte Mike. »Nein, es ist so!«, beharrte Frank. Er schien in Mikes Gesicht zu lesen, dass sein scharfer Ton nicht verfing, denn als er weitersprach, zwang er sich zu einem dünnen Lächeln und klang etwas versöhnlicher. Etwas, nicht viel. »Du bist mir eine Antwort schuldig. Meinst du nicht auch?« »Vermutlich«, räumte Mike ein. »Lass uns morgen darüber reden.« »Wie du willst.« Frank wirkte enttäuscht, versuchte aber nicht noch einmal, Mike zum Reden zu bewegen, sondern stand ebenfalls auf. »Aber bilde dir nur nicht ein, du würdest so einfach davonkommen. Ich bestehe darauf, dass du mir die Geschichte erzählst. Schon aus reiner Neugier.«
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»Dann warte doch einfach ein halbes Jahr«, knurrte Mike, »und du kannst alles nachlesen. Ich schreibe ein Buch darüber.« Frank hatte sich schon halb umgedreht, hielt jedoch noch einmal inne und sah stirnrunzelnd auf Mike hinab. »Weißt du, das ist das Problem mit dir: Manchmal machst du es einem wirklich schwer.« »Was? Mich so richtig lieb zu haben?« »Ja, so ungefähr. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen um dich, weißt du das?« Wieder wartete er etliche Sekunden vergebens auf eine Antwort. Als er weitersprach, war seine Stimme abermals leiser geworden. »Du hast es wirklich gesehen, nicht wahr? Ich meine: Du hast gewusst, was in diesem Laden passiert ist, noch bevor Stefan es erzählt hat.« Mike zermarterte sich vergeblich das Gehirn, um sich an den genauen Wortlaut ihres Gespräches in Moab zu erinnern. Er wusste nicht mehr, wie viel genau er Frank offenbart hatte. Daher konnte er auch nicht abschätzen, ob es sich bei Franks Worten um eine Frage oder eine Feststellung handelte. »Und wenn es so wäre?« »Dann bedeutet das noch lange nicht, dass du von einem tausend Jahre alten indianische n Geist verfolgt wirst«, sagte Frank ruhig. »Das eine hat mit dem anderen rein gar nichts zu tun.« »Du meinst, es ist vollkommen in Ordnung, wenn ich Dinge in einem Spiegel sehe, die sich meilenweit entfernt abspielen?« »Wahrscheinlich hättest du sie auch in einer Fensterscheibe gesehen oder in deinem Kaffeesatz«, antwortete Frank. »Über solche Phänomene sind schon ganze Bü eher geschrieben worden - aber das muss ich dir ja wohl nicht extra erzä hlen, oder?« »Nein«, antwortete Mike. Ein paar dieser Bücher hatte er selbst geschrieben, und Frank hatte ihm bei den Recherchen
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geholfen. Er wusste sehr wohl, was sein Freund meinte. »Hör zu«, sagte er. »Ich bin jetzt wirklich müde und möchte schlafen. Ich mache dir einen Vorschlag: Wir warten ab, was morgen passiert, und wenn nichts passiert, verspreche ich dir, dass ich ein braver Junge sein werde und den Rest des Urlaubs in vollen Zügen genieße.« Frank lächelte, aber es war eigentlich nur ein freudloses Verziehen der Mundwinkel. Mike hatte unabsichtlich etwas angesprochen, was sie vermutlich alle drei bereits ahnten: Ihr Urlaub war vorbei. Das große Abenteuer war ihnen gründlich verdorben, und aus dem Traum begann allmählich ein Albtraum zu werden. Nichts würde daran noch etwas ändern. Mike flehte nur, dass nicht auch noch ihre Freundschaft auf der Strecke blieb. »Und wenn etwas passiert?«, fragte Frank schließlich. »Dann kaufe ich mir eine Packung Zigaretten und übertrage dir ganz offiziell die Leitung des gesamten Unternehmens«, antwortete er. »Ich meine es ernst. Vielleicht hättest du von Anfang an die Führung übernehmen sollen.« »Wir sind im Urlaub, nicht im Manöver«, erinnerte Frank. »Niemand ist hier der Boss.« »Vielleicht wäre das aber besser so.« »Vielleicht«, sagte Frank schulterzuckend. »Aber bestimmt nicht ich. Such dir jemand anderen, dem du die Verantwortung aufhalsen kannst.« Und damit ging er. Mike dachte noch einen Moment vergeblich - darüber nach, was genau er eigentlich gesagt hatte, um Frank derart gründlich zu verstimmen. Dann löschte er das Licht, tastete sich im Dunkeln zur Couch zurück und schlief ein, noch bevor sein Kopf das Kissen berührt hatte. * Diesmal träumte er.
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Und er war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er träumte. Er war wieder in der Höhle, in der er den Schamanen getroffen hatte. Rotes Licht umgab ihn wie eine warme, leuchtende Flüssigkeit. Das Lagerfeuer brannte, und er hörte wieder das regelmäßige Geräusch fallender Steine, ohne genau die Richtung orten zu können, aus der es kam. Der Schamane war verschwunden. Wo er gesessen hatte, war nur noch ein flacher Abdruck in dem pulverigen roten Staub zu erkennen, der den Boden bedeckte. Es war wie eine getreuliche Fortsetzung seines Traumes aus der vergangenen Nacht, nur dass eine der Hauptpersonen fehlte und auch Frank nicht kommen würde, um so lange mit einer Bierdose auf den Nachttisch zu schlagen, bis Mike erwacht war. Warum hatte sich sein Unterbewusstsein die Mühe gemacht, die Kulisse noch einmal so detailliert nachzubauen, wenn die Protagonisten des Stückes fehlten? Vielleicht, weil er selbst diesmal die Hauptperson war? Das ergab noch weniger Sinn. Mike wunderte sich ein wenig, dass er überhaupt in der Lage war, diesen Gedanken zu fassen. Er träumte selten - zumindest erinnerte er sich wie die meisten Menschen selten an seine Träume -, aber er wusste, dass es nicht zur gängigen Dramaturgie eines Traumes gehörte, sich des Umstandes, dass man träumte, bewusst zu sein. War das beim letzten Mal auch so gewesen? Er erinnerte sich nicht. Seltsam - er befand sich inmitten eines Traumes und war sich dieser Tatsache mehr als deutlich bewusst, aber an den beinahe identischen Traum der vergangenen Nacht erinnerte er sich nur unklar ... Vielleicht reichte es, wenn er sich einfach darauf konzentrie rte, aufzuwachen. Er schloss die Augen und versuchte, sich das Hotelzimmer in allen Einzelheiten vorzustellen, doch als er die Augen wieder
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öffnete, stand er noch immer in der Höhle. Gut, dann reichte es eben nicht. Unschlüssig sah er sich um. Das Feuer war bereits sichtbar heruntergebrannt, und die Schatten in der Höhle begannen dunkler zu werden. Die Flammen verzehrten das trockene Holz mit unheimlicher Schnelligkeit. Wenn er noch ein paar Minuten hier herumstand, würde vollkommene Dunkelheit über ihn hereinbrechen, und dann würde dieser sonderbare Traum todlangweilig werden. Bestenfalls. Viel wahrscheinlicher aber gefährlich. Mike drehte sich um und ging wahllos in irgendeine Richtung. Auch als er den Lichtschein des rasch ersterbenden Feuers verließ, wurde es nicht vollkommen dunkel. In der Luft lag ein mattes, dunkelrotes Glühen, das aus keiner bestimmten Quelle zu kommen schien und langsam pulsierte - nicht hell genug, dass man wirklich etwas erkennen konnte, aber ausreichend, um sich zu orientieren und nicht gegen ein Hindernis zu prallen. Langsam, die rechte Hand tastend vorgestreckt, ging Mike weiter. Als er nach einer Weile stehen blieb und sich umdrehte, war das Feuer verschwunden. Entweder hatte er eine größere Distanz zurückgelegt, als vermutet, oder die Flammen waren rascher erloschen, als er geschätzt hatte. Aber welchen Unterschied machte das schon? Dies hier war nicht die Realität, sondern ein Traum, eine komplette Welt, die sein Unterbewusstsein erschaffen hatte, um ihm irgendetwas mitzuteilen. Aber was? Während Mike langsam weiterging, versuchte er seine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Die Höhle war groß und hatte trotz ihrer Weitläufigkeit und der Härte der Wände etwas sonderbar Organisches, fast als befände er sich inmitten eines riesigen steinernen Herzens. Er fragte sich, was Frank zu dieser Umgebung sagen würde. Wahrscheinlich würde er seinem Ruf als Hobbypsychologe gerecht werden und
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irgendetwas von einer unbewussten Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib faseln - die organischen Formen, die Dunkelheit und das rote Licht, das im Takt eines gewaltigen schlagenden Herzens pulsierte. Aber so einfach war es nicht. Mike beschleunigte seine Schritte, so weit es das schwache Licht zuließ. Die rückwärtige Wand der Höhle schien fast im gleichen Tempo vor ihm zurückzuweichen, in der er darauf zuging, aber eben nur fast. Als er sich der Wand bis auf zehn Schritte genähert hatte, erkannte er, dass sie mit primitiven Malereien übersät war. Er konnte sich gut daran erinnern, sie auch beim letzten Mal hier gesehen zu haben. Er trat noch einen Schritt näher und versuchte trotz der Dunkelheit, Einzelheiten auszumachen. Die meisten der Wandmalereien waren einfach: Strichmännchen, die mehr in den Stein gekratzt als hineingemeißelt waren, und viele waren schon fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Sie mussten uralt sein. Es waren ganz eindeutig indianische Felszeichnungen. Man brauchte kein Spezialist für die Kunst der nordamerikanischen Ureinwohner sein, um das zu erkennen - aber man brauchte ebenso wenig ein solcher Spezialist sein, um zu begreifen, dass etwas mit diesen Zeichnungen nicht stimmte. Mike konnte nicht sagen, was, aber etwas an diesen Wandmalereien war ... sonderbar. Sonderbar auf eine Art und Weise, die ganz und gar nicht in Ordnung war. Vielleicht lag es am Ursprung dieser Zeichnungen. Wenn sie Relikte der Anasazi waren - und daran zweifelte er keinen Augenblick -, dann waren sie etwas vollkommen Neues für seine Welt. Denn seines Wissens gab es keine Berichte über Höhlenmalereien dieses alten Indianerstammes. Ja, diese Bilder waren ... beunruhigend. Er hörte ein Geräusch. Metall, das auf Stein klapperte. Dann ein Husten, vielleicht auch ein Lachen. Hastig drehte er sich um. Im ersten Moment sah er nicht mehr als zuvor: rotes Licht,
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das in einigen Schritten Entfernung mit den Schatten verschmolz und aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Mike machte einen vorsichtigen Schritt, blieb stehen und machte einen zweiten. Der dritte wäre um ein Haar sein letzter gewesen; wenigstens der letzte, den er an diesem Tag mit heilen Knochen getan hätte. Er konnte nicht sagen, ob er stolperte und fiel, weil er aufwachte, oder ob er erwachte, weil er gestolpert war. Das Ergebnis blieb das Gleiche: Mike befand sich unvermittelt und mit wild rudernden Armen in einer rasanten Vorwärtsbewegung. Sein rechter Fuß war ins Leere getreten. Da, wo der Höhlenboden sein sollte, war nichts mehr. Mike ruderte immer heftiger mit den Armen, sah die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen schließlich ein und zog instinktiv den Kopf ein. Er wollte sich zusammenrollen, um den erwarteten Aufprall abzufangen, doch es war zu spät. Die Schwärze, die ihm entgegensprang, war zwar nicht der Boden der geträumten Höhle, aber sie war hart wie Stein. Er schlug auf, verspürte einen dumpfen Schmerz, der überall gleichzeitig in seinem Körper zu explodieren schien, und schmeckte Blut, als er sich auf die Zunge biss. Dann war es vorbei. Der Schmerz erlosch so plötzlich, wie er gekommen war. Nur der Blutgeschmack und ein heftiges Brennen auf seinen Handflächen blieben zurück. Mike blieb einen Moment reglos liegen, ehe er vorsichtig den Kopf hob und sich benommen umsah. Im ersten Moment gelang es ihm nicht, sich zu orientieren. Es war dunkel, und er lag auf etwas, das eindeutig zu hart für den Teppichboden des Hotelzimmers war - das war alles, was er mit Sicherheit sagen konnte. Und es war verdammt kalt. Mühsam stemmte er sich auf die Knie hoch, hob die Hände und betrachtete leicht verständnislos seine zerschrammten Handflächen. Er befand sich eindeutig nicht mehr in seinem
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Zimmer. Er befand sich nicht einmal mehr im Bungalow. Nachdem er sich taumelnd ganz in die Höhe gearbeitet und umgesehen hatte, wurde ihm klar, dass er am Fuße der kurzen Treppe lag, die zu ihrem Zimmer im oberen Geschoss hinaufführte. Die Tür an ihrem Ende war nur angelehnt, und dahinter brannte kein Licht. Offensichtlich war er schlafgewandelt. Eine neue Erfahrung. Aber keine besonders angenehme. Mike rieb, Grimassen schneidend, die Handflächen aneinander und hob sie dann wieder vor die Augen. Sie brannten wie Feuer. Er blutete nicht, aber seine Handflächen sahen aus, als hätte er das Handtuch mit einem Stück Schmirgelpapier verwechselt, und auch sein Knie pochte wieder. Dabei hatte er wahrscheinlich noch Glück gehabt. Er hätte sich genauso gut den Hals brechen können. Seit wann, verdammt noch mal, neigte er eigentlich zum Schlafwandeln? Die Antwort lautete: seit er irgendeinem beschissenen indianischen Dämon auf die Füße getreten war, und das, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, womit. »Das ist ein verdammtes Scheiß-Spiel!« Er schrie nicht wirklich, aber er sprach mit lauter, zornerfüllter Stimme, und in der fast vollkommenen Stille, die auf dem Hotelgelände herrschte, war das Ergebnis praktisch dasselbe: Seine Stimme schallte weit über das sanft abfallende Gelände und kam mit einer Verzögerung von fast einer Sekunde als gebrochenes Echo zurück. Niemand reagierte, aber er hatte das unheimliche Gefühl, dass ... irgendetwas ihm lauschte. »Du willst spielen, du verdammter Mistkerl? Dann spiel mit dir selbst! Ich mach nicht mehr mit! Bring mich um, oder lass mich in Ruhe, verdammt!« Wieder bekam er nur das Echo seiner eigenen Stimme als Antwort, und plötzlich kam er sich unglaublich lächerlich vor. Die letzten Worte hatte er tatsächlich geschrien, und diesmal
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war er sicher gehört worden - wenn auch vermutlich nur von ein paar Hotelgästen, die gleich den Manager anrufen und sich über den Verrückten beschweren würden, der mitten in der Nacht dastand und die Berge anschrie. Großer Gott, Frank hatte Recht. Er hatte allen Grund, sich Sorgen um Mikes Geisteszustand zu machen. Verlor er allmählich den Verstand? War das vielleicht die Erklärung? Er lächelte über diesen Gedanken, drehte sich noch einmal im Kreis und sah auch diesmal nicht viel mehr als Schwärze und Schatten. Der Himmel über der Wüste war den ganzen Tag über strahlend blau gewesen, aber nach Einbruch der Dämmerung hatte er sich rasch mit Wolken bezogen, und der Mond war ohnehin kaum mehr als eine fingerbreite Sichel, die kein nennenswertes Licht spendete. Die Dunkelheit war fast vollkommen. Schon der nächste Bungalow - er war keine zwanzig Schritte entfernt - war nur noch ein formloser Schatten, der anfing, sich zu bewegen, wenn man nur lange genug hinsah. Und dasselbe galt für die Motorräder. Die drei Maschinen standen nebeneinander geparkt, keine fünf Meter weit entfernt, aber die Dunkelheit schien sie zu einer einzigen, kompakten Masse verschmolzen zu haben, und die Schwärze dahinter bewegte sich. Und das war keine Einbildung! Sie bewegte sich wirklich! Mike verharrte mitten in der Bewegung und starrte in die Finsternis hinter den drei Motorrädern. Sein Herz klopfte, und seine Hände und Knie begannen erneut zu zittern. Jemand etwas - war dort hinten. Er konnte dieses Etwas nicht wirklich erkennen, aber er sah eine vage Bewegung, als wären die Schatten zu unheimlichem Leben erwacht, und er konnte mit fast körperlicher Intensität spüren, wie ihn unsichtbare Augen belauerten. Allein dieser Gedanke war völlig verrückt. Mike war ziemlich
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sicher, dass er nicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Aber wo war eigentlich der Unterschied, ob man wirklich verrückt war oder sich nur so benahm? Dort hinter den Motorrädern war niemand! Und falls doch, dann hätte er, Mike, so schnell wie möglich Fersengeld geben sollen, sofern er auch nur noch einen Funken Verstand im Schädel hatte. Stattdessen machte er wieder kehrt und ging mit langsamen Schritten auf die Motorräder zu. Sein Herz schlug immer noch so hart und schwer, dass es fast wehtat, aber seine Hände hatten aufgehört zu zittern. »Also gut«, sagte er. »Wer ist da? Ich habe dich gesehen. Komm raus und zeig dich!« Er schrie jetzt nicht mehr und war beinahe selbst überrascht, wie ruhig und selbstsicher seine Stimme klang. »Was willst du von mir? Zeig dich!« Keine Antwort. Das unheimliche Wogen in der Dunkelheit zog sich in gleichem Maße vor ihm zurück, in dem er darauf zuging, aber es war trotzdem irgendwie deutlicher geworden. Mike spürte, dass dort etwas war, das auf seine Worte reagierte. Nein, nicht etwas. Jemand. Er musste aufhören, so zu denken. Nicht etwas, jemand. Dieser Unterschied war wichtig. Für ihn. »Ich weiß nicht, was das Theater soll, aber du kannst damit aufhören. Komm raus und zeig dich, oder verschwinde und lass mich endlich in ...« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Buchstäblich. Das Wort schien zu einem harten Klumpen zu erstarren, der direkt in seiner Kehle saß und ihn am Atmen hinderte. Eine Woge prickelnder Kälte breitete sich, von seinem Nacken ausgehend, über Schultern und Hinterkopfaus, und er konnte spüren, wie seine Augen wortwörtlich aus den Höhlen quollen, während er das entsetzliche ... Etwas anstarrte, das hinter den
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abgestellten Motorrädern in der Dunkelheit Gestalt annahm. Die Formulierung war doch richtig gewesen, dachte er hysterisch. Nicht wer. Was. Es war das Bild. Er hatte es nur für ein oder zwei Sekunden gesehen, aber er erkannte es sofort und jenseits allen Zweifels wieder. Es war das verblichene Schwarz-Weiß-Foto, das an der Wand des Harley-Davidson-Ladens gehangen hatte, nun aber lebensgroß und dreidimensional und in den grauen Schattentönen der Nacht. Es war lebendig geworden und zu grässlicher Bewegung erwacht, mit einigen kleinen, aber entscheidenden Unterschieden. Der Indianer zur Linken war ein alter, aber noch immer aufrecht gehender und sehr starker Mann, der den gewaltigen Federkopfschmuck nicht gebraucht hätte, um königliche Würde auszustrahlen. Der zweite Indianer schien ein wenig jünger als auf dem Bild, hätte aber ansonsten der Sohn des Häuptlings sein können. Beide trugen außer ihrem prachtvollen Kopfschmuck nur lederne Lendenschurze und bestickte Mokassins. Auf ihren Gesichtern und den nackten Oberkörpern prangte eine barbarische Kriegsbemalung. Sie waren mit Steinbeilen und Bögen bewaffnet. In den ledernen Köchern auf ihren Rücken steckte jeweils ein einzelner Pfeil. Wie auf dem Foto stand eine betagte, aber tadellos gepflegte Harley-Davidson Electra Glide zwischen ihnen, in deren Sattel eine zwanzig Jahre jüngere und nicht so schrecklich übergewichtige Version des Harley-Davidson-Verkäufers saß, auf dessen Gesicht das typische, leicht verkrampfte Lächeln lag, das die meisten Menschen im Angesicht einer Kamera zeigten. Darüber hinaus befand sich eine Menge Blut auf seinem Gesicht. Die Kopfhaut des Mannes war entfernt worden, sodass der nackte, blutige Schädelknochen zum Vorschein kam. Der Harley-Mann war skalpiert worden, und
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unter all dem halb eingetrockneten Blut sah sein Gesicht ganz so aus, als hätte jemand auch daran mit einem stumpfen Messer, dafür aber umso größerer Begeisterung herumgeschnitzt. Mike spürte, wie ein hysterisches Lachen in seiner Kehle emporstieg; und er wartete darauf, dass irgendetwas Unvorstellbares geschah, sich der Boden auftat, um ihn zu verschlingen, oder sein Herz einfach aufhörte zu schlagen. Doch er stand einfach nur da, starrte das zu groteskem Leben erwachte Bild an, und sein Herz schlug so ruhig weiter, als wollte es sich über ihn lustig machen. Es ist ein Traum, dachte er hysterisch. Es war immer noch derselbe Traum. Er war nicht schlafgewandelt und dann die Treppe hinuntergefallen, sondern hatte nur geträumt, schlafzuwandeln und dabei auf den Asphalt vor dem Apartmenthaus zu fallen. Das musste die Erklärung sein. Fotografien erwachten nicht zum Leben, nicht einmal solche, die an den Wänden eines unfreundlichen Harley-Davidson-Verkäufers aus Moab hingen. Es war ein Traum. Ein grässlicher, durch und durch Furcht einflößender Traum, aber nichtsdestotrotz nur ein Traum, verdammt, der ihm nichts anhaben konnte! Bist du da so sicher, weißer Mann? Die Lippen des Häuptlings bewegten sich nicht, als er sprach, und sein Gesicht blieb das des alten Indianers von der Fotografie, aber die Stimme in Mikes Kopf war die des Wendigo, eine alte, brüchige Altmännerstimme, erfüllt von einer Bosheit und einem Hass auf alles Lebende und Atmende. Allein der Klang genügte, dass Mike sich zusammenkrümmte wie ein getretener Wurm. Ich habe die Regeln nicht geändert, weißer Mann. Du hast sie nicht verstanden. Aber das wirst du schon noch. Bald. Mike begann leise zu wimmern. Er wollte schreien, doch alles, was über seine Lippen kam, war ein fast komisch klingendes Quietschen. Er zitterte jetzt am ganzen Leib. Wie
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zur Antwort auf sein Wimmern hob der Harley-Mann die rechte Hand und winkte ihm zu. Sie hatte keine Finger mehr, nur vier gleich lange, wie mit einem Laserskalpell abgeschnittene glatte Stümpfe, aus denen schwarzes Blut im hämmernden Takt seines Pulsschlages schoss. Und da war noch etwas. Es war wie ein Sog, hin zu der schrecklichen Kehrseite von allem Lebendigen, allem Guten, allem Schönen auf dieser Welt. Es war ein braunstichiges Bild, das vor ihm flackerte und doch gleichzeitig überall um ihn herum war, ihn im festen Würgegriff umklammerte, ihn einsog in eine Szenerie, die er kannte, kannte, KANNTE ... Mike hätte die Hände vors Gesicht geschlagen, wenn er es vermocht hätte. Aber er war zu keiner Bewegung mehr fähig. Er wusste nur, dass er jetzt tatsächlich die Grenze zum Wahnsinn überschritt, ganz egal, ob die Vision aus ihm selbst aufstieg oder von irgendwo anders herkam, herangeweht durch den Odem von etwas Großem, Mächtigen, gegen das es keinen Widerstand geben konnte. Voll dumpfer Verzweifelung nahm er den Geruch in sich auf, der vom Feuer im Hogan aus ging und von diesem uralten, dumpf im Leerlauf hämmernden Motorrad mit dem grotesk kleinen Tank und dem altmodischen Harley-Schriftzug. Es war nicht mehr länger der Harley-Davidson-Verkäufer, den er sah. Der grobschlächtige Kerl, der jetzt gerade lässig auf die Maschine stieg, musste sein Vater oder sogar sein Großvater sein. Es war der Mann aus dem spinnenwebenverhangenem Bild in dem Geschäft, das vielleicht viele Jahrzehnte dort unbeachtet gehangen hatte, bis es Mike auf sich aufmerksam gemacht hatte, um ihm zu zeigen, wie und wo der Albtraum vor unendlichen Zeiten begonnen hatte ... Es war jetzt nicht mehr länger nur ein Foto. Mike war auch kein Beobachter mehr, nicht im eigentlichen Sinne. Er rutschte ein Stück nach rechts (oder wanderte die Szene nach links?), sodass er den Eingang des Hogans sehen konnte - und den
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Indianerjungen, der dort im Inneren am Feuer hockte und es in Gang hielt. Harley-Davidsons Vorfahre hatte die Maschine mittlerweile gestartet, gewendet und brauste jetzt aus der Szene davon. Mike verstand nicht. Sollte er den Hogan im Auge behalten, weil dort gleich etwas Unvorstellbares geschah? In der nächsten Sekunde begriff er. Der Junge erhob sich, fast lässig, aber auch mit der leicht unkontrollierten Bewegung, wie sie geistig Behinderten zu Eigen ist, drehte sich einmal um die Achse - und blickte ihn direkt an. Sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, und von seinem Kinn tropfte Speichel. Er war es. Der Junge aus dem Van, der ihn bereits bei ihrer ersten zufälligen Begegnung ve rspottet hatte. Der über Mikes weiße Hose mit dem Kaffeefleck gelacht hatte. Aber vielleicht hatte der Junge gar nicht darüber gelacht. Vielleicht hatte sich sein Spott auf etwas ganz anderes bezogen, vielleicht auf genau diesen Moment jetzt. Und vielleicht war es auch nicht wirklich derselbe Junge, sondern nur sein Ebenbild aus einer anderen Epoche. Dann ging alles ganz schnell. Harley-Davidsons Vorfahre brauste von rechts heran, der Junge trat vollends aus dem Hogan, altertümliche Bremsen quietschten, das Kind wurde vom Vorderrad getroffen und durch die Luft geschleudert und schlug erst viele Meter weiter entfernt auf dem harten Boden auf, in merkwürdig verkrümmter Haltung. Mike wusste, dass der Junge im selben Augenblick tot war ... ... tot gewesen war, vor langer, langer Zeit. Gleichzeitig riss der braunstichige Schleier um ihn herum auf, und mit der grauenhaften Unfall-Szenerie wich auch der Geruch verschmorter Bremsbeläge und der im Feuer des Hogans knisternder Zweige und Ingredienzen. Aber damit war es noch lange nicht vorbei. Mike befand sich noch immer genau dort, wo er vorher gewesen war, in diesem
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Traum, der keiner war. Du hast vollkommen Recht, weißer Mann. Das ist kein Traum. Das ist der Anfang und das Ende. Du bist dazu berufen, an dem teilzuhaben, weil du sehen kannst, weil du die alten Kräfte gerufen hast, um ihren Beistand gefleht hast, so viele Male. Mike verstand nicht. Er hatte keine alten Kräfte gerufen, er war nichts weiter als ein Schriftsteller, der sich verrückte Geschichten um durchgeknallte Typen ausdachte ... Du flehst um schuldige Gedanken und willst sie jetzt nicht mehr wahrhaben ? Du reißt immer wieder die Tür zum Wahnsinn auf, Schreiberling, und schreist jetzt doch nach dem, was du Normalität nennst? Die Lippen des Häuptlings verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Mike sah und begriff, dass er wieder in den Sog des Schwarz-Weiß-Fotos gezogen worden war, in der die jüngere und auf schreckliche Weise skalpierte Ausgabe des Harley-Davidson-Verkäufers auf der Electra Glide saß, eingerahmt von den beiden Indianern, auf deren nackten Oberkörpern die barbarische Kriegsbemalung prangte. Er hätte die Hände vor die Augen geschlagen, um diesem Bild zu entkommen, wenn er es vermocht hätte - aber er war gefangen in einer Agonie des Grauens, die ihn dazu verdammte, tatenlos zuzusehen, was vor ihm geschah. Die Harley erwachte grollend zum Leben. Eine rasche, wellenförmige Bewegung lief über die Maschine, als versuche nun auch sie zu furchtbarem, unnatürlichem Leben zu erwachen. Auch das Gesicht des jüngeren Indianers begann sich zu verändern. Es war nun das des Indianers aus dem Van. Er winkte mit etwas, das wie ein alter Lappen aussah, genauso gut aber auch ein blutiger Skalp sein konnte. Mike zitterte immer stärker. Er hatte es aufgegeben, schreien zu wollen. Er konnte auch nicht davonlaufen, konnte sich nicht einmal mehr bewegen, war buchstäblich gelähmt vor Entset-
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zen. Und das Wissen, dass nichts von alledem real war, nutzte ihm gar nichts. Plötzlich begriff er, dass dieser Traum ihn töten würde, wenn es ihm nicht gelang, daraus zu erwachen. Frank und Stefan würden ihn am nächsten Morgen tot auf der Couch finden, einem Herzschlag erlegen, oder bestenfalls als schreiendes Wrack, das den Rest seines Lebens in einer Gummizelle verbrachte, ohne die mindeste Chance, jemals wieder in die Realität zurückzukehren. Doch genau das musste er tun! Er musste aufwachen, ganz egal, wie. Mit einer ungeheuren Willensanstrengung gelang es ihm, die Lähmung abzustreifen und einen Schritt zurückzutaumeln. Das Gesicht des Harley-Mannes flackerte, und für einen Moment schien er mitsamt seiner Maschine zu verblassen wie ein Fernsehbild, aus dem allmählich die Helligkeit wich. Im nächsten Moment wurde das Bild umso realer. Es hatte jetzt Farbe, und Mike roch den süßlichen Blutgeruch, der von der entblößten Schädeldecke des Fettsacks ausging. Verzweifelt warf er sich gegen die unsichtbaren Fesseln, die ihn immer noch hielten, sich aber ganz allmählich zu lockern schienen. Seine Kraft reichte nicht aus. Die Harley rollte langsam auf ihn zu, nur dass es jetzt keine Harley mehr war, überhaupt kein Motorrad, sondern etwas Lebendiges, ein grässliches Ding auf Rädern, mit Zähnen und Krallen und einem schrecklichen roten Auge, das düsterrot und nass schimmerte, als wäre es genau so gehäutet worden wie sein Fahrer. Er musste aufwachen! Jetzt! Mike schrie auf, riss die Hände in die Höhe und schlug sich die geballten Fäuste ins Gesicht. Er spürte, wie seine Unterlippe aufplatzte und Blut aus seiner Nase lief, aber der HarleyMann und der Rest des furchtbaren Bildes flackerten erneut; diesmal stärker. Der Fettsack schüttelte zornig seine verstümmelte Hand, die
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schwarzes Blut in alle Richtungen verspritzte, und der Indianer wedelte mit dem erbeuteten Skalp, sah aber eher erschrocken als drohend aus. Mike schlug sich noch einmal ins Gesicht. Diesmal war der Schmerz so schlimm, dass er fast das Bewusstsein verloren hätte und langsam in die Knie brach. Aber es zeigte seine Wirkung: Als sich die wirbelnden Schleier vor Mikes Augen lichteten, waren der Harley-Mann und der Indianerhäuptling zu kaum noch sichtbaren Schemen verblasst; nur der jüngere Indianer hatte sonderbarerweise noch Substanz, schwenkte jedoch keinen blutigen Skalp mehr in der Hand. Er kam näher, und Mike ballte stöhnend die Faust, um noch einmal zuzuschlagen, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu. Stattdessen sank er nach vorne, stützte sich im letzten Moment mit den Händen ab, um nicht vollends zu Boden zu gehen, und schloss stöhnend die Augen. Alles drehte sich um ihn. Die Schwärze hinter seinen geschlossenen Lidern sperrte die furchtbaren Bilder nicht aus, sondern schien sie im Gegenteil noch zu einer höheren Qualität zu erheben. Mike raffte noch einmal alle verbliebene Kraft zusammen und zwang sich, die Augen zu öffnen. Es war vorbei. Die Dunkelheit vor ihm war Dunkelheit, sonst nichts. Das grässliche Szenarium hatte sich wieder in die Dimensionen des Wahnsinns zurückgezogen, aus denen es emporgestiegen war. Mike hatte gewonnen. Er kniete noch immer auf dem harten Asphalt vor dem Bungalow und spürte den süßlichen Geschmack seines eigenen Blutes, das ihm in den Rachen lief, was bedeutete, dass er immer noch in diesem absurden Traum gefangen war. Aber die Chimären waren verschwunden, und wenn es sein musste, dann würde er eben träumen, dass er aufstand und zurück in sein Zimmer ging. Dieser Gedanke gab ihm die Kraft, sich in die Höhe zu stemmen und umzudrehen. Erschrocken zuckte er zusammen.
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Vielleicht war der Traum doch noch nicht vorbei. Hinter ihm stand der Indianer. Mike fand nicht einmal mehr die Zeit, zurückzuweichen, bevor ihm ein Fausthieb mit solcher Wucht in den Leib gerammt wurde, dass er zusammenbrach und auf der Stelle das Bewusstsein verlor. Dieses Mal erwachte er wirklich, und es war kein leichtes Erwachen, sondern ein langsamer, qualvoller Vorgang, der etwas von dem verzweifelten Kampf eines Ertrinkenden hatte, der sich mit letzter Kraft an die Wasseroberfläche hinaufzuarbeiten versuchte, während an seinen Füßen unsichtbare Zentnergewichte hingen, die im gleichen Maße schwerer zu werden schienen, in dem seine Kraftreserven nachließen. Noch vor einem - subjektiven - Augenblick hätte er sein Leben darum gegeben, endlich aufwachen zu können, aber nun weigerte sich sein Bewusstsein mit aller Macht, aus der gnädigen Dunkelheit zurückzukehren, in die es sich verkrochen hatte. Endlich, nach einem schier endlosen, zähen Kampf und mit einer fast unmenschlichen Kraftanstrengung gelang es ihm, den Kopf auf die Seite zu drehen und die Augen zu öffnen. Er sah trotzdem kaum mehr als zuvor. Es war dunkel, sein Blick war verschleiert, und er hatte hämmernde Kopfschmerzen. Aber das spielte keine große Rolle. Er war wach. Der Traum war vorüber. Er hatte gewonnen. Doch etwas stimmte ganz und gar nicht. Er sollte eigentlich auf der Couc h im Hotelzimmer liegen oder auch auf dem Teppichboden davor, aber er lag noch immer auf hartem Asphalt, und die mit Millionen winziger Lichtpunkte gesprenkelte Decke über ihm war ganz zweifellos der Nachthimmel, nicht das Holzimitat des Hotelzimmers. Und das Gesicht, das sich über ihn beugte, gehörte auch nicht Stefan oder Frank. »Was ... ?«, murmelte er hilflos. Weiter kam er nicht. Mike war weit davon entfernt, wach zu sein, geschweige denn, dass er die Kraft oder auch nur den
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Willen aufgebracht hätte, aufzustehen. Der Indianer nahm ihm die Mühe ab. Er war weder wesentlich größer noch von nennenswert kräftigerer Statur als Mike. Dennoch zog er ihn ohne die mindeste Anstrengung in die Höhe - allerdings nur, um ihm im nächsten Moment einen Stoß zu versetzen, der ihn haltlos zurücktaumeln ließ. Mike wäre sofort wieder gefallen, hätten sich nicht kräftige Arme von hinten um ihn geschlungen und ihn festgehalten. Es lag nichts Freundliches in dieser Berührung. »Verdammt, was soll das?«, fragte Mike. »Wer zum Teufel seid ihr eigentlich?« Als ob er das nicht wüsste! Irgendetwas stimmte nicht mit seiner Sicht. Die tanzenden Schleier vor seinen Augen waren verschwunden, aber er konnte immer noch nicht richtig sehen; aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht, seinen Blick scharf einzustellen, so sehr er sich auch bemühte. Dass es sich jedoch bei seinem Gegner um den Indianer handelte, war unbestreitbar. Mike war nicht einmal überrascht. Ganz egal, was Frank recherchiert und welche logische Erklärung er selbst sich zurechtgelegt haben mochte, tief im Innern hatte Mike immer gewusst, dass es so weit kommen würde. Er hatte den Sohn des Indianers umgebracht - Unfall oder nicht, der Junge war tot -, und jetzt war sein Vater gekommen, um ihm die Rechnung zu präsentieren. Während er sein Gegenüber abschätzend musterte, fragte er sich, wie die Rache des Indianers aussehen würde. Er hatte gesehen, wozu der Mann fähig war, und er hatte große Angst vor dem, was er ihm vielleicht antun mochte, erwog jedoch nicht einmal die Möglichkeit, sich zu wehren. Die Hände, die ihn bisher gehalten hatten, ließen ihn unve rmittelt los. Mike torkelte überrascht einen Schritt zur Seite und prallte gegen etwas Hartes; eine der Maschinen, die vor dem Bungalow abgestellt waren. Instinktiv streckte er die Hand aus
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und hielt sich am Lenker fest, woraufhin die Intruder bedrohlich zu wanken begann. Er ließ hastig los. Der Indianer sagte etwas. Es war kein Englisch, und wenn doch, dann in einem derartigen Slang, dass es einer fremden Sprache gleichkam. Die Worte waren allerdings nicht an Mike gerichtet, sondern galten jemandem, der hinter ihm stand. Eine andere, helle Stimme antwortete im gleichen Dialekt, dann trat eine junge Frau in Mikes Blickfeld, schwarzhaarig und mit dunklem Teint wie der Indianer und diesem so ähnlich, dass sie Geschwister hätten sein können. »Hört mir zu«, begann Mike. »Ich ... ich weiß, was ich euch angetan habe, und es tut mir entsetzlich Leid, aber ...« Der Indianer ohrfeigte ihn. Der Schlag war weder besonders hart, noch tat er besonders weh, aber Mikes ohnehin lädierte Nase begann heftiger zu bluten. Der Indianer wandte sich jetzt eindeutig an ihn. Obwohl er nun eindeutig Englisch sprach, verstand Mike ihn noch immer nicht, und seine Antwort bestand nur in einem fragenden Blick und einem Schulterzucken. Das Ergebnis war eine weitere Ohrfeige, diesmal so hart, dass Mikes Ohren klingelten und er schmerzhaft gegen Stefans Motorrad prallte. »Es tut mir Leid«, sagte Mike, »aber ich verstehe dich nicht.« Vorsichtig hob er die Hand, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, und deutete mit der anderen auf seine Ohren. »I do not widerstand«, sagte er, langsam und betont. »You know?I do not speak English.« Sein Gegenüber sah ihn misstrauisch an und legte den Kopf auf die Seite. Etwas Lauerndes erschien in seinem Blick. Seine rechte Hand glitt in die Jackentasche, und Mikes Herz begann rascher zu pochen, aber der Indianer zog weder ein Skalpiermesser noch irgendein anderes Folterinstrument daraus hervor. Als seine Hand wieder aus der Tasche auftauchte, hielt sie zwei Polaroidfotos, die er Mike reichte. Vorsichtig griff Mike danach und drehte sie im schwachen Dämmerlicht der Nacht so
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lange hin und her, bis er erkennen konnte, was sie zeigten. Auf dem Ersten war er selbst zu sehen, wie er über etwas gebeugt kniete, das wie ein Bündel alter Lumpen aussah. Dahinter waren die verschwommenen Umrisse eines Motorrades zu erkennen, das offensichtlich auf der Seite lag. Die Aufnahme war wohl nachts gemacht worden, denn sie war hoffnungslos unterbelichtet, und die meisten Details ließen sich mehr erahnen als erkennen. Die zweite Aufnahme war deutlich besser, und die harten Schatten und grell heraustretenden Farben deuteten daraufhin, dass sie mit Blitzlicht gemacht worden war. Sie zeigte den toten Jungen. Jemand hatte ihn auf den Rücken gedreht und seine Arme ausgebreitet, damit man die schrecklichen Verletzungen besser erkennen konnte, die ihm die Intruder zugefügt hatte. Mike wurde übel. »Das ... das habe ich nicht gewollt«, stammelte er. »Das müsst ihr mir glauben. Ich ... ich würde alles darum geben, wenn ich es ungeschehen machen könnte, aber das kann ich nicht.« Der Indianer schlug ihn, ohne Vorwarnung und so hart, dass Mikes Knie nachgaben und er schwer gegen das Motorrad stürzte. Die Polaroids entglitten seinen Fingern und fielen zu Boden. Mike rang keuchend nach Luft, zog sich am Sattel der Intruder in die Höhe und hob ängstlich die Hände vors Gesicht, als der Indianer auf ihn zutrat. Er schlug ihn jedoch nicht wieder, sondern ging in die Hocke, um die Polaroids aufzuheben. Das, das den toten Jungen zeigte, hielt er Mike mit einer so herrischen Geste hin, dass Mike einfach danach greifen musste. Das andere behielt er für sich. Die ganze Zeit redete er dabei auf Mike ein, ohne dass dieser auch nur ein Wort verstand. »Was wollt ihr denn von mir?«, stöhnte er. »Ich kann es doch nicht rückgängig machen. Ihr könnt mich umbringen. Ich würde das sogar verstehen, aber das macht euer Kind auch
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nicht wieder lebendig. Bitte! Ich habe auch eine Familie.« Der Ind ianer schlug ihn - zur Abwechslung nicht ins Gesicht. Es war ein kurzer, harter Fausthieb, der Mike direkt unterhalb des Herzens traf und eine Woge von Schmerz in seinem Brustkorb explodieren ließ. Er sank erneut auf die Knie und konnte nur noch mit äußerster Kraft den Brechreiz unterdrücken. Seine Fantasie war mehr als ausreichend, um ihm auszumalen, was Winnetous Urenkel mit ihm anstellen würde, wenn er ihm auf die Schuhe kotzte. Seine Tapferkeit wurde nicht belohnt. Diesmal war es nicht der Indianer, sondern die Frau, die Mike grob in die Höhe zerrte, um auf ihn einzuschlagen. Sie war einen guten Kopf kleiner als Mike und so zierlich gebaut wie ein Kind, aber ihre Hiebe waren so hart wie die eines Mannes. Mike wurde zwei-, dreimal am Kopf getroffen, dann drehte sie ihn grob herum und stieß ihn auf ihren Mann zu, der prompt das Knie in die Höhe riss und es Mike mit solcher Wucht in den Leib rammte, dass dieser abermals zurück und gegen die Intruder stolperte. Diesmal war der Aufprall zu schwer. Die Maschine kippte um und fiel mit einem gewaltigen Scheppern und Krachen auf die Seite. Und Mike stürzte mit wild rudernden Armen auf den Rücken. Sein Hinterkopf schlug mit solcher Wucht gegen irgendein Metallteil des Motorrades, dass ihm schwarz vor Augen wurde; vielleicht verlor er auch für ein oder zwei Sekunden das Bewusstsein. Als sich die schwarzen Schleier vor seinen Augen wieder lichteten, stand der Indianer über ihm und holte aus, um ihm ins Gesicht zu treten. Ein grelles, blendend weißes Licht erfasste den Indianer und ließ ihn zurücktaumeln, als hätte ihn ein Schlag getroffen, und eine Stimme schrie etwas, das Mike nicht verstand. Er konnte hören, wie ein Motor gestartet wurde und zu einem wütenden Brüllen im unverwechselbaren Harley-Davidson-Sound wurde. Der Indianer hob geblendet die Hand vor die Augen. Das
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Licht wurde noch greller, als wären weitere Scheinwerfer eingeschaltet worden. Das Motorengeräusch kam langsam näher, und Mike registrierte aus den Augenwinkeln, wie die Indianerin herumfuhr und davonstürzte. Nur einen Augenblick später folgte ihr auch der Mann. Mike folgte ihm vielleicht noch eine Sekunde lang mit Blicken, dann war er aus dem Lichtkreis des Scheinwerfers verschwunden. Die Harley-Davidson heulte wütend auf. Mike hörte das Geräusch durchdrehender Reifen und glaubte den Geruch von verbranntem Gummi wahrzunehmen. Etwas Riesiges, Chromblitzendes huschte vorbei. Der vereinte Lichtkegel von mehreren voll aufgeblendeten Scheinwerfern tastete hektisch suchend über den Parkplatz und erfasste für eine halbe Sekunde eine schlanke Gestalt mit wehendem schwarzem Haar, bevor diese Haken schlagend wieder in der Dunkelheit verschwand. Mike ließ sich stöhnend zurücksinken. Er sah und hörte, wie oben im Bungalow das Licht anging und irgendjemand zu rufen begann, aber er war nicht in der Lage, darauf zu reagieren. Er kämpfte mit verzweifelter Kraft darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Er durfte auf keinen Fall riskieren, dass er wieder in eine dunkle Traumwelt eintauchte. Mit einer Anstrengung, die schierer Todesangst gleichkam, wälzte er sich herum und rollte ungeschickt von dem gestürzten Motorrad hinunter. Das Grollen der Harley entfernte sich. Dafür flammten jetzt in einigen der anderen Bungalows Lichter auf. Hinter ihm polterten Schritte die Treppe hinunter, und er hörte, wie Frank seinen Namen schrie. Ohne darauf zu reagieren stemmte er sich auf Hände und Knie hoch und kroch einige Schritte weit in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Alles drehte sich um ihn, und sein Gesichtsfeld schien im Takt seines Herzschlages zusammenzuschrumpfen und sich wieder auszudehnen. Er spürte ganz deutlich, dass er kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren, und jeder Zentimeter, den er sich weiter quälte, brachte ihn der Ohnmacht näher.
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Frank hatte mittlerweile das Ende der Treppe erreicht und rannte auf ihn zu, dichtauf gefolgt von Stefan, der allerdings die Richtung ansteuerte, in die die beiden Indianer und der Harley-Fahrer verschwunden waren. Gut. Das brachte ihm vielleicht noch zwei oder drei Sekunden. Nur einen Herzschlag bevor Frank ihn erreichte, schloss sich seine Hand um das Polaroid, das er fallen gelassen hatte. »Mike, um Gottes willen, was ist denn los? Was ist passiert? Bist du okay?« Frank ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und drehte ihn so unsanft herum, dass Mike schon wieder vor Schmerz aufstöhnte. »Was ist passiert? Jetzt red doch endlich!« »Das würde ich ja gerne, wenn du mich ... zu Wort kommen lassen würdest«, stammelte Mike. Es bereitete ihm Mühe zu sprechen, und der Parkplatz schien sich noch immer um ihn zu drehen. Aber die Dunkelheit zog sich aus seinen Gedanken zurück. Er war jetzt nicht mehr in Gefahr, das Bewusstsein zu verlieren. Stefan kam zurück. Er war aufgelöst und so außer Atem, als wäre er kilometerweit gelaufen, nicht nur ein paar Schritte. »Der Kerl ist weg!«, sagte er wütend. »Aber ich habe ihn erkannt. Es war der Typ aus dem Laden.« »Bist du ganz sicher?«, fragte Frank. »Hundertprozentig!«, antwortete Stefan. »Die Hose würde ich unter hunderttausend anderen wiedererkennen. So etwas wird heute nicht mehr - oh, verdammt, was ist denn mit dir passiert?« Seine Augen weiteten sich erschrocken, als er Mikes Gesicht sah. Offenbar hatte er bisher noch gar nicht mitbekommen, in was für einem jämmerlichen Zustand Mike sich befand. »Ist schon in Ordnung«, nuschelte Mike. Seine Unterlippe begann anzuschwellen, sodass ihm das Sprechen in zunehme ndem Maße Mühe bereitete. Trotzdem fuhr er fort: »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
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»Es sieht ziemlich schlimm aus«, sagte Stefan besorgt. »Wer war dieser Kerl?« Mike gewann ein paar Sekunden, indem er die Hand ausstreckte und sich von Frank auf die Beine helfen ließ. Ihm war noch immer leicht schwindelig, aber er fühlte sich tatsächlich besser, als er erwartet hatte. Was ganz und gar nicht bedeutete, dass er sich gut fühlte. »Geht es?«, fragte Frank besorgt. »Kannst du stehen?« »Halb so wild«, murmelte Mike. Er fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht, um das Blut wegzuwischen, machte es damit aber wahrscheinlich eher noch schlimmer. »Also?«, drängte Stefan. »Was ist los? Hat dieser Kerl dich niedergeschlagen?« »Keine Ahnung«, antwortete Mike. Mittlerweile waren in fast allen Apartments rund um den Parkplatz Lichter angegangen, und zwei oder drei Hotelgäste waren aus den Türen getreten. Die Übrigen standen vermutlich vollzählig versammelt hinter den Fenstern. Mike würde sich nicht wundern, wenn bereits die ersten Videokameras liefen, um die Szene für die Lieben daheim festzuhalten. »Du wirst zusammengeschlagen und hast keine Ahnung, von wem?«, fragte Stefan. »Wem willst du das erzählen?« »Dir«, erwiderte Mike. »Verdammt, genauso war es. Ich bin rausgegangen, weil ich ein Geräusch gehört habe. Ich dachte, jemand macht sich vielleicht an unseren Maschinen zu scha ffen.« »Und?« »Nichts, und.« Mike betastete mit spitzen Fingern seine aufgeplatzte Unterlippe. »Kaum war ich draußen, habe ich eins auf die Nase bekommen, und danach gingen die Lichter aus. Das ist alles.« »Einfach so? Er hat nichts gesagt oder von dir verlangt?« Stefan klang nicht überze ugt, aber Frank kam Mike zuvor. »Vielleicht besprechen wir das drinnen«, sagte er. »Mittle r-
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weile sind wir nämlich die Attraktion des Tages.« Stefan sah sich rasch um und nickte. »Meinetwegen. Geht schon mal vor. Ich kümmere mich nur noch um meine Maschine.« Sein Gesicht verfinsterte sich, als er auf die gestürzte Intruder hinabsah. »Verdammte Schweinerei! Ich breche dem Kerl alle Knochen, wenn ich ihn in die Finger bekomme!« Er ließ sich in die Hocke sinken und griff nach dem Lenker. Frank fragte: »Soll ich dir helfen?« »Ich komme schon klar«, ächzte er. »Kümmere du dich um Mike. Ehrlich, ich breche dem Misthund jeden Knochen einzeln, wenn ich ihn kriege, das schwöre ich!« Frank sah stirnrunzelnd auf ihn hinab, beließ es aber bei einem stummen Achselzucken und wandte sich zur Treppe um. Er wartete, bis Mike losgehumpelt war, und folgte ihm dann in dichtem Abstand; vielleicht, um ihn aufzufangen, sollten ihn auf der Treppe die Kräfte verlassen. Seine Vorsicht war jedoch überflüssig. Langsam, aber aus eigener Kraft, stieg Mike die hölzernen Stufen empor und öffnete die Tür. Sie hatten das Apartment kaum betreten, als Frank fragte: »Also, was war wirklich los?« »Bin ich ein so miserabler Lugner?«, fragte Mike. Seine Knie zitterten plötzlich so stark, dass er sich gegen den Türrahmen lehnen musste. »Der Miserabelste, den ich kenne«, antwortete Frank. »Also?« »Es war nicht dieser Motorrad-Typ«, sagte Mike. »Du hast also gesehen, wer dich angegriffen hat?« Mike nickte. »Der Indianer.« »Welcher Indianer?« Frank kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Der aus dem Van«, antwortete Mike. »Er und seine Frau.« Frank runzelte die Stirn. »Ich dachte, das Thema hätten wir endgültig ...« »Sie haben mir etwas dagelassen«, unterbrach ihn Mike. Er
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griff in die Tasche, zog das Polaroidfoto heraus und hielt es Frank hin. Frank griff danach, drehte es herum und sog ächzend die Luft ein. »Was ist denn das?« »Wonach sieht es denn aus?«, murmelte Mike. »Nach einer unterbelichteten, verwackelten Polaroidaufnahme - oder nach schlampiger Recherchearbeit?« Frank sah verstört zu ihm hoch, sagte aber nichts, sondern vertiefte sich sofort ins Bild. »Aber ich schwöre dir, niemand hat...« »Schon gut«, unterbrach ihn Mike. Seine eigenen Worte taten ihm schon wieder Leid. »Entschuldige. Das war nicht fair.« Er wartete vergebens auf eine Antwort, stieß sich vorsichtig vom Türrahmen ab und wankte in Richtung Badezimmer. »Entschuldige mich einen Moment. Ich muss mir die Nase pudern.« Es dauerte deutlich länger als einen Moment. Mike wusch sich das Blut aus dem Gesicht, zog das Hemd aus und tastete mit spitzen Fingern seinen Oberkörper ab. Es tat ziemlich weh, aber soweit er das beurteilen konnte, schienen alle seinen Rippen noch intakt zu sein. Auch sein Gesicht sah nicht so schlimm aus, wie er befürchtet hatte. Spätestens morgen früh würde es wahrscheinlich ein einziger blauer Fleck sein, aber der Indianer hatte anscheinend Wert darauf gelegt, ihn nicht wirklich zu verletzen, sondern ihm nur Schmerzen zuzufügen. Das allerdings war ihm gründlich gelungen. Wahrscheinlich würde er für den Rest des Urlaubs nicht einmal essen können, ohne vor Schmerzen aufzujaulen. Er wusch sich noch einmal gründlich das Gesicht, trocknete sich mit dem Hemd ab und warf es anschließend achtlos zu Boden. Frank saß auf der Couch und starrte noch immer das Foto an, als Mike ins Wohnzimmer zurückkam. Er war sehr blass. Als
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Mike eintrat, sah er kurz auf, doch sein Blick schien direkt durch ihn hindurchzugehen. »Hör mal«, begann Mike ungeschickt. »Was ich gerade gesagt habe, tut mir Leid. Es war nicht ...« »Aber du hattest völlig Recht«, unterbrach ihn Frank. Seine Stimme klang belegt. »Ich habe nicht besonders gut recherchiert. Allerdings habe ich eine Entschuldigung. Ich glaube, dass wirklich niemand von dem toten Jungen weiß. Jedenfalls noch nicht.« »Wie meinst du das?«, fragte Mike. Frank lächelte humorlos und drehte das Bild herum. »Hast du das gelesen?« Das hatte Mike nicht. Zögernd ging er zu Frank hin, nahm das Bild und versuchte den Text zu entziffern, der in einer krakeligen Kleinkinderschrift auf die Rückseite gekritzelt war. »Fünfzigtausend Dollar ...?« »... oder die Bilder gehen an die Polizei«, beendete Frank den Satz. »Ganz recht. Wenigstens sinngemäß. Alles konnte ich auch nicht entziffern. Es gehört jedoch nicht viel Fantasie dazu, es sich zusammenzureimen.« »Fünfzigtausend Dollar?«, wiederholte Mike verständnislos. »Geld? Sie ... sie verlangen Geld?« »Mit Glasperlen werden sie sich nicht zufrieden geben«, sagte Frank. »Der Trick hat schon bei ihren Urahnen nicht immer funktioniert.« »Aber ... aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!« Mike starrte noch immer auf den gekritzelten Text. »Ich meine, ich ... ich habe das Kind dieser Leute umgebracht, und sie ... sie wollen Geld?« »Ein reizendes Pärchen, nicht wahr?«, fragte Frank. »Tut mir Leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.« »Das ... das ist unmöglich!«, beharrte Mike. »Als ich sie gerade unten gesehen habe, da war ich felsenfest davon überzeugt, dass sie mich umbringen würden!«
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»Ich schätze, sie wollten nur sichergehen, dass du sie ernst nimmst. Vielleicht macht es ihnen auch einfach nur Spaß, Leute zusammenzuschlagen. Reizende Freunde hast du dir da angelacht.« Er ballte die Faust. »Die beiden sind keine gramgebeugten Eltern, sondern bloß miese kleine Erpresser. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn sie dir den Jungen vor die Maschine gestoßen hätten.« Mike hörte kaum hin. Geld? Sie wollten einfach nur Geld von ihm? »Und wenn wir zur Polizei gehen?«, fragte er. »Ich meine, das hier ist doch immerhin ein Beweis.« »Ein Beweis wofür?« Frank schüttelte den Kopf. »Dieses Gekritzel beweist gar nichts. Und selbst wenn - es würde dir nicht viel nützen, wenn dein rothäutiger Freund zusammen mit dir ins Gefängnis wandern würde. Ich fürchte, wir haben ein Problem.« »Ich habe ein Problem«, sagte Mike betont. »Du und Stefan habt gar nichts damit zu tun. Ich will euch nicht noch weiter in die Sache hineinziehen.« »Das hatten wir schon mal«, sagte Frank ruhig. »Wir stecken schon mittendrin, und zwar bis zum Hals.« »Aber warum so wenig?«, fragte Mike verständnislos. »Wenig? Fünfzigtausend Dollar nenne ich nicht gerade wenig.« »Wenn die Alternative fünfzehn Jahre Gefängnis bedeutet, schon«, antwortete Mike. »Sie könnten das Fünffache verla ngen, oder auch das Zehnfache.« »Und du könntest es dir leisten«, sagte Frank. »Aber das wissen die beiden nicht. Im Grunde ist diese Summe sehr clever. Sie wissen, dass wir Touristen sind und wahrscheinlich nicht ganz arm. Fünfzigtausend sind verflucht viel Geld, aber auch genau die Summe, bei der man zu überlegen anfängt, ob man sie nicht lieber bezahlt und sich damit Ärger erspart, der einen ansonsten komplett ruinieren könnte. Genau die Summe,
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die drei Typen mit einem Spleen für einen Luxusurlaub irgendwie zusammenkratzen können, wenn es wirklich sein muss.« Das klang logisch - und trotzdem weigerte sich Mike noch immer, es zu glauben. Erpresser? Die beiden Indianer, vielleicht. Aber der Wendigo? Das war absurd. »Und wenn ich einfach bezahle?«, fragte er. »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Frank. »Aber du hast natürlich keine Garantie, dass ...« Die Tür wurde aufgestoßen, und Stefan stolperte ins Zimmer. Er war so bleich wie die sprichwörtliche Wand und trug die Satteltaschen seiner Intruder über der Schulter. Mike steckte das Foto so hastig ein, dass Stefan allein schon durch die hektische Bewegung hätte misstrauisch werden müssen. Aber er schien es gar nicht zu bemerken. Ohne die Tür zu schließen, ihn oder Frank eines Blickes zu würdigen oder auch nur ein einziges Wort zu sagen, torkelte er zur Couc h, ließ sich schwer darauf niederfallen und streifte die Packtaschen von der Schulter. Seine Hände zitterten leicht. »Was ist los mit dir?«, fragte Frank alarmiert. Stefan reagierte nicht. Sein Blick ging noch immer ins Leere, und seine Hände zitterten jetzt heftiger. »Ist der Kerl zurückgekommen?« Frank wartete die Antwort nicht ab, sondern stand auf und eilte mit wenigen schnellen Schritten zur Tür, um auf den Parkplatz hinunterzusehen. Mike gesellte sich zu ihm. Weder der Harley-DavidsonFahrer noch die beiden Indianer waren zurückgekehrt, und auch die meisten Lichter in den umliegenden Bungalows waren wieder erloschen, sodass der Parkplatz in fast vollkommener Dunkelheit dalag. Er konnte erkennen, dass Stefan die Maschine wieder aufgerichtet hatte, aber das war auch schon alles. Frank schloss die Tür und drehte sich zu Stefan um. »Verdammt, mach endlich den Mund auf!«, sagte er. »Was ist passiert? Du siehst aus, als wäre dir der Leibhaftige persönlich
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begegnet!« »Links«, sagte Stefan. Seine Stimme war so leer wie sein Blick und so leise, dass man die Worte kaum verstand. »In der linken Tasche.« Frank tauschte einen verständnislosen Blick mit Mike, hob die Schultern und machte zwei schnelle Schritte, um sich nach den Satteltaschen zu bücken. Er war so nervös, dass er zwei Versuche brauchte, um die ledernen Schnallen aufzubekommen. Hastig klappte er den Deckel hoch ... ... und erstarrte. »Großer Gott!«, keuchte er. Mike trat neben ihn, und obwohl er im Grunde schon fast geahnt hatte, was er sehen würde, lief ihm dennoch ein eisiger Schauer des Entsetzens über den Rücken. Auf den ersten Blick hätte es ein achtlos zusammengeknüllter, fleckiggrauer Putzlappen sein können, der da in der Satteltasche lag. Aber das war es nicht. Das war es ganz und gar nicht! Es war ein menschlicher Skalp.
Ende des dritten Tages. Fortsetzung folgt
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14803 1. Auflage: Dezember 2002 Vollständige Taschenbuchausgabe Deutsche Erstausgabe © 2002 by Verlagsgruppe Lübbe, Bergisch Gladbach Lektorat: Stefan Bauer Titelfoto: Rene Durant Umschlaggestaltung: Van De Schans GmbH, Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck, Berlin
Printed in Germany ISBN 3-404-14803-7 3
Vierter Tag
Die Luft über der sepiafarbenen Wüste flimmerte vor Hitze. Trotzdem war es kalt. Hier oben - vierzig oder fünfzig Meter über dem zerfurchten und mit Steintrümmern und Geröll bedeckten Boden - war der Wind schneidend, zugleich aber auch so trocken, dass er einem das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Körper zu saugen schien. Weit im Westen, schon fast hinter der Krümmung des Horizonts, bewegte sich etwas mit derart hoher Geschwindigkeit, dass die dadurch erzeugte gewaltige Staubwolke trotz der enormen Entfernung noch mit bloßem Auge zu erkennen war. Es war zu schnell für eine der großen Büffelherden, die sich ohnehin nie so weit in die Wüste vorwagten und eher die saftigen Prärien des Ostens bevorzugten. Und es war auch ganz und gar untypisch für einen Reitertrupp. Vielleicht ein Staubsturm, vielleicht böse Geister, die gekommen waren, um ihre grausamen Spiele mit Mensch und Tier zu spielen. Der einsame Mann am Rande der Felsklippe erschauderte. Der Wind wurde zu einer Bö, die sich heulend an der scharfen, wie mit einem Messer gezogenen Kante vor seinen Füßen brach. Obwohl er einen hinlänglichen Abstand eingehalten hatte, um nicht dem Sog der Tiefe zu erliegen, wich er einen weiteren Schritt zurück. Als er sich umdrehte und den Blick seiner müde gewordenen Augen über das fast perfekte Rund der Mesa wandern ließ, gewahrte er nur roten Stein, der von tiefen Spalten und Rissen durchzogen war; Spuren des unbarmherzigen Wechsels zwischen grausamer Nachtkälte und unbarmherziger Sonne nglut, die den porösen Sandstein bersten ließ. Die einzige Bewegung kam von winzigen Staubteufeln, die der Wind ebenso schnell wieder zerriss, wie er sie erschaffen hatte. Dennoch war der Mann nicht alleine.
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Etwas war hier; etwas Unsichtbares und Böses, das ihn belauerte und anstarrte und das so uralt und unbarmherzig wie dieses Land selbst war. Es wartete; vielleicht darauf, dass er einen Fehler machte, vie lleicht darauf, dass bereits gemachte Fehler endlich ihre grausamen Früchte trugen. Er wusste sogar, was dieses Etwas war. Es war das Ding aus dem Hogan, der Wendigo, jener, Der Mit Dem Wind geht und den er in dem beengten indianischen Zeremonienbau herausgefordert hatte - nur aus einer Laune und dem kindischen Bedürfnis heraus, sich vor seinen Freunden aufzuspielen. Was danach passiert war, hatte den Rahmen alles Vorstellbaren gesprengt. Es hatte bereits in Phoenix begonnen, direkt nach ihrer Ankunft in dem Motel, von dem aus ihre Motorradtour durch Arizona, Utah und Nevada starten sollte. Die Indianerfamilie mit dem merkwürdigen, wie geistig behindert wirkenden Kind, das sich über seine weiße Hose mit dem Kaffeefleck lustig gemacht hatte, war ihm, Mike, und seinen beiden Freunden Frank und Stefan seitdem gefolgt - und ihre ganze Tour war durcheinander geraten. Zuerst war sie nur durch mehrere kleinere Vorfälle überschattet worden, bevor sie sich dann gleich am ersten Abend in der Nähe des Grand Canyon zu einem wahren Albtraum gewandelt hatte. Nachdem sie ein noch nicht eröffnetes Touristenzentrum mit dem unheimlichen Hogan besucht hatten, war Mike voller Panik und schlechter Vorahnungen mit seiner Intruder Stefan und Frank hinterhe rgebraust, die ein Stück vorgefahren waren als ihm plötzlich dieses geistig zurückgebliebene Indianerkind vor die Maschine gesprungen war. Er war wie verrückt in die Bremse gestiegen, aber er hatte keine Chance gehabt. Das Vorderrad hatte den Jungen erfasst und ein Stück weit durch die Luft geschleudert, bis er schließlich auf dem Boden aufgeschlagen und von dem Motorrad überrollt worden war. Er war sofort tot gewesen. Unter dem Eindruck des ersten
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Schocks hatte Mike seinen Freunden nur den Sturz gebeichtet, nicht aber den eigentlichen Grund dafür. Von Anfang an hatte er gewusst, dass er nichts Schlimmeres und Dümmeres tun konnte - aber da war ein innerer Zwang in ihm, der ihn seitdem unerbittlich vorwärts trieb, als habe er es auf seine eigene Vernichtung abgesehen. Nun, vielleicht hatte er das ja auch! Mike starrte hinaus in die Unendlichkeit der nur von riesigen Monolithen und bizarren Felsformationen unterbrochenen Landschaft aus porösem Sandstein, die es schon gegeben hatte, als die Anasazi ihre beeindruckenden Wohn- und Kultbauten in die zerklüftete Landschaft gesetzt hatten; aber er fand auch hier keine Antwort auf die Frage, was dort draußen auf ihn lauern mochte. Vielleicht war es schon immer da gewesen, schon bevor die ersten Menschen hier gesiedelt hatten, vielleicht hatten es aber auch die ersten Indianer mitgebracht. Spielte das eine Rolle? Was ihn vielmehr beunruhigte, war die Tatsache, dass er anfing, die Kontrolle über sich und seine Handlungen zu verlieren. Sein Entschluss, sämtliche Planunge n über den Haufen zu werfen, sich durch einen Trick der Hotelgutscheine zu entledigen und direkt vom Grand Canyon aus nach Moab zu fahren, um damit von einem Staat in den anderen zu wechseln und so der möglichen Verfolgung durch die Cops zu entgehen - war das wirklich sein eigener freier Entschluss gewesen? Oder verdankte er diese »Eingebung« nicht vielmehr der Manipulation des Wendigo, der jetzt dort draußen geduldig auf ihn wartete, um ihn erneut zu narren? - Manchmal spielt er So wie im Harley-Shop in Moab. Stefans Versuch, ausgerechnet dort Suzuki- Ersatzteile zu erwerben, war natürlich fehlgeschlagen, aber Mike hatte in dem Laden etwas anderes entdeckt: eine kleine private Indianerausstellung, die sich so selbstverständlich in das Motorradzubehör einpasste, als würde beides unweigerlich zusammengehören.
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Ein Zufall? Vielleicht. Nicht jedoch, was danach geschehen war: Der Besitzer des Shops war brutal abgeschlachtet - und skalpiert! - worden. Seitdem waren auch Frank und Stefan in heller Panik, denn nach dem ersten Entsetzen über die unfassbare Bluttat fürchteten sie wie er, dass die Cops ihnen die Tat in die Schuhe schieben könnten. Schließlich hatten sie den Laden im Streit verlassen, und dafür gab es Zeugen. Und dennoch: Vielleicht waren die beiden Fotos, die Mike im Laden inmitten zahlloser indianischer Waffen, Kult-, und Alltagsgegenstände gefunden hatte, der Schlüssel zu allem. Er hatte nicht vergessen, was sie zeigten und was er später in diesem Traum, dieser Vision, die ihm der Wendigo geschickt hatte, noch einmal gesehen hatte ... Der grobschlächtige Kerl, der lässig auf die uralte Harley stieg, sah dem ermordeten Harley-Davidson-Verkäufer geradezu gespenstisch ähnlich; wahrscheinlich war es sein Vater, vielleicht sogar sein Großvater. Mit seiner altertümlichen Maschine brauste er auf den Hogan zu - und auf den Jungen, der gerade aus dem zeremoniellen Bau trat. Bremsen quietschten, das Kind wurde vom Vorderrad getroffen und durch die Luft geschleudert und schlug erst viele Meter weiter entfernt auf dem harten Boden auf, in merkwürdig ver-krümmter Haltung. Mike wusste, dass es im selben Augenblick tot war ... ... tot gewesen war, vor unvorstellbar langer Zeit. So tot wie der Junge, den er selbst überfahren hatte. Es konnte gar nicht anders sein, es musste einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen und dem Mord an dem Ladenbesitzer geben, aber sosehr sich Mike auch den Kopf zermarterte - außer wilden Spekulationen kam nichts dabei heraus. Wann würde der Wendigo des Spiels überdrüssig werden? Sein Moment, zuzuschlagen, schien noch nicht gekommen. Manchmal spielt er ... aber er würde kommen! Vielleicht
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morgen, vielleicht in einer Stunde, vielleicht auch erst in drei Tagen, aber er würde kommen. »Und was sagst du dazu?« Stefans Stimme riss Mike aus seinen düsteren Gedanken. Mike blinzelte und drehte sich mit leicht schuldbewusstem Gesichtsausdruck ganz zu Stefan um. Ein leicht nörgelnder Unterton hatte in seiner Stimme gelegen. Und das war nicht verwunderlich, schließlich hatte er Stefan erst als Letztes in die Sache mit dem toten Indianerjungen eingeweiht - gestern Nacht, um genau zu sein -, während er Frank schon früher alles erzählt hatte. »Wie bitte?«, fragte er. Stefan verdrehte die Augen, und Frank sagte: »Ich bin dafür, ganz normal weiterzumachen und erst am Nachmittag weiterzufahren, genau wie wir es geplant hatten. Stefan würde lieber sofort aufbrechen. Und du?« Während Mike Frank zuhörte, verwandelte sich die Welt rings um ihn herum wieder in das, was sie immer gewesen war: ein typisch amerikanisches Fast-Food-Restaurant mit billigen Plastikstühlen, rot-weiß gemusterten Wachstuch-Tischdecken und einer lange Resopal-Theke, auf der das Selbstbedienungsbüfett aufgebaut war. Trotz der noch frühen Stunde - es war noch nicht einmal sieben - waren sämtliche Tische vor dem riesigen Panoramafenster besetzt, und aus dem Heulen des Geistersturmes war das monotone Raunen und Geschirrklappern eines gut gefüllten und viel zu großen Speiselokals geworden. »Warum muss ich entscheiden?«, fragte er, im Grunde nur, um Zeit zu gewinnen. »Ich meine, ich bin hier nicht der Boss, oder?« »Aber du bist der Dritte im Bunde.« Frank nippte an seinem Orangensaft - ein Anblick, der Mike einen leisen Schauer über den Rücken laufen ließ (wie konnte man nur so früh am Tag scho n so entsetzlich gesund leben?) und fuhr mit einem ange deuteten Grinsen fort: »Wir stimmen
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das ganz demokratisch ab.« Mike antwortete auch jetzt nicht sofort, sondern ließ seinen Blick rasch, aber sehr aufmerksam über die Frühstücksgäste gleiten. Der riesige, kantinenähnliche Saal war zu mehr als drei Vierteln gefüllt, und das Publikum entsprach genauso wenig seinem Geschmack wie dieses ganze Etablissement: aufgetakelte Matronen mit strassbesetzten Brillen und einem Zentimeter dicker Schminke im Gesicht sowie Männer mit Cowboystiefeln und Stetsons, deren bunt gemusterte Hemden sich über mühsam zugelegten Schmerbäuchen spannten. Das Durchschnittsalter hier drinnen musste mindestens sechzig Jahre betragen, und Mike meinte, unter dem allgegenwärtigen Kaffee- und Pommes Frites-Aroma einen dezenten, aber irgendwie aufdringlichen süßlichen Geruch wahrzune hmen; jene Art von unangenehmem Geruch, den man manchmal trotz aller Hygiene- und Desinfektionsbemühungen in Altersheimen und speziellen Kurkliniken findet. Ihn schauderte. »Kann es sein, dass du uns gar nicht zuhörst?«, fragte Stefan. »Doch«, antwortete Mike - was ihn nicht daran hinderte, sich weiter aufmerksam umzusehen. Er hatte keine Probleme mit alten Menschen - immerhin war er der Fünfzig mittlerweile näher als der Vierzig -, aber die drei Freunde fielen in dieser Gesellschaft auf wie die berühmten bunten Hunde. Andererseits fühlte er sich auf eine fast absurde Art sicher. Ein dreißigjähriger Indianer mit schulterlangem schwarzen Haar und einem rasiermesserscharfen Skalpiermesser im Gürtel hätte es schwer gehabt, sich hier unauffällig unters Publikum zu mischen. »Aber ich weiß es selbst nicht genau. Ich meine: Frank hat schon Recht. Jetzt die Nerven zu verlieren und in Panik auszubrechen, wäre das Dümmste, was wir tun könnten. Andererseits weiß ich nicht, ob ich den Nerv habe, einfach so zu tun, als wäre gar nichts passiert. Es ist ja mittlerweile nicht mehr nur der Unfall am Grand Canyon.«
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»Ich glaube kaum, dass ...«, begann Stefan. »Ich«, mischte sich Frank ein, zwar keinen Deut lauter, aber in so scharfem Ton, dass Stefan verdutzt abbrach und ihn beinahe erschrocken ansah, »schlage vor, dass wir diese Diskussion draußen führen. Ich meine, wir können natürlich auch gleich einen Reporter von CNN kommen lassen oder den County-Sheriff einladen, wenn euch das lieber ist.« Wenn Frank tatsächlich befürchtete, dass jemand mithörte, dachte Mike (eine Sorge, die allerdings nicht ganz unbegründet war. Die Geriatrie-Liga an den Nebentischen warf ihnen schon die ganze Zeit über misstrauische und abschätzende Blicke zu, und Deutsch war schließlich in den USA keine ausgesprochen exotische Sprache), dann hätte er zumindest nicht das Wort »County-Sheriff« gebrauchen sollen. Dennoch nickte Mike und stand auf. Stefan zog eine Grimasse, die sich nicht genau deuten ließ, erhob sich aber ebenfalls, und gemeinsam wandten sie sich dem Ausgang zu. Auf dem Weg dorthin kamen sie an der überlangen Selbstbedienungs-Theke vorbei, an der sich jeder nach Belieben gütlich tun konnte, der seinen Zehn-Dollar-Obolus beim Eintritt in diese mit Plastik und nachgeahmtem Holz eingerichtete Geschmacklosigkeit entrichtet hatte. Als sie hereingekommen waren, hatten zwei junge Frauen dort Dienst getan und eifrig darüber gewacht, dass die unter einer langen Kette von Wärmelampen aufgereihten Chromschalen mit Essen niemals so leer wurden, dass man den Boden sehen konnte. Jetzt stand dort eine junge Frau und ein sehr junger Indianer. Fast noch ein Kind, nicht annähernd alt genug, um ein Skalpiermesser aus dem Gürtel zu ziehen oder gar seine Schwester oder seine Frau zu rufen, damit sie ihn, Mike, halb totprügeln konnten. Aber es war eindeutig ein Indianer, und das allein reichte, um Mike für einen Moment im Schritt innehalten zu lassen und ihn anzustarren. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, denn im
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gleichen Moment ... ... begann das Gesicht des Indianers zu zerfließen. Der Anblick war so bizarr, dass Mike im allerersten Augenblick nicht einmal Angst verspürte. Die Züge des Jungen schienen jeden Halt zu verlieren, als hätten die Muskeln und Sehnen mit einem Male nicht mehr die Kraft, die dünne Schicht aus Fleisch und Haut in Form zu halten. Die Mundwinkel zogen sich zu einem traurigen Clownsgesicht hinab, die Wangen erschlafften, und die Augen bekamen dunkle, faltige Säcke. Der Junge alterte vor Mikes Augen, und zwar rasend schnell. Für einen Moment schien er um die dreißig, ein schlanker Hüne mit schulterlangem, pechschwarzem Haar und schwarzen Augen, die Mike mit einer Mischung aus Hass und verächtlichem Spott musterten. Aber die Veränderung ging weiter, rasend schnell und auf eine so grässliche Art, dass sie sich mit Worten kaum beschreiben ließ. Nach kaum fünfzig schweren, pochenden Herzschlägen in Mikes Brust (jeder dritte oder vierte wurde vo n einem dünnen, aber quälenden Stich begleitet) stand er einem uralten Mann mit zerfurchtem Gesicht gegenüber, der ihn voller grenzenloser Bosheit anstarrte. Ich habe dich gewarnt, weißer Mann. Du hättest gehen sollen, solange du es noch konntest. Jetzt spielen wir. Mikes Herzschlag hatte ausgesetzt. Selbst der Atem stockte ihm. Um ihn herum bewegte sich nichts mehr. Es war vollkommen still. Auf eine geheimnisvolle Weise war die Zeit selbst stehen geblieben. Die Wand hinter dem uralten Indianer verblasste und gab den Blick auf eine endlose, sandbraune und rote Felswüste frei, aus der sich bizarr geformte Kolosse aus rotem Stein erhoben, bevor auch noch der gesamte Rest des Restaurants verschwand. Mike war nun allein mit dem Alten. Allein auf einer gewaltigen, spiegelglatten Mesa, über die der Wind heulte und auf die eine gleißende Sonne herabbrannte, ohne Wärme zu spenden.
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Alles, was blieb, war die Theke und eine der verchromten Schalen, in der die arthritische Hand des Alten mit einem langen, verchromten Lö ffel herumfuhr. Bist du hungrig, weißer Mann? Seine Hand rührte unbeirrt mit kleinen, kreisenden Bewegungen in der Schale. Chrom schrammte mit einem derart unangenehmen Kreischen über Chrom, dass Mike ein kalter Schauer über den Rücken rann. Er war noch immer unfähig, sich zu rühren, zu atmen oder gar einen klaren Gedanken zu fassen. Ein winziger Teil seines Bewusstseins, der aus irgendeinem Grund noch mit der gewohnten Logik und Präzision funktionierte, sagte ihm zwar, dass dies hier unmöglich die Wirklichkeit sein konnte. Es war nur eine Vision, eine Fortsetzung des schrecklichen Episoden-Albtraumes, der im Desert Inn seinen Anfang genommen hatte und nun in immer kürzeren Abständen zu kommen schien. Aber was nutzte Logik, wenn man sich in einem Zustand befand, in dem Entsetzen das Einzige war, was die Mauer aus Lähmung und erstarrter Zeit durchdringen konnte? Ein Entsetzen, das zu etwas anderem, noch Schlimmeren wurde, als Mikes Blick in die verchromte Schale fiel. Sie enthielt nach wie vor wässrig gebratenes Rührei. Doch zwischen den weißen und gelben Bröckchen und noch halb flüssigem Eiweiß schimmerte es nass und rot. Die Chromkelle mengte Knochensplitter und nässende Hautfetzen unter das Ei, verrührte zerrissene Muskelfasern und zerschme tterte Zähne mit geronnenem Cholesterin, ließ für einen Moment ein Auge auftauchen, das Mike vorwurfsvoll anstarrte, und rührte es wieder unter. Mike wollte schreien - vergebens! Da die Zeit noch immer stehen geblieben war und er noch immer nicht atmen konnte, hatte er auch keine Luft, um einen Schrei des Entsetzens, der Panik auszustoßen. Die Kontrolle über seinen eigenen Körper war ihm vollkommen entzogen. Er konnte nicht einmal die Augen schließen, um dem grässlichen Anblick zu entkommen,
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und selbst wenn - hätte es ihm etwas genutzt? Die Bilder, die ihm der Wendigo schickte, hatten eine andere Qualität angenommen und ließen sich nicht von etwas so Banalem wie geschlossenen Augenlidern aufhalten. Hilf- und wehrlos sah er zu, wie die Kelle weiter rührte und scharrte, scharrte und rührte. Und ganz allmählich erschuf sie aus den Teilen eines Körpers, den Mike mit seinem Motorrad in Fetzen gerissen hatte, und halb garem Rührei ein höllisches Omelett, an dem wohl auch Satan selbst erstickt wäre und das nach und nach die Gesichtszüge des Jungen annahm: das grässliche, weiß, gelb und rot gemusterte Gesicht eines Indianerjungen, dessen ungewöhnliches Aussehen nicht nur Teil des Erbes war, das ihm seine Inhuit-Vorfahren mitgegeben hatten. Es bewegte sich, begann zu brodeln, auseinander und wieder ineinander zu fließen, als versuchten sich halb lebendige und halb tote Materie zu etwas Neuem und Grässlichem zu verbinden. Nimm etwas, weißer Mann, höhnte die Stimme des Wendigo. Iss. Du musst dich stärken. Du brauchst Kraft für die Reise. Sie wird vielleicht länger, als du ahnst. Mike hörte die Stimme direkt in seinem Kopf, die Lippen des uralten Mannes auf der anderen Seite der Theke bewegten sich nicht. Es war der groteske Mund des Horrorgesichtes in der Chromschale, der die Worte formulierte, und das war eindeutig mehr, als Mike ertragen konnte. Sein Entsetzen erreichte ein Ausmaß, das selbst die Magie des uralten Indianerdämons sprengte und die Zeit zwang, sich weiterzubewegen. Von einem Sekundenbruchteil auf den nächsten war Mike wieder im Restaurant, verwandelte sich der zweitausend Jahre alte Greis zurück in einen vierzehnjährigen Jungen und der Inhalt der Pfanne in das, was er immer gewesen war. Mike taumelte mit einem keuchenden, halb erstickten Laut zurück, der nur deshalb nicht zu einem gellenden Schrei wurde, weil sein Herz einen einzelnen, schweren Schlag tat, der in einer wahren Explosion aus Schmerz endete und ihm
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erneut den Atem verschlug. Dennoch war er laut genug, um Aufsehen zu erregen. Erneut senkte sich gespannte Stille über das Restaurant, diesmal in der Realität. Während Mike noch darum kämpfte, nicht vor Qual das Gesicht zu verziehen, konnte er fast körperlich spüren, wie sich mehr als hundert Gesichter in seine Richtung drehten. »Was ist los?«, fragte Frank erschrocken. Stefan sagte nichts, aber seine Mine verfinsterte sich noch weiter, und der Junge hinter der Theke wich hastig einen Schritt zurück. Er wirkte eindeutig verängstigt. »Nichts«, behauptete Mike. »Gar nichts.« Es klang kurza tmig, was der Behauptung den letzten Rest von Glaubwürdigkeit nahm. So schnell und grausam der Schmerz gekommen war, so urplötzlich war er wieder verschwunden. Mikes Herz jedoch fühlte sich plötzlich so schwer und hart wie Stein an, und es klopfte wie rasend. Er hatte Mühe, zu atmen. »Ist wirklich alles in Ordnung?« Frank sah ihm nicht ins Gesicht, sondern blickte auf Mikes rechte Hand, die dieser instinktiv mit gespreizten Fingern gegen die Brust gepresst hatte, als wolle er sein rasendes Herz daran hindern, den Käfig seiner Rippen zu sprengen und hinauszuspringen. Mike ließ den Arm hastig sinken. »Es ist alles okay«, behauptete er. »Ich habe mich verschluckt, das ist alles.« Das war vermutlich die dümmste Ausrede aller nur denkbaren dummen Ausreden, aber diesmal kam ihm Stefan unfreiwillig zu Hilfe, indem er knurrte: »So viel zum Thema unauffälliges Benehmen.« »Stimmt«, antwortete Mike. »Es tut mir Leid. Lasst uns verschwinden, bevor wir wirklich auffallen.« »Wirklich?«, ächzte Stefan. »Du müsstest dich schon nackt ausziehen und einen Ind ianertanz aufführen, wenn du sichergehen wolltest, noch mehr Aufsehen zu erregen.« Statt zu antworten - was auch? Stefan hatte ja Recht, ve r-
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dammt noch mal! -, drehte sich Mike auf dem Absatz um und stürmte aus dem Restaurant, als wolle er in Sachen Auffälligkeit noch eins draufsetzen. Draußen legte er ein halbes Dutzend Schritte in scharfem Tempo zurück und blieb erst stehen, als er die steile, direkt aus dem Felsen gehauene Treppe erreichte, die zum Parkplatz und den dahinter liegenden Bungalows der Motela nlage hinabführte. Für die krückstock- und gehhilfenbewaffnete Mehrzahl der Restaurantgäste gab es einen Aufzug, der auf der anderen Seite des Gebäudes nach unten führte. Als die drei Freunde angekommen waren, hatten sie diesen selbstverständlich mit Missachtung gestraft. Doch als Mike nun in den gut fünfzig Stufen tiefen Abgrund blickte, war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er die Treppe, die er vorhin noch ohne Probleme hochgekommen war, nun noch würde hinabsteigen können. Zurückzugehen und den Aufzug zu benutzen hieße jedoch auch, noch einmal das Restaurant durchqueren zu müssen; nicht nur ein Spießrutenlauf zwischen hundert sabbernden Greisen hindurch, sondern auch noch einmal vorbei an einem Büfett, an dem Spezialitäten ganz besonderer Art aufgetischt wurden. Lieber wäre er die Treppe hinuntergesprungen, als das zu tun. Vielleicht brauchte er einfach nur einen Moment Ruhe. Das Geräusch der Tür hinter sich missachtend, das andeutete, dass Stefan und Frank ihm folgten, trat er an das brusthohe Geländer neben der Treppe, stützte sich schwer mit den Unterarmen darauf und schloss die Augen, um in sich hineinzulauschen. Sein Herz klopfte noch immer, beruhigte sich aber allmählich, und der Schmerz in seiner Brust war so spurlos verschwunden, dass er nicht einmal mehr ganz sicher war, ob es ihn jemals gegeben hatte. Seine Knie zitterten, und er konnte gar nicht sagen, an wie vielen Stellen sein Körper auf die unterschiedlichste Art wehtat. Was ihn allerdings nicht wunderte. Schließlich hatte er in der
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vergangenen Nacht nicht nur kaum geschlafen, sondern war auch windelweich geprügelt worden. So gesehen war es schon ein kleines Wunder, dass er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Wahrscheinlich war das auch der Grund für die Halluzination, die ihn gerade in ihren Klauen gehabt hatte. Das Wort »Halluzination« gefiel ihm wesentlich besser als Vision. Außerdem hätte er einen Mord begehen können für einen einzigen Zug aus einer Zigarette. »Alles wieder in Ordnung?« Frank trat neben ihn und stützte sich ebenso schwer auf das Geländer. Das uralte trockene Holz knarrte. Mike konnte spüren, wie auch Stefan näher kam, jedoch in anderthalb oder zwei Schritten Entfernung stehen blieb. Er wusste nicht, warum, aber er war erleichtert darüber. »Es war immer alles in Ordnung«, behauptete er. »Ich habe mich verschluckt, das war alles.« Frank machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antwo rten. »Schaffst du die Treppe?«, fragte er. Was sollte denn das jetzt wieder? Die Frage machte ihn so wütend, dass er Frank um ein Haar angeschrien hätte; vielleicht, weil sie zeigte, dass Frank mehr über seine, Mikes, Verfassung ahnte, als ihm recht war. »Lass mich eine halbe Stunde ausruhen, und dann versuche ich die ersten zehn Stufen«, antwortete er. »Wenn ich danach eine kleine Pause einlegen kann, wird es schon irgendwie gehen. Und wenn nicht, gehst du zurück ins Restaurant und klaust einem der Opas da drinnen die Gehhilfe.« »Oder wir tragen dich runter«, schlug Stefan vor. Mike lauschte einen Moment lang sehr aufmerksam auf einen Unterton von Häme oder Gehässigkeit in Stefans Stimme, aber da war nichts. Es war ein leichtfertiger Scherz, mehr nicht. »Pass bloß auf, was du sagst«, antwortete er. »Ich könnte dein Angebot annehmen.« Er grinste knapp, dann schüttelte er den
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Kopf und wandte sich demonstrativ wieder zur anderen Seite um. »Ich wollte wirklich nur einen Moment lang die Aussicht genießen«, sagte er. Und ein wenig wütend, was nicht einmal völlig geschauspielert war, fügte er hinzu: »Wisst ihr, was ich diesem verdammten amoklaufenden Wilden fast genauso übel nehme wie seine kleine Erpressung? Dass er uns um das da bringt.« Stefan zog fragend die Augenbrauen zusammen, aber Frank nickte zustimmend. Der Anblick, der sich ihnen bot, war der Gleiche wie drinnen auf der anderen Seite des großen Panoramafensters, wirkte hier jedoch noch atemberaubender – vielleicht, weil man die ungeheure Weite und Majestät des Landes deutlicher spüren konnte. Wie die gesamte Motelanlage war auch das Restaurant direkt in die Flanke eines der gigantischen Felskolosse gebaut, die das Wüstental säumten, und auch wenn das Gebäude selbst Mike wie ein Schlag ins Gesicht vorkam (Großer Gott, was hätte man in jedem beliebigen Gebirge Europas aus dieser Lage gemacht!), so vermochte doch nichts den spektakulären Anblick zu schmälern, den das Valley von hier oben aus bot. Dabei war Mike sich nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um ein Tal handelte, oder ob es nur so hieß. Er hatte sich mindestens ein halbes Dutzend Mal vorgenommen, in der Karte nachzusehen, es aber bisher immer versäumt. Wenn es sich um ein Tal handelte, war es jedenfalls gigantisch, denn sein gegenüberliegender Rand war nicht zu erkennen. Alles, was man sehen konnte, war die versteinerte Wüste, aus der in fast regelmäßigen Abständen gigantische Felsgebilde wuchsen, meistens mit fast lotrecht aufstrebenden Flanken, als hätte man sie aus der Oberfläche eines fremden roten Planeten herausgestanzt, oben glatt abgeschnitten und dann hierher verpflanzt. Einige wenige waren von so bizarr zerklüfteter Form, dass sie nicht nur aus einer anderen Welt, sondern aus einem anderen
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Universum zu stammen schienen, und alle waren ohne Ausnahme gigantisch. Mike hatte dieses Tal schon einmal gesehen. Er war hier gewesen, in einer seiner schrecklichen Visionen. Es war das andere Land, die Welt hinter der Realität, in die der Wendigo möglicherweise die Anasazi verschleppt hatte. Mike schloss die Augen und presste die Lider so fest aufeinander, dass bunte Lichtflecken über seine Netzhäute huschten; dann noch fester, bis es wehtat. Der kleine Trick half auch diesmal. Die krausen Gedanken verschwanden und machten wenigstens dem Ansatz von logischem Denken Platz. Er war niemals zuvor hier gewesen! Natürlich kannte er diesen Ort, so wie nahezu jeder Mensch auf dieser Welt, der ein Fernsehgerät besaß: aus zahllosen Wild-West-Filmen, in denen John Wayne oder Kirk Douglas federgeschmückte Indianer jagten, in denen die US-Kavallerie die aufständischen Sioux niedermachten, und aus einigen wenigen Filmen (die er besonders mochte), in denen aufständische Indianer die Kavallerie niedermachten. Wenn es einen Ort gab, der in den Köpfen der Menschen mit dem Amerika der Indianer verbunden war, dann hatte Hollywood dafür gesorgt, dass es dieser Ort war. »Ich weiß, was du meins t«, sagte Frank. »Mir geht es genauso. Ich bin einfach wütend auf diesen Kerl!« Er machte eine rasche, weit ausholende Handbewegung. »Wir werden das hier wahrscheinlich nie mehr zu sehen bekommen. Dieser ganze Trip sollte etwas Einmaliges sein. Und dieses verdammte Arschloch hat es uns verdorben.« Mike wusste, was er meinte, denn es erging ihm ganz genauso. Selbst wenn sie heil aus dieser Geschichte herauskamen und selbst wenn sie - was praktisch ausgeschlossen war - noch einmal hierher zurückkommen sollten, würde es nicht mehr dasselbe sein. Diese Motorradtour war etwas, wovon Frank und er Zeit ihres Lebens geträumt hatten; ein Jugendtraum, einer von der Art, wie sie zumeist erwachsene Männer träumen,
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deren Jugend schon etliche Jahre zurückliegt; ein Traum, von dem man insgeheim weiß, dass er niemals in Erfüllung geht. Groteskerweise war es Stefan gewesen, den Mike erst vor ein paar Jahren kennen gelernt hatte, der sie schließlich aus ihrer Lethargie gerissen und so lange bearbeitet hatte, bis sie diesen Trip zu dritt unternahmen. Und es hatte wie ein Traum bego nnen, trotz all der Kleinigkeiten, die schiefgegangen waren! Und jetzt? Nein, dachte er. Frank hatte Recht. Selbst wenn sie den Trip wiederholen könnten, würde es nicht dasselbe sein. Träume ließen sich nicht zurückspulen wie ein Videofilm, den man noch einmal von vorne betrachten konnte. »Du hast Recht«, sagte er grimmig. »Ich denke nicht daran, klein beizugeben und vor diesem Idioten zu Kreuze zu kriechen.« Frank grinste. »Na endlich! Das ist wieder der Mike, den ich kenne. Wir zwei gegen den Rest der Welt.« Er drehte sich zu Stefan um und grinste noch breiter. »Entschuldige. Wir drei natürlich.« Stefan blinzelte. Er sah ein bisschen hilflos aus. »Wie?« »Wir denken nicht daran, uns von diesem Mistkerl alles kaputtmachen zu lassen«, antwortete Frank. »Das hier nicht und erst recht nicht unser ganzes Leben. Wenn er Krieg haben will, dann soll er ihn bekommen. Ich bin bereit.« »Ich hoffe, du bist auch noch so siegessicher, wenn du die Geschichte einem karrieregeilen jungen amerikanischen Staatsanwalt erzählst«, sagte Stefan. Die Energie, die Frank urplötzlich verströmte, schien bei ihm nicht zu verfangen. »So weit sind wir noch lange nicht«, behauptete Frank. »Der Kerl wird sich hüten, uns die Cops auf den Hals zu hetzen. Wenigstens so lange, wie er sich eine Chance ausrechnet, das Geld von Mike zu bekommen. Man gibt nicht die Gans zum Abschuss frei, die goldene Eier legt.« »Und was bedeutet das im Klartext?«, erkundigte sich Stefan
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misstrauisch. »Bisher hat er mit uns gespielt«, antwortete Frank. »Jetzt spielen wir mit ihm.« Er machte eine abwehrende, fast herrische Handbewegung, als Stefan etwas sagen wollte, und fuhr fort: »Natürlich werden wir von hier verschwinden, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Spätestens in Las Vegas steigen wir in den ersten Flieger, der die USA verlässt; meinetwegen nach Mexiko oder Kuba oder irgendeinem anderen Land, das nicht ausliefert. Aber bis dahin müssen wir die Nerven beha lten.« »Und das heißt?« »Dass wir weitermache n wie geplant«, antwortete Frank. Er sah Beistand heischend in Mikes Richtung und erntete immerhin ein zustimmendes Nicken. »Wir können mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass er uns beobachtet - oder zumindest Mike. Solange er sich eine Chance ausrechnet, an sein Geld zu kommen, wird er sich bedeckt halten. Wenn wir jetzt voller Panik davonbrausen oder gar den Fehler begehen, ihn abschütteln zu wollen, dann hetzt er uns garantiert die Polizei auf den Hals. Also bleiben wir schön bei unserem Plan. Heute das kleine Nest kurz vor der 15, morgen Las Vegas. Nur dass wir von dort aus nicht weiterfahren, sondern in ein Flugzeug steigen und weg sind, bevor er es überhaupt merkt.« Stefan widersprach zwar nicht direkt, wirkte aber alles andere als überzeugt. »Meint ihr nicht, dass er mit so was rechnet?« »Vermutlich«, antwortete Frank. Ich gehe sogar davon aus, dass er uns so oder so an die Cops verpfeifen will, auch wenn er sein Geld bekommt.« »Wieso?«, fragte Mike erschrocken und wusste die Antwort fast im gleichen Augenblick. Alarmiert fragte er sich, wieso er nicht gleich daraufgekommen war. Als Thriller-Autor sollte eigentlich er derjenige sein, der wusste, wie solche Leute dachten.
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»Um uns loszuwerden«, antwortete Frank. »Und immerhin gibt es da einen ziemlich brutalen Mord in Moab, mit dem man ihn in Verbindung bringen könnte. Wenn man die vermeintlichen Täter verhaftet, werden die Ermittlungen eingestellt, und er ist in Sicherheit. Ich fürchte, wir können uns nicht freikaufen, wenn du darauf hina uswillst. Im Gegenteil: Wenn wir bezahlen, wird es erst richtig schlimm. Unsere einzige Chance ist, schlauer als dieser Kerl zu sein. Und wenn uns das nicht gelingt, dann haben wir es vielleicht gar nicht besser verdient.« * Sie holten einen Teil des versäumten Nachtschlafes nach und opferten dafür den geplanten Ausritt durch das Valley, wonach ohnehin keinem von ihnen so recht der Sinn stand. Zu Hause in den bunten Prospekten des Reisebüros hatte die Idee viel versprechend ausgesehen - auf echten Indianerponys mit bunten Ponchos und noch bunterem Federkopfschmuck zwei oder drei Stunden durch das Tal zu reiten ... eine hübsche Episode und bestimmt ein gutes Motiv für ein paar noch hübschere Fotos, die man zu Hause herumzeigen konnte, um sich dabei totzulachen, während man sich gegenseitig bezichtigte, als Erster vom Pferd gefallen zu sein. Aber keinem von ihnen stand jetzt noch der Sinn nach Indianern - weder nach echten noch nach nachgemachten. Genau wie in der Nacht zuvor hatte Mike darauf verzichtet, sich eines der beiden Schlafzimmer mit Stefan oder Frank zu teilen, und die breite Couch im Wohnzimmer in Beschlag genommen. Also war er der Erste, der von einem lauten und anhaltenden Klopfen an der Tür geweckt wurde. Schlaftrunken hob er den Arm und blinzelte auf die Uhr, aber es vergingen noch etliche Sekunden, bis es ihm gelang, der Stellung der winzigen Zeiger einen Sinn abzugewinnen. Es war fast Mittag. Er hatte annähernd fünf Stunden geschlafen und nicht einmal
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den klitzekleinsten Albtraum gehabt. Das Klopfen an der Tür wurde noch lauter. Die Vehemenz ließ darauf schließen, dass, wer immer da Einlass verlangte, dies schon seit geraumer Zeit tat. Noch immer ein wenig unsicher, stand Mike auf, schlurfte zur Tür und blinzelte schlaftrunken in das Gesicht des Hotelangestellten, der davor stand. Er verstand nicht einmal ansatzweise, was der Mann sagte, aber es war auch nicht schwer zu erraten. Es war Mittag. Zeit, das Zimmer zu räumen. Mike kramte angestrengt in seinem Gedächtnis und brachte schließlich ein Nicken und die Worte »Ten minutes, please« zustande. Seine Englischkenntnisse waren damit nahezu erschöpft, aber es schien zu reichen: Der Hotelangestellte trollte sich, immer noch leicht verärgert wirkend, davon. Wahrscheinlich, dachte Mike, würde er in spätestens zwanzig Minuten wieder da sein und ihnen die Rechnung für einen weiteren Tag präsentieren, wenn sie bis dahin noch immer keine Anstalten gemacht hatten, das Zimmer zu räumen. Machte nichts. Zehn Minuten waren mehr als genug Zeit. Sie hatten ihr Gepäck sowieso nicht großartig ausgepackt und waren deshalb praktisch jederzeit reisefertig. Falls es ihm irgendwann noch einmal gelang, richtig wach zu werden, hieß das. Während er in die Küche tappte, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen, begann es auch im angrenzenden Schlafzimmer zu rumoren. Stefan und Frank erschienen praktisch gleichzeitig an der Tür. Stefan schnüffelte, obwohl das Wasser noch gar nicht durchlief und es damit so etwas wie Kaffeeduft noch nicht geben konnte. »Hervorragend«, lobte er. »Allmählich lernst du es ja. Wenn du mal einen festen Job brauchst, kannst du bei mir als Frühstückshostess anfangen.« Frank fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht, wie um die Müdigkeit wegzuwischen. »Wer war an der Tür?«, fragte er gähnend.
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»Jemand vom Hotel«, antwortete Mike. »Es wird Zeit, dass wir das Zimmer räumen. Ich habe ihm gesagt, dass wir verschwinden, sobald wir einen Kaffee getrunken haben, und er hat anscheinend nichts dagegen.« »Echt?«, fragte Stefan. »Du mauserst dich ja allmählich zu einem richtigen Sprachgenie.« »Jeder hat eben so seine verborgenen Talente«, sagte Frank. »Warum demonstrierst du uns nicht deine und belädst schon mal die Maschinen?« Stefan machte ein finsteres Gesicht und grummelte: »Ja, Massa.« Er drehte sich trotzdem gehorsam um und verschwand aus der Küche. Nur einen Augenblick später hörten sie ihn durch die Diele schlurfen und das Apartment verlassen. Mike ging zum Schrank und nahm Tassen und Unterteller heraus, noch immer mit den typisch ungelenken Bewegungen eines Menschen, der zu früh und zu abrupt aus einer Tie fschlafphase gerissen worden ist und sich nur einbildet, wirklich wach zu sein. Frank rührte keinen Finger, um ihm zu helfen, sondern lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen und fragte schließlich: »Was war vorhin los?« Mike überlegte eine halbe Sekunde ernsthaft, ob er wütend werden sollte, entschied sich aber dann aus rein praktischen Gründen dagegen. Sein Bedarf an Aufregungen war gedeckt. »Nichts«, behauptete er. »Ich hatte wieder eine vo n diesen Halluzinationen. Meine Nerven schleifen am Fußboden. Wundert dich das?« »Das meine ich nicht.« Frank faltete irgendwie umständlich die Arme auseinander und legte die rechte Hand mit gespreizten Fingern auf die Brust. Es war eine genaue Imitation von Mikes Haltung beim Verlassen des Restaurants. »Wovon sprichst du?«, fragte Mike ein wenig in Panik. Natürlich wusste er es ganz genau und wollte nur etwas Zeit schinden. Er hatte gehofft, dass seine beiden Freunde nicht bemerken würden, was mit ihm los war, aber natürlich war
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diese Hoffnung ziemlich naiv gewesen. Bei Stefan mochte es möglicherweise klappen, Frank kannte ihn jedoch einfach viel zu gut. »Wie schlimm ist es?«, fragte Frank. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du ...« »Du weißt verdammt noch mal ganz genau, wovon ich rede«, fiel ihm Frank ins Wort. »Ich bin nämlich nicht blind. Und das auch nicht erst seit heute.« Er hob die Schultern und schürzte demonstrativ und leicht verächtlich die Lippen. »Außerdem bin ich nicht blöd.« »Habe ich das jemals behauptet?« Verdammt, er hatte weder die Zeit noch die Energie, sich jetzt auch noch damit zu beschäftigen! »Nicht mit Worten«, antwortete Frank. »Was soll denn das jetzt wieder heißen?« Mike setzte sich, goss sich einen Kaffee ein und begann hektisch darin zu rühren, obwohl er noch gar keinen Zucker hineingetan hatte. »Ich bin nicht nur dein Übersetzungssklave, sondern redigiere noch dazu deine Texte«, erinnerte ihn Frank. »Und?«, fragte Mike. »Dafür wirst du schließlich bezahlt, oder?« »Mitnichten.« Frank deutete ein Grinsen an. »Ich betrachte den Hungerlohn, mit dem du mich abspeist, bestenfalls als Schmerzensgeld.« »Worauf willst du hinaus? Auf eine Gehaltserhöhung?« »Keine schlechte Idee, aber lenk nicht ab«, sagte Frank. »Deine Texte haben sich verändert, weißt du das? Wahrscheinlich bin ich der Einzige, der es merkt, aber sie sind düsterer geworden. Du beschäftigst dich in letzter Zeit ziemlich viel mit dem Tod, finde ich.« »Vielleicht sollte ich dir das Gehalt kürzen, statt es zu erhöhen«, sagte Mike. »Anscheinend ist dir noch gar nicht aufgefallen, dass ich historische Kriminalromane schreibe.« »Du schreibst schlechte Kriminalromane, und ich habe das
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zweifelhafte Vergnügen, den historischen Teil zu recherchieren und aus deinem Gekritzel einen lesbaren Text zu machen«, stichelte Frank. »Das behauptest du«, sagte Mike. »Ich kenne eine Menge Leute, die der Meinung sind, meine Bücher wären nicht deshalb gut, weil du sie bearbeitest, sondern obwohl.« Er konnte gar nicht mehr sagen, wie oft sie dieses NonsensGespräch schon geführt hatten, eine harmlos- freundschaftliche Frotzelei, in der manchmal vielleicht auch eine Spur von Ernst mitschwang; ein Hauch von Neid auf der einen Seite und ein Hauch von schlechtem Gewissen auf der anderen - wobei die Seiten durchaus wechselten. So lange sie sich erinnern konnten hatten sie beide davon geträumt, große und berühmte Schriftsteller zu werden. Im Grunde hatten sie während ihrer gesamten Jugend über nichts anderes geredet (sah man von den üblichen Themen einmal ab: nämlich Mädchen, Autos, Mädchen, Motorräder, Mädchen, Sex und Mädchen), und sie hatten Zeit ihres Lebens eigentlich nichts anderes getan, als an ihren Karrieren zu basteln. Irgendwann hatte das Schicksal entschieden, Frank das harmonischere Leben zu schenken und Mike die große Karriere, aber das war irgendwie in Ordnung. Das Schicksal war nun einmal nicht gerecht, Gott behüte. Gäbe es so etwas wie Gerechtigkeit auf der Welt, würden wahrscheinlich sämtliche Gesellschaftssysteme auf der Stelle zusammenbrechen. Sie hatten beide niemals mit dem Schicksal gehadert oder gar mit dem anderen, warum auch? Schließlich hatte jeder etwas, was ihm der andere neidete, und etwas, was seinem schlechten Gewissen genug Nahrung gab, um es niemals ganz verstummen zu lassen. Das war vollkommen in Ordnung. Der Fehler war vielleicht gewesen, Frank vor fünf Jahren anzuheuern und ihn weit mehr als die Hälfte seiner Zeit für sich arbeiten zu lassen. Sein Job als Journalist bei einem großen Magazin hatte angefangen, ihn aufzufressen, sowohl
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körperlich als auch seelisch, und es war ihnen beiden wie eine wirklich gute Idee vorgekommen, Frank seine mittlerweile ungeliebte Festanstellung hinwerfen zu lassen, damit er für ihn arbeitete, zum Teil als Lektor, zu einem größeren Teil als Rechercheur und nur allzu oft als seelische Müllkippe, an deren Schulter Mike sich ausweinen konnte. Es war keine gute Idee gewesen! Freundschaft und Karriere passten selten zusammen, das hatten sie beide gewusst - vor allem, wenn diese Karriere automatisch auch Konkurrenz bedeutete. Sie hatten sich beide eingeredet, dass ihre Freundschaft stark genug wäre, dies zu überstehen. Mittlerweile war sich zumindest Mike nicht mehr ganz sicher, ob das stimmte. Nein. Falsch. Er war sicher, dass es nicht stimmte. Es funktio nierte vorne und hinten nicht. Sie waren zu ve rschieden, trotz allem. Solange sie unabhängig voneinander gearbeitet hatten, war das in Ordnung gewesen. Frank hatte sich einreden können, dass ihm sein Job als Journalist einfach nicht die nötige Zeit ließ, um selbst erfolgreiche Bücher zu schreiben. Und er, Mike, hatte sein Gewissen damit beruhigt, dass Frank schließlich einen guten Job und damit sein sicheres Auskommen hatte. Jetzt arbeitete er für ihn, nicht mit ihm, und wahrscheinlich war es das, woran ihre Freundschaft allmählich zu zerbrechen begann. Die eigenen Bücher, die Frank in der spärlichen Zeit schrieb, die ihm neben dem Job als persönlicher Redakteur noch blieb, waren bestenfalls mäßig erfolgreich, und daran würde sich wahrscheinlich nie etwas ändern - was sie beide wussten. Es hatte nichts mit mangelndem Talent, fehlender Begabung oder gar Fleiß zu tun. Frank arbeitete eindeutig mehr und härter als Mike, nur hatte er niemals begriffen, dass Erfolg vor allem bedeutete, Grenzen zu überschreiten und bis hin zur Brutalität gnadenlos gegen sich selbst zu sein. Mike war es einfach nicht gelungen, ihm diesen Aspekt klar zu machen. Er hatte es versucht; das einzige Ergebnis war ein Beinahe-Zusammenbruch von Frank gewesen
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und bittere Vorwürfe seiner Frau. Freundlich und durch die Blume formuliert, zudem am Telefon, aber trotzdem eindeutig genug, dass Mike heute noch daran zu knabbern hatte. Damals hatte ihre Freundschaft den ersten Knacks erlitten. Mittlerweile waren etliche dazugekommen, und aus dem Spinnennetz von Haarrissen begann allmählich ein Zustand zu werden, der durchaus bedrohliche Ausmaße annahm. Mike hatte sich schon vor geraumer Weile vorgenommen, irgendwann ein klärendes Gespräch zu suchen. Zugleich war er davor zurückgeschreckt; zum einen, weil er prinzipiell vor Konflikten zurückschreckte, zum anderen, weil er sich eingeredet hatte, noch auf den passenden Zeitpunkt warten zu müssen. Das Dumme war nur, dass es keinen passenden Zeitpunkt für ein solches Gespräch gab. Weil es vielleicht Dinge berührte, die nie gesagt werden sollten. »Worauf willst du hinaus?«, fragte er in schärferem Ton, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Auch wenn es keinen wirklich richtigen Moment für ein solches Gespräch gab, war dies mit Sicherheit der unpassendste. »Ich will nur wissen, wie schlimm es ist«, antwortete Frank. »Warst du wenigstens beim Arzt?« »Ja, verdammt«, log Mike. Natürlich war er nicht beim Arzt gewesen. Er hatte daran gedacht, mehr als einmal und voller Angst, aber bisher hatte sich seine Bequemlichkeit stets als stärker erwiesen; sie und die Angst vor der Lawine, die er lostreten würde, wenn er sich erst einmal in die Hände dieser Quacksalber begab. Endlose Arztbesuche, Termine und Untersuchungen, Medikamente und möglicherweise sogar Krankenhaus ... nein, danke. Das alles konnte er sich noch früh genug antun - wenn man ihn nämlich zum Arzt brachte. »Was geht dich das an?« »Eine ganze Menge«, antwortete Frank. »Also? Was hat er gesagt?« »Dass ich auf die Fünfzig zugehe und in keiner besonders
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guten Verfassung bin«, antwortete Mike. »Dass ich weniger rauchen und mehr schlafen soll, mich gesünder ernähren ...« Er zuckte mit den Schultern. »Das Übliche eben.« »Im Klartext, du warst nicht beim Arzt«, stellte Frank fest. Es klang nicht überrascht; das Gegenteil hätte ihn eher verblüfft. »War ich doch«, beharrte Mike, obwohl er sich selbst ein bisschen albern dabei vorkam. »Eine leichte Herzrhythmusstörung, mehr nicht.« »Klar«, sagte Frank. »Welche Medikamente nimmst du?« »Zum Teufel, was soll dieses Verhör?«, schnappte Mike. »Glaubst du nicht, dass wir im Moment andere Probleme haben?« »Vielleicht sind es ja dieselben«, antwortete Frank kryptisch. »Weiß Maria davon?« »Meine Frau«, antwortete Mike betont scharf, um eine Distanz zu schaffen und Frank auf diese Weise ganz klar zu machen, dass er dabei war, eine Grenze zu überschreiten, die nicht einmal er berühren durfte, »weiß davon nichts, und das wird auch so bleiben, kapiert?« »Das ist deine Entscheidung«, antwortete Frank. »Aber meinst du nicht, dass du es ihr schuldig bist?« »Wieso?«, fragte Mike. Er lachte bitter. »Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder mit welchem Blödsinn kommst du mir jetzt! Wenn du mich frägst, dann ist geteiltes Leid allerhöchstens doppeltes Leid. Ich habe genug am Hals. Ich brauche nicht auch noch eine hysterische Ehefrau, die mich wie eine überdrehte Glucke bemuttert.« »Warum wirst du eigentlich immer dann besonders aggressiv, wenn dir jemand helfen will?«, fragte Frank ruhig. »Weil ich keine Almosen brauche«, zischte Mike. »Und das sagt der Mann, der seine Hilfe anderen oft genug regelrecht aufnötigt und erst dann richtig auflebt, wenn er anderen eine Freude bereiten kann!« Frank schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob diese ganze Hilfsbereit-
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schaft nicht purer Egoismus ist.« »Und wenn es so wäre?«, fragte Mike. »Wäre das ein Unterschied?« »Wahrscheinlich nicht.« Frank lächelte müde. »Komm, lassen wir das. Wir müssen uns ja nicht unbedingt streiten - wenigstens nicht jetzt. Du versprichst mir, dass du mir sagst, wenn es schlimmer wird?« »Du bist der Erste, der es erfährt«, versicherte Mike. »Du meinst, ich sehe es, wenn du vom Motorrad fällst?« »Das ist mir in den letzten Tagen ein paar Mal passiert, oder?« Mike schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Großer. Ich bin vielleicht zu fa ul, um mich ohne Not jahrelang in die Hände dieser Quacksalber zu begeben und die Freuden der aufsteigenden Apparatemedizin zu genießen, aber ich bin nicht lebensmüde.« »Ich habe dein Wort?«, beharrte Frank. Er war sehr ernst. »Ja, verdammt, hast du.« Mike trank einen Schluck Kaffee und verzog angeekelt das Gesicht. Er hatte zwar seit fünf Minuten ununterbrochen in seiner Tasse gerührt, aber trotzdem keinen Zucker hineingetan. Er hasste Kaffee ohne Zucker! »Gott, ich würde meine rechte Hand für eine Zigarette geben«, murmelte er. »Nur ein einziger Zug!« »Vielleicht solltest du dir eine Packung kaufen«, sagte Frank. Mike blinzelte ungläubig. Ausgerechnet Frank, der seit Jahren bei jeder Gelegenheit predigte, dass er sich mit seiner Nikotinsucht noch einmal selbst umbringe würde, riet ihm, sich Zigaretten zu besorgen? »Nach dem, was du mitgemacht hast, sind deine Nerven ohnehin nicht mehr die besten«, sagte Frank. »Ein kalter Entzug obendrauf kommt da vielleicht nicht so gut.« »Einverstanden«, sagte Mike spontan. »Wir fahren gleich unten am Laden vorbei, und ich kaufe mir eine Packung Marlboro.« Plötzlich grinste Frank. Er sagte nichts.
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»Was?«, hakte Mike misstrauisch nach. Franks Grinsen wurde noch breiter. »Stefan und ich waren vorhin unten im Laden«, antwortete er in einem Tonfall, der unverhohlen schadenfroh klang. »Wir sind hier in Utah, mein Lieber.« »Und?« »Mormonenland«, antwortete Frank. »Hier gibt es nichts, was Spaß macht. Keinen Alkohol, keine schlüpfrigen Zeitschriften ...« »Keine Zigaretten?« »Sie schießen wahrscheinlich schon auf dich, wenn du nur danach fragst«, sagte Frank fröhlich. »Oder erschlagen dich mit Müslipackungen und Bibeln. Von beidem haben sie übrigens reichlich da.« »Du bist ein Sadist«, sagte Mike. »Ich weiß.« Frank lachte. »Was hast du denn ...?« Die Tür flog auf, und Stefan stürmte herein. Im letzten Moment hielt er sich am Türrahmen fest und wurde vom Schwung seiner eigenen Bewegung um ein Haar von den Füßen gerissen. »Weg!«, keuchte er. »Sie ist weg!« »Was ist weg?«, fragte Mike alarmiert. »Die Satteltasche!«, keuchte Stefan. Er zitterte am ganzen Leib. »Die ... die Satteltasche mit dem Skalp! Sie ist weg!« Mike und Frank sprangen nahezu gleichzeitig auf die Füße. Mikes Stuhl fiel polternd um, was niemand beachtete. »Was soll das heißen, weg?« »Hast du genau nachgesehen?« »Verdammt noch mal, haltet ihr mich für blöd?« Stefan schrie fast. Es war nicht genau zu sagen, ob er kurz davor stand, in Panik zu geraten, oder es schon war. »Natürlich habe ich genau nachgesehen! Dreimal!« »Nun mal langsam.« Frank hob besänftigend die Hände. »Wo genau hattest du sie versteckt?« »In meinem Schrank, wo denn sonst?«, fauchte Stefan.
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»Hast du vielleicht gedacht, ich hänge das Ding zum Trocknen auf dem Balkon auf?« »Bist du sicher?«, beharrte Frank. »Ich meine ja nur: Wir waren letzte Nacht alle ziemlich daneben. Da tut man manc hmal Dinge, die man selbst nicht für möglich hält. Du könntest den falschen Schrank erwischt haben, zum Beispiel.« In Stefans Augen loderte die blanke Wut auf, aber er beherrschte sich. »Ich habe in allen Schränken nachgesehen«, sagte er gepresst. »Dreimal. Und auch überall sonst. Das Ding ist weg.« »Aber das ist unmöglich«, behauptete Mike. »Außer uns war doch niemand hier!« »Wir suchen noch einmal«, bestimmte Frank. »Zusammen. Und überall. Auch da, wo sie eigentlich gar nicht sein kann. Los!« Sie durchsuchten das gesamte Apartment, nicht nur einsondern gleich dreimal hintereinander, so gründlich es überhaupt nur ging. Und sie taten es zusammen, damit einer den anderen überwache n und sich niemand hinterher fragen konnte, ob man auch wirklich überall nachgesehen hatte. Es blieb dabei: Stefans Satteltasche samt ihres grausigen Inhaltes war verschwunden. »Allmählich wird mir die Sache unheimlich«, murmelte Frank, als sie ihre dritte Runde beendet hatten und nervös im Wohnzimmer standen. Nachdenklich sah er Mike an. »Bist du sicher, dass der Typ vorhin wirklich nur hier war, um uns aus dem Zimmer zu werfen?« »Warum sonst?«, erwiderte Mike. Statt zu antworten, drehte sich Frank zum Fenster um und zog die Vorhänge eine Handbreit auf. »Ich kann ja mal nachsehen, ob draußen schon die Helikopter kreisen und die Nationalgarde aufmarschiert.« Niemand lachte. Der Scherz ging nach hinten los und schürte ihre Furcht nur noch.
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»Und ... und wenn sie sie gefunden haben?«, fragte Stefan nervös. »Vielleicht war ja eine Putzfrau hier und hat rumgeschnüffelt.« »Hier war keine Putzfrau«, erwiderte Mike. »Sieh dich doch um. Das ist immer noch das gleich Chaos, das wir gestern Nacht hinterlassen haben.« »Sie kann ja zuerst in den Schrank gesehen haben«, beharrte Stefan. »Hört auf, ihr zwei«, sagte Frank vom Fenster aus. »Bist du sicher, dass du die Tasche nicht auf deine Maschine gehängt hast, Stefan?« »Natürlich bin ich sicher!«, antwortete Stefan. »Ich bin doch nicht besch ...« Er brach mitten im Wort ab, als er zusammen mit Mike neben Frank ans Fenster trat und auf den Parkplatz hinabsah. Ihre Maschinen standen fertig beladen und in Fahrtrichtung gewendet vor dem Bungalow: abgesehen von den Beschädigungen an Mikes Intruder absolut identische, eineiige Drillinge. Alle drei trugen ihre Satteltaschen. »Unmöglich«, stammelte Stefan. »Das ist vollkommen unmöglich!« »Das ist jetzt wichtig!«, sagte Frank ernst. »Überleg ganz genau, Stefan. Du warst genauso nervös wie wir. Bist du ganz sicher, dass du sie nicht ganz automatisch mit aufgeladen hast, nur um möglichst schnell hier wegzukommen?« »Ich bin doch nicht bescheuert!«, fuhr Stefan auf. Dann riss er sich sichtbar zusammen und sagte mit leiserer, mühsam beherrschter Stimme: »Ja, ich bin vollkommen sicher.« »Dann haben wir ein Problem«, sagte Frank ernst. »Ja, und zwar ein verdammt großes«, fügte Mike mit belegter Stimme hinzu. »Seht mal nach links.« Er hob die Hand, um in die angegebene Richtung zu deuten. Die beiden anderen folgten seiner Geste mit den Blicken. Frank sagte nichts, aber Stefan sog hörbar die Luft zwischen den
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Zähnen ein. Sie hatten sich gerade noch rechtzeitig umgedreht, um ein Motorrad vom Parkplatz herunterfahren zu sehen; eine übergroße, schwere Harley, die Mike unter allen Motorrädern der Welt sofort wieder erkannt hätte, denn abgesehen von den Reifen gab es praktisch nichts an ihr, das nicht verchromt gewesen wäre. Der Fahrer war trotz der unbarmherzigen Mittagshitze komplett in schwarzes Leder gekleidet. Sein rückenlanges schwarzes Haar wurde von keinem Helm eingeengt. Obwohl auch Mike ihn nur für einen Moment sah, fiel ihm doch ein Detail auf, das ihm bisher an ihrem unheimlichen Verfolger entgangen war: Er trug jetzt einen breiten, mit silbernen Nieten verzierten Revolvergurt, in dessen Holster ein verchromter Colt steckte. »Ach du Scheiße«, sagte Stefan inbrünstig. Sie brauchten noch einmal gute fünf Minuten, bevor sie den Mut aufbrachten, das Apartment zu verlassen. Selbst Franks scheinbar unerschütterlicher Optimismus hatte einen sichtbaren Knacks erlitten. Er ließ es sich zwar nicht nehmen, als Erster aus der Tür zu treten und hoch aufgerichtet, den Helm unter den linken Arm geklemmt, mit zielgerichteten, federnden Schritten die Treppe hinunterzugehen, aber er kam Mike in diesem Moment längst nicht mehr wie der unbesiegbare große Bruder vor, den er stets in ihm gesehen hatte und dessen bloße Anwesenheit allein ausreichte, um ihn mit einem Gefühl unerschütterlicher Sicherheit zu erfüllen. Er wirkte viel eher wie ein leicht übergewichtiger John Wayne, der mit zwei geladenen Revolvern im Gürtel den Saloon verlässt, obwohl er wusste, dass Billy The Kid, Doc Holiday und die gesamte Dalton-Bande draußen auf ihn warteten und er keine Chance hatte. Der Sekundenbruchteil, den Mike brauchte, um hinter Frank auf die Treppe hinauszutreten, reichte seiner Fantasie aus, um ihn mit allen möglichen Schreckensbildern zu peinigen - von
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einem bis an die Zähne bewaffneten SWAT-Team, das jäh aus dem Nichts materialisierte, über kreisende Kampfhubschrauber mit plärrenden Megafonstimmen bis hin zu Sitting Bulls Horden, die johlend und in voller Kriegsbemalung über die Ebene herangeprescht kamen. Nichts davon trat ein, aber die bloße Vorstellung reichte aus, um seinen Puls schon wieder in die Höhe zu treiben. Er hatte Angst, entsetzliche Angst, und die Hitze, die ihn wie der Hieb einer unsichtbaren Keule traf, machte es auch nicht besser. Seine Knie zitterten, als er neben Frank auf das Motorrad stieg und die Intruder vom Ständer kippte. Während er diesen mit dem Absatz nach hinten kickte und zugleich versuchte, die schwere Maschine auf nur einem Bein auszubalancieren, senkte sich sein Daumen bereits auf den Startknopf. »Nicht.« Frank deutete ein Kopfschütteln an, und Mike zog den Finger wieder zurück. Frank tat so, als ob er gelangweilt in die Runde blickte, obwohl er alles andere als gelangweilt war. Neben ihnen erreichte Stefan sein Motorrad, aber er stieg noch nicht auf, sondern legte mit einer umständlichen Bewegung den Helm auf den Sattel und öffnete noch umständlicher den Verschluss der linken Satteltasche. Seine Finger zitterten deutlich, als er sie aufklappte und hineinsah. »Und?«, fragte Frank im Flüsterton. Stefan reagierte nicht, sondern ging mit steifen Schritten um die Maschine herum und inspizierte auch die andere Satteltasche, ehe er knapp den Kopf schüttelte. »Nichts. Es ist nicht da.« »Hier ist auch alles in Ordnung«, murmelte Frank. »Seht nach links. Aber unauffällig.« Sie gehorchten - natürlich alles andere als unauffällig. Mike sah nichts Außergewöhnliches: Nicht weit entfernt spielte eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind, und am anderen Ende des Parkplatzes bastelten zwei junge Burschen an der hochgeklappten Motorhaube eines feuerroten Ford Mustang herum, der
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älter sein musste als sie beide zusammen. Frank hatte Recht. Es war alles in Ordnung. Sicher, wenn die Cops wirklich eine Falle für sie vorbereitet hätten, wäre sie bestimmt so perfekt, dass sie nichts davon bemerkten. Aber würden sie wirklich das Leben einer jungen Mutter und eines Kleinkindes aufs Spiel setzen? »Wenn sie auf uns warten, dann vorne bei der Ausfahrt«, sagte Frank, während er seinen Helm aufsetzte. »Also schön langsam. Und wenn wir auch nur den Schatten eines Polizeiwagens sehen, dann halten wir an und nehmen hübsch brav die Hände in die Höhe, ist das klar? Ich will nicht, dass hier einer den Helden spielt.« Anstelle einer Antwort ließ Stefan den Motor seiner Maschine aufheulen und kickte den Ständer zurück. Auch Mike drückte den Startknopf. Es verging eine beunruhigend lange Zeit, in der nur das Winseln des Anlassers zu hören war. Stefan hatte für die lädierte Maschine getan, was in seiner Macht stand, aber letzten Endes war er kein Motorradmechaniker, sondern Zahnarzt, und sein Ersatzteillager hatte aus einer Rolle Klebeband und etwas Draht bestanden. Unter diesen Umständen hatte er ein kleines Wunder vollbracht. Es änderte jedoch nichts daran, dass die Intruder schwer beschädigt und im Grunde kaum noch fahrtüchtig war. Mike war ga nz und gar nicht sicher, ob sie die Strecke bis Las Vegas noch durchhalten würde. Es zeugte von der Qualität der Maschine, dass sie überhaupt bis hierher gekommen waren. Endlich sprang der Motor an, und sie fuhren los. Frank bildete die Spitze der kleinen Kolonne. Er fuhr so langsam, dass Mike die Füße von den Pedalen nehmen musste, um das Gleichgewicht zu halten, und als sie sich dem Ende des Parkplatzes näherten, wurde er sogar noch langsamer. Seine Vorsicht erwies sich als überflüssig. Die schwarzgelbe Schranke war und blieb oben, und auch in dem Gebüsch dahinter lauerten keine getarnten Polizeiwagen. Der Himmel
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war vollkommen wolkenlos und bot kein Versteck für einen Helikopter. Nachdem sie den Parkplatz verlassen und vielleicht zwanzig oder dreißig Meter weit gefahren waren, hielt Frank an und wartete, bis Mike und Stefan rechts und links von ihm zum Stehen gekommen waren. Mike erwartete, dass er irgendetwas sagen würde, aber er blickte nur starr geradeaus. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, das jedoch auf eine Art, die Mike ganz und gar nicht gefiel. Alarmiert sah er in dieselbe Richtung. Die Luft vor ihnen flirrte derart vor Hitze, dass die zyklopischen Felsgebilde sich wie bizarre Riesentiere unter Wasser zu bewegen schienen. Trotzdem war das silberne Blitzen zwei oder drei Meilen vor ihnen nicht zu übersehen. »Unser geheimnisvoller Freund«, murmelte Frank. »Was zum Teufel will er?«, fragte Mike. Seine Stimme zitterte leicht, und sein Atem ging schnell. Er versuchte sich einigermaßen erfolglos einzureden, dass es nur an der aufgestauten Hitze unter dem Helm und den schwarzen Lederklamotten lag. »Ich finde, das sieht ziemlich eindeutig nach einer Einladung aus«, antwortete Frank. »Oder einer Falle«, ergänzte Stefan. »Tja, da gibt es wohl nur eine einzige Möglichkeit, um die Wahrheit herauszufinden«, seufzte Frank. »Was meint ihr?« Mike hob nur die Schultern. Er hatte stillschweigend und dankbar akzeptiert, dass Frank die Führung übernommen hatte, und er gedachte nicht, ihm diesen Rang streitig zu machen und sei es nur dadurch, dass er eine eigene Meinung vertrat. »Wir wissen ja nicht einmal, wer der Kerl ist«, sagte Stefan. »Geschweige denn, was er will.« »Dann sollten wir ihn vielleicht fragen«, meinte Frank. »Und wenn er zu ihnen gehört?« »Das glaube ich nicht«, antwortete Frank, hörte sich dabei
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allerdings nicht sehr überzeugt an. »Immerhin hat er Mike gestern geholfen. Wenn er nicht aufgetaucht wäre, dann hatten die beiden Indios ihm noch viel übler mitgespielt.« »Zuerst sah es aber ganz anders aus«, maulte Stefan. »Und außerdem ist es der älteste Trick der Welt, um sich in jemandes Vertrauen zu schleichen.« Frank ignorierte ihn. Sein Gesicht hinter der viel zu großen, verspiegelten Sonnenbrille, die ihm etwas sonderbar Insektenhaftes verlieh, war maskenhaft starr, als er sich zu Mike herumdrehte. »Also?« Ganz demokratisch, wie?, dachte Mike resignierend. Also gut. Ohne ein weiteres Wort fuhr er los, auf das silberne Funkeln zu. Geleitet von einem chromfarbenen Stern, der manchmal hell aufblitzte und manchmal mit dem Hitzeflimmern der Luft zu verschmelzen schien, aber niemals lange verschwand, erreic hten sie eine knappe halbe Stunde darauf den Touristentraum, den Eingang zu jenem relativ kleinen Teil des Valleys, der der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Nachdem sie die letzte Kreuzung passiert hatten, an der es noch möglich gewesen wäre, falsch abzubiegen, schrumpfte das silberne Funkeln vor ihnen rasch zusammen und erlosch nach wenigen Augenblicken ganz; ein Umstand, der Mike gleich zw eierlei über ihren geheimnisvo llen Freund verriet: zum einen, dass er ein ganz ausgezeichneter Fahrer war, denn die Straße befand sich in einem so miserablen Zustand, dass selbst Stefan alle Mühe hatte, seine Maschine zu halten, zum anderen und viel wichtiger aber, dass nicht nur sie ihn, sondern auch er sie beobachtete. Es war also kein Zufall. Sie verloren die Maschine vollkommen aus den Augen. Sie tauchte auch nicht wieder auf, als sie das Ende der geteerten Straße erreichten. Dieses Ende bestand aus einem großen, halbrunden Parkplatz, der irgendwann zur Zeit des Amerikani-
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schen Bürgerkrieges geteert worden sein musste und seitdem nie wieder ausgebessert worden war, und einem weißen Gebäude mit einem flachen roten Ziegelsteindach, das außer dem fast obligaten Schnellimbiss zwei gebührenpflichtige Toilettenhäuschen und ein - im Moment allerdings geschlossenes - Büro der Park Ranger enthielt. Dahinter konnte Mike einen Helikopterlandeplatz erkennen. Nachdem sie den üblichen Eintritt bezahlt und Stefan sich wie üblich darüber ereifert hatte (diesmal allerdings zu Recht, wie Mike fand; zehn Dollar für eine Aussicht, die von der Natur ganz kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, und einen Stellplatz auf einem Parkplatz, der nur aus Schlaglöchern und scharfkantige m Schotter bestand und seiner ohnehin angeschlagenen Maschine möglicherweise den Rest geben würde, war wirklich übertrieben!), nach diesen nötigen Präliminarien also dirigierte sie ein wortkarger indianischer Parkplatzwächter mit groben Gesten zum Südrand des lang gestreckten Ovals, wo schon ein knappes Dutzend weiterer Motorräder abgestellt waren. Fast die Hälfte davon waren Harleys, aber keine Einzige war komplett verchromt, auch wenn ein paar mit penibel geputztem Zierrat nicht geizten. »Wo zum Teufel ist der Kerl?«, fragte Stefan, während er die Intruder auf den Ständer stellte und missmutig das Gesicht verzog, als sie bedrohlich zu kippeln begann. Mike erging es nicht besser. Er benötigte drei Anläufe, bis er das Motorrad auf dem unebenen Boden in einer Position abgestellt hatte, die ihm wenigstens halbwegs sicher erschien. »Er kann doch unmöglich irgendwo abgebogen sein, oder?«, fuhr Stefan fort, als er keine Antwort bekam. Auch diesmal hob Mike nur die Schultern, während Frank umständlich den Helm abnahm, seine Sonnenbrille zurechtrückte und sich aufmerksam in der Runde umsah. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Der Parkplatz war zwar groß, aber nicht sonderlich gut belegt. Von ein paar verrückten
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Touristen aus Europa einmal abgesehen, gab es anscheinend nicht allzu viele Wahnsinnige, die auf die Idee kamen, einen der heißesten Orte dieses Planeten ausgerechnet zur Mittagszeit zu besichtigen. Es gab eine Hand voll Pkws, zwei oder drei Wohnmobile und die Motorräder, neben denen sie selbst geparkt hatten. Keine Chance, irgendwo ein so auffälliges Fahrzeug zu verstecken, wie es das ihres geheimnisvollen Verfolgers war. »Vielleicht ist er ja weitergefahren«, sagte Stefan. Er klang ein wenig beleidigt, vielleicht weil er immer noch keine Antwort bekommen hatte. Er bekam sie auch jetzt nicht. Frank drehte sich lediglich um und wies mit einer Kopfbewegung auf den Beginn der eigentlichen Fahrspur, die nur ein paar Schritte entfernt lag. Es war keine Straße; nicht einmal ein Weg oder Trampelpfad, nur zwei unterbrochene tiefe Fahrspuren, die sich zwischen meterhohen Felsen und zum Teil ebenso tiefen Schlaglöchern hindurchschlängelten. Selbst der Fahrer eines herkömmlichen Geländewagens mit Allradantrieb musste aufpassen, um nicht an dieser Strecke zu scheitern. Aber eine schwere Harley war hier aufgeschmissen - schließlich war sie mit ihrem tiefliege nden Schwerpunkt das genaue Gegenteil einer MotocrossMaschine. »Hm«, machte Stefan. »Aber irgendwo muss er doch sein.« Er musterte eines der chromblitzenden Bikes neben sich längere Zeit und sagte dann: »Hoffentlich sind wir nicht auf eines von diesen Dingern reingefallen.« »Glaube ich nicht«, antwortete Frank. »Wir machen Folgendes: Ihr geht in den Imbiss und bestellt schon mal was zu Trinken - für mich bitte auch. Ich frage den Parkwächter. So eine Maschine fällt auf. Wenn er hier durchgekommen ist, hat er sie bestimmt gesehen.« »Und wenn nicht?« »Darüber denken wir dann später nach«, antwortete Frank.
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»Und jetzt ab mit euch. Ein fünf- Liter-Glas Coke für mich. Mich trifft gleich der Hitzschlag.« Mike erging es kaum besser, und auch Stefan machte nicht unbedingt einen frischen Eindruck. Er war bleich wie die sprichwörtliche Wand. Auf seinem Gesicht perlte Schweiß, und die Sonnenbrille hatte zwei tiefe, dunkelrote Halbkreise in das weiche Fleisch unter seinen Augen gegraben. Die Hitze setzte ihnen allen zu, Stefan offensichtlich am meisten. Sie überquerten den Parkplatz (der Asphalt war so heiß, dass Mike es durch die Stiefelsohlen hindurch spüren konnte!) und betraten den Schnellimbiss, eine Mischung aus einem heruntergekommenen McDonald's und etwas noch viel Schlimmerem, für das er lieber keinen Ausdruck finden wollte. Stefan verdrehte die Augen, sparte sich aber jeden Kommentar, bis sie ihre Bestellung aufgegeben, dieselbe bekommen und er den ersten gewaltigen Schluck getrunken hatte. Es waren nicht allzu viele Besucher da, sogar deutlich weniger, als Mike erwartet hatte. Stefan fuhr sich genießerisch mit dem Handrücken über den Mund und schloss für einen Moment die Augen. »Und jetzt behaupte bloß, dass das Ganze nur ein Albtraum ist«, murmelte er. »Wenn du darauf bestehst.« Mike trank ebenfalls einen großen Schluck. »Das Ganze ist nur ein Albtraum.« »Du lügst.« »Stimmt«, antwortete Mike. »Aber das wolltest du doch, oder?« Stefan trank einen weiteren, noch gewaltigeren Schluck, mit dem er den einen Liter fassenden Pappbecher vor sich fast zur Hälfte leerte. Mike beschäftigte sich einen kurzen Moment mit der Frage, ob es gut war, bei diesen Temperaturen übermäßig viel zu trinken. Vermutlich. Aber genau wusste er es nicht. »Ich weiß nicht genau, was ich will«, antwortete Stefan nach einer geraumen Weile leise und ohne ihn direkt anzusehen.
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»Vielleicht nur, dass es aufhört.« »Das könnte es«, antwortete Mike auf die gleiche Art. Stefan blinzelte. »Wie? Indem du mich kneifst und ich aufwache?« »Der Kerl ist nur hinter mir her«, sagte Mike ernst. »Ich glaube nicht, dass er etwas unternimmt, wenn du dich auf dein Bike schwingst und zum nächsten Flughafen fährst.« Er versuchte, die Landkarte vor seinem geistigen Auge entstehen zu lassen, aber alles, was er zustande brachte, war ein buntes Gekritzel, das irgendwie einem aus Rührei und Blut gebildeten zerfetztem Gesicht ähnelte. Trotzdem: »Wenn du dich beeilst, kannst du bis heute Abend Albuquerque in New Mexiko erreichen. Hat Albuquerque einen Flughafen?« »Vermutlich«, sagte Stefan. Er schüttelte den Kopf. »Aber ich haue nicht ab.« Er wiederholte sein Kopfschütteln, diesmal mit noch mehr Nachdruck. »Wir haben die Geschichte zusammen angefangen, und wir bringen sie auch gemeinsam zu Ende.« »Wir sind nicht die drei Musketiere«, antwortete Mike ernst. »Allerhöchstens die Three Stooges. Das hier ist kein Spiel, weißt du? Wenn die Sache schief geht, ist es aus. Die Kerle sind hinter mir her, nic ht hinter euch.« »Dieses kleine Geschenk war in meiner Satteltasche«, erinnerte Stefan ihn. Aber er klang nicht mehr ganz so überzeugt. Mike gemahnte sich in Gedanken zur Mäßigung. Er hatte diesen Vorschlag zwar in vollem Ernst gemacht, schon aus dem schle chten Gewissen heraus, seine Freunde in Gefahr gebracht zu haben, aber tief im Innern wollte er es natürlich nicht wirklich. Wie in jedem Menschen steckte auch in ihm ein kleiner Märtyrer, dem es ein innerliches Bedürfnis war, sich für seine Freunde aufzuopfern. Das war vielleicht eine hübsche Idee für ein Buch oder irgendeine ausgedachte Geschichte, jedoch kaum für die Wirklichkeit. Ihm fielen ungefähr eine Million Dinge ein, die er lieber täte, als sich allein mit diesem ausgeflippten Indianerpärchen herumzuschlagen.
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Vor allem, da er seit der vergangenen Nacht wusste, dass dieses »Herumschlagen« durchaus wörtlich zu verstehen war. Um ganz ehrlich zu sein: Er hatte diesen Vorschlag gemacht, damit Stefan ihn ablehnen konnte, genau wie Frank es getan hatte, aus keinem anderen Grund. Wieder kam ihm das Schicksal zu Hilfe, diesmal in Gestalt von Frank, der hereinkam, bevor Stefan möglicherweise doch noch auf den Gedanken kommen konnte, sein großmütiges Angebot zu akzeptieren. Er stürzte sich, ohne ein Wort zu verlieren, auf den rotweißen Pappbecher Cola, den Mike (für die Kleinigkeit von fünf Dollar) für ihn erstanden hatte, und kippte seinen Inhalt in einem einzigen Zug fast zur Hälfte hinunter. Mike war sicher, dass er sich den Rest ohne zu Zögern über den Kopf geschüttet hätte, hätte der Becher irgendetwas anderes als klebrige Cola enthalten. »Das war Rettung in letzter Sekunde«, sagte er, während er die Augen schloss und genießerisch die letzten Tropfen von seinen Lippen leckte. »Er war hier.« »Wer?« »Unser Freund«, antwortete Frank. »Silver Star. Der Lonesome Rider - nennt ihn, wie ihr wollt. Er ist vor kaum zehn Minuten hier durchgekommen.« »Und wohin?« »So groß ist die Auswahl ja nicht, oder?«, gab Frank zurück. »Straight ahead in die Hölle.« Er machte eine vage Kopfbewegung nach draußen, und Stefan riss ungläubig die Augen auf. »Aber es ist unmöglich, den Kurs mit einem Chopper zu schaffen! Ehe du dich versiehst, setzt irgendwo der Motor auf. Schließlich ist eine Harley keine Geländemaschine!« »Das sehen die einheimischen Führer auch so«, antwortete Frank und trank einen weiteren großen Schluck. »Deshalb waren sie ganz aus dem Häuschen. Wahrscheinlich sprechen sie noch in einem Jahr davon ... jedenfalls haben sie schon
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Wetten abgeschlossen, wie lange es dauert, bis sie den Abschleppwagen bestellen müssen. Wie auch immer, anscheinend hat er es geschafft.« »Was heißt hier anscheinend?« Mike machte eine Kopfbewegung in die gleiche Richtung wie zuvor Frank. »Seht mal da.« Vielleicht eine Meile entfernt, genau in der Mitte zwischen zwei gewaltigen Felstürmen, blitzte ein silberner Stern. Der Verrückte hatte offensichtlich bereits die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht - und das, obwohl Stefan mit jedem Wort Recht gehabt hatte. Der Kurs war mörderisch und weder mit einem normalen Auto noch mit einem normalen Motorrad zu schaffen. Ganz zu schweigen von einer Harley. »Ich hoffe, von euch kommt jetzt keiner auf die Idee, ihm hinterherzufahren«, brummte Stefan. Frank kippte den Rest seiner Cola hinunter und linste gierig in Mikes Becher, der erst zur Hälfte geleert war. Mike schob ihn ihm hin. Er hatte Durst, aber die Cola schmeckte wie das Material, in dem sie angeboten wurde. »Ist schon alles organisiert«, sagte Frank, während er ungeniert auch den Inhalt des zweiten Bechers hinunterstürzte. »Wir können einen Wagen mieten - mit Fahrer. Das tun die meisten hier.« »Das meine ich nicht«, erwiderte Stefan. »Ich frage mich, warum sich der Kerl so große Mühe macht, uns dort hinauszulocken. Das ist die perfekte Falle, oder?« »Stimmt«, antwortete Frank ungerührt. »Aber wenn er uns wirklich etwas antun wollte, hätte er es längst gekonnt. Und sehr viel bequemer.« »Und was soll das dann?« Frank zuckte mit den Schultern. »Vielleicht spielt er mit uns.« Mike starrte ihn an. Sein Herz begann zu hämmern. Was hatte Frank gesagt? Manchmal spielt er. Sein Blick blieb Frank nicht verborgen. »Ist was?«
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»Nein«, erwiderte Mike hastig. Er musste aufpassen. Vie lleicht verlor er ja allmählich den Verstand, aber es war nicht unbedingt nötig, dass die beiden anderen es merkten. Mit einer raschen Bewegung stand er auf und wandte sich zur Tür. Die anderen schlossen sich an. Obwohl das Innere des Schnellrestaurants nicht klimatisiert war, traf sie die Hitze erneut wie ein Hieb. Die Luft schien zu kochen, und Mike hatte das Gefühl, Sandpapier zu atmen. Heißes Sandpapier! Frank ächzte, und Stefan fragte: »Wisst ihr eigentlich, warum man diese Art von Restaurants Fast Food nennt?« »Weil das Zeug, das sie anbieten, fast Essen ist«, antwortete Frank. »Weißt du eigentlich, wie oft du das schon gefragt hast, Stefan?« Er machte eine Geste, die in keine bestimmte Ric htung gemünzt schien. »Da drüben steht unser Taxi.« Er marschierte los, und sie mussten den Parkplatz fast bis zur Hälfte überqueren, bis Mike begriff, welches Ziel sie ansteuerten. Was Frank so großspurig als Taxi bezeichnet hatte, war ein uralter, rostschutzfarbener Pick-up, ein mindestens dreißig Jahre altes Monstrum mit gut anderthalb Meter hohen Reifen und einer Stoßstange, die mit rostigem Draht festgezurrt war. Der Chauffeur, der an der durchlöcherten Tür auf der Beifahrerseite lehnte, war ein Indianer undefinierbaren, aber hohen Alters, der Frank heftig gestikulierend entgegentrat und ihn mit einem Redeschwall begrüßte, als wären sie alte Freunde. »Das meinst du nicht ernst!«, ächzte Stefan. »Diese Rostlaube kommt doch keine hundert Meter weit!« »Du kannst gerne mit dem Motorrad nachkommen«, erwiderte Frank ruhig. »Wir schicken dir dann einen Abschleppwagen. Oder gleich den Rettungshubschrauber.« Er drückte dem Indianer einen Geldschein in die Hand und machte mit der anderen eine einladende Geste. Der Fahrer schien irgendwie zu entmaterialisieren und im gleichen Sekundenbruchteil hinter
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dem Steuer wieder aufzutauchen; ein Trick, den man bei den hier herrschenden Temperaturen einfach beherrschen musste, wie Mike einen Augenblick später begriff. Als er nämlich den Fehler beging, die Hand nach dem Türgriff auszustrecken, verbrannte er sich kräftig die Finger. Im Inneren des Pick-ups war es überraschend kühl. Die Kiste sah zwar aus, als wäre sie schon mit der Mayflower in dieses Land gekommen, verfügte aber über eine Klimaanlage, die zwar heftig klapperte und schnarrte, jedoch trotzdem für einen erfrischenden Luftstrom sorgte. Stefan und Mike nahmen auf den beiden hinteren Sitzen Platz, während Frank sich schnaufend auf den Beifahrersitz hievte und die Tür mit solcher Vehemenz hinter sich zuzog, dass der ganze Wagen zitterte. Neben dem kleinwüchsigen Indianer sah er noch größer und beeindruckender aus als sonst. Der Anblick löste ein seltsames Gemisch von Emotionen in Mike aus. Franks Nähe hatte immer beruhigend auf ihn gewirkt; schon als sie Kinder waren. Es gab überhaupt keinen Grund dafür. Trotz seiner Größe und unbestrittenen Kraft war Frank alles andere als ein Schläger. Im Gegenteil, er war einer der friedlichsten Menschen, die Mike kannte. Frank hatte es niemals nötig gehabt, anders als »verbal« gewalttätig zu werden. Seine schiere Masse und vor allem die unerschütterliche Ruhe, die er ausstrahlte, schüchterten die meisten Menschen derart ein, dass sie sich hüteten, in seiner Gegenwart irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Was zählte, war nicht das, was er möglicherweise tun würde, sondern das, was er tun könnte. So lange sich Mike erinnern konnte, hatte er dieses Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe verspürt. Vielleicht war es sogar der Grund für ihre Freundschaft gewesen, auf jeden Fall aber die Keimzelle, aus der sich der Rest entwickelt hatte. Er hatte sich von diesem Gefühl genährt wie ein Vampir, dessen Opfer nicht einmal merkt, dass es ausgesaugt wird. Nun war es verschwunden. Die vergangene Nacht hatte alles
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geändert. Er war geprügelt worden - nein: »übel zusammengeschlagen« traf es schon eher -, und Frank war nicht da gewesen, um das Verspreche n einzulösen, das Mike ihm ohne sein Wissen vor so vielen Jahren auferlegt hatte. Das war weder fair noch logisch, aber seit wann scherten sich Gefühle um Logik? Der Motor des Pick- ups erwachte mit genau dem Geräusch zum Leben, das Mike erwartet hatte - einem schweren, klappernden Dieseln, das an ausgeschlagene Kolbenringe und klemmende Ventile erinnerte und bis in die Zahnwurzeln hinauf zu spüren war -, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Mike reckte den Hals, um das silberne Funkeln in der Wüste auszumachen, aber es war, zumindest von ihrer Position aus, nicht zu sehen. Kein Grund zur Sorge, dachte er. Der Lonesome Rider hatte sich bisher so große Mühe gegeben, sie seine Spur nicht verlieren zu lassen, dass er auch weiterhin dafür sorgen würde. Warum auch immer. Der Wagen verließ den Parkplatz und knallte schon nach den ersten zwei Metern in ein Schlagloch, das ihre Motorräder in alle Einzelteile zerlegt hätte und Mike unsanft in den Sitz stampfte. Er spürte jede der uralten Federn, auf denen er saß. Seine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander. Und das war erst der Anfang. Die Strecke, die sie in - wie es Mike vorkam - halsbrecherischem Tempo zurücklegten, war nicht so schlimm, wie sie ausgesehen hatte. Sie war schlimmer. Der Wagen hüpfte durch Schlaglöcher und über Felsbuckel und knallte mehr als einmal mit der Bodenplatte auf. Mike wurde auf dem durchgesessenen Sitz so gründlich hin- und hergeworfen und durchgerüttelt, dass er schon nach einer Minute heilfroh war, an diesem Morgen nicht ausgiebig gefrühstückt zu haben. Ihr Fahrer wahrscheinlicher aber Frank, der direkt vor Mike saß - hätte sein Frühstück im Nacken gehabt, noch bevor sie die erste Viertelmeile hinter sich gebracht hatten. Frank und Stefan schienen diese Schüttelpartie aus unerfind-
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lichen Gründen lustig zu finden. Sie kicherten und lachten nicht nur ununterbrochen, sondern brachten sogar irgendwie die Energie auf, ein Gespräch mit ihrem Chauffeur in Gang zu setzen, von dem Mike zwar kein Wort verstand, das aber äußerst ausgelassen klang. Hysterie, entschied Mike. Das war pure Hysterie. Niemand brachte so viel Unverschämtheit auf, in einer Situation wie dieser wirklich fröhlich zu sein. Niemand - außer diesen beiden Blödmännern, hieß das ... »Was ist eigentlich so komisch?«, fragte er nach einer Weile. Er hatte Mühe, die Worte zu formulieren. Irgendeines der fünftausend Schlaglöcher, durch die der Wagen während der letzten zehn Minuten gehüpft war (Mike war mittlerweile sicher, dass der Kerl das mit Absicht machte, um die blöden Touries zu quälen), hatte seinen Magen umgestülpt, und er hatte alle Mühe, ihn mit krampfhaften Schluckbewegungen wieder dorthin zurückzubefördern, wo er sein sollte. »Unser Chauffeur ist ein reinblütiger Navajo«, sagte Frank. »Behauptet er jedenfalls«, fügte Stefan hinzu. »Und?« »Wir lernen gerade Navajo«, griente Frank. »He - wusstest du, dass es die komplizierteste Sprache der Welt ist? Der USGeheimdienst benutzt sie noch heute, um ganz besonders sensible Dokumente zu verschlüsseln, weil selbst die raffiniertesten Computersysteme große Probleme haben, sie zu entschlüsseln.« »Und?«, fragte Mike noch einmal. Er fand diese Information zwar interessant, begriff aber nicht ganz, was daran so lustig sein sollte. Franks Antwort machte es klar: »Wir haben ihn gefragt, wie man auf Navajo jemanden nennt, der immer ein Stück hinterherhinkt«, sagte er grinsend. »Du weißt schon: jemanden, der immer als Letzter von der Tankstelle loskommt, der doppelt so lange braucht wie die anderen, um seine Maschine zu beladen, oder der auch schon mal eine Ehrenrunde dreht, weil er die
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Kurve nicht gekriegt hat und einmal um den Block fahren muss.« »So?«, fragte Mike säuerlich. »Che-Tehai«, sagte Stefan. Irgendwie sah er aus, als könnte er sich vor Lachen kaum noch halten. An den Indianer hinter dem Steuer gewandt fügte er hinzu: »Some kind of turtle, right?« »Che-Ta-Hai«, bestätigte der Navajo. Er kicherte. Aber war er wirklich belustigt? Mike sah in den Innenspiegel, der schlampig und schief mit Klebeband an der Innenseite der zerkratzten Windschutzscheibe befestigt war, und für einen kurzen Moment begegnete sein Blick dem des Indianers. Er hatte unheimliche Augen. Uralte Augen, die in ein Netz aus Tausenden winziger harter Falten eingebettet waren; Falten, die aussahen wie Risse in sonnendurchglühtem Fels. Für einen Moment war Mike vollkommen sicher, dass diese Augen mindestens so alt waren wie diese Welt, wenn nicht älter, und dass sie bis auf den Grund seiner Seele blickten; auf eine Art, die ihm Angst machte. »Che-Ta-Hai«, sagte der Navajo noch einmal. Kichernd fügte er etwas auf Englisch hinzu, das Mike nicht verstand, und Stefan und Frank stimmten unverzüglich in sein Lachen ein. Auch dieses Lachen gefiel Mike nicht. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Indianer gesagt hatte, aber er war ziemlich sicher, dass das Gelächter auf seine Kosten ging. Natürlich hatten sie Recht: Er war derjenige, auf den Stefan und Frank ständig warten mussten, allein weil er die größten Probleme hatte, mit diesem Koloss von Motorrad zurechtzukommen. Und? Eine Sekunde lang überlegte er ganz ernsthaft, sie süffisant darauf hinzuweisen, dass es schließlich auch er gewesen war, der die ganze Tour bezahlt hatte, und zwar für sie alle drei. Doch dann wurde ihm klar, wie unfair das wäre. Ein Triumph, der ihn mehr kosten würde, als er ihm einbrachte. »Ganz wie ihr meint, ihr Blödmänner«, antwortete er - wobei
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er sich bemühte, einen beleidigten Ton in seine Stimme zu legen, der ganz bewusst übertrieben und schmollend klingen sollte. Es funktionierte. Frank und Stefan kicherten hämisch, und nach einer Sekunde stimmte auch der Fahrer in dieses Kichern ein, obwohl er ganz bestimmt kein Wort verstanden hatte. Che-Ta-Hai! Pah! Die Fahrt dauerte noch gute zehn Minuten (etwa fünfundzwanzigtausend Schlaglöcher), dann lenkte der Navajo den Pick- up plötzlich mit einem Ruck nach links, so abrupt, dass Mikes Kopf unsanft gegen die Seitenscheibe knallte und Stefan fast vom Sitz gefallen wäre. Noch bevor sich allgemeiner Protest erheben konnte, raste ein nagelneuer Ford Probe in einer gewaltigen Staubwolke an ihnen vorüber und verschwand um die nächste Biegung. »Vollidiot«, knurrte Frank. »Na dann fröhlichen Achsenbruch«, kommentierte Stefan. Frank lachte leise, und auch der Navajo stimmte wieder mit ein - nicht, weil er irgendetwas verstanden hätte, sondern weil die Gäste, die die Dollars besaßen, immer Recht hatten; und natürlich auch die Lacher auf ihrer Seite. Sie fuhren weiter. Hinter der Biegung, hinter der der Probe verschwunden war, offenbarte sich ihnen ein kleines Wunder der Ford lag weder mit durchdrehenden Rädern auf dem Dach noch mit eingedrückter Motorhaube und gebrochener Achse neben der Strecke, sondern jagte unbeirrt an der Spitze einer gewaltigen Staubwolke tiefer in die Wüste hinein. Nun, wer hatte je behauptet, dass europäische Motorrad-Touristen ein Monopol darauf hatten, bescheuert zu sein? Amis waren das offensichtlich auch. Sie fuhren jetzt langsamer, und nach nur zwei oder drei weiteren Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht: Vor ihnen erhob sich ein gigantischer Felsquader, präzise wie mit einer titanischen Diamantsäge zugeschnitten. In seinem messerscharf
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abgegrenzten Schlagschatten parkte ungefähr ein halbes Dutzend Fahrzeuge, die verblüffend genau dem glichen, in dem sie selbst saßen: uralte Pick- ups mit riesigen Reifen, die keinerlei Profil mehr hatten, und die der Einfachheit halber gleich mit Mennige gestrichen waren statt mit Lack. Auch die Fahrer sahen alle irgendwie gleich aus, fand Mike. Wahrscheinlich stellten sie Autos und Chauffeure alle in der gleichen Fabrik her, um naive Touristen zufrieden zu stellen. Von dem weißen Ford war nichts zu sehen. Vermutlich war der Wahnsinnige tiefer in die Wüste hineingefahren, auf der Suche nach einem Felsen, an dem er seine Kiste zerschmettern konnte. Und es gab auch keine Harley. Weder verchromt noch unverchromt. Der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich an. Vor ihnen erhob sich eine Reihe grob aus Balken und dünnen Baumstämmen zusammengezimmerter Verkaufsstände, die rustikal ausgesehen hätten, hätte der Sonne nschutz nicht aus blauen Plastikplanen bestanden, welche Mike verdächtig an die Müllsäcke erinnerten, die sie zu Hause benutzten. Ihr Chauffeur sagte ein paar Sätze auf Englisch, auf die hin Frank und Stefan zustimmend nickten. Mike blickte fragend. »Der Händler da ist sein Schwager«, erklärte Frank. »Der Einzige hier, dem man vertrauen kann. Alle anderen haben nur nachgemachten Plastik-Tand.« »Der Händler«, wiederholte Mike. »Welcher?« Es gab ungefähr ein Dutzend. »Na, immer der, zu dem wir gehen«, antwortete Stefan grinsend. »Was hast du denn gedacht?« Sie stiegen aus. Die Hitze schien noch zugenommen zu haben, was vermutlich aber nur ein subjektives Gefühl war. Die Klimaanlage des Pick-ups hatte ihr Bestes getan, um die Fahrzeuginsassen in Eisklötze zu ve rwandeln. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - wurde Mike im ersten Moment
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leicht schwindelig, und er spürte ein flaues Gefühl im Magen, das sich gottlob nicht zu einer wirklichen Übelkeit entwickelte. »Und jetzt?« Stefan sah sich aus eng zusammengekniffenen Augen um. Auf die Idee, die Sonnenbrille aufzusetzen, die er in der linken Hand hielt, schien er nicht zu kommen. Frank zuckte die Schultern und deutete gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf die aufgereihten Verkaufsstände. »Sehen wir, was die tausend Schwäger unseres Scouts zu bieten haben. Vielleicht finden wir ja ein Medaillon, das gegen böse Geister hilft.« Mike wünschte sich, Frank hätte das nicht gesagt. Er war nicht sicher, ob es nur eine scherzhafte Bemerkung war oder ein boshafter Seitenhieb in seine Richtung. Begleitet von ihrem Navajo-Führer (Mike fragte sich mittle rweile, ob es sich in Wahrheit nicht nur um einen illegal eingewanderten Mexikaner handelte, der irgendwelchen Unsinn brabbelte, den niemand verstand, und von dem genau deshalb jedermann glaubte, es müsse sich um Navajo handeln) schlenderten sie also an den Verkaufsständen vorbei und begutachteten die angebotenen Waren: der übliche TouristenTand, der vermutlich allesamt aus der gleichen Fabrik in China stammte. Türkis-Ketten (zweifellos aus Kunststoff), hoffnungslos überteuerte maschinell gefertigte Silberarmbänder und Ketten aus bunten Glasperlen. Zumindest dieser Anblick amüsierte Mike. Es waren die ersten Europäer gewesen, die den Ureinwohnern dieses Kontinents ihr Land für eine Hand voll bunter Glasperlen abgekauft hatten. Irgendwie erschien es ihm nun fair, dass es die Nachkommen jenes Volkes, das damals so derb über den Tisch gezogen worden war, es den Europäern nun mit gleicher Münze zurückzahlten. Solange er nicht der Betroffene war, selbstverständlich … »Kein gutes Totem«, seufzte Stefan, nachdem sie die Reihe der Verkaufsstände bis zum Ende abgeschritten hatten. Frank schürzte die Lippen und wechselte ein paar Worte mit ihrem
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Fahrer, der wie ein hyperaktives Wiesel hinter ihnen herdackelte, und sagte dann: »Weißes Pow-Wow. Es heißt: weißes PowWow.« »Aha«, sagte Stefan. »Und was genau bedeutet das?« »Das es teuer wird.« Mike deutete nach rechts, auf die schmale Trennlinie, an der sich roter weicher Schatten und unbarmherzige Sonnenglut eine niemals endende Schlacht lieferten. »Was haltet ihr von silbernem Pow-Wow?« Es war nicht die Harley, nur ihr Fahrer, um den es gleich doppelt grellsilbern aufloderte: Der verchromte Colt in seinem Gürtel und die verspiegelte Sonnenbrille, die er trug, blitzten in der Sonne. Mike war nicht einmal überrascht, dass ausgerechnet er ihn entdeckt hatte. Er hatte nichts anderes erwartet. »Und jetzt?«, fragte Stefan. Seine Stimme klang belegt. »Gehen wir hin«, antwortete Frank. »Was denn sonst?« Sie traten aus dem Schatten des blauen Müllbeutel-Daches, hinaus in die lodernde Sonnenglut, drei hochgerüstete SpaceMarines in molekülverstärktem schwarzen Panzerleder, die zum letzten Gefecht gegen die fiesen Außerirdischen bereit waren, obwohl sie wussten, wie erbärmlich schlecht ihre Chancen standen. Und so albern dieser Gedanke war, er machte Mike Mut. Ungleich mehr, als er auch nur zu träumen gewagt hätte. Als sie sich dem Lonesome Rider bis auf zwanzig Schritte genähert hatten, drehte sich dieser um und ging mit langsamen Schritten davon. Langsam genug, um eine Aufforderung daraus zu machen; aber zugleich auch eine bitterernste Warnung, die Spielregeln nicht zu verletzten und ihm zu nahe zu kommen. Allmählich kam Mike die Situation immer absurder vor. Wenn dieser Kerl etwas von ihnen wollte, warum kam er nicht einfach zu ihnen? Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Er sah sich im Gehen nach ihrem Navajo-Führer um. Seltsam:
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Bisher war er keinen Zentimeter von ihren Fersen gewichen, um sich ja keine Gelegenheit auf ein gutes Geschäft entgehen zu lassen. Plötzlich schien er jegliches Interesse an ihnen verloren zu haben. Er redete heftig gestikulierend mit einem seiner zahllosen Schwäger und sah nicht einmal mehr in ihre Richtung. Silver Star verschwand hinter der Ecke des gigantischen Felswürfels, in dessen Schatten die Verkaufsstände aufgebaut waren. Als sie ihm folgten, erblickte Mike etwas durch und durch Unglaubliches: eine von vorne bis hinten komplett verchromte Harley Davidson, die gleißend wie ein heruntergefallener Stern in der Sonnenglut dastand. Der Kerl war tatsächlich mit der Harley hierher gefahren - über eine Strecke, die für Motorräder dieses Kalibers ein unüberwindbares Hindernis darstellte! Der Lonesome Rider ging zu seiner Maschine, lehnte sich lässig gegen den Sattel und legte die Hand in einer wie zufällig wirkenden Geste zwei Zentimeter neben den Griff des Revo lvers. Anscheinend hatte er eine Vorliebe für theatralische Auftritte. Aber es wirkte. Und wie es wirkte. »Hallo, Leute«, sagte er in perfektem, nahezu akzentfreiem Deutsch. »Das hat lange gedauert. Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr.« »Wer zum Teufel ... ?«, begann Stefan. Ungeschickterweise machte er gleichzeitig einen Schritt auf den Fremden zu, und er tat es wohl auf eine Art, die diesen zu einer reichlich unfreundlichen Reaktion provozierte: Seine Hand hob sich und sank mit einem klatschenden Geräusch wieder hinab, diesmal genau auf den Griff des verchromten Colts: den Daumen auf dem Hammer, zum Zurückziehen bereit, den Zeigefinger auf dem Abzug und die restlichen Finger um den perlmuttbesetzten Griff geschmiegt. Seine Hand war so angespannt, dass die Sehnen wie dünne weiße Drähte durch die Haut schimmerten. John Wayne in Reinkultur. Nur dass dies kein Video war, bei
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dem man im letztmöglichen Moment auf die Pausentaste drücken konnte. »Tut jetzt nichts, was ihr später bereuen würdet, Freunde«, sagte er. »Wir können uns wie zivilisierte Menschen unterha lten - oder gleich eine Schlägerei anfangen. Das liegt ganz bei euch.« Er nahm mit einem Lächeln die Hand vom Colt, und dieses Lächeln war vielleicht das Bedrohlichste an der gesamten Situation überhaupt. Die lässige Geste stand nur deshalb nicht im Widerspruch zu seiner Warnung, weil er sicher zu sein schien, es mit ihnen allen drei aufnehmen zu können. Gleic hzeitig, versteht sich. »Wir schlagen uns nicht«, sagte Frank. »Ich weiß«, antwortete ihr Gegenüber. »Das ist ja euer Problem.« »Was soll das heißen?« Stefan und Frank tauschten einen raschen, alarmierten Blick, wichen zugleich aber auch einen Schritt auseinander. Mike verspürte einen tiefen, schmerzha ften Stich in der Brust. Nicht etwa in seinem Herzen, das ihm in letzter Zeit solche Schwierigkeiten bereitet hatte. Er fühlte sich vielmehr gekränkt, gekränkt in etwas, das er bisher als lächerlich empfunden und im Grunde als überflüssig und nicht existent betrachtet hatte: seiner Ehre. In dieser Lage, in der rein gar nichts klar war und Gewalt als durchaus ernst zu nehmende Option in der Luft lag, waren die drei Musketiere ganz plötzlich nur noch zwei. Es war wohl nicht so, dass Stefan und Frank sich Sorgen um ihn machten. Bei dem, was möglicherweise gleich passieren würde, stand er, Mike, offensichtlich im Abseits. So einfach war das. »Regt euch ab, Jungs«, sagte Silver Star. »Ich will nur mit euch reden, sonst gar nichts.« »Das hätten Sie einfacher haben können«, schnappte Frank. »Was soll dieses Affentheater? Wer sind Sie überhaupt?« »Mein Name ist Marc«, sagte der Mann mit der verspiegelten
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Sonnenbrille. »Marc Strong.« Frank lachte. Es klang nicht sehr amüsiert. »Das glauben Sie doch selbst nicht.« »Natürlich nicht«, antwortete Marc. »Aber ein Name ist so gut wie der andere, oder?« Er hob die Schultern, setzte seine Sonnenbrille ab und steckte sie in eine der zahlreichen Taschen seiner schwarzen Lederjacke. »Wenn es euch Spaß macht, könnt ihr mich auch Donald Duck nennen. Obwohl das albern wäre, oder?« »Was wollen Sie?«, fragte Frank. »Ich?« Strong lachte leise und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Seltsam. Ich dachte, ihr wollt etwas von mir, Freunde. Oder warum sonst habt ihr euch so viel Mühe gemacht, mir zu folgen?« »Auf jeden Fall nicht, um uns auf den Arm nehmen zu la ssen«, antwortete Stefan. Er trat einen weiteren halben Schritt auf Strong zu und reckte die Schultern, aber es wirkte kein bisschen herausfordernd oder gar bedrohlich - eher nur hilflos. Allein schon deshalb, weil ihn sein Gegenüber fast um einen Kopf überragte. »Das habe ich auch nicht vor, Freunde«, antwortete Strong ernst. »Habt ihr ein bisschen Zeit? Ich meine: Wollt ihr wissen, wer diese drei Roten sind und was sie von euch wollen?« Niemand antwortete. Mike gefiel nicht, wie Strong das Wort »Rote« aussprach, aber er sagte nichts dazu. »Dann kommt mit.« Strong drehte sich in einer sonderbar abgehackt wirkenden Bewegung herum und marschierte los. Er machte sich nicht die Mühe, noch einmal zu ihnen zurückzublicken. Anscheinend war er vollkommen sicher, dass sie ihm folgen würden. Und natürlich zu Recht. Sie kamen dicht an seinem Motorrad vorbei. Mike spürte die Hitze, die das Metall ausstrahlte, nachdem es stundenlang der Sonnenglut ausgesetzt gewesen war. Der Chrom reflektierte das Sonnenlicht so unbarmherzig, dass ihm die Tränen in die
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Augen stiegen, trotz der Sonnenbrille, die er trug. Auf einer solchen Maschine - noch dazu mittags - durch die Wüste zu fahren, musste schier unerträglich sein. Überhaupt ein derart auffälliges Motorrad zu fahren, sagte schon eine Menge über den Charakter seines Besitzers aus. Mike glaubte nicht, dass er einen Menschen, der ein solches Gefährt sein Eigen nannte, wirklich mögen konnte - aber vermutlich war das genau die Absicht, die hinter all der Arbeit steckte, die Strong zweifellos in seine Harley investiert hatte. Zumindest was das Motorrad anging, schien Mike mit dieser Meinung allerdings allein dazustehen. Stefan und Frank bedachten das chromblitzende Ungetüm mit unverhohlener Bewunderung. Bei Stefan konnte er das ja noch verstehen - er war ein Technik-Freak, der tief in seinem Herzen wahrscheinlich tausendmal lieber Motorradmechaniker oder Rennfahrer geworden wäre als Zahnarzt. Frank hingegen verstand von der Technik ebenso viel wie er selbst - nämlich nichts -, und seine Begeisterung für Motorräder beschränkte sich aufs Fahren. Dennoch war nicht zu übersehen, wie tief ihn dieses verspiegelte Ungeheuer beeindruckte. Auf eine vollkommen absurde Weise, gegen die er ebenso vollkommen machtlos war, fühlte Mike sich plötzlich von seinen beiden Freunden allein, ja, fast im Stich gelassen. Sie folgten Strong, der präzise genau einen Schritt neben dem linealscharf gezogenen Schlagschatten des Felsturmes entlangmarschierte - und zwar auf der Sonnenseite! -, und gingen langsam auf die eigentliche Felswand zu. Mike dachte besorgt daran, dass sie sich langsam und beharrlich immer weiter von ihrem Navajo-Führer und seinem Pick-up entfernten. Was, wenn sie zurückkamen und er nicht mehr da war? Sie befanden sich tief in der Wüste, sicherlich drei oder vier Meilen von ihren Maschinen entfernt. Bei den hier herrschenden Te mperaturen, dem schwierigen Gelände und vor allem ihrer vollkommen unpassenden Kleidung eine Distanz, die zu Fuß kaum zu
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bewältigen war. Mike verscheuchte den Gedanken. Von irgendwoher zurückzukommen, setzte voraus, dass sie erst einmal irgendwo hingingen. Wohin zum Teufel führte sie dieser Kerl? Vor ihnen war nichts als Hitze, glühend heißer Fels und noch einmal Hitze. Was hatte Frank vorhin gesagt, wohin Strong gefahren wäre? Straight ahead to hell? Geradewegs in die Hölle? Jeder weitere Schritt bestärkte Mike in dem Gefühl, dass er damit Recht gehabt hatte. Der Fuß der Felswand wurde von einem Gewirr teilweise Einfamilienhaus großer Felstrümmer gebildet, die im Laufe der Jahrtausende von der Kante des Steinkolosses abgebrochen waren und nun ein Labyrinth aus Schutt, scharfen Kanten und nachtschwarzen Schatten bildeten, das kaum zu überwinden war. Mike balancierte mit ausgebreiteten Armen hinter Strong und den beiden anderen her, und es kam ihm selbst wie ein kleines Wunder vor, dass er nicht längst gestürzt war und sich schwer verletzt hatte. Den Fehler, sich an einem der Felsvorsprünge festhalten zu wollen, hatte er nur ein einziges Mal begangen. Der Stein war so heiß, dass er sich die Finger daran verbrannte. Strong marschierte zielstrebig und ohne sich ein einziges Mal zu ihnen herumgedreht zu haben auf einen der schwarzen Schlagschatten zwischen den Felstrummern zu - und verschwand darin. Verblufft stellte Mike fest, dass es kein Schatten war, sondern der Durchgang zu einer niedrigen, aber sehr lang gestreckten Höhle, die offensichtlich tiefer in den Berg hineinführte. Wie weit, konnte er nicht sagen. Nach der grellen Sonnenglut draußen war er im ersten Moment praktisch blind. Aber die lang anhaltenden hallenden Echos verrieten ihm, dass sie groß war. Wenigstens war es kühl hier. Mit einem erleichterten Seufzen setzte Frank die Sonnenbrille ab, und Stefan ließ sich mit einem gleichartigen Laut gegen die schräge Seitenwand sinken. Er stieß sich dabei den Kopf an der
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niedrigen Decke, aber das schien ihn nicht weiter zu stören. »Nur keine Müdigkeit vorschützen, Freunde«, sagte Strong spöttisch. »Wir haben noch ein Stück vor uns. Das Schlimmste ist geschafft. Wir können natürlich auch eine kleine Pause einlegen, wenn ihr müde seid.« Stefan stieß sich trotzig vo n der Wand ab, während Frank sich zu Mike umdrehte und ihm einen raschen, fast besorgten Blick zuwarf. Schaffst du das ? Mikes Antwort bestand in einem gedachten, ganz entschiedenen Nein und einem umso entschlosseneren Blick, der ein Ja signalisierte. Sie setzten ihren Weg fort. Mikes Augen gewöhnten sich ganz allmählich an das rotbraune Dämmerlicht, sodass er seine Umgebung - zumindest schemenhaft - erkennen konnte. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen Hohlraum, den die heruntergestürzten Felstrümmer bildeten; wenigstens nicht mehr nach den ersten Schritten. Vielmehr schien der gesamte, riesige Felsen geborsten zu sein. Sie bewegten sich nicht nur tiefer in ihn hinein, sondern zugleich auch nach oben. Mike versuchte vergeblich, sich gegen die schreckliche Vorstellung von Felswänden zu wehren, die sich nach Millionen Jahren entschlossen, wieder in ihre ursprungliche Lage zurückzurutschen und alles, was sich zwischen ihnen befand, einfach zu zerquetschten. Auch wenn er im Allgemeinen ganz gut davon el bte: Manchmal war es ein Fluch, eine rege Fantasie zu haben. Sie mussten seit gut zehn Minuten unterwegs sein. Von irgendwoher kam immer noch Licht, auch wenn es Mike ein Rätsel war, woher. Der Weg führte weiterhin beharrlich nach oben. Schließlich blieb Frank stehen, ließ sich mit einem hörbaren Knacken der Gelenke in die Hocke sinken und musterte aufmerksam die Wand vor sich. »Was hast du da?«, fragte Stefan. »Nichts«, antwortete Frank. »Ich schaue nur nach, ob ich irgendwo eine Nachricht von Arne Saknussem finde.«
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Stefan blinzelte verständnislos, und Mike sagte müde: »Du solltest solche intellektuellen Scherze vielleicht besser lassen.« »Und du«, knurrte Stefan gereizt, »solltest besser überlegen, was du sagst.« »Hehe!«, meldete sich Strong von der Spitze der kleinen Kolonne aus. »Keinen Streit da hinten! Wir sind gleich da, und dann gebe ich euch was, woran ihr eure schlechte Laune auslassen könnt. Tempo jetzt!« Sein scharfer Ton zeigte Wirkung. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzten sie ihren Weg fort, und es vergingen tatsächlich nur mehr wenige Minuten, bis die Wände vor ihnen auseinander wichen und sich der Gang zu einer weitläufigen Höhle weitete. Hoch oben in der gewölbten Decke gab es eine Anzahl unregelmäßig geformter Löcher, durch die Sonne nlicht in schrägen Streifen fiel, und dicht vor der gegenüberliegenden Wand brannte ein flackerndes Feuer, dessen Schein den Raum mit der Illusion von Bewegung und Leben erfüllte. Mike stockte der Atem. Er blieb so abrupt stehen, dass Frank leicht zusammenfuhr und erschrocken in seine Richtung starrte. Sein Herz begann zu hämmern. Er kannte diese Höhle! Er war schon einmal hier gewesen. Zweimal sogar, in den Visionen, die ihm der Wendigo geschickt hatte. Es war die Höhle aus seinem Traum! Und noch während das Entsetzen ihn gepackt hielt, erinnerte er sich an etwas, dessen wahre Bedeutung er die ganze Zeit über nicht erfasst hatte. Bei seinem ersten Besuch in der Höhle war es nicht der Wendigo gewesen, mit dem er gesprochen hatte, sondern ein alter Indianer, ein Schamane, der ihm begonnen hatte, Dinge zu erklären, die zu verstehen sich sein verwirrter Verstand bis dahin geweigert hatte. Und jetzt, konfrontiert mit der Tatsache, dass die Höhle mehr als nur eine Vision gewesen war, spürte Mike es ganz deutlich: die gleic hzeitige Anwesenheit des Wendigo und des Schamanen, der ihn
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gewarnt hatte und doch ebenso Bestandteil des Spiels war, aus dem es kein Entrinnen mehr zu geben schien. »Ich werde versuchen, dir zu helfen«, hatte der Alte gesagt. »Aber ich weiß nicht, ob ich es kann. Er ist sehr mächtig.« O ja, der Wendigo war mächtig, und fast schien es Mike, als versuche er seine Erinnerung an den Schamanen komplett auszulöschen und sich gleichzeitig in den Vordergrund zu schieben, abgrundtief böse und getrieben von dem Verlangen nach Zerstörung. Offensichtlich war er jedoch auch nicht allmächtig, wie er Mike immer wieder weiszumachen versucht hatte. Vielleicht gab es eine Kraft, die ihm Einhalt gebieten konnte, ohne ihm wirklich gewachsen zu sein. Vielleicht gab es immer eine Kraft, die sich dem unbeschreiblich Bösen und Launenhaften entgegenstellte, weil die Welt ohne ein - zumindest ungefähres - Gleichgewicht der Kräfte schon längst aus den Fugen geraten wäre ... »Was hast du?«, fragte Frank alarmiert. »Nichts«, sagte Mike mit leiser, belegter Stimme. »Ich war ... nur überrascht, das ist alles.« Franks Blick sagte sehr deutlich, was er von dieser Antwort hielt, aber bevor er seinen Spott in Worte kleiden konnte, mischte sich Strong ein. »Das ist beeindruckend, nicht wahr? Ich war auch vollkommen von den Socken, als ich es das erste Mal gesehen habe.« Er lachte. Der Laut erzeugte unheimliche, hallende Echos in der Weite der Höhle, Echos, die nicht allein aus dem reflektierten Klang seiner Stimme zu bestehen schienen, sondern noch etwas anderes, Fremdes mit sich brachten; Stimmen, die düstere Geschichten in einer unbekannten Sprache erzählten und die man besser nicht verstand. »Ihr solltet erst einmal die Wandmalereien sehen.« »Was für Wandmalereien?«, fragte Stefan. »Dort drüben, auf der anderen Seite.« Mike deutete auf die Felswand hinter dem Feuer. Die Wand war von tanzenden Schatten und hin- und herhuschendem Licht
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in unterschiedlichen Rottönen bedeckt, die die Felszeichnungen vollkommen unsichtbar werden ließen. Aber er wusste, dass sie da waren; der Schamane hatte sie ihm offenbart, vielleicht, um ihn auf etwas vorzubereiten, dass der Wendigo in der Abgeschiedenheit der Höhle für ihn vorbereitet hatte eine neue Spielvaria nte, die ihn endgültig um den Verstand bringen sollte. Er musste vorsichtig sein. Strong blinzelte verwirrt und ein wenig misstrauisch. »Das stimmt«, sagte er. »Woher ... ?« »Was ist das hier?«, fragte Frank. »Außer einem Loch im Berg, meine ich.« Strong antwortete nicht sogleich, sondern blickte Mike weiterhin misstrauisch an. Dann drehte er sich um und starrte stirnrunzelnd zum Feuer, als versuche er herauszufinden, ob man die Wandmalereien dahinter trotz des flackernden Vorhangs aus Schatten und Licht von hier aus erkennen konnte. Schließlich hob er die Schultern. »Ein Zeremonienort, eine Zufluchtshöhle ... vielleicht von beidem etwas. Auf jeden Fall muss sie unglaublich alt sein. Die Wandmalereien dort drüben sind eindeutig Anasazi.« »Es gibt überhaupt keine sichere Zuordnung irgendwelcher Anasazi-Wandmalereien«, dozierte Mike. Strong warf ihm einen schrägen Blick zu. »Wenn hier einer den Klugscheißer spielt, dann ich«, sagte er. »Was soll das alles?«, fragte Frank hastig. »Sie haben uns doch nicht hierher gelockt, um eine archäologische Führung zu veranstalten, oder?« »Banause«, maulte Strong, grinste aber gleich darauf. »Ganz egal, wer die Bewohner dieser Höhle ursprünglich waren - es leben noch heute welche hier. Ich wollte euch einen dieser Bewohner vorstellen. Ich bin sicher, ihr freut euch.« »Was soll das jetzt wieder heißen?« »Nicht so ungeduldig, Freunde«, grinste Strong. Er machte eine wedelnde Handbewegung zum Feuer hin. »Macht es euch
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gemütlich und genießt diesen geschichtsträchtigen Ort. Ich bin gleich zurück.« Er verschwand mit weit ausgreifenden Schritten im nicht beleuchteten Teil der Höhle. Auch Mike und die beiden anderen setzten sich zögernd in Bewegung und gingen zum Feuer. Obwohl er noch vor wenigen Minuten geglaubt hatte, den Hitzetod sterben zu müssen, war Mike nun dankbar für die prasselnden Flammen. Es war bitterkalt hier drinnen. Frank und er ließen sich im Schneidersitz neben dem Feuer nieder, während Stefan dicht an die Felswand herantrat und die uralten Wandmalereien darauf musterte. Nach einer Weile drehte er sich um, starrte erst in Mikes Richtung und dann zu dem niedrigen Eingang auf der anderen Seite der Höhle, der sicherlich dreißig oder vierzig Meter entfernt war. »Und das hast du von da aus gesehen?« »Muss wohl«, antwortete Mike. Er wich Stefans Blick aus und sah stattdessen Frank an, aber auch das war keine wirklich gute Idee. Frank erwiderte seinen Blick auf eine Weise, die Mike eindeutig Unbehagen bereitete. Er war beinahe erleichtert, dass Strong genau in diesem Moment zurückkam. Strong trug ein in schwarze Plastikfolie gehülltes, gut anderthalb Meter langes Bündel auf den Armen, das mit mindestens einer kompletten Rolle Klebeband umwickelt war. Mit einer schwungvollen Bewegung ließ er es vor sich auf den Boden fallen. Es gab einen schweren, trotzdem aber sonderbar weich klingenden Laut. »Was ist das?«, fragte Frank misstrauisch. Statt zu antworten, ließ sich Strong auf die gleiche Weise wie sie am Feuer nieder und bedeutete Stefan mit einer ungeduldigen Kopfbewegung, sich zu ihnen zu gesellen. Mike fiel erst jetzt auf, dass er seine verspiegelte Sonnenbrille wieder trug. Draußen in der grellen Sonnenhitze hatte er sie nicht aufgehabt. Er begann immer stärkere Zweifel zu hegen, dass dieser Mann mit dem lächerlichen Pseudonym ganz normal war.
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»Also?«, beharrte Frank. Strong wartete stur, bis sich Stefan neben ihn gesetzt hatte, dann griff er unter seine Jacke und zog etwas Großes, Dunkles heraus. »Ich habe hier etwas, das euch gehört.« Stefan sprang mit einem Schrei auf die Füße, als Strong mit dem blutigen Skalp unter seiner Nase herumwedelte. »Bist du wahnsinnig geworden?«, keuchte er. »Was soll das?« Strong lachte nur. »Warum so schreckhaft? Du hast doch wohl nicht etwa Angst vor ein bisschen Pferdehaar und Kunststoff, oder?« Stefan blinzelte. »Wie?« »Pferdehaar und Kunststoff«, wiederholte Strong. »Billiger Touristenschund, den ihr für ein paar Dollar in jedem Laden hier kaufen könnt - obwohl sie ihn euch natürlich viel lieber für ganz viele Dollar verkaufen. Fang!« Er warf Stefan den Skalp zu. Stefan schrie auf, warf die Arme hoch und machte einen grotesken Hüpfer zurück, als hätte ihm Strong eine riegengroße Tarantel zugeworfen, die mit den Beinen strampelte und schon ganz gierig darauf war, die Giftzähne in seine Haut zu versenken. Strong lachte noch lauter. »Nun heb es schon auf«, sagte er. »Es beißt nicht.« Zögernd und noch immer mit einem durch und durch angeekelten Gesichtsausdruck bückte sich Stefan, streckte vorsic htig die Hand nach dem Skalp aus und berührte ihn mit spitzen Fingern. Dann machte sich ein Ausdruck maßloser Verblüffung auf seinen Zügen breit. »Das Ding ist...« »Eine Imitation«, sagte Strong. »Nicht einmal eine besonders gute. Dazu ein bisschen Schweineblut...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich hätte erwartet, dass du das als Zahnarzt sofort erkennen würdest.« Stefan sah ihn verwirrt an, und Frank sagte: »Sie wissen eine Menge über uns.« »Das war nicht schwer herauszufinden«, antwortete Strong.
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Er bedeutete Stefan mit einer Geste, dass er sich setzen sollte. Nachdem dieser der Aufforderung Folge geleistet hatte, griff Strong unter seine schwarze Lederjacke und zog ein gewaltiges Jagdmesser mit einer gezahnten Klinge hervor. Er legte das Messer so vor sich auf den Boden, dass die Spitze genau auf Mike deutete. Mike ertrug den Anblick genau eine Sekunde lang, dann beugte er sich vor und schob die Klinge ein Stück zur Seite. Nicht viel, nur gerade so weit, dass die Spitze nicht mehr genau auf ihn wies. Er hatte es noch nie ertragen, einen spitzen Gegenstand genau auf sich gerichtet zu sehen. Frank hatte einmal gewitzelt, dass er in einem früheren Leben wohl mit einem Messer umgebracht worden wäre. Aber es gab noch eine andere, sehr viel beunruhigendere Möglichkeit: Vielleicht würde er ja in diesem Leben durch ein Messer zu Tode kommen. »Dann ... dann war das alles ...?«, begann Stefan. »Nur ein Trick, um euch einzuschüchtern«, sagte Strong. »Nicht besonders originell, aber es hat funktioniert, oder?« Was er damit wirklich sagen wollte, dachte Mike, war, dass sie sich wie die kompletten Idioten benommen hatten. Keiner von ihnen war auch nur auf die Idee gekommen, sich das grausige Geschenk in Stefans Satteltaschen genauer anzusehen. Sie hatten es wieder hineingestopft und zugelassen, dass Stefan die Packtaschen im hintersten Winkel des Apartments versteckte, ohne sich auch nur mit einem Blick von seiner Echtheit zu überzeugen. Aber Mike war sich sicher, dass dieser grobe Scherz nicht die überraschende Enthüllung war, vor der ihn der alte Schamane hatte warnen wollen. Seine Anspannung ließ keinen Sekundenbruchteil nach. »Und ...« Frank machte eine Kopfbewegung auf das in schwarze Folie eingepackte Bündel vor Strongs Füßen. »Was ist das?«
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»Immer schön der Reihe nach, Kinder«, sagte Strong. »Bescherung ist erst später.« »Jetzt reicht es«, grollte Frank. »Ich will endlich wissen, was hier gespielt wird. Was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Sie?« »Und wieso sprechen Sie so gut Deutsch?«, fügte Mike hinzu. »Weil es meine Muttersprache ist, Schreiberling«, antwortete Strong lächelnd. »Ich lebe zwar seit elf Jahren in den Staaten, aber man soll seine angestammte Kultur ja schließlich pflegen, nicht wahr? Ich habe sogar ein paar von deinen Büchern gelesen. Nicht schlecht, wenn auch für meinen Geschmack ein bisschen zu seicht. Für >good old Germany< vielleicht gut genug, aber glaub mir, hier in den Staaten würdest du keinen Blumentopf damit gewinnen.« »Strong!«, beharrte Frank. »Also gut.« Strong nahm das Messer zur Hand und begann damit herumzuspielen, als wäre die Klinge nicht scharf genug, um ihm bei einer einzigen unbedachten Bewegung einen Finger abzutrennen. »Ihr wollt wissen, was los ist. Was eure drei roten Freunde von euch wollen.« »Geld«, sagte Stefan. »Das haben wir schon ganz allein herausgefunden.« »Ich bin seit fast fünf Jahren hinter dem sauberen Trio her«, sagte Strong. »Vor einem guten Jahr habe ich diese Höhle hier entdeckt. Zum Teil durch Zufall, zum Teil aber auch, weil sie allmählich unvorsichtig werden. Sie benutzen diesen Berg als Versteck. Gar nicht dumm. Man findet den Eingang wirklich nur durch Zufall, sofern man nicht ganz genau weiß, wo er liegt. Und wer kommt schon zufällig in diese Gegend?« »Die drei Indianer?« »Die Alte ist die Mutter«, bestätigte Strong. »Und die beiden anderen sind ihre Kinder. Bruder und Schwester. Aber eigentlich sind sie nicht wirklich Indianer, sondern Mestizen. Sie kommen aus Mexiko. Mischlinge aus Mexikanern und Sioux.«
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»Bruder und Schwester?«, vergewisserte sich Mike. »Sind Sie sicher? Die beiden hatten ein Kind.« »Und?«, fragte Strong mit einem anzüglichen Grinsen. »Nur weil sie Geschwister sind, hindert sie das nicht daran, wie die Karnickel miteinander zu rammeln.« Er erfreute sich sichtlich an dem verblüfften Ausdruck auf ihren Gesichtern. »Unsere roten Brüder sind keine guten Indianer, Freunde. Und sie sind ganz und gar keine guten Menschen.« »Reden Sie weiter«, sagte Frank, als niemand antwortete. Sein Blick wanderte nervös zwischen dem schwarzen Plastiksack zu Strongs Füßen und dem Messer in seiner Hand hin und her. »Wie gesagt«, sagte Strong, »ich bin seit gut fünf Jahren hinter dem sauberen Trio her. Ich habe noch nicht alles über sie herausgefunden. Sie sind schlauer, als man glauben sollte. Vielleicht nicht die Hellsten, aber sie sind gerissen, und vor allem die Alte hat die Instinkte eines Raubtieres. Sie scheint einen schon auf Meilen riechen zu können.« Er hob die Schultern und ließ das Messer durch die Luft wirbeln. Es überschlug sich ein halbes Dutzend Mal und landete klatschend mit dem Griff voran in seiner Handfläche. »Auf jeden Fall ist sie der Kopf der Bande. Die beiden anderen und ihr Bastard sind nur ihre Handlanger. Aber man sollte sie trotzdem nicht unterschätzen«, fügte er mit einem anzüglichen Blick in Mikes Richtung hinzu. »Und?«, fragte Stefan. »Sie leben davon, leicht begriffsstutzige Touristen zu erpressen«, grinste Strong. »Ich dachte, das hättet ihr schon gemerkt.« »Stellen Sie sich vor, das haben wir«, sagte Mike. »Und bevor Sie fragen - die beiden wissen Bescheid.« »Über deinen kleinen Unfall?« Strong ließ das Messer wieder fliegen und fing es diesmal an der Spitze auf, ohne sich auch nur zu ritzen. Mike fragte sich, ob er das nur tat, um sie
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einzuschüchtern. Wenn ja, dann war es ihm gelungen. »Das glaube ich nicht«, sagte Strong. »Und du übrigens auch nicht.« »Das war auch nur ein Trick, nicht wahr?«, vermutete Frank. »Das angeblich tote Kind war auch nicht echt.« Strong lächelte dünn, wirbelte das Messer abermals durch die Luft, bis er es wieder am Griff hielt, und beugte sich vor. Die Klinge glitt ohne sichtbaren Widerstand durch die schwarze Plastikfolie und das Klebeband, und der Plastiksack, der in Wahrheit ein Leichensack war, klaffte weit auseinander. Darunter kam die zerschmetterte, schon halb verweste Leiche eines vielleicht vier- oder fünfjährigen Jungen zum Vorschein. »Großer Gott!«, kreischte Stefan und sprang auf. Frank starrte aus hervorquellenden Augen auf den grausigen Inhalt des Sackes, und Mike beugte sich zur Seite und übergab sich würgend. Alles drehte sich um ihn. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde aussetzen. Was er empfand, war kein Entsetzen, sondern etwas viel Schlimmeres, wofür es kein Wort gab. »Ist euch das echt genug?«, fragte Strong. Er bedachte Mike mit einem leicht angeekelten Blick, zog die Folie für einen Moment noch weiter auseinander, damit ihnen auch ja kein grausiges Detail entging, und zauberte dann eine Rolle Klebeband aus der Tasche, mit der er den Sack wieder verschloss, so gut es ging. Es reichte allerdings nicht ganz: Der Verwesungsgestank, der aus dem aufgeschnittenen Sack drang, war grauenhaft. »Entschuldigt den Geruch«, sagte Strong. »Der arme Junge kann nichts dafür. Immerhin ist er schon seit einer guten Woche tot.« »Seit... einer Woche?«, fragte Frank zögernd. »Acht Tage, um genau zu sein«, antwortete Strong. Er rollte den Sack ein paar Mal herum, um ihn weiter mit Klebeband zu umwickeln, und produzierte damit weitere Wolken Übelkeit erregenden, süßlichen Leichengestankes sowie ein paar dunkle,
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schmierige Flecken auf dem Boden. Mike hörte endlich auf, sich zu übergeben. Nicht, weil die Übelkeit weniger schlimm geworden wäre, sondern weil in seinem Magen einfach nichts mehr war, was er herauswürgen konnte. Keuchend und mühsam um Atem ringend, richtete er sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund während er nun endlich begriff, auf was ihn der Schamane tatsächlich hatte vorbereiten wollen. »Geht es wieder?«, fragte Strong. »Schaffen ... schaffen Sie das weg«, stöhnte Mike. »Nur zu gern.« Strong umwickelte den Sack noch ein halbes Dutzend Mal mit Klebeband, hob ihn hoch und trug ihn in den hinteren, unbeleuchteten Teil der Höhle. »Was genau soll das heißen, der Junge ist seit acht Tagen tot?«, fragte Frank mit krächzender Stimme, als Strong zurückkam und wieder am Feuer Platz nahm. Auch Stefan setzte sich zögernd, während Mike ein Stück von seinem eigenen Erbrochenen wegrutschte. Dessen Gestank war nicht annähernd so schlimm wie der süßliche Verwesungsgeruch, der die Höhle wie eine dicke, klebrige Wolke zu erfüllen schien, aber auf seine Art ebenso Ekel erregend. »Der Unfall war ...« »Vor drei Tagen«, sagte Strong. »Ich weiß.« Mike hatte noch immer das Gefühl, gleich vor Übelkeit sterben zu müssen. Dennoch richtete er sich weiter auf und sah Strong so durchdringend an, wie es ihm nur möglich war. »Dann habe ich den Jungen gar nicht überfahren?« »Doch«, antwortete Strong. »Aber da war er schon seit fünf Tagen tot.« Er legte eine schier endlos wirkende Pause ein, um seine Worte gehörig einsinken zu lassen, dann deutete er dorthin, wo der Leichensack in der Dunkelheit verborgen lag. »Die drei ziehen diesen Trick seit mindestens zehn Jahren durch. Sie besorgen sich ein totes Kind - auf einem Friedhof, in einem Krankenhaus, da gibt es genug Möglichkeiten, wenn man nur will - und suchen sich dann einen gutgläubigen
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Dummkopf, dem sie es vor den Wagen werfen können. Diesmal haben sie es zum ersten Mal bei einem Motorrad versucht, soweit ich weiß. Aber es hat funktioniert. Bei dir haben sie die Leiche offensichtlich mit einem Pflock stabilisiert und sie dir in den Weg gestellt.« »Aber warum?«, murmelte Stefan. Strong machte ein Gesicht, als hielte er dies für die mit Abstand dämlichste Frage der letzten hundert Jahre - was sie ja irgendwie auch war -, ignorierte Stefan aber ansonsten. Stattdessen drehte er sich zu Mike um. »Wie viel haben sie verlangt?«, fragte er. »Fünfzigtausend«, antwortete Mike. »Fünfzigtausend.« Strong wirkte leicht überrascht. »Sie werden allmählich gierig. Normalerweise verlangen sie höchstens halb so viel.« »Wieso?« »Weil das eine Summe ist, bei der sich die meisten kaum überlegen, ob sie nicht besser zahlen, bevor sie sich woche nlangen Ärger mit den Cops und der Staatsanwaltschaft einha ndeln«, antwortete Strong. »Ich habe euch doch gesagt, die Alte ist gerissen. Es klappt nicht jedes Mal, aber meistens. Fast alle zahlen am Ende. Ich schätze, dass sich die drei im Laufe der letzten zehn Jahre eine gute halbe Million zusammenerpresst haben. Wenn nicht mehr.« Alles drehte sich um Mike. Es fiel ihm immer schwerer, der Unterhaltung zu folgen. Strongs Worte hätten ihn mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung erfüllen müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Eine Art ungläubiger Hysterie hatte von ihm Besitz ergriffen, die mit jeder Sekunde, schlimmer zu werden schien. Er wusste plötzlich, wie sich Stefan gerade gefühlt haben musste, als ihm klar wurde, auf was für einen plumpen Trick er hereingefallen war. All das Entsetzen, all die Schrecken und die überstandenen Ängste der zurückliegenden Tage! Und das
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nur deshalb, weil eine gierige alte Indianerin es auf sein Geld abgesehen hatte? Die Vorstellung war fast grausiger als die Annahme, seine Halluzinationen könnten Realität sein. Aber irgendetwas stimmte an dieser Sache nicht, dessen war er sich tief in seinem Herzen sicher. Das, was Strong so dramatisch enthüllt hatte, konnte nicht die ganze Wahrheit sein. Nicht einmal annähernd. Er hörte ein Geräusch, das aus dem hinteren, dunklen Teil der Höhle drang, und drehte mit klopfendem Herzen den Kopf. Das Geräusch war nicht wirklich da, so wenig, wie sich der tote Junge wirklich aus seinem Sack befreit haben konnte und nun auf seinen zerschmetterten Beinen aus der Dunkelheit herausgekrochen kam. Aber Mike sah und hörte trotzdem beides. »Woher wissen die drei, bei wem etwas zu holen ist?«, fragte Stefan. »Seht euch doch an«, antwortete Strong. »Ihr leistet euch einen Trip, der mehr kostet, als sie mit einem Jahr ehrlicher Arbeit verdienen könnten. Außerdem glaube ich, dass sie jemanden haben, der ihnen Tipps gibt. Im Hotel oder vielleicht in der Auto-Vermietung.« »Wenn das wirklich alles stimmt«, fragte Frank, »warum erzählen Sie es uns? Wieso sind Sie nicht schon längst bei der Polizei gewesen und haben die drei hochgehen lassen?« »Das ist meine Sache«, antwortete Strong. »Nehmt an, ich hätte eine persönliche Rechnung mit ihnen zu begleichen.« Er sah auffordernd in die Runde. »Seit ihr dabei?« »Dabei?«, wiederholte Frank misstrauisch. »Wobei?«, wollte Stefan wissen. »Diesem sauberen Trio das Handwerk zu legen«, antwortete Strong. »Ich war noch nie so nahe dran wie diesmal. Aber das wird nicht lange so bleiben. Spätestens, wenn sie wieder hierher zurückkommen und ihnen klar wird, dass ich ihr Versteck gefunden habe, gehen sie auf Tauchstation, und ich
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kann von vorne anfangen. Möglicherweise dauert es wieder fünf Jahre, bis ich ihre Spur aufnehmen kann. Vielleicht gelingt mir das auch nie wieder.« Stefan wollte etwas sagen, aber Frank brachte ihn mit einer raschen Geste zum Schweigen und fragte langsam und sehr betont: »Und was genau erwarten Sie jetzt von uns?« »Nichts anderes als das, was ihr bis jetzt auch schon getan habt. Ihr spielt weiter die Unwissenden und lasst mich den Rest erledigen.« »Sie benutzen uns als Köder«, sagte Frank ernst. In Strongs Gesicht erschien ein verärgerter Ausdruck, aber er beherrschte sich. »Euch passiert nichts, wenn es das ist, wovor ihr Angst habt«, sagte er gepresst. »Sie werden sich hüten, euch etwas anzutun.« Frank schüttelte den Kopf. »Sie müssen verrückt sein, wenn Sie glauben, dass wir uns darauf einlassen.« »Moment mal.« Strongs Stimme wurde leiser, bekam aber einen neuen - und wie Mike fand, eindeutig drohenden Unterton. »Ich habe nicht umsonst ein paar Jahre Arbeit in die Sache investiert. Was glaubt ihr, warum ich euch hierher gebracht habe und das Risiko eingegangen bin, gestern Abend einzugreifen, statt seelenruhig zuzusehen, wie sie euren Kumpel hier zusammenschlagen? Allein dadurch hätte ich mir alles vermasseln können!« »Es tut mir Leid, wenn Sie uns falsch eingeschätzt haben, Marc«, sagte Frank ruhig. »Aber wissen Sie, wir sind keine Helden, sondern drei ganz normale Feiglinge, die nichts anderes wollen, als einigermaßen unbeschadet aus der ganzen Geschichte herauszukommen.« Er deutete auf Mike. »Wir gehen gerne mit Ihnen zur Polizei und erzählen, was passiert ist, aber mehr können Sie nicht vo n uns verlangen.« »Wir hatten einen Deal, oder?«, fragte Strong. Seine Hand lag plötzlich wieder auf dem Revolvergriff, was Zufall sein konnte oder auch nicht.
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»Dazu gehören immer zwei«, beharrte Stefan. »Vielleicht hätten Sie uns vorher fragen sollen.« »Überlegt euch das besser ganz genau.« Strongs Stimme klang nun eindeutig drohend. »Ihr habt keine Ahnung, worauf ihr euch einlasst. Ihr glaubt doch nicht, dass die drei euch einfach laufen lassen, oder? Oder dass euch die Cops diese verrückte Geschichte abnehmen?« »Wenn Sie sie bestätigen«, wandte Mike ein. Strong lachte nur. »Warum sollte ich?« Er schüttelte den Kopf, dann nahm er mit einem plötzlichen Ruck die Hand vom Colt und zwang sich zu etwas, das beinahe wie ein Lächeln aussah. Er stand auf. »Okay, mein Fehler. Wahrscheinlich erwarte ich zu viel von euch, nach dem, was ihr gerade erfahren habt. Ich mache euch einen Vorschlag: Ihr setzt eure Tour heute ganz normal fort und denkt in Ruhe über alles nach.« »Was gibt es da nachzudenken?«, fragte Stefan trotzig. Frank warf ihm einen fast beschwörenden Blick zu, und Strong drehte sich demonstrativ ganz zu ihm herum. »Natürlich könnt ihr einfach weiterfahren, als wäre nichts passiert, und hoffen, dass das auch weiter so bleibt. Wenn ihr Wert darauf legt, die nächsten sechs Wochen in Untersuchungshaft zu verbringen - euer Problem. Ihr habt jedenfalls mein Wort, dass euch nichts passieren wird, wenn ihr mitspielt. Ihr spielt den Köder, mehr nicht. Um alles andere kümmere ich mich.« »Und was genau bedeutet das?«, fragte Stefan. Strong überging die Frage. »Ich komme morgen früh in euer Motel. Wir frühstücken zusammen, und dann erkläre ich euch den genauen Plan.« Und damit drehte er sich um und marschierte davon. Zehn Minuten später traten die drei Freunde wieder in die Sonnenglut hinaus. Die silberne Harley war verschwunden, aber als sie um die Ecke der Felswand traten, stellten sie
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erleichtert fest, dass ihr Navajo-Führer und vor allem sein rostroter Pick- up noch da waren. Seine Versuche, ihnen nachgemachten India nerschmuck und Pfeilspitzen aus Plastik anzudrehen, brachen ziemlich abrupt ab, als er bemerkte, wie schweigsam sie plötzlich geworden waren. Fast ohne ein Wort zu wechseln, fuhren sie die Folterstrecke zurück zum Parkplatz. Wäre es nach Mike gegangen, wären sie auf der Stelle losgefahren, aber sie hatten die Rechnung ohne die Sonne gemacht: Ihre Maschinen hatten sich so aufgeheizt, dass sie sich an den Sätteln verbrannt hätten, wären sie aufgestiegen. Frank und Stefan gingen zum Imbiss zurück, um einen Eimer Eiswürfel zu erbetteln, während Mike die Wartezeit nutzte, ein paar Handtücher aus ihrem Gepäck zu kramen. »Also?«, fragte Stefan, während sie wenig später darauf warteten, dass die improvisierten Eisbeutel die Ledersättel weit genug abkühlten. »Was tun wir?« »Gute Frage«, murmelte Frank. Hilfe suchend blickte er Mike an, erntete aber nicht mehr als ein hilfloses Achselzucken. Mike war noch immer verwirrt und vollkommen verunsichert. Er hätte erleichtert sein sollen, aber er war es nicht. Frank fasste das, was Mike empfand, in Worte. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir den Teufel gegen Beelzebub eingetauscht haben. Der Kerl hat doch einen Sprung in der Schüssel.« »Auf jeden Fall ist er gefährlich«, bestätigte Mike. »Das eine schließt das andere nicht aus, oder?« Frank schü ttelte wütend den Kopf, schob die Hand unter das nasse Tuch auf seinem Sattel und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich habe nicht die geringste Lust, mich in irgendeine persönliche Vendetta hineinziehen zu lassen.« »Und wenn wir einfach tun, was er sagt?«, fragte Stefan. Frank lachte humorlos. »Prima Idee. Du hast diesen Irren doch gesehen. Was glaubst du wohl, was er mit der Riesen-
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knarre vorhat? Wenn du mich fragst, will er die drei schlichtweg umlegen.« »Ist das unser Problem?« »Wenn wir irgendwie in die Sache hineingezogen werden, ganz sicher«, grollte Frank. »Möchtest du der hiesigen Polizei erklären, dass wir nur die unschuldigen Opfer sind? Lucky Luke wird jedenfalls ganz bestimmt nicht dableiben und unsere Aussagen bestätigen.« »Dann verschwinden wir doch einfach«, schlug Stefan vor. »Genau«, sagte Frank. »Und wenn er morgen bei uns am Frühstückstisch auftaucht, erklären wir ihm in aller Freundschaft, dass wir seinen Vorschlag nach reiflicher Überlegung leider ablehnen müssen. Was meinst du, was er benutzt? Den Colt oder das Messer?« »Nicht, wenn er uns nicht findet«, sagte Stefan. »Ich bin nicht dämlich. Ich habe auch gesehen, wie er reagiert hat. Aber wenn er morgen im Hotel auftaucht und wir nicht da sind, kann er uns nichts tun.« »Und wo sind wir stattdessen?« »In Babylon.« Frank schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für schlechte Scherze.« »Find ich auch.« Stefan grinste schief. »Die Gegend hinter dem Zion Nationalpark heißt so. Das Dumme ist nur, dass es dort bis auf über dreitausend Meter hochgeht. Das ist Hochgebirge, Leute.« Stefan sah auf die Uhr. »Es ist noch nicht einmal zwei. Wenn wir sofort losfahren und auf das Tempolimit pfeifen, schaffen wir es vielleicht heute noch durch die Berge. Wenn wir uns bis Hurricane oder sogar bis St. George durchschlagen können, sind wir aus dem Schneider.« »Du spinnst«, sagte Frank. »Das sind bei den hiesigen Straßenverhältnissen und den Geschwindigkeitsbegrenzungen mindestens sieben Stunden nonstop!« »Wir können es trotzdem schaffen«, beharrte Stefan. »Es
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wird hart, aber ich bin schon weitere Strecken ohne Pause gefahren. Wenn wir nicht noch mehr Zeit vertrödeln, haben wir zumindest eine reelle Chance. Wir fahren heute, so weit wir kommen, und verkriechen uns in irgendeinem Motel. Morgen früh fahren wir weiter. Mit ein bisschen Glück sind wir morgen Mittag in Las Vegas. Wir sitzen im Flugzeug, bevor dieser Irre auch nur merkt, was wir vorhaben.« Fast dasselbe Gespräch, dachte Mike, hatten sie am Vormittag schon einmal geführt, nur dass es dabei nicht um Strong gegangen war. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Er kam sich vor, als sei er in einem unsichtbaren klebrigen Sumpf gefangen: Er konnte strampeln, so viel er wollte, er geriet immer tiefer hinein. Nic hts hatte sich geändert. Im Gegenteil. Es war schlimmer geworden. »Meinetwegen«, seufzte Frank. »Und du?« Mike zuckte mit den Achseln, zögerte einen Moment und nickte dann widerwillig. Stefan seufzte tief. »Wir schaffen das schon«, sagte er. »Ich wollte nur, es wäre ein bisschen kühler.« Er konnte nicht wissen, wie bitter er diesen Wunsch bereuen sollte, noch bevor der Tag zu Ende war. * Es dauerte nicht lange, bis sie das Valley hinter sich gelassen hatten. Obwohl sie alle drei das Gefühl hatten, einen Ausflug direkt ins Herz der Hölle gemacht zu haben, hätte ein einziger Blick auf die Karte genügt, um ihnen zu zeigen, dass sie das Tal in Wirklichkeit kaum gestreift hatten. Schon nach weniger als einer halben Stunde war die Kulisse, durch die sie fuhren, zwar noch immer apokalyptisch und gewaltig, nun aber überwiegend grün; und es war zwar noch immer heiß, aber längst nicht mehr so unerträglich, dass man sich die Finger am Lenker verbrannte und das Gefühl hatte,
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geschmolzenes Blei zu atmen. Sie hatten auc h in anderer Hinsicht Glück: Zwei Stunden, nachdem sie Monument Valley verlassen hatten, stießen sie auf einen Turnpike, der anscheinend neu war, denn er war auf ihren Karten nicht verzeichnet. Diese privat finanzierten und unterhaltenen Straßen, die sich parallel zu den offiziellen Highways hinzogen, befanden sich zwar meistens in (noch) schlechterem Zustand als die staatlichen Fahrspuren und waren mautpflichtig - und das nicht zu knapp -, kamen ihnen unter den gegebenen Umständen allerdings dennoch wie ein Geschenk des Himmels vor, denn sie verfügten über einen im Augenblick unschätzbaren Vorteil: Da es sich praktisch um Privatgelände handelte, gab es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie tankten noch einmal voll, bezahlten ihren Obolus und holten aus den Maschinen heraus, was die Motoren hergaben. l Selbst Mike war überrascht. Einmal auf Touren gekommen, beschleunigten die gerade einmal fünfzig PS starken Motoren der Intruder ohne Probleme auf mehr als hundert Meilen. Das Fahren bei dieser Geschwindigkeit war ungemein anstrengend. Die Intruder waren keine Rennmaschinen und nicht im Entferntesten mit der Hayabusa zu vergleichen, die Mike zu Hause fuhr - ein kleines, giftiges Geschoss, das ohne Probleme im zweiten Gang bis hundertzwanzig beschleunigte und erst nach Erreichen der Zweihundert-Kilometer-Marke so richtig lebendig wurde -, oder Stefans Honda, die nicht annähernd einen so spektakulären Ruf genoss, aber kaum langsamer war (vor allem mit einem Kamikaze-Fahrer wie Stefan im Sattel). Nein, die Intruder waren das genaue Gegenteil: gemächliche, schwere Arbeitstiere, die kaum windschnittiger als Ziegelsteine waren und zum gemütlichen Tuckern taugten, aber nicht zum Rasen. Das Fahren beanspruchte die Arme und bei diesem Tempo vor allem den Rücken. Aber sie legten in knapp zwei Stunden eine Strecke zurück, für die sie auf normalen Land- und
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Seitenstraßen wahrscheinlich einen halben Tag gebraucht hätten. Als der Turnpike endete und der Highway, auf den sie wechselten, kurz darauf einen scharfen Knick nach Norden machte, hatten sie seit ihrem Aufbruch insgesamt mehr als zweihundert Meilen zurückgelegt. Stefan sagte nichts dazu, als sie ein letztes Mal anhielten, um zu tanken, aber er strahlte Selbstzufriedenheit aus wie ein Hochofen unsichtbare Hitze. Zwischen ihnen und St. George lagen jetzt nicht einmal mehr fünfzig Meilen sowie eine schmale Gebirgskette, die auf der Karte eher harmlos aussah. Sie würden zweifellos in die Nacht hineinfa hren, aber sie konnten es selbst dann schaffen, wenn sie sich im Schritttempo über einen Pass quälen mussten. Jedenfalls sah es so aus. Sie hatten sehr wenig miteinander gesprochen, seit sie Monument Valley verlassen hatten, selbst in den kurzen Tankpausen nicht - so groß und unhandlich die Maschinen waren, so lächerlich war das Fassungsvermögen ihrer Tanks. Eine Füllung reichte gerade einmal für hundertzwanzig Meilen -, aber Mike spürte trotzdem, wie sehr sich die Stimmung verbessert hatte. Strongs Eröffnung war einfach zu überraschend und schockierend gewesen, um sie sofort und in ganzer Tragweite zu verarbeiten. Außerdem hatten ihnen Hitze, Erschöpfung und Furcht zu stark zugesetzt, um Erleichterung zuzulassen. Aber sie war da, tief unter all dem seelischen Müll verborgen, den die vergangenen Tage in ihren Gedanken angehäuft hatten. Und die Stunden, die für drei Freunde allein mit sich und dem monotonen Grollen der Motoren in den Sätteln verbrachten, gaben dieser Erleichterung allmählich Zeit, an die Oberfläche zu kommen. Zu behaupten, dass sie sich in ausgelassener Urlaubsstimmung befanden, wäre sicherlich übertrieben gewesen, aber die Anspannung, die Mike nun auf den Gesichtern der beiden anderen las, war nur noch rein körperlicher Natur. Sie waren erschöpft, zum Umfallen müde, und sie hatten alle drei noch
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weit mehr unter den Nachwirkungen des Hitzeschocks vom Vormittag zu leiden, als sie zugeben wollten, doch sie hatten es geschafft! Wenn sie St. George noch an diesem Abend erreic hten, dann waren sie nicht nur den Indianern entkommen, sondern auch diesem verrückten Revolverhelden, der womö glich schlimmer war als alle drei Indianer zusammen. Was jetzt noch vor ihnen lag, war eine rein körperliche Anstrengung. Eine Fleißaufgabe. Kein Problem. Für das nächste - wenn auch nicht lebensbedrohliche Problem war ausnahmsweise Stefan verantwortlich. Die Berge, die auf der Karte so harmlos ausgesehen hatten, lagen mittlerweile in Sichtweite vor ihnen: eine Mauer aus verschwommenen Schatten, die sich beharrlich weigerte, näher zu kommen, so angestrengt sie sich auch daraufzu bewegten. Für Mikes Geschmack sagte das mehr über ihre Größe aus, als ihm lieb war. Er schüttelte diesen Gedanken schnell ab. Sie hatten drei verrückte Indianer besiegt, einen noch viel verrückteren Cowboy und einen leibhaftigen Dämonen - da würden sie sich nicht von einem Haufen Geröll unterkriegen lassen, das ihnen im Weg lag! Der an der Spitze fahrende Frank fuhr langsam auf eine jener sonderbaren amerikanischen Kreuzungen zu, die sie noch immer vor Probleme stellte, weil an allen vier Straßen STOPSchilder standen - was brenzlig werden konnte, wenn aus jeder Richtung Fahrzeuge kamen. Das Gelände war flach und auf Meilen hin überschaubar; sie hatten also freie Fahrt. Dennoch wurde Frank langsamer und hielt schließlich an, einen Meter, bevor das Vorderrad seiner Intruder den weißen Strich auf der Straße berührte. Stefan brachte sein Motorrad mit einem unnötig harten Ruck hinter ihm zum Stehen, während Mike sehr viel vorsichtiger anhielt. Seine Arm- und Schultermuskeln schmerzten mittlerweile derart unerträglich und drohten ständig, sich zu verkrampfen, dass er Angst hatte, die schwere Intruder nicht mehr
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halten zu können, wenn er zu heftig reagierte. »He, was soll denn das?«, beschwerte sich Stefan. »Wieso hältst du?« »Weil hier ein STOP-Schild ist«, antwortete Frank. »Dieses große, sechseckige rote Ding da, siehst du? Es steht STOP drauf. Auf Deutsch heißt das glaube ich ...« Er tat so, als müsse er überlegen. »Stopp?« »Und?«, fragte Stefan unwillig. »Siehst du vielleicht irgendwo einen Streifenwagen?« Er legte demonstrativ den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. »Oder hast du Angst, dass sie uns von einem Satelliten aus beobachten und du ein Ticket bekommst?« »Nein«, antwortete Frank ruhig. »Aber abgesehen davon, dass ich mich auch an Verkehrsregeln halte, wenn es niemand sieht - ich dachte, wir sollten besser noch mal die Route besprechen, bevor wir blindlings drauflosrasen und uns mitten in der Nacht in vollständiger Wildnis wiederfinden.« »Wenn das deine Sorge ist, dann gib lieber Stoff, bevor wir noch mehr unnö tig Zeit vertrödeln.« Stefan rammte knirschend den Gang hinein und gab so heftig Gas, dass das Hinterrad der Intruder durchdrehte und Mike mit einer Staub- und Dreckfo ntäne überschüttete, ehe die Maschine mit einem Ruck lospreschte. Er kam nicht sehr weit. Er hatte wohl vorgehabt, dicht an Frank vorbeizurasen, um ihm auf diese Weise zu zeigen, was er von seiner Achtung vor den Verkehrsregeln hielt, aber er hatte sich verschätzt. Statt Franks Maschine auf Bierdeckelstärke zu passieren, rammte er ihr Heck; ge nau zwischen dem Schutzblech und der Satteltasche. Es gab einen Knall, als wären zwei Vierzig- TonnenLaster ineinander gekracht. Frank kippte mit seiner Maschine nach links, drückte das Bein durch und fing die Intruder mit einer Anstrengung auf, die seine Muskeln bis zum Zerreißen belasten musste. Zwar senkte sich die Maschine langsam auf
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die Seite, aber es gelang Frank, sie fast sanft zu Boden gleiten zu lassen, sodass sie wahrscheinlich nicht einmal einen Kratzer abbekam. Stefan hatte weniger Glück. Er wurde aus dem Sattel geschleudert und überschlug sich zweimal im Straßengraben. Sein Motorrad krachte auf die Seite und schlitterte, Funken sprühend, fast fünf Meter weiter, ehe es, mitten auf der Kreuzung und sich noch immer drehend wie ein absurd großer Kreisel, liegen blieb. »Verdammt!«, brüllte Frank. »Bist du komplett übergeschnappt?« Noch während Mike seine Maschine ungeschickt auf den Ständer kippte (das fehlte jetzt noch, dass er seine Kiste aus lauter Nervosität auch noch hinknallte!), lief Frank schon zu Stefan hin und wollte ihm aufhelfen. Dieser schüttelte wütend den Kopf und sprang regelrecht auf die Beine. »Schon gut. Alles in Ordnung.« »Bist du sicher?«, fragte Frank. Er wirkte nicht wirklich erleichtert, eher überrascht. »Ist dir wirklich nichts passiert?« »Ich lebe noch, oder?«, schnappte Stefan. Er drehte sich mit einem zornigen Ruck um, sah seine Maschine mitten auf der Kreuzung liegen und fluchte inbrünstig: »Verdammte Sche iße!« Als er den ersten Schritt machte, verzog er das Gesicht und stieß hörbar die Luft zwischen zusammengepressten Zähnen aus. Er humpelte leicht, als er weiterging. Frank blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Anscheinend muss er erst den Kopf unter dem linken Arm tragen, bevor er zugibt, dass ihm was passiert ist«, sagte Mike. »Sieht so aus«, bestätigte Frank und warf ihm einen schrägen Blick zu. »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?« Sie gingen zu ihren Maschinen zurück. Während Mike mit einem leisen Anflug von Neid zusah, wie Frank die zentnerschwere Intruder ohne die geringste Mühe aufrichtete, stemmte Stefan draußen auf der Kreuzung sein eigenes Motorrad mit
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einem zornigen Ruck in die Höhe. Er ließ den Motor an und fuhr die fünf Meter zu ihnen zurück, statt die Intruder zu schieben, was wesentlich schneller gegangen wäre. Sie machten sich daran, die Schäden zu inspizieren. Franks Satteltasche war abgerissen, und das Schutzblech hatte eine fingertiefe Delle, aber Stefans Intruder hatte es schlimm erwischt. Aus dem Motor tropfte Öl, auch nachdem er ihn ausgeschaltet hatte. Die Sturzseite war hoffnungslos zerschrammt, die entsprechende Fußraste ebenso verbogen wie das Bremspedal und der Spiegel auf der rechten Seite vollständig abgerissen. »Mist«, sagte Frank. «Das sieht nicht gut aus.« »Halb so wild.« Stefan bedachte ihn mit einem Blick, der jenseits allen Zweifels klar machte, wen er für diesen Schlamassel verantwortlich machte. »Ich weiß nicht genau, was mit dem Öl ist, aber den Rest krieg ich hin, wenn ich einen Hammer und eine Rolle Klebeband habe.« »Die wachsen hier ja auc h an jeder Ecke auf den Bäumen«, sagte Mike. Die Bemerkung tat ihm sofort wieder Leid, denn nun bedachte Stefan ihn mit einem ausgesprochen zornigen Blick, auch wenn er sich jeden Kommentar verkniff. Frank sah sich derweil suchend um und deutete schließlich nach vorne, direkt in Fahrtrichtung. »Da hinten scheinen ein paar Häuser zu stehen«, sagte er. Mike folgte der ausgestreckten Hand mit dem Blick, konnte aber nicht mehr als einen hellen Fleck ausmachen. Nun, er wusste, dass Frank die besseren Augen hatte. »Vielleicht finden wir dort Hilfe. Oder zumindest ein Telefon.« Stefan sagte nichts. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg er in den Sattel und raste los. Sie hatten abermals Glück. Anscheinend hatte das Schicksal beschlossen, etwas von dem, was es ihnen in den letzten Tagen angetan hatte, wieder gutzumachen - später sollte Mike begreifen, dass es ihnen eine letzte Chance geboten hatte, aber das
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wussten sie natürlich in diesem Moment noch nicht. Der verschwommene Fleck am Horizont, den Frank entdeckt hatte, entpuppte sich nicht als Ansammlung kleiner Häuser, wie man sie in dieser Gegend dann und wann am Straßenrand fand, sondern als moderne Hotelanlage, die mutterseelenallein im Nichts stand. Auf dem weitläufigen Parkplatz waren nur wenige Autos abgestellt. Weder Mike noch die anderen waren momentan in der Stimmung, darüber nachzudenken, wie jemand auf die Idee kam, ein Millionen Dollar teures Motel in der Mitte von Nirgendwo zu erbauen. Ihnen kam es wie ein Geschenk des Himmels vor. Sie hätten es auch ohne zu zögern akzeptiert, wenn man ihnen erzählt hätte, dass das BEST WESTERN einzig für sie errichtet worden wäre und nur für eben diese eine Gelegenheit. Sie parkten die Maschinen unmittelbar vor dem Haupteingang und ignorierten die strafenden Blicke des Conciege, als sie nicht nach Zimmern fragten, sondern nur nach dem Weg zum Restaurant. Mit der in diesem Land üblichen Höflichkeit wenn auch in der Eiskalt-Variante - wurden sie dort hingeführt. Das Restaurant war vollkommen leer. Eine junge Frau im eleganten Hellgrau und Dunkelblau des BEST-WESTERNPersonals führte sie zu ihren Plätzen. Sosehr sie sich auch bemühte, gelang es ihr doch nicht ganz, den leicht verächtlichen Blick zu unterdrücken, mit dem sie ihre neuen Gäste musterte. Noch eine Illusion, die auf dieser Tour auf der Strecke geblieben war: Sie waren Motorradfahrer, Biker in schwarzem Leder, mit Sonnenbrillen und Helmen, und als solche rangierten sie hier im Lande der Route 66 und Easy Rider ganz unten auf der gesellschaftlichen Stufenleiter. Routinierte Hotelangestellte und Kellner erkannten zweifellos an ihren Nummernschildern, dass sie gemietete Maschinen fuhren, und spätestens wenn einer von ihnen den Mund aufmachte, outeten sie sich als wohlhabende Touristen aus Europa, die sich für ein oder zwei Wochen ein anderes Leben
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erkauften. Aber das änderte nichts an der Grundeinstellung. Die Leute hier mochten ihre Kreditkarten. Nicht sie selbst. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Kaum. Das Land der unbegrenzten Spießigkeit traf schon eher zu. Sie nahmen Platz. Während Mike die Speisekarte aufklappte und sich mit seinen bescheidenen Englischkenntnissen hindurchzukämpfen begann - das Einzige, was er ohne Probleme verstand, waren die Preise, und die waren gepfeffert -, begann Frank ein Gespräch mit der jungen Bedienung, und wie immer nahm er sie schon nach wenigen Sätzen für sich ein. Zwar schien sie noch immer leicht bekloppte Möchtegern-Rocker in ihnen zu sehen, aber ihr Lachen klang echt, und als sie nach einer Weile ging, um ihre Getränke-Bestellung zu holen, wirkte auch Frank deutlich gelöster. »Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Mike. »Sie hat sich erkundigt, wohin wir heute noch wollen«, antwortete Frank. »Und ich habe es ihr gesagt.« »Und was ist daran so komisch?« Frank hob die Schultern. »Sie meinte, wir wären mutiger, als wir aussehen.« »Oh«, machte Mike. »Blödsinn«, knurrte Stefan. Er schoss einen verärgerten Blick hinter der jungen Frau her. »Ihr kennt doch die Amis. In ihren Star-Trek-Filmen beherrschen sie zwar die halbe Galaxis, aber im wirklichen Leben kriegen sie das große Zittern, wenn sie mehr als zwanzig Meilen an einem Tag zurücklegen sollen. Und das noch dazu ohne Klimaanlage.« Er machte ein verächtliches Geräusch, als würde der Blödsinn, den er von sich gab, dadurch irgendwie weniger blödsinnig, und feuerte einen weiteren zornigen Blick in Richtung der Kellnerin ab. »Hast du nach einer Werkstatt gefragt?«, erkundigte sich Mike. Frank nickte. »Habe ich. Aber anscheinend sind wir hier
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tatsächlich in der Mitte von gar nichts. Die nächste Werkstatt ist fast vierzig Meilen entfernt.« Er machte eine entsprechende Kopfbewegung. »In der Richtung, aus der wir gerade gekommen sind. Deshalb auch dieses Motel. Irgendwie gibt es im Umkreis von hundert Meilen in jeder Richtung nichts anderes. So ziemlich jeder, der durch diese Gegend kommt, übernachtet hier.« »Vielleicht sollten wir das auch tun«, sagte Mike nachdenklich. Er blickte aus dem Fenster. Die Berge waren als dunkles Massiv zu erkennen, aber sie waren immer noch nicht ne nnenswert näher gekommen. Möglicherweise war es doch etwas verrückt, sie bei diesem Wetter überqueren zu wollen. »Wirklich clever«, sagte Stefan. »Wenn Strong nach uns suchen sollte, können wir uns gar kein besseres Versteck wünschen.« Er zog eine Grimasse und bedachte nun Frank mit einem abfälligen Blick. »Der Plan ist fast so gut wie deine Idee, der Kellnerin zu verraten, wohin wir unterwegs sind. Warum hängen wir nicht gleich rote Neonpfeile auf?« »Er kann sich an zwei Fingern abzählen, wohin wir wollen«, antwortete Frank. »Sobald er erfährt, dass wir hier einen Zwischenstopp eingelegt haben, weiß er auch, wohin wir wollen. Es gibt nur eine Straße. Wir hätten erst gar nicht an diesem Motel anhalten dürfen ... und wenn ich mich recht erinnere, war das so ja auch nicht geplant.« Stefan verstand die Spitze ganz genau. Er stand mit einem Ruck auf. »Mir reicht's«, sagte er gepresst. »Ich sehe nach meiner Maschine. Es wird in diesem Superluxushotel ja wohl einen Hammer und eine Rolle Blumendraht geben.« Er ging ohne ein weiteres Wort, aber auf eine so ungestüme Art, dass die Kellnerin ihm hastig auswich. Ihre Vorurteile gegen Motorradfahrer waren damit wieder einmal bestätigt. Mike blickte Stefan kopfschüttelnd nach. »Welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?« »Das fragst du noch?« Frank schüttelte ebenfalls den Kopf
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und versuchte ein Grinsen, aber es geriet eher zu einer schiefen Grimasse. Statt spöttisch klang er eher ein wenig schuldbewusst: »Ich hätte das nicht sagen sollen, tut mir Leid.« »Wieso? Du hast doch Recht. Dieser Unfall war durch und durch überflüssig.« »Aber es geht gegen seine Ehre, das zuzugeben.« »Ehre, Blödsinn! So was kann doch jedem passieren.« »Stefan nicht.« Frank schüttelte überzeugt den Kopf. »Ihm darf alles Mögliche passieren, aber das nicht.« »Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst«, sagte Mike - obwohl er es im Grunde sehr wohl wusste. Oder zumindest ahnte. »Seit wann bist du so schwer von Begriff?«, fragte Frank. »Es hat schon vor drei Tagen angefangen, als du den Berg hochgerast bist. Ich dachte, du hättest es gemerkt.« »Was? Dass ich mir fast das Genick gebrochen hätte?« »Das spielt keine Rolle«, beharrte Frank. »Du warst schneller als er oben. Das alleine zählt. Nicht, warum, und auch nicht, dass du vollkommen durchgeknallt warst. Du warst schneller als er, und das kann er nicht ertragen. Und jetzt dieser blöde Unfall.« Er schüttelte den Kopf. »Das kann er nicht so einfach wegstecken. Ich könnte es auch nicht.« »Jetzt übertreib nicht«, antwortete Mike. »Das tue ich keine swegs.« Frank wirkte ein bisschen verärgert über Mikes Uneinsichtigkeit. »He, was soll das? Wenn es eine Figur aus einem deiner Romane wäre, dann hättest du kein Problem, alles ganz klar zu sehen. Aber bei deinen besten Freunden bist du anscheinend mit Blindheit geschlagen.« Er machte eine heftige Kopfbewegung in die Richtung, in der Stefan verschwunden war. »Wie lange kennt ihr euch jetzt? Ungefähr fünf Jahre, nicht wahr?« »Ziemlich genau«, bestätigte Mike. »Und kennen gelernt habt ihr euch durchs Motorradfahren.« »Und?«
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»Du verstehst es wirklich nicht, wie?« Frank schüttelte den Kopf. »Wie lange habt ihr vorher nebeneinander gewohnt, nur als Nachbarn, meine ich. Drei oder vier Jahre, oder? Aber ihr wart nie mehr als Nachbarn, die sich Guten Tag sagen. Hast du dir eigentlich schon einmal überlegt, wie er sich neben dir fühlen muss? Ich meine: Er hat jahrelang studiert, nur um genau in dem Moment sein Diplom zu machen, in denen Zahnärzten die gebratenen Tauben plötzlich nicht mehr in den Mund fliegen. Trotzdem hat er seine eigene Praxis eröffnet, die er wahrscheinlich noch heute abbezahlt. Und dann kommst du. Du hast das größere Haus, du kannst dir seinen Traumwagen leisten. Du bist erfolgreich. Was immer du anfasst, scheint dir zu gelingen.« »Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte Mike. Frank nickte, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. »Natürlich weiß ich das. Aber worauf es ankommt, ist doch, wie es wirkt, hier drinnen.« Er schlug sich mit den Knöcheln der geballten Linken leicht vor die Brust. »Stefan ist kein bisschen weniger intelligent als du ...« »Außerdem ist er handwerklich geschickter, ein gutes Stück jünger und viel sportlicher«, fiel ihm Mike ins Wort. »Nebenbei bemerkt ist er deutlich gesünder, mindestens so fleißig wie ich und in seinem Beruf erfolgreicher als die meisten anderen.« »Davon ganz abgesehen, dass er viel besser aussieht als du«, fügte Frank grinsend hinzu. Mike ignorierte das. »Und übrigens ist er alles andere als eifersüchtig«, sagte er. »Das habe ich auch nicht behauptet.« Frank wurde sofort wieder ernst. »Im Gegenteil. Du kannst dich glücklich schätzen, jemanden wie ihn zum Freund zu haben. Aber darauf will ich gar nicht hinaus. Versetz dich doch einfach mal in seine Lage! Als mäßig erfolgreicher Zahnarzt muss er sich verdammt anstrengen, um sich ständig für die alltägliche Tretmühle und den finanziellen Überlebenskampf zu motivieren. Und prak-
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tisch neben seiner Haustür wohnst du mit deiner Traumkarriere. Ist dir eigentlich klar, wie bekannt du tatsächlich bist?« Natürlich war es das. Dennoch hob Mike die Schultern. »Du bist es«, sagte Frank in irgendwie grimmigem Ton. »Verdammt, du bist in den letzten fünf Jahren abgegangen wie eine Rakete.« »Schade, dass meine Bank das nicht auch so sieht«, sagte Mike grinsend. »Oder mein Redakteur.« »Erfolg zu haben, muss nicht zwangsläufig bedeuten, auch besser geworden zu sein«, konterte Frank, wurde aber sofort wieder ernst. »Er muss sich neben dir vorkommen wie ein unbedeutendes kleines Nichts. Spar es dir, zu sagen, dass das nicht stimmt oder dass du das anders siehst. Ich weiß das, doch Menschen sind nun einmal so gestrickt. Aber von Anfang an hat es auch etwas gegeben, in dem er dir wirklich überlegen ist. Oder glaubst du, dass es Zufall ist, dass sich eure Freundschaft erst entwickelt hat, nachdem ihr die ersten paar Mal zusammen Motorrad gefahren seid?« »Du meinst... ?« »Ich meine, dass das der einzige Punkt ist, in dem er sich dir nicht nur wirklich überlegen fühlt, sondern es auch tatsächlich ist, und zwar so, dass es auch jedermann sie ht. Kannst du dir auch nur vorstellen, was das für sein Selbstwertgefühl bedeutet hat? Meinst du, es hat ihn nicht in seinem Stolz verletzt, sich von dir zu diesem kompletten Urlaub einladen zu lassen? Verdammt, ich bin sicher, dass er die Einladung überha upt nur angenommen hat, weil er sich einreden konnte, dass wir beide ohne ihn gar nicht in der Lage wären, die Tour zu schaffen! Und jetzt das. Zuerst hängst du ihn auf einer Strecke ab, auf der ich mir fast in die Hosen gepisst hätte vor Angst. Und dann jetzt noch dieser bescheuerte Unfall. Viel schlimmer konnte es gar nicht kommen, wenn du mich fragst.« Mike fragte ihn nicht. Er fragte vielmehr sich, über wen Frank wirklich sprach - über Stefan oder vielleicht doch über
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sich selbst? Er war wenigstens in diesem Moment klug genug, die Frage nicht laut zu stellen. Mike war ein wenig verwirrt - und mehr als nur ein wenig erschrocken über das, was Frank ihm gerade eröffnet hatte. Natürlich hatte er Recht, hundertprozentig und mit jedem Wort, das er gesagt hatte - und vor allem mit dem, was er nicht gesagt, aber dennoch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Mit einem Male wurde ihm vieles klar. Stefans manc hmal so seltsam unlogisch erscheinenden Reaktionen. Die spitzen und oft ganz eindeutig gewollt verletzenden Bemerkungen, die er, Mike, immer kommentarlos hinnahm, obwohl er sich schwarz darüber ärgerte. Es war seine Schuld. Er hätte es merken müssen, verdammt! Frank hatte auch in einem anderen, vielleicht noch viel wichtigeren Punkt Recht: Wäre dies eine konstruierte Geschichte mit ausgedachten Personen, dann wäre ihm von Anfang an alles klar gewesen. Wieso war er nicht in der Lage, im richtigen Leben zu erkennen, was er in seinen eigenen Imaginationen nahezu perfekt beherrschte? Er stand auf. Frank blickte ihn fragend an. »Bestell mir ein Steak«, sagte Mike. »Medium. Kein Salat.« »Nur fettige Pommes, nichts Gesundes, ich weiß«, sagte Frank. »Wohin?« »Ich gehe nach draußen«, antwortete Mike, während er schon den Stuhl zurückschob. »Vielleicht kann ich Stefan irgendwie helfen.« Noch bevor Frank die durchaus berechtigte Bemerkung anbringen konnte, dass er wahrscheinlich nicht einmal genau wusste, an welchem Ende man einen Schraubenzieher anfasste, schob er seinen Stuhl zurück und ging. * Er fand Stefan draußen auf dem Parkplatz, hätte ihn jedoch
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auch gar nicht übersehen, oder genauer: überhören können. Stefan drosch mit einem geradezu lächerlich kleinen Hämmerchen auf das verbogene Trittbrett der Intruder ein und fluchte dabei ungehemmt vor sich hin. Mike trat hinter ihn, schob die Hände in die Hosentaschen und wartete, bis seine bloße Anwesenheit Stefans Aufmerksamkeit erregte. »Kann ich dir helfen?« Stefan sah aus ärgerlich funkelnden Augen zu ihm hoch. Mike war allerdings ziemlich sicher, dass dieser Ärger viel weniger ihm als dem verbogenen Trittbrett galt. Stefans Bemühungen waren bislang von keinem großen Erfolg gekrönt. »Kannst du das denn?« Wenn Frank auch nur im Ansatz Recht hatte mit dem, was er gerade gesagt hatte, dann hätte Mike diese Frage jetzt verne inen müssen. Aber vielleicht wusste er eine bessere Lösung. Er deutete mit dem Kinn auf den Hammer und sagte ernsthaft: »Wenn du mir zeigst, an welchem Ende man das Ding anfasst.« »Da bin ich selbst nicht ganz sicher«, knurrte Stefan. »Der Kerl an der Rezeption hat mir dieses Ding wahrscheinlich nur gegeben, damit sie nachher alle was zu lachen haben.« Er stand auf und reichte Mike das Hämmerchen - mit dem Kopf voran. »Halt mal fest.« Mike nahm das Werkzeug entgegen, und Stefan entfernte sich ein paar Schritte, bückte sich und kam mit einem doppelt faustgroßen Kiesel aus einem der Blumenbeete zurück, die den Parkplatz säumten. »Leg dein Spielzeug weg«, knurrte er. »Halt einfach die Maschine fest.« Mike legte den Hammer zu Boden, ging um die Intruder herum und stemmte sich mit Knie und Oberschenkel dagegen. Nachdem Stefan sich davon überzeugt hatte, dass Mike sicher stand, ließ er sich selbst auf die Knie nieder und begann, mit dem Stein auf das verbogene Metall einzuschlagen. Diesmal
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dröhnten die Schläge so laut und lang nachhallend über den Parkplatz, dass nach ein paar Augenblicken sowohl der Portier als auch zwei weitere Angestellte des BEST WESTERN herauskamen, um nachzusehen, was der Radau zu bedeuten hatte. Während sich Mike mit aller Kraft gegen das Motorrad stemmte, damit es unter der Wucht von Stefans Schlägen nicht umfiel, ließ er seinen Blick über den großen, fast leeren Parkplatz wandern. Auch die Straße dahinter, über die sie gekommen waren, war vollkommen leer. Sie waren offenbar wirklich in einer gottverlassenen Gegend gelandet. Er fragte sich, wovon das Motel überhaupt existierte. Egal, was Frank über seine strategisch günstige Lage erzählt hatte - abgesehen von ein paar Touristen, die auf der Flucht vor einem verrückten Revolverhelden waren, kam wahrscheinlich nur alle zweihundertfünfzig Jahre hier jemand vorbei. Direkt über dem Horizont blitzte etwas auf. Vielleicht nur ein verirrter Sonnenstrahl, der sich auf einer Scheibe brach. Vielleicht auch ein verchromtes Motorrad, das beharrlich näher kam ... Mike verscheuchte den Gedanken und drehte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, aber der Anblick dort war auch nicht viel erbaulicher. Wenn die Karte stimmte, dann hätten sie den Bergen schon längst nahe genug sein müssen, um sie deutlich zu erkennen. Dennoch sah er nur einen großen, verschwommenen Schatten, der mit dem Himmel verschmolz, ohne dass man genau erkennen konnte, wo. Und plötzlich wusste er, warum. Diesig. Es war kein Nebel, sondern eine andere Art geballter Feuchtigkeit, für die ihm nur dieses eine Wort einfiel: diesig. Mike versuchte sich einen Moment lang mit dem Gedanken zu beruhigen, dass es dort hinten bereits dunkel zu werden begann, aber er musste nicht einmal auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass das nicht stimmte. Sie hatten noch gute zwei
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Stunden Tageslicht, und dort oben in den Bergen wurde es eher später dunkel als hier unten, nicht früher. Wahrscheinlich regnete es, dachte er beunruhigt. Er hasste es, bei Regen zu fahren. Die schwerfälligen Chopper ließen sich auf nasser Straße noch schlechter lenken. Jede Kurve wurde zu einer Anstrengung, jedes Bremsen zu einem lebensgefährlichen Wagnis. Stefan hörte auf, mit dem Stein auf das Motorrad einzuschlagen, und richtete sich keuchend auf. »Ich hoffe, du gehst mit deinen Patie nten etwas zartfühlender um«, sagte Mike. Stefan grinste. Er warf den Stein in hohem Bogen in das Blumenbeet zurück, verfehlte dieses aber, sodass er klappernd über den Parkplatz rollte. »Wie kommst du denn darauf? Da solltest du mich erst einmal bei Wurze lresektionen sehen.« Er ließ sich wieder in die Hocke sinken und begutachtete kritisch sein Werk. Die Fußraste war wieder halbwegs gerade gebogen. Das Bremspedal dagegen sah immer noch schlimm aus. »Wird schon gehen«, sagte er achselzuckend, während er sich aufrichtete. »Das Tropfen konnte ich abstellen. Und es ist ja nicht mehr weit.« Mike blickte misstrauisch zu den Bergen hin. War der Dunst dichter geworden? Gegen seine Überzeugung sagte er: »Morgen Abend sitzen wir im Flugzeug.« »Ja.« Stefan schüttelte den Kopf. »Wenn wir alles zusammenrechnen, wäre es wahrscheinlich auch nicht viel teurer gekommen, zu bezahlen. Der Vermieter wird sich wahrscheinlich die Maschinen voll von uns bezahlen lassen, wenn wir sie beschädigt in Vegas stehen lassen, statt sie nach Phoenix zurückzubringen. Dazu kommt der Rückflug, den wir jetzt neu buchen müssen, die zusätzlichen Hotelkosten ...« Er hob die Schultern. »Aber wahrscheinlich wären wir die Typen niemals losgeworden.«
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»Es tut mir Leid«, sagte Mike. Stefan schien zu spüren, wie ernst es ihm mit diesen Worten war; und anscheinend auch, was er wirklich damit meinte. Langsam drehte er sich um und sah ihn einige Sekunden lang schweigend und auf sehr sonderbare Weise an. »Das muss es nicht«, sagte er. »Ist doch schließlich nic ht deine Schuld, dass sich diese kriminellen Roten ausgerechnet dich ausgesucht haben. Genauso gut hätten sie mich aussuchen können.« Er zwang sich zu einem Grinsen, dem man unglückseligerweise ansah, wie falsch es war. »Außerdem: Stell dir mal vor, was wir alles erzählen können, wenn wir zurück sind. Falls du allerdings auf die Idee kommst, ein Buch daraus zu machen, dann will ich Prozente.« »Keinen Pfennig«, grollte Mike. »Aber du kriegst ein Exemplar zum Vorzugspreis. Zwanzig Prozent Rabatt.« »Zwanzig Prozent?« Stefan kniff misstrauisch ein Auge zu. »Hast du mir nicht einmal erzählt, dass du vierzig kriegst?« »Fünfzig«, verbesserte ihn Mike. »Man muss sehen, wo man bleibt.« Er lachte laut über den verblüfften Ausdruck auf Stefans Gesicht. »Komm. Gehen wir essen. Happa-happa.« Sie aßen in Ruhe und gönnten sich sogar die Zeit, in aller Gemächlichkeit einen Kaffee zu trinken, obwohl ihnen klar war, dass im Moment möglicherweise jede Minute zählte. Als sie endlich losfuhren, blieben ihnen weniger als zwei Stunden Tageslicht; keine Chance mehr, die andere Seite des Gebirges und damit das Motel zu erreichen, bevor es dunkel wurde. Dennoch wiederholte Mike seinen Vorschlag nicht noch einmal, an Ort und Stelle zu übernachten - auch wenn es das einzig Vernünftige ge wesen wäre. Er gestattete sich nicht einmal einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Wenn das silberne Blitzen am Horizont vorhin tatsächlich Strong gewesen war, wäre er längst hier aufgetaucht. Er musste aufhören, sich selbst verrückt zu machen. Von der Gluthitze, in der sie den Tag begonnen hatten, war
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längst nichts mehr zu spüren. Der Wind, der ihnen in die Gesichter blies, war angenehm kühl. Nach einer halben Stunde war er nicht mehr angenehm, sondern nur noch kühl. Und nachdem sie eine weitere halbe Stunde gefahren waren, war er eindeutig unangenehm. Schließlich hielt der vorausfahrende Stefan an, kippte seine Maschine auf den Ständer und begann in seinen Satteltaschen zu kramen. »Was suchst du?«, spöttelte Mike. »Einen Skalp aus Pferdehaar?« »Einen Pullover«, antwortete Stefan, ohne hochzusehen, »und meine Handschuhe.« Er machte eine Kopfbewegung nach vorne. »Seht mal dorthin. Das Weiße da, was glaubt ihr wohl, was das ist?« Es dauerte einen Moment, bis Mike begriff. Dann riss er ungläubig die Augen auf. »Ist das ... Schnee?« Natürlich war es Schnee! Vor ihnen schimmerte es hell zwischen den Stämmen des dichten Tannenwaldes, der die Straße säumte: zuerst nur wenige glitzernde Flecke, weiter oben aber immer mehr und mehr. Und die Gipfel, die jetzt manchmal beunruhigend hoch über ihnen im grauen Dunst auftauchten, glitzerten wie riesige Rohdiamanten. Wenn man bedachte, wie der Tag angefangen hatte, war der Anblick geradezu absurd. Aber die kalte Luft, die wie Glas in ihre Gesichter schnitt, bewies das Gegenteil. Sie waren zwar im Herzen einer höllenheißen Wüste aufgebrochen, hatten seither jedoch auch mehr als vierhundert Kilometer zurückgelegt, und sie waren den Großteil dieser Strecke bergauf gefahren, ohne es wirklich zu merken. »Vielleicht sollten wir doch in diesem BEST WESTERN übernachten«, sagte Mike zögernd. »Noch können wir zurück.« »Unsinn«, antwortete Frank. Er war bereits abgestiegen und begann ebenfalls in seinem Gepäck zu wühlen. »Das schaffen wir schon. Ich denke, das Schlimmste haben wir bereits hinter
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uns.« »Und wie nennst du das da?«, fragte Mike mit einer Geste auf die schneebedeckten Gipfel vor ihnen. »Der Pass wird wohl kaum über die höchsten Gipfel führen«, antwortete Frank, ohne auch nur hochzusehen. »Such dir was Warmes zum Anziehen, und dann weiter. Keine Angst - wenn du es nicht schaffst, nehmen wir dich in die Mitte und schieben dich.« Mike fand das überhaupt nicht komisch, auch wenn er zu wissen glaubte, warum Frank diese blöde Bemerkung gemacht hatte. Trotzdem stieg er ebenfalls ab und machte sich daran, warme Sachen herauszusuchen. Das Ergebnis war mäßig, genau wie bei Stefan; nur Frank hatte in seiner typischen Gründlichkeit extra ein zweites, dickes Paar Handschuhe, eine entsprechende Jacke und eine Thermohose in seine Gepäckrolle gestopft. In Phoenix hatten sie ihn deswegen noch aufgezogen, jetzt war Mike nicht mehr nach Lachen zumute. Schließlich hatten er und Stefan sich auf eine Wüstentour vorbereitet, nicht auf eine Nordpolexpedition. Schmerzhaft kam ihm zu Bewusstsein, dass ihn das Reisebüro genau vor dieser Situation gewarnt hatte. Natürlich hatte er diese Bemerkung ignoriert und darauf verzichtet, sie an Frank und Stefan weiterzugeben. Schnee in Arizona und Utah? Lächerlich. Er zog drei T-Shirts übereinander an, ein zweites Paar Socken und eine zusätzliche Jeans, die er über seine Lederhose streifte. Anschließend hatte er das Gefühl, sich kaum noch bewegen zu können, aber der Wind biss nicht mehr ganz so schmerzhaft durch seine Kleidung. Als sie weiterfuhren, war ihm regelrecht warm. Allerdings nur für die ersten paar Minuten. Die Temperaturen stürzten buchstäblich in den Keller, nachdem sie die Schneegrenze passiert hatten. Es wurde kalt, dann eisig, und als sie den Pass erreichten und es unwiderruflich zu
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dämmern begann, wirbelten die ersten Schneeflocken durch die Luft. Auf dem höchsten Punkt der Passstraße machten sie noch einmal Halt; an der gleichen Stelle, an der vermutlich unzählige Touristen vor ihnen angehalten hatten, um den spektakulären Ausblick über die andere Seite des Gebirges und die dahinter liegende Hochebene zu genießen. Nur dass der Anblick, der sich ihnen nun bot, nicht spektakulär war, sondern durch und durch erschreckend. Dabei war im Grunde gar nichts zu sehen. Hundert oder zweihundert Meter vor ihnen ... hörte die Welt einfach auf. Mike klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Seine Fingerspitzen hatten zu Anfang gekribbelt, mittlerweile taten sie weh, und es war jene besondere Art von Schmerz, der keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass er noch viel, viel schlimmer werden kann - und zwar sehr schnell. Sein Atem bildete kleine Dampfwölkchen vor dem Gesicht, und er ertappte sich dabei, wie er sich ernsthaft die Gluthitze des Morgens zurückwünschte. »Na ja«, murmelte Stefan. So knapp dieser Kommentar auch war, beschrieb er doch treffend, was sie alle drei fühlten. Wie um sich ein letztes Mal aufzubäumen, war das Tageslicht hier an der höchsten Stelle des Passes, noch einmal zurückgekehrt. Die Berggipfel, die mindestens weitere tausend Meter beiderseits der Straße in die Höhe ragten, waren so klar zu erkennen wie auf einer dreidimensionalen Meisterfotografie: schneegekrönte Giganten, die auf die drei winzigen Menschengestalten auf ihren lächerlichen Fahrmaschinen herabblickten und noch nicht ganz schlüssig zu sein schienen, ob sie sich über sie amüsieren oder sie mit einem Fingerschnippen vernichten sollten. Dafür war die Straße unter ihnen verschwunden. Die dichte, schneegefüllte Wolkendecke, die den Blick auf die Berggipfel bisher verwehrt hatte, hatte sich auf die Erde herabgesenkt.
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Einen Moment später begriff Mike, dass dem ganz und gar nicht so war. Vielmehr waren sie in die Wolken hineingefahren. Voller Entsetzen wurde ihm klar, wie hoch sie mittlerweile im Gebirge waren. Was hatte der Mensch aus dem Reisebüro gesagt? Dreitausend Meter? Die Zahl klang so harmlos - es sei denn, man hatte sie in Meilen unter sich. Oder vor sich. Die graue Wand, die vor und unter ihnen waberte und wogte, konnte alles Mögliche sein, von bloßer Dämmerung bis hin zu einem ausgewachsenen Schneesturm. Nun, was immer es war: Es machte Mike Angst. Sehr große Angst. »Und jetzt?«, fragte er. »Was schon?«, erwiderte Stefan. »Auf sie mit Gebrüll, würde ich sagen.« »Noch können wir umkehren«, sagte Mike leise. »Nee, können wir nicht«, antwortete Frank. »Dreh dich mal um.« Mike gehorchte - und erschrak erneut. Der Anblick hinter ihnen unterschied sich nicht von dem vor ihnen - mit dem einzigen Unterschied, dass hinter ihnen tatsächlich ein Schneesturm tobte. Der Pass ragte aus den Wolken wie der Rücken eines Wales aus trübem Wasser, in dessen Tiefen unbekannte, aber gefährliche Ungeheuer lauerten. Ohne ein weiteres Wort rammte Stefan den Gang hinein und fuhr los. Mike und Frank folgten ihm, nicht hinter- sondern diesmal nebeneinander und in dichterem Abstand, als vielleicht gut war. Mikes Herz begann immer heftiger zu klopfen, je mehr sie sich der brodelnden grauen Wand näherten. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass es eigentlich niemals so schlimm kam, wie man es sich in seinen schlimmsten Träumen ausmalte, und damit hatte er vermutlich Recht. Aber das bedeutete keinesfalls, dass sie eine Spazierfahrt vor
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sich hatten. Zuerst erlosch das Licht. Als sie in die Nebelwand eintauchten, schien sich das schwindende Tageslicht einfach zu zerstreuen, sodass es nunmehr aus allen Richtungen zugleich kam, selbst von unten, dabei zugleich aber auch den Großteil seiner Leuchtkraft einbüßte. Plötzlich war es unmöglich, Entfernungen zu bestimmen. Frank wurde zu einem bloßen Schemen, irgendwo neben ihm, ohne dass Mike sagen konnte, wie weit er von ihm weg war. Selbst das Dröhnen der Motoren veränderte sich und schien nun genau wie das Licht aus allen Richtungen zugleich zu kommen. Es war, als wären sie in ein fremdes Universum eingedrungen, dessen andersartigen Naturgesetze keine Dreidimensionalität kannten. Stefans Gestalt reduzierte sich zu einem pulsierenden roten Schein, mit dem sein Rücklicht vor ihnen durch den wirbelnden Schnee und das Grau tanzte. Und so wenig wie für Entfernungen, Richtungen und Geräusche schien in diesem Universum Platz für Zeit zu sein. Vielleicht vergingen nur Sekunden, vielleicht Ewigkeiten, in denen sie hinter- und nebeneinander durch das Schneegestöber fuhren. Die Luft war mittlerweile so kalt, dass es wehtat, sie einzuatmen. Das Schneegestöber hatte sich in einen ausgewachsenen Blizzard verwandelt. Nur die Tatsache, dass der heftige Wind den Schnee daran hinderte, liegen zu bleiben und die abschüssige Straße in eine Rutschbahn zu verwandeln, bewahrte Mike davor, die Gewalt über das Motorrad zu verlieren und zu stürzen. Und wieder war es Stefan, der sie zum zweiten Mal an diesem Tag in eine gefährliche Situation brachte. Diesmal war es jedoch ganz eindeutig nicht seine Schuld. Sie fuhren - realistisch betrachtet, falls es in dieser unheimlichen Twilight-Zone so etwas wie Realität gab - seit vielleicht zehn Minuten eine steil abwärts führende, in engen Serpentinen gewundene Straße hinab. Mike befand sich längst in einem
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sonderbaren lethargischen Zustand und konzentrierte sich nur noch darauf, die nächsten drei Sekunden zu überstehen; und die nächste Haarnadelkurve; und danach die nächste und wieder die nächste und wieder die nächste; wenn es sein musste, bis ans Ende der Zeit. Wieso er trotzdem rechtzeitig reagierte, war ihm ein Rätsel. Stefan trat so hart auf die Bremse, dass sein Hinterrad blockierte und die Intruder mit einem hässlichen Geräusch zur Seite ausbrach. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mike etwas Riesiges zu erkennen, das vor ihm aus dem Schneetreiben auftauchte und ebenso schnell wieder damit verschmolz, aber es blieb ihm keine Zeit, genauer hinzusehen. Der Abstand zwischen ihm und Stefans jäh aufloderndem Bremslicht schrumpfte so schnell zusammen wie eine Tür, die mit aller Kraft zugeschlagen wurde. Alles, was Mike blieb, war instinktiv zu reagieren und sich erst hinterher Gedanken zu machen, ob es richtig gewesen war: Er betätigte Vorder- und Hinterradbremse gleichzeitig und mit aller Gewalt, zog die Kupplung durch und verlagerte sein Körpergewicht gleichzeitig mit einem fast verzweifelten Ruck nach links, um dem flackernden roten Dämonenauge auszuweichen, das ihn anspringen wollte. Zu langsam, viel zu langsam. Das Rücklicht sprang regelrecht auf ihn zu, gleichzeitig spürte er, wie sich das Vorderrad der Intruder quer zu stellen begann und er die Kontrolle über die Maschine verlor. Unmittelbar neben ihm pfiff Franks blockierendes Hinterrad über den nassen Asphalt. Mike blieb keine Zeit, auch nur in seine Richtung zu sehen. Verzweifelt löste er die Hand von der Vorderradbremse, aber es war zu spät. Er verlor zunehmend die Gewalt über die Intruder. Das Bremslicht von Stefans Maschine war mittlerweile so nah wie eine explodierende rote Riesensonne und ungefähr genauso groß und gefährlich. Es war vorbei! Noch eine halbe Sekunde, und sie würden kollidieren: ein einziges Knäuel aus ineinander verkeiltem Metall und blutendem Fleisch, das den Berg
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hinabdonnerte, bis es in einer Schneewehe liegen blieb oder in einen Abgrund stürzte. Aber das Wunder geschah. Das flackernde rote Licht füllte für einen Moment das gesamte Universum aus - und war dann plötzlich verschwunden. Mike schlitterte an Stefan vorbei, fühlte noch, wie er ihn leicht berührte, dann war er vorüber. Die Intruder beschrieb eine komplette Hundertachtzig-Grad Drehung, schüttelte sich heftig - und richtete sich schwerfällig wieder auf. Der Motor ging aus, aber das Motorrad stand sicher und gerade. Mike war nicht gestürzt. Nicht weit von ihm entfernt vollführte Frank ein ähnliches Kunststück; etwas schneller und vermutlich deutlich anstrengender, aber auch ihm gelang es auf wunderbare Weise, den drohenden Sturz zu vermeiden. Fast in der gleichen Bewegung kickte er den Ständer heraus und stampfte wütend auf Stefan zu. »Verdammte Scheiße!«, brüllte er. Seine Stimme war selbst über das Toben des Schneesturmes hinweg deutlich zu hören. Mike konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so wütend erlebt zu haben. »Bist du wahnsinnig geworden? Jetzt reicht's mir aber! Willst du uns alle umbringen, oder was soll das?« »Da ... da war ein ... ein Elch«, stammelte Stefan. Er war schreckensbleich. »Ich schwöre euch, da stand ein Elch auf der Straße, ganz plötzlich. Ein Riesenvieh! Ihr müsst ihn doch gesehen haben!« »Ein Elch?« Frank warf Mike einen fragenden Blick zu, erntete aber nur ein Achselzucken und nach einer Sekunde des Zögerns ein angedeutetes Nicken, das fast noch unschlüssiger wirkte. Ja, da war tatsächlich etwas gewesen. Ein riesiger, seltsam missgestalteter Umriss, der aus Schnee und reiner Bewegung geformt gewesen zu sein schien. Vielleicht ein Elch. Vielleicht … »Ich schwöre euch, es war ein Elch«, beharrte Stefan. »Ihr müsst ihn doch gesehen haben!«
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»Ich habe gar nichts gesehen«, knurrte Frank. »Aber ...« »Schon gut.« Frank machte eine herrische Handbewegung, die Stefan auf der Stelle verstummen und noch ein bisschen blasser werden ließ. Mike war nicht ganz sicher, ob die Blässe nicht in Wahrheit Eis war. Stefans Augenbrauen, die unter dem mit einer dünnen Reifschicht bedeckten Jethelm gerade noch sichtbar waren, glitzerten zumindest weiß. »Dass ich nichts gesehen habe, bedeutet ja nicht, dass ich dir nicht glaube«, fuhr Frank fort - allerdings in einem Ton, der kein bisschen versöhnlich klang. »Bei dem Schnee sieht man ja kaum die Hand vor Augen. Mike hatte Recht, weißt du? Wir hätten in diesem Motel übernachten sollen.« »Und was heißt das?«, fragte Stefan unsicher. »Willst du umdrehen?« »Das wäre noch irrsinniger, als weiterzufahren.« Frank musste beinahe schreien, um den Wind zu übertönen. Er schüttelte heftig den Kopf. »Habt ihr das Schild gelesen?« »Was für ein Schild?«, fragte Stefan. Mike hatte auch nichts gesehen. Er hatte genug damit zu tun gehabt, die endlosen drei Sekunden Gegenwart zu überleben. »Vielleicht eine Meile zurück!« Frank musste nun wirklich schreien, um den Sturm zu übertönen, der warnungslos zu doppelter oder dreifacher Lautstärke anschwoll; es war beinahe so, als wolle er verhindern, dass sie hörten, was Frank zu sagen hatte. »Ich habe es kaum gesehen, aber ich glaube, es gib t ein Motel, nur drei oder vier Meilen entfernt.« »Versuchen wir es«, sagte Mike. »Wenn wir es finden, übernachten wir dort.« Diesmal widersprach niemand. Was hatten sie auch zu verlieren? Es gab ohnehin nur eine mögliche Richtung. Das Problem war nur, dass in dieser Richtung noch etwas anderes auf sie wartete. Etwas, das im Sturm verborgen war. Vielleicht der Wendigo, der mit dem Wind geht.
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»Also los!«, bestimmte Stefan. »Bevor wir hier noch festfrieren.« Sie gingen zu ihren Maschinen zurück. Mike wendete mit einiger Mühe auf der schmalen Straße und nahm seinen Platz in der Kolonne wieder ein. Obwohl Stefan nun langsamer fuhr, hielt Mike einen deutlich größeren Abstand ein als zuvor. Zu allem Überfluss begann sich der Wind nun auch noch zu drehen, sodass ihnen der Schnee oft direkt ins Gesicht getrieben wurde, nahezu unsichtbar, aber dünn und schneidend wie Rasierklingen. Die Straße war weniger abschüssig als bisher. Die Reifen quälten sich nun durch eine Mischung aus Schneematsch und fingernagelgroßen Eiskristallen, die nicht nur Mike große Schwierigkeiten bereitete. In manchen der Hundertachtzig-Grad Kurven, die immer wieder jäh aus dem Schneetreiben auftauchten, mussten sie nahezu anhalten, und sowohl Stefan vor als auch Frank neben ihm verschwanden mehr als einmal vollkommen spurlos in dem tobenden weißgrauen Chaos. Mikes Hände schmerzten mittlerweile unerträglich. Er hatte das Gefühl, dass sie am Lenker festgefroren wären. Die Scheibe hatte sich in eine milchige, undurchsichtige Skulptur verwandelt. Die Maschine musste mittlerweile eine Tonne wiegen, so viel Eis hatte sich bereits daran festgesetzt. Stefan verringerte plötzlich das Tempo, sodass seine Maschine wieder aus dem Schneegestöber auftauchte. Er verzögerte weiter, stemmte sitzend beide Füße gegen den spiegelglatten Boden und deutete mit der Linken in den Sturm. »Da vorne! Ich glaube, da ist das Motel!« Er hatte Recht. Die Straße verlief für ein kurzes Stück geradeaus und weitete sich dann zu einem halbrunden Platz, an dessen gegenüberliegendem Rand sich ein anderthalbgeschossiges Holzhaus im typischen Western-Stil erhob. Jedenfalls vermutete Mike das. Sehr viel zu erkennen war nicht. Der Sturm tat sein Möglichstes, um das Gebäude zu verschlingen, und er war nicht schlecht in dem, was er tat. Manchmal
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tauchten Teile der anscheinend weitläufigen Anla ge für kurze Zeit aus dem tobenden Schneechaos auf, als könne sich der Sturm nicht entscheiden, welchem Teil des Gebäudes er gestatten sollte, Wirklichkeit zu werden. Die letzten zwanzig Meter entpuppten sich als das schlimmste Stück. Auf dem Parkplatz lagen zehn Zentimeter Schnee, in dem die Reifen der Motorräder zwar gut griffen, aber auf der freien Fläche gab es keinen Schutz vor dem Wind, der plötzlich aus allen Richtungen zugleich auf sie einzuprügeln schien. Nicht nur Mike musste all sein fahrerisches Können aufbieten, um die Maschine lange genug unter Kontrolle zu halten, damit sie den Parkplatz überqueren und vor dem Hauptgebäude anhalten konnten. Das Unglück geschah, als er abzusteigen versuchte. Seine Muskeln schienen zu Eis erstarrt und unfähig zu sein, ihn zu tragen. Seine Finger, die den Lenker hielten, waren zu Krallen verkrümmt und pulsierten vor Schmerz. Er trat den Ständer heraus, aber der Bewegung fehlte die nötige Kraft. Der Ständer schnappte zurück, und die hastige Bewegung, mit der er den Fuß auf den Boden setzte, um die Maschine abzufangen, kam ebenfalls zu spät. Unter dem verharschten Schnee war Eis, auf dem seine Stiefelsohlen keinen Halt fanden. Er glitt aus. Die Intruder neigte sich zur Seite, und seine steif gefrorenen Hände hatten nicht mehr die Kraft, sie zu halten. Die Intruder fiel mit einem dumpfen Laut in den Schnee, und Mike konnte gerade noch das Bein wegziehen, um nicht darunter eingeklemmt zu werden. Stefan verdrehte die Augen und kletterte umständlich von seiner Maschine, aber Frank schüttelte rasch den Kopf. »Ich mach das schon!«, schrie er über das Toben des Sturmes hinweg. »Geh rein und mach die Zimmer klar!« Stefan ließ sich nicht zweimal bitten, sondern drehte sich mitten in der Bewegung um und stiefelte steifbeinig die kurze Holztreppe hinauf, während Frank bereits Mike zu Hilfe kam.
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Mike trat einen halben Schritt zurück und starrte ärge rlich auf die Maschine hinab, bevor er sich mühsam in die Hocke sinken ließ. Seine Gelenke knackten. Er versuchte die Hände unter die Maschine zu schieben, aber seine Finger waren noch immer zu Krallen verkrümmt. Als er versuchte, sie mit Gewalt zu strecken, tat es so weh, dass er fast aufgeschrien hätte. »Lass mich das mal machen.« Frank trat neben ihn und schob ihn mit einer sicher freundschaftlich gemeinten Geste aus dem Weg; außerdem würde er die Maschine allein vermutlich viel schneller aufrichten, als wenn Mike ihm mit seinen steif gefrorenen Händen zu helfen versuchte. Dennoch spürte Mike für einen winzigen Moment rasende Wut, ja, fast Hass. Natürlich war das Unsinn. Frank wollte so schnell wie möglich aus dem Sturm heraus und ins Warme, das war alles. Dennoch: vielleicht sollte Frank sich das nächste Mal besser selbst zuhören, wenn er anderen Vorträge über Selbstwertgefühl und das mangelnde Logikempfinden der menschlichen Psyche hielt. Frank ließ sich in die Hocke sinken und schob die rechte Hand unter den Sattel, mit der Linken griff er nach dem Lenker. Mike trat einen halben Schritt zur Seite, um ihn nicht zu behindern, und drehte gleichzeitig das Gesicht aus dem Wind. Die Schneemauer auf der anderen Seite des Parkplatzes riss auseinander, und eine schattenhafte Gestalt tauchte aus dem Sturm empor. Im ersten Moment glaubte er, Stefa ns Elch wäre zurückgekommen, aber dann erkannte er seinen Irrtum. Es war kein Elch, sondern ein Pferd; ein schwarz-weiß geflecktes, gedrungenes Indianerpony, dessen Farbe es vor dem brodelnden Hintergrund perfekt tarnte - zumindest hinlänglich genug, um ihn daran zweifeln zu lassen, ob er es wirklich sah. Auf seinem Rücken saß eine geduckte, fast vollkommen in dunkles Tierfell gehüllte Gestalt. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, aber Mike spürte den Blick uralter, durch und durch
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boshafter Augen, den weder der Sturm noch die Dunkelheit aufhalten konnten und der etwas tief in ihm berührte und augenblicklich zu Eis erstarren ließ. Frank stemmte das Motorrad ächzend in die Höhe. Mike blinzelte, und als er die Lider wieder hob, war der Reiter verschwunden. »Der Ständer!«, ächzte Frank. Eine halbe Sekunde lang starrte Mike ihn verständnislos an, dann war er mit einem Sprung neben ihm, ließ sich unsinniger Weise auf die Knie herabfallen und zog den Seitenständer mit der Hand heraus. Frank ließ die Intruder mit einem erleichterten Seufzen zur Seite kippen und sah ihn verwirrt und ein wenig vorwurfsvoll an. »Danke«, murmelte Mike. »Komm lieber mit rein«, knurrte Frank, »bevor wir uns den Tod holen.« Mike wäre am liebsten hineingerannt, aber die Kälte setzte ihm mittlerweile derart zu, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Die drei Stufen zur Tür hinauf kamen ihm vor wie dreihundert. Bevor er hinter Frank durch die Tür trat, sah er sich noch einmal um. Der Sturm hatte seinen Belagerungsring um das Motel wieder geschlossen, Pferd und Reiter blieben verschwunden. Mike wurde klar, dass sie niemals wirklich da gewesen sein konnten - was die Sache jedoch nicht besser machte. Der Sturm hatte ihm offenbart, welche Kreatur in ihm lebte. Sie hätten nicht hierher kommen sollen. »Mach die Tür zu!« Frank ergriff ihn unsanft an der Schulter und half seiner Aufforderung gewaltsam nach, noch bevor Mike auch nur richtig begriff, wovon er sprach. Die Tür knallte zu und sperrte den Sturm aus, wenn auch nicht den Geist, dessen Atem er war. Mike drehte sich uns icher um. Sie befanden sich in einem kleinen, aber überraschend behaglich eingerichteten Raum, der eine Mischung aus dem Empfang eines Wild-West-Motels und einem gemütlich möblierten
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Wohnzimmer zu sein schien. Das ging hin bis zu einem übergroßen, aus Bruchstein errichteten offenen Kamin, in dem ein gewaltiges Feuer prasselte. Der Kamin und eine altmodische Sturmlaterne stellten die einzigen Lichtquellen im Raum dar. Der junge Mann hinter dem aus grobem Eichenholz gezimmerten Tresen war entweder ein hoffnungsloser Roma ntiker, oder der Strom war ausgefallen. Darüber hinaus war es warm, himmlisch, köstlich warm! Der junge Mann hinter der Theke - mit T-Shirt, schulterlangem, gewelltem Haar und silbernem Ohrring der einzige stilistische Missklang in der perfekt gestalteten Wild-WestRomantik - sagte ein paar Worte in scharfem Ton, auf die Frank besänftigend und mit einer Geste in Richtung Mike reagierte. Mike machte sich nicht die Mühe, nach der Übersetzung zu fragen. Vermutlich hatte er sich beschwert, weil Mike die Tür offen gelassen und auf diese Weise Schnee und Kälte Einlass gewährt hatte. Stattdessen ging er zum Kamin, ließ sich in die Hocke sinken und zerrte mit den Zähnen die Handschuhe von den Fingern, ehe er sie über die prasselnden Flammen hielt. Die Wärme tat ungemein gut. In wenigen Augenblicken würden seine Finger zu kribbeln beginnen und danach vermutlich ganz gemein wehtun, aber das interessierte ihn im Auge nblick nicht. »Hat er ein freies Zimmer?«, fragte er bibbernd. » »So viele du willst«, sagte Stefan von der Theke aus. »Wir sind die einzigen Gäste. Und er bittet um Entschuldigung - der Strom ist ausgefallen, und deshalb funktioniert die Klimaanlage nicht.« »Sehr komisch«, murrte Frank. »Der Kerl ist ein kleiner Witzbold, wie?« »Ein gieriger kleiner Witzbold«, antwortete Stefan. »Er will zweihundert Dollar für das Zimmer.« »Zweihundert?« Mike blickte über die Schulter zur Theke zurück und starrte den jungen Mann dahinter an. Der Bursche
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grinste breit. Seltsam, Mike war sich ga nz sicher, dass gerade eben noch keine halb heruntergebrannte Zigarette in seinem Mundwinkel gequalmt hatte. Mike verspürte plötzlich das fast unwiderstehliche Bedürfnis, sich auf ihn zu stürzen und sie ihm wegzureißen, nur um einen einzigen Zug zu nehmen. Stattdessen sagte er: »In Ordnung.« Er griff mit tauben Fingern unter die Jacke, zog seine Brieftasche heraus und warf sie Stefan zu. »Gib ihm die zweihundert. Und leg noch was obendrauf.« Stefan blickte ihn verwirrt an, aber dann klappte er die Brie ftasche auf und begann die genannte Summe abzuzählen. Sehr viel blieb danach nicht mehr übrig, wie Mike schmerzhaft bewusst wurde. Ein weiteres Problem: Ihr Bargeld wurde allmählich knapp, und so, wie die Dinge lagen, musste er auf den Gang zum Geldautomaten ve rzichten, wollte er die Behörden nicht geradewegs auf ihre Spur locken. Wenn Strong die Wahrheit gesagt hatte, dann suchte zwar außer ihm selbst im Moment niemand nach ihnen, aber wer sagte ihnen, dass sie ihm trauen konnten? . Stefan legte die abgezählte Summe auf den Tisch und fügte nachdem er einen letzten fragenden Blick mit Mike getauscht hatte - noch einen Zwanziger hinzu, als der Manager ihm das Anmeldeformular hinschob. Sowohl der Geldschein als auch das Formular verschwanden wie weggezaubert. »Wir sollten die Maschinen verstecken«, sagte er. Stefan lachte humorlos. »Kennst du ein besseres Versteck als diesen Sturm? Wenn Strong uns tatsächlich folgt, dann ist er noch bekloppter, als ich dachte.« »Ungefähr so bekloppt wie wir?« Mike stand mühsam auf und schlurfte zur Theke. Während der junge Bursche die Zigarette ausdrückte, nur um sich praktisch im selben Moment die nächste anzuzünden, ließ er die drei Ankömmlinge nicht aus den Augen. Mike sah hastig weg. »Wenn der Strom ausgefallen ist, gibt's wohl auch keinen
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heißen Kaffee«, seufzte Frank. »Und auch keine Heizung.« Stefan nahm den Zimmerschlü ssel entgegen, steckte ihn ein und deutete mit dem Kinn auf die Wand neben dem Kamin. Obwohl Mike unmittelbar davor gekniet hatte, waren ihm die zahlreichen, mit dünnem Seil zusammengehaltenen Bündel Feuerholz nicht aufgefallen, die dort aufgestapelt lagen. Offenbar war die Heizung heute nicht zum ersten Mal ausgefallen. »Wir sollen uns ein paar Bündel davon mitnehmen.« »Lass mich raten«, knurrte Frank. »Sie kosten zwanzig Dollar.« »Zehn«, verbesserte ihn Stefan. »Und die Streichhölzer sind gratis.« »Der Kerl ist ja ein richtiger Samariter.« Frank klemmte sich zwei Bündel Holz unter den Arm und warf Mike ein Drittes zu. Mikes Finger waren noch immer steif vor Kälte und so taub, dass er es fallen ließ. »Es ist gleich das erste Zimmer, draußen neben dem Haup thaus.« Stefan klaubte sich gleich eine ganze Hand voll Streic hholzbriefchen aus dem großen Glas, das auf der Theke stand, und kam herüber, um sich ebenfalls ein Bündel Feuerholz zu holen. »Am besten machen wir erst einmal Feuer, bevor wir das Gepäck holen.« Es schien noch kälter geworden zu sein, als sie ins Freie traten. Der Sturm hatte tatsächlich an Gewalt zugenommen und heulte nun so laut, dass jede Verständigung unmöglich wurde. Als sie die bezeichnete Tür erreichten, fror Mike bereits wieder erbärmlich. Während er darauf wartete, dass Stefan ungeschickt den Schlüssel ins Schloss fummelte, drehte er sich noch einmal herum und sah, dass Stefan Recht gehabt hatte: Sie waren keine zehn Meter weit gegangen, aber ihre Motorräder waren bereits nicht mehr zu sehen. Ein besseres Versteck als diesen Sturm gab es nicht. Solange er anhielt, waren sie hier vollkommen sicher, und sobald er aufhörte oder auch nur
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nennenswert nachließ, würden sie weiterfahren. Es kam ihm immer unglaublicher vor, dass sie noch vor weniger als zwölf Stunden an einem der heißesten Orte dieses Planeten gewesen sein sollten. Die Tür sprang auf, und Stefan trat mit einem überraschten Ausruf hindurch, als er den flackernden roten Lichtschein bemerkte, der das Zimmer erfüllte. »He! Der Kamin brennt ja schon! Das nenne ich Service ...« Etwas stimmte nicht. Mike spürte es allein an der Art, in der Stefan mitten im Satz abbrach und wie angewurzelt stehen blieb. Rasch und mit klopfendem Herzen trat er an ihm vorbei und prallte ebenfalls erschrocken zurück. »Hallo Freunde«, sagte Marc Strong, der mit überkreuzten Beinen auf dem Bett saß und mit seinem gewaltigen Revolver auf sie zielte. »Ihr habt aber lange gebraucht.« »Was ...?«, murmelte Frank ungläubig. Strong sprang mit einer Bewegung vom Bett auf, die so fließend und schnell war, dass man sie kaum sah. Trotzdem wirkte sie irgendwie nicht hastig. »Macht die Tür zu!«, befahl er scharf. »Und dann die Hände hoch und rüber zum Kamin. Aber ganz vorsichtig, wenn ich bitten darf.« Er wedelte drohend mit seinem Revolver, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Mike konnte sich vor Schrecken nicht rühren, aber Frank drehte sich langsam herum und zog die Tür ins Schloss. Dann ging er ebenso langsam zum Kamin, lud das Brennholz auf dem Boden daneben ab und hob die Arme. Stefan - und nach kurzem Zögern auch Mike - folgte seinem Beispiel. »Sehr gut«, lobte Strong. »Da neben dem Kamin ist es ho ffentlich warm genug.« Er lachte böse. »Ich bin extra etwas eher gekommen, damit ich auf euch warten und euch richtig einheizen kann.« »Das ist sehr komisch«, sagte Frank. »Was wollen Sie?« »Aber Frankie-Boy!« Strong sah ihn mit gespielter Ver-
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ständnislosigkeit an. »Du hast doch nicht etwa unser Abkommen vergessen, oder?« »Ich kann mich nicht erinnern, irgendein Abkommen mit Ihnen getroffen zu haben«, stieß Frank gepresst hervor. »Jetzt enttäuschst du mich aber wirklich«, sagte Strong stirnrunzelnd. »Geht man so mit seinen Freunden um?« »Freunde zielen im Allgemeinen nicht mit Pistolen aufeinander«, sagte Stefan. Strong lächelte. »Das ist ein Revolver«, sagte er. »Genau genommen ein 44er-Magnum-Colt, der Dank des Single-action-Prinzips eine hohe Schussfolge zulässt.« Vollkommen warnungslos schlug er Stefan die Waffe ins Gesicht. Stefan schrie auf, taumelte zurück und prallte gegen Frank. Hätte die Wand neben dem Kaminsims sie nicht aufgehalten, wären beide zu Boden gestürzt. »Aber wenn es euch beruhigt, stecke ich ihn gerne weg.« Strong ließ den Colt zweimal um den ausgestreckten Zeigefinger wirbeln und versenkte ihn in der gleichen Bewegung im Holster, das er am Gürtel trug. Der Kerl hat zu viele WildWest-Filme gesehen, dachte Mike. Allerdings hatte er zugleich auch das sichere Gefühl, dass Strong wahrscheinlich ebenso meisterhaft mit dieser Waffe schießen konnte, wie er damit herumzuspielen verstand. Seltsamerweise machte ihm das überhaupt keine Angst. Stefan war auf die Knie gesunken und presste stöhnend die Hände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hindurch; allerdings nicht sehr viel. Frank beugte sich zu ihm hinab und wollte ihm helfen, aber Stefan schüttelte ihn zornig ab. »Lass mich!« Frank hob die Schultern und drehte sich zornbebend zu Strong um. Seine Augen sprühten vor Wut. »Sind Sie verrückt? Diese Brutalität ist doch absolut unnötig!« »Ich denke nicht.« Strong hielt Franks Blick nicht nur gela s-
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sen Stand, sondern erwiderte ihn auch eindeutig herausfordernd. Für einen Moment lag der Ausbruch von Gewalttätigkeit fast greifbar in der Luft. Strong war ein gutes Stück größer als Frank, mit Sicherheit besser in Form und wahrscheinlich auch stärker. Aber sie waren immerhin drei gegen einen. Dann senkte Frank den Blick, und auch Strong entspannte sich ein wenig und trat einen halben Schritt zurück. Er hatte nicht die Spur von Angst vor ihnen, dachte Mike schaudernd, obwohl sie ihm zahlenmäßig überlegen waren. Und vermutlich wusste er auch nur zu gut, warum. Neben dem Kamin arbeitete sich Stefan stöhnend in die Höhe. Er hatte eine Hand heruntergenommen, und Mike sah, wie das Blut aus seiner Nase lief. Sie musste gebrochen sein, und er versuchte erst gar nicht, sich vorzustellen, wie weh das tun musste. Der Revolverlauf hatte einen deutlich sichtbaren roten Abdruck auf Stefans Wange hinterlassen, und das linke Jochbein war bereits dunkelblau verfärbt. Vielleicht war es ebenfalls gebrochen. Spätestens morgen früh würde Stefans ganzes Gesicht unförmig angeschwollen sein. Der Blick, mit dem er Strong maß, war hasserfüllt. »Nachdem das geklärt ist, können wir uns ja vielleicht ve rnünftig unterhalten und darüber nachdenken, wie wir weiter vorgehen«, sagte Strong. Er blickte herausfordernd von einem zum anderen, bekam keine Antwort und zuckte sichtlich enttäuscht mit den Achseln, ehe er zum Bett zurückging und sich auf die Kante setzte. Das Laken hinter ihm war zerwühlt und zu einem Berg aufgetürmt. Bewegte sich etwas darunter? »Das war eindeutig nicht nötig«, sagte Stefan näselnd. Er begann in seinen Taschen zu kramen, vermutlich auf der Suche nach irgendetwas, womit er das Blut auffangen konnte. »Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, das schwöre ich Ihnen!« Strong grinste breit. »Betriebsunfälle kommen vor«, sagte er lakonisch. »Also zum Thema: Bisher hat ja alles ganz hervor-
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ragend funktioniert. Aber wir sollten uns vielleicht ein bisschen besser absprechen. Ihr seid zwar besser, als ich dachte, aber eure letzte Aktion hätte durchaus ins Auge gehen können, wisst ihr? Man sollte diese Blizzards nicht unterschätzen. Das hat schon so manchen das Leben gekostet.« »Verdammt noch mal, was wollen Sie von uns?«, schnappte Frank. »Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe?« »Das solltest du vielleicht besser eure indianischen Freunde fragen«, sagte Strong. Frank machte eine wütende Handbewegung. »Bullshit! Das ist Ihre Sache, Strong. Wir haben mit Ihrem Privatkrieg mit diesen Indianern nichts zu tun, wann begreifen Sie das endlich?« »Ich fürchte, da täuschst du dich, Frankie-Pankie«, sagte Strong grinsend. »Ihr seid schon mittendrin.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass es reicht, wenn ihr euch auf eure Bikes setzt und davonfahrt, oder?« »Was soll das heißen?«, fragte Mike. Strong starrte ihn geschlagene zehn Sekunden lang durchdringend und mit steinerner Mine an, dann lächelte er plötzlich wieder und streckte die Hand nach der Decke hinter sich aus. »Ich habe euch etwas mitgebracht.« Er zog die Decke mit einem Ruck zurück, und Frank und Mike schrien gleichzeitig erschrocken auf. Unter dem zerknü llten Laken lag eine schlanke, an Händen und Füßen gefesselte Gestalt. Es war eine Frau: die alte Indianerin, die Mike zusammen mit dem Pärchen und ihrem schwachsinnigen Kind in Phoenix und anschließend ein paar Mal in dem schwarzen Van gesehen hatte. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit dem silberfarbenen Klebeband zusammengebunden, das zu Strongs Lieblingsspielzeugen zu gehören schien. Ein weiterer Streifen diente als Knebel. Ihr Gesicht war geschwollen - wahrscheinlich hatte Strong sie ebenfalls geschlage n -, aber sie war wach, und ihre
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Augen musterten Strong mit einem Ausdruck, der nur mit purer Mordlust zu beschreiben war. »Großer Gott!«, entfuhr es Frank. »Was ... ? Sind Sie wahnsinnig geworden, Mann?« »Ihr seid wirklich undankbar«, schmollte Strong. »Denkt lieber einmal darüber nach, was passiert wäre, wenn ich Ma Baker hier nicht rechtzeitig gefunden hätte.« Er stand auf, knuffte die Indianerin schmerzhaft in die Rippen und krallte dann die Hand in ihr langes, strähnig- graues Haar. Die Alte keuchte vo r Schmerz und versuchte mit den zusammengebundenen Füßen nach ihm zu treten (sie traf auch, und Mike konnte sich hinlänglich genug an die »Pferdeküsse« aus seiner Grundschulzeit erinnern, um zu wissen, wie weh ein solcher Tritt gegen den Oberschenkel tat), aber Strong ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern zerrte sie grob vom Bett und schleuderte sie zu Boden. »Lassen Sie das!«, sagte Frank aufgebracht. Quasi als Antwort darauf ließ sich Strong wieder auf die Bettkante sinken und trat der alten Frau wuchtig in die Rippen. Sie keuchte vor Schmerz, aber unter dem Knebel aus Klebeband klang es eher wie das Zischen einer wütenden Schlange. »Tut euch die arme alte Frau etwa Leid?« Strong lachte abermals und versetzte seinem wehrlosen Opfer einen zweiten, noch heftigeren Tritt. »Das ist wirklich nicht nötig. Versucht euch einfach vorzustellen, was ihre Kids mit euch anstellen würden, wenn sie euch in die Finger bekämen.« Ein weiterer Tritt. Die Indianerin krümmte sich zu einer fötalen Haltung zusammen und bega nn zu wimmern. »Und wenn das nicht reicht, dann denkt einfach daran, dass diese herzlose alte Frau wahrscheinlich ein Dutzend Menschenleben auf dem Gewissen hat. Von den Existenzen, die sie und ihre Brut zerstört haben, einmal ganz zu schweigen.« »Das geht uns nichts an«, sagte Frank. »Wir haben sie. Okay. Warten wir ab, bis der Sturm vorbei ist und die Telefone
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wieder funktionieren, und dann übergeben wir sie der Polizei. Aber hören Sie verdammt noch mal auf, sie zu misshandeln!« »Mir bricht das Herz«, sagte Strong gehässig und trat die alte Frau erneut; diesmal gegen den Oberschenkel. »Aber so leicht ist das nicht, Freunde. Was glaubt ihr wohl, warum sie hier auf euch gewartet hat? Sie war das Vorauskommando, mehr nicht. Die beiden anderen sind garantiert schon auf dem Weg hierher, wenn sie nicht schon draußen im Wald herumlungern und uns belauern. Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass sie tatenlos zusehen werden, wie wir sie an die Cops ausliefern, oder?« »Und was haben Sie jetzt vor?«, erkundigte sich Frank misstrauisch. »Wollen Sie sie umbringen?« »Ich habe daran gedacht«, sagte Strong, und so, wie er es sagte, klang es durchaus überzeugend. »Aber lebend ist sie viel wertvoller für uns. Die beiden werden garantiert hier auftauchen, um sie rauszuhauen. Und dann schnappen wir die ganze Bande.« »Um was zu tun?«, fragte Frank. »Sie umzubringen?« »Das wäre die einfachste Lösung, oder?« »Ohne uns«, sagte Frank entschieden. »Wir haben mit Mord nichts am Hut.« »Das kommt ein bisschen spät«, sagte Strong kalt. »Ich kann nicht mehr zurück. Sie wissen jetzt, dass ich hinter ihnen her bin. Und ich habe sie nicht fünf Jahre lang gejagt, um jetzt einen Rückzieher zu machen.« »Das ist Ihr Problem«, antwortete Frank. »Wir haben Sie nicht gebeten, sich einzumischen.« »Aber ihr hattet auch keine Hemmungen, meine Hilfe anzunehmen, wie?« Strong verlieh seinem Ärger Ausdruck, indem er der alten Frau abermals und noch wuchtiger in die Rippen trat. Sie begann lauter zu wimmern und krümmte sich zu einem Ball zusammen. Frank schrie: »Hören Sie auf! Sie bringen sie ja um!« Strong lachte und versetzte der Alten einen weiteren Tritt. Im
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gleichen Augenblick stürzte Frank sich auf ihn. Strong hatte offensichtlich damit gerechnet, denn er rollte sich blitzschnell über die Bettkante und zur Seite ab, sodass Franks Angriff ins Leere ging, empfing ihn aber gleichzeitig mit einem gestreckten Fußtritt in den Leib, der Frank keuchend auf die Knie fallen ließ. Praktisch gleichzeitig stürzten sich Stefan und Mike auf Strong. Die Schmerzen, unter denen Stefan zweifellos litt, versetzten ihn nicht nur in rasende Wut, sondern verliehen ihm auch für einen Moment die Kräfte eines Berserkers. Während Mike ebenso ungeschickt wie vergebens versuchte, Strong irgendwie zu packen, deckte Stefan diesen mit einem Hagel wütender Fausthiebe ein, der ihren Gegner haltlos zurücktaumeln ließ. Schließlich aber überwand Strong seine Überraschung, fing Stefans Arm mit einer ausholenden Bewegung ab und konterte mit einem blitzartigen Haken in Stefans Leib, der diesen um Atem ringend auf die Knie fallen ließ. Praktisch in der gleichen Bewegung schüttelte er Mike ab und schleuderte ihn quer durch den Raum. Mike prallte schwer gegen die Wand neben der Tür und brach zusammen. Mittlerweile war Frank wieder auf den Beinen, und er beging nicht den Fehler, seinen Gegner noch einmal zu unterschätzen. Als sich Strong schwer atmend zu ihm umdrehte, schoss er einen Fausthieb nach dessen Gesicht ab, der Strong mit fürchterlicher Gewalt traf und ihn rücklings aufs Bett schle uderte. Sofort setzte Frank ihm nach, doch auch wenn Strong angeschlagen war, so war er dennoch keineswegs besiegt. Den Schwung seiner eigenen Bewegung ausnutzend, kam er mit einer Rolle rückwärts auf der anderen Seite des Bettes wieder auf die Beine und hob die Fäuste vors Gesicht. Frank setzte ihm mit einem Sprung übers Bett nach und prügelte mit beiden Armen wie mit Dreschflegeln auf ihn ein: eine recht unkonventionelle Art zu kämpfen, die aber ihre
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Wirkung zeigte. Er brachte bestimmt drei oder vier Treffer an, die Strong schwanken ließen, bevor es ihm gelang, sich zu fangen und zurückzuschlagen. Mike beobachtete die beiden mit verschleierten Augen. Täuschte er sich, oder war da plötzlich wirklich ein dritter Schatten zu sehen? Eine dunkle, gebeugte Gestalt mit Federschmuck? Mike schüttelte den Kopf, sein Blick klärte sich, und da waren wieder nur Frank und Strong, die wie entfesselt weiterkämpften. Für eine Weile verlegten sich beide auf klassisches Boxen, bei dem der eine dem anderen nichts schuldig blieb. Dann schien sich Frank endlich auf den mehrjährigen Taekwon-DoKurs zu besinnen, den er und Mike vor einer halben Ewigkeit gemeinsam absolviert hatten. Er vollführte eine blitzartige halbe Drehung, riss das Knie an den Leib und schoss einen Fußtritt nach Strongs Kopf ab, der diesen vollkommen überraschend an der Schläfe traf. Halb benommen torkelt e Strong zurück und ließ die Arme sinken. Frank führte die begonnene Drehung zu Ende, federte in den Knien ein und sprang senkrecht in die Luft, wo sein Körper eine weitere Drehung vollführte, bis er nahezu waagerecht lag. Dann trat er wie eine plötzlich entspannte Stahlfeder mit beiden Beinen nach Strongs Brust. Die Wirkung war nicht ganz so spektakulär wie in den zahllosen Kung-Fu-Filmen, die sie als Jugendliche zusammen gesehen hatten, aber sie war dramatisch genug. Frank wurde von der Wucht des eigenen Tritts zurückgeschleudert, fiel jedoch glücklicherweise auf das Bett. Es nahm seinem Sturz den allergrößten Teil der Wucht, auch wenn es dabei zu Bruch ging. Strong wurde mit so entsetzlicher Gewalt gegen die Wand geschleudert, dass Mike seine Rippen knirschen hörte. Seinem Mund entrang sich ein atemloses Ächzen. Noch im Zusammenbrechen versuchte Strong nach seinem Colt zu greifen, doch im nächsten Augenblick war Stefan über
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ihm. Als Strong die Magnum zog, packte Stefan seinen Arm und verdrehte ihn mit einem solchen Ruck, dass die verchromte Waffe in hohem Bogen davon flog. Gleichzeitig rammte er ihm das Knie gegen die Brust, genau dorthin, wo ihn Sekunden zuvor Frank getroffen hatten. Strong keuchte rasselnd nach Atem. Irgendwie brachte er das Kunststück fertig, Stefan von sich zu stoßen und sogar auf die Beine zu kommen, aber er taumelte und schien Probleme damit zu haben, seine Bewegungen zu koordinieren. Im gleichen Moment war Frank wieder da und warf sich auf ihn. Mike, der sich mittlerweile wieder mühsam hochgerappelt und seine Benommenheit abgeschüttelt hatte, war der festen Überzeugung, dass der Kampf damit entschieden wäre, doch er sah sich getäuscht. Er wäre es wohl gewesen, hätte Frank ebenso unfair und gemein gekämpft wie Strong, aber er beging den schlichtweg dämlichen Fehler, so etwas wie sportlichen Anstand zu zeigen. Statt seinem hilflos und breitbeinig vor ihm stehenden Gegner kurzerhand in die Eier zu treten (genau das hätte Mike in diesem Moment getan), riss er ihn an der Schulter herum und holte zu einem Kinnhaken aus. Unglückseligerweise erwies sich Strong als nicht halb so ehrenhaft wie Frank. Er tat genau das, womit Mike gerechnet hatte: Er riss das Knie in die Höhe und rammte es Frank genau in die empfindlichste Körperregion. Frank quiekte wie ein abgestochenes Schwein, krümmte sich in eine fast komische, grätschbeinige Haltung und fiel wie in Zeitlupe auf die Knie. Strong fuhr derweil mit einem wütenden Zischen herum und versetzte Stefan, der sich von hinten auf ihn werfen wollte, eine schallende Ohrfeige, die ihn zu Boden schleuderte. Als Strong sich umdrehte, war Mike heran. Es war ein sonderbares Gefühl: Ein Teil von ihm hatte Angst, unvorstellbare, grauenhafte Angst, aber aus irgendeinem Grund war diese Angst nicht in der Lage, ihn zu äl hmen oder in irgendeiner
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anderen Art zu beeinflussen. Er hatte nur diese eine Chance. Sie alle hatten nur noch diese eine, allerletzte Chance. Frank war erledigt, Stefan ebenfalls, und Strong würde ihnen kein zweites Mal die Chance bieten, ihn zu übertölpeln. Wahrscheinlich würde er sie alle drei umbringen, sobald er seine Waffe wieder in der Hand hielt. Es ging um ihr Leben, und Mike legte alle Kraft, die er aufbringen konnte, in diesen einen Schlag. Seine Faust traf Strong mit schon fast unheimlicher Zielsicherheit am Kinn. Der Schmerz war unbeschreiblich. Mikes Hand- und Ellbogengelenke falteten sich zusammen. Im Bruchteil einer Sekunde pflanzte sich der Schmerz bis in seine Schulter hinauf, wobei er unterwegs jeden einzelnen Muskel infizierte. Seine Knöchel waren pulverisiert. Mike brüllte vor Schmerz und presste den Arm an den Leib, während er zurücktaumelte ... ... und Strong für eine halbe Sekunde zu der sprichwörtlichen Salzsäule erstarrte. Dann kippte er stocksteif wie ein gefällter Baum um! Der Anblick war so unglaublich, dass Mike für einen Moment sogar den pulsierenden Schmerz in seiner Hand vergaß. Vollkommen fassungslos starrte er den gefällten Riesen an, der mit einem dumpfen Krachen vor ihm auf den Boden aufschlug. Er blinzelte. Sein Blick ging von seiner rechten Hand (sämtliche Knöchel waren nicht nur aufgeplatzt und bluteten, sondern begannen so schnell anzuschwellen, dass man wortwörtlich dabei zusehen konnte) zurück zu Strong, der mit weit offenen, aber glasigen Augen am Boden lag und vermutlich noch viel weniger verstand, was ihm zugestoßen war. »Saubere Arbeit«, sagte Stefan, während er sich taumelnd auf die Füße kämpfte. »Aber jetzt ruh dich nicht auf deinen Lorbeeren aus. Der Kerl kommt jeden Moment wieder zu sich!
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Dein Gürtel!« Mike starrte ihn einen Moment lang verwirrt an, während Stefan schon mit fliegenden Fingern den Ledergürtel aus den Schlaufen seiner Hose zerrte. Mit sichtbarer Anstrengung wälzte er Strong auf den Bauch, bog seine Arme zurück und fesselte die Handgelenke hinter seinem Rücken mithilfe seines Gürtels. Dann streckte er fordernd die Hand aus. Mike erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Fast nur die linke Hand benutzend (seine Rechte schmerzte so sehr, dass er sie kaum bewegen konnte,), nestelte er den Gürtel aus der Hose. Stefan riss ihn ihm aus den Fingern und band Strongs Fußgelenke damit zusammen. Wie es aussah, keinen Moment zu früh! Strong kam stöhnend wieder zu sich und versuchte sofort, seine Fesseln zu sprengen. Aber natürlich reichten nicht einmal seine enormen Körperkräfte dazu aus. »Blödmann«, sagte Stefan. Er stand auf, trat Strong wuchtig in die Rippen und wandte sich dann mit einem anerkennenden Nicken zu Mike um. »Das war ein verdammt guter Schlag«, sagte er. »Hätte ich dir gar nicht zugetraut.« »Ich mir auch nicht«, gestand Mike - und das war durchaus ernst gemeint. Er blickte noch immer auf seine rechte Hand, die nun zwar noch heftiger blutete, aber schon nicht mehr ga nz so wehtat. Wahrscheinlich war er von allen hier am meisten überrascht. Ganz egal, was immer er seinen Freunden erzählt oder in seinen Büchern geschrieben hatte - die Wahrheit war, dass er in seinem ganzen Leben noch nie einen Menschen geschlagen hatte; nicht so. Er hatte bisher nicht einmal geahnt, dass er das konnte. Der bloße Gedanke, einen Koloss wie Strong mit einem einzigen Schlag gefällt zu haben, kam ihm jetzt noch schlichtweg absurd vor.
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»Mach dir keine Sorgen«, sagte Stefan, als hätte er Mikes Gedanken erraten. »Das war der Lucky Punch. Sämtliche Berufsboxer auf der Welt träumen genau davon.« Mike sah ihn nur verständnislos an. »Vergiss es«, seufzte Stefan. »Kümmere dich um Frank.« Er selbst stand mit einer kraftvollen Bewegung auf und ging um das Bett herum - wobei er Strong noch einen weiteren wuchtigen Tritt in die Rippen versetzte. Auch Mike schüttelte seine Benommenheit endgültig ab und drehte sich zu Frank herum. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Frank zog eine Grimasse. Er hatte Mühe zu sprechen. »Das ist die dämlichste Frage, die ich ... seit langem gehört habe. Natürlich ist überhaupt nichts in Ordnung.« Mike steckte - hilfreich, aber auch hilflos - die Hände nach ihm aus. Frank schüttelte nur den Kopf. »Es geht schon. Danke.« Auf der anderen Seite des Bettes kicherte Stefan. »Wenn deine Frau in den nächsten Monaten irgendwelche Bedürfnisse hat, die du nicht erfüllen kannst, springe ich gerne ein.« »Arschloch«, sagte Frank gepresst. Er suchte Mikes Blick und grinste schief. »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Kompliment.« Es dauerte eine Sekunde, bis Mike überhaupt begriff, wovon Frank sprach. Fast verlegen hob er die Schultern. »Das war pures Glück. Außerdem habt ihr den Kerl vorher weich geklopft. Ich musste nur den Rest erledigen.« »Weich geklopft hat dieser Mistkerl was ganz anderes«, ächzte Frank. Er versuchte auf die Füße zu kommen, schaffte es allerdings erst beim dritten Anlauf. »Hört auf, rumzublödeln, und helft mir lieber«, meldete sich Stefan von der anderen Seite des Bettes aus. »Lucky Luke hatte doch ein Messer einstecken, oder? Das brauche ich.« Da Frank eindeutig nicht in der Lage war, sich zu bücken,
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wälzte Mike Strong auf den Rücken und durchsuchte ihn nach dem gezahnten Jagdmesser, mit dem er in der Höhle im Monument Valley herumgefuchtelt hatte. Er fand es fast auf Anhieb. Als er es aus Strongs Gürtel zog, begegnete er dessen Blick. Der langhaarige Hüne war mittlerweile wieder ganz zu sich gekommen. Er stellte seine Bemühungen, die Ledergürtel zu zerreißen, ein und blickte Mike mit einer Mischung aus Wut und Verachtung an. »Ihr habt ja keine Ahnung, was ihr da tut, ihr Idioten«, sagte er. Mike ignorierte ihn. Er nahm das Messer, ging um das Bett herum und reichte Stefan die Waffe mit dem geschnitzten Hirschhorngriff voran. Stefan, der neben der gefesselten Indianerin kniete, nahm die Waffe und durchtrennte zuerst ihre Fuß-, dann ihre Handfesseln. Erst danach legte er das Messer neben sich auf den Boden und versuchte mit spitzen Fingern, den Klebestreifen von ihrem Gesicht zu ziehen. »Keine Angst«, sagte er. »Ich weiß, du verstehst mich nicht, aber du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir tun dir nichts.« »Idiot«, sagte Strong von der anderen Seite des Bettes aus. Und damit hatte er vollkommen Recht. Die alte Indianersquaw zeigte sich wenig dankbar für Stefans Hilfe. Sie setzte sich auf, und noch während Stefan versuchte, den silbernen Klebestreifen von ihrem Mund abzuziehen, langte ihre gichtverkrümmte dürre Hand nach dem Jagdmesser, das er neben sich auf den Boden gelegt hatte. Stefan schrie auf - mehr aus Überraschung und Schrecken denn aus Schmerz, als sie die gezahnte Klinge über seinen Handrücken zog, wo sie eine dünne, aber heftig blutende Spur hinterließ. Alles andere geschah rasend schnell. Die alte Indianerin sprang auf. Sie ließ das Messer zwar fallen, versetzte Stefan aber einen Stoß, der ihn haltlos nach
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hinten und auf den Rücken fallen ließ. Mike stürzte nach vorne, um sie zu packen, aber er war zu langsam. Seine fünfzehn Sekunden Ruhm waren vorbei, und er bewegte sich wieder so ungeschickt und tölpelhaft wie eh und je: Seine weit ausgebreiteten Arme griffen ins Leere. Sein Unterarm traf Stefan im Gesicht, als dieser sich gerade wieder aufrichten wollte, und schleuderte ihn erneut zu Boden, eine halbe Sekunde, bevor Mike selbst krachend auf den uralten Holzdielen landete. Die Indianerin musste sich irgendwie entmaterialisiert haben, denn sie war plötzlich auf halbem Wege zwischen ihnen und der Tür. Strong lachte schrill. »Idioten! Dämliche, blöde Idioten! Jetzt sind wir alle tot!« Mike schlug schwer auf dem Boden auf, warf sich herum, sprang in die Höhe und begriff noch während der Bewegung, dass er viel zu langsam war. Keine Chance mehr, die Alte aufzuhalten, bevor sie die Tür erreichte! Oder doch? Er selbst war zwar viel zu langsam und hoffnungslos weit entfernt, doch auf der anderen Seite des Bettes richtete sich Frank mit schmerzverzerrtem Gesicht unglaublich schnell auf und stürzte hinter der Alten her. Nicht einmal eine Sekunde, nachdem sie die Tür aufgerissen hatte und in den Sturm hinausgerannt war, war er hinter ihr. Etwas knallte. Der Sturm erfüllte die Tür mit wirbelndem weißen Schneegestöber und dem Heulen einer Million losgelassener Dämonen. Eigentlich war es vollkommen ausgeschlossen, dass Mike das Geräusch des Gewehrschusses hörte. Aber er vernahm ganz deutlich ein leises, sonderbar weiches Plop. Den denkbar kürzesten Bruchteil einer Sekunde später explodierte der Türrahmen unmittelbar über Franks Kopf unter dem Einschlag der Kugel und überschüttete ihn mit einem Hagel winziger, scharfkantiger Holzsplitter.
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Frank fluchte, hastete zurück und schmetterte die Tür ins Schloss. Er bückte sich gerade noch rechtzeitig, bevor das nächste halbe Dutzend Gewehrkugeln eine diagonale Reihe kreisrunder Löcher in die Tür über ihm stanzte.
Ende des vierten Tages. Fortsetzung folgt
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Nur mit knapper Not entkommen Mike und seine Freunde dem Agriff der mysteriösen Indianerfamilie. In Sicherheit sind sie jedoch noch lange nicht. Eine neue Gefahr zieht herauf, den nun ist die Polizei hinter ihnen her. Offenbar verdächtigt man sie, den Motoradhändler in Moab ermordet zu haben. Jede Flucht ist zwecklos, am Ende werden Mike und seine Freunde verhaftet. Nur Mike kann aus seiner Zelle entkommen - und macht eine unglaubliche Entdeckung ...
FÜNFTER TAG BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14804 1. Auflage: Januar 2003 Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstausgabe © 2003 by Verlagsgruppe Lübbe Lektorat: Stefan Bauer Titelfoto: Rene Durant Printed in Germany ISBN 3-404-14804-5
Fünfter Tag
Show-down in den Bergen. Das war sein erster bewusster Gedanke nach dem Aufwachen. Vielleicht war es auch der letzte Gedanke eines Traumes, der ihn ungefragt ins Wachsein hinüberbegleitete. Show-down in den Bergen! Wäre dies einer seiner Romane gewesen, dann hätte er so vielleicht das letzte Kapitel genannt. Mike öffnete die Augen, blinzelte einen Moment in das sonderbar klare Zwielicht, das das Apartment erfüllte, und versuchte ohne besonders viel Erfolg, seine Gedanken zu sortieren, bevor er sich aufsetzte. Einen Moment später versetzte ihm jemand einen Stoß zwischen die Schulterblätter, der ihn zur Seite und nahezu vom Bett warf, und er hörte Stefan lauthals fluchen. »Bist du wahnsinnig? Willst du dir unbedingt eine Kugel einfangen, oder was soll das?« Mike stemmte sich mühsam in die Höhe - allerdings nicht annähernd so weit wie das erste Mal - und blinzelte verwirrt in die Runde. Die Bilder, die ihm seine Augen zeigten, halfen ihm, seine Erinnerungen wenigstens halbwegs zu sortieren. Doch das reichte schon. Das, woran er sich erinnerte, war schlimm genug. Unglückseligerweise war dies nämlich kein Roman, den er sich in der Sicherheit seines Arbeitszimmers ausdachte, sondern die Wirklichkeit, und Stefan hatte ihn nicht geschubst, um sich einen derben Scherz zu erlauben, sondern um zu verhindern, dass ihm jemand den Kopf wegpustete. Mike setzte sich weiter auf und rutschte zugleich ein Stück aus der direkten Schusslinie vom Fenster weg. Erst dann sah er sich nach Stefan um. »Ja, dir auch einen schönen guten Morgen«, sagte er. »Hm«, grummelte Stefan. »Einen Kaffee, zwei warme Croissants und ein hart gekochtes Ei. Und dazu eine Portion Bacon. Schön kross,
bitte.« Er nahm an, dass Stefan eine Grimasse zog. Ganz sicher konnte er das nicht sagen, denn sein Gesicht war zu einer bösen Karikatur seiner selbst angeschwollen und hatte sich blau und grün verfärbt, wo ihn Strong mit dem Revolver getroffen hatte. Sein linkes Auge war fast zur Gänze zugeschwollen, und so, wie seine Nase aussah, musste er Probleme beim Atmen haben. Vermutlich antwortete er nicht, weil ihm auch das Sprechen Schmerzen bereitete. Hätte Strong nur ein bisschen fester zugeschlagen, dachte Mike schaudernd, hätte er ihn wahrscheinlich umgebracht. »Wo ist Frank?«, fragte er. Stefan machte eine vage Kopfbewegung, aber fast im gleichen Moment drang das Geräusch der Klospülung durch die dünne Bretterwand, dann hörten sie, wie der Wasserhahn aufgedreht wurde und sich Frank die Hände wusch. Zumindest die Wasserversorgung funktionierte also noch. Oder wieder? »Strom?«, fragte er. Stefan schüttelte stumm den Kopf. Das wäre ja auch zu schön gewesen. »Und auch kein Telefon, Blödmann«, meldete sich Strong von der anderen Seite des Bettes aus zu Wort. Er lag noch immer dort, wo sie ihn am vergangenen Abend hingelegt hatten, an Händen und Füßen gefesselt. »Wahrscheinlich haben Dirty Wolf und seine Familie die Leitungen gekappt.« »Dirty Wolf?« »Hör nicht auf ihn.« Frank kam aus dem Bad und durchquerte das Zimmer in einem komplizierten Slalom, um einem potenziellen Schützen draußen kein klares Ziel zu bieten. »Er vergnügt sich schon die halbe Nacht damit, dem Indianer alle möglichen Schimpfnamen zu verpassen. Ich glaube fast, er weiß gar nicht, wie er wirklich heißt.« Er blieb neben Strong stehen, sah nachdenklich und mit schräg gehaltenem Kopf auf den gefesselten Riesen hinab und fragte:
»Kann das sein? Welches Spielchen spielen Sie mit uns, Strong ... oder wie immer Sie wirklich heißen?« »Leck mich«, knurrte Strong. »Lieber nicht«, antwortete Frank. Kopfschüttelnd ging er weiter und ließ sich neben Mike auf die Bettkante sinken. Er sah müde aus, fand Mike. Wahrscheinlich war er, Mike, der Einzige, der in dieser Nacht mehr als ein paar Minuten geschlafen hatte. »Lass mich deine Hand sehen«, verlangte Frank. Mike hob gehorsam die Rechte und biss die Zähne zusammen, als Frank sie leicht berührte. Selbst das tat schon ziemlich weh. Seine Hand bot keinen deutlich angenehmeren Anblick als Stefans Gesicht. Die Knöchel waren aufgeplatzt und mit dicken hellroten Schorfkappen versehen, die ganze Hand unförmig angeschwollen. Als er versuchte, die Finger zu krümmen, gelang es ihm nicht. Wahrscheinlich war es unmöglich, mit dieser Hand Motorrad zu fahren, dachte er besorgt. Im nächsten Moment hätte er fast laut aufgelacht. Wenn das ihr größtes Problem wäre, dann hätten sie keine Probleme! »Das sieht nicht gut aus«, sagte Frank. »Die Hand müsste bandagiert werden, sonst ist sie spätestens morgen so geschwollen, dass du nicht mehr durch die Tür passt.« »Ich habe einen Verbandskasten in den Satteltaschen«, sagte Strong. »Macht mich los, und ich hole ihn.« Niemand machte sich auch nur die Mühe, ihm zu antworten. Frank überlegte einen Moment, dann zog er Strongs gewaltiges Jagdmesser aus dem Gürtel und begann, den Kopfkissenbezug in Streifen zu schneiden, vermutlich, um einen Verband zu improvisieren. Auf die Idee hätte er eigentlich auch schon am vergangenen Abend kommen können, dachte Mike. Der Anblick des Messers brachte ihn auf einen anderen Gedanken. Während Frank mit erstaunlichem Geschick daranging, Mikes Hand mit Stoffstreifen zu umwickeln und in
einen unförmigen weißen Klumpen zu verwandeln, blickte Mike sich suchend im Zimmer um. Er entdeckte Strongs gewaltigen Colt Magnum auf dem kleinen Tischchen neben dem Kamin. Seltsam - er hätte damit gerechnet, dass Frank oder Stefan die Waffe an sich nehmen würden, aber er konnte gleichzeitig auch gut verstehen, dass sie es nicht getan hatten. Schon der Anblick der riesigen verchromten Waffe machte ihm Angst. Das war nicht einfach nur ein Revolver. Seine schiere Größe und das kalte Schimmern des verchromten Metalls, das ihn an Skalpelle und andere chirurgische Präzisionsinstrumente erinnerte, machten ihn zu etwas Besonderem, etwas durch und durch Bösem und Angriffslustigem. Etwas, das man besser nicht berührte, wollte man nicht Gefahr laufen, gebissen zu werden. Allein bei dem Gedanken an den Rückschlag, den dieses Monstrum verursachen musste, wurde Mike beinahe schlecht. »Fertig.« Frank schlug zum Abschluss leicht mit den Fingerspitzen auf Mikes Hand, was diesem einen leisen, quietschenden Schmerzlaut entlockte, und grinste. »Ich bin zwar kein Arzt, aber so, wie ich es sehe, scheint sie wenigstens nicht gebrochen zu sein. In ein paar Tagen merkst du wahrscheinlich gar nichts mehr.« »Darauf könnt ihr euch verlassen«, kommentierte Strong. »Ihr werdet schon in ein paar Stunden nichts mehr spüren, und zwar alle.« Frank seufzte. »Halten Sie doch endlich die Klappe, Strong«, sagte er müde. »Es sei denn, Sie haben wirklich etwas zu sagen.« »Habe ich«, antwortete Strong. »Ich muss aufs Klo. Und zwar dringend.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Stefan. »Es ist aber wirklich dringend«, beteuerte Strong. »Ich liege hier seit gestern Abend.« »Dann scheiß dir doch in die Hosen«, sagte Stefan.
Strong lachte. »Glaubt mir, Freunde, das würdet ihr mehr bedauern als ich.« »Wenn Sie das tun«, sagte Frank ernst, »lege ich Sie zum Lüften vor die Tür und schaue zu, was passiert.« Er verdrehte die Augen, ging um das Bett herum und stemmte Strong, der ein gutes Stück größer und schwerer war, mit einiger Mühe in die Höhe. Umständlich zerrte er ihn durch das Zimmer und verschwand mit ihm im Bad. Er ließ die Tür offen, sodass sie hören konnten, wie Strongs Reißverschluss geöffnet und seine schweren Lederjeans heruntergezogen wurden. »Meine Hände«, verlangte Strong. »Ich bin doch nicht blöd«, antwortete Frank. »Ruf mich, wenn du fertig bist.« »Aber wie soll ich mir denn so ... ?« »Dein Proble m«, unterbrach ihn Frank. »Du bist doch ein großer Junge, oder? Dir wird schon was einfallen.« Er kam zurück, einen leicht angewiderten Ausdruck auf dem Gesicht. Stefan hingegen grinste eindeutig schadenfroh. »Na, hast du unseren Kleinen aufs Töpfchen gesetzt?« »Du kannst ihn ja gleich pudern und trockenlegen, wenn du glaubst, dass das Spaß macht«, knurrte Frank. Auf dem gleichen, komplizierten und vermutlich vollkommen sinnlosen Zickzackkurs wie eben, durchquerte er das Zimmer und nahm so neben dem Fenster Aufstellung, dass er hinaussehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Mike erhob sich vorsichtig und trat, ebenfalls um Deckung bedacht, an die andere Seite des Fensters. Der Anblick, der sich ihnen bot, war so friedlich, dass er Mike schon fast bizarr vorkam. Er konnte die Sonne nicht sehen, vermutete aber, dass sie noch nicht lange aufgegangen war. Aus dem tobenden Blizzard war ein sanftes Schneegestöber geworden, das die Sicht kaum noch behinderte und ihrer Umgebung etwas von einer Märchenlandschaft verlieh. Es musste die ganze Nacht über geschneit haben. Auf
dem Parkplatz lagen fünf Zentimeter Neuschnee, der eine makellose Decke bildete. Die Spuren ihrer Motorräder waren ebenso verschwunden wie ihre Fußabdrücke. Das Beunruhigendste war der Anblick der Straße, die sich in einem sanften Bogen vor dem dichten Wald auf der gegenüberliegenden Seite entlang zog. Die Schneedecke darauf war vielleicht nicht ganz so dick wie die auf dem Parkplatz, aber ebenso makellos. Auf dieser Straße war seit Stunden kein Wagen mehr gefahren. »Irgendwelche Vorschläge?«, fragte Frank, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Kaum«, antwortete Mike. Bewegte sich dort drüben etwas, verborgen in den pechschwarzen Schatten des Waldes? Nein. »Das Beste wird sein, wenn wir einfach warten, bis jemand vorbeikommt.« »Da könnt ihr warten, bis ihr grün im Gesicht seid, Freunde«, meldete sich Strong durch die offen stehende Badezimmertür zu Wort. »Das kann eine Woche dauern, oder auch zwei.« »Quatsch«, sagte Stefan. »Das hier ist schließlich eine PassStraße.« »Stimmt«, sagte Strong. Es klang unangemessen fröhlich, fand Mike. »Aber die alte Pass-Straße. Mittlerweile haben sie eine Brücke gebaut und die Strecke um gute zehn Meilen verkürzt. Seitdem kommt hier kaum noch jemand vorbei. Schon gar nicht bei diesem Wetter.« Niemand antwortete. Mike versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Strong sie mit seinem dummen Gequatsche nur nervös machen wollte, aber die unversehrte Schneedecke auf der Straße sprach eine andere Sprache. Das Zimmer übrigens auch. Sie hatten beileibe kein Fünf-Sterne-Hotel erwartet. Nun, wo er nach Beweisen für Strongs Behauptung suchte, fand er sie auch: Alles hier drinnen war staubig und auf jene bestimmte Art ungepflegt, der man ansah, dass hier seit
langer Zeit niemand mehr gelebt hatte. Obwohl durch die drei Einschusslöcher in der Tür ein beständiger kalter Luftzug pfiff, roch es leicht muffig. Schließlich fragte Stefan: »Wenn das so ist, woher wussten Sie dann, dass wir die falsche Abzweigung nehmen würden? Immerhin waren Sie vor uns da.« »Weil ich das Schild vertauscht habe, ihr Deppen«, kicherte Strong. »Ich wusste, dass ihr Blödmänner darauf reinfallen würdet.« Er ächzte hörbar, und Stefan und Frank verzogen gleichzeitig und leicht angewidert die Gesichter. »Könnte jemand so freundlich sein ... ?« Frank wartete gute fünf Sekunden lang vergeblich darauf, dass sich einer der beiden anderen freiwillig meldete, bevor er sich schließlich seufzend umdrehte, um Strong zu holen. Mike hätte es ja getan, aber seine rechte Hand war außer Gefecht gesetzt. Darüber hinaus bezweifelte er, dass er kräftig genug war, um diesen Bär von Mann zu bewegen. Und nach dem, was Strong ihm gestern Abend angetan hatte, würde Stefan ihn wahrscheinlich in der Kloschüssel ertränken, wenn sie ihn mit ihm allein ließen. Frank und sein Zweihundert-Pfund-Riesenbaby kehrten nach einem kurzen Augenblick zurück. Frank lud Strong unsanft auf dem Bett ab, ging noch einmal zurück, um die Badezimmertür zu schließen, und ließ sich dann vor dem Kamin in die Hocke sinken. Das Feuer darin war nahezu heruntergebrannt, und Mike fiel erst jetzt auf, wie empfindlich kühl es im Zimmer geworden war. Noch nicht wirklich kalt, aber frisch. »Seid sparsam mit dem Feuerholz«, warnte Strong. »Es muss vielleicht für ein paar Tage reichen.« Und auch damit hat er Recht, dachte Mike bedrückt. Frank oder Stefan hatten das Feuer die Nacht über in Gang gehalten. Nun hatten sie gerade noch eines der zusammengeschnürten Bündel übrig, die sie am vergangenen Abend mitgebracht hatten. Noch zwei oder drei Stunden, schätzte er, und dann
würde es richtig ungemütlich hier drinnen werden. »Ich mache euch einen Vorschlag, Jungs«, sagte Strong. »Ihr bindet mich los, und ich gebe euch mein Ehrenwort, dass ich mich benehme. Ihr habt allein keine Chance, hier rauszukommen, das ist euch doch klar?« »Ist noch was von dem Klebeband da?«, erkundigte sich Stefan. »Ich kann das dumme Gerede von dem Kerl nicht mehr hören.« »Ich meine das ernst«, sagte Strong. »Wir schließen einen Burgfrieden. Nur so lange, bis ...« »Die Rolle liegt neben dem Kamin«, sagte Frank. »Nimm reichlich.« Strong verstummte. Eine Zeit lang standen sie schweigend nebeneinander und blickten aus dem Fenster, dann seufzte Stefan tief und sagte: »Irgendwie bringt es nicht viel, hier rumzustehen, oder?« »Dann geh doch raus, ein bisschen frische Luft schnappen«, spottete Strong. Stefan ignorierte ihn. »Wäre doch irgendwie bekloppt, wenn die sich mittlerweile verdrückt hätten«, sagte er. »Wahrscheinlich wollten sie nur die Alte befreien und sitzen jetzt längst in einem warmen Zimmer irgendwo zwanzig Meilen entfernt und lachen sich einen Ast über uns.« »Ich kenne eine todsichere Methode, das rauszufinden«, sagte Strong. »Ich auch«, knurrte Frank. »Wir machen die Tür auf und tragen Sie als Schutzschild vor uns her.« Er schüttelte den Kopf. »Der Kerl hat Recht, wisst ihr? Einer von uns muss raus und nachsehen. Ich habe keine Lust, hier zu erfrieren, während sie möglicherweise wirklich schon hundert Meilen weit weg sind.« Er sah sich suchend um. »Irgendwelche Freiwillige? Nein? Das habe ich mir gedacht.« Mike wollte sich umdrehen und zur Tür gehen, aber Frank hielt ihn mit einer unsanften Bewegung fest. »Kommt nicht in
Frage!« »Wieso nicht?« Statt zu antworten, wandte Frank sich um und ging mit raschen Schritten zur Tür und riss sie auf. Eiskalte Luft und ein Schwall unerwartet blendender Helligkeit fluteten herein. Für einen winzigen Moment verwandelte Frank sich in einen tiefenlosen Schatten. Vielleicht spürte er es. Vielleicht war es auch nur pures Glück. So oder so, im gleichen Moment, in dem er das Haus verließ, duckte Frank sich leicht, und das rettete ihm mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben. Diesmal konnten sie den Schuss hören: ein peitschender, lang zwischen den Berggipfeln nachhallender Knall. Dort, wo sich einen Sekundenbruchteil zuvor noch Franks Kopf befunden hatte, explodierte der Türrahmen in einer winzigen Fontäne aus Funken und Staub und herumwirbelnden Holzsplittern. Frank sprang mit einem Schrei zurück, warf die Tür zu und steppte gleichzeitig zur Seite, falls die Kerle draußen auf die Idee kommen sollten, durch die Tür zu schießen, wie gestern Abend. Sie schossen tatsächlich, aber nicht auf die Tür. In der Fensterscheibe neben Mike entstand plötzlich ein kreisrundes Loch mit milchigen Rändern, und auf der anderen Seite des Zimmers erscholl ein dumpfes Whummp! Eine kleine Staubwolke explodierte aus der Wand. Mike und Stefan warfen sich hastig und in entgegengesetzte Richtungen in Deckung. Der nächste Schuss ließ die Fensterscheibe endgültig zerbersten. Das Geräusch, mit dem sich die Kugel in den Kaminsims bohrte, ging im Klirren des zerbrechenden Glases unter. Und es war noch nicht vorbei. Zwei weitere Schüsse krachten. Die erste Kugel stanzte ein faustgroßes Loch in die Badezimmertür, die zweite flog mit einem hässlichen Zwitschern dicht über Mike hinweg und fuhr nur eine
Handbreit neben Strong in die Matratze. Strong keuchte, warf sich mit einer verzweifelten Drehung herum und zur Seite und fiel mit einem Geräusch vom Bett, dem man anhörte, wie sehr er sich dabei wehgetan haben musste. Nur einen Augenblick später krachten gleich drei Schüsse hintereinander und perforierten die Matratze genau dort, wo er gerade noch gelegen hatte. Dann kehrte Ruhe ein. Das hieß: Das Schießen hörte auf, aber durch das zerborstene Fenster heulte der Wind, und Mikes Herz hämmerte so laut, dass es jedes andere Geräusch zu übertönen schien. Unendlich behutsam hob er den Kopf und sah sich um. Stefan hockte neben ihm auf den Knien und schien halbwegs unverletzt, aber zu Tode erschrocken. Frank kroch auf dem Bauch in ihre Richtung. Seine Wange war mit winzigen Holzsplittern gespickt, und ein paar Tropfen Blut liefen über sein Gesicht. Strong konnte Mike von seiner Position aus nicht sehen. Den wütenden Flüchen nach zu urteilen, war er zumindest noch am Leben. »Verdammter Mist!«, brüllte Stefan. »Dieses dämliche Pack! Aber nicht mit mir!« Er sprang auf, rannte, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er dabei am offenen Fenster vorbeimusste und ein hervorragendes Ziel abgab, zum Tisch und raffte Strongs 44er an sich. »Um Gottes willen, nicht!«, brüllte Strong. Aber seine Warnung kam zu spät, ganz davon abgesehen, dass Stefan sie vermutlich sowieso nicht beachtet hätte. Die Waffe mit beiden Händen haltend, wirbelte er herum, zielte auf das offene Fenster und drückte ab. Die Wirkung war verheerend. In dem engen Raum dröhnte der Schuss wie eine ganze Salve aus schweren Schiffsgeschützen. Eine orangerote Feuersalve von sicherlich einem Meter Länge schoss aus dem Lauf der Magnum, und Stefans Arme wurden nach oben gerissen. Wie
von einem unsichtbaren Fausthieb getroffen, stolperte er zurück und wurde mit solcher Gewalt gegen den Kaminsims geschleudert, dass er halb bewusstlos zusammenbrach. Die Waffe entglitt seinen Händen und schlitterte davon. Mike war mit einem Sprung auf den Beinen und bei ihm. Stefan war bei Bewusstsein, wenn auch nicht ganz klar. Er presste stöhnend die Hände gegen den Leib und schien etwas sagen zu wollen, denn seine Lippen bewegten sich, aber Mikes Ohren klingelten noch immer vom Krachen des Schusses. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Frank aufsprang, geduckt unter dem Fenster entlanglief und sich nach der Magnum bückte. Draußen fiel ein weiterer Schuss. Mike hörte ihn durch das Klingen und Rauschen in seinen Ohren hindurch nur gedämpft. Es war kaum mehr als das Knallen eines Zündplättchens in einer Karnevalspistole, mit der sie als Kinder Cowboy und Indianer gespielt hatten. Die Wirkung war jedoch weitaus fataler: Das Kaminholz spritzte plötzlich auseinander. Glut und schwelende Holzsplitter explodierten in einem nahezu perfekten Halbkreis vor dem Kamin. Mike trat die Flammen hastig aus, ehe er sich bückte und Stefan ebenso hastig aus der Schusslinie zerrte. Draußen krachte es noch einmal, und in der Badezimmertür entstand ein zweites ausgefranstes Loch. »Munition scheinen sie jedenfalls genug zu haben«, sagte Frank. Er kniete neben dem zerschossenen Fenster und lugte angespannt hinaus. Strongs 44er hielt er in der Rechten. Der Hahn war gespannt, aber Mike glaubte nicht, dass er schießen würde. Mike beugte sich besorgt über Stefan. »Alles in Ordnung?« »Natürlich nicht«, keuchte Stefan. »Oh, verdammt, tut das weh! Ich glaube, ich habe mir beide Handgelenke verstaucht!« »Sei froh, dass du dir nicht die Ellbogen in die Kiefer gerammt hast, du dämlicher Idiot!«, nörgelte Strong. »Du musst komplett den Verstand verloren haben! Du hättest jemanden umbringen können!«
»Stellen Sie sich vor, genau das war meine Absicht«, zischte Stefan. »Ich schätze nur, ich habe auf den Falschen gezielt.« Er richtete sich behutsam an der Wand auf, bis er es in eine halbwegs sitzende Stellung geschafft hatte, und begann abwechselnd seine Handgelenke zu massieren. »Jetzt macht mich endlich los!«, verlangte Strong. »Was muss denn noch passieren, bis ihr zugebt, dass ihr mich braucht?« »Der Himmel könnte uns auf den Kopf fallen, zum Beispiel.« Stefan biss die Zähne zusammen und sah zu Frank hinüber. »Wie sieht es aus?« »Alles ruhig«, antwortete Frank. »Was immer das bedeuten mag.« »Gar nichts, ihr Blödmänner«, stänkerte Strong. »Wahrscheinlich denken sie sich gerade eine neue Teufelei aus. Das heißt, eigentlich brauchen sie das gar nicht. Sie müssen nur abwarten, wisst ihr? Versucht euch mal vorzustellen, wie kalt es hier in spätestens einer halben Stunde ist.« Mike sah erschrocken zum Kamin. Die Kugel hatte das Feuer nicht wirklich gelöscht, sondern das Holz nur ein wenig durcheinander gewirbelt. Die Flammen fanden bereits wieder neue Nahrung. Aber Strong hatte trotzdem Recht. Durch das zerborstene Fenster drang nicht nur Schnee herein, sondern vor allem eisige Kälte. Nicht mehr lange, und die Temperaturen im Zimmer würden sich nicht mehr von denen draußen unterscheiden. Auch wenn Mike sich noch immer beharrlich weigerte, es zuzugeben, wahrscheinlich hatte Strong Recht: Sie brauchten ihn. Sie waren keine Revolverhelden, nicht einmal echte Freizeit-, höchstens kleine Möchtegern-Abenteurer. Wie Frank so neben dem Fenster hockte, in schwarzes Leder gekleidet, Strongs gewaltige Waffe lässig in der rechten Hand haltend und einen Ausdruck angespannter Konzentration auf dem
Gesicht, wirkte er zwar wie eine Figur aus einem Mad-MaxFilm - aber er war es nun mal nicht. Außerdem bezweifelte Mike, dass einer von ihnen wirklich den Nerv hatte, einen Menschen zu erschießen, wenn es hart auf hart kam. »Lös mich doch bitte mal ab«, bat Frank. »Die ganze Aufregung ist mir anscheinend auf den Magen geschlagen.« Mike huschte geduckt an seine Seite, und Frank hielt ihm den 44er hin. Mike schüttelte fast erschrocken den Kopf. Frank schob die Waffe unter den Gürtel und verschwand mit schnellen Schritten im Bad. »Ja ja, die Blase«, spöttelte Strong. »Das Problem haben viele kleine Mädchen.« »Klebeband?« Stefan tauschte einen fragenden Blick mit Mike. »Klebeband!« Während Stefan die Rolle holte und Strong den Mund verklebte, worum er seit zehn Minuten so hartnäckig gebettelt hatte, konzentrierte sich Mike ganz auf die Straße draußen und den gegenüberliegenden Waldrand. Nirgends war auch nur die Andeutung einer Bewegung zu sehen, wenn man von dem beständigen Wirbeln der Schneeflocken absah. Der Wind war anscheinend wieder heftiger geworden. Der Wald auf der anderen Seite der Straße war kaum noch zu erkennen. Dann sah er doch eine Bewegung. Im ersten Moment glaub te er, es wäre nur der Sturm. Aber inmitten der tanzenden weißen Schwaden gerann die Dunkelheit plötzlich zu einem massigen Schatten, der näher kam, ohne sich wirklich zu bewegen. Es war ... Der Indianer, den er schon in der vergangenen Nacht gesehen hatte - oder zumindest sah er ihm sehr ähnlich. Jetzt, im hellen Tageslicht, konnte Mike ihn in aller Ruhe betrachten. Obwohl er fast vollkommen in eine Decke aus langhaarigem schwarzen Büffelfell gehüllt war, erkannte er, dass es sich um einen uralten Mann handelte. Eine einzelne weiße Feder steckte in
seinem Haar, das zu einem weit bis auf den Rücken herunterfallenden Pferdeschwanz gebunden war. In der rechten Hand hielt er etwas, das Mike im ersten Moment für ein Gewehr hielt, bis er erkannte, dass es ein sonderbar kleiner Speer mit einer Spitze aus gewelltem Feuerstein war. Eine Anasazi-Waffe. Er konnte nicht sagen, woher er das wusste, aber er war sich dessen ganz sicher. Mike blinzelte verwirrt. Die Gestalt des Indianers schien zu zerfließen, löste sich aber nicht auf, sondern nahm im Gegenteil wieder festere Konturen an - und plötzlich erinnerte sich Mike daran, wo er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war in der Höhle gewesen, in der Strong ihnen die Leiche des toten Indianerjungen präsentiert hatte - jene Höhle im Monument Valley die er am Tag zuvor bereits in seinem seltsamen Traum gesehen hatte. Es war nicht der Wendigo, wie Mike zuerst vermutet hatte, er konnte es gar nicht sein, obwohl er ihm sehr ähnlich sah. Die Ausstrahlung dieses Indianers war nicht Furcht erregend, sondern begütigend und beschützend wie die eines alt gewordenen Vaters, der seinem erwachsenen Sohn in einer Krise mit einem Rat weiterzuhelfen versucht. Mike wusste einfach, dass es der alte Schamane war, der jetzt dort im Schneetreiben stand, der alte Mann, mit dem er im Traum am Feuer gehockt und der ihn gewarnt hatte: »Du hast den Wendigo herausgefordert. Das hättest du nicht tun sollen. Er wird dich töten.« * Frank kam zurück. Er grinste breit, als er sah, was Stefan mit Strong getan hatte, dann ließ er sich neben Mike auf die Knie sinken und zog die Magnum wieder aus dem Gürtel. »Alles in Ordnung?« »Da ... da draußen«, murmelte Mike.
Die Worte entschlüpften ihm, bevor er es verhindern konnte. Er war vollkommen davon überzeugt, dass Frank rein gar nichts sehen würde, wenn er in den Sturm hinausblickte, und ihn deshalb für hysterisch halten musste. Aber dann sah Frank aus dem Fenster, und seine Augen weiteten sich erschrocken. »He!« Mike blickte ebenfalls wieder hinaus. Auf der anderen Seite der Straße, gerade so weit entfernt, dass man ihn erkennen konnte, ohne dass er inmitten des Schneegestöbers ein klares Ziel bot, stand ein schlanker, vielleicht dreißigjähriger Indianer, dessen langes schwarzes Haar im Wind wehte. Die linke Hand hatte er vors Gesicht gehoben, um seine Augen vor dem Wind zu schützen, mit der anderen schwenkte er einen weißen Stofflappen. Der Anasazi-Schamane war verschwunden. Er war niemals wirklich da gewesen, begriff Mike. Seine überreizten Nerven begannen ihm immer bösere Streiche zu spielen. »Eine weiße Fahne?«, wunderte sich Stefan, der ebenfalls zu ihnen getreten war. »Die wollen doch nicht etwa aufgeben?« Strong begann unter seinem Knebel dumpfe Laute auszustoßen und mit den aneinander gebundenen Füßen rhythmisch auf den Boden zu trommeln. Frank sah kurz und stirnrunzelnd in seine Richtung und schüttelte dann den Kopf. »Kaum«, sagte er. »Aber ich schätze, sie wollen verhandeln.« »Verhandeln? Worüber?« »Keine Ahnung.« Frank zuckte mit den Achseln. »Das werden wir wohl kaum rauszukriegen, wenn wir nicht hingehen und fragen, oder?« Er legte den Colt vor sich auf den Boden. Strong begann unter seinem Knebel noch verzweifelter zu lärmen. Seine Füße trommelten ein Stakkato auf den Dielen. »Und wenn es eine Falle ist?«, fragte Mike. »Dann bin ich der Erste, der es herausfindet.« Frank versuchte vergeblich zu grinsen. Er schüttelte den Kopf. »Aber
das glaube ich nicht. Sie haben es nicht nötig, dieses Risiko einzugehen.« Als weder Stefan noch Mike widersprachen oder irgendwie sonst versuchten, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, erhob er sich. Man konnte ihm ansehen, wie wenig Gefallen er selbst an seiner eigenen Idee fand. Dennoch ging er mit festen Schritten weiter. Auf der anderen Seite des Bettes steigerte sich Strong in einen regelrechten Tobsuchtsanfall hinein, und Stefan sagte ruhig: »Wenn Sie nicht aufhören, zu randalieren, benutze ich das restliche Klebeband, um sie am Fenster festzubinden.« Strong hörte auf zu toben. Frank erreichte die Tür und öffnete sie, und Mike hielt instinktiv den Atem an. Aber nichts geschah. Wenn die weiße Fahne eine Falle war, dann wollte der Indianer sichergehen, dass sie auch zuschnappte. Sie verfolgten in gebanntem Schweigen, wie Frank durch die wirbelnden Schneeflocken auf den Ind ianer zuging. Auf den letzten Schritten wurde er deutlich langsamer - vielleicht bekam er nun doch Angst vor seiner eigenen Courage - und blieb schließlich gut zwei Meter vor dem Indianer stehen. Natürlich konnten sie nicht verstehen, was die beiden miteinander sprachen, aber Frank schüttelte ein paar Mal heftig den Kopf, und der Indianer antwortete mit ebenso heftigen, deutenden Gesten auf das Motel. Nach kaum einer Minute drehte sich Frank herum und kam mit nun deutlich schnelleren Schritten zurück. Der Indianer sah ihm einige Sekunden lang nach, bevor der Sturm ihn regelrecht zu verschlingen schien. »Nun?«, fragte Stefan ungeduldig, als Frank hereinkam. »Was hat er gesagt?« Frank schloss mit einer pedantisch wirkenden Bewegung die Tür hinter sich, kam zu ihnen und kämmte mit gespreizten Fingern die frischen Schneeflocken aus seinem Haar, ehe er zwischen Mike und Stefan zu Boden glitt und in ganz selbstverständlicher Manier einen Schneidersitz einnahm. Sein
Gesicht war rot vor Kälte. »Sie wollen Strong«, sagte er. »Wie?« Stefan blinzelte. »Sie geben uns zehn Minuten, um uns zu entscheiden«, fuhr Frank fort. Er wirkte erschöpft, obwohl er alles in allem nicht einmal drei Minuten lang draußen gewesen war. »Wenn wir ihnen Strong bis dahin ausliefern, dürfen wir auf unsere Maschinen steigen und davonfahren. Wenn nicht, töten sie uns alle.« »Das ist doch eine Falle«, befürchtete Stefan. »Die knallen uns ab, sobald wir das Haus verlassen.« Frank hob die Schultern. »Möglich. Aber ich hatte den Eindruck, dass er es ernst meinte. Von uns wollten sie nur Geld, aber mit Strong scheinen sie eine andere Rechnung offen zu haben.« »Und was hast du gesagt?«, fragte Mike. »Nichts«, antwortete Frank. »Wie gesagt: Wir haben zehn Minuten, um uns zu entscheiden. Ich kann nicht über eure Köpfe hinweg bestimmen, oder?« Er blickte in die Richtung, in der Strong auf der anderen Seite des zusammengebrochenen Bettes lag. Von dort war kein Laut mehr zu hören. »Wir können ihn unmöglich ausliefern«, sagte Mike. »Das wäre Mord.« Warum hatte er nur das Gefühl, diese Worte gegen seine eigene Überzeugung zu sagen? »Und es wäre Selbstmord, es nicht zu tun«, sagte Stefan. »Die schießen uns einfach in Stücke!« »Ach, und was schlägst du vor?«, fragte Mike. »Willst du ihn etwa ans Messer liefern?« »Natürlich nicht«, antwortete Stefan; ohne ihn anzusehen und in fast feindseligem Ton. »Ach verdammt«, murrte Frank. »Mir gehen die Ideen aus. Wir dürfen ihn natürlich nicht ausliefern. Andererseits, wenn wir es nicht tun, sind wir geliefert.« Er überlegte einen Moment sichtbar angestrengt, dann stand er auf, ging um das Bett herum
und zerrte Strong unsanft an den Füßen hinter sich her. Strong ächzte, als er ihn hart zu Boden fallen ließ, und dann noch einmal und lauter, als Frank das Klebeband von seinem Mund riss. »Danke«, beschwerte er sich. »Das ist wirklich zu freundlich von dir!« »Sie haben es gehört«, sagte Frank ruhig. »Wie es aussieht, haben wir da ein kleines Problem.« »Wieso Problem?« Strong versuchte zu lachen, aber es endete nach einer knappen Sekunde in einem lang anhaltenden Husten. »Ist doch ganz einfach«, sagte er, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Ihr bindet mich los und gebt mir meine Waffe, und ich befördere Winnetou und seine saubere Familie in die ewigen Jagdgründe.« »Ich fürchte, das kann ich nicht machen«, sagte Frank. »Irgendwie wäre auch das Mord.« »Für mich klingt es eher nach Selbstverteidigung«, meinte Strong. »Nein«, sagte Frank. »Dann müsst ihr mich ausliefern«, antwortete Strong trotzig. »Allerdings könnt ihr mir genauso gut eine Kugel in den Kopf jagen. Ich würde dich sogar darum bitten, es zu tun. Das ist sehr viel angenehmer als das, was diese Roten mit mir anstellen werden, wenn sie mich in die Finger kriegen.« So, wie er es sagte, klang es bitterernst. »Was läuft da zwischen Ihnen und diesen Indianern?«, wollte Mike wissen. Strong schürzte die Lippen. »Das geht euch nichts an.« »Das tut es sehr wohl«, sagte Frank zornig. »Sie haben uns da reingezogen, verdammt noch mal! Und jetzt nennen Sie mir einen einzigen vernünftige n Grund, warum wir Sie nicht diesen drei Verrückten da draußen überlassen und unserer Wege gehen sollten!«
»Weil ihr nun mal so seid, wie ihr seid«, antwortete Strong mit einem unverschämten Grinsen. »Schießt mich über den Haufen, oder bindet mich los. Das ist eure Entscheidung.« Frank schloss kopfschüttelnd die Augen und drehte sich weg. Strong begann leise und meckernd zu lachen. Fünf Minuten später war ihre Frist abgelaufen, und eine weitere Minute danach lagen sie wieder unter Beschuss. * Mike presste sich mit verzweifelter Kraft gegen den Boden, als die Kugel über ihm durch die Wand fuhr und sich auf der anderen Seite des Zimmers in den Verputz des Kamins bohrte. Er gab keinen Laut von sich, aber innerlich wimmerte er vor Angst, und wenn es in ihm überhaupt noch Platz für ein anderes Gefühl gab als für diese alles verschlingende Furcht, dann war es Erstaunen, dass er überhaupt noch am Leben war. Seit einer guten viertel Stunde ging das jetzt schon so. Die Indianer schossen nicht regelmäßig, sondern in vollkommen willkürlicher Folge: manchmal ein halbes oder auch ganzes Dutzend Mal hintereinander, manchmal nur sporadisch, vielleicht im Abstand von einer Minute oder gar mehr, was es eigentlich nur noch schlimmer machte. Sie hatten nicht besonders lange gebraucht, um herauszufinden, dass die dünnen Pressspan-Wände, aus denen das gesamte Motel erbaut worden war, den Kugeln aus großkalibrigen Gewehren keinen nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen hatten. Seither vergnügten sie sich damit, das Gebäude in etwas zu verwandeln, das mittlerweile mehr Ähnlichkeit mit einem Schweizer Käse als mit einem Haus hatte. In den Wänden gähnten Dutzende, wenn nicht schon Hunderte von Löchern. Mike fühlte sich an die Schlussszene aus Bonnie und Clyde erinnert, in der ein Dutzend FBI-Beamte so lange auf das Haus schossen, in dem sich das Gangsterpärchen verborgen hielt, bis
es schließlich fast über ihnen zusammenbrach. Er hatte diese Szene immer für hoffnungslos überzogen gehalten, aber mittlerweile war ihm klar, wie realistisch sie war. Wären dort draußen nicht drei, sondern zehn oder fünfzehn Indianer gewesen, die ununterbrochen ihre Gewehre auf sie abfeuerten, dann hätten sie sich längst unter einem Trümmerberg begraben wiedergefunden. Schon jetzt kam es ihm wie ein kleines Wunder vor, dass das Gebäude noch stand; und wie ein sehr viel größeres Wunder, dass noch keiner von ihnen getroffen worden war. Sie wagten es nur noch, sich auf allen vieren kriechend fortzubewegen. Die Indianer schossen nicht gezielt - sie konnten schließlich nicht durch die Wände sehen (wenigstens noch nicht. Wenn sie noch ein paar Löcher mehr bekamen, würde sich das möglicherweise ändern), aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie einen Zufallstreffer landeten. Frank hatte anscheinend Recht gehabt: Sie mussten über eine ganze LKW-Ladung Munition verfügen. Eine weitere Gewehrsalve krachte; drei, vier Schüsse, die so schnell hintereinander fielen, dass man sie kaum noch auseinander halten konnte. Ein gut dreißig mal fünfzig Zentimeter messendes Stück der Wand über Stefan löste sich einfach in fliegende Splitter auf, die auf ihn hinabrieselten. Stefan fluchte und kroch hastig davon. Mike wartete mit angehaltenem Atem auf die nächste Salve, aber sie kam nicht, ebenso wenig wie ein einzelner Schuss. Eine Minute verging, dann noch eine halbe, und schließlich stemmte sich Frank vorsichtig auf Hände und Knie hoch und kroch zum Fenster. »Um Gottes willen, sei bloß vorsichtig!«, keuchte Stefan - als ob diese Warnung nötig gewesen wäre! Frank grunzte eine Antwort, die keiner verstand, erreichte das Fenster und richtete sich buchstäblich millimeterweise auf. Gebannt blickte er hinaus und legte die Stirn in fragende
Falten. »Da draußen ist alles ruhig«, murmelte er nach ein paar Sekunden. Dann, völlig widersinnig: »Hört ihr das?« Mike lauschte angestrengt. Im ersten Moment hörte er nichts außer dem ununterbrochenen Heulen des Sturmes, aber dann ... Es war ein sehr sonderbares Geräusch, leise, gerade an der Schwelle des noch Wahrnehmbaren und auf eine verwirrende Art sowohl vertraut als auch vollkommen fremd: ein helles, quietschendes Rasseln und Dröhnen, das ganz allmählich näher zu kommen schien. »Ein Wagen«, murmelte Stefan. Dann schrie er fast: »Das ist ein Wagen!« Ein Wagen? Mikes Meinung nach hörte es sich eher an wie das Rasseln eines Panzers aus dem Ersten Weltkrieg. Er sagte nichts dazu, sondern kroch auf Händen und Knien zu Frank ans Fenster, jederzeit bereit, sich flach auf den Boden zu werfen. Stefan gesellte sich aus der entgegengesetzten Richtung zu ihnen. Eine geraume Weile verging, in der das Geräusch allmählich an Lautstärke gewann, wenn auch nicht an Deutlichkeit. Dann deutete Frank plötzlich aufgeregt nach rechts. »Da!«, rief er. »Seht doch! Das ist ein Schneepflug!« Mike blickte in die angegebene Richtung. Es war tatsächlich ein Schneepflug, der sich langsam die abschüssige vereiste Straße hinabquälte - wenn auch der sonderbarste Schneepflug, den Mike jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das Gefährt war annähernd so groß wie ein Mähdrescher und in einem leuchtenden Rot-Orange lackiert. Die Vorderachse wurde von zwei gewaltigen grobstolligen Rädern angetrieben. Hinten hatte es Ketten wie ein Panzer, die selbst auf schmierseifenglatt gefrorenem Untergrund noch sicheren Halt finden mussten. Eine Art seitwärts wegknickender rechteckiger Schornstein überragte das Führerhaus und schleuderte den staubfein pulverisierten Schnee zur Seite, den das gefräßige Maul des
Fahrzeuges verschlang. »Das ist wirklich ein Schneepflug«, sagte Stefan. »Natürlich! Deshalb das Ultimatum! Versteht ihr nicht! Sie wollten die Sache zu Ende bringen, weil sie wussten, dass er um eine bestimmte Uhrzeit hier vorbeikommt!« »Stimmt«, sagte Strong. »Und der Fahrer ist jetzt schon tot.« Einen Moment lang sahen sie sich betroffen an - und dann sprangen sie alle drei auf die Füße, rissen die Arme in die Höhe und begannen zu schreien und zu gestikulieren, ohne dass ihnen auch nur der Gedanke kam, was für hervorragende Zielscheiben sie in diesem Moment abgaben. Es nutzte nichts. Der Schneepflug war noch viel zu weit entfernt. Das Dröhnen des schweren Dieselmotors und das Klirren und Rasseln der Ketten verschluckte jeden anderen Laut, und wenn der Fahrer ihr verzweifeltes Winken überhaupt bemerkte, dann deutete er es wahrscheinlich falsch. Als das seltsame Fahrzeug nämlich langsamer wurde und auf den Parkplatz einschwenkte, betätigte er die Hupe: ein lang gezogenes, schnaufendes Tröten, das sich beinahe wie ein Nebelhorn anhörte. Gleichzeitig hob die Gestalt, die verschwommen hinter der Scheibe sichtbar war, die Hand und winkte zurück. »Verdammter Mist!«, schimpfte Frank. »Wahrscheinlich will er anhalten, um einen Kaffee zu trinken. Wir müssen ihn warnen!« Er sprang hoch, rannte zur Tür und riss sie auf, doch bevor er einen weiteren Schritt tun konnte, flog ein Teil des Türrahmens direkt neben seinem linken Knie auseinander. Frank keuchte vor Schreck, prallte zurück und warf die Tür in der gleichen Bewegung wieder zu. »Sie bringen ihn um!«, stöhnte Stefan. »Großer Gott, sie werden ihn umbringen.« »Ja«, sagte Strong. »Macht mich los und gebt mir meine Waffe, verdammt noch mal!«
Selbst wenn sie es gewollt hätten, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen. Der Schneepflug beschrieb eine enge ViertelDrehung und kam genau in der Mitte des Parkplatzes zum Stehen. Stefan und Mike hörten auf, die Tontauben zu spielen und zu winken, schrien aber aus Leibeskräften weiter, als der Fahrer die Tür öffnete und ausstieg. Als wäre das Dröhnen des uralten Dieselmotors noch nicht genug, wehte das schrille Quieken eines bis zum Anschlag aufgedrehten Autoradios zu ihnen herüber, das Country-Musik dudelte. Mike wusste, was geschehen würde, aber sie waren vollkommen hilflos und nicht in der Lage, irgendetwas daran zu ändern, und das war vielleicht das Entsetzlichste von allem. Der Fahrer, der eine gefütterte Jacke in der gleichen Farbe wie sein Wagen und eine übergroße Pelzmütze trug, kletterte umständlich in den Schnee hinab, blieb stehen und begann in den Taschen zu graben, während er sich umdrehte. »Um Gottes willen, du Idiot!«, brüllte Stefan. »Steig in den Wagen! Steig wieder ein und hau ab!« Er schrie so laut, dass Mike einen Moment lang glaubte, der Mann könne ihn tatsächlich hören. Aber dann tauchten seine Hände wieder aus den Jackentaschen auf, Zigaretten und ein Streichho lzbriefchen haltend, und er setzte sich in Bewegung. Als er hinter der Fahrerkabine seines Wagens hervortrat, spritzte der Schnee neben ihm auf. Der Mann blieb stehen, blickte verständnislos auf die langsam auseinander wehende pulverige weiße Wolke und hob noch das Streichholzbriefchen an die Zigarette, die er sich mittlerweile zwischen die Lippen geklemmt hatte. Die zweite Kugel schlug Funken aus der Karosserie des Wagens, unmittelbar neben seiner Schulter, und das verstand sogar er. Vielleicht hätte es ihm sogar das Leben gerettet, hätte er nicht in diesem Moment etwas durch und durch Dummes getan. Mike begriff nicht, warum der Mann nicht einfach auf dem
Absatz herumfuhr und die zwei Schritte zur Tür zurücklief, um wieder in den Wagen zu steigen, wo er wenigstens halbwegs in Sicherheit gewesen wäre. Stattdessen schleuderte er das Streichholzbriefchen in hohem Bogen davon - und rannte einfach los, direkt in die freie, deckungslose Fläche des Parkplatzes hinaus; vielleicht, weil er in Panik war und Menschen in Panik nun manchmal Dinge tun, die vollkommen unlogisch sind. Und die sie das Leben kosten können. Vor und neben dem rennenden Mann stob der Schnee auf, und anscheinend kehrte nun doch ein Teil seines logischen Denkvermögens zurück, denn er duckte sich leicht und begann unwillkürlich im Zickzack zu laufen, um den Parkplatz zu überqueren und den rettenden Waldrand auf der anderen Seite der Straße zu erreichen. Die nächsten Schüsse, die die Indianer auf ihn abgaben, gingen ein ganz schönes Stück daneben. Für zwei, vielleicht drei Sekunden sah es tatsächlich so aus, als hätte der Mann eine Chance. Aber natürlich schaffte er es nicht. Er hatte den Parkplatz und die Straße bereits zur Hälfte überquert, als er plötzlich ins Stolpern geriet; jedenfalls sah es so aus. Aus seinem rasenden Zickzackkurs wurde ein haltloses Torkeln. Dann, als er fast die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte, traf ihn eine zweite Kugel. Er warf die Arme in die Luft, vollführte eine groteske, anderthalbfache Pirouette und verschwand, als er in den Straßengraben auf der anderen Seite kippte. »Nein!«, keuchte Stefan. »Sie ... sie haben ihn umgebracht. Er ist tot! Sie ... sie haben ihn einfach erschossen!« »Sieht so aus«, sagte Strong hämisch. »Und es ist eure Schuld.« »Halten Sie das Maul«, schnauzte Frank. »Sie wissen verdammt genau, dass das nicht stimmt!« »Ich hätte ihn retten können, wenn ich meine Waffe gehabt
hätte und nicht gefesselt hier herumliegen würde«, sagte Strong böse. »Der Bursche geht auf euer Konto, nicht auf meins.« »Es wäre überhaupt nichts passiert, wenn Sie uns nicht in ihren verfluchten Privatkrieg hineingezogen hätten!«, antwortete Frank. »Verdammt, was sollen wir jetzt nur tun?« »Ich wüsste es ja, aber ich fürchte, ihr legt keinen besonderen Wert auf meine Vorschläge«, knurrte Strong. »Von dem Klebeband ist noch genug da«, drohte Stefan. Strong lachte abfällig, aber er war klug genug, es nicht auf die Spitze zu treiben. So hielt er lieber die Klappe. Stefan warf ihm noch einen finsteren Blick zu, drehte sich dann aber um und starrte wieder aus dem Fenster. Nachdem der Fahrer des Schneepfluges zusammengebrochen war, hatten die Indianer das Feuer wieder eingestellt. Dabei beließen sie es im Moment. Selbst der Sturm verlor spürbar an Kraft, und eine schon fast unhe imliche Stille kehrte ein. »Sie haben ihn umgebracht«, murmelte Stefan noch einmal. »Einfach so! Aber er hatte doch gar nichts damit zu tun!« »Hatte er doch«, sagte Strong. »Er war im falschen Moment am falschen Platz, und das reicht. Vielleicht begreift ihr ja jetzt endlich, womit ihr es hier zu tun habt!« Stefan wollte auffahren, aber Frank legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. Sie gewannen rein gar nichts, wenn sie ihre Kraft in sinnlosen Wortgefechten mit Strong verschwendeten. »Wir müssen die Nerven behalten«, sagte er. »Diese Wagen haben doch alle CB-Funk, oder?« »Klar«, sagte Strong spöttisch. »Es muss nur jemand rausgehen und um Hilfe funken. Nur zu.« »Das wäre doch eine Aufgabe für dich, Großmaul«, sagte Stefan. »Kein Problem«, antwortete Strong. »Gebt mir meinen Colt.« »Früher oder später wird jemandem auffallen, dass sich der Fahrer nicht mehr meldet«, beharrte Frank. »Wir müssen nur
so lange durchhalten.« »Und ihr glaubt, das wissen die nicht?«, spottete Strong. Stefan sah ihn wütend an, aber er schwieg, und auch Frank und Mike konzentrierten sich ganz auf den Parkplatz und den riesigen orangeroten Schneepflug. Der Anblick des Fahrzeuges kam Mike wie der pure Hohn vor. Die Rettung war scheinbar zum Greifen nahe, doch obwohl der monströse Schneeräumer kaum ein Dutzend Schritte entfernt parkte, wäre es glatter Selbstmord gewesen, auf ihn zuzustürmen. Es war zum Verzweifeln! »Da drüben tut sich was.« Frank machte eine Kopfbewegung zum gegenüberliegenden Waldrand hin, nicht weit von der Stelle entfernt, an der der Fahrer verschwunden war. Mike kniff die Augen zusammen und bemerkte tatsächlich eine Bewegung. Eine Gestalt trat aus dem Unterholz, dann eine Zweite und schließlich eine Dritte. Es waren die drei Indianer, die alte Frau und ihre beiden Kinder. Alle drei trugen lange, hellbraune Mäntel aus Wildleder, die mit zahlreichen Fransen verziert waren. Die alte Frau und ihre Tochter waren mit Gewehren bewaffnet, während der Mann etwas in der Hand hielt, das Mike im ersten Moment nicht erkennen konnte. Als er es erkannte, wünschte er sich fast, es wäre so geblieben. »Ach du Scheiße«, entfuhr es Stefan. Der Indianer begann auf das Motel zuzulaufen. Als er den Parkplatz zur Hälfte überquert hatte, holte er aus und schleuderte eine n glitzernden Gegenstand in ihre Richtung, der fünf oder sechs Meter vor dem Motel zu Boden fiel und in einem Feuerball explodierte. Sofort sprang Frank in die Höhe und legte mit der 44er auf den Indianer an. Der Bursche wirbelte auf dem Absatz herum und rannte im Zickzack davon. Frank kam nicht in die Verlegenheit, auf ihn zu schießen, denn die beiden Indianerinnen drüben am Waldrand eröffneten augenblicklich das Feuer. Die Einschläge lagen nicht gefährlich nahe, doch
nahe genug, um Frank hastig in Deckung springen zu lassen. Der Molotow-Cocktail vor dem Fenster brannte rasch herunter. Der Wind wehte beißenden, nach Benzin stinkenden Qualm zu ihnen herein. Die Flammen fanden auf dem schneebedeckten Asphalt draußen keine Nahrung und erloschen rasch, aber dieser erste Wurf war unangenehm nahe gekommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eines der gemeinen Wurfgeschosse traf und diese ganze Bretterbude in Flammen aufging. »Ich habe mich schon gefragt, wann sie endlich auf die Idee kommen, uns auszuräuchern«, sagte Strong. »Ihr hattet Recht, wisst ihr? Jemandem wird bald auffallen, dass der Fahrer sich nicht mehr meldet, und dann werden sie nach ihm suchen. Eine Stunde, schätze ich, allerhöchstens anderthalb. Das Dumme ist nur, dass unsere drei Freunde das auch wissen. Sie werden die Geschichte vorher zu Ende bringen. Sie haben gar keine andere Wahl.« »Verdammt«, brüllte Frank. »Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt!« Er überlegte einen Moment angestrengt, dann stand er auf, ging mit schnellen Schritten zu Strong hin und zog das Jagdmesser aus dem Gürtel. »Habe ich Ihr Wort?«, fragte er. »Bist du verrückt geworden?«, keuchte Stefan. »Was tust du da?« »Worauf immer du willst«, sagte Strong. Frank zögerte noch einen letzten, endlosen Moment, dann ließ er sich neben Strong auf ein Knie fallen und drehte ihn herum. Mit fliegenden Fingern öffnete er die Schnalle des Gürtels, mit dem Strongs Hände zusammengebunden waren, beugte sich zur Seite und band auch seine Fußgelenke los, bevor er mit einem hastigen Sprung wieder zurückwich, als hätte er Angst, dass Strong sich sofort auf ihn stürzen würde. Strong wäre, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht einmal
dazu in der Lage gewesen. Er versuchte zwar aufzustehen, fiel jedoch sofort wieder zu Boden und begann lauthals zu fluchen. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich wieder hoch und begann seine Unterarme, Handgelenke und Waden zu massieren. »Soll ich versuchen, irgendwo eine Masseuse aufzutreiben?«, fragte Stefan böse. »Ich brauche ein paar Sekunden«, sagte Strong gepresst. »Immerhin war ich die ganze Nacht gefesselt. Nur ein paar Augenblicke. Behaltet die Straße im Auge.« Genau das tat Mike schon die ganze Zeit. Die Flammen waren mittlerweile fast heruntergebrannt und führten ein zischendes Rückzugsgefecht gegen den Schnee, der unter ihrer Hitze schmolz. Die Vorstellung, dass dieses gemeine Wurfgeschoss sein Ziel hätte treffen können, jagte ihm noch immer einen eisigen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Seltsamerweise verspürte er dabei nicht wirklich Angst. Vielmehr fühlte er sich auf eine sonderbare Art benommen, als hätte er Fieber und wäre gerade aus einem Albtraum erwacht - ohne ganz sicher zu sein, ob er es auch tatsächlich war. Die Situation kam ihm ... bizarr vor, auf eine schauderhafte Art unwirklich. Der Fahrer des Schneepfluges war tot. Die Indianer hatten ihn erschossen, sein Leben brutal und rücksichtslos ausgelöscht, einfach nur, weil er das Pech gehabt hatte, im falschen Moment aufzutauchen. Die Brutalität dieser Tat schockierte ihn. Er hatte Sze nen wie diese unzählige Male in Filmen gesehen und in Büchern gelesen, sie sich unzählige Male selbst ausgedacht, aber die Realität war anders; vollkommen anders. Sie hatten ein Leben ausgelöscht, unwiderruflich und vollkommen grundlos. Auf einer anderen, tiefer liegenden Ebene seines Bewusstseins war ihm klar, dass er sehr wohl Angst hatte; Angst von einer Art, die ihm fremd und unbekannt war und die er deshalb noch nicht richtig fassen
konnte. »Wir müssten irgendwie in den Wagen kommen«, murmelte Frank. »Das Ding ist so stabil wie ein Panzer. Damit hätten wir eine Chance.« »Noch einen Augenblick«, sagte Strong. Er hatte sich weiter aufgesetzt und schloss und öffnete rhythmisch die Hände. »Ich bin gleich so weit. Und wenn das hier vorbei ist, unterhalten wir uns einmal über die Genfer Menschenrechtskonvention. Und über die Bedeutung des Wortes Folter.« »Prima Idee«, sagte Stefan. »Dazu fällt mir bestimmt auch noch das ein oder andere ein.« »Ich weiß überhaupt nicht, was du willst«, grinste Strong. »Eine gebrochene Nase gibt deinem Gesicht wenigstens ein bisschen Charakter.« Er kam zu ihnen - seine Bewegungen waren noch immer ein wenig holperig, trotzdem schon wieder erstaunlich schnell -, ließ sich zwischen Frank und Mike auf die Knie sinken und spähte durchs Fenster. Die Flammen waren mittlerweile vollkommen erloschen. Nur ein schwarzer Kreis im Schnee, in dem einige Glassplitter glänzten, zeigte noch die Stelle an, an der der Molotow-Cocktail explodiert war. »Alles ruhig«, murmelte er, während er noch immer abwechselnd seine Handgelenke massierte und die Finger zur Faust ballte und ruckartig wieder öffnete, um die Blutzirkulation richtig in Gang zu bringen. »Das gefällt mir nicht. Wahrscheinlich denken sie sich gerade eine neue Schweinerei aus.« »Das brauchen sie gar nicht«, sagte Mike. »Wenn er das nächste Mal besser zielt, sind wir geliefert.« Strong starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, als suche er nach einem stichhaltigen Argument, um zu widersprechen, fände aber keines. »Dann sollten wir ihm vielleicht gar keine Gelegenheit mehr dazu geben«, sagte er. Er nickte, grimmig, aber anscheinend wenig begeistert von seiner
eigenen Idee. »Also gut, wir machen Folgendes: Ich laufe zum Wagen und fahre ihn ganz dicht vor die Tür.« Frank wollte ihm die Waffe reichen, aber Strong schüttelte den Kopf. »Ihr gebt mir Deckung«, sagte er. »Aber ...« »Niemand verlangt, dass du irgendetwas triffst«, sagte Strong. »Ziel einfach auf den Wald und drück ab, wenn sich etwas bewegt. Und gib auf den Rückstoß Acht.« Frank legt e den 44er wieder vor sich auf den Boden. Er wirkte genauso wenig begeistert wie Strong. Mike sah wieder nach draußen. Am Waldrand rührte sich noch immer nichts. Das würde bestimmt nicht mehr lange so bleiben. Strong huschte zur Tür, stieß sie ohne zu zögern auf und rannte los; weder geduckt noch im Zickzack, wie der Fahrer eben, sondern direkt auf den Schneepflug zu und so schnell, dass nicht nur Mike vor Staunen Mund und Augen aufriss. Den Indianern drüben am Waldrand schien es nicht anders zu ergehen. Sie eröffneten das Feuer erst, als Strong den Wagen schon fast erreicht hatte und praktisch in Sicherheit war. Ein guter Meter hinter ihm spritzten Schnee, Asphaltsplitter und Funken auf, dann war er im toten Winkel hinter der Karosserie und sprang mit ausgestreckten Armen nach der offen stehenden Tür auf der Fahrerseite. Als er sich in die Höhe zu ziehen versuchte, zerbarst die Windschutzscheibe über ihm. Strong zog erschrocken den Kopf zwischen die Schultern. Eine zweite Kugel fetzte Plastiksplitter aus dem Armaturenbrett. Funken sprühten. Beinahe zeitgleich entstanden zwei kreisrunde schwarz geränderte Löcher im Blech neben Strongs Hüfte, dann prallte eine weitere Kugel vom Fensterholm des Wagens ab und heulte als Querschläger davon. Das nächste Geschoss stampfte in den Kunstlederbezug des Sitzes und ließ Schaumgummiflocken durch die Luft wirbeln. Damit hatte Strong genug. Er ließ los, fiel in den Schnee und
kam mit einer blitzartigen Rolle wieder auf die Beine. Hakenschlagend und nicht mehr annähernd so elegant und geschmeidig wie auf dem Hinweg, kam er zurückgerannt und warf sich durch die noch offen stehende Tür. Die Indianer machten sich nicht einmal die Mühe, hinter ihm herzuschießen. »Willkommen zu Hause«, spöttelte Stefan, nachdem sich Strong wieder aufgerappelt und die Tür mit einem Fußtritt zugestoßen hatte. »Hat unser Supermann etwa Mist gebaut?« Strong funkelte erst ihn, dann länger und eindeutig wütender Frank an. »Wieso hast du nicht geschossen?« Frank sah einen Moment lang so verwirrt auf den Colt hinab, der vor seinen Knien lag, dass nicht nur Mike begriff, warum er nicht gefeuert hatte: Er hatte die Waffe schlichtweg vergessen. »Ich ... ich hätte doch sowieso nichts getroffen«, murmelte er. Strong verdrehte die Augen und seufzte. »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er. »Du hättest nur Munition verschwendet und dir womöglich die Hände gebrochen.« Er ging zu Frank, hob die Waffe auf und ließ die Trommel herausklappen. Mit einer überpräzise wirkenden Bewegung entfernte er die einzelne lose Patronenhülse, griff in die Jackentasche und nahm eine neue Patrone heraus, um sie in die Trommel zu schieben. »Wie viel Munition haben wir?«, fragte Mike. »Zu wenig«, antwortete Strong. Er schob den Colt unter seinen Gürtel. »Also gut. Plan B.« »Plan B?«, wiederholte Stefan. »Wie sieht der aus?« »Keine Ahnung«, antwortete Strong mit einem breiten Grinsen. »Ich dachte, ihr wüsstet das.« Stefan grummelte eine Antwort - vorsichtshalber so leise, dass Strong sie nicht verstehen konnte - und draußen fiel ein
einzelner Schuss. Die Kugel riss ein handtellergroßes Loch in die Wand über dem Fenster und grub sich in einen Balken auf der gegenüberliegenden Seite. Strong zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Vorschläge, Leute«, sagte er. »Ich warte auf Ideen.« »Sie sind doch hier der große Krieger!«, sagte Stefan feindselig. »Was glauben Sie, warum wir Sie losgebunden haben? Also lassen Sie sich gefälligst was einfallen!« »Oder?«, grinste Strong. »Hetzt ihr sonst den Kleinen auf mich?« Er massierte demonstrativ sein Kinn. Mike fuhr leicht zusammen und bedachte ihn mit einem fast hasserfüllten Blick. Seine Hand pochte noch immer, und er fürchtete sich schon jetzt vor dem Moment, in dem er den Verband von seinen aufgeplatzten Knöcheln entfernen musste. Strangs Kinn hingegen zeigte nicht einmal eine Schwellung. »Guter Schlag«, stichelte Strong, als hätte er Mikes Gedanken gelesen. »Aber bild dir nicht zu viel darauf ein. Ich weiß jetzt, wie gefährlich du bist, Tiger. Noch eine Chance bekommst du nicht.« »Das reicht jetzt, Strong«, sagte Frank scharf. Er warf Mike einen beruhigenden Blick zu, und Strong griente noch breiter. Dann salutierte er zackig. »Jawohl, Sir!« »Wir sollten lieber überlegen, wie wir hier rauskommen«, sagte Frank. Er war offensichtlich verzweifelt darum bemüht, die Situation zu entspannen. Mike wusste nicht, wie lange er sich noch würde beherrschen können. Wenn Strong so weitermachte, würde er sich auf ihn stürzen - auch wenn ihm klar war, dass dieser ihn vermutlich grün und blau prügeln würde. »Vielleicht müssen wir wirklich nur abwarten, bis Hilfe kommt«, meinte Frank. »Wir haben den Vorteil der Verteidiger auf unserer Seite. Und wir haben den Zeitfaktor auf unserer
Seite.« »Und genau das werden sie uns nicht lassen: Zeit«, antwortete Strong kopfschüttelnd. »Ihr unterschätzt sie noch immer. Sie sind vielleicht nicht die Hellsten, aber sie sind gefährlich.« »Vielleicht überschätzen wir ja auch nur jemanden«, giftete Stefan. »Stefan, bitte«, sagte Frank müde. Dann wandte er sich wieder an Strong. »Vielleicht sollten wir ... ?« »Da tut sich was«, unterbrach ihn Stefan. Mit einem einzigen Satz waren sie alle vier am Fenster. Am Ende der Straße, in deren weiße Schicht der Schneepflug eine breite Schneise geschlagen hatte, tauchte nun ein schwarzer Van auf. Er fuhr nicht schnell, schlingerte aber trotzdem leicht; offensichtlich hatte der Fahrer Schwierigkeiten, den Wagen auf dem spiegelglatten Untergrund in der Spur zu halten. Strong hob seine Waffe, zielte kurz und ließ sie dann kopfschüttelnd wieder sinken. »Zu weit.« »Was haben die vor?«, flüsterte Frank besorgt. »Das sieht ganz nach einem Sturmangriff aus«, murmelte Stefan. Strong schüttelte abermals den Kopf. »So verrückt sind sie nicht«, sagte er. »Wenn sie näher kommen, schieße ich sie in Stücke.« Er wedelte mit seinem Colt. »Mit dem Ding schieße ich glatt durch einen Motorblock, wenn es sein muss.« Mike glaubte ihm. Stefan blickte, Grimassen schneidend, auf seine Handgelenke hinab und nickte. Er glaubte ihm auch. Aber was hatten die Indianer vor? Zumindest schienen sie zu ahnen, dass es nicht ratsam war, sich dem Motel leichtsinnig zu nähern. Der Van wurde ein wenig schneller, wodurch er noch stärker ins Schlingern geriet und dadurch ein noch schlechteres Ziel bot. Schließlich schwenkte er urplötzlich nach links und rumpelte auf der Spur des Schneepfluges auf den Parkplatz, vollführte eine plötzliche
Drehung und war hinter dem orangeroten Ungetüm verschwunden. Sie hörten, wie der Motor aufheulte. Strong fluchte ungehemmt auf Englisch und hob seine Waffe. Im gleichen Augenblick wurde vom Waldrand aus das Feuer auf sie eröffnet. Strong druckte sich hastig weg, als die Kugeln dicht neben ihm in den Fensterrahmen fuhren. Der Motor des Vans heulte immer lauter. Dennoch dauerte es deutlich länger, als Mike erwartet hatte, bis der schwarze Kastenwagen wieder hinter dem Schneepflug auftauchte dafür mit geradezu atemberaubendem Tempo. Mike keuchte vor Entsetzen, als ihm klar wurde, dass der Van direkt auf sie zuhielt; als wäre der Fahrer entschlossen, einfach in das Gebäude hineinzubrettern und der Sache damit ein Ende zu bereiten. Strong wollte schießen, wurde aber durch eine wütende Gewehrsalve vom Waldrand aus abermals in Deckung getrieben. Der Van wühlte sich beharrlich und immer schneller werdend durch den Schnee auf sie zu und schien plötzlich auf die Größe eines Mondes anzuwachsen, der vom Himmel stürzte, um sie zu zerschmettern. Im buchstäblich allerletzten Moment brach er zur Seite aus, vollführte, praktisch auf der Stelle schlitternd und mit durchdrehenden Hinterrädern, eine nahezu komplette Drehung, und etwas Kleines, Glitzerndes flog aus dem Fenster, prallte gegen den Fenstersturz über Strong und zerbrach. Es begann Feuer zu regnen. Strong schrie gellend auf, warf sich zur Seite und schlug mit der bloßen Hand auf seine rechte Schulter ein, die Feuer gefangen hatte. Frank war mit einem Satz bei ihm, um ihm zu helfen, während Stefan bereits herumwirbelte und zum Bett sprang, um das Laken herunterzureißen. Einzig Mike saß wie gelähmt da und starrte die Flammen an, die gierig am Holz des Fensterrahmens leckten. Zerborstenes Glas glitzerte auf dem Boden vor ihm, und auch die uralten Holzdielen hatten bereits
Feuer gefangen. Er sah aus den Augenwinkeln, dass sich der Van rasch wieder entfernte. Da schien auch noch eine weitere Bewegung zu sein, die er allerdings nicht genau erkennen konnte. Ihm blieb keine Zeit, noch einmal hinzusehen, denn in diesem Moment war Stefan zurück und schrie ihn an: »Verdammt, glotz nicht so blöd, sondern hilf mir!« Er schwenkte das Laken, das er vom Bett gerissen hatte, und versuchte die Flammen damit zu ersticken. Es gelang ihm erst, als auch Frank und Strong herbeistürzten und ihm halfen. Dass das Feuer nicht auf das gesamte Zimmer übergriff, war pures Glück. Der Molotow-Cocktail war von außen gegen das Fenster geprallt und der größte Teil des brennenden Benzins harmlos draußen im Schnee versickert. Wäre es anders gewesen, hätten sie keine Chance gehabt. Selbst so kämpften sie gute zwei oder drei Minuten lang verzweifelt gegen die Flammen, die genauso schnell wieder aufzulodern schienen, wie sie sie erstickten. Als es endlich vorbei war, war keiner von ihnen ohne Verbrennungen an den Händen davongekommen. Ein Teil von Franks Bart hatte sich gekräuselt, und Strongs Jackenärmel sah aus, als wäre er geschmolzen. Das Zimmer war so verqualmt, dass sie kaum atmen konnten. »Das war knapp«, keuchte Strong. »Jemand verletzt?« »Nein.« Stefan hustete. »Für meinen Geschmack war das ein bisschen dick aufgetragen. Hat der Kerl den Verstand verloren?« »Er spielt das Spiel ziemlich realistisch.« Strong grinste. »Wenigstens haben wir es jetzt ein bisschen warm.« »Aber wahrscheinlich nicht sehr lange«, meinte Frank. Er deutete zum Fenster. »Seht mal da!« Mike drehte sich um und sah nach draußen. Der Schneepflug hatte sich in Bewegung gesetzt. Jetzt wusste er auch, warum der Van so lange dahinter verschwunden gewesen war und was
die Bewegung zu bedeuten gehabt hatte, die er aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen hatte. »Was zum Teufel ...?«, murmelte Strong. Dann riss er seine Waffe in die Höhe und drückte dreimal rasch hintereinander ab. Die Schüsse dröhnten so laut, dass sich Mike mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zuhielt. Das war im Grunde auch schon der ganze Schaden, den sie anrichteten. Der Schneepflug hatte bereits halb gewendet, und die Fahrerkabine befand sich nicht mehr in der Schusslinie. Die Kugeln prallten harmlos von der Karosserie und der schweren Panzerkette ab, während sich das Fahrzeug rumpelnd entfernte. »Jetzt haben wir ein Problem«, sagte Stefan. »Wenn sie mit diesem Panzer anrücken, können sie uns so lange mit ihren Benzinbomben bewerfen, bis eine davon richtig trifft.« »Die haben was ganz anderes vor«, knurrte Strong. »Und ich weiß auch, was.« »Was?«, fragte Frank. Strong antwortete nicht, sondern sah sich plötzlich wild um, beinahe wie in Panik. Noch vor einer Minute hätte Mike es nicht für möglich gehalten, aber nun glaubte er zum ersten Mal einen Ausdruck echter Angst auf dem Gesicht dieses riesenhaften Mannes zu erkennen. »Zurück!«, befahl Strong mit einer wedelnden Geste. »An die Wand! Und behaltet den Truck im Auge!« Sie gehorchten. Der Schneepflug hatte den Parkplatz überquert und begann schwerfällig auf der Straße zu wenden. Wer immer am Steuer saß, konnte nicht viel Erfahrung im Umgang mit einem solchen Fahrzeug haben, dachte Mike. Er würde wahrscheinlich eine Minute brauchen, um den Wagen komplett zu drehen. Aber wohl auch kaum länger. »Achtung!«, schrie Strong. Er schoss - einmal, zweimal, dreimal, bis der Hammer nur noch klickend ins Leere schlug. Die Kugeln stanzten drei präzise, jeweils eine Handbreit übereinander liegende Löcher in die Wand neben der Tür.
Strong schleuderte die Trommel heraus, ließ mit einer blitzartigen Bewegung die Patronenhülsen zu Boden klirren und lud mit fliegenden Fingern nach. Als er die Trommel wieder hineinschlug, hatte der Schneeräumer seine Drehung beendet. Die stumpfe Schnauze mit dem riesigen Kühlergrill deutete nun genau auf das zerschossene Fenster. Der Motor heulte auf, und für eine Sekunde schien das ganze gewaltige Fahrzeug zu erzittern, ohne sich von der Stelle zu rühren; ein stählerner Stier, der mit den Hufen scharrte, bevor er sich auf seinen Gegner stürzte. Mike hatte nie einen bedrohlicheren Anblick gesehen. Dann setzte sich der Koloss in Bewegung. Nicht sehr schnell - ein Schneeräumer ist schließlich kein Formel-1-Rennwagen -, aber er gewann zunehmend an Geschwindigkeit, während er durch den Schnee auf das Motel zu walzte. »Um Gottes willen, schnell!«, keuchte Mike. »Ist gleich so weit.« Strong verschwendete keine Zeit mit einem Blick zum Fenster, sondern zielte mit ausgestreckten Armen und drückte rasch fünfmal hintereinander ab. Die Kugeln rammten ein knappes halbes Dutzend weiterer Löcher in die Trennwand zum Verwaltungsgebäude. Um noch einmal nachzuladen, blieb keine Zeit. Mike wagte nicht mehr, aus dem Fenster zu sehen. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Gigantisches, Orangerotes heranrasen, zwanzig Tonnen Stahl, denen nichts widerstehen konnte. »Los!«, brüllte Strong. Es war der reine Wahnsinn! Sie stürmten los, nebeneinander, mit weniger als fünf Metern Anlauf - viel zu wenig für das, was sie vorhatten -, und warfen sich mit aller Gewalt gegen die zerschossene Bretterwand. Das Holz knirschte. Es leistete Widerstand, und für einen kurzen, aber grässlichen Moment war Mike sicher, dass ihre vereinten Kräfte nicht ausreichen und die Wand standhalten würde. Aber dann zerbarst das zerschossene Holz, und die vier
verzweifelten Männer stolperten in einem Hagel aus zersplitternden Brettern und Putz in den dahinter liegenden Raum. Keinen Sekundenbruchteil zu früh. Noch während Mike fiel, krachte etwas Gigantisches hinter ihnen durch die Wand und zermalmte das Zimmer. Es kam Mike vor, als wäre der Mond auf die Erde gestürzt. Das gesamte Gebäude zitterte. Putz regnete von der Decke, und in der gegenüberliegenden Wand entstand ein gezackter Riss, aus dem Staub quoll wie giftiger Atem aus einem hässlich gezahnten Drachenmaul. Mike glaubte zu spüren, wie das gesamte Gebäude ein Stück zur Seite rutschte. Und wieder spielte ihm seine Fantasie einen üblen Streich: Er sah sich und die anderen unter dem zusammenbrechenden Motel begraben, zerquetscht von den Trümmern, statt von dem Schneepflug. Prima Tausch. Das Einzige, was auf ihn fiel, waren Franks gut hundert Kilo, aber sie reichten, ihm die Luft aus den Lungen zu treiben und die Schreckensbilder vor seinen Augen in einem bunten Farbregen zerplatzen zu lassen. Hinter ihnen kam der riesige Truck mit einem lauten Knall zum Stehen. Der Motor erstarb, und noch während sich Frank ächzend von Mike herunterwälzte, sprang Strong in die Höhe, fuhr herum und feuerte seine letzte Patrone ab. Das Ergebnis war ein gellender Schrei. Eindeutig ein Schmerzensschrei. Dann ein Klappern ... und Stille. »Einer weniger«, sagte Strong fröhlich, während er sich herumdrehte. Er rührte keinen Finger, um einem der anderen auf die Füße zu helfen, sondern ließ qualmende leere Messinghülsen zu Boden rieseln und lud seine Waffe nach. Obwohl Mike vor Schmerz fast übel war, registrierte er, dass Strong nur noch vier Patronen in seiner Jackentasche fand. Ihr Munitionsvorrat ging zu Ende. Nachdem Frank endlich von ihm heruntergestiegen war, kam
Mike mühsam auf die Füße, und auch Stefan rappelte sich auf. Er sah unsicher und mit kalkweißem Gesicht an sich herab, als wäre er nicht ganz sicher, ob auch wirklich noch alles da war, wo es sein sollte. »Weiter!«, befahl Strong. »Es sind noch zwei übrig, und sie werden nicht begeistert sein, dass ich der Alten den Schädel weggeblasen habe.« Er machte einen Schritt, sprengte die Tür des Zimmers mit einem Fußtritt auf und trat hindurch. Frank folgte ihm auf der Stelle, während Stefan und Mike einen kurzen Moment zögerten. Sie gelangten in einen kleinen, vollkommen leeren Raum. Abgeschnittene Kabelenden in den Wänden und herausgerissene Steckdosen bewiesen, dass es nicht nur in großer Hast leer geräumt worden war, sondern dass der Auszug wohl auch endgültig gemeint war. Strong sprengte auch die nächste Tür mit einem Tritt auf, sprang mit schussbereiter Waffe hindurch und rief von der anderen Seite: »Alles sauber! Ihr könnt kommen!« Sie gelangten in einen etwas größeren, ebenfalls leer geräumten Raum, der früher offensichtlich als Büro gedient hatte. Es gab noch zwei Schreibtische, auf denen eine fast zentimeterdicke Staubschicht lag. Die Luft war so trocken, dass sie zum Husten reizte. Eine komplette Wand wurde von leeren Bücherregalen eingenommen. Die Staubschicht darauf war womöglich noch dicker. Über ein Zuviel an Gästen oder gar Arbeitsüberlastung konnte sich in diesem Motel wohl kaum jemand beklagen. Strong wich von seiner lieben alten Gewohnheit ab und trat die nächste Tür nicht ein, sondern benutzte die Klinke. Dahinter lag der Empfangsraum. Er war dunkel und leer. Das Feuer im Kamin war erloschen. Trotz geschlossener Fenster und Türen war die Kälte hereingekrochen. Ihr Atem erzeugte kleine Dampfwölkchen vor ihren Gesichtern, und Mike bildete sich ein, Eis unter
seinen Schritten knirschen zu hören, als er Stefan und den anderen folgte. Strong huschte zum Fenster und zog vorsichtig die Gardine zurück, um hinauszuspähen, während Frank zum Tresen eilte und den Telefonhörer abhob. Er lauschte zwei oder drei Sekunden angestrengt und legte dann mit einem enttäuschten Kopfschütteln wieder auf. »Tot.« »Was hast du denn gedacht?«, fragte Strong vom Fenster aus. Er blickte noch immer konzentriert hinaus. »Was ist mit dem Manager?«, fragte Stefan. »Vielleicht ist er ja rechtzeitig weggekommen und hat die Polizei alarmiert.« »Da muss ich euch enttäuschen«, sagte Strong. »Das war nicht der Manager. Nur ein Typ, dem ich einen Fünfziger zugesteckt und gesagt habe, er soll hier auf drei Dummköpfe warten, denen er noch ein bisschen Geld aus der Tasche ziehen kann.« Er lachte. »Ich hoffe, ihr wart nicht zu großzügig.« »Alles in allem fast dreihundert Dollar«, seufzte Mike. Absurderweise ärgerte er sich ungemein darüber - als ob das im Moment irgendeine Rolle spielte! »Das war zu großzügig«, antwortete Strong. »Wahrscheinlich wird er die nächsten drei Wochen durchsaufen.« »Vielleicht kommt er ja auch zurück, weil er hofft, noch mehr verdienen zu können«, sagte Stefan. Natürlich klammerte er sich an jede Hoffnung, auch wenn sie noch so abwegig war. »Kaum«, antwortete Strong. »Und wenn er es tut, dann ist er tot. Genau wie wir übrigens, wenn wir noch lange hier herumstehen und kluge Reden schwingen. Die beiden da draußen werden höchstens ein paar Minuten brauchen, ehe ihnen aufgeht, dass ihr Plan in die Hose gegangen ist.« »Aber sie wissen doch gar nicht, wo wir sind«, sagte Stefan. »Brauchen sie auch nicht«, antwortete Strong. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich die ganze Bude anzünden und warten, bis wir rauskommen. Dann können sie uns in aller
Ruhe abknallen.« Er seufzte. »Eure Maschinen stehen dort draußen. Direkt vor der Tür. Soweit ich erkennen kann, sind sie unbeschädigt.« »Und was nutzt uns das?«, fragte Frank. »Sie haben es selbst gesagt: Die schießen uns über den Haufen, sobald wir auch nur die Nase aus der Tür stecken.« »Dann müssen wir sie eben ablenken«, sagte Strong. Er trat vom Fenster zurück, sah sich einen Moment suchend und unschlüssig um und sagte dann: »Ich werfe mal einen Blick aus der Hintertür. Wartet hier.« »Fällt uns nicht ein«, brummte Stefan. »Wir nehmen die nächste Bahn und fahren in die Stadt.« Strong ersparte sich jeden Kommentar, durchquerte das Zimmer mit schnellen Schritten und verschwand hinter einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite. »Wenn es einen Hinterausgang gibt, warum sind wir dann noch hier?«, fragte Stefan. »Wir könnten doch einfach abhauen?« »Zu Fuß?« Frank machte ein abfälliges Geräusch. »Was glaubst du wohl, wie weit wir kämen? Wir brauchen unsere Maschinen - oder irgendein anderes Fahrzeug.« »Dann wollen wir mal hoffen, dass Superboy eine gute Idee hat«, knurrte Stefan. Mike hatte keine Lust, dem Gezänk der beiden zuzuhören. Er trat an dasselbe Fenster, an dem Strong vorhin gestanden hatte, und blickte durch einen Spalt in der Gardine hinaus. Der Anblick wirkte noch immer auf die gleiche absurde Art friedvoll, ja, beinahe noch harmloser als bislang, jetzt, da der Schneepflug nicht mehr da war. Auch drüben am Waldrand blieb alles ruhig. Als Mike sich umdrehte, sah er, wie Stefan und Frank stumme Blicke tauschten. Blicke, deren Bedeutung ihm auf Anhieb klar war. Und die ihm ganz und gar nicht gefielen. »Was ist los mit euch?«, fragte er. »Macht ihr euch Sorgen
um mich?« »Wie kommst du denn darauf?«, fragte Stefan. Es klang schuldbewusst, fand Mike. »Ihr habt Angst, dass ich es nicht packe, stimmt’s?«, fragte er herausfordernd. »Ihr glaubt, dass ich schlappmache und irgendwann zusammenklappe!« »Blödsinn!«, behauptete Frank. Mike hörte gar nicht hin. »Nur keine Sorge«, sagte er leise. »Und wenn ich auf dem Zahnfleisch hier rauskriechen muss, aber ich schaffe es schon.« »Das wissen wir, Mike«, sagte Frank. »Es geht ja auch um etwas ganz anderes. Darum, wie wir aus der ganzen Geschichte unbeschadet rauskommen ...« Bevor Mike antworten und endgültig einen Streit vom Zaun brechen konnte (er war nicht nur bereit, ihn in Kauf zu nehmen, er suchte ihn in diesem Moment regelrecht, aus einem völlig verrückten, fast unwiderstehlichen selbstmörderischen Impuls heraus), kam Strong zurück. »Das sieht gar nicht schlecht aus.« Er klang optimistisch, fast schon aufgekratzt. »Ich schätze, ich kann sie lange genug ablenken, damit ihr abhauen könnt. Aber ich brauche Hilfe.« Frank trat mit einem resignierenden Seufzen vor, doch Strong schüttelte den Kopf. Er deutete auf Mike. »Er.« »Wieso?«, wollte Frank wissen. Er trat auf eine eindeutig beschützende Art zwischen Strong und Mike, und allein diese Bewegung brachte Mike fast zur Raserei. »Das ist okay«, sagte er rasch. Er trat seinerseits zwischen Frank und Strong und funkelte Frank herausfordernd an. »Ich gehe.« Frank hob die Schultern. »Ganz, wie du meins t.« »Beruhigt euch, Jungs«, sagte Strong. »Es ist nicht gefährlich. Ich brauche nur jemanden, der mir den Rücken freihält. Ich habe leider keine Augen im Hinterkopf, wisst ihr?« Er drehte sich zu Stefan um. »Wenn die Randale losgeht,
schwingt ihr euch auf eure Reisschüsseln und haut ab. Und macht euch keine Sorgen um den Kleinen. Ich passe schon auf ihn auf.« »Und dann?«, fragte Frank. »Immer geradeaus«, antwortete Strong. »Die Straße vereinigt sich nach ein paar Meilen mit der neuen Interstate. Kurz danach kommt ein Drive-in. Dort treffen wir uns.« »Aber ...«, begann Frank. »Das klingt nach einem guten Plan«, sagte Mike rasch. »So machen wir es.« Frank sah ihn zweifelnd an. »Bist du sicher? Das ist keiner deiner Thriller, bei dem du jederzeit die Story umschreiben kannst!« Aber es ist ein Spiel, dachte Mike. Wenn auch um einen verdammt hohen Einsatz. Und nach Regeln, die er immer noch nicht ganz verstand. »Also los«, sagte Strong. »Haltet euch bereit. Ich schieße ein Mal, wenn ihr rauskönnt.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging. Mike folgte ihm, bevor Stefan oder Frank auf die Idee kommen konnten, ihn, Mike, doch noch zurückzuhalten. Er hatte Angst, dass es ihnen gelingen könnte. Während er Strong durch ein kurzes Labyrinth ineinander verschacht elter Korridore und leer stehender Räume zum Hinterausgang folgte, fragte eine immer lauter werdende Stimme in ihm, ob er eigentlich den Verstand verloren hatte, sich freiwillig zu diesem Himmelfahrtskommando zu melden. Wenn Strong sagte, es wäre nicht gefährlich, dann musste das nicht bedeuten, dass es tatsächlich ungefährlich war. Angesichts zweier schießwütiger Indianer, die irgendwo dort draußen auf sie lauerten, war es riskant genug, das Haus still und heimlich zu verlassen. Ein Ablenkungsmanöver zu starten, konnte da leicht tödlich enden! Er war kein Kämpfer. Das war er nie gewesen, sondern ganz im Gegenteil ein bekennender
Feigling, dessen Abenteuer einzig und allein im Kopf stattfanden. War er vielleicht auch einfach nur zu feige gewesen, einen Rückzieher zu machen? Er hatte das Maul einfach ein wenig zu voll genommen, und nun konnte er nicht mehr zurück. Er war Strong aus Feigheit gefolgt, nicht aus Mut. Was zählte, waren die drei Sekunden Gegenwart, nicht das, was danach kam. Sie traten ins Freie hinaus. Mike blinzelte. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht so stark, dass er im ersten Moment fast blind war und seine Umgebung nur schemenhaft erkannte. Es war empfindlich kalt, viel kälter noch als in dem Apartment mit dem zerschossenen Fenster und den durchlöcherten Wänden. Der Wind blies so erbarmungslos durch seine Lederjacke, als wäre sie gar nicht vorhanden. Das Motel war unmittelbar am Abhang erbaut. Vor ihm war nur noch ein knapp meterbreiter Streifen schneebedeckter Boden, hinter dem der Hang dann steil abfiel, vielleicht zwanzig Meter lang und nur spärlich bewachsen (was so gut wie keine Deckung bedeutete), ehe er weiter unten wieder in dichten Wald überging. Zwischen den Schatten der Baumstämme glitzerte etwas, das noch schwärzer war. Mike entdeckte es erst, nachdem Strong darauf gedeutet und er einige Sekunden konzentriert in die angegebene Richtung gestarrt hatte. »Der Wagen?« Strong nickte. »Schnell jetzt. Und keinen Laut!« Er stürmte los. Mike sah einen Moment lang verblüfft zu, wie Strong sich - wenig elegant, aber überaus effektiv und erstaunlich schnell - auf den Hosenboden fallen ließ und einfach den schneebedeckten Hang hinunterschlitterte, ehe er sich einen Ruck gab und ihm folgte. Es ging besser, als er geglaubt hatte. Vielleicht sogar ein bisschen zu gut. Noch bevor er die Hälfte des Hanges hinter
sich hatte, war er so schnell, dass jeder Snowboard-Fahrer neidisch auf ihn gewesen wäre. Hätte der Hügel in Felsen oder Baumstämmen geendet, hätte er sich wahrscheinlich alle Knochen gebrochen. Gottlob war das nicht der Fall. Eine gut meterhohe Verwehung aus weichem Pulverschnee beendete Mikes Schlitterpartie beinahe sanft. Eisiger Schnee rieselte in seinen Kragen und seine Ärmel, und sein Hintern brannte ein wenig, aber das war auch alles. Strong zerrte ihn unsanft am Arm in die Höhe und in den Schutz des Waldes. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Mike nickte. Als Strong sich umdrehen und weitergehen wollte, hielt Mike ihn mit einer groben Bewegung am Arm zurück. Strong erstarrte. Ganz langsam drehte er den Kopf und starrte Mikes Hand an, dann hob er den Blick und fixierte seine Augen. Mike zog die Hand hastig zurück. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Strongs Augen waren von einer stummen Drohung erfüllt, und plötzlich hatte er furchtbare Angst, dass der andere ihn schlagen würde. Dennoch fragte er mutig: »Warum ich, Strong?« »Du?« »Sie wissen genau, was ich meine!«, antwortete Mike. Seine Stimme bebte und raubte ihr einen Gutteil der beabsichtigten Wirkung. »Warum wollten Sie, dass ich mitkomme? Ich bin Ihnen doch nur im Weg.« »Ganz ehrlich?«, fragte Strong. »Wenn ich darum bitten darf!« Strong hob die Schultern. »Ganz, wie du willst. Du hast gefragt, oder?« Er lachte leise. »Du bist am entbehrlichsten, weißt du? Wenn deine Freunde losfahren und es mir nicht gelingt, die beiden Rothäute abzulenken, dann wärst du ihnen nur im Weg.« Mike presste die Lippen aufeinander. Er schwieg. »Du hast gefragt«, sagte Strong noch einmal. Dann lachte er
leise. »Aber mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich werden wir Dirty Wolf und seine Kleine nicht einmal zu Gesicht bekommen. Ich habe nicht vor, einen Krieg mit ihnen anzufangen.« Er machte eine Kopfbewegung in den Wald hinein. »Da hinten steht ihr Wagen. Ich will mir nur ein paar Teile davon ausborgen. Mal sehen ... vielleicht die Verteilerkappe oder das ein oder andere Kabel. Also mach dir nicht in die Hosen. Du brauchst nur die Augen offen zu halten und mich zu warnen, wenn du irgendetwas Verdächtiges siehst oder hörst. Schaffst du das?« Bei der letzten Frage grinste er nicht mehr, sondern sah auf einmal merkwürdig angespannt aus. Mike nickte, ebenso ernst. »Ich werde es versuchen.« Dicht hinter Strong drang er weiter in den Wald ein. Der Schnee lag hier seltsamerweise höher als draußen im freien Gelände, sodass Mike bei jedem Schritt bis fast an die Knöchel einsank; noch mehr klebrige nasse Kälte sickerte in seine Stiefel. Gottlob war es nicht sehr weit. Schon nach gut drei Dutzend Schritten erreichten sie eine kleine Lichtung, auf deren gegenüberliegender Seite der schwarze Van stand, den Mike schon von oben durch die Baumwipfel erkannt hatte. Nicht weit dahinter schimmerte es dunkel und nass durch das Unterholz hindurch. Die Straße musste dicht hinter dem Parkplatz des Motels einen weiteren Bogen schlagen und hier entlangführen. Strong bedeutete ihm mit Gesten, zurückzubleiben, sah sich noch einmal sichernd nach allen Seiten um und huschte dann los, die Magnum schussbereit in der rechten Hand. Er erreichte den Van, zerrte kurz (und selbstverständlich vergebens; die Indianer waren ordentliche Killer, die ihren Wagen abschlossen, bevor sie loszogen, um drei arglose Touristen zu erschießen) an der Tür und trat dann an die Motorhaube. Mike konnte nicht genau erkennen, was Strong tat, aber es verging
nur ein kurzer Moment, ehe die schwarz lackierte Klappe aufschwang und Strong sich über den Motor beugte. Nach kaum fünf Sekunden richtete er sich wieder auf und kam zu Mike zurück. Den 44er hielt er immer noch in der rechten Hand. In der linken schwenkte er die herausgerissene Verteilerkappe des Vans. »Na«, fragte er breit grinsend, »war das jetzt so schwierig? Unsere rothäutigen Freunde werden eine böse Überraschung erleben, wenn sie ...« Ein lauter Knall zerriss die Stille. Im ersten Moment hörte es sich gar nicht wie ein Schuss an; eher wie das Brechen eines trockenen Zweiges, auf den der Fuß eines unvorsichtigen Wanderers getreten war. Aber Mike wusste ganz genau, was das Geräusch bedeutete; und sei es nur, weil sich seit ihrer Ankunft in Arizona immer alles zum Schlimmstmöglichen gewendet hatte. Strong fuhr wie elektrisiert zusammen, ließ die Verteilerkappe fallen und wirbelte mit einer fantastisch schnellen Bewegung herum. Seine Magnum kam hoch und entlud sich mit einem dumpfen Knall. Der Indianer, der hinter dem Van aus dem Gebüsch getreten war, warf die Arme in die Luft und wurde zurückgeschleudert. Nahezu im gleichen Augenblick trat seine Frau (und Schwester) auf der anderen Seite des Wagens aus dem Wald und legte ihr Gewehr auf Strong an. Strong und sie feuerten gleichzeitig, so genau, dass die beiden Schüsse wie ein einziger klangen. Die junge Indianerin schien weit daneben gezielt zu haben; Mike konnte keinen Einschuss ausmachen. Dafür traf Strong umso genauer. Die Frau wurde zurückgeschleudert, prallte gegen den Van und sank zitternd auf die Knie, noch am Leben, aber sterbend. Mike hatte nicht vergessen, was Strong über den 44er erzählt hatte. Eine Waffe, mit der man ein Loch in einen Motorblock schießen konnte. Wer von einem solchen Geschoss getroffen
wurde, der hatte keine Chance. »Du ... du verdammter Idiot«, sagte Strong gepresst. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst ... aufpassen.« Er drehte sich um, aber ihm fehlte die Kraft, um die Bewegung ganz zu Ende zu führen. Er sank gegen den Baum, neben dem er gestanden hatte, und glitt zitternd daran zu Boden. Seine linke Hand war gegen den Leib gepresst. Blut lief in Strömen unter seinen Fingern hervor und malte schwarze Spuren auf seine Lederjacke. Als er weitersprach, quoll es auch rot und zähflüssig über seine Lippen. »Du verdammter ... Blödmann. Kannst du denn gar nichts ... richtig machen?« Er brach zusammen. Mike sprang instinktiv vor, um ihn aufzufangen, wich dann aber im letzten Moment und genauso schnell wieder zurück, als ihm klar wurde, dass dieser riesige Mann ihn einfach von den Füßen gerissen hätte. Strong fiel aufs Gesicht, wälzte sich stöhnend herum und hob die Magnum, wie um damit auf ihn zu zielen und ihn für seine Unaufmerksamkeit zu bestrafen. Noch bevor er die Bewegung halb zu Ende gebracht hatte, ließ er den Arm wieder sinken. Mike fühlte sich wie gelähmt. Er hatte noch gar nicht richtig begriffen, was passiert war - er wollte es nicht begreifen, weil es einfach zu schrecklich war! -, aber ganz langsam machte sich ein eiskaltes, lähmendes Entsetzen in ihm breit, schlimmer als alles, was er jemals zuvor gespürt hatte. »Das ... das wollte ich nicht«, stammelte er. »Bitte, das müssen Sie mir glauben! Ich habe nichts gesehen und nichts gehört!« Tatsache war, dass er nicht hingesehen und nicht hingehört hatte. Er war so fasziniert von dem gewesen, was Strong tat, dass er nicht einmal eine Büffelherde gehört hätte, die einen Meter hinter ihm durch den Wald stampfte. Was hatte Strong gesagt? Kannst du denn gar nichts richtig machen? Es war seine Schuld. Seine Schuld. SEINE SCHULD.
Ganz langsam sank Mike vor Strong in die Knie. Der große Mann sah ihn aus Augen an, in denen das Leben bereits im Erlöschen begriffen war. Er zitterte am ganzen Leib. Zwischen seinen Fingern quoll noch immer Blut hervor, das den Schnee unter ihm schwarz färbte. »Es ... es tut mir Leid«, stammelte Mike. »Ich werde einen Arzt rufen. Irgendwo finden wir schon ein Telefon, und ...« »Zu spät«, stöhnte Strong. Seine Stimme war ein grässliches Blubbern, das sich anhörte, als wäre er dabei, an seinem eigenen Blut zu ersticken. Mühsam hob er die Hand und streckte die Waffe in Mikes Richtung, aber diesmal lag nichts Drohendes in der Bewegung. »Nimm ... sie.« Ganz instinktiv griff Mike zu und nahm den 44er in beide Hände. Die Waffe war viel schwerer, als er erwartet hatte. Sie sollte heiß sein, nachdem Strong zweimal damit geschossen hatte, doch das Metall fühlte sich eiskalt an. Und tödlich. Es war eine reine Vernichtungsmaschine, die er da in der Hand hielt, und sie hatte rein gar nichts Beruhigendes an sich. Seine Schuld. Seine Schuld. Seine Schuld. »Und jetzt ... haut ab«, gurgelte Strong. »Haut alle ab. Ihr könnt ... schon im Flugzeug sitzen, bevor jemand merkt, was hier ... passiert ist. Haut ab!« Die beiden letzten Worte hatte er geschrien. Plö tzlich bäumte er sich auf, schrie noch einmal: ein gellender, unartikulierter, durch und durch unmenschlicher Laut voller grauenhafter Pein, in dem Mike aber auch ganz zum Schluss, im letzten, allerwinzigsten Bruchteil einer Sekunde so etwas wie Erleichterung zu hören glaubte. Dann sank Strong in den Schnee zurück und starb. Mike konnte regelrecht fühlen, wie sich etwas Körperloses und ungemein Mächtiges von ihm löste und davonglitt. Er war tot. Tot. Kannst du denn gar nichts richtig machen?
Seine Schuld. Seine Schuld. Seine Schuld. Mike schrie gellend auf, schleuderte die Magnum in hohem Bogen in den Wald und stürmte davon. Er war rücksichtslos durch den Wald gebrochen, ohne auf die Äste und Zweige zu achten, die ihm ins Gesicht peitschten und die Haut zerkratzten. Den Hang war er auf Händen und Knien hinaufgekrochen; vielleicht war er auch ein- oder zweimal gestürzt und wieder ein Stück zurückgeschlittert, er erinnerte sich nicht. Die Realität war endgültig zu einem Albtraum geworden, in dem Zeit keinerlei Bedeutung mehr hatte. Keuchend und am ganzen Leib zitternd, erreichte er das Motel und stürmte hinein. Stefan und Frank hatten natürlich nicht getan, was Strong ihnen befohlen hatte. Statt beim ersten Schuss loszufahren, warteten sie auf ihn, ungeduldig vo n einem Fuß auf den anderen tretend. »Wieso seid ihr noch hier?«, fragte Mike. Er war selbst erstaunt, wie ruhig seine Stimme klang. Hinter seiner Stirn tobte die reinste Panik. Er war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Dennoch war er äußerlich so ruhig, dass er fast selbst vor sich erschrak. »Strong hat doch gesagt, ihr sollt verschwinden, sobald ihr ihn schießen hört.« »Er hat von einem Schuss gesprochen«, sagte Stefan. »Aber es waren mehrere.« »Was ist passiert?«, wollte Frank wissen. »Wo ist Strong?« »Tot«, antwortete Mike. Wieder war er erstaunt, wie glatt ihm dieses Wort über die Lippen ging. Wieso hatte man eigentlich ein so harmloses Wort für eine so grässliche Sache gewählt? »Tot?«, wiederholte Stefan fassungslos. »Was ist passiert?« »Und die Indianer?«, setzte Frank nach. »Die hat es auch erwischt«, antwortete Mike. Oder vielleicht doch nicht? Möglicherweise lebte die Frau ja noch und lag jetzt
dort unten im Wald, schwer verletzt und langsam und qualvoll verblutend. Vielleicht litt sie unerträgliche Schmerzen und bettelte um den Tod, der einfach nicht kommen wollte. Und auch das war seine Schuld. »Strong hat sie erschossen«, fuhr er fort. »Aber vorher haben sie ihn erledigt.« Frank war leichenblass geworden. Er sagt e nichts, sondern starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Richtung, aus der Mike gekommen war, als erwarte er jeden Moment, Strong durch die Tür treten zu sehen. »Bist du sicher?«, fragte Stefan nervös. »Ich meine: Ist er wirklich tot, nicht nur verletzt?« »Er ist tot«, beharrte Mike. »Genau wie die Indianer. Beide.« Sie mussten einfach tot sein. Allerdings hatte er nicht nachgesehen, und seine Erfahrungen mit Sterbenden waren auch nicht gerade zahlreich - bis jetzt. Konnte er sich wirklich sicher sein? Alles andere machte jedoch keinen Sinn. »Was genau ist passiert?«, bohrte Frank nach. »Sie haben sich gegenseitig umgebracht, das ist passiert!«, fuhr Mike in so scharfem Ton auf, dass Frank überrascht blinzelte und instinktiv einen halben Schritt zurückwich. Auch Stefan sah ihn verwirrt an. Mike erkannte, dass er nur deshalb so heftig reagierte, um sich selbst zu überzeugen, um seine eigenen Zweifel auszuräumen. »Sie haben uns aufgelauert«, fuhr er in etwas ruhigerem Ton fort. »Vielleicht haben sie gewusst, dass wir kommen. Ich weiß es nicht. Es ... es ging unglaublich schnell.« »Und der Wagen?«, fragte Stefan. »Habt ihr ihn außer Gefecht gesetzt?« Mike sah ihn fragend an. Er konnte sich nicht erinnern, dass Strong irgendetwas von seinem Vorhaben erzählt hatte, bevor sie das Haus verließen. Aber er konnte sich im Grunde an gar nichts erinnern. In seinen Gedanken herrschte noch immer das reinste Chaos.
»Wer sollte sich jetzt noch hinters Steuer dieses verdammten Vans klemmen, um uns aufzuhalten?« Frank lachte bitter auf. »Wenn Mike Recht hat, hat Strong seinen Job als Superheld zu Ende gebracht, bevor es ihn selbst erwischt hat. Es ist zum Kotzen.« »Heißt das etwa, dass wir ... es geschafft haben?«, fragte Stefan zögernd. »Ganz so würde ich das nicht formulieren«, schnappte Frank. »Hier liegen immerhin vier Tote herum.« Er verbesserte sich. »Fünf. Es ist noch nicht vorbei.« Stefan legte den Kopf auf die Seite und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Du denkst doch nicht etwa daran, auf die Cops zu warten?« Frank schwieg. »Aber das wäre vollkommener Wahnsinn!«, keuchte Stefan. »Wie willst du das hier irgendjemandem erklären?« »Und was willst du dann tun?«, fragte Frank. »Was schon? Wir verschwinden! Plan B. Niemand weiß, dass wir hier waren. Wenn wir es niemandem verraten, dann bringt uns auch niemand mit dieser Schweinerei in Verbindung.« »Immerhin sind hier fünf Menschen gestorben«, sagte Frank. »War das etwa unsere Schuld?« Stefan machte eine zornige Geste. »Strong wollte seinen privaten kleinen Krieg, und den hat er bekommen, basta. Ich denke nicht daran, die Scheiße auszubaden, die er angerichtet hat.« Frank sagte nichts. Man konnte ihm ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Auch Mike schwieg, aber er dachte an die junge Frau, die unten im Wald lag und vielleicht qualvoll verblutete. »Wir verschwinden«, sagte Stefan noch einmal. »Und am besten, bevor noch jemand vorbeikommt und uns fragt, was wir hier machen.« »Meinetwegen«, seufzte Frank. Er sah Mike an. »Und du?«
»Ich habe keine Lust, mich mit einem Staatsanwalt zu unterhalten«, antwortete Mike, »aber ...« »Na, dann ist ja alles klar«, unterbrach ihn Stefan. »Verschwinden wir. Auf der Stelle.« Frank sah Mike nur weiter fragend an. Irgendwie lag die Entscheidung plötzlich bei ihm. Er zögerte; fünf, zehn, fünfzehn endlose Sekunden. Dann nickte er. Wieso hatte er dabei eigentlich das Gefühl, einen entsetzlichen Fehler zu begehen? »Na also«, sagte Stefan. »Wenn es nach mir ginge, würde ich den ganzen Laden anzünden. Wäre kein großer Verlust.« »Kommt nic ht in Frage«, sagte Frank. »Ist dir klar, wie viele Fingerabdrücke wir hinterlassen haben?«, fragte Stefan. »So etwas soll in einem Hotel vorkommen.« Frank schüttelte so entschieden den Kopf, dass Stefan es nicht wagte, seinen Vorschlag zu wiederholen, und drehte sich demonstrativ zur Tür. Stefan warf noch einen Beistand heischenden Blick in Mikes Richtung, aber auch der sah rasch weg und beeilte sich dann, Frank nach draußen zu folgen. Ihre Maschinen standen unversehrt an der Stelle, an der sie sie am vergangenen Abend abgestellt hatten. Schnee bedeckte die Sättel und bildete winzige Verwehungen auf den Lenkern und hinter den Scheiben. Unter Stefans Intruder hatte sich ein hässlicher schwarzer Fleck gebildet, wo Öl aus dem Motor getropft war und den Schnee zusammengeklumpt hatte. Der Anblick gefiel Mike gar nicht. Als Stefan jedoch den Zündschlüssel ins Schloss schob und den Anlasser betätigte, sprang die Intruder auf Anhieb an, und soweit Mike das beurteilen konnte, lief der Motor rund. Mike saß auf, legte probehalber die rechte Hand auf den Lenker und stellte ohne Überraschung fest, dass es vollkommen unmöglich war, die Maschine mit der bandagierten Hand zu lenken. Er begann die Stoffstreifen
abzuwickeln, mit denen Frank seine Hand verarztet hatte. Es tat so weh, wie er erwartet hatte, und den schweren Lederhandschuh überzustreifen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er spürte, wie seine Knöchel wieder zu bluten begannen, als er die Finger krümmte. Es würde ein echter Spaß werden, den Handschuh wieder auszuziehen. Bevor er den Helm aufsetzte, ließ er seinen Blick noch einmal über den Parkplatz schweifen. Der beständig fallende Schnee hatte das Durcheinander aus Reifenspuren schon fast wieder ausgelöscht. Vermutlich würde es höchstens noch eine Stunde dauern, bis auch die Leiche, die auf der anderen Seite im Straßengraben lag, unter einer weißen Decke verschwunden war. Das Heck des riesigen Schneeräumers, das aus der zertrümmerten Wand ragte, war dagegen beim besten Willen nicht zu übersehen. Stefan hatte Recht. Sie mussten machen, dass sie hier wegkamen, bevor sie jemand mit diesem Chaos in Verbindung brachte. Sie fuhren los. Mikes Hand begann wütend zu pochen und tat noch mehr weh, als er sie um den Lenker schloss. Nach den ersten Metern war er fast sicher, die schwere Maschine nicht halten zu können. Als sie die Straße erreichten, wurde es sogar noch schlimmer. Die erste Serpentine bereitete ihm Todesangst. Doch dann zwang er sich gewaltsam, sich an das zu erinnern, was ihm Frank für eine Fahrsituation wie diese geraten hatte: einfach auf das zu hören, was die Maschine wollte und ihrem Willen zu folgen, statt ihr seinen Willen aufzuzwingen. Was konnte ihm schon passieren? Schlimmstenfalls würde er die Kurve verpassen und fünfzig Meter tief auf Felsen stürzen. Im Vergleich zu dem, was ihnen vielleicht bevorstand, wenn die Sache hier schief ging, war das gar keine üble Alternative. Er schaffte es. Die Intruder nahm die enge Kehre so souverän, als wisse sie um den miserablen Zustand ihres Fahrers und hätte sich
vorgenommen, sich um ihn zu kümmern. Mike war immer wieder von der Qualität der Maschine überrascht. Vor ihnen lag jetzt eine lange Gerade. Zur Rechten gähnte der Abgrund, und auf der linken Seite erhob sich ein schmaler Waldstreifen. Irgendwo in seinen nachtdunklen Schatten verborgen, stand der schwarze Van, und nicht weit davon entfernt lagen Strongs Leiche und die der Indianer. Als er die Stelle passierte, hinter der die Lichtung lag, tauchte eine gebückte Gestalt zwischen den Baumstämmen auf. Es war ein alter Mann, der einen Mantel aus langem schwarzem Büffelfell trug und sich schwer auf einen Speer mit einer gewellten Spitze aus Feuerstein stützte. Sein Gesicht war im Schatten des Waldes nicht zu erkennen, aber Mike spürte den Blick seiner unheimlichen Augen wie die Berührung einer warmen, unangenehm trockenen Hand. Lauf, Eindringling, flüsterte die lautlose Stimme hinter seiner Stirn. Einen Herzschlag lang glaubte Mike, das sei ein wohlwollender Rat des Schamanen, der ihm die Chance geben wollte, vor dem Wendigo zu entkommen. Ganz flüchtig erinnerte er sich daran, dass der Alte gesagt hatte: »Ich werde versuchen, dir zu helfen. Aber ich weiß nicht, ob ich es kann. Er ist sehr mächtig.« Doch dann erkannte Mike, dass er Opfer einer kurzen Täuschung geworden war, denn die Stimme des Indianers nahm einen eindeutig gehässigen, boshaften Klang an. Nein, das war nicht der Schamane! Mike begriff, dass er es mit dem Wendigo zu tun hatte. Lauf, so weit du kommst. Wehr dich! Wer weiß, wenn du tapfer genug kämpfst, dann lasse ich dich vielleicht sogar am Leben .... Aber wahrscheinlich nicht. Mike glaubte ein leises, unvorstellbar böses Lachen zu hören; und das gehörte ganz eindeutig nicht dem Schamanen, sondern dem Wendigo. Damit verschwand er. Der Wendigo existiert nicht! Der einzige Ort, an dem er existiert, ist meine eigene Fantasie,
dachte Mike verzweifelt. Der Wendigo konnte ihm nur dann etwas anhaben, wenn er selbst es ihm gestattete, aus dem Gefängnis seiner Gedanken auszubrechen und Wirklichkeit zu werden. Niemals!, dachte er trotzig. Du kannst mir nichts anhaben, alter Mann! Der Wendigo antwortete nicht darauf. Als Mike an ihm vorbeifuhr, geschah etwas viel Entsetzlicheres. Neben der gebückten Gestalt in dem schwarzbraunen Büffelfell erschien eine junge Frau. Sie hatte schulterlanges, schwarz glänzendes Haar, das ihr schönes Mestizengesicht perfekt einrahmte, und trug einen knöchellangen, braunen Ledermantel mit zahlreichen Fransen. Wo ihr Bauchnabel sein sollte, gähnte ein faustgroßer, blutiger Krater. Mike wusste ganz genau, dass auch sie nicht echt war, sondern ebenso eine Ausgeburt seiner Fantasie wie der Wendigo. Dieses Wissen nutzte ihm jedoch rein gar nichts, um das Grauen zu bekämpfen, das ihr Anblick in ihm auslöste oder ihre Stimme, die hinter seiner Stirn flüsterte: Kannst du denn gar nichts richtig machen, du Dummkopf? Ein trockenes Schluchzen kam über seine Lippen. Ohne auf die Schmerzen in seiner rechten Hand zu achten oder auch nur einen Gedanken an die spiegelglatte Straße unter den Reifen der Intruder zu verschwenden, riss er den Gashebel nach hinten und beschleunigte mit aller Gewalt. * So schnell sie in den Winter hineingefahren waren, so rasch ließen sie ihn wieder hinter sich. Der Schneesturm, der ohnehin schon zu einem fast verspielten Gestöber abgeklungen war, blieb nach wenigen Minuten hinter ihnen zurück, und als sie die Stelle erreichten, an der sich die alte Pass-Straße mit der neuen vereinte, war der Asphalt unter ihnen bereits frei von
Schnee; nur rechts und links der Straße gab es noch einige weiße Flecken. Es war noch nicht wirklich warm, die Kälte, die oben am Pass geherrscht hatte, war jedoch deutlich zurückgegangen. Bald würde ihnen die Sonne wieder einheizen. Vermutlich würde es sogar unerträglich heiß werden, noch bevor sie den Gebirgszug ganz hinter sich gelassen hatten. Frank hatte bei ihrem Aufbruch im Monument Valley erwähnt, dass die Interstate 15 von Utah kommend knappe dreißig Meilen durch Arizona führte, bevor sie quer durch den südlichsten Zipfel Nevadas schnitt. Aber solche Details waren Mike im Augenblick herzlich egal. Wichtig war nur, dass sie auf direktem Weg nach Nevada unterwegs waren. Jenem Staat, mit dem die meisten nur Las Vegas mit seinen Spielhöllen und Millionen glitzernder Lichter in Verbindung brachten, der aber vor allem aus Wüste, unfruchtbarem Fels, Hitze und noch mehr Wüste bestand. Mike interessierte sich weder für Kasinos noch für Wüstenattraktionen wie den Valley of Fire. Für ihn zählte nur, dass Vegas über einen internationalen Flughafen verfügte, von dem ständig Flüge nach Europa gingen. Wenn sie einen davon erwischten, wenn sie unbeanstandet durch die Passkontrolle kamen, wenn der Wendigo sie ziehen ließ ... Doch im Grunde seines Herzens glaubte Mike nicht daran, dass sie auch nur bis Nevada kommen würden. Sie folgten der stark gewundenen Straße erst durch eine dicht bewaldete Gegend, die Mike entfernt an den Schwarzwald erinnerte, um dann wieder in die für den mittleren Westen so typische Landschaft aus roten Felsen und spärlicher Vegetation vorzustoßen. Das Drive- in, von dem Strong gesprochen hatte, ließen sie kommentarlos hinter sich, und als sich die drei Intruder mit gleichmäßig brummenden Motoren weiter nach Südwesten bewegten und das Staatsschild mit der Aufschrift ARIZONA passierten, gestattete es sich Mike trotz seiner
schlechten Vorahnungen, den Griff seiner verkrampften Finger etwas zu lockern und innerlich aufzuatmen. Die größte Gefahr war möglicherweise überstanden, und Frank hatte selbstverständlich Recht: Selbst wenn das Drama oben am Pass jetzt schon entdeckt worden war, würde die Polizei Stunden brauchen, um sich auch nur ein Bild von der Lage zu verschaffen. Möglicherweise würden sie nicht einmal merken, dass es außer Strong und den toten Indianern noch weitere Mitspieler in diesem grausigen Stück gegeben hatte. Und selbst wenn, so würde noch einmal - möglicherweise sehr viel mehr - Zeit vergehen, bevor sie die Spuren richtig ausgewertet hatten und die Suche nach ihnen begannen. Sogar wenn die drei Freunde sich nicht besonders beeilten, würden sie Las Vegas bis dahin längst erreicht haben. Sie waren praktisch schon in Sicherheit. * Oder doch nicht? Irgendwie ahnte Mike, dass sie es nicht schaffen würden. Ein Gefühl von Endgültigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, das mit jeder Meile stärker wurde, die sie zurücklegten. Nein, der Wendigo würde ihn nicht gehen lassen! Da half kein Schönreden der Welt ... Mike registrierte im Rückspiegel, wie Stefan aus der kleinen Kolonne ausschwenkte. Er zog mit seinem Motorrad neben ihn und deutete auf den Tank. Mike nickte übertrieben, um Stefan zu zeigen, dass er verstanden hatte. Ein gutes Stück vor ihnen war eine Tankstelle in Sicht gekommen. Sie hatten alle drei noch ausreichend Sprit, aber sie waren hier nicht auf einer deutschen Autobahn, wo man in regelmäßigen Abständen mit einer Tankstelle rechnen konnte. Jetzt mit leerem Tank irgendwo in der Wüste liegen zu bleiben - möglicherweise lange genug, bis ein Streifenwagen vorbeikam, der eine Routineüberprüfung ihrer Kennzeichen vornahm -, war so
ungefähr das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Stefan fiel zurück, um seinen Platz in der Kolonne wieder einzunehmen. Nur wenige Minuten später rollten sie hintereinander an die Tanksäule. Sie bedienten sich alle drei aus demselben Zapfhahn, wie üblich, und als Frank als Letzter fertig war, zog er seine Brieftasche heraus und deutete gleichzeitig auf das kleine Restaurant, das zu der Tankanlage gehörte. »Wartet dort auf mich«, sagte er. »Ich zahle nur schnell.« »Ich würde lieber gleich weiterfahren«, sagte Mike, aber Frank schüttelte so entschieden den Kopf, dass völlig klar war, wie sinnlos jeglicher Widerspruch sein würde. »Wir haben jetzt seit gut zwanzig Stunden nichts mehr gegessen und getrunken«, sagte er, »und nur sehr wenig geschlafen. Wir brauchen eine Pause. Wartet dort auf mich.« Es lohnte sich nicht, die Maschinen zu starten. Sie schoben sie die wenigen Meter bis zum Restaurant, und Stefan ging noch einmal zurück, um auch Franks Intruder zu holen. Mike betrat mittlerweile schon den kleinen Holzbau. Einrichtung und Ambiente entsprachen so sehr allen anderen Raststätten und Drive- ins, an denen sie vorbeigekommen waren, dass er sich schon gar nicht mehr die Mühe machte, sich wirklich umzusehen. Die Dinger mussten irgendwo in einer Fabrik in Asien am Fließband hergestellt werden - und alle in der gleichen Gussform. Er schlurfte zu einem x-beliebigen Tisch, klappte die Speisekarte auf und stellte fest, dass sie ebenfalls vom gleichen Fließband zu kommen schien. Hamburger und Chicken. Dennoch lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und sein Magen knurrte hörbar. Frank hatte auch diesmal wieder Recht gehabt: Sie waren seit annähernd einem Tag unterwegs und auf den Beinen, ohne eine vernünftige Mahlzeit oder mehr als einen Schluck Wasser zu sich genommen zu haben. Ihre Körper verlangten mittlerweile mit Nachdruck ihr Recht. Wenn sie es ihnen noch lange verweigerten, würden sie
die Quittung dafür vielleicht im unpassendsten aller Augenblicke bekommen. Eine junge Bedienung kam, einen Notizblock in der Hand und ein el icht gestresst wirkendes Lächeln auf dem Gesicht. Sie kam Mike irgendwie bekannt vor, und er überlegte einen Moment, wo er sie vielleicht schon einmal gesehen hatte, bevor er begriff, dass es in der geheimnisvollen Fabrik in Südostasien, in der all die Burger Kings, Kentucky Fried Chickens, Dennis und McDonald’s hergestellt wurden, wahrscheinlich auch ein Fließband für Kellnerinnen gab. Er schüttelte den Kopf, machte gleichzeitig eine abwartende Geste und deutete durch das Fenster zu den drei Motorrädern hinaus, die nebeneinander vor dem Imbiss abgestellt waren. Von Stefan war nichts zu sehen. Mike nahm an, dass er zu Frank zurückgegangen war. »Later«, sagte er. Die Kellnerin ging zwar kommentarlos, warf allerdings noch einen schrägen Blick auf seine Hand, und als Mike dasselbe tat, erschrak er leicht. Er hatte den Handschuh ausgezogen. Ganz gegen seine Erwartung hatte es fast überhaupt nicht wehgetan. Dennoch: Die Hand sah schlimm aus. Die Knöchel waren fast schwarz verfärbt, die gesamte Hand zu einem unförmigen Klumpen angeschwollen. Die Verletzung war nicht besonders schlimm, auch wenn sie dramatisch aussah, aber die Kellnerin würde sich ganz bestimmt daran erinnern. Drei Typen auf Motorrädern, von denen einer eine Verletzung hatte, die ganz eindeutig aus einer Schlägerei stammte. Warum machten sie nicht gleich Fotokopien ihrer Pässe und deponierten sie beim Tankwart? Frank und Stefan kamen zurück und nahmen auf der anderen Seite des billigen Plastiktisches Platz. Stefan langte wortlos nach der Speisekarte, während Frank sein Bargeld durchzählte. Mike beobachtete ihn besorgt. »Wie viel Geld hast du noch?«, fragte er.
»Nicht mehr viel«, antwortete Frank. »Das ist nicht gut. Wenn wir Geld am Automaten abheben ...« Mike seufzte, hob die Schultern und machte dann eine resignierende Geste. »Also esst etwas Billiges, okay?« »Ihr seid eingeladen«, drang Stefans Stimme hinter der aufgeklappten Speisekarte hervor. »Ich habe noch zweihundert. Mehr als genug, um nach Las Vegas zu kommen.« Er winkte der Kellnerin, und sie bestellten: Frank einen doppelten Cheeseburger mit einer großen Portion Pommes frites, Stefan gleich ein Dutzend Pfannkuchen mit einer Extraportion Speck. Mike begnügte sich mit einem Schinkensandwich. Nicht um Geld zu sparen, sondern weil er keinen Appetit mehr hatte. Sein Magen knurrte nach wie vor, aber er war ziemlich sicher, dass er schon diese wenigen Bissen würde herunterwürgen müssen. Er hätte sich überhaupt nicht zu einer Bestellung durchgerungen, hätte ihm nicht sein Verstand gesagt, dass er etwas essen musste. Sie warteten, bis die Kellnerin gegangen und sie wieder allein waren, dann sagte Frank: »Ich habe einen Blick auf die Umgebungskarte draußen auf dem Parkplatz geworfen. Ihr habt ja sicherlich mitgekriegt, dass wir hier in Arizona sind - aber das ist nur ein kleines Stück ...« »Ich weiß«, unterbrach ihn Mike. »Die Interstate geht von Utah über einen kleinen Arizona-Zipfel nach Nevada runter.« Frank blinzelte. »Stimmt. Das Entscheidende aber ist, dass die Staatsgrenze von Nevada praktisch direkt vor unserer Nase liegt. Wir brauchen bloß noch die 15 direkt bis nach Vegas runterzudonnern. Wenn nichts dazwischenkommt, sind wir in zwei, drei Stunden in unserem Hotel.« »In welchem Hotel?«, fragte Mike. »Im Bally’s«, antwortete Frank. »Genau in dem, das wir gebucht haben.« »Bist du wahnsinnig?«, fragte Mike. »Das ...« »... habe ich mir ganz genau überlegt«, unterbrach ihn Frank.
»Wir spielen weiter die harmlosen Touristen. Ich glaube kaum, dass uns jemand fragt, sollte es aber doch geschehen, dann haben wir den neuen Pass genommen, nicht den alten. Ansonsten sind wir genau der Strecke gefolgt, die wir auch wirklich gefahren sind.« »Dann können wir ja auch wieder unsere Kreditkarten benutzen«, stellte Stefan fest. »Nein«, widersprach Mike mit einem Nachdruck, der ihn selbst überraschte. Stefan runzelte die Stirn. »Und warum nicht?« »Die Zeit«, sagte Mike. Stefan blickte ihn fragend an. Auch Frank schien nicht zu begreifen, worauf er hinauswollte. »Die Bedienung in diesem Best Western auf der anderen Seite des Berges wird sich wahrscheinlich an uns erinnern«, fuhr Mike fort. »Wenn wir irgendwo zwischen hier und Las Vegas unsere Karten benutzen, dann kann jeder noch so begriffsstutzige Dorfpolizist feststellen, dass wir eine ganze Nacht in den Bergen waren.« »Und du meinst, niemand sonst erinnert sich an uns?«, fragte Stefan. »Wenn sie in zwei Stunden nach uns fragen, bestimmt«, antwortete Mike. »Aber in zwei Wochen? Oder in einem Monat? Wir zahlen in bar und unterschreiben keine Quittungen. In ein paar Wochen kann niemand mehr genau sagen, ob wir heute hier waren, gestern oder morgen.« »Das wird mir langsam zu kompliziert«, sagte Stefan. Er klang ehrlich verwirrt. Frank hob die Schultern. »Ich habe auch nicht viel Erfahrung in solchen Dingen«, antwortete er, und mit einem leicht verunglückten, unsicheren Lachen fügte er kurz darauf hinzu: »Wahrscheinlich machen wir uns zu viele Sorgen. Wie ich diesen Strong einschätze, ist er garantiert vorbestraft. Wenn die Polizei seine Leiche findet und die der beiden Ind ianer ...« Er
unterbrach sich und sah Mike stirnrunzelnd an. »Du bist sicher, dass sie sich gegenseitig erschossen haben?« »Ich hab’s jedenfalls nicht getan!«, sagte Mike scharf. Frank hob mit gespieltem Schrecken die Hände. Die Verwirrung, mit der er Mike ansah, war allerdings echt. »Schon gut, nicht gleich schlagen! Ich wollte nur sichergehen, dass sie wirklich tot sind!« »Das sind sie«, sagte Mike. Aber waren sie das wirklich? Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht sicher sein. Er sah die junge Indianerin deutlich vor sich, die zwischen den Bäumen stand und ihr Leben in den Schnee vergoss. Was, wenn sie immer noch lebte? »Das sind sie«, sagte er noch einmal. Er kam sich selber vor wie ein trotziges kleines Kind, das glaubte, seine Worte einfach nur oft genug wiederholen zu müssen, um sie wahr werden zu lassen. »Dann werden sich die Cops ihren Teil dabei denken«, sagte Frank. »Vielleicht bringen sie uns gar nicht damit in Verbindung.« Die Kellnerin kam und brachte ihre Getränke. Nachdem die nächste Zwangspause verstrichen war, nippte Frank an seiner Cola, runzelte plötzlich die Stirn und deutete mit einer Kopfbewegung auf Mikes Hand. »Das sieht übel aus. Kannst du sie bewegen?« »Kein Problem.« Um seine Behauptung zu beweisen, ballte Mike die Rechte ruckartig zur Faust. Der Schmerz trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Er beherrschte sich, so gut es ging, aber er spürte selbst, dass er ein leichtes Zusammenzucken nicht ganz unterdrücken konnte. Frank blieb ernst. »Mit so etwas ist nicht zu spaßen. Wir sollten versuchen, einen Arzt zu finden.« »Prima Idee«, sagte Stefan. »Passt vor allem so gut zu deinem Plan, finde ich. Ärzte führen Karteikarten, soweit ich weiß. Falls sie nicht sogar in dieser Wildnis schon an ein
Computernetz angeschlossen sind, das sofort Alarm schlägt.« »Es ist wirklich nicht so schlimm«, sagte Mike rasch. »Es tut weh, aber ich kann fahren.« Nur um das Thema zu wechseln, wandte er sich an Frank. »Wir sind gleich in Nevada, sagst du?« »Stimmt«, bestätigte Frank. »Wir müssen noch einmal über einen Pass - keine Angst. Kein Eis. Nicht einmal Schnee - und dann haben wir es geschafft. Von da aus geht es einfach nur geradeaus.« Mike hörte, wie die Tür aufging und jemand hereinkam. Er unterdrückte den Impuls, erschrocken herumzufahren. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er aufmerksam auf die Schritte lauschte. Sie klangen schleppend; schwerfällig. Als hätte der Neuankömmling Mühe, sich auf den Beinen zu halten und zu gehen. Obwohl seit ihrer Bestellung nur wenige Augenblicke vergangen waren, kam die Kellnerin und lud den Tisch mit Tellern und Schüsseln voll. Stefan und Frank begannen sofort und mit sichtlichem Appetit zu essen - Stefan schlang regelrecht, so ausgehungert war er -, während Mike das Sandwich anstarrte, als wäre es etwas unvorstellbar Ekelhaftes, das er allerhöchstens herunterwürgen konnte, wenn sein Leben davon abhinge; und vielleicht nicht einmal dann. Der neu eingetroffene Gast trat hinter ihnen an die Theke und gab seine Bestellung auf. Mike verstand die Worte nicht, hörte jedoch, dass es ganz bestimmt kein Englisch war. Er drehte sich noch immer nicht herum, aber er sah eine verschwommene Spiegelung in der Fensterscheibe hinter Frank: einen schlanken, hellbraunen Schatten mit schwarzem Haar, das bis über die Schultern herabfiel. Vielleicht eine junge Frau in einem Fransenmantel, die in einem uralten Indianerdialekt redete. »Warum isst du nicht?«, erkundigte sich Frank. »Gleich«, antwortete Mike. Er griff noch immer nicht nach
dem Sandwich, nicht nur, weil er keinen Appetit hatte und allein der Anblick des Schinkenbrotes schon einen spürbaren Brechreiz in ihm auslöste. Hätte er die Hände nicht mit aller Kraft in den Schoß gepresst, hätte jeder gesehen, wie heftig sie zitterten. Das heißt, vielleicht sah man es sogar, denn Frank ließ seine Gabel sinken und fragte besorgt: »Ist dir schlecht?« »Nein, verdammt noch mal!«, antwortete Mike wütend. »Hört endlich auf, mich zu bemuttern. Ich bin kein Kleinkind mehr!« »Du benimmst dich aber so«, sagte Frank liebenswürdig, senkte allerdings hastig den Blick und konzentrierte sich wieder auf sein Essen. Stefan runzelte die Stirn, mehr nicht. Er war klug genug, sich jeden Kommentar zu verkneifen. Mike zwang sich nun doch, mit beiden Händen nach dem Sandwich zu greifen und abzubeißen. Es schmeckte ungefähr so, wie es aussah, und er musste sich mit aller Macht zwingen, den Bissen gründlich zu kauen und hinunterzuschlucken. Hinter ihm erklang ein helles Lachen - eindeutig das Lachen einer Frau. Stefan sah kurz von seinem Teller auf und blickte an Mike vorbei zur Theke. Für eine Sekunde hörte er auf zu kauen, und für einen noch viel kürzeren Moment erschien ein überraschter Ausdruck auf seinem Gesicht - noch kein wirklicher Schrecken, aber doch etwas, das schon verdammt nahe daran grenzte. Mike konnte ganz deutlich sehen, wie er sich selbst in Gedanken eine Frage stellte und die mögliche Antwort als vollkommen unsinnig abtat. Sein Herz begann heftiger zu schlagen. Der zweite Bissen, auf dem er gerade kaute, blieb ihm buchstäblich im Halse stecken. Etwas in ihm zwang ihn, sich umzudrehen. Er wollte es nicht. Es gab nichts auf der Welt, was er in diesem Moment weniger wollte, aber er war vollkommen unfähig, den Impuls zu unterdrücken. Er drehte sich auf dem Stuhl herum und starrte zur Theke.
Dort stand die Indianerin. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, sodass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, doch es gab nicht den leisesten Zweifel. Sie trug einen hellbraunen Ledermantel mit zahllosen Fransen. Das glatte, lackschwarze Haar reichte ihr weit bis in die Mitte des Rückens. Die linke Hand hatte sie lässig auf die Theke gestützt, die andere musste sie wohl gegen den Leib gepresst haben, in dem sinnlosen Bemühen, die klaffende Wunde zu stopfen. Vor ihr tropfte das Blut auf den Boden und bildete eine schwarze, dampfende Lache, die allmählich um die mit Messing beschlagenen Spitzen ihrer Cowboystiefel floss. Mike stieß einen würgenden, halb erstickten Laut aus, den sowohl Stefan als auch Frank gehört haben mussten, denn er konnte spüren, wie sie im Essen innehielten und ihn erschrocken ansahen. Auch die Indianerin war aufmerksam geworden, denn sie nahm die Hand von der Theke und drehte sich langsam zu ihm um. Wenn sie diese Bewegung beendet haben würde, würde er sterben, das wusste Mike. Er würde den Anblick ihres zerfetzten Körpers nicht noch einmal ertragen. Er würde sterben, oder sein Verstand würde zerbrechen wie ein trockener Ast unter dem Tritt eines wütenden Riesen. Nein, er würde es nicht ertragen, erneut mit dem konfrontiert zu werden, was er angerichtet ha tte - nur weil er einfach nicht fähig war, irgendetwas richtig zu machen. Die Indianerin drehte sich ganz herum. Mike starb nicht, noch zerbrach sein Verstand, denn die Indianerin war gar keine Indianerin, sondern ein stämmig gebauter Bursche von vielleicht vierzig Jahren, der ihn stirnrunzelnd ansah. Sein schwarzes Haar war in Wahrheit ein dunkelblau und schwarz gemustertes Halstuch, das er zu einem Dreieck gefaltet hatte, und er trug auch keine Fransenjacke, sondern einen beigefarbenen Staubmantel, wie man ihn manchmal in alten Western sah. In der rechten Hand hielt er eine Kaffeetasse, aus
der er einige Tropfen auf den Boden vor sich verschüttet hatte. »Was ist los?«, fragte Frank. Es klang alarmiert. Mike reagierte nicht. Der Fremde starrte ihn an. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Er sagte etwas - immer noch kein Englisch, aber auch ganz bestimmt kein zweitausend Jahre alter Anasazi- Dialekt -, doch Mike verstand ihn nicht. Er hätte ihn vermutlich nicht einmal dann verstanden, wenn er im reinsten Hochdeutsch mit ihm gesprochen hätte. Mike schüttelte langsam den Kopf. Er begann den Verstand zu verlieren, so einfach war das. Das waren keine bösen Streiche mehr, die ihm seine Fantasie da spielte. Das war etwas Schlimmeres! Er merkte nicht, wie seine Hände das Sandwich zerquetschten, oder wie Speichel, vermischt mit zerkauten Weißbrotresten, aus seinem Mundwinkel lief und am Kinn heruntertropfte. Er konnte nicht mehr zwischen Trugbildern und Realität unterscheiden. Geschichten wie diese hatte er Zeit seines Lebens geschrieben, und nun hatten sie ihn eingeholt. Er bekam die Rechnung für etwas präsentiert, das er bis jetzt als ein Geschenk betrachtet hatte. Er verlor tatsächlich den Verstand. Hier und jetzt - und ohne diesem Vorgang Einhalt gebieten zu können. »Was ist los mit dir?«, fragte Frank noch einmal. Mike konnte hören, wie er aufstand. Der Fremde verzog leicht angewidert das Gesicht, wandte sich mit einem Ruck zurück zur Theke und sagte etwas in seinem Kauderwelsch zu der Bedienung, die dahinter stand und mit einem abfälligen Lachen antwortete. Frank kam mit zwei schnellen Schritten um den Tisch herum und packte Mike grob an der Schulter. »Mike!« Mike riss sich mit einer furchtbaren Kraftanstrengung vom Anblick des Fremden los, starrte erst auf seine Finger, die das Schinkensandwich zu einem unappetitlichen Brei zermanscht hatten, und dann auf Frank. Was er in dessen Augen erblickte, war mehr als Sorge.
»Was, um Gottes willen ... ?« Mike wich so heftig zurück, dass sein Stuhl umkippte. Aus einem bizarren Ordnungsbedürfnis heraus drehte er sich mitten in der Bewegung noch einmal um und warf das zerquetschte Sandwich auf den Teller. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Lokal, so schnell er konnte. Die Bedienung rief ihm etwas nach - vermutlich sorgte sie sich um die Rechnung -, aber er hörte gar nicht hin, sondern warf die Tür hinter sich zu und rannte mindestens ein Dutzend Schritte weit, bevor er stehen blieb. Erst jetzt kehrte wieder genug Ordnung in seine Gedanken ein, um sich an die Motorräder zu erinnern, die direkt vor dem Imbiss standen. Er drehte sich schwer atmend um und ließ seinen Blick gehetzt über den Platz schweifen. Er war beinahe alleine. An den Zapfsäulen stand nur ein einzelner Wagen, dessen Fahrer, den Schlauch mit dem Zapfha hn in der Rechten haltend, mitten in der Bewegung erstarrt war und verdutzt in seine Richtung blickte. Auch der Tankwart in seinem gläsernen Aquarium verrenkte sich fast den Hals, um herauszubekommen, was da vor sich ging; und was gerade drinnen im Restaurant über Mike geredet wurde, wollte er lieber gar nicht erst wissen. Es spielte auch keine Rolle. Nicht, wenn er den Rest seines Lebens sowieso in einer Gummizelle verbringen würde. Der Gedanke war so bizarr, dass er leise und hysterisch auflachte. Vielleicht wurde er ja wirklich verrückt. Vielleicht war er es schon. Und? Sagte man nicht, dass Verrückte selbst am wenigsten unter ihrem Zustand leiden, weil sie gar nicht wissen, dass sie bekloppt sind? So ganz schien das nicht zu stimmen ... Mike schloss die Augen und ballte die rechte Hand zur Faust. Es tat weh, aber das sollte es, und statt seinen Griff zu lockern, verstärkte er ihn nur noch, bis ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb und ein gedämpftes Stöhnen über seine Lippen
zwang. Schmerz war gut. Schmerz war etwas Reales, an dem er sich festhalten konnte, um nicht den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren. Er drückte zu, bis er es nicht mehr aushielt. Als er schließlich die Finger streckte und die Augen wieder öffnete, ging es ihm besser. Der Wahnsinn war vielleicht nicht besiegt, aber er zog sich zumindest für den Augenblick zurück, widerwillig spuckend und fauchend, wie eine gereizte Katze, die außer sich darüber war, die schon sicher geglaubte Beute wieder loslassen zu müssen; nicht besiegt, aber geschlagen. Der Krieg ging weiter, Mike hatte nur diese eine Schlacht gewonnen. Sein rasender Puls beruhigte sich allmählich, dafür begann sein Herz nun zu schmerzen; dünne, tief gehende heiße Stiche, die jeden einzelnen Schlag begleiteten. Er ignorierte es. Die beiden anderen waren hinter ihm aus der Tür getreten. Frank bezahlte mit einer Hand die Kellnerin, die ihm herausfordernd den Weg verstellt hatte. Sie war nicht allein, sondern hatte Verstärkung mitgebracht; in Form des Fremden mit dem Staubmantel, der hinter Stefan und Frank in der Tür stand, scheinbar in lockerer Haltung, jedoch bereit, einzugreifen, sollten die beiden Rocker auf Ärger aus sein oder die Zeche prellen wollen. Frank beachtete weder ihn noch die Kassiererin, die sich mit zornigen Bewegungen aus den hingehaltenen Banknoten selbst bediente. Er schien in eine hitzige Diskussion mit Stefan verstrickt, bei der es ganz offensichtlich um Mike ging. Stefan deutete mehrmals auf Mike und schüttelte immer wieder aufgebracht den Kopf. Frank reagierte mit wütend entschlossenen Gesten. So viel zu Franks Idee, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Bevor sie noch mehr Aufsehen erregen konnten (Ha, ha! Wie denn?), ging Mike mit schnellen Schritten zu seinem Bike zurück und stieg auf. Stefan unterbrach seinen Streit mit Frank, der der Bedienung einen weiteren Zehner als Trinkgeld hinhielt, den sie mit einer ärgerlichen Geste annahm, und trat
auf Mike zu. »Warte, Mike«, sagte er. »Wir müssen dir etwas ...« »Nicht jetzt!« Mike startete die Intruder und ließ den Motor aufheulen, um Stefan das Wort abzuschneiden. »Aber es ist wichtig!«, sagte Stefan. Er streckte die Hand aus, um Mike zurückzuhalten, aber dieser schob die Maschine bereits mit einem Tritt rückwärts aus der Lücke zwischen den beiden anderen Motorrädern heraus. »Jetzt nicht!«, sagte er noch einmal. »Ich muss hier weg!« Er rammte rücksichtslos den Gang hinein und fuhr so schnell los, dass Stefan sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit bringen musste, um nicht umgefahren zu werden. Mike war sicherlich schon drei oder vier Kilometer weit gefahren, bevor ihn die beiden anderen einholten. Franks Maschine tauchte als Erste in seinen Rückspiegeln auf, ein grell funkelnder Stern, denn Frank hatte alle drei Scheinwerfer voll aufgeblendet. Obwohl er zweifellos mit Vollgas fuhr, dauerte es noch eine geraume Weile, bis er zu Mike aufgeschlossen hatte. Mike rechnete fast damit, dass er wild gestikulieren oder auf irgendeine andere Weise versuchen würde, ihn zum Anhalten zu bewegen - was er vermutlich sogar getan hätte, denn er hatte sich mittlerweile wieder einigermaßen beruhigt. Weit genug jedenfalls, um sich selbst einzugestehen, dass er sich wie ein Idiot benommen hatte. Frank beließ es jedoch dabei, sich neben ihn zu setzen und ihn mit einem langen, misstrauischen Blick zu mustern. Alles wieder in Ordnung? Mike antwortete mit einem Nicken. Auf eine weitere Lüge mehr oder weniger kam es nun wirklich nicht mehr an. Frank maß ihn mit einem zweiten, noch misstrauischeren Blick, ließ sich aber ein Stück zurückfallen und setzte sich hinter ihn. Nach einer Weile schloss auch Stefan zu ihnen auf. Anders als Frank überzeugte er sich nicht davon, ob Mike okay war, und vermied es sogar, mit Frank in Blickkontakt zu treten.
Mike nahm an, dass die beiden nicht so lange zum Aufholen gebraucht hatten, weil er so schnell gefahren war, sondern weil es einen handfesten Streit zwischen ihnen gegeben hatte. Es war mittlerweile noch wärmer geworden - noch immer nicht richtig heiß, das würde erst kommen, wenn sie die Staatsgrenze überschritten hatten. Der Wüstenstaat begann nicht von ungefähr dort, wo die Sonne unbarmherzig vom Himmel knallte. Hätte Mike gewusst, wo er seine Sonnenbrille hingesteckt hatte, hätte er sie jetzt aufgesetzt. Aber er erinnerte sich nicht. Er war nicht sicher, ob er sich überhaupt an irgendetwas erinnerte. Die Bilder in seinem Kopf erschienen ihm fast zu bizarr. Hatte er wirklich all das erlebt, was er erlebt zu haben glaubte? Vielleicht lag er ja noch immer auf der kleinen Sandinsel in der Mitte des ausgetrockneten Flusses in der Nähe des Hogans, in der er auf ihrem ersten Tourenabschnitt zusammenge brochen war, und fantasierte. Vielleicht hatte er sich ja im Wahn alles eingebildet, was danach geschehen war: begonnen mit dem unheimlichen Gefühl in dem Hogan, von etwas Altem, Mächtigem bedroht zu werden, über den Motorradunfall kurz darauf, bei dem er den Indianerjungen erwischt hatte - der laut Strongs Aussage zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war. Und vielleicht war auch der Show-down in den Bergen nichts weiter als eine Ausgeburt seiner Fantasie gewesen, während er in Wirklichkeit durch einen Herzanfall niedergeworfen worden war. Doch so leicht war es nicht! Sie folgten der Interstate ein paar monotone Meilen durch eine stetig trostloser werdende Landschaft, die sich allmählich zur staubtrockenen Wüste wandelte, bis sie auf den Pass stießen, von dem Frank gesprochen hatte. Er entpuppte sich als bessere Anhöhe, die sie unter anderen Umständen kaum zur Kenntnis genommen hätten. Als sie sich der von Felsen eingerahmten Höhe näherten,
tauchte ein Wagen im Rückspiegel auf. Er kam rasch näher, was bedeutete, dass er unvorschriftsmäßig schnell fuhr. Mike sah alarmiert auf den Tachometer, kurz nachdem er die beiden blauen und roten Blinklichter auf dem Dach bemerkte. Er hatte nicht auf das Tempo geachtet, aber sie fuhren nur knapp fünfzig Meilen und somit noch ein gutes Stück unter der höchstzulässigen Geschwindigkeit. Der Wagen holte immer rascher auf, wurde dann aber langsamer und setzte sich ein kurzes Stück hinter Stefan. Mike spürte für einen winzigen Moment Erleichterung, bevor er sich daran erinnerte, dass sie hier nicht in Deutschland waren, wo die Polizei ihre Opfer überholte, um sie anzuhalten, sondern in den USA, wo Streifenwagen traditionell hinter den Verkehrssündern zurückblieben. Das Rotlicht begann noch nicht zu zucken, aber der Streifenwagen machte auch keine Anstalten, zum Überholen anzusetzen. Hinter ihm betätigte Frank den Blinker. Mike sah kurz nach vorne. Unmittelbar vor der Hügelkuppe gab es einen kleinen Parkplatz, den Frank wahrscheinlich ansteuern wollte. Mike nahm Gas weg, blinkte ebenfalls und registrierte mit wachsender Besorgnis, wie auch der Streifenwagen hinter Stefan langsamer zu werden begann. Musste er nicht wenigstens einmal kurz die Sirene aufheulen lassen? Wahrscheinlich nicht. Als sie auf den Parkplatz einschwenkten, sah es für einen schrecklichen Moment wirklich so aus, als würde auch das Patrol Car hinter ihnen auf den asphaltierten Halbkreis fahren. Dann aber rollte der Wagen langsam, fast schon im Schritttempo, an ihnen vorbei. Mike erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Fahrers, schmal, markant und mit einer verspiegelten Sonnenbrille, die ihn beunruhigend an das Modell erinnerte, das Strong getragen hatte. Ganz langsam rollte der Wagen an ihnen vorüber, beschleunigte dann jäh und verschwand mit quietschenden Reifen hinter der Hügelkuppe.
Frank hielt unmittelbar neben ihm an, während Stefan ein gutes Stück entfernt aus dem Sattel stieg. Die Spannung zwischen ihnen war fast mit Händen zu greifen. »Das war knapp«, murmelte Frank. Er sah immer noch aus zusammengekniffenen Augen in die Richtung, in der der Streifenwagen verschwunden war. »Für eine Minute war ich fast sicher, dass er uns anhalten würde.« »Vielleicht nur eine Routinekontrolle«, murmelte Mike. Frank bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick, stieg vom Motorrad und machte etwas von seinem Lenker ab. »Hier«, sagte er. »Das hast du im Restaurant vergessen.« Er reichte Mike Helm und Handschuhe, der beides bisher noch nicht einmal vermisst hatte. »Mittlerweile gilt in den USA übrigens auch Helmpflicht«, sagte Frank säuerlich. »Nur, falls du dich wunderst, warum er so neugierig geschaut hat. Wahrscheinlich hatten wir Glück, und er hat in einer halben Stunde Feierabend oder so was.« »Das tut mir Leid«, sagte Mike. »Entschuldige. Ich ...« Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. Der Ärger in seinen Augen erlosch. »Geschenkt«, sagte er. »Ist mit dir wieder alles in Ordnung?« »Es geht schon«, antwortete Mike. »Ich ... entschuldige. Ich habe mich benommen wie ein Idiot.« »Stimmt«, sagte Frank. »Aber das hätte ich an deiner Stelle wahrscheinlich auch.« Mike war nicht nach Herumalbern zumute. »Es war einfach zu viel für mich«, gestand er. »Tut mir Leid. Ich habe wohl schlappgemacht.« »Ich finde, dass du dich bis jetzt erstaunlich gut gehalten hast«, antwortete Frank. In seiner Stimme lag ein seltsamer Ton, den Mike nicht zu deuten wusste. »Besser als ich erwartet hätte, wenn ich ehrlich bin. Trotzdem: Packst du es noch?« »Was?«, fragte Mike.
Statt direkt zu antworten, drehte sich Frank um und ging die paar Schritte zur Straße zurück. Anscheinend wollte er ihm irgendetwas zeigen. Mike ging ihm nach. Stefan taxierte sie vom anderen Ende des Parkplatzes aus mit finsteren Blicken, doch dann gab er sich einen Ruck und gesellte sich ebenfalls zu ihnen. Der Streifenwagen war mittlerweile schon eine gute Meile entfernt, vielleicht mehr, ein winziger, blau-weißer Punkt am Fuße einer größer werdenden Staubwolke. Vo r ihm verlief die Straße noch drei oder vier Meilen weit wie mit einem Lineal gezogen geradeaus, bevor sie einen scharfen Neunzig- GradKnick vollführte, hinter dem sich eine Ansammlung niedriger Häuser erhob, die merkwürdigerweise nicht direkt an der Interstate, sondern ein beträchtliches Stück abseits lag. Mike war nicht ganz sicher, ob man diese Ansammlung schon einen Ort nennen konnte. »Sanora«, sagte Frank. »Ich erinnere mich dunkel, dass mir mal jemand etwas über dieses Nest erzählt hat.« »Irgendetwas, das für uns wichtig sein könnte?«, fragte Mike lahm. Frank zuckte mit den Schultern. »Früher war Sanora mal so etwas wie eine Grenzstadt, bis zum Ausbau der Interstate - und vor allem, bis vor zwanzig Jahren ein Vegas-Millionär auf der anderen Seite, in Mesquite, ein Riesen-Kasino hingeklotzt hat. Seitdem ist hier tote Hose.« »Und?« »Wir können auch quer durch die Wüste fahren«, mischte sich Stefan ein. »Von hier aus sind es nur noch ein paar Meilen bis Nevada.« Er deutete nach links. Nur ein Stück entfernt gab es tatsächlich eine schmale, ungeteerte Straße, die im rechten Winkel in die Wüste hineinführte, ehe sie in unbestimmter Entfernung mit dem monotonen Graubraun ihrer Umgebung verschmolz. Vielleicht führte sie nach Sanora, vielleicht endete
sie tatsächlich irgendwann einfach im Nichts. Gewundert hätte es Mike nicht. »Das ist nicht sehr viel weiter. Ein bisschen anstrengender, aber dafür auch ungefährlicher. Die paar Kojoten, die dort leben, werden uns kaum nach unserem Alibi fragen.« Mike dachte kurz über diesen Vorschlag nach. Es klang logisch. Allein bei dem Gedanken, die Maschine über diese ausgefahrene Holperstrecke zu steuern, lief es ihm jedoch kalt über den Rücken. Selbst wenn er noch die Energie dazu gehabt hätte, seine Hand würde diese Qual bestimmt nicht durchstehen; und die mitgenommenen Maschinen vielleicht auch nicht. Das dort unten war Wüste. Nicht annähernd so heiß wie die rote Hölle, in der sie gestern losgefahren waren, aber dennoch Wüste, und es ging auf Mittag zu. Wenn sie dort unten liegen blieben, dann hatten sie echte Probleme. »Lieber nicht.« »Machst du schlapp?«, fragte Stefan. Frank sah ihn böse an, aber Stefan hob rasch die Hand und kam einer scharfen Bemerkung zuvor. »Falsche Formulierung, entschuldige«, sagte er. »Ich meine es ernst. Wenn du nicht mehr kannst, fahre ich vor und checke die Lage. Nur um sicherzugehen, dass uns dort unten keine böse Überraschung erwartet. Dieser neugierige Sheriff hat mir gar nicht gefallen, wisst ihr?« Dabei tauschte er einen Blick mit Frank, der Mike überhaupt nicht gefiel. Er war jetzt ganz sicher, dass die beiden sich heftig gestritten hatten. Und dass es bei diesem Streit um ihn gegangen war. »Unsinn«, sagte er rasch. Das Letzte, was er wollte, war, dass sich die beiden seinetwegen in die Haare gerieten. »Das letzte Stück schaffe ich auch noch. Kommt!« Er drehte sich mit einer demonstrativ schwungvollen Bewegung um.
»Bringen wir es hinter uns.« * Sanora eine Grenzstadt zu nennen, wäre tatsächlich übertrieben gewesen, selbst wenn sie unmittelbar an der Grenze gelegen hätte. Schon der Name war der blanke Größenwahn. Das Schild kurz vor dem Ortseingang gab seine Einwohnerzahl mit zweihundertachtundachtzig und seine Höhe mit knapp sechszehnhundert Fuß über dem Meeresspiegel an, aber mindestens 200 dieser 288 Einwohner schienen wohl im Moment in Urlaub zu sein. Der Rest hielt anscheinend Siesta. Die drei Freunde sahen höchstens ein halbes Dutzend Wagen, während sie in die »Stadt« hineinfuhren, und nicht eine Menschenseele. Sandra lag wie ausgestorben da, eine Geisterstadt, die direkt einem Internet-Geheimtipp für Individualurlauber entsprungen zu sein schien. »Schön ruhig«, schrie Frank Mike zu, während sie nebeneinander zwischen den einfachen, ausnahmslos eingeschossigen Gebäuden hindurchfuhren. »Fast ein bisschen zu ruhig, wie?« Genau das fand Mike auch. Dass ausgerechnet Frank seine Befürchtungen aussprach, bewog ihn jedoch dazu, den Gedanken hastig zu vertreiben. In der Tat, die Stadt war menschenleer, aber das lag an der Zeit, mehr nicht. Sanora war nun wirklich keine Touristenmetropole. Die wenigen Einwohner, die aus irgendeinem Grund noch nicht aus diesem Kaff am Ende der Welt fortgezogen waren, verdienten entweder gerade ihre Brötchen oder verdösten die heißesten Stunden des Tages irgendwo im Schatten. Bestenfalls standen sie hinter den Gardinen, um einen Blick auf die drei Irren zu werfen, die in die Wüste hinausfuhren, um sich braten zu lassen. Nichts war hier außergewöhnlich - außer vielleicht
dieser sonderbaren »Stadt« selbst. Das mit Abstand größte Gebäude war die einfache, weiß gestrichene Holzkirche, die sich genau in der Ortsmitte und im Zentrum eines winzigen Parks befand. Um die bunt blühenden Blumenrabatten und Sträucher zu versorgen, musste die Stadt wahrscheinlich die Hälfte ihrer Wasservorräte aufbringen. Sie trafen auch weiterhin auf keine Menschenseele, aber als sie Sanora verließen und die Straße eine weitere NeunzigGrad-Kurve beschrieb, um auf ihre Ursprüngliche Route zurückzukehren, sahen sie den Streifenwagen wieder. Er stand mit zuckendem Blaulicht quer auf der Fahrbahn. Der Cop mit der verspiegelten Sonnenbrille, den Mike vorhin hinter dem Steuer gesehen hatte, hatte sich hinter den Kotflügel gekauert, beide Arme auf die Motorhaube aufgestützt und zielte mit einem Gewehr auf sie. Mike trat so hart auf die Bremse, dass die Maschine schlingerte und auszubrechen drohte, bevor sie mit protestierend kreischenden Hinterreifen zum Stehen kam. »Ach du heilige Scheiße!«, entfuhr es Frank. »Das ist jetzt aber wirklich etwas übertrieben.« Er hatte unmittelbar neben ihm angehalten, allerdings nicht annähernd so spektakulär. Auch Stefan brachte seine Maschine zum Stehen - zumindest für einen kurzen Moment. Noch während Mike versuchte, sich überhaupt darüber klar zu werden, was hier ge schah, gab Stefan Gas, ließ die Intruder mit durchdrehendem Hinterrad auf der Stelle herumkreiseln und jagte los. Er kam nicht besonders weit. Die Straße hinter ihnen war nicht mehr leer. Ein zweiter Mann in kurzärmeligem Hemd und mit dem breitkrempigen Hut der Highway Police dieses Staates war aus einem der Gebäude getreten. Auch er hielt ein Gewehr in den Armen, mit dem er zwar nicht direkt auf sie zielte, das er aber eindeutig schussbereit hielt. Er kam Mike auf sonderbare Art bekannt vor. Dieses Gefühl der Verwirrung hielt jedoch nur so lange an, bis ihm klar wurde, woher es
stammte: Er trug die gleiche Art verspiegelter Sonnenbrille wie sein Kollege, der hinter dem Streifenwagen kniete. Stefan brachte die Maschine mit einem Ruck zum Stehen, der ihn um ein Haar das Gleichgewicht gekostet hätte. »Freeze!«, rief der Cop. Mike tauschte einen verwirrten Blick mit Frank. »Was?« »Das heißt ungefähr so viel wie: Keine Bewegung, oder ich ballere euch den Schädel weg«, antwortete Frank gepresst. »Ich glaube, er will, dass wir die Hände hochheben.« * Das Büro war winzig, und obwohl draußen gleißender Sonnenschein herrschte, wirkte es düster und beengt. Die Gardine vor dem Fenster war zurückgezogen, die Luft so stickig und verqualmt, dass das Atmen schwer fiel. Das mochte an der umgedrehten Radkappe liegen, die der Besitzer dieses Büros als Aschenbecher zweckentfremdet hatte; sie quoll vor Kippen nahezu über. Zu allem Überfluss zündete sich der Mann mit der verspiegelten Sonnenbrille, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß, eine weitere filterlose Zigarette an und blies eine Rauchwolke in Richtung seiner Gefangenen. Frank hustete demonstrativ, und auch Mike verspürte ein leises Ekelgefühl. Seltsam - man hätte erwarten sollen, dass der Anblick Mikes Gier auf eine Zigarette zu reiner Weißglut entfachen würde, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Frank hustete abermals, und Stefan begann wütend an den Handschellen zu zerren, mit denen er an der Heizung unter dem Fenster festgekettet war. Auch Mike stemmte kurz die Arme gegen die Handschellen, mit denen seine Handgelenke hinter den Rücken gebunden waren. Anders als Stefan hatte man Frank und ihn nicht an die Heizung gekettet. Das lag wohl kaum daran, dass der Sheriff Stefan für gefährlicher hielt: An den Heizkörpern war einfach
nicht genug Platz für drei Mann. Mike glaubte nicht wirklich, dass er die stählerne Fessel irgendwie lockern könnte. Im Grunde riss er nur daran, um sich davon zu überzeugen, dass sie real waren und nicht etwa nur ein weiteres Trugbild, das der Dämon aus seinem Unterbewusstsein geschickt hatte, um ihn zu quälen. Ihr Gegenüber nahm einen weiteren, tiefen Zug aus seiner Zigarette und streckte gleichzeitig den Arm aus, um nach ihren Pässen zu greifen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Er hatte bisher weder auf eine ihrer Fragen geantwortet noch von sich aus ein Wort gesprochen, während er und sein Kollege sie mit vorgehaltenen Gewehren hierher gebracht hatten. »Ihr seid also Touristen«, sagte er, nachdem er die Pässe der Reihe nach zur Hand ge nommen und in aller Ausführlichkeit durchgeblättert hatte. »Aus Deutschland. Ost oder West?« Mike war nicht ganz sicher, was ihn mehr überraschte - der Umstand, dass der Sheriff sie in fließendem Deutsch angesprochen hatte, oder die Frage, die er stellte. * »Das gibt es nicht mehr«, antwortete Frank. »Was?« »Ost- oder Westdeutschland«, antwortete Frank. »Die Mauer ist gefallen. Die DDR existiert nicht mehr.« »Tatsächlich?« Der Sheriff klappte den letzten Pass zu und warf ihn auf den Tisch zurück. »Ist das schon lange her? Wir sind hier ein bisschen weit weg vom Schuss, wie man bei Ihnen sagt. Manchmal dauert es eine Weile, bis Neuigkeiten zu uns durchdringen.« Da er noch immer die verspiegelte Sonnenbrille trug, konnte Mike nicht sagen, ob der Mann sie auf den Arm nehmen wollte oder ob er es wirklich ernst meinte. Wenn er schauspielerte, dann jedenfalls gut.
»Es ist schon ziemlich lange her«, antwortete Frank, ebenfalls auf Deutsch. »Was zum Teufel soll das alles hier? Wieso sind wir verhaftet? Wer sind Sie überhaupt?« »Mein Name ist Bannermann«, antwortete der Mann mit der Spiegelbrille. »Sheriff Bannermann.« »Bannermann?« Es gelang Mike nicht ganz, den überraschten Klang seiner Stimme zu unterdrücken. »Wie der Sheriff in Cujo, der Ärger mit einem tollwütigen Bernhardiner hat?« Das Ergebnis seiner Frage war nicht unbedingt so, wie er es sich vorgestellt hatte. Bannermann setzte sich mit einem Ruck auf und nahm die Zigarette aus dem Mund. »Ganz recht, Arschloch«, sagte er scharf. »Und bevor du dich ganz um Kopf und Kragen redest: Alle Scherze über meinen Namen sind bereits gemacht, und nur die wenigsten davon sind halbwegs gut. Sollte ich diesen Blödmann aus Maine jemals in die Finger bekommen, sperre ich ihn höchstpersönlich in meine kleinste Arrestzelle und zwinge ihn, den Schlüssel zu schlucken. Und für jede dumme Bemerkung, die ich mir anhören musste, darf er den Schlüssel einmal ausscheißen, bevor ich ihn wieder laufen lasse.« »Entschuldigung«, sagte Mike. »Ich war einfach nur überrascht.« »Entschuldigung angenommen.« Bannermann griff abermals nach seinem Pass und sah hinein. »Michael.« »Mike«, antwortete Mike. »Niemand nennt mich Michael.« Bannermann sog nachdenklich an seiner Zigarette und klappte den Pass zu. Er behielt ihn in der Hand. »Was bist du von Beruf, Michael?« Er sprach es sogar richtig aus, nicht »Meikel«, wie man es von einem Amerikaner erwartet hätte. »Fotograf«, antwortete Mike. Nach dem, was Bannermann gerade über den Verrückten aus Maine gesagt hatte, erschien es ihm wenig ratsam, seinen wirklichen Beruf zu nennen. »Dann seid ihr aus beruflichen Gründen hier?«, fragte
Bannermann. »Auf Safari, sozusagen?« »Urlaub«, sagte Frank rasch. »Wir sind nur auf Urlaub hier, das ist alles.« Bannermann wandte ihm fast widerwillig seine Aufmerksamkeit zu. »Hier rede nur ich unaufgefordert.« »Einen Moment!«, empörte sich Stefan. »So geht das nicht! Wir haben gewisse Rechte.« Er zerrte erneut und diesmal noch wütender an den Handschellen, sodass der gesamte Heizkörper zitterte. »Entweder Sie sagen uns, was Sie uns vorwerfen, oder Sie lassen uns mit einem Anwalt sprechen.« Bannermann nahm die Sonnenbrille ab und schob sie in die Brusttasche seines kakifarbenen Hemdes, direkt unter den auf Hochglanz polierten Stern. Mikes Pass behielt er immer noch in der Hand. »Ihr Jungs habt zu viele Hollywood-Filme gesehen«, sagte er lächelnd. »Was eure Rechte angeht: Ihr habt keine. Kerle wie ihr seid hier nicht besonders beliebt, wisst ihr?« »Wir haben nichts Verbotenes getan«, sagte Frank. »Wenn das stimmt, dann braucht ihr ja auch keinen Anwalt«, antwortete er. Stefan wollte abermals auffahren, aber Frank brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen. »Hören Sie, Sheriff Bannermann«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Ich bin sicher, dass es sich nur um ein Missverständnis handelt, das wir ganz schnell aufklären können.« »So, glaubst du das?«, fragte Bannermann. Er hatte schmale, tückische Augen, die noch schmaler wurden, während er Frank anstarrte. »Ja, das glaube ich«, bestätigte Frank. »Wenn Sie uns einfach nur sagen würden, weshalb wir hier sind, können wir bestimmt alles aufklären.« »Weshalb ihr hier seid?« Bannermann drückte seine Zigarette in der überquellenden Radkappe aus und zündete sich praktisch sofort eine neue an. »Aber das hast du doch gerade schon selbst gesagt. Ihr macht Urlaub.«
»Ich meine, hier in Ihrem Büro«, sagte Frank. »Mit Handschellen.« »Das wird sich zeigen«, sagte Bannermann. Er lehnte sich zurück. Sein altersschwacher Bürostuhl ächzte. Er ging nicht so weit, die Füße auf den Schreibtisch zu legen, aber so, wie er dasaß, machte das keinen großen Unterschied. »Ihr macht also Urlaub in den USA. Drei verwöhnte reiche Nichtstuer aus Europa, die hierher kommen, um einmal richtig die Sau rauszulassen, wie?« »Wir machen Urlaub, das stimmt«, sagte Frank. Es klang frostig, aber Frank hütete sich, Bannermann noch deutlicher zu korrigieren. »Dann braust ihr mit euren Motorrädern also nur so durch die Gegend, ohne bestimmtes Ziel?« »Wir wollen nach Las Vegas«, antwortete Mike. »Und wo wart ihr gestern?« »Irgendwo in der Nähe des Zion National Parks«, antwortete Frank, bevor Mike etwas Falsches sagen konnte. »Ich weiß nicht mehr genau, wie es hieß, aber ich kann es Ihnen beschreiben.« »Da bin ich sicher«, sagte Bannermann. »Vom Zion National Park nach Las Vegas. Wo seid ihr denn auf die Interstate gestoßen?« »Auf die 15?« Frank tat so, als überlege er. »Irgendwo vor der Staatsgrenze nach Arizona. So genau weiß ich es nicht mehr. Wir sind von einem Schneesturm überrascht worden und hatten alle Hände voll zu tun, uns überhaupt durchzuschlagen.« Bannermann beugte sich ein Stück vor. »Also habt ihr den Pass genommen?« Zu sagen, dass diese Frage Mike alarmierte, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Er war mehr als froh, dass Frank das Gespräch an sich gerissen hatte. »Ja«, antwortete Frank. »Den alten oder den neuen?«
»Wie meinen Sie das?« Frank war ein miserabler Schauspieler. Man sah ihm deutlich an, dass er mit dieser Frage nur Zeit gewinnen wollte. »Die alte Pass-Straße oder die neue«, beharrte Bannermann. »Das weiß ich nicht«, sagte Frank. »Die, die in unserer Karte eingezeichnet ist. Gibt es denn noch eine andere?« »Wie sah es dort oben aus?«, fragte Bannermann. »Ich meine: Ist euch irgendetwas aufgefallen? Irgendetwas Besonderes?« »Ich fürchte, ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden, Sheriff«, sagte Frank. »Wir haben uns allerdings auch nicht besonders aufmerksam dort oben umgesehen. Dazu war es zu kalt.« »Das ist schade«, antwortete Bannermann. »Ihr habt was verpasst. Der Pass ist wunderschön. Umso bedauerlicher, wo ihr doch Urlaub macht und bestimmt ein paar schöne Eindrücke mit nach Hause nehmen wollt.« »Kälte und Motorradfahren vertragen sich schlecht.« Frank versuchte mit den Schultern zu zucken, aber seine hinter dem Rücken zusammengebundenen Hände hinderten ihn daran. »Sie sehen ja selbst: Wir haben keine Winterausrüstung dabei. Um ehrlich zu sein, wir sind froh, es überstanden zu haben.« »Schlechte Vorbereitung.« Bannermann nickte. »Das ist schon so manchem zum Verhängnis geworden.« »Mir reicht das jetzt allmählich«, sagte Stefan. »Entweder Sie sagen uns jetzt, was Sie uns vorwerfen, oder Sie lassen uns laufen! Das müssen Sie!« Bannermann seufzte. Er sah aus wie jemand, der eigentlich wütend werden wollte, aber nicht sicher war, ob es die Sache auch wirklich wert war. »Wenn du so viel weißt, Schlaumeier«, sagte er schließlich, »dann solltest du auch wissen, dass ich euch vierundzwanzig Stunden lang festhalten kann, bevor ich Anklage erhebe.« »Anklage?«, echote Stefan.
»Weswegen?«, wollte Frank wissen. »Oh, das wird sich zeigen«, antwortete Bannermann. »Wir sind hier auf dem Land, Freunde, vergesst das nicht. Wir brauchen manchmal eben ein bisschen länger, als ihr es vielleicht gewohnt seid. Aber dafür sind wir umso gründlicher.« Er steckte sich die qualmende Zigarette in den Mundwinkel, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich so weit zurück, dass er eigentlich mit seinem Stuhl hätte umkippen müssen. »Euch ist also nichts Besonders aufgefallen«, sagte er. »Ihr habt auch niemanden getroffen, nehme ich an? Zum Beispiel einen anderen Motorradfahrer?« »Einen anderen Biker?« Frank schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« »Das wundert mich«, sagte Bannermann. »Wisst ihr, ihr dürft keinen falschen Eindruck von mir bekommen. Ich habe nichts gegen Motorradfahrer. Im Gegenteil. Ein guter Freund von mir fährt ebenfalls Motorrad. Nicht so einen japanischen Schrott wie ihr, sondern eine Harley. Sie würde euch gefallen. Eine total verrückte Kiste. Vollkommen verchromt. Mein Freund ist regelrecht vernarrt in die Kiste. Er steckt fast sein gesamtes Geld in seine Maschine.« Er kippte wieder mit seinem Stuhl nach vorne, nahm die Arme herunter und sah abwechselnd von einem zum anderen. Mike konnte nicht sagen, wie gut er sich selbst in der Gewalt hatte, aber Stefan war sichtbar blass geworden. Franks Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. »Deshalb frage ich auch, wisst ihr«, fuhr Bannermann fort. »Mein Freund treibt sich oft dort oben in den Bergen herum. Er donnert gerne mit seiner Maschine durch den Schnee - wie gesagt, er ist ein bisschen verrückt. Seid ihr sicher, dass ihr ihn nicht gesehen habt?« »Ganz sicher«, antwortete Frank. »Sie haben es ja gerade selbst gesagt: So ein Motorrad wäre
uns ganz bestimmt aufgefallen.« »Schade«, sagte Bannermann. »Aber auch das wird sich zeigen.« Er sah auf die Uhr. »Schon so spät. Es wird Zeit für meine Streife, fürchte ich. Aber wir können unsere kleine Unterhaltung ja später noch fortsetzen.« »Und was wird mit uns?«, fragte Frank. »Ich fürchte, den Luxus eines HOLIDAY INN oder BEST WESTERN kann unsere Arrestzelle nicht bieten«, antwortete Bannermann. »Aber bisher hat sich noch niemand wirklich beschwert.« Er stand auf und trat vom Schreibtisch zurück nur, um gleich darauf so zu tun, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Nur noch eine Kleinigkeit«, sagte er. »Wir brauchen natürlich noch eure Fingerabdrücke.« »Fingerabdrücke?«, fragte Mike nervös. »Wozu?« »Reine Routine«, antwortete Bannermann. »Nur keine Sorge. Das hat gar nichts zu bedeuten. Und es tut überhaupt nicht weh.« Zumindest das war gelogen. Bannermann ging zur Tür, um seinen Deputy hereinzurufen, der sie mit einem entsicherten Schrotgewehr in Schach hielt, während Bannermann ihnen nacheinander die Fingerabdrücke abnahm. Er hatte entweder wenig Erfahrung darin, oder er war ein Sadist, denn er presste ihre Finger mit solcher Kraft auf das Stempelkissen, dass selbst Frank einen Schmerzlaut nicht unterdrücken konnte. Mike dagegen wurde vor Schmerz richtig übel, als er an der Reihe war und Bannermann seine verwundete rechte Hand packte natürlich ohne die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen. Als die gesamte Prozedur vorüber war, wurden sie in die Arrestzelle gebracht. Genau genommen waren es drei nebeneinander liegende, nur durch Gitter getrennte Zellen, die zusammengenommen nicht
einmal so groß waren wie Bannermanns Büro. Die gesamte Einrichtung bestand aus einer schmalen Metallpritsche. Es gab weder eine Waschgelegenheit, noch eine Toilette und in jedem der drei Verschläge nur ein schmales, vergittertes Fenster. Es war stickig und so heiß, dass man kaum atmen konnte. Mike wurde in die mittlere der drei Zellen verfrachtet, Frank und Stefan in die beiden anderen. Obwohl die Zellen, in die Bannermanns Deputy sie unsanft hineinstieß, Schnappschlösser hatten, hörten sie deutlich, wie auch noch die Tür von draußen verriegelt wurde. »Dieser Bannermann schient ja einen höllischen Respekt vor uns zu haben«, sagte Stefan spöttisch. Er rüttelte prüfend an den Gitterstäben. »Mich wundert es fast, dass er keinen Schützenpanzer aufgestellt hat, der uns in Schach hält.« »Sieh doch mal aus dem Fenster«, murmelte Frank. »Vielleicht steht er ja draußen im Hof.« Stefan drehte sich tatsächlich um und stieg auf seine Pritsche, um aus dem Fenster zu blicken, während Frank seufzend den Kopf schüttelte. »Bannermann«, murmelte er. »Glaubst du, dass dieser Name wirklich echt ist, Mike? Mike?« Mike antwortete nicht. Er hatte sich auf seine Pritsche sinken lassen und presste die Hand an sich. Sie tat nicht einmal mehr besonders weh, aber ihm war übel. »Was ist los mit dir?«, fragte Frank. »Nichts«, behauptete Mike. »Ich brauche nur ein paar Minuten Ruhe und ein paar Tonnen Eis zur Kühlung, das ist alles.« »Da draußen steht kein Schützenpanzer«, sagte Stefan von der anderen Seite aus. »Nur ein alter Abschleppwagen, das ist alles.« Er lachte albern. »Wenn wir eine Kette hätten, könnten wir sie um die Gitterstäbe binden und die ganze Wand rausreißen. Ihr wisst schon - wie echte Outlaws in einem Western.« »Hör mit dem Quatsch auf.« Franks Stimme klang besorgt.
»Mit Mike stimmt etwas nicht.« »Blödsinn!« Mike richtete sich mit einem Ruck wieder auf. Prompt wurde ihm noch schlechter - und schwindelig dazu. Trotzdem fuhr er fort: »Mir fehlt gar nichts. Und du hast Recht. Dieser Bannermann ist ein ganz schräger Vogel. Der Kerl hat einen gehörigen Knall, wenn du mich fragst.« Er wischte sich demonstrativ den Schweiß von der Stirn. Er war kalt. »Allein diese Bude hier grenzt an Folter. Es würde mich interessieren, gegen wie viele Menschenrechtskonventionen sie verstößt.« »Sobald wir hier raus sind, knöpfe ich mir diesen Kerl vor«, drohte Stefan. »Hinterwäldler oder nicht, auch hier gelten schließlich ein paar Gesetze.« Er blickte missmutig auf seine Hände herab und versuchte, sich die schwarze Tusche herunterzurubbeln. Natürlich gelang es ihm nicht. Er verschmierte die Tinte nur und machte es damit noch schlimmer. Überflüssig zu erwähnen, dass Bannermann ihnen keine Gelegenheit gegeben hatte, sich zu waschen. »Das hier gefällt mir nicht«, sagte er. »Wieso unsere Fingerabdrücke? Das hat doch nichts mit Routine zu tun.« »Vielleicht will er sie ja mit irgendetwas vergleichen?«, schlug Frank vor. »Ach, und womit?« Stefan wurde blass. »Das Motel.« »Zum Beispiel.« »Ich hätte die Bude doch abfackeln sollen«, stöhnte Stefan. »Ist dir klar, dass sie von unseren Fingerabdrücken nur so wimmelt?« »Man kann feststellen, dass wir da waren«, antwortete Frank beruhigend. »Nicht wann. Wir haben nichts angefasst, was uns mit Strong und den Indianern in Verbindung bringt. Das ist doch so, oder?« Stefan nickte, aber Mike starrte ihn nur an. Er konnte selbst spüren, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. »Oder?«, fragte Frank noch einmal. Er klang beunruhigt,
gelinde gesagt. »Die ... die Waffe«, murmelte Mike. Großer Gott, er hatte es vergessen. Bei allem, was passiert war, hatte er es schlichtweg vergessen. »Was für eine Waffe?«, fragte Frank alarmiert. »Strongs 44er«, antwortete Mike. »Du ... du hast sie angefasst?« Stefan sog hörbar die Luft ein. »Du Idiot hast sie doch nicht etwa angefasst?« »Als er zusammengebrochen ist, da hat er sie mir gegeben. Ich ... ich habe sie sofort weggeworfen!« »Und da liegt sie jetzt noch«, sagte Stefan. »Mit deinen Fingerabdrücken drauf! Du Idiot hast sie nicht einmal abgewischt?« »Beruhige dich«, sagte Frank. »Es hat wahrscheinlich den ganzen Tag weiter geschneit. Sie ist längst wieder sauber. Außerdem - wenn ich mich recht erinnere, hat nicht nur Mike sie in den Händen gehabt, Stefan. Du hast sogar einen Schuss daraus abgegeben. Hast du sie danach abgewischt?« Stefan schien ihm gar nicht zuzuhören. »Verdammt noch mal, ist euch eigentlich klar, was es bedeutet, wenn die Bullen die Waffe schon gefunden haben?« »Zuerst einmal gar nichts«, antwortete Frank. »Wenn sie nach uns suchen würden ...« »Was sie selbstverständlich nicht tun«, unterbrach ihn Stefan höhnisch. »Dieser Bannermann hat uns bestimmt nur rein zufällig aufgehalten. Und er hat uns auch ganz bestimmt nur auf Strong angesprochen, weil er sich mit uns über Motorräder unterhalten wollte.« »Das nicht, aber ...« »Meine Fingerabdrücke sind bestimmt nicht mehr auf dem Colt zu identifizieren, so wie Strong mit der Waffe zum Schluss umgesprungen ist.« Stefan deutete zornig auf Mike. »Anders in seinem Fall. Dieser Trottel hatte den Revolver noch nach Strong in den Händen. Da hätte er gleich seine
Visitenkarte hinterlassen können ...« »Nun mach mal einen Punkt«, unterbrach ihn Frank ärgerlich. »Mike hat doch nichts anderes getan als du!« »Ach ja? Aber verstehst du denn gar nicht den kleinen Unterschied?« Stefan lachte heiser auf. »Dank dieses ... dieses Helden liegt dort oben im Wald eine Waffe - die er ja bloß hätte mitnehmen, säubern und dann irgendwo wegschmeißen müssen! -, mit der drei Menschen erschossen worden sind. Eine Waffe mit seinen Fingerabdrücken drauf! Bist du so blöd, oder weißt du tatsächlich nicht, was das bedeutet, Frank? Wir sind erledigt, und diesmal endgültig!« »Nein, sind wir gar nicht«, widersprach Frank. Er klang nicht annähernd so überzeugend, wie er es offensichtlich beabsichtigt hatte. »Mike hat Recht, weißt du? Irgendetwas stimmt mit diesem Bannermann nicht. Wenn sie wirklich Bescheid wüssten, warum wimmelt es dann hier nicht von FBI-Beamten?« »Keine Ahnung«, sagte Stefan. »Aber vielleicht sind sie ja schon auf dem Weg hierher. Warum sollte uns Bannermann wohl sonst hier einsperren?« »Ich weiß nicht«, antwortete Frank. »Aber sobald er wieder zurückkommt, werde ich ihn danach fragen.« Es dauerte lange, bis sich die Gelegenheit dazu ergab. Im Laufe des Nachmittags stiegen die Temperaturen in den winzigen Zellen langsam, aber unerbittlich an, bis sie alle drei das Gefühl hatten, in der Uralt-Version einer Mikrowelle eingesperrt zu sein. Zweimal kam Bannermanns Deputy herein, um ihnen etwas zu Trinken zu bringen. Sie verlangten hartnäckig, den Sheriff zu sprechen, aber der Deputy reagierte nicht, als wäre er plötzlich nicht nur des Deutschen, sondern auch seiner eigenen Muttersprache nicht mehr mächtig. Bannermann selbst kam erst wieder zurück, als es schon beinahe dämmerte. Er trug noch immer seine verspiegelte Sonnenbrille. In der linken Hand schwenkte er lässig einen
halbmeterlangen Schlagstock aus Hartgummi. Mit ihm kam sein Deputy herein, ohne Sonnenbrille, dafür aber wieder mit seinem Schrotgewehr, das er in der Armbeuge trug wie eine treu sorgende Mutter ihr Baby. Er lehnte sich damit lässig neben der Tür an die Wand. »Das wurde aber auch Zeit!« Stefan sprang von seiner Liege hoch. »Was soll der Unsinn hier? Wollen Sie uns umbringen? In diesem Rattenloch hält man es doch keine Stunde lang aus!« »Das tut mir Leid«, sagte Bannermann kühl. »Ich musste ein paar Telefonate führen. Ferngespräche. Deshalb hat es auch etwas länger gedauert.« »Bitte, Sheriff, wir sind wirklich nicht mehr in der Stimmung für Scherze«, sagte Frank. »Haben Sie schon einmal einen ganzen Tag in diesem Backofen gesessen?« »Nur in meinem Streifenwagen«, antwortete Bannermann. »Aber das ist fast genauso schlimm. Die Klimaanlage ist kaputt, und bis hier mal was repariert wird, dauert es manchmal Monate. Die ständigen Etatkürzungen, ihr versteht? Aber wer weiß - vielleicht kann ich mir ja bald einen Neuen leisten.« »Ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist!«, verlangte Stefan. »Verdammt, Bannermann, überspannen Sie den Bogen nicht. In diesem Kaff hier mögen Sie ja vielleicht eine große Nummer sein, aber sobald wir erst einmal hier raus sind, sieht die Sache anders aus.« »Ach?«, fragte Bannermann. Er nahm die Sonnenbrille ab. »Ja, ach!«, fuhr ihn Stefan an. »Stellen Sie sich vor, Bannermann, sogar wir wissen, wie es hier in den Staaten läuft. Die Anwälte sind doch ganz versessen darauf, den Staat zu verklagen! Wollen Sie Ihrer vorgesetzten Dienststelle vielleicht erklären, warum Sie jedem von uns zehn Millionen Dollar Schmerzensgeld zahlen muss?« Bannermann sagte nichts. Er sah Stefan nachdenklich an, dann klappte er die Sonnenbrille zusammen und setzte dazu an, sie in die Brusttasche hinter seinen Sheriffstern zu stecken,
machte dann jedoch auf dem Absatz kehrt und reichte sie seinem Deputy. »Ihr seid also ganz sicher, dass euch oben am Pass nichts aufgefallen ist?«, fragte er, während er mit der linken Hand in die Tasche griff und einen Schlüsselbund herauszog. »Das ist komisch, wisst ihr? Ich sagte ja, ich habe ein bisschen telefoniert. Unter anderem auch mit meinen Kollegen aus dem Nachbarbezirk. Es hat da eine ziemliche Schweinerei gegeben, oben in den Bergen. Genaues weiß ich noch nicht, aber sie haben wohl ein paar Tote gefunden. Und eine Waffe mit ein paar hübschen Fingerabdrücken drauf.« Er hatte den passenden Schlüssel gefunden und trat auf die Zellentür zu - auf die Tür zu Franks Zelle, nicht zu der Stefans. Das Klimpern des Schlüsselbundes mischte sich mit dem Geräusch, mit dem der Deputy seine Pumpgun durchlud. Frank stand langsam auf. Er wirkte nicht wirklich beunruhigt, aber deutlich angespannt. »Worauf genau wollen Sie hinaus, Sheriff?« Bannermann öffnete die Tür und trat in die Zelle. Sie war kaum groß genug, um ihnen beiden Platz zu bieten. Der Anblick wirkte fast schon lächerlich. Frank überragte ihn um fast zwanzig Zentimeter und war deutlich breitschultriger. Die beiden sahen aus wie ein Lehrer und ein Sextaner, der vor die Klasse zitiert worden war, um seine Sünden einzugestehen. »Worauf ich hinauswill, ist die Frage, was wohl passiert wäre, wenn mein Faxgerät nicht zufällig heute Morgen den Geist aufgegeben hätte«, sagte Bannermann. »Wisst ihr, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, meinen Kollegen die Fingerprints durchzufaxen, die ich heute Mittag von euch genommen habe.« Er seufzte. »Faxgeräte kann man reparieren, aber es gibt da noch ein Problem.« Er rammte Frank den Schlagstock in den Leib. Frank ächzte, brach in die Knie und rang würgend nach Luft. Bannermann war mit einem blitzschnellen Schritt hinter ihm, trat ihm in die
Kniekehle und schlug seine Stirn gegen die Gitterstäbe. Frank keuchte vor Schmerz, verdrehte die Augen und brach vollends zusammen. »Hören Sie auf!«, schrie Stefan. »Sind Sie wahnsinnig?« Bannermann versetzte Frank noch einen wuchtigen Tritt in die Rippen, ehe er endlich von ihm abließ und sich schwer atmend zu ihnen umdrehte. Eine Haarsträhne war ihm in die Stirn gerutscht. Er schüttelte sie mit einer affektiert wirkenden Bewegung zurück. »Ich habe noch nicht einmal richtig angefangen«, sagte er. »Wollt ihr wissen, was das Problem ist? Mein Problem ist, dass Marc Strong tatsächlich ein guter Freund von mir war. Und nicht nur das. Er war auch mein Geschäftspartner.« Er verließ die Zelle, ließ das Schloss hinter sich einschnappen und suchte einen anderen Schlüssel aus dem Bund heraus. Mikes Herz begann heftiger zu pochen. Im Hintergrund glaubte er einen schwarzen Schatten über die Wand huschen zu sehen, den er so rasch niemandem der Anwesenden zuordnen konnte. Ein Trick des Lichts? Seine überhitzte Fantasie? Oder ... Bannermann war mit zwei Schritten vor seiner Zelle, blieb stehen und sah noch einmal auf den Schlüsselbund in seiner Hand hinab. Mike hatte Angst, entsetzliche Angst, die ihm die Kehle zuschnürte, viel mehr Angst als gestern Abend, als er mit Strong gekämp ft hatte. Er ertappte sich dabei, ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel zu schicken. Er betete, dass Bannermann weiterging und dass der Schlüssel, nach dem er suchte, der zu Stefans Zelle war. Seine Gebete wurden nicht erhört. Bannermann hatte den richtigen Schlüssel gefunden, sperrte auf und trat zu Mike in die Zelle. Er schien darauf zu warten, dass Mike aufstand, wie Frank gerade, aber Mike blieb einfach sitzen und starrte mit klopfendem Herzen zu ihm hoch. Warum war er nicht weitergegangen? Warum war er jetzt nicht in Stefans Zelle?
Schließlich war es Stefan gewesen, der ihn provoziert hatte, nicht er. Mike schämte sich seiner eigenen Gedanken, aber er konnte sie nicht unterdrücken. Er war nun einmal ein erbärmlicher Feigling. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Bannermann jetzt nebenan in der Zelle wäre, um dort seinen Knüppel zu schwingen. Auf der anderen Seite stemmte sich Frank stöhnend auf Hände und Knie hoch. »Lassen Sie ihn ... in Ruhe«, sagte er stockend. »Wenn Sie Geld wollen, dann können wir darüber reden. Wir können bezahlen.« »Das weiß ich«, antwortete Bannermann. »Aber übers Geschäft sprechen wir später. Jetzt kommt erst der private Teil. Strong war nämlich wirklich ein Freund. Ein ziemlich guter Freund, um ehrlich zu sein.« Er hob seinen Knüppel. Mike riss mit einem angsterfüllten Keuchen die Hände vors Gesicht. Gleichzeitig drang aus Bannermanns Tasche ein helles, melodisches Piepsen. Bannermann hielt mitten in der Bewegung inne, ließ den Schlagstock sinken und zog mit der anderen Hand ein silberfarbenes Handy aus der Tasche. Ohne sich zu melden, hielt er das Gerät ans Ohr, lauschte einen Moment und steckte es dann wieder weg noch immer, ohne ein einziges Wort zu verlieren. »Tut mir Leid, Jungs, ich muss noch mal kurz weg«, sagte er. »Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, wie man bei euch sagt, oder? Keine Sorge - ich bin gleich zurück, und dann unterhalten wir uns in Ruhe zu Ende.« Er schob den Schlagstock unter seinen Gürtel, trat aus der Zelle und warf die Tür hinter sich zu. »Lauft nicht weg«, rief er im Hinausgehen. Der Deputy tappte wie ein treuer Hund hinter ihm her. Auch die Zwischentür fiel hinter den beiden ins Schloss, aber diesmal warteten die Freunde vergeblich auf das Geräusch, mit dem sie abgesperrt wurde. Bannermann hatte anscheinend nicht vor, lange wegzubleiben.
»Das war knapp«, sagte Stefan erleichtert. »Der Kerl ist doch komplett durchgeknallt!« Mike sah ihn kurz und schuldbewusst an. Natürlich war es Unsinn, aber er hatte das Gefühl, dass man ihm seine Gedanken während Strongs Auftritt vom Gesicht hatte ablesen können. Er fühlte sich erbärmlich. Er war erbärmlich. Schon alleine weil er Stefans Blick einfach nicht mehr standhielt, drehte er sich zu Frank um. Dieser hatte sich mittlerweile auf die Pritsche hinaufgezogen und das Gesicht zwischen den Händen verborgen. Mike hörte ihn leise stöhnen. »War es schlimm?«, fragte er mitfühlend. Frank nahm die Hände herunter. Mike hatte fast erwartet, in ein blutüberströmtes Gesicht zu blicken, aber alles, was zu sehen war, waren zwei rote Striemen, die die Gitterstäbe auf Franks Stirn hinterlassen hatten. »Ich habe schon herzhafter gelacht«, sagte Frank gepresst. »Aber ich habe auch schon Schlimmeres erlebt.« »Und was?«, fragte Stefan. »Meine letzte Behandlung bei dir, als du mir den Weißheitszahn rausgerupft hast«, antwortete Frank. »Aber warum hat er das getan?«, murmelte Stefan verwirrt. »Ich habe ihn doch provoziert, nicht du.« »Aber ich bin größer als du«, antwortete Frank. »Das ist das Problem, weißt du? Wenn du der beste Revolverheld in der Stadt bist, kommt jeder dahergelaufene Möchtegern-Held zuerst zu dir, bevor er sich mit den anderen anlegt.« »Vielleicht hat er sich ja halbwegs beruhigt, wenn er zurückkommt«, sagte Stefan nervös. »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Der Typ ist doch komplett aus dem Ruder gelaufen.« Frank fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang und schien ein wenig überrascht, kein Blut auf seinen Fingern zu sehen, als er sie anschließend betrachtete. »Abgesehen davon ist er ein Sadist,
dem es Spaß macht, andere zu quälen. Aber keine Angst, er wird uns schon nicht umbringen. Schließlich will er noch etwas von uns.« »Geld«, vermutete Mike. »Und zwar eine Menge«, seufzte Frank. Er begann, sein Gesicht mit spitzen Fingern zu betasten. »Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, das Ganze von Anfang an anders anzupacken. Ich verstehe es selbst nicht ... Manchmal bekommen die Dinge schon eine erschreckende Eigendynamik.« In dem Ton, in dem er dies sagte, schwang etwas mit, das Mike nicht zu deuten vermochte. Er nickte langsam. »Wir hätten diese verdammten Indianer gleich bezahlen sollen.« »Du meinst, weil sie mit Strong und Bannermann von Anfang an unter einer Decke gesteckt haben könnten?« Frank schüttelte seufzend den Kopf. »Wir standen doch schon auf ihrer Liste, bevor wir aus dem Flugzeug gestiegen sind. Und wir Idioten sind auch noch freiwillig ...« Er stockte. Seine Augen wurden groß. Im ersten Moment glaubte Mike, dass er ihn anstarrte. Dann begriff er, dass dies nicht der Fall war. Frank stand mit einem Ruck auf, trat ganz dicht an das Gitter heran und streckte den Arm durch die Stäbe. Als er die Tür zu Mikes Zelle berührte, schwang sie mit einem leisen Quietschen nach außen. Das Schloss war nicht eingerastet, als Bannermann die Tür hinter sich zugeworfen hatte. »Das nenne ich Glück!« Stefan rüttelte probehalber an den Stäben seiner eigenen Zelle, aber sie rührten sie nicht. »Worauf wartest du?« Mike erhob sich zögernd. Der Anblick der offen stehenden Tür erschien ihm so absurd, dass er sie einfach nur anstarren konnte, ohne zu begreifen, was er da sah. Im nächsten Moment war er felsenfest davon überzeugt, dass es sich um eine Falle handeln musste, nur um eine Falle handeln konnte. Zweifellos
standen Bannermann und sein Deputy hinter der nächsten Tür und warteten darauf, dass er die Zelle verließ. Auf der Flucht erschossen, Peng und aus. »Worauf wartest du?«, fragte Stefan noch einmal. »Los! Wer weiß, wann die Kerle zurückkommen!« Zögernd setzte Mike sich in Bewegung. Bevor er die Zelle endgültig verließ, berührte er prüfend das Schloss. Der Riegel bewegte sich, wenn auch nur widerwillig und gegen einen spürbaren Widerstand. Wahrscheinlich war das Schloss so lange nicht mehr benutzt worden, dass es halb eingerostet war. »Sieh draußen nach!«, verlangte Stefan. »Vielleicht hat Bannermann den Schlüssel irgendwo liegen lassen.« Oder er wartet mit durchgeladenem Gewehr draußen im Büro auf mich, dachte Mike. Bestimmt wartet er dort draußen. Er wird mich nicht hier drinnen erschießen. Nicht vor Zeugen. Dem ersten Wunder folgte ein zweites. Auch die Tür zu Bannermanns Büro war nicht abgeschlossen und schwang gehorsam nach außen auf, als Mike die Klinke herunterdrückte. Und diesem zweiten Wunder folgte sogar noch ein drittes: Das Büro war dunkel und leer. Weder Bannermann noch sein Deputy warteten auf ihn. »Die Schlüssel«, drängte Stefan aus seiner Zelle heraus. »Sieh auf dem Schreibtisch nach.« Mike ging zögernd und mit klopfendem Herzen durch den winzigen Raum, doch das vierte Wunder in Serie, auf das er hoffte, blieb aus. Der Schreibtisch war, bis auf den überquellenden Radkappen-Aschenbecher und ein altmodisches Telefon, leer. Mike zog die Schubladen eine nach der anderen auf und durchwühlte sie, zuerst hastig und mit zitternden Fingern, dann noch einmal, gründlicher und mit noch stärker zitternden Händen, beide Male jedoch mit dem gleichen Ergebnis: Die Schlüssel waren nicht da. Natürlich nicht! Sie hatten ja mit eigenen Augen gesehen, dass Bannermann
sie in die Hosentasche gesteckt hatte. Und dort waren sie wahrscheinlich jetzt noch. Trotzdem wollte Mike nichts unversucht lassen und suchte weiter. Er wagte es nicht, Licht zu machen. Das Büro war allerdings so klein, dass er auch im allmählich verblassenden Grau der Dämmerung nur wenige Minuten brauchte, um es gründlich zu durchsuchen. Nichts. »Keine Schlüssel«, sagte er, nachdem er zu den anderen zurückgegangen war. »Bannermann hat sie mitgenommen.« »Verfluchter Mist!«, schimpfte Stefan. »Dann hau du wenigstens ab«, sagte Frank. »Und euch lasse ic h hier zurück?« Mike schüttelte heftig den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Du hast doch gerade erlebt, wozu dieser Kerl fähig ist. Was glaubst du, was er mit euch macht, wenn er zurückkommt und sieht, dass ich nicht mehr da bin?« »Dasselbe was er macht, wenn du noch da bist«, antwortete Frank. »Du glaubst doch nicht etwa, dass er uns ungeschoren davonkommen lässt, selbst wenn wir bezahlen. Das kann er sich gar nicht leisten. Nicht bei dem, was wir mittlerweile alles über ihn wissen.« »Vielleicht finde ich irgendwo ein Brecheisen«, sagte Mike. »Ich lasse euch auf keinen Fall hier zurück.« »Ganz genau das wirst du tun!« Franks Stimme hatte einen deutlichen Unterton von Verzweiflung. »Setz dich auf deine Maschine und verschwinde! Du musst irgendwo Hilfe holen. Damit dieser ganze Spuk endlich ein Ende hat.« Mike musste ihm Recht geben, ob es ihm gefiel oder nicht. Bannermann hatte ihnen eindeutig zu viel verraten, als dass er es sich leisten konnte, sie am Leben zu lassen. Wenn es überhaupt noch eine Chance für sie gab, dann die, von hier zu verschwinden und die richtigen Cops zu alarmieren. Die Vorstellung, seine beiden Freunde im Stich zu lassen, war jedoch einfach unerträglich. »Warte!«, sagte Stefan. »Der Abschleppwagen!«
»Du bist wohl übergeschnappt!«, sagte Frank erschrocken. »Nein, aber du!«, zischte Stefan. »Mike hat Recht! Was glaubst du, was dieser Irre mit uns macht, wenn er zurückkommt und Mike nicht mehr da ist. Er wird uns auf der Stelle erschießen!« Frank sagte nichts mehr, sondern sah ihn nur unentschlossen und eindeutig voller Furcht an. Frank war kein Feigling, aber das hier war kein Spiel. Nur Dummköpfe bleiben im Angesicht eines gewaltsames Todes gelassen. »Der Abschleppwagen«, beharrte Stefan. »Er steht direkt hinter dem Haus! Sieh nach, ob der Schlüssel steckt. Du kannst das Gitter einfach herausreißen. Und wenn nicht, zumindest die Wand einrammen.« »Ihr seid wahnsinnig«, murmelte Frank. »Nein. Nur nicht lebensmüde.« Stefan winkte ab. »Wenn der Schlüssel nicht steckt, kannst du immer noch abhauen.« Mike zögerte noch einen letzten Moment, dann drehte er sich schweren Herzens um. Auch die Eingangstür war nicht verschlossen und die Straße noch immer so leer wie am Nachmittag, als man sie hergebracht hatte. Dieser Ort schien tatsächlich ausgestorben zu sein. Vielleicht waren seine Bewohner ja Vampire, die erst aus ihren lichtdichten Särgen krochen, wenn die Sonne ganz untergegangen war. Oder sie waren alle unterwegs, um Jagd auf arglose Touristen zu machen. Wie viele Menschen verschwanden jährlich spurlo s in diesem Land? Hunderttausend, schätzte Mike, wahrscheinlich mehr. Wer konnte eigentlich widerlegen, dass sie nicht alle hier, in Sanora verschwanden? Möglicherweise waren sie in eine Art nordamerikanisches Bermuda-Dreieck geraten. Mike wurde bewusst, dass sich in seinen Gedanken schon wieder eine gehörige Portion Hysterie breit zu machen begann; der erste Schritt auf dem Weg, noch mehr und folgenschwerere Fehler zu begehen. Er zwang sich zur Ruhe, soweit es ihm
möglich war, öffnete die Tür noch ein Stück weiter und spähte aufmerksam nach rechts und links. Es blieb dabei: Die Straße war verlassen. Hinter dem ein oder anderen Fenster brannte bereits Licht, aber es war keine Menschenseele zu sehen. Nein, keine Menschenseele. Aber ein seelenloser Indianer, der auf einem schwarz-weiß- gescheckten Pony ganz am Ende der Straße saß und ihn unter seinem Büffelfell-Mantel heraus aus brennenden Augen anstarrte! Mike schloss für eine Sekunde die Augen. Jetzt nicht! Und als er sie wieder öffnete, war der Wendigo verschwunden. Braver Geist. Wenn ihn seine Fantasie schon mit haarsträubenden Trugbildern quälte, dann sollte sie gefälligst damit warten, bis der Moment ein klein wenig günstiger war. Er lächelte über seine eigenen Gedanken, verließ das Gebäude und ging mit erzwungen ruhigen Schritten los. Alles in ihm schrie danach, loszurennen, so schnell er konnte, aber er gestattete sich nicht, diesem Impuls nachzugeben. Dass er niemanden sah, bedeutete ganz und gar nicht, dass er nicht vielleicht gesehen wurde. Und ein rennender Mann erweckte eindeutig mehr Aufsehen als einer, der ganz ruhig vor sich hin spazierte, als hätte er jedes Recht dazu. Er erreichte die Ecke und stand - mit zitternden Knien - fünf Sekunden später auf der Rückseite des Gebäudes. Der Abschleppwagen war genau da, wo Stefan ihn entdeckt hatte, ein mindestens dreißig Jahre altes Monstrum, das ganz so aussah, als hätte es genug PS, um das gesamte Gebäude aus seinem Fundament zu reißen. Freundlicherweise war der Wagen schon richtig herum abgestellt, sodass er nur die Kette um die Gitterstäbe zu schlingen brauchte und einmal kräftig aufs Gas treten musste. Wenn er den Wagen zum Laufen bekam, hieß das. Auf der anderen Seite des ungepflasterten Hofes erhob sich ein lang gestrecktes Wellblechgebäude mit einem Tor, das über und über mit Reklame bepflastert war; die Werkstatt, zu der
der Abschleppwagen gehörte. Hinter dem einzigen schmalen Fenster brannte ein Licht. Stefans Gesicht erschien hinter einem der vergitterten Fenster, und nur einen Wimpernschlag später das Franks eine Zelle weiter. »Die Kette!«, flüsterte Stefan. »Gib sie mir an! Wir müssen beide Gitter gleichzeitig rausreißen!« Für einen zweiten Versuch, das begriff Mike, würde ihnen vermutlich keine Zeit bleiben. Er trat ans Heck des Wagens, löste den schweren Haken von dem rostigen Kran-Gestänge, das fast die gesamte Ladefläche einnahm, und trug ihn zum Haus zurück. Die Kette klirrte, als er sie hinter sich herzog; das Geräusch war nicht besonders laut, aber Mike hatte trotzdem das Gefühl, man müsse das metallische Rasseln und Klirren bis Las Vegas hin hören. Das war vollkommener Wahnsinn. Eine Szene aus einem überdrehten Action-Film, die in der Realität niemals funktionieren konnte! Er reichte Stefan den schweren Haken, der ihn hastig durch die Gitterstäbe zog und dabei ein wirklich lautes Rasseln und Klirren produzierte. Mike drehte sich hektisch um und blickte zu der Werkstatt hinüber, hinter deren Fenster Licht brannte. Nichts rührte sich. »Wir machen das schon«, flüsterte Stefan hastig. »Der Wagen. Sieh nach, ob du den Schlüssel findest!« Mike ging nach vorne und öffnete die Tür. Gut, dass die meisten Amerikaner ihre Wagen nicht abschlossen und die Bewohner von Sanora da offensichtlich keine Ausnahme bildeten. Warum auch - schließlich war dies hier ein beschaulicher, kleiner Ort voller ehrlicher Menschen. Ha, ha! Der Geruch nach kaltem Zigarettenrauch und etwas viel Schlimmerem, ekelhaft Verdorbenem, schlug ihm entgegen, als er sich auf das zerschlissene Polster hinter dem Lenker klemmte. Das Zündschlo ss war leer, aber Mike hatte genug amerikanische Spielfilme gesehen, um ganz automatisch nach der Sonnenblende zu greifen und sie herunterzuklappen. Ein
kleiner Schlüsselbund fiel gehorsam in seine ausgestreckte rechte Hand. Dieses Wahnsinnsunternehmen funktionierte bis jetzt so reibungslos, dass es schon fast unheimlich war. Er blickte in den Innenspiegel. Stefan und Frank waren mit ihrem Teil fertig: Die Kette verschwand zwischen den Gittern von Stefans Fenster. Frank hatte den rostigen Haken auf seiner Seite befestigt. Wenn die Wand tatsächlich so morsch war, wie sie aussah, dann würde er wahrscheinlich nicht nur das Gitter herausreißen, sondern die halbe Rückseite des Gebäudes. Und wenn nicht ... nun, damit würde er sich befassen, wenn es so weit war. Hinter ihm fuchtelte Stefan aufgeregt durch das Gitter. Wir sind so weit. Vielleicht auch: Worauf, zum Teufel, wartest du eigentlich? Mit einer fast bedächtigen Bewegung schob Mike den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn halb herum. Die Lichter im Armaturenbrett leuchteten gehorsam auf, aber er zögerte noch einmal, den Motor endgültig zu starten. Spätestens das Geräusch des schweren Diesels musste Bannermann oder irgendjemanden alarmieren, der dann seinerseits den Sheriff holte - falls nicht gleich eine ganze Meute angewetzt kam, um ein wenig Tontaubenschießen zu üben. Mike hatte noch nie in einem Wagen wie diesem gesessen, nicht einmal in einem, der ihm auch nur ähnelte, aber es sah nicht so aus, als würden sich unüberwindliche Hindernisse vor ihm auftürmen. Die ungewohnte amerikanische Lenkradschaltung, vielleicht. Mike nahm die Hand vom Schlüssel, trat die Kupplung durch und registrierte erleichtert das gedämpfte, schwere Klacken, mit dem der Gang einrastete, als er den Hebel der Gangschaltung nach oben schob. Gut. Genau so würde er es machen: mit durchgetretener Kupplung starten, Vollgas geben und die Kupplung dann springen lassen. Entweder brach diese ganze verdammte Kiste in Stücke, oder
seine Freunde waren frei. Trotzdem: Es konnte so entsetzlich viel schief gehen. Der Motor könnte nicht anspringen. Die Kette könnte reißen. Oder Bannermann, der in diesem Moment aus der Werkstatt trat, könnte sich umdrehen und ihn entdecken! Mike erstarrte. Sein Herz hämmerte plötzlich wie rasend, und seine Hand, die sich schon wieder nach dem Zündschlüssel ausgestreckt hatte, begann so heftig zu zittern, dass er mit der anderen zugreifen musste, um sie still zu halten. Bannermann trat zwei Schritte aus der Tür heraus, blieb stehen und zündete sich eine seiner filterlosen Zigaretten an. Mike starrte ihn aus hervorquellenden Augen an. Er war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, nicht einmal, wirklich Angst zu empfinden. Er wusste nur, dass es vorbei war. Bannermann stand hoch aufgerichtet und reglos da und sah nicht einmal in seine Richtung, aber er musste sich nur umdrehen, nur den Kopf ein wenig wenden, und Mike war entdeckt. Und wenn nicht er, dann die straff gespannte Kette, die vom Heck des Abschleppwagens zu Stefans Zellenfenster hin führte. Nur, dass Bannermann sich nicht umdrehte. Er nahm zwei oder drei Züge aus seiner Zigarette, dann sah er auf die Uhr, wandte sich wieder ab und ging in die Werkstatt zurück, ohne auch nur einen Blick in Mikes Richtung geworfen zu haben. Kurz bevor er die Tür hinter sich schloss, sah Mike das Heck des Streifenwagens, der dahinter abgestellt war. Auch als Bannermann schon längst wieder verschwunden war, saß Mike noch reglos und wie erstarrt hinter dem Steuer. Seine Hände hatten aufgehört zu zittern. Er fühlte sich wie paralysiert, unfähig, auch nur eine kleine Bewegung durchzuführen. Und als er sich endlich wieder bewegen konnte und seine Gedanken nicht mehr zäh wie halb erstarrter Teer waren, griff er nicht nach dem Zündschlüssel, sondern öffnete die Tür und stieg wieder aus.
Obwohl er vor Schrecken und Angst immer noch halb wahnsinnig war, hatte er doch eines mit entsetzlicher Klarheit begriffen: Sie konnten noch nicht hier weg. Sie hatten etwas vergessen. Eine Kleinigkeit nur, die aber wahrscheinlich über das Scheitern oder Gelingen ihrer Flucht entscheiden würde. Bannermanns Streifenwagen. Selbst wenn es Mike gelang, Stefan und Frank zu befreien, würden sie nicht einmal bis zur Stadtgrenze kommen, wenn er nicht irgendwie den Wagen außer Gefecht setzen konnte. Immer ein Auge auf dem erleuchteten Fenster, huschte Mike auf das Gebäude zu. Er spielte kurz mit dem Gedanken, zum Fenster zu gehen und einen Blick hindurchzuwerfen, verwarf diese Idee aber fast sofort wieder. Das Fenster war annähernd zwei Meter hoch in der Wand angebracht. Er hätte klettern müssen, um es zu erreichen, und so schmutzig, wie das Glas war, war es zweifelhaft, ob er überhaupt etwas dadurch würde erkennen können. Stattdessen ging er weiter und legte das Ohr an das Wellblechtor, um zu lauschen. Er hörte nichts. Das musste nichts bedeuten; Bannermann konnte trotzdem hinter der Tür stehen und mit entsichertem Gewehr auf ihn warten - oder auch ohne Gewehr, das blieb sich höchstwahrscheinlich gleich. Mike wusste, dass er gegen diesen brutalen Sadisten keine Chance hatte, ob mit oder ohne Waffe. Aber sie hatten alle keine Chance, wenn es ihm nicht gelang, diesen verdammten Wagen außer Gefecht zu setzen! Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, lauschte eine Sekunde mit angehaltenem Atem, und öffnete die Tür schließlich einen schmalen Spalt weit. Der Raum dahinter war dunkel. Durch eine nur halb geschlossene Tür am anderen Ende drang zwar mildes, gleichmäßig brennendes gelbes Licht, aber es reichte nicht aus, Mike mehr als nur Schemen erkennen zu lassen. Er hörte Stimmen und ein gedämpftes Lachen. Der Streifenwagen stand unmittelbar hinter der Tür, weniger als
zwei Meter entfernt. Mike nahm ihn nur als Schatten wahr. Allen Mut zusammenraffend, schob er die Tür weiter auf und schlüpfte hindurch. Er verursachte ein gedämpftes Geräusch, als er sie hinter sich wieder schloss, aber das Lachen aus dem angrenzenden Raum war laut genug, um jeden anderen verräterischen Laut zu übertönen. Wieder blieb Mike einige Sekunden lang reglos stehen, um zu lauschen, dann tastete er sich mit ausgestreckten Armen vor, bis er das Metall des Streifenwagens berührte. Es war unerwartet kühl. Der Wagen hatte auf keinen Fall den ganzen Tag über in der glühenden Sonne gestanden. Was sollte er tun? Er war mit der klaren Absicht hierher gekommen, den Wagen zu sabotieren, aber ohne klare Vorstellung, wie. Er hätte sich durchaus zugetraut, dasselbe zu tun, wie Strong beim Van der Indianer, also die Verteilerkappe herauszunehmen. Aber um an sie heranzukommen, musste er die Motorhaube öffnen, was sicher nicht lautlos vonstatten gehen würde. Er hatte plötzlich das absurde Gefühl, dass die fast vollkommene Dunkelheit ringsum das Geräusch noch verstärken würde. Ganz davon abgesehen, war das hier eine Werkstatt. Es war gut möglich, dass Bannermann nur in ein Regal greifen musste, um eine neue Verteilerkappe herauszunehmen und den Wagen schneller wieder instand zu setzen, als Mike brauchte, um ihn zu sabotieren. Wahrscheinlich war die primitivste Methode in diesem Fall zugleich auch die beste: Er würde schlicht und einfach die Luft aus den Reifen lassen und die Ventile mitnehmen. Beherzt ließ er sich in die Hocke sinken, tastete im Dunkeln nach dem Ventil und löste es - allerdings nur so weit, dass die Luft mit einem kaum hörbaren Zischen und nicht mit einem verräterischen Pfeifen entwich. Mike wiederholte die Prozedur bei den anderen drei Reifen, zählte in Gedanken bis fünfzig und setzte zu einer zweiten Umkreisung des Wagens an, diesmal, um die Ventile ganz
herauszuschrauben und einzustecken. Der Druck in den Reifen musste mittlerweile weit genug gesunken sein, um kein verräterisches Geräusch mehr zu verursachen. Als er an der Autotür vorbeikam, stellte er fest, dass sie offen war. Seine Augen hatten sich mittlerweile weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, ihn das großkalibrige Schrotgewehr erkennen zu lassen, das auf dem Beifahrersitz lag. Die Pumpgun des Deputy. Ohne selbst genau zu wissen, warum, beugte er sich in den Wagen hinein und nahm die Waffe an sich. Ihm war völlig klar, dass er damit nichts anfangen konnte. Er würde nicht auf einen Menschen schießen. Er konnte nicht auf einen Menschen schießen, vielleicht nicht einmal, wenn es darum ging, sein eigenes Leben zu verteidigen. Dennoch fühlte er sich auf sonderbare Weise beruhigt, als er sich mit der Waffe in der Hand wieder aufrichtete. Und sei es nur, weil er überhaupt etwas in Händen hielt. Seine Zeit wurde allmählich knapp. Bannermann und sein Deputy würden nicht ewig nebenan sitzen und sich unterhalten. Er sollte die Ventile nehmen und verschwinden. Mike wollte sich nach dem Reifen bücken, doch in diesem Moment hörte er wieder ein helles, abgehacktes Lachen, und der Laut ließ ihn mitten in der Bewegung erstarren. Er kannte dieses Lachen. Doch das war vollkommen unmöglich. Er konnte dieses Lachen nicht gehört haben. Nicht hier, und nicht jetzt. Nein, er musste sich geirrt haben. Mike lächelte nervös - aus dem einzigen Grund, um sich selbst zu beruhigen. Natürlich funktionierte es nicht! Trotzdem streckte er erneut und viel entschlossener die Hand nach dem Ventil aus - als das Lachen sich wiederholte. Diesmal war er vollkommen sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Mike stand auf, ohne den Reifen auch nur berührt zu haben. Statt seine Sabotage-Aktion fortzusetzen, drehte er sich um und
ging langsam auf die Tür am anderen Ende des Raumes zu. Plötzlich war er ganz ruhig. Seine Hände zitterten nicht mehr, und sein Herz schlug so ruhig und gleichmäßig, als wäre er gerade aus einem langen, erquickenden Schlaf erwacht. Selbst seine Angst war verschwunden. Vielleicht war das eine besondere Art von Schock. Je näher er der Tür kam, desto langsamer wurde er. Schließlich bewegte er sich buchstäblich im Schneckentempo. Er brauchte gut fünf Minuten, um den kaum fünfzehn Meter messenden Raum zu durchqueren, und die ganze Zeit lauschte er auf die Stimmen, die immer wieder durch dieses spöttische, unmögliche Lachen übertönt wurden. Kurz bevor er die Tür erreichte, meldete sich sein Selbsterhaltungstrieb doch noch einmal zu Wort. Er blieb stehen, hielt die Pumpgun in den blassgelben Lichtschein, der aus dem Nebenraum fiel, und überzeugte sich davon, dass eine Patrone in der Kammer lag. Der Deputy hatte die Waffe ja durchgeladen, bevor Bannermann damit begonnen hatte, Frank zusammenzuschlagen. Er hatte sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, sie anschließend wieder zu sichern. Mike ging weiter, erreichte die Tür und spähte vorsichtig in den dahinter liegenden Raum. Verglichen mit der Werkstatt war er winzig; ein düsteres, schmuddeliges Lager, das hoffnungslos mit Regalen, Kisten und Kartons voll gestopft war. Der wenige verbliebene Platz wurde von einem roh gezimmerten Tisch eingenommen, an dem Bannermann und sein Deputy saßen, Kaffee tranken und sich offensichtlich ausgezeichnet unterhielten. Sie wandten ihm den Rücken zu, und sie waren nicht allein. Neben Bannermann saß Marc Strong, der noch immer seine verspiegelte Sonnenbrille trug, obwohl der Raum nur von einer gleichmäßig brennenden Sturmlaterne erhellt wurde und die Schatten eindeutig in der Überzahl waren. Auf der anderen Seite des Tisches saß ein junger Indianer mit schulterlangem, glattem schwarzem Haar,
flankiert von zwei ebenfalls indianischen Frauen, die eine sehr alt, die andere ein wenig jünger als ihr Bruder, Mann oder was immer er in Wirklichkeit auc h war. Mike wusste nicht, wie lange er so dastand und die kleine Versammlung anstarrte. Zeit war bedeutungslos geworden. Dann hob der Mann, der von sich selbst immer behauptete, der größte Feigling dieses gesamten Planeten zu sein, ganz langsam das Schrotgewehr, machte einen Schritt in den Raum hinein und blieb wieder stehen. Dirty Wolf, der auf der anderen Seite des Tisches saß und direkt in seine Richtung sah, bemerkte ihn als Erster. Er sagte kein Wort, nur seine Augen weiteten sich, und Mike konnte sehen, wie sein Gesicht unter der Sonnenbräune alle Farbe verlor. Die junge Frau neben ihm fuhr so erschrocken zusammen, dass Bannermann und sein Deputy ihr Gespräch unterbrachen und sich abrupt zu ihm umdrehten. Bannermann sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, und sein Deputy sah aus, als würde er vor Schrecken gleich vom Stuhl fallen. Alleine Strong reagierte im allerersten Moment überhaupt nicht. Er starrte Mike nur zwei, drei Sekunden lang wortlos an. Dann hob er ganz langsam die Hand und setzte die Sonnenbrille ab. »Ach du heilige Scheiße!«, murmelte er. Ende des fünften Tages. Fortsetzung folgt
Wolfgang Hohlbein »Vor 300 Jahren hätte ich wahrscheinlich auf dem Markt gesessen und Geschichten erzählt.« So stellt sich Wolfgang Hohlbein, der Meister der deutschen fantastischen Literatur gerne vor. Sein Erfolgsrezept: Alles, was er tut, tut er mit Hingabe, und er schert sich nicht um Kategorien, sondern schreibt das, was ihm Freude bereitet. So sind über die Jahre zahlreiche Bestseller erschienen, von Wolfsherz über Dunkel, Die Rückkehr der Zauberer und Der Widersacher. Als seine wichtigsten literarischen Vorbilder nennt er J.R.R. Tolkien, Michael Ende, Edgar Allan Poe, Stephen King und H. P. Lovecraft. In der Tradition Lovecrafts steht auch seine erfolgreiche Taschenbuchserie Der Hexer. Wolfgang Hohlbein wurde 1953 in Weimar geboren. Er wohnt mit Frau und Kindern und diversen Katzen und Hunden in der Nähe von Neuss.
sechster Tag BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14805 1. Auflage: Februar 2003 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstausgabe © 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Lektorat: Stefan Bauer Titelbild: Arndt Drechsler
Printed in Germany ISBN 3-404-14805-3
Sechster Tag
Pünktlich mit dem ersten Sonnenstrahl, der seinen Weg durch das mit Brettern vernagelte Fenster fand, erwachte er. Stille umfing ihn, der Geruch von Staub und das Gefühl, vollkommen allein zu sein. Mike öffnete die Augen und hob im nächsten Moment erschrocken den Arm, um auf die Uhr zu sehen. Er war noch nicht wirklich wach. Sein Bewusstsein balancierte noch auf dem Rasierklingen dünnen Grat zwischen Traum und Realität. Für die Dauer von zwei oder drei schmerzhaften Herzschlägen weigerten sich seine Augen, das Ziffernblatt deutlicher denn als verschwommenen Fleck wahrzunehmen, und für die gleiche Zeitspanne war er felsenfest davon überzeugt, verschlafen zu haben. Er fuhr hoch, bekam einen plötzlichen und sehr heftigen Schwindelanfall und ließ sich gerade noch rechtzeitig genug wieder nach hinten sinken, um nicht vom Bett zu fallen. Sein Kreislauf kam offensichtlich nicht annähernd so schnell in Schwung wie seine Gedanken. Immerhin hatte er nicht geträumt; wenigstens nicht so schlimm, dass er sich daran erinnerte. Er würde nie wieder träumen. Nicht so. Mike blieb lang ausgestreckt und mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen, zählte in Gedanken langsam bis acht und sah dann noch einmal auf die Uhr. Er hatte nicht verschlafen, ganz im Gegenteil. Es war noch fast eine Stunde Zeit. Er setzte sich vorsichtig auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Gut zwei oder drei Minuten lang blieb er einfach so sitzen, dann nahm er langsam die Hände herunter, versuchte die Schultern zu straffen und ließ es gleich wieder sein, als seine misshandelten Muskeln mit einem schmerzhaften Ziehen und Pochen dagegen protestierten. Erst jetzt bemerkte er, dass das Stechen
in seiner Brust aufgehört hatte. Vielleicht hatte er einfach nur falsch gelegen - kein Kunststück auf dieser Folterbank von einem Bett. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass dem nicht so war. Er war gut darin, immer neue Ausreden zu finden. Eine falsche Haltung, eine falsche Bewegung, Hunger ... es gab tausende von harmlosen Gründen, auf die man das immer heftiger und häufiger auftretende Schmerzgefühl in seiner Brust schieben konnte. Unglückseligerweise war er auch intelligent genug, um zu wissen, was es wirklich bedeutete. Ganz offensichtlich gingen Intelligenz und Dummheit gern Hand in Hand. Es nutzte nichts, zu wissen, dass all die vorgeschobenen Gründe nur Lügen waren, um sich selbst zu beruhigen. Die Lügen beruhigten ihn - zumindest kurzfristig. Mike schob den Gedanken fast ärgerlich zur Seite. Er gab sich selbst ein heiliges Ehrenwort, sich darum zu kümmern, sobald sie wieder zurück in Deutschland waren (auch das war eine Lüge, und auch das wusste er), und erhob sich mit einer so heftigen Bewegung, dass ihm beinahe wieder schwindelig geworden wäre. Als ob er sich im Moment nicht um wirklich Wichtigeres kümmern müsste! Aufmerksam sah er sich in dem winzigen, fast leeren Zimmer um. Gestern Abend, als er hierher gekommen war, war es dunkel gewesen. Im Schein der gelben Sturmlaterne hatte das Zimmer winzig und trostlos ausgesehen, und im kaum helleren, aber milderen Licht des hereinbrechenden Tages sah es gena uso winzig und fast noch trostloser aus: ein praktisch leerer Raum, in dem es nur ein Bett, eine Kommode, die nur noch auf drei Beinen stand, und einen kleinen Tisch gab, der zwar noch alle Beine hatte, aber nicht wirklich vertrauen erweckender aussah als die Kommode. Auf dem Tisch befand sich eine Plastikflasche mit Wasser, mehrere in durchsichtiges Zellophan eingewickelte Sandwichs und ein bedrohlich aussehender Revolver mit kurzem Lauf. Neben der Waffe lagen die Schlüssel seiner Intruder und ein lieblos aus einer Straßenkarte
herausgerissenes Blatt, das mit Fettflecken und Schmutz übersät war und Sanora und seine nähere Umgebung am Vergin River zwischen Littlefield in Arizona und Bunkerville in Nevada zeigte. Zwei Finger breit neben dem leicht verschobenen Quadrat, das Sanora bezeichnete, und eine Handbreit neben der gestrichelten gelben Linie der Staatsgrenze nach Nevada war eine Markierung aus rotem Filzstift zu sehen. Mike trat an den Tisch heran, schraubte die Wasserflasche auf und nahm einen großen Schluck. Er verzog leicht angewidert das Gesicht. Das Wasser war warm und schal. Wenn es jemals Kohlensäure enthalten hatte, war sie längst entwichen. Er ließ einige Tropfen in seine hohle linke Hand laufen und verrieb sie im Gesicht; alles andere als eine Erfrischung. Nachdem er sich gezwungen hatte, einen weiteren Schluck zu trinken, schraubte er die Flasche sorgsam wieder zu, nahm die eingewickelten Sandwichs zur Hand und warf sie achselzuckend auf die Tischplatte zurück, nachdem er festgestellt hatte, dass es sich ausnahmslos um Käsebrote handelte. Er hasste Käse. Außerdem: Wenn er daran dachte, was ihm bevorstand, dann brachte er sowieso keinen Bissen herunter. Er nahm die Waffe zur Hand, drehte sie einen Moment unschlüssig in den Fingern und klappte schließlich die Trommel heraus. Sie war gefüllt. Er hatte kein Ersatzmagazin und würde auch keines brauchen - wenn diese sechs Patronen nicht ausreichten, dann war sowieso alles zu spät. Obwohl ihm der bloße Gedanke, auf einen Menschen zu schießen, noch immer nahezu körperliche Übelkeit bereitete, erfüllte ihn das Gewicht der Waffe zugleich mit einem fast obszönen Gefühl von Sicherheit. Nein, das stimmte nicht: Macht. Das war es, was er spürte. Die uralte Verlockung, die Waffen schon immer auf Menschen ausgeübt hatten, selbst auf die, die behaupteten, es wäre nicht so. Hastig steckte er die Waffe ein, beugte sich über den letzten Gegenstand, der auf dem Tisch lag - die Karte - und versuchte,
sich das Durcheinander aus Flecken, unleserlichen Buchstaben und scheinbar willkürlichen Linien genau einzuprägen. Schließlich faltete er die Karte umständlich wieder zusammen, schob sie in die Innentasche seiner Jacke und sah auf die Uhr. Noch gut fünfzig Minuten bis zum Start der Operation. Ba nnermann und sein Deputy würden ihre beiden Gefangenen um Punkt acht Uhr aus den Zellen des Sheriff’s Office auf der anderen Straßenseite holen und in den Streifenwagen verfrachten, und er konnte es nicht riskieren, sein Versteck vorher zu verlassen. Fünfzig Minuten können sich zu einer Ewigkeit dehnen, wenn man zum Nichtstun und Warten verdammt ist. Mike war jetzt wirklich ärgerlich auf sich, dass er so früh aufgewacht war. Mit steifen Schritten ging er zum Tisch zurück, trank einen weiteren, großen Schluck von dem schalen Wasser in der Plastikflasche und nahm sie mit sich, als er das Zimmer verließ. Draußen im Flur war es heller. Sämtliche Fenster des Hauses waren vernagelt, aber ein Teil des Daches war eingestürzt. Es war unangenehm warm, schon jetzt, und unter seinen Schritten wirbelte der Staub auf, obwohl er sehr vorsichtig auftrat. Nicht ganz zu Unrecht befürchtete er, die morschen Fußbodendielen könnten unter seinem Gewicht nachgeben. Das Haus stand seit mindestens zehn Jahren leer, vermutlich sehr viel länger, und außer dem brutalen Wechsel glühender Sonnenhitze bei Tag und manchmal zweistelliger Minustemperaturen bei Nacht hatten auch der Wind und die ein oder andere Termite an seiner Substanz genagt; es war wenig mehr als eine Kulisse. Die Kulisse für einen Horrorfilm. Vorsichtig stieg Mike die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Er konnte nicht sagen, wozu dieses Gebäude einmal gedient hatte. Die gesamte untere Etage bestand aus einem einzigen großen Raum, der ebenfalls nahezu leer war. An einer Wand gab es deckenhohe Regale, die nichts anderes als Staub enthielten, und davor eine niedrige Theke, deren ursprüngliche Farbe sich
unter einer gut fingerdicken Schmutzschicht verbarg. Vielleicht war das hier tatsächlich so etwas wie ein Saloon aus einem uralten Wildwestfilm, vermutlich aber etwas sehr viel Banaleres: ein Gemischtwarenladen, eine Poststation. Gleich neben der Tür hing ein emailliertes Waschbecken an der Wand. Obwohl er das Ergebnis vorausahnte, drehte Mike den Wasserhahn auf. Er wurde mit einem erbärmlichen Quietschen belohnt, sonst passierte nichts. Mike schnitt dem versiegten Wasserhahn eine Grimasse und hob die Hand, um die rot-weiß karierte Gardine beiseite zu schieben, die vor der Fensterscheibe an der Tür hing. Sie zerbröselte unter seiner Berührung zu Staub, und Mike begriff zu spät, dass ein Teil des grauen Gewebes, in das er gegriffen hatte, ein eng gewobenes Spinnennetz gewesen war, das noch eine Bewohnerin hatte. Durch die Berührung alarmiert, sprang diese vor und prallte im letzten Moment zurück, als ihre zahlreichen, aber hoffnungslos kurzsichtigen Augen ihr signalisierten, dass die vermeintliche Beute ein wenig zu groß für ihren kaum daumennagelgroßen Körper war. Mike bezweifelte, dass das Tier giftig war. Da er Spinnen wie die Pest hasste, hatte er sich schon vor Antritt der Reise über die hiesige Arachnidenpopulation informiert. Es gab Taranteln und Schwarze Witwen, und speziell in Nevada eine besonders heimtückische Art von Springspinnen, von denen man sich besser nicht beißen ließ. Dieses Tier gehörte zu keiner der drei Gattungen. Allerdings: Es war eine Spinne, und Mikes Herz machte einen fast ebenso heftigen Satz in seiner Brust, wie er selbst zurück. Die Erschütterung reichte nicht nur, eine fast hüfthohe Staubwolke vom Boden aufsteigen zu lassen, sie zerriss auch endgültig das Netz. Die Spinne verlor den Halt und drohte, zu Boden zu stürzen. Im letzten Moment schoss sie einen glitzernden Faden aus ihrem Hinterleib ab, der tatsächlich irgendwo Halt fand - scheinbar in der leeren Luft -, vollführte eine
komplizierte und ungemein schnelle Bewegung und begann, auf wirbelnden, spindeldürren Beinchen an ihrem Faden nach oben zu klettern. Mike sah ihr eine halbe Sekunde lang dabei zu, mit klopfendem Herzen und von genau jenem klebrig kalten, mit Ekel gemischtem Entsetzen erfüllt, das ihn stets beim Anblick einer Spinne überkam. Und dann tat er etwas, das ihn selbst überraschte: Er machte wieder einen Schritt nach vorne, streckte den Arm aus und zerquetschte die Spinne in der bloßen Hand. Es war ein unvorstellbar ekelhaftes Gefühl. Eine halbe Sekunde lang zappelte das Tier verzweifelt in seiner hohlen Hand, bevor er diese endgültig zur Faust schloss und die Spinne zu einem klebrigen, warmen Brei zermalmte. Sein Magen revoltierte, und er konnte spüren, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf aufstellte. Es war wie ein elektrischer Schlag, pure Angst, die durch seine Hand pulsierte und überall zugleich in seinem Körper zu explodieren schien. Aber er ließ das zerquetschte Tier noch immer nicht los, sondern drückte noch fester zu, bis ein einzelner, hellrot schimmernder Tropfen aus seiner Faust quoll und einen winzigen Bombentrichter in die Staubschicht auf dem Boden grub. Langsam bückte sich Mike nach der zerrissenen Gardine, hob sie mit der linken Hand auf und öffnete dann die andere Faust. Der Anblick erfüllte ihn mit unbeschreiblichem Ekel, zugleich aber auch mit einer grimmigen, fast an Triumph grenzenden Zufriedenheit. Was sollte ihm jetzt noch passieren? Er hatte einen seiner schlimmsten Feinde besiegt - sich selbst - und etwas getan, was er noch vor zehn Sekunden für unmöglich gehalten hätte. Diese Spinne zu töten - erst recht auf diese Weise! - war mehr als ein Reflex gewesen. Obwohl ihm entsetzlich übel war, obwohl sein Herz raste und seine Stirn von kaltem Schweiß bedeckt war, fühlte er sich ... gut. Er bezweifelte, dass er in der Lage war, diese Attacke zu wiederholen, aber er hatte sich wenigstens ein Mal selbst bewiesen,
wozu er in der Lage war, wenn es wirklich darauf ankam. Mike wischte seine Hand sorgfaltig ab und tat dann das, wozu er eigentlich hergekommen war: Er trat an die Tür und sah auf die Straße hinaus. Sanora bot sich ihm genau wie am vorangegangenen Tag dar: trostlos, eine winzige Stadt, deren Hand voll Häuser sich ausnahmslos rechts und links der Straße entlangzogen und die, wie er nun wusste, ausnahmslos leer standen. Die wenigen Automobile, die vor dem ein oder anderen Gebäude standen, waren uralt, Wracks, die zu entsorgen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Nicht alle Fenster waren vernagelt, aber doch viele, und in etlichen der anderen fehlte das Glas. Als sie gestern in die Stadt gefahren waren, waren sie viel zu aufgeregt und angespannt gewesen, um es zu erkennen: Sanora war eine Geisterstadt. Die letzten Bewohner hatten den Ort vor mehr als einem Jahrzehnt verlassen und ihn dem Verfall preisgegeben. Die Natur hatte längst angefangen, sich das Terrain zurückzuerobern, von dem die Menschen irrtümlicherweise angeno mmen hatten, es gehöre ihnen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte die kleine Holzkirche im Zentrum der Stadt der Zeit bisher getrotzt. Zumindest aus der Entfernung wirkte sie wie frisch gestrichen: ein absurder, fast aberwitziger Anblick inmitten all des Verfalls. Wer pflegte die Kirche und den kleinen dazugehörigen Garten mit seinem Rasen und den bunten Blumenrabatten? Amerika war eben nicht nur das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Spaceshuttles und Microsoft-Computer, sondern auch ein Land voll Verrückter und religiöser Fanatiker. Nun, Mike sollte es recht sein. Solange sie nicht ausgerechnet innerhalb der nächsten vierzig oder fünfzig Minuten auftauchten, konnten diese Wahnsinnigen hier auch eine maßstabgetreue Kopie des Petersdoms aufbauen, wenn es ihnen Spaß machte. Gerade, als er sich umdrehen und von seinem Aussichtsposten zurücktreten wollte, ging die Tür der Kirche auf, und eine
Gestalt trat ins Freie. Mike fuhr erschrocken zusammen, sah genauer hin und wich automatisch ein, zwei Schritte zurück. Es war nicht irgendeine Gestalt. Es war ein alter, gebeugter Mann mit strähnig grau gewordenem Haar, das ihm bis weit über die Schultern herabfiel, rotbrauner Haut und einem zerfurchten Gesicht, in dem das einzig Lebendige die Augen zu sein schienen, erfüllt von etwas, das Gestalt gewordener Hass auf alles Lebende und Atmende war. Mikes erste Hoffnung zerstob damit wie eine laue Sommernacht, die von einem heftigen Gewitter zerrissen wurde. Das war nicht der Schamane, wie er gehofft hatte, nicht der alte Mann, der ihn im Traum vor dem Wendigo gewarnt hatte mit den Worten: »Er wird dich töten.« Es war der Wendigo selbst. Vielleicht war es jetzt so weit. Vielleicht war er gekommen, um endgültig mit Mike abzurechnen - auch wenn nichts an seinem Äußeren daraufhindeutete. Er trug nicht den schwarzen Büffelfellmantel, sondern nur einen ledernen Lendenschurz und einfache Mokassins, und in seinen Händen hielt er keine Waffe, nicht einmal einen Anasazi-Speer. Kaum war der Wendigo einen Schritt weit aus der Kirche getreten, blieb er stehen und starrte wortlos und voll stummen Hasses in Mikes Richtung. Mike schloss mit einem leisen Stöhnen die Augen. Hatte er wirklich geglaubt, es wäre so leicht? War er wirklich närrisch genug gewesen, sich allen Ernstes einzureden, dass es ausreichte, eine harmlose Spinne zu zerquetschen, um sich selbst zu besiegen? Wie naiv! Als er die Augen wieder öffnete, war der Wendigo immer noch da. Er war nicht näher gekommen, aber Mike spürte seinen Blick nun deutlicher, beinahe wie eine Berührung, tief in seinem Innern. Er hörte ein Wispern und versuchte sofort, abzublocken. »Nein!«, sagte er.
Der Wendigo machte einen einzigen Schritt, der ihn die Hälfte der Distanz zwischen der Kirche und Mikes Versteck überwinden ließ. In seiner rechten Hand lag plötzlich wieder der Speer mit der Feuersteinspitze. Diese grässliche Ausgeburt von Mikes überhitzter Fantasie scherte sich einen Dreck um Logik oder Naturgesetze. Etwas in Mike wollte sich krümmen und vor Angst schreien, dasselbe Etwas, das ihm mehr als vier Jahrzehnte lang Herzrasen, Schweißausbrüche und panische Angst beschert hatte, wenn er ein harmloses krabbelndes Etwas mit mehr als sechs Beinen sah. Doch Mike blieb hart. »Nein!«, sagte er noch einmal. »Verschwinde. Du störst im Moment ein bisschen, mein Freund.« Seine Stimme zitterte vor Angst und verdarb ihm den Effekt, aber wichtig war nicht wie, sondern dass er es sagte. Der Wendigo blieb stehen. Das Wispern in Mikes Gedanken wurde schärfer, drohender. Doch Mike tat etwas, das viel leichter war, als er es sich jemals vorgestellt hätte: Er gestattete seiner Angst nicht, Gewalt über ihn zu erlangen. Er gestattete ihr nicht einmal wirklich, Gestalt anzunehmen. Dieses Ding dort draußen war so wenig echt, wie Bannermann ein echter Polizist oder Strong jemals wirklich tot gewesen waren. Eine weitere Lüge, nur dass sie diesmal vom raffiniertesten seiner Feinde ersonnen worden war, von ihm selbst. Er wusste, dass er den Wendigo nicht einfach wegleugnen konnte. Das hatte er versucht und ihn damit immer nur noch stärker gemacht. »Nein!«, sagte er noch einmal. »Nicht jetzt!« Die Gestalt draußen auf der Straße begann zu flackern, und schließlich trieb sie einfach auseinander wie ein Trugbild aus Rauch, das der Wind verwehte. Der Wendigo verschwand nicht völlig, jedenfalls nicht gleich. Etwas von ihm blieb, etwas Unsichtbares und Drohendes, das Mike ein düsteres Versprechen zuflüsterte. Mike lachte. Zuerst leise und nervös, ein Lachen, das keinen
anderen Zweck hatte, als ihm Mut einzuflößen - oder zumindest vorzutäuschen. Aber nach ein paar Augenblicken wurde dieses Lachen echt, lauter und immer lauter, bis Mike sich schließlich mit Gewalt zusammenriss, weil er fürchtete, man könnte es drüben in Bannermanns Gefängnis hören. Der zweite und vielleicht wichtigste Sieg an diesem Morgen. Er bestimmte vielleicht nicht die Regeln in diesem verfluchten Spiel, aber er hatte sie - endlich - verstanden. Was sollte ihn jetzt noch aufhalten? * Am Ende war die Zeit doch schneller vergangen, als er erwartet hatte. Er hatte das Haus durch die Hintertür verlassen und gut zehn Minuten bis zu der Stelle gebraucht, an der er am vergangenen Abend das Motorrad versteckt hatte, weit genug von Bannermanns kleinem Privatgefängnis entfernt, dass man das Motorengeräusch dort selbst in der morgendlichen Stille nicht hören würde. Früher einmal hatte dieser Ort direkten Zugang zum Highway 91 gehabt, aber diese Interstate war auf gerade mal ein Zehntel ihrer ursprünglichen Länge zusammengeschrumpft. Mike hatte gestern Abend der Straßenbeschreibung entnommen, dass die 91 in diesem Dreistaatendreieck zwischen Utah, Arizona und Nevada durch die neuere Interstate 15 ersetzt worden war; nur noch zwischen St. George und Littlefield war ein längeres Stück der alten Strecke durchgehend befahrbar. Sanora war also nicht nur eine Geisterstadt, es lag auch an einer Geisterstraße. Strong und Bannermann hatten diesen Ort nicht von ungefähr für ihren kleinen Hinterhalt ausgesucht. Obwohl Mike sich die Karte aufmerksam eingeprägt und eine Beschreibung hatte, nach der er sein Ziel gar nicht verfehlen konnte, nahm er das herausgerissene Blatt noch einmal hervor und studierte es aufmerksam. Der Weg war nicht sehr weit -
zwei Meilen, etwas über drei Kilometer -, aber er würde ein Stück durch die Wüste fahren müssen, abseits der befestigten Strecke, und das bereitete ihm Sorgen. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, einen schweren Chopper statt einer Motocrossmaschine im Slalom zwischen Büschen, Kaninche nlöchern und Felsbrocken hindurchzulenken. Seine rechte Hand tat jetzt zwar nicht mehr so weh wie gestern, war jedoch weiter angeschwollen und kaum noch zu benutzen. Aber wenn er die Straße benutzte, lief er Gefahr, zu früh gesehen zu werden, und dann war sein Plan gescheitert, bevor er ihn überhaupt in Angriff genommen hatte. Mit einem unguten Gefühl schwang er sich in den Sattel, startete den Motor und blieb gut anderthalb oder zwei Minuten stehen, bis die Maschine richtig warm gelaufen war und rund lief. Erst dann setzte er den Helm auf, streifte die Handschuhe über und fuhr los. Es war schwer, aber nicht so schwer, wie er erwartet hatte. Mike fuhr langsam, weil er keinen Sturz riskieren wollte, und erreichte sicher die Felsgruppe neben der Straße, hinter der er die beiden anderen Maschinen versteckt ha tte. Noch etwa zehn Minuten, bis Bannermann vorbeikommen würde! Er lenkte die Intruder hinter die fast haushohen, geborstenen Felsen, stieg ab und ging zur Straße und dann noch einmal gut hundert Schritte in Richtung Sanora zurück, bevor er stehen blieb und sich davon überzeugte, dass die Motorräder von hier aus auch tatsächlich nicht zu sehen waren. Eine ganze Weile stand er einfach so da und blickte in die Richtung, aus der Bannermann und sein Deputy mit Stefan und Frank kommen mussten, dann wandte er sic h mit einem entschlossenen Ruck um und ging zu seinem Versteck zurück. Es waren jetzt nur noch wenige Minuten. Zeit genug für eine Zigarette. Der Gedanke entstand mit der Selbstverständlichkeit einer dreißig Jahre alten Gewohnheit in seinem Kopf, und er griff
ganz automatisch in die Jackentasche. Erst als er den rauen Kunststoff des Revolvergriffs statt der erwarteten Zigarettenpackung ertastete, wurde ihm klar, was er gerade getan hatte. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. Dann lächelte er. Statt der gewohnten Packung West oder Marlboro hatte er einen Revolver Kaliber 38 in der Tasche seiner Lederjacke; er fragte sich, was tödlicher war. Er zog die Hand leer heraus, drehte sich abermals um und ging bis zum Ende des monströsen Felsgebildes zurück, weit genug, um die Straße überblicken zu können. Irgendwo dicht vor dem formlosen Fleck am Horizont, der Sanora war, blitzte es kurz und silberhell auf; ein Lichtstrahl, der sich auf dem Metall des Streifenwagens oder auf Glas gebrochen hatte. Bannermann war pünktlich. Mikes Hand kroch ohne sein Zutun in die Jackentasche und schmiegte sich um den Revo lvergriff, aber das beruhigende Gefühl stellte sich nicht mehr ein. Er spürte nur noch harten Kunststoff, der nicht mehr als Katalysator für seine Angst diente, sondern sie im Gegenteil zu schüren schien. Wieder schimmerte ein Lichtblitz auf halbem Wege zwischen ihm und dem Horizont, und obwohl erst ein paar Sekunden seit dem ersten Mal verstrichen waren, schien er ihm diesmal bereits deutlich näher zu sein. Die Straße schlug zwar einen großen Bogen, aber es waren nur wenige Kilometer, und Bannermann fuhr sicherlich schnell. Er hatte jeden Grund dazu. Rasch ging Mike zu den Motorrädern zurück und schwang sich in den Sattel seiner Maschine. Die Schlüssel der beiden anderen Intruder steckten. Er griff noch einmal in die Tasche, als müsse er sich erneut davon überzeugen, dass die Waffe auch tatsächlich da war, dann legte er entschlossen den Gang ein und fuhr los; so langsam, dass er die Füße über den Boden schleifen lassen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und mit halb durchgezogener Kupplung, die rechte Hand griffbereit auf dem Gasgriff. Sie schmerzte jetzt wieder
stärker, aber irgendwie würde es schon gehen. Es verging nicht einmal mehr eine Minute, bis er das Motorengeräusch des näher kommenden Wagens hörte. Bannermann fuhr ziemlich schnell. Mike betete, dass er nicht noch weiter beschleunigte. Die Intruder war keine Rennmaschine und er kein guter Fahrer. Doch die Sorge war unbegründet. Da die Straße unmittelbar vor den Felsblöcken eine scharfe Kurve beschrieb, war Rasen hier unmöglich. Aus genau diesem Grund hatte er diesen Platz hier ausgewählt. Mike lauschte mit geschlossenen Augen. Als er hörte, wie Bannermann herunterschaltete, um seine Geschwindigkeit zu reduzieren, gab er Gas und ließ die Kupplung mit einem Ruck kommen. Die Intruder schoss mit einem noch stärkeren Ruck los, der Mike um ein Haar aus dem Sattel geschleudert hätte. Nur mit Mühe fand er sein Gleichgewicht und die Gewalt über die Maschine wieder, ermahnte sich in Gedanken zu etwas mehr Vorsicht und gab im nächsten Moment noch heftiger Gas. Das schwerfällige Motorrad drohte auf dem lockeren Sand auszubrechen und kippte gefährlich zur Seite. Doch dann war plötzlich griffiger Asphalt unter den Re ifen, und Mike gewann die Kontrolle über die Maschine endgültig zurück. Nicht einmal eine Sekunde, nachdem er die Intruder in spitzem Winkel auf die Straße hinausgelenkt hatte, erscholl hinter ihm ein wütendes Hupen, und im nächsten Augenblick jagte der Streifenwagen mit quietschenden Reifen so dicht an ihm vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Mike hatte sich hundert Mal vorgestellt, wie es sein würde, und er war fast selbst überrascht, zu beobachten, wie präzise und schnell er reagierte und seinem eigenen Plan folgte. Wie er erwartet hatte, raste der Streifenwagen nicht einfach weiter. Bannermann trat überrascht auf die Bremse, als er erkannte, wen er da um ein Haar über den Haufen gefahren hätte, und im gleichen Moment, in dem die Bremslichter des Patrol-Car
hellrot und warnend vor ihm aufleuchteten, riss Mike die Intruder nach links, beschleunigte noch weiter, bis der Motor unter ihm protestierend aufheulte, und trat dann mit aller Kraft auf die Bremse. Mit blockierend em Hinterrad schlingerte die Maschine an dem bremsenden Streifenwagen vorbei. Mike riss die Intruder abermals herum und nahm nun auch noch die Vorderradbremse zu Hilfe, um die Maschine möglichst schnell zum Stehen zu bringen. Das Ergebnis war ein wütender Schmerz, der ihm aus seiner rechten Hand bis in die Schulter hinaufschoss und die Tränen in die Augen trieb. Das Motorrad bockte, versuchte sich quer zu stellen und kam dann mit einem harten Ruck zum Stehen. Hinter ihm schoss der Streifenwagen heran. Bannermann bremste jetzt so hart, dass die Reifen schwarze Gummispuren auf dem Asphalt hinterließen und protestierend kreischten. Trotzdem sah es für eine einzige, furchterfüllte Sekunde so aus, als würde er es nicht schaffen. Der Wagen schlitterte weiter auf Mike zu. Buchstäblich im allerletzten Moment - die wuchtige Stoßstange des Patrol-Car war keine Handbreit mehr von der quer stehenden Maschine und damit Mikes rechtem Bein entfernt - brachte Bannermann das Fahrzeug zum Stehen. Fast gleichzeitig flog die Be ifahrertür auf, und Bannermanns Deputy sprang ins Freie. Sein Lieblingsspielzeug, die großkalibrige Pumpgun, hielt er in der linken Hand, aber er schien es nicht für nötig zu halten, damit auf Mike anzulegen. Vielleicht hatte er es in seinem Schrecken auch ganz einfach vergessen. Der Deputy schrie irgendetwas auf Englisch. Mike achtete nicht darauf, sondern hechtete mit einer einzigen, ungemein schnellen Bewegung über die Maschine, prallte auf der Motorhaube des Streifenwagens auf und rollte sich geschickt über die Schulter ab. Noch bevor der vollkommen verblüffte Deputy überhaupt begriff, wie ihm geschah, landete Mike vor ihm wieder sicher auf den Füßen, packte ihn bei den Schultern und
schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen das Wagendach, dass der Mann sein Gewehr fallen ließ und benommen auf die Knie sank. Mike stieß ihn vollends zu Boden, versetzte dem Schrotgewehr einen Tritt, der es klappernd über die gesamte Straßenbreite beförderte, und zog den Revolver aus der Tasche, noch während er sich umdrehte; alles in einer einzigen, rasend schnellen Bewegung, von der er niemals geglaubt hätte, dass er überhaupt imstande wäre, sie zu vollführen. Das nächste Wunder war, dass seine misshandelte rechte Hand überhaupt keine Probleme hatte, die Pistole zu halten, und er die Waffe durch das offen stehende Fenster auf der Beifahrerseite direkt auf Bannermanns Gesicht richten konnte. Er sah nur aus den Augenwinkeln, wie Stefan und Frank, die an den Handgelenken zusammengekettet auf der Rückbank des Wagens saßen, fassungslos die Augen aufrissen und ihn anstarrten. Aber er beging nicht den Fehler, seine Aufmerksamkeit auch nur einen Sekundenbruchteil von Bannermann zu lösen. Der Sheriff trug wieder seine verspiegelte Sonnenbrille sodass Mike seine Augen nicht sehen konnte. Das war allerdings auch nicht nötig. Bannermanns Gesicht war ein einziger Ausdruck von Fassungslosigkeit. Nicht einmal Schrecken und schon gar keine Angst zeichneten sich darauf ab, aber ein so vollkommener Unglaube, dass Mike sich nicht darüber gewundert hätte, wenn Bannermann einfach nur den Kopf geschüttelt hätte und weitergefahren wäre. Stattdessen löste er die rechte Hand vom Lenkrad und griff nach der Waffe, die er am Gürtel trug. »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Sheriff«, sagte Mike ruhig. Bannermanns Hand verhielt auf halbem Wege zwischen dem Steuer und dem Griff des Revolvers. »Mike?«, murmelte Frank von der Rückbank. Seine Stimme klang so fassungslos, wie Bannermanns Gesicht aussah.
»Aber was ...?« »Nicht jetzt«, sagte Mike rasch. Er wedelte auffordernd mit dem Revolver. »Steigen Sie aus, Sheriff. Ganz langsam. Und auf meiner Seite.« Bannermann rührte sich zwei oder drei Sekunden lang nicht, dann nahm er ganz langsam auch die linke Hand vom Steuer und rutschte gehorsam auf den Beifahrersitz. Mike trat zwei oder drei Schritte zurück und warf einen schnellen Blick auf den Deputy. Der Mann war nicht bewusstlos, hielt sich jedoch stöhnend den Kopf. Auf seiner Stirn prangte eine hässliche Platzwunde, die vermutlich nicht gefährlich, ganz bestimmt aber sehr schmerzhaft war. Mike gönnte sie ihm von Herzen. Als Bannermann die Tür öffnete, trat Mike noch zwei weitere Schritte zurück und wedelte drohend mit dem Revolver. »Ganz langsam, Sheriff. Und ich will Ihre Hände sehen, wenn Sie die Tür aufmachen.« Der Sheriff legte gehorsam die rechte Hand in das offene Fenster und betätigte den Türgriff sehr vorsichtig mit der linken. Noch vorsichtiger stieg er aus und hob schließlich beide Hände in Schulterhöhe. Der ungläubige Ausdruck war mittlerweile vo n seinem Gesicht verschwunden, aber Mike suchte vergeblich nach Furcht oder Schrecken darin. Bannermann sah jetzt eindeutig wütend aus. Wütend genug, um eine Dummheit zu begehen. »Was immer Sie jetzt vorhaben, Sheriff«, warnte er ihn, »tun Sie es lieber nicht. Ich bin nicht besonders geübt in solchen Dingen, müssen Sie wissen. Und Amateure neigen zum Übertreiben, wie Ihnen ja wahrscheinlich nicht ganz unbekannt ist.« Bannermann schürzte verächtlich die Lippen. »Sie glauben doch nicht, dass Sie damit durchkommen?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Mike so gelassen er konnte. »Aber das ist dann nicht mehr Ihr Problem.« Er wedelte wieder drohend mit der Waffe, was in Bannermanns Augen wahr-
scheinlich eher albern aussah. »Ich nehme an, Sie haben die Schlüssel zu den Handschellen bei sich?« Bannermann schwieg. Mike konnte seine Augen hinter dem verspiegelten Glas der Sonnenbrille noch immer nicht sehen, aber er glaubte, die Wut darin jetzt regelrecht zu spüren. Er musste noch vorsichtiger sein; auf keinen Fall durfte er es übertreiben. »Ihre Waffe, bitte, Sheriff«, sagte er. »Ziehen Sie sie mit der linken Hand, und ganz langsam.« Bannermann gehorchte auch jetzt, ohne zu widersprechen. Ganz langsam zog er den Revolver mit spitzen Fingern aus dem Halfter, hielt ihn am aus gestreckten Arm vor sich und ließ ihn fallen, als Mike eine entsprechende Geste machte. »Und jetzt?« »Aber das wissen Sie doch«, sagte Mike. Bannermann machte ein abfälliges Geräusch. »So? Weiß ich das? Ich nehme an, Sie werden mich jetzt erschießen?« »Das hatte ich eigentlich nicht vor.« »Das solltest du aber«, sagte Bannermann plötzlich mit ve ränderter, fast hasserfüllter Stimme. »Wenn du es nämlich nicht tust, dann verspreche ich dir ...« »... dass Sie mich bis ans Ende der Welt jagen werden, und wenn es das Letzte ist, was Sie in Ihrem Leben tun, ich weiß«, unterbrach ihn Mike. »Aber eigentlich glaube ich das nicht.« »Dann bist du noch dümmer, als ich dachte«, sagte Banne rmann. »Vielleicht«, antwortete Mike. »Vielleicht fallt mir auch nur die Vorstellung schwer, dass Sie diese Geschichte Ihren Kollegen erzählen werden.« Bannermann schwieg. Mike konnte sehen, wie es hinter der scheinbar unbeweglichen Maske seines Gesichtes arbeitete. Etwas bewegte sich neben ihm. Der Deputy. Mike beging nicht den Fehler, sich umzudrehen - Bannermann lauerte nur auf eine solche Gelegenheit -, sondern machte rasch drei Schritte rückwärts, um den Deputy und Bannermann zugleich
im Auge behalten zu können. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er doch einen Fehler begangen hatte; vermutlich nicht den ersten. Der Deputy trug noch seine Waffe im Gürtel. Gottlob war er noch immer viel zu benommen, um auch nur an Widerstand zu denken. »Ihren Revolver!«, verlangte Mike. Der Mann reagierte nicht, sondern fuhr fort, stöhnend sein Gesicht zu betasten. Auch aus seinem Mund lief Blut. »Sagen Sie ihm, dass er die Waffe wegwerfen soll«, wandte sich Mike an Bannermann. »Vorsichtig.« »Und wenn ich das nicht tue?«, fragte Bannermann lauernd. »Erschießen Sie mich dann?« »Lassen Sie’s drauf ankommen«, sagte Mike. Er war selbst erstaunt, wie ruhig er diese Worte hervorbrachte. Bannermann überlegte kurz, wandte sich dann an seinen Deputy und wiederholte Mikes Aufforderung in Englisch. Mike beförderte auch diese Waffe mit einem Fußtritt auf die andere Straßenseite und richtete seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf Bannermann. »Und jetzt machen Sie die beiden frei. Und keine Dummheiten.« Wieder vergingen Sekunden, in denen Bannermann ihn nur trotzig anstarrte. Er sagte nichts, er machte nicht einmal eine verdächtige Bewegung, und trotzdem war dieser letzte Auge nblick die entscheidende Kraftprobe zwischen ihnen - die Mike gewann. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte sich Bannermann ganz langsam um, öffnete die hintere Tür des Wagens und bedeutete Frank mit einer groben Bewegung, auszusteigen. »Freut euch nicht zu früh«, knurrte er. »Damit kommt ihr nicht durch, das verspreche ich euch!« Frank und Stefan kletterten umständlich aus dem Wagen. »Die Handschellen!«, verlangte Mike. Widerstrebend und viel langsamer, als notwendig gewesen wäre, griff Bannermann in die Hosentasche, förderte seinen
Schlüsselbund zutage und öffnete die stählerne Handfessel, die Stefan und Frank aneinander band. Stefan wich sofort zwei Schritte zurück und begann sein rechtes Handgelenk zu massieren. Frank blieb einfach stehen, noch immer fassungslos darüber, was hier vor sich ging. »Und jetzt?« Bannermann drehte sich um und maß Mike mit einem verächtlichen Blick, den dieser sogar durch die Sonne nbrille hindurch spürte. »Jetzt werden Sie das Funkgerät aus dem Armaturenbrett reißen«, antwortete Mike. »Und danach werden Sie die Freundlichkeit besitzen, die Motorhaube zu öffnen und mir Ihre Verteilerkappe auszuhändigen.« Er grinste flüchtig. »Ich würde es ja selber tun, aber ich bin technisch le ider ziemlich unbegabt.« Bannermann schien etwas sagen zu wollen, beließ es dann aber beim verächtlichen Verziehen der Lippen, deutete ein Achselzucken an und ging mit provozierend langsamen Schritten um den Wagen herum, um die Tür auf der anderen Seite zu öffnen. Mike deutete auf den Deputy. »Passt auf ihn auf«, sagte er. Dann folgte er Bannermann mit schnellen Schritten und in respektvollem Abstand. Er beobachtete aufmerksam, wie der Sheriff das altmodische Funkgerät mit einiger Mühe aus dem Armaturenbrett löste, nachdem er eine Steckverbindung gelöst hatte. Mike deutete mit dem Kopf nach unten. Bannermann ließ sich vorsichtig in die Hocke sinken und legte das Gerät behutsam auf den heißen Asphalt. Mike wartete geduldig, dann forderte er ihn mit einer Geste auf, ein paar Schritte zurückzutreten, ergriff den Revolver mit beiden Händen und zielte sorgfältig. Der Schuss hallte unerwartet laut über die leere Straße. Frank und Stefan fuhren erschrocken zusammen und wirbelten zu ihm herum. Auch Bannermann zuckte, als hätte die Kugel ihn
und nicht das Funkgerät getroffen, das zwei Meter vor seinen Füßen in einer Wolke aus fliegenden Kunststoffsplittern und verdrehtem Metall auseinander flog. »Jetzt den Verteiler«, verlangte Mike. Bannermann beugte sich abermals in den Wagen, öffnete die Motorhaube und ging dann nach vorne. Mike folgte ihm auch jetzt in gebührendem Sicherheitsabstand. Aufmerksam sah er zu, wie Bannermann den Verteilerkopf löste und ihn auf eine entsprechende Geste hin ebenso behutsam zu Boden legte wie zuvor das Funkgerät. Diesmal verzichtete Mike darauf, die Pistole abzufeuern. Er zerstampfte das spröde Plastikgehäuse einfach mit einem einzigen Fußtritt. Bannermanns Lippen wurden noch schmaler. »Ich denke, das wäre es für den Moment«, sagte Mike lächelnd. »Sie können gehen.« »Gehen?« »Sie und Ihr Deputy.« Mike machte eine entsprechende Kopfbewegung. »Verschwinden Sie.« An Stefan und Frank gewandt, fügte er hinzu: »Sammelt ihre Waffen ein.« »Du bist jetzt schon tot«, sagte Bannermann. »Besser, du schießt uns gleich über den Haufen. Wenn du es nicht tust, werde ich es tun, wenn wir uns das nächste Mal sehen.« »Beeindruckend«, antwortete Mike. »Darf ich Sie in einem meiner nächsten Bücher zitieren?« Bannermann schnaubte verächtlich. Rasch ging er zu seinem Deputy hin, half ihm auf die Beine und sah dann mit einer Mischung aus Herablassung und hilfloser Wut zu, wie Frank und Stefan die Waffen einsammelten. Mike wartete, bis beide fertig waren, dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung der Felsgruppe, von der sie sich während der kurzen Verfolgungsjagd gute zweihundert Meter entfernt hatten. »Gehen wir.«
Sowohl Stefan als auch Frank blickten ihn weiter fragend und verständnislos an, aber sie waren viel zu schockiert, um irgendetwas zu sagen und folgten schweigend, während Mike den Sheriff und seinen Stellvertreter vor sich hertrieb. Mit einem Gefühl leichter Beunruhigung registrierte Mike, dass zwar Frank Bannermanns Waffe eingesteckt hatte, Stefan jedoch das großkalibrige Schrotgewehr auf den Rücken des Deputys gerichtet hielt. Das war nicht nur gefährlich, es war auch nicht besonders klug. Der Mann schien schwerer verletzt zu sein, als es den Anschein gehabt hatte. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, und Bannermann musste ihn stützen. Vielleicht war das auch ein Vorteil. Solange Bannermann seine Hände brauchte, um dem Deputy zu helfen, konnte er nichts anderes damit anfangen. Sie blieben auf der Straße, weil es sich auf dem Asphalt leichter gehen ließ als auf dem unebenen Wüstenboden. Frank riss erstaunt die Augen auf, als sie die Felsgruppe erreichten und er die beiden dahinter stehenden Motorräder entdeckte. »Woher ...?« »Ich habe sie heute Nacht hierher gefahren«, sagte Mike. »Aber woher hattest du ...?« »Nicht jetzt«, unterbrach ihn Mike. »Holt die Maschinen. Die Schlüssel stecken. Ich warte mit unseren beiden Freunden hier.« Frank und Stefan tauschten einen ebenso verständnislosen wie beunruhigten Blick. Als Stefan etwas sagen wollte, machte Frank jedoch nur eine hastige, auffordernde Kopfbewegung. Sie rannten die letzten Meter zu den Motorrädern. Nur einen Augenblick später saßen sie in den Sätteln, starteten die Maschinen und fuhren zurück. Mike hob grinsend die linke Hand und machte mit dem Daumen das Anhalterzeichen, als Frank unmittelbar neben ihm hielt. »Nur einen Moment noch«, sagte er. Auch Bannermann und sein Deputy waren stehen geblieben
und hatten sich wieder zu ihm umgedreht. Der Hilfssheriff wirkte immer noch benommen, hatte nun allerdings wieder die Kraft, alleine zu stehen. Bannermann schien seine Überraschung endgültig überwunden zu haben. Es sah ganz so aus, als überlegte er ernsthaft, sich einfach auf Mike zu stürzen, ob dieser nun eine Waffe hatte oder nicht. »Tun Sie das nicht, Sheriff«, warnte ihn Mike. »Wir wollen einfach nur hier weg, sonst nichts. Niemand muss zu Schaden kommen.« »Dazu ist es ein bisschen zu spät«, sagte Bannermann. Sein Deputy wankte. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Er machte einen Schritt nach vorne, als müsse er um sein Gleichgewicht kämpfen, und streckte Halt suchend den Arm aus. Bannermann sprang rasch hinzu, um ihm zu helfen. Jedenfalls sah es so aus. Während er jedoch den Mann mit der linken Hand stützte, fuhr er mit der rechten in einer blitzschnellen Bewegung unter sein Hemd, und als er sie wieder hervorzog, hielt er etwas Kleines, Glitzerndes und Tödliches darin. Bannermann wirbelte so schnell herum, dass Mike der Bewegung kaum zu folgen vermochte. Obwohl er selbst die Hand am Abzug hatte, wäre Bannermann ihm um ein Haar zuvor gekommen. Noch in der Drehung spannte sein Daumen den Hahn, in einer fließenden, tausendmal geübten Bewegung. Und Mike hatte keine Wahl mehr. Er drückte viermal hintereinander ab. Die beiden ersten Kugeln trafen Bannermann in Brust und Schulter und schleuderten ihn zurück, die beiden anderen trafen den Deputy dicht nebeneinander in den Rücken. Der Deputy brach wie vom Blitz getroffen zusammen, während Bannermann noch zwei, drei Schritte rückwärts taumelte und es irgendwie fertig brachte, seine Waffe weiter zu heben und nunmehr genau auf Mike zu zielen. Aber seine Kraft reichte nicht mehr, den Abzug durchzuzie-
hen. Plötzlich ließ er die Arme sinken. Eine Sekunde lang stand er völlig reglos da, und auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck von Verblüffung breit, der nahezu komisch wirkte. Er ließ die Waffe fallen, streckte die linke Hand nach dem rasch größer werdenden, dunklen Fleck auf seinem Hemd aus und führte auch diese Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen sank er langsam auf die Knie, verharrte noch ein, zwei Sekunden lang wankend und mit letzter Willenskraft kämpfend in dieser Pose, bevor er schließlich nach vorne kippte. Mike ging schleppend auf die beiden Männer zu. Hinter ihm begann Stefan irgendetwas zu schreien. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie seine Freunde mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zugerannt kamen. Langsam näherte er sich den beiden Männern, die nur wenige Schritte nebeneinander auf der Straße lagen. Beide rührten sich nicht mehr, aber Mike blieb trotzdem auf der Hut. Seine rechte Hand pochte und schmerzte vom Rückschlag der Waffe, und er spürte eine Mischung aus kaltem Entsetzen und einer fast perversen Befriedigung. Die Waffe unverwandt weiter auf den Deputy gerichtet, blieb er neben diesem stehen und stieß ihn vorsichtig mit dem Fuß an. Als der Mann nicht reagierte, ging er langsam zu Bannermann hinüber und wiederholte die gleiche Prozedur - mit dem gleichen Ergebnis. Noch immer angespannt, aber dennoch vorsichtig erleichtert, trat er einen Schritt zurück und drehte sich um. Frank und Stefan kamen aus verschiedenen Richtungen auf ihn zugerannt. Stefan fuchtelte wild mit den Armen und blieb plötzlich stehen. Seine Augen wurden so groß vor Entsetzen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes aus den Höhlen zu quellen schienen. Frank, der noch ein paar Schritte weiter entfernt war, bewegte sich langsamer, stockender, und schließlich blieb auch er stehen, vier oder fünf Meter hinter Stefan, aber mit einem ebensolchen Ausdruck ungläubigen Entsetzens auf dem Gesicht.
»Was ...?«, stammelte Stefan. »Ich hatte keine Wahl«, antwortete Mike. Er deutete auf den kurzläufigen Revolver, als erkläre dies alles. »Er ... er hatte eine Waffe. Er wollte auf mich schießen!« »Du hast ihn umgebracht«, murmelte Stefan. Er schaute abwechselnd Bannermann und den Deputy an und sagte noch einmal, diesmal leiser und in einem Tonfall, wie Mike ihn noch nie zuvor gehört hatte: »Du hast sie erschossen. Du hast beide umgebracht.« »Es war Notwehr!«, verteidigte sich Mike. »Ich musste es tun! Wenn ich nicht geschossen hätte, hätte er es getan. Er hatte eine Waffe!« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete mit zitternden Händen auf Bannermanns Revolver, der unmittelbar vor dem Toten auf der Straße lag. »Hier, sieh selbst. Die hatte er versteckt! Sie hätten uns alle drei umgebracht, wenn ich ihnen nicht zuvorgekommen wäre.« »Du hast sie erschossen«, stammelte Stefan immer wieder. In seinem Blick lag jetzt kein Entsetzen mehr, sondern etwas Schlimmeres. Er hatte gar nicht registriert, was Mike gesagt hatte. Frank erwachte endlich aus seiner Erstarrung und trat mit zwei schnellen Schritten direkt neben Stefan, wagte es aber nicht, noch näher zu kommen. Ungläubig und mit einem vollkommen verständnislosen und zutiefst entsetzten Ausdruck im Gesicht blickte er abwechselnd die beiden toten Polizisten, Bannermanns Waffe und den Colt in Mikes Hand an. »Nein«, flüsterte er. »Das hätte nicht passieren dürfen!« »Glaubst du, das hat mir Spaß gemacht?«, brüllte Mike. »Was hätte ich denn tun sollen? Mich abknallen lassen? Er hatte eine Waffe, seht selbst!« Er ging in die Knie, um mit der freien Linken nach Banne rmanns Revolver zu greifen, aber Frank machte eine erschrockene Bewegung und sagte hastig: »Fass ihn nicht an!« Mike erstarrte mitten in der Bewegung, richtete sich wieder
auf und sah Frank fragend an. »Rühr sie nicht an«, sagte Frank noch einmal. »Wir dürfen überhaupt nichts anrühren.« Er wirkte immer noch entsetzt und vor Schrecken und Unglauben wie gelähmt, aber Mike konnte auch sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. »Das ist doch Wahnsinn«, stammelte Stefan. »Sie ... sie sind tot. Sie sind doch tot, oder?« »Ich glaube schon«, antwortete Mike. »Du kannst dich natürlich gern überzeugen.« Stefan wich erschrocken einen halben Schritt zurück. Frank setzte jedoch tatsächlich dazu an, weiterzugehen und Mikes Vorschlag zu folgen. Das durfte nicht passieren. »Wir müssen hier verschwinden«, sagte Mike hastig. »Schnell!« Frank blieb stehen und blickte unschlüssig von ihm zu den beiden reglos daliegenden Männern und wieder zurück. »Aber wir können sie doch nicht einfach so liegen lassen«, murmelte Stefan. »Jemand wird sie finden und dann ...« »Hier kommt niemand vorbei«, unterbrach ihn Mike. »Woher willst du das wissen?«, fragte Frank. »Weil dieses ganze verdammte Kaff eine Geisterstadt ist«, antwortete Mike. »Außer diesen beiden Kerlen da und uns ist niemand hier. Und so, wie es aussieht, wird sich das auch so schnell nicht ändern.« »Woher weißt du das?«, fragte Frank. Er klang verwirrt, aber auch eine Spur misstrauisch. »Was glaubst du, was ich die ganze Nacht gemacht habe?«, erwiderte Mike. »Du hattest Recht, weißt du? Die beiden sind keine Polizisten. Und sie hatten keine Sekunde lang vor, uns am Leben zu lassen. Ich hatte keine Wahl.« »Trotzdem«, stammelte Stefan. »Wir müssen ...« »Wir müssen von hier verschwinden«, fiel ihm Mike ins Wort. Er hob die Waffe, mit der er auf Bannermann und den
Deputy geschossen hatte, suchte eine Sekunde lang nach dem Sicherungshebel und legte ihn um, bevor er den Revolver einsteckte. »Holt die Maschinen, und dann machen wir, dass wir hier wegkommen. Die Staatsgrenze nach Nevada ist nur ein paar Minuten entfernt. Wenn wir erst einmal dort sind, sind wir in Sicherheit. Wenigstens für den Moment.« Frank starrte ihn nur an. Etwas ... ging in ihm vor. Etwas, das Mike nicht gefiel und das er nicht richtig einordnen konnte. Stefan hingegen näherte sich mit Riesenschritten der Hysterie. »Aber das können wir doch nicht tun! Das ... das ist ...« »Mike hat Recht«, sagte Frank ruhig, aber mit leiser, bebender Stimme. »Wir müssen von hier verschwinden.« »Dann müssen wir unsere Spuren verwischen«, stammelte Stefan. »Der Streifenwagen! Darin sind überall unsere Fingerabdrücke.« »Und was willst du tun?«, erkundigte sich Mike. »Ihn in die nächste Waschanlage fahren?« »Wir könnten ihn in Brand stecken«, schlug Stefan vor. »Prima Idee«, lobte Mike. »Damit jemand die Rauchwolke sieht und vielleicht die Feuerwehr ruft, wie?« »Außerdem wimmelt es in der Stadt nur so von unseren Fingerabdrücken«, fügte Frank hinzu. »Mike hat Recht: Wir müssen weg, nach Vegas, und sofort die nächste Maschine nach Europa nehmen, bevor irgendjemand anfängt, hier herumzuschnüffeln.« Mike atmete innerlich erleichtert auf. Das war der gefährlichste Moment gewesen. Er hatte damit gerechnet, dass Stefan das größere Problem sein würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er sosehr die Kontrolle über sich verlieren würde. Mike tauschte einen besorgten Blick mit Frank und wurde mit einem angedeuteten Kopfnicken belohnt. Sie
würden beide auf Stefan aufp assen müssen. »Also los«, sagte er erneut. »Holt die Maschinen.« * Wie Mike vorhergesagt hatte, erreichten sie die Staatsgrenze nach Nevada kaum zehn Minuten später - aber sie erlebten eine unangenehme Überraschung. Die Straße war nach den ersten drei, vier Meilen hinter Sanora immer schlechter geworden und hatte am Schluss kaum mehr die Qualität eines besseren Feldweges, mündete dann aber in die Interstate 15, genau wie es auf der Detailkarte eingezeichnet war. Mike, dessen Hand immer unerträglicher schmerzte, sodass er sich ernsthaft zu fragen begann, wie lange er überhaupt noch in der Lage sein würde, das Motorrad zu halten, bildete den Schluss der kleinen Kolonne, während Frank sich an die Spitze gesetzt hatte; diesmal nicht zufällig. Sie hatten Stefan in einer Art stillschweigender Übereinkunft in die Mitte genommen, und das war wohl auch nötig. Stefan fuhr unkonzentriert und schlecht, und mehr als einmal konnte Mike nur durch ein hastiges Ausweichmanöver verhindern, dass er ihn rammte. Sie würden eine längere Pause einlegen müssen, sobald sie in Nevada und ein Stück von der Grenze entfernt waren. Jedenfalls war das der Plan. Nun lag die Staatsgrenze vor ihnen. Schlimm war allerdings, dass sie nicht, wie erwartet, nur durch ein einfaches Schild am Straßenrand gekennzeichnet war. Es war vielmehr ein weitlä ufiger Gebäudekomplex, der sich rechts und links der Interstate erstreckte und Mike an die festungsähnlichen Kontrollpunkte erinnerte, wie es sie früher zwischen den beiden Teilen Deutschlands gegeben ha tte. Die unangenehmste Überraschung aber waren die vier Streifenwagen, die so auf der Straße abgestellt waren, dass man nur im Slalom und sehr langsam zwischen ihnen hindurchfahren konnte. Es war nicht unbedingt
das, was Mike sich unter einer Straßensperre vorgestellt hätte, kam diesem aber ziemlich nahe. Frank lenkte seine Maschine nach links und ließ sich zurückfallen, bis er an Mikes Seite war. »Da vorne ist ein Truckstop«, sagte er. »Ich schlage vor, wir halten dort an.« Mike nickte nur. Der schmucklose Flachbau, etwa fünfhundert Meter vor dem Kontrollpunkt, sah auf den ersten Blick leer aus, wenn auch nur aufgrund seiner enormen Größe. Auf dem fast Fußballfeld großen Parkplatz wirkte das halbe Dutzend riesiger Lastwagen nahezu verloren. Mike war nicht besonders wohl dabei, mit den Motorrädern unmittelbar bis vor das Gebäude zu fahren. Er hätte es vorgezogen, die Maschinen etwas abseits zu parken, vielleicht im Sichtschutz eines der riesigen Trucks, aber Frank gab plötzlich Gas und legte einen völlig unnötigen Endspurt ein, sodass sie gar keine andere Wahl mehr hatten. Erst als sie das Gebäude fast erreicht hatten, registrierte Mike den Streifenwagen, der neben einem der riesigen Laster parkte. Doch jetzt war es zu spät, umzukehren, ohne sich verdächtig zu machen. Frank und Stefan hatten mittlerweile neben dem Eingang des Truckstops angehalten und waren abgestiegen. »Alles in Ordnung?«, fragte Frank leise, als Mike sich zu ihnen gesellte. Ihm entging natürlich nicht, wie schwer es Mike fiel, anzuhalten und den Ständer herauszuklappen, und wie umständlich und mühsam er von der Maschine stieg. »Nein«, antwortete Mike. »Aber ich halte schon durch, keine Angst.« Frank antwortete mit einem angedeuteten Achselzucken, drehte sich um und betrat das Lokal. Obwohl Mike fast nicht mehr damit gerechnet hatte, riss sich auch Stefan vom Anblick des Streifenwagens los und folgte ihm. Mike betrat den Truckstop als Letzter. Stefan und Frank steuerten - gewiss nicht durch Zufall - einen Tisch am Fenster an, ganz am anderen Ende des Lokals. Mike dagegen schwenk-
te nach einem kurzen, suchenden Blick nach rechts und betrat die Toilette. Er ging zum Waschbecken, zerrte den improvisierten Verband herunter und ließ minutenlang eiskaltes Wasser über seine rechte Hand laufen. Im ersten Moment machte die Kälte es noch schlimmer, und der Schmerz wurde fast unerträglich, dann aber stellte sich der gewünschte Effekt ein, und seine Hand begann sich taub anzufühlen. Sie pochte immer noch, allerdings längst nicht mehr so schlimm wie zuvor. Erst als die Kälte sein Handgelenk erreicht hatte und langsam weiter nach oben zu kriechen begann, drehte er das Wasser ab, hob die Hand vors Gesicht und bewegte prüfend die Finger. Es ging, wenn auch nicht annähernd so gut, wie er es gerne gehabt hätte. Allein die Tatsache, dass er alle Finger bewegen konnte, deutete jedoch darauf hin, dass entgegen seiner Befürchtung nichts gebrochen war. Immerhin etwas. Er trocknete sich sorgfältig die Hände ab, verließ die Toilette wieder und ging mit bewusst langsamen Schr itten auf den Tisch am anderen Ende des Lokals zu. Stefan und Frank waren unübersehbar in einen heftigen Streit verwickelt. Sie hatten sich noch gut genug in der Gewalt, um ihre Stimmen zu senken, aber Stefans heftiges Gestikulieren und Franks finsterer Gesichtsausdruck sprachen Bände. Stefan war so aufgeregt, dass er ununterbrochen auf seinem Stuhl herumrutschte und unfähig schien, die Hände still zu halten; vor beiden stand bereits eine Tasse mit dampfend heißem Kaffee. Stefan rührte ununterbrochen mit einem Löffel darin, obwohl er weder Milch noch Zucker nahm. Als Mike näher kam, brachte Frank Stefan mit einer energischen Geste zum Schweigen und richtete sich auf seinem Stuhl auf. Ein sonderbarer Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. Er wartete, bis Mike vor der dritten Tasse Kaffee Platz genommen und danach gegriffen hatte, dann räusperte er sich umständlich und begann: »Hör mal, Mike, wir müssen dir etwas sagen. Es ist ...«
»Nicht jetzt«, sagte Mike. Er griff mit der linken Hand nach der Kaffeetasse, trank einen winzigen Schluck und verzog angeekelt das Gesicht, als ihm auffiel, dass er weder Zucker noch Milch genommen hatte. »Aber es ist wirklich wichtig«, beharrte Frank. »Es geht um Bannermann und Strong. Sie ...« »Sie sind tot, ich weiß«, unterbrach Mike. Er hatte ganz bewusst etwas lauter gesprochen, als vielleicht gut war, und wie erwartet fuhr Stefan fast entsetzt zusammen. Frank bedeutete ihm mit einer raschen, beinahe hastigen Bewegung, leiser zu sprechen. »Das auch, aber ...« »Ich glaube, das ist im Moment alles, was zählt«, fiel ihm Mike ins Wort. »Oder seid ihr anderer Meinung?« Frank wollte antworten, doch Stefan kam ihm zuvor: »Ich halte das nicht mehr aus. Wir müssen endlich Schluss machen mit diesem Irrsinn! Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen!« »Dann solltest du vielleicht etwas leiser reden.« Mike machte eine Kopfbewegung zur Tür, und als Stefan sich gehorsam umdrehte, fügte er hinzu: »Oder wir können gleich mit den beiden freundlichen Herren dort sprechen.« Stefan sog mit einem erschrockenen Keuchen die Luft zw ischen den Zähnen ein. Die Tür hatte sich geöffnet, und zwei Polizeibeamte betraten den Truckstop; vermutlich die Besatzung des Streifenwagens, den sie draußen gesehen hatten. Einer der beiden steuerte sofort einen freien Tisch an, der andere verhielt einen Moment im Schritt und ließ den Blick aufmerksam durch den Raum schweifen. Mike beobachtete seine beiden Freunde ganz genau. Stefan sah ganz so aus, als ob ihn jeden Moment der Schlag träfe. Frank reagierte gar nicht, doch Mike kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er hinter seiner mühsam aufrechterhaltenen Fassade ebenfalls der Panik nahe war.
»Nur keine Sorge«, sagte er leise. »Wenn sie unseretwegen hier wären, wären sie wohl kaum allein gekommen.« »Starr sie nicht so an!«, sagte Frank gepresst. Es vergingen noch einmal zwei, drei endlose Sekunden, dann riss Stefan seinen Blick endlich von den beiden Polizisten los und sah abwechselnd Frank und Mike an. »Das ist verrückt«, murmelte er. »Wir müssen mit diesem Wahnsinn endlich aufhören.« Er wandte sich direkt an Frank. »Du musst es ihm sagen!« »Und ich will es nicht hören«, sagte Mike. »Was immer es ist - mein Entschluss steht fest. Ich werde weder zurückfahren noch irgendeinen anderen Unsinn tun, wie mich zum Beispiel den Behörden stellen. Ich weiß, was ihr sagen wollt - das alles war nicht unsere Schuld. Wir hatten gar keine andere Wahl. Das mag stimmen. Und wenn wir hier in Deutschland oder in irgendeinem anderen europäischen Land wären, dann würde ich es wahrscheinlich darauf ankommen lassen. Aber nicht hier. Selbst wenn wir freigesprochen werden, vergehen bis dahin drei, vier Jahre, wenn nicht mehr.« »Darum geht es nicht«, sagte Frank. »Alles ist ganz anders, als du glaubst. Stefan und ich ...« »Es interessiert mich nicht!«, unterbrach ihn Mike, schärfer als gewollt und laut genug, dass einer der beiden Polizisten am Tisch gegenüber den Kopf hob und fragend in seine Richtung blickte. Mike lächelte nervös zurück und senkte die Stimme, als er weitersprach: »Wenn es euer Gewissen beruhigt, dann verspreche ich euch, dass wir zu einem guten Anwalt gehen, sobald wir wieder zu Hause sind. Und wenn nicht, dann schlage ich vor, dass wir uns hier und jetzt trennen und jeder versucht, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Ich verlange nichts anderes von euch als ein paar Stunden Vorsprung. Nur genug, um das nächste Flugzeug zu erreichen.« »Du bist völlig wahnsinnig!«, sagte Frank. »Wir kommen nicht einmal aus diesem Staat heraus, geschweige denn aus
diesem Land. Hast du die Straßensperre draußen zufällig übersehen?« »Nein«, antwortete Mike. »Aber ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht uns gilt.« Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf die beiden Polizisten. »Oder glaubst du, die beiden würden in Ruhe dort drüben sitzen und Kaffee trinken, wenn sie auf der Suche nach drei Motorradfahrern wären, die zwei ihrer Kollegen umgebracht haben?« »Ich habe niemanden umgebracht«, sagte Stefan, »und Frank auch nicht.« »Prima«, antwortete Mike in fast fröhlichem Ton und mit einem eisigen Blick, dem Stefan weniger als eine Sekunde standhielt. »Das macht dann vielleicht den Unterschied zwischen fünfzehn Jahren und lebenslänglich aus. Wenn du es riskieren willst, nur zu!« Die Kellnerin kam, um nach ihren Wünschen zu fragen. Stefan nahm die Speisekarte und deutete wahllos auf irgendetwas. Frank schloss sich mit einem unwilligen Nicken an. Mike jedoch ließ sich ausreichend Zeit, um sich ein Frühstück zusammenzustellen, an dem er sonst wohl den ganzen Tag gegessen hätte: Rühreier mit Schinken, zwei Pfannkuchen, ein großes Glas Orangensaft und als Nachtisch noch einen Doughnut. Er hatte entsetzlichen Hunger. Die Kellnerin notierte alles gehorsam und bedankte sich mit einem Lächeln, bevor sie wieder ging. Frank sah ihr kopfschüttelnd nach und wandte sich schließlich mit einem Stirnrunzeln an Mike. »Glaubst du, das ist jetzt der richtige Moment, um ein Festmahl zu beginnen?« »Nein«, antwortete Mike. »Aber ich glaube, dass wir noch jedes bisschen Kraft brauchen werden. Außerdem«, fügte er nach einer winzigen Pause und mit einem wehleidigen Blick auf seine Hand hinzu, »kann ich im Moment sowieso nicht weiterfahren.« »Schlimm?«, erkundigte sich Frank.
Trotz allem klang die Sorge in seiner Stimme echt. Mike schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich brauche vielleicht eine halbe Stunde, dann geht es sicher wieder. Hast du die Karte dabei?« Frank nickte nervös. Obwohl man ihm ansah, dass er liebend gern etwas anderes gesagt oder getan hätte, griff er unter die Jacke und zog die zusammengefaltete Straßenkarte heraus. Nachdem er seine Kaffeetasse zur Seite geschoben hatte, breitete er sie vor sich auf der Tischplatte aus und deutete nach kurzem Suchen auf einen Punkt, direkt neben der rot gestrichelt eingezeichneten Staatsgrenze. »Wir sind hier.« Sein Zeigefinger fuhr die nach Südwesten führende Linie der Interstate entlang. »Unser Sprit reicht vielleicht noch vierzig oder fünfzig Meilen. Aber das ist kein Problem. Wir werden auf alle Fälle vorher die nächste Tankstelle erreichen - hier, seht ihr?« Mike beugte sich gehorsam vor und studierte die Karte, während Stefan demonstrativ an ihm vorbei aus dem Fenster starrte. »Von da ab geht es praktisch nur noch geradeaus«, fuhr Frank fort. »Selbst wenn wir uns an die Geschwindigkeitsbeschränkung halten - was ich dringend empfehlen würde -, müssten wir Las Vegas am späten Nachmittag erreichen.« Er warf Stefan einen fast beschwörenden Blick zu. »Ich bin nicht begeistert, aber wahrscheinlich hast du Recht. Es wäre vollkommen irrsinnig, hier zu bleiben.« »Aber wenn sie uns irgendwo unterwegs erwischen, wird alles nur noch schlimmer«, sagte Stefan leise und ohne einen von ihnen anzublicken. »Wie sollten sie uns erwischen?«, fragte Mike. »Es gibt keine Zeugen. Bannermann und sein sauberer Kumpan haben ja dafür gesorgt, dass außer uns niemand da war. Selbst wenn sie die beiden schon bald finden - es gibt keine Verbindung zu uns.« »Und wenn doch?«, fragte Stefan. »Was ist mit der Waffe?
Dem Revolver, mit dem du Bannermann erschossen hast?« Mike spielte perfekt den Überraschten. »Oh«, machte er. Franks Augen wurden groß. Er verlor deutlich an Farbe. »Sag nicht, du hast ihn noch«, murmelte er fast entsetzt. »Keine Sorge«, sagte Mike. »Ich werfe ihn weg, bevor wir weiterfahren. Und diesmal wische ich vorher die Fingerabdrücke ab.« »Bist du völlig wahnsinnig geworden?«, murmelte Frank. »Du schleppst dieses verdammte Ding die ganze Zeit mit dir rum?« »Woher hast du ihn überhaupt?«, fragte Stefan. »Besorgt«, antwortete Mike ausweichend. »Besorgt?« Frank runzelte die Stirn. »Was genau heißt das?« »Besorgt eben«, antwortete Mike unwillig. »Wie, spielt doch jetzt wohl keine Rolle mehr, oder? Keine Angst, ich lasse ihn verschwinden.« Frank schien etwas entgegnen zu wollen, beließ es dann aber bei einem fast resigniert wirkenden Achselzucken und drehte den Kopf, um zu den beiden Polizeibeamten am Tisch gege nüber zu blicken. Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Das ist Wahnsinn«, flüsterte Stefan. Er spielte immer noch nervös mit der Kaffeetasse, ohne bisher auch nur einen Schluck getrunken zu haben. »Wir sind alle erledigt. Da kommen wir nie wieder raus.« »Doch, das kommen wir«, sagte Frank. »Wenn wir alle die Nerven behalten. Mike hat Recht, weißt du? Was passiert ist, ist nun mal passiert. Wir müssen das Beste daraus machen.« Stefan spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, erwiderte aber nichts. Sie verbrachten einige Minuten in unbehaglichem Schweigen, bis die Kellnerin kam und ihre Bestellung brachte. Sowohl Frank als auch Stefan stocherten unlustig in ihrem Essen herum. Mike dagegen fiel mit regelrechtem Heißhunger über
seine Mahlzeit her. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um sie bis auf den letzten Krümel zu verzehren, und am Schluss begann sein Magen leicht zu revoltieren. Dennoch zwang er sich, weiterzuessen. Schließlich hatten sie einen anstrengenden Tag vor sich. Als er endlich fertig war, fragte Stefan: »Können wir jetzt fahren?« Anstatt zu antworten, winkte Mike der Kellnerin und deutete auf seine leere Kaffeetasse. Sie kam an den Tisch, schenkte ihm nach und sah die beiden anderen fragend an, erntete aber nur ein ablehnendes Kopfschütteln. Die beiden Polizisten am Nebentisch standen auf, bezahlten ihre Rechnung und verließen das Lokal, ohne sich einmal umzusehen. »Seht ihr?«, fragte Mike. »Es ist alles in Ordnung.« »Ja, ganz wunderbar«, knurrte Stefan. »Besser könnte es gar nicht sein. Außer dass vielleicht schon der ganze Staat nach uns sucht.« »Stefan«, sagte Frank leise, aber in fast beschwörendem Ton. Stefan schüttelte wütend den Kopf. »Hör endlich auf, ja? Ist dir eigentlich klar, was dieser Irre getan hat?« »Ja«, antwortete Frank. »Und es gefällt mir genauso wenig wie dir. Aber ich weiß auch, warum er es getan hat. Und du solltest es eigentlich auch wissen.« Stefan setzte zu einer wütenden Antwort an, presste dann aber die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen und ballte die Fäuste auf dem Tisch. »Also?«, fragte Mike. »Sind wir uns einig?« Er hob die Hand, als Stefan antworten wollte. »Ich kann dich verstehen. Ich fühle mich auch nicht besonders gut, weißt du? Und ich meine das jetzt ernst: Ich will euch nicht in irgendetwas hineinziehen. Wenn du willst, dann steige ich jetzt allein auf mein Motorrad und fahre los - oder ich warte hier, bis ihr eine halbe Stunde Vorsprung habt, was euch lieber ist.« »Blödsinn«, entschied Frank.
Mike schüttelte energisch den Kopf. »Ich meine es ernst«, wiederholte er. »Ich bin euch nicht böse. Ich kann verstehen, wie ihr euch fühlt. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Ich habe uns den Mist eingebrockt, und ich werde die Suppe auch allein auslöffeln, wenn es sein muss. Ich könnte es euch nicht übel nehmen, wenn ihr euch anders entscheidet.« »Unsinn!«, sagte Frank noch einmal. Aber es klang nicht ganz so überzeugt. Stefan enthielt sich jeden Kommentars. »Also gut«, sagte Mike. Er stand auf. »Ich gehe noch einmal auf die Toilette und kühle meine Hand. Wenn ich zurück bin, fahren wir los. Entweder gemeinsam oder getrennt. Die Entscheidung überlasse ich euch. Aber ich möchte keine weiteren Diskussionen mehr. Wenn wir überhaupt eine Chance haben, heil aus der Geschichte herauszukommen, dann nur, wenn wir jetzt die Nerven behalten und unterwegs keiner aus der Reihe tanzt.« Er gab den beiden keine Gelegenheit zu antworten, sondern drehte sich rasch um und ging mit schnellen Schritten zur Toilette. Erleichtert atmete er auf, während er die Hand erneut unter den kalten Wasserstrahl hielt. Das Gefühl der Euphorie, das für eine Weile von ihm Besitz ergriffen hatte, war verflogen. Er spielte ein gewagtes Spiel, und es war noch nicht vorbei. Das würde es erst sein, wenn sie im Flugzeug saßen und Richtung Europa abgehoben hatten. Bis dahin konnte noch viel passieren. Zwar schien er den Wendigo für den Augenblick besiegt zu haben, aber er wusste, wie trügerisch dieser Schluss sein konnte. Ob nun grässliche Realität oder nur Ausgeburt seiner eigenen Fantasie - der Dämon war da, und Mike musste vor ihm auf der Hut sein, vielleicht gerade wenn es sich um ein Ungeheuer handelte, das er selbst geschaffen hatte. Frank und Stefan waren noch da, als er zurück in den Gastraum kam. Stefan stand an der Kasse und bezahlte gerade
nervös die Rechnung, während Frank mit der jungen Kellnerin sprach, die sie bedient hatte. Als er Mike bemerkte, bedankte er sich mit einem Kopfnicken und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Mike nickte. »Es wird schon gehen. Was hat sie gesagt?« »Ich habe mich erkundigt, was die Straßensperre draußen soll«, antwortete Frank. »Hältst du das für klug?« »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Frank scharf. »Willst du jetzt hören, was sie gesagt hat, oder nicht?« »Sicher.« »Es ist eine normale Lkw-Kontrolle«, erklärte Frank. »Das machen sie ab und zu - nachsehen, ob die Fahrer die Pausen eingehalten haben, ob die Trucks überladen sind, ob die Papiere stimmen ...« Er zuckte mit den Schultern. »Genau wie bei uns.« »Und dafür sperren sie den ganzen Highway?« »Ist nun mal so üblich hier. Nur für den Fall, dass es dir nicht aufgefallen sein sollte: Wir sind in einem Land, in dem sich die Polizei manchmal wie eine Besatzungsmacht verhält. Und in dem sich niemand etwas dabei denkt.« Das war vielleicht etwas scharf formuliert, aber es kam der Wahrheit nahe - und Frank war vermutlich nicht in der Verfassung, besonders diplomatisch zu sein. Mike zuckte nur mit den Schultern und ging langsam zur Tür. Trotz allem sah er sich rasch und aufmerksam nach allen Seiten um, als sie den Truckstop verließen. Der Parkplatz war immer noch so verlassen wie zuvor. Auch der Streifenwagen stand unverändert an seinem Platz. Er war leer. Die beiden Polizisten, die vorhin am Tisch neben ihnen gesessen hatten, waren nirgends zu sehen. Mike seufzte erleichtert. Die letzte Etappe ihrer Reise lag vor ihnen. Niemand konnte ahnen, was sie noch an Schrecken für
sie bereithielt. Wortlos bestiegen sie ihre Maschinen und fuhren los. * Am späten Nachmittag erreichten sie Las Vegas. Sie hatten nur noch einmal angehalten, um aufzutanken. Mike ging Frank während der kurzen Rast so gut er konnte aus dem Weg und verhinderte so jedes Gespräch. Bei Stefan war das nicht nötig. Dieser parkte seine Intruder hinter ihnen an der Tanksäule, stieg ab und entfernte sich ein Dutzend Schritte, um starr und demonstrativ abgewandt in die Richtung zurückzublicken, aus der sie gekommen waren. Frank schüttelte den Kopf, sagte aber nichts und fuhr fort, die Motorräder zu betanken, während Mike bereits nach drinnen ging, um die Rechnung zu begleichen. Danach fuhren sie weiter. Die Fahrt war die Hölle. Der Highway war nicht annähernd so gut ausgebaut, wie sie erwartet hatten, sondern entpuppte sich als zwar breite, aber miserable Schnellstraße, auf der, wie um es noch schlimmer zu machen, auch noch deutlich mehr Verkehr herrschte als sonst. Es wurde beständig heißer, und nicht nur die braun-roten Sanddünen und Felsen rechts und links der Autobahn erinnerten sie in jeder Sekunde daran, dass Nevada ein Wüstenstaat war. Schon nach wenig mehr als einer Stunde hatte Mike das Gefühl, es vor Durst nicht mehr ausha lten zu können. Seine rechte Hand pochte und schmerzte beinahe unerträglich. Mike atmete erleichtert auf, als die ersten Hochhäuser der Spielermetropole am Horizont in Sicht kamen und nur wenig später die erste Ausfahrt, auf der »Las Vegas« zu lesen stand. Dennoch verging noch fast eine Stunde, bis Frank, der die Führung übernommen hatte, endlich vom Highway herunterfuhr und sie die eigentliche Stadt erreichten. Auf den ersten Blick war Las Vegas eine Enttäuschung. Mike
kannte die Stadt nur so, wie sie nahezu jeder kannte: als ein glitzerndes Lichtermeer, in dem das Leben pulsierte; eine Stadt, die dem einzigen Zweck zu dienen schien, immer neue Vergnügungen zu finden. Möglicherweise entsprach dieses Bild auch nach Einbruch der Dunkelheit der Wahrheit, aber im hellen Tageslicht betrachtet und aus der Richtung, aus der sie kamen, erschien die Stadt einfach nur schäbig. Die Straßen waren breit, aber in erbärmlichem Zustand, der Verkehr viel dichter, als Mike es für möglich gehalten hätte. Die zuvor schon unerträgliche Hitze steigerte sich hier nochmals, denn die Luft staute sich zwischen den Gebäuden, und der Wind war vollkommen zum Erliegen gekommen. Dazu kam, dass sie offensichtlich genau am falschen Ende der Stadt vom Highway abgebogen waren. Sie benötigten noch einmal fast eine halbe Stunde, um ihr eigentliches Ziel zu erreichen: das Bally’s, einen von vielleicht einem Dutzend Hochhaustürmen, das sich im Zentrum der Stadt erhob und die ansonsten fast ausnahmslos niedrigen Gebäude überragte. Mike hatte mittlerweile große Mühe, das Motorrad unter Kontrolle zu halten. Seine Hand hatte sich in einen einzigen, fast nutzlosen Klumpen aus Schmerz und pulsierender Hitze verwandelt. Frank steuerte eine freie Parkbucht zwischen den zahllosen, ordentlich nebeneinander aufgestellten Wagen an die meisten waren groß, teuer und so gut wie neu -, stieg aus dem Sattel und eilte ihm besorgt entgegen. Was auch dringend notwendig war. Irgendwie brachte Mike das Kunststück fertig, die Intruder zum Stehen zu bringen, bevor er gegen die Betonwand krachte, aber seine Kraft reichte nicht mehr, die Maschine zu halten. Sie begann zu kippen und wäre gestürzt, hätte Frank ihn nicht im letzten Moment festgehalten. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Natürlich«, antwortete Mike. »Ich habe mich nie besser gefühlt, was denkst du denn?« Frank machte ein finsteres Gesicht. Er schluckte die scharfe
Antwort, die ihm offensichtlich auf der Zunge lag, herunter und hielt die Maschine kommentarlos fest, bis Mike irgendwie aus dem Sattel geklettert war. Als Stefan herankam, ging hinter ihnen eine Tür auf, und ein blau uniformierter und ziemlich finster dreinblickender Wachmann kam mit weit ausgreifenden Schritten und kampflustigem Gesichtsausdruck auf sie zu. Er rief etwas, das Mike zwar nicht verstand, das aber nicht besonders schwer zu erraten war. Frank überzeugte sich zuerst pedantisch davon, dass das Motorrad sicher abgestellt war und auch Mike zumindest wieder weit genug zu Kräften gekommen war, sich allein auf den Füßen zu halten, bevor er sich zu dem Mann umdrehte und auf der Stelle heftig mit ihm zu debattieren begann. »Was ist los?«, fragte Mike müde und an Frank gewandt. Frank unterbrach für einen Moment sein Rededuell mit dem Wachmann, um zu ihm zurückzublicken. »Er sagt, wir dürfen hier nicht parken«, antwortete er. »Dürfen wir wohl«, murmelte Mike. »Zumindest so lange, bis wir eingecheckt haben.« Alles drehte sich um ihn. Hier unten in der Parkbucht war es spürbar kühler als oben, trotzdem hatte er das Gefühl, ganz dicht vor einem Hitzschlag zu stehen. »Ich weiß das«, sagte Frank. »Aber er will unseren Hotelgutschein sehen. Anscheinend glaubt er nicht, dass Leute wie wir Zimmer in einem Hotel wie diesem bezahlen können.« »Den Gutschein?« Um ein Haar hätte Mike gelacht. »Der liegt irgendwo im Grand Canyon.« »Ich weiß«, sagte Frank finster. »Soll ich ihm auch erklären, wie er dort hingekommen ist?« Mike schüttelte nur müde den Kopf und versuchte, das Schwindelgefühl zu unterdrücken. Er konnte nicht mehr klar denken. »Sag ihm, er soll oben bei der Rezeption nachfragen«, murmelte er. »Unsere Buchung muss schließlich im Computer sein.« Frank übersetzte gehorsam, was den Wachmann aber nicht
besonders zu beeindrucken schien. Das Rededuell dauerte noch gute zwei oder drei Minuten, bis sich der Mann endlich dazu herabließ, das Funkgerät an seinem Gürtel zu lösen und hineinzusprechen. Es verging noch einmal eine gute Minute - erstaunlich wenig, wenn man es genau bedachte -, dann schaltete der Mann sein Funkgerät ab und sagte irgendetwas zu Frank. Mike achtete nicht auf seine Worte, aber sein Tonfall und der leicht fassungslose Ausdruck auf seinem Gesicht sprachen Bände. »Na also«, sagte Frank. »Wahrscheinlich haben wir dem armen Kerl einen ordentlichen Schock versetzt. Er besteht jetzt sogar darauf, unser Gepäck hochzutragen. Auf einmal! Wir müssen nur noch zur Rezeption, um uns anzumelden, und dann wartet ein Zimmer mit Klimaanlage und ein riesengroßes kaltes Bier auf uns.« »Weißt du, wo du dir dein Bier reinschieben kannst?«, maulte Stefan. Frank runzelte die Stirn, zuckte dann aber nur mit den Schultern und deutete mit einer übertrieben ausladenden Geste auf den Aufzug. Sie fuhren nach oben, und als sie die Liftkabine verließen, betraten sie eine Welt, wie sie anders und bunter nicht hätte sein können. Schon die Größe des Hotels hatte Mike überrascht. Das Foyer war ein regelrechter Schock. Es war kein Hotelfoyer, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern eine Spielhalle. Wohin er auch blickte, sah er Spieltische, Automaten, glitzernde Leuchtreklamen, lachende oder auch verbissene Menschen, die Münzen in Einarmige Banditen oder deren moderne Vettern warfen; unter der Decke des Saales, die gut zehn Meter hoch sein musste, waren eine leibhaftige Harley Davidson und ein ausgewachsener Ford Thunderbird aufgehängt, der zweite und dritte Preis des augenblicklichen Jackpots. Dazwischen flackerte in fast mannshohen Neonbuchstaben die Zahl l Million und dahinter
ein Dollarsymbol. »Ich dachte, wir wollten ins Foyer«, murmelte er. »Sind wir auch.« Frank hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. »Der Unterschied zwischen Hotels und Spielcasinos ist hier nicht so groß, weißt du?« »Aber ...« »Deshalb sind die Zimmer auch relativ preiswert«, fuhr Frank fort. Er war schon mehrmals in Las Vegas gewesen und sichtlich froh, über etwas anderes als ihren zurückliegenden Horrortrip reden zu können. »Selbst in so einem Nobelschuppen wie diesem kommt man günstig unter. Damit wollen sie die Touristen animieren, ihr Geld in die Automaten zu schmeißen, statt es in den einfacheren Hotels Downtown auszugeben.« Das klang einleuchtend, aber Mike war viel zu erschöpft und müde, um darüber nachzudenken. Er fühlte sich noch immer schwindelig. Außerdem war da noch Stefan, der ihr Gespräch ziemlich ungehalten unterbrach. »Ich dachte, wir wollen ins Zimmer?«, nörgelte er. Frank schenkte ihm einen ärgerlichen Blick, sagte aber noch immer nichts. Der Empfang war größer, pompöser und mit mehr Personal ausgestattet, als Mike es jemals zuvor in einem Hotel erlebt hatte - und er war in vielen nicht gerade billigen Hotels gewesen. Die Bedienung war von ausgesuchter Höflichkeit. Der fehlende Hotelgutschein erwies sich als kleines, aber nicht unüberwindliches Hindernis, nachdem Frank die Sachlage erklärt hatte (wobei er natürlich verschwieg, wie die Reiseunterlagen wirklich verloren gegangen waren) und Mike seine goldene Kreditkarte als Pfand hinterlegt hatte. Sie wurden ohne weitere Umstände zum Aufzug begleitet und fuhren in die fünfzehnte Etage hinauf, wo sie ein junges Mädchen in einer bunten Fantasieuniform in ihr Zimmer führte - das sich als ausgewachsene Suite entpuppte, aus deren
Panoramafenster man einen überwältigenden Blick über die gesamte Stadt hatte. Mike war im Moment nicht unbedingt danach, die schöne Aussicht zu genießen, aber er ging trotzdem zum Fenster und sah hinaus. Er hörte, wie Frank dem Mädchen ein Trinkgeld gab und dann die Tür schloss. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment gewesen, dem grausamen Spiel ein Ende zu machen und den beiden die Wahrheit zu sagen. Vielleicht war der richtige Moment aber auch schon längst vorbei. Wahrscheinlich würde er es mit jeder Sekunde, die er ohne Erklärung verstreichen ließ, nur noch schlimmer machen. Er konnte sich ungefähr vorstellen, wie Frank - und vor allem Stefan - auf seine Eröffnung reagieren würden, und er wusste, dass er im Augenblick einfach nicht die Kraft hatte, die Nachfolgediskussion durchzustehen. Eine Viertelstunde, dachte er, vielleicht auch eine halbe. Es geschah den beiden ganz recht, wenn er sie ein bisschen im eigenen Saft schmoren ließ. Er brauchte dringend eine kleine Verschnaufpause. Eine heiße Dusche, vielleicht zehn Minuten Ruhe. Er drehte sich langsam vom Fenster weg, zog seine Lederjacke aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Dann betrachtete er eingehend seine Hand. Sie sah schlimm aus; schlimmer, als sie sich anfühlte. Der Anblick erschreckte ihn ein wenig und bestärkte ihn in seiner Überzeugung, seinen beiden Freunden durchaus noch eine halbe Stunde Nervenkitzel gönnen zu dürfen. »Und jetzt?«, fragte Stefan, ohne ihn anzusehen, aber in ganz eindeutigem Tonfall. »Jetzt machen wir erst einmal gar nichts«, antwortete Frank. »Ich schlage vor, wir genehmigen uns alle eine Stunde, um unsere Nerven zu beruhigen und wieder zu Kräften zu kommen. Danach sollte einer von uns zum Flughafen fahren und Tickets besorgen.« »Ohne mich«, sagte Stefan. »Ich denke nicht daran, mich noch tiefer in die Scheiße hineinzureiten.«
»Kein Problem.« Frank seufzte. »Ich erledige das.« Er drehte sich zu Mike um. »Alles in Ordnung?« »Es geht schon.« Mike senkte hastig die schmerzende Hand, entschuldigte sich und ging mit schnellen Schritten ins Bad. Er hatte keine Lust, sich schon wieder bemuttern zu lassen. Das Bad war so groß und pompös eingerichtet wie der Rest der Suite. Mike hatte fast ein schlechtes Gewissen dabei, seine Kleider einfach achtlos auf den Boden zu werfen. Während er nackt vor der Dusche stand und mit der unve rletzten linken Hand ungeschickt versuchte, eine angenehme Wassertemperatur einzustellen, konnte er Franks und Stefans Stimmen durch die geschlossene Tür hören. Er verstand die Worte nicht, aber es war klar, dass die beiden sich schon wieder stritten. Die Erkenntnis bedrückte ihn. Jetzt, wo sie es geschafft hatten (um ehrlich zu sein: Jetzt, wo er froh sein konnte, lebend hier angekommen zu sein), fiel nicht nur die Spannung von ihm ab, auch das Gefühl des Triumphs und der Schadenfreude, das ihn den ganzen Tag über mehr oder weniger stark erfüllt hatte, schmeckte plötzlich schal. Seine kleine Retourkutsche war vielleicht verständlich, im Großen und Ganzen aber nicht besonders klug gewesen. Vielleicht sollte er besser doch noch einmal in die Hose schlüpfen, hinausgehen und die Sache klären? Stattdessen trat er unter die Dusche, schloss die Glastür hinter sich und verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten damit, unter einem Wasserstrahl zu stehen, den er ganz allmählich immer kälter einstellte. * Zu behaupten, dass er sich wie neu geboren fühlte, als er die Dusche verließ, wäre hoffnungslos übertrieben gewesen. Aber er fühlte sich eindeutig besser. Er hatte das Wasser am Schluss so kalt eingestellt, dass seine Haut prickelte und er das Gefühl
hatte, Eis auszuatmen. Als er unter der Dusche hervortrat und sich abtrocknete, zitterte er am ganzen Leib vor Kälte. Er fühlte sich erfrischt und auf eine schwer zu beschreibende Weise von neuer Kraft erfüllt. Nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, trat er aus dem Badezimmer. Ihr Gepäck war mittlerweile nach oben gebracht und in drei unterschiedlich großen Stapeln neben dem Schrank aufgebaut worden. Frank saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und hatte die Fernbedienung des Fernsehers in der rechten Hand, um langsam, aber regelmäßig durch sämtliche Kanäle zu zappen. Im ersten Moment glaubte Mike, es wäre nur ein Ausdruck purer Langeweile, dann aber fiel ihm der angespannte Ausdruck auf Franks Zügen auf. Er schaltete nicht durch die Kanäle, um einen Spielfilm oder einen besonderen Musiksender zu finden, sondern auf der Suche nach Nachrichten. Nach ganz bestimmten Nachrichten. Es wurde wirklich Zeit, dass er der Sache ein Ende bereitete. Stefan war nicht da. Aber vielleicht war das auch gut so. Es war besser, wenn er zuerst mit Frank sprach und sie dann beide zusammen mit Stefan. Mike öffnete seine Tasche und zog wahllos Unterwäsche, Jeans und ein frisches Hemd heraus. Frank würdigte ihn keines Blickes, während er sich auf die Bettkante setzte und sich umständlich und sehr langsam anzog, sondern schaltete weiter geduldig durch die Kanäle - immer genau fünf Sekunden, dann weiter, dann wieder fünf Sekunden und wieder weiter. »Du kannst damit aufhören«, sagte Mike, nachdem er sich fertig angezogen und sich eine Flasche Cola aus der Minibar geholt hatte. Es kostete ihn große Mühe, den Kronkorken mit nur einer Hand zu entfernen, was Frank wissen musste. Aber er machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Er sah nicht einmal in seine Richtung. Nach einer Weile fragte er bloß: »Womit?« »Nach einem Nachrichtensender zu suchen«, antwortete Mike. »Du wirst nichts finden.«
»Wie meinst du das?« »Sie werden nichts berichten.« Mike schenkte sich mit einiger Mühe ein Glas Cola ein, nippte daran und ging zu der kleinen Sitzgruppe unter dem Fenster, bevor er weitersprach. Frank sah ihn einen Moment lang verwirrt an, dann griff er noch einmal nach der Fernbedienung, diesmal aber nur, um den Fernseher auszuschalten. »Wo ist Stefan?« »Keine Ahnung«, antwortete Frank. Er machte ein finsteres Gesicht. »Er ist gegangen, kurz nachdem du im Bad verschwunden bist. Ich hab ihn gebeten, die Motorräder aus dem Check- in-Bereich wegzustellen, aber er hat nur irgendetwas vor sich hin gebrummelt. Ich nehme an, er hat die Kisten ordentlich geparkt und ist jetzt unten im Sidewalk Cafe oder in einer der Bars, um etwas zu trinken und auf andere Gedanken zu kommen. Er ist ziemlich fertig.« Frank schüttelte den Kopf. Mike konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, und er konnte noch deutlicher sehen, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Ich muss dir etwas sagen, Mike«, begann er nach einer ganzen Weile. »Ich dir auch«, sagte Mike und nippte an seiner Cola, aber Frank schüttelte entschieden den Kopf. Jetzt, wo er sich einmal dazu durchgerungen hatte, war er offensichtlich nicht gewillt, sich noch einmal unterbrechen zu lassen. »Es geht um Strong. Und ... und die Indianer. Strong ist nicht ...« »Tot«, sagte Mike. Frank sah ihn verwirrt an. »Wie?« »Er ist nicht tot«, wiederholte Mike. »Genauso wenig wie die Indianer oder der Fahrer des Schneeräumers.« Geschlagene zehn Sekunden lang war es vollkommen still. Frank starrte ihn an, und Mike konnte sich nicht erinnern, jemals einen Ausdruck von so vollkommen fassungsloser Verblüffung auf seinem Gesicht gesehen zu haben - aber auch
Schrecken, der fast schon an Entsetzen grenzte. »Du ... du weißt ...?« »Ich weiß alles«, sagte Mike ruhig. Seltsam - er sollte seinen Triumph doch eigentlich auskosten. Er sollte innerlich jubilieren, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Plötzlich kam er sich schäbig und mies vor, und er schämte sich dessen, was er getan hatte. »Und ich kann dich beruhigen: Bannermann und sein Deputy sind auch nicht tot. Niemandem ist etwas passiert.« »Aber ... aber woher ...?« Mike nippte an seiner Cola. Nicht, weil er Durst hatte, sondern nur, um Zeit zu gewinnen, und sei es nur eine einzige Sekunde. Er hatte sich jedes Wort zurechtgelegt. Er hatte diesen Moment in vollen Zügen genießen wollen, hatte sich eine lange und fantastische und doch überzeugende Geschichte ausgedacht, um es den beiden heimzuzahlen und ihnen zu beweisen, dass er ihren infantilen Plan von der ersten Sekunde an durchscha ut hatte. Aber plötzlich wusste er, wie dumm das wäre. Er hatte dieses grausame Spiel schon viel zu weit getrieben. Plötzlich wollte er nur noch die Wahrheit sagen. Es zu Ende bringen, ganz egal, wie. »Um ehrlich zu sein, es war ein Zufall«, sagte er. »Als ich euch gestern Abend aus der Zelle holen sollte - ich bin nicht verschwunden, weil Bannermann mich fast erwischt hätte. Ich bin in den Schuppen gegangen. Ich hatte Licht gesehen und dachte mir, es wäre eine gute Idee, Bannermanns Streifenwagen zu sabotieren, damit sie uns nicht verfolgen und gleich wieder einsperren oder sofort über den Haufen schießen können.« Frank starrte ihn an. Sein Gesicht war jetzt zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt, aber in seinem Blick lag etwas, das Mike beinahe Angst machte. »Ich hatte den Wagen schon gefunden und außer Gefecht gesetzt, als ich Stimmen hörte«, fuhr er fort. »Frag mich nicht,
warum. Ich weiß, dass ich eigentlich viel zu feige für so etwas bin, aber plötzlich wollte ich der Sache ein Ende bereiten. Ich habe das Gewehr aus dem Streifenwagen geholt und bin hingegangen.« »Und dort ...?« »Eure Freunde haben mich offenbar auch unterschätzt.« Erst als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde Mike klar, dass sie wie ein Vorwurf klangen. Das hatte er nicht gewollt. »Sie saßen alle zusammen und amüsierten sich köstlich. Das war wahrscheinlich der gefährlichste Moment, weißt du? Ich meine: Ich hatte immerhin eine geladene, scharfe Waffe in der Hand. Und um ehrlich zu sein: Ich wäre fast gestorben vor Angst. Vor allem, als sich Strong zu mir umdrehte und ...« * »... ach du heilige Scheiße!«, sagte Strong. Mike war immer noch wie gelähmt. Seine Gedanken rasten. Alles, was er spürte, war eine unglaubliche Verwirrung und eine Mischung aus Angst und Wut, die alles noch schlimmer machte. Seine Hände zitterten. Die Waffe schien plötzlich einen Zentner zu wiegen. Zugleich spürte er die entsetzliche Verlockung, die sie bot. Er war halb wahnsinnig vor Angst. Er verstand einfach nicht, was hier vorging. Da war eine Stimme in ihm, die ihm zuschrie, dass er nur eine einzige, verzweifelte Chance hatte: nämlich abzudrücken und das gesamte Magazin der Pumpgun in den Raum vor sich zu entleeren. Dass es nicht dazu kam, lag nicht an seiner Vernunft, sondern einzig daran, dass er so vollkommen verwirrt und fassungslos war, dass ihm selbst für diese winzige Bewegung die Energie fehlte. »Tun Sie jetzt bitte nichts Unüberlegtes!«, sagte Strong ruhig. Der Gewehrlauf in Mikes Hand schwankte. Er spürte mit einem kalten, sonderbar distanzierten Entsetzen, wie sich sein
Finger langsam um den Abzug krümmte, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, die Bewegung zu stoppen. Langsam, unendlich langsam und vorsichtig, stand Strong auf und drehte sich ganz in Mikes Richtung - er hatte beide Arme bis in Hüfthöhe erhoben und die Hände mit nach oben gedrehten Handflächen ausgestreckt, um zu zeigen, dass sie leer waren. Auf seinem Gesicht lag ein sehr konzentrierter Ausdruck; keine Angst, aber doch eine gehörige Portion Respekt. »Bitte, Mike«, sagte er. »Tun Sie jetzt nichts Unüberlegtes. Ich kann das alles erklären.« »Ach?« Selbst dieses eine Wort auszusprechen kostete Mike schier unendliche Mühe. Das Gewehr in seiner Hand schien immer schwerer zu werden. Er hatte das Gefühl, dass der Raum ganz langsam begann, sich um ihn zu drehen. »Bitte legen Sie die Waffe weg«, sagte Strong. »Sie haben nichts zu befürchten. Das hatten Sie nie.« »Ja, darauf wette ich«, antwortete Mike. Er versuchte vergeblich, seiner Stimme einen höhnischen Unterton zu verleihen. »Ich verstehe, dass Sie mir nicht glauben«, antwortete Strong. »Aber bitte, Mike: Legen Sie das Gewehr weg. Ich gebe Ihnen meine Waffe - und alle anderen hier auch. Sehen Sie?« Sehr langsam und mit spitzen Fingern griff er in den Gürtel und zog den verchromten 44er hervor, um ihn mit dem Griff voran über den Tisch zu schieben. Mike sah aus den Auge nwinkeln, wie Bannermann und nach kurzem Zögern auch sein Deputy dasselbe mit ihren Waffen taten, während sich die drei Indianer nicht rührten. Mike schluckte. »Also?«, begann er unsicher. »Sie haben genau eine Minute, um mir alles zu erklären.« Strong schüttelte den Kopf. »Das wird nicht reichen«, sagte er. »Ich kann Sie nur bitten, mir zuzuhören. Ich bin nicht der, für den Sie mich bisher gehalten haben.« »Stellen Sie sich vor, das ist mir auch schon aufgefallen«, erwiderte Mike. Er machte eine abgehackte Bewegung mit dem
Gewehr. »Aufstehen! Alle! An die Wand!« Bannermann und sein Deputy gehorchten hastig. Auch das Indianermädchen stand rasch auf und wich, rückwärts gehend, zur gegenüberliegenden Wand zurück, um mit erhobenen Händen neben Strong Aufstellung zu nehmen. Ihre Mutter und ihr Bruder (oder Mann oder was immer er auch sein mochte) gehorchten ebenfalls, wenn auch deutlich langsamer. »Also gut, ich höre«, sagte Mike. »Wer seid ihr wirklich? Was seid ihr? Und spart euch irgendwelche fantastischen Ausreden. Ich glaube, ich bin schon von selbst daraufgekommen, was hier gespielt wird.« »Das glaube ich nicht«, antwortete Strong. »Sehen Sie, Mike, ich bin kein Privatdetektiv und auch kein Kopfgeldjäger oder so etwas.« »Tatsächlich?«, fragte Mike höhnisch. »Da wäre ich ja nie von selbst drauf gekommen.« »Ich bin nicht einmal Amerikaner«, fuhr Strong unbeeindruckt fort. »Ich arbeite nur hier, manchmal. Eigentlich lebe ich in Hamburg. Ihre Freunde haben mich dort kennen gelernt.« »Meine Freunde?« »Frank und Stefan, ja«, sagte Strong. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, als wäre das, was er jetzt zu sagen hatte, sehr wichtig, und als hätte er Angst, einen Fehler zu machen. »Ich bin Stuntman. Wir alle sind Stuntmen und arbeiten beim Film - wenigstens manchmal, wenn wir ein Engagement bekommen. Frank hat über das Internet mit uns Kontakt aufgenommen, und wir haben uns vor vier Monaten das erste Mal in Hamburg getroffen.« »Frank?« Mike wollte hysterisch auflachen, weil ihm diese Behauptung so vollkommen absurd erschien. Frank? Was war hier los? »Sehen Sie, Mike, nichts von alledem, was Sie erlebt haben, ist wirklich passiert«, sagte Strong nervös. »Das war alles nur
ein ...« Er suchte nach Worten und zuckte schließlich mit den Schultern. »... ein Abenteuer. Ein Spiel.« »Ein Spiel?» »Ich weiß, wie es sich für Sie anhören muss«, antwortete Strong. »Aber es ist die Wahrheit. Sehen Sie, Ihre beiden Freunde haben uns engagiert, damit wir all das hier für Sie arrangieren.« »Das ist doch absurd«, sagte Mike. »Wir bieten diesen Service seit zwei Jahren an«, bestätigte Strong. »Auf die Idee sind wir durch einen Hollywood-Film gekommen. Sie haben ihn bestimmt auch gesehen: The Game mit Michael Douglas.« Mike starrte ihn nur an. Auch die Stimme in seinem Kopf war verstummt. Er war völlig ... nein, er fand nicht einmal einen Ausdruck dafür. Was er spürte, war eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Entsetzen und allmählich aufkeimender Wut, für die es keinen richtigen Begriff gab. »Es ist ein Abenteuerurlaub, wenn Sie so wollen«, sagte Strong. »Ein Abenteuerurlaub der ganz besonderen Art. Wir arrangieren alles, von der falschen Leiche über den nachgemachten Polizisten bis hin zum großen Showdown und der Auflösung.« »Das ist absurd!«, wiederholte Mike. »Ich glaube Ihnen kein Wort!« »Daran sehen Sie, wie gut wir sind«, antwortete Strong, immer noch nervös, aber nun mit einem deutlich hörbaren Unterton von Stolz. »Bitte legen Sie das Gewehr zur Seite, Mike. Ich kann verstehen, dass Sie im Moment wütend sind, aber Ihre Freunde haben es nur gut mit Ihnen gemeint.« Er lachte, leise und unsicherer, als er vermutlich vorgehabt hatte. »Was schenkt man einem Mann, der alles hat? Ein großes Abenteuer.« »Ein Abenteuer?«, krächzte Mike. »Sind Sie wahnsinnig? Wir wären fast ums Leben gekommen! Mein Gott, ich habe
geglaubt, ich hätte einen Menschen umgebracht!« »Das Kind.« Strong nickte. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte flüchtig und nervös. »Mache n Sie sich keine Sorgen. Der Junge gehört auch zu uns. Er hat nicht einen Kratzer abbekommen. Es war alles nur Make-up und Theaterblut. Specialeffects. Wir sind gut darin.« »Sie ... Sie meinen ... das ... das ist alles nicht wirklich passiert? Der Junge ...« »Ist völlig unversehrt«, sagte Strong. »Und die angebliche Leiche des Jungen, die ich Ihnen in der Höhle am Monument Valley präsentiert habe, war keine Leiche, sondern nur eine entsprechend präparierte Puppe.« Mike ließ langsam das Gewehr sinken. Ein Te il von ihm beharrte noch immer darauf, dass das alles nur ein Trick war, um ihn in Sicherheit zu wiegen; dass Strong bei der ersten sich bietenden Gelegenheit über ihn herfallen und ihm die Waffe aus der Hand schlagen würde, wenn er ihn nicht sogar auf der Stelle umbrachte. Aber vielleicht war das auch nur der Teil, der einfach nicht wahrhaben wollte, was er im Grunde längst schon wusste: nämlich dass Strong durchaus die Wahrheit sagte! »Dann ... dann haben die beiden die ganze Zeit über gewusst, dass ich den Jungen nicht umgebracht habe? Und alles andere war auch nur gespielt?« »In jeder einzelnen Sekunde«, bestätigte Strong. Er deutete mit dem Kopf auf das Gewehr. »Legen Sie die Waffe weg. Sie ist geladen.« »Ich hätte mir das Genick brechen können«, murmelte Mike. Er legte das Gewehr nicht aus der Hand, senkte es aber deutlicher, sodass der Lauf nun auf den Boden zeigte. Strong atmete sichtbar auf, und auch Bannermann und der zweite falsche Polizist entspannten sich ein wenig. »Es war nicht geplant, dass Sie so schwer stürzen«, sagte Strong. »Um ehrlich zu sein, war das der Moment, in dem ich nahe daran war, alles abzublasen.«
»Sie haben mich beobachtet?« »Selbstverständlich«, antwortete Strong. »Wir haben Sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Auch das gehört zu unserem Service. Selbstverständlich kommen wir für den Schaden an dem Motorrad auf. Gegen so etwas sind wir versichert.« »Und alles andere?«, murmelte Mike fassungslos. »Die Geschichte in Moab ... Monument Valley ... die Höhle ... das gehörte alles dazu?« »Bis hin zu Ihrem Fahrer in Phoenix«, sagte Strong. »Natürlich gehört er auch zu uns. Sie müssen zugeben, die Höhle war beeindruckend. Sie ist übrigens nicht getürkt. Wir haben sie zufällig entdeckt, als wir auf der Suche nach einem passenden Ort waren, zu dem wir unsere Kunden bringen können.« »Und ... und das Motel?« »Sollte sowieso abgerissen werden«, sagte Strong. »Wahrscheinlich sind die Bagger jetzt schon da, um das niederzureißen, was wir stehen gelassen haben. Wir haben nur mit Platzpatrone n geschossen.« »Aber ich habe gesehen, wie die Kugeln eingeschlagen sind!« »Sie haben gesehen, was jeder Kinozuschauer im Film sieht«, erwiderte Strong. »Winzige Sprengladungen, die genau platziert waren. Klaus ...«, er verbesserte sich und machte eine Geste auf Bannermann, »... Bannermann hier, hat sie mit einer Fernbedienung gezündet, als wir in der richtigen Position standen.« »Und dann habe ich Sie auch nicht wirklich niedergeschlagen«, vermutete Mike. Strong hatte sichtbar Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Er rieb sich demonstrativ mit der linken Hand das Kinn. »Sagen wir so: Sie haben härter zugeschlagen, als ich erwartet hätte. Aber ich hab’s ja überlebt.« Es war nicht wirklich diese Eröffnung, die Mike endgültig überzeugte. Sie war nur ein weiteres Puzzleteil in dem Bild, zu
dem sich sowohl Strongs Worte als auch alles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, allmählich zusammenfügte. Langsam ließ er das Gewehr ganz sinken, machte einen Schritt und dann noch einen, bis er am Tisch angekommen war, und setzte sich umständlich auf den Stuhl, auf dem Bannermann zuvor gesessen hatte. »Ein Abenteuer«, murmelte er. »Ich hätte mir fast den Hals gebrochen. Ich habe eine Woche lang geglaubt, ich hätte einen Menschen umgebracht. Ich bin zusammengeschlagen und beschossen worden, ich hatte Todesangst, bin halb erfroren ... und das nennen Sie ...?« »Ein Abenteuer, ja«, sagte Strong. »Glauben Sie mir, unsere Kunden sind ausnahmslos sehr zufrieden mit dem, was wir ihnen bieten - wenn sie den ersten Schrecken überwunden haben, heißt das. Und wenn es nur ist, um sie erkennen zu lassen, dass ihr so genanntes normales, langweiliges Leben doch eigentlich auch ganz schön ist.« Er bemühte sich, ein Grinsen zustande zu bringen, stellte den Versuch aber gleich wieder ein. »Ihre beiden Freunde haben sich eine Menge Mühe gegeben, um sich das alles auszudenken und übrigens auch zu bezahlen. Wir sind nicht ganz billig. Sie haben sogar vorher mit uns trainiert, um in den Prügelszenen mithalten zu können.« »Das heißt, es war gar nic ht Ihre Idee?« Mike sah überrascht auf. »Die Details, natürlich«, erwiderte Strong. »Aber die Geschichte stammt von Ihren Freunden. Der Junge. Die Indianer, die Sie verfolgen. Der angebliche Mord in Moab.« Er hob die Schultern. »Die Story ist gar nicht schlecht. Vielleicht übernehmen wir sie bei einem unserer nächsten Aufträge - wenn Sie nichts dagegen haben.« »Und der Wendigo?«, fragte Mike. Strong machte ein verwirrtes Gesicht. »Wer?« »Vergessen Sie’s«, murmelte Mike. Plötzlich fühlte er sich nur noch müde, unendlich müde und erschöpft. Er war nicht
einmal mehr zornig. Ebenso wenig, wie er Erleichterung empfand. Das Gefühl, das ihn erfüllte, war ihm so vollkommen fremd, dass er keine passenden Worte fand, es zu beschreiben. »Ein Abenteuer«, murmelte er noch einmal kopfschüttelnd. »Das alles war nichts als ein ... als ein Spiel, das sich diese beiden ausgedacht haben.« »Um Ihnen eine Freude zu bereiten, ja«, sagte Strong. »Jetzt werden Sie bitte nicht wütend auf sie. Im Moment sind Sie verwirrt und völlig durcheinander. Das kann ich verstehen. Normalerweise hätten wir Ihnen die Wahrheit etwas schone nder beigebracht. Aber jetzt ist es einmal passiert. Und glauben Sie mir, Sie werden es genießen, wenn Sie sich erst einmal richtig ausgeschlafen und alles verarbeitet haben. Ein Abenteuer wie dieses erlebt man nur einmal im Leben - und man überlebt es in der Realität normalerweise nie.« Er wollte einen Schritt nach vorne machen, aber Mike hob rasch das Gewehr und richtete den Lauf direkt auf ihn. Strong erstarrte mitten in der Bewegung. »Woher soll ich wissen, dass das alles stimmt?«, fragte Mike. Dabei wusste er es. Er hatte nicht den kleinsten Zweifel, dass Strong die Wahrheit sagte. Seine Geschichte war so verrückt, dass sie einfach wahr sein musste. »Wenn Sie mir gestatten, in die Jackentasche zu greifen, kann ich beweisen, dass ich die Wahrheit sage«, antwortete Strong. Mike starrte ihn geschlagene fünf Sekunden lang wortlos an, dann nickte er knapp, und Strong griff vorsichtig und mit der linken Hand in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke. Sehr behutsam, um Mike nicht zu provozieren, zog er eine Brieftasche hervor, klappte sie auf und nahm ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. »Hier, lesen Sie!«, forderte er ihn auf. Mike machte eine entsprechende Kopfbewegung. Strong schob ihm das Blatt über den Tisch hinweg zu und wich wieder zur gegenüberliegenden Wand zurück. Umständlich und das
Gewehr mit nur einer Hand haltend, griff Mike nach dem Blatt, faltete es auseinander und überflog es - zuerst flüchtig und in aller Hast, dann noch einmal und mit wachsender Verblüffung. Es war ein zweisprachig in Englisch und Deutsch abgefasstes Schriftstück, das bestätigte, dass Strong und seine Freunde in Franks Auftrag handelten und er sie von jeder Verantwortung befreite. Mike hatte im Laufe seines Lebens genug Verträge gelesen, um sofort zu erkennen, dass es nur ein Auszug aus einem weitaus längeren Schriftsatz war. Und er hatte Franks Unterschrift oft genug gesehen, um sie jenseits allen Zweifels wiederzuerkennen. »Das ... das ist ...« »Es ist die Wahrheit«, sagte Strong noch einmal. »Es tut mir wirklich Leid. So etwas ist noch nie passiert, wissen Sie? Bisher ist uns keiner unserer Klienten auf die Schliche gekommen. Anscheinend sind Sie cleverer, als wir dachten. Oder wir werden nachlässig.« Mike ließ das Gewehr endgültig sinken. Die Waffe schlug mit einem dumpfen Geräusch auf. Strong zögerte noch eine Sekunde, dann trat er mit zwei schnellen Schritten an ihn heran, hob das Gewehr auf und sicherte es, bevor er es hinter sich gegen die Wand lehnte. »Wie gesagt: Es tut mir wirklich Leid«, sagte Strong noch einmal. »Es sollte nicht so enden. Geplant war, dass Sie Ihre beiden Freunde aus dem Gefängnis befreien und fliehen. Ich muss in der Tat zugeben, dass nicht alles so gelaufen ist, wie wir es geplant hatten. Und einiges lief härter ab als sonst. Was genau da schief gelaufen ist, wollten wir in aller Ruhe analysieren. Nach Beendigung des Auftrags.« »Und weiter?«, fragte Mike - allerdings ohne den Blick von dem Stück Papier zu nehmen, das Strong ihm gegeben hatte. »Sie hätten morgen Abend Las Vegas erreicht, und Stefan wäre losgegangen, um die Flugtickets zu besorgen«, antwortete Strong. »Allerdings nicht wirklich. Wir haben eine kleine
Überraschungsparty für Sie und Ihre Freunde in der Hotelbar arrangiert.« Er seufzte tief. »Tja, die ist jetzt wohl überflüssig geworden. Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Klaus macht Ihnen einen starken Kaffee, und ich ...« Er seufzte. »Ich muss jetzt wohl hinüber ins Gefängnis gehen und Ihren Freunden beichten, dass ihre kleine Überraschung ins Wasser gefallen ist.« Er sah Mike noch einen Moment lang beinahe erwartungsvoll an, dann hob er die Schultern und drehte sich langsam um, um zur Tür zu gehen. Aber er kam nur zwei Schritte weit. »Warten Sie!«, sagte Mike. »Ich glaube, ich habe eine bessere Idee ...« * »Und diese bessere Idee war, es uns mit gleicher Münze heimzuzahlen«, vermutete Frank. Mike hob zur Antwort nur stumm die Schultern und sah ihn weiter traurig und wortlos an. »Das ist dir gelungen«, fuhr Frank fort. »Das ist dir wirklich gelungen. Gott verdammt, ich bin fast gestorben vor Angst, ist dir das eigentlich klar? Von Stefan mal ganz zu schweigen.« »Ich habe Mist gebaut, ich weiß«, antwortete Mike. Er fühlte sich miserabel, und das mit jeder Sekunde mehr. Dass das Gefühl des Triumphes nicht kommen würde, hatte er längst begriffen, aber damit war es längst nicht getan. »Es tut mir Leid. Ich habe es für eine gute Idee gehalten. Gestern.« »Das hast du nicht.« Frank machte ein abfälliges Geräusch. »Du warst stinksauer und hast dir vorgenommen, es uns einfach nur heimzuzahlen, so war das.« »Vielleicht«, gestand Mike. Er suchte vergeblich nach Worten, irgendetwas, das wenigstens glaubhaft nach einer Entschuldigung klang, fand sie aber nicht. Schließlich rettete er sich in ein schiefes Grinsen und sagte: »Dann würde ich sagen,
wir sind quitt, oder?« Frank starrte ihn finster an. »Frag mich das morgen noch einmal«, grollte er. Es fiel Mike schwer, zu beurteilen, ob Franks Zorn gespie lt oder echt war. Gleichzeitig war da aber auch eine dünne, nichtsdestotrotz penetrante Stimme in seinen Gedanken, die auf der Frage beharrte, warum um alles in der Welt er eigentlich ein schlechtes Gewissen hatte. Nach allem, was er in den zurückliegenden fünf Tagen durchgemacht hatte, war diese kleine Retourkutsche eigentlich das Mindeste, was er seinen beiden Freunden schuldig war. Nur, dass dies nicht ganz so einfach war. Es war schließlich die Absicht, die zählte. Jetzt, wo er die Wahrheit kannte, fiel es ihm nicht besonders schwer, nachzuvollziehen, wie Frank und Stefan auf diese zugegebenermaßen abenteuerliche Idee verfallen waren. Sie hatten mehr als einmal bei einem Bier zusammengesessen und darüber philosophiert, wie groß doch der Unterschied zwischen der Realität und jener Scheinwelt war, die Mike in seinen Büchern erschuf. Und Mike hatte sich mehr als einmal - und nicht unbedingt im Scherz - darüber beschwert, dass er im Grunde doch ein sehr langweiliges Leben führe: erfolgreich, ohne Sorgen und Probleme, ohne echte Herausforderungen oder Gefahren, die es zu bestehen galt. Worüber wunderte er sich eigentlich? »Also gut«, seufzte Frank. »Eigentlich habe ich ja gar keinen Grund, mich zu beschweren. Ich sollte froh sein, dass alles doch noch glimpflich abgelaufen ist. Du übrigens auch.« Er deutete auf Mikes Hand. »Ich will jetzt nicht den Besserwisser herauskehren, aber ist dir eigentlich klar, wie gefährlich es war, damit noch zu fahren?« Es gelang Mike nicht, die scharfe Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, zurückzuhalten: »Du weißt ja auch, wem ich das zu verdanken habe.« Diesmal war der Ärger, der in Franks Augen aufblitzte, echt.
»Niemand hat dich gebeten, den Helden zu spielen«, sagte er. Plötzlich spürte Mike, wie dicht sie davor standen, sich wirklich anzubrüllen und Dinge an den Kopf zu werfen, die sich schon lange aufgestaut hatten. War ein reinigendes Gewitter das Einzige, was ihre Freundschaft jetzt noch davor bewahren konnte, zu zerbrechen? Oder war es bereits auch dafür zu spät? Plötzlich lachte Frank nervös. »Um ehrlich zu sein, ich hätte nie erwartet, dass du den Mumm aufbringst, Strong anzugreifen. Ich bin nicht sicher, ob ich es getan hätte.« »Ich bin auch ziemlich sicher, dass ich es nicht noch einmal tun würde.« Mike hob demonstrativ seine geschwollene Hand. »Es tut ziemlich weh, ein Held zu sein.« Dann machte er ein ganz bewusst übertrieben böses Gesicht. »Ich glaube, das ist das Einzige, was ich euch beiden Blödmännern wirklich übel nehme, weißt du?« »Was?« »Ich habe einen Moment la ng wirklich geglaubt, ich hätte Strong ausgeknockt.« »Vielleicht hast du das ja«, antwortete Frank, und es hörte sich nicht so an, als ob er das nur sagte, um Mike zu beruhigen. »Immerhin hast du dir fast die Hand an seinem Kinn gebrochen. Es dürfte selbst ihm ziemlich wehgetan haben.« »Vermutlich«, sagte Mike. Aber natürlich wusste er, dass es nicht so war. Er spürte, auf welch dünnem Eis sie sich immer noch bewegten, nippte wieder an seiner Cola, um Zeit zu gewinnen, und machte schließlich eine entspreche nde Geste zur Tür. »Vielleicht sollten wir jetzt runtergehen und Stefan suchen. Der arme Kerl hat lange genug im eigenen Saft geschmort, finde ich.« »Eine gute Idee«, erwiderte Frank. In genau diesem Auge nblick klopfte es an der Tür. »Das wird Stefan sein. Wenigstens kommt er zurück. Ich hatte schon Angst, dass er irgendetwas
Dummes tut, so fertig, wie er war.« Mike überhörte die Anspielung und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Frank zur Tür ging und den Knopf drehte. Dann ging alles so schnell, dass er nicht einmal mehr dazu kam, wirklich zu erschrecken. Die Tür flog auf, kaum, dass Frank den Knopf halb herumgedreht hatte. Sie schlug ihm mit solcher Wucht gegen die Brust, dass er zurückstolperte und auf das Bett dicht neben Mike stürzte. Sein erschrockener Aufschrei ging im Gebrüll von mindestens vier, fünf Männern unter, die dicht hintereinander hereingestürmt kamen und das Hotelzimmer in ein Chaos aus reiner Bewegung verwandelten, in dem weder Einzelheiten zu erkennen noch einzelne Worte zu verstehen waren. Mike wollte aufspringen, blieb aber irgendwo hängen und stürzte hilflos neben dem Bett zu Boden. Noch bevor er wirklich aufgeprallt war, waren die Angreifer über ihm. Starke Hände packten seine Arme und verdrehten sie so brutal auf dem Rücken, dass er vor Schmerz aufschrie und instinktiv mit den Beinen austrat. Er traf irgendetwas, wurde mit einem zornigen Grunzen belohnt und einem Fußtritt in die Seite, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und seine Rippen knacken ließ. Er hörte dumpfe Kampfgeräusche vom Bett und nahm an, dass Frank seine Überraschung überwunden und damit angefangen hatte, sich zu wehren. Vollkommen sinnlos bei dieser Übermacht! Mike bäumte sich auf und wurde nur umso heftiger gegen den Boden gepresst. Jemand warf sich mit beiden Knien auf seine Oberschenkel und nagelte sie am Boden fest. Seine Arme wurden so fest nach oben gedrückt, dass er das Gefühl hatte, seine Schultern müssten aus den Gelenken springen. Einen Moment später krallten sich Finger in sein Haar und rissen seinen Kopf brutal in den Nacken. Seit die Tür aufgeflogen und die unbekannten Angreifer hereingestürmt waren, war kaum mehr als eine Minute vergangen. »Wer zum Teufel ... seid ihr?«, keuchte er. Das Sprechen fiel
ihm in seiner Lage ausgesprochen schwer. Immerhin konnte er jetzt erkennen, dass die meisten der Angreifer die sandfarbenen Hosen und kurzärmeligen Hemden der Nevada State Police trugen. Das war nicht mehr lustig. Davon hatten weder Strong noch seine angeblichen Komplizen etwas erzählt, und auch Frank hatte eigentlich genug Zeit gehabt, um diesen finalen Gag abzublasen. »Das reicht jetzt, du Idiot«, quetschte er, an Frank gewandt, hervor. »Pfeif sie zurück. Das ist nicht mehr komisch.« Frank antwortete nicht. Dafür trat ein hoch gewachsener, schlanker Farbiger mit Fünfhundert-Dollar-Schuhen und einem maßgeschneiderten Armani- Anzug in sein Blickfeld und musterte ihn lange aus kalten, vollkommen ausdruckslosen Augen, bevor er seinen Männern ein Zeichen gab und Mike grob in die Höhe gerissen wurde. Handschellen klickten. Mikes erster Blick galt Frank, der immer noch auf dem Bett lag. Es war ihm nicht besser ergangen: Er lag auf dem Bauch, auch seine Arme waren mit Handschellen auf dem Rücken zusammengebunden, und ein finster dreinblickender Streifenpolizist drückte eine Waffe mit gespanntem Hahn an seinen Hinterkopf. Mike konnte Franks Gesicht nicht erkennen, aber er sah, dass er am ganzen Leib zitterte. Was war hier los? »Verdammt noch mal, was soll denn der Unsinn?«, zischte Mike zwischen zusammengepressten Zähnen. Seine Knie zitterten so heftig, dass er sich vermutlich nicht aus eigener Kraft auf den Beinen hätte halten können. Plötzlich begann auch sein Herz wieder zu stechen. »Wenn dieser Idiot Stefan euch geschickt hat, dann sagt ihm, dass es vorbei ist. Ihr könnt mit dem Theater aufhören. Strong hat mir alles erzählt.« Der Schwarze legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an. Sein Gesicht wirkte vollkommen entspannt, fast freundlich, aber seine Augen blieben hart, kalt wie Glas und fast ohne Leben. »Herr Wolf?«, fragte er. »Michael Wolf?« Er hatten einen
deutlichen amerikanischen Akzent und redete sehr langsam und übermäßig betont, wie jemand, der eine Sprache zwar gut beherrscht, aber wenig Übung darin hat. »Das stimmt«, antwortete Mike. »Und es ist wirklich so: Ich weiß Bescheid. Fragen Sie Frank, wenn Sie mir nicht glauben. Es war meine Schuld. Ich hätte Stefan gleich ...« »Mein Name ist Jennings«, unterbrach ihn der Schwarze. Er griff in die Innentasche seines maßgeschneiderten Sakkos, zog eine lederne Hülle heraus und klappte sie auf, sodass Mike den in Plastik eingeschweißten Ausweis erkennen konnte, der sich darin befand. »Detective Jennings. Vierzehntes Revier. Mordkommission.« »Das geht jetzt langsam wirklich zu weit«, keuchte Mike, aber irgendetwas in Jennings’ kalten, mitleidlosen Augen hielt ihn davor zurück, weiterzureden. »Man hat uns gesagt, dass Sie des Englischen nicht besonders mächtig sind«, fuhr Jennings fort, während er seinen Ausweis zusammenklappte und mit einer tausendfach geübten Bewegung wieder in der Tasche verschwinden ließ. »Deshalb bin ich gekommen, obwohl ich im Grunde gar nicht zuständig für diesen Fall wäre.« »Was für ein Fall?«, fragte Mike. Er hatte ein ungutes Gefühl. Er hatte ein sehr ungutes Gefühl. Zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie eine menschliche Regung auf Jennings’ wie aus schwarzem Stein gemeißelten Gesicht: Es war ein dünnes, fast gequält wirkendes Lächeln. »Michael Wolf, Frank Winter, Sie sind vorläufig festgeno mmen. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht, auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen leisten können, wird dieser Ihnen vom Staat zur Verfügung gestellt. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Haben Sie das verstanden?« Mike starrte ihn fassungslos an. »Nein«, murmelte er. »Was war daran unklar?«, erkundigte sich Jennings.
»Ich habe Sie verstanden, zum Teufel noch mal«, antwortete Mike wütend. »Aber was soll der Unsinn? Wieso verhaftet? Was wirft man uns vor?« »Sie werden beschuldigt, für den Tod zweier Menschen im Staate Arizona verantwortlich zu sein«, antwortete Jennings. Er gab den Männern hinter Mike ein kurzes Zeichen. »Let’s go!« * Die nächste Stunde war ein Albtraum. Frank und Mike wurden sofort voneinander getrennt, vermutlich, damit sie nicht mehr miteinander reden konnten. Jennings nahm im gleichen Fahrzeug wie Mike Platz, ignorierte aber dessen immer verzweifelter werdenden Fragen beharrlich. Hinter Mikes Stirn herrschte pures Chaos, und seine Stimmung schwankte praktisch sekündlich zwischen Hysterie, dumpfer Niedergeschlagenheit und reiner Verzweiflung. Er verstand rein gar nichts mehr. Irgendetwas Schreckliches war geschehen. Das gehörte ganz bestimmt nicht mehr zu Franks und Stefans Plan. Und dass Bannermann und sein Deputy tatsächlich tot waren ... nein, das war unmöglich! Die Waffe, die Strong Mike gegeben hatte, war eindeutig mit Platzpatronen geladen gewesen. Er hatte es ausprobiert. Die Blutexplosion auf Bannermanns Hemd hatte zu den gleichen, ausgeklügelten Specialeffects gehört, mit denen sie ihn in der Berghütte zum Narren gehalten hatten. Die beiden konnten einfach nicht tot sein. Und diese Polizisten hier waren zweifellos echt. Der Sturm auf ein Hotel mitten in Las Vegas ging eindeutig über die Möglichkeiten einer kleinen Stuntmen-Truppe hinaus - auch wenn der Fahrer des Streifenwagens, in dem Mike saß, einen durchaus hollywoodmäßigen Fahrstil an den Tag legte, als sie die Tiefgarage des Baliy's verließen. Sie jagten die Rampe hinauf, die Frank, Stefan und Mike vor nicht einmal einer Stunde heruntergekommen waren, und Mike blinzelte in das
ungewohnt grelle Licht der Nachmittagssonne. Vielleicht sah er aus diesem Grund den Mann beinahe zu spät. Er stand unmittelbar neben der Ausfahrt, so dicht, dass sie ihn fast gestreift hätten. Mike sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde und nur aus den Augenwinkeln: kaum mehr als ein Schemen. Trotzdem erkannte er ihn so deutlich, dass er vor Schrecken aufschrie. Es war ein uralter, gebeugter Indianer mit schulterlangem weißem Haar und einem von Falten zerfurchten, schmalen Gesicht, in dem die Augen das einzig Lebendige zu sein schienen. Augen, die Mike voller Bosheit und höhnischem Triumph anstarrten. Es war der Wendigo, nicht der Schamane. Mike war sich dessen ganz sicher. »Was haben Sie?«, fragte Jennings. Mike versuchte sich auf dem Rücksitz herumzudrehen, was aber mit auf dem Rücken gefesselten Händen gar nicht so einfach war. Sein Blick suchte den Anasazi-Dämonen. Er stand da: eine schmale Gestalt, die zwischen all den anderen kaum auffiel und schon im nächsten Moment verschwunden war wie ein Spuk. Aber Mike hatte ihn gesehen. Er hatte ihn gesehen. »Bitte, reißen Sie sich zusammen«, sagte Jennings kühl. »Der Wendigo«, stammelte Mike. »Er war es! Sie müssen ihn gesehen haben. Sie müssen ihn doch gesehen haben!« »Das nutzt Ihnen nichts«, beharrte Jennings. »Sie können dort hinten toben, so lange sie wollen. Aber Sie machen es damit für sich nicht einfacher.« Mike drehte sich wieder um und starrte Jennings verzweifelt an. »Verstehen Sie denn nicht? Er war es! Er ist hier. Das ist alles sein Werk.« Jennings runzelte die Stirn. Er sah nicht wirklich interessiert aus. »Ich fürchte, ich verstehe Sie wirklich nicht«, sagte er. »Jetzt reißen Sie sich zusammen, oder ich sorge dafür, dass Sie
still sind.« Es war nicht die unverhohlene Drohung in seinen Worten, die Mike tatsächlich zum Schweigen brachte. Es war das schiere Entsetzen, mit dem ihn der Anblick des Wendigo erfüllt hatte. Was war los mit ihm? Verlor er jetzt endgültig den Verstand? »Alles wieder in Ordnung?«, fragte Jennings. Mühsam hob Mike den Kopf und sah den farbigen Detective an. In Ordnung? Er hätte fast gelacht. Sein Leben würde nie wieder in Ordnung sein, ganz egal, wie diese Geschichte hier ausging. »Ich ... es geht schon«, murmelte er. Jennings nickte, und damit war die Sache für ihn erledigt. Nicht so für Mike. Der Wendigo war wieder da! Er hatte ihn gesehen. Es gab keinen Zweifel. Er würde diesen brennenden, alles durchdringenden Blick nie vergessen, den Odem des Bösen, das alles Lebendige, Denkende und Fühlende hasste. Der uralte Dämon war hier. In dieser Stadt, ganz in der Nähe, so, wie er vermutlich die ganze Zeit über in Mikes Nähe gewesen war. Hatte er wirklich geglaubt, den Kampf gewonnen zu haben? Lächerlich! Sie fuhren gut zehn Minuten mit heulender Sirene und in halsbrecherischem Tempo durch den dichten Nachmittagsverkehr, bevor sie das Polizeipräsidium erreichten. Es war ein alter, wuchtiger Backsteinbau, der die größtenteils eingeschossigen Gebäude ringsum auf fast Furcht einflößende Art und Weise überragte: ein gemauertes Monument der Autorität. Ein halbes Dutzend Streifenwagen parkte schräg vor dem Gebäude, und aus einem davon stieg genau in diesem Moment Frank aus. Seine Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt. Er ging nach vorne gebeugt und verkrampft, als wäre er nicht in der Lage, sich ganz aufzurichten. Vielleicht hatte man ihn geschlagen. Es gelang Mike nicht, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Frank verschwand zusammen mit seinen beiden Bewachern im Inneren des Gebäudes, bevor Mike ausgestiegen
war. Jennings und der Streifenpolizist führten ihn eine schmale, fensterlose Treppe in den Keller hinab, wo sich die Arrestzellen befanden. Mike hatte Zellen im wortwörtlichen Sinne erwartet: einen langen Gang voller vergitterter Türen, hinter denen die Gefangenen ein ungewisses Schicksal erwartete, wie die Gladiatoren im alten Rom, die zu ihrem letzten Kampf geführt wurden. Aber dies hier war eine modernere Variante. Man sperrte ihn in einen winzigen, fensterlosen Raum mit einer Tür aus Eisen und einer Neonröhre unter der Decke, die hinter drahtverstärktem Panzerglas leuchtete. Das einzige Möbelstück war eine schmale Pritsche, und einen Luxus wie eine Toilette gab es nicht. Er wartete vergeblich darauf, dass ihm die Handschellen abgenommen wurden, ersparte sich aber auch jede dementsprechende Bitte. Mike war ziemlich sicher, dass Jennings nicht darauf reagieren würde. Er blieb stehen, bis er das Geräusch hörte, mit dem sich der Schlüssel hinter ihm drehte, dann ließ er sic h auf die Bettkante sinken, lehnte Rücken und Kopf gegen die harte, unverputzte Betonwand und versuchte in eine einigermaßen erträgliche Stellung zu gelangen. Es blieb bei dem Versuch. Selbst wenn er nicht gefesselt gewesen wäre, hätte er wohl kaum Entspannung gefunden. Hinter seiner Stirn wirbelten die Gedanken noch immer durcheinander. Und das blieb so für die nächste Zeit. Wie lange es dauerte, wusste er nicht, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, und er hätte hinterher nicht sagen können, woran er gedacht hatte. Vermutlich an alles und gar nichts. Als sich der Schlüssel endlich wieder im Schloss drehte und ein Beamter kam, um ihn abzuholen, nahm er das kaum wahr. Erst als der Mann ihn in unwirschem Ton anfuhr und den Arm ausstreckte, um ihn grob vom Bett in die Höhe zu ziehen, erwachte er aus dem tranceähnlichen Zustand, in dem er sich befunden hatte und sprang hastig auf die Füße.
Willenlos ließ er sich abführen. Er war jetzt nicht mehr in Panik, ja, er hatte kaum noch Angst. Der Zustand, in dem er sich befand, war beinahe noch erschreckender: eine Mischung aus Resignation, Verzweiflung und einer Art selbstmörderischem Fatalismus, die ihm bis zu diesem Moment völlig fremd gewesen war. Es schien ihm nicht nur egal zu sein, was mit ihm geschah. Auf eine perfide Art erwartete er noch weiteres und größeres Unheil, und er war fast sicher, dass er sogar enttäuscht sein würde, wenn dieses sich nicht einstellte. Sie betraten ein großes, überraschend helles und modern, ja, fast schon luxuriös eingerichtetes Büro. Jennings saß an einem wuchtigen Schreibtisch, der bis auf eine lederne Schreibunterlage und ein flaches Telefon vollkommen leer war, und befragte mit ernstem Gesicht und in Englisch den vor ihm sitzenden Frank. Stefan saß dagegen auf einem unbequemen Sche mel direkt unter dem Fenster. Auch seine Hände steckten in Handschellen, waren aber wenigstens nicht auf den Rücken gebunden. Als Mike eintrat, hielt Stefan seinem Blick nur eine halbe Sekunde Stand, dann senkte er hastig den Kopf und begann, mit den Füßen zu scharren. Frank unterbrach sein Gespräch mit Jennings, sah rasch zu ihm hoch und musterte ihn auf eine Weise, die Mike einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Seine selbstzerstörerische Vorfreude hatte ihn nicht getrügt. Es war etwas Schlimmes geschehen. Ein einziger Blick in Franks Augen reichte, um ihm das zu beweisen. Jennings machte eine wortlose Kopfbewegung auf den freien Stuhl direkt neben Frank und bedeutete Mikes Bewacher ebenso schweigend, den Raum zu verlassen. Mike wandte sich nicht zu ihm um, aber er spürte, dass der Mann zögerte und offensichtlich überrascht war. Erst als Jennings seine Geste unwilliger wiederholte, hörte er, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. »Wie geht es dir?«, fragte Frank.
»Wie schon?«, erwiderte Mike. »Ich habe mich schon besser gefühlt. Was ist los, Frank? Was geht hier vor?« »Das versuche ich, Detective Jennings gerade zu erklären«, antwortete Frank. »Ich fürchte nur, er glaubt mir nicht so recht.« »Das habe ich nicht gesagt, Herr Winter«, antwortete Jennings nun ebenfalls auf Deutsch, wohl, damit Mike nicht ausgeschlossen blieb. »Aber Sie müssen gestehen, dass die Geschichte, die Sie mir da aufgetischt haben, ziemlich fantastisch klingt. Ich werde sie überprüfen müssen.« »Ich habe Ihnen Strongs Handy-Nummer doch gegeben, oder?« »Sicher«, erwiderte Jennings ruhig. »Einer meiner Leute versucht auch gerade, ihn zu kontaktieren. Aber mit einem reinen Telefongespräch wird es nicht getan sein. Das verstehen Sie doch, oder?« Er wandte sich direkt an Mike. »Sie sehen nicht gut aus. Fühlen Sie sich nicht wohl? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen? Oder brauchen Sie einen Arzt?« »Nein«, antwortete Mike. »Das Einzige, was ich brauche, ist eine Antwort auf die Frage, was hier eigentlich los ist, verdammt.« Jennings sah ihn fast eine geschlagene Minute lang auf sonderbare Weise an. Dann drückte er einen Knopf auf seinem Telefon. Praktisch im gleichen Sekundenbruchteil ging die Tür hinter Mikes Rücken auf, und der Polizeibeamte, der ihn begleitet hatte, trat ein. Jennings wechselte ein paar Worte mit ihm - es war nicht unbedingt ein Streit, aber doch eine scharfe Diskussion, zumindest so viel bekam Mike mit -, dann zog der Mann einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete zuerst Franks und dann Mikes Handschellen. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Mike nahm mit einem erleichterten Seufzer die Arme nach vorne und begann, seine wund gescheuerten Gelenke zu massieren.
»Brauchen Sie vielleicht doch einen Arzt?«, fragte Jennings. Mike schüttelte den Kopf. »Bitte, jetzt sagen Sie uns endlich, was man uns vorwirft«, murmelte er. »Ich brauche keinen Arzt und auch keinen Anwalt. Ich will auch bestimmt keinen Ärger machen. Ich will nur wissen, was los ist.« »Nun, Herr Wolf, wir haben die Information erhalten, dass Sie heute Morgen in Arizona zwei Männer auf offener Straße erschossen haben. Was glauben Sie, wie wir darauf hätten reagieren sollen? Sie anrufen und fragen, ob es stimmt? Oder Ihnen eine Postkarte schreiben?« »Wer hat das gesagt?«, fragte Mike. »Ihr Freund Stefan«, sagte Jennings ruhig. Ein Schlag ins Gesicht hätte Mike nicht härter treffen können. Es vergingen vier, fünf Sekunden, bis er überhaupt begriff, was Jennings da gesagt hatte, und dann noch einmal deutlich längere Zeit, bis er darauf reagieren konnte. »Das ... das ist lächerlich«, sagte er. Seine Stimme war ein halb ersticktes Krächzen, das selbst in seinen Ohren fremd klang. Er starrte Jennings lange an, wartete vergeblich auf irgendeine Antwort und fuhr dann so abrupt auf dem Stuhl herum, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Stefan! Das ist nicht wahr. Das sagt er nur, um uns gege neinander auszuspielen!« Stefan antwortete nicht, sondern starrte nur weiter zu Boden. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet, aber sie zitterten trotzdem. »Es stimmt leider«, sagte Frank schließlich. »Aber das kann nicht sein«, murmelte Mike verstört. Er hörte die Worte, er verstand sie - und tief im Innern wusste er auch, dass sie der Wahrheit entsprachen. Aber er wollte es einfach nicht wahrhaben. Wieder wandte er sich an Stefan, wartete vergebens darauf, dass er irgendetwas sagte oder ihn wenigstens ansah. »Ich hatte keine Wahl«, sagte Stefan schließlich so leise, dass
Mike einige Augenblicke brauchte, um das Flüstern überhaupt zu registrieren. »Du hattest was?« »Was hätte ich denn tun sollen?« Plötzlich schrie Stefan fast, aber er sah Mike immer noch nicht an. »Großer Gott, du hast vor meinen Augen zwei Menschen umgebracht! Da kann ich nicht schweigen. Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen.« »Sie sind nicht tot«, murmelte Mike. »Das war nur ein Spiel. Ein kleiner Scherz, um es euch heimzuzahlen.« Stefan sagte nichts. »Er weiß es«, sagte Frank. »Ich habe es ihm gerade gesagt.« »Aber das ... das glaube ich nicht«, murmelte Mike. »Das kannst du nicht wirklich getan haben. Warum denn nur?« »Das fragen Sie noch?«, mischte sich Jennings ein. »Ihr Freund hat das einzig Richtige getan. Selbst wenn alles, was Sie behaupten, stimmt, haben Sie sich trotzdem einer ganzen Liste von Straftaten schuldig gemacht, das ist Ihnen doch klar, oder? Und wenn nicht, dann war es ziemlich naiv von Ihnen anzunehmen, dass Sie damit durchkommen könnten. Selbst wenn Sie ein Flugzeug erreicht und das Land verlassen hätten: Früher, oder später hätten wir Sie gekriegt, mein Wort darauf.« Mike achtete nicht auf ihn. Er starrte nur Stefan an. Er weigerte sich noch immer, zu glauben, was er gehört hatte. Er hätte nicht erwartet, dass Stefan für ihn durchs Feuer ging, sein Leben riskierte oder einen Mord beging - aber das? Ein solcher Verrat ihrer Freundschaft? Das Telefon klingelte. Jennings nahm ab, meldete sich auf Englisch und begann mit leiser Stimme zu sprechen. Frank machte keinen Hehl daraus, dass er konzentriert zuhörte, während Mike weiter Stefan anstarrte. Er war nicht einmal wirklich wütend. Er spürte eine so maßlose Enttäuschung, dass sie jedes andere Gefühl einfach überdeckte. Nach einer Weile hängte Jennings ein und sah Frank und
Mike abwechselnd an. Dann machte er eine Bewegung, die man als eine Art Kopfnicken deuten konnte. »Zumindest im Moment sieht es beinahe so aus, als hätten Sie die Wahrheit gesagt«, meinte er. »Das müssen wir natürlich noch überprüfen. Einer meiner Männer ist unterwegs, um Mister Strong und diesen angeblichen Sheriff Bannerma nn abzuholen.« »Das heißt, Sie glauben uns«, stellte Frank fest. »Das habe ich nicht gesagt.« Jennings schüttelte den Kopf. »Das ist die verrückteste Geschichte, die ich jemals gehört habe, wenn ich ehrlich sein soll. Und ich gebe Ihnen mein Wort, selbst wenn sie stimmt: Ich werde Ihren Freunden das Handwerk legen. Ist Ihnen denn nicht klar, was alles hätte passieren können?« »Doch, mittlerweile schon«, gab Frank zu. »Und glauben Sie mir, ich bedauere es sehr.« »Damit allein wird es nicht getan sein, fürchte ich«, erwiderte Jennings. »So oder so werden Sie noch ein paar Stunden unsere Gäste sein. Ich lasse Sie holen, sobald ich weitere Information besitze.« »Können wir ... einen Moment allein miteinander sprechen?«, fragte Frank. Jennings schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das geht nicht. Aber ich lasse Sie in bequemere Zellen bringen. Und ich rufe einen Arzt für Ihren Freund.« »Ich brauche keinen Arzt«, protestierte Mike. »Und ich brauche keinen geldgeilen Rechtsanwalt, der mich und das Department und vielleicht die ganze Stadt auf zehn Millionen Dollar Schadenersatz verklagt, wenn Sie es sich später doch noch anders überlegen«, erwiderte Jennings. »Außerdem sieht Ihre Hand nicht gut aus. Glauben Sie mir, ich kenne mich mit solchen Verletzungen aus.« Mike widersprach nicht mehr. Nun war ihm alles egal. Seine Hand schmerzte schlimmer denn je, und auch sein Herz brachte sich wieder unangenehm in Erinnerung. Aber nichts davon
schien von Bedeutung zu sein. Er fühlte sich ... betäubt. Er versuchte vergeblich, irgendetwas in sich zu finden: Zorn auf Stefan, Wut. Nichts von alledem war da. Nur Enttäuschung und das war im Augenblick vielleicht das schlimmstmögliche Gefühl von allen. Stefan wich seinem Blick weiter aus, bis die Tür geöffnet wurde und zwei Beamte kamen, um sie abzuholen. * Der Arzt kam schon nach zehn Minuten. Er stellte Mike ein paar knappe Fragen, die dieser allesamt ignorierte. Schließlich kümmerte er sich schweigend und sehr professionell um die verletzte Hand. Mike sah nicht einmal hin. Es verging noch einmal eine ganze Weile, bevor er wieder aus der Zelle geholt und zu Jennings gebracht wurde. Diesmal kam ihm das Büro nicht mehr so groß vor wie beim ersten Mal, was daran lag, dass sich jetzt wesentlich mehr Menschen darin aufhielten. Abgesehen vo n ihm selbst, Frank und Stefan, waren auch Strong, der angebliche Bannermann und sein Deputy anwesend. Die Indianer waren nicht gekommen. Stattdessen sah er einen elegant gekleideten Mann um die vierzig, der abwechselnd mit leiser Stimme mit Frank und mit deutlich lauterer und schärferer Stimme mit Jennings sprach. »Da bist du ja.« Frank klang erleichtert, als er Mike entdeckte. »Es ist alles in Ordnung. Jennings glaubt uns jetzt. Wir können gehen.« »Nicht ganz so schnell«, sagte Jennings. »Da sind noch zwei, drei Punkte ...« »Die Sie mit unserem Anwalt klären können«, unterbrach ihn Frank. Mike runzelte die Stirn. »Unser Anwalt?« »Mister Wings, hier.« Frank deutete auf den elegant gekleideten Mittvierziger. »Ich habe es für besser gehalten, einen
Anwalt hinzuzuziehen.« »Warum, wenn wir unschuldig sind?«, fragte Mike. »Weil wir unsere Unschuld beweisen müssen.« Frank hob die Schultern. »Aber wenn du ein oder zwei Wochen Zeit hast und eine Gefängniszelle dem Bally's vorziehst ...« Er drehte sich kurz zu Wings um, wechselte ein paar Worte auf Englisch mit ihm und wandte sich dann wieder an Mike. »Wie geht es dir?« »Du meinst das hier?« Mike blickte auf seine dick verbundene Hand. »Sie ist nicht gebrochen. Nur verstaucht.« »Nein, das habe ich nicht gemeint«, sagte Frank. »Ich weiß.« Mike trat demonstrativ an Frank vorbei und blieb erst einen halben Schritt vor Jennings’ Schreibtisch stehen. »Gibt es noch irgendeinen Grund, uns hier festzuhalten? Ich bin sehr müde. Und sehr erschöpft. Ich würde gern ins Hotel zurückkehren.« Jennings musterte ihn finster. Mike wusste nicht, was der Anwalt ihm gesagt hatte, aber es war wahrscheinlich recht deutlich gewesen. »Ich lasse Sie von einem Streifenwagen ins Hotel zurückbringen.« »Ein Taxi wird reichen«, meinte Frank rasch. »Ich muss darauf bestehen«, beharrte Jennings. »Einer meiner Beamten wird Sie in Ihr Hotel zurückbringen, keine Diskussion. Und ich muss Sie auch bitten, die Stadt nicht zu verlassen und sich weiterhin zu unserer Verfügung zu halten - zumindest, bis die Ange legenheit endgültig geklärt ist.« »Das könnte man als Freiheitsberaubung auslegen.« Franks Stimme zitterte. Mike hatte ihn selten zuvor so unverhohlen aggressiv und wütend zugleich erlebt. »Freiheitsberaubung? Bei Ihnen zu Hause vielleicht.« Jennings ließ sich nicht einschüchtern. »Hier bei uns habe ich das Recht, Sie achtundvierzig Stunden lang festzuhalten, ob mit oder ohne richterlichem Haftbefehl. Im Moment bin ich eher geneigt, darauf zu verzichten - schon weil unsere Arrestzellen
ohnehin aus allen Nähten platzen. Aber ich könnte es mir durchaus noch einmal überlegen.« Frank und der farbige Polizist stritten noch eine kurze Weile, aber schließlich gab Frank auf und willigte wütend ein, dass sie von einem von Jennings’ Streifenbeamten zurückgefahren wurden. Stefan saß die ganze Zeit auf seinem Stuhl neben dem Fenster und blickte überallhin, nur nicht in ihre Richtung. Er wirkte sehr nervös und auf eine Art niedergeschlagen, die es Mike fast unmöglich machte, irgendein anderes Gefühl als Mitleid für ihn zu empfinden. Und Enttäuschung, ein Gefühl des Verletztseins, dessen wahre Tiefe er bisher noch gar nicht erfasst hatte. Zorn? Nein, zornig war er nicht. Er wünschte sich, er hätte wütend werden können. Das hätte es vielleicht leichter gemacht. Für sie beide. Als sie das Büro verließen, ertappte Mike sich dabei, automatisch nach einem alten Indianer mit weißem Haar und zerfurchtem Gesicht Ausschau zu halten. Natürlich war er nicht da. Dafür stellte Strong sich ihnen in den Weg. »Ich wollte Ihnen nur noch einmal sagen, dass ...«, begann er. »Jetzt nicht«, unterbrach ihn Mike. »Bitte!« Strong blinzelte verlegen. Er war immer noch so groß wie gestern und trug immer noch seine Rockerkleidung, aber er sah mit einem Male gar nicht mehr Furcht einflößend oder beeindruckend aus. Verlegen wie ein Schuljunge, trat er von einem Bein auf das andere und wusste nicht, wohin mit seinen Händen, geschweige denn mit seinem Blick. Er schien mitbekommen zu haben, dass ihr kleiner Scherz gründlich nach hinten losgegangen war. Womöglich machte er sich auch Sorgen wegen Jennings. Der Detective hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich noch einmal und eingehender mit ihm und seiner »Geschäftsidee« befassen würde. Mike gönnte es ihm. »Ich will Ihnen nicht auf die Nerven gehen, aber es ist wirklich wichtig«, sagte Strong. »Ich meine: Ich kann mich doch
darauf verlassen, dass Sie der Polizei gegenüber bestätigen werden, dass das alles Ihre Idee war, oder? Sie müssen mich verstehen. Es ist ...« »Nicht jetzt«, sagte Frank scharf. »Das ist nun wirklich nicht der richtige Moment.« Er schien noch deutlich unangenehmere Worte sagen zu wollen, brach dann aber ab und zwang sich sichtlich zur Ruhe. »Sie haben es ja gehört: Wir werden so oder so noch ein paar Tage hier bleiben. Kommen Sie heute Abend ins Hotel. Oder besser morgen. Keine Sorge, irgendwie regeln wir das schon.« Strongs Gesichtsausdruck nach zu urteilen, zweifelte er daran. Und Frank ging es wohl nicht anders. Aber auch das war Mike vollkommen egal. Er drängelte sich grob an dem Stuntman vorbei und stürmte so schnell los, dass der Cop, der sie ins Hotel zurückbringen sollte, alle Mühe hatte, ihn einzuholen, bevor sie das Gebäude verließen. * Schon im Hotel wartete die nächste, böse Überraschung auf sie: Ihre Zimmerschlüssel passten nicht mehr. Frank schob die scheckkartengroße Plastikkarte vier- oder fünfmal in den Eingabeschlitz an der Tür, doch das winzige Lichtchen darüber weigerte sich, grün zu werden. Die Tür blieb verschlossen. Schließlich verlangte er nach Mikes und Stefans Karten und probierte sie hintereinander aus, mit dem gleichen Ergebnis. Sie gaben auf und fuhren mit dem Aufzug hinunter in die Lobby, um dort zu erfahren, dass man ihre Zimmerreservierung storniert hatte. »Na wunderbar«, knurrte Frank. »Das hat gerade noch gefehlt! Und was machen wir jetzt?« »Warum fragst du mich das?«, erwiderte Mike. »Ich habe die Polizei nicht gerufen!« Die Worte taten ihm schon Leid, noch während er sie aus-
sprach. Ihre Wirkung war natürlich genau die, die er hätte voraussehen können: Stefan fuhr sichtlich zusammen, sah ihn kurz und ebenso verstört wie wütend an und drehte sich dann auf dem Absatz um. »Ich warte an der Bar auf euch«, brummte er. »Ganz wunderbar«, murrte Frank und sah ihm stirnrunzelnd nach. »Bleibt immer noch meine Frage: Was machen wir jetzt?« »Es wird ja wohl möglich sein, irgendwo in Las Vegas ein Hotelzimmer zu finden«, antwortete Mike. »Das ist mit Sicherheit kein Problem«, sagte eine Stimme hinter ihm. Mike drehte sich um und erkannte Strong und die beiden angeblichen Polizisten. Jennings hatte sich anscheinend doch nicht allzu ausgiebig mit ihnen beschäftigt. Jedenfalls trugen sie weder Handschellen noch sahen sie aus, als warte draußen ein Erschießungskommando auf sie. »Wenn Sie gestatten, würde ich mich gerne darum kümmern. Ich kenne einen leitenden Manager des Treasure Island. Das ist ganz in der Nähe auf dem Strip, direkt neben dem Mirage. Der Mann ist mir noch einen Gefallen schuldig.« Ohne Mikes Antwort abzuwarten, griff er in die Jackentasche und zog ein Handy heraus. Er wählte eine Nummer, sprach aber nicht selbst, sondern gab das Gerät an Bannermann weiter und machte dann mit der frei gewordenen Hand eine Geste in die Richtung, in der Stefan verschwunden war. »Ich würde Sie und Ihre Freunde gerne auf einen Drink einladen. Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.« »Ich sagte doch: Jetzt nicht«, beharrte Frank. Diesmal war es Mike, der ihn unterbrach und abwehrend die Hand hob. »Meinetwegen. Ist doch egal, wann wir es hinter uns bringen. Ich bin sowieso nicht sicher, ob ich fahren kann.« »Das brauchen Sie auch nicht«, sagte Strong. »Wir kümmern uns um Ihr Gepäck. Und wir fahren auch Ihre Maschinen ins Treasure Island. Obwohl es sich kaum lohnt, sie hier aus der
Tiefgarage zu holen. Das Hotel ist praktisch auf der anderen Straßenseite.« Er wartete einen Moment lang vergebens auf irgendeine Reaktion von Frank oder Mike. Schließlich wandte er sich ab und wechselte ein paar Worte mit dem Mann hinter dem Empfang. Mike musste nicht auf Strongs Übersetzung warten, um zu wissen, was diese Geste bedeutete. Das Management des Bally’s wollte offensichtlich nicht, dass sie die Zimmer mit ihrer Anwesenheit kontaminierten; aber es hatte nichts dagegen, dass sie ihr Geld an der Hotelbar ausgaben. Die Bar, die Strong ansteue rte, imitierte einen Saloon aus der Zeit des Wilden Westens. Hinter der zerschrammten, aus unbehandelten Eichenbohlen gebauten Theke hing der obligatorische Spiegel, der von zwei prall gefüllten Flaschenregalen flankiert wurde. Die moderne Zapfanlage verbarg sich in einem Monstrum aus Messing und weißem Porzellan, das entweder tatsächlich antik oder eine perfekte Imitation war, und die Kellnerinnen bedienten in bodenlangen Röcken und weißen Spitzenblusen. Von Stefan war keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich hielt er sich an einer der anderen zahlreichen Bars des Hotels auf. Hinter der Theke stand ein schmerbäuchiger Glatzkopf mit weißem Hemd, schwarzer Fliege und einer schmierigen Lederschürze. Davor, beide Ellbogen auf die Theke gestützt und somit Mike und den anderen den Rücken zuwendend, stand ein alter Mann in einem zweiteiligen Lederanzug, der mit unzähligen Fransen verziert war. Er trug Mokassins und den Federschmuck eines indianischen Kriegshäuptlings. Zweifellos gehörte er zum lebenden Inventar, denn in seinem Gürtel steckte ein indianischer Tomahawk, und neben seinem linken Bein lehnte ein Repetiergewehr mit silberbeschlagenem Schaft an der Bar. Das Sicherheitspersonal hätte es niemals erlaubt, dass ein Gast mit auch nur einer dieser Waffen das Hotel betrat. Dennoch blieb Mike mitten im Schritt stehen und starrte die grauhaarige Gestalt fassungslos an. Sein Herz fing an zu rasen.
Er spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann, aber er war unfähig, etwas dagegen zu tun. Er wusste, dass es nicht der Wendigo war. Wenn der Mann sich umdrehte, würde er in das Gesicht eines Schauspielers blicken, der den Traum vom großen Ruhm längst aufgegeben hatte und sein Leben damit fristete, reichen Touristen zehn oder zwölf Stunden am Tag das Gefühl zu vermitteln, einem echten Wilden gegenüberzustehen. Aber das wusste nur sein Verstand. Sein Gefühl sprach eine ganz andere Sprache. Der Wendigo war hier. Sichtbar oder unsichtbar - er war hier, er beobachtete, belauerte ihn, wartete auf seine Chance. Mit einem Male war Mike sich hundertprozentig sicher, dass es noch nicht vorbei war. Wie hatte er sich anmaßen können, auch nur eine Sekunde lang zu glauben, dass der uralte AnasaziDämon die Klaviatur des Schreckens nicht hundertmal besser beherrschte als er selbst? Er würde nicht davonkommen. Das Ungeheuer ließ in ihm von Zeit zu Zeit ein Gefühl trügerischer Sicherheit aufsteigen, nur um auf den schlimmstmöglichen aller denkbaren Momente zu warten und ihn dann umso härter zu treffen. »Alles in Ordnung?« Strongs Stimme riss ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Mike löste seinen Blick mit einiger Mühe von der grauhaarigen Gestalt am Tresen, die ihm plötzlich nur noch albern, nicht mehr Furcht einflößend vorkam, nickte nervös in Strongs Richtung und steuerte dann einen freien Platz an einem der Tische an. Sie hatten die Auswahl. Außer ihnen waren keine anderen Gäste da. »Wo ist Stefan?«, fragte Frank. »Macht euch keine Sorgen, wir kümmern uns um ihn«, antwortete Strong. Er nickte kurz in Richtung seiner beiden Begleiter, die wortlos verschwanden und irgendwo in der Menge untertauchten, um nach Stefan zu suchen. Erst danach setzte sich Strong ebenfalls und winkte eine der Kellnerinnen
herbei. Er bestellte nichts, sondern hob nur drei Finger, und die junge Frau machte mitten im Schritt kehrt und ging zur Theke zurück. »Also?«, begann Frank. »Was gibt es so Wichtiges zu besprechen?« »Zuerst einmal möchte ich mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen«, antwortete Strong. »Das alles hätte nicht passieren dürfen.« »Da sind wir ja ausna hmsweise einmal einer Meinung«, erwiderte Frank. »Ich habe mit meinen Partnern darüber gesprochen«, sagte Strong ungerührt. »Wir werden Ihnen die Hälfte des Honorars zurückerstatten. Und ich werde auch dafür sorgen, dass Sie keinen weiteren Ärger mit den Behörden bekommen.« »Da bin ich ja mal gespannt«, sagte Frank böse. »Ich hatte das Gefühl, dass dieser Jennings schärfer auf Ihre Köpfe ist als auf unsere.« »Das ist das nächste Problem«, gab Strong zu. »Ich habe eine Menge Freunde in dieser Stadt, auch bei der Polizei. In meinem Gewerbe ist so etwas lebenswichtig. Aber ich werde Ihre Hilfe brauchen.« »Wobei?«, fragte Frank misstrauisch. »Wir werden mit Jennings fertig, aber ich will nichts beschönigen: Er kann uns eine Menge Ärger machen. Ich habe zwar den Vertrag mit Ihnen, aus dem hervorgeht, dass das alles mit Ihrem Einverständnis passiert ist, und es gibt genug Zeugen, die das bestätigen können. Aber ich habe ebenso wenig Lust wie Sie auf eine jahrelange Auseinandersetzung und möglicherweise ein Gerichtsverfahren. In einem Punkt unterscheidet sich dieses Land sehr unangenehm von unserer gemeinsamen Heimat: Wenn man einmal in die Krallen der Justiz gerät, dann kostet es Geld, ganz egal, ob man schuldig ist oder nicht. Eine Menge Geld.« »Kommen Sie zur Sache«, sagte Frank. »Was wollen Sie von
uns?« »Eine eidesstattliche Erklärung, in der Sie noch einmal versichern, dass Sie über alles Bescheid wussten.« Er sah Mike an. »Und Sie möchte ich bitten, mir ein Schriftstück zu übergeben, in dem Sie im Großen und Ganzen dasselbe bestätigen.« Mike wollte antworten, aber Frank kam ihm zuvor. »Und wenn wir das nicht tun?«, fragte er. Strong schüttelte seufzend den Kopf, als hätte er genau mit dieser Antwort gerechnet. »Das würde nichts ändern. Es macht die ganze Geschichte für uns alle nur sehr viel unangenehmer. Für uns alle«, fügte er noch einmal und deutlicher betont hinzu. Frank wollte auffahren, aber in diesem Moment brachte die Kellnerin das bestellte Bier. Strong wartete, bis sie wieder allein waren, dann fuhr er mit einer besänftigenden Geste in Franks Richtung fort: »Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich jetzt fühlen. Alle drei. Ich verlange auch nicht sofort eine Entscheidung von Ihnen. Nehmen Sie meine Entschuldigung an, und denken Sie in Ruhe über meinen Vorschlag nach. Es wäre für uns alle das Einfachste.« Er stand auf, ohne sein Bier angerührt zu haben. »Trinken Sie in Ruhe Ihr Bier aus und reden Sie über alles. Ich werde nach Ihrem Freund suchen, und wenn ich ihn finde, schicke ich ihn zu Ihnen. Ich schlage vor, wir treffen uns heute Abend im Treasure Island. Haben Sie die Piratenshow schon mal gesehen?« Frank starrte ihn nur finster an, und Mike schüttelte den Kopf. Strong fuhr fort: »Dann haben Sie was verpasst. Normalerweise ist sie Wochen im Voraus ausverkauft. Aber ich denke, ich kann Karten besorgen. Treffen wir uns also heute Abend um zehn an der Battle Bar.« Er ging, ohne Frank auch nur die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Frank starrte ihm wütend hinterher, sagte aber nichts mehr, sondern griff nach seinem Bier und stürzte das Glas in einem einzigen Zug zur Hälfte hinunter. Als er es auf den Tisch zurückstellte, geschah es mit solcher Wucht, dass der
Mann hinter der Bar aufsah und stirnrunzelnd in ihre Richtung blickte. * Wäre Mike in der Stimmung gewesen, etwas zu bewundern, so hätte er dieses Gefühl mit Sicherheit für das Treasure Island empfunden. Von außen erweckte das Hotel - zumindest nach den Maßstäben von Las Vegas - keinen besonderen Eindruck: ein riesiger Klotz aus Stahl, Beton und Unmengen von einseitig verspiegeltem Glas, der zwischen den verspielten Dornröschenschlössern, Pyramiden, Zirkuszelten und futuristisch anmutenden Sciencefictionbauten der anderen Hotels fast bescheiden wirkte, sah man von dem überdimensionalen Swimmingpool ab, der schon fast die Größe eines kleinen Sees hatte und den man auf einer hölzernen Brücke überqueren musste, um überhaupt zum Hotel zu gelangen. Das Innere war eine andere Welt, die zwei oder drei Jahrhunderte zurücklag und ebenso perfekt und mit Liebe zum allerkleinsten Detail gestaltet war wie die ganze Scheinwelt, die Las Vegas letzten Endes darstellte. Die riesige Hotelhalle unterschied sich wohltuend von der des Bally’s, denn in ihr war kein Spielsalon untergebracht. Stattdessen war sie dem Deck eine s Piratenschiffes aus dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert nachempfunden: Die Balken, die die schwere Holzdecke stützten, hatten die Form von Schiffsmasten, und unter den meisten Türen befanden sich kleine, in Messing gefasste Bullaugen. Strong hatte anscheinend nicht übertrieben. Sie wurden bereits erwartet. Frank musste nur ihre Namen nennen, und hinter ihnen erschien wie aus dem Nichts ein Page, der die Uniform eines englischen Schiffsmaats aus dem siebzehnten Jahrhundert trug und sie zu ihrem Zimmer begleitete. »Strong scheint ja wirklich der Arsch auf Grundeis zu ge-
hen«, sagte Frank, kaum dass sie allein waren. »Das Zimmer hier muss ein Vermögen kosten.« »Vermutlich kostet es ihn gar nichts.« Was interessierte es Mike, was Strong für Probleme hatte? »Ich frage mich eher, wo Stefan bleibt.« »Mach dir keine Sorgen«, antwortete Frank kopfschüttelnd. »Strong und seine Spezies werden sich schon um ihn kümmern. Denen kann doch gar nichts Schlimmeres passieren, als dass einem von uns etwas zustößt. Die Frage ist: Wie soll es jetzt weitergehen? Ich bin genauso sauer auf Stefan wie du, das kannst du mir glauben, aber was hast du jetzt vor? Ihm offiziell die Freundschaft kündigen? Ihm den Krieg erklären - oder ihn vielleicht aus dem Flugzeug stoßen?« »Unsinn!«, widersprach Mike. Dabei war ihm durchaus klar, dass sie nicht einfach nur eine Nacht darüber schlafen und dann so tun konnten, als wäre gar nichts geschehen. Sie würden wohl oder übel noch ein, zwei Tage miteinander auskommen müssen, und es brachte ve rmutlich nichts, das Gespräch mit Stefan auf die lange Bank zu schieben. Allerdings mussten sie ihn dafür erst einmal finden. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mit der Situation umgehen soll.« Er begann unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen. »Ich habe vermutlich ein paar Dinge gesagt, die ich besser für mich behalten hätte.« Er blieb stehen und sah Frank an. »Wäre es ...«, fuhr er fort. Er suchte nach Worten, rettete sich schließlich in ein Achselzucken und setzte neu an: »Könntest du mit ihm reden?« Franks Lippen verzogen sich zu einem humorlosen, dünnen Lächeln. »Warum überrascht mich diese Frage nicht?« »Weil du mich kennst und weißt, was für ein erbärmlicher Feigling ich bin«, sagte Mike. Frank blieb ernst. »Selbst wenn ich das jemals geglaubt hätte, hätte ich diese Meinung im Laufe der letzten Woche bestimmt geändert.« Er schüttelte hastig den Kopf, als Mike zu einer
spöttischen Antwort ansetzte. »Du hast bis jetzt noch nicht begriffen, was überhaupt passiert ist, habe ich Recht?« »Was ... meinst du?« »Du hast dich Zeit deines Lebens für einen Feigling geha lten«, antwortete Frank. »Irgendwie warst du das vielleicht sogar, wenn auch auf ganz andere Art, als du immer behauptet hast. Was glaubst du, warum wir dir diesen Abenteuerurlaub geschenkt haben? Nur, weil wir es so lustig fanden, dir einen kleinen Schrecken einzujagen? Bestimmt nicht! Es ist ganz genau das passiert, was ich vorausgesehen habe. Du bist über dich selbst hinausgewachsen. Du hast Dinge geschafft, von denen du vor einer Woche noch nicht einmal geträumt hättest.« »Aber nichts davon war doch echt.« »Und?«, fragte Frank. »Welche Rolle spielt das schon? Du wusstest es schließlich nicht. Du bist kein Feigling. Das warst du nie. Und Stefan ist es auch nicht. Er hat die Nerven verloren und einen Fehler gemacht, und ich glaube, das weiß er von uns allen am besten. Und was deine Frage angeht: Natürlich rede ich mit ihm.« »Danke.« »Ich hätte dir diesen Vorschlag sowieso gemacht«, sagte Frank. »Nicht, dass ich dir meine Hilfe aufdrängen will. Aber ich glaube, im Moment ist es klüger, wenn du dich von Stefan fern hältst. Falls er heute noch einmal auftaucht, heißt das.« »Wir könnten ihn suchen«, schlug Mike vor. Frank lachte. »Ach, und wo? Es ist völlig sinnlos, in dieser Stadt nach einem einzelnen Mann zu suchen. Lass das Strong und seine Freunde machen. Die können so etwas besser.« Er sah auf die Uhr. »Wir haben noch einen Menge Zeit, bis die Show anfängt. Was hältst du davon, wenn du dich ein bisschen ausruhst?« »Und du?«, fragte Mike misstrauisch. »Ich muss noch einmal mit diesem Halsabschneider von Rechtsanwalt reden«, antwortete Frank. »Wahrscheinlich steht
er jetzt schon drüben im Bally’s und kaut auf den Fingernägeln, weil wir nicht mehr da sind. Ich sage es dir gleich: Der Spaß wird uns noch eine hübsche Stange Geld kosten.« »Das ist mir egal«, sagte Mike, und es war durchaus ernst gemeint. »Hauptsache, wir kommen hier raus. Irgendwie.« »Also gut«, sagte Frank. »Dann hau dich aufs Ohr. Wenn Stefan auftaucht oder irgendetwas anderes passiert, wecke ic h dich. Ansonsten treffen wir uns spätestens um halb zehn unten am Pool. Ich nehme an, dass Strong einen Tisch für uns reserviert hat.« Er wartete einen Moment lang vergebens auf eine Antwort, dann deutete er ein Achselzucken an und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Mike blieb allein zurück. Er war verwirrt, zutiefst veruns ichert, und er hatte fast panische Angst, ohne sagen zu können, wovor. Er durchquerte das Zimmer und betrat das großräumige Bad. Ohne darauf zu achten, dass er den Verband an seiner Hand nass machte, schöpfte er sich fünf, sechs Mal hintereinander eiskaltes Wasser ins Gesicht und ließ auch noch eine Hand voll davon in seinen Nacken laufen. Die Kälte verscheuchte zwar die Müdigkeit nicht, klärte aber seine Gedanken. Zumindest glaubte er das ... Als er sich aufrichtete, blickte ihm aus dem Spiegel der Wendigo entgegen. Mike erstarrte. Er erschrak nicht, er schrie nicht auf - er starrte einfach nur das faltige graue Gesicht mit den äonenalten Augen an, gefangen in einem Zustand, der jenseits aller Emotionen und jenseits aller Worte lag. Er konnte sich selbst im Spiegel sehen, das cremefarben geflieste Bad hinter sich. Und zugleich war da auch der uralte Indianerdämon, ein Ding, das existierte und doch nie existiert hatte und das er vielleicht nie wieder loswerden würde. Der Wendigo sagte nichts. Er rührte keine Miene, blinzelte nicht, bewegte sich nicht, aber die unstillbare Bosheit und der grenzenlose Hass in seinen Augen loderten zu neuer Glut auf, erfüllt von einer Vorfreude, die
Mike mit maßlosem Entsetzen erfüllte. »Nein«, sagte er. Der Wendigo reagierte nicht. Er starrte ihn weiter an. Das Lodern in seinen Augen blieb. »Nein!«, sagte Mike noch einmal. Er lauschte vergebens auf einen Unterton von Hysterie oder Angst in seiner Stimme. Da war nichts von alledem, was ihm bisher immer so zu schaffen gemacht hatte, wenn er mit jemandem streiten musste. Nichts von dem kindlichen Trotz, nichts von seinem Hang zur Überreaktion, den er selbst so oft verflucht hatte, nichts von dem Zynismus, für den er berüchtigt war, obwohl er sich oft genug selbst dafür gehasst hatte. Plötzlich war alles ganz klar. Er wusste, dass er den Wendigo niemals besiegen konnte. Er konnte nicht vor ihm davonlaufen, er konnte ihn nicht schlagen. Dieses Ding, das aus seiner eigenen Seele kam, war geweckt und würde sein treuer, uneingeladener Gast bleiben bis ans Ende seines Lebens. Es war völlig sinnlos, gegen ihn zu kämpfen. Aber er konnte etwas anderes tun. »Nein«, sagte er noch einmal. »Ich habe keine Angst mehr vor dir.« Der Wendigo reagierte noch immer nicht. Er starrte ihn weiter aus seinen unheimlichen, flammenden Augen an. Doch etwas anderes geschah. Nichts Sichtbares. Nichts, das Mike benennen konnte, aber er spürte es deutlich. Irgendetwas ... veränderte sich. »Du kannst mich nicht mehr erschrecken«, beharrte er. »Ich weiß jetzt, wer du bist.« Das Bild flackerte. Mikes eigenes Spiegelbild und das des Bades blieben klar und fest. Über das Antlitz des Wendigo jedoch schienen winzige Wellen zu laufen wie über das Spiegelbild auf der Oberfläche eines Sees, in den man einen Stein geworfen hatte. »Du kannst mir keine Angst mehr machen«, wiederholte Mike noch einmal. »Ich weiß jetzt, wer du bist. Du kannst nicht
mehr mit mir spielen.« Bist du da so sicher, weißer Mann?, flüsterte die lautlose Stimme des Wendigo in seinen Gedanken. »Ja«, sagte Mike. Er war fast ein wenig erstaunt über die Festigkeit seiner Stimme. Er empfand dieselbe Festigkeit in sich selbst, einen Mut, der ihm völlig fremd war und dessen er sich trotzdem ganz selbstverständlich bediente. Mit einem Male war alles so klar. Fühl dich nicht zu sicher, weißer Mann, warnte der Wendigo. Die Wellenbewegung, die sein Gesicht verzerrte, wurde stärker, gleichzeitig schienen seinen Züge zu verblassen. »Ich weiß, wer du bist«, sagte Mike noch einmal. Er lachte. »Ich kenne deinen wirklichen Namen, und damit ist deine Macht über mich gebrochen. Ich werde nie wieder Angst vor dir haben.« Der Wendigo verschwand. Es geschah völlig unspektakulär. Die Erde tat sich nicht auf, um ihn zu verschlingen, kein Feuer regnete vom Himmel, kein Donner grollte, keine hohle Stimme flüsterte unsagbare Drohungen - das Geistergesicht auf dem Spiegel war einfach von einem Sekundenbruchteil auf den anderen nicht mehr da, und mit ihm verschwand das Gefühl einer uralten, unendlich bösen Gegenwart, die den Raum bisher ausgefüllt hatte. Mike starrte sein eigenes Spiegelbild noch eine geschlagene Minute lang an, dann wandte er sich um, verließ das Bad, stellte den Wecker und legte sich aufs Bett, um nicht nur auf der Stelle einzunicken, sondern auch zum ersten Mal seit einer Woche tief und erholsam durchzuschlafen. Pünktlich eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit schrillte der Wecker. Schlaftrunken stand er auf, tappte ins Bad und schöpfte sich drei, vier Hand voll eiskalten Wassers ins Gesicht. Er sah nicht in den Spiegel. Sein Hals kratzte, und seine Hand pulsierte. Dennoch fühlte er sich so erfrischt wie schon lange nicht mehr. Ein wenig umständlich zog er sich an und
brach dann zum Treffpunkt am Pool auf. Er fuhr mit dem Aufzug nach unten, radebrechte sich mit einer Hand voll englischer Worte zur Battle Bar durch und fand seine Erwartungen bestätigt: Was Frank vorhin als Pool bezeichnet hatte, war der künstliche See, der das Treasure Island von der Straße trennte; ein Becken von mindestens dreißig mal fünfzig Metern, das von künstlichen Felsen und nicht minder künstlichen Palmen eingerahmt wurde, obwohl es in Las Vegas weiß Gott heiß genug war, auch echte tropische Gewächse gedeihen zu lassen. Frank saß zusammen mit Strong und einem weiteren Mann, den Mike zumindest auf die Entfernung nicht erkannte, in einer der zahlreichen, durch dicke Glasscheiben zum Pool hin abgetrennten Nischen und winkte ihm gut gelaunt zu. Mike erwiderte die Geste flüchtig und arbeitete sich im Slalom zwischen den voll besetzten Tischen hindurch, wobei er um ein Haar ausgerutscht und der Länge nach hingefallen wäre. Die Terrasse war in Stufen angelegt, sodass man von jedem Tisch aus einen ungehinderten Blick auf die Wasserfläche hatte, und sie bestand aus spiegelglatt gebohnerten Eichenbohlen, um auch hier den Eindruck zu verstärken, dass sich die Gäste auf einem antiken Piratenschiff befanden. Frank deutete mit dem Bierglas in der rechten Hand auf einen von noch zwei freie n Stühlen. »Setz dich. Die Show fängt gleich an.« Er sah missbilligend auf die Uhr. »Hast du den Wecker nicht gestellt?« »Ich bin doch pünktlich, oder?«, antwortete Mike kurz angebunden. »Wo ist Stefan?« »Er wollte längst hier sein.« Frank winkte einer der Kellnerinnen und deutete mit der anderen Hand zuerst auf sein Bier, dann auf Mike. Die Kellnerin verstand. »Ich hoffe doch, Sie haben sich mittlerweile von dem Schrecken erholt«, begann Strong. »Es geht«, antwortete Mike grob. Er wies mit dem Kinn kurz
auf den Fremden neben Strong, einen dunkelhaarigen Mann Mitte vierzig, der ihn aufmerksam, aber ohne wirkliches Interesse, musterte. »Wer ist das?« Frank runzelte die Stirn und sah ihn scharf an. Mikes bewusst unfreundlicher Ton war ihm keineswegs entgangen, und offensichtlich fand er nicht seine Zustimmung. Strong lächelte jedoch unerschütterlich weiter. »Mister Baker hier ist Rechtsanwalt. Ich hatte Ihnen ja versprochen, dass ich mich um alles kümmere.« »Anwalt?« Baker hob die linke Augenbraue, aber das war auch die einzige Reaktion auf den abfälligen Ton Mikes. Strong schien einen Moment auf eine einlenkende Reaktion zu warten, deutete dann ein Achselzucken an und fuhr in unverändertem Ton fort: »Keine Sorge. Wir kennen uns schon seit einer Ewigkeit und arbeiten seit mehreren Jahren erfolgreich zusammen. Glauben Sie mir. Dieser Jennings ist nicht der Erste, der versucht, uns Schwierigkeiten zu bereiten.« »Ich dachte, wir hätten einen Anwalt?«, wandte sich Mike an Frank. »Das war vielleicht etwas übereilt«, sagte Strong, noch bevor Frank Gelegenheit fand, etwas darauf zu erwidern. »Nichts gegen Bakers Kollegen, den Sie ausgesucht haben, aber ich denke, Sie sollten den Rest einfach uns überlassen. Keine Sorge - es wird Sie keinen Pfennig extra kosten.« »Na, da bin ich ja beruhigt«, sagte Mike verärgert. Wo zum Teufel war Stefan? Er war nicht hierher gekommen, um sich mit Strong und irgendeinem Rechtsverdreher zu unterhalten! »Und was genau erwarten Sie jetzt von uns?«, fragte Frank, während er an seinem Bier nippte. »Nichts anderes als das, was wir bereits besprochen haben«, antwortete Strong. »Mister Baker hat ein Schriftstück vorbereitet, in dem Sie uns von jeglicher Verantwortung freistellen und noch einmal bestätigen, dass alles auf Ihren ausdrücklichen
Wunsch hin geschehen ist. Im Gegenzug verspreche ich Ihnen, dass Sie und Ihre beiden Freunde spätestens morgen Mittag in einem Flugzeug sitzen, das Sie nach Hause bringt.« Frank seufzte. »Das klingt fast zu verlockend, um wahr zu sein.« Der Stuntman setzte zu einer Entgegnung an, brach dann aber ab. Im ersten Moment hatte Mike das Gefühl, dass Strong ihn gleichermaßen erschrocken wie wütend anstarrte, dann aber wurde ihm klar, dass Strongs Blick auf einen Punkt irgendwo hinter ihm gerichtet war. Umständlich drehte er sich in seinem Stuhl um - und nur einen Moment später verfinsterte sich sein Gesicht vermutlich ebenso wie das Strongs; zumindest wurde ihm schlagartig klar, warum Strongs Laune umgekippt war. Zwischen den mittlerweile vollkommen besetzten Tischen schlängelte sich eine hoch gewachsene Gestalt in einem dunklen Maßanzug und mit ebenholzschwarzem Gesicht auf sie zu: Jennings, daran konnte trotz der Entfernung kein Zweifel bestehen. »Macht euch keine Sorgen«, sagte Strong hastig. Er klang deutlich nervös. »Ich erledige das schon.« Mike warf Frank einen vielsagenden Blick zu. »Ich dachte mir, dass ich Sie hier finde«, begann Jennings, nachdem er ihren Tisch erreicht hatte und ohne sich mit einer überflüssigen Formalität wie einem höflichen Gruß aufzuhalten. Er nickte Mike flüchtig und Frank etwas aufmerksamer zu, dann drehte er sich demonstrativ ganz zu Strong um und maß zuerst ihn und dann seinen dunkelhaarigen Begleiter mit einem langen, sehr beredtem Blick. »Wir sind zu einem rein privaten Treffen hier, Detective«, sagte Strong kühl. Jennings lächelte dünn. »Ich bin auch nicht dienstlich hier. Wäre ich es, dann hätten Sie jetzt bereits Handschellen an.« Baker sagte ein paar Worte in Englisch, die Mike nicht verstand, die Jennings aber auch nicht sonderlich beeindruck-
ten. Sein Lächeln wurde eher noch abfälliger. Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich an Frank: »Wo ist Ihr Freund?« »Stefan?« Frank hob die Schultern. »Wir waren hier verabredet. Ich nehme an, er wird gleich kommen.« »Das wäre gut«, sagte Jennings. »Ich wollte Sie im Grunde auch nur davon in Kenntnis setzen, dass Sie sich noch zwei oder drei Tage zu unserer Verfügung halten müssen.« Franks Gesicht verdüsterte sich. »Warum?« »Das würde mich allerdings auch interessieren«, sagte Strong in deutlich schärferem Tonfall als Frank. Jennings deutete ein Achselzucken an und wandte sich an Mike, als er antwortete; vermutlich nur, um den anderen am Tisch auf diese Weise ganz besonders seine Verachtung klar zu machen. »Ich persönlich glaube Ihnen. Aber es sind noch einige Punkte zu klären.« »Zum Beispiel?«, fragte Strong. Jennings ignorierte ihn geflissentlich weiter. »Vielleicht rufen Sie mich morgen Vormittag einfach noch einmal im Präsidium an«, sagte er, immer noch an Mike gewandt, als wären die anderen gar nicht da. »Ich bin noch eine Weile hier im Hotel. Wenn ich Ihren Freund treffe, dann schicke ich ihn zu Ihnen. Und jetzt genießen Sie die Show.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging. Sowohl Strong als auch sein Begleiter blickten ihm finster nach, während Frank plötzlich ein bisschen hilflos und verunsichert aussah, etwas, das Mike sehr selten bei ihm erlebte. »Was um alles in der Welt sollte das denn jetzt wieder?«, murmelte er. »Gar nichts«, sagte Strong. »Der Kerl macht sich wichtig, das ist alles. Er versucht, euch einzuschüchtern.« »Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht«, meinte Frank. »Ja, und genau das wollte er erreichen.« Strong machte ein ärgerliches Gesicht, überlegte eine Sekunde und stand dann mit einem Ruck auf. »Macht euch keine Sorgen. Ich schaffe euch
den Kerl vom Hals. Jetzt, auf der Stelle.« Er schob seinen Stuhl zurück und gab seinem Begleiter einen Wink, woraufhin auch dieser sich rasch erhob. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, folgten sie Jennings. »Wenn Sie Stefan sehen ...«, begann Frank. »Schicke ich ihn zu Ihnen«, brummte Strong, ohne sich umzublicken. Frank schüttelte den Kopf. »Weißt du, allmählich glaube ich, du hast Recht. Es war eine Schnapsidee, uns mit diesem Idioten einzulassen.« Anscheinend erwartete er Zus timmung von Mike; vielleicht sogar so etwas wie Absolution. Mike blickte ihn jedoch nur schweigend an, und nach einer Weile senkte Frank nervös den Blick, nippte ohne große Begeisterung an seinem Bier und sah dann demonstrativ an Mike vorbei auf die still daliegende Wasserfläche hinaus. »Wo bleibt Stefan?«, murmelte er. »Die Show geht gleich los.« »Was für eine Show eigentlich?«, erkundigte sich Mike. Automatisch sah auch er in die gleiche Richtung wie Frank, konnte auf der anderen Seite der Glasscheibe jedoch absolut nichts Außergewöhnliches erkennen. Der Pool lag vollkommen ruhig und regungslos da, von sicherlich zwei Dutzend großer Scheinwerfer in helles und dennoch sehr mildes Licht getaucht. Irgendwo am jenseitigen Ufer schien sich etwas zu bewegen, aber Mike war nicht sicher, ob es nicht nur ein Schatten war. Oder vielleicht auch eine schmale Gestalt mit schulterlangem grauen Haar, die ihn anstarrte. Er verscheuchte den Gedanken hastig und wandte sich wieder Frank zu. »Ich sehe hier nichts von einer Sho w.« Frank grinste. »Lass dich überraschen!« Mike tat ihm nicht den Gefallen, noch einmal nachzubohren. Stattdessen fragte er sich erneut, wo Stefan blieb. Streit hin oder her, im Grunde war Stefan ein sehr zuverlässiger Mensch, und er war vor allem ein erwachsener Mann, dem vielleicht die
Nerven durchgehen mochten, der sich aber nicht schmollend in eine Ecke zurückzog und den Beleidigten spielte. Wenigstens hoffte Mike das. In diesem Augenblick deutete Frank abermals auf die Gla sscheibe und sagte: »Es geht los.« Mike drehte sich mitsamt seines Stuhles so herum, dass er einen freien Blick auf das Bassin hatte, ohne sich den Hals verrenken zu müssen. Im ersten Augenblick schien sich das Bild auf der anderen Seite der Glasscheibe gar nicht verändert zu haben, dann aber sah er, was Frank meinte: Vom anderen Ufer des künstlich angelegten Sees her wehten dichte Nebelschwaden über das Wasser. Das Licht der Scheinwerfer hatte seine Farbe geändert, sodass der künstliche Nebel von innen heraus in einem unheimlichen, roten und gelben, manchmal bläulichen Schimmer zu leuchten schien. Aus versteckt angebrachten Lautsprechern drang das Heulen von Sturmböen, dann ein düsteres Knarren und Ächzen; Geräusche, die ein uraltes Schiff von sich geben mochte, das im Morgennebel heranglitt wie ein Gespenst, ausgespien von der Nacht. Und dann tauchte tatsächlich ein Schiff auf. Obwohl Mike Großartiges erwartet hatte - vor allem, nach Franks geheimnisvollen Andeutungen -, war er im ersten Moment regelrecht fassungslos. Aus dem künstlichen Nebel schob sich ein ausgewachsenes Piratenschiff mit dem stolzen Namen Hispaniola. Es musste gut zwölf, wenn nicht fünfzehn Meter lang sein, war einer spanischen Galeone nachgebildet und mit sicherlich zwei Dutzend in schreiend bunte Piratenkleider gehüllte Männern bemannt. Die Segel hingen schlaff von den Rahen, trotzdem glitt das Schiff immer schneller auf die Glasfront der Hotelterrasse zu und schwenkte erst im buchstäblich allerletzten Moment zur Seite. »Fantastisch, nicht?« In Franks Stimme schwang so etwas wie Besitzerstolz. »Habe ich zu viel versprochen?« »Nein«, antwortete Mike, ohne den Blick von dem immer
näher kommenden und größer werdenden Piratenschiff zu wenden. Es gab nicht allzu viel, was ihn in Erstaunen versetzen konnte, aber das hier gehörte eindeutig dazu. »Wie machen sie das?« »Ich nehme an, das Schiff fährt auf Schienen, die unsichtbar unter der Wasseroberfläche angebracht sind«, antwortete Frank. Er lachte leise. »Aber das ist noch lange nicht alles. In der Buccaneer Bay wird es gleich heftig zugehen!« Das Schiff schwenkte weiter herum, bis es seine Breitseite der Glasfront des Hotels zuwandte, und kam dann zur Ruhe. Die Piraten an Deck schüttelten Fäuste und Säbel in ihre Richtung und stießen wüste Drohungen und wildes Gelächter aus. Mike konnte sich eines unangenehmen Gefühls nicht ganz erwehren, als einige von ihnen damit begannen, die der Terrasse zugewandten Kanonen zu laden. Frank hatte wirklich nicht zu viel versprochen. Es ging noch weiter. Die Piraten führten ihre Show noch ein paar Minuten fort, dann tauchte ein zweites, sogar noch größeres Schiff aus dem Nebel auf; die britische Fregatte H.M.S. Britannia. Die Männer an Deck trugen antike Marineuniformen, und hinter dem Steuer auf dem höher gelegenen Achterdeck stand ein Mann in einer dunkelblauen Kapitänsuniform, einen Dreispitz verwegen auf dem Kopf und den gezückten Säbel in der rechten Hand. In die künstlichen Windgeräusche, die noch immer aus den Lautsprechern drangen, mischte sich jetzt leise, dramatische Musik. Eine volltönende Stimme begann in Englisch zu reden. »Wir erleben jetzt das letzte Gefecht des berüchtigten Käpt’n Kid«, sagte Frank. »Wenn es dich interessiert, kannst du es als Buch oder Videokassette nachher kaufen, auch auf Deutsch. Aber es ist nicht nötig. Sieh einfach hin und genieße die Show.« Und genau das tat Mike. Auch das zweite Schiff glitt heran, wurde langsamer, und der Kapitän rief irgendetwas zu den
Männern an Deck des Piratenseglers hinüber; vermutlich eine letzte Warnung, aufzugeben. Die Antwort bestand in wüstem Gejohle, Fäusteschütteln und zwei oder drei Musketenschüssen, die von den englischen Marinesoldaten prompt erwidert wurden. Die Hispaniola setzte sich wieder in Bewegung, aber auch die englische Fregatte schwenkte nun herum, und vor den Augen der staunenden Hotelgäste entbrannte eine regelrechte Seeschlacht. Die beiden Schiffe feuerten nacheinander ihre Kanonen ab, die sich unter gewaltigem Dröhnen, grellen Blitzen und noch gewaltigerer Rauchentwicklung entluden. Auf beiden Schiffen kam es zu lodernden Explosionen, Feuersäulen und fliegenden Trümmerstücken. Zwei, drei Männer stürzten über Bord, etliche andere brachen blutüberströmt zusammen. Schon die zweite Salve kappte den Hauptmast des Piratenschiffes, der mit einem gewaltigen Platschen ins Wasser fiel und versank, während die Breitseite, mit der der Piratensegler prompt antwortete, den halben Bug der H.M.S. Britannia wegfetzte. »Das ist unglaublich«, murmelte Mike. Natürlich war ihm klar, dass sie nur eine Show geboten bekamen, aber sie war absolut perfekt. Obwohl sie kaum zehn Meter vom Ort des Geschehens entfernt saßen, musste sich Mike immer wieder fast gewaltsam vor Augen führen, dass sie nur ein Schauspiel beobachteten, nicht die blutige Realität. Frank lachte leise. »Warte ab«, sagte er. »Es kommt noch besser.« Mike konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dieses Schauspiel noch überbieten konnte, aber Frank behielt auch diesmal Recht. Die Schiffe umkreisten einander gute fünf Minuten, in denen sie sich mit Kanonen- und Musketenschüssen gegenseitig eindeckten. Während des allergrößten Teils dieser Zeit schien kein Zweifel daran zu bestehen, wer das ungleiche Gefecht gewinnen würde. Das Piratenschiff wurde regelrecht in Stücke geschossen, mehr als die Hälfte seiner
Mannschaft lag reglos an Deck oder war ins Wasser gestürzt und versunken, und wären es echte Schiffe gewesen, keine Modelle, die auf Schienen liefen, wäre der Piratensegler vermutlich längst auseinander gebrochen und gesunken. Mike rechnete damit, dass sich die Piraten am Schluss ergeben würden, aber es kam anders. Der Piratenkapitän ließ sein angeschlagenes Schiff fast auf der Stelle herumschwenken, sodass er seinem Gegner nun die weniger beschädigte Seite zuwandte, und feuerte eine volle Breitseite ab. Die Wirkung war spektakulär. Das halbe Deck des englischen Schiffes flog in einer Explosion aus Feuer und künstlichem Rauch davon. Seine Geschütze stellten das Feuer ein. Dann begann es zu sinken. Mike riss ungläubig die Augen auf. Allein der Gedanke an den technischen Aufwand, der nötig war, um diesen einen Effekt zu bewerkstelligen, ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen, aber er sah es mit eigenen Augen: Das englische Schiff sank, und zwar komplett! Die wenigen überlebenden Soldaten retteten sich mit hastigen Sprüngen ins Wasser und schwammen ans Ufer, während sich der Käpt’n als echter Kapitän vom alten Schlag entpuppte: Er salutierte dem Piratenkapitän zu, trat hoch aufgerichtet hinter das Ruder seines Schiffes und blieb auf dem Achterdeck stehen, um mit seinem Schiff unterzugehen. Es dauerte gut zwei oder drei Minuten, bis der Rumpf des Schiffes ganz im Wasser versunken war. Der Pool war nicht tief genug, um das Schiff ganz zu verschlingen, sodass am Schluss noch die Spitze des Mastes aus dem Wasser ragte; der Rumpf, das Achterdeck und auch das Steuer mit dem noch immer reglos dahinter stehenden Käpt’n waren jedoch vollkommen verschwunden. »Na?«, fragte Frank. »War das eine Show?« Mike nickte. Er wandte sich nicht zu Frank um, sondern starrte weiter ungläubig auf die Wasserfläche. Es fiel ihm
schwer, sich aus der Traumwelt zu lösen, in die ihn das Spektakel für einige Minuten entführt hatte. Natürlich war ihm klar, dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war und der Kapitän sich längst in Sicherheit gebracht hatte. Vermutlich gab es dort unten einen Tunnel oder Taucher mit Sauerstoffmasken. Dennoch fühlte er sich wie erschlagen von dem Erlebten. Und war es nicht geradezu ein Symbol für vieles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte? Wie weit durfte er - wie weit durfte irgendein Mensch - seinen Augen trauen? Was war Realität, was nur ein Traum? »Das war wirklich toll«, sagte er nach einer Weile. »Schade, dass Stefan es nicht mitbekommen hat.« »Es ist noch nicht ganz vorbei«, sagte Frank. »Es taucht gleich wieder auf.« Bis dahin vergingen noch gut zwei oder drei Minuten, aber schließlich begann der Mast ebenso langsam wieder aus dem Wasser aufzusteigen, wie er darin versunken war. Und auch die Gestalt hinter dem Ruder war noch da! Nur dass es nicht me hr ein Schauspieler in der Uniform eines englischen Marineoffiziers des siebzehnten Jahrhunderts war. Es war ... »Stefan!«, keuchte Frank. »Großer Gott, das ist Stefan!» Für eine einzelne, endlose Sekunde konnte Mike nichts anderes tun als einfach nur dazusitzen und die Gestalt anzustarren, die reglos über dem fast mannshohen Ruder zusammengesunken war. Er konnte nicht denken. Er empfand nicht einmal wirklich Schrecken, nur ein Gefühl, das so absurd weit jenseits allen Entsetzens war, dass es kein Wort gab, um es zu beschreiben. Er saß einfach da und starrte das Schiff an, das sich langsam weiter aus dem Wasser hob, und er war nicht sicher, was schlimmer war: das, was er sah, oder der Umstand, dass Frank es offensichtlich ebenfalls sah. Nein, dies hier war offensichtlich keine seiner Halluzinationen. Dies hier war grausame Realität!
Und nicht nur er und Frank sahen es. Die Zuschauer hatten angefangen, zu applaudieren, als sich das Schiff wieder durch die Wasseroberfläche schob, aber der Applaus verebbte, und hier und da wurde ein erschrockenes Keuchen laut. Dann begann irgendwo eine Frau zu kreischen. Das Geräusch brach den Bann aus Entsetzen und Unglauben, der sich über die gesamte Menschenmenge auf der Terrasse gelegt hatte. Männer und Frauen sprangen auf, Stühle stürzten um, Glas klirrte, jemand begann, laut und absurderweise auf Französisch zu brüllen. Und endlich fiel der Bann auch von Mike ab. Es gab keinen Zweifel. Das da vorne war Stefan. Und es gab auch keinen Zweifel daran, dass er tot war. »Das ... das ist nicht wahr«, stammelte Mike. »Das ist nur ein Scherz.« Seine Stimme wurde schrill; hysterisch. »Das ... das habt ihr euch nur ausgedacht, um es mir heimzuzahlen!« Selbst wenn Frank die Worte gehört hätte, wäre er vermutlich nicht in der Lage gewesen, darauf zu antworten. Eine Sekunde lang stand er noch wie gelähmt da und starrte aus weit aufgerissenen Augen durch die Glasscheibe, dann fuhr er mit einer so abrupten Bewegung herum, dass er fast den Tisch umgeworfen hätte, rannte im Slalom zwischen den anderen Tischen und Stühlen hindurch, bis er das Ende der Glasbarriere erreicht hatte, und sprang, ohne im Tempo innezuhalten, über das niedrige Geländer, das den Pool dort von der Terrasse trennte, um sich mit einem gewaltigen Hechtsprung ins Wasser zu werfen. Während rings um Mike Panik ausbrach und überall längs des Pools große Scheinwerfer aufflammten, die die grausige Szene in grellweißes Licht tauchten, wirbelte auch er herum und hetzte hinter Frank her. Er prallte mit zwei, drei Leuten zusammen, riss Stühle um und rannte gegen Tische, aber er wurde nicht langsamer, sondern erreichte das Geländer, noch bevor Frank, der mit voller Kraft losgekrault war, bei der H.M.S. Britannia ankam. Er war nicht der Einzige. Mindestens
ein halbes Dutzend Schauspieler in Piratenkostümen und Marineuniformen waren plötzlich wieder im Wasser aufgetaucht und näherten sich dem Schiff. Neben dem Boot erschienen plötzlich Kopf und Schultern eines Tauchers. Ohne irgendetwas davon wirklich zur Kenntnis zu nehmen, rannte Mike weiter, sprang ohne die geringste Mühe über das Geländer und warf sich mit vorgestreckten Armen ins Wasser. Er war kein besonders guter Schwimmer, und das Wasser war so kalt, dass es ihm den Atem verschlug, aber nichts davon spielte eine Rolle. Noch immer halb wahnsinnig vor Angst, kraulte er los, überwand die Entfernung zu dem nachgebauten Kriegsschiff in wenigen Augenblicken und kletterte mit einer Behändigkeit an den aus Kunststoff nachgebildeten Planken des Rumpfes empor, zu der er unter normalen Umständen gar nicht in der Lage gewesen wäre. Nur einen Augenblick nach Frank erreichte er das Deck, zog sich mit einer kraftvollen Bewegung hinauf und war mit einem einzigen Schritt am Ruder. Er würde jetzt aufwachen. Wahrscheinlich lag er noch immer auf dem Bett in seinem Hotelzimmer und durchlebte einen Albtraum, das war die einzige Erklärung. Alles andere war völlig unmöglich! Aber er erwachte keinesfalls. Der Albtraum konnte nicht enden, weil er keiner war. Stefan stand unmittelbar vor ihnen, in einer grotesken Haltung halb nach vorne gebeugt und mit ausgebreiteten Armen, die Handgelenke mit groben Stricken an das große Steuerrad gebunden. Seine Augen waren weit aufgerissen, voll namenlosen Entsetzens und unbeschreiblicher Qual, aber ohne Leben. Seine Lippen waren blau verfärbt, die Haut und das Fleisch an seinen Handgelenken fast bis auf den Knochen durchgescheuert. Hellrotes Blut sickerte aus den Wunden, die er sich in seinem verzweifelten Todeskampf selbst beigebracht hatte, und bildete rosa Schlieren im Wasser zu seinen Füßen.
»Nein«, stammelte Mike. Er trat noch einen weiteren Schritt auf das Ruder zu und erstarrte dann, unfähig, sich zu rühren. Nacktes Entsetzen kroch wie eine Spinne mit zahllosen eisigen Beinen seinen Rücken hinauf, und plötzlich fiel es ihm schwer, zu atmen. Sein Herz begann zu klopfen. Nicht rasend schnell und in hämmerndem Rhythmus, wie er erwartet hätte, sondern langsam, schwer, wie gegen einen immer stärker werdenden, unsichtbaren Widerstand ankämpfend. Jeder einzelne Schlag tat weh, und es bereitete ihm immer mehr Mühe, zu atmen. Alles schien sich um ihn zu drehen. Sein Gesichtsfeld zog sich zu einem winzigen Kreis mit verschwommenen Rändern zusammen, in dem nur noch das Ruder und die daran gebundene Gestalt Platz hatten: Stefan, der tot war (tot!), und den jemand mit ausgebreiteten Armen an das Ruder gebunden hatte, als wolle er die böse Verhöhnung eines Kruzifixes erschaffen. »Nein«, flüsterte Mike immer wieder. »Nein. Das ... das kann nicht sein!« »Verdammt, hör auf hier rumzustammeln, und hilf mir lieber!«, brüllte Frank. Er musste ebenso gut wie Mike wissen, dass es nichts mehr gab, womit sie Stefan helfen konnten, aber er zerrte trotzdem mit verzweifelter Kraft an den Stricken, mit denen die Handgelenke festgebunden waren. In Franks Augen loderte das blanke Entsetzen. Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es Mike, einen weiteren halben Schritt nach vorne zu machen, aber er schaffte es nicht, die Bewegung ganz zu Ende zu bringen. Sein Herz schlug immer härter. Die Schläge schmerzten jetzt bis in die Fingerspitzen. Er konnte nicht mehr atmen, und in seinen Ohren war ein immer lauter werdendes an- und abschwellendes Rauschen, das alle anderen Geräusche langsam übertönte. Wie durch einen dichter werdenden, erstickenden Nebel registrierte er, wie überall rings um sie herum Gestalten auf das Deck heraufkletterten, wie Stimmen auf ihn einredeten, jemand neben Frank trat und ihn vom Ruder und Stefans Leichnam
wegzuzerren versuchte. Doch nichts davon vermochte den immer dichter werdenden Vorhang aus Nebel, Benommenheit und ganz banalem körperlichem Schmerz zu durchdringen, der Mike einhüllte. Schließlich vermochte er gar nicht mehr zu atmen. Eine unsichtbare Hand schnürte ihm die Kehle zu, und eine zweite, noch viel stärkere Hand presste sein Herz zu einem Ball aus reinem Schmerz zusammen, der in seiner Brust pulsierte wie eine winzige Sonne, die nur noch Sekunden vor der Explosion stand. Die Welt drehte sich schneller und schneller um ihn, und er spürte noch, wie alle Kraft aus seinem Körper wich und seine Knie unter ihm nachgaben, aber nicht mehr, wie er zusammenbrach und auf das Deck schlug. »Nein, verdammt noch mal! Ich will nicht ins Krankenhaus!« Mike musste seine Forderung fünf- oder sechsmal wiederholen, bevor die anderen ihn endlich nicht mehr bedrängten und der rasch herbeigerufene Arzt endlich wieder verschwand. Mike atmete innerlich auf. Natürlich wusste er, dass er gerade so ziemlich das Dümmste getan hatte, was er in einer Situation wie dieser überhaupt tun konnte. Trotzdem war er erleichtert, als reiche es, den Arzt wegzuschicken, um zugleich auch die Krankheit loszuwerden. »Tut mir einer von euch einen Gefallen und besorgt mir einen Kaffee?«, murmelte er. Frank rührte sich nicht, sondern starrte ihn finster an, aber Strong, der zusammen mit dem angeblichen Bannermann und dem jungen Indianer vor ein paar Minuten hereingekommen war, drehte sich fast hastig um und trat an die Kaffeemaschine, die auf der anderen Seite des Büros auf einer Anrichte stand. Außer ihnen waren noch ein leitender Manager des Treasure Island anwesend, ein Mann vom Sicherheitsdienst sowie ein uniformierter Streifenpolizist, der nicht wesentlich kleiner als ein Schaufelbagger war und mit vor der Brust verschränkten Armen demonstrativ an der Tür stand. Mike konnte sich weder daran erinnern, wann der Cop den Raum betreten hatte, noch,
warum. Aber er konnte sich an eine Menge nicht erinnern. Er hatte nicht wirklich das Bewusstsein verloren; wenigstens nicht für eine nennenswerte Zeit. Er war bereits wieder zu sich gekommen, noch bevor Frank und der Mann im Taucheranzug ihn aus dem Pool gezogen und am Ufer in eine stabile Seitenlage gebettet hatten, aber er konnte nicht mehr genau sagen, wie er hierher ins Büro des Hotelmanagers gekommen war. Ganz schwach glaubte er, sich an eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen Frank und dem Manager zu erinnern. Der Arzt war erstaunlich schnell zur Stelle gewesen - Mike nahm an, dass ein Hotel dieser Größe immer einen eigenen Arzt vor Ort hatte - und hatte nur ein paar Augenblicke gebraucht, um eine erste Diagnose zu stellen und ihm eine Spritze zu setzen. Was immer sie enthalten hatte, sie hatte gewirkt: Die Schmerzen in seiner Brust waren rasch abgeklungen, und nur Augenblicke später hatte er wieder halbwegs frei atmen können. Gleichzeitig hatten sich seine Gedanken geklärt. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er dankbar für diese Klarheit sein sollte. Er war wieder zurück in der Wirklichkeit, und die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, war schlimmer als jeder vorstellbare Albtraum. Er konnte sich nur nicht erinnern, wo dieser Polizeibeamte hergekommen war. Und was er hier wollte. »Verdammt noch mal, was ist nur passiert?«, murmelte er nach einer Weile. Frank hob unglücklich die Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand er. Er schüttelte ein paar Mal heftig den Kopf. »Ich begreife das nicht. Ich verstehe nicht, wie Stefan dort heruntergekommen ist oder wer das getan hat.« Mike wusste es sehr wohl. Der Wendigo! Aber wie konnte er Frank das erklären? Er schloss die Augen, atmete tief ein und lauschte einen Moment lang konzentriert in sich hinein. Sein Herz hatte aufgehört, wie wild zu hämmern, und es tat auch nicht mehr weh. Das lag vermutlich eher an der Wirkung der
Spritze, die ihm der Arzt gegeben hatte, als an einer wundersamen Heilung. Er machte sich nichts vor. Es war knapp gewesen, in jeder Beziehung. Doch welche Rolle spielte das jetzt noch? Die Tür ging auf, und Detective Jennings trat ein. Er war nicht allein, sondern befand sich in Begleitung zweier weiterer Streifenpolizisten, von denen einer wortlos neben seinem Kameraden neben der Tür Aufstellung nahm, während der andere Jennings wie ein Schatten folgte, mit ruhigen Bewegungen und unbewegtem Gesicht, die rechte Hand demonstrativ auf dem Griff des Revolvers liegend, der aus seinem Gürtel ragte. »Der Arzt hat mir gesagt, dass Sie nicht ins Krankenhaus wollen«, begann Jennings, ohne sich mit einer Begrüßung oder irgendeiner anderen Formalität aufzuhalten. »Ich kann Ihnen nur raten, es sich noch einmal zu überlegen. Wie mir der Arzt sagte, sind Sie um Haaresbreite an einem Herzinfarkt vorbeigeschlittert.« »Dicht vorbei ist auch daneben, oder?«, fragte Mike feindselig. »Glauben Sie nicht, dass wir im Moment andere Probleme haben?« In Jennings’ Augen blitzte es ärgerlich auf, aber er beherrschte sich und antwortete nur mit einer Bewegung, die eine komplizierte Mischung aus einem Achselzucken und einem Kopfnicken war. »Ganz wie Sie meinen. Wenn Sie sich kräftig genug fühlen, auf ärztliche Hilfe zu verzichten, dann können Sie mir sicherlich auch einige Fragen beantworten, nicht wahr?« »Natürlich«, antwortete Mike. »Was ist mit Stefan?«, warf Frank ein. Mike kramte in seinem Gedächtnis und glaubte sich an weitere rennende Gestalten zu erinnern, die einen schlaffen Körper zwischen sich trugen; an das Heulen einer Sirene und blitzendes Blaulicht. Jennings antwortete mit einem angedeuteten Kopfschütteln.
»Er wurde in die Klinik gebracht. Machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen. Ich bin kein Arzt, aber ich habe genug Tote gesehen, um zu wissen, wann noch Hoffnung besteht und wann nicht. Ohne dem Coroner vorgreifen zu wollen: Ihr Freund war mindestens eine Stunde tot, bevor das Schiff auftauchte.« Mike schloss mit einem Stöhnen die Augen. Er hatte gewusst, dass Stefan tot war. Aber es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine andere, die Wahrheit bestätigt zu bekommen. »Das ist doch völlig unmöglich«, sagte Frank. »Sie waren doch dabei, oder? Ich meine: Sie haben doch gesehen, dass das Schiff keine fünf Minuten unter Wasser gewesen ist!« »Und ich habe auch gesehen, dass nicht Ihr Freund hinter dem Ruder stand, als es gesunken ist«, fügte Jennings hinzu. »Ach, übrigens: Der Schauspieler, der den Kapitän spielt, ist verschwunden.« Er drehte sich halb herum, sodass er nun direkt auf Mike hinabsehen konnte. »Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wo er sein könnte?« Frank sog scharf die Luft ein, während Mike aufsah und den Detective geschlagene fünf Sekunden lang vollkommen verständnislos anstarrte. »Was soll das heißen?«, fragte Frank scharf. »Das soll heißen, dass ich anfange, mir gewisse Fragen zu stellen«, antwortete Jennings, ohne Mike auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen. »Sie sind ziemlich spät zur Show erschienen, nicht wahr?« Mike nickte. »Und?« Jennings deutete abermals ein Achselzucken an. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, wo Sie die zwei oder drei Stunden vorher gewesen sind?« Mike wollte antworten, aber Strong kam ihm zuvor. »Sagen Sie kein Wort! Das müssen Sie nicht. Nicht ohne Anwalt.« »Braucht er denn einen?«, fragte Jennings kühl. »Sie sind ja völlig wahnsinnig «, murmelte Frank. Er klang ebenso verstört und fassungslos wie Mike. »Sie wollen doch
nicht etwa andeuten, dass ...« »Ich will gar nichts andeuten«, unterbrach ihn Jennings, nun in zwar noch immer kühlem, aber weitaus entschiedenerem Tonfall. »Ich zähle nur Fakten auf. Ihre beiden Freunde hatten heute in meinem Büro einen heftigen Streit. Ich muss wohl kaum wiederholen, was gesagt wurde - Sie waren schließlich dabei. Seither habe ich Ihren Freund Stefan nicht mehr wieder gesehen. Niemand hat das, jedenfalls soweit ich bisher herausfinden konnte. Aber Sie«, er deutete anklagend mit dem Zeigefinger auf Mike, »sind für ebenfalls mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Stunden verschwunden.« »Ich habe im Bett gelegen und geschlafen«, protestierte Mike. »Wofür es selbstverständlich keine Zeugen gibt?«, erkundigte sich Jennings. »Ich brauche keine Zeugen!«, antwortete Mike heftig. Seine Hände begannen zu zittern. »Sie wollen doch wohl nicht etwa andeuten, dass ich Stefan ermordet habe?« Er versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein krächzender Schrei daraus. »Wie hätte ich das machen sollen? Ich kann nicht einmal richtig schwimmen.« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was passiert ist«, sagte Jennings. »Ich denke nur laut. Und ich zähle Fakten auf. Nichts anderes wird der Richter tun.« »Was für ein Richter?« Mike fragte sich, warum er immer noch keine Angst hatte. Alles, was er fühlte, war Fassungslosigkeit und eine fast absurde Hysterie. Jennings konnte nicht im Ernst glauben, dass er Stefan ermordet haben sollte! Das war ... grotesk. Aber ein einziger Blick in Jennings’ Augen zeigte ihm, dass der Detective ganz genau das glaubte. Und wenn er ehrlich war: Er konnte den Gedankengängen des farbigen Polizeibeamten sogar folgen. »Das reicht jetzt!«, sagte Strong. »Ich will auf der Stelle meinen Anwalt sprechen.«
Jennings nickte knapp. »Das ist Ihr gutes Recht.« »Und dasselbe gilt für mich und Mike«, verlangte Frank. »Jeder von Ihnen darf einmal telefonieren.« Jennings machte eine Kopfbewegung in Richtung Schreibtisch. »Bitte bedienen Sie sich.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Strong. »Unser Anwalt ist draußen im Foyer. Er wartet auf uns.« Er drehte sich halb zur Tür. »Ich hole ihn.« »Sie bleiben schön, wo Sie sind«, sagte Jennings. »Falls Sie diesen Rechtsverdreher Baker meinen, mit dem ich Sie vorhin zusammen am Tisch gesehen habe, den kenne ich. Ich hole ihn selbst. Das beschleunigt die Sache. Sie rühren sich nicht von der Stelle! Niemand.« »Sind wir verhaftet?«, fragte Strong feindselig. »Wenn Sie Wert darauflegen«, antwortete Jennings. Strong funkelte ihn noch eine Sekunde lang an, dann senkte er den Blick und trat demonstrativ einen halben Schritt zurück. Jennings führte seine begonnene Drehung zu Ende und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Zwei der Streifenbeamten, der Hotelmanager und sein Security-Mann folgten ihm. Einer der Cops blieb jedoch wachsam an der Tür stehen. So viel zu Jennings’ Behauptung, dass sie nicht verhaftet wären. »Ich fasse es nicht«, murmelte Strong kopfschüttelnd, kaum dass die Tür hinter Jennings ins Schloss gefallen war. »Dieser Irre will Ihnen tatsächlich einen Mord anhängen!« »Aber das ist doch absurd«, begehrte Frank auf. Er sah Mike Zustimmung heischend an, aber dieser schwieg. Mike musste sich immer mehr beherrschen, um nicht einfach laut und hysterisch loszulachen. Hatte er sich wirklich eingebildet, es wäre vorbei? Hatte er tatsächlich auch nur eine Sekunde lang im Ernst daran geglaubt, dass er allein es mit einem Geschöpft aufnehmen konnte, das älter war als die Zeit und boshafter als der Teufel? Er sah wieder die Augen des Wendigo vor sich, die ihn hasser-
füllt und voller böser Vorfreude aus dem Spiegel heraus anstarrten, und jetzt, endlich, als es zu spät war, begriff er den hämischen Triumph im Blick des uralten Anasazi-Dämons. Nein, Jennings hatte Recht! Er, Mike, hatte Stefan umgebracht. Vielleicht nicht mit eigenen Händen - das war der Wendigo gewesen. Aber es war seine, Mikes, Schuld, dass es so weit gekommen war. Und kein Anwalt der Welt, kein Gericht und kein Gesetz konnten daran etwas ändern: Stefan war tot, weil er, Mike, in seinem Hochmut und in seiner grenzenlosen Ignoranz eine Macht herausgefordert hatte, deren wahre Natur er bisher noch nicht einmal zu erahnen begonnen hatte. Und er spürte mit einer Klarheit jenseits allen Zweifels, dass der Blutdurst des Wendigo noch lange nicht gestillt war. Er hatte ihn herausgefordert, und jetzt würde er dafür zahlen müssen. Vielleicht würde Frank der Nächste sein, vielleicht Strong, möglicherweise auch jeder, den er kannte, bis das Ungeheuer ganz am Schluss ihn holen würde, oder - die grässlichste aller Vorstellungen! - auch nicht. Vielleicht würde er ihn am Leben lassen, ihn »verschonen«, damit die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre seines Lebens zu einem einzigen, nicht endenden Albtraum wurden. »Jennings hat Recht«, sagte er unvermittelt. Strong und die anderen blickten ihn verwirrt an. In seiner Stimme musste ein ungewöhnlicher Ton gele gen haben. Frank riss die Augen auf. »Was soll das heißen?« Mike wusste jetzt, was er tun musste. Ihm blieb nur eine einzige Möglichkeit. Er hatte es begonnen, und er würde es beenden, ganz egal, was es ihn kostete. Es war die einzige Möglichkeit, das Unge heuer zu stoppen. Er stand auf. »Ich habe ihn umgebracht«, sagte er. »Es ist wahr.« Frank sog ungläubig die Luft zwischen den Zähnen ein. »Das ist völliger Blödsinn!«, sagte er heftig. »Wann willst du das denn getan haben? Während du im Bett gelegen und geschlafen
hast? Und wie hast du es gemacht? Jetzt sag mir nicht, du hast Stefan überwältigt und bist mit ihm auf den Grund des Pools getaucht, um ihn am Steuer festzubinden. Er hätte dich in kleine Stücke zerbrochen.« »Nicht so«, sagte Mike. Etwas geschah. Er konnte spüren, wie sich in den Dimensionen des Wahnsinns und der Gewalt, in denen der Wendigo zu Hause war, etwas regte; wie diese stille, lauernde Macht, die seit dem ersten Tag im Hintergrund seiner Gedanken gewesen war und jeden seiner Schritte überwacht hatte, überrascht und zornig zusammenfuhr, um dann vor Wut, Enttäuschung und Zorn aufzuschreien. Mike war auf dem richtigen Weg! Wie er selbst hatte sich auch der Dämon für unbesiegbar und allmächtig gehalten, und wie er selbst musste er in diesem Moment begreifen, dass es doch einen Weg gab, um ihn zu besiegen. »Ich habe es nicht mit eigenen Händen getan«, sagte er. »Aber ich bin schuld, dass er tot ist. Und ich werde die Verantwortung dafür übernehmen.« Das Wutgeschrei des Wendigo in seinen Gedanken wurde lauter. Es war die Enttäuschung eines Raubtieres, das seine Beute schon sicher geglaubt und sich nur noch ein letztes Mal an seinem Todeskampf hatte weiden wollen - und das eben diese Beute jetzt entkommen sah. Der Wendigo brüllte vor Wut und Hass ... und raste heran. Aber er würde zu spät kommen. »Jetzt hör endlich auf, so einen Unsinn zu reden!«, sagte Frank. »Wenn Jennings das hört, steckt er dich in seine dunkelste Zelle und schmeißt den Schlüssel weg. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal. Ich fü hle mich genauso miserabel wie du, aber ...« * Der Wendigo kam. Es begann als ein fernes, dumpfes Grollen, wie das Geräusch eines Gewitters, noch weit hinter dem Horizont, mehr zu ahnen
und zu spüren, als tatsächlich zu hören, aber machtvoll und drohend zugleich. Das Dröhnen schwoll an, wurde tiefer und lauter und verschlang für einen winzigen Moment jedes andere Geräusch. Frank brach erschrocken mitten im Wort ab und drehte sich stirnrunzelnd zur Tür. Auch Strong und seine beiden Begleiter sahen auf, alarmiert, aber offenbar nicht in der Lage, den Ursprung des unheimlichen Lautes zu orten. Während das Geräusch mehr und mehr anschwoll, nahm der Polizist vor der Tür die Arme herunter, drehte sich halb herum und setzte dazu an, einen Schritt zur Seite zu machen. Er kam nie dazu, diesen Schritt zu Ende zu führen. Die Tür wurde von einem gewaltigen Schlag getroffen, gleichzeitig in Stücke gerissen und nach innen geschleudert. In der zerfetzten Öffnung erschien der Wendigo, uralt, mit wehendem grauen Haar, das von einem gewaltigen Federschopf gekrönt war, die Augen voller Hass und lodernder, unstillbarer Mordgier. In der linken Hand schwang er einen Tomahawk, über seine Lippen kam ein gellendes Kriegsgeheul. Er saß nicht auf einem Pferd, sondern auf einer riesige n, nachtschwarzen Harley, die nicht wirklich ein Motorrad war, sondern der Albtraum eines solchen: eine Maschine, die in der Hölle geschmiedet worden war und nur aus reißenden Klingen, Dornen und rasiermesserscharfen Kanten bestand. Statt eines Lenkers hatte sie zwei nach hinten gebogene Büffelhörner, und wo der Scheinwerfer sein sollte, grinste der skelettierte Schädel eines Pferdes, hinter dessen leeren Augenhöhlen das Feuer der Hölle loderte. Mörderische Sicheln, die wie bei einem antiken Gladiatorenwage n aus den Achsen ragten, bildeten verschwommene, tödlich flirrende Schatten neben den Rädern. Hinter dem Motorrad waberte etwas heran, das wie Gestalt gewordene Finsternis aussah. Es war, als pralle die Wirklichkeit entsetzt vor dem zurück, was da warnungs los aus den Dimensionen des Wahnsinns in sie hereingebrochen war. Der Streifenpolizist war der Erste, der starb. Von den Trüm-
mern der zerfetzten Tür getroffen, taumelte er mit haltlos rudernden Armen zurück. Für einen winzigen Moment sah es fast so aus, als würde er dem heranrasenden Höllenmotorrad entgehen. Im buchstäblich letzten Moment jedoch riss der Wendigo die Albtraum- Harley mit einer jähen Bewegung herum. Die rotierenden Klingen an ihrem Vorderrad zerfetzten Uniform, Haut und Knochen und ließen den taumelnden Mann endgültig zusammenbrechen - direkt in den rotierenden Kreis aus rasiermesserscharfen Sichelklingen neben dem Hinterrad. Der Aufprall, vielleicht aber auch die abrupte Lenkerbewegung, brachten den Wendigo aus dem Gleichgewicht. Die Harley ne igte sich, zertrümmerte den gewaltigen Schreibtisch des Hotelmanagers, ohne nennenswert langsamer zu werden, und wäre zweifellos auf die Seite gestürzt, wäre das Büro groß genug dazu gewesen. So bohrte sie sich mit einem gewaltigen Krachen in die der Tür gegenüberliegende Wand. Der Wendigo wurde aus dem Sattel geschleudert, landete inmitten der zerborstenen Reste des Schreibtisches und schlitterte hilflos über den Boden, bis die Wand neben der Tür seiner Bewegung ein abruptes Ende bereitete. Das alles, von dem Moment an, in dem Mike das Geräusch das erste Mal gehört hatte, dauerte kaum länger als eine Minute. Mit einer unglaublich behänden Bewegung sprang der Wendigo auf, stieß ein gellendes Kriegsgeschrei aus und schleuderte seinen Tomahawk in die noch zuckende Leiche des Polizeibeamten. Der dumpfe, eklig klatschende Aufschlag brach endgültig den Bann, der sich über Mike gelegt hatte. Er schrie ebenfalls auf, so laut, dass er das Gefühl hatte, seine Stimmbänder würden zerreißen, während Frank und Bannermann weiterhin einfach nur gelähmt vor Entsetzen dastanden und den zerfetzten Polizisten anstarrten. Nur Strong reagierte auf der Stelle und genau so, wie Mike es erwartet hätte, wäre er in der Lage gewesen, auch nur den Ansatz eines klaren Gedankens zu fassen: Er wirbelte mit
einem wütenden Zischen herum, riss die Arme in die Höhe und stürzte sich ohne zu zögern auf den Angreifer. Noch bevor der Wendigo ganz auf die Füße gekommen war, hatte Strong ihn mit beiden Händen gepackt und vollends in die Höhe gerissen. Der Wendigo schleuderte ihn mit einer fast nachlässigen Bewegung zur Seite. Strong taumelte mit haltlos rudernden Armen zurück und fiel der Länge nach hin. Er schrie auf, eher erschrocken und wütend als wirklich vor Schmerz. Mit einer fast gemächlichen Bewegung drehte sich der Wendigo zu Mike und den anderen um. Trotz seines schweren Sturzes war er unverletzt. Selbst der gewaltige Federschmuck, der sein graues Haar krönte, war unversehrt. Seine Augen loderten vor bösem Triumph. Hast du wirklich geglaubt, es wäre so einfach, weißer Mann ? »Nein«, stammelte Mike. »Bitte. Das ... das ... bitte tu das nicht! Du kannst mich haben. Tu mit mir, was du willst, aber bitte lass sie leben. Tu mir das nicht an!« Er wusste, dass sein Flehen ungehört verhallen würde. Sein verzweifeltes Bitten gab dem höhnischen Triumph in den Augen des Dämons nur neue Nahrung, und die Bosheit darin flammte zu neuer und noch hellerer Glut auf. »Wer ... was ist das?«, stammelte Frank. Das Entsetzen, das in seiner Stimme mitschwang, machte Mike klar, dass er die Antwort bereits wusste. Aber wie hätte er diese Wahrheit akzeptieren können? Hast du wirklich gedacht, du könntest mich besiegen, Eindringling? Ein lautloses Lachen hallte hinter Mikes Schläfen wider. Ich habe ganze Völker ausgelöscht. Ich habe Kontinente verheert, nur um mir die Zeit zu vertreiben, und eine Welt erschaffen, nur um die Gebete meiner Anhänger zu erhören. Und du glaubst, du könntest mich besiegen? Für einen Moment wurde das unheimliche Wabern hinter dem Wendigo stärker. Die Wand, vor der er stand, verblasste. Mike spürte heißen, trockenen Wüstenwind auf seiner Haut
und kniff die Augen gegen das grelle Licht einer erbarmungslosen Sonne zusammen, die auf eine ausgeglühte rote Landschaft hinunterschien. Irgendwo auf halbem Wege zwischen hier und dem unendlich weit entfernten, nie erreichbaren Horizont bewegten sich winzige Gestalten: Hunderte, vielleicht Tausende, vielleicht mehr. Es war das verschwundene Volk der Anasazi, das dem Ruf des Wendigo gefolgt war und sich auf den Weg in die andere Welt gemacht hatte; das zu spät begriffen hatte, dass es diese Welt nie erreichen und sein Weg niemals enden würde, weil es ebenso zu einem Spielzeug dieser uralten bösen Kreatur geworden war wie er, Mike, und seine Freunde. Das Bild erlosch, bevor Mike es in allen Einzelheiten erkennen konnte. Trotzdem brannte sich der Anblick unauslöschlich und für alle Zeiten in sein Gedächtnis ein. Was hatte der Wendigo gesagt: Hast du wirklich geglaubt, mich besiegen zu können? Neben dem Wendigo richtete sich Strong umständlich auf. Ein zerfetzter Kunststoffsplitter ragte aus seinem Oberarm, und er blutete aus mehreren, kleineren Schnittwunden im Gesicht und an den Händen. Trotzdem war er nicht besiegt. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, riss er den Splitter aus seinem Arm und schloss die Hand um das rasiermesserscharfe Kunststoffstück wie um einen Dolch. Mit einem wütenden Knurren warf er sich auf den Wendigo. Der Dämon versuchte, ihn erneut mit einer beiläufigen Bewegung zur Seite zu wischen, doch diesmal war Strong darauf vorbereitet. Mit einer unglaublich behänden Bewegung duckte er sich unter dem Arm des Wendigo hindurch und hackte gleichzeitig mit seiner improvisierten Messerklinge nach dessen Gesicht. Er traf. Der spitze Splitter zog eine blutige Furche durch das Haar des Indianers, zerriss seine Stirn und löschte auf seinem Weg zum Kinn hinab das linke Auge des Wendigo aus. Der Dämon taumelte mit einem überraschten Laut zurück. Seine Wange klaffte auseinander wie ein zweiter, blutiger Mund,
hinter dem die Backenzähne zu einem höhnischen Grinsen gebleckt waren. Blut schoss in Strömen aus der schrecklichen Wunde und färbte sein Gesicht und die Brust seines ledernen Fransenhemdes rot. Mike begriff überhaupt nicht, was er da sah. Der Wendigo war unbesiegbar, und niemand - nicht einmal Strong - konnte ihm auch nur im Entferntesten gefährlich werden! Strong schrie triumphierend auf, setzte dem Wendigo nach und schwang seine Waffe zu einem zweiten, noch kraftvolleren Hieb; doch diesmal war der Wendigo schneller. Er duckte sich unter dem Angriff weg, kam wieder hoch, und Mike glaubte schon, er würde Strong mit einem einzigen kraftvollen Schlag niederstrecken. Doch es war nicht Strong, den er traf; vielleicht hatte er es nie vorgehabt, vielleicht war er im letzten Moment durch irgendetwas abgelenkt worden. Im Grunde machte es keinen Unterschied. Nur das Ergebnis zählte - und das war furchtbar. Der Handrücken des Wendigo traf nämlich Mike mit betäubender Wucht über den Augen. Einen Moment lang glaubte er, sein Kopf sei abgerissen worden. Er taumelte zurück - drei, vier, fünf, vielleicht unendlich viele Schritte, während die Szenerie um ihn herum wie eine Glasscheibe in tausend Splitter zerbarst. Er nahm alles nur noch wie durch Watte wahr, undeutlich, verschwommen und so seltsam verzerrt, dass er sich nicht mehr orientieren konnte in dem verschwommenen Graublau, das ihn plötzlich umhüllte ... Dann büßte die Welt jede Farbe ein, und die Kampfgeräusche um ihn herum drangen nur noch verschwommen an sein Ohr. Warmes Blut lief in sein rechtes Auge. In diesem Moment begriff er nicht nur, dass er härter getroffen worden war, als er zuerst angenommen hatte, sondern dass dieser Schlag auch etwas ganz anderes bewirkt hatte ... Denn er war nicht mehr in dem von Angstschweiß und Blut besudelten Büro im Treasure Island. Er hatte vielmehr das
Gefühl, durch eine Art Zwischenreich zu gleiten - als habe ihn der Wendigo tödlich getroffen und als hauche er nun langsam sein Leben aus. Da war kein sanfter Lichtschein, der ihn umfloss oder verheißungsvoll von der anderen Seite eines Tunnels lockte. Auch fehlte Mike das großartige Gefühl der Erleichterung, von denen so viele Menschen berichtet hatten, die dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten. Um ihn herum war nichts als Dunkelheit, tiefe, erstickende und grenzenlos schmerzende Dunkelheit. Wenn dies das Ende war, dann war es voller Einsamkeit, Schmerz, Verzweiflung und dem bitteren Vorwurf, sein Leben vollkommen sinnlos verschwendet zu haben. Er hätte sich dem Wendigo ergeben sollen, als noch Zeit dazu gewesen war, statt sich in seiner jämmerlichen Angst selbst zu belügen und lächerliche Finten und Winkelzüge zu ersinnen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Er hätte niemals seine Freunde mit in diese Geschichte hineinziehen dürfen und all die anderen, die nun nur durch seine Schuld in diesen Strudel von Gewalt und Irrsinn gezogen wurden ... »Allein.« Die Stimme, die ihm widersprach, kam Mike seltsam bekannt vor; natürlich, denn sie war nichts weiter als ein Reflex seines Überlebensinstinkts, der selbst jetzt, im Angesicht des Todes, noch seine vollkommen sinnlosen Kapriolen schlug. »Wenn der Wendigo spielen will, dann spielt er«, fuhr die Stimme fort. »Es ist unmöglich, sich ihm auf billige Art zu entziehen.« Mike blinzelte. Sein linkes Auge war so blutverschmiert, dass er zuerst nichts als rote Schlieren sah, doch nach einem Moment begann sich sein Blick zu klären. Nicht weit entfernt leckten gelblich-rötliche Flammen empor, die die Szene mit spärlich flackerndem Licht erhellten. Nein, es war nicht die Büroeinrichtung, die Feuer gefangen hatte: Es waren Holzscheite, die sorgfältig für ein offensichtlich gerade
erst entzündetes Lagerfeuer auf kargem Felsboden aufgeschichtet waren. Statt von den Stahlbetonwänden eines gigantischen Hotelkomplexes war Mike von dunklen Felswänden eingeschlossen. Und statt des Wendigo ... Auf der anderen Seite des Feuers saß ein uralter Indianer mit hüftlangem, grauem Haar und wettergegerbtem Gesicht. Er trug ein einfaches, weißes Kleid, dessen einziger Schmuck aus einem kunstvoll gestickten Kragen bestand. Auf dem Boden neben ihm lag etwas, das Mike nicht erkennen konnte; etwas, das er schon beim ersten Mal nicht erkannt hatte, als er in dieser Höhle gewesen war ... damals, in seinem Traum. Das Déjà- vù-Gefühl verstärkte sich, als der Indianer die Hand hob und trockenes Geäst ins Feuer warf. Die Flammen griffen gierig danach. Schon kurz darauf flackerte das Feuer auf, hell genug, um Mike das Gekritzel auf nackten Felswänden erkennen zu lassen: Momentaufnahmen aus dem Leben eines längst vergessenen Volkes, das täglich gegen den Hunger und die Witterung kämpfte und mit zeremoniellen Darstellungen von Jagdzügen, Fruchtbarkeitsriten und religiösen Festen den Beistand von Göttern erflehte, ohne den es sich verloren wähnte. »Es bleibt dir nicht mehr viel Zeit«, sagte der Alte, ohne vom Feuer aufzublicken. »Bin ich ...?«, fragte Mike. »Tot?« Der Schamane runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Vielleicht wünschst du dir schon sehr bald, du wärest es - aber so leicht wird dich der Wendigo nicht davonkommen lassen.« »Was soll das heißen?«, fragte Mike bitter. »Reicht es nicht, dass er sich Stefan geholt hat - und jetzt im Hotel ein Massaker anrichtet?« »Nein.« Der Alte holte etwas aus seinem Gewand hervor, ein kleines, silbernes Kästchen. Langsam öffnete er den Deckel. »Bislang hat der Wendigo nur mir dir gespielt. Aber jetzt ist
sein Appetit geweckt. Er will mehr.« »Mehr?« Ein krampfhafter Schauder ließ Mike erzittern. Er fühlte sich plötzlich so heiß, fiebrig und wacklig auf den Beinen wie ein Grippekranker, der sich zu hastig bewegt hatte. »Was kann er mehr von mir wollen? Was kann er mir jetzt noch nehmen?« »Deine Würde? Deinen Glauben an dich selbst? Deine Selbstachtung?« Der Alte machte eine ungeduldige Handbewegung. »Es gibt viel mehr, was man einem Mann nehmen kann, als sein Leben. Und das weißt du nur zu gut, Schreiberling. Auch aus diesem Grund hat dich der Wendigo ausgewählt.« »Er hat mich ausgewählt?« Mikes Knie schienen plötzlich sein Gewicht nicht mehr tragen zu können. Er musste sich an der Felswand festhalten, um nicht zu stürzen. »Ja, er hat dich erwählt«, sagte der Schamane leise. »Dich und deine Freunde. Und zuvor den vom Weg abgekommenen Krieger Strong. Er ha t sehr lange auf Menschen gewartet, die ohne innere Not die Barriere zwischen Fantasie und Wirklichkeit einreißen - und die untereinander durch ein Geflecht Unheil bringender Emotionen verbunden sind.« »Du meinst ...« »Ich meine, dass du dein Leben lang Mächte herausgefordert hast, denen du nicht im Geringsten gewachsen bist. Du hast mit Angst und Verzweiflung gezahlt und geglaubt, damit sei die Rechnung beglichen: Aber das war sie nicht. Du hast aus den Tiefen der Finsternis geschöpft, um düstere Geheimnisse auf Papier zu bannen, du hast Geschichten erzählt, die zwar nie im Wortlaut, aber doch im innersten Kern immer wahr waren. Doch dabei hast du versäumt, dich der Unterstützung deiner Mitmenschen zu versichern, wie es jeder weise Mann tun würde, der niema ls einen gefährlichen Weg ohne den Beistand seines Stammes einschlägt. Du hast dagegen zugelassen, dass Neid und Missgunst deine Umgebung vergiften und in die
Seelen deiner Freunde Einzug halten.« Die Stimme des Schamanen war zum Schluss immer schwächer geworden, doch Mike hatte jedes einzelne Wort verstanden. Hatte er tatsächlich geglaubt, nur seine Angst durchstehen zu müssen, um mit allem fertig zu werden, was sich aus seinem tiefen Eintauchen in düstere Stoffe und menschliche Abgründe ergab? Vielleicht war das schon vom Ansatz her falsch gewesen. Vielleicht hatte er tatsächlich versäumt, sich rechtzeitig den Beistand seiner Freunde zu sichern und stattdessen vollkommen sinnlos versucht, sein ganzes Leben als einsamer Wolf zu meistern. »Ich verstehe trotzdem nicht«, sagte er schließlich. »Was hat der Wendigo damit zu tun?« Der Alte lachte freudlos auf. »Er hat auf dich und Strong gewartet. Ihr beiden reist zwischen Fantasie und Wirklichkeit wie Schamanen, aber ihr wisst nicht, wie man sich schützen muss, damit man dabei nicht an Leib und Seele Schaden nimmt. Der Krieger, der sich Strong nennt, hat auf dem Territorium des Wendigo ein gewagtes Spiel begonnen, ohne zu ahnen, dass er sich damit leichtfertig einer Macht ausliefert, die ihn von Anfang an nur als willfährige Marionette betrachtet hat. Strong hat viele Männer in dieses Land gelockt, um an seinen Fantasiereisen teilzunehmen, und immer hat der Wend igo wie eine Spinne im Netz gelauert, bereit, zuzuschlagen, falls sich ihm die passende Beute leichtsinnig anbieten sollte.« »Und diese Beute bin ich«, stellte Mike bitter fest. »Aber ja. Es gibt niemand Geeigneteren. Du bist ein Grenzgänger zwischen den Welten, ohne dir dessen bewusst zu sein. Und deine Freunde haben dich hintergangen, vielleicht mehr, als sie selber ahnten ...« »Was soll das heißen?« »Das weißt du nicht?« Der Schamane schüttelte den Kopf. »Obwohl du so viel Wissen über die menschliche Natur angesammelt hast, bist du doch voller Blindheit.« Der Alte
entnahm dem silbernen Kästchen ein schwarzes Pulver, das er von der linken in die rechte Hand rieseln ließ. »Ich fürchte, ich kann dich nicht sehend machen. Aber ich kann dir zeigen, wie das begonnen hat, was jetzt gerade sein Ende findet.« »Der Wendigo ...« »Ist uralt, und das, was dir Ewigkeiten entfernt zu sein scheint, ist für ihn so nah, als sei es erst gestern geschehen. Einer seiner Schützlinge wurde vor zwei Menschenaltern von einem stinkenden, lärmenden metallenen Pferd getötet. Der Tod dieses Kindes hat seinen Rachedurst geweckt.« »Das Kind«, sagte Mike entsetzt. »Die Schützlinge des Wendigo sind Kinder?« »Aber ja.« Der Schamane sah ihn mit leisem Vorwurf an. »Als ob du das nicht längst weißt. Die Legenden über den Wendigo sind zahlreicher als die Blätter an einem Baum und widersprechen sic h in vielen Details. Aber das Schlimmste ist, dass sie niemals den Kern treffen. Die meisten Indianervölker halten ihn für ein Kinder fressendes Monster, da er ihnen die Begabtesten und Tapfersten in jungen Jahren nimmt. Tatsächlich nährt er sich in absche ulicher Weise von den Seelen der von ihm Erwählten, sodass sie gezeichnet sind in seinem Sinne und auf Uneingeweihte trotz ihrer besonderen Fähigkeiten schwachsinnig, geistig verwirrt oder einfach nur seltsam wirken. Aber leichtfertig handelt der, der sich an ihnen vergreift oder sie verspottet: Denn sie stehen unter dem Schutz des Wendigo, und er würde niemanden gewähren lassen, der sie misshandelt oder gar tötet.« Mike stockte im wahrsten Sinne des Wortes der Atem. Einen Augenblick - den Bruchteil einer Sekunde lang - glaubte er, den sabbernden, schwachsinnig wirkenden Indianerjungen aus dem schwarzen Van wieder vor sich zu sehen und die ganze schreckliche Wahrheit intuitiv erfassen zu können. Doch dann war der Moment vorbei, ohne dass sich die volle Erkenntnis eingestellt hätte.
»Der schnelle Fortschritt, den der weiße Mann in die Steppen, die Wüste und die Canyons brachte, war vielleicht das Einzige, was den Wendigo je wirklich überraschte«, fuhr der Schamane fort. »Er war nicht darauf gefasst, was Maschinen, Elektrizität und künstliches Licht innerhalb kürzester Zeit zu ändern vermögen. Und da Monate für ihn nur wie Stunden sind, wurde er geradezu von der neuen Entwicklung überrollt »Und er verlor an Macht«, vermutete Mike. »Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch nur eine andere Phase seines Wachstums, der Beginn eines Zyklus, der ihn noch mächtiger machen wird. Auf jeden Fall hat es ihn sehr wütend gemacht. Seitdem sinnt er auf Rache an den weißen Eindringlingen.« Der Schamane lehnte sich zurück. Erst jetzt bemerkte Mike, wie erschöpft, uralt und zerbrechlich der Indianer aussah, als stamme er selbst aus einer längst untergegangenen Epoche, als halte ihn nur noch eine geheimnisvolle Kraft aufrecht, über deren Ursprung Mike nicht einmal zu spekulieren wagte. »Der Wendigo hat sich in das alte Zentrum seiner Macht zurückgezogen, in diese Höhle in der Nähe des Ortes, den du als Monument Valley kennst. Darin liegt auch die einige Chance, die du noch hast!« »Ich verstehe nicht«, sagte Mike verzweifelt. »Für eine n belesenen Mann wie dich dürfte es kein Problem sein zu begreifen, dass sein Einflussbereich begrenzt ist. In den letzten Jahrzehnten mag dieser abgenommen haben, doch jetzt wächst er wieder.« »Wie weit«, Mike schrie fast, »wie weit reicht seine Macht?« Der Alte streckte die Arme aus und ließ sie die Andeutung eines Kreises vollführen. »In dem Gebiet rund um uns herum, mehr als zehn Tagesreisen in jede Himmelsrichtung, gewährte der Wendigo fünfzig Generationen lang allen Völkern Überfluss und Wohlstand. Noch bevor sich der weiße Mann anschickte, diesen Kontinent zu erobern, spürte der Wendigo die Bedrohung durch ihn. Er reagierte auf seine Weise - und ließ
das enden, was er begonnen hatte.« Der Schamane schloss einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien sein Blick in weiter Ferne zu schweifen. »Seine Völker verschwanden vom Antlitz dieser Erde. Nun rätselt der weiße Mann, wie das geschehen konnte. Er spricht von einer großen Dürre - und wundert sich, dass er dafür keine Belege findet. Wie könnte er sie auch finden? Der Wendigo hat seine Völker zu sich geholt und damit seine Macht gemehrt.« Zu jeder anderen Zeit hätte Mike wahrscheinlich voller Faszination an den Lippen des Alten gehangen. In seiner mome ntanen Lage jedoch verspürte er nur den unbändigen Drang in sich, so lange in dieses runzlige, von der Wüste und dem Wind gegerbte Gesicht zu schlagen, bis er endlich seine Frage beantwortet bekäme. »Wie weit muss ich weg, um dem Wendigo zu entkommen?«, wiederholte er, jedes einzelne Wort betonend, während ihm gleichzeitig ein dünner Blutfaden vom Auge hinab über die Wange lief. Der Schamane seufzte. »Im Süden, Westen und Osten reicht sein Einfluss noch immer bis in das Siedlungsgebiet des Volkes, das die überlebenden Stämme voller Ehrfurcht die Hohokam nennen - Die, die verschwanden. Ihr Reich erstreckte sich vom Colorado Plateau im Osten bis zu der Wüste von Sonora ...« »Sonora?« Schmerzhafte, krampfhafte Schauder ließen Mike erbeben. »Deswegen hat uns der Wendigo also in dem Nest Sanora Strongs Truppe auf den Hals gehetzt - dieser verfluchte Bastard! Hätte ich das damals nur geahnt - ich hätte Vollgas geben sollen. Stattdessen ...« Er lachte. Es war ein Laut, der hart und trocken und so verloren wie das Bellen eines verängstigten Hundes klang. »So eine verdammte Scheiße! Und ich dachte, es sei ein genialer Gedanke, es Frank und Stefan heimzuzahlen ...« »Es war nicht dein Gedanke, es war der des Wendigo«, sagte der Schamane ruhig. »Seine Marionette Strong hat deinen
Freund Frank bereits in eurer Heimat mit dem Gedankengut des Wendigo infiziert. Strong war auf der Suche nach jema ndem wie dich, und deswegen hat er deine Freunde ausgewählt und ihnen ein verlockendes Angebot gemacht - das war der einzige Weg, dich hierher zu locken.« Die Worte des Schamanen hätten Mike eigentlich schockieren sollen, taten es aber nicht. Im Grunde genommen war ihm all das egal. Er spürte, dass sich der Alte nicht davon abbringen lassen würde, ihm die ganze verrückte Geschichte zu erzählen. Und irgendetwas in ihm warnte ihn davor, den Schamanen zu bedrängen und Ungeduld zu zeigen - vielleicht ist das nichts weiter als eine nette kleine Prüfung, weißer Mann, um deine Leidensfähigkeit und deine Geduld zu testen. Und wer weiß, vielleicht schenke ich dir dein jämmerliches Leben, wenn du dich fügst und zuhörst wie ein braver, kleiner Junge. »Der Weg zu dir führte über deine Freunde, und damit konnte das Spiel beginnen. Strong und seine Helfer glaubten, die gleiche lächerliche Vorstellung abliefern zu können wie sonst auch. Aber diesmal führte der Wendigo von Anfang an Regie, bediente sich eurer Emotionen, um Groll, Neid und Verbitterung zur Explosion zu bringen. Er manipulierte all eure Aktionen, verstärkte sie und gaukelte euch etwas vor, jedem Einzelnen.« Mike erinnerte sich an den Schatten, den er mehr als einmal zu sehen geglaubt hatte - im Motel, im Gefängnis, immer dann, wenn das angebliche »Spiel« auszuufern drohte. Der Schamane fuhr derweil fort: »Es ist geradezu ein Wunder, dass ihr euch nicht gleich von Anfang an gege nseitig an die Kehle gegangen seid. Aber das hätte den Plänen des Wendigo widersprochen, seinem boshaften Instinkt, alles auf eine Explosion der Zerstörung zulaufen zu lassen, nachdem ihr euch gegenseitig die Maske der Großmut und Freundschaft vom Gesicht gerissen habt.« Mike sah eine Momentaufnahme von Stefans Gesicht vor sich, als er im Polizeibüro gesessen hatte, verbittert und bis ins
Mark erschüttert und unfähig seinen, Mikes, Blick zu erwidern - und dann seine gebrochenen Augen und sein aufgedunsenes Gesicht, als er am Mast der englischen Fregatte aus dem Wasser auftauchte. Und Frank? Hatte er im Hotel nicht das Gefühl gehabt, seine Nähe nicht mehr ertragen zu können. War da nicht eine Wand bitterster Vorwürfe zwischen ihnen gewesen - anstelle der alten freundschaftlichen Gefühle, des grundsätzlichen Vertrauens und Einverständnisses mit dem jeweils anderen? »Ich sehe, dass du zu verstehen beginnst«, sagte der Schamane leise. »Aus eurem ›Spiel‹ hat der Wendigo Ernst gemacht. Illusionen - Stunts, wie ihr sie nennt - sollten dir als Realität verkauft werden: das tote Kind, der Mord an dem Harley-Mann in Moab. Der Wendigo hat sie tatsächlich zur Realität werden lassen, die nur du erkennen konntest. Und so hat er die Realität zur Illusion werden lassen. Doch ich habe die Frage nicht vergessen, die in deinem Herzen brennt wie die Sonne in jenem Tal, das nach ihr benannt ist: dem Tal der Sonne.« Mike schwankte wie eine Ähre im Wind. Er wollte etwas sagen, brachte aber nichts weiter als ein leises Stöhnen hervor. »In diesem Tal war einst das rituelle Zentrum der Hohokam. Und durch ebendieses Tal seid ihr in das Gebiet des Wendigo eingedrungen.« »Ich ... verstehe ... nicht«, brachte Mike mühsam hervor. Er konnte geradezu spüren, wie ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann. »Die weißen Männer haben im Tal der Sonne die Stadt Phoenix errichtet. Genau so, wie sie auf dem heiligen Gebiet der Anasazi eine andere große Stadt gegründet haben. Salt Lake City.« Der Schamane breitete wieder die Arme aus. »Wenn du dich im Kreis drehst, wirst du merken, dass all diese Orte gleich weit entfernt von dieser Höhle liegen. In diesem Gebiet ist die Macht des Wendigo nach wie vor ungebrochen.«
»O Gott!« Mike schloss einen Herzschlag lang die Augen. Während hinter seinen Schläfen ein harter, hämmernder Schmerz pochte, versuchte er, sich die Karte vorzustellen, auf denen ihre Route eingetragen war. Monument Valley, Las Vegas - das war ungefähr die gleiche Entfernung wie Monument Valley, Phoenix oder Monument Valley, Salt Lake City. Sie befanden sich am Rande des alten Machtzirkels des Wendigo, verdammt noch mal! »Warum ... warum können wir ihm dann nicht entkommen?« »Weil er wie eine Spinne sein Netz geknüpft und sich in eure Seelen eingenistet hat. Aber auch, weil das Tal, in dem Las Vegas gegründet wurde, eines seiner alten Kraftzentren ist; ein Zentrum böser und leichtsinniger Kräfte, die die weißen Eindringlinge verlockten, hier eine glitzernde Stadt voll trügerischer Illusionen zu bauen.« Die Stimme des Alten veränderte sich und klang nun beinahe wie das Zischeln einer Schlange. »Zudem wird der Wendigo beständig stärker, während er sich nährt.« »Verdammt!« Mike verschluckte sich fast vor Aufregung. »Das heißt, wenn ... wenn ich es schaffe, noch ein paar Dutzend Meilen weiter südlich zu fahren ...« Der Alte nickte. »Dann nimmt sein Einfluss stetig ab, bis du dich schließlich ganz aus seiner Umklammerung zu lösen vermagst. Deswegen hat euch der Wendigo auch dazu gebracht, in den ersten Nächten nur wenige Tagesritte vom Monument Valley entfernt zu übernachten ...« Mike hörte überhaupt nicht mehr zu. Das Schlimmste an der ganzen Situation war, dass die Rettung so nah lag! Wenn sie nicht im Bally’s abgestiegen, sondern die 15 einfach weiter runter Richtung Los Angeles gedonnert wären, hätten sie diesen ganzen verfluchten Albtraum vielleicht schon längst hinter sich. Stefan konnte er nicht mehr zurückholen, aber wenn es ihm gelang, gemeinsam mit Frank aus dem Treasure Island zu fliehen, wenn sie sich ihre Intruder schnappen
konnten, um mit Vollgas aus der Stadt zu fahren, Vollgas Richtung Mexiko ... Mikes Herz begann zu hämmern, laut und mit Schlägen, die seinen ganzen Körper erschütterten. Er nahm es kaum wahr. »Was muss ich tun, um dem Wendigo zu entkommen?«, schrie er den Alten mit verzweife lter Kraft an. »Sag es mir, verdammt noch mal! Du hast versprochen, mir zu helfen - jetzt tu es auch!« Der Schamane schüttelte den Kopf. Es war eine müde, fast traurig wirkende Bewegung, die Mike umso mehr entsetzte, als sie seine verzweifelte letzte Hoffnung zu vernichten drohte. »Ich fürchte, helfen kann ich dir nicht«, antwortete der Alte schließlich. »Ich kann dir nur zeigen, wo der Zyklus begann, an dessen Ende du nun stehst. Damit du nicht all das verlierst, was ein Mensch verlieren kann.« Er hielt die Hand über das Feuer und ließ etwas von dem schwarzen Pulver hineinfallen. Es zischte. Funken und rote Glut wirbelten wie Derwische umher. Mike schloss geblendet die Augen. »Alles wiederholt sich im Laufe der Zeit, doch gleicht keine Wiederholung vollständig der anderen. Allein in diesem Geheimnis liegt die Kraft zu Änderung und Neuanfang.« Als Mike die Augen wieder öffnete, befand er sich nicht mehr in der Höhle. Es ging ein leichter Luftzug, Vögel zirpten, und in der Ferne war ein dumpfes Grollen zu hören, das vertraut und gleichermaßen fremd klang, als gehöre es nicht hierher. Er nahm den Geruch von frischem Gras, Leder und Fett wahr und von Rauch, der aus dem kuppelförmigen Zelt vor ihm quoll. Ja, Mike kannte diese Szenerie, auch wenn die Details nicht vollständig mit seinen Erinnerungen übereinstimmten. Erst vor ein paar Tagen hatte er in Moab, in diesem gottverdammten Harley-Shop, ein braunstichiges, verstaubtes Foto entdeckt, das einen Mann auf einer uralten Harley vor einem Hogan zeigte ... und dann hatten die Personen auf dem Foto plötzlich angefa n-
gen, sich zu bewegen. Vor Mikes entsetzten Augen hatte ein fürchterliches Unglück stattgefunden. Der Schamane hatte ihn offenbar tatsächlich zum Ursprung dieser verhängnisvollen Geschichte zurückgeführt, an den Ort, an dem alles begonnen hatte und nun alles enden würde. Doch plötzlich begriff Mike den fundamentalen Unterschied zu der Szene auf dem alten Foto. Neben dem Hogan stand diesmal ein hölzernes Gestell, auf dem große Fleischstücke trockneten. Im Hintergrund sah er mehrere Tipis, kegelförmige Wohnzelte, die im Gegensatz zu dem größeren und aufwändig gestalteten Hogan keine zeremonielle Bedeutung hatten und vor denen ein paar kleinere Kinder herumtollten, manche im Lendenschurz, manche nackt. Die Kinder beachteten ihn nicht, ebenso wenig wie die beiden Hunde, die selbstvergessen in der heißen Vormittagssonne mit ihnen herumbalgten, als wären sie alle zusammen nichts weiter als ein großes, verspieltes Rudel. Einzig und allein der einsame kleine Junge vor dem Feuer im Inneren des sicherlich stickig heißen Hogans wandte sich Mike zu, fast lässig und mit der leicht unkontrollierten Bewegung, wie sie Schwachsinnigen eigen ist - und blickte ihm ohne jede Überraschung, aber mit einem leicht spöttischen Lächeln entgegen. Es war der Fünfjährige, der ihm vor die Maschine gesprungen war, der Junge, den er kurz hinter dem kleinen Touristen- und Informationszentrum in der Nähe des Grand Canyon überfa hren hatte; es war der Junge, dessen Familie Mike seit seiner Ankunft in Phoenix mit dem schwarzen Van verfolgt hatte und der doch gar nicht tot sein konnte, wenn Strongs Version der Geschichte stimmte und der ganze verdammte Motorradunfall nur vorgetäuscht worden war ... Vor allem aber war er das Ebenbild des Kindes, das vor vielen Jahrzehnten von einer uralten Harley erfasst und zu Tode geschleift worden war, von einem Mann, der vielleicht nur fünfzehn oder zwanzig Jahre nach dem Indianermassaker am Wounded Knee eine Reise auf
einem Motorrad in Indianergebiet gewagt hatte, wohl ohne zu ahnen, wen er damit wirklich herausforderte ... Und plötzlich wusste Mike, was das dumpfe Grollen bedeutete, das er die ganze Zeit über hörte und das sich beständig zu nähern schien. Vielleicht war das die Chance, auf die er gewartet hatte. Die Vorstellung, zusammen mit Frank in letzter Sekunde aus dem Hotel zu entkommen, sich in die Sättel ihrer Intruder zu schwingen und in den Sonnenuntergang hineinzufahren, bis sie den Wendigo endgültig hinter sich gelassen hatten. Das war absolut kindisch angesichts des Grauens und der Verwüstung, die das Monster in nur wenigen Augenblicken im Büro des Hotelmanagers angerichtet hatte; nichts und niemand konnte dem Wendigo so beiläufig entkommen. Aber möglicherweise konnte Mike ihn nachsichtig stimmen. »Manchmal ist er gnädig«, hatte ihm der alte Schamane bei ihrem ersten Zusammentreffen gesagt, und vielleicht hatte er damit ja bereits Mike den Weg weisen wollen für die einzige Möglichkeit, mit der er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Das »eiserne Pferd«, so hatte der Alte das Motorrad genannt, das jetzt gleich herandonnern würde. In seinem Sattel würde ein Vorfahre dieses ekelhaft schmierigen Typs aus dem HarleyShop sitzen, bei dem sie ein paar Ersatzteile für ihre Intruder hatten kaufen wollen - und im gleichen Moment wurde Mike klar, dass es in Wahrheit der Wendigo gewesen war, der sie in das Motorradgeschäft in Moab gelockt hatte. Er hatte nichts weiter im Sinn gehabt, als seine blutige Rache vorzubereiten; er hatte Mike das braunstichige Foto finden lassen - und, viel schlimmer noch, die indianischen Waffen, mit denen der Harley-Verkäufer noch am gleichen Nachmittag abgeschlachtet und skalpiert worden war. Eine weitere Tat des Wendigo, der damit noch einen Teil des abgekarteten Spiels zwischen Frank, Stefan und Strong hatte Realität werden lassen - zumindest in
den Augen Mikes. Offensichtlich hatte er den Enkel des Unglücksfahrers in Moab nur deshalb so lange am Leben gelassen, damit Mike im Spiegel Zeuge seines grausigen Tod werden konnte; ein ewiger Kreislauf von Rache und Qual. Und das alles nahm hier und jetzt seinen Anfang. Mike hatte keine Ahnung, warum der Vorfahre des ermordeten HarleyVerkäufers mit einem damals wahrscheinlich brandneuen, aber aus heutiger Sicht uralten V-Twin-Modell zu dieser Indianersiedlung aufgebrochen war, aber es spielte auch keine Rolle. Alles, was er tun musste, war, das Leben des kleinen Indianerjungen zu retten, der sich jetzt gerade erhob und Anstalten machte, den Hogan zu verlassen - und Mike dabei so merkwürdig und mit einem so überheblichen Grinsen anstarrte, dass ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. Endlose Sekunden lang stand Mike wie erstarrt da, ohne den Blick von dem Jungen wenden zu können. Das verächtliche Grinsen des Jungen wandelte sich langsam: Seine Lippen bewegten sich und sonderten kleine Bläschen ab, während sein Gesichtsausdruck plötzlich so starr und eingefroren wie eine Maske wirkte, hinter der etwas Uraltes und Nichtmenschliches lauerte, vielleicht sogar der Wendigo selbst. Du hast keine Chance, schien der Blick des Jungen sagen zu wollen. Du hattest nie eine. Mikes Entsetzen war so groß, dass er das Motorrad fast zu spät bemerkt hätte, das stampfend und schlingernd, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf ihn und den Jungen zujagte. »Nein!«, schrie er. Gleichzeitig stieß er sich ab und hetzte los. Der Junge blieb zwei Schritte vor dem Hogan stehen und starrte Mike triumphierend- höhnisch an. Es war ein Motorrad, wie es Mike nur aus dem Museum kannte. Der nach hinten gebogene Lenker sah ganz ähnlich aus wie bei einem modernen Chopper, genauso wie die beiden vförmig angeordneten Zylinder und der aufgeräumt wirkende Motorblock. Doch das Fahrgestell, der flache Sattel und vor
allem der Gepäckträger, auf dem ein Rucksack aufgeschnallt war, erinnerte eher an ein Tourenmotorrad als an eine heutige Harley. Trotzdem. Es war Mike beim ersten Mal nicht aufgefallen, doch jetzt erstaunte ihn die Ähnlichkeit zwischen dieser silbern lackierten Uralt-Harley und Strongs chromblitzender Maschine - Ein Zufall? Aber nein, weißer Mann, nichts ist Zufall! Dieser Gedanke schoss Mike blitzartig durch den Kopf, während er weiter auf den Jungen zulief. »Zurück!«, schrie er. »Go Back!« Der Junge grinste ihn nur spöttisch mit einem so schiefen Lächeln an, als erheitere ihn die Vorstellung, dass ausgerechnet jemand wie Mike ihn zu retten versuchte. Begriff er denn gar nicht, in welcher Gefahr er schwebte? Begriff er denn nicht, welch schreckliche Folgen es für sie alle haben würde, wenn es zu diesem verheerenden Unfall kam? Der Harley-Fahrer, dessen grenzenlos überraschtes Gesicht Mike nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, betätigte die altertümliche Bremse - Verzögerungsleistung wahrscheinlich kaum messbar -, etwas quietschte fürchterlich, Bremsbacken, die sich kreischend in ihren Trommeln festfraßen ... Und dann begriff Mike, dass er springen musste, um den Jungen noch rechtzeitig zu erreichen. Die Harley war noch immer zu schnell, und ihr Fahrer schien sich für kein Ausweichmanöver entscheiden zu können, angesicht s des recht engen Platzes zwischen Hogan und den Bäumen, zwischen denen Mike hervorgeschossen gekommen war. Wenn der Junge in diesem Moment nicht doch noch einen hastigen Schritt zurückgemacht hätte, wäre es vielleicht trotzdem gut gegangen. Und wenn der Harley-Fahrer nicht im gleichen Moment den Lenker nach rechts gerissen hätte, um knapp hinter dem Jungen vorbeizusteuern ... Und vor allem, wenn Mike nicht dabei gewesen wäre ... Er erreichte den Jungen im wortwörtlich letzten Augenblick
und packte ihn bei den Schultern, um ihn zu sich heranzureißen. Doch Mike hatte zu viel Schwung, bekam den Jungen nicht richtig zu fassen und stieß ihn stattdessen nur noch weiter nach hinten - direkt unter die malmenden Räder der schweren Maschine ... »NEIN!«, schrie Mike. Er taumelte zur Seite, prallte gegen die Wand des Hogans und sackte in sich zusammen, fassungslos und so entsetzt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die ganze Welt begann sich um ihn zu drehen. Statt des Quietschens der Harley-Bremsen und des stumpfen Aufschlags des Jungen hörte er plötzlich andere Geräusche: gellende Schreie und Kampflärm. Mit flatternden Lidern riss er die Augen auf. Er war wieder im Zimmer des Hotelmanagers. Er hatte es versiebt, verdammt noch mal! Und während er noch versuchte, zu begreifen, was um ihn herum vor sich ging, drängte sich ihm die fürchterliche Frage auf, ob er je wirklich eine Chance gehabt hatte oder ob das Ganze nichts weiter als eine weitere bösartige Finte des Wendigo gewesen war ... ... und etwas in ihm, jetzt, endlich, begann sich zu fragen, wer der Schamane eigentlich sei? Wie er es schaffte, dem Wendigo Widerstand zu leisten und warum seine Macht von der gleichen Höhle ausging wie die seines überlegenen Gege nspielers; und ob er vielleicht nichts weiter als eine andere Manifestation des Wendigo war? Ein Spiel im Spiel, ein Hintertürchen, das der Wendigo nur deshalb aufstieß, um es im entscheidenden Moment zuschlagen zu können ... Der Schlag des Wendigo hatte Mike in die andere Welt des Schamanen entführt. Wie immer dies vonstatten gegangen sein mochte: Es schien keine messbare Zeit gekostet zu haben. Während Mike sich mühsam hochrappelte und in die Gege nwart zurückzufinden versuchte, ging der Kampf um ihn herum mit unverminderter Härte weiter. Strong griff den Wendigo mit einer unglaublich schnellen und
kraftvoll wirkenden Kombination an. Doch der alte Indianer wich seinem Tritt mit einer fast spielerisch wirkenden Bewegung aus, und als der Stuntman zuschlug, hob der Wendigo blitzschnell den Arm, packte sein Handgelenk und verdrehte es mit einem so harten, kraftvollen Ruck, dass Mike das Brechen des Knochens deutlich hören konnte. Strong brüllte vor Schmerz und versuchte, sich loszureißen, aber der Wendigo hielt ihn erbarmungslos fest und riss noch einmal und stärker an seinem Handgelenk. Ein zweiter, splitternder Laut erklang und ging im gellenden Schmerzgeheul Strongs unter, dann wurde ein gurgelnder Laut daraus, als der Dämon mit der anderen Hand nach Strongs Kehle griff und sie zerquetschte. Endlich ließ er sein Opfer los. Strong taumelte zurück, fiel auf die Knie. Sein rechter Arm stand in vollkommen falschem Winkel vom Ellbogengelenk ab. Mit der linken Hand griff er nach seinem Hals. Er versuchte zu atmen, aber er es gelang ihm nicht. Er konnte nicht einmal mehr schreien. Alles, was er hervorbrachte, war eine Reihe grässlicher, blubbernder Laute. Einen Moment lang hockte er noch hin- und herwankend auf den Knien, dann stürzte er schwer zur Seite und blieb still liegen. Noch einen Moment später verstummten auch die schrecklichen Laute, die er von sich gab. Der Wendigo war bis zur Wand neben der Tür zurückgetaumelt und griff mit beiden Händen nach seinem zerschnittenen Gesicht. Die Wunde blutete mittlerweile so heftig, dass seine Züge nicht mehr zu erkennen waren. Er stand verkrampft da, als koste es ihn alle Kraft, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Er ist verwundbar, dachte Mike wie betäubt. Der Wendigo gab keinen Laut von sich, aber Mike spürte, welche Qualen die Kreatur litt. Auf eine geheimnisvolle Weise schie n er immer noch mit dem Anasazi- Dämon verbunden zu sein. Der Hass und die Wut in den Gedanken der uralten Kreatur waren schlimmer als je zuvor; darunter spürte er jedoch auch Pein und nie gekannte Qual. Ja, das Wesen war verwundbar.
Aus irgendeinem Grund hatte es mit dem menschlichen Körper, in den es geschlüpft war, auch dessen Schwächen übernommen. Es war noch immer ungleich stärker und schne ller als jeder Mensch, aber es bestand nun aus Fleisch und Blut, das man zerschneiden und verströmen konnte. Und er war nicht der Einzige, der das begriff. Während Mike immer noch dastand und den Wendigo mit einer Mischung aus Entsetzen und ohnmächtigem Zorn anstarrte, erwachte endlich auch Bannermann aus seiner Erstarrung. Blitzschnell fuhr er herum, bückte sich und riss den Tomahawk aus der Leiche des toten Polizeibeamten. Mit einem gellenden Schrei richtete er sich wieder auf und drang, die Waffe mit beiden Händen hoch über dem Kopf schwingend, auf den Wendigo ein. Vielleicht ahnte er sogar, dass er keine Chance haben würde, aber ebenso wie Strong war er niemand, der kampflos aufgeben konnte. Der alte Mann hob die Hand, als Bannermann die halbe Distanz zu ihm hin überwunden hatte. Bannermann erstarrte. Mike konnte sehen, wie er alle Muskeln mit verzweifelter Kraft anspannte. Er stöhnte vor Anstrengung, doch die unsichtbare Kraft, die ihn hielt, war stärker. Langsam, zitternd, senkte er die Arme. Die Mischung aus Schrecken und Verwirrung auf seinem Gesicht machte allmählich aufkeimendem Entsetzen und dann purer Todesangst Platz. Seine Finger griffen um, schlossen sich nun um den klobigen Kopf des Tomahawks. Bannermann keuchte, und Mike konnte sehen, wie er noch einmal und mit noch größerer Verzweiflung allen Widerstand aufbot, um der Bewegung Einhalt zu gebieten - vergebens. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Die rasiermesserscharfe Schneide des Tomahawks näherte sich seiner Kehle und ritzte seine Haut. Zuerst nur wenig, oberflächlich, sodass nur einige Blutstropfen austraten und wie rot gefärbte Tränen an seinem Hals entlangliefen. »Nein!«, wimmerte Mike. »Hör auf! Ich flehe dich an, hör auf! Er hat nichts damit zu tun!«
Tatsächlich hörten Bannermanns Hände auf, dem fremden Willen zu gehorchen. Er stand jetzt völlig erstarrt da, selbst sein Gesicht war zu einer Maske aus Schrecken und Schmerz gefroren. Der Wendigo starrte Mike einen Moment lang an, dann betastete er sein zerschnittenes Gesicht und hob die Finger vor die Augen. Der Anblick seines eigenen Blutes schien ihn zu verwirren, als wäre es etwas, das er einfach nicht verstehen konnte. In das Chaos aus Gefühlen, das Mike noch immer von der unheimlichen Kreatur empfing, mischte sich etwas Neues und noch Schlimmeres. »Bitte tu es nicht«, flehte Mike. »Du kannst mich haben. Tu mit mir, was du willst. Ich werde mich nicht wehren, aber lass sie gehen.« Eine einzelne, scheinbar endlose Sekunde verging, in der der Wendigo ihn nur anstarrte. Dann blickte er noch einmal stirnrunzelnd und jetzt eindeutig überrascht auf das frische Blut auf seinen Fingerspitzen herab - und machte eine flüchtige Handbewegung. Bannermanns Hände reagierten mit einem Ruck darauf. Die Klinge des Tomahawks riss seine Kehle so weit auf, dass es schon fast einer Enthauptung gleichkam. Ohne den geringsten Laut kippte Bannermann nach hinten und brach zusammen. »Das habe ich nicht gewollt«, flüsterte Frank. Seine Stimme war tonlos, ohne jedes Gefühl. Als Mike sich endlich vom grässlichen Anblick des Wendigo losriss und seinen Freund ansah, entdeckte er auch in dessen Augen keine Furcht, kein Entsetzen, nur diese schreckliche Leere, die vielleicht schlimmer war als alles andere. »Das habe ich nicht gewollt.« Irgendwie gelang es Mike, die Lähmung zumindest so weit abzuschütteln, dass er einen Schritt auf den Dämon zumachen konnte. Um weiterzugehen, hätte er über Strongs Leiche steigen müssen, und dazu fehlte ihm die Kraft. Er versuchte, sie zu umgehen, doch der junge Indianer, der letzte aus Strongs Truppe, legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn
zurück. Im ersten Moment glaubte Mike, dass der Mann nun seinerseits den Wendigo angreifen würde, aber dann blickte er in sein Gesicht und stellte fest, dass er sich getäuscht hatte. Auch die Züge des Indianers waren starr vor Schreck, sein Blick erfüllt von namenloser Furcht, aber er würde nicht kämpfen. Er wusste, wem er gegenüberstand. Der Wendigo nahm die Hände herunter und blickte den dunkelhaarigen jungen Indianer ruhig und beinahe ohne Drohung an. Dann hob er die Rechte und machte eine flatternde, leichte Bewegung. Erneut verschwand die Wand hinter ihm und machte dem Anblick einer endlosen roten Steinwüste Platz. Statt der klimatisierten Hotelluft wehte ihnen trockener, heißer Wüstenwind in die Gesichter. Der alte Dämon sprach kein Wort. Er machte keine Bewegung, zuckte nicht mit der Wimper, sondern sah den Indianer nur an. Nach einem weiteren Augenblick setzte sich dieser langsam in Bewegung und trat auf den Wendigo und die endlose Öde hinter ihm zu. In seinen Augen erschien ein Ausdruck unendlichen Schmerzes und noch unermesslicherer Furcht. Aber so wenig wie Ba nnermann in der Lage gewesen war, seinen eigenen Händen Einhalt zu gebieten, schien der Indianer fähig, stehen zu bleiben. Langsam, ohne innezuhalten, ging er an dem Wendigo vorbei und trat über die unsichtbare Trennlinie zwischen den Welten in das andere Land der Anasazi hinein, um sich auf den nie endenden Weg zu einem unerreichbaren Horizont zu machen. Hinter ihm waberte die Dunkelheit stärker, und im nächsten Augenblick war der Anblick der sonnendurchglühten Wüste verschwunden. »Jetzt sind wir wohl an der Reihe«, murmelte Frank. »Mein Gott, was geschieht hier nur?« »Als ob du das nicht wüsstest, weißer Mann.« Mike brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es der Wendigo gewesen war, der gesprochen hatte. Seine Stimme
klang rau und dröhnend wie der Wind, der in seinem Land wehte und mit seiner unbändigen Kraft Staub, Sand und Dreck aufwirbelte. »Es war der Neid, der deine Seele vergiftet hat«, fuhr der Wendigo fort. »Aus dem Neid wurde Missgunst. Und aus der Missgunst wurde die Quelle aller dunkler Kraft: der Hass!« »Nein!« Frank schlug die Hände vors Gesicht. »Kein Hass ... Das behauptest du nur ...« »Das fand Strong tief in deinem Herzen verborgen vor«, donnerte der Wendigo. »Strong selbst wusste es nicht zu deuten. Ich aber umso mehr.« Der Wendigo hob die Hände in die Höhe und breitete sie aus, als wolle er Mike und Frank segnen. »Gepriesen sei deine Schwäche, weißer Mann. Wie sonst hätte ich den Zugang zu deinem Freund Mike finden können, der sich nie freiwillig auf diese Reise ohne Wiederkehr eingelassen hätte, hättest du ihn nicht hintergangen!« Mike starrte fassungslos zwischen den beiden hin und her. Der Wendigo bot einen erschreckenden Anblick mit seiner klaffenden Gesichtswunde, aus der noch immer erschreckend viel Blut rann, und den dunklen Augen mit den riesigen Pupillen, die unnatürlich hell schimmerten. Frank sah zum Gotterbarmen aus, mit tiefen Rändern unter den Augen und einem plötzlich bleich und aufgedunsen wirkenden Gesicht. Aber nicht das war es, was Mike erschütterte. Es war die höhnische Anklage, die der Wendigo gegen Frank erhoben hatte, die Anspielung darauf, dass dieser Mikes erstaunlich rasant verlaufende Karriere nicht mit dem Wohlwollen eines wirklich guten Freundes begleitet hatte, sondern vielmehr mit wachsendem Unbehagen und unterdrücktem Widerwillen. Und plötzlich schien alles zusammenzupassen. Es gab unzählige Geschichten über Brüder oder beste Freunde, die felsenfest zueinander gestanden hatten, bis sich der eine als der vermeintlich Erfolgreichere erwiesen hatte. Ob Neid oder Eifersucht, einmal davon infiziert, schmiedeten selbst gutmütige Men-
schen oft die schrecklichsten Rachepläne. Und mitunter wurde einer dieser Pläne dann auch in die Tat umgesetzt - mit meist schrecklichen Folgen für alle Beteiligten. »Du bist auf Strongs verrücktene Pläne eingegangen, weil etwas in dir hoffte, dein Freund Mike würde daran zerbrechen«, herrschte ihn der Wendigo an. »Du wolltest sehen, wie er sich während der Verfolgung durch Strongs lächerliche Theatergruppe vor Angst windet, und dann wolltest du ihn übertrumpfen.« Der Wendigo beugte sich ein Stück vor. »Und dabei hast du ihm den Tod gewünscht.« Frank wimmerte, vielleicht vor Furcht, vielleicht auch vor Scham. »Nein ...«, stammelte er schließlich. »So ... so war es nicht ...« »Wer außer dir weiß von der Herzschwäche deines Freundes, die er sich selbst nicht einmal eingesteht?«, höhnte der Wend igo. »Wer außer dir hätte planen können, Mike so aufzuregen, bis sich sein Herz schließlich überschlägt - und dann endgültig aussetzt?« Frank schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. Sein Blick flackerte unstet. Mike wurde sich schmerzlich bewusst, dass Stefan auf der Polizeiwache genauso ausgesehen hatte, nachdem er begriffen hatte, dass er Jennings vollkommen überflüssigerweise auf sie gehetzt hatte; jetzt war offensichtlich Frank an der Reihe zu begreifen, dass er aus verletztem Stolz und brennendem Rachedurst einen schrecklichen Fehler begangen hatte, der ihrer aller Untergang bedeuten würde. »Du hattest vor, Mike immer weiter und weiter zu jagen, bis er atemlos und von Schmerzen gepeinigt zusammenbricht«, fuhr der Wendigo gnadenlos fort. »Nein ... Nein ... Nein.« Frank schien nicht mehr in der Lage zu sein, mehr als dieses eine Wort hervorzubringen, doch dann raffte er sich sichtbar auf. »Du bist es doch, der mir diese Gedanken eingegeben hat! Du hast mich aufgehetzt!« Der Wendigo schüttelte langsam den Kopf; Blut spritzte
dabei links und rechts aus seinem verheerten Gesicht. »Die Saat war in dir, Bleichgesicht. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als zu warten, bis sie aufgeht.« Der Wendigo wollte mit seiner Anklage nicht nur Frank vernichten, sondern auch und gerade Mike. Vielleicht war es die Begegnung mit dem Schamanen und das Wissen um den Hintergrund dieses Rachefeldzugs gegen die Eindringlinge auf ihren stinkenden und donnernden Maschinen, die Mike trotz aller Panik und allen Schreckens dazu befähigte, plötzlich ganz klar zu denken. Die Bestie hatte von Anfang an mit ihnen gespielt, und nichts und niemand auf dieser oder irgendeiner anderen Welt würde sie daran hindern können, ihren Triumph in vollen Zügen und bis zur letzten Sekunde auszukosten. Niemand - außer ihm. Mike wusste nicht, woher er die Kraft nahm, es auch nur zu versuchen, aber plötzlich fiel die Lähmung von ihm ab, und er baute sich schützend vor Frank auf. Ganz flüchtig kam ihm zu Bewusstsein, wie lächerlich der Anblick wirken musste, und wie bizarr angesichts der Vorwürfe, die der Wendigo gerade gegen seinen Freund erhoben hatte. Es mochte sein, dass Missgunst und verletzter Stolz Frank zu fürchterlichen Fantasien getrieben hatte, aber sie in die Tat umzusetzen wäre er niemals fähig gewesen - auch nicht unter dem Einfluss des Wendigo. Das, was er getan hatte, die Idee, Mike dem grausamen Spiel Strongs auszuliefern, war zwar nicht verzeihbar. Jedenfalls nicht unter normalen Umständen. Mike war nicht im Geringsten in der Lage, die Art der Schuld zu begreifen, die Frank auf sich geladen hatte, und ohne Verstehen auf der einen Seite und Reue auf der anderen kann es keine Versöhnung geben. Doch darum ging es im Moment nicht. Es war der Wendigo, der Mike zu vernichten trachtete, nicht Frank. Und damit blieb im Prinzip alles beim Alten, so, als hätte Strong Frank nie angesprochen und auf die fürchterliche Idee mit diesem ganz speziellen Motorradtrip gebracht; so, als
wären Mike und Frank nie zuvor in eine Schlägerei geraten wie vor ein paar Jahren, als ein paar Betrunkene ihren Hund auf sie zu hetzen versucht hatten - und in der Frank Mikes Schutzengel gewesen war, der ihm das Gefühl vermittelt hatte, sich in solchen Situationen stets und ohne jeden Zweifel auf seine Stärke und seine ruhige Selbstsicherheit verlassen zu können. Nun war er es, der sich schützend vor seinem mehr als einen Kopf größeren und viel breitschultrigeren Freund aufbaute und der ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen, vollkommen bereit war, sein Leben zu opfern, um das des anderen zu retten, auch wenn dieser innerlich von noch so viel Neidgefü hlen zerfressen sein mochte. Der Wendigo blinzelte. Erneut änderte sich etwas in dem lautlosen Wispern und Raunen tief in Mikes Gedanken. Er spürte Verwirrung, Überraschung und ... noch etwas. Etwas, das er nicht wirklich einordnen konnte, das ihn aber mit einer jähen, verzweifelten Hoffnung erfüllte, als hätte ein Teil von ihm bereits begriffen, was er da ahnte. »Du wirst ihm nichts tun«, sagte er. Seine Stimme zitterte und war schrill wie die eines hysterischen alten Mannes. Aber es lag auch eine Entschlossenheit darin, die ihn selbst überraschte und die der Wendigo ebenso deutlich spüren musste wie er, wenn nicht deutlicher. Die Kreatur war verwirrt. Sie hob die Hand, tastete noch einmal über ihr verheertes Gesicht und sah dann wieder Mike an. Plötzlich begannen die Wut, der Zorn und der Hass, den Mike verspürte, deutlich an Kraft zu verlieren. War das die Lösung?, dachte er. Vielleicht. »Ich lasse nicht zu, dass du ihm etwas tust«, sagte er, nun tatsächlich mit hörbar entschlossenerer, fester Stimme. »Du hast bereits Stefan umgebracht, und du kannst mich umbringen, aber ihn wirst du nicht bekommen!« Frank schwieg. Was er hörte, musste ihm angesichts des tödlichen Wütens des Wendigo und der fürchterlichen Vorwür-
fe gegen seine Person vollkommen lächerlich vorkommen. Aber vielleicht spürte er etwas von dem lautlosen Kampf, der zwischen Mike und dem Wendigo stattfand, und vielleicht ahnte er, dass Mike - möglicherweise - die einzige Waffe gefunden hatte, die die Bestie schlagen konnte: Freundschaft. Eine Freundschaft, die auch tiefe Verletzungen aushält. »Glaubst du wirklich, du könntest mir trotzen, weißer Mann?«, dröhnte der Wendigo. »Nein«, gab Mike zu. »Das kann ich nicht. Du kannst mich vernichten, und ich weiß das. Tu es.« »So leicht ist es nicht, Eindringling«, antwortete der Wend igo. Er klang jetzt unsicher. Er war zorniger denn je, aber die verheerende Kraft, die Mike bisher stets in seinen Gedanken gespürt hatte, war nicht mehr da. Da war nur noch Wut, nicht mehr die Macht, ganze Welten zu zerstören. Vielleicht war es das. Vielleicht waren echte Freundschaft und Liebe die einzigen Empfindungen, die der alles verschlingenden Wut des Weltenzerstörers Einhalt gebieten konnten. Der Wendigo antwortete nicht mehr. Er kam langsam auf Mike und Frank zu. Als er Bannermanns Leichnam erreicht hatte, bückte er sich und hob den Tomahawk auf. »Töte mich«, sagte Mike herausfordernd. »Nimm deine Axt und erschlag mich, oder verschwinde und lass mich endlich in Ruhe. Ich habe keine Angst mehr vor dir.« Und diesmal - zum allerersten Mal - traf es wirklich zu! Mike verspürte keine Angst mehr, nur die wilde Entschlossenheit eines Menschen, der mit dem Leben abgeschlossen hat und weiß, dass es nichts mehr zu verlieren, aber unendlich viel zu gewinnen gibt. Der Wendigo hob den Arm, um den Tomahawk zu schleudern. Sein Gesicht hörte auf zu bluten. In seinen Augen loderte der Zorn noch einmal und höher denn je auf, aber er schien mit einem Mal nicht mehr die Kraft zu haben, die begonnene Bewegung zu Ende zu führen. Der Tomahawk verharrte
zitternd hoch über seinem Kopf, und Mike konnte sehen, wie sich die müden alten Muskeln des geliehenen Körpers bis zum Äußersten anspannten. Der Angriff, auf den er wartete, kam jedoch nicht. Das Gesicht des Wendigo verzerrte sich zu einer Grimasse aus Wut und unmenschlicher körperlicher Anstrengung, aber er war nicht in der Lage, seine Waffe zu schleudern. Etwas hinderte ihn daran. »Nein«, sagte Mike, ruhig und sehr, sehr entschlossen. »Nimm mich oder geh! Ihn bekommst du nicht.« Der Wendigo zitterte jetzt am ganzen Körper. Ein sonderbarer, wimmernder Laut kam über seine Lippen, eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und nie gekannter Machtlosigkeit. Er war noch immer nicht fähig, seine Bewegung zu Ende zu bringen. Langsam, keuchend vor Anstrengung und Hass, ließ er den Arm wieder sinken, tastete mit seiner anderen Hand über sein zerschnittenes Gesicht und versuchte nun tatsächlich, die losen Fleischfetzen mit den Fingern zusammenzufügen, ohne dass diese Anstrengung allerdings von sehr viel Erfolg gekrönt gewesen wäre. Und schließlich gab er auf. Zitternd wich er vor Mike zurück. Hinter ihm wurde das Wabern und Flimmern der Grenze zwischen den Wirklichkeiten wieder stärker, und zum dritten Mal blickte Mike in eine andere, durch und durch fremde Welt. Diesmal war es nicht die rote Wüste, die die Anasazi verschlungen hatte, sondern ein Universum von solcher Fremdartigkeit, dass sein Verstand sich weigerte, zu begreifen, was seine Augen ihm zeigten. Er wusste nur, dass das Universum, in das er blickte, aus nichts anderem als Hass und Qual und nicht enden wollender Einsamkeit bestand. Langsam, Schritt für Schritt wich der Wendigo weiter vor ihm zurück. Seine rechte Hand umklammerte immer noch den Griff des blutigen Tomahawks. Er zitterte vor Anstrengung. Seine Macht war gebrochen. Es gab nichts mehr, was er Mike noch ant un konnte. Selbst ihn zu töten war jetzt unmöglich
geworden. Und schließlich, lautlos, schnell und vollkommen undramatisch, verschwand der Wendigo. Mit ihm erlosch auch das schwarze Licht, und Mike blickte wieder auf die leere Wand des Büros. »Großer Gott«, flüsterte Frank hinter ihm. »Das ... kann nicht sein. Sag mir, dass das nicht sein kann!« Mike wollte sich zu ihm umdrehen, konnte es aber nicht. Plötzlich fühlte er sich müde, so unendlich müde und erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Knie begannen zu zittern. Nun, wo alles vorüber war, begann auch sein Herz wieder schneller zu schlagen, härter und von dünnen, immer quälender werdenden Stichen begleitet. Vielleicht würde er am Ende doch noch mit dem Leben für dieses Abenteuer bezahlen müssen? Erstaunlicherweise erschreckte ihn diese Vorstellung nicht mehr. Er hatte den größten Kampf gewonnen, den ein Mensch überhaupt gewinnen konnte, und er wusste nun, dass es keinen Grund gab, den Tod zu fürchten, weil er den Beweis, dass jenseits der greifbaren Realität noch etwas anderes existierte, mit eigenen Augen gesehen hatte. Und nicht nur er. Jemand hämmerte gegen die Tür. Das Geräusch riss ihn weit genug in die Wirklichkeit zurück, dass er zumindest die Kraft fand, sich einmal um seine Achse zu drehen und sich umzusehen. Das Büro bot einen entsetzlichen Anblick. Die Tür war erstaunlicherweise unversehrt und offensichtlich verschlossen, wie das immer wütender werdende Hämmern von draußen bewies, und zusammen mit dem Wendigo war auch sein Höllenmotorrad verschwunden. Die Leichen des Polizisten, Strongs und Bannermanns lagen jedoch unverändert und mit all ihren grausigen Verstümmelungen da. Der Boden zwischen Mike und der Stelle, an der der Wendigo verschwunden war, schwamm regelrecht vor Blut. »Und wie um alles in der Welt sollen wir das erklären?«, fragte Frank.
Mike hätte um ein Haar gelacht. Als ob das im Moment auch nur die geringste Rolle spielte! Er hatte den Teufel besiegt! Welche Rolle spielte es da, was mit ihm geschah? Das Hämmern an der Tür wurde noch lauter, und Mike hörte eine befehlende Stimme, die irgendetwas in Englisch schrie. Als er sich zur Tür umdrehte, klaffte die Wand daneben auseinander wie eine blutige Wunde in der Wirklichkeit. Aus der sonnendurchglühten Wüste der anderen Welt trat der Wendigo heraus und schleuderte seinen Tomahawk. Da ist noch etwas, was ich dir sagen wollte, weißer Mann, wisperte die Stimme der Kreatur in seinen Gedanken. Es gibt nichts, rein gar nichts, womit du mich aufhalten könntest. Der Tomahawk verwandelte sich in einen wirbelnden Scha tten, der rasend schnell auf Mike zuflog. Doch er traf ihn nicht. Einen winzigen Moment, bevor er ihn erreichte, schien er von einer unsichtbaren Hand gelenkt zur Seite auszuweichen, beschrieb einen perfekten Viertelkreis um Mike herum und grub sich mit einem knirschenden Laut in Franks Stirn. Mike wirbelte entsetzt herum, aber es gab nichts mehr, was er tun konnte. Frank war unter der Wucht des Anpralls bis zur Wand zurückgetaumelt. Die Feuersteinschneide des Tomahawks hatte sich mehr als zur Hälfte in seinen Schädel gegraben. Blut lief aus seinem Mund, seiner Nase, seinen Ohren, sonderbarerweise jedoch nicht aus der schrecklichen Wunde, die die Waffe verursacht hatte. Auch in seinen Augen war kein Schmerz zu sehen, nur ein Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit. Langsam begann er an der Wand entlang zu Boden zu rutschen. Er hob die Hände, wie um nach Mike zu greifen, und seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut entrang sich seiner Kehle. Mike schrie gellend auf, war mit einem Satz neben Frank und fing ihn auf, bevor er ganz zu Boden stürzen konnte. Fast wahnsinnig vor Entsetzen und Angst, ließ er den Körper seines sterbenden Freundes zu Boden gleiten, griff beinahe automa-
tisch nach dem Tomahawk und riss ihn mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung aus dem Schädel. Die Wunde blutete noch immer nicht. Aber das Leben in Franks Augen erlosch. Das Allerletzte, was er darin sah, war ein Ausdruck jetzt eher milder Verwunderung und etwas, was ihn noch einmal die Worte Strongs ins Gedächtnis rief, der hinter dem Motel so perfekt seinen eigenen Tod inszeniert hatte: Kannst du denn gar nichts richtig machen, du Dummkopf? Frank starb, rasch, gnädig und ohne Schmerzen, und im selben Augenblick, in dem der letzte Funke in seinen Augen erlosch, wurde die Tür hinter Mike mit einem gewaltigen Krachen aufgebrochen. Jennings und ein halbes Dutzend uniformierter Polizeibeamter stürmten herein, die Waffen schussbereit in den Händen. Von seinem eigenen Schwung vorwärts gerissen, legte Jennings noch drei oder vier Schritte zurück, bevor er stehen blieb und in blankem Entsetzen die Augen aufriss. Mike drehte sich ganz langsam zu ihm herum. Er hatte, ohne es zu bemerken, Franks Kopf und Schultern in seinen Schoß gebettet und den linken Arm unter seinen Nacken geschoben. In der rechten Hand hielt er etwas Warmes, Schweres und Klebriges. Er wusste nicht, was. »Gott im Himmel!«, flüsterte Jennings. Sein Blick verharrte einen Moment auf Franks Gesicht, glitt dann über Mike und saugte sich schließlich an der blutbesudelten Schneide des Tomahawks fest, den Mike noch immer in der rechten Hand hielt. »Was haben Sie getan?« ENDE