Das Buch
In naher Zukunft ist China zur aggressiv expansionistischen Großmacht aufgestiegen. Die USA, mit innenpolitis...
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Das Buch
In naher Zukunft ist China zur aggressiv expansionistischen Großmacht aufgestiegen. Die USA, mit innenpolitischen Problemen beschäftigt, ist gegen diese Bedrohung nur unzureichend geschützt. In einem blitzartigen Angriff verleibt sich China Japan, Indien und den mittleren Osten ein, während die Amerikaner untätig zusehen. Nach der Niederlage Europas und Israels wird schließlich mit dem Einfall in die Karibik ein Großteil der amerikanischen Flotte zerstört, und 5 Millionen chinesischer Soldaten werden in Kuba stationiert. Die Invasion beginnt. Detailliert beschreibt das Buch den Kampf des neu gewählten Präsidenten der USA und seiner Tochter, einer Infanteriesoldatin, aber auch den der einfachen Bürger Amerikas, die durch die Invasion gezwungen werden, zu den Waffen zu greifen und ihr Land zu verteidigen. Der Autor Eric L Harry wurde 1958 in Ocean Springs, Mississippi, geboren. Vor seiner Tätigkeit als Schriftsteller machte er Karriere als Anwalt und Experte für Militärfragen. Er spricht fließend Russisch und hat m Russland sowohl studiert als auch gearbeitet. Eric L Harry und seine aus Moskau stammende Frau Manna leben mit ihren beiden Söhnen in Houston, Texas. Bereits im Heyne Verlag erschienen: Gegenschlag (01 /13.441) Kampfzone (01/13.567)
ERIC L. HARRY
INVASION Roman
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
PROLOG Dreitausend Meilen offene See trennen den nordamerikanischen Kontinent von Europa, viertausend von Asien. Diese geografische Lage garantiert ihm ein Ausmaß an Immunität gegen Einmischungen von außen, dessen sich keine andere Region auf dieser Welt erfreuen kann… Zwei große Ozeane, ein friedliches Zusammenleben mit Kanada und ein beherrschbares Problem mit den Staaten im Süden vermitteln den USA ein grundlegendes Gefühl der Abgeschiedenheit und Sicherheit. Zudem sind sie fast vollständig aus eigener Kraft überlebensfähig – selbst bei völliger Einstellung aller Importe würde das Land »durchkommen«… Auch im Atomzeitalter bleibt der Schutz durch zwei Ozeane von entscheidender Bedeutung für jene strategische Ausrichtung, die das Land seit seiner Gründung beherzigt hat. Die Meere schützen Amerika noch immer vor einer Invasion. John Keegan und Andrew Wheatcroft, Zones of Conflict: An Atlas of Future Wars (1986)
Montgomery, Alabama 14. September, 7 20 Uhr Ortszeit Wie konnte es nur so weit kommen?, fragte sich die achtzehnjährige Stephanie Roberts, weibliche Angehörige der U.S. Army im Rang eines Private, während sie auf die staubige, mit Sandsäcken gesicherte Straßensperre starrte, die die neue Grenze im Inneren der Vereinigten Staaten markierte. 4
Stephie war das jüngste Mitglied der Squad, zu der außer einer weiteren Soldatin sieben männliche Infanteristen gehörten. »Ich vertraue dir nicht«, sagte Simpson – Spitzname Animal, »das Tier« –, während Stephie auf den Lastwagen kletterte. Sie war einen Meter siebzig groß und wog gut fünfundfünfzig Kilogramm. Mit ihrem Gewehr sollte sie das einzige MG sichern, das ihrer Squad angegliedert war. Zu dem MG gehörte leider auch dieses Arschloch von Schütze, der mehr als doppelt so viel Gewicht auf die Waage brachte wie sie und sich jetzt neben sie auf die Bank fallen ließ. Der frühere Lineman des Football-Teams eines Junior College war zwar bereits neunzehn, hatte aber die emotionale Intelligenz eines Sechsjährigen. »Fotzen vertraue ich nicht«, flüsterte er Stephie zu. Der üble Mundgeruch des MG-Schützen ließ sie zusammenzucken. »Also renn mir nicht in die Schussbahn. Ansonsten muss ich vielleicht erst dich umlegen, bevor ich die Chinesen kaltmachen kann.« Die anderen Mitglieder von Stephies Squad ignorierten die Beleidigung. »Von mir aus«, antwortete Stephie. »Übrigens stinkst du aus dem Maul.« Es war ein heißer Tag. Horden von Flüchtlingen bevölkerten die Grenze der Sperrzone, die zweihundert Meilen nördlich der Küste von Alabama am Golf von Mexiko lag. Zweihundert Meilen nördlich von Stephies Heimat. Jenseits der Grenze des Sperrgebiets schien alles seinen gewohnten Gang zu nehmen. Nur einen Steinwurf von den Unterständen mit den Wachtposten entfernt flatterte Wäsche auf den Leinen. Die Einkaufsläden waren geöffnet, in den Städten herrschte geschäftiges Treiben. Die Menschen lebten ihr normales Leben. Zwar gab es die versteckten Maschinengewehre, Panzer und Raketen, doch dem nur oberflächlichen Blick wäre keine große Veränderung aufgefallen. Selbst das Lager der Evakuierten erinnerte mit seinen Zelten, Wohnmobilen und Grills eher an einen sommerlichen Campingplatz in einem Nationalpark. Die Grenze zur Sperrzone war mit Militär- und Highway-Polizisten bemannt. Nachdem sich die Schranke gehoben hatte, wurde der aus einem Dutzend Fahrzeugen bestehende Konvoi durchgewunken. Dieselmotoren knurrten und stießen gesundheitsschädliche Rauchschwaden aus, doch an diesem erstickend heißen Tag war Stephie selbst für diese Brise dankbar. Ihr Lastwagen passierte die Wachtposten, und Stephie drängte sich der Eindruck auf, sie würden Amerika verlassen. 5
Die am Straßenrand aufgetürmten Sandsäcke verschwanden, und ihr Auge glitt über den Asphalt. Sie befanden sich auf umstrittenem Territorium, zwischen zwei großen Armeen, in einem menschenleeren Niemandsland, das ruhig und verwaist vor ihnen lag, als würde es sich für den bevorstehenden Ausbruch der Gewalt wappnen. Zwar waren keine neuen Landkarten erstellt worden, deren Linien das nun verunstaltete Gesicht der südöstlichen Vereinigten Staaten offenkundig gemacht hätten, aber der Kommandeur hatte der Infanteriekompanie blutbefleckte Karten gezeigt, die bei chinesischen Aufklärungstrupps konfisziert worden waren. Auf ihren Helmen oder Rucksäcken sitzend, hatten die jungen Amerikaner am Ende einer einwöchigen Feldübung schweigend die Karten herumgereicht. Es waren einhundertzehn frisch gebackene Infanteristen, die die äußerst harte Grundausbildung erst einen Monat hinter sich hatten und vor vier Monaten noch das abgeschirmte, komfortable Leben der Mittelklasse genossen hatten. Alle waren verdreckt und verschwitzt, wurden von Sonnenbrand und Moskitostichen gequält, hatten jede Menge Kratzer und blaue Flecken davongetragen. Sie stanken, und ihre zusammengesunkene Körperhaltung verriet ihre Erschöpfung. Doch als die Karten von einem Soldaten zum nächsten weitergereicht wurden, machte sich brennender Zorn breit, der in zusammengekniffenen Augen glomm und sich durch rhythmisch zuckende Unterkiefer und den mörderischen, klauenartigen Griff verriet, mit dem sich die Finger in die Karten bohrten. Als die Lastwagen eintrafen, die sie in ihre behelfsmäßige »Kaserne« – ein nahe gelegenes Holiday Inn – bringen sollten, hatten alle die Karte gesehen. Sie saßen in einem großen Kreis da, doch niemand stand auf. Für Stephie verbanden sich diese Lastwagenfahrten mit der Aussicht auf die Rückkehr in ein Zimmer, das sie stets mit der neunzehnjährigen Becky Marsh aus Oregon teilte, sodass wenigstens halbwegs eine Art Privatsphäre gewährleistet war. Die Fahrten versprachen Duschen, Klimaanlagen, weiche Betten. Trotz ihrer schmerzenden Knochen weigerten sich die jungen Soldaten aufzustehen. Ihr Platoon-Führer, Lieutenant Ackerman, setzte demonstrativ einen verärgerten Gesichtsausdruck auf, konnte sich aber nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Staff Sergeant Kurth, ihr Platoon Sergeant, lächelte nie, und seine Unteroffiziere hielten es genauso. An diesem Tag führten praktisch die Soldaten ihre Offiziere in die Wäl6
der zurück, wo sie eine weitere Woche damit verbrachten, Schützenlöcher auszuheben, Unterholz abzuhacken, auf Bäume zu feuern und rauchgeschwärzte Erdhügel anzugreifen. Denn schon jetzt wurden die Namen der Städte von Alabama auf den konfiszierten feindlichen Karten mit chinesischen Schriftzeichen wiedergegeben. »Sichern und laden!«, bellte Squad-Führer Sergeant Collins, als die Lastwagen das Tempo beschleunigten. Der erste Einsatz ihrer neu formierten Einheit war eine Kampfpatrouille an Amerikas ungeschützten Stranden am Golf von Mexiko. Das metallische Klicken von Magazinen und Gewehrverschlüssen durchschnitt das permanente Geräusch des Fahrtwinds. Um sich etwas Kühlung zu verschaffen, hatten sie die Seitenplanen hochgebunden, und Stephie begann sich auf den vertrauten Anblick ihrer Heimat zu konzentrieren. Den mit Schlaglöchern übersäten, zweispurigen Highway kannte sie wie ihre Westentasche. Sie kamen an der Cafeteria vorbei, wo ihr Stiefvater auf der Rückfahrt von den Football-Matches in Tuscaloosa immer eine Pause eingelegt hatte, in der sie Erdnusskrokant aßen. Dann erkannte sie die große Tankstelle wieder, wo sie einen langen, heißen Tag darauf gewartet hatten, dass ihr undichter Kühler repariert wurde. Und schließlich war da der Verkaufsstand, wo es nach der unerschütterlichen Meinung ihrer Mutter die frischsten Wassermelonen dieser Welt gab. Hingegen konzentrierten sich die anderen Mitglieder ihrer Squad auf andere Attraktionen am Straßenrand, etwa auf ein Plakat mit dem Foto einer berühmten Schauspielerin, die in Slasher-Filmen immer das Highschool-Flittchen gab, das sich leicht abschleppen ließ und teuer dafür bezahlen musste. Auf diesem Foto legte die Schauspielerin den Zeigefinger auf ihre rubinroten Lippen. Bei den Jungen provozierte das verführerische Plakat lüsterne Kommentare und Handbewegungen. Dabei übersahen sie, dass – nach dem Motto: »Feind hört mit!« – durch die Geste und über dem Foto davor gewarnt wurde, leichtfertig über militärische Geheimnisse zu plaudern. Stephie fragte sich, wie sehr es wohl mit der Karriere der Schauspielerin bergab gegangen sein musste, wenn sie jetzt schon für die Regierung posierte. In den Erdwällen an Straßenüberführungen hatte man Betonbunker installiert, deren Scherenfernrohre und elektronische Sendemasten in Richtung Süden ausgerichtet waren. Brücken waren mit orangefarbenen Schil7
dern versehen: »Achtung! Alles zur Sprengung vorbereitet!« Das in der Ferne liegende, offene Weideland – potenzielle Landezonen, wenn eine feindliche Transportmaschine todesmutig auf amerikanische Flugabwehrstellungen zufliegen sollte – war mit schwarzen Kratern übersät, die auf vorprogrammierten Artilleriebeschuss zurückgingen und jede Landung vereiteln sollten. Überall entlang der Straßenränder standen in regelmäßigen Abständen dreieckige Schilder mit Totenköpfen und gekreuzten Knochen auf gelbem Hintergrund, die davor warnten, die Seitenstreifen zu betreten, da diese bereits vermint waren. Die Warnschilder flogen an den Lastwagen vorbei, während diese sich immer mehr der gefährlichen Küste näherten. Hin und wieder kamen sie an Kleinstädten vorbei, die von amerikanischen Pionieren geradezu geplündert wurden. Tieflader wurden mit allem beladen, was irgendeinen militärischen Nutzen haben konnte: tragbare Generatoren, Schaufelbagger, Transformatoren, Propangastanks. Was die Pioniere nicht transportieren konnten, wurde zerstört. In allen Windrichtungen sah man schwarze Rauchsäulen aufsteigen. Gelegentlich musste der Lastwagenkonvoi wegen der Abbrucharbeiten anhalten. Die Sprengung eines stählernen Wasserturms wurde von den wartenden Infanteristen mit Gejohle und Gebrüll kommentiert. Auf dem umstürzenden Tank war noch eine verwitterte Inschrift zu erkennen: »Go Wildcats! Division II Basketball Champs 2001-2002.« Nach der großen Explosion ahmten die männlichen und weiblichen Infanteristen das Spektakel mit Handgesten und speziellen Geräuschen nach. Alle waren vor Aufregung auf den Beinen. In Wirklichkeit haben alle Schiss, dachte Stephie, der trotz der Hitze ein kalter Schauer über den Rücken lief. Während der nächsten halben Stunde rollte immer wieder der Donner von Detonationen über die Landschaft, die in der Nähe oder weiter weg von unsichtbaren Pionieren gezündet wurden. Doch im Gegensatz zu dem Spektakel des kollabierenden Wasserturms hatte das jetzt den gegenteiligen Effekt. Die dumpfen Explosionen, die ihre Eingeweide durchschüttelten, ließen das aufgeregte Geplapper bald verstummen. Noch war der Krieg nicht nach Amerika gekommen, doch die Explosionen waren die Vorboten des Todes und zerrten an ihren Nerven. Der Blick der jungen Infanteristen richtete sich nach innen. Verantwortlich dafür war der von den Gleichaltrigen ausgeübte Erwartungsdruck. Niemand lamentierte laut 8
darüber, was vor ihnen lag – außer Becky. In dem Holiday Inn hatte Stephies Zimmerkameradin zwei volle Wochen damit verbracht, sich in den frühen Morgenstunden alles nur erdenkliche Unheil auszumalen, und auch Stephies Flehen, sie endlich schlafen zu lassen, konnte sie nicht davon abhalten. Während der Konvoi weiterhin auf die Küste des Golfs von Mexiko zurollte, wurde er von einem dichten, niedrig hängenden Dunst eingehüllt. Wegen des erstickenden Gestanks hielten sich einige mit Taschentüchern Mund und Nase zu. Stephie erinnerte sich an einen Sommerurlaub in den kanadischen Rocky Mountains. Sie war acht Jahre alt gewesen, und damals war ihr zum ersten Mal der Geruch eines Waldbrands in die Nase gestiegen. Der Großbrand, dem jetzt die Wälder von Alabama zum Opfer fielen, war nicht zu sehen, aber auch die den Highway säumenden Bäume glichen mittlerweile nur noch verkohlten Gliedern mit schwarzen, in den Himmel weisenden Fingern. In kalten Nächten würden die Chinesen keinerlei Holz mehr finden, um Hütten bauen oder Lagerfeuer entzünden zu können. Kein Unterholz würde ihnen Deckung vor dem tödlichen amerikanischen Feuer verschaffen. Nichts als Tod und Verwüstung wird auf sie warten, dachte Stephie, die vor Wut kochte. Ihr Kiefer knackte laut, fast so, als wäre ein Zahn gebrochen. Ihr Gesicht war wutverzerrt, und sie musste gegen die Tränen ankämpfen. Wenn sie zornig war, stiegen ihr immer Tränen in die Augen. Doch das fiel nur John Bums auf, einem neben ihr sitzenden Private First Class, der sie anblickte und sie mit einem angedeuteten Lächeln bedachte. Dann schloss er die Augen, um erneut einzuschlummern. Anfangs war er der Einzige unter den fast zwei Dutzend Soldaten auf dem Lastwagen, der sich entspannt ausruhte. Schulter an Schulter saßen die Mitglieder der beiden Squads und die MG-Schützen auf den Bänken. Der heiße Wind erstickte jedes Gespräch. Von John abgesehen starrten alle mürrisch schweigend auf die in Rauchwolken gehüllte, verwüstete Landschaft. Sie pressten ihre Waffen gegen den Körper, als würde ihnen das eine gewisse psychologische Beruhigung verschaffen. Dennoch begann schließlich einer nach dem anderen einzunicken. Schon bald, als sie ihren Blick in die Runde schweifen ließ, stellte Stephie verwundert fest, dass alle ihre Kameraden in einen tiefen Schlaf gefallen 9
waren, selbst Animal, der neben ihr sitzende Muskelprotz, der sich im Schlaf zu ihr herüberneigte. Kurz darauf spürte auch Stephie Müdigkeit. Die Geräusche der Reifen, die in regelmäßigen Abständen über die Nähte der alternden Asphaltdecke glitten, wirkten fast hypnotisch. Durch die starre Aufhängung des betagten Lastwagens schaukelte dieser permanent hin und her. Aber Stephie hatte sich in einem fahrenden Vehikel noch nie behaglich genug gefühlt, um dort Schlaf oder auch nur Entspannung zu finden. John Burns warf Stephie erneut ein Lächeln zu, bevor er wieder die Augen schloss und den Kopf mit dem Helm gegen den Stahlrahmen lehnte, der die Plane hielt. Stephie hatte das Lächeln des dunkelhaarigen Jungen erwidert, der etwas älter war als die anderen in dem Platoon und deshalb eigentlich schon als Mann gelten musste. Dieses Lächeln war eine Gewohnheit, die ihr aus der Zeit auf der Highschool geblieben war. Die Highschool, dachte sie. Die Highschool! Vor vier Monaten hatte man ihr auf der Bühne der Schule ihr Abschlusszeugnis überreicht. Am Abend des Highschool-Balls war sie mit ihrem Freund, Conner Reilly, dem von seiner Einheit Urlaub gegeben worden war, bis zum Morgengrauen in einem Mietwagen von einer Party zur anderen gefahren. Vor vier Monaten. Sie fühlte sich deprimiert, angespannt, entmutigt und plötzlich völlig unvorbereitet auf das, was ihr jetzt bevorstand. In der Stille dieses Spätsommermorgens beherrschte eine einzige Frage die Gedanken der Achtzehnjährigen: Wie konnte es nur so weit kommen? Szenen eines lange zurückliegenden Krieges flackerten über den Bildschirm. Vor dem Fernseher saß die zehnjährige Stephie Roberts. Ihre Mutter ignorierte die grobkörnigen Kriegsbilder, die in der abendlichen Nachrichtensendung ausgestrahlt wurden. »Der Eintritt thailändischer Armeekräfte in den Krieg in Vietnam hat wenig dazu beigetragen, den Vormarsch der Chinesen zu verlangsamen.« Als die Nachrichten sich einer langweiligen Zeremonie in Korea widmeten, wandte sich Stephie wieder ihrem Tagebuch zu. »Sally H. hat heute gesagt, dass wir echt scharf aussehen würden, wenn wir unsere Zahnspangen herausnähmen, dass Gloria B. aber eine Nasenkorrektur braucht. Ich hab’s Judy erzählt, die diesem gemeinen James Thurmond gegenüber ihre Klappe nicht halten konnte. Der 10
hat’s Gloria weitererzählt, die jetzt wirklich stinksauer auf mich ist, und zwar aus einem völlig falschen Grund!« Der Reporter erklärte, die amerikanischen Trappen hätten sich zurückgezogen, weil das eine Bedingung für die Wiedervereinigung des Nordens und des Südens gewesen sei. Am Vorabend einer landesweiten freien Wahl sei die nordkoreanische Regierung auseinander gefallen, weil ihre Führer aus Furcht vor Vergeltung aus dem Land geflohen wären. Sowohl China als auch Südkorea seien eingeschritten, um Gewalttätigkeiten niederzuschlagen. Die beiden Armeen seien aufeinander geprallt, und China habe die gesamte Koreanische Halbinsel besetzt, den Norden und den Süden. Jetzt zelebriere die von den Chinesen gestützte Marionettenregierung die lange herbeigesehnte Wiedervereinigung des Landes. »Ich muss James Thurmond fertig machen!«, schrieb Stephie in ihr Tagebuch, während sie mit der anderen Hand den Ton des Fernsehers abschaltete. »He, he!«, ermahnte sie ihr Stiefvater, der nach der Fernbedienung griff. Jetzt lauschten sie einem Bericht, der auch das Schicksal der Firma ihres Stiefvaters betraf. Trotz eines sinkenden Ausgabenbudgets für die Verteidigung genehmigte der Kongress Milliarden Dollar für einen Raketenschutzschirm. Stephies Stiefvater strahlte. »Vielleicht hast du jetzt endlich mal den Mumm, dich um eine Gehaltserhöhung zu kümmern«, kommentierte ihre Mutter. Stephie ging nach draußen und schlenderte während des Sonnenuntergangs über Alabama barfuß am Strand entlang. Ihre Gedanken galten einem Plan, wie sie James Thurmond, den Bösen, gesellschaftlich vernichten konnte. Das blaue Wasser des Golfs von Mexiko wirkte nicht mehr so wie in Stephie Roberts Jugend, aber schließlich war nichts mehr so wie früher. »First Squad, abgesessen!«, brüllte Sergeant Collins. »Haltet euch vom Strand fern, der ist vermint! Ein bisschen lebhafter, Leute!« Mit Waffen und Gepäck kletterten die sechs Männer und die beiden Frauen der Squad von dem Lastwagen herab. Tony Massera, ein Private aus Philadelphia, stand bereits auf der Straße und blinzelte in den mittäglichen Sonnenschein. Dann setzte er die von der Army ausgegebene Sonnenbrille auf. »Herrscht in Alabama immer so eine beschissene Hitze, Roberts?« »P-Puh-ssy«, hustete Animal hinter vorgehaltener Hand. »Puh-PuhPussy!« Damit endete der vorgetäuschte Hustenanfall. Grinsend vergewisserte sich Animal, ob Massera richtig verstanden hatte. Wäre die Obszöni11
tät von irgendeinem anderen gekommen, hätte der drahtige, harte Massera, zweiter Mann am MG, ihn mit Sicherheit mit einem vernichtenden Blick bedacht oder ihn gleich mit ein paar Schlägen zu Boden geschickt. Aber der riesige MG-Schütze, den alle nur »Animal« nannten und der ihrer Squad mehr oder weniger permanent angehörte, war ein rauer Verteidiger des Football-Teams von Ohio, der alle anderen überragte. Folglich verkniff sich Massera einen Kommentar. Animal räusperte sich. »Tut mir Leid. Scheiße! Muss mir ‘ne Erkältung gefangen haben, Antonio.« »Tony«, berichtigte ihn Massera zum hundertsten Mal, seit die MGTeams den Platoons zugewiesen worden waren. Sonst hatte niemand etwas zu sagen. Mit zwölf Jahren hatte Stephie an den Weltereignissen noch weniger Interesse gezeigt, aber sie erinnerte sich genau an den lag, an dem ihre Klasse auf den großen Bildschirm im Internetraum ihrer Schule gestarrt hatte. Ein erwachsener Mann, der indische Premierminister, stand weinend auf einem Kai in Bombay. Der Anblick fesselte die Schüler der siebten Klasse. Sie waren jung genug, um sich vage an den besorgten Erwachsenen zu orientieren, aber noch nicht alt genug, um den Grund von deren Unbehagen völlig zu verstehen. Indische Zivilisten und Soldaten gingen hastig an Bord eines überfüllten grauen Zerstörers. »Weiß jemand, warum der indische Premierminister nicht mit den anderen auf das Schiff geht?«, fragte die strenge Lehrerin die Klasse. Niemand antwortete. »Obwohl pakistanische und chinesische Truppen vor den Toren der Stadt stehen?« Als wieder keiner eine Antwort riskieren wollte, gab die Lehrerin seufzend selbst die Erklärung. »Weil es ein britisches Schiff ist.« Dies war eine Klasse für die besonders begabten Schüler, und Stephie kam es vor, als würden sie ihre Lehrerin im Stich lassen. »Er war zu stolz, um sein Land an Bord eines ausländischen Schiffs zu verlassen.« Alle starrten auf den weinenden Premierminister. Stephie hob die Hand, und als die Lehrerin sie aufrief, fragte sie höflich, was mit dem Mann geschehen sei, »Er wurde exekutiert«, antwortete die Lehrerin. »Durch eine Kugel.« Der konsternierten Stephie fiel nicht mehr als ein »Danke« ein. »Klappe halten und aufrödeln!«, bellte der Squad-Führer, obwohl niemand der hinter dem Lastwagen wartenden Soldaten etwas gesagt hatte. Mit seinen zwanzig Jahren war Sergeant Collins der Älteste von ihnen, 12
und er wirkte nervös. »Nur für den Fall, dass ihr Schwachköpfe es nicht mitgekriegt haben solltet, wir sind hier an der Küste!« Natürlich war das niemandem entgangen. Auf dem Weg zur Küste war das Terrain immer flacher geworden. Vor über einem Monat hatten die Pioniere des Corps of Engineers ihr Zerstörungswerk in den Geisterstädten außerhalb von Mobile beendet. Damals hatte Peter Scott gesagt, die Szenerie mit den rauchgeschwärzten Trümmern von Krankenhäusern, Schulen und Gerichtsgebäuden wirke schon jetzt wie nach schweren kriegerischen Auseinandersetzungen. Aber Stephie hatte anhand der Titelblätter von Nachrichtenmagazinen die totalen Verwüstungen des wirklichen Krieges genau studiert. Die vorsätzliche Zerstörung öffentlicher Gebäude war nichts gegen die Mondlandschaften, die in Yokohama, Singapur oder Bombay zurückgeblieben waren. Und in Tel Aviv, dachte sie erschaudernd. Der erste Anblick der Küste des Golfs von Mexiko, wo sie durch die hohen Kiefern hindurch den azurblauen Horizont sah, hatte Stephie einen Schock versetzt und dafür gesorgt, dass sich ihr der Magen umdrehte. Von der Küstenstraße aus hatten einige Soldaten auf den Strand gestarrt, als könnten sie so ihren inneren Dämonen gegenübertreten, andere hatten ihre Helme gegen die hochgestellten Visiere ihrer M-16 gelehnt und auf ihre Stiefelspitzen gestarrt. Als Stephie dreizehn war, hatte ihre Fußballmannschaft die Landesmeisterschaft gewonnen. Die ganzen neunzig Minuten lang spielte sie auf ihrer Position im Mittelfeld. Wenngleich sie das goldene Tor, das ihrer Mannschaft den Sieg bescherte, weder geschossen noch vorbereitet hatte, rannte sie sich die Lunge aus dem Hals. Sie hetzte von Strafraum zu Strafraum, ging keinem Kopfballduell aus dem Weg und schlug saubere Pässe, obwohl ihre Beine von dem einwöchigen Turnier schmerzten. Der größte Augenblick ihres bisherigen Lebens kam in den letzten Minuten des Spiels, als sie mit einer fairen Grätsche eine hundertprozentige Torchance ihres Gegenspielers vereitelte. Als der Abpfiff kam, ließen sich alle Spielerinnen bäuchlings auf den regennassen Rasen fallen. Es war ein einziges Durcheinander von Umarmungen, Jubel und Tränen, ein wahrer Siegestaumel. Zu Saisonbeginn hatte ihr Trainer versprochen, dass als Belohnung ein Trainingslager winke, wenn sie die Meisterschaft gewinnen würden, was durchaus nicht unrealistisch sei… Ein Trainingslager in Süd13
frankreich! Fünf Tage pro Woche hatten sie trainiert und alle regulären Saisonspiele absolviert. Dann fuhren sie zu weit entfernt stattfindenden Turnieren, wo sie noch am selben Tag ihr Match bestritten. Aus Angst, alles noch vermasseln zu können, einigten sie sich vor dem Viertelfinale der Landesmeisterschaft, nicht über die Frankreichreise zu reden, aber als sie nach dem gewonnenen Halbfinale das Spielfeld verließen, brüllte eine dreckverschmierte Sally Hampton Stephie ins Ohr: »Wir fahren nach Frankreich!« Und sie hatte Recht behalten. Sie hatten die Landesmeisterschaft gewonnen. Über die Siegesschreie hinweg hörten alle die Stimme ihres Trainers. »Tut mir Leid, Mädchen!«, rief er in einem entschuldigenden Tonfall. Alle blickten ihn an. »Es wird nicht möglich sein, nach Frankreich zu fahren.« Ein paar Spielerinnen reagierten mit einem entgeisterten »Wie bitte?«, andere fragten lautstark nach dem Grund. Der Trainer antwortete, dass die Franzosen das gemeinsame Trainingslager wegen des Krieges im Indischen Ozean abgesagt hätten. »Können wir nicht trotzdem fahren?«, fragte Gloria Wilson, die Torhüterin des Teams. »Eure Eltern halten das für zu gefährlich«, antwortete der Trainer stirnrunzelnd. Die Mädchen, die noch immer auf dem Rasen lagen, sprangen auf und stürzten auf ihre Eltern zu, um sie mit allen erdenklichen Argumenten zu überzeugen. »Statt des Schiffs werden wir ein Flugzeug nehmen!«, schlug eine Spielerin vor. »Der Krieg ist doch tausend Meilen weit weg!«, sekundierte eine andere. »Aber Sie haben es uns versprochen!«, lamentierte in leidendem Tonfall eine Dritte. Der Trainer streckte die Hände aus, um den Aufruhr zu besänftigen. »Es tut ja allen furchtbar Leid, Mädels, aber nachdem Europa die Schlacht gegen China im Indischen Ozean verloren hat, ist es einfach nicht mehr sicher, nach Übersee zu reisen. Niemand weiß, was jetzt passieren wird.« Die Mädchen waren am Boden zerstört, einige Unentwegte heulten und lamentierten noch auf dem Weg zum Bus. Dass Stephie nicht weinte, lag einzig und allein daran, dass sie ihren Vater erblickte, ihren leiblichen Vater, der immer noch auf der Tribüne saß. Als Stephies Mutter ihren Exmann sah, rollte sie die Augen. Schon seine bloße Anwesenheit ließ sie vor Wut kochen. Stephie rannte zu ihrem Vater, der sie in die Arme nahm und fest an sich drückte. »Ich bin stolz auf dich!«, flüsterte er ihr durch ihr Haar hindurch 14
ins Ohr. Dann drückte er ihren Kopf an seine Brust. »Wie du die ganze Zeit gerannt bist! So viele gewonnene Kopfballduelle, und deine Pässe kamen alle an! Dass du der besten Spielerin der anderen Mannschaft in letzter Minute den Ball vom Fuß genommen hast, hat die Partie entschieden!« Stephie strahlte ihn an, achtete dabei aber darauf, nicht die Zähne zu entblößen. »Du kannst ruhig richtig lächeln«, sagte ihr Vater, während er ihr Kinn anhob. »Inzwischen trägst du doch keine Zahnspange mehr. Außerdem warst du schon immer das wundervollste Geschöpf auf Erden.« Stephie lächelte und wandte sich dann ab. Zärtlich legte ihr Vater seine Hände auf ihre dreckverschmierten Wangen. »Ich liebe dich von ganzem Herzen.« Bei dem Siegesschmaus unter freiem Himmel lamentierte Stephies wütende Mutter, ihr Exmann habe seiner Tochter den wundervollen Tag vermiest, und ihre verdrossenen Mannschaftskameradinnen richteten wegen der abgesagten Frankreichreise wütende Fragen an ihre Eltern, die sich aber offenbar vorab darauf geeinigt hatten, sich hinter einer Mauer des Schweigens zu verschanzen. Auch Stephie verhielt sich äußerlich reserviert, doch innerlich war sie in absolut euphorischer Stimmung. Ihre Welt war wieder in Ordnung, alles war großartig. Stephie trat auf ihren schweren Rucksack zu, der aufrecht auf der Heckklappe des Lastwagens stand. »Soll ich einen Teil deiner Ausrüstung tragen?«, fragte leise John Burns, der sich schon unter der Last seines eigenen, gut fünfunddreißig Kilogramm schweren Rucksacks krümmte und überdies nicht einmal zu Stephies Squad gehörte. Animal quittierte das noble Angebot mit obszönen Bewegungen seiner Zunge. Die anderen Mitglieder der Squad hatten die vulgäre Anspielung auf Burns’ angeblich wenig noblen Motive verstanden und grinsten den MG-Schützen an. »Damit werde ich schon fertig«, sagte Stephie, die stöhnend den Rucksack auf ihren Rücken hievte. Fast hätten ihre Beine nachgegeben, aber sie biss die Zähne zusammen und versuchte, weiterhin gleichmäßig zu atmen, während sie die Gurte um ihren Oberkörper festzurrte. Dann griff sie nach dem M-16 mit der unter dem Lauf befestigten M-249-Granatpistole, die wie ein Spielzeug wirkte. Die klobigen, wie Kugeln geformten 40mm-Projektile beulten die Laschen ihres um den Oberkörper geschlungenen Munitionsgurts aus, sodass sie wie ein Pistolero mit großkalibriger Munition wirkte. Becky March beobachtete, wie John Burns auf die Formation auf der 15
Straße zutrat, ohne auch ihr seine Hilfe anzubieten. Stöhnend schulterte sie den riesigen Rucksack. »Nein, wirklich, ich brauche keine Hilfe«, murmelte sie sarkastisch vor sich hin. »Aber besten Dank, du Arschloch, dass du gefragt hast.« Becky warf Stephie einen funkelnden Blick zu, den diese aber lieber nicht zur Kenntnis nahm. Normalerweise bestand das Third Platoon aus einunddreißig Soldaten. Heute standen Lieutenant Ackerman und sein Nachrichtenoffizier, Platoon Sergeant Kurth – der gleichzeitig sein »Commo« war, sich also um Aufklärung und Kommunikation kümmerte – vor vier neunköpfigen Infanterie-Squads, die zum Appell vor ihren Vorgesetzten angetreten waren. Von den siebenundzwanzig Infanteristen in den vier durchnummerierten Squads waren neunzehn Männer und acht Frauen. Jede Squad verfügte über zwei Fire Teams – Schützengruppen –, und die acht Frauen wurden gleichmäßig auf die insgesamt acht Fire Teams verteilt. Die Squad-Führer – drei Sergeants und ein Corporal – standen ganz rechts neben den Mitgliedern ihrer Squads, die mit einer Armeslänge Abstand links neben ihnen angetreten waren. Die Soldaten hoben ihre linken Arme, um den auf dem Exerzierplatz obligatorischen Abstand zu überprüfen. Die Formation war länger als gewöhnlich, weil am Ende der Reihe jeder Squad vier Soldaten hinzugefügt worden waren: ein zweiköpfiges MG-Team und ein ebenfalls zweiköpfiges, für alle Fälle von der Kompanie bereitgestelltes Missile Team, eine Lenkwaffengruppe. Zusammen mit den vier Leuten von der Sanitätsabteilung des Bataillons, die hinter den anderen standen, zählte das Third Platoon heute also fünfzig Mann. Mit vierzehn begann Stephie sich intensiv für das andere Geschlecht zu interessieren, und den Letzten in einer langen Reihe der süßesten Jungen, die sie je gesehen hatte, erblickte sie bei einem konfessionsübergreifenden Trauergottesdienst für die Opfer des Zweiten Jüdischen Holocausts. Er schien älter als sie zu sein – etwa sechzehn – und hatte schwarzes Haar, dunkle Augen und weiche, makellos weiße Haut. Seine Eltern sind bestimmt Dermatologen, dachte Stephie. Dann begriff sie plötzlich, dass er Jude sein musste. Während weitere Gebete vorgetragen wurden – einige ihr vertraute auf Englisch, andere auf Hebräisch –, begann Stephie, sich eine Romanze auszumalen, doch dann beugte sich ihr Stiefvater zu ihr herüber. »Das haben sie sich selbst zuzuschreiben«, flüsterte er. »China 16
hat Israel gewarnt, keine Atomwaffen einzusetzen.« Stephies Mutter trat dem Stiefvater peinlich berührt auf die Zehen. Als dieser vor Schmerzen ein Zischen von sich gab, blickte sich Stephies imaginärer Freund um, was sie im Innersten erschütterte. Später schrieb sie in ihr Tagebuch, aus den »strahlenden Teichen« der Augen des rätselhaften Jungen seien Tränen über seine »porzellangleiche Haut« hinabgeronnen. An diesem Abend klinkte sie sich ins Internet ein, um die Berichte von Nachrichtenjournalisten über Tel Aviv zu lesen. Es stellte sich heraus, dass Peking Israel tatsächlich vor dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt hatte, um so der chinesischen Invasion Einhalt zu gebieten. Als Rache für Israels Atomangriffe auf die chinesischen Armeen hatte China Tel Aviv mitsamt der in der Stadt festsitzenden Bevölkerung vernichtet. Wieder und wieder betrachtete Stephie das Video. Die chinesischen Schriftzeichen am unteren rechten Bildrand konnte sie nicht entziffern, aber der Count-down der Uhr war weltweit zu verstehen. Bei Null verschluckte ein halbes Dutzend greller Blitze die Skyline der Stadt. »First, Second und Third Squad und die angegliederten Teams folgen mir und Platoon Sergeant Kurth auf eine Patrouille am Strand!«, verkündete der große, stämmige Ackerman, seines Zeichens frisch gebackener Offizier und Platoon-Führer. »Die Fourth Squad bewacht die Lastwagen!« »Klappe halten!«, brüllte Staff Sergeant Kurth, obwohl Stephie keinen Mucks aus den Reihen der Soldaten vernommen hatte. Kurths bedrohlicher Blick galt der Fourth Squad in der Reihe hinter Stephie, die das bequeme Los gezogen hatte. »Wer am Strand Patrouille geht, hält gefälligst die Augen offen!«, fuhr Ackerman fort. Hinter seinem Rücken nannten ihn die meisten in Anspielung auf die berühmte Militärakademie nur West Point. »Solltet ihr irgendwelche Spuren finden, meldet ihr das! In dieser Zone wird scharf geschossen! Haltet an beiden Seiten neben der Straße nach Minen Ausschau. Um die Minen unter der Asphaltdecke kümmern sich unsere Leute, sie werden gegenwärtig entschärft. Waffen laden, aber vorher sichern.« Metallisches Klicken ertönte, während die Männer und Frauen die Läufe so hielten, dass sie niemanden gefährdeten, und dann die Sicherungshebel überprüften. Stephie ließ ein gebogenes Magazin mit dreißig Schuss aus ihrem M-16 springen. Die Messinghülsen der oberen beiden Patronen in 17
dem in der Mitte unterteilten Magazin glänzten. Nachdem sie das volle Magazin wieder in das Sturmgewehr hatte einrasten lassen, lud sie die 40mm-Granatpistole, deren Verschluss an ein Schrotgewehr erinnerte, und vergewisserte sich, dass beide Waffen gesichert waren. »Gemäß dem Gesetz über die Verteidigung unserer Küsten gilt in dieser Gegend jetzt das Kriegsrecht!«, verkündete Lieutenant Ackerman in einem offiziellen Ton. »Unser Befehl lautet, jeden Zivilisten festzunehmen, der uns über den Weg läuft, und wir sind berechtigt, alle Mittel einzusetzen. Sollten uns Chinesen begegnen, machen wir Meldung, schlagen los und vernichten den Gegner! In einer Reihe angetreten! Für den Job an der Spitze sind Sie vorgesehen, Corporal Higgins, also übernehmen Sie die Führung! Abteilung marsch!« Mit fünfzehn stellte Stephie jede Menge Fragen. »Warum bewerfen diese Leute in Neuseeland unser Schiff mit Müll?« Mit vollem Mund antwortete ihr Stiefvater, sie seien sauer, weil die Amerikaner sie nicht verteidigt hätten. Stephies Mutter kommentierte die Tischmanieren ihres Mannes mit einem Räuspern. »Und warum haben wir sie nicht verteidigt?«, hakte Stephie nach. Nach Meinung des Stiefvaters war es die Sache nicht wert gewesen, dafür einen dritten Weltkrieg zu riskieren, speziell jetzt nicht, wo die Inbetriebnahme des neuen Raketenschutzschirms der zweiten Generation unmittelbar bevorstand. »Wer ist stärker – wir oder die Chinesen?« Natürlich wir, die Amerikaner. »Und wie kommt’s dann, dass wir sie Manila vergewaltigen lassen?« Ihre Mutter ermahnte sie, das Wort »vergewaltigen« nicht zu benutzen, und ihr Stiefvater antwortete, die Chinesen hätten koreanische Werften, auf denen zuvor Supertanker zusammengeschweißt worden seien, dazu benutzt, dort riesige Flugzeugträger zu bauen, die fünfmal größer als die amerikanischen seien und dreimal so viele Kampfflugzeuge transportieren könnten. Bei einigen Schiffen handele es sich um Truppentransporter, die zwanzigtausend Soldaten befördern könnten. »Wie groß ist denn ihre Armee?«, fragte Stephie. Ungefähr dreißig oder vierzig Millionen Soldaten, kam die Antwort. »Und wie groß ist unsere?« Keine Ahnung, ein paar hunderttausend Soldaten. »Und wie kannst du dann behaupten, wir sind stärker als sie?« Wegen dem Raketenschutzschirm, an dem auch seine Firma mitarbeite, antwortete der Stiefvater. »Aber entwickeln sie nicht auch einen? 18
Tun das nicht alle?« Bald hatte der Stiefvater von Stephies unermüdlicher Fragerei die Nase voll. Nacheinander marschierten die Trupps den Highway hinab, der parallel zum Strand verlief und direkt in Richtung des Hauses von Stephies Familie führte. Ihr Trupp war die dritte und letzte Squad in der Reihe. Bei zehn Metern Abstand zwischen den Infanteristen war der Mann an der Spitze über dreihundert Meter entfernt, doch Stephie erblickte dennoch dasselbe wie der vorn gehende Higgins – das lange Band einer verwaisten Straße. Sie sah das durch Higgins’ Schritte etwas schwankende Bild auf einem winzigen, an einem Bügel vor ihrem Gesicht angebrachten LCD-Display. Die alten Kevlar-Helme waren mit elektronischen Geräten nachgerüstet worden, zu denen das an dem Bügel befestigte Display, das Mikrofon und der unter den kugelsicheren Ohrschützern angebrachte Kopfhörer mit einem Kabel gehörte, das die Verbindung zu einem batteriebetriebenen Empfänger am Gurtwerk herstellte. Der Mann an der Spitze war mit einer kleinen, stiftförmigen Kamera und einem Transmitter ausgerüstet. Dennoch war das elektronische System der frisch ausgehobenen 41st Infantry Division mehr oder weniger nur Schnickschnack, da es technisch nicht annähernd so ausgereift war wie das der mit den niedrigeren Nummern versehenen Divisionen von Amerikas Berufsarmee. Das System der Profis war vollständig in deren modernere und leichtere Keramik-Helme integriert. Stephie ließ den Blick über die Dünen zu ihrer Linken und den Strand zu ihrer Rechten gleiten, doch sie sah nichts außer dem üblichen Abfall, dem man an jedem Straßenrand begegnete: Papiere von Schokoladenriegeln, Coca-Cola-Dosen, vergilbtes, halb vom Sand begrabenes Zeitungspapier. »Seht euch das an!«, hörte Stephie die Stimme des weiter vorn gehenden Stephon Johnson über ihren Kopfhörer. Johnson, ein Corporal, war ein Grenadier aus Washington und der Führer von Stephies Fire Team Alpha. Jetzt trat er mit seinem Stiefel nach einem gebrauchten Kondom. »Sieht ganz so aus, als hättest du auch ein paar nette Abenteuer an dieser Südstaaten-Riviera erlebt, Roberts.« Als die anderen Männer an dem verrottenden Präservativ vorbeikamen, gaben sie lachend ihre Kommentare ab. »Haltet die Klappe!«, bellte Sergeant Collins schließlich. Schweigend marschierten sie weiter. An einer Stelle mussten sie einem Krater in der 19
maroden Asphaltdecke ausweichen, der mit brackigem grünlichem Wasser gefüllt war. Der stammt wahrscheinlich von einer Übung der Bomberpiloten, dachte Stephie. Oder von einem Angriff der Luftstreitkräfte auf einen chinesischen Aufklärungstrupp. Ihre Lungen und Oberschenkel begannen zu brennen, Rücken und Schultern schmerzten unter dem schweren »Überlebensgepäck«. Durch die dicken, mit Laubmustern bedruckten Tarnanzüge der Soldaten begann Schweiß zu dringen, während sie weitermarschierten und sich immer mehr von den Lastwagen entfernten. Dagegen kamen sie Stephies Zuhause immer näher. Der Kontakt zur Außenwelt reduzierte sich mehr oder weniger auf die gelegentlichen knisternden Audio- und Videoübertragungen aus der Mitte der Formation, wo Ackerman und sein Commo gingen. Die anderen beiden Platoons ihrer Kompanie befanden sich an anderen Abschnitten des menschenleeren Strands, und der Kommandeur der Kompanie hielt sich bei einem dieser Platoons auf. Zwar waren sie jetzt nicht in Sichtweite, aber wenn sie sich innerhalb eines Radius von vier Meilen um die Transmitter bewegten, konnte der Kommandeur Videobilder von seinen vier Platoons betrachten. Zumindest sollte es so funktionieren. Niemand von ihnen hatte eine Vorstellung davon, was sie erwartete. Ihre Einheit, die 21st Infantry, hatte ihre Divisionsfahne erstmals bei einer Zeremonie in Fort Benning in Georgia entrollt. Das war erst einen Monat her. Die sechshundert Männer und Frauen von Stephies 3rd Battalion des 519th Infantry Regiment gehörten zu einem der fünfzehn Infanteriebataillone der Division. Erst am Vortag hatte die Charlie Company vom 3rd Battalion des 519th Infantry Regiment ihre Befehle für diesen ersten Einsatz erhalten. Seitdem hatte sich Stephie ununterbrochen Gedanken über den wahren Zweck ihres Einsatzes gemacht. Während einer beinahe schlaflos verbrachten Nacht war ihr eingefallen, dass die Aufklärung der Küstenregion auch durch unbemannte Drohnen bewerkstelligt werden konnte. Aber sie wusste, dass jeden Tag Einheiten in Richtung Süden geschickt wurden. Vielleicht war es eine taktische Übung, damit sie sich mit dem Terrain des Kriegschauplatzes vertraut machen und ein Gefühl dafür entwickeln konnten. Eventuell war es aber auch nur ein symbolischer Akt, ein letzter Ausflug an die Küste, durch den die Souveränität der Vereinigten Staaten über ein Gebiet demonstriert werden sollte, das bald schon den Chinesen gehören würde. Doch selbst wenn es sich nur um einen symbolischen Akt han20
delte – diese Patrouille war gefährlich. Praktisch jeden Tag gab es hier irgendwelche Scharmützel. An der Küste wimmelte es nur so von chinesischen Aufklärungsfahrzeugen, Kundschaftern, Patrouillen und Stoßtrupps. Aber, hatte sie gedacht, irgendwann muss eben Blut fließen. Besser jetzt, wo wir es nur mit einem Aufklärungstrupp zu tun haben, dem wir zahlenmäßig zehnmal überlegen sind, als später, wenn sich das Verhältnis zugunsten der Chinesen umgekehrt hat. Im Third Platoon dienten Weiße, Hispanoamerikaner, Afroamerikaner und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten, die aus allen Teilen der Vereinigten Staaten stammten. Da es bei der Einberufung praktisch keinerlei Zurückstellungen gegeben hatte, stammten die Soldaten und Soldatinnen aus allen sozialen Schichten. Aber die Repräsentanten ihrer Generation ähnelten sich stärker als irgendeine Generation ihrer Vorgänger, die je in der amerikanischen Geschichte gedient hatte. In einer vernetzten Welt waren sie sich alle immer ähnlicher geworden, und gemeinsam war diesen gut vierzig Teenagern, dass keiner von ihnen jemals irgendein lebendes Wesen getötet hatte. Alle waren in der Stadt oder in Vorstädten groß geworden – einen Jäger oder Naturburschen suchte man unter ihnen vergebens. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte Stephie ihr erstes Bier getrunken und ihren ersten Joint geraucht. Damals stolperte sie bei einem Spaziergang am Strand über ein paar Jugendliche von ihrer Highschool, denen ein in einem nahe gelegenen Laden gekauftes Sixpack offenbar reichte, um sich einen Rausch anzutrinken. Stephie feuerte sie beim Strandfußball an und trank verstohlen ein paar Schlückchen aus ihren Bierdosen, bis schließlich Conner Reilly, der Coolste unter den Coolen, zu ihr kam und ihr eine Büchse anbot. Sie war das einzige Mädchen weit und breit. Die Sonne glänzte auf den Oberkörpern der Jungen, die sich fast gegenseitig umbrachten, um ein sinnloses Spiel zu gewinnen. Erzielte eines der beiden Teams bei dem hart umkämpften Match einen Treffer, reckte Stephie schreiend die Fäuste in die Luft. Irgendwie entging ihr das Ende des Spiels, und sie hatte keine Ahnung, wer eigentlich gewonnen hatte. Folglich sagte sie nichts, als die anderen sich neben ihr und dem Kühlbehälter in den Sand fallen ließen, einen Joint anzündeten und ihn dann herumgehen ließen. Stephie war schon von dem Bier beschwipst. Als dann der 21
dünne, zerdrückte Joint bei ihr landete, nahm sie einen Zug und stieß den Rauch sofort wieder aus. Ihr Husten provozierte Gelächter. Beim nächsten Mal inhalierte sie. Ihr Gesicht wurde rot, und sie glaubte zu ersticken. »Sie sind da draußen«, sagte Conner Reilly mit einem Nicken in Richtung Golf von Mexiko, während Stephies Brust noch immer von den Nachwirkungen des Joints durchgeschüttelt wurde. Conner war gebräunt und groß, schließlich gehörte er zum Basketball-Team, aber er hatte grüne Augen und lange Wimpern, ganz wie ein Model aus der Modebranche. Außerdem ging er mit dem am besten aussehenden Mädchen der ganzen Schule, das Stephie die Hölle heiß machen würde, wenn von ihr irgendeine Bedrohung ausgehen sollte, was Stephie aber selbst unwahrscheinlich erschien. »Unsinn«, antwortete Walter Ames. Sein Vater war schwarz, seine Mutter weiß, er selbst der Inbegriff der Coolness. Nur weil er in der Nähe war, fühlte Stephie sich selbst cool, aber sie fragte sich, ob die Jungen sie am Montag in der Schule noch grüßen würden. »Die sind viel zu sehr mit der Invasion Japans beschäftigt«, sagte Walter, doch Conner ließ sich nicht umstimmen. »China hat auf Inseln entlang der ganzen afrikanischen Küste Militärstützpunkte«, erklärte er und zeichnete eine Art Karte in den Sand. Auf Conners »Meer« wirkten die Inseln wie Sommersprossen. Während Stephie mit einem Finger die Zeichnung vollendete, studierte sie aus nächster Nähe Conners selbst gemachtes Lederarmband. Was wäre, wenn er es mir schenken würde, weil… Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, warum er das tun sollte, aber es genügte ihr, sich in ihrer Fantasie auszumalen, wie sie es ihren Freundinnen zeigte. »Je presente… Conner Reillys Armband!« Ohne es zu merken, schloss sie die Augen, um sich das famose Leben vorzustellen, das dann folgen würde. »Mein Vater sagt, dass wir uns einen schönen Tages im Krieg befinden werden«, beharrte Conner. Stephie blickte ihn an, und nun geschah etwas äußerst Unerwartetes. Er erwiderte ihren Blick. Alle waren anderer Meinung, inklusive Stephie, die einfach nur dazugehören wollte. »Aber wir sind doch… absolute Isolationisten!« Das lange Wort und Stephies unsichere Aussprache desselben brachten die Jungs zum Lachen. Nachdem sie etwa eine Meile lang den Strand hinabgegangen waren, sa22
hen sie eine an Land gespülte, mit Seegras und Tang bedeckte Leiche. Von der Straße aus konnte man nicht mehr erkennen, und sie legten eine kurze Pause ein, während der Lieutenant seine Karte studierte, auf der Minenfelder verzeichnet waren. Dann schickte er zwei Männer zum Strand. Bei der Leiche angekommen, zuckten die beiden entsetzt zusammen. Schließlich kehrten sie zurück, um dem Lieutenant Meldung zu machen, der seinerseits über Funk den Kommandeur informierte. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass es sich bei dem Toten um einen amerikanischen Matrosen handelte, der sehr, sehr lange im Wasser gelegen hatte. Die Männer kehrten zu der Leiche zurück, rammten ein Stück Treibholz in den Sand und befestigten ein weißes Handtuch daran. »Muss aus der Richtung der Straße von Havanna her angespült worden sein«, bemerkte Animal. Der Mann schwitzte stark und legte sein schweres, altes M-60 auf seinen Schoß, um sich mit einem Handtuch das Gesicht abzuwischen. Er und Massera kamen vom Weapons-Platoon, einem Platoon ohne Nummer, das die schwereren Waffen führte. Folglich waren sie Outsider, genau wie die Männer vom Missile Team, der Lenkwaffengruppe. Der definitive Insider war hingegen Stephon Johnson, der in allen Einheiten jeden kannte. Weil er permanent ein Netzwerk von Kontakten pflegte, wusste er über fast alles Wichtige immer schon im Voraus Bescheid. »Wie ich höre, waren dreißigtausend Mann von verschiedenen Einheiten der Marineinfanterie an Bord dieser Schiffe. Die Chinesen hatten einhundert Unterseeboote in der Gegend, die einfach abgewartet haben. Bis zur Küste von Texas sind Leichen angeschwemmt worden.« »Und inzwischen sind schon fünf Millionen chinesische Soldaten nach Kuba verlegt worden«, sagte Stephie, die in demselben leisen Tonfall sprach wie alle. Niemand antwortete. Kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag hatte sich Stephies Leben in zweierlei Hinsicht verändert. Sie hatte einen festen Freund – eben Conner Reilly –, und ihr Stiefvater hatte seinen Job verloren. »Wann nimmt Daddys Firma denn die Arbeit wieder auf?«, fragte Stephie, deren Mutter ihr vor einem Date die Frisur in Ordnung brachte. Rachel Roberts’ Lächeln wirkte aufgesetzt. Vor jedem Rendezvous machte sie sich an Stephies Haaren zu schaffen, als wären Verabredungen der Sinn ihres Lebens. »Sie kommen 23
nicht an die erforderlichen Teile aus Japan heran, weil die Fabrik dort zerstört worden ist«, erklärte ihre Mutter. »Außerdem können sie aufgrund des chinesischen Embargos nichts nach Europa exportieren.« Noch immer blickte sie Stephie nicht direkt in die Augen. »Aber es gibt doch Blockadebrecher, die nach England und zurück fahren«, wandte Stephie ein. Rachel verzog mit zusammengekniffenen Lippen die Mundwinkel, schüttelte aber den Kopf. »Dann ist Daddy also arbeitslos?«, fragte Stephie, sorgsam darum bemüht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Während sie die Kette ihrer Tochter richtete, nickte Stephies Mutter, doch den direkten Blickkontakt mied sie noch energischer als zuvor. Es entstand ein langes Schweigen. »Warum ist die Beziehung zwischen dir und meinem richtigen Vater in die Brüche gegangen?«, fragte Stephie. Mit einem unruhigen, unheilvollen Blick gab ihre Mutter ihr zum tausendsten Mal zu verstehen, dass ihr Stiefvater ihr richtiger Vater war. »Du weißt genau, was ich meine«, sagte Stephie seufzend. »Du hast es mir nie erzählt. Warum habt ihr euch damals getrennt?« Ihre Mutter antwortete, das sei eine Privatangelegenheit. Stephie lachte frustriert auf. »Klar ist es eine Privatangelegenheit!«, fuhr sie ihre Mutter grob an. »Hat es was mit Tante Cynthia zu tun?«, fügte sie dann bohrend hinzu. Wie immer wurde ihre Mutter wütend, wenn diese Tante erwähnt wurde, die Stephie nie gesehen hatte, und sie ging sofort zur Tür. »Schließlich ist sie deine Schwester, und du sprichst nie mit ihr!« Überraschend aufgebracht wirbelte Stephies Mutter herum. »Ich hab’ doch gesagt, dass das eine private Angelegenheit ist!«, schnappte sie, bevor sie den Raum verließ. Die Situation ist wirklich total verfahren!, ärgerte sich Stephie, als endlich Conner klingelte. Während sie die Treppe hinunterging, hörte sie ihre Mutter runter der geschlossenen Schlafzimmertür schluchzen. Meine Schuld, dachte Stephie mit schlechtem Gewissen. »Also dann, angetreten«, ertönte die Stimme des Platoon-Führers über die Kopfhörer der Infanteristen. In Kolonnen marschierten sie weiter den Strand hinab. Hoch am Himmel sahen sie sich überschneidende Kondensstreifen. Aber es waren nicht die vereinzelten weißen Streifen von Passagiermaschinen. Es waren immer gleich zwei oder vier Kondensstreifen von Kampfflugzeugen, die in Richtung Meer flogen. Weil sie in Sorge war, es könnte sich um chinesische Maschinen han24
deln, blickte Stephie mehrfach zum Himmel hinauf, was ihr zweimal die Ermahnung von Collins eintrug, sie solle ihren »beschissenen Blick auf den verdammten Boden« richten. Während sie weitermarschierten, wurde für den Geschmack der Unteroffiziere entschieden zu viel geplaudert, und die Infanteristen büßten dafür, indem sie sich anschnauzen und anknurren lassen mussten. Schließlich hob der Mann an der Spitze die Hand, und sie blieben stehen. Fluchend ging der Platoon Sergeant von einem Soldaten zum nächsten die Kolonne entlang, wobei er ab und zu auf einen Helm schlug. Ein Abstand von zehn Metern sollte verhindern, dass eine Bombe oder Granate auf einen Schlag mehr als fünf oder sechs Leute tötete. Ungefähr jede halbe Stunde, wenn der wachsame Mann an der Spitze mit der flachen Hand Zeichen gab und sich hinkauerte, reagierten die Infanteristen viel zu umständlich für ein Platoon, von dem man verlangte, dass es sich auf das Signal hin blitzschnell fallen ließ und reglos verharrte. Nie hatten die Missile Teams und die MG-Schützen ein wirklich freies Schussfeld. Einige Soldaten fanden vorschriftsmäßig die Vorrichtung, mit der man den Rucksack blitzschnell abstreifen konnte, andere ersparten sich die Mühe und lagen neben ihrer schweren Last, um sie hinterher nicht wieder festschnallen zu müssen. Die gelegentlichen Exkursionen eines Fire Teams, das die landeinwärts liegenden Dünen überprüfen sollte, wirkten auf Stephie unprofessionell und improvisiert: Vier Leute krochen unbeholfen durch den Sand, und ihre herumbaumelnden Gewehre bedrohten allenfalls den Himmel. Während sie mit schussbereitem Gewehr und scheinbar für alles gerüstet auf ihrem Rucksack lehnte, musste Stephie immer wieder daran denken, dass die Chinesen während des letzten Jahrzehnts in kontinuierlich aufeinander folgenden Kriegen Gefecht um Gefecht gewonnen hatten. Sie waren erfahrene Soldaten einer siegreichen Armee, die genau wussten, was sie taten, wenn sie gegen Stephie und deren »Generation Z« antreten würden. Mit siebzehn war Stephies Kindheit endgültig zu Ende gegangen. Mitten an einem ganz gewöhnlichen Schultag im Januar wurden alle in der Aula der Highschool zusammengerufen. Da es ein Mittwoch war, trugen die älteren Schüler wie Conner die Uniform des ROTC, des Reserve Officers Training Corps. Stephie saß neben ihrem mittlerweile fest etablierten Freund, der sein Haar auf unmodische Weise kurz trug und dessen Khakiuniform grau und langweilig wirkte. Der Direktor brachte das 25
große Auditorium zur Ruhe und blickte dann auf ein Blatt Papier. Seine Ansprache war kurz. »Chinesische Unterseeboote haben an den Küsten der Karibikinseln Barbados, Grenada und St. Lucia Kommandotrupps abgesetzt. Die Schulbehörde von Mobile hat daher beschlossen, für ihren Bezirk einen einwöchigen Sonderurlaub anzuordnen.« Jubel brandete auf, und eine grinsende Stephie drückte Conners Hand. »Schulfrei!« Um den Tumult zu übertönen, musste der Direktor seine Stimme heben. »Für alle Schüler, die am Programm des Reserve Officers Training Corps teilnehmen, wird hiermit angeordnet, dass sie sich in Sportkleidung in der Turnhalle einzufinden haben.« Enttäuscht warf Stephie ihrem Freund einen Blick zu, der erbleicht war und schweigend den Direktor anstarrte. Jetzt erst begriff Stephie, was diese Ankündigung bedeutete, und ihr Lächeln erstarb. »Das war nicht irgendwas Normales«, schrieb sie an diesem Abend in ihr Tagebuch, »ein alltägliches Ereignis inmitten anderer alltäglicher Ereignisse.« Dies war etwas anderes – einer der Zeitpunkte, an denen etwas Neues begann. Die Chinesen waren in Richtung Vereinigte Staaten unterwegs. Der Krieg, den alle erwartet hatten, würde nicht im weit entfernten Europa stattfinden, sondern hier. In Amerika. Nach zwei Stunden Fußmarsch kamen sie an einem Laden vorbei, der normalerweise mit farbenfrohen Fähnlein geschmückt, nun aber ausgeräumt und mit Brettern vernagelt war, als wollte man sich auf einen Hurrikan vorbereiten. Doch Stephie glaubte, dass das Geschäft in Wirklichkeit Relikt einer vergangenen Epoche war. Die Schilder jener Ära hingen noch an der Wand: Eis für einen, Lotterielose für zwei, lebende Angelköder für fünf Dollar. Während ein paar Männer den Laden überprüften, zog Stephie ihre Feldflasche hervor und trank einen Schluck lauwarmes, nach Plastik schmeckendes Wasser. Vor zwei Jahren hatten die coolen Jungs von der Highschool mit gefälschten Ausweisen jenes Bier gekauft, das das erste ihres Lebens sein sollte. Es war ein gutes Leben, dachte Stephie. Mittlerweile führte sie ihr Tagebuch in Gedanken. Wenn auch vielleicht nicht so erfüllt, wie ich damals geglaubt habe. Die Männer vom Fire Team tauchten mit nach oben gereckten Daumen aus dem Geschäft auf, und Stephie schulterte mühsam ihre Ausrüstung. Das Bier haben sie damals in diesem Laden gekauft. 26
Plötzlich wunderte sie sich über die Fülle und Reichhaltigkeit des Lebens. Ich liebe das Leben, flüsterte ihre innere Stimme eindringlich. Ich will leben. In der Nacht vor jenem Tag, an dem Conner das Abschlusszeugnis der Highschool ausgehändigt bekam, chauffierte er Stephie zu einem einsamen Strand. Der normalerweise von Touristen aufgesuchte Turm für die Bungeespringer lag verwaist im Dunkeln. »Übermorgen reise ich ab«, flüsterte Conner. Als ob ich das nicht wüsste, dachte Stephie, die auf das Wasser hinausblickte und dabei die Augen rollte. Conner küsste sie und knabberte an ihrem Ohrläppchen herum, bis sie schließlich den Kopf zurückzog. Das gekräuselte Wasser der Dünung facettierte das Mondlicht. »Vielleicht sollten wir besser nicht hier sitzen«, sagte Stephie, während ihr Blick über die finster daliegenden Dünen glitt. Conner küsste ihren Nakken. »Wer weiß, was passieren wird?«, flüsterte er. Die von den zerzausten Gräsern geworfenen Schatten verbanden sich mit früher nicht gekannten Ängsten. »Hast du den Zeitungsartikel über die Chinesen gelesen, die sie in Charleston erschossen haben?«, fragte sie. »Sie behaupten, auf Kuba gebe es eine halbe Million chinesischer >Berater<, aber mein Stiefvater sagt, tatsächlich sind es Soldaten.« Offensichtlich beschloss Conner jetzt, dass dies der richtige Zeitpunkt war, endlich zur Sache zu kommen. »Bis zu meinem ersten Urlaub könnte dies unsere letzte gemeinsame Nacht sein.« Stephie ließ den Kopf hängen. »Meine Eltern spielen mit dem Gedanken, nach Kanada auszuwandern«, murmelte sie. Conner war geschockt. »Aber die Kanadier lassen keine Einwanderung aus den Vereinigten Staaten mehr zu!«, erwiderte er. Stephie antwortete, dass Ausnahmen gemacht würden. Schließlich sei ihr Stiefvater Ingenieur, im Augenblick warte ihre Familie auf einen Bescheid. »Aber was wird mit uns?«, fragte Conner. Stephie atmete tief durch, dann warf sie ihren Kaugummi aus dem Autofenster. In dieser Nacht liebten sie sich zum ersten Mal.
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ERSTER TEIL Vom Herrscher über die Meere wird man in gewisser Weise behaupten können, er beherrsche alle Länder, zumindest diejenigen, die am Meer liegen, weil er freie Hand hat, Kriege zu beginnen und zu beenden, wo, wann und weshalb es ihm gefällt. Joseph Gander, The Glory of Her Sacred Majesty Queen Anne, in the Royal Navy(1703)
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1. KAPITEL
Mobile, Alabama 14. September, 16 40Uhr Ortszeit »Erkennst du irgendwas wieder?«, fragte Peter Scott Stephie über das Funkgerät, während sie am Strand patrouillierten. Die Stimme des jungen Mannes aus Michigan zitterte leicht. Stephie blickte auf die blassblauen Abfallbehälter, die den hellen Sand in gewissen Abständen mit Farbtupfern sprenkelten. Ein ehemaliger Verkaufsstand für Feuerwerkskörper war mit Sperrholzbrettern vernagelt. Der vor sich hin rostende Turm für die Bungeespringer war der beherrschende Blickfang an diesem Strand. Stephie hatte einen Kloß in der Kehle und musste schlucken. Dann drückte sie auf den »Talk«-Knopf ihres Funkgeräts. »Ja, ich erkenne alles wieder.« »Hört auf zu quasseln!«, schaltete sich lautstark Simmons ein, der gegen eine überflüssige Benutzung der Funkgeräte war. Wie immer trug die Brise über dem Meer das Geräusch der Brandung herüber. Für Stephie war der intensive, salzige Geruch jener Duft, den sie mit ihrer Heimat verband. Meine Heimat, dachte sie. Das Haus ihrer Familie lag nur ein kurzes Stück weiter oben an der Straße, aber ihre Heimat schien dennoch sehr weit weg zu sein. Denn diese Heimat war weniger eine Stadt als vielmehr eine Zeit, die unwiederbringlich vergangen zu sein schien. Bald würden sie zu Stephies Straße kommen. Am Eingang der baumlosen Siedlung blieben sie stehen. Noch nie zuvor hatte Stephie den Ort so gesehen. Keine Autos, keine Menschen, keinerlei Leben. Dennoch waren ihr die Häuser vertraut. Als Kind war Sally Hampton Stephies engste Freundin gewesen. Die Fenster von Sallys Haus waren verstaubt, das Gras im Garten dreißig Zentimeter hoch und so braun und verdorrt wie die Gräser in den Dünen. Mittlerweile sollte Sally ihre Grundausbildung bei der Navy absolviert 29
haben. Dann das Haus der Brubecks, die sich nicht mehr die Zeit genommen hatten, ihr Boot mitzunehmen, das jetzt hochkant an einer bröckelnden Mauer stand. Der weiße Rumpf aus Fiberglas war von Kugeln durchsiebt und zu nichts mehr zu gebrauchen. Nach Stephies Vermutung war dies das Werk einer Patrouille, die vor ihnen hier durchgekommen war. Die beiden Söhne der Brubecks, Freunde aus Stephies Highschool, waren zu den Marines gegangen. Einer saß in Oahu fest, der andere war entweder tot oder in einem Kriegsgefangenenlager in Kuba interniert. Schließlich das Haus von Stephies Familie, das wie alle anderen Gebäude hier auf Pfählen errichtet war. Zu ebener Erde gab es nur den Einstellplatz für das Auto und einen Lagerraum. Stephie konnte den Anblick ihres Hauses kaum ertragen, und dennoch wurde ihr Blick magisch davon angezogen, weil sie zugleich nach Vertrautem und nach Veränderungen Ausschau halten wollte. »Also, First Squad«, verkündete Collins nun, der gerade eine Besprechung mit Lieutenant Ackerman hinter sich gebracht hatte. »Auf geht’s. Lasst es uns anständig erledigen.« Schon war wichtigtuerisch Kurth zur Stelle. »Das ist eine Karte, auf der die Minenfelder an diesem Strand verzeichnet sind«, verkündete er, während er die zusammengefaltete Karte hochhielt. Dann steckte er sie unter die kugelsichere Weste von Sergeant Collins, ihrem jungen Squad-Führer, und tätschelte die Panzerung aus Kevlar. »Lasst sie bloß nirgendwo liegen.« »Jawohl, Staff Sergeant«, antworteten die Mitglieder der Squad wie aus einem Munde. Nachdem sie ihre schweren Rucksäcke fallen gelassen hatten, betraten sie Stephies Heimatort nur mit Kampfausrüstung: Gewehre, Granaten, Munition, Feldflaschen und Verbandskästen, die an ihrem Gurtwerk befestigt waren. Stephie hatte das Gefühl, sich in einer Mondlandschaft zu bewegen. Kurzzeitig dachte sie darüber nach, Sergeant Collins zu erzählen, dass sie sich dem Haus näherten, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Dass sie praktisch jeden Tag ihrer achtzehn Jahre in diesem stuckverzierten Haus am Sea Sprite Drive verlebt hatte. Dass sie jeden Winkel, jede Ecke und jedes Versteck in dieser Siedlung aus zwanzig Jahre alten Häusern kannte. Aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Eigentlich gehört 30
uns dieses Haus gar nicht mehr, überlegte sie. Während Stephie ihre Grundausbildung absolvierte, hatte die Bank die Zwangsräumung beantragt. Nachdem er zwanzig Jahre lang die Hypotheken bezahlt hatte, packte ihr arbeitsloser Stiefvater daraufhin seine Siebensachen und zog in Richtung Norden. Ganz so, wie es alle anderen Küstenbewohner nach dem Debakel der Navy in der Straße von Havanna getan hatten. Damals schrieb ihre Mutter ihr, wie alle anderen Immobilien in der Gegend sei auch ihr Haus jetzt wertlos. »Es war nie so viel wert, wie wir dafür bezahlt haben«, lautete der verächtliche Kommentar ihrer Mutter, was bei der wütenden Stephie, die nach dem Ausschalten des Lichts auf ihrer Pritsche lag, heftiges Schluchzen provozierte. Das war mein Zuhause!, schrie sie innerlich empört auf. Einer nach dem anderen gingen sie die Straße hinab, die noch warm war von der nachmittäglichen Sonne. Vor vier Monaten, bei Stephies letztem Heimaturlaub, war sie von Kindern belebt gewesen, deren Sommerferien eben begonnen hatten. Ausgelassene Spiele, Musik und die Stimmen der Mütter, die ihre Kinder zum Abendessen riefen, hatten die Straße erfüllt. In den vier Monaten seit der See-Katastrophe hatte sich das Leben vollkommen verändert. Niemand sprach, während die Soldaten die Fenster nach verdächtigen Bewegungen absuchten. Der Verlauf der Straße beschrieb ein großes »U«, dessen untere Seite an die Grundstücke am Strand grenzte, wo auch Stephies Haus lag. Am Fuß des »U« bogen sie um die Kurve. Eine steife, feuchte Brise schlug ihnen entgegen. An der Spitze ihres Trupps ging Peter Scott. Als er die Auffahrt von Stephies Haus erreicht hatte, blieb er vor dem Briefkasten stehen. Sergeant Collins trat zu Scott, dann wies er auf Stephie und winkte sie zu sich. Collins zeigte auf das Schild mit dem Familiennamen der Roberts’, während er zugleich Kurths Karte studierte, auf der die Minenfelder verzeichnet waren. »Ist das dein Zuhause?«, fragte er. Stephie nickte. »Na also«, bemerkte Scott. »Ich hab’s doch gesagt.« Collins zählte die Häuser ab der Biegung des »U«, dann warf er einen vergleichenden Blick auf die Karte: eins, zwei, drei. »Na, da ist es sicher«, kommentierte Collins. »Aber halt dich von dem Haus da fern.« Er zeigte auf das übernächste Gebäude, das einst von Dr. Rodriguez bewohnt worden war. Stephie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass es doch wohl 31
besser gewesen wäre, wenn Collins die Karte konsultiert hätte, bevor sie die Straße hinabmarschiert waren. »Willst du dich ein bisschen umblicken?«, fragte Collins entgegenkommend. Erst zuckte Stephie die Achseln, doch dann nickte sie. Collins beauftragte das Fire Team – Sanders, Johnson und Scott – damit, Stephie zu begleiten, dann benachrichtigte er über Funk den Lieutenant. Bevor Ackerman das Angebot rückgängig machen konnte, eilte Stephie in den kühlen Schatten des Einstellplatzes für das Auto. »Das ist euer Haus?«, fragte Johnson ungläubig. Stephie beschloss, von der Zwangsräumung lieber nichts zu erzählen. »Mann, ich hatte ja keine Ahnung, dass du reich bist. Hab’ immer gedacht, dein Alter wäre Farmer oder irgendwas in der Art. Das ändert alles. Was macht dein Stiefvater denn so?« Stephie antwortete, er sei Ingenieur – was ja auch dann stimmte, wenn er arbeitslos war. Sie spähte durch das verdreckte Fenster in der Tür. Die dunkle Treppe, die zur Küche hinaufführte, wirkte leblos und irreal, aber wenn sie die Augen schloss, glaubte sie immer noch den Duft des Essens zu riechen, der sie direkt hinter der Tür immer begrüßt hatte. Sie stellte fest, dass die Tür abgeschlossen war. »Du konntest einfach mal eben so zum Strand?«, rief Corporal Johnson aus der Richtung des kleinen Gartens hinter dem Haus. »Ohne auch nur den Highway zu überqueren? Als ich als Kind meinen einzigen Ausflug zum Strand gemacht habe, habe ich mir auf dem elend heißen Highway die Füße versengt.« In der spiegelnden Fensterscheibe sah Stephie ihn auf das blaue Meer hinausblicken. »Lasst uns abhauen!«, brüllte Sergeant Collins von der Straße her. Wenn es nicht unbedingt sein musste, hatte er nicht die geringste Lust, durch die schwachen Funksignale ihres taktischen Kurzstrecken-Funknetzes irgendwelche in großer Höhe fliegenden chinesischen Raketen auf sie aufmerksam zu machen. Stephie blinzelte, um ihre feuchten Augen zu trocknen und sich wieder zu beruhigen, aber als sie sich schließlich umwandte, starrten die anderen sie trotzdem an. »Hey, ich… Das hier habe ich da drüben gefunden«, sagte Scott, der einen rosafarbenen Plastikring mit imitierten Edelsteinen in Stephies Hand fallen ließ. Der Ring gehörte zu einer ganzen Kollektion billigen Modeschmucks, den Stephie als Kind geschenkt bekommen hatte. Nach und nach waren die farbenfrohen Schmuckstücke am Strand vom 32
Sand verschluckt worden. Gemeinsam mit Sally Hampton hatte sie damals dramatische Hochzeitsszenen nachgespielt, deren Sinn darin bestand, angewiderte oder begeisterte Reaktionen zu provozieren, was ganz davon abhing, als welcher Junge die Schauspielerin sich schließlich zu erkennen gab. Stephie ließ den Ring in der Seitentasche der Hose ihres Kampfanzugs verschwinden. Dabei biss sie sich auf die Oberlippe, um Wut und Tränen zurückzuhalten. Ihre Kameraden überboten sich in unbeholfenen Sympathiebekundungen, die aber reichlich deplatziert wirkten. Johnson legte seinen Arm um Stephies Schulter. »Ist ja gut«, wiederholte er immer wieder. »Zum Teufel mit den Chinesen. Wir werden ihnen ein paar kräftige Arschtritte verpassen!« Scott und Sanders grunzten beifällig und fingen dann ebenfalls zu fluchen an. Stephie lächelte. »Wir werden aus dieser Welt wieder einen sicheren Ort machen«, sagte Johnson. »Damit reiche weiße Mädchen wie du wieder in ihren schönen Häusern an diesen unglaublichen Stranden leben können.« »An diesem Strand kann vorläufig niemand mehr leben«, bemerkte Scott, während sie zur Straße zurückgingen. »Hast du dir die Karte nicht angesehen? Die Landminen, die hier verbuddelt sind, werden sie nie alle finden.« »Und was haben sie sich deiner Meinung nach für das Haus da einfallen lassen?«, fragte Sanders, der auf das Haus von Dr. Rodriguez wies. Peter Scott nahm das Gebäude in Augenschein. »Vermutlich gibt’s da ungefähr eine Tonne C9-Sprengstoff, sorgfältig mit einer halben Tonne Beton und tausend dicken Nägeln ummantelt.« »Du bist eins von diesen durchgeknallten weißen Kids aus der Vorstadt, so viel ist sicher«, bemerkte Johnson. »Vor Typen wie dir hat mich meine Mama immer gewarnt. Wie kommt’s, dass du die Highschool geschafft hast, ohne da vorher Amok zu laufen?« Sie folgten dem Verlauf der »U«-förmigen Straße und überquerten sie, als sie an dem Haus von Dr. Rodriguez vorbeikamen. Nachdem die Squad schließlich wieder am Highway angekommen war, hatte bereits das ganze Platoon erfahren, dass Stephie ihrem Zuhause einen Besuch abgestattet hatte. Alle bedachten sie mit teilnahmsvollen Worten oder Blicken, sogar ein paar Soldaten, die sie kaum kannte. Lieutenant Ackerman trat zu ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Achselzuckend 33
murmelte Stephie eine nichts sagende Antwort vor sich hin. Tatsächlich sehnte sie sich danach in ihr Haus zurückzukehren, die Tür ihres Zimmers hinter sich zu schließen und sich auf ihrem Bett zusammenzukringeln. Aber die Sonne stand bereits niedrig und war jetzt deutlich röter. Schon bald würde es dunkel sein, und dann war dieser Strand ein gefährlicher Aufenthaltsort. Der Rückweg zu den Lastwagen begann ohne Zwischenfälle. Da sie diesen Abschnitt des Strands bereits in Augenschein genommen hatten, war sein Anblick mittlerweile vertraut. Aber da war die Erschöpfung, das Gefühl, dass der Körper von Kopf bis Fuß ausgelaugt war. Stephies Kopf war leicht benommen, ihre Beine wurden schwer. Das bloße Atmen schien all ihre Kraft in Anspruch zu nehmen. Die Blasen an ihren Füßen schienen sich zu vermehren, und ihre Fußgelenke taten weh, weil sie durch einen unkonventionellen Gang Schmerzen vermeiden wollte. Ein bisschen erinnerte sie an ein Auto mit einem Platten, das auf der Felge weiterfuhr. Da sie sich nach einer Unterbrechung des Fußmarschs sehnte, behielt sie erwartungsvoll Ackerman im Auge, der doch jeden Augenblick seine Hand heben musste. In ihrem Kopf schossen reale und imaginierte Bilder durcheinander, und immer wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge Ackerman, der seinen Infanteristen eine Pause verordnete. Sie hängte das Gewehr um und zog eine Feldflasche aus der Tasche, um etwas gegen ihren ausgetrockneten Mund zu tun. Als sie eben die Plastikflasche zum Mund führte, um den ersten Schluck lauwarmen Wassers zu trinken, eröffnete in nächster Nähe ein halbes Dutzend automatischer Waffen das Feuer. Stephie raste geduckt zum Straßenrand, nahm blitzschnell ihren Rucksack ab und warf sich in den Sand. Der Lärm war ohrenbetäubend und kam völlig überraschend. Wurde man direkt beschossen, klangen Gewehrschüsse immer lauter. Die Chinesen belegten die Straße mit einem Kugelhagel, und die ersten Schreie waren nicht etwa Befehle, sondern Rufe nach Sanitätern. Während Kugeln die Infanteristen trafen, die sich einfach auf die Straße geworfen hatten, rappelte sich Stephie hoch, um landeinwärts zu laufen. Mit grellen Blitzen explodierten Granaten, Schrapnellsplitter Schossen durch die Gegend. Schmerzensschreie und verzweifelte Schreie nach Sanitätern schwirrten durch die Luft. Stephie konnte nur noch einen Gedanken fassen – noch drei Schritte. Dann noch zwei, dann einer, und endlich 34
konnte sie sich auf den Bauch fallen lassen. Sie rappelte sich hoch, lief wieder ein paar Schritte, ging erneut zu Boden, sprang wieder hoch. Da nie direkt auf sie gefeuert wurde, kam ihr der Gedanke, ob sie sich nicht vielleicht etwas näher an den Feind heranpirschen sollte. »Sanitäter!«, kreischten in der Ferne die Verwundeten. Die Chinesen wollten so viele Amerikaner wie möglich töten. Wieder rannte sie los und ließ sich dann hinter ein paar Büschel Dünengras fallen, permanent von tödlichem Feuer bedroht. Die Kugeln schlugen in den lebensrettenden Sand ein, der sich um die Gräser herum angesammelt hatte. Sie lag auf dem Bauch, Kopf und Körper hart gegen den Boden gepresst. Der Kugelhagel ließ nach, dann nahmen die Chinesen andere Ziele aufs Korn. Irgendwie hatte sie es überlebt. Als sie den Kopf wieder hob, spritzte ihr plötzlich Sand in die Augen, weil ein amerikanischer Soldat neben ihr die Düne hinunterrutschte, was das feindliche Feuer sofort wieder in ihre Richtung lenkte. Fluchend und spuckend wischte sie sich die Sandkörner aus dem verschwitzten, sonnenverbrannten Gesicht. Schon bevor sie die Augen wieder öffnete, hörte sie ein M-16 feuern. Neben ihr kniete Burns, der zwei Schüsse pro Sekunde abgab. Stephie war dankbar für die Verstärkung. Ihre eigene Waffe war halb im Sand begraben, und sie begann sie hektisch zu säubern. Während Burns nachlud und über den niedrigen Sandhügel spähte, schnippte Stephie den Wählhebel ihres M-16 auf »semi«, also auf Halbautomatik. Ihr war klar, dass der Gegner ihren Helm erkennen würde, bevor sie ihn sah. John ging in Deckung, als direkt über ihm wieder Kugeln durch die feuchte Seeluft pfiffen. Aber er bewegte sich noch, lebte noch. Sofort richtete er sich wieder auf, um so schnell wie möglich kurze Feuerstöße von drei Schuss abzugeben. Auch Stephie wollte hochkommen, doch John drückte sie wieder zu Boden. »Lass das!«, brüllte Stephie, während sie seine Hand wegschob. Etwas näher zur Straße hin eröffnete Animal mit seinem Maschinengewehr das Feuer. Stephie rollte zur Seite und sprintete dann zur nächsten Düne landeinwärts. Das belfernde MG hatte die Chinesen gezwungen, vorerst die Köpfe unten zu halten. Stephie rutschte die Düne hinunter. Erneut eröffneten die Chinesen das Feuer auf John, der jetzt hinter der 35
kleinen Düne festgenagelt war, wo zuvor auch Stephie Deckung gesucht hatte. Von ihrer etwas höher gelegenen Position aus konnte sie die Stiefel eines auf dem Bauch liegenden chinesischen Soldaten erkennen. Wieder rannte sie los, weiter die Düne hinauf. Ein erneuter Kugelhagel zwang sie, sich in den Sand zu werfen. Erst als das Feuer in ihre Richtung eingestellt wurde, hätte sie den Kopf wieder heben können, doch sie wartete noch einige entsetzlich lange Sekunden ab. Vorsichtig hob sie den Kopf. Zuerst sah sie nichts als Dünengras, dann etwas Sand, der allerdings keine Kugel aufhalten würde. Schließlich erblickte sie die Unterkörper von zwei auf dem Bauch liegenden chinesischen Soldaten. Zu ihrer Linken begann der Gegenangriff ihres Platoons. Hinter fünf toten oder sich verletzt am Boden windenden Amerikanern war es vier fast genauso unglücklichen Kameraden vorbehalten, den Frontalangriff auf den Feind fortzusetzen. Sie rannten, gingen zu Boden, suchten Schutz. Ein Soldat richtete sich auf und schleuderte eine Handgranate etwa dreißig Meter weit, aber der Feind war fünfzig Meter entfernt. Fünfzig Meter offenes Gelände, das diese armen Schweine noch überwinden mussten. Stephie hob das Gewehr an die Schulter, aber ihr Finger lag am Abzug der unter dem Lauf angebrachten Granatpistole. Ihre Rechte umklammerte die Magazinzuführung des Sturmgewehrs wie einen Pistolengriff, ihr Blick war auf das Visier gerichtet. In ihrem Ausbildungs-Platoon hatte sie bei den Übungen mit der Granatpistole die höchste Punktzahl erzielt. Ihre linke Hand ruhte unter der angeklippten Waffe. Sie hob sie etwas an, drückte dann ganz sacht auf den Abzug. Zweihundert Meter, dachte sie. Die Granate schoss aus dem Rohr, und das Gewehr ruckte hart gegen ihre Schulter. Stephie achtete sorgfältig darauf, die Höhe der Granatpistole beizubehalten, und beobachtete aufmerksam, wo ihre Granate einschlug. Gleichzeitig lud sie, ohne hinzusehen, nach. Drei Meter hinter den Chinesen schlugen Flammen aus dem durch die Explosion verursachten Krater. Während sie den Verschluss der Granatpistole zuklappte, richteten die feindlichen Soldaten ihre Waffen auf sie. Überall um sie herum pfiffen Kugeln durch die Luft. Stephie ließ ihre Waffe ein kleines bisschen nach unten sinken. Sie feuerte direkt, nicht indirekt wie ein Mörser. Wummm! 36
Um den feindlichen Kugeln zu entgehen, rollte sie sich auf die Seite. Als ihre Granate detonierte, stellte der Feind sofort das Feuer ein. Sie hob den Kopf. Auf offenem Feld lagen zwei chinesische Soldaten, deren Körper von der Explosion zerfetzt worden waren. Auf gebrüllte Befehle hin erhoben sich jetzt die Amerikaner, die sofort losrannten, um die feindliche Stellung anzugreifen. Stephie, John Burns und ein Dutzend andere Soldaten durchsiebten die Körper der Verwundeten oder Toten unnachgiebig mit Kugeln. Andere schleuderten Handgranaten, deren Form an Tannenzapfen erinnerte, und ließen sich dann auf den Bauch fallen. Diesmal wurde die provisorische feindliche Stellung von einem halben Dutzend Explosionen erschüttert. Als drei Männer und eine Frau die rauchende Düne erreicht hatten und dort weiter mit einem Kugelhagel die Erde durchsiebten, gab Ackerman über Funk allen anderen den Befehl, sofort das Feuer einzustellen. Plötzlich wimmelte es am Himmel nur so von Kampf-, Sanitäts- und Aufklärungshelikoptern, die über den Toten und Verwundeten kreisten, welche nach dem Feuergefecht am Boden lagen. Nacheinander landeten die Hubschrauber. Trotz des Motorenlärms waren die Schreie nach Sanitätern deutlich vernehmbar. Stephie und John rannten zur Straße, wo sich Männer und Frauen auf dem Asphalt wanden. Einige hatten es geschafft, halb aufgerissene Päckchen mit Verbandsmaterial gegen ihre klaffenden Wunden zu pressen, andere waren vorher gestorben. Schreie gellten durch die Luft. »Sanitäter!« »Ich bin verwundet!« »O mein Gott!« »Hilfe, ich brauche Hilfe!« »Sanitäter, Sanitäter!« Plötzlich drohte Stephie das Gleichgewicht zu verlieren, und sie konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. John und einige Sanitäter, die das Feuergefecht überlebt hatten, kümmerten sich um die Verwundeten, während jetzt auch ihre Kameraden aus den Sanitätshubschraubern ausstiegen. Es gab so viel zu tun, dass Stephie wie gelähmt war, als sie die um Hilfe schreienden Verwundeten anstarrte. Andere lagen auf unheimliche Weise reglos und mit gläsernem Blick in riesigen Blutlachen. 37
Stephie rannte los und kniete neben dem nächsten Verwundeten nieder, einer Afroamerikanerin aus der Third Squad, die ungefähr in Stephies Alter war und jetzt vergeblich den Kopf zu heben versuchte, um ihren völlig zerfetzten linken Unterarm in Augenschein zu nehmen. Sie hatte keinen Helm auf, und ihr Kopf drohte bei jedem Versuch auf den harten Asphalt zu knallen. Der Schmerz, der Blutverlust und der Schock hatten sie völlig verwirrt. Stephie hob den Kopf der Frau an und bettete ihn in ihren Schoß, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Arm so zu halten, dass die Frau keinen Blick auf ihre Wunde werfen konnte. Dann zog sie eine Binde aus dem Verbandskasten der Verwundeten und löste vorsichtig ihre rechte Hand von ihrem linken Unterarm. Der verwundete Arm bewegte sich auf eine unnatürliche Weise, fast so, als würde er gar nicht mehr zu diesem Körper gehören. Plötzlich begann die Frau laut zu stöhnen. Der körperliche und psychologische Schmerz hatte die Afroamerikanerin wieder aufwachen lassen. Sie krümmte sich, schrie und schlug um sich. »Sanitäter!«, rief Stephie, während sie sich der Attacken zu erwehren versuchte. »Das wird schon wieder, alles kommt in Ordnung, alles wird gut!« Sie kämpfte mit Worten, aber die Frau warf ihren Kopf weiterhin von einer Seite zur anderen. Glücklicherweise trafen endlich die Sanitäter aus den Hubschraubern ein, die Jumpsuits und Fliegerhelme trugen. Während die beiden Sanitäter der Verletzten Schmerzmittel spritzten, hielt Stephie ihren Kopf und säuselte ihr begütigende Lügen zu. Als sie den Ärmel wegschnitten, wollte Stephie nicht hinsehen, doch andererseits sah sie es als ihre Pflicht an, genau zu beobachten, wie sie die Frau verarzteten. Wellen von Übelkeit überkamen sie, aber sie zwang sich, die Behandlung zu verfolgen. Als die Verwundete schließlich auf eine Bahre gehievt wurde, blieb Stephie allein in der Lache sitzen, die sich durch den Blutverlust der Frau gebildet hatte. Die Evakuierung der Afroamerikanerin hatte sechs oder sieben Minuten in Anspruch genommen, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen. Plötzlich schien es ihr, als wäre sie besudelt aus einem Traum erwacht. Sie empfand ein Ekelgefühl und das verzweifelte Bedürfnis, sich die blutverschmierten Hände waschen zu können. Ihre Tasche für die Feldflasche 38
war leer, sie musste sie fallen gelassen haben, als sie in den Hinterhalt geraten waren. Sie stand auf und begann, auf der Straße nach der Feldflasche zu suchen. Überall lagen Ausrüstungsgegenstände herum, der Asphalt war mit getrockneten Blutflecken übersät. Sowohl die Unversehrten als auch die nur leicht Verletzten saßen zusammengesunken auf dem Boden wie Überlebende einer großen Katastrophe – dem Zusammenprall zweier feindlicher Armeen im Krieg. Zwischen der verstreuten Ausrüstung fanden sich auch etliche Feldflaschen, und schließlich entdeckte Stephie ihre, deren Inhalt ausgelaufen war. Als sie sie in die dafür vorgesehene Tasche steckte, stellte sie überrascht fest, dass an ihrem Gürtel noch zwei andere Feldflaschen baumelten, und sie fragte sich, warum ihr das nicht aufgefallen war. Sie säuberte sich gerade mit dem lauwarmen Wasser aus einer der Feldflaschen die Hände, als John Burns zu ihr trat. »Kein Wasser verschwenden«, bemerkte er knapp. »Man kann nie wissen, wie lange wir hier draußen bleiben werden.« »Aber es geht doch gleich zurück ins Camp«, antwortete Stephie. John hob den Kopf und runzelte verärgert die Stirn. »Davon kann man nie ausgehen, wenn man bei der Infanterie ist.« Er stand so dicht neben Stephie, dass das Wasser von ihren Händen auf seine mit Sand verklebte Hose und seine Stiefel tropfte. Sein Gesicht war nur ein paar Zentimeter von ihrem entfernt. »Stell dich nicht so dumm an«, sagte er wütend. »Fast hättest du es geschafft, dich umlegen zu lassen.« Stephie wusste nicht, ob das ein Tadel oder eine Warnung sein sollte, aber John war schon verschwunden, und ihr Kopf war wieder leer. Lieutenant Ackerman gab den Befehl zum Antreten. Seine Stimme klang genauso wie zuvor, aber irgendwie wirkte jetzt alles anders auf Stephie. Die Sonne stand niedriger. Es war kühler, fast so, als hätte die Jahreszeit gewechselt. Aber die Erfahrung war grundlegender. Es kam ihr vor, als würde sie sich in einer Welt bewegen, die sich auf eine wunderliche und undefinierbare Weise verändert hatte. Die Straße, der Strand, der Himmel. Es schien ihr, als wäre sie aus der Realität heraus- und in eine andere, irreale Welt eingetreten. Oder war es andersherum? War sie aus einer Fantasiewelt in eine harte Realität gekommen? Als sie ihren schweren Rucksack schulterte, schoss ein Schmerz ihre Wirbelsäule hinab und ihre Oberschenkel hinauf, der an tausend quälende 39
Nadelstiche erinnerte. Dieser Schmerz verknüpfte auf einer intuitiven Ebene Stephies Gegenwart mit ihrer Vergangenheit. Die Grenze dazwischen war unüberwindbar: Es gab ein Leben, bevor zum ersten Mal Blut an ihren Händen geklebt hatte, und ein Leben danach. Sie klammerte sich an das Schmerzgefühl, weil es das einzige Bindeglied zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben war. Als John Bums sah, wie Stephie sich unter dem Gewicht der schweren Ausrüstung krümmte, bot er ihr leise an: »Ich kann dir helfen.« Stephie schüttelte den Kopf. Obwohl Becky Marsh sich vernehmlich räusperte, wurde sie erneut ignoriert. Sie seufzte und begann zu stänkern. Eine zweite Verbindung zu Stephies Vergangenheit – noch etwas, das sich nicht geändert hatte. »Dieser beschissene Fitnesstest in der Grundausbildung!«, lamentierte sie zum tausendsten Mal. Während Lieutenant Ackerman die Reihe abschritt, sprach er leise mit jedem seiner Soldaten. »Sie hätten uns ruhig sagen können, wozu dieser Test gut war!« Becky war zufällig in den Fitness-Test für die Infanterie hineingeraten, aber Stephie hatte hart dafür gearbeitet, die Aufnahme zu schaffen, und jetzt war sie fest entschlossen, ihre eigene Last zu tragen. Kurz bevor Ackerman bei Stephie angelangt war, nahm Platoon Sergeant Kurth den Lieutenant zur Seite. Zwar flüsterten die beiden, aber Stephie konnte trotzdem alles verstehen. Neun Tote, berichtete Kurth. Sechzehn Verwundete, vier davon schwer. Die Neuigkeit schien auf Ackerman zu lasten, der nun die Zahlen über Funk an den Kommandeur der Kompanie durchgab. Ein schwer bewaffneter Stoßtrupp aus einem chinesischen Unterseeboot sei für den Überfall aus dem Hinterhalt verantwortlich gewesen, berichtete Ackerman. Sprengstoff hätten sie fast keinen mehr dabei gehabt, vermutlich sei er vorher im Landesinneren platziert worden. Vier feindliche Soldaten seien im Kampf gefallen. Überlebende gebe es nicht. Einen Augenblick lang lauschte der Lieutenant, dann musste er seine Zahlen wiederholen. »Wir haben neun Gefallene und sechzehn Verwundete! Getötet haben wir vier feindliche Soldaten! Ich wiederhole, vier!« Der Kommandeur wollte noch etwas wissen. Ackerman blickte zu Stephie auf. »Negativ«, sagte er in das Funkgerät, während er sich von der jungen Soldatin abwandte. Der Kommandeur beendete das Gespräch, und Kurth und der Mann mit dem Funkgerät ließen Ackerman einfach stehen. Der große, magere Lieu40
tenant starrte mit einem Blick auf die Straße, auf den Stephie sich keinen Reim machen konnte. Als er aus seiner Versunkenheit aufgetaucht war, trat er zu Stephie. »Alles in Ordnung, Roberts?«, fragte der PlatoonFührer. Da sie ihrer Stimme nicht traute, nickte Stephie nur. Vier Männer, musste sie immer wieder denken, haben unser halbes Platoon ausgelöscht. »Dir ist ja wohl klar«, sagte Ackerman in einem leisen Ton, der Stephies Aufmerksamkeit erregte, »dass ein Wort von mir genügt, und schon sitzt du in einem dieser Hubschrauber.« »Aber…«, begann Stephie. Sie unterbrach sich, da sie für einen Augenblick verwirrt war. »Aber ich bin nicht verwundet, Sir.« »Davon rede ich nicht«, bemerkte Ackerman gedämpft. Jetzt begriff Stephie. was er sagen wollte, und runzelte die Stirn. Die Kameraden ihrer Squad, die wie durch ein Wunder alle mit heiler Haut davongekommen waren, beobachteten die Szene und warteten auf ihre Antwort. Stephie schüttelte den Kopf, und Ackerman nickte und ging dann kommentarlos weiter. In seinem Rücken starrten die anderen Stephie an. Einige, darunter auch Becky, hatten einen ungläubigen Blick. Aber im Gegensatz zu Becky hatte Stephie immer verlangt, dass man sie genauso wie die anderen behandelte. Oder zumindest, dachte sie, dass man mich in der Weise gleich behandelt, wie man es erwarten kann, wenn man die Tochter des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist.
Weißes Haus, Oval Office 14. September, 2030 Uhr Ortszeit Präsident Bill Baker stand wartend allein am Fenster. Draußen lärmten tausende Demonstranten, die für den Einsatz von Atomwaffen eintraten. Viele von ihnen waren Flüchtlinge aus der Sperrzone, die Bill ihrer Meinung nach aufgegeben hatte. Sie forderten einen sofortigen Angriff mit Atomwaffen auf die chinesischen Truppen. Aber der dreiundvierzigjährige republikanische Präsident war davon überzeugt, dass ein Atomkrieg das Ende des Landes bedeuten würde, dessen Überleben man ihm anvertraut hatte. 41
An der Tür tauchte Bills persönliche Sekretärin auf. Hinter ihr standen – mit todernstem Gesichtsausdruck -r fast ein Dutzend Agenten vom Secret Service. »Der Nationale Sicherheitsrat hat sich im Lageraum versammelt«, berichtete sie. »Gleich wird Mrs Roberts zu Ihnen kommen.« Präsident Baker nickte und wandte sich wieder den Demonstranten zu, die Sprechchöre vortrugen und Transparente mit obskuren Anspielungen auf das Alte Testament schwenkten. »Kein Chinese darf seinen Stiefel auf amerikanischen Boden setzen!«, verkündete ein Plakat. Auf einem anderen standen weitere reißerische Sprüche: »Tun Sie Ihren Job! Retten Sie Amerika! Werfen Sie die Bombe!« Aber Bill verstand sehr gut, was nur eine Hand voll Menschen in Washington und Peking begriffen hatte: das Gesetz von Armageddon. Trotz aller Fortschritte der Raketentechnologie hatte sich an einer Tatsache seit der Frühzeit der nuklearen Ära nichts geändert: Das Resultat eines Atomkriegs zwischen zwei annähernd gleich starken Atommächten würde definitiv die Vernichtung beider Krieg führenden Staaten sein. In einem Atomkrieg zwischen Amerika und China würden sich beide Seiten mehrfach heftig angreifen, ohne dass dabei eines der Länder schlagartig ausgelöscht würde. Ein Atomkrieg des beginnenden 21. Jahrhunderts würde sich über Wochen und Monate hinziehen – eine Hölle auf Erden, in der die Menschen langsam sterben würden. Die Strategie der Abschreckung mit ihrer Drohung der sicheren gegenseitigen Vernichtung war durch die der in die Länge gezogenen Angriffe auf die feindlichen Randstellungen ersetzt worden. Wiederholte Angriffe durch Marschflugkörper mit Atomsprengköpfen würden die Verteidigungsvorrichtungen beider Länder von den Küsten her funktionsunfähig machen und sich dann gegen die Bergregionen und das zentrale Herzland richten. Wenn die großen Ebenen im Westen der Vereinigten Staaten getroffen wurden, da war sich Bill Baker sicher, wäre das das Ende. »Du musst Stephie aus der Army herausholen!«, ertönte Rachel Roberts’ gequält klingende Stimme. Als Bill sich umwandte, schloss seine Sekretärin gerade die Tür hinter seiner Exfrau, der Mutter von Stephie, seiner einzigen Tochter. »Sie ist erst achtzehn, und sie wird sterben. Deine Tochter wird sterben, Bill, mit achtzehn Jahren! Du bist ihr Vater! Es wird Zeit, dass du dich auch wie einer verhältst!« Rachels bissige Bemerkung tat ihm nicht etwa weh, sie widerte ihn nur 42
an. Wie kann sie sich nur erdreisten…?, dachte er hasserfüllt. »Ich kann Stephie nicht vom Militärdienst ausnehmen!«, erklärte er, obwohl er am liebsten genau das getan hätte. »Schließlich bin ich derjenige, der den Einsatz weiblicher Soldaten bei der kämpfenden Truppe angeordnet hat. Selbst bei meiner eigenen Tochter kann ich da keine Ausnahme…« »Ich wette, dass du noch nicht einmal über das Risiko nachgedacht hast, dass Stephie in Gefangenschaft geraten könnte!«, sagte Rachel in anklagendem Tonfall. Bill sprach es nicht laut aus, aber mit dieser Unterstellung lag sie falsch. Die Vereinigten Stabschefs hatten ihn vor diesem Risiko gewarnt. Dennoch hatte er damals den Eindruck gehabt, dass sie unnötigerweise in allzu drastischen Details schwelgten. Andererseits gab es bei den Chinesen anscheinend eine gewisse Tradition, sich durch den Gebrauch und Missbrauch von Gefangenen einen Vorteil zu verschaffen. Wann immer sich seine Gedanken diesem Thema auch nur näherten, fühlte Bill sich miserabel. »Du machst dir einzig und allein um den politischen Schaden Sorgen!«, sagte Rachel vorwurfsvoll. »Um zu verhindern, dass man dir in den Meinungsumfragen ein blaues Auge verpasst, setzt du das Leben unserer einzigen Tochter aufs Spiel. Und das alles nur wegen einer ergreifenden Anekdote in den Geschichtsbüchern! ›Die Tochter des Präsidenten kam bei der Verteidigung ihres Vaterlandes ums Leben!‹ Aber das wird nicht in den Geschichtsbüchern stehen, Bill! Nicht dann, wenn sie von den Chinesen geschrieben werden! Dir wird die Ehre gebühren, für alle Zeiten als der letzte Präsident der Vereinigten Staaten in die Geschichtsbücher einzugehen!« Damit hatte sie einen wunden Punkt berührt. Bill wurde von einem grauenhaften Schauder erfasst. Plötzlich wäre er am liebsten in Panik davongerannt. »Wo ist die 41st Infantry Division?«, fragte Rachel mit wütend zusammengebissenen Zähnen. Bill schwieg. »Wo genau hält sich die Einheit meiner Tochter auf?«, kreischte sie laut. Die Tür flog auf, und die Beamten vom Secret Service betraten mit gezückten Waffen den Raum. Als Bill den Kopf schüttelte, verschwanden sie wieder. Wenn ich es ihr sage, wird sie jeden Einzelnen von Stephies Offizieren persönlich wie eine Dampfwalze plattmachen, dachte er selbstquälerisch. Sie wird hinfahren und 43
Stephie aus der Höhle des Löwen herausholen. Ach, wie sehr er sich danach sehnte, dass es so kommen würde. Dennoch antwortete er mit lebloser Stimme: »Es wäre gegen die Gesetze, wenn du zu ihr fährst.« Rachel wollte losschreien, doch Bill versuchte, sie zur Vernunft zur bringen. »Wir können es nicht zulassen, dass Eltern einfach mal so bei den Einheiten ihrer Kinder vorbeischauen! Außerdem unterliegt die Stellung militärischer Einheiten der Geheimhaltung, Rachel.« »Du bringst meine Tochter um, du Dreckskerl!«, brüllte sie. »Du weißt, warum sie sich freiwillig für die Infanterie gemeldet hat, oder? Wegen dieser blöden zweitklassigen Filme, in denen du mitgespielt hast, bevor du in dieses schmutzige politische Geschäft eingestiegen bist! Als wir die Sachen aus Stephies Zimmer zusammengepackt haben, sind wir über eine Kiste mit DVDs gestolpert. Bill Baker – Space Marine! Vielleicht hätte ich euch nicht so strikt auseinander halten sollen. Dann hätte sie mitgekriegt, was für ein Mistkerl du bist! So wie die Dinge jetzt liegen, hält sie dich für einen Helden, weil du diese grauenhaften Filme gedreht hast! Was für heroische Taten hast du im wirklichen Leben vollbracht? Nenn mir nur ein einziges Beispiel!« Bill ließ sie stehen und ging auf die Tür zu. »Du Schwein! Du wirst es nicht einmal für deine Tochter tun!« Er stürmte aus dem Oval Office, während Rachel in seinem Rücken kreischte: »Herzloser Feigling!« Bill eilte durch die Sicherheitskontrollen. Mittlerweile hatte er etliche Berater im Schlepptau, die ebenfalls überprüft werden mussten. An einem Metalldetektor fiel sein Blick auf einen stämmigen Muskelprotz mit kurz geschorenen Haaren. Der Anzug wirkte bei dem stiernackigen Mann irgendwie deplatziert. Seine für Termine zuständige Sekretärin nahm die Veränderungen vor, die durch die fünfminütige Auseinandersetzung mit Rachel erforderlich geworden waren. »Wer ist das?«, fragte Bill und zeigte auf den Muskelprotz, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und unter seinem zu großen Jackett eine große Waffe verbarg. »Er kommt vom Secret Service«, antwortete die Sekretärin. »Ich möchte in meinem Security-Team keine neuen Gesichter sehen«, ordnete Baker an. »Sagen Sie das dem verantwortlichen Special Agent, okay? Ich wünsche niemanden zu sehen, den ich nicht kenne oder persönlich vorschlage.« Während die Sekretärin sich eine Notiz machte, öffneten sich die Türen des Aufzugs. Der unangenehme Adrenalinstoß ließ Bills 44
Herz schneller klopfen. Seine Panikanfälle wurden schlimmer und traten immer häufiger auf. Er wandte sich von dem Aufzug ab und ging stattdessen den Korridor hinunter. Im Augenblick war er noch nicht so weit, um die Rolle des Oberbefehlshabers übernehmen zu können.
Mobile, Alabama 14. September, 20 40Uhr Ortszeit Trotz der abendlichen Stunde war die Luft unangenehm. Ein nachmittägliches Gewitter hatte stickige, feuchte Luft zurückgelassen. Captain Jim Hart von den U.S. Army Special Forces kletterte die Leiter zu dem getarnten Hochstand für die Rehjagd hinauf. Mit der Linken umklammerte er die Sprossen der Leiter, mit der Rechten seine H&K-Maschinenpistole. Die Gummisohlen seiner Kampfstiefel verursachten keinerlei Geräusch. Oben angekommen, spähte er in den kleinen dunklen Raum, an dessen Wänden Gewehre mit langen Zielfernrohren lehnten. Schwach vernehmbares Schnarchen verriet ihm, wo sich die beiden Männer aufhielten. Sie lagen nebeneinander in offenen Schlafsäcken, deren Reißverschlüsse nicht zugezogen und die oben zurückgeschlagen waren. Offensichtlich wollten sie sich durch die Brise kühlen lassen, die auch in dieser schwülen Nacht gelegentlich herüberwehte. Hart hängte die MP über seine Schulter und zog sein Messer aus der Scheide. Die fast fünfundzwanzig Zentimeter lange Klinge war von einem dumpfen Schwarz, nur an den scharfen Seiten glänzte sie silbrig, da sie an einem an der Scheide befestigten Stein geschliffen worden war. Vorsichtig kletterte Hart zwischen die beiden Männer in den engen Raum. Sie hatten beide fettiges graues Haar und Bartstoppeln am Doppelkinn. Vermutlich waren sie Ende fünfzig oder Anfang sechzig. In dem engen Hochstand stank es, offenbar hatten sie sich länger nicht gewaschen. Auf einem kleinen Papierteller lagen noch etwas übrig geblichenes Brot und Käse, und vermutlich hatten sie zu diesem Essen die sechs Dosen Bier geleert, die jetzt knapp fünf Meter unter Hart den Waldboden verunzierten. Er presste einem der unrasierten Männer die scharfe Klinge seines Messers gegen den Hals. 45
Sofort riss der Mann seine Augen weit auf. Er blickte auf Harts mit Fettschminke geschwärztes Gesicht und öffnete den Mund. Weil Hart etwas energischer zudrückte, blieben dem Mann die Worte im Hals stecken. Hart zog die Klinge ein bisschen zurück. Dann nickte er stirnrunzelnd. »B-B-Brad«, stotterte der Mann leise. »Brad!«, wiederholte er dann etwas lauter. »Hm?«, fragte Brad benommen aus der Hefe seines Schlafs. Als er die Augen öffnete, starrte er in die Mündung von Harts H&KMaschinenpistole. »Morgenstund hat Gold im Mund«, sagte Hart. Da der Mann offenkundig Amerikaner war, seufzte Brad erleichtert auf. Hart zog das Messer von der Kehle des Mannes zurück und bohrte die Klinge in ein Stück Käse, das wegen der Wärme noch würziger schmeckte. »Auf der Jagd?«, fragte er mit vollem Mund. »Könnte man so sagen«, antwortete Brad, der sich zu seinem Freund umwandte. »Du solltest doch aufpassen!« Hart zerbrach das Baguette in mundgerechte Stücke und aß weiter. »Sie wissen«, sagte er, »dass es gegen die Gesetze verstößt, sich in der Sperrzone aufzuhalten.« Keine Reaktion. »Ich könnte Sie also festnehmen, aber unglücklicherweise habe ich keine Handschellen dabei.« Er zuckte die Achseln und demonstrierte theatralisch, dass ihm durch die Umstände die Hände gebunden waren. Schließlich kehrte er zu dem langen Baguette zurück. »Also kann ich Sie entweder abknallen oder laufen lassen, Letzteres natürlich nur gegen das Versprechen, dass Sie aus der Gegend verschwinden, bevor Sie ernsthaften Ärger bekommen.« »Sie sind wohl nicht von hier, stimmt’s?«, fragte Brad in einem fast herausfordernden Tonfall. »Nein, aus Michigan. Aber Sie haben Glück, dass ich nicht aus Charbin oder Schanghai komme. Hier draußen gibt es chinesische Spähtrupps und Aufklärungspatrouillen, die weit ins Landesinnere vorstoßen.« Hart blickte auf die hohen, sich sachte im Wind wiegenden Kiefern vor dem Hochstand. »Und die Chinesen mögen keine Partisanen. Genauer gesagt, können sie sie ganz und gar nicht leiden. Irgendwie sind sie da besonders empfindlich. Vermutlich erwarten die Chinesen, dass man nach ihrer Pfeife tanzt, schließlich haben sie eine Armee von sechzig Millionen Soldaten. Also würden sie Ihnen vermutlich nicht allzu viel christliche Nächstenlie46
be zuteil werden lassen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Tatsächlich haben sie an einer bewährten Methode aus der Neuen Welt Gefallen gefunden, wenn’s darum geht, mit Partisanen kurzen Prozess zu machen. Habt ihr beiden alten Knaben schon mal was von der ›Venezolanischen Krawatte‹ gehört?« Die beiden schüttelten den Kopf. Hart bohrte mit der Klinge ein Loch in ein Stück hartes Brot. »Man schneidet ein Loch in den Hals, steckt einen Finger rein und zieht die Zunge raus.« Er verschlang das Stück Brot mit drei Bissen. »Das erinnert dann an eine Krawatte. Haben Sie’s kapiert?« Er trank einen Schluck aus seiner Feldflasche. »Dauert ziemlich lange, wenn ich mich mal so ausdrücken darf.« Nachdem er sich die Krümel von den Händen gewischt hatte, griff Hart nach einem der Jagdgewehre und nahm den Bolzen heraus. Dann kamen die anderen drei langen Gewehre an die Reihe. »Was tun Sie da?«, fragte Brad. Hart ließ die drei Bolzen in die große Seitentasche seiner Hose gleiten und trat auf die Leiter hinaus. »Ihr Leben retten«, antwortete er. »Und jetzt gehen Sie nach Hause.« »Das hier ist unser Zuhause«, erwiderte Brad. »Dann kümmern Sie sich um Ihre Familien.« »Hab’ keine«, sagte Brad. »Meine Frau ist vor ungefähr vierzehn Jahren gestorben, Kinder harten wir nicht. Der gute Willy hier… Na, seine Frau hat ihm vor einer Weile reinen Wein eingeschenkt und ihn verlassen, und sein einziger Sohn war bei den Marines…« Willy ließ den Kopf hängen. Zunehmend verärgert blickte Hart von einem zum anderen. »Jetzt passen Sie mal gut auf! Wenn Sie unbedingt die verdammten Chinesen bekämpfen wollen, sollten Sie wenigstens der Miliz beitreten.« »Die wollen uns nicht«, antwortete Willy. »Älter als sechzig darf man da nicht sein. Wir beide sind ein paar Jahre drüber.« Hart ließ den Blick über das umliegende Gelände schweifen. Die Interstate 65, die aus dem Landesinneren zum Hafen von Mobile führte, hatten sie von hier aus im Visier. In ausgedehnten Lagebesprechungen während der Vorkriegszeit war Hart darüber informiert worden, dass die Interstate von den Chinesen als wichtigster Nachschubweg vorgesehen war. Bei 47
einer Entfernung von fünfhundert Metern lag sie in der Reichweite ihrer Jagdgewehre. Die Bäume, deren Zweige bei jedem Windstoß an der Stahlwand des Hochstands entlangstrichen, boten Deckung, wenn sich Vorhutpatrouillen näherten, die sich zunächst wahrscheinlich nicht allzu weit vom Highway entfernen würden. Dennoch würden dieselben Bäume auch den Chinesen Deckung bieten, wenn sie die beiden alten Männer aus dem Weg schaffen wollten. Aber die beiden Möchtegern-Scharfschützen würden wahrscheinlich gar nicht so lange durchhalten. Eine von einem Panzer auf der Straße abgefeuerte Granate würde die Entfernung in einem Sekundenbruchteil überwinden. »Das ist keine gute Idee«, riet Hart zum letzten Mal. »Hier draußen werden Sie es nicht überleben.« »Das wissen wir selbst«, antwortete Brad. Willy nickte zustimmend. »Zunächst haben wir daran gedacht, uns wie Terroristen Bomben an den Körper zu binden, aber wir hatten Angst, uns zu früh in die Luft zu jagen. Schließlich haben wir uns auf das besonnen, was wir können. Wir sind verdammt gute Schützen.« Willy nickte. Stirnrunzelnd blickte Hart sich ein letztes Mal um. Dann ließ er die vier Bolzen geräuschvoll auf den Stahlboden des Hochstandes fallen. Die beiden Männer starrten erst auf die Bolzen, dann blickten sie Hart an. »Ich meine es ernst mit der Prognose«, warnte Hart, »was Ihnen bei einer Gefangennahme droht. Passen Sie auf, dass es nicht so weit kommt, okay? Wenn die Chinesen Sie umzingeln, müssen Sie den Job selbst erledigen. Im Klartext: Sie müssen sich selbst das Leben nehmen, bevor die es tun… auf die langsame Art und Weise. Haben Sie mich verstanden?« Nach einer kurzen Pause nickten die beiden Männer erneut. Willy schien schwer schlucken zu müssen. »Wir haben uns alles reiflich überlegt«, sagte Brad. »Wir beide haben nie was wirklich Außergewöhnliches getan, und das werden wir jetzt nachholen, selbst wenn nie jemand was davon erfahren sollte.« Willy nickte. Die Bäume rauschten, als vom Golf von Mexiko eine Brise heraufzog. Ein dumpfes Geräusch veranlasste Brad und Willy, einen Blick auf den Boden des Hochstandes zu werfen. Wegen des trüben Mondlichts dauerte es eine Weile, bis sie die an einen Tannenzapfen erinnernde Granate sa48
hen, die Hart neben die Bolzen fallen gelassen hatte. »Viel Spaß bei der Jagd«, sagte Hart, während er die Leiter hinabzusteigen begann. »Wünschen wir Ihnen auch«, antwortete Brad, und Hart vermutete, dass sein Freund Willy zustimmend nickte.
Weißes Haus, Kartenraum 14. September, 20 45 Uhr Ortszeit Weil er innerlich so aufgewühlt war, suchte Präsident Bill Baker im Kartenraum Zuflucht. Jahrzehntelang hatten hier informelle Treffen stattgefunden – man hatte Kaffee oder Tee getrunken, Empfänge gegeben oder Interviews für das Fernsehen aufzeichnen lassen. Doch Bill hatte angeordnet, dass der Raum wieder für seinen ursprünglichen Zweck reserviert werden sollte. Folglich bewachten jetzt Männer vom Secret Service die Tür. Auf den in die Tischplatten eingelassenen Monitoren standen elektronische Karten mit streng geheimen militärischen Informationen. Bill stand vor einem flachen Bildschirm mit hoher Auflösung, der eine Karte des amerikanischen Südens zeigte. Das blinkende blaue Symbol von Stephies Einheit entdeckte er auf einer Karte von Nordalabama. Die 41st Infantry Division war direkt in die Gefahrenzone verlegt worden, und dafür war er verantwortlich. Weil er angeordnet hatte, dass alle Frauen eingezogen und etlichen Tests unterworfen werden sollten, war Stephie jetzt in Alabama. Sie und ihre Altersgenossinnen waren jung, intelligent und patriotisch, im Wohlstand aufgewachsen, gut ernährt und körperlich durchtrainiert. Zwanzig Prozent würden sich für den Eintritt in die Infanterie qualifizieren. Nachdem ihr Land diesen jungen Frauen jeden nur erdenklichen Vorteil und jedes Privileg eingeräumt – seine Töchter gleichsam gehegt und gepflegt – hatte, war es jetzt darauf angewiesen, dass sie im Gegenzug ihr Leben für ihre Heimat aufs Spiel setzten. Angesichts dieser entsetzlichen Wahrheit schloss Bill die Augen. Es war eine Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes, doch diesmal hatte das Ganze eine sehr persönliche Komponente. Vor ein paar Monaten hatte sich Bill hinter geschlossenen Türen im Oval Office mit General Adam Cotler getroffen, der Vorsitzender der 49
Vereinigten Stabschefs und ranghöchster General der Army war. Damals trug Cotler Bill den offiziellen Bericht der Militärs vor. »Ihre Tochter, Sir, ist einen Meter siebzig groß und wiegt gut fünfzig Kilogramm. Ihre Gesundheit ist ausgezeichnet. Morgen beginnt sie mit der achtwöchigen Grundausbildung.« Acht Wochen später nahm Cotler sich während Bakers letzter Reise zu den Hawaii-Inseln einen Augenblick Zeit. Der Präsident hatte gerade eine mitreißende Rede vor der 3rd Division des U.S. Marine Corps gehalten, die sich in den Sand und die Vulkanasche eingegraben hatte. »Die erste Hälfte der Infanterie-Grundausbildung hat sie hinter sich«, berichtete dotier. »Sie gehört zu den zwanzig Prozent, die als Beste abgeschnitten haben.« Bill nickte und unterdrückte ein Lächeln. Bald würden alle herausfinden, was Bill längst wusste: Stephanie Roberts war eine außergewöhnliche junge Frau. »Diese zwanzig Prozent beziehen sich auf alle Rekruten, Männer und Frauen.« Cotler berichtete weiter, und Bill brachte es nicht über sich, ihm das Wort abzuschneiden. »Wegen der in Georgia herrschenden Sommerhitze hat sie etwa drei Kilogramm verloren, sodass sie jetzt noch knapp fünfzig Kilo wiegt«, sagte Cotler leise. »Aber dafür ist sie verdammt stark. Sie kann das komplette Marschgepäck tragen: Gewehr, Munition, Rucksack, zusätzliche Munitionsgurte für Maschinengewehre, Granaten, Raketen und Mörser.« »Einen Augenblick, General!«, unterbrach Bill. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass Stephie… dass sie bei der Infanterie landen wird?« Cotlers Nicken verriet aufrichtiges Mitgefühl. »Heutzutage sind die jungen Frauen sehr athletisch, Sir. Nehmen Sie eine achtzehnjährige Fußballspielerin wie Ihre Tochter, und vergleichen Sie sie mit einem männlichen Internet-Junkie. Sie wären überrascht, wie gut die Frau abschneidet.« Er blickte Baker direkt in die Augen. »Faire Tests sind manchmal trügerisch, Mr President. Von den geistig und körperlich fittesten Frauen kommen die besten zwanzig Prozent zur Infanterie. Ihre Tochter, Sir, gehört zu den besten drei Prozent aller weiblichen Rekruten. Ihre körperliche Kraft hat ein ganz klein bisschen nachgelassen, aber was geistige Stärke und Führungsqualitäten angeht, die nach sechzehn Wochen von den Ausbildern abschließend beurteilt werden, hat sie absolut großartig abgeschnitten. In ihrem Grundausbildungs-Bataillon, zu dem dreihun50
dert Männer und dreihundert Frauen gehörten, hat sie den ersten Platz belegt.« Hilflos hatte Bill mit ansehen müssen, wie die Entwicklung ihren Lauf nahm. Mit leiser, schuldbewusst klingender Stimme erläuterte Cotler, welche Alternativen er Stephie offeriert hatte: Kommunikation, militärischer Nachrichtendienst, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit. Sie aber habe darum gebeten, tatsächlich sogar ausdrücklich verlangt, zur Infanterie zu kommen. Bill schloss die Augen und rieb sich das Gesicht. »Tun Sie, was Sie können«, sagte er dann. Bei einem späteren Treffen hatte Cotler erklärt, er habe Stephies Einheit einem guten Mann anvertraut. »Vom Secret Service?«, fragte Bill. Cotler schüttelte den Kopf. »Der Mann heißt Ackerman, vormals Major Ackerman. Er war Ausbilder an der Advanced Infantry School, jetzt ist er Lieutenant Ackerman und der neue Platoon-Führer Ihrer Tochter. Nichts gegen die Bodyguards vom Secret Service, Sir, aber im Ernstfall kann er besser auf Ihre Tochter aufpassen.« Bill entgegnete, dass es den Mann doch ärgern müsse, vom Major zum Lieutenant degradiert worden zu sein. »Als Lieutenant wird er nur in den offiziellen Akten geführt, ansonsten bleibt er Major«, antwortete Cotler. »Außerdem hat er sich freiwillig für den Job gemeldet, Sir.« Überrascht hob Baker die Augenbrauen. »Das war seine einzige Chance, seinen alten Job als Ausbilder loszuwerden und zu einer kämpfenden Einheit zu kommen«, erläuterte Cotler. »Na ja, wir haben ihm keine andere Versetzung angeboten.« Das Klopfen an der Tür katapultierte Präsident Baker in die Gegenwart zurück. Als er gerade aufstand, betrat Admiral Thornton den Raum, der neue oberste Präsidentenberater der Navy, der auch Mitglied der Vereinigten Stabschefs war. Mit tiefer, an eine Beerdigung gemahnender Stimme berichtete der kurz als »CNO« bezeichnete Oberbefehlshaber der Navy, dass Guantanamo Bay, der amerikanische Militärstützpunkt auf Kuba, kurz vor dem Fall stehe. Bill fühlte sich erschöpft. »Wie viele Ihrer Leute sind noch einsatzbereit?«, fragte er. »Fünfzehntausend Matrosen und etwa achttausend Marines«, sagte Admiral Thornton nach kurzem Zögern. Die sind immer noch nützlich, dachte Bill, während er tief durchatmete. Anschließend gab er einen Befehl, dessen Wortlaut er sich bei vorherigen 51
Gelegenheiten eingeprägt hatte und der den Militärs nicht erklärt werden brauchte. »Solange noch irgendeine realistische Möglichkeit auf halbwegs aussichtsreichen Widerstand besteht, müssen sie weiterkämpfen, Admiral.« Das war’s, dachte Baker. Er hatte den Befehl erteilt. Wieder zögerte Thornton einen Augenblick. Offensichtlich war er nicht sofort bereit, den Befehl weiterzuleiten. Mit festem Blick starrte der Admiral den Präsidenten an. Der musste all seine Willenskraft mobilisieren, um nicht schuldbewusst die Augen abzuwenden. Schließlich war es Thornton, der Bakers Blick auswich. »Jawohl, Sir«, murmelte er, bevor er sich leise aus dem Raum zurückzog. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss, und Bill ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte das Gesicht in beide Hände. »O mein Gott«, stöhnte er mit geschlossenen Augen. Er gestattete es sich, einen Augenblick lang an nichts zu denken. Bill war Oberbefehlshaber der bewaffneten Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, und jetzt erwartete ihn der Nationale Sicherheitsrat, damit er die definitiven Befehle hinsichtlich der Verteidigung der USA gegen eine Invasion der chinesischen Armee gab. Er brauchte Zeit, um sich auf die Erfüllung jener Pflichten vorzubereiten, die man von ihm erwartete. Zeit, in der er sich weiter mit der heutzutage in Amerika und der restlichen freien Welt am häufigsten gestellten Frage abquälen konnte: Wie zum Teufel konnte es nur so weit kommen? Vor fast zwei Jahren war Bill Baker zum Präsidenten gewählt worden. Als Vorsitzender des Senatskomitees für die bewaffneten Streitkräfte hatte er die Kassandrarufe im amerikanischen Troja angestimmt und wieder und wieder vor der wachsenden chinesischen Bedrohung gewarnt. Damals schenkte man ihm keinerlei Gehör. Die früh in Pension gehenden Sprösslinge der Baby-Boom-Ära plünderten die sozialen Sicherungsnetze, was auf Kosten der nationalen Verteidigung ging. Sie waren nicht bereit, ihre Kinder vom College zu nehmen und sie nach Asien zu schicken, damit sie die territoriale Aggression der Chinesen bekämpfen konnten! Und natürlich wollte auch niemand einen Atomkrieg riskieren, um Himmels willen. Nicht einmal die Inder, die ihre Atomraketen durch Handgranaten in ihren Silos vernichtet hatten, damit sie den Chinesen nicht intakt in die Finger 52
fielen. Doch schon lange davor hatte es einen ersten wichtigen Meilenstein auf dem langen Weg gegeben, der schließlich zur Invasion Nordamerikas führen sollte: die kurze, aber bizarre »Satellitenkrise«, die mittlerweile zehn Jahre zurücklag. Damals begrüßte man sie euphorisch als den ersten unblutigen Krieg, aber aller Wahrscheinlichkeit nach war es auch der letzte unblutige Krieg gewesen. Peking hatte stets behauptet, die Überflüge von Spionagesatelliten verletze die territoriale Souveränität Chinas, aber niemand schenkte diesen Protesten viel Beachtung. Zumindest so lange nicht, bis China die Funktionstüchtigkeit seines neuen Raketenabwehrsystems demonstrieren wollte und kurzerhand alle militärischen Aufklärungssatelliten westlicher Staaten vom Himmel holte. Die USA und Europa zahlten das mit gleicher Münze heim, bis ihre Telekommunikationsunternehmen, für’ die hunderte von Milliarden in die Satellitentechnik investiertes Kapital auf dem Spiel standen, nachdrücklich darauf drängten, ein Abkommen über einen demilitarisierten Weltraum auszuhandeln. So wurde die militärische Aufklärung um vierzig Jahre zurückgeworfen, was für das technologisch hinter dem Westen herhinkende China einem großen Vorteil gleichkam. Statt mit den gewohnten EchtzeitSatellitenbildern mussten sich westliche Kommandeure jetzt wieder mit Scherenfernrohren und Radarschirmen zufrieden geben, und ihre Kollegen von den Geheimdiensten waren auf Spione angewiesen, die meistens, wie sich später herausstellte, chinesische Doppelagenten waren. Aus dem eroberten Korea drangen keinerlei Nachrichten mehr nach außen. Dort benutzten die Chinesen ursprünglich für Supertanker vorgesehene Kiele für den Bau riesiger Flugzeugträger, die dreihundert Kampfflugzeuge tragen konnten. Aber die Gerüchte über Chinas geheimes Schiffsbauprogramm waren von zweitrangigem Interesse für eine Welt, die sich über den gleichzeitig in Südasien wüteten Landkrieg erregte. Selbst nachdem etliche der Schiffe bereits in Dienst gestellt worden waren, wurde ihre Bedeutung weiterhin übersehen, weil alle Welt sich auf Chinas Vorstoß zu Lande konzentrierte, der sich immer mehr dem Mittleren Osten näherte. Die Kräfteverhältnisse auf See hatten sich unausweichlich geändert, und zugleich war die Ära strategischer Überraschungen zurückgekehrt. Die Bedeutung beider Veränderungen wurde auf dramatische Weise evident, als China die zusammengeführten Marineflotten der westeuropäischen Länder besiegte. 53
An der Mündung des Persischen Golfs war China heftig mit der Europäischen Union zusammengestoßen. Für die Europäer war es der erste wirkliche Test hinsichtlich ihrer so lange angestrebten militärischen Selbstständigkeit. Die europäische und chinesische Flotte bekämpften sich im Indischen Ozean, bis schließlich eine zuvor unbekannte dritte Flotte aus China eintraf. Die europäischen Kommandeure waren hinsichtlich des bevorstehenden Debakels einzig durch Radarschirme gewarnt worden, auf denen dreitausend chinesische Kampfflugzeuge zu sehen waren. Die Schlacht von Diego Garcia war eine Neuauflage der Schlacht von Midway vom Juni 1942, allerdings bestand der Unterschied darin, dass diesmal die aufsteigende asiatische Seemacht gewann. Amerikas demokratische Regierung, angeführt von Bakers Vorgänger, sah sich vor zwei Alternativen gestellt: Man konnte weitere Flugzeugträger bauen oder aber potenziell revolutionäre Arsenalschiffe, deren Entwicklung jedoch eine längere Vorlaufzeit benötigte. Während sich Erstere gegen drei oder vier chinesische Super-Flugzeugträger behaupten konnten, handelte es sich bei Letzteren um völlig ungetestete Raketenplattformen. Einige Experten argumentierten, dass es in so gefährlichen Zeiten viel zu riskant sei, auf die neuen Arsenalschiffe zu setzen. Besser sei es, sich auf die bewährten Flugzeugträger zu verlassen, deren grundsätzliche Konstruktion sich schon seit fünfzig Jahren bewährt habe. Doch andere hielten dagegen, riesige Arsenalschiffe würden Amerikas Vorherrschaft auf See für Generationen sichern, weil tausende von sofort startbereiten Marschflugkörpern sie zehnmal schlagkräftiger machten als einen Flugzeugträger. Um die richtige Entscheidung zu treffen, wurden Studien in Auftrag gegeben und Kommissionen zusammengestellt. Schließlich war diese Entscheidung äußerst wichtig und darüber hinaus mit riesigen Kosten verbunden. Außerdem bestand die Möglichkeit politischer Komplikationen, weil nicht entschieden war, welcher mächtige Kongressabgeordnete die Aufträge für den Bau welcher Schiffe zu sich nach Hause holen würde. So wurde wertvolle Zeit verplempert. Unterdessen waren der Iran, Kuwait, der Irak, Saudi-Arabien und Jordanien gefallen – teils durch chinesischen Druck, teils durch direkte Invasion. Als China schließlich Syrien und den Libanon besetzte, war Israel eingekesselt. Der israelische David und der chinesische Goliath sprachen wechselseitig Warnungen aus, die tragischerweise aber auf beiden Seiten 54
keinerlei Gehör fanden. Dann griff Israel mit taktischen Atomwaffen chinesische Truppen an, die auf den nördlich gelegenen Golan-Höhen zusammengezogen worden waren, doch das verschaffte dem Land nur eine kurze Ruhepause. Schließlich wurde Israel durch einen massiven Angriff aus dem Süden erobert. An den Bildschirmen wurde die ganze Welt Zeuge, wie chinesische Truppen Tel Aviv abriegelten. Der Bevölkerung war es nicht gestattet, die Stadt zu verlassen, und die Chinesen entschieden sich für eine demonstrative Bestrafung der Einwohner. Während auf den Bildschirmen eine Uhr allen deutlich machte, dass der Count-down lief, verdammten chinesische Generäle vor den Augen der ganzen Welt den Einsatz von Atomwaffen. Als der Count-down abgelaufen war, zündeten die Besatzer in der und um die besetzte Hauptstadt herum ein halbes Dutzend »spezieller« Atomwaffen, was hunderttausende Todesopfer und Verletzte zur Folge hatte. Weil jetzt niemand mehr daran zweifeln konnte, dass die Chinesen mit gleicher Münze zurückzahlen würden, war diese Machtdemonstration ein Erfolg auf der ganzen Linie. Senator Baker, der entschieden für ein starkes Amerika eintrat, startete seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten just in dem Augenblick, als die nationale Verteidigung in den USA zum alles bestimmenden Thema wurde. Am Ende jener Woche, die der chinesischen Eroberung der Kanarischen und der Kapverdischen Inseln vor der Nordwestküste Afrikas – der zweite wichtige Schritt auf dem Weg nach Amerika – unmittelbar vorausging, klingelten in Bills Wahlkampfkasse bereits siebzehn Millionen Dollar, die hauptsächlich von politischen Aktionskomitees der Konservativen und großen Rüstungsfirmen stammten. Am Ende der nächsten Woche hatte sich das Spendenaufkommen bereits verdoppelt, wobei die durchschnittliche Summe der Spenden knapp fünfunddreißig Dollar betrug. Angesichts der Errichtung von chinesischen Militärstützpunkten im östlichen Atlantik war Bills Kampagne schnell ins Rollen gekommen, und er hatte jede Menge neuer Anhänger gewonnen. Ungewöhnlich war freilich, dass Bills Mentor von der anderen Seite des Capitol Hill kam. Schon Jahre zuvor hatte der hochgradig respektierte Tom Leffler, seines Zeichens Sprecher des Repräsentantenhauses, Gefallen an dem jungen Senator aus Kalifornien gefunden. Vielleicht lag das daran, dass Bill, der weltgewandte frühere Hollywood-Schauspieler, so völlig anders war als Tom, der dem typischen Bild des barschen und alt55
modischen Politikers aus den Südstaaten entsprach, vor den Kameras Witze riss und gegrillte Rippchen verzehrte. Eventuell ging Lefflers Eintreten für den jungen Senator aber auch auf die Initiative seiner Frau Beth zurück, in der Bill das Geheimnis von Toms Erfolg sah. Schon früh hatte Beth in Bills Persönlichkeit das politische Potenzial erkannt, dass ihr vierzig Jahr zuvor auch bei ihrem Mann aufgefallen war. Wie auch immer, Tom und Beth Leffler kümmerten sich um den geschiedenen Bill und nahmen ihn häufig zu den richtigen Mittagessen, Dinnerpartys, Golfpartien, privaten Festen und politischen Besprechungen mit. Ihre Protektion kam Bills politischer Karriere zugute. Und in jenem schicksalhaften Jahr, als Bill zum Karrieresprung ansetzte und vom jungen Senator zum wichtigsten Mann der Vereinigten Staaten werden wollte, lief zwar für ihn alles bestens, doch für die bedrängte westliche Welt insgesamt ging alles schief. Ganz Europa hatte mit ansehen müssen, wie die erstaunlich fähigen Chinesen mit ihren Truppentransporten über das Meer historische logistische Meisterleistungen der Amerikaner in den Schatten stellten. Transportschiffe mit einer Frachtkapazität von einer halben Million Tonnen setzten drei Millionen Mann auf jenen Inseln ab, die für China strategisch wichtige Stützpunkte im Atlantik waren. Zugleich ungläubig und verängstigt erwarteten alle die scheinbar unvermeidliche Invasion Europas durch die Chinesen. Zu dem Zeitpunkt, als in Iowa gerade die Wahlversammlung stattfand, auf dem die Partei endgültig ihren Kandidaten für die Präsidentschaft benennen wollte, ging der Kongress hinter einer massiven Aufstockung des Verteidigungsbudgets politisch in Deckung. Die Studien der renommierten Experten waren eingegangen, und der Rüstungshaushalt wurde in einer noch nie da gewesenen Weise aufgestockt: Für den Bau von drei Furcht erregenden, neuen Arsenalschiffen wurden einhundert Milliarden Dollar locker gemacht. Von diesen 500.000-Tonnen-Ungetümen mit flachen Decks würde man nicht einfach nur bemannte Flugzeuge starten lassen, die dann eine leichte Beute der feindlichen Luftabwehr würden. Stattdessen würden von Bord dieser riesigen Schiffe LangstreckenMarschflugkörper abgefeuert werden, und zwar alle sechs Minuten achttausend Raketen. Fast jeder Quadratmeter der Decks würde mit gepanzerten, vertikalen Startvorrichtungen bedeckt sein. Durch automatisches 56
Nachladen und die von Robotern übernommene Wartung würde sich die Crew dieser Schiffe auf weniger als einhundert Männer und Frauen reduzieren, die meisten davon Offiziere. Der Kommandant würde die Schlacht anhand von Videoaufnahmen verfolgen, wobei ihm die Bilder von in den Raketensprengköpfen montierten Kameras geliefert wurden. Durch die Raketen sollten Ziele in der Luft, zu Lande sowie auf dem und unter Wasser angegriffen werden können. Noch als Kandidat sah Bill damals die beeindruckenden, von einem Simulator erstellten Computerbilder des Angriffs, anhand derer sich der Kommandant und die Crew eines Schiffs ausbilden sollten, dessen Kiellegung gerade erfolgt war. Baker hatte sich lautstark für den Bau der Schiffe eingesetzt, in den Debatten aber trotzdem die Ansicht vertreten, dies alles komme zu spät und sei viel zu wenig. Schließlich führte die Verängstigung der Menschen zu einer hohen Wahlbeteiligung, und im Frühjahr gewann Bill eine Vorwahl nach der anderen. Unterdessen hatte die Europäische Union eine Expeditionsarmee von einer Million Soldaten an ihre südliche Flanke entsandt, die die in einer prekären Lage steckende Türkei unterstützen sollte. Ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, gelang es den Streitkräften des vereinten Europas, dem Krieg Einhalt zu gebieten, bevor dieser den Bosporus erreichte. Aber die schnelle und entschiedene Stationierung resultierte in einer Art selbstzerstörerischem Stolz, und diese Hybris führte den europäischen Kontinent ins Unglück. Als drei chinesische Super-Flugzeugträger auf den Felsen von Gibraltar zuliefen, entsandten die Europäer ihre durch den Erfolg in der Türkei ermutigten Marinestreitkräfte in südlicher Richtung ins westliche Mittelmeer. Die Chinesen wurden an der Durchfahrt gehindert, und die Europäer feierten schon ihren Sieg, als plötzlich zehn weitere riesige chinesische Flugzeugträger auftauchten. Vielleicht war es der größte strategische Patzer in der neueren Militärgeschichte – die Überlebenden von Europas Seestreitkräften waren im Mittelmeer eingeschlossen. Obwohl es zu dieser Zeit niemand so sah, war dies der dritte Meilenstein auf dem ein Jahrzehnt währenden Weg, der China an die Küsten Amerikas führen sollte. Militärexperten hatten noch nicht einmal die Namen der chinesischen Kriegsschiffe gekannt, die plötzlich und ohne jede Vorwarnung am Horizont aufgetaucht waren. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse des Westens, der jetzt wieder ganz auf Agenten angewiesen war, von der hermetisch abgeschlossenen koreanischen Halb57
insel lauteten dahingehend, dass dort Materialknappheit und Unruhe unter den Arbeitern herrsche, doch das stellte sich als klassische chinesische Desinformation heraus. Die Jubelarien Pekings bei den offiziellen Stapelläufen verschleierten, dass zwischenzeitlich in aller Heimlichkeit drei weitere Kriegsschiffe in Dienst gestellt wurden. Europa reagierte prompt, indem es trotz des international ausgehandelten Verbots neue Spionagesatelliten startete. Zwar wurden diese sofort wieder von chinesischen Raketen vom Himmel geholt, doch zuvor hatten die Satelliten noch Bilder von den koreanischen Werften geliefert, wo Unmengen Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden. Die Echtzeitbilder hatten den Regierungen in Berlin, Paris und London die erste Ahnung davon vermittelte, dass hier weitere zwanzig riesige Flugzeugträger gebaut wurden, die sich in verschiedenen Stadien der Fertigstellung befanden. Was jetzt folgte, ließ Europa ins Chaos abgleiten. Als Rache für die Verletzung des Abkommens über die Entmilitarisierung des Weltraums schossen die Chinesen nun auch die zu zivilen Zwecken genutzten Satelliten ab. Die daraus resultierende Zerstückelung von Europas Telekommunikationssystemen war ein böses Vorzeichen für die Uneinigkeit auf dem Kontinent, die bald darauf offenkundig werden sollte. Die erbosten, von ihrer Flotte abgeschnittenen Briten zogen sich aus der Europäischen Union zurück und schickten Züge los, um ihre Soldaten zurückzuholen. Von der Türkei bis zur Küste des Ärmelkanals wurden sie mit höhnischen Bemerkungen bombardiert, an den weißen Kliffs von Dover dagegen mit Jubel empfangen. Die noch verbleibenden europäischen Expeditionsstreitkräfte wurden zum Rückzug hinter den Bosporus gezwungen, und der südlich von Istanbul gelegene Teil der Türkei fiel. Die Deutschen glaubten, dass die Chinesen nun zu Lande einen Angriff von der Türkei oder dem Kaukasus aus starten würden, doch die Franzosen waren sicher, dass sie über das Meer auf die Iberische Halbinsel oder direkt nach Frankreich vorstoßen würden. Folglich rief Frankreich seine Soldaten zurück, die entlang der Atlantikküste einen Westwall errichten sollten. Das im Stich gelassene deutsche Heer musste sich weit zurückziehen und eingraben, um den Balkan zu verteidigen, wo es täglich einen hohen Blutzoll zu bezahlen hatte, weil es ständig in Kampfhandlungen mit von China unterstützten Guerilla-Banden verstrickt wurde. Einen Monat vor Bakers Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandida58
ten zeigte die Europäische Union gefährliche Auflösungserscheinungen. Für Baker ging es im Wahlkampf nur um ein Thema, und der Gegenkandidat war ein Mann, dessen Achillesferse ausgerechnet dieses Thema war. Phillip Peller, der von den Demokraten nominierte Präsidentschaftsbewerber, hatte als Vizepräsident der letzten Regierung fungiert, der der Isolationismus wichtiger gewesen war als die Eindämmung von außen drohender Gefahren. Da Amerikas Verteidigungsverpflichtungen in Übersee abnahmen, sank auch der Bedarf an Waffen und Soldaten. Der Bau von Kriegsschiffen war fast zum Stillstand gekommen. Von ehemals elf Flugzeugträgern waren nur noch sieben in die Jahre gekommene Modelle übrig geblieben. Zwar konnten die es noch immer mit zwei oder drei chinesischen Super-Flugzeugträgern aufnehmen, aber am Tag der Wahl kamen auf einen amerikanischen Flugzeugträger schon vier chinesische. Baker und Elizabeth Sobo, seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, gewannen die Wahl mit einem erdrutschartigen Sieg in Rekordhöhe. Zur Zeit von Bakers Amtseinführung war die Stimmung enthusiastisch, und der frisch gebackene Präsident hielt eine optimistische Rede im Geiste Ronald Reagans. Wieder einmal stand Washington an der Spitze der bedrohten freien Welt. Der Dow Jones, der wegen des Zusammenbruchs des internationalen Handels einen Crash erlitten hatte, schoss himmelhoch nach oben, weil das Kapital aus Europa in die Bastion Amerika floh. Da die Ausschüttungen aus dem verdoppelten Verteidigungshaushalt Arbeitsplätze schafften und die jungen Amerikaner eingezogen wurden, herrschte praktisch Vollbeschäftigung. In aller Eile war mit dem Bau der drei Arsenalschiffe der Reagan-Klasse begonnen worden, und eins der wichtigsten Gesprächsthemen war, wie die Blockade auf dem Atlantik gebrochen werden konnte. Bakers erste Anordnung als Oberbefehlshaber bestand darin, dass drei Flugzeugträger einem Schiffskonvoi Geleitschutz geben sollten, der sich auf eine wagemutige Reise machte, um die Briten mit Nachschub an militärischem Material zu versorgen. Doch schon während des ersten Monats seiner Präsidentschaft war Bill Baker einmal mitten in der Nacht wegen äußerst irritierender Neuigkeiten geweckt worden. Entgegen allen Erwartungen hatte China nicht in Europa, sondern in der Karibik zugeschlagen. Chinesische Marineinfanteristen hatten Barbados, Grenada und St. Lucia besetzt. Jetzt stand als vorrangige Aufgabe die Verteidigung Amerikas auf dem Programm, und folglich 59
rückten die kühnen Pläne, Europa zur Hilfe zu kommen, in den Hintergrund. Ein erboster Kongress hatte eine verdutzte CIA vorerst aus dem Verkehr gezogen und die nachrichtendienstlichen Ermittlungen dem FBI anvertraut. Nach all den Pannen, die der CIA passiert seien, argumentierte der Kongress sarkastisch, sei die militärische Geheimdienstarbeit bald sowieso keine Tätigkeit im Ausland mehr, da man die Chinesen ja praktisch schon im eigenen Haus habe. Einige Experten stellten die These auf, die Landungen auf den Karibikinseln seien nur ein dreister Trick gewesen, um so zu verhindern, dass die Vereinigten Staaten den bedrängten Westeuropäern zur Hilfe kämen, die das wahre Ziel der Chinesen seien. Aber für Baker waren sie der letzte Schritt, auf den er so lange gewartet hatte. Endlich waren die Chinesen da, und er bat den Kongress um eine Kriegserklärung. Drei Tage lang wurde vor den Augen der am Bildschirm zusehenden Weltöffentlichkeit heftig gestritten. »Natürlich waren wir nicht an die isolationistische MonroeDoktrin gefesselt! Aber die Opfer…« Doch letztlich hatte die Mehrheit mit dem Sprecher des Repräsentantenhauses, Tom Leffler, gestimmt, auf den sich Bill hinsichtlich einer formellen, offiziellen Kriegserklärung verlassen hatte. Mit dem Abstimmungsergebnis – 95 zu 5 im Senat und 421 zu 6 im von Leffler kontrollierten Repräsentantenhaus – harte Amerika die Grenze nicht im Golf von Mexiko, sondern in der Karibik gezogen. Fünf Minuten nach der Abstimmung – die Tinte unter der Kriegserklärung war noch nicht getrocknet – schickte Baker zweitausend Kampfflugzeuge in den Krieg. Ein Viertel davon ging verloren, aber vorher hatten die Maschinen noch vier von acht chinesischen Super-Flugzeugträgern versenkt. Die Schlacht bei den Inseln über dem Winde wurde als Sieg verkauft, doch China hatte immer noch einen Brückenkopf in der Karibik, und im Frühjahr begann es, von Insel zu Insel weiter nordwärts vorzustoßen: Martinique, Dominica, Guadeloupe. Schließlich gingen Baker die Piloten aus, und alle zwei Wochen traf ein neuer Super-Flugzeugträger der Chinesen ein. Chinas Friedensbedingungen wurden mit jeder weiteren Landung unrealistischer. Handelszölle begannen an Tributzahlungen zu erinnern, Abrüstungsvorschläge ähnelten Forderungen nach Entwaffnung. Bakers letzter Versuch, es mit Verhandlungen zu probieren, wurde von den Chinesen mit der Forderung torpediert, ihnen die Hawaii-Inseln auf 60
lange Zeit zu verpachten. Als Baker den beleidigenden Vorschlag zurückwies, versuchte China, den fünfzigsten Bundesstaat der USA durch eine Blockade abzuschneiden. Das zog wichtige Bestandteile des amerikanischen Militärs ab: die 3rd Marine Divison, die 1st Expeditionary Brigade und das gesamte IX. Corps der U.S. Army. Konvois brachten Soldaten und evakuierten Zivilisten. Schließlich glich ganz Hawaii einem waffenstarrenden Lager, wo alles auf die unvermeidliche Invasion wartete. Nur schwach bemäntelte öffentliche Nadelstiche seines alten Mentors Tom Leffler und eindringliche, offenherzige private Bemerkungen von Air Force-General Latham zwangen Baker schließlich doch, auch über einen Atomkrieg nachzudenken. Während eines langen Wochenendes in Camp David traf er sich mit einer ganzen Prozession von Gesprächspartnern – mit apokalyptisch gestimmten militärischen Größen, Ökonomen, Historikern und Repräsentanten der verschiedenen Religionen. Am Montag verkündete er im landesweiten Fernsehen seine erste fundamentale Entscheidung dieses Krieges: Er ordnete die totale Mobilmachung an. Der Dritte Weltkrieg würde ein konventioneller Krieg sein. Ein unentschlossener Tom Leffler sorgte dafür, dass seine Gesetzesvorlage hinsichtlich der allgemeinen Wehrpflicht im Kongress durchging. Demnach wurden alle kriegstauglichen Amerikaner – Männer und Frauen – zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren eingezogen. Dennoch wiesen militärische Auguren auf Parallelen zwischen Bakers Defensivstrategie und der Taktik hin, der zuvor die Japaner gefolgt waren. Während der zweijährigen Blokkade hatte Tokio auf Mobilmachung gesetzt, aber dann war trotzdem eine Inseln nach der anderen an die Chinesen gefallen. Tatsächlich setzte Bill seine Hoffnungen nicht auf die jungen Soldaten und Soldatinnen, sondern auf die drei Arsenalschiffe, deren skelettartige, an nackte Rippen erinnernde Rümpfe man auf Werften der Ost- und der Westküste bewundern konnte. Deshalb hatte er die Gelegenheit verstreichen lassen, die Chinesen mit einem Atomangriff anzugreifen, solange sie noch in der Karibik waren. Jetzt sahen viele das als schwer wiegenden Fehler an, für den Amerika in Zukunft mit Territorium und dem wertvollen Blut seiner jungen Menschen zu zahlen haben würde. Im Rückblick auf das erste Jahr seiner Präsidentschaft verschwammen Bakers Erinnerungen. Hätte man ihn gefragt – und diese ewige Fragerei war groß in Mode –, wo er gewesen sei, als dies oder jenes passierte, hätte 61
er guten Gewissens antworten können: »In einer Lagebesprechung.« Während am sonnigen Himmel der Karibik über den verlassenen Ferienorten für die Luxustouristen erbitterte Kämpfe tobten, saß Baker in Hochsicherheitsbunkern unter der Erde, wo er sich verwackelte Fernsehbilder der kriegerischen Auseinandersetzungen ansah. Am Boden waren zuerst die Marines mit den Chinesen zusammengeprallt. Die 4th und 6th Expeditionary Brigade, jeweils sechzehntausend Marineinfanteristen und Matrosen stark, harten sich tief im Inneren von Antigua und St.Croix verschanzt, doch schon Stunden nach der Landung waren die Chinesen zahlenmäßig zehnmal so stark gewesen. Innerhalb von ein paar Tagen kamen auf einen Amerikaner einhundert Chinesen. Eine Woche nach Beginn der Kämpfe sah die vor den Bildschirmen sitzende Weltöffentlichkeit, wie ausgepowerte Marines in Gefangenenlager abgeführt wurden. Diese Demütigung mobilisierte die Bevölkerung der Vereinigten Staaten, wo einer sich gerade formierenden Friedensbewegung sofort vollständig der Wind aus den Segeln genommen wurde. Aber Mittelamerika geriet unausweichlich in den Sog der neuen Supermacht. Panama gewährte den Chinesen unbeschränkte Nutzung des Kanals, bis dieser durch Spezialeinheiten der U.S. Army zerstört wurde. Aber dieses Unternehmen empörte die Mittel- und Südamerikaner und trieb ein Land nach dem anderen noch mehr in die Arme der Chinesen. In einem halben Dutzend Hauptstädten gaben sich die Offiziellen und Behörden alle Mühe, in vorauseilendem Gehorsam chinesische Delegationen zu umgarnen. Unter dem Beifall von Menschenmengen schnitten sie die amerikanischen Botschaften von der Strom- und Wasserzufuhr sowie sonstigen Lieferungen ab. Während ihre Armee an den blutgetränkten Stränden der Karibik kämpfte, eroberten die chinesischen Diplomaten auf ihre Weise große Teile Lateinamerikas. Im Herbst des ersten Jahres von Bakers Präsidentschaft wurden chinesische Truppentransporter schließlich mit offenen Armen in Havanna empfangen. Bei jedem Transport wurde eine volle Division mit Kriegsmaterial für einen ganzen Monat angelandet. Durch diesen Truppenaufbau war Puerto Rico schnell von der Flanke des Feindes umschlossen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde nach Florida evakuiert, zurück blieb die zehntausend Mann starke 92nd Infantry Brigade. Die sechstausend Männer und Frauen, die die dreiwöchigen Kämpfe nach der chinesischen Invasion 62
überstanden hatten, gesellten sich nun zu der immer weiter ansteigenden Zahl amerikanischer Kriegsgefangener. Jetzt mussten die Amerikaner Guantanamo Bay rund um die Uhr gegen feindliche Angriffe verteidigen. Bisher waren von dem amerikanischen Militärstützpunkt auf Kuba aus sämtliche Operationen in der Karibik unterstützt worden, doch jetzt wurde die Basis zu Lande, zu Wasser und aus der Luft her angegriffen. Die 1st Marine Division und fünfundzwanzigtausend zu Schützen umfunktionierte Matrosen vollbrachten eine der größten historischen Verteidigungsleistungen. Dennoch landeten weiterhin chinesische Truppentransporter in Kuba. Jeden Freitag wurde Baker über die feindliche Truppenstärke informiert. Gegen Ende des Winters hatte sich die Zahl auf zwei Millionen verdoppelt, im Frühling warteten schon drei Millionen Chinesen auf Befehle. Im Sommer hatten schließlich vier Millionen an den nördlichen Stranden von Kuba ihr Lager aufgeschlagen. Die letzte Zahl belief sich damals auf fünf Millionen, und dennoch stieg sie täglich weiter an. Die Chinesen dominierten Amerikas schutzlos preisgegebene südliche Flanke jetzt völlig. Baker bekam ein Magengeschwür, und die Ärzte warnten ihn vor Stress. Damit zahle ich nur einen kleinen Preis, war Bakers einziger Gedanke hinsichtlich seines Leidens, das ihn jede Nacht mehrere Stunden Schlaf kostete. Die zunehmend verzweifelte Lage der Verteidiger von Guantanamo Bay führte zu seiner zweiten grundsätzlichen strategischen Entscheidung. Die bedrängten Patrioten, die für ihre Landsleute zu einem Symbol der Entschlossenheit geworden waren, durften nicht im Stich gelassen werden. Folglich schickte er in den ersten heißen Sommertagen drei Flugzeugträger durch die Straße von Havanna, die der kompletten 2nd Marine Division Geleitschutz gaben. Als unaufhaltsame Evakuierung geplant, entwickelte sich das ganze Unternehmen zu einer beispiellosen menschlichen Tragödie. Auf dem sandigen Grund des seichten Golfs warteten einhundert zwar primitive, aber wegen ihres dieselelektrischen Antriebs geräuscharme chinesische Unterseeboote, die alle drei Flugzeugträger und ein Dutzend Kampflandungsboote der Task Force versenkten. Unzählige weitere chinesische Schiffe und Flugzeuge beendeten den Job. Noch wochenlang wurden an den Küsten des Golfs von Mexiko Leichen angespült, die von Amerikas vernichtender Niederlage zeugten. Viele der 63
dreißigtausend Toten wurden von den Eltern ihrer Kameraden gefunden, die die Strande nach den Leichen ihrer Söhne und Töchter absuchten. Nacht für Nacht spielten sich in amerikanischen Wohnzimmern herzzerreißende Szenen der Trauer ab, und diese hatte letztlich die panikartige Flucht von vierzigtausend Menschen ausgelöst, die dem Süden den Rükken kehrten. Von Fort Lauderdale bis zum Rio Grande herrschte Chaos, und Bakers Berater hatten den Präsidenten bedrängt, für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aber Baker unternahm nichts, um die menschliche Flut einzudämmen oder die verängstigten Flüchtlinge zu beruhigen. Seiner Ansicht nach war ihre Panik durchaus begründet, doch er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Die Gründe für ihre Panik waren realer und nicht bloß imaginärer Natur. Durch die Niederlage in der Straße von Havanna war ganz offensichtlich geworden, dass auch die südlichen Staaten der USA unmittelbar von einer chinesischen Invasion bedroht waren. Als Admiral Thornton Präsident Baker die furchtbaren Nachrichten überbrachte, war der neue Oberbefehlshaber der Navy sichtlich erschüttert. Amerika blieben, gleichmäßig auf die Ost- und die Westküste verteilt, gerade noch vier Flugzeugträger, während die Chinesen allein im Golf von Mexiko über sechzehn Super-Flugzeugträger verfügten. An der dortigen Küste konnten sie landen, wo immer es ihnen gefiel. Baker wandte sich an den Stabschef der Air Force, aber General Latham informierte ihn, China verfüge im Golf von Mexiko über viertausend auf Flugzeugträgern wartende Maschinen, zu denen weitere, auf den Startbahnen kubanischer Flugplätze bereit stehende Maschinen kämen. Es sei ihm völlig unmöglich, so Latham, die ihm noch verbliebenen paar tausend Kampfpiloten auf selbstmörderische Aktionen gegen die Chinesen zu schicken, ohne dabei Amerikas Luftverteidigung einer entscheidenden Komponente zu berauben. Während die in großer Höhe fliegenden chinesischen Raketen und Flugzeuge von amerikanischen Boden-Luft-Raketen vom Himmel geholt wurden, war es die Aufgabe von Kampfpiloten, die heimlich, langsam und niedrig unter dem Radar hinwegfliegenden Cruisemissiles abzuschießen, deren Triebwerke auf Sauerstoff angewiesen waren. Baker machte sich gar nicht mehr die Mühe, den Commandant of the Marine Corps – den Oberbefehlshaber der Marines – um Hilfe zu bitten. Das Korps hatte die 1st und die 2nd Marine Division verloren, die 3rd Divi64
sion war auf Hawaii gestrandet. Die vierte Division, eine Reserveeinheit, errichtete Verteidigungsstellungen um New Orleans herum. Nach den Verlusten in der Karibik blieben den Marines nur noch die drei jeweils zehntausend Mann starken Marine Expeditionary Brigades. Den Ersatz für die 1st und 2nd Marine Division sowie die neue fünfte und sechste Division hatte man in Camp Pendleton und Camp Lejeune noch nicht ausgehoben. Sie würde erst im Feuerschutz der neuen Arsenalschiffe in See gehen können, wenn Amerika denn bis zu ihrer Fertigstellung durchhalten würde… Schließlich sah Baker nur noch den Ausweg, sich an General Cotler von der U.S. Army zu wenden, der es für durchaus realistisch hielt, den ersten Angriff der Chinesen am Strand zurückzuschlagen. Mit den nachfolgenden Offensiven sah es nach Meinung des Generals dann aber schon ganz anders aus. Er fügte hinzu, die Chinesen könnten genau darauf spekulieren, dass die Amerikaner ihre Reserven mobilisierten. Cotler wies den Präsidenten darauf hin, dass das den Krieg merklich verkürzen könne, und Baker lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Folglich war Baker zu einer dritten grundlegenden Entscheidung gezwungen. »Ich will ein entschiedenes Engagement«, sagte er vor den Versammelten Stabschefs. »Da wir den Krieg nicht zu den Chinesen tragen können, werden die Chinesen zu uns kommen müssen.« Baker war klar, dass die Zweifler in Uniform, die ihn jetzt ungläubig anstarrten, nicht ein einziges Mal in ihrer Laufbahn darüber nachgedacht hatten, eventuell Territorium an feindliche Invasoren verlieren zu können. Sofort nahmen sie Bakers Plan unter Beschuss. Was, wenn die Chinesen zehn Millionen Soldaten an Land brachten? »Dann werden wir eben junge Mütter und alte Männer einziehen«, antwortete Bill. Man hielt ihm entgegen, dass sich der chinesische Truppenaufbau als strategische Täuschung entpuppen könne und dass sie womöglich in New Jersey oder Kalifornien an Land gingen. »Dann werden wir eben in der Sierra Nevada und der Sierra Appalachian kämpfen, und ich will, dass Sie genau für diesen Fall einen Plan ausarbeiten.« In dieser Nacht, nachdem er die Meinungsverschiedenheiten im Nationalen Sicherheitsrat beigelegt hatte, lag Baker stundenlang schlaflos in seinem Bett. Was zum Teufel weiß ich denn schon?, dachte er. Er war Schauspieler gewesen, der Nebenrollen in Abenteuerfilmen spielte, und sein bekannter Name und sein Äußeres hatten ihm einen vakanten Sitz im 65
Senat eingetragen. Bis das Thema China brisant wurde, war seine politische Karriere eher unauffällig verlaufen. Seine Ehe mit der jetzigen Rachel Roberts, einer geborenen Bachman, die er als Studentin geheiratet hatte, war ein totales Debakel gewesen. Weil eine zweite Scheidung ihn praktisch unwählbar gemacht hätte, war Bill seitdem jeder Beziehung aus dem Weg gegangen. Das Resultat war, dass Bill Baker jetzt in seiner ganz privaten Hölle lebte und unter dem erdrückenden Gewicht seines Jobs zu zerbrechen drohte. Auch in der letzten Nacht hatte er bis zum frühen Morgen wach im Bett gelegen und sich die Frage gestellt, wann das Undenkbare zum Unausweichlichen geworden war. Im letzten Frühjahr, als er auf einer Tour durch den Süden des Landes die Silos der Raketenabwehr inspiziert und das fast permanente Dröhnen der Abfangjäger am Golf gehört hatte? Oder in der klaren Frühsommernacht an jenem verwaisten Strand in Florida, von wo aus er die an ein Gewitter erinnernden Blitze der letzten Seeschlacht in der Straße von Havanna beobachtet hatte? Oder als er im Hafen von Charleston verkündet hatte, dass die Navy eines Tages zurückkommen würde, und später an diesem Abend die Leiche des ersten chinesischen Soldaten auf amerikanischem Boden gesehen hatte, der bei einer Schießerei mit der örtlichen Polizei getötet worden war? Nein, beantwortete er seine Fragen, als neben den dicken Vorhängen das Licht der Morgendämmerung zu sehen war. Schon lange hatte er vage die Gefahr durch ein chinesisches Wiedererwachen wahrgenommen. Das von Baker geführte Land hatte dreitausend Meilen ungeschützter Küste, und wenn die Kontrolle über das Meer verloren ging, wurden die Ozeane, einst der sicherste Schutz der Nation, zu einem möglicherweise fatalen Nachteil.
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2. KAPITEL
Weißes Haus, Lageraum 14. September, 2045 Uhr Ortszeit Vor der Tür des Lageraums wartete Clarissa Leffler, die heute zum ersten Mal vor dem Nationalen Sicherheitsrat berichten sollte. Mit ihren fünfunddreißig Jahren noch relativ jung, war sie kürzlich zur Chefin der jetzt plötzlich so wichtigen China-Abteilung des Außenministeriums ernannt worden. Die meisten in ihrer Situation hätten sich in Gedanken noch einmal nervös die Worte zurechtgelegt, die sie dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vortragen würden. Aber hinsichtlich ihres Themas – den politischen Verhältnissen in China – war Clarissa Expertin, außerdem fühlte sie sich wohl in der Nähe mächtiger Politiker. Also verbrachte sie ihre Zeit lieber damit, über ihre seltsame Entscheidung nachzudenken, im Namen des Patriotismus die Seiten gewechselt zu haben. Am letzten Abend hatte ihr Vater, der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, andeutungsweise von einem möglichen Militärputsch gesprochen. »Gewisse beherzte Generäle«, hatte er gesagt, »könnten versucht sein, sich von der Verfassung nicht gedeckte Rechte anzueignen und in wahrhaft biblischer Weise von Atomwaffen Gebrauch zu machen.« In den letzten paar Jahren hatte es in der amerikanischen Politik einen drastischen Rechtsruck gegeben, und Tom Leffler, Clarissas Vater, war von der Woge der Popularität der Konservativen getragen worden. Bill Bakers Plan, den Sieg über die Chinesen nur durch den Einsatz des Lebens Eingezogener zu erringen, war nicht nur herzlos, sondern auch zum Scheitern verdammt. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass Baker sein Land auf diese Art und Weise verraten würde. Auf der Universität hatte Clarissa in den höheren Semestern vergeblich die These einer Bedrohung des Weltfriedens durch China vertreten, doch alle anderen sahen nur das Vermögen, das in diesem Riesenreich durch Handel zu machen war. Dann wurde 67
Baker nach einem kometenhaften Aufstieg ins Amt des Präsidenten katapultiert, und er hatte lautstark vor einer chinesischen Aggression gewarnt. Mit der Einwilligung ihres Vaters hatte Clarissa in einer untergeordneten Stellung an Bakers Wahlkampf teilgenommen. Aber wie konnte dieser Mann, den sie so leidenschaftlich unterstützt hatte, jetzt, wo doch das Überleben der Nation auf dem Spiel stand, vor dem Einsatz von Atomwaffen zurückzuschrecken? Clarissa war klar, dass bestimmte, auserwählte Leute künftig eine historische Rolle zu spielen hatten und dass hier eine Chance bestand, wirklich entscheidend in den Gang der Dinge einzugreifen. Wahrscheinlich war dieses ganze, die Verfassung »umgehende« Unternehmen mit militärischer Präzision geplant, doch vor ihrem geistigen Auge gestalteten sich der Sturz des Präsidenten und seine Nachfolge wie ein Drama. Der grundsätzliche Verlauf des Coups würde für alle offensichtlich sein, aber die Dramatik der tatsächlichen Ereignisse würde durch Worte maskiert werden, über deren exakte Bedeutung man nur spekulieren konnte. Welcher Part mochte ihr bei dem patriotisch motivierten Sturz Bill Bakers zugedacht sein? Würde sie ihn auch nur kommen sehen? Würde ihr irgendjemand etwas sagen oder gar um ihre Hilfe bitten? Und was kam danach? Würden sich Bakers Sympathisanten zusammenrotten? Würden sich der gewählten Regierung loyal ergebene Leute den Befehlen ihres Vaters widersetzen? Denn auch wenn sie nicht darüber gesprochen hatten, war ihr Vater nach dem Vizepräsidenten doch der nächste Kandidat für die Thronfolge, und es war offensichtlich, dass die Umstürzler ihm den Vorzug geben würden. Und nach dem Staatsstreich würde die neue Regierung ihres Vaters vertrauenswürdige Mitarbeiter benötigen. Nach dem Staatsstreich… Dieser ernüchternde Gedanke ging ihr wieder und wieder durch den Kopf. Wann immer Clarissa sich vorstellte, was nach dem Amtseid ihres Vaters kommen würde, zog sich ihr der Magen zusammen. Obwohl sie schon immer eine äußerst rege Fantasie hatte, war ein Atomkrieg auf amerikanischem Boden für sie nach wie vor unvorstellbar. Sicherlich gibt es noch einen anderen Weg, sinnierte sie jedes Mal, wenn ihr die furchtbare Möglichkeit vor Augen stand, und dieser Gedanke war ihr einziger Trost. Die Vereinigten Stabschefs nickten, als sie Tom Lefflers Tochter erkannten. Während sie den Lageraum betraten, fragte sich Clarissa, welcher 68
von diesen aufrechten Männern zur Tat schreiten und Amerika vor Bakers Wahnsinn retten würde. Hamilton Asher, der mächtige Direktor des FBI, runzelte die Stirn, als er Clarissa neben der Tür warten sah. Richard Fielding, Chef der neutralisierten CIA, wünschte lächelnd und in gedämpftem Tonfall »Hals- und Beinbruch«. Clarissa bekam eine Gänsehaut, aber nicht etwa, weil sie nervös gewesen wäre, sondern einfach weil sie dabei war – ein aufregender Ort, ein faszinierender Augenblick, ein historischer Zeitpunkt. Der niedergeschlagene Präsident, offenkundig blind für alles um ihn herum, ging dicht an Clarissa vorbei. Zwei kräftige Männer lehnten sich an die Wand und schauten Clarissa mit scharfen Blicken an, denen sie nicht standhalten konnte. Vorsichtig wandte sie sich ab. Sie hatte gehört, dass Agenten wie diese bei einem etwas zu auffälligen Zucken sofort ihre automatischen Waffen zogen. In dem Raum herrschte Schweigen, und Baker atmete tief durch. »Zu Beginn dieses Treffens möchte ich drei Punkte klarstellen … nur um das einmal festzuhalten.« Baker spielte die Rolle seines Lebens, und er versuchte, seine Worte der Würde des Präsidentenamtes angemessen klingen zu lassen. »Die Vereinigten Staaten von Amerika werden diesen Krieg entweder gewinnen, oder sie werden als eine Nation von fünfzig Bundesstaaten untergehen. Territoriale Konzessionen, Verhandlungen, Kompromisse, internationale Schlichtungsversuche und Waffenstillstände wird es nicht geben – und auch keine Kapitulation.« Er ließ seinen Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen. Keiner der an dem langen Tisch Sitzenden hüstelte, blinzelte oder schaute weg. »Von diesem Augenblick an befinden wir uns im Krieg … bis ich sage, dass er beendet ist.« Er hob seinen Zeigefinger. »Das war Punkt Nummer eins.« Fast alle anwesenden Militärs nickten. »Punkt Nummer zwei. Unseren Sieg bei der Verteidigung Amerikas werden wir auf dem Meer erringen. Die Chinesen mögen sechzig Millionen Mann unter Waffen stehen haben, aber es ist ihre Macht zur See, durch die sie an unsere Küsten gelangt sind, und diese Macht will ich zerstört sehen. Folglich muss jede unserer strategischen Entscheidungen sich in erster Linie an diesem Ziel orientieren. Sollte das bedeuten, dass wir die Häfen von Charleston und Norfolk anstelle der Städte Orlando 69
oder Atlanta verteidigen müssen, so werden wir das tun. Und sollte es erfordern, unsere Luftabwehr in Chicago oder Detroit abzuziehen, damit wir eine völlige Kontrolle des Luftraums über den Werften von Philadelphia und San Diego haben, dann werden wir es so machen.« jetzt hielt er zwei Finger hoch. »Das war Punkt Nummer zwei.« Alle hielten Bakers Blick stand, und die Generäle und Admiräle nickten erneut. Er hob drei Finger. »Schließlich möchte ich noch klarstellen – und zwar vor dem Beginn des ersten Gefechts auf amerikanischem Boden –, dass dieser Krieg noch nicht beendet sein wird, wenn wir die Chinesen aus der westlichen Hemisphäre vertrieben haben. Beendet sein wird er erst, wenn wir die Blockade Europas gebrochen, Japan und den Mittleren Osten befreit und die Chinesen durch Süd- und Ostasien wieder hinter ihre Grenzen zurückgedrängt haben. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, wird es, weiterhin nationale Priorität bleiben, uns der Realisierung des Programms zur längerfristigen Entwicklung neuer Waffen zu widmen, die durch unser schwarzes Budget abgedeckt ist.« Jetzt nickten nur diejenigen, die über die geheimen Ausgaben der Regierung Bescheid wussten. »Das war Punkt Nummer drei.« Zwei Drittel der Anwesenden – nämlich die Militärs – nickten, doch Bill war klar, dass damit keineswegs eine durchweg positive Einschätzung der Experten einherging, was die militärische Durchführbarkeit seiner skizzenhaften Pläne betraf. Stattdessen nahmen sie mit ihrem resoluten Nicken einfach zu Beginn der folgenschweren Schlacht ihre Befehle entgegen. Möglicherweise lag jetzt ein zehnjähriger Krieg vor ihnen, aber ihrem Oberbefehlshaber – Präsident Baker – blieben maximal noch sechs Jahre im Amt. Wenn er von einer Wiederwahl – die keineswegs wahrscheinlich war – ausging, würde er neunundvierzig Jahre alt sein … und verbraucht das Weiße Haus verlassen … wenn ihn die Chinesen nicht vorher herauszerrten und erschossen. Immer wieder und immer häufiger standen ihm diese Bilder in seinen schlaflosen Nächten vor Augen. Von einer Familie konnte man in seinem Fall nicht reden, und zum ersten Mal glaubte er jetzt, dass das eigentlich ein Vorteil war. Irgendwie war es in Ordnung, dass er sich in seinem Amt verzehren und im Anzug an seinem Schreibtisch sterben würde, nicht von Waffen, sondern von Füllfederhalten und Papieren umgeben, den Utensilien der Demokratie. Genau das war das 70
Bild, das ihm vom Ende des letzten Präsidenten der Vereinigten Staaten vorschwebte. Wie stets wandte er sich zuerst an den Repräsentanten der Navy. »Wie stehen die Dinge im Golf von Mexiko?« Offensichtlich hatte Admiral Thornton Bakers Ansprache bewegend gefunden. Er räusperte sich und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Seit ungefähr acht Stunden drehen sich die Schiffsschrauben, Mr President. Hunderte von Schiffen sind unterwegs. Bisher haben wir nur Kampfschiffe auf dem Wasser gesehen, Kreuzer, Zerstörer und Fregatten, die offenbar nach Unterseebooten und Flugabwehrartillerie Ausschau halten. Aber ihre Schiffe laufen in großer Zahl aus, Sir. Sicher ist, dass direkt dahinter Super-Flugzeugträger und riesige Transportschiffe folgen. Nördlich von Kuba haben wir eine taktische Absicherung durch zwanzig Unterseeboote arrangiert, die jedes feindliche Vorrücken aufhalten und Bericht erstatten können, und zwar unabhängig davon, wohin die Hauptstreitmacht sich orientiert. Die Durchfahrt zwischen den Bahamas in Richtung unserer Ostküste haben wir durch Minen blockiert. Außerdem verfügen wir auch dort über ein Dutzend Unterseeboote und über sieben durch Zerstörer angeführte Kampfverbände. Insgesamt sind damit achtundzwanzig Kriegsschiffe auf dem Wasser, und folglich glaube ich nicht, dass sie versuchen werden, aus dieser Richtung zu kommen.« Nickend wandte sich Baker General Latham zu, dem Stabschef der Air Force. »Sind wir für alles gerüstet?« »Wir verfügen über neunhundert Kampfflugzeuge und über zwei Dutzend B-1 und B-2, die mit zweitausendfünfhundert SLAM 124Lenkwaffen bestückt sind – Standoff Land Attack Missiles, also Abstandswaffen für den Landzieleinsatz, Mr President. Sie wurden mit Zusätzen für den Einsatz gegen Schiffe nachgerüstet. Ihr Zielsystem ist so konstruiert, dass sie einen Ring von chinesischen Antiraketen-Stellungen ausschalten werden und alle unsere anderen Raketen dadurch optimal ins Ziel geleitet werden können. Die Lenkwaffen werden, zwar Vorposten treffen, aber nicht zu ihren wirklich wichtigen Schiffen vordringen, Mr President.« Baker richtete sich in vorwurfsvollem Tonfall an Admiral Thornton. »Ich habe immer geglaubt, die Theorie hinter der Entwicklung dieser Arsenalschiffe würde darauf beruhen, dass die chinesische Verteidigung durch die schiere Masse unserer Raketen ausgeschaltet werden kann! Jetzt 71
muss ich seitens der Air Force vernehmen, dass zweitausendfünfhundert Raketen nicht bis zu ihrem eigentlichen Ziel vordringen!« Der Oberbefehlshaber der Navy war zwar in einer heiklen Situation, ließ sich aber kein mangelndes Vertrauen in jene militärische Entwicklung anmerken, die nach Meinung des Präsidenten Amerika retten sollte. »Hätte ich heute bereits zwei funktionstüchtige Arsenalschiffe im Golf von Mexiko zur Verfügung, Mr President, würden sie die chinesische Flotte innerhalb einer halben Stunde bis zum letzten Schiff versenken. Sie würden sechzehntausend Raketen starten, von denen etwa fünfhundert statt mit Sprengköpfen mit ECM – Electronic Countermeasure Suites, Störgeräten – ausgerüstet wären, um die chinesischen Abfangsysteme zu verwirren. Weitere fünfzehnhundert würden zwölftausend Antiraketenraketen mit sich führen – jeweils acht – und zur aktiven Verteidigung eingesetzt werden. Die dann noch verbleibenden vierzehntausend Raketen – hochgradig wendige und durch intelligente Programme gesteuerte Überschallraketen – würden individuell und koordiniert operieren. Jede von ihnen wäre mit Eintausend-Kilo-Sprengköpfen bestückt, von denen sechs- bis siebenhundert feindliche Schiffe treffen würden. Sechs Minuten später würden weitere sechzehntausend Raketen gestartet werden. Dann die nächste Welle. Und so weiter und so fort, bis der ganze Meeresboden mit Wrackteilen übersät wäre.« »Würden Sie nicht einige Raketen zurückhalten, um die Arsenalschiffe zu verteidigen?«, unterbrach Vizepräsidentin Elizabeth Sobo. »Und was ist mit der Bedrohung durch chinesische Unterseeboote?« »Ja, Ma’am, wir würden einige Luftabwehrraketen zurückhalten«, antwortete Thornton. »Was ich Ihnen da gerade Vorgetragen habe, war nur ein theoretisches Szenario. Aber wir würden diese beiden Arsenalschiffe zunächst zusammen agieren lassen, und zwar immer mit ein oder zwei Flugzeugträger-Kampfverbänden und Unterseebooten. Durch das Zusammenspiel dieser Kräfte werden wir die Chinesen Sowohl in der Luft als auch auf und unter dem Wasser in Schach halten können.« »Ich verstehe nicht«, warf Hamilton Asher ein. Die Unterbrechung durch den FBI-Direktor ließ Bakers Blutdruck spürbar ansteigen. »Wenn es nur darum geht, sie möglichst massiv anzugreifen, warum haben wir dann nicht auf landgestützte Marschflugkörper zurückgegriffen? Wir hätten die Chinesen an der Landung hindern können!« 72
Die Antwort gab Verteidigungsminister Moore. »General Cotler hat seinerzeit ein System von mobilen, landgestützten Abschussvorrichtungen vorgeschlagen, etwa in der Art, wie die Briten es entwickelt haben. Aber angesichts der schieren Masse von Raketen, die wir hätten bauen müssen, war es eine Entweder-oder-Entscheidung. Wir mussten uns für die Arsenalschiffe oder für die mobilen Raketenbatterien an Land entscheiden, beides zusammen ging nicht.« »Und warum haben wir uns nicht für die Abschussvorrichtungen an Land entschieden?«, hakte Asher nach. »Wir hätten die Invasion aufhalten können!« Bevor er antwortete, blickte Moore erst den Präsidenten, dann Asher an. »Die Raketenbatterien an Land haben keinerlei offensives Potenzial.« »Wie bitte? Habe ich gerade ›offensiv‹ verstanden?«, fragte Asher ungläubig. »Die Arsenalschiffe können die chinesische Flotte auslöschen, die landgestützten Raketenbatterien härten sie allenfalls von unserer Küste fern halten können«, antwortete Bill. »Meiner Ansicht nach hätte eine große Mehrheit der Amerikaner eine solche Verhinderung einer Invasion für weitaus wünschenswerter gehalten als die Situation, in der wir uns jetzt befinden!« »Ich habe es so angeordnet«, sagte Baker mit fester Stimme, um dieses Thema zu einem Abschluss zu bringen. Asher starrte ihn an, bis der Präsident sich wieder dem General der Air Force zuwandte. »Wie sieht’s mit unserer Luftverteidigung und Flugabwehr aus?« Latham schien zu zögern. Er war ein leidenschaftlicher Befürworter des von der Army und der Air Force favorisierten Plans mit den mobilen Raketenbatterien gewesen, den Baker abgelehnt hatte. Damals hatte der Präsident gehört, Latham habe im privaten Kreis die Entscheidung des Oberbefehlshabers kritisiert. »Nun, Sir«, begann Latham schließlich. »Als die ersten Berichte der Navy über die Sonar-Analysen eingingen, haben wir sofort eine landesweite Warnung für die Luftverteidigung herausgegeben: ›Alarmstufe rot – bevorstehender Angriff durch feindliche Flugzeuge‹ Östlich von Mississippi und südlich von Atlanta wurde die zivile Luftfahrt eingestellt. Die Gerätschaften unserer Luftabwehr wurden auf vier zivile Flughäfen verteilt, die von mindestens vier Kampfflugzeugen verteidigt werden, die die Luftüberlegenheit haben werden und jederzeit abheben 73
können. Das Raketenabwehr-Raster des NORAD – des North American Aerospace Defense Command – ist zu achtundneunzig Prozent komplett. Sollten die Chinesen es mit Tiefflug versuchen, werden wir sie zum Teufel schicken.« Baker nickte. Die Hälfte der Köpfe drehte sich zum Stabschef der Army, schließlich folgte auch Baker ihrem Beispiel. »Berichten Sie, wo sie an Land gehen werden«, bat Baker den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs. Einen Augenblick lang zögerte General Cotler. Das musste nichts zu bedeuten haben, aber vielleicht steckte doch etwas dahinter. Er schlug seine Kladde auf, als hätte er es mit einer widerwärtigen Aufgabe zu tun. »Von Kuba aus wäre Südflorida am nächsten…«, begann er in einem zuversichtlichen Tonfall, um dann gleich wieder abzubrechen. Jetzt erinnerte sich Baker, dass Cotler nicht aus dem Süden, sondern aus Chicago stammte. Dennoch brachte es der General kaum über sich, etwas über die Invasion seines Landes zu sagen. »Entschuldigen Sie, Sir.« Cotler straffte seine Schultern und sprach dann laut weiter. »Die Army, Mr President, ist darauf vorbereitet, jeden – ich betone: jeden – Vormarsch über die Halbinsel von Florida zu stoppen.« Punkt, keine Modifikationen, keine näheren Erklärungen. Hinter dem General standen die Colonels der Army, die sich alle einem Ziel verschrieben hatten, das sich noch keiner Armee der Welt so gestellt hatte – den Chinesen Einhalt zu gebieten. »Wir werden von Tampa/ST. Pete bis nach Melbourne eine Linie errichten. Die 3rd Infantry Division (Mech) und die 40th Infantry Division –, ebenfalls motorisiert, aber zur Nationalgarde gehörend, warten gemeinsam mit der 53rd Infantry Brigade in Bunkern südlich von Orlando. Sie werden dafür sorgen, dass die Chinesen sich mit den Sümpfen der Everglades herumschlagen müssen, und ihre zentrale Massierung aufsplitten. Ihre westliche und ihre östliche Flanke werden sich dann gegenseitig behindern. Sollten sie in Miami an Land gehen, werden wir sie dort aufhalten, Sir.« »Aber was ist«, fragte Elizabeth Sobo, »wenn sie uns mit amphibischen Einheiten in den Rücken zu gelangen versuchen und an der Küste hinter Ihnen eine Landung schaffen, wie sie 1950 General MacArthur bei seiner Invasion hinter den feindlichen Linien in In’chon an der Westküste Südkoreas praktiziert hat?« 74
»Das 278th Armored Cavalry Regiment wird sie ins Meer zurückwerfen«, antwortete Cotler. »Sie meinen wohl eher, das wird es versuchen, oder?«, fragte Vizepräsidentin Sobo herausfordernd, während sie in ihren Unterlagen blätterte. »Das Armored Cavalry Regiment ist nur knapp über… dreitausendsiebenhundert Mann stark, noch dazu alles Reservisten. Sollte es ihnen nicht gelingen, die Landung zu verhindern, könnten die Chinesen das gesamte IV. Corps abschneiden – eines von unseren insgesamt nur zwölf Korps –, während dieses die schutzlos preisgegebene Südspitze eines einzigen Bundesstaats verteidigt.« Der Einwand war berechtigt, und Baker wartete auf Cotlers Antwort. »Ja, wir werden versuchen, sie zurückzuwerfen, Ma’am«, stellte der General in einem aufrichtigen Tonfall fest. Elizabeth Sobo blickte Baker an. Ihr Job war erledigt, jetzt kannte der Präsident ein weiteres Katastrophenszenario. Baker atmete tief durch, rieb sich das Gesicht und sprach dann durch seine Hände. »Wenn wir wissen, dass wir sie in Florida stoppen können, dann ist es bei ihnen nicht anders. Also, wo werden sie an Land gehen?« Darauf hatte Cotler eine Antwort parat. »Theoretisch gesehen, Sir, wahrscheinlich irgendwo zwischen Key West in Florida und Brownsville in Texas. Sollten sie nicht im Süden Floridas landen, was eigentlich für sie die schnellste und sicherste Möglichkeit wäre, um ihre Soldaten von den gut angreifbaren Truppentransportern auf amerikanischen Boden zu bringen, werden sie wahrscheinlich einen der Häfen am Golf von Mexiko einzunehmen versuchen: Mobile, Biloxi, vielleicht New Orleans, möglicherweise auch Galveston. Angesichts der kürzeren Überfahrt von Kuba aus ist es allerdings sehr viel wahrscheinlicher, dass sie sich für einen der Häfen östlich des Mississippi entscheiden.« Ein unsichtbarer Techniker änderte die elektronischen Karten, die auf Flachbildschirmen an allen vier Wänden zu sehen waren. Ein Overlay versah die Küste des Golfs von Mexiko mit verschiedenen Farben, die denkbare Ereignisse symbolisierten, etwa einen durch einen Hurrikan verursachten Erdrutsch. Ein für ein geringes Risiko stehendes Gelb markierte die weit westlich von Havanna gelegenen Strande von Texas und Louisiana. Blutrot verdeutlichte Sturmgefahr an den Küsten von Mississippi, Alabama und Florida. Aber nirgendwo war das Rot dunkler und daher die Invasion wahrscheinlicher als 75
in der Bucht von Mobile. »Über einen Strand«, erklärte Cotler, »könnten sie alle vierundzwanzig Stunden etwa fünfzigtausend Männer an Land bringen, aber wenn sie einen funktionstüchtigen Hafen einnehmen, könnte sich diese Zahl verdoppeln. Wenn sie sich östlich von Mississippi halten, könnten sie innerhalb eines Monats fünf Millionen Soldaten anlanden.« »Am wahrscheinlichsten ist, dass sie sich für Mobile entscheiden«, sagte Verteidigungsminister Robert Moore. »Die Stadt liegt zentral, hat gute Ankergründe und befindet sich an der südlichen Spitze eines weitläufigen, ins Inland fühlenden Straßen-, Schienen- und Kanalnetzes. Aber wo immer sie auch landen mögen, Mr President, Planspiele deuten darauf hin, dass sie sich vermutlich an die höherwertigen Ziele an der Ostküste halten werden. Sollte es so kommen, werden wir entlang der Interstate 16 eine Linie errichten, die von der Atlantikküste bei Savannah nach Atlanta verläuft, Zusätzlich eine entlang der Interstate 20, die westlich von Atlanta durch Birmingham und Jackson zum Mississippi in Vicksburg führt. Tatsächlich wird diese Linie dem besten Defensivterrain ein paar Meilen südlich der Highways folgen, die wir dann für schnelle Reaktionen und als Nachschubwege nutzen können. Wie auch immer, wenn wir die Brücken über den Mississippi südlich dieser Linie sprengen, sind die Chinesen eingekesselt. Die 218th Mechanized Infantry Brigade wird die I-95 von Savannah in Georgia bis nach Florida offen halten, damit das dort stationierte IV. Corps nicht abgeschnitten werden kann.« »Die Bucht von Mobile könnten wir immer noch verminen«, schlug General Latham von der Air Force vor. »Bei einer Vorlaufzeit von fünf oder sechs Stunden könnte ich die Minen aus der Luft abwerfen lassen.« Noch bevor der General seinen Satz beendet hatte, schüttelte Baker bereits den Kopf. »Admiral Thornton behauptet, die Chinesen könnten den Hafen von Minen räumen und ihn in ein paar Tagen wieder funktionsfähig haben.« »Wir könnten die Kaianlagen zerstören«, beharrte Latham. »Dann werden sie wohl nicht mehr in der Lage sein, ihre Armee an Land zu bringen!«, schnappte Baker, der sich in seinem Stuhl zurücklehnte, die Hände auf den Kopf legte und verstohlen – ohne dass es deshalb jemandem entgangen wäre – versuchte, die Nerven unter seiner Kopfhaut durch Massage zu beruhigen. Seine Wirbelsäule war total verspannt, seine Hände waren kalt. Seit sechs Monaten hatten sie in hypothetischen Kriegs76
spielen Bakers Plan einstudiert, und die good guys hatten häufiger gewonnen als verloren. Durch diese Planspiele hatte jeder ein Gefühl für den potenziellen Kriegsschauplatz entwickelt, und sie hatten in groben Zügen den vermutlichen Verlauf der künftigen Schlacht antizipiert, der auch von unveränderbaren Faktoren wie Entfernungen, dem Terrain und dem Straßennetz abhing. Aber wenn erst die wirkliche Schlacht begonnen hatte, erinnerte sich niemand mehr an die Kriegsspiele… Vielleicht Untersuchungsausschüsse, wie damals nach dem Debakel in der Straße von Havanna. Aber auch vor dieser Operation hatte es Planspiele gegeben. Bahnt euch euren Weg mit drei Kampfverbänden mit Flugzeugträgern. Durchlöchert die Flanke der Chinesen durch die 2nd Marines. Dann gehen alle unter massiver Artillerieunterstützung seitens der Air Force und der Navy in Guantanamo Bay wieder an Bord und fahren nach Hause, wo sie von Flaggen schwenkenden Massen empfangen werden. Nachdem der Untersuchungsausschuss mit dem verantwortlichen Admiral fertig war, hatte Baker sich mit dem Mann mit der gehetzten Miene getroffen. Der Admiral hatte bei Baker sein Rücktrittsgesuch eingereicht, war nach Hause gegangen und hatte sich mit einem Kopfschuss das Leben genommen, während seine Familie sich im Nachbarzimmer aufhielt. Baker fragte sich, ob er jemals wieder einem Menschen mit einer solchen Miene begegnen würde. Einem mächtigen Mann mit Selbstvertrauen, den die permanente Selbstanklage zermürbt hatte. »Okay«, sagte Baker ruhig. »Wie sieht unser Plan für den Sieg aus, wenn die Chinesen diesen Krieg wirklich eröffnen?« Cotler stand auf und strich seinen grünen Uniformrock glatt, deren Vorderseite Reihen von Ordensbändern zierten. In Washington trug jeder Soldat unterhalb dem Rang eines Colonel einen Kampfanzug mit den dazugehörigen Stiefeln. Wird irgendwann noch der Tag kommen, fragte sich Baker, an dem selbst die hohen Offiziere Tarnanzüge tragen? Jetzt tauchten auf der elektronischen Karte in Tennessee drei große grüne Flecken auf, die die geheimen Bereitstellungsräume für das II. III. und IV. Corps markierten. Vor ein paar Monaten hatte Baker die dortigen Depots inspiziert, in denen unter Tarnnetzen, die manchmal eine halbe Meile lang waren, enorme Mengen an Rüstungsmaterial gehortet wurden. »Wenn die Chinesen sechs Heeresgruppen an Land gebracht haben«, sagte Cotler«, »also etwa zwei Millionen kämpfende Soldaten und eine 77
Million, die für technische Unterstützung und Nachschub verantwortlich ist, werden wir mit drei Panzerkorps eine Gegenoffensive auf den von ihnen okkupierten Hafen starten.« Auf der Karte bohrten sich drei Pfeile wie Dolche in den Golf von Mexiko. Für den Fall, dass diese Gegenoffensive die Chinesen nicht zurückweichen ließ – sie nicht »umhaute«, wie Cotler es einst formuliert hatte –, hatte man Baker eigentlich nur in einem Punkt Hoffnung gemacht: »Vielleicht übernehmen sie sich ja.« Doch diese Hoffnung hatte von Vietnam bis Thailand jedes Land gehegt, bis der letzte Widerstand zusammengebrochen war. Baker atmete tief durch und versuchte so, die unsichtbaren Fesseln zu sprengen, die ihm die Brust zuschnürten. »Und in vier Monaten«, fügte Verteidigungsminister Moore optimistisch an Bakers Adresse hinzu, »haben wir drei Arsenalschiffe. Dann melden wir uns auf See zurück.« Wenn wir so lange durchhalten, dachte Baker, während die Krisensitzung ihren Lauf nahm. Obwohl es in dem Raum kühl war, begann er zu schwitzen, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er kämpfte gegen die Panik an, die ihn die Fassung verlieren 201 lassen drohte, und wieder schweiften seine Gedanken ab, auch wenn es völlig vergeblich war: Wie konnte es nur so weit kommen? »Entschuldigen Sie bitte, Mr President«, sagte ein ängstlicher Berater, der gerade Bills schwarzes Buch schloss, das ihm die Vereinigten Stabschefs zur Verfügung gestellt hatten. Die glänzenden, für jedes Treffen des Nationalen Sicherheitsrats erstellten Hardcover-Bände enthielten neben Karten und Fotos nachrichtendienstliche Informationen, die erst ein paar Stunden alt waren – kriegsrelevante Informationen mit InternetGeschwindigkeit. Laut diesen Unterlagen hatte sich die Zahl der amerikanischen Soldaten vervielfacht, doch unglücklicherweise reichte das noch nicht. Jetzt fiel dem Präsidenten auf, dass die an den Wänden montierten Bildschirme für die elektronischen Karten nur noch blau waren. Mit vor Wut zusammengebissenen Zähnen sah Baker, dass Hamilton Asher von einem kleinen Gefolge von Militärs umgeben war. Formell war der FBIDirektor gar kein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats, und Bill hatte keinerlei Interesse daran, sich seine Meinung anhören zu müssen. Die Tür öffnete sich, und eine Zivilistin wurde in den Raum geführt. Baker wandte 78
sich seinem Stabschef zu, der auf einem Stuhl an der Wand saß, aber jetzt sofort zu seinem Chef herübergewatschelt kam. »Asher war nicht zu diesem Treffen eingeladen«, sagte Frank Adams mit einem scharfen Blick, ohne auf Bakers Stichwort zu warten. »Seit er durch Tom Lefflers National Secrecy Act in Polizeiangelegenheiten schalten und walten kann, wie es ihm gerade gefällt, hält er sich irgendwie für einen Wächter der Demokratie.« Jetzt erhob sich Bakers Außenminister, Arthur Dodd. »Ich würde Ihnen gern Dr. Clarissa Leffler vorstellen, die neue Chefin der China-Abteilung meines Ministeriums.« Geschockt sah Bill, wie Tom Lefflers Tochter am Tisch Platz nahm und freundlich nickend auf die Begrüßung durch die anderen reagierte. Fast hätte Bill sich von seinem Stuhl erhoben, was für den Präsidenten unüblich war. Obwohl er sich gerade noch eines Besseren besonnen hatte, blickten ihn mehrere Sitzungsteilnehmer überrascht an. Bill war Clarissa nur bei gesellschaftlichen Anlässen begegnet, ohne sie näher kennen gelernt zu haben. Sein Stabschef kauerte neben ihm. »Ich habe es gerade erst mitgekriegt«, sagte er in einem Tonfall, der so klang, als müsste er sich verteidigen. »Aber es ist völlig ausgeschlossen, dass sie den Posten der Chefin der China-Abteilung durch Zufall gekriegt hat. Indem er die Tochter von diesem Dreckskerl Leffler anheuert, versucht der Außenminister meiner Ansicht nach, sich für den Fall, dass Leffler ihn erneut wegen einer Aussage vor sein Komitee im Kongress zerrt, ein bisschen aus der Schusslinie zu bringen. Seit er vor zwei Jahren in Genf dem chinesischen Handelsminister einen Privatbesuch abgestattet hat, machen ihm die Konservativen Feuer unterm Hintern.« Bill verscheuchte seinen Stabschef mit einer Handbewegung, als wäre dieser nur ein Kellner, der ihm eine nicht erwünschte weitere Tasse Kaffee einschenken wollte. Art Dodd erläuterte gerade Clarissas Werdegang, und Bill hörte interessiert zu. Ihre Referenzen machten klar, dass der alte Leffler sehr viel Wert auf eine Ausbildung gelegt hatte, in deren Genuss Baker im ländlichen Georgia nie gekommen war. Aber wahrscheinlich hat Lefflers Tochter auch nie in Georgia gelebt, vermutlich kennt sie es nur von den Wahlkämpfen ihres Vaters, dachte Bill. Seit über vierzig Jahren saß Leffler jetzt im Kongress, und Clarissa war in Washington eher von ihrer Mutter erzogen worden. Über die Tochter wusste Bill nur wenig, aber ihre Mutter 79
hatte er gut gekannt. Beth Leffler war die angenehmste Person gewesen, der er je begegnet war, ohne eine Spur von Arglist und Unfreundlichkeit, was in der Gesellschaft von Washington außergewöhnlich erschien. Als sie direkt vor Bills Amtseinführung gestorben war, hatte er geweint, und es war schlimm, wie sehr ihr Tod den alten Tom mitgenommen hatte. Tom Leffler war lange die bestimmende Figur des rechten Flügels der Republikaner gewesen, der im Laufe der Zeit immer populärer wurde. Schon Jahre vor dem chinesischen Feldzug entwickelte sich die große Mehrheit politisch zu Falken, fast so, als hätte sie das Herannahen der Gefahr gewittert. Der feurige Sprecher des Repräsentantenhauses schwamm auf der Woge der Popularität der Konservativen. Wenngleich Bill und Tom beide zu den Republikanern zählten, die für ein militärisch starkes Amerika eintraten, gerieten sie mehrfach aneinander. Bei der dramatischsten Konfrontation ging es um den National Secrecy Act, ein Gesetz, das auf Toms Initiative zustande gekommen war, gegen das Bill aber sein Veto einlegte. Diese Gesetzesvorlage beinhaltete grobe Einschränkungen der Privatsphäre und verletzte das Prinzip der Gewaltenteilung. Doch die Meinungsumfragen signalisierten Unterstützung für Leffler, und der Kongress stieß Bills Veto um, als die konservativen Republikaner die moderaten Politiker beider Parteien überstimmt hatten. Im Lauf der Jahre hatte Bill Clarissa dann eher aus der Ferne bei FundRaising-Dinners und einmal auch in der Warteschlange bei einem Empfang gesehen, wo er einer endlosen Kette von Würdenträgern die Hand drücken musste, aber trotzdem sah, wie sie näher kam. Tatsächlich waren ihm eher ihre entblößten, zierlichen Schultern aufgefallen, und während sie immer näher rückte, bemerkte er, dass sie sich in flüssigem Chinesisch höflich mit dem Botschafter Pekings unterhielt. Unglücklicherweise blieb Bill nicht so lange, um sie noch begrüßen zu können. Durch ein vorher abgesprochenes Arrangement wurde er abberufen, wodurch der Botschafter brüskiert wurde, der als nächster Gast an der Reihe gewesen wäre. Als Bill im Weggehen noch einen Blick über die Schulter warf, bemerkte der immer aufmerksame Frank Adams: »Haben Sie seine belämmerte Miene gesehen?« Bill lachte, obwohl er in Wirklichkeit nur Clarissa gesehen hatte, die in ihrem trägerlosen Samtkleid wunderschön aussah. »Dr. Leffler hat Politologie studiert und in Harvard promoviert«, berichtete Außenminister Dodd dem Nationalen Sicherheitsrat. »Während ihres 80
Studiums hat sie jahrelang in Peking gelebt und auch einige interessante Artikel über chinesische Politik veröffentlicht, die ich Ihnen ja zukommen ließ, Mr President.« Bill nickte, die Hände vor dem Gesicht gefaltet, aber er hatte keine Ahnung, von was für Artikeln sein Außenminister da redete. Nur einmal hatte er Clarissa mit der für Wissenschaftler typischen Brille gesehen, die sie jetzt hier vorführte, und zwar auf der Beerdigung ihrer Mutter. In Erinnerung geblieben war ihm das nur, weil man heutzutage eher selten Menschen mit Brille sah und weil diese etwas verrutscht war, als er Clarissa am Grab ihrer Mutter umarmt hatte. Als Außenminister Dodd den Schnellhefter mit den Unterlagen über Clarissas Werdegang schloss, richteten sich alle Blicke nicht etwa auf die Wissenschaftlerin, sondern auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Kurzzeitig dachte Bill darüber nach, den Gast mit ein paar Worten willkommen zu heißen, aber er verstand Clarissas Wink trotz ihres ausdruckslosen Gesichts. Wahrscheinlich kämpft sie denselben Kampf wie alle Kinder berühmter Eltern und bemüht sich um ein professionelles Auftreten, dachte Bill. Also forderte er Clarissa nur durch ein schlichtes Nicken auf, mit ihrem Vortrag zu beginnen. »Guten Abend, Mr President«, begann sie. »Das Interesse meiner Abteilung konzentriert sich ausschließlich auf die Analyse des wichtigsten Faktors der heutigen chinesischen Politik, nämlich auf den sich verschärfenden Machtkampf zwischen den Militärs und den Zivilisten.« Sie zitierte trocken aus mehreren Berichten, die ihr zugespielt worden waren. Demnach deutete in Peking alles auf wachsende Spannungen hin. Vor sechs Wochen hatte der Premierminister – ein Zivilist – die kriegsmüden Chinesen öffentlich vor den »ernsten Risiken militärischen Abenteurertums« gewarnt. Damals hatten alle diese Formulierung, die für die einheimische Öffentlichkeit bestimmt war, als eine verschlüsselte Warnung interpretiert – wenn die chinesische Armee eine Invasion Amerikas wage, bestehe das beträchtliche Risiko eines Atomkriegs. Jetzt stünden die Zivilisten auf Abruf bereit, erläuterte Clarissa, eine Haltung des »Wir haben’s ja gleich gewusst« einzunehmen, falls der chinesische Feldzug in Amerika schlecht lief. »Es besteht die Möglichkeit«, fuhr sie hoffnungsfroh fort, »dass wir die politische Instabilität in Peking zu unserem Vorteil nutzen können.« Jetzt war Baker ganz Ohr. »Und wie?«, fragte er. 81
»Gibt es irgendwelche Anzeichen für Spannungen in unserer Hemisphäre?«, fragte der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. »Noch nicht«, antwortete Clarissa. »Aber heute trifft Han Zhemin auf Kuba ein, und das könnte den Beginn des Machtkampfes ankündigen.« Sie warf Bill einen verstohlenen, bedeutungsschweren Blick zu. Der Präsident starrte Clarissa an. »Wollen Sie etwa vorschlagen, dass ich mich mit Han treffen soll?«, fragte er. Art Dodd beeilte sich, die falsch interpretierte Position seiner Untergebenen zu »klären«. »Nein!«, schnappte Bill. »Das ist eine durchaus legitime Frage. Sie alle haben Time und Newsweek gelesen. Han Zhemin ist ein verkommener, mieser Hurensohn.« Bill sprach lauter als beabsichtigt. »Aber er hat mit mir in Princeton im selben Zimmer gewohnt und war in höheren Semestern mein Kommilitone an der dortigen Graduate School. Folglich besteht eine gewisse persönliche Beziehung zwischen uns, und wir sollten darüber nachdenken, ob wir die nicht zu unseren Gunsten nutzen können.« Er wandte sich wieder Clarissa zu. »Würden Sie sich an meiner Stelle mit Han treffen? Wäre es nicht möglich, durch Verhandlungen zu einer Art Allianz mit den politisch einflussreichen Zivilisten zu gelangen und so die Machtbasis der chinesischen Militärs zu unterhöhlen?« Jetzt herrschte völlige Stille im Raum. Genau wie ein Richter bei einer Verhandlung konnte auch ein seine Macht genießender Präsident jedem jede Frage stellen. »Würden Sie Südflorida opfern, um die chinesischen Zivilisten in ihrem Machtkampf mit den Militärs zu stärken? Oder… oder würden Sie brutalen Handelsbedingungen zustimmen, sodass sie ihr überragendes Verhandlungsgeschick durch diplomatischen Druck unter Beweis stellen können? Oder würden Sie vielleicht unserer Entwaffnung durch ein Abkommen zustimmen, damit wir für immer der Gnade von Chinas Wohlwollen ausgesetzt sind, nur um so zu verhindern, dass achtzig Millionen Amerikaner in einem Atomkrieg sterben?« Bill schlug mit der Faust auf den Tisch und blickte dann die anderen an. Schließlich ließ er seinen Blick wieder sinken. Jetzt hatte er laut jene Fragen artikuliert, die er in seiner Vorstellung an Clarissas Vater gerichtet hatte – in einer Debatte, die nie stattfinden würde. Bill half Clarissa aus der Patsche, indem er den Schritt tat, von dem ihm klar war, dass er ihn tun musste: Er wies den Außenminister an, ein Treffen mit Han Zhemin zu arrangieren. Offensichtlich verdutzte diese Entscheidung etliche Anwe82
sende, aber niemand sagte ein Wort. Der Präsident drohte allen Sitzungsteilnehmern mit dem Finger und sprach jetzt lautet. »Sie werden absolutes Stillschweigen bewahren, ganz so, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.« Nacheinander blickte er alle Anwesenden an, selbst die an den Wänden stehenden Männer. »Sollte jemand außerhalb dieses Raums auch nur ein Wort über mein geplantes Treffen mit Han verlieren, würde ich solche Indiskretionen als persönliche Illoyalität meiner Person gegenüber auslegen.« Ohne es zu wollen, blieb sein Blick schließlich auf Clarissa haften. Er wandte sich ab. Sie war sehr viel attraktiver, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.
Außenministerium, Washington 14. September, 22 00 Uhr Ortszeit Im Außenministerium machten Dr. Clarissa Lefflers Mitarbeiter sämtlich Überstunden. Clarissa hatte sie nicht darum gebeten, sie taten es einfach. Alle gehörten zu jener Art Hochschulabsolventen, wie sie etwa die zu Harvard gehörende John F. Kennedy School of Government produzierte – sie stellten einen wahren Wust von »elektronischem Papier« zusammen, mit dem ihre Chefin sich später abmühen musste. Doch auch wenn sie die Unterlagen nur flüchtig durchblätterte und schnell wieder zur Seite legte, verarbeitete ihr Gehirn trotzdem zahllose Details und Meinungen. Diesen Kniff hatte sie immer schon beherrscht. Niemand verfügte über eine bessere Ausbildung als sie, aber darüber hinaus besaß sie auch die Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Informationen ein Gesamtbild herauszufiltern. Im Rückblick auf die letzten paar Jahre kam es Clarissa oft so vor, als hätte sie Entscheidungen treffen können, die den ganzen geschichtlichen Ablauf zum Besseren gewendet hätten. Wenn man sie nur gelassen hätte! Bedingungslose Unterstützung für die Inder. Die geballte amerikanische Militärmacht in der Luft und zur See, indische Soldaten am Boden. Man hätte China am Himalaja Einhalt gebieten müssen. Die Eroberung Indiens hatte China weniger als eine halbe Million Opfer gekostet, und bei einer Gesamtbevölkerung von eineinhalb Milliarden Menschen war die Trauer 83
der betroffenen chinesischen Familien vom Ausbruch nationalen Stolzes überdeckt worden. Selbst nach den Ereignissen in Indien hätte der damalige Präsident Peller die Chinesen im Indischen Ozean aufhalten können, und zwar bevor diese den Persischen Golf und das Kaspische Meer unter ihre Kontrolle brachten. Wäre Peller nur mutig genug gewesen, sich ins Kriegsgetümmel zu stürzen, dann wäre den Chinesen der Treibstoff für ihre nicht atomgetriebenen Schiffe ausgegangen. Ihr Vater hatte Clarissa eine unglaubliche Geschichte erzählt, die streng vertraulich war, obwohl schon seit langem hinter vorgehaltener Hand geflüsterte Andeutungen kursierten. Vor vier Jahren, nach der Schlacht von Diego Garcia, war die siegreiche dritte chinesische Flotte auf ihrem Weg in Richtung der zusammengezogenen europäischen Marineschiffe direkt über vierzehn amerikanische Unterseeboote hinweggefahren, die eine ideale Position für einen Hinterhalt hatten. Damals gab Peller der Navy klare Befehle, keinerlei Risiko einer Konfrontation mit den Chinesen einzugehen. Die Folge war, dass die amerikanischen Unterseeboote reglos unter Wasser verharrten. Dreißig Minuten später konnte man über der europäischen Flotte vor lauter chinesischen Kampfflugzeugen den Himmel nicht mehr sehen. Während Clarissa sich zurücklehnte, hämmerte sie mit der Faust auf die auf ihren Knien liegende Computertastatur. Hätte Peller doch damals nur diesen Unterseebooten den Befehl erteilt, über Funk eine Warnung durchzugeben und dann anzugreifen!. dachte Clarissa wütend. Er hatte sich wie ein feiger Narr verhalten! Auf dem Flachbildschirm ihres Computers forderte sie eine Meldung auf, vor dem Heimweg noch drei Memoranden zu lesen. Jetzt tauchte in der oberen rechten Ecke des Monitors ein weiteres Symbol auf, doch sie reagierte erst, als der Computer sie zu einer Antwort aufforderte. Ein goldener Schlüssel signalisierte, dass der Video-Anruf auf einer abhörsicheren Leitung einging. Auf dem Monitor erschien das Bild ihres offenbar verwirrten Vaters, der seine Sekretärin anfuhr, weil seine Tastatur nicht reagierte. »Ich bin’s, Dad«, sagte Clarissa, während sie zwei neugierigen Mitarbeitern die Bürotür ins Gesicht knallte. »Okay, alles in Ordnung!«, brüllte Tom Leffler. »Es ist Clarissa!« Während er in die Kamera starrte, wirkte er alt. Seine Computermaus fand er nie, aber eine Kameralinse entdeckte er sofort. »Gott sei Dank, du bist es, Clarissa! Ich habe dich vorhin angerufen.« 84
»Ich weiß, Dad. Deshalb melde ich mich ja.« Das war eher eine Zurechtweisung als eine Erklärung, und Tom Leffler war verblüfft. »Als du dich an deinen Schreibtisch gesetzt hast, hat dein intelligenter elektronischer Stellvertreter meinem Bescheid gesagt, und sie haben sich gemeinsam auf diesen Zeitpunkt für unser Gespräch geeinigt. Ich habe dir das System doch schon erklärt.« »Hat das irgendetwas mit diesem neuen Schlüsselbund zu tun, den ich immer mit mir herumtragen muss?« »Du schleppst keine Schlüssel mit dir herum, Dad! Man nennt das Fernbedienung, eine Art intelligenten Stellvertreter, mit dem du dein Auto aufschließen und im Restaurant bezahlen kannst, falls du dort jemals zahlen solltest.« »Telefonate liefen früher irgendwie anders ab… Aber lass mich zuerst noch meiner intelligenten Stellvertreterin Bescheid sagen, nämlich Ms Stewart! Könnten Sie bitte die Tür schließen?« Nachdem das erledigt war, beugte er sich näher zu der Kamera vor, damit seine Tochter ihn in Großaufnahme sah. Durch das Fischaugenobjektiv wirkte sein Gesicht deutlich breiter. »Ist dein Büro sicher?« Sie antwortete ihm, es werde jeden Tag von der Security untersucht. »Ich frage nur, weil sie mein Haus verwanzt haben«, flüsterte Tom Leffler. »Wer?«, fragte Clarissa. Achselzuckend schüttelte ihr Vater den Kopf. »Ich weiß es nicht. Die Polizei von Capitol Hill hat überall im Haus diese kleinen Dinger gefunden. Angeblich Hightech, absolut auf dem neuesten Stand. Sie behaupten, etwas technisch so Ausgereiftes noch nie gesehen zu haben.« Clarissa lehnte sich zurück und legte die Hände hinter den Kopf. Das FBI, sozusagen Bakers verdammter KGB!, dachte sie. Jetzt missbrauchte der Präsident genau jenen National Secrecy Act, den er zuvor wegen einer Verletzung der Privatsphäre attackiert hatte, dieser heuchlerische Dreckskerl! Baker und Hamilton Asher pervertierten ein gutes, auf ihren Vater zurückgehendes Gesetz und benutzten es gegen ihn! Gegen ihren Vater, den anständigsten Mann in ganz Washington, der früher Bill Bakers politischer Schutzengel gewesen war! Clarissa war ernsthaft aufgebracht. »Ich muss dir etwas mitteilen«, sagte Clarissa. »Baker trifft sich mit Han Zhemin.« »Vermutlich weiß er, was er tut«, murmelte Tom Leffler. 85
Clarissa rollte die Augen und schnaubte theatralisch. »Du kapierst es nicht, das ist Verrat!« Sie beschloss, die Story ein bisschen auszuschmükken. »Beim Treffen des Nationalen Sicherheitsrats hat er unerhörte Dinge gesagt, etwa, dass er Südflorida den Chinesen überlassen will! Es war unglaublich!« Anstatt sich zu konzentrieren, schweifte ihr Vater in Gedanken ab, was mittlerweile immer häufiger vorkam. Sein leises Zischen verriet keine Wut, und seine Lippen bewegten sich in einem halblaut artikulierten inneren Monolog. Seine Wangen bebten, und er blinzelte, als hätte er den Faden seines Gedankengangs verloren. Als er leise vor sich hin zu murmeln begann, wäre Clarissa fast erschrocken zurückgezuckt. »Hast du etwas gesagt, Dad?« »Was? Nein, nichts.« »Es sah so aus, als hättest du etwas in der Art gesagt: ›Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer…‹« Der alte Leffler brachte sein Gesicht so dicht vor die Kamera, dass auf Clarissas Bildschirm nur noch seine Augen und sein Nasensattel zu sehen waren. »Wo hast du das gehört?« Die Absurdität seines Verhaltens brachte sie zum Lachen. »Ich hab’s von dir gehört, Dad! Du hast gerade…« Sie unterbrach sich. Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen, dachte sie. Das war ein patriotischer Ruf zu den Waffen, zumindest ein Motto, Vielleicht sogar der Startschuss eines wagemutigen Unternehmens. Ein brillanter Satz! Clarissa spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam. »Sag diese Worte nie wieder«, warnte Tom Leffler eindringlich. »Woher stammen sie?« »Pssst!« »Streng dich nicht zu sehr an, Dad! War das nicht ein großartiger Ausspruch eines berühmten Patrioten?« Jetzt saß ihr Vater zusammengesunken da und stützte sein Gesicht in die mit Altersflecken übersäten Hände. »Ich kenne den Satz von Schreibübungen«, antwortete er. »Ich musste ihn in einem Kurs üben, wo ich das Tippen gelernt habe.« Jetzt fühlte sich Clarissa etwas ernüchtert. »Trotzdem.« Das Gefühl der Inspiration war noch nicht ganz verflogen. »Hör zu, Dad. Ich kann dir helfen, ich will helfen. Mit dem… du weißt schon.« Bevor er sie wieder 86
zum Schweigen bringen konnte, sprach sie lieber sofort weiter. »Ich bin jetzt erwachsen und kann dir helfen, Dad.« Mittlerweile schien ihr Vater wieder in der Gegenwart angelangt zu sein. Er schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich, Clarissa. Tu nichts, bis wir geredet haben. Ich werde mich bei dir melden.« Er suchte nach der Computermaus oder einer Taste auf der Tastatur, doch dann erinnerte er sich: »Damit ist das Gespräch beendet, Computer.« Als das Bild auf ihrem Monitor abrupt erlosch, schnaubte Clarissa frustriert.
Havanna, Kuba 15. September, 8 30 Uhr Ortszeit Als der zweiundvierzigjährige Han Zhemin aus dem Flugzeug stieg, wurde er auf dem glühend heißen Asphalt der Rollbahn von Havannas Flughafen von einer lärmenden Militärkapelle begrüßt. Trotz der unerträglichen Hitze trug Han einen dunklen Anzug aus Schurwolle. Von einer Bühne oder einem Podium war nichts zu sehen. Zwar waren jede Menge Journalisten anwesend, doch nach General Sheng, dem Kommandeur der Armee, hielt er vergebens Ausschau. Stattdessen wartete zu Han’s großer Überraschung sein eigener Sohn auf ihn. Der neunzehnjährige Leutnant Wu, der gerade die Militärakademie absolviert hatte, salutierte, doch sein Vater bereitete der militärischen Begrüßung ein schnelles Ende, indem er die Hand seines Sohnes ergriff und sie schüttelte. »Warum bist du hier?«, brüllte Han über den Lärm der Militärkapelle hinweg. »Ich bin gerade erst eingetroffen und gehöre jetzt zu General Shengs Stab. Der General lässt sich entschuldigen!« »Wer hat gesagt, dass du nach Kuba kommen kannst?«, fragte Han. »Ich will den Namen des Mannes, der deine Stationierung hier genehmigt hat.« »Verteidigungsminister General Liu Changxing«, antwortete Wu ein bisschen einfältig. Diese Antwort versetzte Han einen Schlag, weil sie etliche Schlussfolgerungen nahe legte. »Verstehe«, sagte er deshalb nur kurz angebunden. Er 87
wandte sich ab und schritt durch ein Spalier von Fernsehjournalisten, die Kameras mit grellen Lichtern auf ihn richteten. Neben Han marschierte ein schweigender Oberst mit blankgezogenem Säbel und mied alle Blickkontakte, als wären sie ihm nicht gestattet. Die Kapelle spielte quälend laut, und Han eilte so schnell wie möglich auf das Terminal zu. Nur einige wenige Male – so selten wie möglich – blieb er stehen, um für die Fotografen zu posieren. Ohnehin favorisierten die Fotografen Wu, weil dieser teilweise unverkennbar die Gesichtszüge eines Weißen hatte. Die Bildjournalisten schienen nicht genug zu bekommen von dem jungen Mann, und Han musste warten. Dies war der erste große Auftritt seines Sohns, seine erste Begegnung mit den nimmersatten, international besetzten Journalistenpulks. Amüsiert betrachtete Han den blinzelnden Wu, der sich unbehaglich zu fühlen schien, sich dann aber entschloss, das Lächeln gegen einen ernsthaften und der Situation angemesseneren Gesichtsausdruck einzutauschen. Obwohl er fast zwanzig Stunden im Voraus darüber informiert worden war, dass Han mit der Maschine aus Caracas eintreffen würde, hatte General Sheng es nicht für nötig befunden, ihn auf dem Flughafen zu begrüßen. Das war eine vorsätzliche Beleidigung, und Han musste einfach wütend sein, weil das die einzig angemessene Reaktion war. Mit schnellen Schritten ging er auf das Terminal zu, Wu jetzt im Schlepptau. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, stellte Han die entscheidende Frage: »Was für ein Geschäft hast du mit Liu gemacht?« Um sicherzustellen, dass sie allein waren, blickte Wu sich ausgiebig um. Gut, dachte Han, er ist vorsichtig. »Ich habe General Liu gefragt, ob ich nicht wie alle meine Kameraden an der Front dienen könnte. Alle sind sie hier! Tsui ist Zugführer!« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer Tsui ist, und es ist mir auch egal«, antwortete Han mit eiskalter Stimme. »Auf der Militärakademie hat er sechs Jahre lang mit mir das Zimmer geteilt«, antwortete Wu enttäuscht. »Wann hast du dich mit Liu getroffen?«, wollte Han wissen. »Nachdem ich die Abschlussprüfung abgelegt habe. General Liu hat gesagt, ich könne bei General Shengs Stab Dienst tun.« Nach der Abschlussprüfung seines Sohnes hatte Han ebenfalls mit Liu 88
geredet. Eine halbe Stunde lang unterhielten sie sich in den luxuriös ausgestatteten Räumen, die auf der Militärakademie höheren Offizieren vorbehalten waren. Sie einigten sich über die grundsätzliche Taktik des amerikanischen Feldzugs und über die Verwaltung der besetzten Gebiete. »Bloß keine Überraschungen«, flehte Liu Han damals an. Das war die einzige Verpflichtung, die ihm der Mann auferlegt hatte, der die gesamten bewaffneten Streitkräfte Chinas befehligte. »Wo ist General Sheng?«, fragte Han seinen Sohn. »Am Hafen.« »Dann wollen wir ihm mal einen Besuch abstatten.« »Jetzt sofort?«, fragte Wu zweifelnd. »Wahrscheinlich ist er sehr beschäftigt.« Die soeben beendete, turbulente diplomatische Mission – zehn lateinamerikanische Hauptstädte in einer Woche – hatte Han ermüdet. Zehn kleine Nationen hatten sich durch subtile Nuancen in den auf Spanisch oder Portugiesisch formulierten Vereinbarungen eine gute Position zu verschaffen versucht – erschöpfende, aber äußerst wichtige Arbeit. »Weißt du, weshalb ich hier bin, Wu?«, fragte Han in einem beiläufigen Tonfall. Wu schüttelte den Kopf. Zwei nebeneinander postierte chinesische Filmteams drehten die Szene aus einer Distanz von etwa zehn Metern. Die Mitglieder des ersten Teams trugen Zivilkleidung und hatten längere Haare, die der zweiten Gruppe trugen Tarnanzüge und hatten kahl geschorene Schädel. Jetzt sprach Han so laut, dass alle mithören konnten. »Ich bin zum Administrator der besetzten amerikanischen Gebiete ernannt worden und habe die Befugnisse eines Gouverneurs!« Die letzte Floskel, von Han auf Englisch präsentiert, war in Peking ausgeheckt worden, um die höchste Ebene der kolonialen Verwaltung zu charakterisieren. »General Sheng und alte Einheiten der chinesischen Armee, die in Nord-, Mitteloder Südamerika stationiert sind, unterstehen mir!« Wu starrte seinen Vater schweigend an, bevor er sich schließlich dem stoischen Oberst mit dem Helm mit dem Kinnriemen zuwandte, der zwar mittlerweile seinen Säbel in die Scheide gesteckt hatte, aber immer noch geradeaus starrte. »Organisieren Sie eine Autokolonne«, befahl der junge Leutnant dem in mittleren Jahren stehenden Oberst, der sofort gehorchte. Vater und Sohn saßen wortlos in der Limousine, bis schließlich der aus 89
dem Fenster schauende Han das Schweigen brach. »Was für ein trostloses Land. Bali ist das nicht gerade.« »Ich war nie in Bali«, bemerkte Wu leise. »Du warst noch nie irgendwo außerhalb der chinesischen Grenzen!«, herrschte Han seinen Sohn an. Was er damit sagen wollte, war beiden klar: Wo hast du dich da hineinmanövriert? Nachdem er sein Mütchen gekühlt hatte, lächelte Han. »Wenn du zurückkommst, wirst du Bali besuchen, und ich werde arrangieren, dass ein Mädchen mitfährt. Nur so kann man Bali bereisen, nur mit einer wunderschönen Frau. Glaub mir das, Wu.« Durch das Fenster sah Wu die amerikanischen Kriegsgefangenen, die auf den Feldern um Raketenstellungen herum Schützengräben aushoben. Die Männer trugen keine Hemden, waren von der Sonne verbrannt, schmutzig und von der Arbeit gebeugt. Erniedrigt und besiegt. Merkwürdigerweise wurde es Wu dabei keineswegs leichter ums Herz. »Hier waren die Kämpfe wirklich schlimm«, sagte er, während er seinen Blick über die dichte Vegetation schweifen ließ. »Ich habe mit Tsui gesprochen, er hat hier gekämpft.« Wu wandte sich zu seinem Vater um, der ihn mit gerunzelter Stirn anstarrte. Einen Augenblick später drehte sich Wu seufzend wieder zum Fenster, wo durch seinen Atem die Scheibe beschlug. »Laut Tsui waren die Amerikaner in den Zuckerrohrfeldern manchmal nur einen Meter entfernt, und man konnte sie trotzdem nicht sehen. Manchmal hat man sie zuerst gerochen, hat Tsui erzählt.« »Arme Schweine«, kommentierte Han. »Wer? Die Amerikaner oder die Chinesen?« »Beide.« Han fixierte seinen Sohn weiterhin, und dieser hielt seinem Blick ohne jedes Zurückzucken stand. »Du wirst nie an einem Gefecht teilnehmen, Wu«, bemerkte Han in einem eher sachlichen als mitfühlenden Tonfall. »Es ist besser, wenn du damit umzugehen lernst. Alles ist auf höchster Ebene abgesprochen worden. Das ist nicht der richtige Platz für dich.« Wu wandte sich ab, aber während des nun folgenden, längeren Schweigens blickte er doch ab und zu zu seinem Vater hinüber. Wu war Han’s einziges Kind, das Resultat einer flüchtigen Affäre. Anfangs war der Junge nicht offiziell als Han’s Sohn anerkannt und auf den weit verbreiteten Namen »Wu« getauft worden. Auf Weisung seiner Familie hatte Han gerade einmal an der Feier anlässlich der erfolgreich absolvierten Ab90
schlussprüfung der Militärakademie teilgenommen. Davor hatte er seinen Sohn jahrelang nicht gesehen. Han informierte ihn, ebenfalls auf Geheiß seiner Familie, dass er künftig den Namen »Han« tragen werde. Folglich hieß der Sohn jetzt offiziell »Han Wushi«, wenngleich alle auch weiterhin seinen alten Vornamen »Wu« benutzten. Wu war ein Mischling, halb Weißer, halb Chinese, und von seinem vierten bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in verschiedenen Militärakademien untergebracht worden. Wie bei den besten Absolventen der renommiertesten Militärakademien des Landes üblich, erhielt er mit achtzehn Jahren sein Offizierspatent. Damals erschien Han der Junge stolz darauf, immer als Bester seines Kadettenkorps abgeschnitten zu haben, als wäre das einzig und allein auf seine Verdienste zurückzuführen. Noch hatte er nicht begriffen, dass sich hier alles nur um Macht drehte. Um die Macht seiner Familie, wenn man genau sein wollte, denn Han’s Onkel – Wu’s Großonkel – war Chinas Premierminister. »Am Flughafen hast du Befehle erteilt«, bemerkte Han. »Mittlerweile bin ich kein Kadett mehr, sondern Offizier«, grummelte Wu. Han brach in Gelächter aus, und Wu schien überrascht zu sein, dass sein Vater seine Belustigung so offen zeigte. »Du bist gerade mal Leutnant und erteilst einem Oberst Befehle?«, sagte Han. »Wie kommst du dazu? Empfiehlt dein Freund, dieser Leutnant Tsui, etwa diese Art von ›Ehrerbietung‹?« Während Wu über diese Frage nachdachte, begann sein Vater erneut zu lachen. Dann blickte er wieder aus dem Fenster. Irgendwie spürte er, dass Wu ihn eingehend betrachtete. Nur selten verbrachte der Junge so viel Zeit mit seinem Vater. Soll er mich nur angucken, dachte Han. Er wird seine Lektion schon noch lernen. Plötzlich stellte Wu aus heiterem Himmel eine Frage. »Wie kommt es eigentlich, dass unsere Familie, die öffentlich vor einem Atomkrieg mit Amerika warnt, privat die Invasion in den Vereinigten Staaten unterstützt?« Verdutzt hob Han eine Hand, um den Jungen zum Schweigen zu bringen. Dann zog er einen Wanzendetektor aus der Tasche, der zu den technisch ausgereiften, neuen Errungenschaften der chinesischen Armee gehörte. Mittlerweile waren diese Geräte auf ein extrem kleines Format geschrumpft. Han fuchtelte mit dem Wanzendetektor herum und strich damit 91
auch über den Uniformrock seines Sohns. Als sich ihre Blicke trafen, ließ Han den Wanzendetektor wieder in seiner Tasche verschwinden, um anschließend die Frage seines Sohns zu beantworten. »Amerika verfügt heute über das weltweit produktivste Humankapital. Mich schickt man dorthin, um es für unsere Zwecke nutzbar zu machen, Wu.« »Hat der Premierminister deshalb…?« »Über Politik solltest du dir keine Gedanken machen«, unterbrach Han. »Weil jeder weiß, wer du bist, solltest du dir besser über gar nichts Gedanken machen. Die Familie gibt dir einen Schild und ein Schwert, und du kämpfst für den Griff der Familie nach der Macht. Ob wir bei diesem Griff nach der Macht den Kürzeren ziehen, hängt ganz davon ab, was ich in den wichtigen nächsten Monaten in Amerika leiste, Wu.« Während des weiteren Verlaufs der Fahrt sagte keiner mehr ein Wort. Liu Changxing, was hat er bloß vor?, dachte Han, der den vom Verteidigungsminister ausgebrüteten Plan zu ergründen versuchte. Jetzt sah er durch das Autofenster das Meer. Während die Wagenkolonne auf die Küstenstraße einbog, ließ er seinen Blick wehmütig über die blauen Wellen gleiten. An seine Studentenjahre in Amerika erinnerte er sich gern. Auch Wu starrte aufs Meer. Dies war die Heimat seiner Mutter, die er nie kennen gelernt hatte. General Sheng schlenderte an den Docks entlang und beobachtete, wie Soldaten an Bord der Truppentransporter gingen. In der Ferne tauchte Han’s Autokolonne auf. Mehr als je zuvor machte sich Sheng über den amerikanischen Feldzug Sorgen. Die mürrischen Soldaten auf den Gangways ließen nichts mehr von jener Begeisterung erkennen, mit der zuvor andere Truppen an Bord der nach Japan, Indien oder Saudi-Arabien auslaufenden Kampflandungsboote gegangen waren. Solange die Invasionsflotte noch vor Anker lag, war sie auf gefährliche Weise verwundbar. Die chinesischen Raketenabwehrstellungen konnten – genau wie die der Amerikaner – fast jede Bedrohung abfangen, doch wenn nur eine durchkommende Rakete mit einem Atomsprengkopf versehen sein sollte, würde ein immenser Schaden entstehen. Neben Sheng tauchte jetzt sein Adjutant Oberst Li auf. »Ich habe einen Teil der von Ihnen gewünschten Informationen«, berichtete er. »Der Name lautet ›Operation Olympic‹.« Sheng nickte. »Ich werde Verteidigungsminister Liu benachrichtigen«, sagte Li. 92
»Nein«, befahl Sheng. »In Peking gibt es zu viele undichte Stellen und zu viele Leute, deren Loyalität zweifelhaft ist.« Han Zhemin und Wu stiegen aus der Limousine aus und gingen über eine nicht asphaltierte Straße zu den Docks. Vor der zentralen politischen Schlacht des 21. Jahrhunderts musste Han seine Gedanken noch ordnen. Nach der Autofahrt fühlte er sich erholt und für den Kampf gerüstet. Tatsächlich hatte er sich sein ganzes privilegiertes Leben lang darauf vorbereitet. Als kleiner Junge hatte Han den ungeheuren Reichtum seiner Familie nicht gerade zu schätzen gewusst. Er führte ein von der Außenwelt abgeschiedenes Leben in einem vornehmen Stadtteil Hongkongs, betreut von einem englischen Privatlehrer und einem englischen Kindermädchen, in einem Haus voller Diener und einer Frau, die den Haushalt versah. Als Hongkong an China zurückgegeben wurde, änderte sich vieles. In diesen unsicheren Zeiten wurde Han nach Princeton und später nach Harvard geschickt. »In den Vereinigten Staaten kannst du tun und lassen, was du willst«, sagte sein Vater, »aber du solltest unbedingt Politologie studieren.« Dann erzählte er Han von den Plänen der Familie, die nicht vorsahen, dass Han als Geschäftsmann in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte. Stattdessen sollte er, dem Beispiel seines Onkels folgend, in die Politik gehen, wo im nächsten Jahrhundert die eigentlichen Vermögen zu machen seien. Han’s Vater hatte hunderte Millionen im Handel in Ostasien verdiente Dollar durch Investitionen im kommunistischen China in Billionen Yuan verwandelt, doch Han’s Onkel war von den in die Jahre genommenen Kommunisten in Peking zum Gouverneur von Hongkong ernannt worden. Unerwarteterweise blühte die Stadt auf, und während Han in den höheren Semestern in Harvard studierte, wurde sein Onkel nach Peking berufen. Die Jahre in Harvard waren die unbeschwertesten in Han’s Leben. Da er nie zuvor irgendeine normale Bildungsinstitution besucht hatte, stürzte er sich in Amerika in das dortige kulturelle Leben. Auf Partys hatte er viele wunderschöne Frauen kennen gelernt, darunter auch Wu’s Mutter. Aber eine Ehe mit einer Amerikanerin war ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Familie in Peking gab ihm zu verstehen, dass sie sehr bald eine gute Partie und eine nachfolgende Heirat für umorganisieren werde. Jetzt stellte sich 93
Oberst Li vor, der Han die letzten paar Meter zu dem kommandierenden General begleitete. Dieser war Han’s gefährlichster und größter Feind. Bei dem unvermeidlichen Konflikt, der Han in Amerika erwartete, stand für die von seinem Onkel geführte Regierung aus Zivilisten alles auf dem Spiel. Öffentlich opponierte sie gegen die Invasion, weil diese einen Atomkrieg befürchten lasse, im privaten Rahmen ließ sie verlauten, die USA seien »ein Land zu viel«. Hinter geschlossenen Türen und in Hinterzimmern insistierte Han darauf, dass die Eroberung Amerikas selbst für China eine Nummer zu groß sei. Auf Cocktailpartys, bei privaten Abendessen, Golfpartien oder Tennismatches warnten Han und andere zivile Emissäre vor einem Debakel, das Blut fordern und Ressourcen verschlingen werde. Aber der wahre Grund des Widerstands der Familie gegen die Invasion lag in der Angst, dass sie erfolgreich verlaufen könnte. Nach der spektakulären Serie von militärischen Siegen stand Verteidigungsminister Liu in den Meinungsumfragen ganz oben, und nur das zählte für Millionen gesichtsloser chinesischer Bürokraten, die jetzt neue Territorien zu verwalten, neue Volkswirtschaften auszubeuten und neue Chancen auszunutzen hatten, die allen zugute kommen würden. Hätten diese Bürokraten nicht trotzdem Angst vor einer unkontrollierten Herrschaft der Militärs gehabt, wären die Zügel den uniformierten Eroberern schon sehr viel früher ausgehändigt worden. Die Alternative zu den Militärs war die aus Zivilisten bestehende Regierung. Die neuen, nicht mehr kommunistischen Mandarine in der Regierung und im Geschäftsleben, denen jede ideologische Fixierung fremd war, wollten ein stabiles System mit gegenseitiger Kontrolle zur Verhinderung des Machtmissbrauchs, aber um die Stabilität sah es schlecht aus. Ein Sieg über Amerika würde die Wertschätzung der Militärs durch die chinesische »Wählerschaft« so stark ansteigen lassen, dass die Zivilregierung völlig verspielt hatte. Amerika war das zentrale Gefechtsfeld, auf dem sowohl die internationalen militärischen als auch die innenpolitischen Auseinandersetzungen entschieden werden würden. Seite an Seite gingen Han und General Sheng den Kai entlang. In seinem dunklen Anzug wirkte Han in diesem geschäftigen Hafen deplatziert. »Ich habe die Zustimmung erhalten«, berichtete Han, »Ihre Armee mit Erdöl, Öl und Schmiermitteln aus Venezuela und Mexiko versorgen zu 94
dürfen. Außerdem mit Rindfleisch aus Argentinien – et cetera, et cetera. Damit haben wir unseren Job erledigt, jetzt müssen Sie Ihren tun. Amerika ist nicht so leicht zu unterwerfen wie Indien.« Shengs Feldmütze reichte gerade einmal bis zu der gepolsterten Schulter von Han’s Anzug, aber die persönliche Ausstrahlung des kleinen Kommandeurs litt nicht im Geringsten unter seiner Kleinwüchsigkeit. Während der siebzigjährige General an den Schiffen vorbeiging, nahmen Soldaten und Matrosen Haltung an. Sheng war Befehlshaber der 11. Heeresgruppe Nord, die mittlerweile die mächtigste Armee der Welt war. »Mir ist durchaus klar«, antwortete Sheng, der sich seine Worte immer sorgfältig zurechtlegte, »dass Sie aufgrund Ihrer besonderen Feinfühligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten zum dortigen Gouverneur ernannt worden sind.« »Administrator«, berichtigte Han. »Damit wollte ich nur sagen, dass…« »Ich habe in Amerika studiert«, unterbrach Han. Die beiden blieben stehen und blickten sich an. Überall wurden Schiffe mit Paletten beladen. Bisher war Han Sheng nur einmal persönlich begegnet. Damals war Sheng kommandierender General jener Armee gewesen, die Tel Aviv eingenommen hatte. Die Armee, die vor Shengs Truppen ins Feld gezogen war, war durch dreiundzwanzig taktische Atomsprengköpfe dezimiert worden. Durch Eilbefehle von Verteidigungsminister Liu war Sheng die Ehre zuteil geworden, grausame Rache zu nehmen. Der Genozid in Tel Aviv ging auf Shengs und Lius Konto. Anschließend wurde Han damals nach Israel entsandt. »Damit wollte ich nur sagen«, nahm Sheng seinen Satz an der Stelle wieder auf, wo er unterbrochen worden war, »dass es Sinn macht, einen Experten als Gouverneur nach Amerika zu schicken.« Han lächelte, und sie gingen schweigend weiter. Überall in dem Hafen wurden Truppentransporter und Frachtschiffe vertäut. Zwischen den Schiffen sah Han das blaue Wasser. »Man hat Sie über Chinas umfassendere Ziele in diesem Krieg informiert, General Sheng«, sagte Han. »Stellen Sie sich einmal vor, wir könnten das intellektuelle Kapital Amerikas in die Sphäre unserer ökonomischen Kooperation integrieren. Sie müssen Ihre Offiziere und Soldaten im Sinne dieses höchsten Ziels erziehen. Meiner Ansicht nach ist das Ihre vorrangigste Aufgabe. 95
Wenn Ihre Truppen Verbrechen begehen, kann ich die Herzen und Köpfe der Amerikaner nicht gewinnen. Eine Neuauflage der Probleme, die wir in Israel hatten, muss ausgeschlossen sein.« »Ich habe meine Befehle damals direkt aus Peking erhalten«, bemerkte General Sheng. »Um das einmal festzuhalten: Ich hatte die Befugnis, die Spezialmunition einzusetzen.« »Sie war für die Pioniere bestimmt, die damit Dämme niederreißen und Kanalbetten freisprengen sollten«, antwortete Han auf die offene verbale Provokation. Er war sich einer möglicherweise drohenden Gefahr bewusst und achtete auf die Geräusche des Hafens und die Gerüche, die die Brise zu ihm herübertrug. In Tel Aviv war es genauso gewesen. Man hatte Han als Zivilisten geschickt, um ihm Shengs Atomwaffen zu unterstellen. Weil er sich für die Aufgabe abhärten wollte, war er zuerst über die verkohlten Überreste der Stadt geflogen. »Es muss Ihnen damals sehr schwer gefallen sein«, sagte Sheng, während er zur Sonne hinaufblickte. »Die Exekutionen, meine ich. Siebenunddreißig Offiziere, mein gesamter Stab.« »Das ist mir nicht im Geringsten schwer gefallen«, erwiderte Han. »Sie waren schuldig an diesen Verbrechen.« Genau wie Sie, dachte Han, aber Sie standen zu hoch in der Hierarchie. Mittlerweile hatte Sheng den begehrtesten Posten in der ganzen Armee, und zweifellos hatte er diesen Karrieresprung Tel Aviv zu verdanken. Als sie am Ende des Kais stehen blieben, glitt ein schwaches Lächeln über Shengs Züge. »Und dennoch«, sagte der General, »mit einer Pistole? Siebenunddreißig Kopfschüsse. Sie mussten dicht vor Ihre Opfer treten, um diese hässliche Aufgabe hinter sich zu bringen, Administrator Han. Tatsächlich, Sie hätten lieber ein Gewehr nehmen sollen.« Han nickte, als wüsste er den Ratschlag zu schätzen. »Beim nächsten Mal werde ich Ihren Tipp beherzigen.«
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Birmingham, Alabama 15. September, 1630 Uhr Ortszeit Eine dicke weiße Wolke – glücklicherweise keine graue Regenwolke, wie Stephie erleichtert feststellte – schob sich vor die Sonne, doch es war nur eine kurzzeitige Linderung der Hitze. Sehr schnell war wieder alles beim Alten. Stephies Hose, Büstenhalter und T-Shirt waren völlig durchgeschwitzt. Dass der Schweiß nicht sofort auf die Erde tropfte, lag einzig und allein daran, dass eine dicke Schmutzschicht auf ihren Armen, ihrem Hals und ihrem Gesicht die Feuchtigkeit absorbierte. Stephie legte gerade letzte Hand an die Überdachung ihres Schützenlochs. Drei Schichten Sandsäcke wurden auf grob zurechtgeschnittene Bretter gelegt. Ein paar Soldaten hatten mit Kettensägen junge Kiefern von ihrem Schussfeld gerodet, die meisten anderen Sandsäcke aufgehalten oder Erde hineingeschaufelt. Nach dem Debakel an der Küste waren die traumatisierten Teenager nicht gerade in der Stimmung, sich angeregt zu unterhalten. Stephie war spät dran mit der Fertigstellung ihres Schützenlochs. Als sie und Becky Marsh mit der Bewachung der Kommunikationselektronik betraut worden waren, hatte sie fast Zustände bekommen. Der männliche Kommunikationsexperte – von allen nur »Commo« genannt – war aufgefordert worden, gefällte Baumstämme an die Hinterseite von Traktoren zu ketten. Becky hatte den superleichten, mit Elektronik voll gestopften Helm aufgesetzt. »Die Videoausstattung müsstest du dir auch mal ansehen«, hatte sie kommentiert, während sie die vier Displays betrachtete, die an schlanken, an dem Keramikhelm befestigten Bügeln angebracht waren. »Hey, bei dem Helm gibt’s sogar so was wie eine Klimaanlage! Einfach himmlisch!« Becky verschränkte die Arme vor der Brust. Sie blickte von einem Display zum ändern und zog dann einen der winzigen Monitore dicht an ihr Auge heran. »Hier sehe ich gerade einen, der an der Spitze eines Trupps marschiert. Gegen seinen Helm klatschen Blätter.« »Ist dir eigentlich klar, dass wir nur hier sind, weil wir dann im Notfall nicht kämpfen müssen?«, fragte Stephie aufgebracht. »Wir buddeln nicht, Becky! Wenn’s dunkel wird, stehen wir ohne Schützenloch da, und dann schicken sie uns zur Nachhut zurück.« »Ja und?«, rief Becky ungläubig. Sie runzelte die Stirn. »Wo zum Teufel 97
liegt dein Problem? Hau doch ab, wenn du unbedingt kämpfen willst!« Erneut blickte sie auf den kleinen Bildschirm. »Sieht ganz so aus, als würden sie ein McDonalds überprüfen. Oder ein Burger King. Ja, es ist ein Burger King.« Stephie suchte Ackerman auf, um ihn zur Rede zu stellen. »Keine Sonderbehandlung«, rief sie dem Platoon-Führer in Erinnerung. Damit wiederholte sie den Befehl des Kommandeurs der Brigade. Lieutenant Ackerman ließ sich erweichen. Stephie sollte ihr Schützenloch ausheben, Becky bekam den Job des Commo. Vorteilhaft war immerhin, dass die Ausrüstung des Commo es erlaubte, E-Mails zu versenden und zu empfangen. Während einer kurzen Pause schnappte sich Stephie den Helm und eine mit Elektronik voll gestopfte Weste. Ungestört unter einem großen Baum sitzend, schickte sie an ihre Mutter und ihren Stiefvater eine aufmunternde Video-Mail. Schließlich folgten V-Mails an Conner Reilly, Sally Hampton und Gloria Wilson. Fast nachträglich fiel ihr dann noch ihr leiblicher Vater ein, und sie sandte ihre Nachricht an die Internet-Adresse »www.whitehouse.gov«. Als Stephie jetzt einen weiteren Sandsack auf die Bedachung ihrer Stellung hievte, begann ihr Rücken zu schmerzen. Simpson – Animal – kam mit belaubten Zweigen zurück. Da er das schwere Maschinengewehr und den Munitionsgurt trotzdem tragen musste, krümmte er sich unter dem Gewicht seiner Last. Mittlerweile mussten sie ihre Waffen ständig bei sich tragen. »Hier!«, sagte er, während er Zweige, MG und Patronengurt neben Stephies Schützenloch fallen ließ, als wäre für ihn damit die Arbeit dieses Tages getan. »Du hast noch nicht Feierabend!«, schnappte Stephie. Animal atmete schwer, sein Gesicht war stark gerötet. »Allerdings, für heute war’s das.« Stephie rieb sich ihren schmerzenden Rücken. »Du brauchst eine Pause, weil du diese paar Zweige eingesammelt hast?« Er schwankte wie ein Baum im Wind. »Simmons hat mich eine halbe Meile rausgeschickt, damit wir hier nicht die Tarnung ruinieren.« »Armer Kerl, dann setz dich! Vielleicht hast du einen Hitzschlag.« »Leck mich am Arsch«, sagte Animal. Dennoch setzte er sich neben Stephies Schützenloch. »Dein kleines Fort hier wird dir nichts nutzen. Ein 98
Treffer, dann kann man deinen Kadaver nur noch durch DNA-Tests identifizieren, Roberts.« »Keine Sorge, ich werd’s länger überstehen als du. Zumindest wird das hier eine Mörsergranate unschädlich machen.« Stephies Kopf schmerzte genauso wie ihr Rücken. Auf hartem Boden hatte sie noch nie schlafen können. Sie war verschwitzt, wurde von Moskitos und Wanzen gequält, hatte Schnittwunden, blaue Flecken und Blasen. In der vergangenen Nacht waren sie vom Regen durchweicht worden, und jetzt bekam sie Hautausschlag, weil sie zu lange die feuchten, verdreckten Klamotten anbehalten hatte. Sie breitete die grünen Zweige über die aufgeworfene Erde, die ihre Stellung zu verraten drohte, und kroch dann in das dunkle Schützenloch. Die Luft war muffig, und keine frische Brise drang durch die einzige Öffnung, durch die man sich gerade hindurchzwängen konnte. Wollte man frische Luft einatmen, musste man das Gesicht direkt vor die für die Waffe vorgesehene Öffnung bringen. Stephie fragte sich, wie erstickend es wohl sein mochte, wenn man nachts hier schlafen musste, dann dachte sie darüber nach, wie es wohl sein würde, wenn der Rauch ihres M-16 die muffige Luft noch übler machte. Irgendjemand zwängte sich neben sie und stieß sie unsanft an. »Sony!«, entschuldigte sich John Bums. »Seit Becky für die Kommunikation zuständig ist, wurde einiges über den Haufen geworfen«, erklärte er. »Sanders haben sie zur Second Squad geschickt, ich bin zu deinem Fire Team versetzt worden.« »Jetzt splitten sie die Teams auf?«, fragte Stephie. »Und warum das Fire Team Alpha? Becky gehört zum Team Bravo! Einen ganzen Monat lang haben wir zusammen geübt!« John zuckte nur die Achseln, und es war das gleiche Achselzucken, mit dem er damals auf die Frage geantwortet hatte, warum er Private First Class sei. Erst spät, die Einheit war bereits aufgestellt worden, war er zu ihrem Platoon gestoßen. Er war älter als die meisten und harte sich – von Stephie einmal abgesehen – den anderen gegenüber eher reserviert verhalten. Da in Stephies First Squad bereits alle Plätze vergeben waren, harte man ihn zum Second Squad abkommandiert. Und dennoch lag er jetzt neben ihr, als hätte ihn die blinde Macht des Schicksals geschickt. Stephie schnaubte verächtlich. Vom ersten Tag an hatte John sich zu ihr hingezogen gefühlt, und jetzt musste er verdammt happy sein. Vermutlich glaubt 99
er, dass er mich flachlegen kann, dachte sie verwundert, wenn er den ruhigen und starken Beschützer spielt. »Hier ist wirklich nur für einen Platz«, sagte Stephie. »Ich hatte keine Gelegenheit, selbst ein Loch zu buddeln«, antwortete John. Stephie grinste skeptisch, doch John ignorierte es einfach. »Wir beide sollen was zum Spachteln einkaufen.« »Mist!«, stöhnte Stephie. »Ich bin hundemüde.« Sie blickte durch den Schlitz nach draußen, wo es allmählich dunkel wurde. »Dann gehe ich allein«, schlug John vor, doch Stephie schüttelte den Kopf. Als sie aus dem Schützenloch kletterten, grinste Animal sie an. Er streckte seine Zunge so weit aus dem Mund, dass sie seine Nasenspitze berührte. »Guter Gott!«, stöhnte Stephie angewidert, wobei sie zugleich an John und die Fehldeutung der Situation durch Simpson dachte. Nachdem sie ihre Rucksäcke geleert hatten, trotteten sie über den Hügel und gingen dann eine kurze, gerade erst mit einem Bulldozer planierte Straße entlang. »Wie alt bist du?«, fragte Stephie. »Dreiundzwanzig.« »Du wirkst älter«, bemerkte Stephie. »Warst du auf dem College?« John nickte. »Warum bist du dann kein Offizier? Das Reserve Officers Training Corps war doch wohl Pflicht, oder? In gesundheitlicher Hinsicht muss ja wohl alles in Ordnung sein, sonst wärst du nicht mal Private First Class.« John lächelte zwar, antwortete aber nicht. Okay, dachte sie plötzlich, ich weiß schon, was du bist. An jedem Briefkasten auf dem Weg zum Lebensmittelgeschäft flatterten kleine amerikanische Fähnchen, und weil das beim Militär so üblich war, salutierten Stephie und John jedes Mal, wenn sie an einer Nationalflagge vorbeikamen. Gelegentlich begrüßte ein vorbeifahrendes Auto oder ein Lastwagen die beiden mit einem Hupen, aus den Fenstern hängende Kinder munterten sie mit Hochrufen auf. Der Laden war mit Kunden in Zivil überfüllt. Ein alter Sicherheitsbeamter winkte sie um einen Metalldetektor herum. An den Anblick von bewaffneten Soldaten in Uniform hatten sich die Menschen längst gewöhnt. Stephie und John hängten ihre Waffen um, damit der Einkaufswagen frei blieb, den sie die Gänge hinabschoben. »Also, John«, sagte Stephie, »was wollen die anderen deiner Meinung nach zu Abend essen? Vielleicht Broccoli? Oder Spinat?« 100
John lachte. »Wie wär’s mit Hotdogs und Bier?« Er begann abgepackte Wiener Würstchen in den Einkaufswagen zu werfen. »Sollten wir nicht besser was Nahrhafteres kaufen?« »Sie würden mir ein paar kräftige Arschtritte verpassen!« Solche Worte hatte Stephie von John bisher noch nicht vernommen. »Und was ist mit meinem Arsch?«, fragte sie. »Den würden sie verschonen.« Stephie lachte. »Und warum?« Sie verrenkte ihren Oberkörper, um zu überprüfen, ob mit ihrem Hinterteil etwas nicht stimmte. »Weil ich es nicht zulassen wurde«, antwortete John. Stephie beendete das Spielchen. »Allmählich wird das alles irgendwie lächerlich.« Hier stand sie vor ihm, im Kampfanzug und mit Gewehr, und er spielte immer noch die Rolle des großen Beschützers. Unerwartet schob eine alte Frau ihren Einkaufswagen auf sie zu und ergriff Stephies Hand. Ihr hochgestecktes weißes Haar wirkte, als hätte sie sich für den Einkauf zurechtgemacht. Das Alter hatte ihre Haut faltig und ihren Gang krumm werden lassen. »Ich wollte Ihnen beiden etwas sagen.« Jetzt ergriff sie auch noch Johns Hand. »Seit Monaten begegne ich am Straßenrand Soldaten, doch ich habe mir nie die Zeit genommen, um über meine Gedanken zu reden. Deshalb möchte ich bei Ihnen jetzt nachholen, was ich bei den anderen versäumt habe: Gott segne Sie! Sie beide und all die anderen jungen Soldaten. Den ganzen Tag über denke ich an Sie, und ich bin ja so stolz auf Sie! Das ganze Gerede darüber, Sie und Ihre Generation seien weniger patriotisch als Ihre Vorgänger, ist einfach Unsinn. Ihre Eltern haben alles richtig gemacht. Sie sind unsere Retter und Helden. Nochmals vielen Dank.« Bevor Stephie oder John eine Antwort einfiel, war die alte Frau, deren Worte sie tief berührt hatten, schon wieder verschwunden. Nachdem sie ihren Einkauf wortlos beendet hatten, stopften sie draußen ihre Rucksäcke mit den für das Platoon so wichtigen Lebensmitteln voll. Natürlich bestand John darauf, beide Rucksäcke zu schleppen, und Stephie ließ es grinsend geschehen. Als er so beladen war, dass er kaum noch etwas tragen konnte, reichte Stephie ihm ihre Waffen, um ihn dann plötzlich und ohne jede Vorwarnung auf die Lippen zu küssen. Sie begann zu lachen, deshalb klickten ihre Zähne gegeneinander, und sie lachte noch mehr. Doch als sie sich von ihm löste, verriet Johns Miene, dass er gar nicht amüsiert war. 101
Das war ein Fehler, schoss es ihr durch den Kopf. In der Ferne, hinter dem Hügel, ertönte plötzlich Gewehrfeuer. Stephie riss ihren Rucksack an sich, und sie rannten über den Parkplatz und die kurze Straße hinab, wobei die Konserven laut klapperten. Nachdem sie am Fuß des Hügels ihre Rucksäcke verstaut hatten, stiegen sie mit gezückten Warfen den rückseitigen Abhang hinauf. Dem Lärm nach schien die gesamte Kompanie in ein Gefecht verwickelt zu sein. Als sie den Kamm erreicht hatten, war der Krach von etwa hundertfünfzig automatischen Waffen ohrenbetäubend. Um Stephies Schützenloch herum hatten sich in einem Halbkreis Generäle und Fernsehreporter mit ihren Kameraleuten aufgepflanzt. Das grinsende Tier und sein qualmendes Maschinengewehr waren in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht. Als jemand Stephie erblickte, rief Simpson laut: »Da ist sie!« Die Kameraleute rannten los. John konnte sie Stephie vom Leib halten, doch schon tauchte hinter ihnen ein Major General auf. »Private Roberts, es ist mir ein Vergnügen!«, verkündete der Mann mit dröhnender Stimme. Statt zu salutieren, begrüßten sie sich mit Handschlag.
Weißes Haus, Oval Office 15. September, 2115 Uhr Ortszeit Schon zum dritten Mal klickte Bill Baker mit der Maus seines Computers auf den »Play«-Button. Die auf dem Monitor ablaufende V-Mail zeigte ihm das Bild seiner Tochter, die irgendwo im den Wäldern von Alabama saß. »Hi, Dad«, sagte sie winkend und lächelnd. Stephie sah genauso wunderschön wie eh und je aus. In ihrem gebräunten und schmutzigen Gesicht blinkten weiße Zähne auf, doch ihr Lachern, das sich sonst immer so mühelos auf ihre Lippen zu schleichen schien, wirkte jetzt unnatürlich und gezwungen. »Hoffentlich geht es dir auch gut. Ich darf nicht genau sagen, wo wir sind, aber wahrscheinlich weißt du es sowieso. Wie auch immer, mir geht’s gut, wie uns allen. Und man kümmert sich wirklich sehr um mich, vielen Dank.« Sie lachte. Bill war sich nicht ganz sicher, was sie mit ihrem letzten Satz sagen wollte. »Das Wetter war okay, vielleicht ein biss102
chen heiß. Wir bekommen drei Mahlzeiten am Tag. Einen großen Teil der Lebensmittel kaufen wir in den hiesigen Geschäften, und wir kochen in der Nähe unserer Stellungen. Von den Waffen mal abgesehen erinnert das Ganze an einen Campingurlaub.« Stephie kicherte. »Wir warten einfach nur.« Die Betonung lag auf dem Wort »warten«. Sie lachte in sich hinein und zuckte die Achseln. Alles wirkte wie ein einstudiertes, künstlich fröhliches Verhalten. »Genau weiß niemand, wann sie kommen werden, von dir vielleicht mal abgesehen. Zumindest vermute ich das.« Erneut zuckte sie die Achseln, ihr Gesichtsausdruck verriet Unsicherheit »Also, das war’s fürs Erste aus dem Camp Stephie. Solltest du diese Nachricht erhalten, antworte bitte. Ich werde den Commo schon so weit bringen, dass er mich benachrichtigt. Ich liebe dich.« Die letzten Worte klangen schon ernsthafter. Stephie schlug den Blick nieder und schaute dann wieder direkt in die Kamera. »Ich liebe dich sehr und vermisse dich, Dad.« Sie deutete einen Kuss an. Das Bild zitterte, das Video war beendet. Bill griff nach der Maus und klickte erneut auf den »Play«-Button.
Außenministerium, Washington 16. September, 1000 Uhr Ortszeit Clarissa lehnte sich zurück, die Computertastatur auf den Oberschenkeln, und legte dann die Füße auf den Schreibtisch, um die aufgelaufenen EMails durchzugehen. »Wie spät ist es?«, fragte ein Absender, der seinen Namen nicht preisgeben wollte. Stirnrunzelnd beschloss Clarissa, die Herkunft der E-Mail zu eruieren. Ein kleines Programm übernahm die Funktion des Detektivs und schnüffelte wie ein Spürhund im Network herum. Bald wurde ihr berichtet, die E-Mail stamme von einem »geheimen Regierungs-Server«. Eine solide Firewall – Endstation. Alle im Bereich der nationalen Sicherheit Beschäftigten benutzten denselben anonymen Router, der die Vernichtung aller im Internet umherschwirrenden Datenspuren garantierte, die auf das Verteidigungsministerium zurückgingen. Wenn irgendwas Großes im Gange ist, will man die Chinesen ja schließlich nicht dadurch alarmieren, hatte man Clarissa 103
erzählt, dass spät nachts aus der Abteilung der Navy oder der Air Force ungewöhnlich viele Pizza-Bestellungen herausgehen. »Wie spät ist es?«, fragte der Computer immer noch. Sie tippte verschiedene Einträge in das Dialogfenster, aber es war vergeblich. Also ging sie weiter ihre E-Mails durch. Memo, Memo, eine Rechnung, Memo, Memo, eine Bestätigung, Memo, Memo, Memo. Wie spät ist es? Sie versuchte, sich zu konzentrieren und ihrem Gehirn die richtige Antwort abzupressen. Was für eine Antwort wollen die? Ist es irgendein Eingeweihten bekannter Witz, der etwas mit der Zeit zu tun hat? Plötzlich fiel ihr etwas ein. Die Zeit ist reif. Sie nickte befriedigt vor sich hin und tippte die vier Wörter ein, die sie zugleich mit jener tonlosen Stimme vor sich hinmurmelte, die für Monologe reserviert ist. Als nach dem Druck auf die »Enter«-Taste nichts passierte, stieß sie einen Fluch aus. Dann versuchte sie es erneut: Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen. Noch bevor sie die »Enter«-Taste bedienen konnte, begann sich das Dokument vor ihren Augen zu entschlüsseln. Vor Überraschung stand ihr der Mund offen. In Gedanken katalogisierte sie die E-Mail unter dem Stichwort »Letter«. Lächelnd dachte sie, dass es ihr Vater sein musste, der offenbar eine Vorliebe für Heimlichtuerei entwickelt hatte. In der rechten oberen Ecke des Monitor zählte eine Uhr von neunzig Sekunden an abwärts. Wofür soll das denn gut sein?, fragte sich Clarissa. Wir beide wollen Amerika retten. Sie, indem Sie uns bei etwas helfen, das ich als edle Sache zu bezeichnen wage. Ihr Vater dadurch, dass er zur richtigen Zeit der richtige Mann ist, der das Land führen kann. Die Uhr war bei sechzig Sekunden angekommen und lief weiter. Wir gehören zu den höchsten Kreisen des amerikanischen RegierungsEstablishments. Ich selbst bin ein hochrangiger Regierungsbeamter, dessen Identität für den Augenblick nicht preisgegeben werden kann. Aber ich war heute mit Ihnen im Lageraum. 104
War es ihr Boss, der Außenminister? Oder vielleicht der Verteidigungsminister? Oder der Nationale Sicherheitsberater? Oder ein Offizier? Oder wer sonst? Würden Sie Südflorida opfern, oder würden Sie auf jede nur denkbare Art und Weise kämpfen? Mit all Ihrer Kraft und all Ihren Reserven? Wir haben uns für Letzteres entschieden, für den Weg, den ich wohl als den der unsterblichen, großen Menschen bezeichnen darf. Wir brauchen Ihre Hilfe. Ihr Land braucht Sie, Clissa. »Clissa?«, wunderte Clarissa sich, während sie auf das Wort starrte. Nur ihr Vater nannte sie so, und zwar schon so lange, wie sie zurückdenken konnte! Jetzt war die Uhr bei vierzig Sekunden angekommen. Jede Vereinbarung Bakers mit Han Zhemin könnte zum Ruin unserer gepeinigten Nation führen. Wir müssen Bakers Absichten im Hinblick auf diesen Deal kennen, bevor er Amerika verrät. Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten wollen, tun Sie gar nichts. Neunzig Sekunden, nachdem Sie diese Botschaft geöffnet haben, löscht sie sich von selbst. Aber wenn Sie Amerika retten wollen, klicken Sie sofort auf den Button darunter. Ich muss Sie warnen: Sprechen Sie niemals über diese E-Mail. In diesem Punkt muss ich mich unmissverständlich ausdrücken. Wir Patrioten gehen bei diesem Unternehmen ein großes Risiko ein. Ausnahmen kann es für niemanden geben. Wie bitte?, dachte sie alarmiert. Noch eine Viertelminute. Der Mauszeiger lag auf dem einzigen Button, der die Aufschrift »Einverstanden« trug. Später kann ich meine Meinung immer noch ändern, überlegte Clarissa. Fast zögernd, als würde sie einer Regung ihrer Neugier nachgeben, klickte sie auf den Button. Sofort öffnete sich ein neues Fenster. Installiere anonymen Router. Installation beendet. Beantworten Sie unsere E-Mails, indem Sie in der Adresszeile das Passwort eingeben. LÖSCHVORGANG LÄUFT. Der Computer piepte. Ihr E-Mail-Programm sah kein bisschen anders aus 105
als zuvor. Nur die verräterische Einladung, der sie zugestimmt hatte, war verschwunden. Jetzt bin ich dabei, dachte sie, vor lauter Aufregung grinsend. Himmel, ich bin wirklich dabei!
Ritz Carlton Hotel, Bahamas 17. September, 8 00 Uhr Ortszeit Ein grimmig dreinschauender Präsident Baker wartete, während Han Zhemin – auch er ohne Delegation – durch den großen, mit Teppichen ausgelegten Raum mit der hohen Decke schritt. Weder stand Baker auf, noch begrüßte er Han, der die Miene seines Gegenübers als äußerst mürrisch einschätzte. Bevor der Chinese Platz nahm, zog er ein kleines schwarzes Gerät hervor, und nachdem er eine Zeit lang damit herumgefuchtelt hatte, ließ er es befriedigt wieder in der Tasche seines Jacketts verschwinden. Han nahm auf einem Sofa direkt gegenüber von Bakers Sessel Platz. Zwischen ihnen stand ein reich gedeckter Kaffeetisch. Der Chinese schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und hielt dann fragend die Kanne hoch, doch Bakers Gesicht blieb unbewegt. »Es wäre schöner gewesen, wenn wir uns nach all diesen Jahren unter angenehmeren Umständen wieder gesehen hätten«, sagte Han schließlich achselzuckend. Dem Chinesen fiel auf, dass Bakers rechtes Augenlid flatterte – ein nervöser Tick. Den hat er früher nicht gehabt, dachte er. »In einem Punkt muss ich mich absolut unmissverständlich ausdrükken«, begann Bill unter Fortlassung aller Präliminarien. »Ich muss wissen, ob es noch irgendeinen Weg gibt, auf dem die Invasion abgewendet werden kann.« Han zuckte die Achseln und runzelte dann die Stirn. »Möglicherweise könnte es einen Weg geben«, antwortete er, bevor er erneut den Gesichtsausdruck seines alten Freundes studierte. Schließlich lächelte er. »Aber du würdest den Bedingungen nie zustimmen.« Während Han eine Pause einlegte, begann Bakers Augenlid wieder zu zucken, und bald darauf bebten auch seine zusammengekniffenen Lippen. »Und zwar mit Sicherheit nicht, wenn ich auf der anderen Seite des Tisches sitze«, fuhr Han 106
schließlich fort. »Was für eine absurde Situation.« Dieser Gedanke entlockte Han ein gutmütiges Lächeln. Bill Baker brachte es nicht fertig, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Stattdessen zog er es vor, aus seinem Hass keinerlei Hehl zu machen. Auf diesem Gebiet bist du wirklich noch ein Neuling, dachte Han, während er Bills bleiches Gesicht studierte. Nachdem er seinen Kaffee mit einem gezuckerten Plätzchen umgerührt und gesüßt hatte, trank er einen Schluck, um dann das Plätzchen im Mund verschwinden zu lassen. »Jetzt muss ich dir eine Frage stellen«, murmelte er schließlich. Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Falls wir unsere Invasion Amerikas durchziehen sollten, wirst du dann zu Atomwaffen Zuflucht nehmen?« Baker zog einen Mundwinkel hoch, als wollte er damit eine zugleich vage und finstere Drohung andeuten. Clint Eastwood, dachte Han, der fast laut aufgelacht hätte. Dann schüttelte er den Kopf. »Du begreifst doch wohl, dass deine Antwort ›Nein‹ lautet, Bill.« »Ich habe keine Antwort gegeben«, widersprach Bill mit versteinertem Gesichtsausdruck. Wieder schüttelte Han den Kopf. »Aber natürlich, du hast eine Antwort gegeben! Begreifst du es denn nicht? Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Zweideutigkeiten, es sei denn, dass du dich schon vorher für ein Nein entschieden hast.« »Falls wir taktische Atomwaffen einsetzen sollten«, wechselte Bill das Thema, »würde China dann mit strategischen Waffen zurückschlagen?« Stirnrunzelnd schüttelte Han den Kopf. Offensichtlich wollte er andeuten, dass dies der Produktivität ihres Treffens nicht zuträglich war. »Erinnerst du dich an den alten Sketsch aus der Fernsehsendung, die wir uns damals immer angesehen haben? An den Abend, als Rachels Freund das Marihuana in unser Apartment mitgebracht hat?« Er setzte sich auf und legte die Hände an die Hosennähte, als wollte er gleich zwei Pistolen ziehen. »Du erinnerst dich bestimmt an diesen Witzbold von einem blödsinnigen Revolverhelden, der bei dem Duell so tut, als wolle er seine Waffe ziehen, es dann aber sein lässt.« Mit einer schnellen Bewegung zog Han seine »Pistole«, deren Form er mit Zeigefinger und Daumen andeutete. »Du wirst es doch nicht etwa vergessen haben? Wie oft haben wir diesen Sketsch nachgespielt!« Sein Tonfall klang ausdruckslos und alles andere 107
als amüsiert. »Der Sketsch war so lustig, weil der Witz auf Kosten des Witzboldes ging, der von seinem Gegner natürlich erschossen wurde.« »Hier haben wir es mit einer anderen Situation zu tun«, antwortete Baker. Han nickte und lächelte dann, während er sich wehmütig an die Zeiten erinnerte, als er und Bill noch unzertrennliche Freunde gewesen waren. »Ja, tatsächlich«, räumte er ein. »Alles ist anders.« Nachdem er ein weiteres Plätzchen gegessen hatte, lächelte er erneut. »Aber ich fand diesen Sketsch wirklich lustig. Was für ein dummer Fehler des Revolverhelden, dass er zu ziehen vorgab. Schließlich waren die Nerven auf beiden Seiten extrem angespannt, und jeder war zum Töten bereit.« Durch eine kurze Pause versuchte Han sicherzustellen, dass Bill seine Warnung begriffen hatte, doch Bakers Gesichtsausdruck ließ dafür keinerlei Anzeichen erkennen. Han runzelte die Stirn. »Solltest du die Absicht haben, China mit Atomwaffen anzugreifen, wenn wir an Amerikas Küsten an Land gehen, wäre es schwachsinnig, es nicht offen und ohne jedes Zögern einzugestehen.« »Falls wir taktische Atomwaffen einsetzen«, fragte Bill mit denselben Worten wie zuvor, »würde China dann mit strategischen Waffen zurückschlagen?« »Natürlich nicht«, stellte Han entschieden und unzweideutig fest. Wieder begann Bills Augenlid zu zucken. Wenigstens das hat er kapiert, dachte Han. Er ist völlig durchschaubar! »Sollten wir jemals – sagen wir es mal so, Bill – Verbündete gegen Europa sein, lässt du doch mich alle Verhandlungen führen, oder?« Han lachte, aber er ließ Bill nicht aus dem Blick, weil er überprüfen wollte, ob sich anhand von dessen Miene Anzeichen dafür registrieren ließen, dass er den Vorschlag verstanden hatte. »Ich werde nie dein Verbündeter sein«, antwortete Bill säuerlich. Auf das Angebot hat er wenigstens reagiert, dachte Han. »Hat der Premierminister Chinas Atomwaffen mittlerweile unter Kontrolle?«, fragte Baker. Durch ein Lächeln kaschierte Han die Verärgerung, die er angesichts dieser Frage empfand. »Er hat sie unter Kontrolle«, antwortete er klar und deutlich für den Fall, dass die Amerikaner den Raum verwanzt haben sollten. Sein Wanzendetektor entdeckte mit Sicherheit nur die Abhörgeräte der chinesischen Militärs. 108
»Vollkommen?«, hakte Bill nach, was Han noch mehr verärgerte. Folglich wurde auch sein Grinsen noch breiter, durch das er seine Verstimmung maskierte. Schließlich war es Han’s Aufgabe gewesen, den Militärs die Kontrolle über die Atomwaffen zu entwinden. Nur eine kleine Ausnahme hatte er damals zugelassen, die sich auf Atommunition für die Abbrucharbeiten von Pionieren bezog, und dieser Fehler Han’s hatte zur Tragödie von Tel Aviv geführt. Damit der Fehler vertuscht wurde, mussten später siebenunddreißig von Shengs Offizieren exekutiert werden. Han erledigte den Job selbst. Er musste Dampf ablassen, weil er wütend war und besorgt, dass ihm ein Karriereknick drohen könnte, den abzuwenden ihm aber gerade noch gelungen war. »Ist der Premierminister wirklich der Einzige, der über die Startcodes informiert ist?«, beharrte Bill, der sich endlich ansatzweise zu einem Lächeln durchgerungen hatte. »Startcodes!«, platzte es aus Han heraus, bevor er sein Temperament wieder unter Kontrolle brachte und zum Lächeln zurückkehrte. »Was spielen die schon für eine Rolle? Codes kann man ändern. Der Premierminister verfügt über sehr viel effizientere Möglichkeiten, bei denen Menschen involviert sind.« »Soll das heißen, er sorgt dafür, dass die Familien der Militärs von der Geheimpolizei als Geiseln gehalten werden?«, unterbrach Bill. »Ja«, bestätigte Han prompt und diesmal wahrheitsgemäß. »Wie du weißt, hat der Premierminister öffentlich vor den Gefahren einer nuklearen Eskalation gewarnt, und er sieht es als seine Pflicht an, ein so entsetzliches Resultat zu vermeiden.« Baker blickte Han direkt in die Augen. »Unsinn! Das Leben deiner Soldaten oder meiner Landsleute ist dir scheißegal! Für dich zählt nur die Macht! Und deine Macht würde durch einen Atomkrieg zunehmen, stimmt’s, Han? Das chinesische Volk würde sich gegen die Militärs wenden, und dann haben sie außer dir keine Alternative.« Han lächelte, atmete tief durch und seufzte schließlich. »Ich werde mich einfach und ernsthaft ausdrücken, damit du mich verstehst. Du musst dich sehr schnell entscheiden, ob du alle dir zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen oder dich lieber auf deine Armee verlassen willst.« Han lachte. »Die dann gegen unsere stehen würde.« Einen Augenblick lang saß Bill Baker nur da und beäugte den Chinesen. »Du kannst mich mal«, sagte er dann, bevor er auf die Tür zuging. 109
Montgomery, Alabama 18. September, 2045 Uhr Ortszeit Regen, dachte Stephie, während sie zu dem sternenlosen Himmel aufblickte. Es ist ein Sturm im Anzug. Seit dem Debakel am Strand war dies die erste Patrouille ihres Platoons, aber eben auch erst die zweite insgesamt. Übungen zählten nicht, dies war der Ernstfall. Nachts, einhundertfünfzig Meilen von der Küste des Golfs von Mexiko entfernt, fünfundsiebzig Meilen südlich ihrer eigenen Linien. In einer Stadt mit dunklen Gebäuden und hunderten von Verstecken. Stephie fühlte sich wie gelähmt. Die durch die Toten in ihren Reihen entstandenen Lücken waren durch Ersatzleute aufgefüllt worden, doch Stephie hatte die Zuversicht verloren, dass ihre Einheit den Job zu erledigen imstande war. Sie zweifelte daran, dass sie einen weiteren Überfall wie den am Strand überstehen würden. Außerdem konnte die Invasion jederzeit und überall beginnen, und dennoch wurde ihre Einheit nachts in das verlassene Montgomery geschickt. Was denken die sich bloß dabei? Im Augenblick war das einzige Licht in der Hauptstadt des Bundesstaats Alabama der grelle Funkenregen eines Schneidbrenners, mit der ein weiblicher Pionier ein Straßenschild demontierte, das ihr Kamerad dann hinten auf einen Lastwagen warf. Hier und da bellte ein Hund. In der Ferne hörte man gelegentlich quietschende Reifen oder hochdrehende Motoren. Gänzlich menschenleer war die Stadt nicht. Noch immer befanden sich zehntausende Zivilisten in dem zweihundert Meilen breiten Sperrgebiet. Einige alte und halsstarrige Menschen waren einfach geblieben, andere, inoffizielle Vaterlandsverteidiger, streiften in Nächten wie diesen genau wie Stephie mit einem M-16 umher. Man hatte Stephies Einheit gewarnt, keinerlei Risiken einzugehen. In dem Sperrgebiet war das Feuer freigegeben. Die Freiwilligen würden auf jeden schießen, der ihnen nachts vor den Lauf ihres Gewehrs lief. Stephie lag auf dem lange nicht gemähten Rasen vor einem bescheidenen Haus. Gelegentlich versuchte sie, einen Moskito zu erledigen. Ihre Squad bildete einen Schutzschirm, damit sich aus keiner Richtung jemand der Kreuzung näherte, in deren Mitte die beiden Pioniere arbeiteten. Die Frau mit dem Schneidbrenner machte kurzen Prozess mit einem weiteren Stahlpfosten, an dem ein Schild befestigt war. Wieder warf ihr Kamerad es 110
auf den Lastwagen. Die Frau karrte ihre Flasche in Richtung der nächsten Kreuzung. Ein Verkehrsschild weniger, das den Chinesen den Weg weisen konnte. »Alles auf!«, bellte Sergeant Collins. Die beiden Fire Teams der First Squad rückten mit gezückten Waffen auf beiden Straßenseiten durch die Vorgärten vor. Das Fire Team Alpha – Stephie, John, Scott und Corporal Johnson – nahm die linke Straßenseite, Fire Team Bravo die rechte. Collins und die Teams mit den schweren Warfen – Animal und Massera mit dem M-60 und die beiden Männer mit den Lenkwaffen – rückten von Baum zu Baum über die Bürgersteige vor. Dreizehn Soldaten schirmten in Formation die beiden Pioniere und den Fahrer des Lastwagens ab, aber in dem über einen halben Meter hohen Gras war das Gehen schwierig. An der nächsten Straßenecke fand Stephie hinter einer Mauer, die ein Blumenbeet einfasste, Deckung. Von hier aus hatte sie die Kreuzung gut im Blick und konnte den Kampf aufnehmen. Die Position gefiel ihr. Du musst beim Vorrücken immer schon nach der nächsten Deckung Ausschau halten, ermahnte sie sich. Während sie die Kreuzung absuchte, strich der Lauf ihres Gewehrs über die verdorrten Blumen. Neben ihr ließ sich John Burns auf den Boden fallen. »He, ausschwärmen!«, flüsterte Stephie, aber John ignorierte ihre Ermahnung und blieb an ihrer Seite. Irgendwo links bewegte sich etwas. John rannte los, genau durch Stephies Schussfeld, was sie wütend machte. »Leute von uns!«, rief Corporal Johnson von der Seitenstraße weit links her. John wiederholte seine Worte. »Ich weiß«, antwortete Stephie verärgert. »Ich meinte nur, dass du’s weitergeben sollst.« Stephie nickte. »Leute von uns!«, rief sie mit gedämpfter Stimme ihrem rechten Nachbarn – Scott – zu, der ihrem Beispiel folgte. Von links stieß die Second Squad zu ihnen, rechts wurde weiter davor gewarnt, auf die eigenen Leute zu schießen. Das gesamte Platoon versammelte sich auf der Kreuzung. »Wir ziehen uns zurück«, ertönte Collins’ Stimme über das Minimal Emission System im Kopfhörer in Stephies rechtem Ohr. »Waffen sichern!« In seiner Stimme lag eine Spur von Eindringlichkeit. Mit schmerzenden Muskeln rappelten sich alle hoch. Sie traten an und orientierten sich dann nach rechts, mit Simmons am hinteren Ende. 111
»Squad-Führer?«, fragte Staff Sergeant Kurth. »Durchgezählt und vollzählig, Staff Sergeant!«, meldete einer der Squad-Führer, drei andere bestätigten, dass es bei ihnen genauso war. Um ganz sicher zu gehen, zählte Kurth mit dem Zeigefinger die Helme. Stephie beobachtete ihn eingehend. Nie jemanden zurücklassen, prägte sie sich ein. Aus den Seitenstraßen tauchten mit Verkehrsschildern beladene Lastwagen auf. Alles war genau wie bei den Dutzenden von Übungen, die Stephie während der vier Monate mitgemacht hatte, die sie jetzt bei der Army war. Soldat spielen, dann darauf warten, dass die Lastwagen eintrafen. Am Ende der Übungen stand immer das Warten. Allerdings ging der Aufbruch dann immer sehr schnell vonstatten. Während die zwanzig Männer und Frauen auf die Heckklappen der Lastwagen kletterten, machte sich Unruhe breit. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die finstere Straße hinter ihnen. »Was ist das?«, fragte jemand. Obwohl sie nichts hörte, bekam Stephie eine Gänsehaut. »Aufsitzen!«, bellte Kurth. Die noch auf der Straße stehenden Soldaten schubsten die Hinterteile derjenigen, die gerade auf die Ladeflächen kletterten, nach oben. Der Fluch einer Frau, der das offenbar gar nicht behagte, provozierte Gelächter. Rucksäcke flogen durch die Luft. Bei der Third Squad wäre fast ein handgreiflicher Streit ausgebrochen, doch ein vor Wut die Fäuste ballender Kurth brachte die beiden wütenden Männer zur Räson. Stephie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Venen schoss. Blitze flackerten durch die Baumwipfel, die ihren Horizont bildeten. Sie erinnerten an die Scheinwerfer eines wendenden Fahrzeugs. »Mist«, bemerkte Peter Scott angewidert. »Schon wieder Regen.« Aber Stephie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht«, sagte sie verängstigt. Insgeheim hatte sie geglaubt, dass die Chinesen nie kommen würden oder dass irgendeine Geheimwaffe ihnen Einhalt gebieten würde. Überall um sie herum stieg vom Boden ein dumpfes Dröhnen auf. »Ein Erdbeben!«, brüllte jemand. John Bums tauchte an Stephies Seite auf. Das sonore Dröhnen, das aus weiter Ferne zu ihnen drang, wuchs innerhalb von zehn Sekunden zu einem permanenten Donner. Der südliche Horizont – die Küste des Golfs von Mexiko – stand in Flammen.
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3. KAPITEL
Flaggschiff der chinesischen Kriegsflotte, Golf von Mexiko 18. September, 20 45 Uhr Ortszeit Leutnant Wu stand neben dem Oberbefehlshaber der Flotte in der verdunkelten Gefechtsführungszentrale. Auf den Bildschirmen sahen sie tausende auf sie zukommende amerikanische Flugkörper, die sich dem ersten vom einem halben Dutzend Schutzschirmen näherten – Flugabwehrstellungen auf anderen Schiffen, die sich um das Flaggschiff herum formiert hatten. Weil sie irgendwelche Furcht erregenden amerikanischen Geheimwaffen fürchteten, insbesondere Laser- und Teilchenstrahlwaffen, waren die Matrosen an Bord nervös. »Keine Sorge«, hatte der Kapitän des Schiffs gesagt. Jet/t stand der Marineoffizier auf der Brücke, während das Schiff ein paar hundert Meilen von der Küste Alabamas entfernt die tiefen Gewässer durchpflügte. Umgeben war es von etwa zweihundert Kriegsschiffen, die permanent Raketen abfeuerten. Wu war in die unten im Schiff gelegene Operationszentrale hinabgestiegen. »Feindliche Raketen sind für uns kein Problem«, hatte er gesagt. »Was immer die Amerikaner auch abfeuern mögen, wir werden damit fertig.« Anders sah das freilich für die Schiffe am vorderen Rand der Flottenformation aus, die jetzt gerade in die Bucht von Mobile einliefen. Auf dem großen, rechteckigen Plasma-Display schienen sich die Flugkörper langsam zu nähern, doch Wu wusste, dass sie mit Überschallgeschwindigkeit auf die großen chinesischen Kriegsschiffe zuschossen. »Unsere ersten Raketen sind gestartet«, verkündete der für die Koordination der Luftabwehr zuständige Mann. Auf dem Radarschirm tauchten neue, auf die hintersten Schiffe der Flotte zurückgehende Echos auf. Die kleinen Lichtflecken bewegten sich in nördlicher Richtung auf die amerikanischen Flugkörper zu. Während die Formation chinesischer Raketen über die weiter nördlich fahrenden Schif113
fe hinwegflog, wurden weitere Raketen gezündet, sodass es erst Dutzende, schließlich hunderte waren. Als sie die Mitte des Monitors – das Zentrum der Flotte – erreicht hatten, waren es bereits über tausend, und als das Deck des Super-Flugzeugträgers hart erzitterte, musste Wu sich an der Konsole festklammern. Irgendwie wirkten die Vibrationen auf ihn beunruhigend. Als die vom Heck des Flaggschiffs abgefeuerten Raketen sich in die Verteidigung der chinesischen Flotte einschalteten, flammten normale Fernsehbildschirme auf. Lichtflecken reflektierten auf den dunklen Wellen. Auf dem Bildschirm erstreckte sich die nach Norden gerichtete Welle der Antiraketenraketen über die gesamte Breite der ungefähr kreisförmigen Formation, deren Durchmesser von Westen nach Osten hundert Meilen betrug. »Wo sind unsere Flugzeuge?«, fragte der Flottenkommandeur. Nachdem der Radartechniker auf ein paar Knöpfe gedrückt hatte, erschien plötzlich ein irritierendes Bild auf dem Schirm. Neue Symbole verdeutlichten die Position von tausenden und abertausenden von Kampfflugzeugen, Drohnen und Helikoptern, die plötzlich von den Decks mittlerweile unter Feuer liegender Schiffe aufstiegen. So war die Lage schlecht zu interpretieren. »Zeigen Sie nur unsere zur Luftverteidigung eingesetzten Kampfflugzeuge«, befahl der alte Admiral, ein Generationsgenosse von General Sheng. Nachdem der Techniker erneut ein paar Tasten gedrückt hatte, verschwanden hunderte von Symbolen. Jetzt ergab sich ein sehr viel klareres Bild. Die Kampfflugzeuge der Kriegsmarine flogen in Dutzenden, jeweils hundert Maschinen umfassenden Formationen aus südöstlicher und südwestlicher Richtung auf die amerikanische Küste zu. Obwohl überall in dem nur trübe beleuchteten Nervenzentrum der Operation Männer in Mikrofone murmelten, wirkte die Atmosphäre in dem großen Raum auf Wu irgendwie merkwürdig still und irreal. Das war nicht der Krieg, den er sich in seiner Kindheit ausgemalt hatte. Bei den Feldübungen, an denen er während seiner Zeit auf der Militärakademie teilgenommen hatte, war es immer äußerst laut zugegangen. Für ihn verband sich Krieg mit einer lauten Kakophonie und Chaos, mit einem furiosen Wirrwarr von Tapferkeit und Gewalt. »In dreißig Sekunden fangen wir ihre Raketen ab«, verkündete mit ruhi114
ger Stimme der für die Luftabwehr zuständige Koordinator, der an einer Konsole neben dem Radarschirm saß. Alle wandten sich einer Reihe von Fernsehbildschirmen zu. Aus den geöffneten Bombenschächten schnittiger Jagdbomber fielen riesige Lenkwaffen. Größere Echos standen für Kampfflugzeuge, die plötzlich zusätzlich tausende Lenkwaffen abwarfen. »Der Geschwaderkommodore der Luftstreitkräfte der Marine meldet, dass alle Raketen unterwegs sind«, ertönte eine sachliche Stimme. »Wiederhole, Raketen unterwegs. Zeitabstimmung koordiniert, in zwanzig Sekunden werden die feindlichen Ziele abgefangen. Lang lebe das ruhmreiche China.« Nacheinander zündeten die Antriebsaggregate der Raketen direkt unter dem Rumpf eines Flugzeugs, das weniger als einen Dutzend Meter neben der Flügelspitze der Maschine mit der Kamera flog. Die Bilder erzitterten, und dann ließ grelles Licht sie kurzzeitig verblassen, als die Maschine mit der Kamera ebenfalls ihre Raketen zünden ließ. Dennoch hörte man keinerlei Geräusch – es war eine auf beunruhigende Weise lautlose Schlacht. Zwei Reihen von Raketen bewegten sich langsam aufeinander zu. Zumindest wirkte es auf den Bildschirmen so. Eine sich konstant ändernde Anzeige in einem Fenster der Monitore informierte über den Abstand zwischen den Raketen, die mit viertausend Stundenkilometern Geschwindigkeit aufeinander zuschossen. Ganz plötzlich, als wären sie von Piloten gesteuert, brachen sämtliche amerikanischen Flugkörper aus der Formation aus. Sie flogen allein oder in kleinen Gruppen von einem halben Dutzend oder mehr weiter. Die Symbole, deren Farben über die Flughöhe informierten, waren zuvor sämtlich bernsteingelb gewesen. Jetzt, während eine rote Färbung eine niedrige und eine gelbe eine große Flughöhe anzeigte, wichen die amerikanischen Lenkwaffen den chinesischen Antiraketenraketen aus, die auf den Bildschirmen schnell in verschiedenen Blautönen dargestellt wurden. In dem von Computern kontrollierten Wirrwarr konnte man, in Purpur dargestellt, Duelle zwischen einzelnen Raketen verfolgen. Ein dunkler werdendes Blau symbolisierte spiralförmig sich bewegende amerikanische Flugkörper, die von chinesischen verfolgt wurden. Ein kleines, weißes »x« erschien an den Stellen, wo Angreifer und Verteidiger aufeinander prallten. Wurde das »x« erst grün, um daraufhin ganz vom Bildschirm zu verschwinden, war die amerikanische Rakete erfolg115
reich abgefangen worden, verfärbte es sich grün und begann dann zu blinken, hatte die chinesische Rakete ihr Ziel verfehlt. Wu musste sich gewaltsam davon überzeugen, dass dieses Gefecht wirklich stattfand und dass irgendwo da draußen glühende Metallstücke vom Himmel herabregneten. Alles ging völlig geräuschlos vonstatten. In der Kommandozentrale wurde leise gesprochen. Das ist der Krieg des 21. Jahrhunderts, dachte Wu. Irgendwie wirkte alles unwahr und irreal. Die Wirklichkeit ist anderswo – auf den Truppentransportern. Nicht alle amerikanischen Flugkörper konnten abgefangen werden. Blinkende rote »x«-Symbole näherten sich den großen chinesischen Schiffen. Als sie sich karmesinrot färbten, verschmolzen sie mit den Fregatten, Zerstörern und Kreuzern – den Vorposten der chinesischen Flotte in der Bucht von Mobile. Die ehemals weiß dargestellten getroffenen Schiffe verfärbten sich ebenfalls karmesinrot – wie die amerikanischen Raketen, die sie getroffen hatten. Als das letzte kleine Echo einer Rakete vom Radarschirm verschwunden war, brachen in der bisher ruhigen Kommandozentrale Freude und Jubel aus. Nach der äußerlich gelassenen und professionellen Leitung der militärischen Auseinandersetzung löste sich jetzt die Spannung, von der Wu gar nichts bemerkt hatte. Den Grund begriff er, als der Koordinator der Luftabwehr dem Flottenkommandeur leise über die Schulter Bericht erstattete. »Es waren alles konventionelle Sprengköpfe. Kein elektromagnetischer Puls feststellbar. Die Brücke berichtet zwar von mehreren grellen Blitzen, aber die Detonationen stammten eindeutig nicht von Atomwaffen. Wahrscheinlich sind die Munitionsdepots der Schiffe in die Luft gegangen.« Der Admiral nickte. Allmählich kehrte in der Kommandozentrale wieder die gewohnte Stille ein. Das war’s, fragte sich Wu. Er schaute den Flottenkommandeur an und folgte dann dem Blick des alten Mannes zum Radarschirm, wo sich fast ein Dutzend Schiffe karmesinrot verfärbt harte. Wu ging mit dem Admiral zu mehreren Monitoren, die mit den Namen von Schiffen versehen waren. Auf einigen Bildschirmen waren Schiffsbrücken zu sehen, auf denen alles friedlich und normal zuzugehen schien, bei anderen war auf eine unheimliche Weise der Empfang gestört. Andere Bildschirme zeigten aus der Totale gefilmte Aufnahmen eines in der Ferne brennenden Schiffs. Gele116
gentlich, wenn sich der dunkle Rumpf eines vorbeikommenden, beschleunigenden Schiffs darüber schob, wurde die Spiegelung der Flammen auf dem Wasser unsichtbar. »Was ist unserer schlimmster Verlust?«, fragte der Admiral leise. »Der Super-Truppentransporter Hefei«, antwortete der Fernmeldeoffizier. »An Bord sind die 351. Infanteriedivision und die 1107. Motorisierte Transportbrigade.« »Können Sie Kontakt aufnehmen?«, erkundigte sich der alte Mann. »Ja, aber es gibt nur eine Tonverbindung«, sagte der jüngere Offizier. Während des folgenden Schweigens fand Wu auf dem kleinen Videomonitor die Hefei. Das Bild war schneeweiß. Sie warteten. Nachdem der Fernmeldeoffizier auf einen Knopf gedrückt hatte, erwachte ein Lautsprecher zum Leben. Gellende Hörner hallten durch die hohe Kommandozentrale. Nach einer Explosion hörte man die Schreie von Männern, und Wu zuckte zusammen. Prasselnde Flammen, ächzender Stahl, lautes, an wahlloses MG-Feuer erinnerndes Geknatter, splitterndes Glas. Dann die Schreie eines verängstigten Manns. »Achtunddreißig Grad Schlagseite nach Steuerbord. Immer noch achtunddreißig! Jetzt neununddreißig. Vierzig! Vierzig Grad Schlagseite nach Steuerbord! Einundvierzig! Dreiundvierzig! Es geht immer schneller! Wir kentern!« Nach einem berstenden, krachenden Geräusch, das an den Einsturz eines Hauses erinnerte, brach die Verbindung zu dem eine halbe Million Tonnen schweren Schiff plötzlich ab. Jetzt herrschte Schweigen. Als Wu wieder aufblickte, starrte ihn der Admiral aus glasigen, müden Augen an. Während er langsam in seine Kabine zurückkehrte, musste der alte Mann sich am Handlauf festhalten. Plötzlich wirkte er sehr schwach. Auch Wu suchte seine Kabine auf. In seinem privaten Esszimmer erwartete ihn ein mit einem weißen Leinentuch gedeckter Tisch, auf dem ein tiefer Teller mit Creme brülee und ein Glas Kognak standen. Während er in seinem Nachtisch herumstocherte, musste er an das denken, was der Kapitän ihm früher an diesem Abend erzählt hatte. Wu hatte den Kapitän in seiner großen, komfortabel eingerichteten Messe getroffen. Als sie gerade zum gemeinsamen Abendessen mit dem Admiral aufbrechen wollten, griff der Kapitän nach der Klinke, aber er öffne117
te die Tür nicht. Er blickte Wu nicht in die Augen, wirkte aber entschlossen. »Da gibt es noch etwas, das Sie über die militärische Situation wissen sollten.« Seine weiß behandschuhte Hand hielt Wu fest. »Wir wissen nicht, an was für Waffen die Amerikaner im Geheimen arbeiten, aber sie spielen keine Rolle. Es zählen einzig und allein ihre Arsenalschiffe, Leutnant Wu. Die wohl begründete Ansicht der Mehrheit meiner Offizierskameraden in dieser Invasionsflotte«, fuhr er in einem offiziösen Tonfall fort, »ist, dass unsere Flotte vernichtet werden wird, wenn wir jemals auch nur gegen ein einziges Arsenalschiff kämpfen müssten. Deshalb hoffen wir, dass Sie diese Ansicht den richtigen Leuten mitteilen werden, Leutnant Wu.« Der aus Zivilisten bestehenden politischen Führung, dachte Wu. Meinen Verwandten. Jetzt blickte ihm der Kapitän in die Augen, und Wu nickte. Damit verpflichtete er sich, das zu tun, was man von ihm verlangte. Eine weitere jener Intrigen, die den Krieg in seinen Augen zu einer so komplizierten Angelegenheit machten. Mit einem Schluck kippte Wu jetzt den Kognak hinunter. Fünf Minuten später, als er sich gerade für die Nacht auszog, zwang er sich, an die fast dreißigtausend Soldaten und Besatzungsmitglieder der gekenterten Hefei zu denken, die mittlerweile wahrscheinlich verzweifelt nach Luft schnappten und öliges Wasser in ihren Lungen hatten. Wu rannte ins Bad, wo er den gesamten Inhalt seines Magens in die makellos saubere Toilette erbrach.
Mobile, Alabama 18. September, 2045 Uhr Ortszeit Captain Jim Hart lag wie ein Fötus zusammengerollt da, keine hundert Meter von den Explosionen entfernt, die wie Geysire Erde in die Luft spritzten. Zu nah!, dachte er. Zu nah! Die lärmende Kakophonie des Gewaltausbruchs ließ keinerlei anderen Gedanken zu. Unter ihm erzitterte die Erde. Vom Himmel regneten angekohlte Erdklumpen und brennende Holzsplitter herab. Der erstickende Gestank von Sprengstoff verpestete die Luft. Jim Hart wartete darauf, dass der Feind sein Feuer nur ein wenig 118
anders orientieren würde. Das wäre sein sofortiges Ende, und es würde nichts von ihm übrig bleiben, was eine spätere Identifikation seiner Leiche ermöglichen konnte. Eine noch betäubendere Stille senkte sich über die Szenerie. Harts Ohren klingelten weiterhin, aber er empfand die Stille mit jeder Zelle seines immer noch lebenden Körpers. Er wartete und wartete. Die Chinesen leiteten ihren Beschuss weder höher noch in eine andere Richtung aus, sie bestochen einfach systematisch und Stück für Stück die Küste. Folglich nahmen sie jetzt schon einen anderen Abschnitt unter Feuer, mit diesem Landekopf waren sie fertig. Das war’s, er hatte es überlebt. Der einunddreißigjährige Offizier der Special Forces stand auf und strich sich den Dreck von seinem mit einem Tarnmuster bedruckten Spezialanzug. Major Andrew Richards, ein Beobachter der Royal Marines, tat es ihm gleich. Hart gab das Zeichen mit dem erhobenen Daumen, der Engländer wiederholte die Geste. Ohne dass es nötig gewesen wäre, ein Wort darüber zu verlieren, ließen sie die in ihre Helme integrierten Nachtsichtbrillen herab. Nachdem sie ihre Ausrüstung zusammengesucht hatten, liefen sie den sanft ansteigenden Hügel hinauf. Die oberen Zweige der zerfetzten Bäume waren verbrannt. Am Kamm des Hügels, den sie zuvor aus Angst vor chinesischem Feuer gemieden hatten, angekommen, sahen sie eine Vielzahl von Kratern, darunter einen, bei dem ein großer, umgestürzter Baum eine Brustwehr bildete. Im Gegensatz zu den verkohlten Kiefern und Ulmen war dieser Baum weiß. Die Explosivkraft eines knapp vorbeistreifenden Geschosses hatte die Rinde abgeschält. Hart bemerkte, dass sich der Baumstamm seidenweich anfühlte. Die beiden Männer ließen sich hinter ihrer Deckung in dem Krater nieder. Noch immer war die versengte Erde unter ihren Körpern warm. In der Bucht von Mobile, etwa eine Viertelmeile entfernt, hinterließen chinesische Landungsboote weiße Kielwasserstreifen. »Kundschafter begrüßen ein Schiff«, flüsterte Major Richards, der es nicht für nötig befand, auf die Stelle zu zeigen. Der Brite hatte sich geradezu in das System des in den Helm integrierten Displays verliebt. Mit dem Daumen bewegte er einen kleinen, am rechten Zeigefinger seines Handschuhs befestigten Trackball. Das Fadenkreuz auf dem kleinen Display in Harts Nachtsichtbrille zielte auf einen finsteren Abschnitt des Strands. Solange nicht die phosphoreszierende Brandung an die Küste schlug, konnte man nicht mit 119
Sicherheit sagen, wo das Wasser endete und wo das Land begann. Richards, ein gut ausgebildeter Aufklärungsexperte, richtete Harts Aufmerksamkeit auf bereits zuvor an Land gegangene chinesische Soldaten, die ihnen bisher nicht aufgefallen waren. Genau wie Hart und Richards waren auch sie sofort nach dem Ende des Sperrfeuers aus ihren Verstecken aufgetaucht. Jetzt nahmen sie ein Landungsboot in Empfang. Mithilfe des neuen Systems wäre es für Richards ein Leichtes gewesen, einen Luftangriff, eine Rakete oder eine Granate anzufordern, um das Landungsboot anzugreifen. Doch gerade das war es, was Hart bei diesem Einsatz so gegen den Strich ging – selbst aktiv werden durfte er hier vorerst nicht. Hart verließ Richards und ging auf einige der wenigen Stellen zu, wo es noch ein paar Büsche und Gräser gab. Er durfte sich nur langsam bewegen und musste darauf achten, dass sein Körper in dem Sternenlicht keine Schatten warf, sonst hätte er mit einem Restlicht verstärkenden Fernglas entdeckt werden können. Folglich kroch er auf allen vieren. Sein gesamter Körper war von Kopf bis Fuß in einen Schutzanzug gehüllt, der verschiedene Zwecke erfüllte. Er schützte ihn nicht nur gegen Chemikalien, sondern reflektierte auch Wärme nach innen. Hätte Hart den Schutzanzug nicht getragen, wäre er durch Infrarotgeräte identifizierbar gewesen. Eine Speziallösung für die Entziehung von Feuchtigkeit hielt seinen Körper kühl, solange er nur oft genug die an seinen Schienenbeinen befestigten Tütchen zum Auffangen von Schweiß leerte, die sich jetzt schnell füllten. Nachdem Hart zwischen die Büsche geschlüpft war, zog er einen angespitzten Stab hervor, den er sofort in die aufgewühlte und geschwärzte Erde bohrte. Dann befestigte er eine Kamera daran und stöpselte anschließend das zu seiner Nachtsichtbrille führende Kabel ein. Sofort tauchte das von der Kamera aufgezeichnete Bild auf den kleinen Monitoren auf, und wenn er seinen Kopf von links nach rechts bewegte, glitt die Kamera, die an die Bewegungen von Harts Helm »gekettet« war, über die Bucht von Mobile. Wie bei einem dieser Mistkerle, die Ziele für Luftangriffe durchgeben, dachte Hart. Er richtete das von der Kamera gelieferte Bild auf ein offenes Landungsboot aus. Im Hintergrund – draußen in der Bucht – wühlten dunkle Schiffsrümpfe weiße Gischt auf. Wütend machte Hart mit seinem Routinejob weiter. Die Kamera funktionierte ordentlich. Als er das Kabel herauszog, sah er wieder ganz nor120
mal. Während er die Kamera mit einem Tarnnetz umhüllte, achtete er sorgfältig darauf, das Objektiv nicht zu verdecken. Captain Hart gehörte zu den Green Berets. Als Mitglied der 5th Special Forces Group war er daran gewöhnt, mit gefährlichen Utensilien zu arbeiten, doch der letzte Punkt auf seiner Checklist gefiel ihm am allerwenigsten. Ohne zu seinem Partner hinüberzublicken, der etwa vierzig Meter entfernt hochmoderne britische Überwachungstechnik installierte, flüsterte Hart in sein Mikrofon: »Sprengstoff unter der Kamera angebracht und scharf.« »Ich bin direkt hinter Ihnen«, antwortete Richards, dessen Stimme von rechts über den Richtkopfhörer an sein Ohr drang. Jetzt blieben Hart keine sechzig Sekunden mehr. Jede Menge Zeit, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Er stöpselte einen anderen Stecker in den Ausgang der Kamera, aus dem ein feiner Draht herauslugte. Während er vorsichtig über den sanft ansteigenden, gerodeten Waldboden kroch, wickelte er hinter sich den fast unsichtbaren Draht ab. Nach etwa zwei Metern war er in Sicherheit. Wenn sich das nächste Mal jemand der Kamera näherte, würden die Bewegungsdetektoren die an dem Stab installierte Sprengstoffladung in die Luft gehen lassen. Als er auf dem Kamm des Hügels den ersten, etwa zwanzig Meter entfernten Baum erreichte, der das Sperrfeuer überlebt hatte, aktivierte er den Mikrowellen-Transmitter und zog die Teleskopstange auf etwa doppelte Mannhöhe aus. An deren Spitze drehte sich ein schwarzer Hohlzylinder, der durch einen summenden Elektromotor rotierte und den Horizont nach einem Trägersignal absuchte. Durch seine Kopfhörer vernahm Hart ein bestätigendes Piepsen. Er befestigte den dünnen Metallstab an dem Baum. Obwohl die Chinesen Störsender einsetzten, empfing Hart das Funksignal, das aber nicht von Richards kam, sondern aus sehr viel weiterer Distanz an sein Ohr drang. »Angel Six, Angel Six, hier spricht Sentry One. Wir empfangen Sie klar und deutlich. Mission Romeo Alpha durchführen. Wiederhole, Romeo Alpha. Bestätigen Sie, over.« Harts Augen verengten sich zu Schlitzen. »Bestätigen Sie, Angel Six.« »Hier spricht Angel Six. Habe verstanden, Mission Romeo Alpha durchführen. Wiederhole, Romeo Alpha. Angel Six, Ende.« Jetzt hatte auch Richards den Baum erreicht. »Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist Mission Romeo Alpha?« 121
»Für Sie bedeutet das, dass Sie von hier verschwinden können. Dann wollen wir uns mal aus dem Staub machen.« Sie kehrten zu dem Krater zurück und sahen mindestens ein Dutzend Schiffe, von denen Soldaten an Land gingen. Die ersten Kriegsschiffe – Fregatten und Korvetten – patrouillierten mittlerweile mit ihren hohen Radaraufbauten, Raketen und Geschützen in den tieferen Gewässern. Die Chinesen hatten amphibische Landungen zu einer hohen Kunst entwickelt, was besonders Richards beeindruckte, der des Lobes voll war. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen«, flüsterte er Hart schließlich enthusiastisch zu, »wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mich mitgenommen haben. Was für eine wunderbare Gelegenheit, die Dinge vor Ort zu studieren. In Gedanken habe ich meinen Bericht für London schon halb fertig.« Jetzt bemerkte der Brite, dass Hart gar nicht amüsiert und über die »wunderbare« Landung wenig beglückt war. »Es… Es tut mir Leid, ich entschuldige mich.« Hart konzentrierte sich auf den in sein Land einmarschierenden Feind. Mit vor Zorn zusammengebissenen Zähnen erfasste er mit seinem Trackball die Positionsdaten der an Land gehenden chinesischen Stoßtrupps. Wenn es doch nur Raketen gäbe, die die präzisen, von Harts Zielerfassungssystem übermittelten Koordinaten ansteuern könnten, oder wenn sie sich an einem von ihm auf die Chinesen gerichteten Laserstrahl orientieren könnten… Um ihn zu töten, würden die Chinesen eine Stunde benötigen, doch in der Zwischenzeit würden bereits schwere Sprengköpfe auf sie herabregnen. Hart hatte keine Ahnung, warum nicht das der Sinn seiner Mission war. Verschiedene Trupps etwa in Zugstärke formierten sich und wandten sich nach links. Nur eine Einheit orientierte sich zur rechten Seite, und diese lokalisierte Hart mit einem Chuck auf seinen Trackball. Nickend signalisierte Richards schweigende Zustimmung. Die Chinesen verfügten über extrem gute Stoßtrupps, aber Hart kam von den Special Forces, und Richards war ein Aufklärungsspezialist von den Royal Marines. In einem Abstand von zweihundert Metern folgten sie den Chinesen, ohne selbst erfasst zu werden. Vorsichtig wichen sie Minenfeldern aus, die den Chinesen zweimal Probleme machten. Gelegentlich hielt der Zug inne, während die Artillerie vor ihnen den Weg freischoss. Aus diesem Grunde hielten Hart und Richards sich auch hinter den Chinesen. Nach drei Meilen bogen der Amerikaner und der Brite ab. Die ganze Zeit 122
über hatte Hart der Finger gejuckt. Am liebsten hätte er einfach das Feuer eröffnet auf diese zurückgelassenen Soldaten, die Leute wie Hart oder Richards aus dem Hinterhalt überfallen sollten. Er schickte leise Stoßgebete zum Himmel, dass die Chinesen in die Minenfelder gerieten, deren Lage nur er kannte. Und drei Meilen lang hatte er davon geträumt, einem versprengten, verwundeten Soldaten die Kehle durchzuschneiden, weil dieser auf so unverfrorene Weise sein Land schändete. Sie deckten ihre beiden versteckten, dreirädrigen Motorräder auf, die über eine spezielle Schalldämpfung verfügten und praktisch keine Geräusche verursachten. »Kennen Sie den Weg?«, fragte Hart. »Sie kommen nicht mit?«, erkundigte sich Richards. Noch immer verdeckte Harts Nachtsichtbrille den oberen Teil seines Gesichts. Er schüttelte den Kopf. »Worum geht’s bei Alpha Romeo?«, hakte der Brite nach. »Bei unserer Einsatzbesprechung wurde dieser Plan nicht erwähnt.« »Wie ich bereits sagte, für Sie bedeutet es, dass Sie die Gefahrenzone verlassen können. Fahren Sie einfach auf diesem Highway in Richtung Norden, aber halten sie sich von den Banketten fern. Dort sind die Minen bereits aktiviert. Bis das auch bei den Minen unter der Asphaltdecke in der Mitte der Straße der Fall ist, bleiben Ihnen noch ungefähr zwei Stunden.« »Und was werden Sie jetzt tun?«, wollte Richards wissen. Harts Schweigen war seine einzige Antwort, und der Brite begriff. »Also gut«, sagte er schließlich traurig. Es entstand eine etwas unbehagliche Gesprächspause, bevor Richards weitersprach. »Ich sage Ihnen Lebewohl, Captain Hart. Viel Glück.« Er streckte seine Hand aus, und Hart schüttelte sie. Richards stieg auf das Motorrad, wandte sich aber noch einmal um. »Gewinnen Sie diesen Krieg, Captain Hart. Stoppen Sie die Chinesen. Und wenn all dies vorüber ist, werden wir den Sieg mit einem Bier auf meine Kosten feiern.« Fast geräuschlos fuhr Major Richards los. Obwohl Hart jetzt allein war, beantwortete er die Frage des Briten nach seinen Befehlen. Romeo Alpha, dachte er. Während Sie auf weitere Befehle warten, suchen Sie sich Ziele, wie die Gelegenheit sie bietet. »Und damit«, hatte der die 5th Special Forces Group befehligende Colonel gesagt, »meinen wir schlicht und einfach, dass sie so viele chinesische Soldaten wie möglich töten sollen.« In der Halle in Birmingham, mit fünftausend für den Einsatz im Süden Alabamas bestimmten Männern hoffnungslos überfüllt, war Beifall aufge123
brandet. Hart gab Gas und fuhr auf seinem schallgedämpften Motorrad in die finstere Nacht davon.
Weißes Haus, Lageraum 19. September, 8 00 Uhr Ortszeit Auf einem großen Bildschirm mit extrem hoher Auflösung beobachtete Bill Baker, wie in der Bucht von Mobile die Rümpfe chinesischer Kriegsschiffe Soldaten ausspieen. Am Strand sah er nebeneinander zwanzig Landungsboote. Zehntausend Männer marschierten über den sanft ansteigenden Strand. »Wie sind wir an diese Bilder herangekommen?«, fragte der Präsident. »Durch die Special Forces«, antwortete General Cotler. »Aber wer hat das geschafft?«, hakte Bill nach. »Waren es fünf, zehn oder einhundert Männer, die dort waren und die Kamera installiert haben, oder war es nur ein Mann?« Cotler atmete tief durch. »Dazu kommen wir später, Sir.« Er blickte einen Colonel an, der nickte und dann eilig den Raum verließ. Das Meer war grau, die abgebrannte Gegend um die Kamera ebenfalls, und das Licht der Morgendämmerung passte zu dem Grüngrau der mit Raketen beladenen chinesischen Kreuzer und mehrerer Zerstörer. Gelegentlich flog ein grauer Helikopter von einem Schiff zum Strand, wobei der Pilot noch nicht einmal eine Flughöhe von sechzig Metern riskierte, weil er eine Entdeckung durch amerikanische – vermutlich ebenfalls graue – Raketen mit Wärmesuchkopf fürchtete. Die Stimmung in dem Raum war düster, gesprochen wurde nur mit gedämpfter Stimme. Im Mittelpunkt stand Präsident Baker, doch der war ganz allein. Die Vereinigten Stabschefs und der Verteidigungsminister hatten ihn im Flüsterton über diese oder jene Sorge informiert. Jetzt war General Latham von der Air Force an der Reihe. »In der Bucht von Mobile haben wir sie fest im Griff. In diesen Truppentransportern sind mindestens dreihunderttausend Soldaten zusammengepfercht, und bisher haben sie ihre landgestützte Raketenabwehr noch nicht installiert. Noch haben diese Soldaten keinen Fuß auf amerikani124
schen Boden gesetzt. Die radioaktive Kontamination wäre minimal.« »Sie werden zurückschlagen«, antwortete Baker müde. »Wir könnten uns auf die Verteidigung des Herzlandes konzentrieren«, schlug Latham leise vor. »Ich werde nicht dabei zusehen, wie Amerikas Küsten zerstört werden!«, brüllte Baker, bevor er mit der Faust auf den Tisch schlug. Latham blickte nicht verunsichert zu den plötzlich verstummten anderen Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates hinüber, sondern starrte Baker direkt in die Augen. »Fünfzig Prozent unserer Bevölkerung, unserer kulturellen Besitztümer und unserer Industrie befinden sich innerhalb von einhundert Meilen hinter den drei Küsten«, erläuterte der Präsident. »Sie haben gesagt, dass die Chinesen Ziele bis zu einhundert Meilen landeinwärts zerstören würden, wenn der Atomkrieg sich dreißig Tage lang hinzöge. Was kann denn verhindern, dass der Krieg sechzig oder neunzig Tage dauert? Was kann verhindern, dass beide Seiten jahrelang Waffe um Waffe abfeuern, so schnell, wie sie sie nur nachproduzieren können? Wie weit würden die Sprengköpfe der Chinesen dann ins Landesinnere vordringen, General Latham? Zweihundert, dreihundert oder gar fünfhundert Meilen?« Jetzt wandte sich Baker an die anderen Anwesenden, etwa ein Dutzend Männer und Frauen, die den Präsidenten schweigend anstarrten. »Wir werden diese Invasionsarmee zur See schlagen! Deshalb müssen wir die Vormacht auf dem Meer zurückgewinnen! Um das zu schaffen, müssen wir wieder eine seetüchtige Nation werden, und das bedeutet, dass wir Häfen, Werften und eine starke Kriegsmarine brauchen! Eine Verteidigung des Herzlandes wird es nicht geben! Und den Einsatz nuklearer Waffen werde ich deshalb nicht genehmigen, weil ich nicht erst die Zerstörung dieses Landes zulassen werde, um es dann zu retten. Erzählen Sie mir nichts von Zielen, wie die Situation sie bietet! Dies ist eine strategische Entscheidung, die ich – und nur ich allein – getroffen habe!« Ein paar lange Sekunden herrschte eine unbehagliche Atmosphäre in dem Raum. Die Spannung löste sich erst, als jemand die Tür öffnete. Ein Colonel der Army trat ein und flüsterte General Cotler etwas ins Ohr. Baker wandte sich Cotler zu, spreizte verzweifelt die Hände und fragte gereizt: »Was gibt’s denn?« »Das Bild, Sir«, antwortete Cotler, der auf den Bildschirm mit dem mitt125
lerweile strahlend blauen Wasser der Bucht von Mobile wies. Unterdessen war die Sonne aufgegangen. Weiße Strande und üppige grüne Kiefernwälder säumten das funkelnde Meer. Auf den Oberdecks der Schiffe sah man die hohen Aufbauten für die Radaranlagen. Auf dem benachbarten Bildschirm erschien das Bild eines athletisch wirkenden achtundzwanzigjährigen Soldaten. In einem Fenster blitzten die persönlichen Daten des Mannes auf. »Die Kamera hat ein einziger Mann dort installiert. In seiner Begleitung war nur ein Major der Royal Marines, der als Berichterstatter für London die chinesische Landung beobachtet hat.« Bill starrte das Bild des amerikanischen Captain an. Auf dem etliche Jahre alten Foto wirkte er zu jung, um überhaupt schon in der Army dienen zu dürfen. Mit seinem gebräunten Teint – offenbar hatte man ihn gerade bei den Green Berets aufgenommen – wirkte der Mann sorglos und Stolz. »Wie sieht seine nächste Aufgabe aus?«, fragte Bill. »Wie lauten seine Befehle?« Cotlers Berater reichte dem General einen altmodischen Schnellhefter aus Pappe, und der las den Ausdruck der Computerdatei vor. »Wir haben drei Special Forces Groups – die 5 th, die 7 th und die 20th Alabama National Guard, insgesamt etwa fünfzehntausend Green Berets – in Südalabama, Südmississippi und in Nordalabama stationiert. Captain Hart hat dieselben Befehle wie die große Mehrheit dieser Leute – Mission Romeo Alpha: Sabotage, Eliminierungen, Spionage, Ausbildung und Bewaffnung von Widerstandskämpfern und Spezialaufträge, die von Führungsoffizieren angeordnet werden.« Er legte den Schnellhefter auf den Tisch. »Und dann wären da noch andere Ziele, wie die Gelegenheit sie bietet.« Baker starrte auf das Bild des jungen Mannes, auf dem er höchstens Mitte zwanzig war, und fragte sich, ob er auch noch Mitte dreißig werden würde. Sollte er es schaffen, dachte Bill, wird er ein anderer Mensch sein. Sie werden alle andere Menschen sein, wir werden andere Menschen sein. Als ihm das bewusst wurde, fühlte er sich entsetzlich.
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Außenministerium, Washington 19. September, 800 Uhr Ortszeit Als Clarissa an ihrem Arbeitsplatz im Außenministerium eintraf, galt ihr erster Gedanke einer Tasse Kaffee. Neben der Kaffeemaschine stand eine Sekretärin mit dunklen Ringen unter den Augen, die sich bei einer Mitarbeiterin beschwerte. »Wann immer mein Boss ›Anvilhead‹ sagt, muss ich Arzttermine, meinen Urlaub und sogar Dates absagen!« »Was ist ›Anvilhead‹?«, fragte Clarissa. Die beiden Frauen blickten sich an, und die erschöpfte Sekretärin, die über die Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz lamentiert hatte, antwortete umständlich, sie dürfe nicht darüber sprechen. Ihre Freundin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Um Himmels willen, das ist die Chefin der China-Abteilung, die Tochter des Sprechers des Repräsentantenhauses! Mit der kann man auch über Top-Secret-Themen reden.« Im Flüsterton berichtete die Sekretärin von Bakers Plänen, einen Gegenangriff auf die chinesischen Invasionstruppen zu starten. Zurück in ihrem ruhigen Büro, setzte sich Clarissa vor den Computer. Sie lud den anonymen Router und antwortete mit dem Passwort »Jetzt ist es an der Zeit…« und so weiter und so fort. Dann begann sie die E-Mail zu tippen. »Baker lässt die Chinesen praktisch ohne Gegenwehr an Land gehen, damit er sie später mit einem Gegenangriff überfallen kann.« Das war ja idiotisch, absoluter Wahnsinn! Sie war wütend. Als sie fertig war, schickte sie die E-Mail ab, um sie gleich darauf mit dem Standardprogramm des Verteidigungsministeriums zu »schreddern«.
Südlich von Tuscaloosa, Alabama 19. September, 9 00 Uhr Ortszeit Zwei entfernte Detonationen und die lange Salve aus einem Bordgeschütz hoch oben am Himmel rissen Captain Jim Hart aus einem unruhigen Schlaf. Über den Wolken heulten die Motoren zweier Kampfflugzeuge. 127
Die beiden Piloten, die sich eines der heutzutage raren Luftduelle lieferten, gingen ein entsetzliches Risiko ein, da es in dieser Gegend vor Raketen nur so wimmelte. Nick Waters, Captain der U.S. Air Force, knurrte wütend vor sich hin, während er seine F-26 in einen 6-g-Turn legte, eine Kurve, bei der er der sechsfachen Schwerkraft ausgesetzt War. Seine Beute, ein chinesischer Jagdbomber, stieß in eine Wolke hinab, aber das Display an Waters Helm projizierte seine Position auf die Windschutzscheibe. Während eines 9g-Abwärtsloopings stieg Waters das Blut in den Kopf. Er ging in den Rükkenflug, von dem aus er in einen Aufwärtslooping zog, aber er hatte noch immer Probleme, sich auf sein Ziel zu konzentrieren, und musste mehrmals blinzeln. Mit einem grimmig verzerrten Gesichtsausdruck stieß er in die Wolken hinab. Jetzt hatte er nur noch einen Tunnelblick, doch im Zentrum dieses Tunnels sah er das sich wie wild bewegende Bild des chinesischen Jagdbombers, auf den er bereits seine letzten LuftkampfRaketen abgefeuert hatte. Mittlerweile saß Waters schon neun Stunden im Cockpit, und das schloss auch zwei Zwischenlandungen ein, während derer er aufgetankt und sich mit neuer Munition versorgt hatte. Weil der hastige Start unmittelbar bevorstand, hatte er noch nicht einmal die Triebwerke abgestellt. Selbst am Boden gellten ihm ständig Gefahrenmeldungen in den Ohren. Diese kurzen Schreie über Funk waren während der letzten sechs Monate die Begleitmusik gewesen, die vom Tod eines Dutzends seiner Kameraden gekündet hatten. Ursprünglich hatte Waters’ Geschwader aus einundzwanzig Piloten bestanden. Die Amerikaner wuchsen wirklich über sich hinaus, aber wann immer sie die chinesischen Maschinen am Himmel über dem Süden des Landes abgeschossen hatten, sahen sie auf ihren Radarschirmen Unmengen feindlicher Raketen, die mit Überschallgeschwindigkeit auf sie zuschossen. Doch einen, vielleicht auch zwei Tage lang würde die Lage anders aussehen. Bis jetzt hatten die Chinesen ihre bodengestützten Raketen noch nicht von den Schiffen an Land gebracht, und folglich befanden sich die beiden Piloten bei ihrem Duell in der Luft außerhalb der Reichweite der auf Schiffen stationierten chinesischen Raketen im Süden, aber auch außerhalb der bodengestützten amerikanischen Raketen im Norden. Das 128
Resultat war dieser altmodische, verbissene Luftkampf Mann gegen Mann. Doch gerade deshalb war Waters zur Air Force gegangen. Dies würde nicht sein erster tödlicher Abschuss während des Krieges sein. Sechsmal hatte er über dem Golf von Mexiko zugeschlagen, und allein an diesem Morgen weitere dreimal. Für Waters war es jedes Mal eine persönliche Angelegenheit, und jeder Abschuss war anders. »Stirb, du Arschloch, kratz ab!«, brüllte er, während er das Fadenkreuz über seinen Gegner brachte und noch fester den Abzug an seinem Steuerknüppel umklammerte. Jetzt würde er zum ersten Mal keine Raketen, sondern seine Bordgeschütze einsetzen. »Verdammt!«, brüllte er, als der chinesische Kampfjet abrupt abdrehte und ihm entkam. Keuchend nach Luft schnappend, zog er die Maschine in einen 8-g-Looping. Die Manschetten in seinem G-Suit pressten schmerzhaft jeden Zentimeter seines Körpers unterhalb seines Halses zusammen, damit das Blut in seinen Kopf zurückgezwungen wurde. Schwindel und Übelkeit überkamen ihn. Schweißausbrüche folgten, und er keuchte wie ein Gewichtheber. An seiner Brust und an seiner Kopfhaut befestigte Biomed-Sensoren warnten vor einem möglichen Black-out. Als er das Flugzeug dann abgefangen hatte, klopfte sein Herz ein paar Sekunden lang wie wild, und es dauerte etwas, bis er begriff, dass er direkt vor seinem Gegner war. Waters drückte auf den Abzug, und die F-26 erzitterte unter dem Rückstoß des 30mm-Geschützes, das direkt neben den Pedalen für die Seitenruder angebracht war. Durch eine Handbewegung wurde die Nase des feindlichen Kampfjets mit dreihundert Kugeln bestrichen. Der chinesische Pilot verlor die Kontrolle über seine Maschine. »Automatische Aktivierung des Schleudersitzes«, verkündete die synthetische Stimme von Waters’ Computer. »Wiederhole, automatische Aktivierung des Schleudersitzes.« Nach diesen lapidaren Worten legten sich automatisch Fesseln um Helm, Arme und Beine, die Waters schmerzhaft in den Pilotensessel zurückzogen. Die Kabinenhaube löste sich ab, Wind peitschte in das Cockpit. Zwei laute Explosionen folgten, und Waters wurde aus dem Feuerball herausgeschleudert. Der kraftvolle Treibsatz unter dem gepanzerten Sitz hatte ihn aus dem Cockpit katapultiert, das jetzt, wie kurz darauf auch der 129
Rest der F-26, von Flammen verschlungen wurde. Der Computer, bestens über die langsamen menschlichen Reaktionszeiten informiert, hatte sich gar nicht mehr die Mühe gemacht, Waters erst noch über die drohende Gefahr zu informieren, sondern einfach den Schleudersitz aktiviert. Er wurde von einem heulenden Wind erfasst, der mit einer Geschwindigkeit von fünfhundert Meilen pro Stunde blies. Dann ließ der Raketenmotor den Sitz rotieren und verdoppelte die Schubkraft. Für zwei Sekunden wog sein Körper bei 13 G eine Tonne. Jetzt stabilisierte sich der Sitz in einer normalen Position, und Waters schoss, auf einer Rakete sitzend, über zweitausend Meter in die Höhe. Plötzlich schaltete sich der Motor ab, die Fesseln gaben Waters wieder frei, und unter ihm rutschte der Sitz weg. Waters befand sich im freien Fall. Oben, unten, oben, unten… Ich muss… Ein lautes Geräusch und ein schmerzhafter Ruck beendeten den Sturz. Waters’ Kinn knallte gegen die Brust, seine Zähne schlugen aufeinander. Schmerzen warnten vor ernsthaften Gefahren, die seinem Körper drohen könnten. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, legte er den Kopf in den Nacken. Über sich sah er den Fallschirm, der sich perfekt geöffnet hatte. Wieder atmete er tief durch. Das war also oben. Erneut sog er seine Lungen voll, doch in seinem Kopf drehte sich immer noch alles. Zwei Meilen unter ihm krachte der feindliche Kampfjet auf die Erde. Jetzt wusste er auch, wo unten war. Waters fummelte an seinem Helm herum, schob dann das dunkle Visier hoch und überprüfte die Leinen, die sich nicht verheddert hatten. Jetzt war es für ihn mit dem Luftkrieg erst einmal vorbei. Am Boden markierten zwei schwarze Rauchwolken die Stellen, wo sein Flugzeug und das des getöteten Chinesen aufgeschlagen waren. Dazwischen sah er eine sanft gewundene weiße Spur – den Kondensstreifen einer aus kürzester Entfernung abgefeuerten chinesischen Rakete. Während er weiter nach unten glitt, roch Waters den Rauch. Er wand sich in seinen Gurten, um noch einen Blick auf das unheimliche Resultat des Duells in der Luft zu werfen. Dann machte er es sich möglichst bequem, um zu überprüfen, ob er Verletzungen davongetragen hatte. Schon das ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. Er hatte Prellungen und Quetschungen, als wäre er gegen eine Mauer gerannt – aber diese hatte nur aus dünner Luft bestanden. Schließ130
lich entschloss er sich, über Funk durchzugeben, dass der Schleudersitz aktiviert worden war, doch er erhielt keine Antwort. Er hatte keinen blassen Schimmer, ob ihn jemand gehört hatte. Jetzt glitt Waters in eine dichte Wolke, und einen Augenblick lang herrschte in seinem Kopf völlige Leere. Es war nebelig, grau und kühl, doch dann tauchte der Boden wieder auf. Von einem etwa zweitausendfünfhundert Meter unter ihm liegenden Acker stiegen Flammen auf – das rauchende Wrack des chinesischen Kampfjets. Sofort wurde Waters wütend. Hundert Stellen seines Körpers strahlten Schmerzen aus, als er aus vollem Hals zu brüllen begann: »Du kannst mich mal am Arsch lecken, du Scheißkerl!« Unter dem NylonFallschirm baumelnd, starrte er zähneknirschend auf die Flammen. Macht zehn, aktualisierte er seine Bilanz. Dann sah er plötzlich einen grünen Fallschirm, der über ein paar Bäumen hing, die einer Farm Schatten spendeten. Der Dreckskerl, der ihn abgeschossen hatte, war noch nicht einmal tot! Waters kochte vor Wut. Fluchend trat er in der Luft um sich. Er presste seine Kiefer so fest zusammen, dass ein stechender Schmerz durch seinen Körper schoss. Auch wenn die Air Force nur die abgeschossenen Maschinen zählte, ihm ging es darum, dass der Pilot mit dran glauben musste, und deshalb war er noch nicht bei zehn angelangt. Der Kampf war noch nicht beendet. Da er völlig auf den beleidigenden Anblick des anderen Fallschirms fixiert war, überraschte es ihn, dass die Landung unmittelbar bevorstand. Er schaute nach unten und ließ seinen Blick dann über die umliegende Landschaft schweifen. Plötzlich hing gut fünf Meter unter seinen Füßen – wie ein Anker an einem Haltestrick – seine Notausrüstung. Seine Geschwindigkeit war zu groß, um eine Landung im Stehen hinlegen zu können. Im letzten Moment zog er die Beine an, die als Stoßdämpfer fungieren mussten, und plumpste auf den ordentlich gepflügten braunen Acker. Sofort schmerzten die etwa ein Dutzend Prellungen und Quetschungen, die er beim Ausstieg davongetragen hatte. Er wurde zur Seite gerissen und konnte gerade noch aufstöhnen, bevor die Leinen seines Fallschirms sich durch einen Windstoß strafften. Die Leinen zerrten an seinem Gurtwerk, wodurch er erst mit dem Gesicht in den Dreck gerissen und dann über die trockenen Ackerfurchen geschleift wurde. Sein Mund füllte sich mit Erde, aber was ihn am meisten 131
ärgerte, als er es endlich geschafft hatte, sein Gurtwerk zu lösen, war die Tatsache, dass er jetzt weiter von der Farm entfernt war. Er richtete sich benommen auf die Knie auf, stützte seine Hände auf die Oberschenkel und spuckte immer wieder aus, wobei er die ganze Zeit die Baumgruppe in der Ferne im Auge behielt, um zu sehen, ob ihm dort irgendwelche Bewegungen auffielen. Mit wackeligen Beinen rappelte er sich auf, dann taumelte er über die Furchen auf seine Notausrüstung zu. Nachdem er ein paar Reißverschlüsse aufgezogen hatte, fand er die Feldflasche, gurgelte, spuckte aus und leerte sie zur Hälfte. An der Farm waren immer noch keine Bewegungen zu erkennen. Nachdem er die Feldflasche wieder verstaut hatte, nahm er seine automatische Pistole aus dem grünen Nylon-Halfter. Waters lud durch, zog den Reißverschluss zu und warf sich die Tasche an einem Gurt über die schmerzende Schulter. Außer dem permanent pfeifenden Wind war nichts zu hören. Alles war ganz anders als im Luftkrieg, wo man es ständig mit Funksprüchen und elektronischen Warnsignalen zu tun hatte. Als Waters zunächst noch langsam über das Feld zu marschieren begann, warf er seinen grünen Helm einfach in den Dreck. »Elender Scheißkerl«, fluchte er leise vor sich hin. Dann brüllte er wütend, weil er es nicht erwarten konnte, endlich bei dem grünen Fallschirm zu sein. Manchmal rechnete er damit, dass der chinesische Pilot feuernd zwischen den Bäumen auftauchen würde und dass sich der Kampf Mann gegen Mann, wie sie ihn in den Wolken ausgetragen hatten, am Boden wiederholen würde. »Du glaubst, dass du einfach mal eben so in mein Land kommen kannst?«, schrie Waters trotz seiner schmerzenden Rippen. »Oder dass du mich in der Luft oder hier unter erledigen kannst?« Allmählich wurde sein Gang sicherer und entschlossener. »Kannst du mich schon hören, du Hurensohn?«, brüllte er. »Hörst du mich, Arschloch?« Niemand antwortete. Waters hatte keine Ahnung, wie viele Männer von seinem Geschwader an diesem Morgen ums Leben gekommen waren – vielleicht alle, wer konnte das schon wissen. Aber er wusste genau, dass der Pilot in der Maschine neben ihm gestorben war. Nachdem sie sich mit neuer Munition versorgt und aufgetankt hatten, waren sie kurz nach der Morgendämmerung wieder ins Gefecht geflogen. Sie hatten jede Menge Raketen an Bord, und zuerst lief alles gut. Dreimal feuerten Nick und der Pilot in der Ma132
schine neben ihm jeweils acht Raketen ab, und das elektronische Überwachungssystem meldete, beide hätten drei Chinesen getötet. Dennoch näherten sie sich der Küste zu sehr. Nur mit knapper Not entkamen sie den auf Schiffen installierten, feindlichen Boden-Luft-Raketen, doch dabei verbrauchten sie zwei Drittel ihres noch verbliebenen Treibstoffs. Als den schnell näher kommenden chinesischen Raketen ihrerseits der Treibstoff ausging, explodierten sie, und dabei wurden die Steuerflächen der Maschine von Waters’ Kamerad getroffen. Waters bekam das durch die künstlich erzeugten Vibrationen seines Steuerknüppels mit. Da sein Kamerad über Funk durchgab, in seinem Cockpit seien die gelben Warnlichter angegangen, flog Waters näher an die benachbarte Maschine heran, um sie zu inspizieren. Deutlich konnte er den feinen Dunst erkennen, den der linke Flügel der anderen Maschine hinter sich herzog. Damit mussten die sich automatisch selbst versiegelnden Tanks schnell fertig werden. Als Waters seinen Kameraden gerade informieren wollte, dass bei ihm Treibstoff auslaufe, ging die F-26 bereits in einem grellen Feuerball auf. Wieder manövrierte Waters sein Flugzeug hinter die benachbarte Maschine. Ungläubig schüttelte er den Kopf; doch dann musste er glauben, was er sah. Jetzt ließ Waters seine Notausrüstung fallen und trat, mit beiden Händen die Pistole umklammernd, zwischen die Bäume. Am Haus gab es keinerlei Hinweise darauf, dass sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft hatte. Er orientierte sich an dem in den Baumkronen hängenden Fallschirm. Darunter lag, das Gurtwerk noch angelegt, der verwundete chinesische Pilot, der sich im Netz der Leinen seines Fallschirms verfangen hatte. Aber in der Hand hielt er keine Waffe, sondern einen Transmitter, mit dem er im Notfall seine Position übermitteln konnte. Über Funk durchgegebene Pieptöne würden Such- und Rettungseinheiten zu dem ernsthaft verwundeten Mann aufbrechen lassen. Ein einziger Schuss aus Waters’ 9mm-Pistole ließ die Einzelteile des Transmitters auf das Gras spritzen. Der chinesische Pilot hob den Kopf leicht, aber offensichtlich wollte ihm sein völlig verrenkter Körper nicht mehr gehorchen. Waters ging zu ihm und starrte über den Lauf seiner Pistole auf ihn hinab. Der Chinese sah ihn aus glasigen Augen mit einem leeren Blick an. In seinen Augen waren etliche Blutgefäße geplatzt. »Du glaubst, du kannst einfach so in mein Land kommen?«, fragte Wa133
ters. »Und? Meinst du, dass du deine Sache gut gemacht hast?« Der Chinese ließ seinen behelmten Kopf sinken und sagte nichts, was Waters noch wütender machte. »Leck mich am Arsch, hier bin ich der Sieger! Er drückte so schnell wie möglich ab. Vierzehn Mündungsblitze erleuchteten den schattigen Seitengarten des verfallenden Farmhauses. Da streckte ihn ein brutaler Schlag zu Boden, und er prallte so hart auf, dass ihm die Luft wegblieb. Er wollte sich wehren, aber der auf ihm sitzende Mann presste ihm eine Hand auf den Mund. Jetzt begriff Waters, dass es ein amerikanischer Soldat war. Der weiße Mann, dessen Gesicht mit Fettschminke eingerieben war, legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, aber genauso gut hätte er Waters auch mit seinem riesigen schwarzen Messer die Kehle durchschneiden können, das an der Schulter seiner kugelsicheren Weste in einer Scheide steckte. Langsam konnte Waters mühsam wieder Luft holen. Er setzte sich auf. Offensichtlich war der Mann ein harter Bursche – an seinem Stiefel war noch ein riesiges Messer befestigt. In dem Maße, wie sich der Pilot wieder beruhigte, nahm er hinsichtlich seiner Tat eine immer defensivere Haltung ein. Aber Jim Hart war alles andere als ruhig. Die Schüsse, fast alle überflüssig, konnten in der Nähe befindliche chinesische Patrouillen alarmiert haben, und die Pieptöne des Transmitters, die die Position durchgaben, würden unter Umständen schwer bewaffnete Soldaten in Kampfhubschraubern herfuhren. Im hellen Tageslicht eilten die beiden Amerikaner über offene Felder. Wenn man sie entdeckte, waren sie tot. Zumindest würde es bei Jim Hart so sein. Ihm war jedes Minenfeld in dieser Gegend bekannt, und er würde sich in diesem Leben nicht von Chinesen verhören lassen. Schon vor langer Zeit hatte er diese Entscheidung getroffen, und sie war ihm leicht gefallen. »Dieser Hurensohn…«, begann kopfschüttelnd der Captain von der Air Force, dem der Waldrand, die Straße und der Horizont offenbar gleichermaßen egal waren. »Heute Morgen ist mein Kamerad in der Maschine neben mir ums Leben gekommen«, informierte er den desinteressierten Hart. »Er ist einfach… Sie…« »Ist mir scheißegal«, antwortete Hart. »Sie hätten nicht Ihre Pistole benutzen sollen.« 134
»Ich weiß«, sagte Waters. »Mist! Keine Ahnung, was zum Teufel ich mir dabei gedacht habe. Nein, ich hätte es nicht tun sollen… Wahrscheinlich wäre er sowieso gestorben.« »Sie hätten ihn mit dem Messer umbringen müssen«, wies Hart den Piloten zurecht. »Und jetzt halten Sie die Klappe!« Die letzten paar Meter zu dem rettenden Waldrand rannten sie. Der Pilot schien den Tränen nahe. Hart blickte ihn ungerührt an. »Verdammt, laden Sie endlich nach.«
Mobile, Alabama 19. September, 9 00 Uhr Ortszeit Zur völligen Überraschung der Marineoffiziere, die Wu’s Aufenthalt an Bord bisher perfekt gemanagt hatten, lehnte dieser es ab, sich auf einer eigens für ihn bereitgestellten Barkasse an Land bringen zu lassen. Stattdessen fand er sich im kompletten Feldanzug und mit einem Sturmgewehr bewaffnet auf dem überfüllten Deck ein. Die strahlende Morgensonne brannte auf das offene Heck des Truppentransporters. Wu blickte sich um. Noch immer war es ihm nicht gelungen, seine Begleiter abzuschütteln. Vorbeikommende Soldaten beäugten ihn und die hohen Marineoffiziere in den weißen Sommeruniformen, die hinter ihrem Schützling durch die Menschenmenge gingen. Jemand aus Wu’s Eskorte, die sich aus Marineangehörigen zusammensetzte, flüsterte einem Oberst der Armee etwas zu, dessen Augen sich erschrocken weiteten. Nachdem der Oberst Wu mit Handschlag und einigen respektvollen Worten begrüßt hatte, geleitete er ihn zu seinem Platz auf dem geschlossenen, gepanzerten Landungsboot. Wu wartete darauf, dass die anderen Soldaten zu ihm stießen, aber als sich die hinteren Türen schlossen, war er noch immer allein an Bord. Der junge Leutnant verfluchte sich selbst. Die vorn in dem Amphibienschiff stehenden Besatzungsmitglieder, von denen Wu sonst nur die Beine sah, drehten sich um, um ihm verstohlene Blicke zuzuwerfen. Nachdem sie die Luken geschlossen und die Maschine angelassen hatten, steuerten sie das Landungsboot mit der rückwärtigen Rampe zuerst in die Bucht von Mobile. 135
Als sich die hinteren Türen des gepanzerten Amphibienfahrzeugs wieder öffneten, wurde Wu von einem Kameramann in einem Drillich der Armee erwartet. Wu trat auf einen sonnenüberfluteten, mit Kieseln bedeckten Parkplatz hinaus, der zu einem Park mit vielen Grasflächen und nur wenigen Bäumen gehörte. Picknicktische, Holzhütten und Grills waren mit Bulldozern aus dem Weg geräumt worden. Jetzt diente der Sandstrand als kleiner Landekopf. Aus der Bucht tauchten weitere Amphibienfahrzeuge auf, von deren gepanzerten Rümpfen in Kaskaden Wasser rann. Stahlketten wühlten sich durch den Sand und den Rasen, während die starken Dieselmotoren schwarze Rauchwolken in die Luft stießen. Wu wandte sich wieder um. Aus einem Abstand von zwei Metern filmte ihn der Kameramann vor dem Hintergrund der imposanten Kriegsmaschinerie. Ein Major salutierte vor Wu und geleitete ihn dann zu einer Limousine. Wu’s Blick glitt über die Bäume, die englisch beschrifteten Straßenschilder, die Häuser jenseits des Highways und die weiter in der Ferne liegenden Bürogebäude. Er ließ die Anblicke und Geräusche Amerikas auf sich wirken, der Heimat seiner Mutter, die er nicht kannte, und versuchte herauszufinden, wie er sich dabei fühlte. Kurz darauf traf Wu vor einem alten Bürogebäude in der Nähe des Hafens von Mobile ein, das mittlerweile der chinesischen Armee als Hauptquartier diente und eines der wenigen nützlichen Häuser war, das die Amerikaner nicht zerstört, vermint oder verwanzt hatten. Die riesigen Sprengstoffladungen am Hafen waren nicht in die Luft gegangen – eine äußerst glückliche Fügung des Schicksals. Bis jetzt war auch dieser Einsatz wieder außergewöhnlich erfolgreich verlaufen, doch erneut hatte Wu keinen Anteil daran gehabt. In General Shengs Büro wurde Wu von einer sehr hübschen Sekretärin empfangen, die ihren im Nebenzimmer wartenden Chef über die Gegensprechanlage informierte. »Einen kurzen Augenblick noch«, sagte sie lächelnd. Unterhalb der Holztäfelung waren die Wände des offenbar aus den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts stammenden Gebäudes rissig und verdreckt. Es gab keine Klimaanlage, und der Raum war schlecht gelüftet und heiß. Durch ein offenes Oberlicht über der Tür von General Shengs Büro hörte Wu Gemurmel. 136
»Würden Sie gern eine Tasse Kaffee trinken, während Sie auf den General warten, Leutnant Han Wushi?«, fragte die junge, eifrig um Wu bemühte Frau lächelnd, während sie ihren Gast von der anderen Seite des Büros her anblickte. Weil sie die Arme hinter den Rücken gelegt hatte, wirkte sie sehr schlank. Sie trug ein wahrscheinlich unglaublich teueres Kostüm, dessen Jacke sie aber wegen der Hitze auf einem Kleiderbügel an die Wand gehängt hatte. Ihre einzige Konzession an den Krieg war der kräftige Grünton des Kostüms. Doch am meisten fielen Wu ihr glänzendes Haar, ihre funkelnden Augen und das perfekt gepuderte weiße Gesicht mit den dunklen Lippen auf. Er nickte. Mit schüchtern gesenktem Blick verließ die Sekretärin das Vorzimmer. Wu trat dicht vor die Tür von General Shengs Büro. Damit die Luft wenigstens ein bisschen zirkulieren konnte, stand das Oberlicht offen, durch das Wu jetzt einen sich träge drehenden Ventilator sah. »Können wir absolut sicher sein, dass Olympic kein Doppelagent ist?«, fragte General Sheng. »Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand an so hoher Stelle in Washington eingeschleust werden konnte?« »Möglich ist es natürlich, dass Olympic amerikanische Desinformationen verbreitet«, antwortete Oberst Li. »Bei so etwas muss man hochgradig misstrauisch sein.« Als Shengs Sekretärin mit dem Kaffee zurückkam, sah sie Wu dicht vor der Tür stehen. Ihr Lächeln flackerte, und ihr Blick glitt zu dem Oberlicht hinauf. Die Tür flog auf. »Ah, Leutnant Wu!«, sagte General Sheng. »Dann wissen Sie ja jetzt, wo wir unseren Nachschub an wunderschönen chinesischen Damen untergebracht haben!« Sheng und Oberst Li begannen gleichzeitig, herzlich zu lachen. Mit Wu’s Kaffeetasse in der Hand kehrte die Sekretärin zu ihrem Schreibtisch zurück. Anschließend beschäftigte sie sich offenbar damit, die Risse im Fußboden zu zählen und mühsam ein Lächeln zu unterdrücken. »Sind Sie bereit für das Treffen mit Ihrem Vater am Flughafen?«, fragte der General. »Was mich betrifft, so werde ich den gleichen Fehler nicht zweimal begehen.« Als Wu an dem Schreibtisch vorbeiging, wich die schüchterne junge Sekretärin seinem Blick aus. »Tut mir Leid, dass ich den Kaffee nicht mehr trinken kann«, sagte Wu. 137
»Vielleicht beim nächsten Mal«, antwortete sie. Wu lächelte, wagte es aber ebenfalls nicht, ihr direkt in die Augen zu schauen, und deshalb konnte er sich auch nicht sicher sein, wie ihre Antwort gemeint war. Sobald Leutnant Wu das Vorzimmer verlassen hatte, verschwand das Lächeln von ihren Lippen. Sie blickte General Sheng in die Augen und nickte einmal kurz. Bei strahlendem Sonnenschein verließ Han Zhemin seinen Privatjet, um sofort die Gangway hinabzusteigen. Die Rollbahn des Flughafens von Mobile flimmerte vor Hitze, war aber nicht mit Bombenkratern übersät. Auch das Terminal war nicht beschädigt – hier schien alles völlig in Ordnung zu sein. Irgendetwas stimmte nicht. Bill Baker würde um jeden Quadratmeter amerikanischen Boden kämpfen – aber die Landung der Chinesen war praktisch ohne Widerstand über die Bühne gegangen. Eine Kapelle spielte schrille Militärmusik, und neben einem langen roten Teppich hatte sich eine Ehrenwache mit glänzenden Bajonetten aufgebaut. Chinesische Fernsehkameras, die sowohl im Auftrag der Armee als auch der Zivilregierung drehten, zeichneten die pompöse Zeremonie auf, mit der Han empfangen wurde. Am Fuß der Gangway warteten General Sheng, Oberst Li und Wu, die Han mit Handschlag begrüßte. Die drei Militärs wirbelten herum und schritten feierlich links neben Han über den roten Teppich, immer sorgsam darum bemüht, mit dem hohen zivilen Politiker Schritt zu halten. Sie kamen an einer Ehrenwache vorbei, deren Mitglieder makellose Uniformen, Schirmmützen und Gewehre mit strahlend weißen Gurten trugen. Hinter ihnen stand ein livrierter Kapellmeister, der mit einem Taktstock in der Luft herumstocherte und der frenetisch aufspielenden Blechblaskapelle den Rhythmus vorgab. Gespielt wurde natürlich patriotische Musik. Schließlich erreichten sie eine etwas erhöhte Bühne, von der hohe Offiziere auf eine ununterbrochen applaudierende Masse von Soldaten hinabblickten. Hier waren nur Angehörige des Militärs anwesend, abgesehen natürlich von den zahlreichen Reportern der internationalen Presse… Ein abgekartetes Spiel, eine reine Inszenierung, dachte Han. Folglich stieg er nicht auf die Bühne, um in die das Podium schmückenden Mikrofone zu sprechen. Stattdessen ging er weiter auf das Terminal zu. Han’s unerwartetes Abweichen vom Programm der durchinszenierten 138
Begrüßungszeremonie führte dazu, dass Sheng und sein Adjutant losrannten, um den Gast einzuholen, wobei sie ihre funkelnden Säbel festhalten mussten. Wu allerdings hatte Han’s Reaktion vorausgesehen und war an seiner Seite geblieben. Als Han seinem Sohn einen flüchtigen Seitenblick zuwarf, fiel ihm dessen Miene auf, die sowohl von Belustigung als auch von Befriedigung künden konnte. Schließlich hatten der General und der Oberst den Leutnant und den Zivilisten auf dem langen Weg zum Terminal wieder eingeholt. Da haben mir diese normalerweise so tollpatschigen Militärs eine geschickte Falle gestellt, dachte Han. Die öffentliche Bekanntgabe seiner Berufung zum zivilen Administrator – vor dem Hintergrund der Belagerung Amerikas – hätte jede Menge Fernsehberichte in China und den von China besetzten Gebieten garantiert. Aber Hart hatte dieses Spiel von Kindesbeinen an gelernt, bei dem Sheng nur als Dilettant agieren konnte. Der Sinn des für die Kameras inszenierten Pomps bestand darin, der ganzen Welt zu demonstrieren, dass der große Sieg Chinas den Militärs und nicht der zivilen Regierung zu verdanken war. Sheng hätte Han auf eine respektvolle, aber interpretierbare Weise in sein hohes neues Amt eingeführt. Vor den Fernsehschirmen wäre die Demonstration der Überlegenheit der Militärs von hinderten Millionen Bürokraten verfolgt worden, die einen fern entwickelten Sinn für Symbolik hatten. Sie waren Kaffeesatzleser, die schon anhand der Stelle, wo jemand auf einem Foto stand, politische Machtverschiebungen erkennen konnten. Die einzige Wahlmöglichkeit dieser Männer und Frauen bestand in einer Art geheimen Abstimmung darüber, ob sie Han’s Zivilregierung oder Shengs Militärs gegenüber loyal waren. »Tatsächlich war nur eine kleine Zeremonie geplant, Administrator Han«, sagte Sheng, als sie schließlich in der verwaisten Halle des Terminals standen. »Ich war der Ansicht, dass man Ihren Stab informiert hätte.« »Mir schienen die Sicherheitsvorkehrungen unzulänglich zu sein«, antwortete Han kühl. »Wir haben hier alles vollkommen unter Kontrolle«, antwortete Sheng, der zum ersten Mal einen offen bedrohlichen Ton anschlug. Indem er Han mit einem starren Blick fixierte, stellte er klar, dass seiner Bemerkung durchaus eine umfassendere Bedeutung zukam. »Mir sind auf Fakten beruhende Einschätzungen lieber als bloße Meinungen«, bemerkte Han, der seiner offensiven Gangart treu blieb. »Durch 139
amerikanische Unterseeboote oder Cruisemissile-Attacken haben wir zwei Super-Flugzeugträger und ein Dutzend Kriegsschiffe verloren. Über tausend Kampfflugzeuge wurden abgeschossen.« »Für eine erfolgreiche Invasion dieses Ausmaßes ist das eindeutig im Rahmen des Erwartbaren«, konterte Sheng schnell. »Aber wie viele Menschen sind ums Leben gekommen? Fünfzehn-, zwanzig- oder dreißigtausend?« »Bis jetzt hatten wir einhunderttausend Opfer am Boden eingeplant, aber tatsächlich haben wir praktisch keine zu beklagen.« Und genau deshalb stimmt auch etwas nicht, dachte Han. Das ist ein Trick. Er lächelte den merkwürdig unbekümmert wirkenden Sheng an. »Vielleicht ist der Sieg ja tatsächlich in Reichweite«, sagte er. Eine Gruppe von Reportern aus China, Süd- und Ostasien und Südamerika hatte sich in einem respektvollen Abstand von den beiden mächtigsten Männern der Neuen Welt versammelt. Ohne in ihre Richtung zu blicken, sprach Han jetzt lauter. »Also, General Sheng, ich werde die Stellungen unserer Truppen inspizieren.« Han ließ den General stehen und ging mit schnellen Schritten durch die Halle des Terminals. Zwar hatte er keine Ahnung, in welche Richtung er lief, aber so konnten Sheng und sein Adjutant wenigsten nicht vorgehen. Er befand sich an der Spitze der Gruppe. Nachdem Han die gepanzerte Limousine mit dem Wanzendetektor überprüft hatte, ließ er seinen Blick über die vor dem Fenster vorbeiziehende amerikanische Landschaft gleiten. Wu saß schweigend neben seinem Vater. Weil es so viel gab, das er nicht wusste, brütete Han wortlos vor sich hin. Schließlich wandte er sich doch an seinen Sohn. »Ich verstehe Bill Baker«, sagte er. »Er glaubt, dass Amerika innerhalb der Weltgeschichte einmalig ist und dass keine Macht dieser Erde es besiegen kann. Und er würde fast alles tun, um dies zu beweisen.« »Was ist, wenn Baker Atomwaffen einsetzt, um für die Fertigstellung seiner Arsenalschiffe Zeit zu gewinnen?«, fragte Wu. »Vielleicht wird er Atomwaffen einsetzten, ja«, antwortete Han. »Mittlerweile ist das eine interessante Frage. Aber die Sache mit den Arsenalschiffen kannst du vergessen. Man hat uns versichert, dass es sich dabei um eine gewaltige Desinformations-Kampagne handelt oder um Bakers 140
verzweifelten und wahnhaften Traum von einer Superwaffe. Womöglich spielt beides eine Rolle.« »Und wenn es nicht nur ein wahnhafter Traum wäre?«, fragte Wu. »Was ist, wenn sie unsere Flotte besiegen oder die totale Vormacht auf dem Meer gewinnen könnten?« »Was redest du da, Wu?«, fragte Han fast flüsternd. Nachdem er sich nervös umgeblickt hatte, erzählte Wu seinem Vater von dem Treffen mit dem hohen Marineoffizier, gab dessen Namen aber nicht preis. Han lauschte aufmerksam. »Wenn das stimmt, Wu, dürfen die Amerikaner diese Schiffe nicht vom Stapel laufen lassen«, sagte er in einem bedächtigen Tonfall. »Dann müssen wir um jeden Preis ihre Werften besetzen oder zerstören. Anderenfalls verlieren wir alles. Wir werden China verlieren. Unsere Aufgabe besteht darin, Wu, diese vermeintliche Tatsache, von der du berichtet hast, in einen Vorteil für unsere Familie umzumünzen. Wenn es stimmen sollte, was dieser ›Marineoffizier‹ dir erzählt hat, hat Sheng mit Sicherheit die Absicht, die Werften um jeden Preis zu zerstören. Was immer es kosten mag, Wu. Also, was glaubst du, wer diese Rechnung bezahlen muss? Der Blutzoll wird von deinen Kameraden von der Militärakademie wie Tsui bezahlt werden müssen, und wir werden in sehr kurzer Zeit so viele Tote zu beklagen haben, wie wir es in zehn langen Kriegsjahren noch nicht erlebt haben. Das würde zu Hause äußerst schlecht ankommen, und die Popularität der Militärs wäre auf dem Tiefpunkt. Denk darüber nach. Denk an all die Familien, die ihren einzigen Sohn verlieren, den sie als ›kleinen Kaiser‹ vergöttern.« Schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen dachte Wu über die Worte seines Vaters nach. »Würde Präsident Baker Atomwaffen einsetzen?«, fragte er schließlich erneut. »Vielleicht«, antwortete Han. »Wenn ihm keine andere Wahl bleibt. Auch er wird einen extrem hohen Preis zahlen müssen. Denk nur daran, dass er Frauen am Boden kämpfen lässt.« »Seine eigene Tochter ist Soldatin«, bemerkte Wu eifrig. »Aber wenn er Atomwaffen einsetzt, würden wir mit nuklearen Gegenattacken seine Schiffe, Werften und Häfen zerstören. Es geht um Folgendes, Wu: Wenn wir in diesem Spiel richtig agieren, werden die Schiffe zerstört werden und die Militärs geschwächt und sehr unpopulär daraus 141
hervorgehen. Und wir werden Amerika regieren.« Die Einfachheit dieses Plans ließ Han lächeln. »Aber wir müssen alles richtig managen, und da ist Information der Schlüssel zum Erfolg. Solltest du bei der ganzen Sache mitmachen wollen, was ja offensichtlich der Fall ist, weil du sonst nicht hier wärest, musst du mir auch weiterhin Informationen zukommen lassen. Ich kenne Sheng. Nie würde er sich seinen Vorteil bei der Truppenstärke abkaufen lassen, indem er den Amerikanern die Initiative überlässt. Er gehört nicht zu den Männern, die nur reagieren. Irgendetwas verbirgt er… irgendeinen Plan… Und es ist deine Aufgabe, alles darüber herauszufinden, Wu.« Während Han wieder die vorbeiziehende Landschaft betrachtete, hatte er das Gefühl, dass sein Sohn ihn eingehend betrachtete. »Vielleicht solltest du dich wegen militärischer Operationen nicht beunruhigen«, sagte Wu nach einer längeren Pause. Nach dieser unverschämten Bemerkung fuhr Han’s Kopf herum, aber sein Sohn sprach sofort weiter. »Es könnte ja beispielsweise so sein«, sagte er achselzuckend, »dass Sheng über eine Nachrichtenquelle in Washington verfügt. Über einen Spion in der Chefetage.« Kurz bevor Han’s Wut über die arroganten Vorträge seines Sohns ihren Höhepunkt erreichte, begriff er, was sein Sohn da eigentlich gesagt hatte. »Erzähl mir, was du weißt, Wu«, sagte er lächelnd. »Sofort.« »Es gibt einen Spion in Washington«, erklärte Wu. »Sein Deckname ist ›Olympic‹.« Verwundert wartete Han auf weitere Informationen, aber Wu verstummte. »Verstehe. Und? Was weißt du noch über diesen Olympic?« »Nichts. Er ist ein Spion der Armee, mehr weiß ich nicht.« Einen Augenblick lang stand Han vor Überraschung der Mund offen. »Interessant«, bemerkte er dann. Wu weiß nicht alles, dachte er, aber bei Sheng muss das anders sein. »Gute Arbeit, Wu«, fuhr er fort. »Jetzt möchte ich, dass du alles über diesen Olympic herausfindet. Alles, was du irgendwie in Erfahrung bringen kannst, jedes Detail, jede Entwicklung. Dann musst du mir sofort Bericht erstatten. Aber am wichtigsten ist, dass du herausfindest, wer sich hinter dem Decknamen verbirgt.« Wu nickte, schlug aber den Blick nieder. »Was ist, Wu?« 142
Die Antwort kam nur tröpfchenweise und schien tief aus dem Inneren des jungen Mannes aufzusteigen. »Was ist, wenn die amerikanische Armee uns an der Einnahme der Werften hindert, ohne Atomwaffen einsetzen zu .müssen?« Han lachte, und Wu blickte ihn stirnrunzelnd an. »In ihrer Armee gibt es jede Menge Kleinkinder, die die Windeln noch nicht abgelegt haben. Wir verfügen über erfahrene Soldaten, und in ein paar Monaten wird unsere Truppenstärke ihre um das Fünfzehnfache übersteigen. Glaubst du wirklich, dass die uns aufhalten können?« Wu schüttelte gemächlich den Kopf. »Nein. Aber was ist, falls es doch so sein sollte?« Han zuckte die Achseln und seufzte. »Dann werden wir verlieren«, stellte er sachlich fest. General Shengs Adjutant, Oberst Li, öffnete den Schlag von Han’s Limousine. Während sie an der Bucht von Mobile entlanggingen, hielten sich der Adjutant und Wu hinter Han und dem General. Überall im Hafen lagen chinesische Schiffe. An den Kais hatten acht riesige Truppentransporter festgemacht, von denen Tag für Tag zehntausend Soldaten an Land strömten. Acht weitere dieser Ungetüme lagen weiter draußen in der Bucht auf Reede. An Deck standen Soldaten, die den Blick auf Amerika genossen. Sie kamen an einer Batterie von achtzehn großen Raketenbatterien vorbei, die auf Fahrzeugen mit Ketten montiert waren. Mit insgesamt dreißig solcher auf die Bucht von Mobile feuernder Batterien, zu denen noch die auf Schiffen installierte Flugabwehr komme, habe China bis zu sechzig Kilometer landeinwärts die totale Luftüberlegenheit, informierte General Sheng Han. »Auf der Fahrt hierher ist mir aufgefallen, dass die Lastwagen und gepanzerten Fahrzeuge am Straßenrand standen. Warum sind diese Truppen nicht in Bewegung?« »Wahrscheinlich brauchen sie Treibstoff. Die Amerikaner haben äußerst gründlich darauf geachtet, keinerlei Vorräte an Mineralöl, Öl oder Schmiermitteln zurückzulassen. Offenbar haben sie ohnehin alles zerstört, was irgendeinen Wert hatte.« »Den Hafen nicht«, bemerkte Han, der seinen Blick über das Wasser schweifen ließ. »Und den Flughafen auch nicht.« Er wartete auf eine Ant143
wort, doch Sheng blieb stumm. »Hätten Sie nicht damit rechnen müssen, dass die Amerikaner Sie nicht am Strand mit Treibstoffdepots empfangen würden? Warum haben wir nicht genug Treibstoff mitgebracht, damit unsere Truppen mobil bleiben?« Nun konnte Sheng sich eine Antwort nicht verkneifen. »Da diese Männer zu unseren Stoßtrupps gehören, haben wir einkalkuliert, dass sie bei der Errichtung des Landekopfs geopfert werden müssen. Dass sie jetzt müßig herumhängen, ist Ausdruck unseres Erfolgs. Wir haben ihnen gerade so viel Treibstoff gegeben, wie sie brauchten, um ihre nur ein paar Kilometer landeinwärts hinter der Küste liegenden Ziele zu erreichen.« »Mit anderen Worten, Sie sind davon ausgegangen, dass mittlerweile alle tot sein müssten, aber tatsächlich sind sie gesund und munter, ohne sich im Augenblick irgendwie nützlich machen zu können.« Sheng überging die bissige Bemerkung, aber dafür meldete sich von hinten Oberst Li. »Augenblicklich sind wir damit beschäftigt, neue Befehle für diese Stoßtrupps auszuarbeiten. Wir werden sie mit Nachschub aus unseren Treibstoffreserven versorgen. Aber die nachrückenden Truppen haben Treibstoff dabei und rücken auch schon in Richtung Norden vor, um den Kampf mit den Amerikanern aufzunehmen.« General Sheng schnitt seinem Berater das Wort ab. »Ich bin mir ganz sicher, dass diese Details über unsere Operationen unseren Gast aus dem Zivilleben nur langweilen.« Jetzt schossen Han gleich mehrere Gedanken durch den Kopf. Kurzzeitig dachte er darüber nach, den Ausdruck »Gast« angemessen polemisch – wenn auch nicht zu aggressiv – zu kommentieren, doch dann überlegte er es sich anders. Statt Sheng daran zu erinnern, wem das Territorium unterstand, über das sie gerade gingen, nahm er einen wichtigeren Punkt auf, der noch der Erörterung harrte. »Sie haben Recht, General Sheng, ich bin tatsächlich weniger an unseren Operationen interessiert als vielmehr an den Plänen, Entscheidungen und Fähigkeiten der Amerikaner. Sicher ist es überflüssig, Ihnen die Beklommenheit unserer Landsleute zu schildern, die diese hinsichtlich des Resultats unseres amerikanischen Feldzug empfinden. Ganz China blickt auf die Vorstellung, die Sie hier liefern, General Sheng.« Der über siebzig Jahre alte General blieb vor einem im Kolonialstil erbauten Haus stehen, zu deren breiten Veranden die Brise aus der Bucht 144
herüberwehte. Han gestattete sich ein Lächeln. Irritiert bemerkte er, dass Sheng es erwiderte. Han und Sheng saßen im Garten eines Hauses aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg auf Polsterstühlen an einem mit einem Leinentuch bedeckten Tisch. Hohe Magnolienbäume spendeten reichlich Schatten. Wu und Oberst Li saßen schweigend in der Nähe. Allen wurde von chinesischen Dienern in weißen Jacketts Eistee serviert. Nach der ersten Landung in einem eroberten Land war es mittlerweile zur Gewohnheit geworden, ein landesübliches Getränk zu sich zu nehmen. Der Rasen war lange nicht gemäht worden, von den Wänden des Hauses mit der schönen Aussicht blätterte die Farbe ab. Das Wasser im Swimmingpool war dunkelgrün und trat beinahe über die Ränder. Die Brise und der Schatten machten den heißen Tag angenehm. Han warf einen Blick auf das dunkle, verlassene Haus, von dem aus man einen Blick auf die Bucht von Mobile hatte. Die Tür war eingetreten worden, wahrscheinlich von einem von Shengs Stoßtrupps. »Bisher war ich noch nie in Amerika«, sagte General Sheng, der auf die Bucht hinausblickte und sich sehr wohl zu fühlen schien. Viel zu wohl, wie es Han schien. »Aber dies ist nicht Amerika«, antwortete er. Als Sheng ihn ratlos anblickte, rupfte Han ein Büschel Gras aus und hielt es Sheng unter die Nase. »Das hier ist gar nichts. Die Ressource, hinter der wir her sind und die wir unbedingt brauchen, wenn unsere ökonomische Expansion weitergehen soll, das ist die Produktivität des amerikanischen Volks. Sein Einfallsreichtum, seine Innovationskraft, seine Fähigkeit, Technologie in neue Produkte umzusetzen. Wenn wir die amerikanische Wirtschaft und ihre Arbeitskräfte in unser Handelssystem integrieren können, wird die Welt nach zehn Jahren Krieg schließlich in der Lage sein, auf allen unternehmerischen Ebenen neue Rekorde an Profitabilität und Effizienz aufzustellen.« Sheng wirkte demoralisiert. Seine gute Laune war wie weggeblasen, und sein Tonfall wirkte merkwürdig unbedacht und abwesend. »Und deshalb sind wir hier?« Han wusste nicht, wie und ob er überhaupt antworten sollte. Das war keine herausfordernde Bemerkung oder eine Provokation, die er verbal 145
parieren musste. Fast wirkte Shengs Satz wie der desillusionierte Kommentar eines müden, alten Soldaten. Schweigend nippten sie an dem schlechten Eistee und beobachteten die im Hafen manövrierenden Schiffe. »Wir werden diesen Krieg gewinnen, Administrator Han«, sagte Sheng in beschwörendem Tonfall schließlich. »Bevor sie ihre Arsenalschiffe zu Wasser lassen können, werden wir die Werften in San Diego und Philadelphia unter unsere Kontrolle bringen. Und dann haben die Amerikaner nur zwei Alternativen: die Weiterführung eines blutigen Bodenkrieges, für den sie durch unsere Überlegenheit schließlich keine Soldaten mehr haben werden, oder den Atomkrieg.« Han bemerkte, dass Sheng ihm direkt in die Augen blickte. »Meine Befürchtung ist«, sagte Han, »dass viele bei uns die Kampfbereitschaft der1 amerikanischen Soldaten unterschätzt haben. Das Verteidigungsministerium ist zu der Schlussfolgerung gelangt, die amerikanischen Soldaten verließen sich zu sehr auf Hightech-Waffen und hätten nicht genug Mumm, um einen Infanteriekrieg zu führen.« »Die 11. Heeresgruppe Nord hat sich solcher Fehleinschätzungen nicht schuldig gemacht«, bemerkte Sheng in einem eisigen Tonfall. »Ich will nur darauf hinaus, dass sie jetzt um ihr Heimatland kämpfen, und man kann nicht wissen, womit man unter diesen Umständen bei ihnen rechnen muss.« »Meiner Meinung nach werden sie tapfer bis zum letzten Mann kämpfen«, antwortete Sheng. »Und wenn dieser letzte Mann tot ist, wird der Sieg unser sein.« »Dann lassen Sie uns hoffen, dass Sie die Werften einnehmen, bevor die Amerikaner ihre Arsenalschiffe einsetzen können. Soweit ich es verstanden habe, hätte unsere Kriegsmarine keine Chance, der ungeheueren Feuerkraft dieser Schiffe irgendetwas entgegenzusetzen. Und ich muss Sie wohl nicht eigens daran erinnern, dass unser Nachschub und unsere Ersatzleute ausschließlich auf dem Seeweg hierher gebracht werden. Außerdem gibt es Gerüchte, von denen Sie sicher gehört haben werden – über andere, technologisch fortschrittlichere Waffensysteme, die noch in der Entwicklung sind.« »Die Amerikaner werden diese Schiffe nicht ins Wasser bringen«, versprach Sheng. 146
»Bedenken Sie, dass San Diego auf der anderen Seite dieses großen Kontinents liegt. Und dazwischen ist der Mississippi, der leicht zu verteidigen ist.« Aber Sheng ließ nicht mehr über die Pläne der Militärs verlauten.
Südlich von Tuscaloosa, Alabama 20. September, 22 00 Uhr Ortszeit »Warum kommen Sie nicht mit?«, fragte Air Force-Captain Waters den Army-Captain Hart. »Bis morgen früh können wir uns bis zu unseren Linien durchschlagen. Wir beide, zusammen.« »Unmöglich«, antwortete Hart. »Mein Auftrag lautet, hinter den chinesischen Linien zu bleiben.« »Und wie lange?« »Ist meine Sache.« »Dann begleiten Sie mich! Dank meiner Ausbildung bin ich für die Regierung fünf Millionen Dollar wert. Sie sind mein Geleitschutz!« »Von hier aus wird’s für Sie keine Probleme geben«, murmelte Hart. »Und außerdem«, platzte es schließlich aus ihm heraus, »habe ich bisher noch gar nicht gekämpft.« »Oh.« Diese Erklärung schien Waters plausibel. »Also gut, legen Sie los. Tun Sie, was man von den Green Berets erwartet.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Hoffentlich sehen wir uns mal wieder.« Jim nickte und schüttelte dem Piloten die Hand. Dann nahmen beide ihre Sachen und verschwanden in verschiedene Richtungen. Da die Batterien seiner Nachtsichtbrille ziemlich leer waren, verließ sich Hart auf seine Augen und Ohren. Zuerst musste er ein jenseits der Straße angelegtes Minenfeld umgehen, dessen Lage er sich unter einer Überschrift genau eingeprägt hatte: »Verzögerungszünder, Minen werden beim ersten Kontakt aktiviert.« Die erste chinesische Einheit würde die Minen unversehrt passieren, bei der zweiten würden sie nacheinander in die Luft gehen. Als die erste Mine explodierte, befand sich Jim Hart auf der der Straße abgewandten Seite eines Hügels. In schneller Abfolge gingen fünf Minen 147
hoch. Ein Verwundeter, von entsetzlichen Schmerzen gequält, schrie lang und anhaltend auf. Laute, auf Chinesisch erteilte Befehle der Offiziere und Unteroffiziere brachten die Soldaten dazu, sich nicht mehr zu rühren. Ein Minenfeld!, glaubte Hart übersetzen zu können. Bleibt, wo ihr seid! Er entsicherte das M-16 und setzte die Nachtsichtbrille auf. Plötzlich wurde die Nacht taghell, und er sah seinen Weg klar vor sich liegen. Er stieg die Rückseite des Hügels hinauf, bis er die Straße und das Minenfeld überblicken konnte. Die letzten paar Meter kroch er auf allen vieren. Auf der Straße unter sich erkannte er etliche Chinesen, die auf dem Bauch lagen. Er zählte vierzig Männer, die offensichtlich ausschwärmen wollten. Ein Zug auf Patrouille und offensichtlich die zweite Einheit, die hier vorbeikam. Hart presste das M-16 an die Schulter, umfasste aber nicht den Pistolengriff. Stattdessen legte sich sein Finger um den Abzug der 40mmGranatpistole, die unter dem Lauf des Sturmgewehrs angeklippt und mit einer hochexplosiven Splittergranate geladen war. Er hatte leichtes Spiel – schwer war es dagegen, auf den Abzug zu drücken. Als er fester drückte, spürte er den Rückstoß. Eine halbe Sekunde später riss die Explosion einen Mann in Stücke. Während die Soldaten sich auf Chinesisch etwas zuschrien, war Hart bereits beim Nachladen. Er war zuversichtlich, dass man ihn nicht sehen konnte. Nachdem er einen weiteren Mann ins Visier genommen hatte, drückte er erneut ab. Der Getroffene rollte auf eine Mine, die ihn sofort zerfetzte und etliche Körperteile in die Luft schleuderte. Als der ganze Zug auf Befehl das Feuer eröffnete, erstarrte Hart. Während unter ihm die Waffen wüteten, presste er sich fest auf den Boden. Für zehn oder fünfzehn Sekunden herrschte ein Inferno. Dann, wiederum auf Befehl, verstummten die Schüsse, und Hart hörte, wie neue Magazine in die hungrigen Waffen gerammt wurden. Bis jetzt war keine Kugel auch nur in seiner Nähe eingeschlagen. Harts dritte Granate tötete den Zugführer oder Feldwebel, der vorsichtig zwischen den Minen umhergetrippelt war und laute Befehle gegeben hatte. Nachdem Hart den einzigen Mann getötet hatte, der versucht hatte, die Befehlsgewalt an sich zu reißen, flehten die verzweifelten Soldaten in gebrochenem und Mitleid erregendem Englisch um Hilfe. Nach Granate Nummer sechs rannte ein Dutzend Männer kopflos in das Minenfeld, und Hart hörte umgehend sechs oder sieben Explosionen. Den einzigen Mann, 148
der jetzt noch auf den Beinen war, erledigte er mit einem Feuerstoß aus dem M-16. Doch es gab einen Chinesen auf der Straße, der nicht die Nerven verlor. Ein MG-Schütze eröffnete das Feuer, und diesmal pfiffen die Kugeln deutlich dichter an Hart vorbei. Sein Körper wurde von einem Adrenalinstoß erfasst, und während er sich auf den Boden presste, wäre er am liebsten geflohen. Einige wachsame Soldaten, offenbar Teilnehmer früherer Feldzüge der Chinesen, hatten trotz des mächtigen Mündungsdämpfers die aus seiner Waffe schießenden Blitze gesehen. Hart brachte es nicht fertig, sich dem Kugelhagel auszusetzen, und presste das Gesicht noch tiefer in den Dreck. Ein Projektil traf ihn wie ein Holzhammer und prallte an der Schulterpartie seiner kugelsicheren Weste ab. Ein sengender Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Angesichts des wütenden Kugelhagels ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er bald sterben würde. Doch dann beendete eine Explosion den Hagel, der seinem Leben fast ein Ende gesetzt hätte, und Hart blickte wieder auf. Ein von Panik gepackter, völlig verängstigter Rekrut war an dem MG-Schützen vorbeigerannt und hatte dabei eine Mine losgetreten, die dem Veteran hinter der Waffe zum Verhängnis geworden war und Jim Hart das Leben gerettet hatte. Jetzt bewegte sich unten auf der Straße niemand mehr – zumindest fast niemand. Das erstickte Stöhnen eines offenbar um sich schlagenden Manns erregte Harts Aufmerksamkeit. Ein den tödlich Getroffenen simulierender Soldat presste einem seiner Kameraden, der beide Beine verloren hatte, eine Hand auf den Mund. Aber die Schmerzen des Verstümmelten waren zu groß, und der Mann war nicht zum Verstummen zu bringen. Nach einer kurzen Auseinandersetzung sah Hart, wie der Simulant seinem verwundeten Kameraden die Kehle durchschnitt. Jetzt schlug der Mann nicht mehr um sich, und das Stöhnen verebbte. Es gab also doch noch einen kampferprobten Chinesen, mit dem Hart es aufnehmen musste. Nachdem er den Wählhebel seines M-16 auf halbautomatisches Feuer eingestellt hatte, zielte er auf das Becken des Chinesen. Tote waren kein Problem, aber Verkrüppelte belasteten den Feind, weil man sich dauerhaft um sie kümmern musste. Harts M-16 dröhnte, und ein aufheulendes, an eine lauter werdende Sirene erinnerndes Geräusch verriet ihm, dass er sein Ziel nicht verfehlt hatte. Die Schreie des Getroffenen mischten sich in die übrigen Geräusche. 149
Zog Hart gelegentlich Gewehrfeuer auf sich, reagierte er mit einer Granate. Sprintete ein Mann los, holte er ihn mit einem Feuerstoß von den Beinen – wenn er schnell genug war, um den Minen zuvorzukommen. Die Zahl der Überlebenden verringerte sich. Dass Hart schließlich, die Schreie der Schwerverwundeten im Ohr, über den hinteren Abhang des Hügels den Rückzug antrat, war eher auf seine Furcht vor einem Kampfhubschrauber zurückzuführen als auf Mitleid oder einen Mangel an Zielen. Nach jenem ersten Mann hatte Hart nur noch auf die Becken der hilflos daliegenden Männer gezielt. Der Chor der ansteigenden und abebbenden Schreie entlockte ihm nur einen Kommentar: »Leckt mich am Arsch!«
Birmingham, Alabama 21. September, 110 Uhr Ortszeit Obwohl Stephie sich krümmen musste, um in dem engen Schützenloch halbwegs erträglich liegen zu können, kam sie dem erlösenden Schlaf immer näher. »Willst du deinem Vater eine V-Mail schicken?«, fragte Becky Marsh. »Ich versuche zu schlafen«, knurrte Stephie, die auf der Seite lag und das Gesicht abgewandt harte. Sie trug ihren Helm und hielt die Augen geschlossen. Wieder schien sie kurz vor dem Einschlafen zu stehen. »Hattest du einen Freund?«, störte Becky Marsh erneut. »Mensch, halt endlich die Klappe, Becky! Warum bist du überhaupt hier?« »Ackerman hat gesagt, ich soll in deinem Schützenloch pennen.« »Und warum?« »Um zu verhindern, dass du vergewaltigt wirst«, antwortete Becky. »Du? Du sollst verhindern, dass ich vergewaltigt werde? Haha!« »Warum bist du so gemein?«, fragte Becky mit verletzt klingender Stimme. »Willst du damit auch andeuten, dass du besser aussiehst als ich?« »Wie bitte?«, jammerte Stephie, die sich die Schläfen rieb. »Wovon redest du da?« 150
»Hört endlich auf zu quasseln!«, ermahnte sie jemand leise aus einem nahe gelegenen Schützenloch. Stephies auf Schlafmangel zurückgehende Kopfschmerzen saßen direkt hinter den Augen, und sie rieb sich die Lider. »Du hast ein tolles Leben geführt, bist clever und kannst mit den Männern mithalten«, flüsterte Becky, deren Tonfall zugleich auf Wut und Tränen schließen ließ. »Du bist einfach besser! Und jetzt behauptest du auch noch, dass du besser aussiehst als ich?« »Das sage ich doch gar nicht! Bist du übergeschnappt? Wie kommst du darauf?« »Ackerman hat mich hierher geschickt, damit sie mich zuerst vergewaltigen, aber du bist dir sicher, dass sie sich sowieso für dich entscheiden würden! Lass mich eins klarstellen! Auch mich gaffen sie an!« »Die glotzen jede Frau an, das sind eben Männer! Würdest du jetzt bitte die Klappe halten?« Becky begann verärgert zu winseln, und Stephie richtete sich auf die Unterarme auf. Ihre Kameradin zog einen Schmollmund, und hinter den kleinen Videomonitoren standen ihr Tränen in den Augen. »Du bist ja nicht ganz bei Sinnen«, sagte Stephie, die sich wieder hinfallen ließ. Einen Augenblick lang glaubte sie, Becky würde verstummen, und ihr Zorn verrauchte in dem Maß, wie sie dem Schlaf näher kam. »Also, hast du einen Freund«, fragte Becky, die offenbar hellwach war. Stephie antwortete nicht. Nach einer Weile hörte sie das Rascheln von Stoff und wusste, dass Becky die kleinen Kopfhörer wieder in ihre Ohren stöpselte. Während ihrer Highschool-Jahre hatte Stephie ständig solche Kopfhörer getragen, was manche Leute ziemlich genervt hatte, wie sie sich beschämt erinnerte. Sie war auf einer Party von ihren Freunden verspottet worden, doch die wussten nicht, dass Stephie ihren Walkman ausgeschaltet hatte und mithörte. Wann immer jemand etwas zu ihr sagte, musste sie erst die Kopfhörer aus den Ohren nehmen. Die Erinnerung an den Spott ihrer Freunde ärgerte sie und riss sie wieder aus dem Halbschlaf, doch wie alles andere wurde auch dieser Zorn schnell von der alles überwältigenden Müdigkeit verschluckt. Jetzt ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass ihr Stiefvater ein guter Ingenieur war. Das Audio/Video-System ihres Hauses ließ sich für jeden 151
Raum getrennt steuern, und innerhalb der vier Wände ihres Zimmers bestimmte Stephie das Programm. Mit sechzehn – also vor zwei Jahren – hatte sie gerade Musik gehört, als Conner unerwartet die Tür ihres Zimmers öffnete. Wahrscheinlich hatte sie sein Klopfen nicht gehört. Sie wusste nicht einmal, dass er sie besuchen wollte. Als sich ihre Blicke trafen, nickte er ihr zu, wobei ihm die Rastalocken auf äußerst coole Weise ins Gesicht fielen. Conner war siebzehn und braun gebrannt. Er entsprach genau dem Idealbild des Jungen, zu dem sie sich von je her am stärksten hingezogen fühlte. In diesem Moment stimmte alles hundertprozentig. Sie waren in ihrem Haus, in ihrem Zimmer – und in exakt diesem Augenblick lief in der Abfolge der im Voraus programmierten Stücke auch noch ihr Lieblingslied. Geschickt ließ Stephie die silberne, winzige Fernbedienung im CartierLook, die an ihrem Armband baumelte, in ihre Handfläche gleiten, um den Ton leiser zu stellen. Dann kniete sie sich auf dem Bett hin, um Conner auf die Lippen zu küssen. Beide lächelten, ihre Zähne klickten aneinander, und Stephie zog lachend ihr Gesicht zurück. »Na, wie war der Urlaub?«, fragte sie. »Das war ein Basketball-Traininglager«, jammerte Conner. »Warum verarschst du mich immer? Mein Gott, du hast doch auch an jedem Fußball-Trainingslager teilgenommen, das angeboten wurde!« »Ja, aber Fußball ist cool.« »Ach, tatsächlich?«, parierte Conner, der erst genervt die Stirn runzelte, dann die Hände in den Taschen vergrub und schließlich ein Lächeln zu verbergen suchte. »Willst du mal sehen, was cool ist?«, fragte er, während er eine grell rosafarbene Fernbedienung aus der Tasche zauberte. Aber Stephie war mit ihrer schneller. »Mein Gott, Stephie. Lass es mich dir doch vorspielen! Immer musst du alles unter Kontrolle haben!« »Stimmt ja gar nicht!«, antwortete sie beleidigt, doch mit fester Stimme. »Aber du wirst meinen Video-Zwischenspeicher löschen!« »Ich hab’ doch gesagt, dass ich das schaffe, ohne dass mir das passiert.« »Und ich schaff’ es auch, Sportskanone«, antwortete Stephie in einem spöttischen Ton, der ihn wieder auf den Boden holte. Jetzt sprach sie nicht mit Conner, sondern in Richtung ihrer mit Spracherkennung ausgestatteten Multimedia-Anlage. »Video-Zwischenspeicher auf persönliche Festplatte überspielen.« 152
»Persönliche Festplatte hat keine Speicherkapazität mehr«, antwortete das lernfähige Kontrollsystem mit einer Stimme, die Stephie persönlich »ausgebildet« hatte. Conner lachte in sich hinein. »Klingt ganz nach dir«, bemerkte er, während er sich auf das Bett warf und Stephie in die Höhe stemmte. Sie warf ihm einen unwirschen Blick zu. »Speicher die Daten des Video-Zwischenspeichers auf Dads Festplatte, aber ohne ihm was davon zu sagen.« »In Ordnung«, antwortete die angenehme synthetische Stimme. Mit dem naiven Augenaufschlag der unbedarften Südstaaten-Schönheit lächelte Stephie Connor an. »Huch! Diese neuen Videoserver sind ja so kompliziert. Kaum zu kapieren für ein Mädchen!« Conners Reaktion war zwar unerwartet, aber passend. Er versuchte, sie zu küssen. Stephie stieß ihn zurück. »Davon kannst du träumen«, sagte sie in einem überlegenen Tonfall. Grinsend tippte Conner auf die Membrane seiner Fernbedienung, wodurch auf dem rosafarbenen Gerät eine Reihe farbiger Buttons und weißer Buchstaben aufleuchtete. »Videoquelle von Conner Reilly 5468?«, fragte die perfekte synthetische Mädchenstimme. »Nicht einfach ›Conner‹?«, fragte er. »Dein System nennt mich ›Conner Reilly 5468‹?« »So gut kennt sie dich ja noch nicht«, antwortete Stephie. »Bitte Conner Reillys Videoquelle akzeptieren und abspielen, System«, befahl Stephie. »Und führ ›Conner Reilly 5468‹ künftig als ›Conner‹.« »Erledigt«, antwortete der Computer. Conner lächelte, und Stephie küsste ihn. Das Video erschien auf ihrem gebrochen weißen, an der Wand angebrachten Plasma-Monitor, der farblich mit der Tapete harmonierte. Obwohl Stephie es nicht wollte, rückte Conner ein Stück zur Seite. Auf dem Bildschirm tauchte eine Horde verschwitzter Jungs auf, die auf einem Basketballplatz im Halbkreis vor ein paar leeren Tischen saßen. »Die letzte Trophäe wird Coach Fortner überreicht werden«, verkündete ein Mann in langen, weit geschnittenen Turnhosen. »Der Meister!«, brüllten alle Jungs wie aus einem Mund, als sie Fortners Namen hörten. 153
Stephie rollte die Augen und legte ihren Kopf auf Conners Schulter, wobei sie zu ihm aufblickte. »Sieh mal«, sagte Conner, dessen Augen starr auf den Monitor gerichtet waren. Stephie seufzte. Conners Taktlosigkeit verärgerte sie. Jetzt streckte der Typ in der Turnhose einem Mann die Hand entgegen, der ebenfalls Sportshorts trug. »Coach Fortner!« »Der Meister!«, brüllten erneut alle Spieler wie auf ein Stichwort. »Meine Güte, das ist ja krank«, bemerkte Stephie. »Danke, Coach Wilson«, sagte »der Meister«. »Der Meisterschüler!«, krakeelten die halbwüchsigen BasketballSpieler. Stephie lachte. »Was für geistige Abgründe tun sich hier auf.« »Und jetzt«, verkündete der »Meister«, an dessen Hals noch die Pfeife baumelte und der eine Tafel in der Hand hielt, »kommt die Verleihung des Preises, auf die wir alle gewartet haben. Die höchste Auszeichnung dieses Trainingslagers, der Charlie Hüstle Award.« »Der ›Charlie Hustle Award‹?«, amüsierte sich Stephie, täuschte einen Hustenanfall vor und tat dann so, als müsste sie sich vor Ekel erbrechen. Der »Meister« blickte auf seine Tafel. »Applaudiert dem Teilnehmer des Warrior-Basketball-Trainingslagers, der sich die ganze Woche lang jeden Tag den Arsch aufgerissen hat und von einem Ende des Spielfelds zum anderen gehetzt ist. Bitte vortreten, Conner Reilly!« Während Conner aufstand und über die Beine der anderen Spieler hinwegstieg, brüllte der »Meisterschüler«: »Eins, zwei, drei, Applaus!« Aus den Augenwinkeln blickte Stephie zu Conner hinüber, doch der war viel zu sehr damit beschäftigt, sich auf dem Bildschirm zu bewundern. Stephie verkniff sich eine Sarkastische Bemerkung. Vor lauter Bescheidenheit wagte Conner es nicht, den »Meister« anzublicken, der ihm mit einem festen Händedruck gratulieren wollte. Conner griff nach dem kleinen Pokal, doch als er dann mit Verspätung die zum Glückwunsch ausgestreckte Hand erblickte, zog Fortner sie bereits zurück. Mit einem Druck auf die Fernbedienung schaltete Conner das Video aus. Stephie konnte sich nicht helfen und brach in Gelächter aus. »Charlie Hustle?«, kreischte sie, während sie sich auf den Rücken fallen ließ. Über ihr tauchte Conner auf, der sie mit offenem Mund küsste, und Stephie 154
übernahm wieder die Initiative, indem sie ihre Zunge noch leidenschaftlicher spielen ließ. Bald hörte sie ihn schwer durch die Nase atmen, und sein Verlangen wurde immer eindringlicher und fordernder. Stephie stieß ihn weg und stand auf. »Zeit, nach Hause zu gehen, Conner.« Aber sie spürte die durch seine Berührungen hervorgerufene Erregung. An Schlaf war jetzt in dem Schützenloch erst einmal nicht mehr zu denken. Die merkwürdig lebendigen Erinnerungen hatten Stephie wachgerüttelt. Später wurde Stephie von John Burns geweckt. Als sie aus dem überdachten Schützenloch auftauchte, erwarteten sie Männer in dunklen Anzügen und mit eleganten Schuhen. Obwohl sie bewaffnet war und Uniform trug, umringten die Männer sie wie Leibwächter. Da sie noch benommen war und die Sicherheitsbeamten ihr Handwerk verstanden, befand sie sich schon auf der anderen Seite des Hügels an Bord eines Helikopters, bevor sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Als sie endlich geistig wieder voll auf der Höhe war, erübrigte es sich, über den Lärm der Motoren hinweg Fragen zu stellen, was los sei. Die Antwort lag auf der Hand. Die Männer trugen Kopfhörer und Anstecker mit der amerikanischen Flagge am Revers. Sie wurde zu einem Treffen mit ihrem Vater geflogen. Stephie legte den Kopf gegen das kleine Fenster. Die Piloten orientierten sich mit Hilfe von Nachtsichtgeräten. Dass sie lediglich dreißig Meter über der Erde flogen, erkannte Stephie nur an dem schimmernden, im Mondlicht vorbeigleitenden See. Wann immer Stephie versucht hatte, ihre Mutter nach deren kurzer Ehe mit Bill Baker zu fragen, war Rachel Roberts sofort zornig geworden. Als Baker dann kometengleich zu einer nationalen Berühmtheit wurde, verhielt sie sich noch rachsüchtiger. Nackter Hass trat zu Tage. Einige ihrer gehässigen Ausfälle gegen ihren Exmann führten sogar zu erbitterten Auseinandersetzungen mit Hank Roberts, ihrem zweiten Mann und Stephies Stiefvater, und zwar besonders, nachdem dieser seinen Job verloren hatte. Einmal schnappte Stephie durch die geschlossene Schlafzimmertür ein paar laute Worte ihres Stiefvaters auf: »Du bist doch nur sauer, weil du nicht die gottverdammte First Lady bist.« »Und du bist sauer, weil mein erster Mann immer noch einen Job hat!«, schrie Rachel Roberts. Stephie erzählte ihrer Mutter nicht, dass sie diese 155
schreckliche Bemerkung gehört hatte, aber sie vergab sie ihr nie. Aus Gehässigkeit hielt Rachel Bill und Stephie voneinander fern. Als Baker zum ersten Mal für den Senat kandidierte, war Stephie vier Jahre alt. Schließlich fand ein Reporter der Washington Post heraus, dass Bill ein Kind aus erster Ehe hatte. Zwei Monate vor der Scheidung gezeugt, war Stephie nur wenige Wochen nach Rachels Heirat mit Hank Roberts zur Welt gekommen. Aus irgendeinem Grund war die Ehe ihrer Eltern in die Brüche gegangen, und in den Jahren vor der Highschool, in denen man noch anmaßende Fragen stellt, wollte Stephie wissen, ob Hank für die Trennung verantwortlich gewesen sei. Ihre Mutter lachte nur verächtlich. »Hank?«, fragte sie sarkastisch. Hank Roberts sei schon seit ihrer Schulzeit scharf auf sie gewesen, informierte sie Stephie, um auf diese Weise klarzustellen, dass ihre Tochter begriff, wie die Dinge lagen. Rachel Roberts, die in jungen Jahren mit ihrer Schwester bei Schönheitswettbewerben reüssiert hatte, hatte dem armen Kerl keine Chance gegeben – bis sie ihn schließlich heiratete, als sie im achten Monat schwanger war. Fragte Stephie später nach, lehnte ihre Mutter es konsequent ab, über das Thema zu sprechen. Schließlich begriff Stephie, dass die sieben Monate zwischen Rachels Scheidung und ihrer zweiten Eheschließung kurz vor ihrer Geburt ein Geheimnis bergen mussten. Irgendein wichtiges Teil des Puzzles fehlte. Nur einige Tage nach der Veröffentlichung des Zeitungsartikels, als die Fotografen die vierjährige Stephie bereits zu verfolgen begannen, tauchte Bill Baker bei seiner Exfrau auf, um das verwirrte und aufgeregte kleine Mädchen zu besuchen. Jetzt war Stephie nur zu glücklich, mit einem breiten Lächeln für die Fotografen posieren zu können. Offensichtlich hatte Stephies Mutter Bill nicht erzählt, dass sie schwanger oder dass das Kind von ihm war. »Mach dir bloß keine Hoffnungen«, warnte sie Stephie, deren »neuer« Vater einen hitzigen, einstündigen Streit überstehen musste, um seine Tochter überhaupt sehen zu dürfen, der untersagt worden war, ihr Zimmer zu verlassen. Dort versuchte sie, durch die Ritze zwischen Tür und Teppich zu spähen. Zwar sah sie nichts, aber sie musste sich die lauten Flüche ihrer Mutter anhören. Schließlich trat ihr leiblicher Vater in ihr Kinderzimmer, wobei er ihr beinahe die Tür gegen den Kopf geknallt hätte. Seine Augen funkelten, und sein Lächeln zeigte strahlend weiße Zähne, doch es verschwand so156
fort, als er das Kind weinen sah. »Alles in Ordnung, mir geht’s gut«, wiederholte Stephie immer wieder. »Du kannst wieder lächeln.« Ihre Tränen waren getrocknet, während seine zu fließen begannen, als er neben ihr auf dem Bett saß. Sie erinnerte sich an seine leise, sanfte Stimme, doch am stärksten blieb ihr das Bild in Erinnerung, wie eine Träne aus seinem Augenwinkel über die Wange hinablief. Seine ersten Worte, die sie immer noch hörte, zerrissen ihr bis heute das Herz: »Ich hätte nicht kommen sollen.« Sofort umarmte ihn Stephie, und als er liebevoll darauf einging, wusste sie endgültig, dass er wirklich ihr Vater war. Danach kam er nicht mehr. Ihre Mutter schwor, dass sie ihn ruinieren werde, wenn er versuche, sein Recht auf Besuche bei seiner Tochter durchzusetzen. Später fand Stephie heraus, dass ihr Vater deshalb nur Postkarten und Briefe geschickt hatte. Als Teenager verlangte Stephie dann, ihre Mutter dürfe die Briefe ihres Vaters an sie nicht mehr öffnen. Zwar schrieb ihr Vater nie wirklich gewichtige Briefe, aber jede Geburtstagskarte und jede handschriftliche Mitteilung auf dem Briefpapier des Senats wanderte in Stephies Schatztruhe. Dort versteckte sie auch die DVDs, die sie heimlich über das Internet bestellte und an Sally Hamptons Adresse liefern ließ. Gemeinsam sahen sie sich seine alten Filme an. Ihr Vater war einfach großartig – und er hatte immer den Helden gespielt. Stephie und, ihre Freundin gerieten ernsthaft aneinander, als trotz gegenteiliger Behauptungen offensichtlich wurde, dass Sally sich vor dem Bildschirm in Stephies Vater verknallt hatte. »Das ist doch nur eine Filmrolle«, sagte Stephie, die sich alle Mühe gab, überzeugend zu wirken. »Im wirklichen Leben ist er ganz anders.« Sally verkniff sich die Frage, wie Stephie wissen konnte, wie er im wirklichen Leben war; ihre Freundschaft überstand diese Krise. Danach sah Stephie ihren Vater nur noch anlässlich des FußballEndspiels und ihres sechzehnten Geburtstags, wo er sie mit Überraschungsbesuchen beehrte. Auf der Geburtstagsparty brach vor den Augen von Stephies Gästen ein erbitterter Streit aus, und später behauptete Stephies Mutter, ihr Vater habe die Party ruiniert. Tatsächlich gab Stephie ihrer Mutter die Schuld an dem demütigenden Spektakel. Und sie war hingerissen von ihrem Vater, der sich während des Präsidentschaftswahlkampfs, aus dem er schließlich als Sieger hervorgehen sollte, die Zeit 157
nahm, seine Tochter an ihrem Geburtstag zu besuchen. Sie bedeutete ihm also etwas. Er hatte ihr versichert, sie sehe wundervoll aus. Und das, obwohl Stephie bei der Mädchen-Party ihr Haar hochgesteckt hatte und verwaschene Jeans und Conners graues T-Shirt aus dem BasketballTrainingslager trug. Jetzt setzte der Helikopter zwischen den Scheinwerferstrahlen eines halben Dutzends Wohnmobile auf, die auf dem weitläufigen Rasen vor einem großen Privathaus standen. Sofort nach der Landung erloschen die Lichter. In der Nähe standen drei zusätzliche Hubschrauber, außerdem dutzende von Autos, Lastwagen, gepanzerten Fahrzeugen und Panzern. An einem beleuchteten Swimmingpool vorbei wurde Stephie zum Haus geleitet. Neben drei Raketenbatterien überwachten Männer systematisch den dunklen Nachthimmel. Bill Baker erwartete seine Tochter am Eingang. Während Stephie ihr Gewehr an die Wand lehnte, dachte sie kurz darüber nach, ob sie salutieren sollte, doch dann wischte sie die Hand an der Hose ab und streckte sie ihrem Vater entgegen. Bill Baker schlang beide Arme um sie, was wegen der kugelsicheren Weste, den Handgranaten und den Patronentaschen ein seltsames Gefühl war. Außerdem war Stephie die Umarmung ein bisschen unangenehm, weil sie mehrere Tage nicht geduscht hatte. Als ihr Vater sie von den unter dem Helm hervorquellenden Haaren bis zu den dreckverschmierten Stiefeln in Augenschein nahm, wäre sie fast zusammengezuckt. Weil Bill Baker offenbar ihr Verlangen, eine gewisse Distanz zu wahren, falsch interpretierte, wirkte er etwas traurig. »Ich hab’ dich lieb«, sagte er, um diesen Eindruck zurechtzurücken, doch seine Stimmung schien sich nicht spürbar zu verbessern. Sie gingen in ein gemütliches Arbeitszimmer, und er fragte sie, wie die Soldaten sie behandelten. »Danke, gut«, antwortete Stephie. »Ein Typ kümmert sich ganz besonders um mich.« Sie kicherte – ihre Mutter nannte das immer geringschätzig ihr »Backfisch-Gekicher«. Ein breites Lächeln schlich sich auf Bills Gesicht, doch seine Augen wirkten weiter unglücklich. Im Gegensatz zu der Selbstsicherheit, die er als Person des öffentlichen Lebens immer vermittelte, wirkte er jetzt melancholisch und verstört. Seine Stimmung befand sich nicht im Einklang 158
mit der seiner Tochter. Ihr Gesicht war mit Fettschminke verschmiert, ihr Kampfanzug mit Dreck besudelt. Sie glich einem Bilderbuchsoldaten, und plötzlich war sie stolz darauf, dass ihr Vater sie auf diese Weise zu sich geholt hatte. »Stephie…«, begann Bill, doch er schien nicht die richtigen Worte zu finden. Auf der Stuhlkante sitzend, wartete Stephie darauf, dass er weitersprach. »Würdest du dich nicht gern in die Etappe versetzen lassen?«, fragte er, ohne ihr in die Augen zu blicken. Statt seinem Stolz auf sie Ausdruck zu verleihen, unterbreitete er ihr ein Angebot, wie man es einem Feigling machte. »Du kennst mich überhaupt nicht!«, platzte es zornig aus ihr heraus. Diese Worte schienen ihn mehr zu treffen, als Stephie beabsichtigt hatte. Er zwang sich, sie mit einem schuldbewussten Blick anzusehen, und musste mehrfach schwer schlukken. Sein Blick verschleierte sich. »Vermutlich verstehe ich dich jetzt«, flüsterte er niedergeschlagen. Von der Tür her hörten sie ein lautes Klopfen, und beide blickten auf. Ein militärischer Berater trat ein und wartete darauf, dass ihm das Wort erteilt wurde. Schließlich nickte Bill. Der Berater, ein Marineoffizier in Khakiuniform, brachte ihm neue Informationen über ein paar kleinere militärische Auseinandersetzungen im Pazifik, über die man den Präsidenten zuvor schon unterrichtet hatte. Während der seitdem verstrichenen Stunden hatten die Ereignisse offensichtlich eine katastrophale Wendung genommen. Zehn chinesische Super-Flugzeugträger hatten einen Schiffskonvoi der U.S. Navy angegriffen, der von San Francisco aus zu belagerten Truppen auf Hawaii unterwegs war. Ein amerikanischer Flugzeugträger war versenkt worden, ein anderer, der bereits getroffen worden war und in nördlicher Richtung auf die Aleuten zusteuerte, wurde verfolgt. Der Blick des Marineoffiziers schweifte zwischen Stephie und ihrem Vater hin und her. Fast schien es, als wäre er vor ihren Augen plötzlich krank geworden. »Es tut mir Leid, Sir«, sagte er, als wäre alles seine Schuld, »aber… die Chinesen sind gerade in Südkalifornien an Land gegangen.« Sofort blickte Stephie ihren Vater an, dessen Kopf sichtbar zitterte, als wäre die Erde unter ihm ins Wanken geraten. Vor Angst bekam Stephie eine Gänsehaut. »Gegenwärtig wird die Invasion sowohl nördlich als auch südlich von San Diego mit aller Macht vorangetrieben«, berichtete der 159
niedergeschlagene Berater, dessen Stimme sich fast überschlug. »Der Kommandeur der 5th Marine Expeditionary Brigade berichtet, dass mindestens drei Divisionen, die mit ihren Amphibienfahrzeugen wahrscheinlich direkt aus Japan kommen, an Land gehen und es auf die Marinewerft von San Diego abgesehen haben. Mehrere tausend Landungsboote sind auf dem Meer erkennbar. Unsere Leute kämpfen, aber der Kommandeur berichtet, sie können nicht mehr lange durchhalten.« Der Berater redete ohne Punkt und Komma weiter, doch Stephies Vater schien gar nicht mehr hinzuhören. Ein Schiffskonvoi mit Nachschub für Hawaii war von zehn chinesischen Super-Flugzeugträgern überfallen worden. Ein amerikanischer Flugzeugträger war bereits gesunken, ein anderer wurde auf seiner Flucht zu den Aleuten verfolgt. Bill Baker wirkte wie betäubt. »Gibt es irgendeine…?«, begann er. »Kann nicht die…?« Der Berater wartete auf eine konkrete Frage. Stephie blickte ihren Vater an, als würde sie mit ihm über einen persönlichen Verlust trauern. Aber es ging um mehr als das. Jetzt stand China, so viel war ihr klar, kurz davor, eines der drei im Bau befindlichen Arsenalschiffe unter seine Kontrolle zu bringen. Die heisere, krächzende Stimme ihres Vaters ließ Stephie aufmerksam hinhören. »Berichtet die Navy von irgendwelchen Ereignissen in der Nähe von Delaware Bay?« Diesen Namen hatte Stephie noch nie gehört. Der Marineoffizier schüttelte erst den Kopf, doch dann begriff er die Tragweite der Frage des Oberbefehlshabers, die von einer entsetzlichen Angst kündete. Wieder schüttelte er den Kopf, diesmal noch eindringlicher. Stephie beobachtete ihren Vater, der leichenblass geworden war. Während er seine Worte zu formulieren suchte, zitterten seine Lippen. »Lassen Sie… das Schiff zerstören«, brachte er mühsam hervor. Das Zögern des militärischen Beraters zwang den Präsidenten, seinen Befehl unmissverständlich zu wiederholen. Er atmete tief durch und sagte langsam: »Ich befehle dem Kommandeur der 5th Marine Expeditionary Brigade, das Arsenalschiff, die Werft, die Konstruktionspläne sowie die Lagerhäuser und die gesamten Docks zu zerstören. Sie müssen bis zum letzten Mann kämpfen.« Der Berater zögerte, schluckte und räusperte sich dann. »Soll ich den Verteidigungsminister anrufen, Sir?« Stephies Vater schüttelte den Kopf. »Nein, ich will, dass Sie meinen Befehl weitergeben.« 160
Zögernd nickte der Mann. »Was ist mit der Operation Anvilhead, Sir? An der Westküste schreien sie nach Soldaten. Los Angeles ist in Gefahr.« Der wie betäubt wirkende Oberbefehlshaber nickte, doch Stephie konnte nicht mit Sicherheit sagen, worauf sich das Nicken bezog. Hatte ihr Vater begriffen, dass Verstärkung geschickt werden musste, oder bestätigte das Nicken nur, dass das Schlimmste bereits eingetreten war? »Operation Anvilhead ist gestrichen«, sagte er, als würden ihm die eigenen Worte Schmerzen bereiten. »Schicken Sie die Soldaten in Richtung Westen.« »Ich bin sicher, Sir«, sagte der Marineoffizier, »dass ich den Verteidigungsminister an den Apparat bekomme…« »Sie werden den Befehl erteilen. Vom Verteidigungsminister höre ich noch früh genug.« Leise verließ der Berater den Raum. Stephie stand auf. »Ich sollte jetzt besser zu meiner Einheit zurückkehren.« Sie rechnete mit einem weiteren Versuch ihres Vaters, sie davon zu überzeugen, sich zur Nachhut versetzen zu lassen, doch dieser stützte nur seinen Kopf in die Hände und starrte zu Boden. Da sie von einer »Operation Anvilhead« noch nie gehört hatte, begriff sie nicht, was deren Ende für sie und die anderen zahlenmäßig schwachen Verteidiger des Süden bedeutete. Aber ihr war klar, dass diese zweite Invasion und der Verlust eines von insgesamt drei Arsenalschiffen für Amerika eine schreckliche Neuigkeit war. Was sie in diesem Augenblick jedoch völlig konsternierte und entsetzte, war die offensichtliche Angst ihres Vaters. Er wirkte wie versteinert, bewegte sich nicht, redete nicht, blickte nicht zu ihr auf. Er war völlig paralysiert. »Hey, das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte Stephie leise, während sie einen Schritt auf ihn zutrat. »Wir sind auf alles vorbereitet.« Langsam hob ihr Vater den Kopf. Er blickte sie aus blutunterlaufenen, müden Augen an. »Du kannst uns vertrauen und dich auf uns verlassen, Dad. Jetzt sind wir an der Reihe. Wir werden sie stoppen und gewinnen.« Tränen des Zorns vernebelten ihren Blick und rannen dann über ihre Wangen herab. Ihr Vater nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Nein, er kannte sie tatsächlich nicht.
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ZWEITER TEIL Sieg um jeden Preis, Sieg trotz aller Gefahren, Sieg ungeachtet dessen, wie lang und beschwerlich die Straße sein mag – denn ohne den Sieg wird es kein Überleben geben. Winston S. Churchill 1940 in seiner ersten Rede als Premierminister vor dem House of Commons
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1. KAPITEL
Mobile, Alabama 21. September, 4 00 Uhr Ortszeit Leutnant Wu wurde von der Neuigkeit aus dem Schlaf gerissen, dass er in einer Stunde an der Telekonferenz des Premierministers teilnehmen werde. Han Zhemin unterrichtete ihn, dass er es bei dieser Gelegenheit mit den drei mächtigsten Männern der Welt zu tun haben werde – den zivilen politischen Führern Chinas. Sein Vater instruierte Wu, statt der Uniform einen Anzug zu tragen. »Wer ist denn die Frau, die ans Telefon gegangen ist?«, fragte Han in einem verschwörerischen, vertraulichen Ton. Doch Wu war sicher, dass er die Antwort bereits kannte. »Was ist los?«, fragte Shen Shen, General Shengs Sekretärin. Als Wu antwortete, es sei nichts Besonderes, ließ sie das Laken über ihren Brüsten herunterrutschen und bedeutete Wu, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Als Wu schließlich im Bürokomplex seines Vaters eintraf, fühlten sich seine Haare, obgleich sehr kurz geschnitten, immer noch feucht an. Draußen standen große, tragbare Klimaanlagen, die durch orangefarbene Röhren permanent kühle Luft in die Gebäude pumpten. Wu nahm in einer mit zwei Sesseln ausgestatteten Kabine für Videokonferenzen Platz, direkt gegenüber seinem Vater, der mit wütenden Blicken auf den Kampfanzug seines Sohnes starrte. Schließlich musterte er grinsend Wu’s militärisch kurz geschorene Haare, die die bereits gebräunte Kopfhaut durchschimmern ließen. Drei Bilder erschienen auf den halbkreisförmig angeordneten Monitoren, die vor jedem der beiden gepolsterten Ledersessel in den Konferenzraum aufgebaut waren. In die Konsolen integrierte Scheinwerfer für die Kameras warfen ihr Licht auf Han und Wu, die sich direkt in die Augen blicken konnten. Der Premierminister auf dem mittleren Bildschirm – Han’s Onkel und Wu’s Großonkel – war der Mächtigste der drei alten Männer. Han’s Vater – Wu’s Großvater –, als Stellvertreter des Premier163
minister zweiter Mann im Staat und zudem Handelsminister, war auf dem rechten Monitor zu sehen, während der dritte Mann, dessen Konterfei der linke Bildschirm zeigte, nicht mit Han und Wu verwandt war. Er war der Chef des chinesischen Staatssicherheitsdienstes und verantwortlich dafür, dass die mächtige Familie Han – seine langjährigen Verbündeten – politisch überlebte. Der Premierminister berief das Treffen des Exekutivkomitees des chinesischen Ministerrats ein. »Wu«, begann er feierlich, »wusstest du von den Invasionsplänen der chinesischen Armee in Kalifornien – ja oder nein?« Wu blickte zu seinem Vater hinüber, der aber weder nickte noch den Kopf schüttelte. Nicht die geringste Andeutung einer Bewegung verriet Wu, welche Antwort er geben sollte. Stattdessen hob Han herausfordernd den Kopf, als sähe er ungeduldig Wu’s Replik entgegen. Noch immer seinen Vater anstarrend, rüstete sich Wu für die Kraftanstrengung, die schwere Prüfung allein bestehen zu müssen. Hier würde ihm niemand helfen. Er blickte direkt in die Kamera. »Aufgrund meines Dienstes im Generalstab der 11. Heeresgruppe Nord habe ich zu gewissen militärischen Geheimnissen Zugang. Obwohl ich der Meinung bin, dass die zivile Führung des Landes über alle für die nationale Sicherheit relevanten Informationen verfügen sollte, glaube ich doch nicht, dass ausgerechnet ich diese Informationen geben sollte.« Wu blickte den drei Männern nacheinander in die Augen. In Peking starrte derweil Wu’s Großonkel dessen Großvater an. Die beiden saßen in einem Raum, während der noch ältere Chef des Staatssicherheitsdienstes von einem weiter entfernten Ort aus an der Videokonferenz teilnahm. Aus Sicherheitsgründen hielten sich die drei Männer nie gleichzeitig an einem Ort auf. Wu atmete tief durch. In aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf gerissen, war er auf diese Videokonferenz so wenig vorbereitet gewesen, dass er improvisieren musste. »Aber vielleicht«, sagte er, »hätte sich die Regierung wegen des Zugangs zu diesen Informationen besser an Verteidigungsminister Liu Changxing gewandt?« Han Zhemin zuckte in seinem gepolsterten Bürosessel zurück, was der Kamera natürlich nicht entging. Alle wurden Zeuge, wie überrascht er von Wu’s Verwegenheit war. Wu seinerseits entging nicht, dass er eine große Show daraus machte. Das Exekutivkomitee des chinesischen Ministerrats – in dem der Verteidi164
gungsminister natürlich einen Sitz hatte – war speziell aus dem Grund gegründet worden, das Militär an einer Machtausübung über die Zivilregierung zu hindern, und General Liu war der Todfeind dieser Männer. »Was weißt du?«, hakte der Premierminister gezielt nach. Wu blickte seinen Vater an, der von der Frage offensichtlich überrascht und verwirrt war. »Ich weiß, was passieren wird«, antwortete er. Jetzt rutschte Han aufgeregt zur Kante seines Stahls vor. Alle schwiegen konsterniert. »Ich habe jeden Krieg der letzten zehn Jahre studiert, jede einzelne Schlacht, jeden Feldzug. Wir haben uns daran gewöhnt, dass auf fünf tote Feinde immer nur ein toter Chinese kam, aber die Statistik war aufgrund der enormen Verluste unserer Gegner in Südostasien und Indien verzerrt. Was ist, wenn sich das Verhältnis bei unserem amerikanischen Feldzug umkehrt oder alles noch schlimmer kommt? Wenn auf einen toten Amerikaner zehn tote Chinesen kommen – oder zwanzig? Ein geheimes Papier des Verteidigungsministeriums prophezeit, dass es sogar fünfzig werden könnten.« Die Aufmerksamkeit der vier Männer galt vollkommen dem jungen Wu, bis der Chef des Staatssicherheitsdienstes plötzlich zur Seite schaute und seine Mitarbeiter anlächelte, deren ständige Anwesenheit für den alten Geheimdienstmann eine wichtige Voraussetzung war. Jetzt überraschte Han seinen Sohn. »Meiner Ansicht nach will Leutnant Wu damit sagen, dass die Zahl chinesischer Todesopfer in Amerika vielleicht nicht mehr tolerierbar wäre.« Der Opportunismus seines Vaters ließ Wu mit den Zähnen knirschen. Han war nicht entgangen, dass Wu’s Worte Zugkraft hatten, und er machte sie sich zu Eigen. »Vielleicht sollten wir an Liu herantreten, wenn die Unterstützung des Volks für das Militär aufgrund eines teueren, aufreibenden und blutigen Feldzugs auf einen Tiefpunkt gesunken ist. In dieser prekären politischen Situation könnten wir das politische Gleichgewicht des Landes vielleicht wieder auf die Mitte ausrichten.« Han lehnte sich befriedigt zurück. »Meine Meinung ist«, warf Wu ein, »dass Verteidigungsminister Liu vielleicht schon jetzt wegen der aus seinem Haus stammenden Prognose hinsichtlich der Opfer besorgt ist. Folglich sollten wir nicht erst an ihn herantreten, wenn wir bereits zehn Millionen Tote zu beklagen haben, sondern selbstverständlich vorher!« 165
Die anderen ignorierten Wu’s Einwand, und am Ende der Telekonferenz hatten sie Han’s Plan akzeptiert, der eine eingehende Beobachtung der militärischen Ereignisse und die Einschätzung der sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen vorsah. Angewidert nahm Wu zur Kenntnis, wie beunruhigt die vier Männer wegen der zwei erfolgreichen Invasionen ihres Landes waren. Zurück in seiner Hotelsuite, zog Wu sich aus und kroch ins Bett, wo eine nackte Shen Shen sich an ihn schmiegte. »Quält es dich, in Amerika zu sein, weil du selbst ein halber Amerikaner bist?«, fragte sie sanft. Er stieß sie zurück und stand so ruckartig auf, dass er das Satinlaken mitzog und Shen Shen fast auf den Fußboden befördert hätte. »Ich bin kein halber Amerikaner!« »So habe ich das doch nicht gemeint!«, rief sie, wegen ihres verbalen Fehltritts von Panik und Entsetzen gepackt. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und legte sie dann auf ihren Mund, um ihr Schluchzen zu erstikken. »Ich bin Chinese!«, sagte Wu. »Ich bin… Chinese!«
Interstate 5, San Diego, Kalifornien 23. September, 10 30 Uhr Ortszeit »… etliche gepanzerte Fahrzeuge!«, brüllte der für die Anforderung von Luftangriffen vorgeschobene Beobachter der Air Force in sein Funkgerät. Während er seine von der Schulter startbare Rakete auf den führenden schweren Panzer richtete, lauschte Sergeant Conner Reilly dem Funkverkehr. »Sie kommen in nördlicher Richtung über die Interstate 5, hinter Mission Bay!«, krächzte der Lieutenant der Air Force, dessen Kehle offenbar völlig ausgetrocknet war. »Schwere Kampfpanzer! Gepanzerte Kampffahrzeuge! Gepanzerte Lenkwaffenträger! Gepanzerte Raketenwerfer! Amphibienfahrzeuge! Automatische Artilleriegeschütze! Brückenbauausrüstung!« Der Mann musste eine Pause einlegen, um schlucken und durchatmen zu können. Conners Herz klopfte wild, und seine Kehle fühlte 166
sich an, als würde sie jemand mit Daumen und Zeigefinger traktieren. »Schätzungsweise mindestens Regimentsstärke! Wiederhole, mindestens Regimentsstärke!« Conner befehligte das kleine Sicherheitsteam des Air Force-Lieutenants, eine aus Kundschaftern einer Panzertruppe bestehende Squad. Neun Männer, eine Frau. Von ihren gepanzerten Fahrzeugen war nichts zu sehen, da sie an Bord eigens beschlagnahmter Zivilflugzeuge aus Tennessee eingeflogen worden waren, wo sie auf den Beginn eines lange geplanten und gut vorbereiten Gegenangriffs auf die von den Chinesen besetzten Häfen an der Golfküste gewartet hatten. Ihre gepanzerten Kampffahrzeuge wurden mit der Eisenbahn transportiert, was sehr viel langwieriger war. Gestern – zwei Tage nach den ersten Landungen der Chinesen in Kalifornien – war die Squad auf der Miramar Naval Air Station mit einer Maschine gelandet, die Pioniere beförderte und in der man ihnen die freien Plätze zugewiesen hatte. Als Conner das Flugzeug verließ, hörte er aus der Ferne Kampfgeräusche, ein permanentes Grollen aus der Richtung des Strands und der Stadt im Südwesten. Auf dem Flugplatz saßen abertausende Soldaten, die auf Befehle oder Weitertransport warteten. Sie waren zur Untätigkeit verdammt. Diese für die Army so typische Desorganisation machte Conner wütend. Wo sich der Feind aufhielt, war doch völlig offensichtlich. Gemeinsam mit seinen neun Untergebenen sah er sich selbst nach einem Einsatz um, und dabei stolperte er über den Lieutenant von der Air Force, der zwischen den entnervten Offizieren der Army herumrannte und Ordnung in das Chaos zu bringen versuchte. »Stellen Sie mir ein paar Leute zur Verfügung!«, forderte er. »Ich habe meine Ausrüstung. Unsere Kampfflugzeuge sind in der Luft! Ich brauche nur ein Sicherheitsteam, damit ich mich zur Linie durchschlagen und die Luftangriffe anfordern kann!« Conner nahm den Mann beiseite, und zehn Minuten nach der Landung hatte er so für seine Squad einen Einsatz arrangiert. Eine Viertelstunde später bot ihnen ein lächelnder, hilfsbereiter Malermeister an, sie auf seinem Pickup mitzunehmen. Conner und der Offizier der Air Force saßen in der Fahrerkabine, in der man eine Klimaanlage vergebens suchte. Die anderen hatten mit dem jungen Sohn des Malers hinten Platz genommen. »Ich habe mit meinem Vetter gesprochen, sie kommen über die Interstate 5.«, berichtete der Maler, offensichtlich froh, sich nützlich machen zu können. 167
»Dann wissen wir ja, wo wir hinfahren«, sagte der Lieutenant von der Air Force, während er Conner anblickte. Der zuckte nur die Achseln und nickte. Sie fuhren los. Wegen der Verkehrsstaus mussten sie durch die Vorgärten von Häusern fahren, deren Besitzer hektisch ihre Siebensachen zusammenrafften. An Checkpoints standen mit M-16 bewaffnete Militärpolizisten, die ihre Waffen zunächst auf den wie wild im Zickzackkurs manövrierenden, mit Farbe verschmierten Pickup richteten. Während der Fahrer die Hand nicht mehr von der Hupe nahm, sahen die Militärpolizisten die Soldaten und winkten sie durch die Barrikaden, ohne den Wagen zu überprüfen. Während sie sich der Interstate 5 näherten, kam der Verkehr allmählich völlig zum Stehen. Die ganze Straße glich einem Parkplatz. Wütende Autofahrer standen neben offenen Türen und reckten die Hälse, um den Grund der Verzögerung zu entdekken. Nachdem Conner seiner Squad das Absitzen befohlen harte, dankte er dem stets lächelnden Maler, dessen Sohn bereits wieder in die Fahrerkabine geklettert war. »Vayan con dios, amigos!«, brüllte der Mann Conner und seinen Soldaten nach, als diese einen Hügel zu erklimmen begannen. »Macht ihnen die Hölle heiß!«, schrie der Sohn anfeuernd, bevor er sich an seinen Vater richtete. »Lass uns zurückfahren und noch ein paar Leute holen.« Der Pickup wendete und kehrte zum Flugplatz zurück. Oben auf dem Hügel angekommen, sahen sie zwar blaues Wasser, hatten aber keine Ahnung, wo genau sie waren. Conner und der Lieutenant kehrten zur Straße zurück und marschierten von einem Auto zum anderen, bis sie schließlich eine Familie mit einer Landkarte fanden. Nachdem der Lieutenant einen Scanner hervorgezogen hatte, übertrug er die Karte auf seinen Palmtop. Anschließend druckte er elf Kopien aus, und schon waren sie im Geschäft. Während der nächsten paar Stunden sahen sie nur von Panik erfasste Flüchtlinge. Von einem Hügel mit Blick auf Mission Bay aus beobachteten sie die nach Norden und Süden verlaufenden Fahrspuren der Interstate 5. Mittlerweile flohen hunderttausende aus San Diego in Richtung Los Angeles, ein Wagen nach dem anderen, Stoßstange an Stoßstange. Aber die Kampfgeräusche hielten an und waren fast konstant. 168
Am späten Nachmittag begannen sie ein Katz-und-Maus-Spiel mit unbemannten chinesischen Aufklärungsflugzeugen. Als eine lässig wie ein Geier über ihnen kreisende Drohne sie schließlich entdeckt hatte, versuchte Conner es mit einer von der Schulter startbaren Lenkwaffe. Ein explosionsartiger Ausstoß von Gasen schleuderte die Rakete aus dem WegwerfStartrohr. Der Rückstoß warf Conner einen Schritt nach hinten. Ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ein Ausweichmanöver einzuleiten, kreiste die Drohne weiter über ihrer Stellung, um Bilder an irgendeinen chinesischen Kommandoposten zu übermitteln. Bilder eines einsamen amerikanischen Soldaten, der allein auf weiter Flur stand. Direkt bevor die Drohne unter dem grölenden Beifall seiner in Deckung gegangenen Soldaten in einem Feuerball aufging, streckte Conner der Kamera und denen, die sie aus der Ferne betrachteten, in einer letzten trotzigen Geste den Stinkefinger entgegen. Die rauchenden Trümmer der Drohne beschädigten Dächer und ruinierten die Windschutzscheiben der die Autobahn verstopfenden Wagen, deren Fahrer noch mehr in Panik gerieten. Da die Chinesen ihre Position jetzt in ihren Datenbanken gespeichert hatten, war Conner klar, dass sie weiterziehen mussten. Während sie durch die Hügel kletterten, verloren sie die Interstate aus dem Blick. Aber die Hupen, die seit dem Abschuss der Drohne gellten, hörten sie noch eine Stunde lang. Als sie eine neue Stellung gefunden hatten, begann der aus San Diego kommende Verkehr wieder zu fließen und entzerrte sich sogar ein wenig. Um Mitternacht hörten sie nur noch gelegentlich einen mit Vollgas über die Interstate rasenden Wagen. Der vorgeschobene Beobachter der Air Force hatte es geschafft, eine gute, kontinuierliche Funkverbindung zu den Controllern in der Luft aufzunehmen, deren Maschinen über Escondido operierten, das in sicherer Entfernung weiter nördlich lag. Direkt nach Mitternacht gelang es Conner, eine wackelige Funkverbindung zu den Green Berets herzustellen, die südlich ihrer Stellung operierten. Das Team» der Special Forces berichtete, die Chinesen hätten bei der Interstate 5 den San Diego River überquert, und ihre Vorhut befinde sich in diesen oder jenen Gitternetz-Koordinaten. Conner musste sie darüber aufklären, dass seine Squad keine Karten der Army mit Gitternetzeinteilung besaß. »Sie kommen gerade bei Sea World vorbei!«, brüllte der Mann von den Green Berets. Als es wieder Tag geworden war, warteten sie immer noch auf die Chi169
nesen. Conners Leute hatten sich entlang einer fünfzig Meter langen Linie in Schützenlöchern verschanzt, die sie auf der nördlichen Straßenseite eines Highways ausgehoben hatten, der zweihundert Meter weiter westlich die Interstate 5 kreuzte. Das flache, sandige Terrain gewährte eine gute Sicht auf die Kreuzung und die dahinter liegende Bucht, aber wenn die chinesische Vorhut erst einmal auf der Interstate unter der Überführung des kreuzenden Highways durchmarschiert war, würden sie sie aus dem Blick verlieren. Die mit Büschen bewachsenen Hügel in ihrem Rücken verdeckten den Blick auf den nördlichen Verlauf der Interstate 5, doch die steilen kleinen Schluchten in ihnen boten auch die einzige Rückzugsmöglichkeit. Im Gegensatz zu Conners Heimatstadt Mobile gab es hier keine dichten Kiefernwälder, und auf eben diesem Terrain hatten sie sich während der letzten drei Monate auf den Kampfeinsatz vorbereitet. Im nächsten Schützengraben hatte sich der Lieutenant der Air Force verborgen, der weiter Informationen an die Controller durchgab. Ein weiteres Mal schaute Conner nach Private Deborah Stuart, dem einzigen weiblichen Mitglied seiner Squad, die in dem nächsten Loch auf der anderen Seite kauerte. Als ihr Vater gegen die Vorschriften die Einheit seiner Tochter besucht hatte, hatte er Conner das Versprechen abgenommen, auf Deborah aufzupassen. In diesem Moment tauchte die Vorhut der Chinesen an der westlich gelegenen Straßenkreuzung auf. »Wir müssen feuern«, sagte der Air Force-Lieutenant zu Conner. Nickend wandte sich Conner wieder der Visiereinrichtung seiner Lenkwaffe zu. Als der erste Panzer unter der Überführung verschwand, verfärbte sich das grüne Fadenkreuz rot. Da dieses Ziel verloren war, suchte er sich ein anders von den vielen gepanzerten Fahrzeugen aus. Sofort erschien eine positive grüne Meldung, und in seinem Kopfhörer hörte er einen leisen Ton. »Ich gebe einen Befehl für Luftangriffe durch!«, brüllte der Mann von der Air Force. »Gleich kommen unsere Raketen«, warnte Conner über das Funknetz seiner Squad, das sich durch eine minimale Emission von Radiowellen auszeichnete. »Köpfe einziehen! Köpfe einziehen!« Das einzige Warngeräusch der Raketen, die von Meilen weiter landeinwärts kreisenden Kampfflugzeugen abgefeuert wurden, war ein hohes, schrilles Kreischen, 170
das an nicht explodierende Feuerwerkskörper erinnerte. Die amerikanischen Raketen zwangen sie, sich tief in ihren Löchern zu. verschanzen – denn diese Feuerwerkskörper würden explodieren. Unter Conner erzitterte die Erde, und die brutale Druckwelle peitschte seinen Körper und seine Ohren. Der Blitz und die sengende Hitze zwangen ihn, die Augen zu schließen, und als die Raketen über ihn hinweg schossen, drohte er die Orientierung zu verlieren. Die glatte Asphaltdecke des Highways riss und wölbte sich wie bei einem Erdbeben, während sich die Überführung nach unten zu senken begann. Er musste sich zwingen, die Augen zu öffnen und den Kopf zu heben. Die lange, ebene Asphaltdecke, hinter der sie Deckung gesucht hatten, bot Conner eine Art stabilen Horizont, und schließlich festigte sich seine desorientierte Sinneswahrnehmung wieder. Durch die dichten schwarzen Rauchwolken unter der deformierten Brücke konnte er keine chinesische Kolonne auf der Interstate erkennen. Er schaltete das Spezialvisier der Lenkwaffe auf Infrarotbetrieb um, doch dieses registrierte nur die Hitze, die aus einem Dutzend qualmender Fahrzeuge aufstieg. »Ziel zerstört!«, verkündete der Offizier von der Air Force enthusiastisch. »Ziel zerstört! Großartig gezielt!« »Kontakt! Kontakt! Kontakt!«, ertönten über Funk hektische, von mehreren Soldaten stammende Schreie durch Conners Kopfhörer. Das in seinen Helm integrierte Audiosystem lokalisierte die panischen Rufe links von ihm – landeinwärts, östlich, von der Interstate 5 entfernt. Unterdessen überprüfte Conners Blick die über dem Highway aufsteigenden Wolken zu seiner Rechten, weil er glaubte, dass möglicherweise die direktionale Angabe seines Audiosystems defekt war. »Panzer, Panzer!«, brüllte Hickson, der Mann am linken Rand der Formation seiner Squad. Als Conner sich umdrehte, wurde Hicksons Körper in Stücke gerissen. Das markerschütternde Krachen des schweren Panzergeschützes und der Einschlag des Geschosses neben Hicksons flachem Loch ertönten praktisch simultan. Arme, Beine und Kopf wurden in verschiedene Richtungen geschleudert, Hicksons Rumpf löste sich einfach in Nichts auf. Hinter dem Ort des grauenhaften Geschehens sah Conner eine Kolonne gepanzerter Fahrzeuge auftauchen, die über den Highway auf die Kreuzung mit der Interstate 5 an der Mission Bay zufuhren – direkt in Richtung 171
ihrer Stellung. »Rückzug, Rückzug!«, brüllte Conner, obwohl seine Männer bereits auf die Hügel zurannten. Zwei wurden in Stücke gerissen, als ein Panzergeschütz einfach in den Dreck vor ihren Füßen feuerte. Die Hitze der Explosion schlug Conner ins Gesicht, aufgewirbelte Splitter trafen seinen Hals und eine Hand. Aus den Türmen einer langen Kolonne von Panzern, die gerade über den Kamm des. landeinwärts gelegenen Hügels zu ihrer Linken kamen, knatterten schwere Maschinengewehre. Kugeln pfiffen durch die Luft, und Männer fielen, während um sie herum trockene Erde in die Luft spritzte und Rauch aufstieg. Wie alle anderen rannte auch Conner auf die Hügel zu. Jetzt konnte jeder nur noch an sich selbst denken. Ein Dutzend Meter vor Conner, am Fuß des ersten Hügels, stieß der Lieutenant der Air Force einen Schrei aus. Er sank zu Boden, direkt neben seinem vom Körper abgetrennten Arm. Noch bevor Conner zu ihm eilen konnte, explodierte die linke Hirnhälfte des Lieutenants durch das großkalibrige Geschoss eines MGs, und er fiel leblos zur Seite. Überall schwirrten Kugeln durch die Luft, permanent ließen Explosionen den Boden erzittern. Conner fand Debbie Stuart zusammengekrümmt auf dem Grund eines schmalen Auffangbeckens, von wo aus das rare Regenwasser auf ein schmales Rohr unter der Straße zufloss. Tränen strömten über ihr Gesicht, das sie fest gegen den Boden presste. Als Conner sich neben ihr auf die Knie fallen ließ, kamen die Explosionen und das MG-Feuer plötzlich aus einer anderen Richtung – von der Interstate. Sie waren in einem Kugelhagel tödlicher Projektile gefangen, die über ihre Köpfe hinwegschossen, Dreck aufwirbelten und überall um sie herum große Erdschollen von den Hügeln rissen. »Was sollen wir tun?«, brüllte Debbie. Conner blickte nach links und nach rechts, von wo aus die gepanzerten Fahrzeuge sie in die Zange nahmen. Mittlerweile waren die Panzergeschütze der Chinesen verstummt, weil sie befürchteten, ihre Kameraden zu treffen, während diese zum Gnadenstoß ansetzten. Aus den schweren Maschinengewehren wurden nur noch gezielte Feuerstöße abgegeben. Gelegentlich hörte man Gewehrschüsse, mit denen Conners Leute allein oder zu zweit erledigt wurden. »Was sollen wir nur tun?«, kreischte Debbie erneut. 172
Conner sah abgesessene chinesische Soldaten, die die auf die Straße zulaufenden Ausläufer der Hügel durchkämmten. Von der Interstate her, aus westlicher Richtung, hörte er Motorengeräusche. Mittlerweile waren die in Richtung Norden flüchtenden Fahrer der Autos nicht mehr an dem Feuergefecht neben der Straße interessiert. Debbie Stuart blickte ihn unverwandt an. Conner atmete tief durch, füllte seine Lungen, und als er wieder ausatmete, klang es wie ein Seufzer. Debbie legte dieses Seufzen auf ihre Art aus. Sie bettete die Wange gegen den Schaft ihres Gewehrs und zielte auf die anstürmenden chinesischen Infanteristen. Nur langsam begriff Conner, welche Entscheidung sie ihm unterstellt hatte. Er hob ebenfalls das Gewehr. Noch bevor Conner richtig zielen konnte, hatte Debbie schon drei Feuerstöße von je drei Schuss abgegeben. Der Chinese, den Conner zuerst ins Visier genommen hatte, ließ sich in eine mit Gestrüpp bewachsene Mulde fallen. Als Debbie erneut auf den Abzug drückte, feuerte Conner auf das Wüstengestrüpp, hinter dem er den Chinesen wusste. Sofort war die Luft um sie herum von einem tödlichen Kugelhagel erfüllt. An einem Dutzend Stellen schlug orangefarbenes Mündungsfeuer aus dem bräunlichen Gestrüpp. Die Metallprojektile pfiffen dicht an Conners Kopf vorbei. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken. Eine Kugel prallte von seinem Helm ab. Eine Gewehrgranate orgelte sehr viel langsamer auf sie zu und explodierte. Debbie schrie entsetzt auf. Obwohl die Waffen der beiden Amerikaner verstummt waren, feuerten die Chinesen noch immer. Eine weitere Granate schlug in die Erde ein, diesmal aber viel näher. Sofort verstummte Debbies Geschrei, und Conner hob unsicher den Kopf. Ohne jede Vorwarnung explodierte eine dritte Granate in dem engen Raum zwischen Conner und Debbie. Mitsamt seiner Ausrüstung wurde Conner hart zur Seite geschleudert. Die Nervenspitzen an seiner rechten Seite waren völlig taub und empfindungslos, wie nach einem Schwall eiskalten Wassers. Kurzzeitig drehte sich alles um ihn herum, und sein Kopf wurde von Müdigkeit erfasst, als würde er auf einer langen Autofahrt einnicken. Dann war er plötzlich wieder hellwach. Er konzentrierte sich ganz auf Debbie, die. schwer verwundet war. Ihre linke Seite war zerfetzt und blutete, und man konnte unmöglich sagen, wo ihr blutiges Fleisch in ihre ebenfalls blutverschmierte Ausrüstung über173
ging. Ihre leblosen Augen starrten ihn an, aber ihr Blick ging ins Leere. Er berührte sie. Nichts geschah. In seinem Kopf begann sich wieder alles zu drehen, und für einen Augenblick verlor er das Bewusstsein. Wieder berührte er sie, wieder keine Reaktion. Er sah an sich herab. Sein abgetrennter Arm lag neben ihm, und das schien keinen Sinn zu ergeben. Alles drehte sich immer schneller, er begann zu halluzinieren. Sein Blick umkreiste den Gegenstand, den er fixieren wollte, so lange, bis er gar nichts mehr wahrnahm. »Das… das ergibt keinen Sinn«, murmelte Conner, der nun zu dem hellen Morgenhimmel aufblickte. »Das ergibt kei… » Um ihn herum tauchte ein Ring von Helmen auf – chinesische Soldaten, die auf ihn hinabstarrten. Zwar hatten sie ihre Waffen gezückt, aber sie feuerten nicht. Auch machten sie keinerlei Anstalten, ihn zu durchsuchen oder zu entwaffnen. Sie starrten ihn nur entsetzt aus weit aufgerissenen Augen an. »Fahrt zur Hölle!«, stieß Conner mit seinem letzten Atemzug hervor.
Vorort von Atlanta, Georgia 25. September, 1940 Uhr Ortszeit »Hebt die Splittergräben tief aus!«, befahl Sergeant Collins. Stephie ließ ihren schweren Tornister auf den Rasen vor dem Haus fallen. »Achtung, gleich knallt’s!«, brüllte ein Pionier weiter unten an der Straße. Sie ließen alles stehen und liegen und warfen sich zu Boden. Plötzlich lag die Straße völlig still da. Durch eine Handbewegung gab Stephie den auf der Eingangstreppe sitzenden Kindern zu verstehen, dass sie sich im Haus in Sicherheit bringen sollten. Eine dröhnende Explosion schüttelte Stephie durch und ließ mehrere Fensterscheiben zerspringen. Zwei Kiefern fielen auf die Mason Street und blockierten die Durchfahrt Richtung Westen. Sie standen auf und machten mit ihrer Arbeit weiter. Animal grub ein Loch, Stephie, John Burns, Stephon Johnson und Peter Scott hoben auf dem gepflegten Rasen einen Splittergraben aus, der das Maschinengewehrnest des Tiers mit dem Seitengarten und einer Schutz bietenden Stützmauer verband. Mit kurzen Klappspaten hackten sie schnell auf den Rasen ein. Der enge, schulterhohe Splittergraben würde für den MG174
Schützen die einzige Rückzugsmöglichkeit sein. Wieder saßen die Kinder der letzten noch nicht geflohenen Familie aus der Mason Street auf der Eingangstreppe, während sich ihre Mutter und ihr Vater im Haus laut stritten. Der Feind war nur noch drei Stunden weg. Da keine der beiden Seiten die Luftmacht hatte erringen können, war ein Überraschungsangriff aus der Luft unwahrscheinlich, und ihnen blieben wirklich drei Stunden Zeit. Jede Bewegung der Schaufel ließ Stephie gequält aufstöhnen. In der Woche seit der Invasion hatte sie zwei Dutzend Schützengräben ausgehoben. Stets hatten sie sich kampflos weiter zurückgezogen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir einfach so vierhundert Meilen Boden aufgegeben haben!«, knurrte Animal. Stephie blickte ihn an, ohne das Grabtempo zu verlangsamen. Einige Männer legten eine Pause ein, um ihr schweres Gurtwerk und ihre warmen kugelsicheren Westen zu lösen. Ein Zierbaum und die Büsche zitterten, weil Animal direkt neben ihnen mit einer langen Schaufel wütend die Erde traktierte, die in hohem Bogen auf die Zweige fiel. Das M-60-Maschinengewehr ruhte auf einem Zweifuß und zeigte die sanft gewundene, von Bäumen gesäumte Straße hinab in Richtung Feind. »Eine Woche lang kriechen sie massenhaft aus ihren Schiffen, und wir haben nicht einen einzigen verdammten Schuss abgegeben!«, grunzte Animal. Um einem Krampf vorzubeugen, dehnte Stephie ihren Rücken. Dann blickte sie Animal an. Es wäre besser, wenn Simpson schweigen und sich das verkneifen würde, was er sagen zu müssen glaubte. »Wir haben noch verdammtes Schwein gehabt«, fuhr Animal fort, »dass sie uns nicht auf dem Highway eingekesselt haben! Gleich zweimal haben wir Schwein gehabt! Mittlerweile könnten wir alle Kriegsgefangene sein! Die angeblich kämpfende 41st Infantry Division sitzt in einem beschissenen Verkehrsstau fest, und selbstverständlich sind alle Waffen gesichert, damit wir nicht zufällig irgendein Arschloch abknallen!« »Fluch hier nicht so rum, da sind Kinder auf der Veranda«, mahnte John Burns. »Ja und, du Schlappschwanz?«, höhnte Simpson. »Hast du eigentlich kapiert, dass die Chinesen die 3rd Armored Division und die 6th Infantry Division in zwei Tagen vernichtet haben? In zwei Tagen!« Was er damit sagen wollte, war offensichtlich. Die Divisionen mit den niedrigeren 175
Nummern, ausschließlich mit Berufssoldaten besetzt, waren Amerikas Eliteeinheiten. Animal zeigte auf Schornsteine, mittlerweile nutzlose Satellitenschüsseln und grüne Baumkronen. »Hört ihr irgendwelche Geschütze zwischen uns und ihnen?« Niemand antwortete. Zuvor waren sie immer durch eine solide Mauer eigener Soldaten von den anstürmenden Chinesen getrennt gewesen. »Mittlerweile sind wir an der vordersten Linie, Kameraden! Hier ist die Front!« Unterdessen hatte Simpson aufgehört zu graben, genau wie die anderen Mitglieder der First Squad. Mit dem Daumen wies Animal auf den zweiten Mann des MG-Teams. »Ich und der gute Massera hier, wir werden mit euch Arschlöchern durch dick und dünn gehen. Durch dick und dünn! Aber solltet ihr wie verängstigte Kaninchen davonrennen, ziele ich mit diesem M-60 auf euere beschissenen Ärsche und mähe euch nieder!« »Hier rennt niemand weg«, entfuhr es Stephie, die Animal endlich zum Schweigen bringen wollte. Die Hauswände warfen das Echo ihrer Stimme zurück. Andere Squads hörten zu graben auf, und am Ende der Straße drehte sich Staff Sergeant Kurth um. »Wir werden nicht einknicken!« In Stephies Stimme mischten sich zu gleichen Teilen Überzeugung und Hoffnung. »Sollten wir sterben müssen, werden wir zusammen sterben! Kämpfend und auf ehrenvolle Weise!« Eine halbe Ewigkeit lang herrschte Schweigen. »Denkt an Guantanamo Bay!«, schrie jemand weiter unten an der Straße. Dutzende Männer und Frauen beeilten sich, die vier Wörter zu wiederholen, was zur Beruhigung von Stephies Nerven beitrug und Animal verstummen ließ. Kurth marschierte über den weißen Mittelstreifen der Mason Street, unternahm aber nichts, um die aus vollem Hals brüllenden Teenager zur Räson zu bringen. Als er schließlich auf dem Bürgersteig an Stephie vorbeikam, beschäftigten sich alle wieder damit, zu graben oder Landminen zu platzieren, ohne dass Kurth sie auch nur mit einem Wort dazu aufgefordert hätte. Der Staff Sergeant stellte einen Fuß auf eine Stufe der Vordertreppe. »Dann packt mal eure Eltern ein und macht euch auf den Weg«, sagte er zu den Kindern. Ohne es zu wollen, schüchterte Kurth alle ein – nicht nur Kinder. Diese beiden verschwanden sofort und tauchten bald mit ihrem Vater wieder auf, der die Gurte des Dachgepäckträgers auf seinem 176
Auto überprüfte. Die gut betuchten, vielleicht in der Computerbranche beschäftigten Yuppies waren vorbereitet, und zwar auf die Flucht, wie Stephie vermutete. Peter Scott hackte plötzlich in die Leitung eines Sprinklers, und sofort waren alle durchnässt. Der Fluchtweg der MG-Schützen begann sich mit Wasser zu füllen. »Scheiße!«, fluchte Simpson. »Du elender Idiot!« Die triefnassen Soldaten – John, Stephon, Peter und Stephie –, deren Nerven extrem angespannt waren, lachten sich kaputt. Der Hausbesitzer eilte herbei und stellte die Hauptwasserleitung ab. Staff Sergeant Kurth stand mit in die Hüften gestemmten Fäusten da. Innerhalb von Sekunden flog die Eingangstür auf, und der Herr des Hauses steuerte auf seinen Wagen zu. Dann erschien die Dame des Hauses, Topfhandschuhe an den Händen, mit einem Tablett und bot Kurth ein frisch gebackenes Plätzchen an. Kurth nahm es, wenn auch mit dem obligatorischen säuerlichen Gesichtsausdruck, aber er schien jeden einzelnen Bissen zu genießen. Die Frau ging von einem Soldaten zum anderen, um ihnen ebenfalls Plätzchen anzubieten. Stephie stand etwas abseits und lächelte in sich hinein. Die sympathisch wirkende Frau hielt ihr das Tablett hin und sagte: »Es gibt nicht allzu viele Dinge, die ich beherrsche, aber Schokoladenplätzchen sind meine Spezialität. Ich wollte Ihnen und den Jungs welche anbieten.« Mit verdreckten Fingern griff Stephie langsam nach einem Plätzchen. Einen Bissen bekam sie noch herunter, bevor ihre Lippen zu zittern begannen. Nachdem die Frau das Tablett dem Tier gegeben hatte, legte sie den Arm um Stephie, die sich auf die Lippen biss und die Augen zukniff. Auf der Auffahrt setzte inzwischen der Mann den Wagen zurück. »Schnell, Mama, Beeilung!«, ertönten die hohen Kinderstimmen. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte die Frau, die Stephie nun an den Handgelenken hielt. »Es wird schon…« Sie unterbrach sich und verstummte. Es wird schon – was?, fragte sich Stephie. Was wird es? Die Frau vermied jeden weiteren Blickkontakt, und bald verschwand die letzte Familie aus der Mason Street mit quietschenden Reifen. Jetzt übernahm Lieutenant Ackerman die Hauptrolle. Staff Sergeant Kurth trat ihm seine Straße ab. Der schlanke, große Lieutenant war ein Absolvent von The Citadel, was dem Third Platoon merkwürdigerweise den Spitznamen 177
»West Point« eingetragen hatte. Tatsächlich ging der Name auf Ackermans Verhalten zurück, das stets an eine Militärakademie erinnerte. Während der ersten Tage der Ausbildung hatten sich alle Mitglieder der Charlie Company danach gesehnt, nicht zu Ackermans Third Platoon zu gehören, sondern zum First Platoon, genannt »Malibu«, in dem es sehr viel entspannter zuging und das jetzt in der nächsten Straße grub. Doch nun, am Vorabend ihres ersten großen Gefechts, glaubte Stephie, dass »West Point« sich gut schlagen würde. »Alle herhören!«, befahl Ackerman laut, und vierzig Soldaten und Soldatinnen blickten ihn an. Reden hielt Ackerman nur selten. »Die Zivilisten sind weg«, verkündete der Lieutenant. »Kundschafter des Bataillons sind fünf Meilen weit draußen und ziehen sich schnell wieder zurück. Da keiner von ihnen irgendwo hier in der Nähe unsere Linien überschreiten wird, sind die nächsten Typen, die diese Straße heraufkommen, Feinde, und die legt ihr um.« Direkt nach dieser kleinen, anfeuernden Ansprache hatte Ackerman die von der First Squad im Vorgarten ausgehobenen Stellungen inspiziert und ihnen befohlen, sich für den Kampf in das gerade von der Familie aufgegebene Haus zurückzuziehen. Bevor er den Befehl weitergab, hatte Kurth den Lieutenant einen Augenblick lang angeschaut. Andere Squads hatten sich in den in die Rasenflächen gegrabenen Stellungen verschanzt, und Animal und Massera mussten sowieso draußen bleiben, um ein gutes Schussfeld zu haben. Aber der First Squad wurde befohlen, aus dem Inneren des Backsteingebäudes an der Mason Street zu kämpfen. Weil das sicherer ist, dachte Stephie verärgert. Allerdings fiel es ihr sowieso schwer, daran zu glauben, dass sie tatsächlich kämpfen würden. Bisher war der Befehl zum Rückzug immer von oben gekommen, wo man offensichtlich befürchtete, dass sie seitwärts umgangen oder eingekesselt werden könnten. Doch diesmal spähten sie mit gezückten Waffen durch die Fenster, und es wurde kein Befehl zum Rückzug gegeben. Draußen kauerten Animal und Massera in dem mit Wasser gefüllten Loch hinter ihrem Maschinengewehr. In dem zuvor makellosen Haus war der Teppich mittlerweile durch die lehmverschmierten Stiefel ruiniert. Die Möbel wurden umgestellt oder -gekippt. Das Licht der winzigen Monitore 178
vor ihren Augen ließ Becky Marshs Gesicht leicht glühen. An ihrem Gurtwerk baumelten schwarze Batterien, das als Transceiver bezeichnete, kombinierte Sende-Empfangs-Gerät und Rechner. Als Becky auf Nachtsicht umschaltete, wurden die Displays an ihrem Hightech-Helm dunkel. Durch die beiden kleinen, transparenten Bildschirme, die sich etwa drei Zentimeter vor ihren Augen befanden, hatte sie einen stereoskopischen, sehr räumlich wirkenden Blick. Stephie ging von ihrem Vorderfenster zu Becky, die hinter einer Wand lag und einen dreiviertellangen Schutzanzug aus Kevlar trug, der sich wie ein Wollmantel um ihre Schienbeine legte. »Wo hast du denn die Körperpanzerung her?«, fragte Stephie angewidert. »Ach, ich kenn’ da einen Flieger… Das sind Spezialanzüge für V/STOL-Piloten. Diese Jungs von der Luftunterstützung sind was ganz Besonderes. Die starten gar nicht erst, solange ihre Eier nicht gut geschützt sind.« »Du hast dich also wegen dieser Körperpanzerung von ihm vögeln lassen«, übersetzte Stephie. »Wo hast du deine verdammte Kampfausrüstung?« Becky antwortete, sie habe sie einem Mann von einer Transporteinheit anvertraut, der sie für sie »befördere«. Jetzt hatte Stephie die Nase voll. »Dann willst du also weiter rumvögeln, damit du es möglichst bequem hast? Du willst von unseren Rationen leben und den Krieg in deinem kleinen, gemütlichen Video/Kevlar-Kokon überstehen? Besten Dank, dass du wenigstens dein Gewehr mitgebracht hast!« »Immer mit der Ruhe, Roberts«, befahl Sergeant Collins. »Geh wieder zum Fenster rüber.« Stephie blickte sich in dem Raum um. Ihre Kameraden starrten sie an. Niemand hob den Kopf über die Fensterbank. Stephie schaute Becky an. »Tut mir Leid.« Aber Becky hörte nicht. Sie hatte beide Hände seitlich gegen den Helm gepresst und starrte auf die beiden Displays. »Da sind sie«, sagte sie lapidar. Zurück am Fenster, blieb Stephie gerade noch Zeit, um die Funktionsfähigkeit des nachträglich am Pistolengriff ihres M-16 angebrachten Wählhebels zu überprüfen, der mit dem Daumen umgelegt wurde. Zeigte er nach oben, konnte sie mit Sergeant Collins sprechen, klappte sie ihn nach unten, wurden die Worte, die sie in das an ihrem Helm befestigte Mikro179
fon sprach, zu den anderen Mitgliedern ihres Fire Teams übertragen: John, Scott und Corporal Johnson. »Hörst du mich?«, fragte John Burns über das Funknetz. Stephie blickte an Scott vorbei zum hinteren Ende des Fensters und nickte. »Ja, mein Liebling«, antwortete Animal von draußen über Funk, spöttisch Stephies Stimme imitierend. »Ja, ich höre dich gut, Süßer.« Dann brachte ein schmatzender Kuss die anderen zum Lachen. John tauschte den Platz mit Peter Scott, der erst stänkerte, dann aber nachgab. Stephie beschwerte sich nicht darüber, dass John jetzt näher bei ihr war. Er saß auf dem Boden und hob eine dünne, an eine Antenne erinnernde flexible Röhre, deren Ende wie ein Scherenfernrohr gekrümmt war. Auf einem etwa zwölf Zentimeter breiten Bildschirm am unteren Ende der Röhre erschien ein Ausschnitt der Straße. »Was ist das?«, fragte Stephie, während sie sich neben ihn setzte. »Hab’ ich bei Sharper Image gekauft«, murmelte John, während er seinen Blick über die Szenerie gleiten ließ. Das Gerät bot ein perfektes Bild der Mason Street, ohne dass der Betrachter sich zeigen musste. »Sieh mal«, sagte Stephie, die auf einen Knopf zeigte. »Man kann es sogar auf Nachtsichtbetrieb einstellen. Wie viel hat das Ding gekostet?« John zuckte nur die Achseln. »Du weißt es nicht?«, hakte Stephie nach, blieb aber erneut ohne Antwort. Als sie den grünen Kunststoffmonitor in Augenschein nahm, fiel ihr kein Markenname oder Logo auf. »Ich muss mal ins Bad«, sagte John plötzlich. Sergeant Collins bemerkte, er solle sich beeilen. Aber John ging nicht den Flur hinab, sondern verließ das Haus durch die Hintertür. »Ich muss auch mal verschwinden«, sagte Stephie. »Nichts da!«, antwortete Collins. »Zurück auf deinen Posten.« Stephie ging zum Fenster und lauschte. Plötzlich hörten alle aus dem Garten hinter dem Haus das laute Geräusch brechenden Holzes. »Ich gehe raus und überprüfe das«, sagte Stephie, die sofort loseilte, weil Collins gerade damit beschäftigt war, noch einmal die Stellungen in dem Arbeitszimmer zu studieren. Draußen lag Johnson in der Finsternis. Er griff sofort nach Stephies Bein. »Steh hier nicht zu lange rum«, sagte er bloß. Über Funk beschwerte sich Animal über den Krach hinter dem Haus. John Burns riss Bretter aus dem verrottenden Holzzaun am hintersten Ende des Grundstücks. Das Loch war bereits relativ breit, und den Ma180
schendraht auf der anderen Seite hatte er schon durchgeschnitten. »Was machst du da?«, fragte Stephie. »Man muss immer für einen Fluchtweg sorgen«, antwortete John. »Hier geht’s zu einem Entwässerungsgraben für Unwetter. Geh nach links. Es gibt Verzweigungen in mehrere Richtungen und ein paar breite, unter den Straßen verlaufende Rohre. Halt dich dann immer in Richtung Osten…« »Hier rennt niemand weg«, sagte Stephie, die entrüstet den Kopf schüttelte. »Und überhaupt, wo hast du die Drahtschere her?« »Roberts, Burns, zurück ins Haus!«, hörten sie über das Funkgerät die knurrende Stimme von Sergeant Collins. »Jetzt muss es jede Sekunde so weit sein!« Damit hatte Becky den Countdown eingeleitet. Durch ihre Nachtsichtbrille und das Fenster, dessen Scheibe bereits herausgebrochen war, spähte Stephie auf die jetzt taghell erscheinende Mason Street. Ein paar Blocks weiter links löste sich aus Handwaffen ein Kugelhagel, und als die Chinesen das Feuer erwiderten, steigerte sich der Lärm zu einem wahren Crescendo. Panzergeschütze, Raketensprengköpfe, Mörser und bald auch Artilleriefeuer ließen den Boden erzittern. Rapides Sperrfeuer erleuchtete orangefarben den Nachthimmel, während ihre Stellung an der Mason Street unter massiven Beschuss geriet. Stephies Mund war so ausgetrocknet, dass sie nicht mehr schlucken konnte. Wie kann irgendjemand das überleben?, fragte sie sich entsetzt. »Kontakt«, ertönte leise Sergeant Collins Stimme durch Stephies Kopfhörer. »Nicht feuern.« Über seiner schwarzen automatischen Waffe kauernd, vergewisserte sich John, dass mit dem Magazin alles in Ordnung war. Stephie hob ihr M16. Kleine, phosphoreszierende Pünktchen im vorderen und hinteren Visier, die durch ihre das Licht verstärkende Nachtsichtbrille noch heller wurden, gaben die Ziellinie vor. Zwei sechsrädrige, amphibische Aufklärungsfahrzeuge krochen mitten über die Mason Street und hielten ein Stück vor den beiden umgestürzten Bäumen. Dann fuhr das erste Amphibienfahrzeug allein weiter. Aus dem zweiten tauchten rasch mechanische Lifts auf, die zwei kastenförmige Raketenwerfer in die Höhe hoben, deren Zielrichtung auf die Straße justiert wurde. Als das voranfahrende Fahrzeug den ersten Baum erreichte, 181
überwand es den Baumstamm mühelos. Die riesigen Reifen hoben sich unabhängig voneinander. Während der letzte Reifen den Stamm des zweiten Baums hinunterglitt, wurde aus einer kleinen Kanzel ein schmaler Lauf ausgefahren, der sofort hin- und herschwenkte. Stephie zitterte und fror, ihre Zähne klapperten. Ein zweites heftiges Feuergefecht brach aus, diesmal zu ihrer Rechten und näher. Wahrscheinlich beim Second Platoon. Das nachfolgende chinesische Amphibienfahrzeug gab wieder Gas und folgte seinem Führer. Als es das zweite Hindernis halb überwunden hatte, hörte Stephie zischende Geräusche. Grelle Lichtstreifen, gefolgt von dumpfen Explosionen. Von den beiden Aufklärungsfahrzeugen regneten Funken, die Räder standen still, die Türme drehten sich nicht mehr. Als eine Luke aufflog, sah Stephie im Inneren blendend weiße Flammen. Ein brennender chinesischer Soldat schlug auf seine Kleidung ein, während er ins Taumeln geriet und schließlich auf der Straße liegen blieb. »Alle in Deckung!«, brüllte John Burns, während er sich fallen ließ und dabei nach Stephie griff. Im nächsten Augenblick erschütterte ein Dutzend schrill pfeifender Artilleriegranaten die Mason Street. Schrapnellsplitter schossen in das Wohnzimmer. Trümmer flogen durch Staub- und Rauchwolken, von den Wänden und der Decke rieselte der Putz. Aus der Ferne hörten sie die schrillen Schreie eines Sterbenden. John hob sein Fiberoptik-Scherenfernrohr. Auf dem kleinen Monitor erschienen sich schnell bewegende Fahrzeuge. An ihrem Haus vorbei schossen amerikanische Raketen durch die Luft, die die Hälfte der chinesischen Fahrzeuge erledigten. Die anderen fuhren Raketenwerfer aus. »Geht in Deckung!«, brüllte John. Er warf sich auf Stephie. Dröhnende Raketen trafen die Backsteinmauer des Hauses, der Boden unter ihren Körpern erzitterte. Entsetzliche Schreie gellten durch das Haus. Hinter ihnen explodierten das Wohnzimmer und das Esszimmer. Durch die Luft schießende Flammen hinterließen ernsthafte Brandwunden. Stephie bekam keine Luft mehr. Sie wusste nicht, ob sie tot war oder noch lebte. Sie stieß John Burns von sich. Verletzt schien er nicht zu sein, aber anscheinend konnte er den Blick nicht richtig auf ein Ziel konzentrieren. Neben Stephie und John lagen Sergeant Collins und Peter Scott, deren Körper in Stücke gerissen worden waren. 182
Draußen spuckte Simpsons’ Maschinengewehr pausenlos Mündungsblitze aus. Amerikanische Raketen schossen durch die Straße. Das Fire Team Bravo feuerte pausenlos aus dem Arbeitszimmer. John glitt stöhnend zu Boden, während Stephie sich auf die Knie aufrichtete. Durch den schwelenden Fensterrahmen hatte sie einen geradezu perfekten Blick auf die Hölle. Sie hob ihr M-16 an die Schulter und feuerte eine Splittergranate ab, die am Fuß eines Baums einschlug und drei Männer zu Boden riss, die kniend von einer sechzig Meter weiter rechts gelegenen Position gefeuert hatten. Einer rappelte sich wie betäubt wieder auf die Knie hoch, doch Stephie tötete ihn mit drei Schüssen. Da das Magazin insgesamt dreißig Patronen fasste, blieb ihr jetzt noch Munition für neun Schüsse. Mit jedem Druck auf den Abzug schoss sie präziser. Die erste und schlimmste Flutwelle hatte sie überlebt. Mit den anderen überlebenden Amerikanern forderte sie jetzt den Preis ein, den die Chinesen zahlen mussten, wenn sie die Mason Street einnehmen wollten. Durch das brennende Inferno auf der Strafe kam kein Fahrzeug mehr durch, kein chinesisches Flugzeug überlebte auch nur einen Überflug. Hubschrauber beider Seiten krachten in Häuser, wie Meteore, die auf eine fremdartige Landschaft niedergingen. Vom Boden stiegen Raketen auf, die wie in umgekehrter Richtung fliegende Sternschnuppen wirkten. Artilleriebatterien gingen zu einem vernichtenden Sperrfeuer über, wurden aber schon fünfzehn Sekunden später durch genaue Konterattacken ausgeschaltet. Wenn man jetzt über Funk kommunizierte, riskierte man es, bis nach Peking auf feindlichen Computermonitoren zu erscheinen. Fast sofort gab man damit seine genaue Position preis – den Häuserblock, das Haus, das Zimmer. Damit erteilte man dem Gegner praktisch selbst den Feuerbefehl. Die Waffensysteme der beiden Armeen krachten aufeinander und löschten sich gegenseitig aus. Der Krieg regredierte wieder in ein frühes Stadium und testete die primitivsten Kampfmethoden. Jetzt erschien chinesische Infanterie auf der Bildfläche. Keine Gruppe, kein Zug und keine Kompanie, sondern gleich mehrere Infanteriekompanien, die sich zu einem Bataillon zusammenaddierten. Hunderte Männer, immer wieder Deckung suchend, rückten auf der Mason Street vor, wobei sie an den brennenden Fahrzeugen vorbeikamen, in denen ihre Kameraden den Flammen zum Opfer gefallen waren. Stephie zielte und feuerte. Nachdem sie zehnmal auf den Abzug ge183
drückt hatte, war ihr erstes Magazin leer, und sie griff nach Johns SAW, dem leichten Maschinengewehr, um mit diesem im Schnellfeuerbetrieb sechshundert Schuss abzugeben. In Stephies Feuerschutz konnte Animal sein MG an sich reißen und sich durch den verschlammten Splittergraben zur Stützmauer, zum Seitengarten und schließlich zum Fluchtweg hinter dem Haus schleppen. Hunderte Kugeln pfiffen durch die Bäume und ließen Zweige auf den gebückt fliehenden MG-Schützen hinabregnen. Über hundert chinesische Schnellfeuerwaffen spuckten orangefarbenes Mündungsfeuer aus und kamen, wie den krachenden Geräuschen zu entnehmen war, immer näher – dreihundert Meter, zweihundert, hundertfünfzig. Während Stephie stehend mit der SAW die sechshundert Schuss abfeuerte, nahm sie den gegnerischen Kugelhagel fast nicht mehr richtig wahr. Die feindlichen Projektile sausten durch das Fenster und schlugen hinter ihr in die Wände ein. Sie krümmte sich über der automatischen Waffe zusammen, die auf der Fensterbank lag und fast unkontrollierbar zuckte. Weil sie die Waffe auf Dauerfeuer eingestellt hatte, setzte sie sie eigentlich nicht besonders effektiv ein, doch obwohl sie fast nichts sah, war Stephie sicher, verheerenden Schaden anzurichten. Auf der vibrierenden, glühend heißen Waffe begann das Schmiermittel zu brutzeln und einen stechenden Gestank aufsteigen zu lassen. Der Pistolengriff war fast zu heiß, um ihn überhaupt noch berühren zu können, aber Stephie umklammerte ihn mit aller Kraft. Als das Magazin vierzig Sekunden später leer war und die Waffe wie ein Teekessel tickte und zischte, fiel Stephies Blick auf Massera, den zurückgelassenen Ladeschützen des MG-Trupps. Aber Massera erhob sich nicht aus dem Schützenloch, er konnte kaum den Kopf heben. Ganz plötzlich sah Stephie, wie chinesische Infanteristen zwei Dutzend Granaten schleuderten. Wie ein Torwart warf sie sich zu Boden. Die Wände, das Dach und der Rasen wurden von sechs 40mm-Granaten getroffen, und das Zimmer, aus dem sie heftigen Widerstand geleistet hatten, ging in Flammen auf. »Lasst uns abhauen!«, brüllte John, als sich der Rauch verzogen hatte. Er griff nach Stephies M-16 und zog sie auf die Rückseite des Hauses zu. Hinter ihnen humpelte Stephon Johnson, der sich wegen der brennenden Küchendecke tief bücken musste. In ihrem Rücken flog das Wohnzimmer in die Luft. Die Druckwelle ließ die Fensterscheiben zerspringen und 184
schleuderte sie selbst in den Garten hinter dem Haus. Mit einer Hand trug Stephie die automatische Waffe, deren sengend heißer Lauf gegen ihr linkes Bein schlug. John nahm der schreienden Stephie die Waffe ab, verbrannte sich selbst die Hand dabei und fluchte. Stephie schnappte sich ihr M-16. »Hier rüber!«, schrie Becky vom hinteren Ende des Grundstücks, wo John das Loch in dem Zaun vorbereitet hatte. Wegen des brennenden Hauses war der Garten allmählich gefährlich hell. Animal, der über die Stützmauer an der Seite des Hauses gefeuerte hatte und jetzt noch eine letzte lange Salve abgab, gesellte sich zu den anderen Flüchtenden, wobei er seine schwere Waffe und die Munitionsgurte schleppen musste, deren Patronenhülsen im Licht der Flammen glänzten. Vom Haus her hörten sie chinesische Befehle. Nachdem die amerikanischen Überlebenden in den mit Abfall zugemüllten Entwässerungskanal hinabgeklettert waren, rannten sie so schnell wie möglich davon. Außer der Flucht hatten sie keinerlei Plan mehr. Plötzlich wurde der Luftraum über Atlanta zum Gefechtsfeld. Mehrere Explosionen ließen Becky laut aufschreien und den Kopf einziehen. Überall um die Stadt herum wurden amerikanische Raketenwerfer aktiv. Chinesische Kampfjets, Raketen und Helikopter explodierten. Eigenständig ihr Ziel findende Abfangraketen, hochgehende Treibstofftanks, abstürzende Maschinen mit Tanks voller Kerosin, mit Sprengstoff präparierte, detonierende Pfeiler – bei jeder Explosion wurde der Dräniergraben von grellen Blitzen erhellt. Verzweifelt versuchten sie, ihre Flucht fortzusetzen, aber die Gefechte in der Luft wurden minutenlang immer schlimmer. Als Stephie über die Schulter blickte, sah sie Becky, die zwar offenbar nicht verwundet war, aber dennoch zusammengekrümmt auf einer kleinen Sandbank am Rande ihres betonierten Fluchtwegs lag. John beugte sich zu Becky hinab und flüsterte ihr leise etwas Besänftigendes ins Ohr. Stephie konnte seine Worte nicht verstehen. In geduckter Haltung hängte sie sich das Gewehr um, dann kauerte sie sich knurrend neben der überraschten Becky nieder, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Stephie zeigte auf die anderen, die ein Stück weiter in dem Entwässerungsgraben warteten. Jetzt presste auch Stephie ihre Lippen dicht an Beckys Ohr. »Solltest du deinen Hintern nicht sofort in Bewegung setzen, leg’ ich dich um!«, brüllte sie. 185
Becky rannte los. Stephies Kinn zitterte, fast hätte sie geweint. John Burns starrte sie an. »Ist was?«, schnappte sie wütend. Dann lief auch sie weiter. Nur sechsundzwanzig von den neunundfünfzig Männern und Frauen, die dem Third Platoon an diesem Morgen zur Verfügung gestanden hatten, waren auch nachts noch anwesend. Als die Sonne aufging, hatte Lieutenant Ackerman ein paar Versprengte gefunden. Als würden ihm plötzlich wie durch ein Wunder mehr Soldaten zur Verfügung stehen, wenn er die ganze Prozedur wiederholte, veranstaltete Ackerman noch einen weiteren Zählappell. Sie marschierten in einen kleinen Park mit farbenfrohen Schaukeln für Vorschulkinder. Noch immer hörten sie das permanente Krachen der weiterhin tobenden Schlacht. Nachdem Stephie sich gesetzt und sich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt hatte, behandelte ein Sanitäter sie wegen der Verbrennungen an ihrer Wade und ihrer aufgeschlagenen Knie. Als Ackerman mit den Anwesenden fertig war – mittlerweile waren es einunddreißig Leute –, verlas er mit krächzender Stimme die Namen der Vermissten. »Aguillar?«, rief er. »Tot«, ertönte die Antwort. »Bist du sicher?«, hakte der Lieutenant nach. »Ganz sicher«, antwortete der Soldat, dessen Augen tief in den Höhlen versunken waren. Und so ging es weiter. Beim Buchstaben »C« angekommen, fragte Ackerman nach Sergeant Collins. »Tot«, antwortete Stephie. Ab jetzt machte sich der Lieutenant nicht mehr die Mühe nachzufragen. Nur wenn sich nach der Nennung eines Namens niemand meldete, notierte er das Wort »vermisst«, so etwa im Fall von Higgins, dessen gesamte Second Squad offenbar bis zum letzen Mann ausgelöscht worden war. Animal antwortete für Massera, der selbst nicht mehr sprechen konnte. »Tot«, sagte er einfach. »Als wir uns zurückziehen mussten, lebte er noch«, bemerkte Stephie. »Er hat direkt unter seiner kugelsicheren Weste einen Granatsplitter ins Kreuz gekriegt«, antwortete Simpson verbittert. »Ich habe meine Finger in das Loch gesteckt. Seine Wirbelsäule war zerschmettert, und die Eingeweide spritzten in das schlammige Wasser. Er konnte seine Beine nicht bewegen, und…« 186
»Schon gut!«, unterbrach Ackerman, während er seinen offiziellen Eintrag niederschrieb. Als Ackerman schließlich bei Sanders angekommen war, Stephies Kameraden aus dem Fire Team, war die Antwort schon komplizierter. »Na ja…«, begann sie. Alle warteten darauf, dass sie weitersprach, doch Stephie wurde an den chinesischen Granatenhagel erinnert. Sanders war ein Arm aus der Schulter gerissen worden, und er hatte einen Unterschenkel verloren. Dennoch war er durch das bereits in Flammen stehende Haus gekrochen, aber die Explosionen und der Großbrand hatten das Haus völlig zerstört. »Tot«, antwortete sie schließlich mit lebloser Stimme. Dann war Peter Scott an der Reihe. »Ebenfalls tot«, antwortete Stephie bestimmt. Schließlich fragte jemand nach Staff Sergeant Kurth. »Auch tot«, antwortete Ackerman. »Verdammt«, meldete sich jemand. »Ich hätte nie gedacht, dass irgendjemand das Arschloch erledigen könnte.« Von Stephies ursprünglicher Squad waren jetzt noch drei Leute übrig – sie selbst, John und Corporal Johnson, der neue Squad-Führer. Außerdem gehörten Animal und die ewig nörgelnde Becky dazu. »Ich bin Commo des Platoons!«, quengelte Becky, doch Ackerman antwortete nicht einmal. Stephie schlug die Hände vors Gesicht und legte ihren Kopf dann auf die angezogenen Knie. Neben ihr setzte sich John Burns auf den Boden, und sie spürte seine Körperwärme. Ohne die Hände von ihrem Gesicht zu nehmen, legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Außer John fiel niemandem auf, dass ihr Brustkorb zuckte und dass sie stoßweise atmete. Eine Hälfte der Überlebenden weinte genauso wie Stephie, die andere Hälfte – wie John und ihr Platoon-Führer – starrten unbewegt ins Leere. »Alles in Ordnung?«, fragte John. »Mir geht’s gut«, ertönte die durch Stephies Hände gedämpfte Antwort. »Siehst du denn nicht, dass es mir gut geht?«, fragte sie schluchzend. John versuchte, ihr die Hände vom Gesicht zu ziehen, doch Stephie ließ es nicht zu. »Ist doch ganz normal, wenn man um seine Freunde trauert und unglücklich ist, Stephie«, sagte er. Stephie nahm die Hände herunter. »Ich bin nicht traurig, sondern wütend!«, schrie sie. »Wenn ich wütend bin, heule ich, okay?« Jetzt traf der erschütterte Kommandeur der Kompanie ein, seltsamerwei187
se ohne Helm. »Packt eure Sachen zusammen«, verkündete er. »Wie ziehen uns zurück.« Atlanta war an die Chinesen gefallen.
Bessemer, Alabama 29. September, 2130 Uhr Ortszeit Mit der ersten abendlichen Kühle wurde die Luft angenehm und das Atmen wieder erträglich. Die Hügel waren nicht hoch, aber für Jim Harts Scharfschützengewehr Kaliber 50 hoch genug. Zwar war er einen Kilometer von seinem Ziel entfernt, doch trotzdem hatte er durch sein Digitalvisier, das auch bei Bewegungen der Waffe ein nicht verwackeltes Bild garantierte, einen perfekten Blick auf die sich in der Ferne ausruhenden chinesischen Soldaten. Wenn das Gewehr im vollautomatischen Betrieb feuerte, lieferte das Digitalvisier trotz der zuckenden Waffe ein brauchbares, ruhiges Bild. Bei einem Gewicht von knapp zehn Kilogramm – den standfesten Zweifuß eingerechnet – galt das Gewehr als »leicht«, aber eben nur im Verhältnis zu dem unter der höllischen Waffe befestigten Kastenmagazin, das fünfzig jeweils fast fünfzehn Zentimeter lange, daumendicke Patronen enthielt. Sein M-16 hatte Hart in der Waffentasche verstaut, mit deren Inhalt ein Platoon einen ganzen Monat lang hätte kämpfen können. Aber wie lange würde der Krieg für Hart dauern? Wie lange war sein Überleben wahrscheinlich? Nicht, dass er bis jetzt zu viel gekämpft hatte. Vor dem Krieg hatte er den Befehl erhalten, sich eine Woche lang versteckt zu halten und die erste Welle von feindlichen Truppen passieren zu lassen. Daran hatte er sich auch gehalten. Wie erwartet, war seine persönliche Lage unsicherer geworden, aber mittlerweile hatte er zwei frustrierende Tage lang unter seiner jede Wärme nach innen reflektierenden Infrarot-Schutzdecke gelegen und darauf gewartet, dass eine »Ratte« vorbeikam und sich den Käse holte. Jetzt überprüfte er die »Ratten« erneut. Die Chinesen rauchten Zigaretten, und zwar an der einzigen Tankstelle des ganzen County, deren Treibstofftanks randvoll mit Benzin zurückgelassen worden waren. 188
»Warum wundern sie sich nicht, dass die Tanks voll sind?«, murmelte Hart vor sich hin. Seine geflüsterten Monologe waren ein Luxus, den er sich zu gestatten wagte. Trotzdem benutzte er seine Stimmbänder nur einige wenige Male am Tag. Hier Disziplin zu wahren – sich endlose Tage lang still und ruhig verhalten zu müssen –, das war der schwierige Teil seines Jobs. Doch jetzt war er bereit, den einfachen Part zu erledigen. Denn es war einfach, ohne jeden Kontakt zu einer höheren Befehlsstelle zu operieren. Vor drei Jahren hatte man Hart in die Wüste Sinai geschickt, von wo aus er sechsmal am Tag – alle vier Stunden – Berichte nach Washington übermittelte. Er zeichnete seine Nachrichten auf, verschlüsselte sie und verschickte sie über einen kommerziell genutzten Satelliten. Dann legte er sich schlafen. Diese Übung ging ihm total auf die Nerven. Zwei Wochen lang beobachtete er dieselbe Straße, nur gab es leider nichts Mitteilenswertes zu berichten. Er hätte seine Batterien auch für die letzte Nachricht schonen können. »Panzer, Gesamtzahl unbekannt, aber mehr als sechzig. Wahrscheinlich eine chinesische Panzerdivision, in nördlicher Richtung unterwegs.« Sein Rückzugsbefehl traf erst spät über Satellit ein. Vier Stunden später flüchtete er in einem superschnellen Schlauchboot über den Golf von Suez. Da kein Kampfeinsatz vorgesehen war, schleppte er statt schwerer Waffen ein Satellitentelefon und eine Videokamera mit einem Teleobjektiv. Seine Digitalbilder wurden in Echtzeit nach ganz oben übermittelt. Nachdem Hart wieder in die Heimat zurückgekehrt war, erzählte man ihm, dass selbst Präsident Peller sich die Videoaufzeichnungen angeschaut habe. Heimat, dachte Hart. Jetzt war er in seinem eigenen Land, aber er konnte nicht einmal Kontakt mit Washington aufnehmen. Zwar gab es hier ein paar verbuddelte Glasfaserkabel, doch er traute ihnen nicht, da sie auch von anderen Männern benutzt wurden, die in der Gegend arbeiteten. Instinktiv misstraute Hart allem, was auch andere nutzten. Wenn ein Mann lebend von den Chinesen gefangen genommen wurde, war er zu allem – wirklich zu allem – in der Lage. Vor dem Krieg, während einer Feldübung, hatte er die Verbindung getestet. Die Glasfaserkabel lagen versteckt in einer Mulde unter Steinen, gar nicht weit von hier. Damals fragte ihn die Frau vom Pentagon nach dem Zugangscode, der speziell für den Test ausgegeben worden war. Dann kam die nächste Frage: »Mit wem möchten Sie reden?« Auf die Frage war er 189
nicht vorbereitet, und Hart lachte. Schließlich nannte er der Frau die einzige Nummer, die ihm auf die Schnelle einfiel. Es klickte ein paarmal, und schon war er mit seiner Heimatstadt Lansing in Michigan verbunden. Damals hatte sich mit verschlafener Stimme seine Exfrau gemeldet, und Hart hatte wortlos aufgelegt. Angesichts der Erinnerungen überkam ihn eine Woge von Traurigkeit. »Ich bin ein Idiot«, murmelte er leise vor sich hin, doch dann wiederholte er den Satz im schleppenden Tonfall des amerikanischen Südens. Drei Monate lang hatte er damit verbracht, sich diesen Akzent anzueignen. Sein unbeholfenes Arabisch war besser als sein amerikanisches Englisch, wie es hier im Süden gesprochen wurde. Schwierig war vor allem die Betonung und die Aussprache der Diphtonge. Aber er war sicher, dass er für die Chinesen hier nur aus einem Grund fehl am Platze war: Er war ein Mann im wehrfähigen Alter. »Fast schon drüber«, sagte er zu sich selbst. Zur Army war er erst spät gekommen. Als er vierundzwanzig Jahre alt war, hatte ihn seine Frau wegen einem anderen Mann verlassen, und danach erschien ihm Lansing zu klein. Nach wie vor suchte seine Frau dieselben Orte auf wie zu der Zeit, als sie noch zusammen waren, nur eben jetzt mit ihrem neuen Ehemann, Harts früherem Chef. Hart hatte einen College-Abschluss und einen Job, der ihm nicht zusagte. Also ging er zur Army, deren Vergrößerung damals noch im Anfangsstadium steckte. »Vermutlich habe ich es kommen sehen«, brummte er zufrieden vor sich hin. In der Offiziersanwärterausbildung setzte er die Ellbogen ein. Da er nach dem College schon ein paar Jahre gearbeitet hatte, war er bereits disziplinierter als seine Kameraden, die alle Anfang zwanzig waren. Die Ausbildung bei den Luftlandetruppen und bei den Rangers war ein Kinderspiel. Mit siebenundzwanzig hatte Hart die heiß ersehnte Kommandierung zu den Green Berets. Die körperliche Schinderei war mörderisch gewesen, aber die mentale Strenge hatte einen therapeutischen Effekt. Auf dem Schießplatz stellte er sich wieder und wieder vor, seine Exfrau und ihren neuen Ehemann getötet zu haben. Bei Nahkampfübungen, die in engen, mit Sägemehl gefüllten Löchern stattfanden, wurde er gleich zweimal gewarnt, nicht zu weit zu gehen. »Sparen Sie sich das für die Chinesen auf«, sagte der Ausbilder, der ihn damals für ein Gespräch unter vier Augen beiseite nahm. 190
Jetzt war er ein einunddreißigjähriger, sehr jung aussehender, bestens ausgebildeter Killer, dem man den Auftrag zum Töten gegeben hatte. Als Hart das Gewehr hob und das Digitalvisier überprüfte, kam ihm die Waffe schwerer vor. »Scheiße!«, zischte er. Vor der Tankstelle fuhren gerade Lastwagen der chinesischen Armee vor. Ein paar Soldaten, die die vollen Treibstofftanks bewachten, winkten erst und salutierten dann vor den aus den Lastwagen kletternden Offizieren. Hart justierte den Lauf des Gewehrs ein bisschen. Ein LKW nach dem anderen bremste vor der Tankstelle. Fünf, sechs, sieben, zählte Hart stumm mit. Schließlich waren es fünfzehn Lastwagen. Er hob den Feldstecher, der zwar weniger leistungsstark als das Digitalvisier war, dafür aber ein breiteres Sichtfeld hatte. Auf der Straße schien sich ein ganzer Konvoi anzusammeln. Unter den Planen der Lastwagen konnte Hart die Rücken der Soldaten erkennen. Als er das ganze Ausmaß seiner Aufgabe zu begreifen begann, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Zwanzig bis dreißig Soldaten pro LKW, insgesamt zwanzig oder dreißig Lastwagen, summa summarum also vielleicht fünfhundert oder sechshundert Mann. Ein komplettes Infanteriebataillon. Das schrie geradezu nach einem Schlag aus der Luft, aber Luftangriffe waren hier keine Alternative. So tief in den von den Chinesen kontrollierten Luftraum konnte man nur eindringen, wenn man mindestens hundert Flugzeuge oder Raketen einsetzte. Außerdem hatte er sowieso keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme und konnte deshalb keinen Luftangriff anfordern. Dies hier war nicht die Art von Krieg, für die er ausgebildet worden war. Während Hart die drei Reservemagazine mit den Kaliber .50-Patronen aus seinem Rucksack zog, bekam er eine Gänsehaut. Überrascht musste er zur Kenntnis nehmen, dass seine Hand zitterte. Er legte die Magazine neben das vollautomatische Scharfschützengewehr. Damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen, er war bereit. Er hatte zweihundert der besten Patronen, die Amerikas Arsenal für Handfeuerwaffen zu bieten hatte, aber noch besser als die ihm zur Verfügung stehende Ausrüstung war die Planung der Aktion, die schon mehrere Monate vorher stattgefunden hatte. Jetzt musste er nur noch ein paar Minuten abwarten. Auf dem kleinen Bildschirm vor seinen Augen, der eine Diagonale von etwa sechs Zentimetern hatte, sah Hart die chinesischen Soldaten die Lippen bewegen, aber er hörte sie nicht. Jetzt stellte er das Digitalvisier so 191
ein, dass das Bild zwar etwas unschärfer wurde, dafür aber ein breiteres Blickfeld bot. Soldaten kämpften um einen guten Platz in einer Warteschlange. Monatelang hatte das Special Forces Command schmutzige Tricks ausgebrütet. Man hatte den Getränkeautomaten aufgefüllt und den Strom nicht abgestellt. Während die Fahrer ihre Lastwagen auftankten, warfen durstige Infanteristen amerikanische Münzen in den Automaten und schlürften gierig eiskalte Coca-Cola. Allein diese Menschentraube schien aus sechzig bis siebzig Soldaten zu bestehen. Hart schaltete die Stromversorgung seiner kleinen Schalttafel ein, mit der er die Sprengladung in die Luft gehen lassen würde. Zuerst war die LED-Anzeige bernsteinfarben, aber noch bevor er sich Sorgen um seine Batterien machen konnte, wurde das Licht grün. Er entfernte den Schutzdeckel von dem Schalter, zögerte dann aber. Mit bloßem Auge konnte er den Konvoi der Lastwagen kaum erkennen, weil sich zwischen ihm und der Straße ein flacher Hügel erhob. Aber er wusste, dass ein paar Soldaten an der Tankstelle Cola tranken. Andere machten Dehnübungen oder pinkelten neben ihren Lastwagen. Es hätte exakt einer der Konvois sein können, in denen auch Hart schon mehrfach mitgefahren war. Sogar die Witze der Soldaten konnte er sich vorstellen. Hart stellte sich nicht die Frage, ob er für eine gerechte Sache kämpfte oder ob er überhaupt das Recht hatte, eine solche Tat zu begehen. Er brauchte nur einen Augenblick, um die mehrere tausend Jahre alte Geschichte der Sozialisation und die Ächtung des Mords abzuschütteln. Dann drückte er fest mit dem Daumen auf den Knopf und hielt ihn eine volle Sekunde lang niedergedrückt. Eine pilzförmige, orangefarbene Wolke schoss über fünfzig Meter hoch in die Luft. Einen Augenblick lang hörte man nichts. Dann wurde Harts Gesicht von der Druckwelle erfasst. Schnell hob er das Gewehr und stemmte die Stiefel gegen einen halb in der Erde versunkenen Felsbrokken, neben dem er gezeltet hatte. Bei vollautomatischem Schnellfeuerbetrieb zuckte dieses Scharfschützengewehr seitlich, wie er es noch bei keiner anderen Waffe erlebt hatte. Aber der Rückschlag würde geradewegs Harts Schulter treffen, wo dicke Polster die Wucht der Stöße absorbieren würden. Seine gegen den Felsen gepressten Stiefel würden dafür sorgen, dass er festen Halt hatte. 192
Wo die Tanksäulen und die Gebäude gestanden hatten, sah er durch das Digitalvisier jetzt nichts als Flammen. Der Hügel und die Straße waren mit Dutzenden brennender Körper übersät. Hart bewegte den Lauf seines Gewehrs an der Reihe der Lastwagen entlang. Das erste halbe Dutzend war geschwärzt und brannte. Eine Spur brennenden Benzins zog sich an dem Konvoi entlang – auch dies einer der tödlichen Tricks, den sich das Special Forces Command ausgedacht hatte. Bis zu dem zehnten Fahrzeug sah Hart keinen sich bewegenden Chinesen mehr. Dort erblickte er ein paar Männer, die auf ihre brennende Kleidung einschlugen. Hart richtete das Scharfschützengewehr auf den letzten noch sichtbaren LKW, bevor der Hügel die Sicht behinderte. Es war ein glücklicher Zufall, dass der LKW gerade mit Mühe auf der engen, zweispurigen Straße zu wenden versuchte. Hart justierte das Digitalvisier so, dass das Fadenkreuz auf dem Motorblock ruhte. Das Scharfschützengewehr dröhnte, der Rückschlag traf den menschlichen Stoßdämpfer. Fast wäre ihm das Gewehr aus der Hand gerutscht. Bei diesem Feuerstoß hatte er in einer halben Sekunde nur fünf Schüsse abgegeben, aber als die Waffe wieder verstummt war, sah Hart durch den dünnen, aus seiner Waffe aufsteigenden Rauchfaden, dass aus dem deformierten Kühler das Lastwagens Flammen und Dampf schossen. Von der Windschutzscheibe war nichts mehr zu sehen, von dem Fahrer auch nicht. Jetzt rutschte der Wagen seitlich von dem Hügel ab, drehte sich noch einmal in der Luft und stürzte dann in den Abgrund. Ein paar Soldaten konnten sich noch von der Ladefläche retten, aber für die meisten war dies das Ende. »Mist!«, fluchte Hart. Eigentlich hatte er den Lastwagen für eine Straßensperre benutzen wollen. Er überzog den nächsten LKW mit einer Breitseite. Beide Vorderreifen waren platt. Soldaten strömten von den Ladeflächen, während mehrere Fahrer zu rangieren versuchten. Als drei Männer zwischen zwei Stoßstangen zermalmt wurden und er ihre Schreie hörte, zuckte Hart zusammen. Ein Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster, um nach hinten zu blicken. Hart nahm ihn ins Visier und holte ihm den Kopf von den Schultern. Da weiterhin der Rückwärtsgang eingelegt war, bedeutete dies für die drei Eingeklemmten das Ende. Für die anderen kam es durch Harts Waffe. Auf der Straße stiegen kleine Rauchwolken auf, und Augenblicke später 193
hörte Hart verdächtige Geräusche. Aber obwohl gelegentlich eine Kugel durch die Bäume pfiff oder gegen einen Felsen prallte, hatte er eigentlich nicht den Eindruck, dass er unter Beschuss geriet. Er ließ den Blick über die Straße schweifen und tötete ein paar Männer, die Raketenwerfer und Maschinengewehre in Stellung bringen wollten. Dann gab er nur noch einzelne, gezielte Schüsse auf die Offiziere und Unteroffiziere ab, die mit dem Leben dafür bezahlten, dass sie Ordnung in das Chaos zu bringen versuchten. Schließlich schaltete Hart wieder auf automatisches Feuer um und mähte die Männer nieder, die rennend vor dem brennenden Benzin zu flüchten versuchten. Kopflos und so massiert rannten die chinesischen Soldaten in den Kugelhagel, dass einige Projektile gelegentlich den Hintermann gleich mit erledigten. Manche kamen davon, aber etliche Soldaten starben an so entsetzlichen Wunden, dass der Rest nur noch Deckung suchte. Sie müssen jung und unerfahren sein, dachte Hart. Das irritierte ihn, aber der Zweifel hielt nicht lange genug an, um ihn von seiner Aufgabe abzulenken. Jetzt zielte er auf diejenigen, die auf den Hügel flüchteten. Er hatte leichtes Spiel – jeder Schuss tötete einen hilflosen Mann. Hin und wieder brachte es Hart nicht über sich, auf den Abzug zu drücken. Das Fadenkreuz ruhte auf dem breiten Rücken eines armen Kerls, der sich irgendwo an der Wand des Hügels festklammerte, aber er konnte nicht abdrückten und bewegte den Lauf weiter. Diese Hemmung entzog sich jeder Erklärung. Er tötete vier oder fünf Menschen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, doch dann schien der Abzug wie eingerostet zu sein, und er verschonte ein Opfer. Gelegentlich hatte er denselben Mann dann später wieder im Visier, und diesmal tötete er ihn ohne jeden Skrupel. Die Beliebigkeit, mit der er mordete, verstörte ihn. Dennoch legte er eine Feuerpause nur dann ein, wenn er das Magazin wechseln oder die Waffe abkühlen lassen musste. Eine große Anzahl Männer kauerte in einem flachen Straßengraben hinter den Lastwagen. Doch auch das sollte nicht von langer Dauer sein. Als Zielscheiben boten sich Hart nur ihre Helme und Schultern an, doch bald rann das langsam fließende, brennende Benzin auch in den Graben. Lastwagen für Lastwagen mussten die Männer die Flucht ergreifen, und Hart schaltete wieder auf automatisches Feuer um. 194
Fest den Pistolengriff umklammernd, orientierte er sich so exakt wie möglich am Verlauf der Straße. Die davonrennenden Männer wurden in Stücke gerissen. Er leerte ein komplettes Magazin, und als das Benzin schließlich verbrannt war, konzentrierte er sich auf die Männer, die es vorgezogen hatten, allein oder in Zweiergruppen auf der Straße zu bleiben. Noch effizientere und gezielte Schüsse erledigten sie, und dennoch verschwendete Hart dazwischen keinerlei Zeit. Die Flugbahnen der Kugeln waren so perfekt, dass er immer sofort abdrückte, wenn sein Digitalvisier über einen Körper glitt. Eine halbe Sekunde später war der Mann tot. Hart leerte das dritte Magazin und begann mit dem vierten und letzten. Da er alle anderthalb Sekunden einen Schuss abfeuerte, waren die fünfzig Patronen nach einer guten Minute verbraucht. Dort, wo einst die Tankstelle am Straßenrand gestanden hatte, stiegen aus den geschwärzten Trümmern noch immer Flammen auf. Dutzende Lastwagen hatten Einschusslöcher mit einem Durchmesser von fünf Zentimetern, hinter denen sich völlig zerstörte Motorblocks befanden. Zwar war Hart mittlerweile die Munition ausgegangen, dennoch riskierte es kaum ein chinesischer Soldat, sich zu bewegen. Hunderte mussten unverletzt überlebt haben. Wahrscheinlich glaubten sie, dass Hart nur nachlud und ihnen bald wieder die Augäpfel aus den Höhlen schießen würde. Sie hatten überlebt, nur hatten sie es bis jetzt noch gar nicht richtig begriffen. Zischende Geräusche auf dem Hügel über ihm erinnerten Hart wieder an drohende Gefahren. Er ließ den Blick über den Himmel schweifen und sah drei kleine Raketen durch das Tal rasen, die kurz darauf drei in Baumhöhe fliegende chinesische Helikopter trafen. Die Kampfhubschrauber krachten gleichzeitig auf den Talboden, als hätte sich jemand eine von einem Feuerwerk gekrönte Choreographie ausgedacht. Jetzt waren nur noch drei Raketen in den Röhren des vorher in Stellung gebrachten Raketenwerfers. Bald würden in immer größerer Zahl weitere chinesische Kampfhubschrauber eintreffen, und Hart begann hastig seine Ausrüstung zu verstauen. Jetzt war Geschwindigkeit alles. Der festgenagelte Kommandeur des chinesischen Infanteriebataillons würde bestimmt schon am Funkgerät hängen. Hart ließ seine dünne, durch die Mylar-Beschichtung die Wärme absorbierende Plane zurück. Davon hatte er noch ein Dutzend in Reserve. Auf 195
dem Kamm des hinter ihm liegenden Hügels kniete er sich hin, um auf die Uhr zu blicken. Die gesamte. Aktion hatte keine zehn Minuten gedauert, aber er ging von über zweihundert toten Chinesen aus. Obwohl dies ein unerwarteter, von nur einem Mann errungener Sieg war, fühlte er sich auf eine seltsame Weise deprimiert. Weißes Haus, Lageraum 3. Oktober, 7 00 Uhr Ortszeit Als Präsident Baker den verdunkelten Lageraum betrat, der in einem fünfzig Meter unter dem Weißen Haus gelegenen Bunker untergebracht war, verstummten sofort alle Gespräche. Wie üblich nahm er am Kopf des Tischs Platz. Sein Mangel an Selbstvertrauen war so groß, dass er sich an einen Schauspieler mit Lampenfieber erinnert fühlte. Ohne dass es einen besonderen Grund dafür gegeben hätte, war er nervös, aufgeregt und extrem wachsam. Lässige Grüße interpretierte er als Anzeichen für Loyalität oder Verrat. Suchte jemand Blickkontakt, war das ein Signal, dass der Betreffende bis zum bitteren Ende zu ihm halten würde, wich jemand seinem Blick aus, hieß das in Bakers Augen, dass er sich gegen den gescheiterten Präsidenten richten würde, der das Land an den Rand des Abgrunds geführt hatte. »Guten Morgen, Mr President«, sagte Cotler, der Baker offen anblickte. Die Ringe unter den verquollenen Augen des Generals waren so dunkel, dass er wie ein Boxer nach einem Kampf wirkte. Als sich die Augen von Freund und Feind auf ihn richteten, bekam Baker vor Panik eine Gänsehaut. »Aus Atlanta sind die letzten Einheiten zurückgezogen worden, Sir«, verkündete Cotler mit Grabesstimme. »Die 218 th Infantry Brigade hat die Interstate 95 lange genug offen gehalten, damit das IV. Corps einen geordneten Rückzug nach Charleston und Columbia in North Carolina durchführen konnte. Aber jetzt ist die 218 th Infantry Brigade in Savannah eingekesselt. Dreitausendsiebenhundert ihrer Soldaten sind getötet oder verwundet worden, das macht eine Ausfallquote von dreiunddreißig Prozent. Sie und die Miliz von Savannah haben sich um die Stadt herum in Schützengräben verschanzt. Jetzt wartet der Kommandeur der Brigade auf Ihre Befehle, Sir.« Baker öffnete schon den Mund, schloss ihn aber wieder, weil er schluk196
ken musste. Dann räusperte er sich. Irgendein nicht zu sehender, aber aufmerksamer Techniker, der die Ausführungen des Generals als Stichwort genommen hatte, überspielte wackelige Videobilder auf die Bildschirme hinter Cotlers Kopf. Grelle gelbe Schaufelbagger und Bulldozer errichten um die Stadt herum Panzersperren. Wenn im Hintergrund automatische Artilleriegeschütze feuerten, wackelte die Kamera gelegentlich. In der Ferne kündete schwarzer Rauch vom Vorrücken des Feindes. In einem mitgenommen klingenden, hölzernen Tonfall erteilte Baker seinen Befehl. »Solange sie noch über akzeptable Mittel verfügen, um Widerstand zu leisten, sollen sie weiterkämpfen.« Allmählich wurden diese Befehle zu Bills Mantra. Cotler nickte. Die Männer und Frauen in Savannah würden an dem Standard gemessen werden, der von den Marines und den Marinesoldaten in Guantanamo Bay gesetzt worden war. In der Öffentlichkeit nannte man das »Kämpfen bis zum Tod«. Plötzlich wurde Baker von Atemnot gepackt. Er atmete ein, aber die Luft blieb in seiner Brust stecken, und er musste ein zweites und drittes Mal inhalieren, bis seine Lungen mit Sauerstoff gefüllt waren. Nach dieser Anstrengung wichen noch mehr Augen seinem Blick aus. Nun meldete sich die Vizepräsidentin zu Wort, die ihre Unterlagen konsultierte. »Dann hat sich also das IV. Corps – abzüglich der 218th Infantry Brigade, die eine separate Einheit ist – mit heiler Haut aus Florida zurückziehen können.« Elizabeth Sobo machte sich eine Notiz, da sie selbst Buch führte, wobei die Einträge die Zahl der Überlebenden festhielten. Oder vielleicht doch die der Toten?, fragte sich Baker. »Wie sieht’s mit dem VII. Corps aus?«, fragte die Vizepräsidentin. Alle Köpfe wirbelten zu General Cotler herum. Wahrend der ersten Woche der Kämpfe hatte das VII. Corps die Hauptlast getragen. Von den Medien wurden dessen Soldaten als »menschliche Verkehrs-Leitkegel« bezeichnet, nach den orangefarbenen Leitkegeln, mit denen Highways abgesperrt wurden. Näher als bis zu solchen Absperrungen wurden Journalisten nicht an das Kriegsgeschehen herangelassen, sodass diese der übliche Vorposten für die Moderatoren der Fernsehsender waren. Bill Baker kochte vor Wut, suggerierte dieses Bild doch die bittere Vorstellung, dass sie sich von den chinesischen Panzern widerstandslos in den Boden rammen ließen. Cotler blickte nicht auf, während er aus seinen Unterlagen vorlas. »Als 197
die 3rd Armored Division sich vom Gefechtsfeld zurückgezogen hat, verfügte sie noch über zweiundsechzig funktionstüchtige Panzer und über ungefähr fünftausend einsatzfähige Soldaten. Die 6th Infanterie hatte noch ungefähr zwanzig Panzer und siebentausend Soldaten und Soldatinnen. Aber beide sind völlig desorganisiert und auseinander gebrochen. Bis sie sich reorganisiert haben, werden Monate vergehen.« »So viel Zeit haben wir nicht«, meldete sich Hamilton Asher, der Direktor des FBI. »Entschuldigung?«, antwortete Baker entrüstet. »Dies ist ein Treffen meines Nationalen Sicherheitsrats. Sollte ich Fragen hinsichtlich der inländischen Spionageabwehr haben, melde ich mich bei Ihnen.« Asher sagte nichts, und Baker wandte sich wieder dem General zu. »Was ist mit dem Rest des VII. Corps?« »Tut mir Leid, Sir, da sieht’s nicht sehr gut aus«, antwortete Cotler. Das war eine kalte Dusche für Bill. »Die 29 th Infantry Division – eine Einheit der Nationalgarde, die der Army unterstellt ist – hat entlang der Interstate 16 die Absicherung übernommen. Während der letzten Tage wurde ihre Linie von den Chinesen durchbrochen. Um sie wieder zu schließen, waren ein paar ziemlich… schlimme Gegenangriffe erforderlich.« Damit meinte Cotler offensichtlich, dass es hohe Verluste gegeben hatte. »Während der letzten Nacht haben die Chinesen sechs Divisionen mit frischen Soldaten gegen diese Linie anrennen lassen.« Cotler räusperte sich. »Es tut mir sehr Leid, Madame Vice President und Mr President, aber die 29th Infantry Division konnte die Stellung nicht halten. Die Linie wurde an einem halben Dutzend Orten durchbrochen und…« Bill wartete ab, doch Cotler führte seinen Satz nicht zu Ende. »Wie viele von der 29th Infantry Division werden den Rückweg zum Savannah River schaffen?« Er wartete und wartete. Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs wühlte in seinen Papieren herum, obwohl offensichtlich war, dass er dort keine Antwort finden würde. Schließlich legte Admiral Thornton eine Hand auf Cotlers Unterarm. »Alles in Ordnung, General?«, fragte Bill. Cotler räusperte sich. »Entschuldigen Sie, Mr President, aber ich habe einen sehr lieben Verwandt… Ich… Mein Enkel, mein einziger Enkel, ist Platoon-Führer bei der 29 th Infantry Division, Sir. Ich entschuldige mich noch einmal.« Bevor Bill auch nur den Mund öffnen konnte, redete der 198
General schon weiter. »Von der 29th Infantry Division wird insgesamt keine größere Einheit als eine von Bataillonsstärke den Rückweg nach Savannah schaffen. Ein paar Kompanien und Platoons, meistens nur Squads mit ein paar Soldaten.« »Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Enkel haben, General Cotler«, sagte Bill schließlich. »Einen Enkel, der beim Militär ist«, fügte er schnell hinzu. »In der 29th Infantry Division. Hoffentlich geht es ihm gut. Haben Sie…« Plötzlich ließ ihn irgendetwas innehalten. »Er ist tot, Sir«, sagte Cotler. »Mein Gott«, murmelte Bill. »General Cotler… Adam… ich spreche Ihnen mein aufrichtigstes und tiefstes Mitgefühl aus.« »Danke, Mr President«, sah sich der General zu antworten genötigt. Obwohl Cotlers Gesichtsausdruck keinerlei Gefühlsregung verriet, schien es Bill, als flehte er ihn an, das Thema zu wechseln. Offensichtlich interpretierten andere seine Miene genauso. Bob Moore, Bakers Verteidigungsminister, versuchte, Cotler die Situation mit einer einfachen Frage zu erleichtern. »Werden wir das VII. Corps als nicht einsatzfähig erklären?« »Ja, Sir«, sagte Cotler. Jetzt übernahm Verteidigungsminister Moore die Initiative. »Seit sie im Besitz von drei funktionstüchtigen Häfen sind – Mobile und nun auch Gulfport und Biloxi –, haben es die Chinesen geschafft, zweieinhalb Millionen Soldaten an Land zu bringen. Die Hälfte davon befindet sich auf den Straßen von Nordgeorgia und rückt an der Ostküste vor. Wenn sie den Savannah erreichen, werden sie unseren Soldaten zahlenmäßig im Verhältnis von zehn zu eins oder noch mehr überlegen sein. Aus diesem Grund haben wir die Straßenverbindungen abgeschnitten, die vom Savannah in Richtung Norden zu unserer nächsten, etwa sechzig Meilen entfernten Verteidigungslinie an den Flüssen Santee und Saluda verlaufen.« »Dann haben wir die Niederlage am Savannah in unseren Planungen also bereits einkalkuliert?«, fragte Bill, der sich sofort wegen seines hämischen Tonfalls schämte. Statt sich wie ein Staatsmann zu verhalten, hatte er billigem Spott den Vorzug gegeben. Moore ignorierte die Bemerkung, wodurch Baker sich nur noch schlechter fühlte. »Aktuelle Schätzungen«, schaltete sich jetzt Cotler wieder ein, »sehen 199
die Chinesen in sechs bis zehn Tagen entlang der Interstate 26 an den Flüssen Santee und Saluda, wobei der genaue Zeitpunkt davon abhängt, wie lange wir versuchen werden, uns am Savannah zu halten. Wenn wir gegen Ende der Schlacht zu lange warten, Sir, nämlich bis zu einem Zeitpunkt, an dem die Linie schon löchrig zu werden beginnt, dann wird ein geordneter Rückzug sehr viel schwieriger, und wir werden mehr Einheiten verlieren. Dasselbe ist der 29th Infantry Division an der Linie SavannahMacon passiert. Sollten die Chinesen den Savannah überqueren, bevor wir mit dem Rückzug begonnen haben, wird der Zusammenhalt der Einheiten schwierig bis unmöglich werden. Einheiten werden überholt und als Ganze gefangen genommen werden. Die Straßen, die wir gerade bauen, werden dazu beitragen, dass diese Einheiten sicher zurückkommen. Dann werden wir sie so gründlich wie möglich wieder zerstören.« Baker nickte zustimmend. »Das VIII. Corps steht am Savannah«, fuhr Cotler fort. Sein monotoner Tonfall rief allen den großen Verlust in Erinnerung, den er erlitten hatte. »Am nordwestlichen Ende – am Hartwell Lake und der Interstate 85 – befindet sich die 40th Infantry Division, eine Einheit der Nationalgarde, die der Army unterstellt ist. Links davon – in der Nähe von Columbia – blokkiert die 37th Infantry Division, ebenfalls eine Einheit der Nationalgarde, die Interstate 20. Und wiederum links davon steht die 41th Infantry Division, die natürlich eine reguläre Einheit der Army ist.« Baker fiel das Wörtchen »natürlich« auf. Alle Anwesenden wussten, dass in der ansonsten nicht bemerkenswerten, neu formierten 41th Infantry Division die Tochter des Präsidenten diente. »Und schließlich«, fuhr Cotler fort, »haben wir die Reserve des VIII. Corps’ – die 31 th Armored Brigade Separate – eingesetzt, um die Lücke zwischen der 41th Infantry Division und den chinesischen Belagerungstruppen um Charleston herum zu schließen. Außerdem sollen sie die Interstate 95 blockieren.« Baker ruckte. Er musste die Zähne zusammenbeißen, um sich Fragen über Stephies Einheit zu verkneifen. Aber Elizabeth Sobo hakte nach. »Wurde dem VIII. Corps in Atlanta nicht ein ziemlich harter Schlag versetzt?« »Ja, Ma’am«, antwortete Cotler. »Einige Bataillone der 37th und der 41th Infantry Division mussten schwere Verluste hinnehmen. Aber andere 200
Einheiten konnten sich unversehrt zurückziehen. Die Einheiten mit den schlimmsten Verlusten werden durch Ersatzleute verstärkt.« Die Einheiten mit den schlimmsten Verlusten, dachte Baker. Zum Beispiel Stephies Einheit. Cotler hatte ihm Einzelheiten über das blutige und bisher einzige Feuergefecht seiner Tochter in den Außenbezirken Atlantas mitgeteilt. Die »Auseinandersetzung«, so der General, habe zwar keine fünf Minuten gedauert, aber das Platoon habe fast fünfzig Prozent Verluste hinnehmen müssen. Nach dem Gespräch hatte Bill Stephies Mutter angerufen. Er war auf das Schlimmste gefasst, doch Rachel verhielt sich ruhig und nicht mehr so aggressiv wie beim letzten Mal. »Bitte, Bill…«, flehte sie am Ende ihres Telefonats eindringlich, doch sie musste den Satz nicht beenden. Kurzzeitig war er versucht, Rachel von seinem Versuch zu erzählen, Stephie von einer Versetzung zur Nachhut zu überzeugen, aber eigentlich hatte er es gar nicht energisch versucht. Eher hatte er ihr nebenbei eine Alternative angeboten, und selbst das war ein Fehler gewesen. »… sind bei Chattanooga in Tennessee auf die 73th Infantry Brigade gestoßen.« dotier redete immer noch, und Bill versuchte, sich wieder auf die Sitzung zu konzentrieren. »Das Second und das III. Corps, die bislang in Bereitstellungsräumen in Tennessee standen, kämpfen jetzt in Kalifornien. Zwischen den Appalachen und dem Mississippi hindert das V. Corps die Chinesen daran, weiter nach Norden vorzudringen, aber es gerät unter merklichen Druck.« In Cotlers Jargon, das wusste Bill mittlerweile, war die Formulierung »merklicher Druck« nicht so bedrohlich wie der Ausdruck »schlimme« oder »harte« Kämpfe. »Zusätzlich deckt das V. Corps die erneute Stationierung von Truppen östlich und westlich der Waffendepots, die wir für die Operation Anvilhead bestückt haben.« Im weiteren Verlauf des Treffens überkam Bill eine wachsende Verzweiflung. Ganz Florida war aufgegeben worden, und dasselbe galt praktisch auch für Mississippi und Georgia, wo nur noch ein paar winzige Landstriche im äußersten Norden von den Amerikanern kontrolliert wurden. Bereits jetzt verlangten Politiker aus dem Süden lautstark ein Amtsenthebungsverfahren. Admiral Thornton wartete mit einer Warnung auf: Zwar würden die chinesischen Truppen auf Kuba durch die Blockade bei den Bahamas immer noch daran gehindert, direkt auf dem Seeweg die Ostküste der Vereinigten Staaten hinaufzufahren, aber sie konnten diese 201
Blockade über das offene Meer umgehen oder ihre Truppen wie bei der Invasion Kaliforniens über die große Distanz durchschleusen. Am letzten Wochenende hatten die Chinesen im Atlantik die Azoren unter ihre Kontrolle gebracht, wodurch sie nur noch weniger als halb so weit von den USA entfernt waren wie in den japanischen Häfen, von wo aus sie die Invasion der amerikanischen Westküste gestartet hatten. Jetzt bestand das Risiko, dass die Chinesen mit einer amphibischen Landung hinter die amerikanischen Verteidigungslinien gelangten. Bill bezweifelte die Effektivität der Verteidigungskräfte in diesem rückwärtigen Raum. Laut Cotler hatte sich die 157 th Mechanized Infantry Brigade um die Marinewerft von Philadelphia herum verschanzt. Bill befahl dem XII. Corps, den Atlantikwall zwischen Boston und Philadelphia zu bewachen, und das XI. Corps erhielt den Auftrag, von Washington D.C. bis zum Rückraum der Frontlinien die Küste zu verteidigen. Im Gegensatz zum Golf von Mexiko würden die Strände der Atlantikküste auf jeden Fall verteidigt werden. Dem weiteren Verlauf der Sitzung folgte Bill nur noch mit halbem Ohr, weil er verzweifelt nach einer ganz andersartigen Lösung des Problems suchte. Ihm fiel allerdings nur die Idee ein, mit den chinesischen Zivilisten eine Allianz gegen das chinesische Militär zu schmieden, und auf diesem Weg erinnerte er sich auch wieder an Clarissa Leffler, die diesen Vorschlag seinerzeit zuerst gemacht hatte. Baker winkte den Außenminister zum Kopfende des Tisches. Obwohl der Präsident in seinem Stuhl herumwirbelte, ging die Sitzung routinemäßig weiter. »Art, ich würde mir gern die Möglichkeit offen halten«, flüsterte Baker dem Außenminister zu, »irgendwie die ernsthaften Spannungen zwischen den chinesischen Militärs und der Zivilregierung auszunutzen.« Dodd nickte begeistert. Er war dankbar, dass sein Ministerium vielleicht an einer denkbaren diplomatischen Alternative mitarbeiten konnte. »Mir wäre es lieb, wenn die Chefin Ihrer China-Abteilung mich regelmäßig über die dortigen politischen Verhältnisse auf dem Laufenden halten könnte«, sagte Bill eher beiläufig. Hört sich ganz so an, als würde ich wie nebenbei nach dieser Clarissa Wie-hieß-sienoch-mal fragen, dachte er. Art Dodd warf Bill einen spöttischen Blick zu. »Meinen Sie Clarissa Leffler?« Bill schämte sich seines schülerhaften Versuchs, mit dem er zu kaschie202
ren versucht hatte, dass er mehr als nur ein oberflächliches Interesse an Clarissa hatte. Tatsächlich ging sie ihm ständig durch den Kopf. »Ich möchte, dass sie uns auf den aktuellen Stand bringt«, wies er Clarissa Lefflers Chef an. Art Dodd nickte und ging dann kommentarlos zu seinem Platz zurück. Am hinteren Ende des langen Konferenztischs überreichte ein Berater dem FBI-Direktor einen dicken Papierstapel, und Bill unterbrach die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats. »Darf ich fragen, was für Unterlagen das sind?«, fragte er gereizt. »Diese Angelegenheit würde ich lieber in einem kleineren Kreis erörtern«, antwortete Asher nach kurzem Zögern. »Einen kleineren Kreis als den Nationalen Sicherheitsrat gibt’s nicht«, antwortete Bill sarkastisch. Der Blick des FBI-Direktors verhärtete sich. Er stand auf, umrundete den Tisch und legte die Papiere direkt vor Bill. »Das ist ein Durchsuchungsbefehl und eine Vorladung unter Strafandrohung«, erklärte Asher. »Wir verfügen über glaubhafte Beweise, dass einer Ihrer Mitarbeiter fortlaufend den National Secrecy Act verletzt, was eventuell auch Kontakt zu den Chinesen einschließt.« Zähneknirschend und zunehmend verärgert überflog Bill die Papiere. Schließlich explodierte er vor Zorn. »Sie wollen im Weißen Haus die Telefone abhören lassen? Und Ihre Agenten sollen zu jeder Tag- und Nachtzeit freien Zugang haben?« Baker drückte auf einen Knopf, der ihn per Schnellwahl über ein Bildtelefon mit dem Justizministerium verband. Zuerst zeigte die Kamera nur einen leeren Stuhl, auf dem jedoch bald darauf Justizminister Gerald Pritchard Platz nahm. »Ich möchte, dass Sie und der ranghöchste Staatssekretär in Ihrem Ministerium den Supreme Court anrufen, damit er diesen gottverdammten National Secrecy Act als nicht verfassungsgemäß erklärt«, befahl Bill. »Also sorgen Sie dafür, dass Ihre Leute sich damit befassen! In der Zwischenzeit weisen Sie jede Regierungsbehörde darauf hin, dass die Befolgung dieses unrechtmäßigen Gesetzes kriminell ist!« Noch bevor Pritchard antworten konnte, stellte Bill per Knopfdruck die Verbindung zu seinem Finanzminister her, der erst einmal das Jackett anzog, als sich die Kamera auf ihn richtete. »Mit sofortiger Wirkung ordne ich hiermit an, dass kein FBI-Agent das Weiße Haus betreten darf! Aus203
nahmen werden nicht gemacht! Weisen Sie den Secret Service an, eine Liste aller gegenwärtigen und früheren FBI-Mitarbeiter zu erstellen und sie sofort des Grundstücks zu verweisen! Sämtliche Sicherheitsbeamte sind berechtigt, notfalls auch Gewalt anzuwenden.« Vor Überraschung bekam der Minister den Mund nicht mehr zu. »Entschiedene Gewalt«, präzisierte Bill, bevor er das Gespräch beendete. Hamilton Asher starrte Baker mit versteinertem Gesichtsausdruck an, doch der Präsident ließ seinen Blick schon wieder durch den Raum schweifen. Die Mienen der Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats verrieten ihm, dass sie sein Verhalten für eine Überreaktion hielten. Die können mich mal!, dachte Bill, bevor er sich wieder Asher vorknöpfte. »Und Sie verschwinden jetzt schleunigst aus dem Weißen Haus!« Bei der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats war eine Aufgabenteilung beschlossen worden. Eine Gruppe, deren inoffizielle Leiterin Elizabeth Sobo war, saß vor einem Videobildschirm, auf dem ein General über die verhältnismäßig günstigen Neuigkeiten von der Westküste berichtete. Das I Corps – wie eye, »Auge«, ausgesprochen – hatte in San Diego die chinesischen Invasoren eingekesselt. General Cotler schrieb diesen Erfolg der Navy zu. Admiral Thornton berichtete, dass die langen chinesischen Nachschublinien durch drei Dutzend Unterseeboote aus Pearl Harbor unterbrochen worden seien, die jeden Tag 1,2 Millionen Tonnen Schiffsraum versenkten. »Die Unterseeboot-Bunker in Pearl Harbor werden rund um die Uhr mit Raketen beschossen«, hörte Baker mit halbem Ohr, »aber bisher sind sie relativ glimpflich davongekommen.« Jetzt meldete sich der Kommandeur der Marines zu Wort, dessen sechzigtausend Marineinfanteristen umfassende III Marines Expeditionary Force – zu der auch die 1st Marine Expeditionary Brigade sowie die 3rd Marine Division gehörten – sich um Pearl Harbor herum verschanzt hatte. »Sie werden versuchen müssen, einzumarschieren und es einzunehmen.« Während seiner Inspektionstour auf Hawaii hatte Bill den Kommandeur der 3rd Marines kennen gelernt. Erfolg definierte der General damals so: »Wenn wir alle tot sind und die Chinesen den Strand halten, würde ich meinen Marines die Note ›gut‹ geben. Sollten wir alle tot sein, und die Chinesen halten den Strand nicht mehr, würde ich das als hervorragend ‹ bewerten.« 204
Am Ende des Tischs – Bill Baker gegenüber – diskutierten die Vizepräsidentin und die andere Hälfte des Nationalen Sicherheitsrats einen Krieg anderer Art. »Feuern Sie Asher!«, riet Justizminister Pritchard. »Nein!«, widersprach Frank Adams zu laut. »Asher zu feuern wäre politischer Selbstmord! Auf dem Capitol Hill genießt er starke Rückendeckung! Um Himmels willen, beide Parteien würden uns gemeinsam vor Untersuchungsausschüsse zerren, falls wir hier einen sicheren Hafen für chinesische Spione haben!« Die Bildschirme an den Wänden, die zuvor elektronische Karten gezeigt hatten, waren mittlerweile blau. Nun öffnete sich die Tür, und Clarissa Leffler trat ein. Ein Militärberater mit sehr kurz geschnittenen Haaren geleitete sie zu einem leeren Stuhl. Während die Gespräche um sie herum nur noch im Flüsterton weitergeführt wurden, nahm Clarissa Platz, zog Akten hervor und überflog noch hastig ihre Unterlagen, bevor der Präsident sie zu ihrer auf die Schnelle angefertigten Darstellung aufforderte. Die Juristen debattierten darüber, ob Bill Bakers Anfechtung des National Secrecy Act vor dem zuständigen Bezirksgericht in Washington verhandelt oder ob sofort der Supreme Court angerufen werden sollte. »Arbeiten Sie das aus«, befahl Bill. Dann widmete er sich Clarissas Vortrag. Eine einzige Haarsträhne ließ sich nicht durch die Haarnadel bändigen, die Bill jedes Mal studierte, wenn Clarissa sich umwandte, um die Fragen der Vizepräsidentin zu beantworten. Dir Hals war lang und genauso schmal wie ihre Schultern, die Bill damals bei dem Empfang vor dem Dinner bewundert hatte. »Ja, ich würde das als außergewöhnlichen Zufall bezeichnen«, bestätigte Clarissa. »Aber es gibt keine Möglichkeit, mit Sicherheit herauszufinden, ob der Handelsminister sich wirklich mit dem Verteidigungsminister getroffen hat. Wir wissen nur, dass Minister Han und General Liu Changxing beide einen Tag auf Bali waren und dass ihre Besuche augenscheinlich am gleichen Tag stattgefunden haben. Zieht man daraus die Schlussfolgerung, dass sie sich getroffen haben, so ist das eben nur eine hypothetische Annahme.« »Was würde es denn bedeuten, wenn sie sich getroffen hätten?«, fragte der Präsident. Die leise geführten Gespräche im Raum verstummten. Da sich jetzt der Präsident persönlich eingeschaltet hatte, war die Lagebesprechung mit der China-Expertin plötzlich von größerer Bedeutung. 205
»Soweit wir wissen«, antwortete Clarissa, »hat es seit Tel Aviv, als die Zivilregierung wieder die vollständige Kontrolle über die Atomwaffen übernommen hat, keine privaten Treffen zwischen der Troika der Zivilisten – dem Premierminister, dem Handelsminister und dem Chef der Staatssicherheit – und Verteidigungsminister Liu mehr gegeben. Seitdem sind beide Seiten auf einem politischen Kollisionskurs.« Bakers Sicherheitsberater fragte Clarissa, ob die Zivilisten ihrer Meinung nach gegen die chinesische Aggressionspolitik opponierten. »Nein, ihre Opposition richtet sich nur gegen die Militärs. In früheren Jahren haben die Zivilisten durch Zwang und Einschüchterung Länder zu Allianzen genötigt, deren Fläche fast die Hälfte von Chinas territorialen Gewinnen ausmacht.« Sie blickte dem Präsidenten in die Augen. »Der Handelsminister und sein Sohn, Han Zhemin, haben Bündnisse mit Laos, Malaysia, Indonesien, Pakistan, Irak und Kasachstan ausgehandelt. Ohne diese entscheidenden diplomatischen Coups wären Chinas militärische Siege unmöglich gewesen. Wie auch immer, nach Tel Aviv hat das Militär auf die Unterstützung der Zivilisten verzichtet – und ist am Bosporus stekken geblieben.« »Aber bei der Invasion unseres Landes waren sie erfolgreich«, bemerkte Elizabeth Sobo sarkastisch. »Aber sie haben uns nicht geschlagen«, antwortete Clarissa. Bill Baker konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nein, geschlagen haben sie uns nicht«, sagte er. »Aber Sie behaupten, dass das chinesische Militär noch sehr viel Furcht erregender agieren würde, wenn es nicht in Opposition zur Zivilregierung stünde, sondern sie auf seiner Seite hätte.« Baker blickte Art Dodd an, Clarissas Chef. »Ich stimme ihr zu. Unsere Politik sollte sich künftig an dem Ziel ausrichten, dass der Riss in der chinesischen Führung nicht etwa gekittet, sondern, wenn irgend möglich, noch verbreitert wird.« Der Außenminister nickte. Einen Augenblick später berührte die Spitze seines Stifts den Notizblock, aber er wusste offensichtlich nicht, was er schreiben sollte. Nur: Wie können wir die chinesische Politik beeinflussen?, fragte sich Bill Baker, der doch gerade noch eine so grandiose außenpolitische Richtlinie ausgegeben hatte. Da er nicht wusste, wie er sie in die Realität umsetzen konnte, begann er, auf den Karten in seinem Bunker imaginäre Armeen tun- und herzubewegen. Offensichtlich hatten fast alle anderen 206
Anwesenden denselben Gedanken, und sie vermieden den Blickkontakt zu Baker. Nur Clarissa Leffler wandte sich in diesem Augenblick nicht ab, sondern betrachtete Bill eingehend.
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2. KAPITEL
Mobile, Alabama 4. Oktober, 13 30 Uhr Ortszeit Der junge Leutnant Wu starrte auf den Briefkasten am Ende der Auffahrt. Ein paar nervöse Soldaten beäugten die anderen leeren Häuser am Sea Sprite Drive, von denen bisher noch keines überprüft worden war. Vom Golf von Mexiko mit seinen glänzenden blauen Wellen wehte ein heißer Wind. Die sich wiegenden hohen Gräser verdeckten den größten Teil des weißen Sandstrands. Das Haus war nichts Besonderes, tatsächlich sogar eher seltsam. Wie alle anderen der Wind und Wetter ausgesetzten Gebäude in dieser Gegend war es auf Pfeilern errichtet worden. Die dunklen Fensterscheiben waren mit Dreck verschmiert. Unter dem Feuerschutz eines Maschinengewehrs, das oben auf einem gepanzerten Kommandofahrzeug in seiner Drehbettung ruhte, ging Wu auf die Eingangstür zu, die natürlich verschlossen war. Die anderen Soldaten, die seine Absicht begriffen hatten, sicherten die vier Ecken des Grundstücks. Nachdem Wu um das Haus herumgegangen war, stand er auf dem offenen Einstellplatz im Schatten. Auch dort war die Tür verschlossen. Wu nickte dem Feldwebel zu, dessen Gesicht zum großen Teil durch eine unansehnliche, auf eine Brandwunde zurückgehende Narbe entstellt war. Obwohl höchstens zwanzig Jahre alt, war der Mann schon jetzt ein erfahrener alter Kämpfer. Als der Feldwebel die Schlösser aus der Tür schoss, zerrte der Krach, der in dem überdachten Raum laut nachhallte, an Wu’s Nerven. Auf den Schießplätzen der Militärakademie hatte er immer Ohrschützer getragen, und jetzt klingelten seine Ohren, die bisher noch nichts gewohnt waren. Nun ließ sich die zersplitterte Tür mühelos aufstoßen, und Wu trat ein. Der Feldwebel meinte, der Raum sei zu eng, als dass sich seine Männer neben Wu über die Treppe zwängen und das Haus im Voraus überprüfen 208
könnten, doch daran hatte Wu auch kein Interesse. Im Gegensatz zu seinem Vater war er kein Zivilist. Mit gezückter und geladener Waffe stieg er die Treppe hoch. Außerdem ist das Haus ja leer, dachte er. Oben angekommen, befand er sich in der Küche, die genau wie das Wohnzimmer keinerlei Anzeichen dafür verriet, dass sich hier kürzlich jemand aufgehalten hatte. Wu zog die große Jalousie hoch und sah ein Panoramafenster, durch das man einen großartigen Blick auf den schneeweißen Strand und den tiefblauen Golf von Mexiko hatte. Zwar hatten die mittlerweile eingetroffenen Soldaten ihre Gewehre gehoben, aber sie blickten sich gegenseitig an und kommentierten den famosen Ausblick und das wunderschöne Haus. Nachdem der Feldwebel sie mit einem lauten Befehl zur Räson gebracht hatte, verteilten sie sich, um den Rest des Hauses zu sichern. Wu seinerseits durchsuchte das Elternschlafzimmer, das große Bad, einen kleinen Wohnraum, der vielleicht als Arbeitszimmer gedient hatte, und schließlich ein kleines Schlafzimmer, an dessen Wänden dort, wo früher Poster gehangen hatten, noch Spuren von Klebestreifen zu erkennen waren. Das ist es, dachte er. Im Bad gab es eine Frisierkommode mit einem von Glühbirnen umrahmten, runden Spiegel. Er durchsuchte alle Schubladen, fand aber nichts außer ein paar Haarsträhnen, einigen Q-Tipps und Pflastern. Neugierig sahen die Soldaten zu, wie Wu sich auf die Knie fallen ließ und in die Wandschränke spähte. Auf dem Teppich entdeckte er einen Plastikkamm, mit dem Frauen ihr Haar hochstecken, und er ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. Dann schaute er in einen kleinen Nebenraum. »Kommt her und helft mir«, sagte er zu den Männern an der Tür. Einer ging in die Knie und verschränkte die Finger. Während ein anderer Soldat ihn von hinten stützte, trat Wu auf die »Räuberleiter«. Er wurde bis zur Höhe der oberen Regale in der Kammer gestemmt, und fast hätte er sich am Türrahmen den Kopf gestoßen. Unter ihm stritten sich flüsternd die Soldaten, wer für das eben noch vermiedene Malheur verantwortlich gewesen wäre. Wu griff nach der unter einer Staubschicht vergrabenen flachen Scheibe, die er auf dem Regal entdeckt hatte. Als er wieder auf dem Boden stand, blies er den Staub von der DVD, 209
auf der Space Marines, Teil 3: Invasion der Aliens stand. Und darunter, in kleineren Buchstaben: »Mit Bill Baker«. Wu kicherte, und auch die Soldaten lächelten, ohne zu wissen, warum. Wu steckte die DVD ein und verließ den Raum.
White Sands Missile Range 4. Oktober, 16 20 Uhr Ortszeit Als der kleine Militärhubschrauber mit einem dumpfen Geräusch aufsetzte, sah Bill Baker durch die Fenster nichts als aufgewirbelten Sand. Während der Rotor allmählich zum Stillstand kam, halfen Besatzungsmitglieder dem Präsidenten, die Gurte zu lösen. Die Tür öffnete sich, und man hörte die Geräusche des Windes und Befehle. »Da ist er!«, brüllte jemand. »Schiebt Bremsklötze unter die Räder!« Als Bill in den strahlenden Sonnenschein hinaustrat, flogen ihm kleine Sandkörner in die Augen. Er zuckte zusammen, zog den Kopf ein und wandte das Gesicht ab. Männer krochen unter den Helikopter, um vor und hinter den Reifen Bremsklötze aus Gummi zu platzierten. Mehrere Hände packten Bill und geleiteten ihn zu einem finsteren Schlund, dessen Zähne sich als Betontreppe entpuppten. Als er in die ruhigere Tiefe hinabstieg, knirschte der Sand unter seinen Schuhsohlen. Hier war von dem Wind nichts mehr zu spüren. Dann hörte er plötzlich Geräusche, und es wurde wieder hell. Ein Mann in einem Jumpsuit der Air Force, der mit der freien Hand salutierte, hielt eine Tür auf. Bill nickte ihm zu und betrat den riesigen Raum. In der unterirdischen Fabrik wurde er von donnerndem Applaus empfangen. Unter dem Geländer, an dem Baker stand, bereiteten klatschende Männer mit Schutzhelmen und Overalls in unterschiedlichen Farben dem Präsidenten einen begeisterten Empfang. Ein Mikrofon gab es nicht, aber hier brauchte man auch keines. Als die Tür hinter Bill ins Schloss fiel, wurden das Quietschen und das dumpfe Geräusch von allen Wänden laut hallend zurückgeworfen. Bill hatte kein fertiges Redemanuskript in der Tasche. Der Applaus ließ nach, und bald waren nur noch die bei einer aufgewühlten Menschenmen210
ge unvermeidlichen Geräusche zu hören. Trotz der ungewöhnlichen Umgebung fühlte Bill sich sofort zu Hause. »Ich weiß diesen herzlichen Empfang zu schätzen«, begann Bill mit dröhnender Stimme, während seine Hände eine ausladende Geste vollführten, die den ganzen Raum zu umfassen schien. »Diesen warmen Empfang in Ihrem kleinen Heim, das so weit entfernt ist von ihrem wirklichen Heim.« Die Zuhörer lächelten. Wo immer Bill auch hinblickte, in der an einen Bunker erinnernden Fabrikhalle war alles von rein funktionalen Gesichtspunkten bestimmt. Bunte Linien, farblich auf die Overalls der Arbeiter abgestimmt, verschwanden in runden Bohrlöchern in der Erde. In diesem bizarren, unterirdischen Land erinnerten die an den Decken angebrachten Schienen an einen auf den Kopf gestellten Bahnhof. Hier gab es nichts als Beton und Stahl – mit einer Ausnahme, die Bill sofort ins Auge stach: An einer nackten Wand hing eine große amerikanische Flagge. »Sie alle arbeiten hier«, fuhr Bill fort, während viele Augenpaare seinem Blick zu der Fahne folgten, »an einem großen Projekt, das vielleicht bald unsere bedrängte Nation retten könnte. Und wenn auch jetzt noch niemand etwas weiß von unserer großen, geheimen Mission, so werden doch eines Tages alle Ihre Arbeit zu würdigen wissen.« Wieder brandete Applaus auf, und diesmal schien er Bill besonders leidenschaftlich zu sein. Diese Menschen – Wissenschaftler, Ingenieure, Programmierer, Buchhalter und einfache Arbeiter – hatten vor über einem Jahr ihre Familie verlassen, als brächen sie zu einer langen Reise auf. Die Geheimhaltung und die Trennung von ihren Liebsten musste schwer auf ihren Herzen und Gemütern lasten. »Ich kann es gar nicht abwarten, die Resultate Ihrer Arbeit zu sehen.« Bill ging auf die Stahltreppe zu, stieg in die lärmende Menge hinab und schüttelte Dutzende von Händen. Bill spähte in eine Maschine, die insgesamt kleiner war, als er erwartet hatte, aber das Cockpit war größer als bei einem normalen Kampfflugzeug. »Dieser Joystick«, sagte der auf dem Schleudersitz thronende Pilot, »schaltet, basierend auf Luftdruck und Geschwindigkeit, automatisch von der Kontrolle der Querruder zu den einstellbaren Triebwerken um.« »Wie lässt sich die Maschine denn fliegen?«, fragte Bill den ChefTestpiloten im Rang eines Colonel. »Na ja, Sir, in der Atmosphäre würde ich lieber in einer F-26 sitzen«, 211
antwortete der Afroamerikaner mit einem freundlichen Lächeln. »Natürlich hatten wir bislang nur Abwürfe ohne Antrieb aus recht geringer Höhe. Meiner Ansicht nach gleitet die Maschine etwas besser als ein Shuttle.« »Kannten Sie den Piloten, der im letzten Monat ums Leben gekommen ist?«, fragte Bill und beantwortete seine unsinnige Frage selbst: »Was sage ich da, natürlich kannten Sie ihn.« Ohne Bill in die Augen zu blicken, gab der Pilot die Antwort, die ihm am meisten behagte: »Als die Maschine startete, war das Wetter schon bedenklich schlecht. Wir hatten Windböen von dreißig bis fünfundvierzig Meilen pro Stunde. Sie flogen etwa vier Stunden, bevor sie sich entschlossen abzubrechen. Trotzdem, es war ein entscheidender Test des Flügeleinstellungssystems, bei dem es darum ging, ob die Hydraulik den Flügel nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre in die ausgefahrene Position bringen kann.« Irgendwie wirkte sein Gesichtsausdruck unaufrichtig. »Die plausibelste Erklärung scheint zu sein, dass Doug versehentlich auf den Knopf gedrückt hat, mit dem im Notfall der Schleudersitz bedient wird.« In dem offiziellen Bericht hatte Bill etwas ganz anders gelesen. Die von General Latham mit der Untersuchung des Falls betrauten Leute waren zu der Schlussfolgerung gelangt, Major Douglas Crenshaw habe gegen die vom Flugplatz über Funk durchgegebenen Befehle hinsichtlich der Sicherheit verstoßen und den Testflug nicht rechtzeitig abgebrochen. Deshalb hatte Latham empfohlen, Crenshaw posthum durch ein Kriegsgericht verurteilen zu lassen. Doch Bill hatte dessen junger Witwe eine Medaille überreicht. »Ist die Sache mit dem Hydrauliksystem jetzt geregelt?«, fragte Bill den Colonel. »Vermutlich werde ich das nächste Woche in der Praxis überprüfen können«, antwortete der Pilot lächelnd. »Hatte der Wind irgendetwas mit dem Absturz zu tun?« »Nicht in der Hinsicht, dass die Hydraulik bei der Einstellung des Flügels versagt hätte«, antwortete der Colonel. »Aber es ging ein steifer, böiger Seitenwind, als Doug den Fallschirm zu öffnen versuchte.« »Meiner Ansicht nach sollte der Fallschirm doch bei hohen Geschwindigkeiten zu öffnen sein, falls das Kampfflugzeug im Gefecht getroffen werden sollte«, bemerkte Bill. 212
»Ja, Sir, bei hohen Geschwindigkeiten lässt er sich benutzen, nicht aber bei niedrigerer Flughöhe in der dichteren Atmosphäre.« Er blickte den Präsidenten an. »Außerdem kann ich im Namen aller Testpiloten sagen, dass niemand von uns mit diesem Fallschirm glücklich ist. Wir würden lieber versuchen, den Falcon, unabhängig vom Schaden durch Beschuss, herunterzubringen, als den Fallschirm öffnen zu müssen. Bei Doug muss der verdammte Schleudersitz irgendwie nicht in Ordnung gewesen sein«, sagte der Mann, bevor er sich entschuldigte. »Das alles ist bloß überflüssiges Gewicht, Sir. Mir wären mehr Treibstoff, mehr Sauerstoff und mehr Munition lieber.« Bill wandte sich dem Chefkonstrukteur des XF-36 Fighting Falcon zu, der sofort eine Verteidigungshaltung einnahm. »Mit dem Fallschirm ist es wie mit jedem anderen System in dem Flugzeug, Sir. Wir arbeiten an den technischen Schwächen, glauben aber, dass der Fallschirm ein entscheidendes Kriterium für die Sicherheit ist.« »Finden Sie nicht, dass Sie den Männern und Frauen, die diese Maschine fliegen werden, ein offenes Ohr schenken sollten?«, fragte Bill. »Schließlich sind sie diejenigen, die in diesen Kampfflugzeugen ins Gefecht fliegen und in diesem Ding angeschnallt sein werden.« Stirnrunzelnd wandte der Ingenieur den Blick ab. »Es gibt ein Team, das sich mit der Möglichkeit beschäftigt, auf das Fallschirm-Rettungssystem zu verzichten.« Bill nickte und richtete sich auf. Um das Flugzeug herum standen die Chefs der Abteilungen, die Tag und Nacht an dem Crash-Programm arbeiteten. Der kurze linke Flügel neben Bill war ausgefahren wie bei einem normalen Flugzeug, der Flügel auf der anderen Seite stand senkrecht und war nach vorn geklappt wie bei einem Raumschiff. Die reaktive Titanpanzerung an der Unterseite des Rumpfs würde die Maschine sicher durch den Schrapnellhagel der chinesischen Satellitenabwehrwaffen geleiten. Aber das Hauptverteidigungssystem des Flugzeugs war seine Manövrierfähigkeit. Die unlackierte zinnfarbene Flugzelle war mit Öffnungen von Steuerdüsen gespickt, und unter den beiden Seitenleitwerken am Heck ragten zwei riesige Hybridmaschinen-Abgasöffnungen der Hybridmaschinen hervor. Im Weltraum waren die Triebwerke mit Flüssigtreibstoff betriebene Raketenmotoren, während beim Flug in der Atmosphäre riesige Einflussöffnungen direkt unter dem Rumpf die Verbrennungsluft einsaug213
ten. Zusätzlich dienten diese Einflussöffnungen als Hitzeschild beim Wiedereintritt in die Atmosphäre. Wegen dieser vagen Ähnlichkeit mit der alten F-16, die zuletzt so genannt worden war, hatte man auch die XF-36 auf den Namen »Falcon« getauft. Aber mit dieser Einflussöffnung endete auch schon die Vergleichbarkeit der neuen Maschine mit früheren Kampfflugzeugen. Bei diesem ehrgeizigen Projekt ging es nicht darum, eine Testplattform für ein halbes Dutzend ultramoderner Technologien zu schaffen. Der Fighting Falcon sollte im Krieg eingesetzt werden, und zwar bald. »Wie lange wird es dauern, bis der Falcon einsatzfähig ist?«, fragte Bill die anwesenden Männer und Frauen. Der neben Bill stehende Chefkonstrukteur räusperte sich, rückte seine Brille zurecht und blickte sich dann um, weil er sich vergewissern wollte, ob außer ihm niemand antworten wollte. »Drei Jahre, Sir.« Bills Kopf wirbelte zu dem Mann herum. »Vielleicht auch nur zwei, wenn wir das Verfahren abkürzen.« Bill war aufgebracht. Zwei oder drei Jahre! So viel Zeit blieb ihnen nicht! Dieselbe Prognose hatte ihm derselbe Mann auch schon vor sechs Monaten verkündet. Damals war das Kampfflugzeug noch ein bloßes Metallskelett gewesen, das nur in groben Umrissen jener wunderbaren Maschine glich, die er jetzt vor sich hatte. Der Chef-Testpilot seufzte, aber er blickte dabei nicht etwa den Ingenieur an, sondern schaute auf die hell erleuchteten Regler und Armaturen in seinem Cockpit. Sein Seufzen, das in dem von völligem Schweigen erfüllten, unterirdischen Hangar noch lauter geklungen hatte, verriet dieselbe Enttäuschung, die auch Bill empfand. »Gibt’s noch irgendwelche anderen Schätzungen, wann dieses Flugzeug einsatzbereit sein wird?«, fragte Bill, während er den im Cockpit sitzenden Colonel anstarrte. Der hatte den Unterkiefer wütend vorgereckt und schaute seinerseits den Oberbefehlshaber mit einem funkelnden Blick an. Als Bill bemerkte, dass der Pilot noch zorniger war, fühlte er sich plötzlich etwas erleichtert. »Also?«, fragte er den schweigenden Colonel. »Wir befinden uns im Krieg, Sir«, antwortete der Pilot. »Ich bin bereit.« Ein Dutzend Experten in weißen Kitteln überboten sich in spontan geäußerten Einwänden, aber der Pilot brachte sie lautstark zum Schweigen. »Wir haben die notwendige Antriebskraft, die Leitsysteme und die Waffen!« 214
»Das XF-36-Projekt stellt den Bau der Arsenalschiffe in den Schatten, Mr President, zwar nicht im Hinblick auf die Größe und das Budget, aber in seiner Komplexität. Das einzige vergleichbare Programm in der Menschheitsgeschichte war das Manhattan Project, als es um die Entwicklung der Atombombe ging. Nachdem Sie den Beginn unseres Projekts autorisiert hatten, haben wir über zehn Millionen wichtige Probleme entdeckt, die wir lösen müssen. Es geht um Fragen der wissenschaftlichen Forschung, der Planung, der Konstruktion, der Tests und der Fehlerbeseitigung. Auf Ihren Befehl hin haben wir das Verfahren schon an allen nur erdenklichen Ecken und Enden abgekürzt und die Liste drastisch auf zwei Millionen Punkte reduziert, die einen entscheidenden Pfad vorgeben. Gegenwärtig arbeiten zweihundertfünfzig Zuliefererunternehmen und über einhunderttausend Ingenieure, Wissenschaftler und Arbeiter im ganzen Land an diesem Projekt mit. Nur zu Ihrer Information, Sir, wir haben gerade mal knapp die Hälfte dieser Probleme gelöst!« Mittlerweile war das Gesicht des Mannes rot angelaufen, und er schien sich einer Sache zunehmend sicher zu sein. »Wenn wir die Kampfflugzeuge jetzt in den Einsatz schicken«, fuhr er fort, »werden wir die Maschinen verlieren. Schon bevor sie ihren Sinn erfüllen, werden die Chinesen an Gegenwaffen arbeiten!« Bill sehnte sich danach, den Flug einer der Maschinen über China anzuordnen. Sie würde tausende Meilen oberhalb der maximalen Reichweite der gegenwärtigen chinesischen Satellitenabwehrwaffen fliegen und die technologische Überlegenheit Amerikas unter Beweis stellen, was dem Land und seiner kämpfenden Armee moralischen Auftrieb geben würde. Unter den wenigen in das Projekt Eingeweihten gab es einige, die diesen moralischen Auftrieb als den einzigen Sinn des Projekts ansahen. Aber Bill gehörte nicht zu diesen Leuten. Seine Hoffnungen waren größer, doch sie würden sich augenscheinlich erst Jahre später – in einer noch fernen Phase des Krieges – erfüllen. Wenn wir so lange durchhalten, dachte er. »Werden Sie so schnell wie irgend möglich fertig«, ordnete Bill an. Das richtete sich an den Chefingenieur, der den Sieg davongetragen hatte und den Präsidenten anstrahlte. Als der Helikopter ihn zur Air Force One zurückbrachte, war Bill optimistisch. Durch die Arsenalschiffe würde Amerika die Herrschaft über die Meere zurückgewinnen, und durch die Fighting Falcons würde es schließlich auch den Luftraum dominieren. Sie 215
würden eine bemannte, geostationäre Waffenplattform in den Weltraum eskortieren, die gegenwärtig in Colorado gebaut wurde. Zwar würde es auf dieser Raumstation vor Waffen wimmeln, aber deren Zweck wäre in erster Linie defensiv. Der vorrangige Sinn war die Beschaffung von Informationen, durch die Amerika wieder in der Lage sein würde, seinen Blick über den Horizont schweifen zu lassen, und durch die amerikanische Kontrolle des Weltraums würden die Chinesen nicht in den Genuss dieses Vorteils kommen. Ein Berater reichte Bill einen Palmtop-Computer, auf dessen Monitor prompt Stephies verschmiertes Gesicht auftauchte. Bill stöpselte einen Kopfhörer ein und drückte sofort auf »Play«, ohne sich zuvor noch die Zeit zu nehmen, sich auf den emotionalen Sturm vorzubereiten, der ihm nun möglicherweise bevorstand. »Ich lebe«, stellte Stephie lapidar und ohne große Begeisterung fest. »Aber vermutlich weißt du das bereits. Wir haben viele Opfer hinnehmen müssen.« Plötzlich erzitterte ihre Stimme, als wäre das Bollwerk, das sie gegen ihr Trauma errichtet hatte, brüchig geworden. »Vermutlich – aber eigentlich bin ich mir da sicher – hast du auch das schon gehört.« Jetzt bestand Bills Welt nur noch aus diesem fünfzehn Zentimeter breiten und zehn Zentimeter hohen Bild seiner Tochter, dessen Ränder er mit seinen Daumen liebkoste. Die Kamera in Stephies Händen wackelte. Sie nahm sie etwas von unten auf, und Stephies Gesicht füllte fast den gesamten Bildschirm aus. Über ihrem Kopf sah Bill einen strahlenden Himmel und sich im Wind wiegende Zweige, aber sie selbst schien im Schatten zu stehen. »Ich hab’ dich lieb, Dad«, sagte sie direkt in die Kamera, als wollte sie nun zum eigentlichen Anliegen ihrer V-Mail kommen. Bill bekam eine Gänsehaut, und in seinem Kopf drehte sich alles, als wäre er in einem mächtigen Strudel verloren. »Es ist nur… Es wäre schön… wirklich sehr schön, wenn wir mehr Zeit miteinander hätten verbringen können. Das war’s.« Bill schloss die Augen und lauschte nur, als sie anschließend über andere Themen redete, über das Essen, das Wetter und die tägliche Routine. Über die Kämpfe und ihre Kameraden verlor sie kein Wort. »Na, mir ist klar, dass du viel zu tun hast. Ich werde deine kostbare Zeit nicht weiter beanspruchen. Ich wollte dir einfach nur sagen, dass ich dich lieb habe. Bye, Dad. Ich melde mich bald wieder. Ich hab’ dich lieb.« Die Kamera 216
zitterte, und das Bild verwackelte. Als Letztes sah Bill das Bild eines Mannes mit nacktem Oberkörper, der in der Nähe bis zur Brust in einem Loch stand und eine lange Schaufel in der Hand hatte. Er trug Handschuhe, Nase und Mund waren von einer an einen Chirurgen erinnernden Schutzmaske bedeckt. Dreck spritzte aus dem Loch, neben dem Leichensäcke aus schwarzem Plastik lagen. Dann wurde der Monitor schwarz.
Ritz Carlton, Atlanta, Georgia 4. Oktober, 23 30 Uhr Ortszeit Wu und Shen Shen liebten sich zweimal. Beim ersten Mal ging alles schnell, sie befriedigte sein Verlangen. Beim zweiten Mal ließen sie sich für Shen Shen mehr Zeit, und ihre Lust erregte auch Wu aufs Neue. Wie immer rief Shen Shen danach, noch völlig unbekleidet, den Zimmerservice an. »Also gut, dann eben Pekankuchen«, sagte sie kichernd in den Hörer. »Und was ist das?« Wieder kicherte sie, aber Wu war es egal. Er stand auf und ging zu einem Stuhl, über dessen Rückenlehne die Hose seines Kampfanzugs hing. »Du hast einen tollen Körper«, sagte Shen Shen, die immer noch am Telefon hing. Wu antwortete nicht. »Ja, mit Eis!«, sagte sie, bevor sie den Hörer auf die Gabel knallte. »In dieser miesen Absteige gibt’s aber auch gar nichts. Können wir uns nicht ein anderes Hotel suchen?« »Elektrizität gibt’s nur hier«, bemerkte Wu. Als er sich zu Shen Shen umdrehte, zog sie schon die nächste line Kokain durch die Nase. Ein bisschen von dem weißen Pulver stäubte aus der kleinen Glasröhre auf ihren flachen Bauch, direkt über dem Schamhaaransatz. Sie versuchte erfolglos, das Kokain aufzusaugen, ließ sich zurückfallen und blickte Wu an. »Wie wär’s?«, fragte Shen Shen, während sie auf das weiße Puder zeigte. »Nein, danke«, antwortete Wu, der gerade die DVD aus seiner Hosentasche fischte. 217
»Oh, ein Spielfilm!«, sagte Shen Shen, kam auf die Knie und hüpfte auf und ab. »Er ist alt.« »Wie alt, ein oder zwei Jahre?« »Nein, wirklich alt, aus den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts.« Das schien Shen Shen zu enttäuschen. Nachdem Wu die DVD in den Player geschoben hatte, ließ er sich neben Shen Shen nieder. Sie lagen auf dem Bauch, die Köpfe am Fußende des Betts. Nach einem Blick auf das Menü verkündete Wu, der Film sei auf Englisch, und fragte Shen Shen, ob sie chinesische Untertitel wünsche. Sie lehnte ab, schmiegte sich an Wu, und der drückte auf »Play«. Die Anfangsszene war zwar spannend, aber auch irgendwie lächerlich. Der Held, der immer alles unter Kontrolle hatte, flog ein kleines WeltraumKampfflugzeug, das – gemessen an den aktuellen technologischen Standards – kurios erschien. Irgendwie kam der Schauspieler Shen Shen bekannt vor. »Oh, das ist Bill Baker!«, rief sie schließlich aus. »Da sieht er aber noch jung aus.« Der Zimmerservice klingelte. »Das Eis!«, sagte Shen Shen, die nackt zur Tür ging. »Zieh dir was über«, mahnte Wu. »Nein«, antwortete sie auf dem Weg zum Wohnzimmer. »Sollte er mich anglotzen, wirst du ihm die Augen aus dem Kopf schießen.« Kichernd öffnete sie die Tür. »Und, hat er dich angeglotzt?«, fragte Wu träge, als sie zurückkam. »Er hat alles gesehen«, antwortete sie. »Aber sei nicht zu eifersüchtig, das war ein Amerikaner.« Sie dosierte die nächste Prise Kokain. »Ohne das kann ich einfach kein Eis essen«, sagte sie, als sie sah, dass Wu sie beobachtete. »Beeil dich«, bemerkte Wu, der sich keinerlei Mühe gab, seine Verärgerung zu kaschieren. Nachdem sie zwar laut, aber schnell und geschickt die beiden lines Kokain durch die Nase gezogen hatte, sprang sie auf das Bett. Wu wurde durchgeschüttelt. Geschmolzenes Eis tröpfelte auf ihre Brust, und sie verlangte, dass Wu es aufleckte. »Können wir uns jetzt endlich den Film angucken?«, fragte Wu. 218
Shen Shens Augen waren blutunterlaufen. Die Schale dicht unter den Mund haltend, löffelte sie ihr Eis wie ein hungriger Bauer Reis. Ihr Kinn war verschmiert. »Findest du sie hübsch?« »Wen?«, fragte Wu. Achselzuckend stellte Shen Shen die Schale auf den Nachttisch. »Egal, lass uns den Film sehen.« Sie kauerte sich neben Wu und küsste mit eiskalten Lippen seinen Rücken. Lachend rollte sich Wu zur Seite. »Wen meinst du?« Shen Shen wich seinem Blick aus, und Wu war klar, dass sie jetzt Farbe bekennen musste. Sie war high und hatte sich verplappert. »Na, die Tochter des amerikanischen Präsidenten!«, antwortete sie aggressiv. Eingehend studierte Wu Shen Shens Gesichtsausdruck. Sie schien auf das Standbild auf dem Fernseher zu schauen, doch ihr Blick irrte unstet umher. »Weshalb fragst du nach ihr?« Shen Shen seufzte. »Weil du an sie denkst. Ich weiß es.« Da er sich seine Antwort noch nicht zurechtgelegt hatte, stieß Wu erst einmal verächtlich die Luft aus. »Noch mal: Weshalb zum Teufel fragst du?« Abrupt setzte sie sich auf. Wu wusste, dass ihre übertriebenen Gesten auf das Kokain zurückzuführen waren, aber hinter ihrer Reaktion steckte mehr. Vielleicht Enttäuschung oder unangebrachte Eifersucht. »Es ist doch offensichtlich!«, platzte es aus ihr heraus. »Und worauf gründet sich dein Verdacht?«, hakte Wu nach. Verärgert schlug sie sich auf die Oberschenkel. »Du hast eine halbe Stunde in ihrer Schule verbracht, obwohl die nur noch ein Schutthaufen ist.« Eine besonders gute Schauspielerin war Shen Shen nicht. Sie war wütend. »Und dann diese Nachfrage beim Nachrichtendienst, ob sich in ihrer Akte irgendwas geändert hat! Außerdem weiß ich, dass du heute in ihrem Haus warst, okay? Von dort hast du auch die DVD! Schließlich bin ich General Shengs persönliche Sekretärin!« »Bist du noch mehr als das?«, fragte Wu fast flüsternd. Sie wurde wütend, eine Reaktion, die durch ihr vom kolumbianischen Kokain aufgeputschtes Nervensystem noch verstärkt wurde. »Was soll das denn heißen? Willst du wissen, ob ich mich von dem faltigen alten Sack vögeln lasse?« 219
»Nein«, antwortete Wu, der sich plötzlich traurig und deprimiert fühlte. »Das meinte ich nicht.« Sein Kopf sank auf die Bettdecke. Shen Shen blies auf ihre Hand, um sie zu wärmen, und legte sie zärtlich auf Wu’s Rücken. Dann knabberte sie an seinem Ohr und küsste ihn. Schon wieder erregt, drehte Wu sich zu ihr um. Sie küsste ihn mit offenem Mund. Dann küsste er ihren Hals, direkt unter ihrem dichten, duftenden Haar. »Für wen arbeitest du?«, fragte er. Als Antwort warf sie ihm einen schmerzverzerrten Blick zu, und Wu wandte sich ab. Als sich ihre Blicke dann wieder trafen, hatte sie einen eindringlichen, um Entschuldigung flehenden Gesichtsausdruck. »Bitte«, sagte sie tonlos, bevor sie sich erneut küssten. Sie liebten sich ein weiteres Mal, aber Wu bewegte sich nicht, und es dauerte lange, bis er ans Ziel kam. Während Shen Shen hektisch seinen Körper bearbeitete, gelangte Wu zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich nicht für Sheng arbeitete, der schon seit über einem Jahrzehnt im Krieg war. Hier sprach alles für Peking. Nachdem Wu endlich gekommen war, sahen sie sich den Rest des Films an. Wu gefiel der Streifen. Gewisse lustige Passagen brachten ihn zum Lachen, und er war bewegt von der tragischen Leidensgeschichte, die der Held erdulden musste. Am meisten berührte ihn allerdings die verbissene Entschlossenheit des jungen Offiziers, der von Bill Baker gespielt wurde. Natürlich handelte es sich bei dem Charakter um eine typische Hollywood-Erfindung, aber das hieß eben auch, dass er in destillierter Form alle die Attribute enthielt, die Wu während seiner Erziehung zu bewundern gelernt hatte: Tapferkeit, die durch das Pflichtgefühl des Charakters zu erklären war. Risikofreude, die durch ein Ziel motiviert war. Führungsqualitäten, die bedeuteten, dass man seine Leute nie um etwas bat, das man nicht zuvor selbst getan hatte. Aber es gab noch eine andere Komponente von Bill Bakers Filmrolle, und dieser Charakterzug war Wu nicht von seinen Ausbildern an der Militärakademie eingeimpft worden, sondern angeboren: das Mitleid, das man sowohl für seine Waffenbrüder als auch für den Feind empfand. Tod und Leiden wurden in dem Film nicht beschönigend dargestellt, sondern hatten lang anhaltende Konsequenzen, deren Tragweite an den emotionalen, seelischen Wunden zu ermessen war. Doch am interessantesten fand Wu, 220
wie der Held Mitleid und Einfühlungsvermögen mit seinem Pflichtgefühl in Einklang brachte. Wenn man kämpfte und tötete, schloss das Gefühl und Fürsorge keineswegs aus. Das machte Wu Hoffnung. »Also, findest du sie hübsch?«, murmelte Shen Shen. »Wen?« »Die Tochter des Präsidenten!«, antwortete Shen Shen, die sich auf die Knie aufrichtete und seufzte, als wäre sie ungeduldig, weil Wu ihrer Frage erneut auswich. »Keine Ahnung.« »Du hast ihr Bild gesehen und die Nachrichtenbeiträge über ihre Grundausbildung bei der Armee angeschaut«, sagte Shen Shen in anklagendem Tonfall. »Und in ihrer Akte gibt es Bilder aus ihrer Schulzeit.« Shen Shen zuckte die Achseln. Dann ließ sie sich auf den Bauch fallen, um Wu besser etwas ins Ohr flüstern zu können. »Das ist doch eine ganz einfache Frage. Also, ist sie hübsch oder nicht?« Wu rollte sich auf den Rücken, wobei er das Laken um seinen Körper wickelte. Er starrte auf die verspiegelte Decke. Shen Shen hatte die Honeymoon Suite ausgesucht. »Eine etwas schwierigere Frage ist, warum du sie mir die ganze Zeit über stellst«, fragte Wu, der das Spiegelbild seiner Brust studierte, die behaarter war als die der meisten Chinesen. Auf der Militärakademie war er deshalb häufig gehänselt worden. Er blickte auf Shen Shens Rücken, wo sich unter ihrer makellosen Haut jeder Wirbel und jede Rippe abzeichneten. Sie kaute auf dem Satinlaken herum. »Na, dann wollen wir mal sehen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Warum sollte ich wohl Interesse an der Antwort haben?« Sie lachte, aber ihre geröteten Augen waren feucht, und ihr Mund stand offen, was ihren Gesichtsausdruck ungekünstelt und verletzlich wirken ließ. »Findest du chinesische oder amerikanische Frauen schöner, Wu?«, fragte sie flüsternd. Also darum geht’s, begriff Wu. Angesichts ihrer lächerlichen Unsicherheit schüttelte er nur den Kopf, doch dann wandte er sich wieder seinem Spiegelbild zu. Obwohl er wie ein Chinese aussah, waren die typischen Züge doch weniger ausgeprägt und seine Haut blasser. Jetzt verstand er ihre Frage. Für sie und jeden anderen Chinesen schien seine Loyalität fragwürdig. Für sie konnte er es mit beiden Seiten halten, innerlich gleichsam in zwei Hälften zerrissen sein. Aber tatsächlich war er überhaupt nicht 221
zerrissen – zumindest war er es bisher nicht gewesen. Als er wieder zu Shen Shen hinüberblickte, sah er nur ihren dichten Haarschopf. Sie hatte ihre Wange auf die Hände gelegt und blickte zur anderen Seite. Ihr Rükken zitterte leicht. Wu drückte sie an sich und hielt sie fest. Ihre Frage hatte er aus dem Grund nicht beantwortet, weil sie zu sehr an den Konflikt rührte, der schon immer tief in seinem Inneren geschlummert hatte. Jetzt konnte er diesem Konflikt nicht mehr aus dem Weg gehen. Aber Shen Shen glaubte, dass er durch sein Schweigen auch eine Antwort gegeben hatte. Also weiß sie nicht alles, folgerte der rational arbeitende Teil seines Gehirns. Über die Gegenwart wusste sie Bescheid, nicht aber über seine Vergangenheit. Wu’s Familie hatte das Geheimnis extrem gut gehütet, und wer immer Shen Shen auch instruiert haben mochte, hatte ihr darüber nichts erzählt Hätte man Shen Shen eingeweiht, wäre es überflüssig gewesen, ihn nach seinem Interesse an Stephanie Roberts zu fragen.
Am Savannah, South Carolina 5. Oktober, 500 Uhr Ortszeit Die Luft war feucht und kühl, und beim Sprechen bildeten sich kleine Atemwölkchen vor den Mündern. »Es wird gleich hell!«, brüllte Stephon Johnson, der vor dem Bunker stand. Die nackten Betonwände warfen das Echo seiner Worte zurück. »Burns, Roberts, kommt raus!« Stephie taten alle Knochen weh. Seit zehn Tagen waren sie an dem Fluss mit dem Errichten einer Verteidigungslinie beschäftigt: Sie hatten Schützengräben ausgehoben, Sandsäcke aufgefüllt, Kabel verbuddelt, MGNester mit dicken Erd- oder Holzabdeckungen versehen und fast drei Meter hohe Sandsackwälle um Mörserstellungen herum aufgeschichtet. Das alles sollte einem unvorstellbaren Sturm von Sprengstoff und Kugeln standhalten. Was in Gottes Namen mag da nur auf uns zukommen?, dachte Stephie immer wieder, wenn sie mit ihren Kameraden grub. Doch was es auch sein mochte, im Namen Gottes kam es für Stephie nicht. »Zum Teufel, kommt endlich raus!«, bellte Johnson heiser. Stephie lag 222
in ihrem Schlafsack und versuchte mühsam, sich gegen die bleierne Macht der Schwerkraft anzustemmen. Ihr Gesicht ruhte auf dem groben Stoff von zwei schmutzigen Handtüchern, die ihr als Kopfkissen gedient harten. Im Mund und in der Nase hatte sie den Geschmack frischen Betons, und auch ihr Haar roch danach. Mit ihren Waffen gingen Stephie und John auf den einzigen Ausgang zu. Der Bunker bestand nur aus einem großen Raum, und in einer Ecke lag Simpson, der ununterbrochen schnarchte, weshalb Becky sich die Ohren mit Baumwollkügelchen zugestopft hatte. Von den dreizehn Soldatinnen und Soldaten, die an der Mason Street kurzzeitig gekämpft hatten, waren ganze fünf übrig geblieben – Johnson eingerechnet. Stephie und John betraten den nach draußen führenden Durchgang, der Stephie immer an einen rätselhaften Gang in einem ägyptischen Grab erinnerte. Der Durchgang krümmte sich erst scharf nach rechts, zog sich in die Tiefe und wandte sich dann nach links in die Höhe, sodass er einem »U« glich. So war man hier noch vor direktem Feuer oder Granatsplittern geschützt, die vom Schützengraben her in den Eingang dringen mochten, aber die Konstruktion schärfte auch die Sinne dafür, dass schon hinter der nächsten Biegung Gefahr lauern konnte. Bevor sie in die frische Morgenluft hinaustraten, berührte Stephie noch einmal die Wand, was ihr Glück bringen sollte. Als man ihnen den Bunker 9G zugewiesen hatte, war der Beton noch nass gewesen, und um sich für alle Zeiten zu verewigen, hatten die fünf Überlebenden der First Squad ihre Namen in die trocknende, einen Meter dicke Wand geritzt. Wie im richtigen Leben stand auch hier »John Burns« direkt neben »Stephanie Roberts«. Stephie, John und Johnson duckten sich wie Bucklige unter den Rand des Schützengrabens. Der Abhang unter ihrer einzigen, engen Schießscharte führte zum Savannah hinab. Das Flussufer und der gerodete Abhang waren vermint und mit planmäßig angelegten Feldern überzogen, die nach der Explosion einer Mine automatisch unter Beschuss genommen werden würden. Jede Nacht hörte man, dass irgendein lebendes Wesen irgendwo entlang der Linie unter großem Lärm sein Ende fand. Nach Beckys Meinung handelte es sich um Rehe, die ahnungslos durch ihre alten, nunmehr tödlichen Äsgründe streiften. Hingegen wettete Animal darauf, es seien chinesische Kundschafter gewesen, die Pech gehabt hät223
ten. Für diese These sprachen die von Mörsern abgefeuerten Leuchtkugeln und die dreißig Sekunden lang dauernden MG-Salven, die in der Regel der Detonation jeder Mine folgten. Wie auch immer – im oder in der Nähe des großen Schützengrabens behielten alle die Köpfe unten. Niemand wusste, wie es jenseits des Flusses aussah. Patrouilliert wurde nur hinter den eigenen Linien. »Roberts, du bist jetzt die Führerin des Fire Team Alpha«, verkündete Johnson. Auf einmal hatte Stephie, die bis jetzt noch gar nicht richtig wach gewesen war, einen klaren Kopf. »Wie bitte?«, fragte sie prompt. »Ich? Was ist mit John? Der ist schließlich Private First Class.« »Nein«, korrigierte Johnson, »er ist mittlerweile Corporal und übernimmt das Fire Team Bravo. Ich selbst bin Sergeant und für die First Squad verantwortlich. Übrigens, Roberts, du bist jetzt Private First Class. Meinen Glückwunsch.« »Was für einen bürokratischen Unsinn hat die Army denn da wieder ausgebrütet? Sie hat beschlossen, dass drei Leute erforderlich sind, um Becky Marsh Befehle zu erteilen?« »Wir bekommen Ersatzleute«, erklärte Johnson, bevor er den Schützengraben hinabzugehen begann. John und Stephie folgten ihm. Die Hauptlinie verlief über den Kamm eines Hügels, von dem aus man den hundertfünfzig Meter tiefer liegenden Fluss überblickte. Hier und da waren die braunen Erdwände des Schützengrabens mit Eisenbahnschwellen und zahllosen Sandsäcken abgestützt. Die improvisierten Entwässerungsrinnen auf dem Boden füllten sich schnell wieder mit Wasser. Weil in der glitschigen Mitte des Schützengrabens Tümpel waren, über denen Moskitos kreisten, hielt Stephie sich an den etwas erhöhten und trockeneren Rand. In auffälligem Kontrast zu dem Dreck, durch den sie stapften, standen die den Schützengraben überhängenden, sich sanft im Wind wiegenden grünen Kiefern North Carolinas, deren Duft bisweilen zu den Soldaten hinüberwehte und den Gestank schmieriger Körper vergessen machte. Stephie atmete tief durch, und der würzige Duft trug sie in Gedanken weit fort von diesem entsetzlichen Ort. Sie bogen aus dem großen Schützengraben in einen engen Splittergraben, der sofort steil abfiel. Ab und zu waren Eisenbahnschwellen quer über den Boden gelegt worden, die aber keinen ihrer beiden Zwecke er224
füllten. Weder konnten sie die schlammigen, durch Regenwasser ausgelösten Erdrutsche aufhalten, noch boten sie – glitschig, wie sie waren – den Füßen sicheren Halt. Am Fuß des Hügels erklommen sie eine aus den Brettern nutzloser Lattenkisten grob zusammengehauene Leiter und befanden sich dann auf ebener Erde. Hier achteten sie sorgfältig darauf, sich auf dem gewundenen Pfad zu halten, der von zwei Reihen aus Pfosten mit daran baumelnden Stoff-Fetzen markiert wurde. Angeblich mussten die Minen zu beiden Seiten des Weges erst durch einen Pionier aktiviert werden, doch niemand war bereit, sein Leben zu riskieren, weil er von der Richtigkeit dieser Annahme ausging. Als sich die kleine Gruppe einer neuen, aber schon von Rissen durchzogenen, nicht asphaltierten Straße näherte, hörte man knappe, leise erteilte Befehle. Jede Menge Soldaten mit Helmen waren in Reihen angetreten. Kreischende Bremsen und unter lautem Knirschen eingelegte Gänge machten überdeutlich, dass die Fahrer der letzten Lastwagen, die die neuen Soldaten gebracht hatten, an nichts anderes dachten, als so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden. Es waren mehrere hundert Infanteristen, zwischen deren Körpern man kurz die Scheinwerfer der Lastwagen aufblitzen sah. Johnson stellte sich an einer Warteschlange an, an deren Ende ein Mann mit einem Laptop auf einer leeren Munitionskiste saß. Auch der Computer stand auf einer solchen Kiste. Die blitzsauberen Ersatzleute waren von Stephie und ihren hart arbeitenden Kameraden verspottet worden. Die verbitterten Überlebenden des blutigen Zusammenstoßes von Atlanta glaubten, eine Pause verdient zu haben, um sich von dem Schock erholen zu können. Eigentlich hätten die frisch aus der Grundausbildung kommenden Grünschnäbel, die sich jetzt hier in loser Formation aufgestellt hatten und saubere Uniformen trugen, graben sollen. Stirnrunzelnd hörte sich Stephie ihr nervöses Gelächter an, das bald von dem übel gelaunten Knurren eines Unteroffiziers zum Verstummen gebracht wurde. Diese Mistkerle hatten in Betten geschlafen, geduscht und Badezimmer mit Toiletten benutzt, während sie wie die Tiere im Dreck dahinvegetieren mussten. »Ich brauche sieben Leute«, sagte der frisch gebackene Sergeant Stephon Johnson. »Sieben?«, fragte der Staff Sergeant mit dem Laptop. »Für eine Squad? 225
Fünf geht in Ordnung.« Im trüben Sternenlicht und schwach von seinem glühenden Monitor beschienen, hob der Mann eine Hand mit fünf gespreizten Fingern. Fünf Privates, alle frisch aus der Grundausbildung, wurden aus der Masse aussortiert. Die drei Männer und zwei Frauen nannten ihre Dienstnummern, die der Staff Sergeant über seine Tastatur in den Computer eingab. »Okay, ihr fünf gehört zur First Squad, Third Platoon, Company C, Third Battalion, 519th Infantry Brigade.« Als sie diese in offiziellem Tonfall verkündeten Neuigkeiten hörten, grinsten die fünf Neulinge, die die Mitteilung offensichtlich für äußerst bedeutsam hielten. Einer murmelte sogar leise die wichtigen Angaben vor sich hin, als wollte er sie seinem Gedächtnis einprägen. »Mein Name ist Sergeant Johnson«, nuschelte ihr furchtloser Anführer vor sich hin. »Das sind Corporal Burns und Private First Class Roberts. Waffen sichern, Klappe halten und Köpfe einziehen. Nichts anrühren und immer hübsch in der Reihe bleiben. Auf geht’s.« Stephie und John folgten Johnson, der für die Grünschnäbel in der neuen Welt sofort zu einer Art Vaterfigur wurde. Die fünf Ersatzleute schlurften hinter John und Stephie her. »Haltet euch zwischen den Pfosten mit den Wimpeln«, mahnte Stephie, während sie das Minenfeld durchquerten. Der Pfad zwischen den Fähnchen war ausgetreten und für alle von hinten angreifenden Chinesen gut erkennbar. Aber für die Chinesen wäre dies alles andere als ein sicherer Weg. Aus zwei mit Sandsäcken überdachten MG-Nestern zu beiden Seiten der Leiter, über die man in den Splittergraben gelangte, ragten die Läufe von Maschinengewehren hervor. Im Falle eines Durchbruchs konnten sie dank der überlappenden Schussfelder jeden auf ihren Abschnitt der Linie zustürmenden Chinesen erledigen. Nacheinander stiegen die acht Soldaten in den Graben hinab, um dann den Abhang zu der Hauptverteidigungslinie hinaufzusteigen. Sie kamen nur langsam voran, besonders die Neulinge, die sich mit ihrer schweren Ausrüstung abmühten. Gelegentlich blieben sie in dem engen Splittergraben irgendwo hängen. Wann immer einer der frisch dazugekommenen Pechvögel die Gruppe aufhielt, begannen Johnson und Stephie zu fluchen, und zwar besonders dann, wenn diese verdammten Idioten stehen blieben, um neugierig Kommandobunker, Waffendepots und Verbandplätze in Augenschein zu nehmen. Für sie war alles neu, und sie tuschelten wie Touristen in einer Kathedrale. 226
»Haltet die Klappe!«, schnappte Stephie, und das Gerede verstummte. Je näher sie dem Kamm des Hügels kamen, umso mehr zogen die drei bereits kampferprobten Soldaten die Köpfe ein. Demgegenüber marschierten die Neulinge immer noch kerzengerade, wie auf einem Exerzierplatz. »Köpfe runter!«, warnte Stephie mit schriller Stimme. Jetzt gingen die Grünschnäbel gebeugt, aber sie hoben ihre Waffen, als ob demnächst Chinesen von den Bäumen fallen würden. Angesichts ihrer Ahnungslosigkeit konnte Stephie nur den Kopf schütteln und die Augen rollen. Als sie den großen Schützengraben erreicht hatten, kamen sie an einem Beobachtungsposten vorbei, und die Neulinge blieben stehen, um einen neugierigen Blick auf mehrere Flachbildschirme zu werfen, die in dem dunklen, mit Sandsäcken verbarrikadierten Raum glühten. Auf den Monitoren schlängelte sich der kalte, dunkle Fluss unterhalb ihrer Linie durch weißes Terrain. Ein Soldat mit einem Joystick in der Hand schwenkte eine Infrarotkamera, die er sofort anhielt, wenn irgendwo glühend rot wiedergegebene Wärmebildung lokalisiert worden war. Die Kamera war auf einem motorisierten Mast über dem Schützengraben angebracht. Ihr Antriebselement gab ein schwaches, elektrisches Surren von sich. »Mein Gott, kommt ihr endlich?«, flüsterte Stephie. Als sie den Bunker der Squad erreicht hatten, kniete Sergeant Johnson sich neben den dicken Wänden am Eingang nieder. Die anderen setzten sich neben ihn auf den Boden des Schützengrabens. Nur die Neulinge hockten sich auf die Fersen, weil sie Angst hatten, ihre Uniformen oder ihre Ausrüstung zu beschmutzen. Stephie setzte sich auf das trockenste Fleckchen, das sie finden konnte. »Du schnappst dir Marsh und zwei von den Grünschnäbeln, Roberts«, sagte Johnson. »Mit Becky komme ich nicht klar«, widersprach Stephie. »Völlig unmöglich!« »Dann übernehme ich sie eben«, erbot sich John Burns, der seinen Blick dann über die fünf Ersatzleute schweifen ließ: drei Männer – zwei von ihnen mit SAW – und zwei Frauen. »Ihr beide kommt mit«, sagte er zu einem Soldaten und einer Soldatin. Dann verschwand er mit den beiden in dem dunklen Bunker. Ein Neuling krachte geräuschvoll gegen die Betonwand in dem Durchgang und fluchte. »Ich muss Ackerman Meldung machen«, verkündete Johnson, ging davon und ließ Stephie mit ihrem Fire Team allein. 227
Die beiden Männer und die Frau waren ungefähr in Stephies Alter und starrten ihre neue Vorgesetzte erwartungsvoll an. »Schnauze halten!«, hörten sie aus dem Bunker Animal brüllen. Offenbar war der MG-Schütze genervt, weil John mit seinen neuen Leuten redete. Wahrscheinlich, dachte Stephie, sollte ich jetzt etwas Wichtige sagen, irgendwelche lebensrettenden Weisheiten verkünden, die ich in der Feuerprobe des Gefechts gelernt habe. »Behaltet die Köpfe unten«, sagte sie schließlich, während sie aufstand. Ohne dass man es ihnen hätte befehlen müssen, folgten ihr die anderen den Schützengraben hinab, bis sie zu einem leeren, aus der Wand herausgehauenen Unterstand kamen, der mit Baumstämmen und Sandsäkken überdacht war. Der Unterstand war als Zuflucht vorgesehen, wenn jemand zwischen den im Abstand von vierzig oder fünfzig Metern angeordneten Betonbunkern im offenen Schützengraben von Sperrfeuer überrascht wurde. Stephie ließ sich auf den Boden fallen. Fast hätte einer der Grünschnäbel den hölzernen Stützpfeiler umgerannt, der das niedrige Dach über Stephies Kopf trug. »Pass doch auf!«, schnappte Stephie, während der Mann seinen Fehler zu korrigieren suchte, aber alles nur schlimmer machte. Ohne Aufforderung begannen die Neulinge, sich ihrer Ausrüstung zu entledigen. »Kann ich mal pinkeln?«, erkundigte sich einer. »Nein«, antwortete Stephie. »Und behaltet endlich eure beschissenen Köpfe unten!« Mit gebeugten Knien und eingezogenen Köpfen fanden es die Grünschnäbel eher unbequem, die Tornister und Patronengurte mit Reservemunition abzulegen. »Eure Namen!«, befahl Stephie. »Dawson, Rick, Private«, platzte es aus dem Mann mit dem SAW heraus. Er hatte die typische Hautfarbe eines Rotschopfs, doch als er sich versehentlich den Helm vom Kopf stieß, sah Stephie nur einen kahl geschorenen Schädel. Dawson war groß und schien kräftig gebaut zu sein. »Tate, Patricia, Private«, ertönte die hohe Stimme einer Frau, die mit einem Gewehr mit einer Granatpistole bewaffnet war. Die macht sich gleich vor Angst in die Hose, dachte Stephie, während Dawson der Frau mit ihrem schweren Rucksack half. Stephie fragte sich, ob die zierliche Tate überhaupt in der Lage war, ihre Ausrüstung zu tragen. »Shelton Trulock«, sagte ein ebenfalls eher schmächtiger, bebrillter Soldat, der seine Knie wie ein Kind aneinander presste, das dringend aufs Klo musste. »Du bist die Tochter des Präsidenten, stimmt’s?«, fragte er. 228
»Geh endlich pissen«, antwortete Stephie, und Trulock fragte, wo die Latrinen seien. »Zum Teufel mit den Latrinen, du kannst überall hinpinkeln«, sagte Stephie. »Latrinen sind zum Scheißen da.« Überrascht hob Trulock die Augenbrauen, mit einer so drastischen Ausdrucksweise hatte er nicht gerechnet. »Und behalt den Kopf unten!«, zischte Stephie, als Trulock sich trollte. Dawson und Tate blickten Stephie an. »Kann ich…«, begann Patricia Tate zögernd. »Darf ich eine Frage stellen?« Stephie nickte. »Wie… wie ist es denn so? Wenn man kämpfen muss?« Stephie schlug den Blick nieder. Seit Atlanta hatten sie und die anderen Überlebenden einzig in der Gegenwart gelebt. Sie alle hatten ihre persönlichen Erinnerungen und Zukunftshoffnungen, doch wie durch eine stillschweigende Übereinkunft war nie darüber gesprochen worden. Seit dem blutigen Schock von Atlanta war eine Woche vergangen, aber niemand hatte die Mason Street auch nur erwähnt. Ja, wie war es?, fragte sie sich, doch ihre innere Stimme weigerte sich zu antworten. Obwohl sie den Schlüssel zu ihren Erinnerungen in der Hand hielt, zog sie es vor, ihn lieber nicht zu benutzen. Sie blickte in die beiden ängstlichen Gesichter, sagte aber nichts. Jetzt tauchte Animal aus dem Bunker auf. Nachdem der MG-Schütze seine Glieder gereckt und sich laut gedehnt hatte, urinierte er in den Schützengraben. »Animal«, stellte Stephie vor. »Ein ziemlicher Brocken«, bemerkte Tate. »Er ist unser MG-Schütze, diese Typen sind von einem anderen Kaliber«, sagte Stephie. Ein kratzendes Geräusch erklang, dann glitt Trulock von der Wand des Schützengrabens zu Boden. Die Neulinge duckten sich sofort, als ein fernes Grollen über die Hügel rollte. Ein Schuss aus einem großkalibrigen Gewehr hallte durch die Bäume. Stephie krabbelte auf den reglos daliegenden Ersatzmann zu. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie beginnen konnte, sich einen Reim darauf zu machen, was gerade passiert war. Es war sinnlos, sich über Trulocks Gesundheitszustand Gedanken zu machen – er hatte keinen Kopf mehr. »Alles in Ordnung, Shelton?«, fragte Patricia Tate, bevor sie erschrocken zurückwich, »O mein Gott!« kreischte und dann nur noch un229
verständliche Worte vor sich hinmurmelte. Schließlich folgten Schluchzer und abgehackte, keuchende Atemzüge. Während Animal sich neben Stephie kniete, drückte Dawson Tate an sich. »Wer war das?«, fragte der MG-Schütze. »Ein Ersatzmann«, antwortete Stephie geschockt. »Er hieß Trulock, Stephen Trulock.« »Hat sich keinen großen Namen gemacht«, lautete der knappe Nachruf des MG-Schützen. »Wenn du seinen Kopf suchst, trage ich den Rest weg.« »Ist nicht viel übrig geblieben«, bemerkte John Burns, der gerade zurückkam. Stephie schlug den Blick nieder, weil sie an die Stiefel denken musste, die bald auf die sterblichen Überreste des armen Shelton Trulock treten würden. Von seinem Kopf war praktisch nichts mehr da. »Scheiße!«, fluchte Stephon Johnson, als er sah, was geschehen war. »Bevor es keine neuen Ersatzleute mehr gibt, werde ich versuchen, ob ich noch einen bekommen kann.« Der erschöpfte Mann seufzte, weil ihm schon wieder eine lästige Aufgabe bevorstand. Als Simpson Trulocks Stiefel packte, weil er ihn dorthin schleppen wollte, wo sein Tod offiziell registriert werden konnte, erbot sich John, ihm zu helfen. Gemeinsam hoben sie die Leiche vom Boden. Als Stephie aufstand, hätte ihr Schwindel fast einen Schwächeanfall ausgelöst. Wie betäubt taumelte sie auf den Bunker zu, wo sie mit ausgetrocknetem Mund und in kalten Schweiß gebadet neben Tate und Dawson stehen blieb. Die Frau presste ihr Gesicht an Dawsons kugelsichere Weste. »Behaltet die Köpfe unten«, warnte Stephie noch einmal. Die oberen Zweige der Bäume auf dem Hügel über dem Fluss wurden von den ersten Strahlen des Sonnenaufgangs erfasst. Wie in tiefer Vergangenheit schien sich die Zeitwahrnehmung nicht nach dem Minutenzeiger, sondern nach der Sonne zu richten. Allmählich traten an die Stelle diffuser Grautöne die strahlend grünen Kiefern. Wahrscheinlich war der Himmel bereits blau und wolkenlos, aber Stephie konnte ihn durch die fast einen Meter tiefe Schießscharte nicht sehen, die überdies nach unten auf den Fluss ausgerichtet war. Die Scharte war kaum groß genug, um das M-16 mit der darunter angebrachten Granatpistole hineinzwängen zu können. Hinter dicken Betonmauern verborgen, blickten Johnson, Burns und 230
Stephie auf den Fluss hinab, über dem noch Nebel lag. Der aus nur einem einzigen Raum bestehende Bunker war knapp zehn Meter breit und etwa fünf Meter tief, doch wegen der nur knapp zwei Meter hohen Decke war die Atmosphäre klaustrophobisch. Neun Leute lagen bäuchlings auf dem Boden: die noch verbliebenen Mitglieder der First Squad, das ihr zugehörige MG-Team, ein Sanitäter vom Platoon und Becky. Die beiden durch den Tod ihres Kameraden noch völlig erschütterten Mitglieder von Stephies Fire Team kauerten dicht neben den beiden Grünschnäbeln, die John zugeteilt waren. Johnsons Bemühungen um einen Ersatzmann für Trulock waren erfolglos geblieben. Animal und sein neuer Ladeschütze lagen auf dem harten Boden hinter ihrer Waffe, die von Ersterem liebevoll mit einem geölten Lappen gepflegt wurde. Specialist Fourth Class Melinda Crane – ihre Sanitäterin – schlief erschöpft direkt unter der Schießscharte. Becky saß allein neben dem Ausgang an der Wand. Wie um diese Uhrzeit nicht anders zu erwarten, lag der Fluss ruhig da, doch auf Stephie wirkte die Stille unheimlich. Der Bunker befand sich ungefähr in der Mitte der Stellung ihres Bataillons. Die sechshundert Männer und Frauen waren entlang einer halben Meile des Flussverlaufs in Stellung gebracht worden, weil die Leute vom Planungsstab der Brigade zu dem Schluss gekommen waren, dass man den Strom an dieser Stelle am leichtesten durchwaten konnte. Aber die Sandbänke unter ihrem Bunker waren mit tausenden Landminen präpariert. Riesige Panzerabwehrminen sollten direkt auf die nur leicht gepanzerten Fahrgestelle der chinesischen Kampffahrzeuge einwirken. Um sie herum waren Antipersonenminen verteilt worden. Moderne »Bouncing Bettys«, die Männer von Minenräumtrupps verletzen, aber nicht notwendigerweise töten würden. Wenn man auf die schmalen Stolperdrähte trat, schossen die diskusförmigen Minen einen Meter hoch in die Luft, um dann in alle Richtungen achthundert spitze Pfeile zu verspritzen. Während Johnson durch ein Fernglas blickte, schaute John Burns Stephie an. Dann wies er mit einer leichten Kopfbewegung auf den einzigen Ausgang des Bunkers. Stephie folgte ihm, wobei sie über die Beine Beckys und der Ersatzleute hinwegsteigen musste. Dann standen Stephie und John an dem kühlen, feuchten Morgen allein in dem von Sandsäcken gesäumten Schützengraben, über dem sich die Zweige der Kiefern im Wind wiegten. Stephie lehnte sich gegen die Wand und schob ihren Helm in den Nacken. 231
»Johnson behauptet…«, begann John. »Ich weiß«, unterbrach Stephie. »Angeblich hat er gehört, dass die Chinesen hier den Fluss zu überqueren versuchen werden. Seinen Worten nach hat er das von einem Major vom Stab der Brigade. Also, wie viele Majors kennt Johnson wohl?« »Ja, aber Sinn macht es trotzdem«, antwortete John. »Wahrscheinlich werden sie den Fluss an einem halben Dutzend Stellen zu überqueren versuchen, und diese hier scheint mir eine davon zu sein.« »Aber das wäre Selbstmord!«, flüsterte Stephie, als handelte es sich um ein militärisches Geheimnis. »Ich meine…« Sie schlug mit einer Hand gegen die kalte Betonwand des Bunkers. John runzelte die Stirn und schüttelte dann herablassend den Kopf, als würde er sich über Stephies Naivität wundern. »Und woher zum Teufel willst du wissen«, fragte Stephie, »was die Chinesen tun werden? Von Clausewitz?« »Wir müssen uns einen Plan zurechtlegen«, entgegnete John. Verständnislos starrte Stephie ihren Kameraden an. »Einen Plan? Einen Plan! Mein Plan sieht so aus, dass ich mit meiner Squad aus diesem verdammten Bunker heraus kämpfen und so viele Chinesen wie möglich umlegen werde!« »Sollten sie uns überrennen, zählt jede Sekunde, Stephie. Die erste Welle, die den Kamm des Hügels erreicht, wird weiter vorrücken, um unsere Nachhut außer Gefecht zu setzen. Aber die nachfolgenden Chinesen werden ein Maschinengewehr auf den Ausgang der Bunkers richten und Flammenwerfer mitbringen. Kapiert? Solange noch Chaos herrscht – bevor die Chinesen sich wieder organisieren können – müssen wir aus dem Bunker raus, den Abhang runter und in den dichten Wäldern auf der anderen Seite der Straße verschwinden. Du, ich, Johnson und unsere Leute. Tun wir das nicht, sind wir entweder Kriegsgefangene oder tot.« Stephie nickte. »Lass dich nicht zu ebener Erde blicken, das wäre Selbstmord«, fuhr John fort. »Du musst dich durch die nach hinten verlaufenden Splittergräben zur Nachhut durchschlagen. Hast du verstanden?« Hätte Stephie jetzt etwas gesagt, wäre sie sich der Festigkeit ihrer Stimme nicht sicher gewesen. »Hast du mich verstanden, Stephie?« Wieder nickte sie. 232
»Stephie…«, begann John mit zu Boden geschlagenen Augen. »Das ist noch was, das ich dir schon länger sagen wollte.« »Nein«, sagte Stephie und legte ihm einen Finger auf die Lippen. Ihre Haut war sensibel genug, um zu spüren, dass sich seine Lippen zu einem kaum wahrnehmbaren Kuss formten. Das dumpf grollende Geräusch erinnerte an einen Güterzug, aber es drang vom Himmel zu ihnen herab. Einen Sekundenbruchteil vor etlichen donnernden Explosionen schubste John Stephie in den Eingang des Bunkers. Sie stieß gegen Wände und schlug schließlich mit dem Gesicht auf den Boden. Als sie gerade auf dem Bauch um die Biegung des Durchgangs krochen, brachen rauchende Trümmer von der Decke. Unter Stephie erzitterte der Betonboden, Eisdorne schienen sich in ihre Ohren zu bohren. Als Rauch- und Staubwolken in den Bunker drangen, war ihr mit einem Mal übel. Durch die Schießscharte jagten Flammen. Stephies Ohren klingelten, während sie auf dem Boden hin- und hergeworfen wurde und jeglichen Orientierungssinn verlor. Ihre nächste Erinnerung war, dass jemand hustete, dann hörte sie vor dem Bunker brüllende Männerstimmen. Minen gingen wie Feuerwerkskörper in die Luft, Mörser, Granaten und Raketen trafen die Außenseite des Bunkers. Durch die Schießscharte schossen Flammen und Dreck. Im hinteren Teil des Bunkers lag einer der Ersatzmänner, und eine blutige Schmierspur an der Wand verdeutlichte, wie er sterbend zu Boden geglitten war. Ein anderer Neuling schrie aus vollem Hals, während die Sanitäterin mit einer Schere seine brennende Uniform auftrennte. Als Melinda Crane kaum noch zu unterscheidende Haut- und Kleiderfetzen abschnitt, um die Wunde freizulegen, presste sie ihrem Patienten ein Knie auf den Brustkorb, da dieser wie von Sinnen um sich schlug. Die restlichen Mitglieder der First Squad lagen zusammengerollt auf dem Boden, ohne bisher in die Kämpfe eingegriffen zu haben. Gegen Schwindel und Übelkeit ankämpfend, richtete sich Stephie auf die Knie auf. »Alles auf!«, brüllte sie. Neben ihr war John, noch immer auf allen vieren. Funken drangen in den Bunker, stoben von der Decke ab und lösten kleine Betonsplitter von der Decke. Melinda Crane kroch zu einem verwundeten Grünschnabel hinüber, während ihr letzter, von schweren Verbrennungen gequälter Patient sie festzuhalten versuchte und nach weiterem Schmerzmittel schrie. 233
John hockte auf den Fersen, kippte aber nach vorn und musste sich erbrechen. Schließlich kam Animal auf die Beine, um sofort das MG an die Scharte zu heben. Krächzend wiederholte Johnson Stephies Befehl. Mit beiden Händen zog sich Stephie an der kleinen, horizontalen Öffnung hoch, deren Boden mit Schutt bedeckt war. Feuer sprenkelten die Hügel und selbst die Mitte des Flusses. Die Ufer und die schmutzig braunen Sandbänke waren mit chinesischen Fahrzeugen übersät. Ein amphibisches Aufklärungsfahrzeug, das flussabwärts trieb und sich dabei langsam um die eigene Achse drehte, feuerte in den Himmel. Amerikanische Raketen trafen chinesische Fahrzeuge mit absoluter Präzision. Zugleich versuchten chinesische Geschütze und Raketenwerfer auf der anderen Seite, die Nadelöhre der Schießscharten zu treffen. Am Fuß des Hügels, auf ihrer Seite des Ufers, strömten überlebende chinesische Infanteristen aus den brennenden Mannschaftstransportfahrzeugen, die das anscheinend Unmögliche wahr machen wollten und sich im Schutz tiefer Krater und feuernder Panzer zu formieren versuchten. Wenn nichts dagegen unternommen wurde, so viel war Stephie klar, würden sie es schon bald mit Gruppen und Zügen, dann Kompanien und Bataillonen, schließlich mit ganzen Regimentern zu tun haben. Sie hob das M-16 an die Schulter und legte es auf die solide untere Kante der Schießscharte. Selbst wenn Granatsplitter auf ihren Bunker einnagelten und gelegentlich auch durch die Schießscharte drangen, schenkte Stephie den Mörsergranaten nur wenig Aufmerksamkeit. Sie nahm einen chinesischen Soldaten ins Visier, der gebückt von einer Menschentraube zur anderen watschelte, in diverse Richtungen zeigte und Befehle gab. Der erste Schuss wirbelte hinter ihm eine Wasserfontäne auf, nach dem zweiten färbte sich der Sand rot. Der völlig verdutzte Chinese saß auf dem Boden und betastete seine Schulter und Brust. Während er noch kopflos nach seiner Wunde suchte, feuerte Stephie zum dritten Mal, und dieser Schuss riss dem Mann den Kopf von den Schultern. Jetzt waren die in Deckung kauernden Chinesen ohne Kommandeur, und Stephie versuchte, sie nacheinander ins Visier zu nehmen. Allerdings gab es nicht viel, worauf sie zielen konnte – hier einen Helm, dort einen Hintern, mal ein Paar Beine. Trotzdem feuerte sie mit kühler Präzision den Hügel hinunter. Nachdem sie zuvor drei gezielte Schüsse auf das Bein eines Mannes abgegeben hatte, schoss sie ihm den Absatz vom Stiefel. Als der Mann wie 234
wild herumwirbelte, um seine Wunde zu betasten, tötete sie ihn mit einem Genickschuss. Eine andere Kugel riss ein Stück aus dem angewinkelten Ellbogen eines Chinesen. Die unkoordinierten Bewegungen seines verstümmelten Arms waren abscheulich anzusehen. Als ein Dutzend Soldaten den Hügel zu erstürmen versuchte, holte sie mit fünf Schüssen zwei Männer von den Beinen. Den Rest erledigte Animal, dessen M-60 mit den schweren Geschossen vom Kaliber 7,62 cm die Männer das Leben kostete. Auf der anderen Seite des Flusses versprühte eine Rakete Funken, deren rauchender Schweif erst wackelte und sich dann stabilisierte, als die Rakete ihren Kurs gefunden hatte. Stephie duckte sich. Direkt über ihr schossen Flammen durch die Scharte. Die sengende Hitze ließ schnell wieder nach, doch schon jetzt fühlte sich Stephies Haut wie bei einem Sonnenbrand an. John versuchte, einen zitternden Ersatzmann – den neuen Lader des MG-Schützen – dazu zu überreden, ihn einen Blick auf sein verletztes Auge werfen zu lassen, aber der Verwundete lehnte das kategorisch ab. Tate und Dawson, beide offensichtlich nicht verletzt, kauerten zusammen auf dem Boden. »Kommt mit dem Arsch hoch und…!« Weil sie von einem heftigen Schlag auf die Knie geschleudert wurde, konnte Stephie ihren Satz nicht beenden. Was ist passiert?, fragte sie sich, während sie sich über ihre Lage klar zu werden bemühte. Ein kaltes Frösteln lief ihren Körper hinunter, fast so, als würde sie Fieber bekommen. Von ihrem Hals strahlten starke Schmerzen aus. Ihr Mund stand offen, als hätte er sich nach dem unvollendeten Satz nicht mehr bewegt. Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Kniend, die Hände vor sich auf den Boden gestützt, starrte sie auf einen Tropfen Blut auf dem Betonboden. Ein zweites Tröpfchen, dann ein drittes, schließlich floss das Blut in Strömen. Jetzt wurde Stephie klar, dass es ihr Blut war. Nachdem John ihr den Helm abgenommen hatte, legte er sie auf den Rücken. Die mittlerweile unerträglichen Schmerzen wurden mit jedem keuchenden, von einem Stöhnen begleiteten Atemzug schlimmer. Ohne sich noch zu klarem Denken zwingen zu können, lag Stephie da, die linke Wange gegen den Betonboden gepresst. Sie versuchte, sich auf die leeren Patronenhülsen zu konzentrieren, die von dem M-60 ausgeworfen wurden und sich in immer größerer Zahl auf dem Boden sammelten. John betastete ihren Nacken, was sofort stechende Schmerzen auslöste. »Mein Gott, nein!«, schrie sie. 235
»Das kommt wieder in Ordnung«, sagte John, der aus einer Feldflasche Wasser auf ihren Hals träufelte. »Lass, hör endlich auf!«, verlangte Stephie, die um sich schlug und Johns Gesicht traf. Aber als sie das von ihrer Hand tropfende Blut sah, biss sie die Zähne zusammen, um die Tortur mit geschlossenen Augen und mühsam atmend wie eine Geburt zu ertragen. Während Melinda Crane die Wunde zu nähen begann, wurden die Schmerzen noch unerträglicher. Stöhnend versuchte Stephie, ihre Schulter vom Boden zu stemmen. Sie wollte nur noch alles ausblenden. Doch dann sah sie Dawson und Tate, die sie entsetzt anstarrten. »Kommt mit dem Arsch hoch und kämpft!« Diesmal folgten sie ihrer Aufforderung. »Du hast unten am Hals eine gut fünf Zentimeter lange Wunde«, sagte John ruhig. Melinda Crane besprühte Stephies Hals mit einem kühlenden Antiseptikum, und Stephie konnte einen Schrei nur unterdrücken, indem sie ihre schmerzenden Kiefer zusammenpresste. Nach einem scharfen Stich in den Arm überkam sie sofort ein wohliges Gefühl – ihre Kiefer und die verkrampften Muskeln entspannten sich. Als John die Wunde trocknete und dann verband, seufzte sie tief auf. Unterdessen krabbelte Melinda Crane zu anderen wartenden Verwundeten. Gewehre, MGs, Granaten, Mörser und explodierende 20- und 30mmGeschosse verursachten einen Höllenlärm, ohne dass dies Stephies angenehme Gefühle beeinträchtigt hätte. Nur das dumpfe Krachen der 120mmGeschütze der schweren Panzer, deren Geschosse gegen die Wand des Bunkers krachten, ließen Stephie eher unterbewusst ein vages Gefühl der Angst empfinden. Sie lag auf dem Rücken und beobachtete, wie neben Stephon Johnsons Stiefeln Patronen auf den Boden regneten. An der Dekke – weit, weit über ihr – flammten Blitze, deren Licht durch die Scharte in den Bunker drang, und jetzt bestand nur noch dadurch eine Verbindung zwischen ihr und den Ereignissen. Als John ihr half, sich direkt unter der Schießscharte an der Wand aufzusetzen, war Stephie überrascht. Es gab so viel, das sie sagen wollte, doch als Gewehrpatronen auf ihren Helm fielen, verwirrten sich ihre Gedanken. Wann immer sie den Kopf bewegte, flammte der dumpfe Schmerz wieder auf. Also drehte sie ungelenk den ganzen Oberkörper, um die Ereignisse in dem Bunker verfolgen zu können. Hinter der Scharte stand John, der permanent feuerte, und Melinda Crane kümmerte sich um den schreienden Lader des MG-Schützen, dem 236
sie immer noch nicht die Hand vom Gesicht reißen konnte. Die andere Hand des Mannes, der schwere Verbrennungen davongetragen hatte, war ausgestreckt, und seine Finger glichen einer reglosen, tödlichen Kralle. Neben Stephie lag ihr Gewehr. Als sie neben John aufzustehen versuchte, kam ihr die Waffe plötzlich schwerer vor. »Runter!«, brüllte John, der ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie so zu Boden presste, dass ein Knie auf einer leeren Patrone landete. Jetzt strahlten das Knie und der Hals Schmerzen aus. Beim nächsten Versuch war sie darauf vorbereitet, dass John sie am Aufstehen hindern wollte, aber sie fegte einfach seine Hand zur Seite und schob den Lauf ihres Gewehrs durch die Scharte. Der Anblick wirkte surreal. Überall sah sie Flammen und Mündungsfeuer, ein Kugelhagel schlug gegen die Außenseite des Bunkers. Gelegentlich pfiff eine Kugel durch die Scharte. Aber Stephies Aufmerksamkeit war durch den furchtbaren Anblick von fünfzig gepanzerten chinesischen Kettenfahrzeugen gefesselt, die nebeneinander den gegenüberliegenden Hügel herunterkamen und im Zickzackkurs zwischen den brennenden Wracks ihrer Vorgänger hindurchsteuerten. Mittlerweile wusste Stephie nicht mehr, ob es noch die erste oder schon die zweite oder dritte Angriffswelle war. Am Ufer verschwanden die Amphibienfahrzeuge, deren Vorderseiten wie der Bug eines Schiffs geformt waren, fast gleichzeitig in einer Wasserfontäne. Im Wasser verlangsamten die Amphibienfahrzeuge auf Schrittgeschwindigkeit, wodurch sie zu einer leichten Beute amerikanischer Raketen wurden und mitten im Fluss zu Dutzenden explodierten. Einige krochen auf die Sandbänke und beschleunigten, während das Wasser in Kaskaden von den Rümpfen troff, aber am Ufer und unten auf dem Hügel flogen weitere Amphibienfahrzeuge in die Luft. Durch den Schlitz in der Bunkerwand beobachtete Stephie die Szenerie. Von Infanteristen abgefeuerte Granaten schossen in hohem Bogen auf ihren Bunker zu. Alle außer der benommenen Stephie duckten sich. Auf ihrem Gesicht und ihren Händen spürte sie die sengende Hitze. Schrapnellsplitter drangen durch die Scharte, ohne weiteren Schaden anzurichten. Nachdem Stephie das Gewehr gehoben und geduldig gezielt hatte, traf sie einen der Chinesen mit den Granaten an der Brust, aber das Projektil prallte von einer kugelsicheren Weste ab und schleudert ihn nur rückwärts zu Boden. 237
»Stephie…« John packte sie an der Schulter, und die zweite Kugel schlug in den Fluss. Sie riss sich los. »Das war deine Schuld!« Der ins Visier genommene Chinese kroch den Hügel hinunter, um seinen Helm zu holen. Stephies Kugel traf seine rechte Hinterbacke und musste einen Knochen zersplittert haben. Verwirrt blickte sich der Mann um. Stephies nächster Schuss traf seinen ungeschützten Kopf. Aus einem der brennenden Amphibienfahrzeuge, das den Hügel zur Hälfte erklommen hatte, strömten immer mehr chinesische Infanteristen – weitere Ziele für Stephies M-16. Plötzlich hörte man den Rotor eines Helikopters, und der Abhang vor dem Bunker ging in Flammen auf. Stephie konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, als der chinesische Kampfhubschrauber ihren Bunker mit einem 30mm-Bordgeschütz zu beharken begann. Melinda Crane fasste sich schreiend an die linke Wade, doch dann beendete eine noch lautere Explosion die Angriffe aus dem Hubschrauber. Sofort standen Stephie und die anderen auf, um durch die Schießscharte zu blicken. Als die Gleitkufen des abgeschossenen Helikopters nachgegeben hatten, hatte er sich überschlagen, und die Kanzelhaube aus Plexiglas schmiegte sich jetzt in einen Krater auf dem Hügel. Der Pilot und der Copilot hingen mit den Köpfen nach unten in ihren Sitzen und zerrten an den Gurten. Animal bestrich das etwa vierzig Meter entfernte Wrack mit dem M-60, aber die Projektile hinterließen auf der kugelsicheren Kanzelhaube nur eine Kette von Sternen. »Ich hab’s!«, brüllte Stephie, die ihr M-16 so auf die Seite legte, dass die unter dem Lauf angebrachte Granatpistole geradewegs auf das Ziel zeigte. John riet zur Vorsicht, aber Stephie wiederholte nur, dass sie die Lösung des Problems gefunden habe. Der Pilot saß auf der Innenseite des Dachs des auf dem Kopf stehenden Kampfhubschraubers und versuchte, eine Notausstiegsluke zu öffnen. Als Stephie richtig visiert hatte, vergewisserte sie sich ein letztes Mal, dass die Granate nicht den Beton berühren würde. Dann drückte sie ab, und fast simultan erfolgte die Explosion der Granate. Das Blut des Copiloten spritzte gegen die Innenseite der Kanzelhaube, doch der Pilot schaffte es, mit einem Tritt die Luke zu öffnen. Schnell verschlangen Flammen das Cockpit, aber der Pilot zwängte sich aus dem Helikopter und rannte davon. Ein Schuss aus Johns Sturmgewehr erwischte ihn, und als er den Hügel 238
hinabtaumelte, war er bereits tot. Aus dem Helikopter schossen Raketen, Leuchtspurmunition und Granaten in alle Richtungen, bis schließlich die unter der Maschine angebrachten Treibstofftanks explodierten. Die Hitzewelle traf den Bunker, und alle mussten sich hinter ihrem Schutzschild aus Beton ducken. Stephie blickte sich um. Der Mann an der mit Blut verschmierten Wand und der mit den Verbrennungen – beide Ersatzleute – waren tot. Der Lader des MG-Schützen lehnte sitzend an einer Seitenwand. Blutige Verbände bedeckten sein Gesicht, und er schlug methodisch mit der geballten Faust auf den Boden. Jetzt waren nur noch sieben Leute übrig: Stephie, John, Stephon Johnson, Animal, Dawson, Tate und Johns einziger noch lebender Ersatzmann, wie immer dieser auch heißen mochte. Ein Schwall von Störgeräuschen drang durch ihre Kopfhörer, bis sich schließlich Ackerman lautstark über Funk meldete. »Die Schützengräben säubern! Die Chinesen sind in unseren Schützengräben! Säubert sie!« Mit einer Handbewegung gab John dem MG-Schützen zu verstehen, dass er ihm folgen sollte. Dann schnappte er sich seinen letzten Mann und Stephies Grünschnabel – Dawson. Durch die Öffnung an der Rückseite drang der Lärm automatischer Waffen in den Bunker. Nachdem Becky den Sturm in dem Durchgang abgewettert hatte, kam sie jetzt wieder in den Raum gelaufen. »Hierher, Marsh!«, brüllte Johnson, der permanent feuerte. Stephie tat es ihm gleich, doch sie konnte nichts gegen die Gänsehaut tun, die sie vor der Gefahr in ihrem Rücken warnte. Die paar Chinesen, die auf dem Hügel kauerten, waren doch eher Kanonenfutter. Stephie ging auf den Ausgang zu. »Ich werde den Schützengraben überprüfen.« Erneut brüllte Johnson Becky Marsh an, sie solle endlich zur Schießscharte kommen. Als Stephie über Beckys Beine hinwegstieg, blickte sie sie mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck an, der von Becky trotzig erwidert wurde. Draußen war alles in Auflösung begriffen. Krater verbreiterten den Schützengraben, an anderen Stellen waren seine Wände eingebrochen. Über dem schlammigen Boden hing dichter Rauch. Animal lag zwischen umgekippten Sandsäcken hinter seinem Maschinengewehr. Mit der besten Waffe der Squad verteidigte er den einzigen Ausgang des Bunkers. Je nach Bedarf schwenkte er das MG nach links oder rechts. 239
»In welche Richtung sind sie gegangen?«, brüllte Stephie über das Geknatter des MG und den Lärm anderer Waffen hinweg. »Die beiden Grünschnäbel sind in die Richtung verschwunden.« Der MG-Schütze zeigte nach rechts. »Burns in die.« Stephies Blick folgte erst seinem Finger und dann John, der nach links gegangen war. »Verstehst du mich, Dawson?«, fragte sie über das Mikrofon an ihrem Helm. »Over.« Eine leise, keuchende Stimme bestätigte ihr, dass es bisher auf der rechten Seite noch keine Feindberührung gegeben hatte. »John?«, fragte Stephie erwartungsvoll, während sie in seiner Richtung den verrauchten Schützengraben hinabstarrte. »Kannst du mich hören, John?« Plötzlich schlugen ihr aus dieser Richtung die lauten Geräusche eines heftigen Nahkampfes entgegen. Vorsichtig bewegte sich Stephie auf den Ort des Feuergefechts zu, wobei sie durch umgestürzte Holzpfosten und Erdrutsche behindert wurde. Sie ging mit angelegtem Gewehr, die Augen auf das Visier geheftet, den Finger schussbereit am Abzug. Der treibende Rauch formte geisterhafte Gestalten, die sich dann wieder auflösten. Mit zusammengekniffenen Lippen kämpfte Stephie gegen das Husten an, da es blindlings abgegebenes Feuer auf sie ziehen konnte. Der imaginäre Zielpunkt hinter dem aufgeklappten Vordervisier ihres Sturmgewehrs war ihre einzige Orientierung. Ein sich vorsichtig nähernder chinesischer Soldat verriet sich dadurch, dass der Rauch hinter ihm etwas aufgewirbelt wurde. Stephie drückte ab und spürte den Rückstoß. Drei Meter vor ihr wurde der Kopf des Chinesen in Stücke gerissen. Als in dem Schützengraben vollautomatisches Feuer ausbrach, suchte Stephie hinter aufeinander gestapelten Sandsäcken Deckung, deren oberste Schicht von dreißig oder vierzig Kugeln zerfetzt wurde. Feuerschutz, dachte sie, während sie an einer Handgranate herumzufummeln begann. Nachdem sie den Stift herausgezogen hatte, warf sie die Splittergranate nur etwa einen Meter fünfzig weit über die teilweise eingestürzte Wand des Schützengrabens. Die Explosion erschütterte ihren Rücken und ließ lose Erde von den Wänden des Schützengrabens herabregnen. Direkt vor Stephies Füßen landete ein abgetrennter Arm. Nachdem sie den Wählhebel des M-16 auf die Position »Feuerstoß« umgelegt hatte, rollte sie sich in den wirbelnden 240
Rauch, wobei sie wiederholt aufs Geratewohl auf den Abzug drückte. Unter ihrem eigenen Feuerschutz kam sie wieder auf die Beine und rannte los. Dabei kam sie an drei verstümmelten Chinesen und einem kleinen, rauchenden Loch vorbei. In der entgegengesetzten Richtung schossen in hohem Bogen schwarze Objekte an ihr vorbei. Ein halbes Dutzend Granaten explodierte an der Stelle, wo sie sich gerade noch aufgehalten hatte, und Stephie suchte in einem Unterstand Zuflucht, der stark einsturzgefährdet zu sein schien. Das Dach des Unterstandes wurde nur noch von einem einzigen hölzernen Stützpfeiler getragen, der unter Brettern, Erde und Sandsäcken nachzugeben drohte. Stephie lag mit angelegtem Gewehr auf der Seite. An einer Biegung des Schützengrabens tauchten aus den Rauchwolken etliche Gewehrläufe auf. Eins, zwei, drei, vier. Sie zählte die offensichtlich ahnungslosen chinesischen Soldaten, von denen sie keiner sehen konnte hinter diesen Sandsäcken, die vom Dach des Unterstands heruntergestürzt waren. Jeder der Soldaten hatte einen etwa sechs Kilogramm schweren Block Plastiksprengstoff dabei, dem die Wände eines Bunkers nicht widerstehen würden. Fünf, sechs, sieben, acht. Animal eröffnete mit dem Maschinengewehr das Feuer, und die ersten drei Männer gelangten nie wieder zurück zu der Wand, über die Stephie ihre Granate geschleudert hatte. Die anderen fünf Chinesen kauerten sich auf Stephies Seite zwischen ihren verstümmelten Kameraden nieder. Wieder kamen andere Chinesen um die nächste Biegung des Schützengrabens, um ihren Kameraden weiter vorn zu Hilfe zu kommen. Einer brachte an seinem Sprengstoff einen Zünder an. Offensichtlich wollten sie die Position des MG-Schützen angreifen. War der Mann am Maschinengewehr erst einmal tot, würden auch die anderen in dem Bunker bald nicht mehr leben. Weiter links – in der Richtung, in die John gegangen war – explodierte eine Granate in dem Schützengraben, und die Chinesen wurden in Stücke gerissen. Ein einsames M-16 gab kurze Feuerstöße ab. Rechts von Stephie pressten sich vier chinesische Soldaten fest auf den Boden, während der Fünfte seinen Sprengstoff scharf machte. Er lehnte sich zurück und holte weit aus, um den Plastiksprengstoff auf den Bunker zu schleudern. Stephie tötete ihn mit einem Feuerstoß, und die Sprengstoffladung fiel zwischen die vier anderen Chinesen, nur knapp vier Meter entfernt von der 241
Stelle, wo Stephie sich versteckte. Sie trat gegen den einzigen Stützpfeiler des Unterstandes, und das Dach stürzte auf sie herab. Aber das war nichts gegen die brutale Explosion, die nun folgte. Stephie erwachte in einem finsteren Sarg und glaubte ersticken zu müssen. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie verlor immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein. Während dieser Nacht wurde sie mehrfach durch Gewehrfeuer geweckt, aber sie dämmerte immer wieder ein. Als sie schließlich einen klaren Kopf hatte, drang Licht durch ein paar Ritzen. Es war Tag – aber welcher Tag? Trotz ihrer laut klingelnden Ohren hörte Stephie stöhnende Männer, die Geräusche brechenden Holzes und englische Flüche. »… wenn wir nur etwas pennen könnten.« Die Worte wurden lauter, dann strömten strahlendes Sonnenlicht und frische Luft auf Stephie ein. Als jemand die Holzbalken über ihrem Körper zur Seite riss, bekam Stephie Erde in die Augen. »Hey! Hier ist sie!«, brüllte Private Dawson. »Hier!« Als die letzten Überbleibsel des Unterstandes entfernt wurden, regnete wieder Erde auf ihr Gesicht. Irgendjemand betupfte Stephies Haut mit einem kalten, nassen Tuch, und als sie die Augen öffnete, blickte sie in ein halb mit einem blutgetränkten Verband umhülltes Gesicht. Das sichtbare Nasenloch war mit einem ebenfalls blutigen Wattebausch zugestopft. Der Kinnriemen des Helms baumelte herab, während der Mann geduldig Stephies Gesicht abwusch. »Ich dachte, du wärst tot«, krächzte Stephie. John Burns buddelte sie so langsam und behutsam aus, als wäre sie ein kostbarer archäologischer Fund. Vielleicht erwartete er, dass sie In Stücke gerissen war. Stephie war benommen, aber wie durch ein Wunder unverletzt. Als er die Arme um sie legte und sie hochhob, rann eine einzelne Träne über sein mit Dreck verschmiertes Gesicht.
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Jackson, Mississippi 10. Oktober, 2000 Uhr Ortszeit »Die sehen hübsch aus«, sagte Han zu dem Koordinator der Veranstaltung, während sie die Bilder auf dem Monitor studierten. Die beiden Männer standen in einem Studio hinter der Bühne des Rathauses, wo man für Han’s Fernsehsendung ein amerikanisches Publikum versammelt hatte. »Tatsächlich sehen sie aus, als kämen sie gerade aus der Kirche.« »Da haben wir sie auch aufgelesen«, bemerkte der Medienprofi aus Peking. Der Mann war Zivilist. »Werden Sie hier sein, wenn der Beitrag geschnitten wird?« »Nein«, antwortete Han kopfschüttelnd. »Ich habe einen Fototermin in Atlanta.« »Krankenhäuser und Flüchtlingslager?«, fragte der Medienprofi. Han nickte. »Deshalb werde ich Ihnen die volle Verantwortung für den Schnitt des Films überlassen. Ich wünsche optimistische Musik und will glückliche Leute sehen, die froh sind, dass sie bald wieder arbeiten dürfen. Und wir müssen sie so schnell wie möglich an die Arbeit bekommen, weil sonst der Kapitalwert ihres Produktivitätsausfalls die Rentabilität unseres ganzen Feldzugs versaut.« »Ich habe etwas Filmmaterial über die amerikanische Industrie«, sagte der Medienprofi. »Aber ich bin mir nicht sicher, wie ich es präsentieren soll.« »Machen Sie sich keine Sorgen darum, dass Sie eventuell den amerikanischen Patriotismus anheizen könnten. Tatsächlich wünsche ich, dass Sie ausdrücklich an ihn appellieren. Sollten die Leute von der Militärzensur Ärger machen, rufen Sie einfach meine Handynummer an. Ich will, dass sie mit sich selbst und den von ihnen hergestellten Produkten zufrieden sind. Also Finger weg von schwerfälligen maoistischen Inszenierungen – keinerlei Traktoren, Fließbänder oder Stahlwerke. Das Ganze muss den Touch des 21. Jahrhunderts haben.« Das Publikum verstummte, als draußen ein unterwürfiger Amerikaner die Bühne betrat, der Bürgermeister einer Han unbekannten Stadt. Der Medienprofi erklärte, dass der Bürgermeister der Hauptstadt des Bundesstaats mit dem Großteil der Bevölkerung geflohen sei. »Wir brauchten jemanden, der das Publikum einstimmt und Ihren Auftritt einleitet. Einen 243
besseren Kandidaten als ihn haben wir nicht aufgetrieben.« »Ich weiß, dass Sie sich alle fragen, warum ich hier stehe«, wandte sich der untersetzte Mann an das gebannte Publikum. »Eigentlich weiß ich es selbst nicht genau, aber wenn wir uns alle ruhig verhalten…« »Der Mann hat keinerlei Schwung und ist fehl am Platze«, sagte Han. »Ich werde selbst auf die Bühne gehen.« Der Koordinator der Veranstaltung begleitete Han bis zum Vorhang, wo ein Visagist sich um sein Make-up kümmerte und ihm dann die Haare kämmte. Nachdem ein elegant gekleideter Assistent den Lokalpolitiker höflich von der Bühne geführt hatte, der nur noch ein »Also dann!« ins Mikrofon stammeln konnte, begann der Medienprofi mit fünf Fingern abwärts zu zählen. Die Musik setzte ein, und dann leuchteten die Anzeigen auf, die das Publikum zum Applaudieren aufforderten. Während vierhundert Leute Beifall klatschten, betrat ein lächelnder Han die Bühne. Auf fett gedruckten Flugblättern waren die grimmigen Einwohner vor »unangemessenem oder antichinesischem Verhalten« gewarnt worden. »Danke, vielen Dank«, sagte Han. Der Applaus erstarb ein bisschen zu schnell, ganz so, als wäre er erzwungen worden, was ja auch der Fall war. »Ich heiße Sie zu unserer Versammlung in diesem Rathaus willkommen und möchte den Einwohnern von Jackson danken, dass sie so zahlreich erschienen sind.« Han schritt die Stufen zum Mittelgang hinab. »Mir ist klar, das dies für Sie alle unsichere Zeiten sind, aber gerade über diese Unsicherheit möchte ich heute Abend sprechen. Ich möchte, dass Sie sich trotz des Wechsels in der Administration wieder wohl fühlen.« Han ging auf eine pummelige Frau zu, deren schwer definierbares Alter irgendwo zwischen Ende zwanzig und Anfang fünfzig liegen musste. »Leben Sie hier in Jackson, Madam?« Die Frau schluckte und nickte dann. »Und haben Sie oder Ihr Mann vor dem Krieg gearbeitet?« Sie nickte erneut. »Ja.« Da die Frau offensichtlich noch etwas sagen wollte, hielt Han ihr noch einmal das Mikrofon hin. »Wir haben beide gearbeitet.« Die Frau hatte den schweren Akzent des amerikanischen Südens. Han ließ seinen Blick über die verkniffenen Gesichter des Auditoriums gleiten. Ihm ging es darum, dass jeder seine Botschaft verstand. »Und was waren Sie?« 244
»Buchhalterin in einer Autowerkstatt.« Han fand, dass dies der perfekte Job für sie war. »Und arbeiten sie zurzeit auch?«, fragte er weiter. Die Amerikanerin schüttelte den Kopf. »Nein, die Eigentümer sind verschwunden. Sie sind weggezogen, bevor…« Da er nicht vorhatte, dem unangenehmen Thema auszuweichen, nickte Han teilnahmsvoll. Tatsächlich verstand er den Schmerz der Frau. »Aber sagen Sie… Der Betrieb selbst steht doch noch, oder?« Die Frau bejahte. »Und es gibt immer noch Maschinen, Ersatzteile und Arbeit für eine Buchhalterin?« Die Frau zuckte nur die Achseln. »Also hält Sie nur die Tatsache von einer Rückkehr an Ihren Arbeitsplatz ab, dass die Eigentümer des Betriebs geflohen sind und ihren Besitz zurückgelassen haben.« »Es ist alles eingesperrt.« Ein leises, ängstliches Lachen lief durch das Publikum. Han strahlte, als hätte die Frau gerade einen großartigen Witz gerissen. Er bemühte sich, ebenfalls lustig zu sein. »Keine Angst, wir passen drauf auf.« Die chinesischen Studiotechniker und Bühnenarbeiter, ja selbst die jungen Soldaten in Uniform schienen Han’s Bemerkung amüsant zu finden, aber die Amerikaner saßen reglos da. Ihre Minen verrieten Angst oder Hass – vielleicht auch beides. Für diese Versammlung im Rathaus hatte Han sich aus verschiedenen Gründen entschieden. So etwas war eine typisch amerikanische Veranstaltung, und sie würde den sich in ihren Häusern verschanzenden Menschen klar machen, dass sie nicht allein waren. Man musste ihnen eine Zusammenarbeit mit dem höflichen chinesischen Administrator plausibel erscheinen lassen. Und schließlich war die Konfrontation mit diesem Publikum für Han auch ein Test. Da seine letzte Bemerkung nicht gut angekommen war, würde sie aus der endgültigen Fassung der Aufzeichnung herausgeschnitten werden. In Gedanken spulte Han das Band zurück und nahm den Faden vor seiner deplatzierten Bemerkung wieder auf. »Nun, ich versichere Ihnen, dass Sie wieder an die Arbeit gehen können. Sollten Sie arbeitslos sein, werden wir etwas dagegen tun. Es ist Ihr unveräußerliches Recht, einen Job zu haben, und wir werden dafür sorgen, dass Sie einen bekommen und für Ihre Arbeit bezahlt werden. Von mir beauftragte Statistiker werden Sie zu Hause besuchen und nach Ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten fragen. 245
Wenn jeder wieder einen einträglichen Job hat, kann mit der amerikanischen Wirtschaft alles so weitergehen wie zuvor.« Jetzt wandte sich Han einer Kamera zu, die speziell für Großaufnahmen installiert worden war. Bevor er weitersprach, legte er eine nachdenkliche Gedankenpause ein. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben – und ich spreche hier für alle Chinesen, die sich in Amerika aufhalten, Zivilisten und Militärs –, muss ich Ihnen gestehen, dass wir schon immer mit Ehrfurcht auf die Amerikaner geblickt haben.« Während die chinesischen Zivilisten nachdrücklich nickten, drehte eine Kamera der Militärs Nahaufnahmen grimmig dreinblickender Wachtposten. In diesem Fall würde der Schnitt unmissverständlich deutlich machen, dass diese Han’s Gefühle den Amerikanern gegenüber nicht teilten. Han fuhr mit seiner akribisch vorbereiteten Rede fort. »Krieg ist immer – und wenn ich immer sage, meine ich es auch – etwas Schreckliches, und jede Nation sollte ihr Bestes tun, um ihn zu vermeiden. Aber so sehr wir uns alle auch bemühen mögen – wir alle, die die besten Absichten haben –, manchmal lässt sich Krieg einfach nicht verhindern. Meine persönliche Ansicht ist, dass man aus jeder Situation das Beste machen muss. Jetzt haben Chinesen und Amerikaner die Chance, eine neuartige und dauerhafte Partnerschaft aufzubauen, die auch lange nach unserer Rückkehr nach China noch Bestand haben wird.« Jetzt hatte Han die Aufmerksamkeit aller auf seiner Seite. Chinesen und Amerikaner, Soldaten und Zivilisten – das Ende des Krieges und die Heimkehr der Chinesen wünschten sich alle. Zumindest diejenigen, die unter dem Rang eines Generals standen. Aber eben auch die Zivilisten, die dem Administrator der besetzten Gebiete – also Han – unterstanden. »Sie können von uns lernen und wir von Ihnen, und gemeinsam können wir der Welt zeigen, was wahre…« In der Mitte der sechsten Reihe sprang ein Mann in mittleren Jahren auf. Einen Augenblick lang setzte Han’s Herzschlag aus, aber offensichtlich war der Narr nicht bewaffnet. »Tod den Chinesen!«, brüllte der aufgebrachte Amerikaner. »Alle müssen zu den Waffen greifen und kämpfen!« Seufzend ließ Han das Mikrofon sinken. Nachdem er einen Moment lang Angst gehabt hatte, empfand er jetzt nur noch Mitleid für den Schreihals. »Wir müssen jeden Einzelnen töten! Lang lebe Amerika!« Kopfschüttelnd beobachtete Han, wie der Mann von Soldaten abgeführt wurde. »Wir können sie schlagen, wenn wir nur…« Die sympathisch aus246
sehenden Soldaten, sämtlich in Paradeuniform, gingen effizient, aber nicht übereilt zur Sache. Einer hielt dem aufmüpfigen Amerikaner einen weißen Handschuh vors Gesicht, unter dem sich ein mit Äther getränkter Wattebausch verbarg. Nachdem seine Glieder schlaff geworden waren, konnte er mühelos weggeschafft werden. Dann wurde ein Ersatzmann herbeigeführt, der den leeren Platz einnahm. Auf der Bühne trat der Koordinator der Veranstaltung zu Han. »Wollen Sie vom Eingang her einmarschieren?«, fragte er. »Nein«, antwortete Han. »Ich bleibe hier. Geben Sie mir einen Augenblick Zeit, um mit ihnen zu reden.« Han hielt das Mikrofon dicht vor seine Lippen, und deshalb klang seine Stimme jetzt lauter als zuvor. »Genau an solchen Vorfällen haben wir keinerlei Interesse«, verkündete er mit dröhnendem Organ. Jetzt herrschte tödliche Stille in dem reglos dasitzenden Publikum. Han zeigte auf ein Dutzend hochmoderner Studiokameras, die die unter Zwang hergebrachte Menschenmenge wie Maschinengewehre umringten. »Diese Versammlung wird im Fernsehen gezeigt, und zwar morgen Abend. Es ist natürlich keine Live-Übertragung.« Von draußen war ein deutlich vernehmbarer Schuss zu hören. Han runzelte die Stirn und schüttelte missbilligend den Kopf, aber andererseits war dies eine perfekte Einschüchterung. Zu diesem Thema erübrigte sich jedes weitere Wort. Er wandte sich dem Koordinator der Veranstaltung zu und sagte über die Lautsprecheranlage: »Lassen Sie es uns noch einmal versuchen.«
Am Savannah, South Carolina 12. Oktober, 1730 Uhr Ortszeit Draußen war es kalt, in dem Betonbunker war die Temperatur noch niedriger. Stephie, John, Animal, Becky, Dawson und Melinda Crane saßen auf dem mit getrocknetem Blut verschmierten Fußboden. Sowohl Stephie als auch John hatten eine SAW auf ihrem Schoß liegen, deren Magazin eine Kapazität von sechshundert Schuss hatte. Noch immer war Stephies steifer und schmerzender Hals mit dicken Verbänden verarztet. Ihr rechter Arm und ihre Rippen waren mit blauen Flecken übersät, die im Verlauf 247
der vergangenen Woche sechsmal eine andere Farbe angenommen hatten. Wenn sie nicht kämpften, so wie jetzt, steckte der rechte Arm in einer behelfsmäßigen Schlinge. Ihre Ohren klingelten immer noch, und ihr Kopf war von einem dumpfen Pochen erfüllt – trotz der Schmerzmittel, die sie sechsmal am Tag einnahm. Mittlerweile schluckten alle in dem Bunker Pillen, die sie in einen Zustand dumpfer Benommenheit versetzten. Alle außer John Burns. Jetzt saß John neben Stephie. Seine Stirn war durch einen Streifschuss verletzt worden, und die Wunde hatte genäht werden müssen. In seinen beiden Ohren steckten kleine Wattebäusche, die sich durch Ausfluss gelblich verfärbt hatten, und an seinen durch Verbrennungen verletzten Wangen blätterten die Krusten und die Haut ab. Beide Wunden hatte er sich, genau wie Stephie ihre, an jenem Tag vor einer Woche zugezogen, als die Chinesen bis in ihren Schützengraben vorgedrungen waren. Damals hatte John sich tot gestellt, als er die überwältigende Anzahl der Chinesen bemerkte, die an ihm vorbei in Richtung auf Stephies Stellung vorrückten. Anschließend griff er die Chinesen von hinten an. Auf diese Weise rettete er Stephie das Leben, so wie Stephie den anderen Mitgliedern der First Squad das Leben gerettet hatte. Während sie bei der Sprengstoffexplosion, durch das eingestürzte Dach des Unterstands geschützt, nur eine leichte Gehirnerschütterung und etliche Quetschungen davontrug, wurde John zwei Meter hoch in die Luft geschleudert. Dabei waren seine beiden Trommelfelle in Mitleidenschaft gezogen worden. Jetzt beobachtete Stephie eingehend Animal. Der MG-Schütze saß mit einem dreckigen M-60 an der hinteren Wand des Bunkers. Seine geliebte erste Waffe war von einer Kugel durchschlagen und zerstört worden – ganz wie seine Hand, die dick verbunden war. Nun hatte er ein neues M60, das sie in einem verlassenen Maschinengewehrnest aufgegabelt hatten. Simpson hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Blut des toten Vorbesitzers abzuwaschen. Weil die schwere Waffe für das Überleben der Squad entscheidend war, machte sich Stephie wegen der Gleichgültigkeit des MG-Schützen Sorgen. Von den Soldaten in dem Bunker verfügte nur Becky über Batterien. Jeden Abend wurde sie von Ackerman mit Nachschub versorgt. Sie war ihre einzige Quelle visueller Informationen. Ohne auch nur ein einziges Mal ihre Waffe zu benutzen, hatte sie den anderen mehrfach das Leben geret248
tet. Einmal, als sich Chinesen mit Flammenwerfern ihrem Bunker genähert hatten, erblickte sie diese rechtzeitig auf den kleinen, an ihrem Helm befestigten Bildschirmen. Durch ihre hektischen, lautstarken Warnungen konnten alle rechtzeitig aus dem Bunker fliehen – außer Stephon Johnson, der immer wieder »Ich hab’ sie!« brüllte, während er aus einem extremen Winkel durch die Scharte feuerte. Eine heiße Hitzewelle schwappte durch den Ausgang nach draußen, während sich der Bunker mit brennendem Öl füllte. Alles dauerte kaum eine Sekunde, aber Johnsons Schreie hielten noch sehr viel länger an. Stephie schloss die Augen, als sie von diesen Erinnerungen eingeholt wurde. »Tut’s wieder weh?«, fragte John. »Brauchst du Schmerzmittel?« Stephie schüttelte den Kopf. Mittlerweile waren sie alle fast schon professionelle Ärzte. Melinda Crane, ihre Sanitäterin, hatte bei ihren Notoperationen unterschiedlichster Art alle Infanteristen als Assistenten herangezogen. Sie untersuchten schwere, offene Brustwunden und erstatteten Melinda Bericht, während diese einem anderen Patienten das Leben rettete. In ihrer Verzweiflung vollführten sie Luftröhrenschnitte, nur um dann herauszufinden, dass es zwei Quellen für die entsetzlichen, saugenden Geräusche gab: eine im Hals, die sie gesehen hatten, und eine unsichtbare in der Brust. Sie wurden zu geschickten Anästhesisten und spritzten die Betäubungsmittel in unverletzt gebliebene Venen, damit diese ihre Wirkung entfalten konnten. Doch fast alle ihre spektakulären Operationen blieben erfolglos und konnten ihren jungen Kameraden das Leben nicht retten. Jetzt lag Melinda Crane zusammengekrümmt und mit abgewandtem Gesicht in einer Ecke. Die vielen Tragödien hatten ihre Lebenskraft erschöpft. Ihre dunklen Augen, ehedem vor Leben sprühend, hatten einen trüben, apathischen Blick. Sie wollte mit niemanden mehr reden, niemanden näher kennen lernen oder Güte und Entgegenkommen von Menschen annehmen, deren schwere Verwundungen sie bald vielleicht ebenfalls nicht heilen konnte. Um sich gegen den mit einer weiteren erfolglosen, »lebensrettenden« Maßnahme verbundenen emotionalen Schmerz zu wappnen, hatte sie sich völlig in ihr Inneres zurückgezogen. Nur Dawson hatte sich anscheinend an dieses neue Leben gewöhnt, das für ihn fünf Tage lang ein fast ununterbrochenes Gefecht gewesen war. Nach jedem Feuergefecht säuberte er sein M-16, und nach jeder Patrouille 249
im Schützengraben steckte er sofort neue Granaten in sein Gurtband. »Irgendwelche Neuigkeiten über Ersatzleute?«, fragte er Becky Marsh. Becky lag auf dem Rücken, den Kopf auf einen Rucksack gebettet, und folgte dem Army-Sender. »Die Verstärkung ist in Richtung Norden zum Clark’s Hill-See umdirigiert worden. Dort sind den Chinesen zwei Durchbrüche gelungen, aber sie waren so geschwächt, dass sie die Situation nicht richtig ausnutzen konnten. Unsere Reserven und Ersatzleute werden dort zusammengezogen, damit sie die Lücken stopfen können.« »Woher weißt du das?«, fragte Stephie herausfordernd. »Von der Kompanie hast du diese Informationen nicht, übers Videonetz des Bataillons auch nicht.« Becky warf Stephie einen funkelnden Blick zu. »Treibst du’s mittlerweile mit Ackerman?«, fragte Stephie. »Von mir aus kannst du Scheiße fressen, dumme Fotze.« Langsam näherten sich Stephies Finger dem Pistolengriff ihrer Schnellfeuerwaffe, was keinem in dem Bunker entging. Stirnrunzelnd blickte John zwischen Stephies Gesicht und ihrer Hand hin und her. Als Sergeant war er der Squad-Führer, und Stephie, mittlerweile im Rang eines Corporals, war sein einziger Führer eines Fire Teams. Eigentlich war es ihr Job, Meinungsverschiedenheiten zwischen den niedergeschlagenen Soldaten beizulegen. In diesem Augenblick erschien First Lieutenant Ackerman im Eingang des Bunkers. »Packt eure Sachen zusammen«, sagte er. »Wir ziehen uns zurück.« »Werden wir abgelöst?«, fragte Dawson. »Nein, wir ziehen uns zurück«, antwortete der Platoon-Führer. »Soll das heißen, dass wir diese Linie aufgeben?«, brüllte Stephie fast. Sie stand auf und blickte durch die geschwärzte Schießscharte auf den Hügel, an dessen Fuß der Fluss lag. Über zweihundert Wracks chinesischer Kampffahrzeuge lagen da, außerdem tausende verkrümmter und aufgedunsener Leichen. Wenn sich der Wind drehte und den Verwesungsgeruch den Hügel hinaufwehte, mussten sich alle mit Rasierwasser parfümierte Taschentücher vor die Nase halten. »Es ist völlig ruhig, wir stehen kein bisschen unter Druck! Warum zum Teufel geben wir dieses Terrain preis?« »Stephie…«, begann John besänftigend. »Nein!«, platzte es aus Stephie heraus. »Es ist nicht richtig! Wegen die250
ser verdammten Linie haben wir unser Letztes gegeben, und wir können sie auch weiterhin halten! Sie haben uns mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln angegriffen, und wir…« »Am Clark’s Hill-See ist die Linie durchlöchert«, unterbrach Ackerman heiser. »Wir werden auf den Flanken umgangen. In einer Viertelstunde werden wir unten an der Straße von Lastwagen abgeholt. Packt eure Sachen. Aber so, dass ihr in zehn Minuten dort seid.« Er wandte sich um und verließ den Bunker. Alle standen auf, um ihre Ausrüstung zusammenzusuchen. »Diese Dreckskerle von der Nationalgarde in der 40th Infantry Division!«, nörgelte Stephie, die fast bei jeder Bewegung ihres Halses vor Schmerzen zusammenzuckte. »Wahrscheinlich sind sie abgehauen, als es zu ungemütlich wurde.« »Sie haben jede Menge schwere Schläge einstecken müssen«, bemerkte John leise. »Sollten sie weggerannt sein, sind sie jetzt alle tot.« »Du kannst ja bleiben, wenn du unbedingt willst«, sagte Becky sarkastisch. »Ja, ich will bleiben!«, brüllte Stephie. John versuchte, sie zu beruhigen, während sie aus vollem Hals schrie. »Irgendwo müssen wir ihnen Einhalt gebieten! Warum nicht hier?« In dem hallenden Bunker klang ihre Stimme schmerzhaft laut. »Weil sie auf unseren Flanken sind«, antwortete John. »Sie werden uns seitwärts umgehen, einschließen und töten.« Plötzlich war Stephie alles egal. Sie machte sich von Johns Griff frei und stopfte aufs Geratewohl ihre Ausrüstung in den Rucksack, ohne sich weiter um ihre Schmerzen zu kümmern. Für sie existierten die anderen nicht mehr, ihr Kopf war völlig leer. Neben ihr kniete John nieder. Sie blickte zu ihm auf. »Keine Schmerzmittel, ich will nicht mehr«, flüsterte sie ihm zu. Nachdem er sie mit einem durchbohrenden Blick gemustert hatte, nickte er. Sie war nervlich am Ende, und die Medikamente machten alles nur schlimmer. Als sie den Bunker verließen, berührten alle noch einmal die Namenszüge, die sie damals in den feuchten Beton geritzt hatten, sogar Dawson und Melinda Crane, deren Namen gar nicht dort standen. Langsam glitten Stephies Finger über die Namen der Männer und Frauen, die im Bunker 9G ums Leben gekommen waren, aber sie empfand nichts. 251
Keine Schmerzmittel mehr, ermahnte sie sich noch einmal. Der große Schützengraben schien nur noch aus miteinander verbundenen, mit Regenwasser voll gelaufenen Kratern zu bestehen. An sein früheres Aussehen erinnerten geborstene Sandsäcke, zerbrochene Stützpfeiler und ein Dutzend zerfetzte Kabelstränge von Feldtelefonen. Mittlerweile glich der ganze Kamm des Hügels einer Mondlandschaft. Wo einst Bäume gestanden hatten, gab es jetzt keinerlei Schatten mehr. Von den zersplitterten Stämmen der Kiefern, Zeugen des Wütens schwerer Artillerie, war die Rinde abgeschält worden. Die sechs Soldaten marschierten in einer Reihe durch den Splittergraben den Hügel hinab. Durch die eingestürzten Wände und umgefallenen Bäume war es jetzt sehr viel mühsamer als noch vor einer Woche, sich mit der schweren Ausrüstung durch den Graben zu quälen. Niemand sagte ein Wort, alles war ruhig. Stephie begann sich zu fragen, ob sie allein waren. Vielleicht hatten alle anderen sie im Stich gelassen. Die Leiter war zertrümmert, aber sie war auch nicht erforderlich, da die Seitenwand eines großen Bombenkraters einen sanften Abhang bildete. In der Luft hing der Übelkeit erregende, süßliche Gestank des Todes. Während sie vorsichtig über den ausgetretenen Pfad zwischen den Minen wanderten, pressten sie sich ihre parfümierten Taschentücher vor die Nase. Dichte Fliegenschwärme kreisten um die geschwärzten und aufgedunsenen Leichen der chinesischen Soldaten, die in dem Minenfeld gefallen waren, einige nur ein paar Schritte von dem sicheren Pfad entfernt. Plötzlich mussten sich alle auf den Boden fallen lassen, als über ihnen Mörsergranaten durch die Luft orgelten. Aber es war amerikanisches und – was noch wichtiger war – gezieltes Feuer. Amerikanische Artillerie beharkte das jenseitige Ufer des Savannah, um ihren Rückzug zu decken. Sie standen auf, ohne sich die Mühe zu machen, den Dreck von den Uniformen zu klopfen, und gingen weiter in Richtung Straße. Hin und wieder mussten sich alle ducken, weil niedrig fliegende Cruisemissiles über ihre Köpfe strichen. Doch es waren amerikanische Marschflugkörper, die gegen chinesische Artilleriestellungen eingesetzt wurden, die ansonsten vielleicht, wie Stephie vermutete, ihren Rückzug zu verhindern versucht hätten. An der Straße angekommen, begegneten sie schließlich doch anderen Soldaten. Ihr Bataillon gliederte sich in Kompanien, auf die bereits Last252
wagen warteten. Weniger als zweihundert von den ursprünglich sechshundert Soldaten, mit denen sie angetreten waren, waren in losen Reihen zu einem letzten Appell angetreten, bei dem noch einmal durchgezählt werden sollte. Einige Kompanien, die inklusive angegliederter MG-Trupps einhundertachtzig Männer und Frauen gezählt hatten, waren jetzt auf ungefähr ein Dutzend verdreckter, verbundener Überlebender geschrumpft. Fast alle waren verletzt. Einige Offiziere und höhere Unteroffiziere lagen auf Bahren und erteilten von dort Befehle. In ihrer Kompanie, die noch aus fünfzig arg mitgenommenen Soldaten bestand, war Ackerman der letzte überlebende Offizier. Ihr Platoon war von einunddreißig auf achtzehn Leute geschrumpft, und das, obwohl es gleich zweimal mit Ersatzleuten verstärkt worden war. Die Third Squad war bis auf einen Mann ausgelöscht worden. Niemand sagte ein Wort, doch alle schauten sich unruhig um und tauschten leere Blicke aus. Stephie hatte keine Ahnung, was die anderen denken mochten, aber sie konnte nur einen Gedanken fassen: Wie zum Teufel habe ich das nur überlebt? Als John Bums ihr helfen wollte, auf die Ladefläche des Lastwagens zu klettern, hielt sie noch einen Moment inne. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein einzelnes weißes Kreuz, und dahinter befand sich ein großer, frisch aufgeworfener Erdhügel, der allen aus der First Squad auffiel. Mühelos konnte sich Stephie vorstellen, jetzt selbst mit ihren Kameraden in diesem Massengrab zu liegen. Nur so wenig schien die Lebenden von den Toten zu trennen. Auf der Ladefläche des halb leeren Lastwagens setzte sie sich zwischen ihre in düsteres Schweigen versunkenen Kameraden, die die Köpfe hängen ließen und zu Boden blickten. Obwohl sie ihre Gefechte gewonnen hatten, zogen sie sich jetzt zurück. Der mit einer Plane bespannte Lastwagen fuhr los. »Wir werden diesen Krieg gewinnen!«, sagte Stephie zu ihren überraschten Kameraden. Der Satz war wie ein Blitz aus heiterem Himmel aus ihr herausgeplatzt, und jetzt wurde ihre Stimme energischer und überzeugender, bis sie sich zu einer leidenschaftlichen Eindringlichkeit steigerte. »Ich spüre es. Sie haben alle Mittel eingesetzt, aber wir sind nicht zusammengebrochen. Wir haben unsere Stellung gehalten! Sie haben uns schwere Verluste zugefügt, aber wir ihnen noch schwerere! Keine Armee kann weiter so schwere Verluste hinnehmen, wie wir sie den Chinesen hier 253
beigebracht haben! Völlig ausgeschlossen!« Alle blickten sie jetzt an. »Wir haben diese Schlacht gewonnen, und wir werden auch die nächste und die übernächste gewinnen! Wir werden den Krieg gewinnen! Ich fühle es in meinem tiefsten Inneren! Dies ist unser Land, das uns niemand wegnehmen wird! Niemand!« »Elende Arschlöcher!«, bemerkte Animal, als wäre er vor einem wichtigen Spiel durch eine mitreißende Anfeuerungsrede wachgerüttelt worden. Er blickte sich lächelnd um und zog dann einen öligen Lappen aus der Tasche, um sein verschmiertes Maschinengewehr zu reinigen. »Wir werden ihnen jede Menge Arschtritte verpassen!«, fiel Dawson ein und schlug kampfeslustig auf sein Gewehr. Melinda Crane blickte von einem zum anderen, und langsam begannen ihre dunklen Augen wieder erste Funken zu sprühen. Auch Becky sah verstohlen und dümmlich zu Stephie herüber. John dagegen wirkte, so kam es Stephie vor, überrascht. Die Wälder von South Carolina glitten vorbei, während der Lastwagen immer weiter nordwärts rumpelte, in Richtung Washington D.C. Insgeheim schwor sich Stephie, sich selbst von der anfeuernden Vision zu überzeugen, die sie gerade vorgetragen hatte, aber sie wurde von massiven Zweifeln geplagt.
Bessemer, Alabama 14. Oktober, 2100 Uhr Ortszeit Eine steife Brise kündete von der aufziehenden Kaltwetterfront, und die kühle Luft kroch unter Captain Jim Harts Kragen. Er nahm seinen Helm ab und zog sich eine eng anliegende Wollmütze über den Kopf, die nur sein Gesicht unbedeckt ließ. Nachdem er den Helm wieder aufgesetzt hatte, beobachtete er weiter das bescheidene Haus, was er schon seit einer Woche hin und wieder getan hatte. Es gab hier jede Menge verlassene Häuser, doch wenn es irgendwelche Anzeichen gab, dass sie bewohnt waren, würde das der chinesischen Militärpolizei sofort auffallen. Hart konnte es nicht riskieren, sich in einem aufgegeben Haus zu verstecken. 254
Diese Familie lebte an einem völlig entlegenen Ort. Ihr Haus lag am Ende einer Privatstraße, die so zugewuchert war, dass man sie kaum erkennen konnte, und das Tor zu dieser langen Auffahrt, das seinerseits an einer wenig befahrenen Landstraße lag, war mit Ketten verrammelt. Weder ein Briefkasten noch irgendein Schild verrieten, dass ein paar hundert Meter weiter in den Hügeln ein Haus lag. Die Familie führte ein völlig zurückgezogenes und einsames Leben. Einige Male hatte Hart gesehen, wie der Vater, die Mutter, ein Junge oder dessen Schwester aus einem Sturmschutzkeller Nahrungsmittel in das geräumige, einstöckige Haus geschleppt hatten. Es gab ein Gewächshaus und einen Generator, den die Familie früher benutzt hatte, wenn der Strom ausgefallen war. Auch jetzt hatten sie keinen Strom mehr – in der vorletzten Nacht hatte Hart die Hochspannungsleitungen gekappt. Auf dieses Haus war er aus einem ganz einfachen Grund verfallen – im Umkreis von einigen Meilen hatte er keinen einzigen Chinesen gesehen. Er zitterte vor Kälte, war hungrig, müde und dreckig, aber vor allem fühlte er sich vollkommen einsam. Während der letzten drei Wochen hatte er sich vor allen Menschen versteckt, die ihm unter die Augen gekommen waren – oder er hatte sie ins Grab geschickt. Nachdem er noch ein letztes Mal die Straße überprüft hatte, rappelte er sich auf seinem .unversehrten Fuß hoch. Auf einen als Krücke dienenden Ast gestützt – sein linker Fußknöchel war entweder gebrochen oder verstaucht –, humpelte er auf die Eingangstür zu. Vor einigen Tagen hatte er an einer Straße in Deckung gelegen. Die Minen waren platziert, die Überwachungsmonitore da, wo sie sein sollten, und die Schussfelder genauestens geplant, aber zwei Tage lang rumpelte kein chinesischer Konvoi vorbei. Schließlich gab Hart auf. Auf dem Rückweg zu seinem nächsten Depot traf er in finsterer Nacht auf einen anderen Konvoi. Die günstige Gelegenheit nutzend, feuerte er hastig auf die zufällig sich bietenden Ziele, aber eben ohne jene sorgfältige Vorbereitung, die ihm seine Spezialausbildung vorschrieb. Er begriff, dass die Frustration ihn zum Handeln trieb, dennoch beging er diesen schweren Fehler. Hart glaubte es ausschließlich mit ungepanzerten Fahrzeugen zu tun zu haben, aber es waren zwei Panzer dabei, die das Feuer aus nächster Nähe erwiderten. Das zwang ihn zu einer Entscheidung, bei der es um Leben 255
oder Tod ging. Überall um ihn herum krachten Explosionen, während er sich gegen die erzitternde Erde presste. Schwere Maschinengewehre beschossen Felsen und Bäume, und Hart war klar, dass sie näher kommenden Infanteristen Feuerschutz gaben. Blieb er an Ort und Stelle, wäre das sein sicherer Tod gewesen. Also rannte er blindlings los, wobei er einen großen Teil seiner Ausrüstung zurückließ. Zwar kam er mit dem Leben davon, aber er verletzte sich in der Finsternis an einem Felsbrocken den Fußknöchel. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden entkam er mehrere Male mit knapper Not chinesischen Patrouillen. Einmal – am helllichten Tage – zogen sie nur drei Meter an einem Haufen Laub vorbei, unter dem ein wie tot daliegender Hart sich versteckte. Ein Spezialspray, das seine Fährte auslöschte, verhinderte zwar, dass Hunde Witterung aufnehmen und ihn aufspüren konnten, aber seine Fußspuren sorgten doch dafür, dass die Chinesen die ganze nähere Umgebung durchsuchten. Die ganze Zeit über schwoll sein Fußknöchel immer mehr an, und schließlich gab er den Plan auf, sein dreizehn Meilen entferntes Depot aufzusuchen. Jetzt klopfte Hart an die Tür des baufälligen Hauses. Durch die verschmierten Fensterscheiben und die dünnen Gardinen konnte er sehen, dass die Diele im Dunklen lag. Er klopfte noch einmal, diesmal lauter. Die Gardine bewegte sich, dann entfernten sich Schritte. Einen Augenblick später tauchte ein großer Schatten auf – der Familienvater, mit einer Schrotflinte bewaffnet. »Was zum Teufel wollen Sie?«, fragte der Mann, ohne die Tür „zu öffnen. »Ich brauche Hilfe.« Nach einer langen Pause drehte sich der Schlüssel im Schloss. Die Mündung der doppelläufigen Schrotflinte war das Erste, das Hart sah. Der bewaffnete Mann beäugte Harts Kampfanzug. »Guter Gott!«, rief er aus, bevor er Hart hastig ins Innere des Hauses zog und dann die Tür schloss. »Sie sind Soldat?« »Captain James R. Hart, United States Army.« »Wer ist das?«, ertönte aus einem dunklen Korridor die nervöse Stimme der Frau des Hauseigentümers. »Bleib, wo du bist!«, befahl ihr Mann, der sich wieder Hart zuwandte. »Sind Sie ein entflohener Kriegsgefangener?«, fragte er mit einem schweren Südstaaten-Akzent. 256
»Nein, ich gehöre zu den Special Forces. Green Berets.« »Mein Gott! Dann sind Sie einer von denen, die alles in die Luft gejagt haben! Die Chinesen werden Sie überall suchen! Hier können Sie nicht bleiben!« Offensichtlich hatte die Frau jedes Wort mitbekommen. Jetzt tauchte sie erneut aus der Finsternis auf, ihre beiden Kinder im Schlepptau. »Er ist verletzt, Joel«, sagte sie. »Meinetwegen, aber er kann trotzdem nicht hier bleiben! Das ist zu gefährlich!« Doch die Frau befahl bereits ihren Kindern, schnell Verbandszeug zu holen. »Sie kommen mit mir«, sagte sie, während sie statt der behelfsmäßigen Krücke ihre Schulter unter Harts Arm klemmte. In der Küche setzte sich Hart an den Tisch. Etliche Meilen weit war er mit seinem geschwollenen Knöchel durch die Hügel gehumpelt, und als er jetzt den Schnürsenkel seines Stiefels zu lösen begann, trieb ihm der Schmerz die Tränen in die Augen. Die beiden Kinder – ein junger Teenager und seine etwas ältere Schwester – waren beide sauber und gepflegt, ganz im Gegensatz zu Hart, der dreckig und unrasiert war und stank. Als sie seinen purpurfarbenen, geschwollenen Knöchel sahen, zuckten sie zusammen, aber die Frau legte sanft Harts Fuß in ihren Schoß und säuberte ihn mit Alkohol und einem Handtuch. Anschließend war das Handtuch schwarz. Hart schämte sich. »Hier können Sie nicht bleiben«, wiederholte der aufgeregte, etwas über vierzig Jahre alte Familienvater, der sich ein halbes Wasserglas Whisky einschenkte. Nachdem er den Drink mit einem Zug hinuntergekippt hatte, atmete er geräuschvoll aus. »Sie können mich und meine Familie nicht einem solchen Risiko aussetzen.« Die Frau blickte nicht auf und widersprach nicht. Das übernahm ihr Sohn. »Wir können ihn nicht einfach vor die Tür setzen!« »Jimmy«, mahnte die Frau, aber der Junge ließ sich nicht entmutigen. »Das geht nicht, Ma’am!«, sagte er kopfschüttelnd zu seiner Mutter. Dann wandte er sich an seinen Vater. »Nein, Sir.« Zu Harts Überraschung gab der Mann nach. Mit einem weiteren Glas Whisky und dem Schrotgewehr verschwand er in das dunkle Wohnzimmer. »Die Chinesen haben den Strom wieder angestellt, aber seitdem ist er 257
zweimal ausgefallen«, sagte die Mutter, während sie Harts Knöchel hinund herbewegte. »War das Ihr Werk?« Hart nickte und stöhnte dann, als er mit den Fingerspitzen seinen geschwollenen Fuß berührte. »Um über den Winter zu kommen, brauchen wir Strom. Ich kann meine Kinder nicht wie Tiere aufziehen.« »Warum sind Sie immer noch hier?«, fragte Hart. »Wir leben hier!«, schrie der Vater aus dem benachbarten Raum. »Das ist unser Zuhause!« Hart versuchte zu ergründen, wie die wortkarge Frau wohl darüber denken mochte, aber ihrem Gesichtsausdruck konnte er nichts als Verachtung für ihren Ehemann entnehmen. Für ihren Mann, nicht für Hart. Er blickte die beiden Kinder an. »Dad hatte Ärger mit…«, begann der Junge. »Jimmy!«, schnappte seine Schwester. Während des folgenden Schweigens tauchte der Vater wieder auf, der noch immer das Schrotgewehr in den Händen hielt. »Ich hab’ nichts gegen die Chinesen«, sagte er. Die beiden Kinder wagten es nicht mehr, Hart in die Augen zu schauen, und wandten den Blick ab. Das ursprünglich heiße Wasser in der Badewanne war mittlerweile merklich abgekühlt. Ein paarmal war Hart kurz eingenickt, aber einmal stieß sein Kopf gegen die gekachelte Wand, und er wachte wieder auf. Mrs Lipscombs Ratschlag folgend, hatte er den Fuß mit dem geschwollenen Knöchel auf den Rand der Badewanne gelegt. Schließlich zwang er sich aufzustehen; der Schmerz war unerträglich. Während er auf einem Fuß durch das Badezimmer hüpfte, wäre er mehrere Male fast ausgerutscht und gefallen. Er brauchte zwanzig Minuten, um sich abzutrocknen und anzuziehen. Der Flur vor dem Badezimmer war dunkel. Hart hörte den Mann mit seiner Frau streiten und humpelte in diese Richtung, doch zuvor kam er an der offenen Tür des Schlafzimmers des Jungen vorbei. »Hallo«, sagte der Junge, der an einem Schreibtisch saß und auf einen Notizblock kritzelte. »Was tust du da?«, fragte Hart. »Ich arbeite an meinem Chinesisch«, antwortete der Junge. Hart humpelte ein Stück auf ihn zu. Das glänzende, bedruckte Papier 258
enthielt Leerstellen, die der Junge mit ungelenken chinesischen Buchstaben gefüllt hatte. Er schrieb mit Bleistift und hatte etliche Male den Radiergummi benutzen müssen. »Hausaufgaben?«, fragte Hart. »So ungefähr«, antwortete der Junge zurückhaltend. »Das hier haben Soldaten in der Schule verteilt. Morgen müssen wir die ausgefüllten Bögen zurückgeben.« »Ist schon in Ordnung«, sagte Hart beschwichtigend, während er sein grünes Barett aufsetzte. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er wieder Haare auf dem Kopf. Der Gesichtsausdruck des Jungen hellte sich auf, und dann lächelte er. Noch immer wütete im Wohnzimmer der Streit. Auf dem Weg dorthin kam Hart an einer weiteren Tür vorbei, aus dem die Schwester des Jungen hervorlugte. Die Familie schien fast so einsam zu sein wie Hart. Das Mädchen verschwand und tauchte dann mit zwei Aluminiumkrücken auf. »Die können Sie haben. Letztes Jahr habe ich mir beim Sportunterricht das Knie verletzt.« Zwar waren die Krücken viel zu kurz, aber sie ließen sich einstellen und würden eine große Erleichterung sein. »Ich werde sie nicht machen«, sagte das Mädchen mit einem trotzigen Gesichtsausdruck. »Was?« »Die Hausaufgaben mit den chinesischen Buchstaben. Mein Lehrer sagt, dass ich dann eine Sechs kriege, aber das ist mir egal. Ich habe ja sowieso keine Chance, jemals ein College zu besuchen.« Hart wollte ihr schon widersprechen und darauf bestehen, dass sie sich um ihre Ausbildung kümmern sollte, aber dann fiel ihm seine Naivität auf. Außer für die besten und intelligentesten Schüler würde es bei den Chinesen allenfalls eine Ausbildung an einer technischen Fachoberschule geben. »Trotzdem solltest du deine Ausbildung nicht drangeben«, sagte Hart, bei dem sich ein verschüttet geglaubtes elterliches Pflichtgefühl meldete. »Und warum nicht?« »Weil wir den Krieg gewinnen werden«, antwortete er. »Reden Sie dem Mädchen nicht solchen Unsinn ein«, schallte die Stimme des Vaters durch den Flur. »Sie können im Keller schlafen, aber nur für eine Nacht. Morgen müssen Sie verschwinden.« Hart humpelte an der Frau vorbei auf die Hintertür zu. »Das werden wir ja sehen«, flüsterte sie ihm zu. 259
Columbia, South Carolina 16. Oktober, 9 20Uhr Ortszeit Trotz der frühen Stunde war es bereits heiß, und die Sonnenstrahlen brannten auf die staubige Straße hinab. Dieses letzte Aufflammen der Sommerhitze erinnerte Stephie an ihre Grundausbildung. Fort Benning, dachte sie. Mein Gott, war es da heiß. Erst vor zwei Monaten hatte sie den Fortbildungslehrgang für Infanteristen erfolgreich beendet. Vor zwei Monaten! Und vorher die Highschool… Vor fünf Monaten war ich noch auf der Highschool! Der Wahnsinn dieser Entwicklung ließ sie mit dem Schicksal hadern. Stephies Squad errichtete eine Straßensperre, die später von anderen bemannt werden würde, aber die wortkargen, kampferprobten Soldaten beschwerten sich nicht, dass sie zu normalen Arbeitern degradiert wurden. Das ferne, gelegentlich vom Wind zu ihnen herübergetragene Grollen erinnerte alle daran, wie gut sie es mit ihrem gegenwärtigen Job getroffen hatten. Du musst dich zusammenreißen, sagte sie sich, während sie auf den ausklappbaren Spaten trat, doch damit meinte sie nicht das Graben, sondern den Kampf, den man im Krieg nicht umgehen konnte – und letztlich den Tod. Ihre Schaufel fuhr in die lose Erde, die ein Schaufelbagger am Straßenrand ausgehoben hatte. Schwitzend schippte Stephie die Erde in einen Sandsack, der von Melinda Crane – der Sanitäterin – mit einem Plastikband zugezogen wurde. Trotz der verstohlenen Blicke ihrer männlichen Kameraden trugen die beiden nur ihre olivfarbenen T-Shirts. Es war heiß, und alle waren erschöpft. Sollte es jemand nicht bei Blicken belassen wollen, hatten die beiden Frauen ja immer noch ihre Waffen. Eine kontinuierliche Spur des Schmerzes verlief über Stephies Wirbelsäule, aber der Charakter dieses Schmerzes veränderte sich auf seinem Weg. Zwischen den Schulterblättern war es ein stechender Schmerz, der Stephie zusammenzucken und laute, zischende Geräusche von sich geben ließ. In scharfem Kontrast dazu stand der stumpfe Schmerz weiter unten in ihrem Rücken, der sich wie eine Kletterpflanze zu ihrer Brust hochwand. Stephie dehnte ihren Rücken, zog die Schultern zusammen und drehte den Hals, aber sie konnte den Klammergriff nicht lösen, der ihr die Lungen zusammenpresste und den Atem raubte. Ein ganz gewöhnliches Auto näherte sich aus südwestlicher Richtung, 260
wo die Frontlinien verliefen. Später an diesem Tag sollte die Straße vermint werden, aber bis jetzt war sie noch befahrbar wie ein Damm, über den Menschen vor einem sich nähernden Sturm flohen. Stephies Kameraden nutzten die Gelegenheit, um eine Pause einzulegen und das Auto anzustarren. Seit die Lastwagen sie kurz vor Tagesanbruch hier abgesetzt hatten, war kein Auto mehr vorbeigekommen. Der Wagen fuhr zielsicher in Richtung Norden. »Flüchtlinge«, sagte Melinda. Trotzdem, glaubte Stephie, schauten alle auf das Auto, als hätten sie eine vage, böse Vorahnung. Dabei fürchteten sie sich nicht vor den Insassen, sondern vor den Nachrichten, die diese vielleicht brachten. Sie sind durchgebrochen!, schoss es Stephie durch den Kopf. Sie sind direkt hinter uns! Die Deutlichkeit, mit der sie diese von Panik zeugenden, imaginierten Worte hörte, verblüffte sie. Als geschähe das nur in ihrer Fantasie, blieb der Wagen stehen, und das Fenster wurde heruntergekurbelt. Eine Frau mit einer großen Sonnenbrille beugte sich über den Beifahrersitz. »Kann mir vielleicht jemand sagen…?, begann sie, doch Stephie unterbrach sie. »Mom?«, fragte sie ungläubig und mit schriller Stimme. »Endlich, da bist du ja!«, sagte Rachel Roberts mit einem leicht verärgerten Unterton. Nachdem sie den Wagen am Straßenrand abgestellt hatte, stieg sie mit einem alten, rosa und grün gemusterten Schülerrucksack aus, dessen nicht sichtbarer Inhalt ihn fast zum Platzen brachte. Stephie ging zur Autotür. »Du solltest einen BH tragen«, flüsterte ihre Mutter. »Was hast du hier zu suchen?«, platzte es aus Stephie heraus, bevor sie ihre Stimme senkte. »Es ist verboten, sich hier aufzuhalten.« Rachel schnaubte verächtlich. »Wieder eins von den idiotischen Gesetzen dieses Trottels, das für ihn selbst natürlich nicht gilt.« »Das sind keine Verfügungen des Präsidenten, sondern Gesetze, die vom Kongress bewilligt worden sind«, antwortete Stephie mit eisiger Stimme. Ihre Mutter rollte die Augen, als hätte Stephie sie nicht verstanden. Dann küsste sie ihre Tochter auf die Wange und drückte ihre Arme. »Du bist dreckig!«, bemerkte sie, während sie Stephie näher in Augenschein nahm. Sie benetzte ihren Zeigefinger, als wollte sie die Seiten eines Buchs umblättern, und wischte Stephie etwas Schmutz aus dem Gesicht. Dann 261
versuchte sie, ihre Frisur zu richten, die durch den Helm ramponiert worden war. Angesichts dieser Zumutungen zuckte Stephie zurück. »Hör auf, Mutter! Die anderen schauen alle zu! Schluss jetzt!« Schließlich riss sie sich mit einem Knurren los. »Als ich dich in der Grundausbildung besucht habe«, sagte ihre Mutter missbilligend, »hatte es ganz den Anschein, als legte die Army größten Wert auf Hygiene. Jetzt sieht’s eher so aus, als hättest du seitdem nicht mehr geduscht.« »Warum bist du hier?«, fragte Stephie. Diesmal schien ihre Frage Rachel aus der Fassung zu bringen. Sie begann zu reden, unterbrach sich aber mehrere Male, bevor sie ein paar zusammenhängende Worte aussprach. »Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht«, sagte sie, während sie ihr den alten Rucksack gab. »Zusätzliche Zahnpasta, Schlafanzüge, ein paar billige Taschenbücher.« Entsetzt starrte Stephie auf die mädchenhaften Farben des Rucksacks, den sie schon in den unteren Klassen der Highschool für zu kindisch befunden hatte. Über die Schulter blickte sie zu den anderen hinüber, die bereits zu kichern und leise, höhnische Bemerkungen zu machen begannen. Auf der anderen Seite der Straße, hinter ihrer Mutter, sah sie John und seine Mannschaft, die Drähte für Sprengladungen legten, welche Gesteinslawinen auf die Straße hinabstürzen lassen sollten, langsam den Hügel herabsteigen. »So einen Unsinn höre ich mir nicht an!«, stieß Stephie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Na gut«, sagte sie, während sie den Rucksack verärgert durch das Fenster auf den Beifahrersitz warf. »Woher kommst du?«, fragte Stephie, die in Richtung Süden die mittlerweile wieder leere Straße hinabblickte. »Irgendein Schwachkopf hat mir den Weg schlecht beschrieben. Da unten war’s ganz entsetzlich«, nörgelte Stephies Mutter, während sie sich in die Richtung umwandte, aus der das ferne Grollen leise über die Hügel drang. »Überall rannten Leute weg.« Sie schüttelte den Kopf. »Und dann diese armen, verwundeten Jungen. Ich versichere dir, du bist hier sehr viel besser dran.« Stephie wollte widersprechen, doch ihre Mutter war noch nicht fertig. »Mir ist klar, dass das hier harte Arbeit ist, aber sie ist immer noch besser, als kämpfen zu müssen.« »Du begreifst es nicht, Mom«, sagte Stephie, die mühsam ihr Tempera262
ment zu zügeln versuchte. »Wir sind eine kämpfende Einheit, ich bin bei der Infanterie!« »Natürlich«, antwortete Rachel lächelnd, während sie die Wange ihrer Tochter tätschelte. Stephie zuckte vor der bevormundenden, beleidigenden Geste zurück. »Aber du hast doch nicht ganz denselben Job wie Conner Reilly«, bemerkte sie. »Der ist bei einer Einheit mit gepanzerten Fahrzeugen«, platzte es aus Stephie heraus. »Ich bin bei der Infanterie. Die finden den Feind, wir kämpfen.« »Er ist tot«, klärte Rachel ihre Tochter auf. Mit dieser Neuigkeit hatte das unsinnige Gerede ein Ende, und auch in Stephies Leben war damit ein Kapitel beendet. Durch den Eintritt in die Army und die Grundausbildung waren ihre Teenager-Jahre noch nicht abgeschlossen gewesen, und selbst nach dem Schock des Gefechts hatte sie sich immer noch genauso alt gefühlt wie zuvor. Aber jetzt, wenngleich immer noch achtzehn Jahre alt, war ihre Jugend schlagartig Vergangenheit geworden. »Wie ist es passiert?«, fragte Stephie, die schwer schlucken musste. »Er ist im Kampf gefallen, irgendwo in Kalifornien«, antwortete Rachel. »Aber wie ist er gestorben?«, beharrte Stephie. »Wurde er erschossen, ist er im Sperrfeuer oder durch eine Mine umgekommen? Durch gegnerisches Feuer oder das unserer eigenen Leute?« »Er wurde einfach getötet, Stephie«, sagte ihre Mutter sanft. »Wie es genau war, weiß ich nicht.« Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. »Du kannst ruhig weinen, Stephie, das ist schon in Ordnung. Tu dir keinen Zwang an.« »Ich weine nicht«, stellte Stephie lapidar fest. Nach all diesen Jahren kannte ihre Mutter sie immer noch nicht. Stephie hatte auch nicht ansatzweise das Gefühl, jetzt weinen zu müssen. Ihre Reaktion schien Rachel zu verstören, und wie immer, wenn sie mit nicht ganz eindeutigen Gefühlen konfrontiert war, wunde sie allmählich ärgerlich. »Ich verstehe«, fuhr sie fort, »dass dies hier dem Namen nach eine kämpfende Einheit ist, aber Conner war bei der regulären Armee, nicht bei einer dieser Gruppen, die sie in letzter Sekunde zusammengewürfelt haben.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese armen Jungen, sie sind fürchterlich schlecht dran da oben. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Du solltest dich glücklich schätzen, dass du diesen Job hier hast.« 263
Befriedigt ließ sie ihren Blick über die halb fertigen Maschinengewehrnester und die als Sperre am Straßenrand aufgetürmten Steine gleiten, die verhindern sollten, dass Autos von der Straße abkamen und auf die Minen fuhren. »Zumindest wirst du nicht wie der arme Conner das Grauen der Schlachten kennen lernen. Möge Gott seine Seele ruhen lassen.« Stephie dachte über mehrere mögliche Antworten nach, die sich ihr förmlich aufdrängten. Schon mal was vom Gefecht von Atlanta gehört, Mutter? Oder vom Savannah? Schließlich überlegte sie es sich anders. »Vermutlich hast du Recht«, sagte sie. Hinter Rachel Roberts tauchte John Burns auf, der die Straße überquerte und sich dabei mit einem kleinen Handtuch Gesicht und Hände abwischte. Seinen Helm hatte er unter den Arm geklemmt. Als er zu ihnen trat, setzte Rachel wieder die muntere Miene auf, die sie gewöhnlich in der Öffentlichkeit zur Schau trug. Sie bedachte den großen, glatt rasierten und gebräunten jungen Mann mit einem breiten Lächeln. »Mrs Roberts?« John streckte seine Hand aus. »Mein Name ist John Bums.« »Ach ja, natürlich!«, antwortete sie. Während sie sich die Hand schüttelten, betrachtete Stephie ihre Mutter eingehend, die sich ganz so verhielt, als wüsste sie etwas über John. Aber Stephie hatte ihr gegenüber nie ein Wort über ihn verloren. »Hoffentlich passen Sie gut auf meine Tochter auf.« John blickte Stephie an, die laut schnaubte und sagte: »Ich kann selbst auf mich aufpassen.« Jetzt folgte ein gespanntes, reserviertes Schweigen, und während dieser Pause erschienen die Geräusche der Kämpfe merklich lauter. Trotzdem richteten sich alle Augen auf einen aus Norden eintreffenden Konvoi von Lastwagen. »Sieht ganz so aus, als kämen unsere Wagen früher zurück.« »Offensichtlich sind die Pläne geändert worden«, sagte John, der sich seiner Squad zuwandte. »Packt euere Sachen!«, bellte er. »Und was ist mit der Straßensperre?«, fragte Stephie. »Damit können die Leute weitermachen, die später hier eingesetzt werden.« »Warum die Eile?«, fragte Stephie. John zuckte nur die Achseln. »Vermutlich kommen die Chinesen.« »Dann solltet ihr auf jeden Fall verschwinden«, bemerkte Rachel. »Such deine Sachen zusammen, Stephie.« 264
Stephie zog die Jacke ihres Kampfanzugs an, knöpfte sie zu und zog dann den Reißverschluss ihrer kugelsicheren Weste hoch. Darüber schlang sie Gurte, an denen Magazine, Handgranaten und ihr Verbandskasten hingen. Ihre Mutter versuchte, ihr mit den Schulterriemen des Rucksacks zu helfen, die aber bereits richtig saßen. Stephie befreite sich, indem sie nach ihrem Sturmgewehr griff, das an einer kniehohen Mauer aus Sandsäcken lehnte. Als Stephie sich wieder umwandte, wirkte ihre Mutter sehr bleich. Während Rachel Roberts die Ausrüstung ihrer Tochter in Augenschein nahm, kletterten die anderen bereits auf die alten Lastwagen mit Dieselmotoren. Beunruhigt beobachtete Stephies Mutter, wie vertraut ihre Tochter mit der Waffe war, die sie jetzt sicherte. Obwohl Rachel genau hinschaute, entging ihr das Corporal-Rangabzeichen, das mittlerweile Stephies Kragenspiegel schmückte. »Aufsitzen!«, befahl Stephie den drei trödelnden Soldaten ihres Fire Teams. Der laute Befehl ließ Rachel Roberts leicht zusammenzucken. »Besser, du fährst jetzt wieder, Mom«, sagte Stephie. Die Unterlippe ihrer Mutter zitterte, und dann schlang sie ihre Arme um Stephie. Stephie dachte, dass dies vielleicht das letzte Mal war, dass sie von ihrer Mutter umarmt wurde, und ihre Verärgerung schmolz schnell dahin.
Marinewerft von Philadelphia 17. Oktober, 2145 Uhr Ortszeit Mit einem Schutzhelm auf dem Kopf inspizierte Präsident Baker das Deck des riesigen Arsenalschiffs. Weit über ihm war es Nacht, aber hier unten im Trockendock wurde alles von Flutlichtern in ein künstliches Tageslicht getaucht. Da keine Überflüge von Satelliten zu befürchten waren, arbeiteten auf diesem Schiff mit der Länge von vier Football-Feldern tausende und abertausende Männer und Frauen. Dutzende Schweißbrenner versprühten Funken. Die Schweißer arbeiteten an offenen, gepanzerten Luken, unter denen sich in ein paar Monaten Langstreckenraketen verbergen 265
würden, die gegenwärtig in New Mexico letzten Tests unterzogen wurden. Die zwei gigantischen Schiffe mit ihren komplizierten technischen Systemen und den brandneuen Raketen würden in Rekordzeit die Seeherrschaft zurückerobern – und das alles nur zweieinhalb Jahre, nachdem für den Bau der Arsenalschiffe grünes Licht gegeben worden war. Zumindest hoffte Baker, dass es so kommen würde. Der für die Marinewerft verantwortliche Admiral führte Bill unter die Decks. Im Schlepptau hatten sie Bakers Gefolge von Beratern und Kommunikationstechnikern, zu denen noch die wachsamen Männer vom Secret Service kamen. Nachdem sie mehrere Stahlleitern heruntergeklettert waren, standen sie auf einer Laufplanke, von der sich ein verblüffender Anblick ergab. Zehntausende Männer schweißten, bohrten und nieteten, und das Ganze glich einem lärmenden Bienenkorb voll hektischer Aktivität. Nebeneinander standen achtzig Raketenstartrampen, hinter denen in der Tiefe noch hunderte weitere angeordnet waren. Darunter testeten Männer an der Decke installierte, automatisierte Förderanlagen, die sich unabhängig voneinander bewegten und die Startrampen alle sechs Minuten automatisch nachladen würden. Bill schüttelte vorbeikommenden Arbeitern die Hand, die aber nur kurz stehen blieben, bevor sie sich eilig wieder ihren Aufgaben widmeten. »Wir arbeiten hier natürlich rund um die Uhr«, brüllte ein maßgeblich an dem Projekt beteiligter Unternehmer in Zivil über den Lärm hinweg. »Im nächsten Monat sollte der Reaktorkern mit Brennstäben beschickt werden können, und dann werden wir die Energieerzeugung schrittweise hochfahren. Der Antrieb des Schiffs kommt zuletzt!« »Sind wir unserem Zeitplan voraus?«, fragte Bill. Der Mann zuckte die Achseln. »Solange wir die Systeme des Schiffs nicht getestet und Fehler beseitigt haben, kann man das nicht sagen, Sir. Seit Ihrem Besuch im letzten Monat haben wir große Fortschritte gemacht, aber dies ist ein Schiff von einer halben Million Tonnen mit achttausend Flugkörper-Startrampen. Sämtliche Systeme sind ungeheuer kompliziert und absolut innovativ. Über fünf Millionen automatisierte Untersysteme sind alle miteinander vernetzt. Im Januar wird die gesamte Hard- und Software installiert sein, aber ob das Zusammenspiel der Komponenten klappt…« Bill blieb auf der Laufplanke stehen und wandte sich dem Unternehmer 266
und dem nervösen Admiral zu. »Damit will er nur sagen, Sir…«, begann der für die Marinewerft Verantwortliche diplomatisch. Aber Bill hob wie ein Verkehrspolizist die Hand. »Von diesem Schiff und seinem Schwesterschiff auf der anderen Seite des Hafens hängt alles ab! Im Januar werden beide Schiffe vom Stapel laufen und schon kurz darauf ins Gefecht geschickt, damit sie die Chinesen aufhalten und sie aus dem westlichen Atlantik vertreiben können!« Der Admiral blickte zwischen Baker und dem Unternehmer in Zivil hin und her. Schließlich nickte Letzterer. »Okay, Mr President. In Ordnung.« Der Militärberater des Weißen Hauses tippte Bill auf die Schulter und flüsterte ihm dann etwas ins Ohr. »Wir haben den abschließenden Bericht über den Rückzug vom Savannah, Sir.« Sofort brach Bill seine Inspektionstour ab, und man führte ihn in einen ruhigen Konferenzraum. Kabel hingen an den Stellen aus den nackten Wänden, wo sich bald Monitore mit hoher Auflösung und Computerkonsolen befinden würden. In einer Ecke lagen Fastfood-Verpackungen und zertretene Zigarettenkippen. Bill und der Militärberater, ein Lieutenant Commander der Navy, nahmen auf Metallstühlen Platz. Der Tisch bestand aus zwei Sägeböcken und einer Sperrholzplatte, auf der Kaffeetassen und Blechteller standen. Der Marineoffizier las den Bericht vom Monitor seines Palmtop-Computers ab. »›Die 40th Infantry Division, die am Clark’s Hill-See an der Grenze zwischen Georgia und South Carolina lag, ist für kampfunfähig erklärt worden, da sie bei der einwöchigen Schlacht am Savannah Verluste von fast achtzig Prozent hinnehmen musste. Beim letzten Gefecht hatten sie es mit sieben chinesischen Panzerdivisionen und motorisierten Infanteriedivisionen zu tun.‹« »Wie sieht’s mit dem Rest der Linie aus?«, fragte Bill nach einer langen Pause. Der Militärberater durchforstete seinen Bericht. ›»Die 37th Infantry Division, eine ebenfalls der Army angeschlossene Einheit der Nationalgarde, hat sich in der Mitte und auf der linken Seite sauber zurückgezogen. Aber der größte Teil einer Brigade war durch schwere Kämpfe auf der rechten Seite festgenagelt, auf der Flanke, wo die 40th Infantry Division überrannt wurde, und wurde schließlich eingekesselt. Obwohl sie zwischendurch verstärkt wurde, ist sie schon wieder bei achtzig Prozent Verlusten. Außer zwei ganz weit rechts stationierten Bataillonen, die sich nicht mehr zu267
rückziehen konnten, ist es den anderen gelungen, bei Columbia in South Carolina die Linie zwischen den Flüssen Santee und Saluda zu passieren.‹« Bill nickte und wartete darauf, dass der Mann fortfuhr. ›»Die 31 th Amored Brigade hat sich auf der Interstate 95 geordnet zurückgezogen, und zwar bis zur Kreuzung mit der Interstate 26. Dort haben sie die Kreuzung offen gehalten, bis die Evakuierung von Charleston abgeschlossen war, und entlang des Santee Stellung bezogen, um die Interstate 95 zu blockieren.‹« Das war nach Plan gelaufen, und Bill nickte erneut. Dann las der Militärberater den Bericht Wort für Wort weiter. »›Die 41th Infantry Division hat ihre Stellungen am Savannah aufgegeben und sich nach Sumter in South Carolina zurückgezogen, wo sie sich neu formieren soll. Während des Rückzugs hat es nur wenige Opfer gegebene« Der Militärberater des Präsidenten blickte von seinem Monitor auf. »Tut mir Leid, Sir, aber mehr steht hier nicht. ›Nur wenige Opfer‹.« Bill nickte erleichtert, aber er fühlte sich auch weiterhin etwas unbehaglich. Trotzdem würde er nicht dem starken Bedürfnis nachgeben, in Erfahrung zu bringen, wie es Stephie ergangen war. Damit würde er warten, bis er wieder in Washington war und mit Cotler reden konnte. Aber vielleicht, dachte er, könnte ich ihn aus dem Flugzeug anrufen. Oder auch schon aus dem Wagen, der mich zu der Maschine bringt. Der Militärberater las weiter, doch Bill wünschte, er hätte es nicht getan. »›Wegen schwerer Verluste, die sie bei schweren Kämpfen zu Beginn dieser Woche hinnehmen musste, wird die Kampfstärke der 41th Infantry Division nur noch auf fünfundvierzig Prozent geschätzt. Ungefähr dreißig Prozent ihrer überlebenden Soldaten sind so schwer verwundet oder erkrankt, dass sie nicht weiter kämpfen können und eventuell eingehend medizinisch betreut werden müssen.« Kurz darauf ging Bill auf ein Auto zu. »Sie ist durch einen Streifschuss am Genick verwundet worden‹«, berichtete General Cotler am Telefon. »Leichte Gehirnerschütterung durch eine Sprengstoffexplosion in der Nähe. Tatsache ist, dass Ihre Tochter das Leben ihrer Kameraden gerettet und dabei ihr eigenes riskiert hat, Mr President.« Damit war es mit dem Lob fürs Erste vorbei, und Cotler berichtete in trockenem Tonfall über die unmittelbare Todesgefahr, in der Bill Bakers einziges Kind geschwebt hatte. »Schwere Quetschungen und möglicherweise Fissuren der Rippen 268
auf der rechten Seite des Brustkorbs. Keine weiteren Informationen, wie sie mit dieser Verwundung fertig geworden ist, Sir. Es hat sie ziemlich hart getroffen, Mr President. Wir hätten sie für dienstuntauglich erklären und evakuieren können.« Der Präsident antwortete nicht. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht auf den letzten Satz des Generals einzugehen.
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3. KAPITEL
Am Savannah, South Carolina 19. Oktober, 915 Uhr Ortszeit Nach einer ungemütlichen Fahrt auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße kam Han Zhemins Limousine schließlich in einer Staubwolke zum Stehen. Nachdem sein hustender Berater vor der Tür abgewartet hatte, bis sich der Staub gesetzt hatte, öffnete er dem Administrator der besetzten Gebiete den Schlag. Unter dem gemurmelten Vorwand, er leide an einer Stauballergie, zog Han ein Taschentuch hervor, das er sich sofort vor die Nase hielt. Wie alle anderen Soldaten trug auch Wu Uniform, aber im Gegensatz zu der der anderen war seine sauber. Er salutierte und reichte seinem Vater dann die Hand. »Lass uns in meinem Wagen reden«, schlug Han vor, aber sein Sohn antwortete, er wolle seinem Vater erst noch etwas zeigen. Stirnrunzelnd folgte Han seinem Sohn zum Rand der Linie. Han hatte Wu zu einer Unterredung gebeten, doch dieser hatte seinen Vater aufgefordert, mit ihm das vor kurzem noch hart umkämpfte Gefechtsfeld zu besichtigen. Die unheimliche Stille, die über der aufgewühlten und geschwärzten Landschaft hing – für Wu war das eine neue Erfahrung, die Han schon längst kannte. Auch in Asien und im Mittleren Osten war er diesem Geruch begegnet, den er hier durch sein Taschentuch zu bekämpfen versuchte. Wu bat seinen Vater, sich auf dem von Fähnchen markierten Weg zu halten, aber Han konnte angesichts der übertriebenen Besorgnis seines Sohns nur die Augen rollen. Han hatte schon Gefechtsfelder besucht, als ein Sohn noch nicht einmal in der Pubertät gewesen war. Und er war viel zu erfahren, um aus Versehen in ein Minenfeld zu kommen. Jetzt stieg sein Sohn in den engen Splittergraben, der den Hügel hinaufführte, aber Han blieb oben stehen und bedachte Wu mit einem funkelnden Blick. »Da oben ist es besser«, beharrte sein übereifriger Sohn. Seufzend kletterte 270
auch Han in den Graben, wobei er mit seinen italienischen Schuhen Wu’s Stiefeln gegenüber im Nachteil war. Folglich ging es bei ihm merklich langsamer. Sie stiegen den Hügel bis zu dem fast völlig eingestürzten Schützengraben hinauf. Wiederholt musste Han Dreck von seinem makellosen dunklen Anzug abklopfen. Als sie den Kamm des Hügels fast erreicht hatten, war ihm bereits der Schweiß ausgebrochen. »Wu, ich bin gekommen, um…« »Wir sind fast da«, sagte Wu. Ein Kind, das Soldat spielt, dachte Han. Obwohl die vergeblichen Angriffe auf diese amerikanische Stellung die chinesische Armee riesige Verluste gekostet hatten, fand Wu den Ort immer noch faszinierend. Oben angekommen, bogen sie in den Schützengraben, in dem sich große Krater mit Regenwasser gefüllt hatten. Wu zeigte auf die Überreste zurückgelassener amerikanischer Ausrüstung. In den scharfen Biegungen der im Zickzackkurs verlaufenden Linie lagen hunderte Granatengehäuse, einige davon amerikanischer, andere chinesischer Herkunft. »Wu…«, begann Han, der seinem Sohn zu verstehen geben wollte, dass er an dieser Inspektionstour keinerlei Interesse hatte. »Hier ist es genau richtig«, unterbrach Wu, der auf den Eingang eines halb unter Sandsäcken begrabenen Bunkers zuging, über den mit einer Schablone »9G« gesprüht worden war. Wu führte seinen Vater in den Bunker mit der niedrigen Decke. Wahrscheinlich entging seiner unerfahrenen Nase dieser unverwechselbare Gestank, den Han’s verfeinerter Geruchssinn sofort erkannte. In diesem Bunker war ein Mensch verbrannt, und ein Blick auf seine Schuhe, die durch schwarze Asche schritten, bestätigte Han’s Verdacht. Dagegen richtete der junge Leutnant seine Taschenlampe auf eine Stelle an der Wand, wo eine Reihe von Namen in den Beton geritzt worden war. Strahlend wartete Wu, bis seinem Vater der Name »Stephanie Roberts« aufgefallen war. Han nickte, blickte Wu an und geleitete seinen Sohn dann aus dem Eingang in den einzigen Raum des Bunkers. Was der Großbrand nicht verschlungen hatte, lag auf dem Boden verstreut, darunter auch tausende Patronen und Gehäuse unterschiedlicher Größe. Wu inspizierte die leeren Patronen aus Gewehren und Granatpistolen, und Han wanderte zwischen den eingetrockneten Blutflecken umher, die nur das geübte Auge auf dem geschwärzten Boden überhaupt noch erkennen konnte. 271
»Sieh dir das mal an«, sagte Wu, der seinem Vater einen kleinen Ring aus Kunststoff hinhielt. Der läppische, imitierte Stein deutete auf den billigen Modeschmuck eines kleinen Mädchens hin, der in diesem Beinhaus völlig fehl am Platze zu sein schien. Han machte abrupt auf dem Absatz kehrt, um draußen frische Luft zu schnappen. Nachdem Wu den Ring eingehend betrachtet hatte, steckte er ihn in die Tasche. Draußen trat er zu seinem Vater, dessen Stimmung sich merklich verfinstert hatte. »Ich habe einen Bericht unseres Nachrichtendienstes über den Aufenthaltsort von Präsident Bakers Tochter gelesen«, sagte Wu. »Sie überprüfen, ob die amerikanischen Medien darüber berichten, ob sie das Gefecht hier überlebt hat.« Han schwieg. »Ich glaubte, es würde dich interessieren.« Der Vater bedachte seinen Sohn mit einem ungeduldigen Blick. Wu unternahm einen weiteren zögerlichen Vorstoß. »Präsident Bakers Tochter ist tatsächlich mitten im Getümmel.« »Nein«, antwortete Han kalt. »Was soll das heißen?«, fragte Wu mit gerunzelter Stirn. »Dass du nicht ins Gefecht ziehen wirst.« Wu war verärgert. »Aber…« Er hielt die Hände hoch, als würde der eingestürzte Schützengraben irgendwie für ihn sprechen. Mit einem festen Griff packte Han den Arm seines Sohns, und dann zerrte er ihn die Wand eines Kraters am vorderen Rand des Schützengrabens hoch. Nachdem Wu sich von dem Griff befreit hatte, blickte er auf den Fluss hinunter. Unter sich sahen sie nichts als verbrannte Erde und Spuren des Todes. Auf dem Hügel oder am Flussufer wuchs nichts mehr. Hier und dort versuchten kleine Pioniertrupps, unter Einsatz von Minensuchgeräten Wege durch das Gefechtsfeld zu bahnen. Am Ende würden sie tausende stinkende, aufgedunsene Leichen begraben müssen, aber zuerst konzentrierten sie sich auf die Fahrzeuge, von denen einige repariert werden konnten. Bevor er in einem leisen, eindringlichen Ton zu sprechen begann, studierte Han eingehend die Miene seines Sohns. »Du selbst hast das ja bei der Videokonferenz mit Peking im letzten Monat vorausgesagt. Deine Worte über die Höhe der Verluste unserer Armee haben dazu geführt, dass die alten Männer in Peking täglich von mir Statistiken verlangen! Also, willst du ein paar Zahlen hören? An dieser Linie haben wir zwischen fünfundzwanzig- und dreißigtausend amerikanische Soldaten getötet, verwundet oder gefangen genommen, aber wir haben hundertfünfundvierzigtau272
send Tote und dreimal so viele Verwundete hinnehmen müssen. Insgesamt sind damit siebenhunderttausend Soldaten aus dem Verkehr gezogen. Und dies hier war nur eine temporäre Front! Die nächste werden wir stärker besetzen, und die dann folgende noch stärker!« »Genau deshalb sollte ich ja auch in den Kampf ziehen«, sagte Wu. »Unser Land muss von den besten und intelligentesten Soldaten geführt werden.« »Und damit meinst du natürlich dich!«, schnappte Han, der seine Wut kaum bändigen konnte. »Du bist ein…!« Han verkniff sich die Beleidigung und presste die Lippen zusammen. Erneut betrachtete er das Gefechtsfeld, wo die höllischen Kämpfe getobt hatten. »Was hat man dir auf der Militärakademie beigebracht, Wu?« Jetzt ließen beide ihre Blicke über das Gefechtsfeld schweifen. »Hat man dich wie die anderen auch in diesen Todeskult eingeweiht? Ist dies der glorreiche Sieg, den du ersehnst?« »Du bist ein Defätist«, murmelte Wu, aber der gefährliche Vorwurf war eher halbherzig gemeint. Dennoch starrten sich die beiden unverhohlen feindselig an, bis sie schließlich abgelenkt wurden. Wu’s Berater – ein Zivilist – kroch auf allen vieren einen frisch aufgeworfenen Erdhügel hoch und strich sich dann den Dreck von den manikürten Händen. »Entschuldigen Sie bitte, Administrator Han und Leutnant Han Wushi, aber da ist eine Delegation amerikanischer Zivilisten, die mit Ihnen reden möchte.« Er zeigte auf die nicht asphaltierte Straße, wo Han’s Konvoi geparkt hatte. Zwischen sechs bewaffneten Soldaten standen drei amerikanische Zivilisten. Wegen des Vorwurfs seines Sohns kochte Han noch immer vor Wut, und er ging wortlos den Hügel hinab. Nachdem Han die drei Amerikaner, auf die sich ein halbes Dutzend Gewehre richtete, mit Handschlag begrüßt hatte, schickte er die Soldaten weg. »Ich bin die Bürgermeisterin von Augusta«, sagte eine ältere Frau. Lächelnd erwiderte Han, er sei glücklich, ihre Bekanntschaft zu machen, und freue sich auf die Zusammenarbeit mit… »Ihre Armee massakriert meine Landsleute«, unterbrach die Frau. »Unschuldige Zivilisten werden zusammengetrieben und in ein Konzentrationslager gebracht.« Sofort war es mit Han’s Liebenswürdigkeit vorbei, und er wurde wütend. »Wo ist es?« Die Amerikaner beschrieben den Weg, doch Han insistierte darauf, sich den Ort auf der Karte des Beraters genau zeigen zu 273
lassen. Han befahl seinem Gefolge, in zwei gepanzerte Aufklärungsfahrzeuge zu steigen, die zwischen seiner Limousine und den Wagen mit den Kommunikationseinrichtungen standen. Han’s Berater hielt ihm den Schlag auf, und der Administrator stieg ein, während sein Sohn noch mit einem trotzigen Gesichtsausdruck auf der Straße stand. »Komm mit«, befahl sein Vater. Nach einstündiger Autofahrt – keiner der beiden hatte unterwegs auch nur ein Wort verloren – gelangten sie an einen Stacheldrahtzaun. Nachdem der Wagen das Tor passiert hatte, sahen sie zu beiden Seiten der Straße offene Schuppen mit amerikanischen Kriegsgefangenen. Mitleid erregende Soldaten streckten die Arme aus und bettelten laut um Nahrung, Wasser und Medikamente. Da Wu in seinem bisherigen Leben den Krieg nur durch zensierte Nachrichtenbeiträge kennen gelernt hatte, schien ihn dieser Anblick aus der Fassung zu bringen. Der Kommandeur des Lagers begrüßte Han vor der Treppe seines mit einer Klimaanlage ausgerüsteten Wohnwagens. Wu salutierte vor dem Oberst, der sich aber nicht die Mühe machte, den militärischen Gruß zu erwidern. Stattdessen schüttelte er dem jungen Leutnant die Hand. Offensichtlich war er im Voraus über ihr Kommen informiert worden und wusste deshalb genau, wer Wu war. Nachdem er Han und Wu in den Wagen geführt hatte, nahmen die beiden auf einem bequemen Sofa Platz. Soldaten servierten heißen Tee, Süßigkeiten und gesalzenes Fleisch, aber Han aß nicht etwa, weil er Appetit hatte, sondern weil er den üblen Nachgeschmack loswerden wollte, der von dem Besuch am Savannah noch immer in seinem Mund hing. Wu aß ein paar Häppchen und blickte mehrmals auf die Uhr. »Uns ist zu Ohren gekommen«, sagte Han zu dem Kommandanten des Lagers, »dass in Augusta Zivilisten spurlos verschwunden sind.« Der Oberst schien überrascht zu sein. »Das liegt in meinem Bezirk, aber ich habe nichts davon gehört. Tatsächlich kann ich mir auch gar nicht vorstellen, wie irgendjemand überhaupt etwas darüber wissen könnte, weil wir mit unserer Volkszählung noch nicht begonnen haben. Wahrscheinlich handelt es sich um Leute, die unsere Befehle ignoriert und ihre Häuser verlassen haben, um zwischen den Linie einen Fluchtweg zu suchen.« Han nickte lächelnd, als wäre er mit dieser Antwort zufrieden. Wu ließ seinen Blick zwischen den beiden Männern hin- und herschwei274
fen. »Wir haben aber gerade etwas anderes gehört«, sagte er in einem unverschämten Tonfall. »Uns sind detaillierte Berichte über Menschen zu Ohren gekommen, die von unseren Soldaten aus ihren Häusern geholt wurden.« »Von wem stammen diese Berichte?«, fragte der Oberst freundlich, während er nach einem Notizblock und einem Stift griff. Wu’s Augen verengten sich zu Schlitzen, und er antwortete nicht. Gut, dachte Han, während er einen letzten Schluck Tee trank und dann aufstand. »Danke, Oberst. Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästigt habe.« Wieder schüttelten sie sich die Hände. »Sieht ganz so aus, als müssten Sie hier mit einer ziemlichen Menge Kriegsgefangener zurechtkommen.« »Was für ein wundervoller Sieg, nicht wahr?«, sagte der Kommandant, während er sich Wu zuwandte. »Vielleicht können Sie eines Tages an die Militärakademie zurückkehren und eine Vorlesung darüber halten, wie wir die große Schlacht am Savannah gewonnen haben.« Lachend streckte der Oberst jetzt auch Wu die Hand entgegen. Der ignorierte sie und starrte den Kommandanten nur an. Han betrachtete das Schauspiel und dankte dem Oberst dann ein weiteres Mal. Sie verließen den kühlen Wohnwagen und traten in das zunehmend heiße morgendliche Sonnenlicht hinaus. Wieder nahm Han schwach den unverkennbaren Geruch des Todes wahr, und er versuchte zu ergründen, ob es sich bei seinem Sohn genauso verhielt. Wu’s Blick verriet seinem Vater, dass ihm der typische Geruch nicht entgangen war. Ein paar hundert Meter weiter gab es einen Auflauf amerikanischer Soldaten, die um irgendetwas bettelten. Aber die stoischen Wachtposten auf der anderen Seite des Zauns antworteten nicht, sondern hoben stattdessen ihre Waffen. Nachdem Han und Wu in die Limousine gestiegen waren, folgte der Konvoi den Handbewegungen eines Wachtpostens, der vor dem ersten Auto herlief. Die Handsignale dirigierten sie zur nächsten Kreuzung und dann nach rechts, aber Han griff zum Telefon und wies den Chef des Konvois an, die Wagen nach links abbiegen zu lassen. Scheinbar wahllos kurvten die vier Autos zwischen den Verschlagen und Baracken der Kriegsgefangenen umher, aber Han bestimmte den Weg genau. Wenn Wu nicht gerade aus dem Fenster blickte, starrte er seinen Vater an. Amerikanische Kriegsgefangene schoben vorsichtig eine Leiche mit blutigen Verbänden unter dem Zaun hindurch, die dann von chinesischen Soldaten mit 275
Schutzmasken auf einen Lastwagen geworfen wurden. Kurz darauf ließ Han den Wagen auf der leeren Straße anhalten. Amerikanische Kriegsgefangene, wiederum von Soldaten mit Schutzmasken bewacht, hoben auf einem Feld eine Grube aus. Han stieg aus und bedeutete dem mürrischen Wu, dass er ihm folgen sollte. An der Seite des Feldes standen Stoßstange an Stoßstange zwölf Lastwagen, deren Fahrer ihre Zigaretten wegwarfen und dann vor den Zivilisten mit den teueren Anzügen die Flucht ergriffen. Wu zuckte zusammen und hielt sich Mund und Nase zu. Han’s Berater, der seinen Chef schon ein Jahrzehnt lang bei ähnlichen Besuchen begleitet hatte, verzog amüsiert die Mundwinkel, was Wu nicht entging. Jetzt zwang er sich, seine Hand unten zu behalten, und folgte seinem Vater zu einem Lastwagen der Armee. Durch die dicke Schmutzschicht wirkten die grünen Kotflügel und die grüne Plane braun. An der Heckklappe schlug Han die Plane zurück. Wu zuckte angewidert zusammen. Über den nur halb bekleideten, bleichen und von Kugeln durchsiebten Leichen summten Fliegen. Meistens handelte es sich um Männer, , doch es waren auch ein paar Frauen darunter. Die meisten waren erwachsen, einige aber noch Kinder. Und alle waren Zivilisten. Wu erbrach die noch nicht verdauten Süßigkeiten und den Tee. Nachdem Han die Plane wieder zugeschlagen hatte, führte er seinen Sohn die Straße hinab. Ein Kordon von Soldaten – Han’s stets präsente Eskorte – hielt respektvoll Abstand. »Warum?« Mehr bekam der bleiche Wu nicht hinaus, der immer noch vornüber gebeugt ging, als müsste er sich erneut erbrechen. »Dos hier ist der Krieg, Wu!«, sagte Han. »Man hat dich angelogen und einer Gehirnwäsche unterzogen!« Nachdem er ausgespuckt hatte, richtete sich Wu gerade auf, um sich zu einem Blick auf das Massengrab zu zwingen. »Warum tut unsere Armee so etwas?«, fragte er. »Weil es mein Job ist, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass sie wieder an die Arbeit gehen sollen«, erklärte Han. »Und sie arbeiten nicht, weil sie Angst haben. Dein General Sheng tut alles, damit das auch so bleibt.« »Aber der ganze Sinn des Krieges liegt doch darin, die amerikanische Produktivität für uns nutzbar zu machen!« 276
Han blickte seinen Sohn an. »Du bist intelligent, Wu. Denk nach. Begreifst du nicht, was hier vorgeht?« Zunächst antwortete Wu nicht. Ziellos glitt sein Blick über das Gesicht seines Vaters, während er dessen Frage überdachte. Schließlich gelangte er zu der offensichtlichen Antwort. »General Sheng versucht, deine Bemühungen zu sabotieren, die Amerikaner wieder an die Arbeit zu bringen, damit er dich und die zivile politische Führung als Versager diskreditieren kann.« Lächelnd klopfte Han seinem Sohn auf die Schulter. »Natürlich in völligem Gegensatz zur Armee«, fügte er sarkastisch hinzu, »die – wie etwa bei der großen Schlacht am Savannah – von einem Sieg zum anderen schreitet.« Wu nickte nicht und gab auch durch seine Miene nicht zu erkennen, ob er die Folgerung seines Vaters guthieß. Stattdessen stellte er eine Frage. »Was wirst du tun?« Noch immer lag Han’s Hand auf der Schulter seines Sohns. Dann beantwortete er die Frage Wu’s lächelnd mit einer Gegenfrage. »Was hast du über Olympic, den Spion der Armee in Washington, herausgefunden?« Als Wu dem Blick seines Vaters auswich, drückte dieser seine Schulter fest. Der junge Leutnant zuckte zusammen und blickte Han direkt in die Augen. »Olympic ist eine Frau. Ich habe gehört, dass Sheng von einer ›Sie‹ geredet hat.« »Das ist alles?«, fragte Han. Wu nickte. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, klopfte Han seinem Sohn erneut grinsend auf die Schulter. »Gute Arbeit, Wu! Aber jetzt brauche ich einen Namen.« Han wandte sich ab und ging auf den Wagen zu. Einen Moment lang blickte Wu ihm nach, doch dann fiel sein Blick auf die Soldaten* die für ihre Sicherheit zuständig und noch jünger als er waten. Sie hatten das Gespräch der beiden mitgehört, und ihre Neugier war nicht nur der Langeweile zu verdanken. Da begriff Wu, dass er und sein Vater die Götter waren, die da» Schicksal dieser Männer in ihren Händen hielten.
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Columbia, South Carolina 20. Oktober, 1740 Uhr Ortszeit Stephie hatte wahrscheinlich noch nie einen so schönen sonnigen, kühlen und ruhigen Spätnachmittag erlebt. Die Sonne wärmte sie, brannte aber nicht zu heiß. Die klare Luft erfrischte ihre Lungen, ließ sie aber nicht frösteln. Störend war einzig das ferne Artillerie-Sperrfeuer knapp hinter dem Horizont, das zugleich einschläfernd wirkte. Auch wenn unter den kampfesmüden Soldaten nie darüber gesprochen wurde, das Hintergrundgeräusch war immer präsent. Aber hinter ihren geschlossenen Augenlidern wurde Stephie von Visionen der höllischen Kämpfe heimgesucht, die Stunde um Stunde weitergingen und nie aufhörten. Am Savannah hatte das Sperrfeuer nie länger als ein paar Minuten angehalten, hier gab es den ganzen Tag über keine Pause. Obgleich die Frontlinien mehr als ein Dutzend Meilen entfernt waren, musste man seine Stimme heben, wenn man sich trotz des chinesischen Bombardements verständlich machen wollte. Nicht, dass irgendjemand aus der First Squad viel zu sagen gehabt hätte. Die höherrangigen Befehlshaber hatten ihre geschundene und zahlenmäßig geschrumpfte Einheit allein gelassen. Folglich schliefen die Soldaten mittlerweile zehn, zwölf oder gar vierzehn Stunden am Tag. Je länger man schlief, desto weniger Zeit blieb einem, um über das Geschehene oder zukünftige Ereignisse nachzudenken. Trotzdem nagte immer wieder ein Gedanke an Stephie: Wie kann man seine letzten Tage auf dieser Erde vergeuden, indem man den ganzen Tag schläft? »He!«, ertönte die ärgerliche Stimme von Becky Marsh. Stephie gab vor zu schlafen. »Du hast eine V-Mail von deinem Vater gekriegt.« Stephie setzte sich auf. »Was? Lass sehen.« Becky reichte ihr den Commo-Helm und setzte sich dann neben sie. »Würde es dir vielleicht was ausmachen, wenn du mich…?« Becky schnaubte verächtlich. »Ich hab’ die Mail sowieso schon gesehen.« Sie bedachte Stephie mit einem höhnischen Lächeln, stand aber auf und trollte sich. Stephie zog die beiden kleinen Bildschirme herunter und justierte sie, bis das stereoskopische Bild scharf gestellt war. Die Bilder befanden sich 278
so dicht vor ihren Augen, dass sie den Eindruck hatte, direkt vor einem großen Fernseher zu sitzen. Das Standbild zeigte ihren Vater, der an seinem Schreibtisch im Oval Office saß. Zwar war die Bildqualität ziemlich schlecht, und er hatte auch das Jackett abgelegt, doch wenn man davon einmal absah, fühlte man sich durch seine Haltung und die Szenerie dennoch an die regelmäßig im Fernsehen ausgestrahlten Reden des Präsidenten an die Nation erinnert. Stephie ließ das Video laufen. »Hier ist der Präsident der Vereinigten Staaten. Ich schicke diese V-Mail an meine Tochter, Stephanie Roberts.« Bill Baker trank einen Schluck Coca-Cola-Light. Vermutlich hatte er diese Pause eingelegt, damit Becky auf die Pause-Taste drücken konnte, um Stephie zu suchen, aber natürlich hatte diese genau das nicht getan, was Stephie nervte. »Ich habe deine beiden V-Mails erhalten, Stephie«, fuhr ihr Vater fort, »und ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.« Er schien nach der richtigen Formulierung zu suchen. »Im Vergleich zu deinem scheint mein Leben so ereignislos zu verlaufen.« Stephie verzog das Gesicht und lachte kurz auf. Um Himmels willen, dachte sie, er ist der Präsident, ich bin nur eine einfache Soldatin. »Ich muss die ganze Zeit an dich denken.« Jetzt wurde seine Stimme nachdenklich. »Manchmal, wenn ich über den Fortgang des Krieges informiert werde, lausche ich weniger als Oberbefehlshaber denn als dein Vater.« Er blickte auf seine Hände, die mit gespreizten Fingern auf der Schreibtischplatte lagen. »Ich muss das jetzt sagen, Stephie«, fuhr er fort, ohne in die Kamera zu blicken. »Und du musst mir vergeben, dass ich es dir nicht verschweige. In der Army gibt es auch außerhalb der kämpfenden Einheiten jede Menge wichtige Jobs.« »Mist!«, fluchte Stephie, aber nicht nur, weil ihr Vater sie dazu bewegen wollte, sich an ein sicheres Plätzchen versetzen zu lassen, sondern auch, weil Becky die V-Mail gesehen hatte. »Damit will ich nicht sagen, dass ich im Hintergrund die Fäden ziehen würde. Laut General dotier wäre das auch gar nicht nötig.« Angesichts der Erwähnung des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs konnte Stephie nur lachen. Cotler war der höchste General der U.S. Army, doch für ihren Vater war er nur ein Militärberater, dem er Fragen über seine Tochter stellen konnte. »Viele Soldaten werden an andere Stellen versetzt, nachdem sie eine Zeit lang an der Front gedient haben.« 279
Stephie knurrte wütend und enttäuscht. Mehrere Soldaten aus ihrem Bataillon waren »versetzt« worden, aber niemand aus ihrer Kompanie. Für die Mitglieder der Charlie Company war das eine Sache des Stolzes, und das Wort »Versetzung« wurde allenfalls abwertend und verächtlich ausgesprochen. Noch immer blickte ihr Vater auf seine Hände. »Laut General Cotler werden Soldaten, die sich bereits im Gefecht bewährt haben, dringend als Ausbilder benötigt. Du könntest sehr viel mehr für dein Land tun und das Leben vieler junger Leute retten, wenn du deine Erfahrungen an neue Rekruten weitergehen würdest.« Er seufzte und hob endlich wieder den Blick. »Schick mir einfach eine E-Mail oder eine V-Mail, und General Cotler und ich werden uns darum kümmern.« Stephie war wie am Boden zerstört, enttäuscht und völlig entmutigt. »Wie konnte er das nur tun?«, fragte sie sich schmerzerfüllt. »Ich liebe dich aus ganzem Herzen, Stephie«, sagte ihr Vater mit zitternder Stimme. Das Video war zu Ende, und Stephie bemerkte, dass Bekky Marsh zurückgekommen war. Aus dem Augenwinkel konnte sie ihre Stiefel sehen. Diese Frau hatte ein extrem gutes Gespür für das richtige Timing. Stephie nahm den Helm ihrer Kameradin ab, blickte aber starr auf die Wand ihres Schützenlochs. Nachdem Becky den Helm entgegengenommen hatte, setzte sie sich. »Also, was wirst du tun?«, fragte sie fast flüsternd. Wegen des fernen Grollens konnte Stephie sie kaum verstehen. »Was glaubst du, was ich tun werde?« »Keine Ahnung«, antwortete Becky nachdenklich. Stephie blickte auf, und ihre Kameradin studierte mit gerunzelter Stirn ihren Gesichtsausdruck. Was zum Teufel geht dich das an?, dachte Stephie. »Hört sich ganz so an, als würde er dich wirklich lieben«, verkündete Becky, als wäre das eine Neuigkeit. »Ich werde mich nicht an ein sicheres Plätzchen versetzen lassen!«, antwortete Stephie wütend. Becky schien sich zu entspannen. »Damit hatte ich auch nicht gerechnet«, sagte sie lächelnd, wobei sie aber das Gesicht abwandte, um ihr Lächeln zu verbergen. Stephie wunderte sich über ihr merkwürdiges Verhalten. »Trotzdem ist es wirklich nett von ihm, das er sich so um dich bemüht«, bemerkte Becky. 280
Stephie wollte antworten, dass das doch jeder Vater getan hätte, auch der von Becky. Aber dann fiel ihr ein, dass sie nichts über Beckys Familie wusste. Sie erwog einen Augenblick lang, Becky nach ihrer Familie zu fragen, doch dann überlegte sie es sich anders. Becky schien nur allzu zufrieden zu sein, dass sie einen kurzen Einblick in Stephies Familienleben geworfen hatte. Oder ist sie einfach nur glücklich, dass ich mich nicht aus dem Staub mache?, fragte Stephie sich. Nachdem Becky verschwunden war, setzte Stephie ihren Helm auf und richtete an der Stelle die Grashalme wieder auf, wo Becky Marsh gesessen hatte. Das Motorengeräusch eines alten Humvee-Geländefahrzeugs, das über die verwaiste Straße auf ihre Stellung zukam, riss Stephie aus dem Schlaf. Sie hob den Kopf von ihrem Rucksack, der ihr als Kissen diente. Die Schützenlöcher der Third Squad waren in regelmäßigen Abstanden um einen Tennisplatz herum ausgehoben worden, der zu einem Notlandeplatz für Hubschrauber umfunktioniert worden war, den sie angeblich bewachen sollten. Die großen Reifen des Humvee holperten über den Bordstein und betonierte Wege und kamen dann zwischen einem Springbrunnen und einer mit Kunststoff beschichteten Bank zum Stehen. Zwei weitere Lastwagen folgten dem Humvee, aber diese parkten auf der Straße. Nachdem Burns und Ackerman aus dem Humvee geklettert waren, kamen sie auf die Stellungen von Stephie und dem MG-Schützen zu, die zu beiden Seiten einer Kinderschaukel ausgehoben worden waren. Die beiden lagen auf dem dichten Gras neben ihren Schützenlöchern und richteten sich nur auf den Ellbogen auf. Ackerman brüllte mit heiserer Stimme nach den anderen, und bald kamen Becky und Dawson, deren Löcher sich am Grillplatz befanden. Seufzend rollte Stephie die Augen. In der vergangenen Nacht hatten es die beiden zweimal miteinander getrieben. Aus mehr Leuten bestand die First Squad im Augenblick nicht. Melinda Crane war als Sanitäterin in die Verbandsplätze der Verteidigungsstellungen am Fluss abkommandiert worden. Den Kragen von Lieutenant Ackermans Feldbluse schmückten jetzt die schwarzen Streifen eines Captain. Als Stephie auf John Burns’ Kragen sah, musste sie zweimal hinschauen. Der schwarze Streifen verriet, dass er jetzt Second Lieutenant war. Auf der Straße hinter ihnen kamen vier Last281
wagen mit quietschenden Bremsen zum Stehen. »Gratuliere, Cap’n Ackerman«, bemerkte Animal sarkastisch. Weiter faul auf dem Boden liegend, wandte er sich an John. »Und wessen Schwanz hast du gelutscht, Burns?« Reflexhaft schoss Ackermans Hand vor, weil er John zurückhalten wollte, der bereits Anstalten machte, auf Animal loszugehen. »Ja, bitte, halten Sie ihn bloß fest!« Aus Protest gegen Burns’ Beförderung blieb der riesige Baseball-Lineman erst recht am Boden liegen. »Wie zum Teufel wird ein elender Sergeant so schnell Lieutenant?« »Burns hat ein Offizierspatent«, verkündete Ackerman. »Er ist jetzt euer neuer Platoon-Führer.« »Na, ist ja prima«, höhnte Animal. »Alles in Butter. Gut zu wissen, dass unsere Army echt professionell ist! Warum bin ich nicht gleich Offizier geworden?« »Weil du zu blöde bist«, antwortete Ackerman trocken. »Und zu hässlich«, fügte Stephie hinzu. »Außerdem stinkst du wie eine überfahrene Ratte«, sagte Dawson, um noch eins draufzusetzen. Simpsons’ Gesichtsausdruck gab zu verstehen, dass sie ihn alle am Arsch lecken konnten. »Vermutlich ist das da unser neues Platoon?«, fragte er. Von den Ladeflächen der Lastwagen kletterten Ersatzleute, die ihre Glieder reckten, bevor sie ihre schwere Ausrüstung und ihre Waffen schultern mussten. »Das sind die besten Leute, die die Musterungsbehörde zu bieten hatte«, sagte Ackerman, der sich hinkniete und seinen Helm abnahm, um sich am Kopf zu kratzen. John griff in die Tasche und warf dem MG-Schützen ein kleines schwarzes Rangabzeichen aus Kunststoff zu. »Gib dein M-60 einem von den Neuankömmlingen«, befahl er. Ungläubig blickte Animal auf die drei kleinen Streifen. »Du bist für die First Squad zuständig.« Stephie war aufgebracht. Ausgerechnet Simpson! Jetzt war John Platoon-Führer, Animal Squad-Führer! John warf auch Dawson die Streifen eines Sergeant zu. Jetzt auch noch Dawson! »Du kriegst die Second Squad, Dawson. Chambers kriegt die Third Squad, Shepherd die Fourth.« Stephie war so wütend, dass sie John oder Ackerman nicht einmal anblicken konnte. Ihre Wangen brannten. Dann kniete John neben ihr nieder und nahm ihr das Corporal-Rangabzeichen ab. 282
»Was zum Teufel tust du da?«, schnappte Stephie und fegte seine Hand zur Seite. John hielt das Abzeichen eines Staff Sergeant hoch und befestigte es an ihrem Kragen, was eine halbe Ewigkeit zu dauern schien. Von der anderen Seite des Hubschrauberlandeplatzes kam der Rest des Platoons auf sie zu, und alle betrachteten die Neuankömmlinge. »Du bist Platoon Sergeant vom Third Platoon«, sagte John. Vor Stephies geistigem Auge tauchte das Bild von Staff Sergeant Kurth auf. Wie zum Teufel könnte ich dem das Wasser reichen?, dachte sie erschrocken. Die Nachricht von ihrer neuen Aufgabe überwältigte sie und schüchterte’ sie ein. Als sie wieder aufblickte, sah sie dreißig merkwürdig unterwürfige Privates, zur Hälfte Männer, zur Hälfte Frauen, die sich nacheinander um ihr Schützenloch herum versammelten. Stephie setzte sich auf. Etliche der Grünschnäbel hielten ihre Waffen schussbereit in den Händen. Ungefähr die Hälfte starrte durch die Bäume in Richtung des unheilvollen Krachens, das vom Horizont zu ihnen herüberdrang. Die andere Hälfte hatte den Blick zu Boden geschlagen. Ackerman stand auf und begrüßte die Neuankömmlinge mit lauter Stimme. »Willkommen beim Third Platoon, Charlie Company, 3rd Battalion, 519 th Infantry Regiment!« Mit einer ausladenden Armbewegung wies er auf die verdreckten Veteranen. »Diese siebzehn Soldaten hier haben nicht nur einmal, sondern gleich dutzende Male dem chinesischen Ansturm widerstanden und sind nicht unter dem Druck zusammengebrochen! Sie haben Ruhe bewahrt, ihren Mann gestanden, Befehle befolgt und sich besser als erwartet geschlagen! Und genau das erwartet man auch von euch! Man nennt dieses Platoon ›West Point‹, und bisher war es mein Platoon! Es ist, um es einmal klar zu sagen, das beste Platoon des gesamten Bataillons, vielleicht sogar das beste Platoon der ganzen verdammten Army! Ruiniert diesen Ruf nicht!« Als Ackerman fertig war, standen Stephie und Animal auf. Die Aufmerksamkeit der Grünschnäbel lag noch auf Captain Ackerman, der plötzlich so aufrüttelnde Worte fand. »In Ordnung, zwei Gruppen zu mir!«, brüllte John. »MGSchützen und Missile Teams da rüber! Der Rest bleibt, wo er ist!« Kein Mensch rührte sich, und das empörte Stephie. »Scheiße, kommt endlich hier rüber!«, brüllte sie, während sie einen Satz in Richtung der 283
Neuankömmlinge machte. Fast alle Soldaten gingen auf die Stelle zu, die John den Leuten mit den MGs und den Lenkwaffen zugewiesen hatte. »Du nicht, Schwachkopf!«, maßregelte sie einen Grünschnabel. »Was zum Teufel schleppst du da mit dir rum? Ist das etwa ein Maschinengewehr oder ein Lenkwaffenstartgerät?« »Nein, Staff Sergeant!« »Also. Ganze Abteilung halt!« Die anderen kapierten und traten schnell in zwei Gruppen an. Nur mühsam konnte Ackerman ein Grinsen unterdrücken. John und Stephie wiesen die Ersatzleute den Squad-Führern und den angeschlossenen Teams zu, die offiziell zum Waffen-Platoon gehörten, nun aber permanent den durchnummerierten Platoons zugewiesen waren. Als Staff Sergeant Stephanie Roberts sah, dass der First Squad von Animal ein weiblicher Sanitäter zugeteilt wurde, erhob sie Einspruch. »Nicht da, sie haben Melinda Crane.« »Nein«, widerrief John ihren Befehl, bevor er die erfahrenen Soldaten anblickte und dann die Stimme senkte. »Ich habe die neue Sanitäterin dorthin geschickt.« Stephie blickte ihn an, aber John schüttelte den Kopf, was auch Simpson, Dawson und Becky nicht entging. Sofort hatten alle begriffen. Stephie blickte auf den Horizont, von wo der Lärm des Gefechts zu ihnen herüberdrang. Melinda Crane war tot. »Geh wieder rüber!«, befahl Stephie der verunsicherten Sanitäterin. »Du hast gehört, was der Lieutenant gesagt hat!«
Ritz Carlton, Atlanta, Georgia 21. Oktober, 2315 Uhr Ortszeit »Mach mir bloß keine Scherereien, Wu«, sagte Wu’s früherer Klassenkamerad von der Militärakademie, als sie die von vielen Offizieren besuchte Bar des Hotels verließen und sich zum Abschied die Hand schüttelten. »Diese Geschichte ist streng geheim, die Quelle hochgradig sensibel. Man könnte mich dafür erschießen.« Wu nickte. Der Mann war genauso alt wie Wu, hatte aber ein Jahr früher als alle 284
anderen die Militärakademie abgeschlossen. Computerprogrammierer brauchte die Armee noch mehr als Zugführer für die Infanterie. Wu nahm den Memory Stick, den sein Freund in der Hand hielt, und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. »Ich muss Schluss machen«, sagte Shen Shen am Telefon, als Wu die Hotelsuite betrat. Nachdem sie auf einen Knopf ihres Mobiltelefons gedrückt hatte, betätigte sie etliche weitere Tasten. Sie löscht ihre eingespeicherten Telefonnummern, dachte Wu, der sich bemühte, das beständige Piepen zu überhören. Nachdem Shen Shen das Handy in ihre Handtasche gesteckt hatte, blickte sie zu Wu auf, als hätte sie ihn gerade erst gesehen. Sie kam über den Marmorboden auf ihn zu. Von einem Büstenhalter oder Slip war unter ihrem offenen Morgenmantel aus Satin nichts zu sehen. Nachdem sie ihn mit offenem Mund geküsst hatte, wich sie einen halben Schritt zurück. »Hast du eine Affäre?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Ja«, antwortete Wu. Noch immer lagen ihre Hände um Wu’s Hals. Sie trug ihr Haar offen, war aber noch nicht abgeschminkt. Offensichtlich wollte sie gleich ein Bad nehmen. »Mit dir«, erklärte Wu grinsend. »Warum fragst du?« Er machte sich von ihrem Griff frei, schnallte seinen Gürtel auf und legte ihn mit dem Holster und der darin steckenden Pistole auf einen Schreibtisch. »Du riechst nach Alkohol«, sagte Shen Shen, wobei ihre Antwort zugleich eine Frage beinhaltete. »Ich hatte mich in der Hotelbar mit einem Freund auf einen Drink verabredet.« »Einem männlichen Freund?«, fragte Shen Shen. Grinsend nahm Wu an dem kleinen Schreibtisch Platz. »Na ja, die amerikanischen Prostituierten da unten sind einfach zu hübsch«, bemerkte sie, während sie sich rittlings auf Wu’s Oberschenkel setzte, wobei sich ihr Morgenmantel wie zufällig noch weiter öffnete. Sie bewegte sich hin und her und rückte dann noch näher an Wu heran. Ihr lächelnder Mund war halb offen. Schließlich rutschte der Morgenmantel an ihren schlanken Armen herab. »Ein Freund von der Militärakademie«, erklärte Wu, während er ihren heißen Atem an einem Ohr spürte. Shen Shen küsste seinen Hals. »Ich geh’ duschen«, flüsterte sie, während ihre Lippen über das Ohr strichen. Nach einem letzten, flüchtigen Kuss auf den Mund und einem viel 285
versprechenden Lächeln entschwand sie in Richtung Bad, wobei ihr Morgenmantel endgültig zu Boden glitt. »Ich werde ins Internet gehen, während du dich fertig machst«, rief Wu ihr nach. Dann schaltete er Shen Shens Laptop ein, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand. »Was für ein Passwort benutzt du?«, fragte Wu. Langsam kam Shen Shen zurück. »Du willst mein Passwort wissen?«, fragte sie. Auf dem flachen Bildschirm des kleinen Computers blinkte in einer Dialogbox der Cursor. Lachend nahm sie den Laptop vom Schreibtisch. »Ich bring’ dich ins Internet.« Beim Sofa angekommen, setzte sie sich so hin, dass Wu den Monitor nicht sehen konnte. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Konzentration auf den Bildschirm und einem Lächeln. Mehrfach warf sie Wu angedeutete Küsse zu. Die leisen Pieptöne verrieten, dass sie hektisch arbeitete. Sie war nackt, ihre Haut weich und warm. Ihre Brüste waren voll. Dennoch spürte Wu, wie sein Verlangen nachließ. »Hier, du kannst loslegen«, sagte Shen Shen, während sie aufstand. Sie war außer Atem, als hätte sie eine irrwitzige körperliche Anstrengung hinter sich. Als sie Wu den Laptop gab, erkannte er, dass bereits eine Website mit Nachrichten aus Peking auf dem Monitor zu sehen war. »SIEG AM SAVANNAH«, verkündete die fette Schlagzeile. Wu wich zurück, als Shen Shens Brustwarze wie zufällig sein Gesicht berührte. Mit einem schelmischen Lächeln verschwand Shen Shen im Badezimmer. Wu stellte fest, dass ihre E-Mails nur mit einem neuen Passwort eingesehen werden konnten, das er ebenfalls nicht kannte. Nachdem er den Memory Stick aus der Tasche gefischt hatte, schob er ihn in den Slot des Computers. Er enthielt drei Dateien, alles Microsoft-VMails. Mit einem leichten Druck des Fingers auf die Touchscreen startete Wu das Video, und schon erschien eine lächelnde Stephanie Roberts auf dem Bildschirm. Nacheinander schaute sich Wu die drei V-Mails an, zwei von Stephanie Roberts an ihren Vater, eine vom Präsidenten an seine Tochter. Und diese letzte V-Mail brachte Wu aus der Fassung. Würde sie sich für den bequemen Ausweg entscheiden, den er ihr nahe legte? War sie nach der Erfahrung der Kämpfe am Ende? Aber Wu begriff, dass ihn nicht das aus der Fassung brachte. »Ich liebe dich aus ganzem Herzen, Stephie«, sagte der Präsident, und es klang, als wäre er den Tränen nahe. 286
Als im Bad die Dusche abgestellt wurde, löschte Wu die Dateien und schaltete den Computer aus. Nachdem er den Memory Stick ins Kaminfeuer geworfen hatte, ging er ins Schlafzimmer. »Willst du mich so, oder soll ich mich erst abtrocknen?«, fragte Shen Shen aus dem Badezimmer. »Trockne dich ab.« Damit blieben Wu noch ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken. Er lag grübelnd auf dem Rücken und lauschte dem Geräusch von Shen Shens Föhn.
Weißes Haus, Oval Office 22. Oktober, 2330 Uhr Ortszeit Clarissa setzte eben einen Fuß in das von Menschen wimmelnde Oval Office und musste sich schon mehrfach entschuldigen, da sie mit mehreren Beratern zusammenstieß. Folglich bahnte sie sich ihren Weg an der Wand entlang, bis sie schließlich eine ruhige Ecke gefunden hatte und Platz nahm. Der schmale Stuhl stand fast versteckt hinter einem antiken Sekretär, weit ab von dem hektischen Getriebe. Ohne Erfolg hielt sie nach Außenminister Dodd Ausschau, der sie ins Weiße Haus bestellt und gesagt hatte, sie solle auf jeden Fall gute Nachrichten mitbringen, wobei zweitrangig sei, was genau sie sagen würde. Wegen der vielen Leute, die alle auf ihre zehn Sekunden lange Audienz beim Präsidenten warteten, konnte sie Baker selbst nicht sehen. »Nein, nein, nein, Admiral!«, brüllte Präsident Baker gerade. »Ich kann mich genau an Ihre Worte erinnern, dass die chinesische Armee nicht in der Lage sei, unsere Blockadestellungen bei den Bahamas zu durchbrechen!« Admiral Thornton setzte zu einer Antwort an, aber Baker ließ ihn kaum zu Wort kommen. »Wenn es für Ihre Verteidigung der Ostküste so verdammt wichtig war, Florida zu halten, warum haben Sie das dann mit keinem Wort erwähnt?«, schrie Baker. »Sie kommen hier hereinspaziert und erzählen mir, dass im Atlantik bis hinauf nach Wilmington in North Carolina chinesische Kriegsschiffe gesichtet worden seien, und dann wollen Sie mir weismachen, Sie können nichts dagegen tun? Um Gottes willen, Admiral! Um Gottes willen.« Unterdessen war das Gerede in dem Raum leiser geworden, einige flü287
sterten nur noch. Die meisten blickten auf den Führer der immer mehr schrumpfenden freien Welt. Eine leisere Stimme schlug vor, man müsse zumindest ein Korps von Reservisten bereitstellen, das die Atlantikküste südlich von Washington verteidigen könne. Offensichtlich war Baker äußerst besorgt. »Sie haben mir soeben erzählt, dass die Linie entlang des Savannah gerade durchlöchert worden ist, General Cotler! Allmählich gehen uns die Korps aus, General. Und Divisionen, Brigaden, Bataillone und… Soldaten. Bis jetzt ist dieser Krieg erst einen Monat alt, und wir haben bereits hundertsechzigtausend tote oder gefangen genommene Soldaten verloren! In einem Monat! Dazu kommen dreihunderttausend Verwundete, von denen es fünfzigtausend so hart getroffen hat, dass sie entweder ein Jahr in Rehabilitationskliniken verschwinden müssen oder ihr Leben lang schwer behindert sind!« Jetzt herrschte allgemeines Schweigen. Alle blickten den Präsidenten an. Einige Gesichter verrieten ernsthafte Besorgnis, andere glichen unergründlichen Masken. Wer von ihnen etwas vortäuschte, war nicht zu erkennen. Doch eines war sicher: Die Drahtzieher des Coups gehörten zu jenen, deren Miene reglos blieb. Clarissa bemerkte, dass der Stabschef des Weißen Hauses sie ansah. Als sich ihre Blicke begegneten, schaute nicht Frank Adams weg, sondern Clarissa. Dann hörte sie über ein Telefon mit Freisprechanlage und eingeschaltetem Lautsprecher blechern klingende Salven aus Maschinengewehren und laut dröhnenden Artilleriebeschuss. Im Hintergrund hörbares Gebrüll wurde durch Sprengstoffexplosionen übertönt. »… die meisten unserer Beobachtungsposten!«, schrie ein Mann aus vollem Hals. Seine Stimme war entweder viel zu laut oder sie wurde von einer nahen Explosion verschluckt. »Chinesische Kampflandungsboote sind an den Stranden von Saipan, Tarawa…« Wieder hörte man ein lautes Krachen. »… Okinawa und Guam! An den Stranden von Saipan und Tarawa scheinen sie ihre Stellungen bereits gefestigt zu haben!« Trotz weiterer ohrenbetäubender Explosionen ließ sich der Mann nicht davon abhalten, eilig seinen Bericht zu beenden. »… von den sechzig Panzern sind zerstört worden! Unsere Marines, die keinerlei Unterstützung haben, greifen den Landekopf auf Okinawa an, obwohl die chinesische Marineartillerie alle Zugänge abgeschnitten hat! Sie kämpfen sich durch permanentes Feuer vor, Mr President, durch permanentes, heftiges Feuer! Und wenn sie 288
diesen Strand nicht in einer Stunde zurückerobert haben, werden wir nie wieder blaues Wasser sehen. Nicht bei den Massen, die…« Nach einem letzten Schwall von Störgeräuschen herrschte Schweigen. »Nein, das waren die einzigen Informationen, die wir auf Kurzwelle empfangen konnten«, hörte Clarissa jemanden sagen. »Die Verbindung über die auf dem Meeresgrund verlegten Telefonkabel wurde gekappt. Zum Hauptquartier der 3rd Marine Expeditionary Force in Pearl Harbor haben wir keinen Kontakt.« »Wir verlegen unsere Unterseeboote nach Bremerton, Washington«, informierte Admiral Thornton den Präsidenten. »Es tut mir Leid, Sir, aber Hawaii wird fallen.« Ein paar Augenblicke später bemerkte Clarissa, dass das Oval Office sich zu leeren begann. Sie suchte nach Art Dodd, stieß aber stattdessen auf Bakers Stabschef Frank Adams. Ihre Blicke trafen sich im Vorübergehen, und Adams lächelte und zwinkerte ihr zu. Was zum Teufel hat das jetzt wieder zu bedeuten?, fragte sich Clarissa. Der Präsident stand hinter seinem Schreibtisch. Er kehrte Clarissa den Rücken zu und starrte aus dem Fenster in die Finsternis. Clarissa blickte den einsamen Mann an und entschied sich zögernd dazu, den Raum zu verlassen, doch Frank Adams schloss hinter sich die Tür. Sie war allein mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zurückgelassen worden. Doch dieser schien sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst zu sein und starrte nur aus dem Fenster. Clarissa wollte sich räuspern, ließ es aber. Dann öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, aber sie brachte kein Wort heraus, weil sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. »Mis… Mister President…« Baker wandte sich um. Clarissa bemerkte verdutzt, dass er weinte. Sofort blickte der Präsident wieder aus dem Fenster. Für Clarissa war das eine verblüffende Offenbarung. Alles, was sie bisher über Baker gedacht hatte, änderte sich in diesem Augenblick… oder etwa doch nicht? Sie trieb durch einen Nebel der Unsicherheit. Nachdem sie ihre Akten auf den Schreibtisch gelegt hatte, grübelte sie verzweifelt darüber nach, was sie in dieser Situation sagen könnte. Sie versuchte, ihre durcheinander wirbelnden Gedanken und ihre noch chaotischeren Gefühle zu ordnen, intensive, ungebändigte Gefühle, die plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Zögernd ging sie auf den Stuhl des Präsidenten zu. »Ich…«, begann sie, doch sie hatte nichts zu sagen. 289
Der Präsident wandte sich um und fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen. Obwohl er sich wieder gefasst zu haben schien, blickte er immer noch zu Boden. »Es tut mir Leid, verzeihen Sie«, sagte er. Ihr hektisches Kopfschütteln kam zu spät, um mit dieser Geste noch überzeugend zum Ausdruck bringen zu können, dass es keiner Entschuldigung bedurfte. »Manchmal muss ich daran denken, dass dies das Ende ist… Dass ich immer alles verliere, was ich liebe, und dass ich letztlich – und zwar bald – auch dieses Land verlieren werde.« Clarissa stöhnte leise auf, bis ins Innerste von seinem Schmerz ergriffen. Sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. Er legte seine warme Wange darauf, und dann begann er, auf eine zugleich unschuldige und verzweifelt sehnsüchtige Weise ihre Haut zu liebkosen. Seine Lippen berührten ihre Fingerspitzen. Sie hatte sich in ihm getäuscht, so sehr getäuscht… oder doch nicht? Jetzt war klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Trat sie nur einen halben Schritt zurück, konnte sie wieder auf das offene Meer hinaussegeln, ihr Gleichgewicht zurückerlangen und einen sicheren Kurs auf jene Welt einschlagen, wo es nur eindeutige Antworten gab. Trat sie noch ein Stück weiter auf ihn zu, würde sie sich in stürmischer See wieder finden, wo die aufgepeitschten Wellen weiße Schaumkronen trugen und zwischen ihnen schwarze Felsen auftauchten. Aber letztlich blieb ihr gar keine Wahl. Sie ließ sich einfach treiben… näher zu ihm hin. So nah, dass sie bald direkt vor ihm stand und ihre Körper sich berührten. Sie roch seinen Atem und legte ihre Wange an seine Brust. Mit geschlossenen Augen, um die Erfahrung noch intensiver aufnehmen zu können. Denn dieses Meer war faszinierend. Die Luft war frisch, die Gischt jagte ihr einen Schauer über die Haut, und als er sie schließlich in die Arme nahm, spielte der Sturm keine Rolle mehr. Er atmete den Duft ihres Haars ein und liebkoste ihren Hals. Clarissa befand sich im freien Fall. Jede Anstrengung war überflüssig, da sie ohnehin nichts mehr von ihrem Kurs abbringen konnte. Sie taumelte ins Unbekannte.
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Speisesaal der Kongressabgeordneten 24. Oktober, 1230 Uhr Ortszeit »Nichts ist immer nur schwarz oder weiß«, sagte Clarissa zu ihrem Vater. »Verstehst du das nicht?« Tom Leffler schlang sein Essen hinunter und blickte allenfalls auf, um vorbeikommende Kongressabgeordnete zu grüßen. Seit dem Tod von Clarissas Mutter hatte er nicht mehr so lebhaft gewirkt wie heute. »Das erzählst du mir?«, antwortete er mit vollem Mund. »Man kann niemandem trauen. Bei jedem gibt es irgendeinen Haken, jeder hat seine eigenen Pläne. Vielleicht tun sie nicht, was sie für richtig halten, aber irgendjemand hat sie in der Hand, und sie glauben, dass ihnen keine andere Wahl bleibt.« »Das habe ich eigentlich nicht gemeint.« Clarissa blickte auf ihr Essen, das sie nicht angerührt hatte. Ihr Magen rumorte, aber sie war nicht wirklich hungrig. Der Vorsitzende eines Kongressausschusses trat zu ihnen, um einige leere Floskeln abzusondern, die Clarissa lächelnd und ihr Vater mit lautem Gelächter quittierte. Der Raum wimmelte von Kongressabgeordneten und Lobbyisten, aber sobald der Mann verschwunden war, konnten sie sich wieder ungestört unterhalten. Clarissa beugte sich vor. »Ich meine… Manchmal gibt es im Leben seltsame Wendungen, und man kommt in Situationen, in denen man Dinge tut, von denen man nie gedacht hätte…« Ihr Vater hörte zu essen auf. Messer und Gabel noch in der Hand, blickte er zu ihr auf. Sie hatte eine Seite in ihm zum Schwingen gebracht. Er ruckte. »Du hast Recht«, antwortete er, tief in Gedanken versunken. Jetzt aß er etwas bedächtiger, als beanspruchten seine Gedanken die Energien, die er vorher dem Essen gewidmet hatte. »Wir wollen es mal so ausdrükken«, sagte er. »An irgendeinem kritischen Punkt weiß man, was richtig ist, und nur man selbst ist in der Lage, eine Handlung auszuführen, die in weniger schwierigen Zeiten jedes Prinzip verletzt hätte, an dem man sich im Leben orientiert.« Jetzt nahm ihn die geistige Kraftanstrengung so gefangen, dass alle anderen Aktivitäten ruhten. »Aber in diesem Augenblick und im Kontext der Situation ist diese Entscheidung, von der man weiß, dass man sie treffen muss, richtig und gerecht. Das ist dann kein moralischer Relativismus oder Heuchelei, sondern Pflichterfüllung. Was würdest du tun?« 291
»Wie bitte?«, fragte Clarissa verärgert. Die Verwirrung ihres Vaters machte sie wütend. »Wovon redest du da eigentlich?« Eine denkbare Antwort bot sich von selbst an. Wieder beugte sie sich vor. »Hat das irgendetwas mit dem Staatsstreich zu tun?« Ihr Vater schnitt gerade mit dem Messer ein Stück Hähnchenbrust ab, aber als er das Wort »Staatsstreich« hörte, hielt er inne. Die Gabel blieb in dem bereits aufgespießten Bissen stecken. Er hob nicht den Kopf, sondern nur den Blick, aber auch den nur, bis seine Augen über Clarissas Blazer glitten. »Stimmt was nicht?«, fragte Clarissa, während sie ihre Kleidung überprüfte. Langsam und bedächtig begann ihr Vater wieder zu essen. Er führte den nächsten Bissen zum Mund, und durch das Kauen schien er Zeit zu gewinnen, um über Clarissas Bemerkung nachdenken zu können. Schließlich guckte er seiner Tochter in die Augen. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du da redest.«
Flüchtlingslager Greenville, South Carolina 27. Oktober, 7 45 Uhr Ortszeit Die Fernsehkameras folgten Han auf Schritt und Tritt. Diese Bilder sollten nicht im besetzten Amerika ausgestrahlt werden, sondern waren für das chinesische Publikum bestimmt, das mittlerweile über drei Viertel des Globus verstreut war. »Wie sind die Lebensbedingungen hier?«, fragte Han, der vor einer typischen amerikanischen Familie niederkniete. Die Mutter griff nach einem aufmerksamen, an seinem Daumen nuckelnden Mädchen, der übergewichtige Familienvater saß mit stoischer Miene da, die Hände auf die Knie gestützt. Ein pickeliger Junge wollte wohl ein trotziges, höhnisches Grinsen aufsetzen, das aber wegen seiner Zahnspange allenfalls komisch wirkte. Die Mutter blickte auf das schlanke Mikrofon mit der Schaumstoffkappe, das so gehalten wurde, dass es in dem Film nicht zu sehen sein würde. »Nun, ich weiß nicht…«, sagte sie. Mit nachdenklicher Miene sein Kinn berührend, erweckte Han den Ein292
druck, als müsste er diese bedeutende Einsicht erst einmal verdauen. Dann schnippte er mit dem Finger und zeigte auf die Frau. »Ich habe eine Idee! Ihr Haus wurde zerstört, und deshalb leben Sie jetzt in der Turnhalle dieser Highschool. Aber um Greenville herum gibt es doch überall leere Häuser, oder?« Die Frau zuckte nur die Achseln. »Warum ziehen Sie nicht einfach in eines der unbewohnten Häuser?« Anscheinend war Han selbst von der verblüffenden Genialität dieses vermeintlich spontan gefassten Plans überrascht, der tatsächlich schon vor Monaten ausgearbeitet worden war. »Als Gegenleistung für die kostenlose Unterbringung könnten Sie Ihre Arbeit wieder aufnehmen. Das wäre doch ein faires Geschäft, finden Sie nicht?« Die gerunzelte Stirn der Frau zeugte weniger von Nachdenklichkeit als von Besorgnis. »Wollen Sie damit sagen, dass wir in das Haus anderer Menschen ziehen sollen?« Han bückte über die Schulter die Programmchefin des Nachrichtenressorts an, die aber nur mit düsterem Blick den Kopf schüttelte. Selbst wenn die durch die ungläubige Frage ausgedrückte Haltung der Amerikanerin durch die Übersetzung des reinen Wortlauts nicht offenkundig werden würde, verriet ihr Gesichtsausdruck doch nur zu deutlich, wie sie über Han’s Idee dachte. Einen abstoßenderen Vorschlag als die Übernahme fremder Häuser hätte er schwerlich machen können. Mit einem leichten Stöhnen stand Han auf. Nachdem er sein Jackett glatt gestrichen hatte, dankte er der Familie. Dann suchte er mit seinem Gefolge nach einer weiteren typischen amerikanischen Familie, um erneut auf die im Skript vorgesehene Weise sein Glück zu versuchen. Aber diesmal würde er anders vorgehen. Vielleicht sollte er der nächsten Familie versichern, dass es sich nur um eine provisorische Lösung handele und dass nach einem chinesischen Sieg die Eigentumsrechte aus der Vorkriegszeit respektiert werden würden. Als er darüber nachdachte, wie das wohl ankommen würde, zuckte er innerlich zusammen und überdachte seine Vorgehensweise erneut. Dabei wurde er von einem seiner Männer gestört, der ihn vor dem nächsten Interview aufhielt. »Es ist der Premierminister«, sagte der völlig außer Atem geratene Mann, während er Han das Mobiltelefon reichte. »Es ist spät«, bemerkte Han ausgelassen auf Chinesisch. 293
»Ich möchte, dass du dich nach Florida zum Flughafen von Orlando begibst«, sagte der Premierminister ohne weitere Begrüßungsfloskeln zu seinem Neffen. »Dort wird jemand ankommen, den ich dich abzuholen bitte. Ihre Maschine landet in zwei Stunden. Ich möchte, dass du sie sehr, sehr gut behandelst.«
Orlando, Florida 27. Oktober, 1000 Uhr Ortszeit Han Zhemin und General Sheng warteten auf der windigen Landebahn des Flughafens am Fuß der mit einem Teppich geschmückten Gangway. Eine schlanke, zwanzigjährige Chinesin stieg aus dem Überschalljet. Sie war modisch gekleidet und trug eine Sonnenbrille, ganz wie ein Filmstar. Dass jeder unter ihren Rock fegende Windstoß ihre wohl geformten Beine enthüllte, störte sie nicht weiter, aber sie achtete darauf, nicht mit ihren hohen Absätzen umzuknicken, während sie die Gangway hinabstieg, was folglich seine Zeit dauerte. Liu Yi hielt Han für einen Begrüßungskuss ihre Wange hin. Ihre Haut war weiß gepudert, und ihre Lippen waren rot angemalt. Offensichtlich hatte sie nichts übrig für die dunkel glänzenden Lippenstifte, die ihre Generation ansonsten bevorzugte. Nachdem Han ihr auf beide Wangen einen KUSS gegeben hatte, begrüßte er sie auf Chinesisch. »Als ich Sie zum letzten Mal gesehen habe, sind Sie noch im Haus Ihres Großvaters in der Diele herumgekrabbelt.« »Das muss schon sehr lange her sein«, antwortete Liu Yi in perfektem Englisch. Sie war wunderschön und lächelte strahlend. »Ich bin schon lange nicht mehr auf dem Boden herumgekrochen.« General Sheng reichte ihr sehr förmlich die Hand. Liu Yi hakte sich bei Han unter, und sie gingen mit General Sheng zu der in nächster Nähe geparkten Limousine. An diesem klaren, sonnigen Morgen hatte Liu Yi’s Haar einen perfekten Glanz. Während sie gingen, berührte ihre Hüfte die Han’s. »Was haben Sie in den letzten Jahren gemacht?«, fragte Han. Jetzt sprach auch er Englisch, denn mit dem Wechsel der Sprache tritt man auch in eine andere Kultur über. Durch das Engli294
sche erübrigten sich die zeitaufwändigen chinesischen Begrüßungs- und Verhaltensrituale. Deshalb war Englisch für die gut ausgebildete junge Generation die bevorzugte Sprache. »Studiert«, antwortete sie kokett. Wer ist sie wirklich?, fragte sich Han. War Liu Yi mit ihren zwanzig Jahren schon eine kosmopolitische Weltbürgerin oder spielte sie hier die Rolle ihres Lebens? »Im nächsten Jahr mache ich an der Universität von Peking meinen Abschluss«, klärte sie ihren Gastgeber auf. Han lachte. Er hatte fest damit gerechnet, dass sie ihr Studium schon abgeschlossen hatte. Yi blickte ihn verunsichert an. Ihr Lächeln hatte einer besorgten Miene Platz gemacht. »Und was studieren Sie in Peking, Miss University?«, fragte Han munter. »Englische Literatur«, antwortete sie zögernd. Han lachte, wandte sich dann an der Wagentür zu ihr um und ergriff strahlend ihre Hände. Jetzt lächelte Yi wieder, obwohl sie sich offensichtlich nicht sicher war, warum er so gute Laune hatte. Als Han ihr langsam die Sonnenbrille abnahm, schlug sie nicht in geheuchelter Bescheidenheit den Blick nieder, sondern schaute ihr Gegenüber tapfer an. »Waren Sie schon mal in Amerika?«, fragte Han. Sie schüttelte den Kopf. Natürlich nicht, dachte Han. Als die Kriege begonnen hatten, war sie erst zehn Jahre alt gewesen. »Also, wo würden Sie heute gern hinfahren, Universitätsstudentin Liu Yi?« »Nach Disneyworld«, antwortete sie selbstbewusst und ohne jedes Zögern. Wieder lachte sie mit Han. Sie hatte perfekte weiße Zähne. Han wandte sich dem kommandierenden General der 11. Heeresgruppe Nord zu. »Wir besuchen Disneyworld, General Sheng!« Han war aus einem ganz einfachen Grund so überschwänglich. Yi’s Besuch verhieß seinen Aufstieg in die oberste Klasse der chinesischen Machthaber. Jetzt begriff er, dass man ihn auserwählt hatte, und das gab ihm Auftrieb und jede Menge Energie. Offensichtlich übertrug sich das auch auf Liu Yi und versetzte sie in Hochstimmung. Man konnte nur vermuten, wie lange sie der Gedanke beunruhigt hatte, dass sie sich und ihre Familie blamieren oder ihren ersten wichtigen Auftrag als erwachsene Frau vermasseln würde. Aber sie war sympathisch, korrekt und sehr hübsch. 295
Han und Yi stiegen in die erste Limousine, General Sheng in die dahinter. Offensichtlich begriff der verdrießliche alte General, dass der Sinn dieses Besuchs darin bestand, dass Han die Lieblingsenkelin des Verteidigungsministers kennen lernen sollte. Bei ihrem Rückzug hatten die Amerikaner, die ansonsten fast alles zerstört hatten, ausgerechnet Disneyworld verschont. Aber nur ein paar Ortsansässige waren der chinesischen Armee in die Falle gegangen und nach der Volkszählung gezwungen worden, ihre Arbeit in dem Vergnügungspark wieder aufzunehmen. Tatsächlich war der riesige Park auf eine unheimliche Weise still. Wären da nicht die chinesischen Soldaten gewesen, die laut lachend auf den Rasenflächen lagen, hätte der Park völlig leblos gewirkt. Yi und Han gingen nebeneinander, sie hatte sich bei ihm untergehakt. »Wie ich sehe, gestatten Sie es Ihren Soldaten, zur Entspannung Disneyworld zu besuchen«, sagte Yi über die Schulter zu General Sheng. Oberst Li flüsterte dem greisen General die chinesische Übersetzung ins Ohr. »Eine bewundernswerte Geste, meiner Ansicht nach haben sie die Erholung verdient!« Als einige Soldaten die Besucher kommen sahen, rafften sie eilig ihre Ausrüstung zusammen, um in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen. Ein mittlerweile stinkender künstlicher See trennte die VIPs von den flüchtenden Soldaten. Als sie sich einem ebenfalls künstlich angelegten Hügel näherten, wurde offensichtlich, warum die Soldaten die Flucht ergriffen hatten. Der Wind trug den durchdringenden Geruch von Marihuana zu ihnen hinüber. Kichernd blickte Yi Han an, dem der harmlose Gesetzesbruch der verdienstvollen Soldaten ebenfalls nicht entgangen war. Doch auch Sheng hatte den Geruch wahrgenommen. »Holen Sie sich die Männer«, befahl er Oberst Li auf Chinesisch. Zwischen »sich holen« und »festnehmen« bestand offensichtlich ein Unterschied. Im ersten Fall gab es vor der Bestrafung wohl kein ordnungsgemäßes Verfahren. Mit überraschender Energie wirbelte Yi zu General Sheng herum. »Nein, das werden Sie nicht tun!«, rief sie. Auf Chinesisch klangen diese Worte sehr unhöflich. Man konnte einem Älteren Befehle geben, aber nicht auf diese Art. Yi hatte den Fehler begangen, mit der Sprache nicht auch die dazu gehörende Kultur zu wechseln, was bei der jungen Genera296
tion zu einem zunehmenden Problem wurde. Aber es schien sie nicht im Geringsten zu kümmern. So ist sie also wirklich, dachte Han amüsiert. Zumindest wird es mit ihr nicht langweilig werden. »Diese armen Jungen riskieren ihr Leben für ihr Land!«, wies sie Sheng zurecht. »Was soll denn so schlimm sein an so einer kleinen Gesetzesverletzung, wenn sie dadurch einen Tag lang nicht an den Krieg denken müssen?« »Drogenmissbrauch ist keine ›kleine Gesetzesverletzung‹«, antwortete Sheng mit fester Stimme, aber nicht überzeugend. Angesichts von Liu Yi’s schneidendem Tonfall zögerte Oberst Li, General Shengs Befehl zu befolgen. Befehlen kann sie gut, dachte Han. Wahrscheinlich war sie bisher die kleine Prinzessin des Verteidigungsministers gewesen. »Beim Essen habe ich gehört, wie mein Großvater darüber sprach, wie viele Opfer Ihre Feldzüge kosten«, sagte Yi kalt. Der Gesichtsausdruck von General Sheng wirkte noch versteinerter. »Vielleicht könnten Sie Ihre Zeit besser nutzen, als sich über die Freizeitgestaltung Ihrer Soldaten Gedanken zu machen.« Han betrachtete die Auseinandersetzung wie einen sportlichen Wettkampf, aber ihre Worte versorgten ihn auch mit einer neuen Information. Offensichtlich wuchs die Kritik an den hohen Opferzahlen des amerikanischen Feldzugs. Die clevere Studentin wusste genau, auf welchen Knopf sie drücken musste. General Sheng musste seinen Befehl nicht widerrufen. Das hatte Yi längst für ihn erledigt. Zurück am Flughafen, hielt Yi es nicht für erforderlich, sich von General Sheng zu verabschieden. Aber sie wandte sich noch einmal auf Englisch an Han. »Auch wenn es nur diese eine Achterbahn gab, ich habe mich wunderbar amüsiert!« In der Achterbahn hatte sich ihnen fast der Magen umgedreht, und Yi hatte wie wild gequiekt. Eigentlich hatte Han geglaubt, dass diese hohe Frequenz Delfinen vorbehalten war. General Sheng, nach der Fahrt noch äußerst unsicher auf den Beinen, hatte Yi’s spöttische Offerte abgelehnt, noch eine weitere Fahrt zu machen. Han dagegen hatte sie trotz seiner zunehmenden Übelkeit noch zweimal begleitet. »Hoffentlich können wir mehr Sehenswürdigkeiten bewundern, wenn Sie das nächste Mal nach Amerika kommen«, sagte Han. »Und ich hoffe auch, dass wir dann mehr Zeit füreinander haben werden.« 297
»Mir würde es gefallen«, antwortete Yi lächelnd. »Vielleicht sind wir dann auch ungestörter.« Han hob eine Augenbraue und küsste dann ihre Hand und beide Wangen. Als er fertig war, presste sie ihren warmen, geöffneten Mund auf seine Lippen.
Interstate 20, South Carolina 28. Oktober, 9 45 Uhr Ortszeit Das Wetter war kühl und bedeckt, und Stephie warf einen Blick auf den grauen Himmel. Die frischen Windstöße, die den aus den Gewehren aufsteigenden Rauch gelegentlich hinwegfegten, verrieten ihr, dass es bald regnen würde. Sie schritt die Linie der auf dem Bauch liegenden Schützen ab, ihrer Männer und Frauen. »Feuer frei!«, brüllte sie heiser, während die Soldaten auf Pappzielscheiben feuerten, die zweihundert Meter entfernt an einem Holzzaun am Fuße eines Hügels angebracht waren. Die Interstate hinter ihnen war verwaist. Am anderen Ende des behelfsmäßigen Schießplatzes jagten die Kugeln Dreck in die Luft. Ihr Platoon gab permanent einzelne, gezielte Schüsse ab, und das Training dauerte schon über eine Stunde. Unmengen verschmierter Patronenhülsen lagen neben den rauchenden Gewehren, die eingesammelt und nachgeladen werden würden. Jeder Soldat war mit fünfzehn Magazinen mit jeweils dreißig Patronen versorgt worden. Jetzt näherten sie sich dem Ende der Schießübung, nach der jeder vierhundertfünfzig Schuss abgefeuert haben würde. »Zielt vernünftig!«, krächzte Staff Sergeant Stephanie Roberts. Sie trat gegen die Stiefel einer Frau. »Beine spreizen, bei der Waffe braucht man eine ruhige Haltung!« Die junge Frau nickte. Der nächste Grünschnabel, wie die meisten anderen gerade aus der Grundausbildung entlassen, zielte und zielte. Stephie blieb stehen und wartete, aber der Soldat drückte einfach nicht ab. Neben ihm lagen nicht halb so viele leere Patronenhülsen wie neben den anderen. Folglich hatte er noch fünf volle Magazine. Als Stephie zu ihm trat, blickte er einen Augenblick lang auf ihre staubigen Stiefelspitzen, dann zielte er wieder. Sein Anblick ließ Stephie vor Wut schäumen. Man brauchte nur ein paar 298
Typen wie diesen in einem Platoon zu haben, und schon lief man Gefahr, dass bei der ersten Feindberührung alle getötet werden würden. Stephie bückte sich und sog die vergiftete Luft tief ein. »Du sollst endlich abdrükken, du elender Mistkerl!«, schrie sie aus vollem Hals. Der Soldat gehorchte. »Weiter, noch mal!« Eine Patrone flog aus der Waffe. »Weiter!«, brüllte Stephie und hob ihr Fernglas. Der Dreck spritzte anderthalb Meter neben dem Ziel in die Luft. »Weiter!« Der Schuss knallte, doch diesmal landete die Kugel sogar außerhalb des Sichtfelds ihres Fernglases. Mit fest zusammengebissenen Zähnen starrte Stephie den Soldaten an. Er heulte wie ein Baby! Sie verpasste ihm einen Tritt in die Nierengegend, und der Oberkörper des stöhnenden Manns sackte zu Boden. Stephie ließ sich auf ein Knie fallen, packte seinen Kragen und zog so heftig daran, dass der Soldat zu würgen begann. »Du wirst jemanden umlegen müssen«, sagte sie leise, während dem nach Luft schnappenden Soldaten die Augen aus den Höhlen traten. »Du wirst sein Gesicht durchlöchern und sein Gehirn durch die Gegend spritzen sehen! Du wirst ihm die Brust durchbohren, dass ihm die Augäpfel aus den Höhlen springen, oder ihm Arme und Beine abschießen. Du wirst so lange abdrücken, bis er sich nicht mehr rührt, kapiert?« Der Mann nickte hektisch. »Sergeant Roberts«, hörte Stephie jemanden sagen. Es war John Burns, Lieutenant John Burns, der hinter ihr stand und sie anstarrte – genau wie alle anderen in der Nähe. Stephie ließ den Schlappschwanz los, stand auf und hob ihr Fernglas an die Augen. Nach einer Stunde hatte der Mann die auf einem morschen Zaunpfahl angebrachte Zielscheibe immer noch nicht getroffen. Neben ihr presste das Miststück sein Gesicht in den Dreck. »Du hast noch hundertfünfzig Patronen, du Arschloch«, sagte sie. »Bevor du hier fertig bist, wackelt der Zaunpfahl mit deiner Zielscheibe nur noch an dem Stacheldraht, hast du mich verstanden?« »Ja… Ja, Staff Sergeant!«, stieß der Private zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Auf beiden Seiten der Linie wurde das Feuer wieder eröffnet. Stephie ging an John Burns vorbei, der offenbar erwartet hatte, dass sie stehen blieb. Er packte sie am Arm und wollte sie zu sich ziehen, doch sie riss 299
sich los. »Reg dich wieder ab«, sagte er fast flüsternd. »Nein«, antwortete sie genauso leise. John hob herausfordernd den Kopf. »Du sollst dich wieder abregen, Stoff Sergeant Roberts.« Stephie blickte ihm direkt in die Augen. »Nein, Sir.« Dann ging sie weiter die Linie hinab, um sich mit noch größerer Wut weitere Opfer vorzuknöpfen. Am frühen Nachmittag setzte nicht enden wollender, kalter Nieselregen ein, aber die Übungen gingen dennoch weiter. Am Rand des Highways standen die etwa fünfzig Männer und Frauen neben einem niedrigen, gepanzerten Kampffahrzeug. Ehe Soldaten trugen nasse Regenumhänge und hatten ihre Gewehre umgehängt. Ein Mann zeigte auf die Waffen des neuartigen Fahrzeugs. Noch nie hatte einer der Soldaten ein solches Modell gesehen. Der mit einem Tarnanstrich versehene Schützenpanzer war mit etlichen Raketen bestückt und offensichtlich gerade erst vom Fließband gerollt. An einem Vortrag über dieses Kampffahrzeug hatte Stephie keinerlei Interesse, weil die Zeit, zu der sie es eventuell einsetzen konnten – bei einer möglichen Offensive –, noch so weit in der Zukunft lag, dass das Thema jetzt irrelevant zu sein schien. Folglich hörte sie kaum auf die Worte des technikbesessenen Mannes, dessen dicke Brillengläser nur deshalb nicht völlig beschlagen waren, weil der Regen sie immer wieder abspülte. Stattdessen richtete sich ihr Blick wie der eines Falken auf ihre Soldaten. Zu Boden geschlagene Blicke und mangelnde Aufmerksamkeit wurden sofort mit bedrohlichen Blicken und einem Stoß vor den Helm geahndet. »Die Temperatur der Keramikpanzerung«, fuhr der Fachmann nach einem von Stephies Wutausbrüchen fort, »orientiert sich bis auf ein Grad genau an der Außentemperatur. Damit wird das Kampffahrzeug für die chinesischen Nachtsichtgeräte praktisch unsichtbar.« Eine der Frauen, die unter der Last ihrer Ausrüstung fast zusammenzubrechen drohte, hustete stark, und Stephie ging zu ihr, um sie sich genauer anzusehen. Wann immer die Frau schluckte, musste sie husten. Als könnte sie ansonsten nicht sehen, hatte sie die Augen weit aufgerissen. Von unter dem Helm hervorschauenden Haarsträhnen tröpfelte Wasser, und ihr Kopf zitterte. Dann bemerkte sie Stephie, richtete sich gerade auf und konzentrierte sich auf den Vortrag des Experten. 300
Stephie rief sie Frau zu sich und nahm sie beiseite. Die neue Rekrutin wirkte wie versteinert. »Geh zum Lazarett des Bataillons rüber«, sagte Stephie leise. Die Soldatin widersprach nicht und schien sehr erleichtert zu sein, dass Stephie sich so um sie sorgte. Jetzt versuchte die Frau nicht mehr, ihr Fieber zu verheimlichen. Nachdem sie gerade noch strammgestanden hatte, schien sie sich nun kaum noch auf den Beinen halten zu können. »Ich will nicht, dass du auch noch alle anderen ansteckst«, fügte Stephie hinzu. Erst schien die Frau etwas gekränkt zu sein, doch dann verschwand sie grinsend. Während sie die schlammige Böschung hinunterglitt, blickte sie sich zweimal um, doch Stephie tat so, als hätte sie es nicht gesehen. »Staff Sergeant Roberts!«, rief der Mann, der den Vortrag über das gepanzerte Kampffahrzeug hielt. Stephie nickte ihm zu. »Wie war’s mit einer kleinen Probefahrt?« Die Soldaten grinsten Stephie an. »Eigentlich hab’ ich keine große Lust«, antwortete Stephie, und alle lachten. »Nun, die Vorschriften sehen vor, dass alle Offiziere und Unteroffiziere einmal hinter dem Steuer gesessen haben. Nur für den Fall, dass den dafür ausgebildeten Fahrern etwas zustoßen sollte.« Als Stephie weiterhin zögerte und nur die Achseln zuckte, wurde das Gelächter lauter. Sie zeigte auf jene Soldaten, die die Situation so amüsant zu finden schienen. »Alles aufsitzen«, befahl sie. »Das ist eigentlich nicht notwendig«, sagte der Experte. Aber Stephie ignorierte ihn. »Ich habe ›aufsitzen‹ befohlen«, wiederholte sie, und die zehn ausgesuchten Schützen kletterten durch die offene Tür an der Rückseite des Kampffahrzeugs. Nachdem Stephie einem ihrer Soldaten ihr Gewehr gegeben hatte, kletterte sie auf die gepanzerte Abschrägung an der Vorderseite des Fahrzeugs und steckte ihre Füße durch die offene Luke des regennassen Cockpits, bis sie auf dem Fahrersitz stand. Sie ließ sich in das Hightech-Cockpit hinabgleiten, wo ihre Füße zuerst nach den Pedalen suchten. Aber ihre Stiefel tasteten vergebens. Der Fahrer beugte sich über sie, wodurch sein Körper sich vor den Himmel schob und sie vor dem Regen schützte. »Passen Sie auf, dass nicht alles verschmiert«, sagte er, während er mit einem Lappen über die in einem Halbkreis angeordneten Monitore wischte. 301
Die Regler und Bedienungselemente waren nass. »Ich Werde doch nicht etwa einen elektrischen Schlag bekommen?«, fragte Stephie. »Nein, ist alles wasserdicht. Ich will nur nicht, dass es schmutzig wird.« Dann erklärte der Fahrer die einfachen Bedienungselemente. Auf beiden Seiten war an den Armlehnen ein Hebel angebracht. Vorn in dem Cockpit befand sich in Augenhöhe ein etwa fünfzehn Zentimeter hoher und anderthalb Meter breiter Bildschirm. »Wenn Sie beide Hebel gleich weit nach vorn schieben, geht’s geradeaus, ziehen sie sie genauso weit zurück, ist der Rückwärtsgang eingelegt. Schieben oder ziehen Sie unterschiedlich weit, ändert das Fahrzeug die Richtung. Wenn Sie einen Hebel nach vorn schieben und den anderen zurückziehen, wenden Sie auf der Stelle.« »Alles klar«, sagte Stephie. Der Fahrer beugte sich durch die Luke und drückte einen Knopf, den Stephie zwischen den anderen Schaltern auf der ergonomisch geformten Konsole nie gefunden hätte. Die Turbine sprang an. »Okay«, sagte er, während er auf zwei Knöpfe direkt oberhalb von Stephies Schulter zeigte. »Luke auf, Luke zu. Probieren Sie’s aus.« Er trat zurück, und der Regen strömte in das Cockpit. Nachdem Stephie auf den Knopf mit einem nach unten zeigenden Pfeil gedrückt hatte, schloss sich die Luke mit einem leisen Quietschen. Sofort sprang die Heizung an, und Stephie spürte den wunderbar warmen Luftzug. Es gab keinerlei Öffnungen, durch die sie nach draußen spähen konnte, doch auf dem flachen, breiten Bildschirm vor ihren Augen sah sie das vor ihr liegende Terrain. Außer an der Rückseite war der Körper des Fahrers durch Panzerungen geschützt. Im Notfall konnte sie sich durch eine kleine Öffnung in ihrem Rücken auf die Ladefläche zwängen, wo ihre Soldaten jetzt aufgeregt plapperten. »Alles klar da hinten?«, rief Stephie. »Sind wir schon da?«, fragte jemand unter jugendlichem Gelächter. »Ich muss mal aufs Töpfchen«, jammerte eine Frau scherzhaft, was für weitere Erheiterung sorgte. Auf dem Monitor vor Stephie war nichts zu sehen, die Straße war frei. Sie schob beide Hebel bis zum Anschlag nach vorn, und ihr Helm knallte gegen die gepanzerte Schutzwand. Hinter sich hörte sie Schreie, und Stephie drohte sich angesichts der Beschleunigung der Magen umzudrehen. Zuerst brach das vierzig Tonnen schwere Kampffahrzeug von einer 302
Seite der zweispurigen, nach Osten führenden Fahrbahn des Highways zur anderen aus, und als sie die Regler gleich eingestellt hatte und das Monstrum geradeaus fuhr, hatten sie bereits eine Geschwindigkeit von gut siebzig Stundenkilometern. Hinter Stephie schrien ihre Soldaten, sie solle vorsichtig fahren. Eine Frau steckte sogar den Kopf durch den kleinen Durchgang und rief, sie solle vom Gas gehen. Stephie riss den rechten Hebel zurück, und das Fahrzeug scherte aus. Als sie in den Graben des Mittelstreifens zwischen den beiden zweispurigen Fahrbahnen des Highways plumpsten, drohte sich allen der Magen umzudrehen, und als sie dann schließlich über die Böschung auf der anderen Seite schossen, knallte Stephies Unterkiefer gegen ihre Brust, und die Schreie der Passagiere wurden noch lauter. Einen Augenblick lang schwebte das Kampffahrzeug in der Luft, wenn auch vermutlich nur einige Zentimeter. Die Stoßdämpfung fing den Aufprall überraschend sanft auf, doch schon dieser kurze Moment des Abhebens ließ die protestierenden Soldaten hinter Stephie um Gnade winseln. Sie bremste jetzt zwar ab, aber es kam zu spät, um den Wagen auf der nach Westen führenden Fahrbahn halten zu können, wie sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Mit knapp fünfzig Stundenkilometern schossen sie die äußere Böschung hinab, und Stephie gab den Plan auf, noch auf dem Abhang zu wenden. Jetzt übertönten die Schreie den heulenden Motor. Stephies Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus, als sie den Stacheldrahtzaun auf sich zukommen sah, den sie kurz darauf blitzartig durchbrachen. In dem gepanzerten Fahrzeug war nicht einmal ein leises Geräusch vernehmbar gewesen. Mit den Büschen und kleinen Bäumen verhielt es sich genauso. Trotzdem bemühte Stephie sich, den dickeren Kiefern auszuweichen. »Bitte!«, schrien die anderen hinter ihr. Als sie den Fuß eines hohen, baumlosen Hügels erreicht hatten, verlangsamte das gepanzerte Fahrzeug sein Tempo, was gegen Stephies Absichten ging. Also stieß sie beide Hebel bis zum Anschlag nach vorn. Nur ein paar Sekunden nach der Maximalbeschleunigung heulten die Turbinen wie die Triebwerke eines Jets. Zuerst zeigte der Tachometer beständig knapp fünfzig Stundenkilometer an, doch dann begann das Tempo zu fallen. Stephie bemerkte, dass ihr ganzes Gewicht auf ihren Rücken drückte, aber der Kamm des Hügels, den sie auf dem breiten Bildschirm vor sich 303
sah, schien durchaus erreichbar. Hin und wieder glitten die Stahlketten des gepanzerten Kampffahrzeugs ab, und diese Sekundenbruchteile ohne Bodenhaftung ließen die hilflose Horde hinter ihr entsetzt aufschreien. Jetzt wurde auch Stephie allmählich von Angst gepackt, aber noch Besorgnis erregender war die trotz des voll aufgedrehten Motors auf fünfundzwanzig Stundenkilometer abfallende Geschwindigkeit. Auf den Bildschirmen blinkten unverständliche Grafiken auf. Grüne Balken schossen aus dem grünen in den bernsteinfarbenen, dann in den roten Bereich. Auf mehreren Displays blitzte die Warnung »Vorsicht!« auf. Eine angenehme Frauenstimme, ähnlich der einer Stewardess kurz vor dem Absturz des Flugzeugs, begann ruhig die Gefahrenquellen aufzuzählen: Motortemperatur, Wasserdruck, Öldruck, Fahrverhalten und Bodenhaftung. Komm schon!, flehte Stephie still, während die Geschwindigkeit auf fünfzehn Stundenkilometer sank. Der Kamm des Hügels war nur noch etwa fünfundzwanzig Meter entfernt. Nur noch ein paar Sekunden, dachte sie, als sich ihr Gewicht noch weiter in Richtung ihres Halses verlagerte, weil die Geschwindigkeit des Fahrzeugs an der steilen Wand weiter fiel. »Um Himmels willen!«, schrie jemand hinter ihr genau in dem Augenblick, als das Fahrzeug mit gerade noch sechs Stundenkilometern über den Kamm des Hügels kroch. Stephie ließ die Hebel in eine neutrale Position zurückgleiten, und das Fahrzeug blieb stehen. Das Triebwerk lief im Leerlauf, auf dem Bildschirm verwandelte sich das flammende Rot in ein beruhigendes Grün. Die Stimme des als Beifahrer fungierenden Computers verstummte. Stephie blickte über die Schulter nach hinten, wo sich das Knäuel von Leibern an der Hintertür langsam zu entwirren begann. »Hab’ wohl vergessen, das Fasten-Your-Seatbelts-Schild aufleuchten zu lassen«, bemerkte Stephie grinsend. »Hier gibt’s keine verdammten Sicherheitsgurte!«, schrie eine Frau. »Müssen sie wohl vergessen haben«, sagte Stephie, während sie sich wieder dem Bildschirm zuwandte. Etwa einen halben Kilometer entfernt stand am hinteren Ende eines Tals eine Farm. Doch Stephie war sich hinsichtlich des dazwischen liegenden Terrains nicht sicher. Zwar hatte man ihnen erklärt, zwischen der Interstate und der Kammlinie, auf der das Fahrzeug jetzt stand, seien bisher noch keine Minen gelegt worden, aber 304
Stephie wusste nicht, wie es weiter draußen mit Verteidigungsmaßnahmen aussah. Sie schob den linken Hebel nach vorn und zog den rechten zurück. Obwohl sie nur auf der Stelle wendete, ließ schon die sanfte Bewegung und das nur etwas lauter werdende Triebwerksgeräusch hinter ihr sofort wieder Panik ausbrechen. »Haltet die Klappe«, befahl sie, während auf dem breiten Bildschirm der Kamm des Hügels vorbeiglitt. Als Stephie dann wieder den unter ihnen liegenden Highway sah, ließ sie die Hebel los, und das Fahrzeug stand still. Reagiert sensibel, dachte sie anerkennend. Unten sah sie ihr ganzes Platoon. Offensichtlich waren einige hinter dem davonrasenden Fahrzeug hergesprintet. John stieg gerade über den niedergewalzten Stacheldrahtzaun, den Experten und den Fahrer im Schlepptau. Sie kamen über den Pfad aufgewühlter brauner Erde den ansonsten grünen Hügel hoch, um ihr zu helfen. »Bitte, dürfen wir aussteigen?«, fragte jemand hinter Stephies Sitz. »Würden alle bitte wieder an ihre Plätze zurückkehren und die Tischplatten hochklappen?«, sagte Stephie mit einem breiten Grinsen. Als sie das Fahrzeug behutsam nach vorn manövrierte und dessen Spitze sich langsam zu senken begann, ging sofort wieder das Geschrei los. Eine Hand packte ihre Schulter, was sie als schwere Beleidigung empfand. Jetzt konnte das Rennen beginnen. Obwohl Stephie kein Gas gab, wurde das Heulen des Triebwerks lauter, als sie mit immer größerer Geschwindigkeit den Hügel hinabzufahren begannen. Fünfzehn Stundenkilometer, dreißig, fünfzig, fünfundsechzig. Mit kleinen Korrekturen der Regler steuerte sie das Fahrzeug geradeaus. Bevor er mit den anderen aus dem Weg sprang, fuchtelte John noch wie wild mit den Armen über seinem Kopf. Glücklicherweise hatte das Fahrzeug eine Höchstgeschwindigkeit von gut siebzig Stundenkilometern. Die restlichen Mitglieder des Platoons, die direkt vor ihr am Straßenrand standen, sprangen erschrocken zur Seite. Blitzschnell lag der Zaun hinter ihnen. Dann krachte das Fahrwerk des Kampffahrzeugs gegen die Böschung der Interstate, und schließlich landeten sie mit einem großen Knall auf der asphaltierten Fahrbahn. Nachdem Stephie die beiden Hebel zurückgerissen hatte, schlingerte das Fahrzeug nach links und nach rechts, und die Ketten knirschten mit einem entsetzlichen Geräusch über den Asphalt. 305
Stephie ließ die Hebel los, und das Fahrzeug kam zürn Stehen. Hinter ihr war es so still; dass Stephie zunächst glaubte, alle umgebracht zu haben. Als sie über die Schulter blickte, hatte jemand gerade den Türöffner gefunden, und die Grünschnäbel sprangen auf den von den Ketten aufgerissenen Asphalt. Sie flüchteten wie Ratten, die das sinkende Schiff verließen, und ließen sich draußen erschöpft übereinander fallen. Als die restlichen Mitglieder des Platoons sich um sie herum versammelt hatten, beugten sie sich zu ihren Kameraden herunter und begannen, ausgelassen zu lachen. Über sich hörte Stephie jemanden fest auf die Luke schlagen. In der Mitte des Bildschirms sah sie das Knie der Hose eines Kampfanzugs und das untere Ende eines nassen Regenumhangs. Mehr brauchte sie auch nicht zu sehen, um zu wissen, wer das war. »O Gott«, murmelte sie, bevor sie auf den Knopf mit dem nach oben zeigenden Pfeil drückte. Die Luke öffnete sich leise quietschend und mit einem zischenden Geräusch. Regentropfen trafen ihre Augen. Vor dem grauen Himmel hob sich das wutverzerrte Gesicht von John Burns ab, den sie noch nie so aufgebracht gesehen hatte. Neben ihm drängelte sich der Fahrer vor, der fluchend nach dem Knopf tastete, mit dem der Motor abgestellt wurde. »Mein Gott!« Mehr fiel ihm nicht ein, als er Stephie kopfschüttelnd wie eine Geisteskranke anstarrte. Ohne John in die Augen zu blicken,, stieg Stephie aus dem Kampffahrzeug. Der Fahrer und der Experte, der den Vortrag gehalten hatte, überprüften die Kratzer und den verknäuelten Stacheldraht, die die Außenseite des vorher makellosen Fahrzeugs verschandelten. Dagegen beglückwünschte die Mehrheit ihres Platoons, die nicht mitgefahren war, Stephie mit Hochrufen und tosendem Applaus. Stephie nickte und nahm das Lob erfreut entgegen. Dem durchbohrenden Blick von John Burns wich sie weiterhin aus. Hinter dem Fahrzeug hatten sich die durchgeschüttelten Soldaten mittlerweile aufgerappelt, aber einige umfassten immer noch ihre Knie, als wäre ihnen von der Seekrankheit übel. Der Motor gab schnelle, stotternde Geräusche von sich. Der Experte blieb dicht vor Stephie stehen und starrte sie mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck an. »Das Fahrzeug lässt sich ziemlich gut handhaben«, sagte sie, »aber einige Passagiere haben sich darüber beschwert, dass ihre Gläser umgekippt sind.« Die Mehrheit der Anwesenden – ihr Publikum und ihr neuer Fanklub – 306
brach in schallendes Gelächter aus. Jetzt wagte es die lächelnde Stephie auch, John Burns anzusehen. Mehr als ein Lächeln brauchte es bei ihm nicht, mehr wollte er gar nicht. Trotzdem wandte er sich wortlos ab. Stephie war klar, dass sie Mist gebaut und ihn enttäuscht hatte, und folglich war sie auch von sich selbst enttäuscht. Mittlerweile steckte die gute Laune ihrer Soldaten sogar diejenigen an, die zum Opfer dieser kleinen Achterbahnfahrt geworden waren. Zwar standen sie noch immer auf wakkeligen Beinen, doch auch sie lächelten jetzt. »Wer will jetzt mitfahren?«, fragte Stephie gelassen. Sofort boten sich ihre Squad-Führer als Freiwillige an, aber der Experte, der über das Fahrzeug zu bestimmen hatte, war bedient. »Nichts da, das reicht! Ende der Vorstellung!« Alle stöhnten enttäuscht auf und begannen, sich zu beschweren, doch Stephie brachte sie zum Schweigen. »Jetzt ist es gut, haltet die Klappe!« Ihre Soldaten hatten begriffen, dass der Spaß vorbei war, und blickten sie besorgt an. »Jetzt wird mit Granaten geübt! Auf zum Schießplatz! Jeder wirft fünfzig Übungsgranaten, am Schluss dann eine scharfe! Vorwärts!« Alle schlurften langsam durch den Regen. »Schneller!«, befahl eine genervte Stephie, die nach ihrem Gewehr griff und an ihren Soldaten vorbeieilte. Laute Stiefeltritte, die das Regenwasser aufspritzen ließen, dröhnten über den Highway. Stephies Augen suchten John, konnten ihn aber nicht finden.
Bessemer, Alabama 2. November, 2030 Uhr Ortszeit Jimmy und Amanda Lipscomb hingen mit Hart in dem etwa zwölf Quadratmeter großen Sturmschutzkeller herum, der aus einem Abhang herausgehauen worden war. Nach über zwei Wochen, in denen Hart sich fast nicht bewegt, sondern nur sein Bein hochgelegt und seinen Fußknöchel mit einem Eisspray eingesprüht hatte, fühlte er sich hier mittlerweile wohl. Endlich begann sein Fuß zu heilen. Offensichtlich war er nicht gebrochen, aber er hatte sich den Knöchel verstaucht. Wahrscheinlich hatte der lange 307
Fußmarsch nach der Verletzung den größten Schaden angerichtet. »Haben Sie viele von ihnen getötet?«, fragte der Junge. »Jimmy!«, rief seine Schwester. »Dad hat doch gesagt, dass du ihm keine Fragen stellen sollst.« »Hör auf deinen Dad«, sagte Hart. »Er versucht, eure Familie zu schützen.« »Ja, ja, schon gut«, antwortete Jimmy gleichgültig. »Aber in meiner Schule wird von Widerstand gesprochen.« »Halt die Klappe!«, wies Amanda ihren Bruder zurecht. »Nimm nie wieder dieses Wort in den Mund! Nie wieder!« »Amanda hat Recht«, sagte Hart. »Es ist zu gefährlich, Widerstandsgruppen beizutreten. Wahrscheinlich ist das Ganze sowieso von den Chinesen inszeniert, um die Leute in die Falle zu locken.« »Aber ich könnte mich Ihnen anschließen!«, platzte es aus Jimmy heraus. »Man sagt, dass Männer wie Sie Waffen und Munition in den Hügeln verstecken. Und es muss ja auch so sein! Jede Nacht wird irgendwas in die Luft gejagt. Die Chinesen sind echt nervös. Sie fahren in Panzern rum, und wenn sie zu Fuß marschieren, haben sie Angst. Der letzte Mann in der Reihe geht rückwärts. Ich will helfen!« »Du willst die Chinesen töten, die in unser Land eingedrungen sind?«, fragte Hart. Amanda ließ die Frage im Raum stehen und wartete auf die Antwort ihres jüngeren Bruders. »Würdest du es über dich bringen, diese Soldaten zu töten?« Weil für ihn die Antwort auf der Hand lag, zuckte Jimmy nur die Achseln. »Natürlich! Wenn ich könnte, würde ich jeden Einzelnen von ihnen töten! Ich hasse sie! Wirklich, ich verstehe nicht, warum Sie das fragen.« Für den Jungen schien alles ganz einfach zu sein, und vielleicht war es das in seinem Alter auch. »Dann warte lieber, bis du es verstehst«, riet Hart. »Warte, bis du einigen chinesischen Soldaten begegnet bist, die dich anständig behandeln, dir einen Gefallen tun und sich wie ganz normale Leute benehmen. Warte zwei Jahre, bis. du dir nicht mehr ganz so sicher bist, ob es richtig ist, sie einfach zu töten, nur weil sie ihren Job tun. Dann kannst du entscheiden, was richtig und was falsch ist, vorher nicht.« »Jimmy, Amanda!«, rief der Familienvater aus der Ferne. Sofort stand der gut erzogene Junge auf, aber an der Treppe zum Aus308
gang zögerte er noch einmal. »Ich soll zwei Jahre warten?«, fragte er. »Bis ich sechzehn bin?« »So ungefähr«, antwortete Hart. Jimmy grinste, nickte und raste dann nach draußen. Amanda folgte ihm, blieb aber an der Tür stehen. »Ich bin sechzehn«, sagte sie. Hart antwortete nicht.
Hauptquartier der chinesischen Armee, Atlanta 5. November, 1245 Uhr Ortszeit Nach dem Treffen von Shengs Generalstab stellte Leutnant Wu mit anderen Offizieren niederer Ränge geheime Akten sicher. An der Tür lehnte Oberst Li, der die ganze Aktion beobachtete. Alle Akten und Notizblöcke – gebraucht oder nicht – wanderten in einen Sack mit der Aufschrift »VERNICHTEN« Die Kunststoffverschlüsse an den Säcken wurden mit deutlich vernehmbaren, klickenden Geräuschen zugezurrt. Auf der Seite der Säcke stand: »Feuer erster Klasse erforderlich«. Wie die anderen Leutnants und Hauptmänner ließ auch Wu Akten und Papiere in seine Säcke fallen, verschloss sie dann und reichte sie anderen Offizieren, die sie zu einem Karren brachten. Bevor Wu die nächsten Papiere auch nur berühren durfte, musste er abwarten, bis ein Soldat zurückgekehrt war. So lauteten die Vorschriften – immer zwei Männer, niemals nur einer. Dadurch sank das Spionagerisiko. Endlich kam Wu’s Partner – ein Hauptmann – zurück. Nachdem Wu weitere Akten und Kladden verstaut hatte, reichte er dem Mann den Sack, und der Hauptmann verließ den stillen Raum. Wu ging zum Kopf des Tisches – zu General Shengs Platz – und wartete. In diesem Augenblick war niemand sonst in dem Raum, was eine eklatante Verletzung der Sicherheitsvorschriften war. Oberst Li war verschwunden, die anderen Männer, die mit der Aktenvernichtung beauftragt gewesen waren, hatten ihren Job erledigt, Wu’s Partner war noch nicht zurück. Jetzt lag nur noch vor dem Platz des kommandierenden Generals eine Akte auf dem Tisch. Wu blickte auf die Akte, und allein dieser Blick wäre – wenn er bemerkt 309
worden wäre – für die Männer von der Gegenspionage bereits verdächtig genug gewesen, um einen Offizier des Stabs wie Wu an die Front zu schicken. Das rote Wachssiegel auf Shengs Akte war bereits erbrochen. Wu griff nach dem Schriftstück und schlug es auf – ein Vergehen, das mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Die Akte war ordentlich unterteilt, und auf der ersten Seite jedes Kapitels war das Bild eines Amerikaners mit einem Namen darunter zu sehen. Die ersten drei Bilder schienen sorgfältig von einem Fotografen arrangierte Publicity-Fotos zu sein. Ein Mann trug eine Brille und einen eleganten Anzug. Unter dem Bild stand »Hamilton Asher«. Das nächste Foto zeigte Martin Latham, einen General der Air Force mit kurz geschnittenem, grauem Haar. Thomas Leffler war ein rundlicher alter Mann, in dem Wu einen bekannten amerikanischen Politiker erkannte. Aber auf dem letzten Blatt fand er kein Porträt, sondern ein schlechtes, von einem Videoband abfotografiertes Bild einer attraktiven Amerikanerin, die gerade ihre Sonnenbrille aufsetzte, während sie das Weiße Haus verließ. Daneben klebte ein Bild derselben Frau, auf dem sie Jahre jünger war, vielleicht Mitte zwanzig. Es zeigte sie in einem Gartenrestaurant einer chinesischen Stadt. »Dr. Clarissa Leffler«, las Wu, wobei er zwar die Lippen bewegte, den Namen aber nicht laut aussprach. Nachdem er die Akte zugeklappt hatte, wartete er und starrte dabei auf die ferne Wand, als würde er strammstehen. Oberst Li tauchte an der Tür auf und warf einen Blick in den Raum. »Ah, Leutnant Wu? Die anderen sind einfach weggelaufen und haben Sie allein zurückgelassen?« Lässig spazierte er in den Raum. »Sieht ganz so aus, Oberst Li.« Li nahm Wu’s Müllsack und hielt ihn ihm hin. Nachdem Wu General Shengs Akte und seine Kladde hineingeworfen hatte, verschloss Li ihn mit einem klickenden Geräusch. »Auf dem Weg nach oben werde ich das hier in der Abteilung für die Aktenvernichtung abgeben«, sagte Li hilfsbereit. »Jawohl, Herr Oberst«, antwortete der strammstehende Leutnant. Li lächelte. Als Wu in seine luxuriöse Wohnung in einem der für den amerikanischen Süden so typischen Häuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückgekehrt war, zog er sich in der Dunkelheit aus und kroch dann in das große 310
Bett. Shen Shen bewegte sich im Schlaf und schmiegte sich warm an ihn. »Hallo«, sagte sie schläfrig, bevor sie Wu zu küssen begann, wobei ihre Lippen immer weiter nach unten rutschten. Warum will Sheng mich gerade in diese Informationen Einblick nehmen lassen? Kurzzeitig versuchte Wu noch, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, doch dann gab er der Versuchung der mechanischen, aber äußerst wirkungsvollen Liebkosungen von Shengs Sekretärin nach.
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4. KAPITEL
Weißes Haus, Lageraum 8. November, 1930 Uhr Ortszeit Präsident Baker warf Nachrichtenmagazine und Zeitungen auf den langen Konferenztisch, wobei er das klatschende Geräusch, mit dem die Presseerzeugnisse auf die Tischplatte fielen, für sich sprechen ließ. New York Times, Time, Wall Street Journal, Newsweek – in all diesen Publikationen gab es Artikel, in denen die Defensivstrategie der amerikanischen Armee kritisiert wurde. »In anderthalb Stunden habe ich zur besten Sendezeit eine Pressekonferenz«, sagte Baker, »auf der mich fünfzig Leute fünfzigmal auf fünfzig verschiedene Weisen fragen werden, warum wir uns im 21. Jahrhundert für eine Neuauflage der Kriegsführung des Ersten Weltkriegs entschieden haben.« Die Mienen der Anwesenden waren finster, aber keiner hatte einen so finsteren Gesichtsausdruck wie General Cotler, seines Zeichens höchster General der U.S. Army und Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs. Baker griff nach dem Nachrichtenmagazin Time. Auf dem Titelbild wurden historische Schwarzweißfotos hagerer Infanteristen in Schützengräben mit ähnlichen Farbfotos vom Savannah kontrastiert. »Und es ist eine legitime Frage«, fuhr der Präsident fort. »Eine Frage, die ich mir selbst zu stellen beginne, nachdem keine unserer drei nacheinander in Stellung gebrachten Linien die Chinesen länger als eine Woche aufhalten konnte. Haben Sie in dieser Publikation gelesen, General Cotler, was Ihr mittlerweile pensionierter Vorgänger geschrieben hat?« »Ich habe lange mit ihm darüber gesprochen, Sir«, antwortete Cotler. »Ja, Sir, ich habe den Artikel gelesen.« Trotzdem ließ sich Baker nicht davon abhalten, eine Passage vorzulesen. »›Der hauptsächliche Pluspunkt statischer Verteidigungsstellungen ist darin zu sehen, dass die Front des Feindes aus versteckten Stellungen 312
heraus massiv unter Feuer genommen werden kann. Der größte Nachteil ist folgender: Ist die Linie erst einmal durchbrochen, sind die immobilen Verteidiger nicht in der Lage, sich neu zu orientieren, damit sie Angriffe gegen ihre Flanken zurückschlagen könnten. Einen Schützengraben oder einen Betonbunker kann man sich nicht unter den Arm klemmen und damit herumlaufen.‹« Baker blickte Cotler an. »Das scheint mir doch ein ziemlich vernünftiger Kommentar zu sein. Die ganzen wütenden, vom Weißen Haus akkreditierten Journalisten werden mich fragen, warum Amerika, nachdem es sich ein halbes Jahrhundert lang mit der Planung mobiler Kriegsführung beschäftigt hat, jetzt praktisch wieder in die Schützengräben von Verdun zurückkehrt. Wie würden Sie antworten, General Cotler?« Cotler reckte energisch den Unterkiefer vor, was von Wut oder grimmiger Entschlossenheit künden konnte, vielleicht auch von beidem. »Bei der Militärtechnologie schwingt der Vorteil immer hin und her, von der Offensive zur Defensive und wieder zurück. Sowohl zu Lande als auch in der Luft befinden wir uns im Moment eindeutig in einer defensiven Phase des technologischen Zyklus. Vielseitig einsetzbare Waffen geben den Infanterie-Trupps angeschlossenen Gruppen – sowohl auf amerikanischer als auch auf chinesischer Seite – jederzeit die Möglichkeit, blindlings eine Rakete abzufeuern und damit einen knapp zwanzig Kilometer entfernten Panzer zu zerstören. Stellt man hingegen die Richthöhe anders ein, kann man mit derselben Rakete einen in sechstausend Meter Höhe fliegenden Überschall-Kampfjet vom Himmel holen. Gepanzerte Fahrzeuge und Luftunterstützung aus der Nähe spielen bei ihnen auf dem Gefechtsfeld praktisch keine Rolle mehr. Was bleibt, ist Infanterie und Artillerie. Moderne Artillerie, Mr President, hat eine vernichtende Wirkung, wenn man sie gegen ungeschützte Infanteristen einsetzt. Eine einzige 155mmSelbstfahrhaubitze kann zwölfmal feuern.« Er hielt seinen Unterarm in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, die Finger wie der Lauf eines Geschützes ausgestreckt, und ließ den Arm dann mit einem Dutzend ruckartiger Bewegungen auf den Tisch sinken. »Dabei kann man die Richthöhe so nach unten verändern und dabei das Timing so einstellen, dass alle zwölf Geschosse simultan das Ziel treffen. So hat jedes Geschütz die Feuerkraft einer ganzen Artilleriebatterie. Wäre jede Granate mit ClusterMunition, der so genannten Schüttmunition, gefüllt und träfe sie eine chi313
nesische Infanteriekompanie, die unsere Stellung angreifen will, würden alle einhundertfünfzig feindlichen Soldaten sterben.« »Und warum ist das bisher nicht passiert?«, beharrte Vizepräsidentin Sobo. »Es ist passiert, und zwar immer wieder«, antwortete Cotler. »Und warum hat das dann bis jetzt den Chinesen keinen Einhalt geboten?«, fragte Elizabeth Sobo. »Die Chinesen verfügen eben über jede Menge Infanteriekompanien«, antwortete der General lapidar. Dann wandte er sich wieder dem Präsidenten zu. »Schätzungen besagen, dass wir in fünf Wochen eine Million chinesische Soldaten getötet haben, und damit haben sie doppelt so hohe Verluste erlitten wie bei ihrem gesamten Feldzug in Indien, der ein halbes Jahr gedauert hat. Wahrscheinlich haben sie weitere drei Millionen Verletzte. Und wenn auch einige von diesen Verwundeten nach zwei Wochen oder einem Monat wieder kämpfen können, verlieren sie deshalb trotzdem fast siebenhunderttausend Soldaten pro Woche.« »Aber da die Häfen von Mobile, Gulfport und San Diego voll funktionsfähig sind«, las Elizabeth Sobo aus ihren Unterlagen vor, »bringen sie pro Tag vierhunderttausend Soldaten an Land. Bisher haben sie sieben Millionen im Süden abgesetzt, eine Million an der Westküste und eine halbe Million auf Hawaii. Es gibt Schätzungen ihrer Truppenstärke auf Kuba und in den Bereitstellungsräumen auf den Kanarischen Inseln. Dazu kommt die Zahl der Truppentransporter, die von unseren Unterseebooten im Pazifik oder am Hörn von Afrika entdeckt wurden. Beides zusammen spricht dafür, dass sie noch eine Zeit lang genauso viele Soldaten an unsere Küsten bringen können.« »Aber nicht beliebig lange«, widersprach Cotler. »Und hier kommen unsere festen Verteidigungsstellungen ins Spiel. Alles in allem kommt ein gefallener Amerikaner auf fünfzehn tote Chinesen, aber an den Flüssen Savannah und Santee war das Verhältnis über eins zu fünfzig. Und nach dem, was Dr. Leffler uns berichtet, wird der politische Wille in China, weiterhin solche Verluste hinzunehmen, schon lange vor dem Zeitpunkt zusammenbrechen, wo das Militär an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt, weiter neue Soldaten zu schicken.« »Das ist Ihr Plan?«, fragte die Vizepräsidentin. »Sie wollen darauf werten, dass die politische Unzufriedenheit in China nach zehn Jahren Krieg 314
so groß wird, dass sie einfach aufgeben! Sollte das tatsächlich Ihr Plan sein, General Cotler, würde ich Ihnen raten, den Präsidenten zu informieren, denn mir scheint doch, als hätten wir die ganze Zeit darüber geredet, diesen Krieg militärisch und nicht etwa politisch zu gewinnen!« Cotlers Stimmung war alles andere als gut. Er war der oberste General der bewaffneten Streitkräfte der Vereinigten Staaten und musste sich von einer Frau zurechtweisen lassen, die es irgendwie geschafft hatte, Kongressabgeordnete zu werden. Aber er kannte seine Stellung innerhalb des demokratischen Systems. Oder etwa nicht?, fragte sich Bill, als er den zähneknirschenden General sah. Cotler bemühte sich, seinen Ton nicht allzu feindselig klingen zu lassen. »Wenn wir in einem mobil geführten, offenen Landkrieg eine Million Chinesen töten wollten, müssten wir Verluste in einem Verhältnis von eins zu fünf, eins zu vier oder eins zu drei hinnehmen, Madam Vice President. Und dabei gehen wir von der Annahme aus, dass wir Boden preisgeben und aus einer Defensivhaltung heraus kämpfen könnten.« Wieder schäumte Cotlers Zorn über, und er atmete tief durch. »In diesem Fall hätten wir statt siebenundsechzigtausend Toten und hundertzweiundneunzigtausend Verwundeten zwei bis dreihunderttausend Tote und dreimal so viele Verletzte in Kauf nehmen müssen, außerdem den Verlust der Hälfte unserer gepanzerten Kampffahrzeuge. Zudem wären wir dann in genau derselben Situation wie jetzt. Aber indem wir die Chinesen gezwungen haben, unsere Verteidigungslinie in Atlanta und an den Flüssen Savannah und Santee zu durchbrechen, haben wir das Terrain und den gegenwärtigen Entwicklungsstand der militärischen Technologie bestmöglich ausgenutzt.« »Und wenn das nicht reicht?«, hakte Elizabeth Sobo nach. »Dann werden wir den Krieg verlieren«, antwortete Cotler kategorisch. Plötzlich schien es in dem Raum merklich kühler zu sein, und Bill Baker spürte, dass er zu zittern begann. Er kämpfte dagegen an, und da er sich auch seiner Stimme nicht ganz sicher war, wartete er noch einen Augenblick, bevor er zu sprechen begann. »Aber genau wie die Chinesen nur über eine begrenzte Zahl von Soldaten verfügen, die sie zu verheizen bereit sind, verfügen wir nur über ein begrenztes Territorium, das wir preisgeben können. Meile um Meile erobern sie unser Land, unsere Ressourcen und unsere Industrie. Ungefähr fünf Prozent unserer Bevölkerung – dreizehn Millionen Menschen – blieben auf ihrer Flucht in Verkehrsstaus 315
stecken und fielen den Chinesen in die Hände. Und ich darf Sie daran erinnern, dass einige dieser Verkehrsstaus durch amerikanische Militärpolizisten verursacht wurden, die die Straßen blockierten, damit unsere kämpfenden Einheiten den chinesischen Zangenbewegungen entkommen konnten.« Es war überflüssig, dass Bill Cotler darüber informierte. Wieder und wieder waren in den Fernsehnachrichten Bilder fliehender Zivilisten gezeigt worden, die die Militärpolizisten anflehten, sie die Straßensperren passieren zu lassen. Bill überließ es dem General, wie er antworten wollte. Während sein Blick über die anderen Militärs glitt, seufzte Cotler tief auf. Seine gefalteten Hände lagen auf dem Tisch, als würde er beten. »Um einem Frontalangriff der gesamten chinesischen Armee widerstehen und ihnen eine entscheidende Niederlage beibringen zu können, müssten wir sie weitestgehend zermürben, ihre Nachschubwege von der Golfküste verlängern und an einer nicht zu durchlöchernden Linie unsere Verteidigungsstellungen errichten. Diese Linie müsste mindestens aus drei mehrere Meilen tiefen Verteidigungsgürteln bestehen, von denen jeder durch schwere Artillerie unterstützt werden müsste. Das würde einen massiven Einsatz von Pionieren erfordern. Diese Verteidigungsgürtel müssten durch ein Netz von Gräben verbunden sein, damit schnell und sicher Verstärkung und Nachschub gewährleistet werden können. An den Seiten müssten, unter Ausnutzung der Gegebenheiten des Terrains, Verteidigungsstellungen eingerichtet werden, die den Angriff der Chinesen kanalisieren, wenn diese von der ersten zur zweiten und dann von der zweiten zur dritten Linie vorrücken. Die Materialkosten wären immens, und das Vorhaben würde monatelange Arbeit erfordern. Die Pionierarbeiten, der Beton, der Stahl, Millionen Tonnen Erde, die bewegt werden müssten – all das verlangt einen Einsatz von Ressourcen, den weder diese Nation noch eine andere bisher je auf sich genommen hat. Und darüber hinaus, Mr President, müssten alle mit Leib und Seele dabei sein, wenn es darum geht, diese Linie zu halten – vom einfachsten Private bis zum Oberbefehlshaber.« Wieder ließ Cotler seinen Blick um den Tisch wandern, doch diesmal richtete er sich besonders an die hohen Offiziere von Navy, Air Force und Marines. »Die Vereinigten Stabschefs empfehlen – und es hat bei der Abstimmung nur eine Neinstimme gegeben, Mr President –, dass wir diese Linie errichten und sie um jeden Preis zu halten versuchen.« 316
Diesmal hakte die Vizepräsidentin nicht nach. Jetzt war Bill Baker an der Reihe. »Wer von Ihnen war nicht mit dem Plan einverstanden?«, fragte der Präsident. »Ich«, antwortete General Latham von der Air Force. »Und wie könnten wir Ihrer Meinung nach diesen Krieg gewinnen?«, fragte Baker. »Indem wir die chinesischen Truppen durch den Einsatz von Atomwaffen vernichten«, antwortete Latham, ohne mit der Wimper zu zucken. Baker nickte und zwang sich dann, erneut über diese Option nachzudenken, gegen die er sich fast jede Nacht sträubte, wenn er neben der fest schlafenden Clarissa lag. Er hatte so viele Karten und Computersimulationen über den Verlauf eines Atomkrieges gesehen, dass es kein Problem war, das verhängnisvolle Drama vor seinem geistigen Auge im schnellen Bildvorlauf abzuspulen. Aus einigen roten Pockennarben entlang der Küste der Vereinigten Staaten würden innerhalb von Wochen Zehntausende werden, und die Pest würde sich immer tiefer ins Landesinnere fressen, während die Raketenstellungen durch atomare Schläge ausgeschaltet werden würden. Schließlich, nach zwei oder drei Monaten dieser wahrhaft biblischen Schlacht zwischen Gut und Böse, würde Amerika nur noch aus wenig mehr als jenem Fluchtbunker für die Regierung bestehen, der gegenwärtig in Omaha in Nebraska gebaut wurde und der von den letzten noch verbleibenden Boden-Luft-Raketen beschützt werden würde. Baker stellte sich vor, wie er gleichsam auf einem mittelalterlichen Gefechtsturm oder einer mit Zinnen bewehrten Mauer stand und den nächtlichen Himmel betrachtete, an dem das rötliche Glühen hunderter künstlicher Sonnenaufgänge zu sehen war. Das Feuer defensiver und offensiver Raketen mit Atomsprengköpfen würde sich immer enger zusammenziehen, bis Amerika schließlich nicht mehr existierte. Erneut wandte sich der Präsident Cotler zu. »Wo genau werden wir diese Verteidigungslinien errichten?« Nachdem Cotler einem Techniker zugenickt hatte, ließ dieser auf dem an der Wand angebrachten Bildschirm eine elektronische Karte aufleuchten. »Selbst wenn wir unser Bestes geben, werden wir zwei oder drei Monate benötigen.« Baker konzentrierte sich auf die drei blauen Linien, die den Flussläufen des Potomac und des Occoquan folgten und durch die Gefechtsfelder von Manassas aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg führ317
ten. Die Linien beschrieben einen Bogen um den Dulles Airport, bevor sie an der Grenze zwischen Maryland und Virginia – westlich von Whites Ferry – erneut dem Potomac folgten. »Können wir die Chinesen südlich von Washington drei Monate lang festnageln?«, fragte Baker. Cotler zuckte nur die Achseln. »Dann sollten wir das III. Corps in den Osten zurückbringen«, schlug Baker vor. »Aber das Material ist gerade erst in Südkalifornien eingetroffen«, gab Verteidigungsminister Moore zu bedenken. »In zwei Tagen werden die 1st Cavalry und die 1st Armored eine Offensive starten, die die Chinesen an der Küste festnageln soll.« »Rufen Sie sie zurück«, befahl Bill. »Das I. und das II. Corps müssen nur die Stellung halten. Sollten sie Hilfe benötigen, bedienen Sie sich des X. Corps, das weiter oben an der Küste stationiert ist.« Clarissa lag mit einer Tüte Popcorn in Bakers Bett und sah sich die im Fernsehen übertragene Pressekonferenz an. »Wie ich bereits sagte«, beantwortete Baker gerade die Frage eines Journalisten, »werden die Pläne der Army, diesen Krieg von festen Verteidigungsstellungen aus zu führen, einer kompletten und gründlichen Überprüfung unterzogen. Ich gehe davon aus, dass wir auf eine Taktik umschwenken, die die größere Mobilität unserer Truppen stärker berücksichtigt.« Derselbe Reporter hatte noch eine weitere Frage parat. »Mir ist klar, dass ich Sie gerade bereits nach unseren Plänen gefragte habe, und ich bedanke mich für Ihre Antwort, Mr President, aber finden Sie nicht, dass die Chinesen Ihrer Antwort nützliche militärische Hinweise entnehmen könnten?« »Nur wenn sie glauben, dass ich Ihre Frage wahrheitsgemäß beantwortet habe«, sagte Baker augenzwinkernd. Zusammen mit den zahlreichen Journalisten im Weißen Haus brach auch Clarissa in Gelächter aus. Aber dies war der einzige amüsante Moment in einer zunehmend unerfreulichen Auseinandersetzung, bei der die Reporter eine anklagende Haltung einnahmen. »Stimmt es, dass Sie die Westküste abgeschrieben haben, 318
um sich auf die Rettung der Marinewerft von Philadelphia zu konzentrieren?«, fragte ein Journalist. »Entspricht es der Wahrheit, dass über eine Viertelmillion amerikanische Soldaten ums Leben gekommen sind?«, wollte einer seiner Kollegen wissen. Dies waren zwei typische Fragen, deren Wahrheitsgehalt Bill rundweg abstritt. Seine Freundlichkeit ließ nach, seine Antworten wurden kürzer. Dann ignorierte er sogar unerwünschte Fragen und zeigte einfach auf den nächsten Journalisten. Schließlich war er wütend, und obgleich er gerade noch zugesagt hatte, zwei oder drei weitere Fragen zu beantworten, hatte er die Nase voll, als er die Wortmeldung des nächsten Reporters hörte. »Sicher haben Sie heute Abend den Beitrag von CNN gesehen, Mr President, in dem Ihre Exfrau vermutet hat, Sie beließen Ihre Tochter in einer kämpfenden Einheit, weil Sie so dem politischen Druck amerikanischer Eltern entgehen könnten, deren Kinder gleichfalls beim Militär dienen. Solange Ihre gemeinsame Tochter weiter kämpfe, behauptete Mrs Roberts – und auch wenn sie ernsthaft verletzt, getötet oder gefangen genommen werden sollte, was Gott verhüten möge –, seien Sie immun gegen die Anklage, Sie hätten kein Mitgefühl hinsichtlich der bedauernswerten Lage dieser…« Mitten in diesem Satz verließ Bill das Podium, während ihm die Journalisten »Mr President, Mr President!« nachriefen. »Diese Schlampe!«, platzte es aus Clarissa heraus, als Bill eintrat, der direkt von der Pressekonferenz kam und sich nicht die Zeit genommen hatte, sich abschminken zu lassen. Nachdem er sich das Jackett vom Leib gerissen hatte, lockerte er seine Krawatte. Die hinter ihm stehende Clarissa versuchte, seine Schulter zu massieren, aber Baker wich dem Körperkontakt aus. Clarissa tat alles, um ihn zu besänftigen. »Ich verstehe einfach nicht, wie sie solche Fragen stellen können«, sagte sie. »Wusstest du von diesem Interview, das Rachel CNN gegeben hat?«, fragte Bill vorwurfsvoll. Clarissa zuckte die Achseln. »Es wurde in allen Nachrichtensendungen ausgestrahlt. Willst du sagen, dass man dir nichts von dem Interview gesagt hat?« »Nein! Und ich beginne mich allmählich zu fragen, was man mir noch alles nicht erzählt!« 319
Sofort war Clarissa alarmiert. »Zum Beispiel?«, fragte sie besorgt. Aber Bakers Äußerung war nur auf seine Wut, seine Übermüdung und seine Paranoia zurückzuführen. Clarissa schlang ihre Arme um seinen Hals, küsste ihn und dirigierte ihn zum Bett, wo sie das Kommando übernahm. Und Bill folgte ihren zarten Befehlen und vergaß kurzzeitig all die Sorgen und Mühen, die sein Leben zu verschlingen drohten. Nachdem Clarissa eingeschlafen war, stand Bill auf. Er zog Jeans an und streifte durch die Korridore des Weißen Hauses, wo selbst in den frühen Morgenstunden gearbeitet wurde. Nur kurz steckte er den Kopf durch die Türen von Büros, aber immerhin lange genug, um die Arbeit ins Stocken zu bringen. Schließlich landete er in dem verwaisten Oval Office. In einer abgeschlossenen Schublade seines Schreibtischs lagen bislang nicht gelesene Berichte. Im Laufe des Tages war der Stapel immer größer geworden, und jetzt legte er die Schriftstücke auf seine Schreibunterlage. Aber als er gerade Platz nehmen wollte, leuchtete der Monitor seines Computers auf. Auf Bitte des Secret Service hatte er stets ein spezielles elektronisches Gerät in der Tasche. Die Leute vom Personenschutz – und nur sie – wussten immer genau, wo Bill sich gerade aufhielt. Es gab nur eine Kurznachricht, die sein Computer für lesenswert hielt. Das Programm war von Dr. Richard Fielding geschrieben worden, einem brillanten Professor vom Massachusetts Institute of Technology, dessen Forschungsschwerpunkt auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz lag und der mittlerweile Direktor der CIA war. Deshalb war es auch nicht weiter überraschend, dass das Programm Fieldings Nachricht als lesenswert eingestuft hatte. Dessen umfassende intellektuelle Fähigkeiten hatten Bill so beeindruckt, dass er ihn zum Chef seines Nachrichtendienstes ernannt hatte, aber erst im Laufe der Zeit war Fielding zu dem Mann geworden, dem er am meisten vertraute. Jetzt leuchtete auf dem Computermonitor die Nachricht »Anruf wird gehalten« auf, Fielding wurde identifiziert, und Bill erklärte, mit dem CIA-Direktor sprechen zu wollen. Auf dem Bildschirm tauchte Fieldings Gesicht auf. »Wir sind ja mal wieder lange auf den Beinen, was?«, fragte Fielding. »Im Fernsehen läuft ein guter Film«, antwortete Bill. 320
Fieldings Lächeln war nicht von langer Dauer. »Ich würde gern mit Ihnen reden, Mr President.« »Ich bin ganz Ohr.« »Persönlich.« Der Präsident runzelte die Stirn. »Ich werde hier auf Sie warten«, antwortete er dann. »Bin schon unterwegs.« Der Bildschirm wurde schwarz. Jetzt fiel Bill ein Stapel von Dokumenten auf, mit denen er sich beschäftigen musste. Einige segnete er nur mit seinen Initialen ab, doch dann wurde er gebeten, ein Schriftstück zu unterschreiben. Nach sorgfältiger Lektüre wurde ihm klar, dass er mit seiner Unterschrift die Unterbringung von Soldaten in privaten Eigenheimen autorisieren würde. Steht darüber nicht etwas in der Verfassung? Mittels eines Suchbefehls überprüfte er den Text der Verfassung am Computer, und bald stieß er auf den dritten Artikel der Bill of Rights. »In Friedenszeiten darf kein Soldat ohne die Zustimmung des Eigentümers in einem Haus einquartiert werden, und auch in Kriegszeiten bedarf es eines entsprechenden Gesetzes.« Bill war kein Jurist. Zwar war klar, dass Krieg herrschte, aber nach Bills Wissen war kein diesbezügliches Gesetz vom Kongress verabschiedet worden. Also schrieb er das Wort »VERFASSUNGSWIDRIG« über das Dokument. Dann begann er, die aufgelaufenen Berichte durchzusehen, die teilweise nebensächliche, zum Teil aber auch äußerst gewichtige Themen zum Gegenstand hatten. In einem dreißig Seiten langen Bericht wurde der Befürchtung vor einem unmittelbaren Engpass bei der Versorgung mit Geflügelfleisch Ausdruck verliehen, ein anderes trockenes, dreiseitiges Schriftstück informierte Bill, dass chinesische Kundschafter das Gefalle der Strande in der Provinz New Brunswick in Kanada überprüft hätten, direkt nördlich der unverteidigten Grenze von Maine. Die Erledigung des Papierkrams glich für Bill dem, was man gern vom Fliegen behauptete: Stundenlange Langeweile wurde durch kurze Momente panischer Angst unterbrochen. Distribution von Lebensmitteln. Verlegung von Fabriken und technischem Gerät ins Landesinnere. Proteste der Einwohner Virginias, die sich darüber beschwerten, dass ihre Städte schon zerstört worden waren, als die Chinesen sich noch in North Carolina aufhielten. Schrumpfende Vorräte 321
an Rüstungsmaterial in den am Atlantik gelegenen Bundesstaaten, überquellende Depots in den bislang verschonten Staaten Louisiana und Texas. Der Inhalt dieser Waffendepots konnte nur effizient verteilt werden, wenn die Interstate 40 gehalten wurde, die von Westen nach Osten mitten durch Tennessee verlief. Richard Fielding schüttelte Baker sanft an der Schulter, und der Präsident wachte auf. Eilig nahm er die Füße von der Schreibtischplatte, als hätte man ihn während der Arbeitszeit beim Schlafen erwischt. Um sich zu vergewissern, ob es draußen immer noch dunkel war, warf er einen Blick aus dem Fenster. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er in seinem Schreibtischsessel geschlafen hätte. »Sie bekommen nicht genug Schlaf«, sagte Fielding. »Nur ein kleines, erfrischendes Nickerchen, auf das Sie so schwören«, antwortete Bill, der immer noch seine Gedanken zu sammeln versuchte. Der CIA-Direktor, der weder Akten, Fotos noch andere Unterlagen dabei hatte, zog sich einen Stuhl an den Schreibtisch heran und nahm dann Bill gegenüber Platz. Er schlug die Beine übereinander und verschränkte die Finger über seinem Knie. »Was ich Ihnen gleich erzählen werde, wird Sie sehr zornig machen, Bill«, begann Fielding in einem väterlichen Tonfall. »Aber Sie müssen Ihren Zorn beherrschen und ihn nach außen kaschieren, weil Sie eigentlich gar nicht wissen können, was ich Ihnen sagen werde.« Schon diese Aussichten machten Bill wütend, aber er nickte trotzdem. Nachdem Fielding noch einmal zur Tür geblickt hatte, die er aber schon beim Eintreten geschlossen hatte, räusperte sich der CIA-Direktor. »Das FBI hat Fotos von Clarissa Leffler, die diese bei einem romantischen Tänzchen mit einem Chinesen zeigen. Aufgenommen wurden diese Bilder vor etwa zehn Jahren, als sie die höheren Semester an der Universität von Peking absolvierte.« Sofort entflammte Bills Zorn. »Sie haben absolut keine…« »Der Mann war ein Oberst des Nachrichtendienstes der chinesischen Armee, der Ausländer als Agenten angeheuert hat«, unterbrach Fielding. Diese Neuigkeit verletzte Bill, weil man sie ausnutzen würde, um Clarissa zu verletzen. Er fühlte sich ernüchtert. »Was für ein Unsinn. Die bloße Tatsache, dass irgendein Kerl eine fünfundzwanzigjährige Studentin 322
verführt hat, die zehntausend Meilen von ihrer Heimat entfernt war, macht sie noch nicht zu einer Verräterin!« Fielding schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es ist eine traurige Tatsache, dass ich ihr in Zeiten wie diesen aus Sicherheitsgründen in Langley keinen Job geben dürfte. Nicht in einer Million Jahren. Es wäre zu riskant. Und die Sache sieht noch viel schlimmer aus, weil Art Dodd sie im Außenministerium eingestellt hat und weil Dodd selbst unter Verdacht steht, seit er sich vor zwei Jahren in Genf mit dem chinesischen Handelsminister – Han Zhemins Vater – getroffen hat.« »Aber dieser Dreckskerl von Asher nutzt das doch alles nur aus, um mich zu treffen! Er wird… sie ruinieren.« Bill stand auf und ging hinter seinem Schreibtisch auf und ab. »Er wird die Information an die Presse durchsickern lassen.« »Nein, das wird er nicht tun«, widersprach Fielding. »Das Material liegt versiegelt beim Appellationsgericht in Washington, weil es die Notwendigkeit von Ashers National Secrecy Act beweisen soll, der ihm das Recht einräumt, auch das Weiße Haus zu überwachen. Wahrscheinlich wird die Sache vor dem Supreme Court landen.« Bill ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Endlich hatte Asher seinen Verdächtigen. »Dieser Mistkerl«, sagte Bill, während er zu Fielding aufblickte. »Aber wie haben Sie von Ashers Bericht Wind gekriegt, wenn er versiegelt ist?« »Wenn ich einem Informanten Anonymität zugesichert habe, gebe ich nie meine Quelle preis, Mr President, weil sie dann nämlich bald keine Informationsquelle mehr ist. Außerdem ist das nur eine zweitrangige Frage. Wichtiger ist Ashers Quelle. Wer hat ihm die vor zehn Jahren in Peking geschossenen Fotos gegeben?« Nach angestrengtem Nachdenken blickte Bill den Sicherheitsberater an, dem er am meisten vertraute. Was Fielding sagen wollte, war klar – es handelte sich um eine chinesische Quelle. Fielding stand auf. »Erinnern Sie sich bitte an meine Worte, dass Sie niemandem etwas über dieses Gespräch erzählen dürfen. Damit meine ich speziell Dr. Leffler. Solange Krieg herrscht, dürfen sie Dr. Leffler auf keinen Fall erzählen, dass sie unter dem Verdacht des Hochverrats steht.« »Wie bitte? Und warum nicht?« Fielding runzelte die Stirn. Bills wütender Blick ließ ihn nicht zurück323
weichen. »Weil wir dann beide wegen Verletzung des National Secrecy Act große Probleme bekommen würden.« Die beiden Männer standen sich mit verbissenen Gesichtern gegenüber. »Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, nie jemandem zu vertrauen. Niemandem. Sie sollten sich etwas ausruhen, Mr President. Gute Nacht.« Damit verließ Fielding den Raum. Bill kehrte in den Wohntrakt des Weißen Hauses zurück und kroch zu Clarissa ins Bett. Sie schlief auf der Seite und wandte Bill ihr Gesicht zu. Er betrachtete es – ihre Lippen, ihre sanften Augen… die sie plötzlich öffnete und schnell wieder schloss. Bill war erschüttert. Das war nicht der trübe, schlaftrunkene Blick einer Frau gewesen, die gerade wach geworden war. Sie war die ganze Zeit über wach gewesen. Einen Augenblick später gab sie vor, geweckt worden zu sein. Sie gähnte und tat so, als würde sie erst jetzt bemerken, dass er wach war. Sofort legte sie sich auf ihn und begann, ihn leidenschaftlich und fast aggressiv zu küssen.
Florence, South Carolina 11. November, 9 45 Uhr Ortszeit Der Morgen war kalt, aber auch wiederum nicht so kalt, dass er einen zur Untätigkeit verdammte. Außerdem fiel Stephie nach fünf Meilen Fußmarsch auf, dass die meisten ihrer Schützlinge die Reißverschlüsse ihrer Uniformen aufgezogen und ihre Wollmützen abgesetzt hatten. Von dem an der Spitze marschierenden Mann zurückkommend, schritt sie in dem Graben die Reihe ihrer Leute ab, wobei sie jeden Einzelnen inspizierte. Jetzt lagen alle auf dem Bauch neben einer Landstraße, die Waffen in Höhe der Asphaltdecke angelegt. Die kampferprobten Veteranen schienen bereit zu sein, machten aber einen resignierten und fatalistischen Eindruck. Dagegen wirkten die Grünschnäbel wie versteinert. Drei Wochen nach dem massenhaften Eintreffen von frischen Ersatzleuten und nach einem Dutzend Feldübungen auf Kompanie-, Bataillons- und Brigadeebene hatte der Kommandeur der 41st Infantry Brigade dem Pentagon Bericht erstattet, dass seine Einheit kampfbereit sei. Aber Staff Serge324
ant Stephanie Roberts war anderer Meinung. »Weißt du, was zu tun ist, wenn wir in einen Hinterhalt geraten?«, fragte sie eine verängstigt wirkende neue Soldatin. Nachdem die Frau zweimal ihre aufgesprungenen Lippen benetzt und schwer geschluckt hatte, konnte sie endlich antworten. »Auf den Boden werfen?«, fragte sie zögernd. »Ja, schon, aber wo?«, fragte Stephie mit fester, ruhiger Stimme. »Mitten auf der Straße?« Die Frau schüttelte den Kopf, und ihr Helm wackelte hin und her. »Am Straßenrand?« Die Soldatin nickte. »Richtig, aber auf welcher Seite?«, fragte Stephie, während sie der Frau den Helm abnahm, um den Einsatz so einzustellen, dass er besser saß. Auf diese Frage des Platoon Sergeant fiel dem Grünschnabel keine Antwort ein. Die Frau war so durcheinander, dass ihr Tränen in die Augen traten. Schließlich zuckte sie nur Mitleid erregend die Achseln. »Wir rücken in Kolonne vor«, erklärte Stephie leise. »Wenn sie das Feuer direkt auf dich eröffnen, gehst du zu dem weiter vom Feind entfernten Straßenrand, nehmen sie einen anderen Abschnitt des Platoons unter Beschuss, gehst du auf die Seite zu, aus deren Richtung das Feuer kommt. Du verlässt die Straße und versuchst, den Hinterhalt seitlich zu umgehen. Feuern sie einfach die Straße hinab, folgst du nur den anderen zu der einen oder anderen Straßenseite. Aber wenn du die Straße verlassen hast, musst du wieder auf die Beine kommen und handeln, kapiert? Unter Umständen gibt es dann niemanden, der einen Angriff organisieren könnte. Bei einem Hinterhalt kommt es auf Eigeninitiative an. Irgendjemand ist festgenagelt, und es ist deine Aufgabe, einen Gegenangriff zu starten. Jede Sekunde zählt, also darfst du keine Zeit verlieren. Das Leben deiner Kameraden hängt von dir ab, genau wie deins von ihnen abhängt. Kapiert?« Die Soldatin nickte und strich sich unsicher ein paar widerspenstige Haarsträhnen hinter die Ohren. »Und was ist, wenn die Leute, die den Hinterhalt gelegt haben, sich auf beiden Seiten der Straße befinden?«, fragte sie. »Soll ich dann auch allen anderen folgen?« Dann gibt’s wahrscheinlich niemanden mehr, dem du folgen könntest, dachte Stephie. »Du verlässt die Straße und erwiderst das Feuer«, antwortete Stephie, die der Frau den Helm wieder aufsetzte und dann beruhigend die Hände auf die Schultern von deren kugelsicherer Weste legte. Schließ325
lich nickte sie ihr aufmunternd zu, ganz wie eine Mutter, die ihr Kind in die Schule schickte. »Du wirst dich gut schlagen, du musst aber darauf achten, dass du nicht vor Schreck bewegungsunfähig wirst. Es ist nur natürlich, dass du Angst haben wirst, das ist bei keinem anders. Aber du musst trotzdem handeln und abdrücken, verstanden? Vielleicht geht’s dir vor Angst so dreckig, dass du kotzen musst, und auch das ist in Ordnung. Aber danach musst du kämpfen und auf den Feind schießen. Kapiert?« Wieder nickte die Frau. Trotz ihrer kurzen, ruckartigen Kopfbewegungen saß der Helm jetzt fest. Stephie ging zum nächsten Soldaten, einem großen afroamerikanischen MG-Schützen, der ein aus ledernen Schnürsenkeln gebasteltes Kreuz an seine Lippen presste und mit geschlossenen Augen ein Gebet vor sich hin murmelte. Als sie über sich ein Krachen hörte, warf Stephie sich in dem Straßengraben sofort auf den Bauch. Der MG-Schütze riss die Augen auf, als zweihundert Meter hinter dem letzten Mann ihres Platoons die erste Mörsergranate explodierte. Die Druckwelle der Explosion versetzte einem nicht einen so heftigen Schlag wie bei den schweren 155- oder 175mmGeschützen/ aber die Straße hinter ihnen wurde jetzt permanent von leichter Artillerie bestrichen. Doch auch die konnte auf diese Entfernung einen Mann von den Beinen holen und töten. Stephie hob den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sich alle flach auf den Boden pressten. Der einzige erhobene Helm gehörte Platoon-Führer Lieutenant Burns, der Stephie zunickte. Stephie nickte zurück. Hinter ihnen begannen an Masten hängende Telefonkabel zu tanzen, dann krachten die Masten zu Boden. In den ländlichen Außenbezirken der Kleinstadt standen die Häuser ein gutes Stück abseits der Straße. Jetzt flogen die am Straßenrand befindlichen Briefkästen in die Luft, und die Trümmer regneten auf die weitläufigen Rasenflächen nieder. Auf den von Bäumen gesäumten Parkplätzen stürzten Zweige und Äste zu Boden. An der Frontseite eines einstöckigen, im Ranch-Stil erbauten Hauses wurden durch die erschütternde Wucht eines sein Ziel knapp verfehlenden Geschosses alle Fensterscheiben nach innen gedrückt. Als das Sperrfeuer nicht genauer auf die Stellung ihres Platoons ausgerichtet wurde, war Stephie klar, dass sie nicht entdeckt worden waren. Das indirekte Feuer wurde entweder aufs Geratewohl abgegeben – als bloßes Störfeuer –, oder es sollte vor ihnen die Straße blockieren, um die Flanken 326
einer vorrückenden und folglich verletzlichen chinesischen Einheit abzuschirmen. Als in einer hohen Kiefer hinter ihnen eine Granate explodierte, erleuchtete ein Feuerball den Himmel. Einer der auf dem Bauch liegenden Soldaten am hinteren Ende der Kolonne ihres Platoons begann laut zu fluchen. »Scheiße! Gottverdammter Mist! Ah! Mein Gott! Ah! Ah!« John stand auf, und Stephie zuckte zusammen, als sie ihn durch den Graben sprinten sah. In Augenhöhe schossen Schrapnellsplitter die Straße entlang, und der Metallpfosten unter einem Basketballkorb jenseits der Straße klingelte wie eine Glocke. Unversehrt bei dem Verwundeten angelangt, der sich wie ein von Muskelkrämpfen geplagter Läufer die Wade hielt, ließ John sich zu Boden fallen. Als er sein Messer zog, wurden die Schreie des Grünschnabels lauter. »Nein, nein!« Ein erfahrener Soldat presste den Verwundeten auf den Boden und packte die Arme des um sich Schlagenden, während John mit der scharfen Spitze seines Messers die Wunde untersuchte. Stephie wusste, dass er es eilig hatte – der glühend heiße Granatsplitter musste aus dem Bein des Soldaten herausoperiert werden, bevor er sich in Muskeln und Knochen bohrte. Das Sperrfeuer und die Schreie des Verwundeten schienen exakt zur gleichen Zeit zu verstummen. Ein Sanitäter hatte dem Mann Morphium gespritzt. Stephie stand auf und ging durch den Graben auf John zu, wobei sie unterwegs jeden Soldaten fragte, ob alles in Ordnung sei. Etliche Grünschnäbel waren viel zu verängstigt, um antworten zu können, und Stephie musste sie zum Reden zwingen. So fand sie das am schwersten verwundete Mitglied des Third Platoon. Die Frau – eine Sanitäterin – starrte Stephie mit leerem Blick an. Zuerst glaubte Stephie, dass sie nur vor Angst erstarrt war. »Alles in Ordnung?«, fragte sie gereizt, doch obwohl ihr die Sanitäterin direkt in die Augen blickte, blieb sie stumm. »Antworte!« Keine Reaktion. Stephie ließ sich auf die Knie fallen und drehte die Frau auf den Bauch. Nachdem sie ihr die Uniform glatt gestrichen hatte, suchte sie nach eventuellen Einschusslöchern. »Was tun Sie da?«, fragte ein Grünschnabel, während sich langsam ein Grüppchen um die Verwundete bildete. Statt Stephie antwortete Animal. »Sie sucht nach Wunden.« 327
Die Sanitäterin begann zu zittern. »Das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte Stephie, während sie die Frau umdrehte und ihren Bauch untersuchte. »Alles in Ordnung, ich kann nichts finden«, beruhigte Stephie die Verwundete. »Es wird alles wieder gut, entspann dich einfach. Immer mit der Ruhe. Kannst du mir sagen, wo es weh tut?« Der Atem der Sanitäterin ging flach und abgehackt, und ihr Gesicht war leichenblass geworden. »Wo hat’s sie erwischt?«, fragte Animal gereizt. Ungeduldig tastete er die Oberschenkel und die Beckengegend der Frau ab, doch als er seine Hände überprüfte, fand er keinerlei Blutspuren. Jetzt kniete sich auch John neben der Frau nieder und nahm ihr den Helm ab. Das dunkelblonde Haar wurde von einem Dutzend Haarklammern zusammengehalten. John bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Mittlerweile hatte die Frau einen glasigen Blick, und ihre Augen schienen ins Leere zu starren. »Wo zum Teufel ist die Wunde?«, wütete Simpson. Johns Fingerspitzen zeigten auf eine kaum sichtbare Blutspur. Jetzt begann sich die verwundete Sanitäterin zu erbrechen, wobei sie zuckte und ein entsetzliches, gurgelndes Geräusch von sich gab. Wieder drehten sie ihren Körper um, und Animal zwang ihre Kiefer auseinander und schob dann sein Messer in ihren Mund, damit sie ihn nicht wieder schließen konnte. Mit den Fingern zog er ihr die Zunge, die sie fast verschluckt hatte, aus dem Hals. Als John die über den Nacken der Sanitäterin fallenden Haare anhob, entdeckte er auf der glatten, weißen Haut eine winzige Wunde, kaum größer als ein Moskitostich. In ihrer Mitte befand sich ein kleiner Nadelstich, aus dem eine dicke, rötliche Flüssigkeit tröpfelte. »Sie atmet nicht mehr!«, schrie einer der Grünschnäbel. Wieder rollten sie die Frau auf den Rücken, und nachdem Animal das Messer herausgezogen hatte, begann die Mundzu-Mund-Beatmung. Ein Grünschnabel riss hastig die kugelsichere Weste der Verwundeten auf und begann dann hektisch, ihren Brustkorb zu bearbeiten. John hielt mit beiden Händen den Kopf der Frau und schaute dabei Stephie und Animal an. Während die anderen noch mit ihren lebensrettenden Maßnahmen fortfuhren, drückte er der Sanitäterin bereits die Lider zu. Nacheinander gaben auch die anderen auf. »Was zum Teufel ist mit ihr passiert, Sir?«, fragte einer John. Auf eine Antwort warteten sie freilich vergebens. Stephie beobachtete John genau. Er hielt den in seinen Schoß 328
gebetteten Kopf der Toten mit beiden Händen, als wäre er ein kostbarer, unbezahlbarer Schatz. »Ein Granatsplitter«, antwortete Stephie für John. »Er hat sie dicht unter dem Helm getroffen und muss direkt…« Da sie nicht vorhatte, einen dilettantischen Obduktionsbericht abzuliefern, blickte sie den reglos dasitzenden John an. »Also dann!«, sagte Stephie laut, während sie aufstand. »Geht zu euren Stellungen zurück und bereitet euch auf den Abmarsch vor! Beeilung!« Dawson erhielt den Auftrag, sich um die Verwundeten zu kümmern. Der Mann, den es an der Wade erwischt hatte, lag erschöpft am Boden, während ein Sanitäter sein blutendes Bein verband. »Tragt ihn abwechselnd auf dem Rücken und bringt ihn zu den Lastwagen am Sammelpunkt zurück.« Ein Soldat schnallte zwei Munitionsgurte zusammen, mit deren Hilfe er den Verwundeten tragen würde. »Was wird mit ihr?«, fragte ein Grünschnabel, der auf die tote Sanitäterin hinabblickte. »Leichensäcke haben Tragegriffe«, antwortete Stephie. Diese trockene Antwort schien den Mann aufzubringen. Für ihn war die Frau noch nicht tot. Nachdem Stephie den Verbandskasten der Sanitäterin durchwühlt hatte, reichte sie dem Mann einen schwarzen Leichensack, den er nach kurzem Zögern auseinander zu falten begann. Stephie wandte sich John zu. »Wir müssen uns in Bewegung setzen.« Nachdem John mit größter Vorsicht den Kopf der Frau auf die Straße gelegt hatte, richtete er sich langsam auf. Andere Soldaten packten die Achselhöhlen und Fußknöchel der Toten und schoben die Leiche dann in den Sack. »Sucht ihre Munition und Ausrüstung zusammen«, befahl Stephie, doch erst nach einem langen Zögern legten die Männer ihren Verbandskasten, ihre Magazine und ihre Granaten neben dem Leichensack auf den Boden. »Den gebt ihr den Leuten, die offiziell ihren Tod feststellen«, sagte Stephie, als ein Grünschnabel einen zugeklebten Briefumschlag entdeckte, der von der Toten bereits mit einer Adresse und einer Briefmarke versehen worden war. Schon bald würden die Ersatzleute wissen, wie so etwas ablief. Nachdem die gesamte brauchbare Ausrüstung – inklusive Feldflasche – eingesammelt worden war, wurde der Reißverschluss des Leichensacks mit einem scharfen Geräusch zugezogen, und das bleiche Gesicht der Sanitäterin war ihren Blicken entzogen. Im Tod hatte sie friedlich und schön gewirkt. Einer der jungen Soldaten, der die Tote gekannt 329
haben musste, brach in Tränen aus. Nachdem das Platoon mitten auf der Straße angetreten war, marschierte es weiter in Richtung Stadt, während Dawsons Second Squad in die entgegengesetzte Richtung davonstapfte. John hatte Dawsons MG-Schützen und die Männer mit den Lenkwaffen bei sich behalten. Jetzt bestand das zahlenmäßig reduzierte Platoon noch aus achtundvierzig Soldaten, von denen die meisten unerfahren waren. Ihr Befehl lautete, in die Stadt einzudringen und zu überprüfen, ob sie dort auf Chinesen stießen. Ergriffen diese die Flucht, betätigten sie sich schlicht als Patrouille, die amerikanische Stellungen zu festigen versuchte, wurden sie dagegen zurückgedrängt, dann würden sie über Funk melden, dass sie auf ernsthaften Widerstand gestoßen waren. In diesem Krieg verloren beide Seiten Soldaten, um an Informationen heranzukommen, die allenfalls vorübergehend von taktischem Wert waren. Während sie die nächste halbe Meile zurücklegten, warf sich der an der Spitze des Platoons marschierende Mann – ein Veteran aus der Third Squad – zweimal zu Boden. Alle waren total verängstigt und sprangen in den Straßengraben, als hinge ihr Leben einzig von der Schnelligkeit ihrer Reaktionen ab, was ja tatsächlich der Fall war. Stephie beobachtete die vor ihnen liegende Straße durch die Bilder, die die Kamera des an der Spitze gehenden Manns auf ihr Display übertrug. Als er das erste Mal zu Boden ging, zoomte er auf einen hungrigen Hund, der den Inhalt einer umgestürzten Mülltonne durchsuchte. Beim zweiten Mal konnte sie gar nichts erkennen – wieder falscher Alarm. Fluchend klopften sich die Grünschnäbel den Dreck von ihren Uniformen. Die Spannung ließ für eine Weile nach, und die Grünschnäbel dachten, dass es möglicherweise ja zu gar keiner Feindberührung kommen würde. Aber dann nahm die Spannung mit jedem Meter wieder zu, mit dem sich die Patrouille den Chinesen näherte. Nach einer weiteren halben Meile hatten die Hälfte der Grünschnäbel und ein noch größerer Prozentsatz der kampferprobten Veteranen zu zittern begonnen. Als auch Stephie blitzartig von eiskalter Angst gepackt wurde, blickte sie verstohlen auf ihre Hände – auch sie wurde von diesem Tremor nicht verschont. Als der Mann an der Spitze zum dritten Mal warnte, sprangen achtundvierzig Soldaten in den Straßengraben, wo sie ihre Gewehre anlegten. Jeder einzelne Soldat konnte für das Überleben des gesamten Platoons von entscheidender Bedeutung sein, und diese Tatsache war jedem bewusst. 330
Bei allen konnte man darauf zählen, dass sie bis zum bitteren Ende feuern würden, falls die Chinesen sie überrennen sollten, oder dass sie auf Befehl aufspringen und selbst den Feind angreifen würden. Wenn wir alle einfach bloß unseren Job tun… Stephie hoffte inbrünstig, dass alle ihre Worte begriffen hatten. Sie hatte mit jedem neuen Soldaten einzeln gesprochen und sie wieder und wieder mit denselben Sätzen traktiert. »Hier lässt niemand den anderen im Stich, wir halten zusammen. Niemand lässt seinen Kumpel hängen. Das erwarten wir von dir, und das ist auch das, worauf du dich verlassen kannst.« Ungefähr die Hälfte der Grünschnäbel hatte ihr in die Augen geblickt und mit belegter, zitternder Stimme versprochen, unter Einsatz des eigenen Lebens zu kämpfen. »Ich sehe Bewegungen!«, meldete jetzt der an der Spitze gehende Mann. Eine körperlich spürbare Angst schoss bis in Stephies Nervenspitzen. In ihrem Kopf rauschte es, sie schien keine Luft mehr zu bekommen, ihre Kehle brannte. Ihr drohte sich der Magen umzudrehen, und ihre Glieder zitterten. »Haben sie uns gesehen?«, fragte John über Funk. Trotz der minimalen Emission ihres Funksystems zuckte Stephie bei jedem Wort zusammen. »Nein«, kam von vorn die Antwort. »Alles in Ordnung, weiter geht’s.« Plötzlich hörte Stephie über ihre Kopfhörer ein permanentes Piepen, und bei ihren Kameraden war es nicht anders. In dieser Gegend wurde ein feindliches Funknetz betrieben, wahrscheinlich nicht mehr als einige hundert Meter von ihnen entfernt. Die an ihren Schulterriemen befestigten, kleinen elektronischen Geräte waren nicht in der Lage, die digital verschlüsselten Botschaften zu identifizieren, die die Chinesen über ihre drahtlosen Netze austauschten. Allerdings konnten sie ihnen verlässlich mitteilen, dass die Chinesen sehr, sehr nah waren. Zweihundert Meter vor ihnen befand sich ein Einkaufszentrum mit einem großen, verwaisten Parkplatz. Stephie drückte auf einen Knopf ihres Funkgeräts. »Eingraben«, sagte sie, ohne ihren Namen preiszugeben. Ihre Stimme kannten sowieso alle. Da John Stephies Befehl nicht widerrief, wurden simultan fünfzig ausklappbare Schaufeln aus den Tornistern gezogen. Stöhnend begann Stephie, mit aller Kraft zu graben, und alle anderen folgten ihrem Beispiel, 331
wobei sich die Grünschnäbel besonders hervortaten. Zu dem Einkaufszentrum gehörten eine Videothek, ein Fahrradladen, ein Friseursalon für Kinder und ein chinesisches Restaurant. Etwa fünfundzwanzig Zentimeter unter der Erdoberfläche stieß Stephies Schaufel auf Stein. Sie versuchte erst gar nicht, tiefer zu graben, sondern stattdessen den Riss in der Erde zu verlängern. Der Mittelpunkt des Einkaufszentrums war der Supermarkt einer großen Kette. Stephie behielt die Schaufenster der Geschäfte im Blick, konnte aber nichts erkennen. Jetzt tauchte an der hinteren Ecke des am Straßenrand gelegenen Einkaufszentrums der erste chinesische Soldat auf. »Runter!«, befahl John. Innerhalb von ein oder zwei Sekunden ließen sich alle Amerikaner zu Boden fallen. Eine lange Reihe chinesischer Soldaten folgte dem an der Spitze gehenden Mann, und die Soldaten des Third Platoon legten ihre Waffen an. Weil einige ihre Gewehre ruckartig hoben, machte sich Stephie Sorgen, dass ihre Bewegungen vielleicht auffällig sein könnten oder dass gar irgendein Idiot versehentlich einen Schuss abfeuern würde. »Nicht schießen!«, sagte sie ins Mikrofon. Die feindlichen Soldaten wirkten angespannt, aber als sie vor dem Restaurant die chinesischen Schriftzeichen sahen, zeigten sie laut lachend auf das Schild, bis ein Offizier sie zum Schweigen brachte. Sein wütendes Geschimpfe war laut genug, um bis zu den Amerikanern hinüberzudringen. Sofort standen die Chinesen wie auf dem Exerzierplatz stramm. Dennoch schienen sie nicht annähernd so professionell zu sein wie die chinesischen Soldaten, mit denen Stephie es bisher zu tun gehabt hatte. Der Offizier packte Männer und stieß sie herum, damit sie einen korrekten Abstand einnahmen, dann brüllte er ihnen mit schriller Stimme etwas zu, bevor sie wieder losmarschierten. Stephie fühlte sich eher an eine in Friedenszeiten abgehaltene Feldübung erinnert. Mit einer gefährlichen Patrouille schien das wenig zu tun zu haben. Dann haben sich also auch die Chinesen mit ihren Grünschnäbeln herumzuschlagen, dachte sie beruhigt. Obwohl jedes einzelne Wort mit einem Risiko verbunden war, begann John über Funk Ziele zuzuweisen. »First Squad nimmt die Spitze der Kolonne ins Visier, Third Squad die Mitte, Fourth Squad das Ende. Das MG der Second Squad zieht den Offizier aus dem Verkehr und feuert dann auf 332
die Ziele, die sich gerade bieten. Wenn ich das Feuer eröffne, zieht ihr sofort nach. Out.« Dann ließ er den Squad-Führern Zeit, ihren Fire Teams spezifischere Anweisungen zu geben. Auf dem Parkplatz stand der chinesische Offizier neben seinem Funker. Statt nach vorn zu blicken, beobachtete er seine Männer, die durch die Schaufenster abgelenkt waren und wütend von ihren Unteroffizieren zurechtgewiesen wurden. Die sind genauso unerfahren wie wir, vielleicht noch unerfahrener, dachte Stephie. Auf dem offen daliegenden Parkplatz schwärmte ein zweiter chinesischer Zug aus. Sofort aktualisierte John seine Befehle, um auch diese Soldaten in seine Strategie einzubeziehen. Stephie blickte über die Schulter. »Alle herhören«, sagte sie, nachdem John fertig war. »Der Sammelpunkt ist das jenseitige Ufer des Flusses, der gut einen Kilometer hinter uns liegt. Wir treffen uns am hinteren Ende der gesprengten Brücke. Sollten wir uns schnell zurückziehen müssen, begebt ihr euch auf Befehl dorthin.« Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Feind zu. Auf dem Parkplatz bot sich den etwa einhundert Chinesen keinerlei Deckung, und eingraben konnten sie sich auch nicht. Der Kommandeur, der seine Soldaten gerade wieder erbarmungslos zusammenstauchte, war leicht ins Visier zu nehmen. Wenngleich Stephie kein Wort Chinesisch verstand, wusste sie genau, wie die Befehle des Offiziers lauteten. Da alle fast Schulter an Schulter in Gruppen zusammenstanden, forderte sie der Offizier lautstark auf, sich in einem korrekten Abstand aufzustellen. Beim Fußball riskierte man durch eine schlecht gestaffelte Abwehr Gegentore, hier würde den Chinesen dieser Fehler zum Verhängnis werden. John Burns gab einen kurzen Feuerstoß ab. Das gesamte Platoon eröffnete das Feuer, fünfzig Waffen dröhnten gleichzeitig. Schaufensterscheiben zersplitterten in tausend Stücke, und die chinesischen Soldaten wurden von den Beinen gerissen, krümmten sich, warfen ihre Waffen in die Luft und starben. Einige Male wurden Stephies Ziele schon getroffen, bevor sie selbst abdrücken konnte, doch dann sah sie einen hilflosen, unbewaffneten Mann über den Asphalt kriechen. 333
Ihre erste Kugel traf ihn in die Nieren. Der Verwundete tastete hektisch seine Seite ab und fuchtelte dann ratlos mit den Händen in der Luft herum. Ein anderer Chinese lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Er hielt seine auf vollautomatischen Betrieb eingestellte Waffe über dem Kopf und feuerte aufs Geratewohl. Stephies erster Schuss fegte ihm das Gewehr aus der Hand, was ihn vielleicht ein oder zwei Finger gekostet hatte. Verletzt und entwaffnet, presste der Mann mit seiner unversehrten Hand den Helm gegen seinen Kopf. Stephies nächster Schuss prallte von seinem Helm ab und streifte seine Schulter. Die dritte Kugel schlug in seinen Hals ein und tötete ihn. Schon bevor die ersten gepanzerten Kampffahrzeuge auftauchten, lagen alle achtzig chinesischen Soldaten ernsthaft oder tödlich verwundet am Boden. Fünf nur leicht gepanzerte amphibische Aufklärungsfahrzeuge, die Räder statt Ketten hatten, rasten hinter dem Parkplatz die Straße hinab. Aus den 25mm-Geschützen wurden Leuchtspurgeschosse in Stephies Richtung abgefeuert. Explosionen – angesichts ihrer Stärke vermutlich auf Granaten zurückgehend – rissen die Asphaltdecke auf, doch die ersten drei Fahrzeuge wurden von amerikanischen Panzerabwehrwaffen getroffen. Das vierte und das fünfte Fahrzeug gingen hinter der dichten Rauchwolke in Deckung, die aus den brennenden Fahrzeugen ihrer Kameraden aufstieg. Mehrere amerikanische Soldaten feuerten ballistische Raketen ab, die aber nicht ferngelenkt waren und deshalb ihr Ziel verfehlten. Die Spähfahrzeuge fuhren an einer Tankstelle vorbei die Straße hinab, um die Amerikaner von hinten zu attackieren. John brüllte Befehle in sein Funkgerät. »Chambers, du schnappst dir die Third Squad und deine und Dawsons MG-und Lenkwaffengruppen. Geht durch das Wäldchen zu der Straße hinter uns und knöpft euch diese beschissenen gepanzerten Fahrzeuge vor!« Stephie vergewisserte sich, dass die Leute Johns Befehl folgten. Ein Dutzend Soldaten sprang auf und rannte zwischen den Bäumen hindurch auf die Straße zu, die wegen der kleinen Gruppe von schlanken Kiefern kaum erkennbar war. Als die beiden Spähfahrzeuge aus den vollautomatischen Maschinenkanonen in ihren Türmen das Feuer eröffneten, schossen Flammen durch das Wäldchen. An Baumstämmen abprallende Granaten lösten einen Funkenregen aus. Jetzt konnte Stephie die Soldaten der Third Squad nicht mehr sehen, da diese zu Boden gegangen waren. 334
»Ich sehe nach!«, gab Stephie über Funk durch. »Bleib, wo du bist!«, befahl John, aber Stephie war bereits auf den Beinen und rannte los. »Stephie!«, schrie John, während sie schon durch den Kugelhagel stürmte. Blindwütig schossen Flammen zwischen Baumstämmen und Ästen hindurch. Stephie konnte sich gerade noch rechtzeitig zu Boden werfen, bevor ein 25mm-Geschütz losbelferte, dessen Geschosse die Bäume trafen. Scharfe Splitter regneten auf sie nieder, aber schon bald machten amerikanische Panzerabwehrraketen und gezieltes Feuer der Third Squad dem Spuk ein Ende. In gebückter Haltung rannte Stephie los, bis sie schließlich zu beiden Seiten der brennenden Wracks das Mündungsfeuer eines Dutzends Sturmgewehre aufblitzen sah. Kugeln pfiffen durch die Zweige, schälten Baumrinde ab und sausten dicht an ihrem Helm vorbei. Wieder war sie gezwungen, sich zu Boden zu werfen. Schon bevor ihre gepanzerten Fahrzeuge getroffen worden waren, hatten die Chinesen diese verlassen. Sie waren gut organisiert und rückten jetzt in das Wäldchen vor, wobei immer eine Hälfte Feuerschutz gab, während die andere nach vorn stürmte. Gut fünf Meter hinter Stephie feuerten die beiden MGs, deren Schützen Chambers’ Third Squad begleiteten. Der Kugelhagel pfiff direkt über Stephies Kopf, der entsetzliche Lärm zerrte an ihren Nerven, und sie war dicht genug bei den MGs, um die Hitze der rasselnden Waffen zu spüren. »He!«, brüllte Stephie in ihr Funkgerät. »Ich bin in eurer Schusslinie!« »Wir wissen, wo du bist!«, meldete sich John, der gleich noch eine überflüssige Warnung durchgab. »Behalt einfach den Kopf unten.« Die beiden M-60 verschlangen förmlich die Munitionsgurte mit den Patronen. Der Kugelhagel strich nur Zentimeter über Stephies Körper hinweg. Aber trotz des stakkatohaften Knatterns der beiden Furcht erregenden MGs war immer noch das unheilvolle Pfeifen anderer Kugeln zu hören. Auf dem Bauch liegend, das rasselnde MG in ihrem Rücken, fiel Stephie dicht vor ihr eine Bewegung auf. Durch das Unterholz kam auf allen vieren ein chinesischer Soldat auf sie zugekrochen. Um unauffälliger ihr Gewehr heben zu können, riskierte Stephie es, sich auf die Seite zu rollen. Keine fünf Meter weiter sah sie hinter einem Baum ein angewinkeltes Knie hervorlugen. Jetzt feuerten die MG-Schützen hinter ihr nur noch kurze Salven zu je sechs Schüssen, und das hieß, dass sie sich ihre Ziele genauer aussuchten. Stephie legte den Wählhebel ihres M-16 auf »semi« 335
um und nahm das Knie des Chinesen ins Visier. Außerdem sah sie das herabbaumelnde Spiralkabel des Hörers seines Funkgeräts. Sie hörte, dass der Mann atemlos und von Panik gepackt auf Chinesisch redete. Stephie feuerte, und die Kugel zerfetzte das Knie des Chinesen. Als der Mann aus vollem Hals schrie und sich vor Schmerzen krümmte, kamen auch sein Kopf und seine Schultern zum Vorschein. Der zweite Schuss fegte ihm den Helm vom Kopf. Wie betäubt starrte der Mann direkt in die Mündung von Stephies M-16. Er schloss die Augen, und Stephies Kugel traf ihn mitten ins Gesicht. Die Maschinengewehre stellten das Feuer ein. Schritte näherten sich, und amerikanische Infanteristen stürmten an Stephie vorbei nach vorn. Die Soldaten feuerten aus nächster Nähe auf die verwundeten oder bereits toten Chinesen, bis sie das Wäldchen »gesäubert« hatten. Sergeant Chambers half Stephie, wieder auf die Beine zu kommen. Kleine Holzsplitter ragten aus dem mit einem Tarnmuster bedruckten Stoff über ihrer kugelsicheren Weste, doch einige steckten auch in ihren ungeschützten Armen und Beinen, was mit ärgerlichen Schmerzen verbunden war. Stephie ging zu dem Chinesen hinüber, den sie gerade aus nächster Nähe erschossen hatte, dessen Körper aber während der Säuberungsaktion der Third Squad noch von weiteren Kugel durchsiebt worden war. Aus dem Hörer seines grünen Funkgeräts, das eher an ein Telefon erinnerte, drangen laute Fragen und Befehle an Stephies Ohr. Sie griff nach dem Hörer und drückte auf einen Knopf. »He!«, brüllte sie dem Mann am anderen Ende zu. »Verpisst euch aus meinem Land!« Einige Soldaten und Soldatinnen der Third Squad brachen in jenes übernervöse Gelächter aus, das charakteristisch war, wenn man eine lebensbedrohliche Situation knapp überstanden hatte. Nach einer langen Pause hörten sie eine blecherne Stimme auf Chinesisch reden. »Komm doch her, du Arschloch!«, schrie Stephie, den Finger auf der Sprechtaste. Direkt neben Stephie eröffnete ein M-16 das Feuer, und alle waren völlig verdutzt. John Burns hatte den Hörer des Funkgeräts in Stücke geschossen. »Wir verschwinden, und zwar schnell! Rückzug!« Er warf Stephie einen wütenden Blick zu. Alle liefen los; schließlich holte Stephie John Burns ein, der vorausgeeilt 336
war. »Warum ziehen wir uns zurück?«, fragte sie. John presste die Kiefer zusammen und antwortete nicht. »Wir sollten das Terrain auf jeden Fall halten! Obwohl wir keinen Zentimeter Boden verloren haben, geben wir ihn jetzt einfach preis?« Sie packte Johns Arm. »Wir ziehen uns zurück!«, brüllte er, während er Stephie zur Seite stieß und weiterrannte. Mit energischen Handbewegungen trieb er seine Leute zur Eile an. Als sie die Baumgruppe hinter sich gelassen hatte, war der Rückzug des ganzen Platoons bereits in vollem Gange. Sanitäter verbanden hastig Fleischwunden, ein humpelnder Mann wurde von einem seiner Kameraden gestützt. Chambers hatte vier ächzende Männer im Schlepptau, die einen Leichensack schleppten. »Wer war es?«, fragte Stephie. »Ein Neuling«, antwortete Chambers. Stephie nickte. Trotz ihrer Verluste beglückwünschten sich einige Soldaten, dass sie ihre erste Begegnung mit dem Blutvergießen überlebt hatten. Sie bildeten die Nachhut, und Stephie rannte los, um den vorauseilenden John einzuholen. Hinter ihnen blieb das Einkaufszentrum zurück, dessen Parkplatz mit Leichen übersät War. Das Third Platoon hatte nur einen Toten zu beklagen, dafür aber eine ganze feindliche Infanteriekompanie ausgelöscht. Eine weitere chinesische Einheit war nirgends in Sicht. »Unserer Befehle lauteten, das Terrain zu halten, John!«, sagte Stephie. »Ich habe über Funk von der Auseinandersetzung berichtet«, antwortete er. »Haben sie unsere Befehle widerrufen?« »Hier bin ich der für die Taktik zuständige Befehlshaber.« Wie beim Kapitän eines Schiffs gab es auch nach den Vorschriften der Army nur einen Mann, der das letzte Wort hatte. Als sie das rauchende Gefechtsfeld nicht mehr sehen konnten, bog das Platoon wieder auf die Straße ab. »John, unser Befehl lautete…« Ohne jede Vorwarnung explodierte der Wald, den sie eben erst hinter sich gelassen hatten, und alle sprangen wieder in den Straßengraben, als aus dem Himmel extrem schnell und steil schwere Raketen in Richtung Boden schossen. Konzentrische Ringe weißen Dampfs stiegen in die Luft, und die Explosionen ließen fast Stephies Trommelfelle platzen. Auch John hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände über die Ohren. Die 337
Druckwellen ließen ihm fast Tränen in die Augen treten. Ein Dutzend krachender Explosionen fällte Bäume und ließ das Unterholz in Flammen aufgehen. Als die letzten Echos des schweren Angriffs sich in der Ferne zu verlieren begannen, blickte John Stephie mit einem durchbohrenden und wütenden Blick an. »Was glaubst du wohl, was der Typ mit dem Funkgerät vorhatte?« Seine extreme Wut überraschte Stephie. »Ich glaube kaum, dass er einen Angriff auf seine eigene Stellung anfordern wollte«, konterte Stephie. »Das hat auch niemand behauptet!«, schrie John. »Wahrscheinlich hat der Anführer der Chinesen in den gepanzerten Aufklärungsfahrzeugen einfach die Koordinaten seiner Position durchgegeben und von der Auseinandersetzung berichtet! Und der Typ von ihrer Feuerleitung hat beschlossen, seine Leute zu verheizen, weil er uns an den Kragen wollte. Mein Gott, Stephie, hier geht’s doch um was ganz anderes: Willst du leben? Willst du diesen Krieg überleben?« »Ich will diesen Krieg gewinnen, John!«, antwortete Stephie. »Gewinnen!«
Capitol Hill, Washington 15, November, 9 00 Uhr Ortszeit Wie bei einer Wahlkampfveranstaltung zog Bill Baker mit seinem Gefolge in die Rotunde mit der hohen Decke ein, in der sich Kongressabgeordnete, deren Mitarbeiter, Touristen und Vertreter der Medien drängten. Während der Präsident lächelnd und winkend durch das gleißende Licht der Kameras schritt, kam der Applaus der Zuschauer, der in diesen Räumlichkeiten hübsch nachhallte, den Wünschen der Toningenieure entgegen. Bill Baker schüttelte Hände, zeigte auf Anwesende, nickte, winkte und bearbeitete die Menge nach allen Regeln der Kunst, bevor er hinter geschlossenen Türen den Kongress über seine Pläne hinsichtlich der Verteidigung Washingtons informieren würde. Bill Baker hatte entschieden, die führenden Politiker des Repräsentantenhauses und des Kongresses persönlich zu informieren. Teilweise waren 338
das wohl kalkulierte, symbolische Akte, um Unterstützung durch einen zunehmend feindseligeren Kongress zu mobilisieren. Doch noch wichtiger war, dass Bill in den letzten Wochen ein Gefühl für die Verpflichtung entwickelt hatte, die feierlichen Rituale der amerikanischen Demokratie zu beachten. Und deshalb musste er persönlich auf dem Capitol Hill erscheinen, wenn er Amerikas gewählte Volksvertreter über die Verteidigung der Hauptstadt informieren wollte. Während er an dem als Absperrung dienenden Seil entlangging, schüttelte er den dahinter stehenden Zuschauern die Hände, aber auch denen, die ihm ihre Hände über die Schultern der Leute in der ersten Reihe entgegenstreckten. Wegen des gleißenden Scheinwerferlichts dutzender Kameras konnte er die Gesichter der Menschen, die er gerade begrüßte, kaum erkennen. Die unbewegten, harten Mienen der Sicherheitsbeamten vom Secret Service schienen allerdings keinerlei Besorgnis zu verraten. Ein halbes Dutzend von innen umringte Bill auf Tuchfühlung, aber sie berührten ihn nicht und standen ihm auch nicht im Wege. An diesem für die Jahreszeit warmen Tag hatten sie ihre Mäntel über die Unterarme gelegt, und diese kugelsicheren Mäntel verbargen schussbereite Pistolen, die auf die Herzgegend von Männern, Frauen und Kindern zielte, mit denen Baker gerade Nettigkeiten austauschte. Als das Defilee seinem Ende entgegenging, begrüßte Bill Menschen mit vertrauteren Gesichtern. »Wie geht’s, Mr President?«, fragte ein republikanischer Senator, dem Bill die Hand schüttelte. »Nun, ich komme halbwegs klar«, antwortete Bill, bevor er anderen Mitgliedern des Kongresses die Hand gab. »Sie haben keinen Mumm, Sie Dreckskerl!«, schrie ein demokratischer Kongressabgeordneter aus Florida. Der Lärm in der Rotunde flaute merklich ab, als alle Köpfe zu dem Mann herumwirbelten, natürlich auch die eines halben Dutzends Sicherheitsbeamter. Bill trat auf den vor Wut schäumenden Mann zu, der ihn höhnisch angrinste. »Sie kommen hierher und lächeln wie bei irgendeiner verdammten Wahlkampfveranstaltung, während mein Wahlbezirk und hunderttausend meiner Wahlberechtigten den Chinesen in die Hände gefallen sind!« Jetzt tauchte Bakers Stabschef Bill Adams an der Seite des Präsidenten auf. »Wir sind spät dran, Mr President.« Er packte Bills Ellbogen und versuchte, ihn vom Schauplatz des unerfreulichen Zwischenfalls wegzu339
ziehen. Aber Bill machte sich von seinem Griff frei. »Hören Sie«, sagte er, »dies ist eine entsetzliche Zeit für Amerika, und zwar ganz besonders für diejenigen unserer Landsleute, die hinter den feindlichen Linien in der Falle sitzen. Ich verspreche Ihnen, Ihrem gewählten Volksvertreter, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Ihnen…« »Unsinn!«, unterbrach der Mann. »Sie spüren ihre Leiden, was? Sie gottverdammter Verräter! Während meine Leute sich in Arbeitslagern zu Tode schuften müssen, leben Sie mit einer Hure zusammen, die mit den Chinesen sympathisiert!« Baker versetzte dem Kongressabgeordneten einen harten Faustschlag mitten ins Gesicht. Zu den grellen Scheinwerfern der Fernsehkameras kamen jetzt noch hunderte aufflammende Blitzlichter. Die Kameramänner bemühten sich um Plätze mit einer besseren Sicht. Der Mann sank in die Arme seiner Kameraden, und von da an übernahm der Secret Service den Job. Die Mäntel über ihren Armen hatten keine Pistolen, sondern Uzis verborgen. Wie aus dem Nichts tauchte ein Dutzend neuer Sicherheitsbeamter auf, die sich ruppig ihren Weg durch die geschockte Menge bahnten und Bill in ein nahes Büro brachten. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hatte sich Bills anfängliche Genugtuung darüber, dass er den Kongressabgeordneten mit einem Fausthieb niedergestreckt hatte, bereits verflüchtigt. Er fühlte sich mies und bedauerte seine Tat. Niemand sagte ein Wort. In dem Büro wimmelte es nur so von Leuten. Sie hatten versteinerte Mienen, waren bewaffnet und blickten Bill nicht an. Stattdessen schauten sie auf die Tür. Sie lauschten auf ihre Kopfhörer und betrachteten kleine Videomonitore, die an die Stelle von Armbanduhren getreten waren. Draußen herrschten tumultuöse Zustände. Bill hörte laute, entrüstete Verdammungsreden, die den zahlreichen Reportern serviert wurden. Gleich mehrmals fiel Clarissas Name. Brüllende Journalisten, die die Sicherheitsbeamten mit fruchtlosen Bitten traktierten, doch endlich den Präsidenten sehen zu dürfen, wurden von den Männern des Secret Service aufgehalten – und das alles vor laufenden Kameras. Aber in dem Büro – im Auge des Sturms – herrschte völlige Stille. Der für den Einsatz verantwortliche Sicherheitsbeamte nickte einem seiner Männer zu, der daraufhin die Tür aufschloss und öffnete. Ein Schwall wütender Stimmen drang durch den engen Türspalt. Nachdem Frank 340
Adams in den Raum geschlüpft war, warf er sich mit dem Rücken gegen die Tür, um sie wieder zu schließen. Nach einem tiefen Seufzer blickte er stirnrunzelnd Bill an. »Ich habe gerade mit Tom Leffler gesprochen. Er hat das Treffen abgesagt.« Bill schloss die Augen, ließ den Kopf hängen und nickte dann bedächtig. »Es kommt noch schlimmer«, fuhr Adams fort. »Ich habe die führenden Politiker der Republikaner gebeten, die Polizei vom Capitol Hill das Gebäude räumen zu lassen, damit Sie ohne Belästigung das Haus verlassen können, aber sie haben sich geweigert. Sie werden das Capitol vor Gott und allen anderen verlassen müssen.« »Wir können Sie hier rausbringen, Sir«, sagte der verantwortliche Sicherheitsbeamte. »Ich werde dieses Gebäude nicht durch irgendwelche Tunnels verlassen«, erklärte Bill. »Lassen Sie den Kopf nicht hängen«, riet Adams. Bill straffte die Schultern, schob entschlossen den Unterkiefer vor und zupfte seinen Anzug zurecht. Als Adams die Tür öffnete, gab es erneut ein Blitzlichtgewitter, und die grellen Scheinwerfer der Kameras blendeten sie. Bill folgte dem Mann vom Secret Service, zugleich von etlichen Bodyguards umringt. »Stimmt es, dass Sie eine Affäre mit der Tochter des Sprechers des Repräsentantenhauses haben?«, brüllte jemand. »Ist Clarissa Leffler eine chinesische Agentin?«, wollte ein anderer wissen, der sofort Bills wütende Blicke auf sich zog. Aber die Fragen der Reporter waren nichts gegen das Spießrutenlaufen, das Bill hinter der nächsten Biegung des Korridors erwartete, wo Mitarbeiter des Kongresses und Berater ihren Präsidenten auszubuhen begannen. Bill starrte sie an und spürte, wie ihn eine Art Angst oder Panik überkam, als er ihre wütenden, maskenhaft verzerrten Gesichter sah. Fast urplötzlich hatten sie ihre Meinung geändert. Einer schwenkte ein Schild über seinem Kopf, auf das jemand hastig »Schande!« geschrieben hatte. Und all das wurde live im Fernsehen von jenen Menschen betrachtet, die er fuhren sollte in diesem Krieg, bei dem das Überleben der Nation auf dem Spiel stand.
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Hauptquartier der chinesischen Zivilisten, Atlanta 15. November, 13 30Uhr Ortszeit Han Zhemin zappte sich durch die amerikanischen Fernsehprogramme, in denen Bill Bakers Faustschlag in Zeitlupe – und aus einem Dutzend verschiedener Kameraperspektiven – präsentiert wurde. Gleichermaßen neugierig und verwirrt, musste Han wieder einmal feststellen, dass sich die amerikanischen Medien bei der Inszenierung eines Skandals schwerlich übertreffen ließen. Innerhalb von Minuten hatten sich die Networks geeinigt, die Affäre auf den Namen »Clarissagate« zu taufen, wobei allerdings jeder Sender nach den kurzen Werbeunterbrechungen seine Beiträge mit einer eigenen Bildmontage einleitete. Meistens handelte es sich um Variationen desselben Motivs: Vor dem Hintergrund des Präsidentensiegels oder des Weißen Hauses waren Bilder des Präsidenten und seiner Geliebten zusammenmontiert. Für jeden Kommentar eines gesprächsbereiten Interviewpartners – ihre Zahl schien unerschöpflich zu sein – wurde das laufende Programm unterbrochen. Moderatoren fassten den erst ein paar Stunden alten Skandal immer wieder zusammen. Während Han sich durch die verschiedenen Programme zappte, sah er Bilder der attraktiven jungen Frau, die diese bei einem zu Ehren ihres Vaters gegebenen Fundraising-Diners in einem trägerlosen Abendkleid zeigten. Eher zufällig fiel Han auf, dass das festliche Abendessen damals in der Stadt stattgefunden hatte, in der er sich jetzt aufhielt. Attraktive Schultern, ein schlanker Hals, ein hübsches Gesicht. Han lächelte. Als er aufblickte, bemerkte er Wu, den offenbar irgendjemand ohne vorherige Anmeldung in sein Büro gelassen hatte. Er stand im Kampfanzug neben dem Schreibtisch seines Vaters und starrte gleichfalls auf den Fernseher. In dem flüchtigen Moment seines plötzlichen Auftauchens schien er Han tatsächlich wie ein Soldat auszusehen, aber seine Gesichtszüge waren immer noch die eines Jungen, durch keinerlei Sorgenfalten oder Spuren des Alterns gezeichnet. Doch er hielt sich gerade, hatte breite Schultern und kurz geschorene Haare. Sein Gesicht und sein Hals waren gebräunt. Wu wandte sich seinem Vater zu, der aber schnell wieder auf den Fernseher blickte, wo vor einem Wust von Mikrofonen ein aufgebrachter Tom Leffler zu sehen war. Han stellte den Ton lauter. »… habe ihm nichts zu 342
sagen. Sollte er mir etwas zu sagen haben, weiß er, wo er mich findet.« Ohne auf die auf ihn einhagelnden Fragen einzugehen, verließ der alte Mann das Podium. »Können Sie weiterhin mit diesem Präsidenten zusammenarbeiten?«, fragte ein Journalist. »Hat Ihre Tochter bestätigt, dass sie mittlerweile im Weißen Haus lebt?«, wollte einer seiner Kollegen wissen. »Tatsächlich, Wu, wir leben in interessanten Zeiten«, sagte Han, während er den Ton wieder abstellte. Jetzt wurde ein spöttisch lächelnder Bill Baker gezeigt, dessen Wagen gerade durch das Tor vor dem Weißen Haus fuhr. Der Präsident starrte stur vor sich hin und ignorierte die schreienden Journalisten und die Blitzlichter der Kameras. »Du bist ein großartiger Dreckskerl!«, brüllte Han lachend in Richtung Fernseher. »Treibst es einfach mit der Tochter des Sprechers des Repräsentantenhauses!« Du warst schon immer besser als ich, dachte er. Dann reichte er Wu ein Memorandum, das, wie dieser überrascht feststellen musste, von Han und Wu verfasst worden war. Das Schriftstück war an den Premierminister gerichtet und trug die Aufschrift »STRENG GEHEIM – NUR ZUR PERSÖNLICHEN EINSICHTNAHME«. »Unterzeichne das hier«, sagte Han. »Sollte dich jemand fragen, ob du über die hier erwähnten Dinge Bescheid weißt, wirst du natürlich bejahen.« »Aber nichts davon stimmt!«, widersprach Wu vehement. »Ich weiß nichts davon, dass General Sheng mit dem Kommandeur des Militärbezirks Peking eine Verschwörung gegen den Verteidigungsminister plant!« »Das trifft die Sache nun wirklich nicht richtig«, antwortete Han gereizt. »Du versuchst, Sheng reinzulegen«, sagte Wu vorwurfsvoll. »Aber General Sheng hat keinen Hochverrat begangen!« Mit zusammengekniffenen Augen starrte Han seinen Sohn an. »Was willst du damit sagen?«, fragte er kühl, wobei er sich alle Mühe geben musste, seine Wut im Zaum zu halten. »General Sheng ist kein Politiker, sondern ein Soldat«, sagte Wu. »Aber der Verteidigungsminister ist Politiker«, antwortete Han. »Er wird glauben, dass Sheng eine Verschwörung vorbereitet, weil das in seiner Welt Sinn macht. Sollte die Armee den Krieg gewinnen, wird Sheng politisch gefährlich, weil er dann ein Nationalheld sein wird, und zwar unabhängig davon, dass wegen ihm mehrere Millionen Chinesen ihr 343
Leben verloren haben werden und dass durch Shengs Brutalität der beispiellose amerikanische Geist praktisch zerstört sein wird, der dieses Land zu dem gemacht hat, was es ist! Du hast mit eigenen Augen gesehen, was auf Shengs Befehl in diesen Lagern passiert, Wu!« »Schließlich hat es Angriffe von Partisanen gegeben«, versuchte Wu, die Lager halbherzig zu rechtfertigen. Han hob herausfordernd den Kopf und schüttelte ihn dann. »Was würdest du tun, wenn in deinem Land eine Invasion stattfände?«, fragte Han. »Ich kenne dich besser, als du glaubst. Insgeheim bewunderst du die Amerikaner für jeden ihrer fanatischen, selbstmörderischen Partisanenangriffe, stimmt’s?« Wu’s Kopf schnellte so plötzlich in die Höhe, dass Han seine Vermutung bestätigt sah. Dass sein Sohn jetzt den Blick abwandte, vervollständigte das Bild eines mit sich selbst im Kriegszustand lebenden jungen Manns. »Dann planst du also, General Sheng fälschlicherweise des Hochverrats anzuklagen, um ihn zu vernichten?«, murmelte Wu niedergeschlagen. Lächelnd öffnete Han durch eine auf einer winzigen Tastatur eingegebene Zahlenkombination eine verschlossene Schublade. Dann legte er den kompletten Bericht vor Wu auf den Tisch. »Das hier sind Tatsachen, die genauen Zahlen stehen da oben in der Tabelle.« Wu las. Von der chinesischen Armee festgenommene amerikanische Zivilisten – eine Million. Zahl der in Arbeitslagern internierten amerikanischen Zivilisten – sechshunderttausend. In der Gefangenschaft bewiesenermaßen getötete amerikanische Zivilisten – vierzigtausend. Zahl der schätzungsweise in Gefangenschaft ums Leben gekommenen amerikanischen Zivilisten – dreihunderttausend. »Ich kann dir diese Lager gern zeigen«, erbot sich Han. Wu schüttelte den Kopf, griff dann wie betäubt nach einem Füllfederhalter und unterzeichnete das Memorandum. Sehr gut, dachte Han. Ein Problem weniger, um das er sich Gedanken machen musste – Wu’s Zuverlässigkeit. Komplizen waren immer gute Verbündete. »Also«, sagte Han, »gibt’s irgendwelche Neuigkeiten hinsichtlich der Identität von Shengs Spitzel im Weißen Haus?« Wu starrte auf den Fernseher, in dem jetzt alte Filmaufnahmen von irgendeinem Wahlsieg präsentiert wurden. Die Geliebte des Präsidenten, 344
damals noch ein junges Mädchen, stand neben ihrer Mutter auf einer Bühne. Unter ihrem durch ein Oval herausgehobenen Gesicht stand »Clarissa Leffler«, das restliche Bild hatte nur unscharfe Konturen. »Wu?«, fragte Han, den der gebannte Blick seines Sohns ungeduldig machte. »Wenn es Sheng tatsächlich gelungen sein sollte, jemanden so hoch in Bakers Administration einzuschleusen, dann muss sie als Nachrichtenquelle für ihn von unschätzbarem Wert sein. Eventuell könnte sie gar der entscheidende Faktor in diesem Krieg sein. Hast du herausgefunden, um wen es sich handeln könnte?« »Wie war’s denn mit ihr?«, fragte Wu, der auf Clarissa Lefflers Bild im Fernseher zeigte. »Die amerikanischen Medien behaupten, sie sympathisiere mit den Chinesen.« Han saß reglos auf seinem Stuhl. »Die Tochter des Sprechers des Repräsentantenhauses?«, fragte er. »Die Geliebte des Präsidenten? Hältst du sie für eine Spionin unserer Armee?« »Sie ist die Chefin der China-Abteilung im Außenministerium«, antwortete Wu. »Wahrscheinlich hat sie in China studiert.« Han’s Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Vermutungen, die Wu nicht beweisen konnte. Offensichtlich verärgerte die Reaktion seines Vaters Wu. »Hattest du seit deinem Treffen mit Baker auf den Bahamas irgendwelche Kontakte zu Amerikanern?«, fragte er barsch. »Wie bitte?« Han’s Überraschung bezog sich nicht nur auf die Frage, sondern auch auf den Tonfall seines Sohns. »Hattest du seit deiner Reise auf die Bahamas irgendwelche direkten Kontakte zur amerikanischen Regierung?«, wiederholte Wu seine Frage in leicht abgewandelter Form. »Wir befinden uns im Krieg«, antwortete Han. »Da sind solche Kontakte schwer zu arrangieren.« »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, bemerkte Wu. »Wer bist du, dass du glaubst, mir überhaupt irgendwelche Fragen stellen zu können?«, platzte es aus Hart heraus, aber Wu wandte den Blick nicht ab, was Han noch wütender machte. »Ich bin Offizier der chinesischen Armee«, bemerkte Wu, während er auf die Tür zuging. »In Kriegszeiten sind Verhandlungen mit dem Feind Hochverrat.« 345
Wu ging. Schockiert und mit pochendem Herzen blieb Han an seinem Schreibtisch zurück.
George Washington Parkway 17. November, 1015 Uhr Ortszeit Trotz der massiven Bauarbeiten hatte Clarissa von der Hauptstadt aus den George Washington Parkway genommen. Wegen der aus der Stadt kommenden Konvois von Zementmischern hielten Militärpolizisten normale Autofahrer häufig an. Fünfundzwanzig Meilen von Washington entfernt wurde der äußerste der konzentrisch um die Stadt gelegten Verteidigungsringe errichtet. Bisher hatten die Pioniere, die an der Peripherie mit ihrer Arbeit begannen, noch nicht die herbstlich gefärbten Ahornbäume am Potomac gefällt, um den Weg für die inneren Verteidigungsringe frei zu machen. Jetzt bog Clarissa in einen von einer Steinmauer eingefassten Park ein, von dem aus man einen Ausblick hatte, der ihr Tränen in die Augen treten ließ. Von den felsigen Klippen aus blickte man auf Georgetown. Auf dem Potomac sah sie einen einsamen Ruderer. Sie stieg aus ihrem Wagen. Die Luft war kühl. »Sie werden ihre Geschütze direkt auf die Stadt richten«, hatte Bill Baker ihr in der letzten Nacht mit Tränen in den Augen erzählt. Clarissa ließ den Blick über den schmalen Fluss schweifen. »Direkt auf… alles. Auf das Washington Monument, das Lincoln Memorial. Wenn sie erst die letzte Verteidigungslinie in Virginia durchbrochen und den Fluss überquert haben, werden sie Washington dem Erdboden gleichmachen.« Ihr Vater saß auf einer niedrigen Steinmauer und blickte zur Georgetown-Universität hinüber, die nicht nur seine, sondern auch Clarissas Alma Mater war. Clarissa fiel auf, dass er denselben schwarzen Mantel, dieselben schwarzen Handschuhe und denselben schwarzen Hut wie auf der Beerdigung ihrer Mutter trug, und sie fragte sich, ob er in den Seitdem vergangenen zwei Jahren überhaupt einmal neue Kleidung gekauft hatte. Als sie näher kam, sah sie, dass der alte Mann vor sich hinmurmelte und mit irgendeiner Stimme in seinem Inneren sprach. 346
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er gerade. Tom Leffler blickte seine Tochter nicht an, aber er verstummte. Eine Zeit lang wartete sie darauf, dass er das Wort an sie richtete. »Ich erinnere mich an die Zeiten, als du noch ein Kind warst«, sagte er schließlich, das Gesicht noch immer abgewandt. »Es ist, als wäre es erst gestern gewesen. Deine Mutter und ich haben oft mit dir gepicknickt, erinnerst du dich?« Clarissa verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. »Nie hat uns Mom erlaubt, unterwegs einen Hamburger zu verputzen.« »Sie hatte ja auch immer etwas Besonderes vorbereitet«, sagte Tom Leffler geistesabwesend. Seine Sekretärin hatte Clarissa erzählt, dass sein Kurzzeitgedächtnis ruiniert sei, dass er sich aber an Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse – ob wichtig oder unwichtig – bestens erinnere. »Immer etwas Besonderes«, murmelte er. Wann ist er so alt geworden?, fragte sich Clarissa. Ihre frühesten Erinnerungen an ihren Vater waren mit dessen Reden verbunden. Mit langweiligen Abendessen in irgendwelchen Hotels, bei denen sie nie etwas aß, weil ihre Mutter sie vorher bereits gefüttert hatte. Jedes Jahr hielt er in ihrer Schule eine Ansprache. Als sie zwölf war, rührte sie eine feurige Rede von ihm auf einem Parteitag der Republikaner erstmals zu Tränen. Damals war er ein junger Kongressabgeordneter, aber nach seiner mitreißenden Grundsatzrede wurde er bereits als zukünftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt. Für sie war er nicht nur eine der landesweit bekannten politischen Führungspersönlichkeiten, sondern gleichsam einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten. Nach Clarissas naiver Meinung gehörte er ins Pantheon der großen amerikanischen Patrioten. »Es tut mir Leid, dass ich dich blamiert habe«, sagte Clarissa. Ihr Vater schwieg und starrte sie aus trüben Augen mit einem leeren Blick an. Seine bleiche Gesichtshaut war von Falten durchzogen. »Liebst du Bill Baker?«, fragte er, den Blick noch immer auf die Stadt gerichtet. »Was?« »Er ist ein guter Mann«, sagte Tom Leffler. »Ein guter Mann.« »Wie bitte?« Er blickte zu ihr auf. »Ich habe gesagt, dass er ein guter Mann ist, und davor habe ich dich gefragt, ob du ihn liebst.« »Ich… Nein! Nein! Was erzählst du da?« 347
Er wirkte niedergeschlagen, und sein Kinn sackte auf den Kragen seines Mantels herab. »Ich möchte, dass du glücklich bist und die Freude kennen lernst, die es einem bereitet, wenn man mit seinem Kind – und seinem Ehemann – diesen Park besucht.« Clarissa konnte nicht glauben, was dieses Gespräch für eine Wendung genommen hatte. Sie war gekommen, um mit ihrem Vater über den Staatsstreich zu reden, aber seine Worte klangen so, als wollte er sie mit dem Opfer des geplanten Coups verkuppeln. »Diese wunderbaren Picknicks haben nur eine Viertel-Stunde gedauert und manchmal sogar im Auto stattgefunden, damit du so schnell wie möglich wieder ins Büro zurückfahren konntest. Die Hälfte der Zeit hast du telefoniert. Einmal hast du äußerst ungehalten reagiert, als Mom dich gebeten hat, aus dem Wagen zu steigen und dir die herbstlich gefärbten Blätter anzusehen.« Jetzt starrte er ihr direkt in die Augen. »Das sind die schönsten Erinnerungen meines Lebens.« Eine Zeit lang blieb die Mitleid erregende Äußerung in der Luft hängen. Clarissa begriff, dass sie seine künstlich schön gefärbten Erinnerungen in Frage gestellt hatte. Diese Picknicks waren tatsächlich wunderschön gewesen, aber am besten erinnerte sie sich an die scheinbar stundenlangen Vorbereitungen. Ihre Mutter und sie bestrichen Sandwiches mit Majonäse oder schnitten kleine Käsestücke. Was für ihren viel beschäftigten Vater nur ein paar Minuten waren, die er einem vollen Terminkalender abringen musste, war für Clarissa und ihre Mutter das Ereignis, um das sich an diesem Tag alles drehte. »Du setzt dich einem großen Risiko aus«, sagte Tom Leffler zu seiner Tochter. »Es zirkuliert da eine sehr hässliche Geschichte.« Sie schluckte die Angst hinunter, die ihr die Kehle zuzuschnüren und die Atemwege zu blockieren drohte. »Ist sie wahr?« »Was soll wahr sein?«, krächzte sie. »Hattest du während deines Studiums in Peking eine Affäre mit einem Oberst der chinesischen Armee, der Leute für ihre Nachrichtendienste rekrutierte?« Angesichts dieser völlig unerwarteten Frage wirbelte Clarissas Kopf herum. »Wie bitte?« Während der drei Jahre an der Universität von Peking hatte sie nur eine Affäre gehabt. Der Mann war ihr einziger chinesischer 348
Liebhaber gewesen. Sie hatte sich mit ihm über ihre gemeinsame Sehnsucht nach einer freien, demokratischen Welt unterhalten. Stets vertrat er genau die richtigen Ansichten – bis auf die letzten paar Monate, in denen er sich zu ändern schien und bei jeder wichtigen Frage zu streiten begann. Seine letzten Worte, bei denen er sie angelächelt hatte, waren eher politischer als privater Natur gewesen: »Ich lebe in meiner Welt und kann nur zu dir gehören, wenn auch du dich für meine Welt entscheidest.« »Er war kein Spion«, log sie. »Nicht wirklich.« »Mein Gott, Clarissa«, sagte ihr Vater mit geschlossenen Augen. »Du hast doch gesehen, wozu die Haie in dieser Stadt fähig sind und wie sie ihre Gegner in Stücke reißen, indem sie alle in ihrer Umgebung angreifen! Und jetzt so eine Geschichte? Ausgerechnet in Zeiten wie diesen?« »Ich wusste es nicht! Woher wissen wir denn, dass es wahr ist?« »Diese Geschichten stimmen immer«, lamentierte ihr Vater. »Aber es ist so lange her!«, rief Clarissa aus. Ihr Vater zuckte nur resigniert die Achseln. Wenn doch nur alle die Wahrheit kennen würden, dachte sie. Wenn sie doch nur wüssten, wie patriotisch sie war! Aber sie werden es schon noch erfahren, direkt nach dem Staatsstreich! Alle würden begreifen, dass sie alles riskiert hatte, um ihr Land vor einer Niederlage durch die Chinesen zu bewahren! Würde eine chinesische Agentin sich mit anderen Verschwörern zusammentun, damit die Chinesen endlich mit Atomwaffen angegriffen wurden? Ihr Stimmung hellte sich wieder auf, und ihre Panik ließ nach. »Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen«, sagte sie. Ihr Vater reagierte sofort. Nachdem er sie mit einem »Pssst!« zum Schweigen ermahnt hatte, blickte er sich mit einem paranoiden Blick um. Dann beugte er sich vor. »Allmächtiger Gott, Clissa«, flüsterte er. »Wo hast du den Satz gehört?« »Ich gehöre zu den Leuten, die den Staatsstreich planen.« Tom Leffler fiel die Kinnlade herunter. Sie erzählte ihm, dass er bei dem Gespräch über das Bildtelefon das Passwort vor sich hingemurmelt hatte und dass es ihr dadurch möglich gewesen war, die mysteriöse E-Mail zu öffnen. »Aber woher sollten sie gewusst haben, dass ich dir was über…« Plötzlich riss er die Augen weit auf. »Die Wanzen in meinem Haus!« Er blickte Clarissa in die Augen. »Du gehörst zu ihrem Kreis, du bist dabei«, 349
sagte er mit unheilvoll klingender Stimme. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, immerhin hatte sie sich entschieden, dem Kreis beizutreten. Aber irgendetwas an der Art und Weise, wie ihr Vater diese Tatsache bestätigte, verängstigte sie entsetzlich. »Sprich diese Worte nie wieder aus«, warnte ihr Vater ernst. Wieder blickte er sich beunruhigt um. »Worüber wir eben gesprochen haben… Durch diesen Skandal wollte man jemanden vor aller Öffentlichkeit ruinieren. Vielleicht haben sie die Nachricht von deiner Affäre mit Baker lanciert, um ihm politischen Schaden zuzufügen. Aber die Teilnahme an einem Staatsstreich könnte dich das Leben kosten.« Clarissa fühlte sich fast körperlich krank. »O mein Gott!«, stöhnte sie. Neben ihrem Vater auf dem Mäuerchen sitzend; vergrub sie ihre Hände zwischen den Knien, um das Zittern zu stoppen. Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Beth«, murmelte er. »Es tut mir ja so Leid.« »Dad?«, fragte Clarissa laut und verärgert. Er blickte sie wieder an, doch sein offen stehender Mund vermittelte das Mitleid erregende Bild eines verängstigten, schwachen alten Manns. »Wer steht hinter dem geplanten Staatsstreich?«, fragte sie, doch ihr Vater antwortete nicht direkt. Er sagte nur, auch diese Information könne sie das Leben kosten. »Aber wenn die Verschwörer zum Nationalen Sicherheitsrat gehören… Ich frage mich, warum sie dann meine Berichte über…« »Einer der Organisatoren hat zu mir Kontakt aufgenommen«, unterbrach Tom Leffler niedergeschlagen. »Aber der Mann, den ich für ihren Anführer halte, gehört nicht zum Nationalen Sicherheitsrat.« »Wer ist es?«, fragte sie in bittendem Tonfall. Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Es gibt ein paar Dinge, über die du besser nichts wissen solltest, weil du sonst dein Leben aufs Spiel setzen würdest.« Er blieb unerbittlich. »Wird es wirklich so weit kommen?«, fragte sie mit kaum vernehmbarer Stimme. »Werden sie gegen Baker vorgehen?« »Ich glaube nicht, dass sie schon so weit sind. Mir hat man sich auf eine sehr vorsichtige Art und Weise genähert. Es gab ein kleines Verhör über meine politischen Neigungen. Man hat mir eine Reihe hypothetischer Fragen gestellt, die zuerst sehr allgemeiner Natur waren. Etwa: ›Glauben Sie, dass das Schicksal Ihrer Nation auf Messers Schneide steht?‹ Oder: 350
›Würden Sie sich eher an die Gesetze halten und den Krieg verlieren, oder würden Sie eher jedes Gesetz brechen, um den Krieg zu gewinnen?‹ Mein Eindruck war folgender: Wenn ich die Fragen in ihrem Sinn beantwortete, ging das Gespräch weiter, und folglich habe ich es immer wieder getan. Damit die Befragung weiterging, habe ich die Wahrheit verhüllt. Ich wusste genau, wie ich mich verhalten musste, und es wurden immer gezieltere Fragen gestellt. ›Halten Sie es für falsch, dass Amerika während des Zweiten Weltkriegs über Japan Atombomben abgeworfen hat? Glauben Sie, dass es um unsere Welt heute besser bestellt wäre, wenn die Inder Atomwaffen gegen China eingesetzt hätten? Besteht ein moralischer Unterschied, ob man eine Invasionsarmee mit Atomwaffen angreift oder ob man die in einer Stadt gefangenen Einwohner durch Atomwaffen tötet?‹ Natürlich waren die Fragen nicht schriftlich niedergeschrieben, aber sie waren sehr, sehr klar und sorgfältig formuliert. Jede ergab sich logisch aus der vorigen Frage. Das ganze Gespräch hat über eine Stunde gedauert.« »Und hast du den Test bestanden?«, fragte Clarissa. »Haben sie dich in ihre Pläne eingeweiht?« »Sie haben mir gar nichts erzählt. Sie haben nur gefragt. Die vorletzte Frage lautete: ›Sollte Amerika Atomwaffen einsetzen, wenn alle anderen Mittel versagen?‹ Und die Letzte: ›Wird Bill Baker sich zu diesem Schritt entschließen?‹« »Und wie hast du geantwortet?« »Im ersten Fall habe ich bejaht, im zweiten verneint.« »Und damit war das Gespräch beendet?« Tom Leffler nickte. »Er ist aufgestanden, hat mir die Hand geschüttelt und ist verschwunden. Aber an der Art und Weise, wie er meine Hand nahm, war etwas auffällig. Er hat sie sehr lange gehalten.« »Du hast alle Fragen richtig beantwortet«, sagte Clarissa, und ihr Vater nickte bedächtig. »Dann bist auch du in Gefahr, Dad.« »Ich bin unantastbar«, antwortete er. »Du bist für sie…« »… nur eine Schachfigur«, sagte Clarissa, die selbst das Wort benutzte, das er nicht verwenden wollte. »Aber du bist zu nah dran«, flüsterte Tom Leffler. »Es gibt Leute, die alles tun würden, um Bakers Kopf zu bekommen. Für sie ist er Amerikas Nero. Das ist eine sehr gefährliche Auseinandersetzung, und du bist zu nah dran. Viel zu nah.« 351
»Ich werde aussteigen«, sagte Clarissa. »Noch heute werde ich ihnen eine E-Mail schicken und sie informieren, dass ich für keinerlei Staatsstreiche mehr zur Verfügung stehe.« Da sie an schweren Schuldgefühlen litt, war Clarissa sehr erleichtert über ihren Entschluss, sich aus dem Kreis der Verschwörer zu verabschieden. »Wie immer du dich auch entscheiden solltest, Clissa, das solltest du nicht tun«, sagte Tom Leffler. »In dem Augenblick, wo du ihnen nicht mehr nützlich bist oder sie deine Loyalität auch nur ansatzweise in Frage stellen…« Er brachte es nicht über sich, den Satz vor seiner einzigen Tochter zu beenden. Vor seiner »Clissa«, wie sie sich selbst genannt hatte, als sie zu sprechen gelernt hatte. »Oh, Beth, es tut mir Leid…« »Mom ist nicht hier«, sagte Clarissa sanft. »Sie ist tot, Dad.« Die Gedanken ihres Vaters kehrten in die Gegenwart zurück. »Hast du genau begriffen, was ich gesagt habe? Versuch nicht, dich aus dieser Verschwörung zurückzuziehen! Tu alles, was sie sagen! Ändere nichts an deinem Verhalten, oder…« Seine Warnung blieb in der Luft hängen. Clarissa atmete tief durch, um sich zu beruhigen, nickte und ließ dann ihren Blick über die Bäume, die geparkten Autos und die Hügel jenseits des Parkway schweifen. Überall konnte sich ein Scharfschütze versteckt halten.
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5. KAPITEL
Bessemer, Alabama 20. November, 22 45 Uhr Ortszeit An einem klaren, kalten Abend, direkt nach Einbruch der Dämmerung, hatte Captain Jim Hart den Sturmschutzkeller verlassen, um sein Depot zu überprüfen, das offensichtlich niemand entdeckt hatte. Er versorgte sich mit vier großen Aerosol-Behältern, die mit einem Pistolengriff und einem für drei Finger ausgelegten Abzug versehen waren. Außerdem steckte er eine Drahtzange und eine Gasmaske ein. Der darauf folgende, drei Meilen weite Fußmarsch durch die unwegsamen Hügel kostete ihn fast zwei Stunden. Damit begann sein erster Einsatz seit einem Monat, seit der Verletzung. Es war eine üble Verstauchung gewesen, und sein Knöchel schmerzte immer noch, aber er konnte wieder ohne Probleme gehen. Wenn er ein mäßiges Tempo einhielt, konnte er sogar laufen. Um nicht völlig aus der Übung zu kommen, hatte er es an mehreren Abenden hinter dem Haus der Lipscombs trainiert. Doch der wichtigste Grund für sein langes Untertauchen bestand darin, dass es in dem Sturmschutzkeller behaglich, sicher und warm war, und wenn er versucht hätte, von dort aus irgendwelche Operationen zu dirigieren, hätte er vielleicht die Lipscombs in Gefahr gebracht. Aber am Vortag war Amanda Lipscomb mit wertvollen Informationen aus der Highschool zurückgekehrt. Die chinesische Armee hatte damit begonnen, die Turnhalle zu einer Kaserne für durchziehende Soldaten umzufunktionieren. Als Hart vor dem Krieg jeden Quadratmeter seines Operationsgebiets unter die Lupe genommen hatte, war er auch in der Schule gewesen. Amanda hatte einen Grundriss der Schule mit den Aufenthaltsorten der Chinesen gezeichnet, und aufgrund dieser Informationen setzte Hart jetzt sein Leben aufs Spiel. Es wurde Zeit, dass er wieder an die Arbeit ging. 353
Die Umkleidekabinen der Basketballhalle wurden auch von den Football-Spielern benutzt. Das benachbarte Stadion erreichte man durch einen unter den Tribünen hindurchführenden Gang. Da Amanda Cheerleader gewesen war, kannte sie die Örtlichkeiten gut. Um das Stadion herum gab es einen Zaun, und Hart vertraute darauf, dass dieser den Chinesen ein trügerisches Gefühl der Sicherheit vermittelte. Am Fuß des Zauns war eine dichte Hecke, die Hart bei seiner Annäherung Deckung geben würde. Und bis jetzt war diese Annäherung an sein Ziel ohne Zwischenfälle verlaufen. Hart lag in den Büschen neben dem Zaun und beobachtete das Stadion und das Grundstück durch seine Nachtsichtbrille. Er lauschte und versuchte, den möglichen Aufenthaltsort sich versteckender chinesischer Wachtposten auszumachen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions standen dreißig Lastwagen, die von zwei aus jeweils zwei Männern bestehenden Patrouillen bewacht wurden. Da das Benzin bei den Chinesen genauso knapp war wie die Lastwagen, mit denen die Soldaten transportiert wurden, riskierten sie es nicht, nachts die Straßen zu benutzen. Aus Angst vor Harts Kameraden von den Special Forces blieben sie nachts lieber in sicheren Oasen wie dieser Turnhalle. Morgens wurden Pioniere als Minenräumtrupps auf die Straßen geschickt, die sie bis zum Abend bewachten; dann zog man sich wieder in ein sicheres Nachtlager zurück. Hart war sicher, dass er allein war. Mit einem möglichst leisen Klicken schnitt er die Drähte des Zauns durch. Er zog die Ränder des Lochs in seine Richtung, damit er einen Fluchtweg hatte, der ihm möglicherweise das Leben retten würde. Doch in diesem Augenblick erschien es ihm als hochgradig unwahrscheinlich, dass er diese Nacht überleben würde. Ihm war klar, dass er einen Fehler machte. Da er zu lange untätig gewesen war, versuchte er jetzt, die verlorene Zeit dadurch wettzumachen, dass er ein sehr wichtiges Ziel angriff. Dass er seinen Entschluss so schnell in die Tat umsetzte, lag auch daran, dass die Chinesen die Sicherheitsvorkehrungen um ihre Kaserne herum stetig verbessern würden. Schlug er schnell zu, schon in der zweiten Nacht ihres Aufenthalts in der Turnhalle, so hatte er spekuliert, gab es vielleicht noch Lücken in ihren Sicherheitsvorkehrungen. Aber tatsächlich befriedigte er schlicht und einfach den Wunsch, seine Feinde zu töten. Seine einzige Überlebenschance bestand darin, sich nicht erwischen zu lassen. Wenn ein Mann Alarm auslöste oder schoss, würde Hart sich in 354
einem Schwärm feindlicher Soldaten wiederfinden. Wollte er hier lebend herauskommen, musste er sich in die Höhle des Löwen begeben und dort lautlos töten. Deshalb hatte er sein Gewehr umgehängt. Als das Loch in dem Zaun groß genug war, kroch Hart hindurch und ließ sich dann in einen betonierten Graben rollen, der als Entwässerungskanal diente und ihm auf dem ganzen Weg zum Stadion Deckung verschaffen würde. Bei den Tribünen angekommen, versteckte er sich, um zu lauschen, aber außer seinem eigenen Herzschlag hörte er nichts. Wenn es hier Wachtposten gab, konnten es nur ganz wenige sein. Unter den Tribünen ging er auf die Turnhalle zu. Als er noch ein gutes Stück von ihr entfernt war, sah er in der Dunkelheit zwei dicht nebeneinander stehende Männer, die eine Zigarette rauchten und die Türen der Umkleidekabinen bewachten. Während sie sich in gedämpftem Tonfall unterhielten, lachten sie manchmal leise. Diese beiden musste Hart zuerst aus dem Verkehr ziehen. Vorsichtig schlich er zentimeterweise an sie heran. Eine Öffnung in der Tribünenwand führte vom Spielfeld zu den Umkleidekabinen, doch es drang kaum Wind durch den hohen Tunnel. Diese Röhre unter den Tribünen war, genau wie die Turnhalle, ideal für den Einsatz der von Hart gewählten Waffe. Nachdem er leise die Gasmaske aufgesetzt hatte, zog er die Nachtsichtbrille darüber. Er drehte die Sicherheitskappe des Behälters, bis dieser einsatzbereit war, und stellte dann das Sprühventil auf »maximale Reichweite«. Für die letzten paar Dutzend Meter benötigte er eine Viertelstunde. Als der Abstand zu den beiden Männern noch etwa sechs Meter betrug, stellte er den Behälter extrem vorsichtig auf einen staubigen Träger. Genau in diesem Augenblick steckte sich einer der beiden chinesischen Soldaten eine weitere Zigarette an, und Harts Nachtsichtbrille vergrößerte den plötzlichen Lichtblitz auf dramatische Weise. Aber die grelle Flamme erlosch genauso schnell wieder, wie sie aufgeflackert war. Nur die Glut der Zigarette des Soldaten leuchtete hell, wenn er den Rauch inhalierte. Jetzt nahm Hart den durchdringenden Geruch von Marihuana wahr. Der Wachtposten gab den Joint an seinen Kumpel weiter, und sein ersticktes Kichern klang, als wollte er den Rauch nicht vorzeitig aus seinen Lungen entweichen lassen. Hart begann, sich zu entspannen. Die beiden bekifften Soldaten waren 355
leicht aus dem Verkehr zu ziehen, überdies schienen sie auch nicht zu befürchten, dass ihnen irgendwelche Offiziere oder Unteroffiziere einen Besuch abstatten könnten. Hart richtete das behelfsmäßige Visier des Sprühbehälters auf seine Opfer. Er befand sich am äußersten Rand der Reichweite seiner Waffe, aber die beiden Soldaten taten ihm den Gefallen, dicht nebeneinander zu stehen. Sie rauchten weiterhin ihren Joint; ihre Gewehre hatten sie geschultert. Mit einem hohen, sirrenden Geräusch entwich das Zyanid aus dem Sprühbehälter, und die beiden Männer wichen zurück, als sie von dem dünnen Strahl getroffen wurden. Sofort wischten sie sich hektisch über Wangen und Mund, aber die Flüssigkeit hatte sich bereits in Gas verwandelt. Ein Mann fiel seitwärts zu Boden, ganz wie ein gefällter Baum, und sein Gewehr schlug mit einem lauten Geräusch auf den Beton. Der andere umfasste seinen Hals und seine Brust, ging dann zu Boden, bäumte sich noch einmal auf – und starb. Erneut überprüfte Hart die Lage. Er schien weiterhin allein zu sein. Mit dem Sprühbehälter in der Hand eilte er auf die Tür zu, wo er die leblosen Körper so schnell wie möglich in die Finsternis zerrte. Die Tür zu den Umkleidekabinen war nicht abgeschlossen. So weit, so gut, dachte Hart. Drinnen war es völlig finster. Er ging an Reihen von Spinden vorbei, die durch seine Nachtsichtbrille in einem unheimlichen Grün leuchteten. Bei den Duschen angekommen, hörte er die regelmäßigen Atemzüge eines Schlafenden. Am Ende des nächsten Gangs mit Spinden schlief ein Wachtposten auf einer Bank. Hart drehte das Sprühventil gegen den Uhrzeigersinn bis zur »Spray«-Position und ging dann auf den Mann zu. Der feine Sprühnebel ließ den Mann noch einmal kurz husten, bevor er in einen Schlummer sank, aus dem es kein Erwachen mehr geben würde. Alles war so einfach. Wieder lauschte Hart. Doch in der Umkleidekabine hörte er außer sich niemanden mehr atmen. An der Doppeltür zur Sporthalle, über die Amanda ihn gründlich informiert hatte, blieb er stehen. »Nein, ich glaube nicht, dass die Tür quietscht«, hatte Amanda gesagt. Hart entfernte die Sicherheitskappen von den anderen drei Behältern mit den Insektiziden, deren Größe für gewerbliche Zwecke ausgelegt war, und drehte die Ventile bis zum Anschlag gegen den Uhrzeigersinn auf die Position »Sprühnebel«. 356
Zwar ließ sich die Tür tatsächlich geräuschlos öffnen, aber Hart stieß sofort mit einem Soldaten zusammen. Der Mann war barfuß und offensichtlich auf dem Weg zur Toilette. Bevor der Chinese auch nur seine verschlafenen Augen richtig aufreißen konnte, hatte Hart schon auf das Sprühventil gedrückt. Dem Mann traten die Augäpfel aus den Höhlen, und er ging mit weit aufgerissenem Mund auf die Knie, ohne einen Schrei hervorstoßen zu können. Während der letzten paar Sekunden seines Lebens musste er hilflos mit ansehen, wie Hart an ihm vorbeieilte. Auf dem Parkett des Basketballfelds standen hunderte Feldbetten. Hart drückte auf den Abzug eines seiner Behälter, und das Sprühventil stieß Wolken von Zyanid aus. Nachdem er den Behälter in dem Durchgang zur Umkleidekabine abgestellt hatte, machte er den zweiten einsatzbereit. Während er an den Feldbetten vorbeilief, sprühte er abwechselnd nach links und rechts und stellte den Behälter dann auf dem Center Court ab. Das erste Husten und ein paar hohe Geräusche ließen Hart erstarren, dann lief er mit dem dritten Behälter an den Feldbetten vorbei und verteilte den tödlichen Nebel wie zuvor. Kaum einmal konnte sich jemand noch aufsetzen. Einige Chinesen wanden sich aus dem Bett und fielen zu Boden, wo sich das schwere Gas am dichtesten verteilt hatte. Nachdem er mit dem dritten Sprühbehälter einen Ausgang in einer Biegung der Tribüne blockiert hatte, machte Hart das Sprühventil des vierten und letzten Behälters einsatzbereit. Er rannte über die ganze Länge des Basketballfelds, und als er den letzten Ausgang erreicht hatte, rührte sich bereits niemand mehr. Nachdem er den Behälter abgestellt hatte, warf er einen letzten Blick auf die zu einer Kaserne umfunktionierte Sporthalle, die er wiederum in eine Gaskammer verwandelt hatte. Mehrere hundert chinesische Soldaten waren tot. Direkt vor Sonnenaufgang hatte Hart den Rückweg zum Sturmschutzkeller hinter sich gebracht. »Haben Sie es getan?«, fragte aus der Finsternis heraus Amanda. Sie schaltete eine mit Batterien betriebene Lampe neben Harts Bett ein, auf dem sie mit Jimmy saß. »Was macht ihr denn hier?«, fragte Hart, während er sein Gewehr sicherte. 357
»Ich habe Sie weggehen sehen«, sagte Jimmy. »Haben Sie die Sporthalle in die Luft gejagt?«, fragte Amanda, doch Hart runzelte nur die Stirn und schwieg. »Waren Sie überhaupt dort?«, insistierte das Mädchen. Hart nickte. »Waren da chinesische Soldaten, wie ich es Ihnen gesagt habe?« Wieder nickte Hart zustimmend. Amanda und ihr Bruder grinsten sich an. Die Gerüchte über die in der Schule kampierenden Chinesen hatten sich bestätigt. »Haben Sie irgendwas gemacht?«, hakte Jimmy nach. Erneut nickte Hart. »Was denn?« »Jetzt hört mal gut zu!«, schnappte Hart. »Ich will nicht darüber reden, okay?« Die beiden wirkten gekränkt. Verärgert sagte Amanda: »Wenn wir morgen zur Schule gehen, werden wir es ja sehen.« Hart schwor sich, weiterhin Stillschweigen zu bewahren. »Haben Sie wenigstens ein paar getötet?«, beharrte der erzürnte Jimmy. Wieder nickte Hart, aber er sagte immer noch nichts über die ruhmlose Schlacht, die er gerade gewonnen hatte. Er drängte die beiden zur Tür, und Jimmy kletterte als Erster aus dem Sturmschutzkeller. Amanda blieb noch kurz stehen. »Ich habe mir Sorgen gemacht, dass die Türen vielleicht doch quietschen könnten.« »Geh jetzt«, sagte Hart, und das Mädchen gehorchte.
Fayetteville, North Carolina 23. November, 18 30 Uhr Ortszeit »Mann«, sagte Stephie, die auf einem Hügel stand, von dem aus man ein schmales Tal übersah. »Das müssen hunderte sein.« Wegen der warmen Nachmittagssonne verströmten die Leichen einen Übelkeit erregenden, süßlichen Geruch. Animal spuckte auf die toten Chinesen. Am Fuß des Hügels sicherte das Third Platoon die Arbeit von Pionieren, die das riesige chinesische Nachschubdepot für die Sprengung vorbereiteten. Zwischen Treibstofftanks, Lebensmitteldepots und Lagern mit frisch eingetroffener Winterkleidung fuhren Gabelstapler umher, die gleichmäßig Paletten mit chinesischer Munition verteilten. 358
John Burns betrachtete die Leichen in der schmalen Senke zwischen zwei Hügeln. »Die sind mit Maschinengewehren erschossen worden«, sagte er. »Vielleicht sollten wir ein paar Nachrichtenoffizieren Bescheid sagen, bevor wir uns zurückziehen«, schlug Stephie vor. Animal begann, auf die Toten zu urinieren. »Zieh deinen elenden Reißverschluss zu!«, bellte John. »Verdammter Idiot!«, brüllte Stephie. Überrascht blickte Simpson die beiden an. »Das sind doch nur tote Chinesen.« »Ihre Hände sind mit Kunststoffstreifen auf dem Rücken gefesselt«, sagte John, während er auf die Leichen zeigte. »Auf dem Rücken! Außerdem sind sie barfuß! Die sind massakriert worden!« Schweigend zog Simpson seine Hose wieder zu, doch sein gesenkter Kopf verriet eine stille Entschuldigung für sein schändliches Verhalten. Jetzt gab Ackerman über das Funknetz der Kompanie den Befehl durch, das Nachschubdepot in die Luft zu jagen und dann aufzubrechen. »Aus südlicher Richtung kommt ein chinesischer Gegenangriff mit gepanzerten Fahrzeugen.« John berichtete dem Kompaniechef detailliert über das von ihnen entdeckte Massaker, was Ackerman dazu veranlasste, seine Befehle zu ändern. Jetzt sollten sie die Stellung halten, bis Nachrichtenoffiziere der Brigade vor Ort waren. In den frühen Morgenstunden hatte die 41st Infantry Division einen taktischen Gegenangriff gestartet, bei dem sie über ein Dutzend Meilen tief durch die chinesischen Linien vorgedrungen war. Ihr Bataillon hatte ein wichtiges Ziel eingenommen – eben dieses Nachschubdepot einer ganzen chinesischen Heeresgruppe, das zu sprengen sie jetzt im Begriff waren. Was als blitzartiger Überfall mit schnellem Rückzug geplant war, verlängerte sich jetzt durch die Entdeckung des Third Platoons. »Ich verstehe das nicht«, sagte Stephie, die immer noch auf die stinkenden Leichen blickte. »Die sind doch schon seit ein oder zwei Tagen tot, und der Gestank ist in dem gesamten Nachschubdepot zu riechen. Sie haben sie hierher gebracht, sie erledigt und sich dann nicht mal die Mühe gemacht, sie zu beerdigen! Jeder, der hier durchgekommen ist, muss doch den Gestank bemerkt haben.« Sie zeigte auf das mit Tarnnetzen über359
spannte Nachschubdepot. »Jeder, der irgendwas mit dem Transport des Nachschubs zu tun hat, muss über das Gemetzel Bescheid wissen.« Da begriff Stephie endlich. Sie blickte John an, der nur wortlos nickte. Simpson beobachtete die beiden. »Sieht ganz so aus, als sollte ich hier irgendetwas besser nicht mitbekommen. Oder warum haltet ihr beiden plötzlich die Klappe?« »Das sind Deserteure«, erklärte Stephie. »Die Chinesen haben sie exekutiert und lassen sie einfach hier verrotten, damit die Lastwagenfahrer, die jedes Bataillon der gesamten Heeresgruppe besuchen, überall die Nachricht von dem Massaker verbreiten. Sämtliche Klamotten, die von ihnen ausgegeben werden, müssen nach getöteten Soldaten stinken.« Simpson fiel die Kinnlade herunter. »Das ist ganz schön hart«, sagte er, während er eine angewiderte Grimasse zog. Stephie lächelte kurz, überlegte es sich aber anders, als sie John anblickte, der sich mit zusammengekniffenen Lippen abwandte. Wieder hatten beide denselben Gedanken. »Allmählich wird mir das unheimlich«, sagte Simpson. »Vor zehn Minuten sollte ich mich noch wie der letzte Dreck fühlen, weil ich auf die Mistkerle gepinkelt habe, und jetzt amüsiert ihr euch hier, ohne ein Wort zu sagen.« »Hier amüsiert sich niemand«, sagte John. »Mir tun diese Männer Leid.« »Sie fangen an, in großer Anzahl Deserteure zu exekutieren«, erklärte Stephie. »Offensichtlich beginnen ihre Soldaten, massenhaft zu desertieren. Kapierst du es nicht?« Plötzlich verzogen sich die Lippen des Kolosses zu einem breiten Grinsen. »Ja, ich kapier’s. Echt super, Mann!« Brüllend rannte Animal den Hügel hinunter, um die anderen Soldaten des Platoons zu informieren. »He, kommt hoch und seht euch den Schlamassel an!« Stephie schnaubte belustigt und wandte sich dann John zu. Überrascht stellte sie fest, dass er mit geschlossenen Augen dastand und betete. Noch nie zuvor hatte Stephie ihn beten gesehen. Sie war völlig verdutzt. Er trug weder eine Kette mit einem Kreuz noch einen Davidsstern. Auch sonst deutete nichts darauf hin, dass er sich irgendeiner Religion verbunden fühlte. Sie senkte den Kopf, studierte aber weiterhin seinen Gesichtsausdruck. Zu gern hätte sie gewusst, warum er betete. 360
Als John den Kopf hob, formten ihre Lippen instinktiv das Wort »Amen«. Stephie wandte sich ihm zu. Sie standen jetzt dicht beieinander, doch keiner tat den letzten Schritt, um die schmale Lücke zwischen ihnen zu schließen. John schaute auf Simpson, der wie ein Touristenführer einer Horde Grünschnäbeln erklärte, was für eine bedeutende Entdeckung er ihnen gleich präsentieren würde. »Voilá«, sagte der grobschlächtige Koloss mit einer ausladenden Geste. »Dieses Massengrab verrät uns, dass der Sieg unser ist, Kinder. Sie beginnen, sich gegenseitig umzulegen.« Ein weiblicher Grünschnabel taumelte, wankte ein paar Schritte vor, beugte den Oberkörper und erbrach sich. Stephie vermutete, dass dies nach dem stundenlangen Gefecht auf einen nervösen Magen zurückzuführen war. Doch dann stolperten zwei weitere Ersatzleute los, um sich zu übergeben. Jetzt begriff Stephie, wie sehr sie sich verändert und sich an den Anblick und den Gestank des Todes gewöhnt hatte. »Was zum Teufel ist denn mit euch los?«, fragte Animal missbilligend. »Das sind doch nur ein paar tote Chinesen!« Eine amerikanische Soldatin chinesischer Abstammung starrte erst Simpson, dann die verwesenden Leichen der jungen Chinesen an. Schließlich wandte sie sich um und stapfte auf das Munitionsdepot zu. »He, ich bin kein Rassist!«, rief Simpson ihr nach. Doch dann begann der Koloss höhnisch zu kichern. »Muss ihre Tage haben, die Schlampe«, murmelte er vor sich hin. Die anderen Neuankömmlinge gaben sich Mühe, den Blick nicht von der grässlichen Szenerie abzuwenden. Offensichtlich hielten sie das Ertragen dieses Anblick des für eine weitere Etappe auf dem Weg zum abgebrühten Veteranen. »Also dann!«, rief Simpson, der mittlerweile die Nase voll hatte von den Gaffern. »Ende der Vorstellung, alle zurück auf eure Positionen!« Hinter den Hügeln, an der anderen Seite der gesäuberten Kreuzung von zwei Highways, wo das Nachschubdepot errichtet worden war, begannen jetzt Panzergeschütze zu feuern, und aus dem bedeckten Himmel stießen amerikanische Raketen herab, die unter den Wolkenschichten kreisten. Als ihre Kameras die angreifenden chinesischen Panzer entdeckt hatten, schossen sie auf eine Stelle direkt über Stephie zu, um hunderte kleinerer Raketen freizusetzen, die dann direkt hinter einem eine Meile entfernten 361
Hügelkamm in die Tiefe stießen und dort dutzende Panzer zerstörten. Diese Raketen waren so programmiert, dass sie bei der Zuweisung von Zielen mit anderen Raketen kooperierten, um zu vermeiden, dass ein Objekt doppelt angegriffen wurde. Das Netzwerk der winzigen Computer überlebte den Angriff nur ein paar Sekunden lang. Hatten sich die Raketen durch die dünne Dachpanzerung der Kampffahrzeuge gebohrt, zerstörten sich die Computer von selbst. Jetzt bremste am Rand des Waffendepots ein Humvee. Angesichts der im nächsten Tal wütenden Kämpfe kamen die Nachrichtenoffiziere der Brigade im Laufschritt den Hügel hoch. Einer setzte eine Gasmaske auf, um in der Mulde die Leichen zu untersuchen. Die anderen hatten Kameras und auf Mikrowellen arbeitende Kommunikationsgeräte dabei, die sie am Rand des Hügels über der kleinen Schlucht abstellten. Alle hatten es sehr eilig und blickten wiederholt zu dem Hügelkamm hinüber. Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, John und Stephie zu begrüßen. Fast schien es, als fürchteten sie, an der Front stecken zu bleiben. Als ein Mann die Trägerfrequenz an seinem Mikrowellen-Funkgerät eingestellt hatte, um die Bilder zu übermitteln, begann ein anderer zu filmen. Er schwenkte seine kleine Handkamera über die Leichen und bediente mehrfach das Zoom, um Nahaufnahmen zu machen. Ackerman rief John zu einem Treffen der Abteilungsführer der Kompanie, und Stephie forderte Animal auf, seine Squad zusammenzutrommeln, damit sie sich zu ihren Linien zurückziehen konnten. Als die Kamera Stephie erfasste, winkte sie.
Bessemer, Alabama 23. November, 2300 Uhr Ortszeit Amanda klopfte an die Tür des Sturmschutzkellers und weckte Jim Hart auf diese Weise. Sie bat ihn ins Haus ihrer Eltern. »Was ist los?«, fragte Hart, während er Amanda durch die kalte, finstere Nacht folgte. »In der Schule gibt’s jede Menge Ärger«, antwortete das Mädchen mit gesenktem Kopf. »Was für Ärger?«, fragte Hart. 362
»Sie suchen nach dem Täter und verhalten sich ganz schön ekelhaft«, erläuterte Amanda. »Es ist nicht mehr so wie vorher, sie haben die Schnauze voll.« Und das konnte man auch von Amandas Eltern sagen. »Die Chinesen suchen Sie überall!«, schrie der betrunkene Familienvater, der nervös in der Küche auf- und abging. Hart setzte sich zu den anderen Familienmitgliedern an den Küchentisch. »Und ich kann’s ihnen nicht verdenken! Mist! Sie haben dreihundert Chinesen ermordet, als wären sie Ungeziefer!« »Das ist schließlich sein Job«, widersprach Jimmy. »Du hältst die Klappe!«, herrschte der Vater seinen Sohn an. Dann wandte er sich wieder Hart zu. »Die stellen alles auf den Kopf, um Sie zu finden. Menschen sind aus ihren Häusern verschleppt worden, und einen Mann haben sie vor dem Gerichtsgebäude gehängt, weil er Lebensmittel für seine Familie geklaut hat. Das alles geht auf Ihr Konto.« Hart nickte. Er war in den letzten beiden Nächten unterwegs gewesen, und dabei war ihm die zunehmende Anzahl chinesischer Patrouillen aufgefallen. In der vergangenen Nacht hatte er auch die Bestände seines Depots überprüft und dabei festgestellt, dass sie erheblich geschrumpft waren. Für mehr als ein halbes Dutzend Einsätze hatte er sowieso kein Material mehr. »In Ordnung«, sagte Hart. »Vermutlich ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo ich verschwinden sollte.« Diese Ankündigung löste einen kleinen Aufruhr aus. »Nein!«, rief Jimmy aus. Amanda warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu, während der Vater triumphierend die Flasche an den Hals setzte. »Wohin wollen Sie denn?«, fragte die Mutter. »Zurück zu unseren Linien«, antwortete Hart. »Zurück nach Amerika.« Diese Ankündigung rief eine noch weiter gehende, wenn auch leise Reaktion hervor. »Wir kommen mit«, sagte die ausgemergelte Frau. »Wie bitte?«, brüllte der Ehemann. »Zum Teufel, was redest du da?« »Hier kann man keine Kinder mehr großziehen«, sagte die Frau fest. »Dann willst du sie also durchs halbe Land schleppen, über die Front, mit einem Mann im Schlepptau, den die Chinesen suchen?« Sie nickte Hart zu. »Wenn er uns mitnimmt.« »Ich komme nicht mit!«, rief der Mann, ohne Harts Antwort abzuwarten. »Ich habe heute einen besseren Job als vor dem Krieg!« 363
»Ja, weil da nichts als bloße Anwesenheit gefragt ist«, erwiderte seine Frau prompt. »Mittlerweile kommst du schon besoffen von der Arbeit zurück.« »Hier sorge immer noch ich dafür, dass was zu essen auf dem Tisch steht.« »Mit Geld, das dir die Chinesen geben«, murmelte Amanda. Ihr Vater verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Ohne auch nur darüber nachzudenken, packte Hart die Kehle des Mannes und rammte ihn gegen die Wand. Der Atem des Familienvaters stank nach Alkohol. Harts fester Griff ließ ihm die Augen aus den Höhlen treten, doch fiel die Frau ihm in den Arm, um ihn sanft, aber eindringlich davon zu überzeugen, ihren Mann loszulassen. Amanda weinte. Hart beugte sich zu dem Mann vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. »Wenn Sie sie noch einmal anrühren, lege ich Sie um.« Dann ließ er den Mann los, der hustend in sich zusammensackte und sich die geröteten Druckstellen rieb, die Harts Würgegriff auf seinem unrasierten Hals hinterlassen hatte. Ohne Hart noch einmal anzublicken, taumelte er auf das Wohnzimmer zu, wo er den Deckel von seiner Schnapsflasche schraubte. Amandas Kopf lag auf ihren verschränkten Armen, und Hart beugte sich über sie und legte ihr behutsam eine Hand auf den Rücken. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Zu Harts Überraschung sprang sie blitzschnell auf. Er konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf ihr tränenüberströmtes Gesicht werfen, bevor sie schluchzend beide Arme um ihn schlang. Hart klopfte ihr sanft auf den Rücken und blickte Jimmy an, der mit zusammengebissenen Zähnen in Richtung Wohnzimmer starrte. »Von mir aus hätten Sie ihn ruhig verprügeln können«, sagte der Junge. »Jimmy!«, ermahnte ihn seine Mutter instinktiv. »Warum denn nicht?«, fragte Jimmy. »Er verprügelt mich und Amanda doch auch immer! Und dich auch, Mom.« Hart löste Amandas Arme von seinem Hals und schritt dann auf das Wohnzimmer zu, aber Amanda wollte ihn nicht gehen lassen. »Nein!«, flehte sie. Gemeinsam mit ihrer Mutter hielt sie Hart fest, der sich aber nicht durch ihre Hände, sondern nur durch ihre eindringlichen Bitten zurückhalten ließ. »Bringen Sie uns einfach hier raus!«, flehte Amanda flüsternd. »Nehmen Sie uns mit zurück nach Amerika.« 364
Weißes Haus, Lageraum 24. November, 7 45 Uhr Ortszeit Als sich der Raum nach dem Ende des Treffens des Nationalen Sicherheitsrats zu leeren begann, bat Bill den Techniker, den Schluss des Videos noch einmal abzuspielen. »Ich wünsche ein Standbild.« Der uniformierte Mann von der Air Force drückte einen Knopf auf seiner Konsole und spulte das Band dann im langsamen Suchlauf zurück, bis er das Bild erwischt hatte, von dem er wusste, dass der Präsident es sehen wollte: das Bild seiner Tochter. Als die Szene zum ersten Mal gezeigt worden war, hatten sich alle einen Kommentar verkniffen, aber es lief ein Flüstern um den Tisch, als die Tochter des Präsidenten auf dem Bildschirm erschien. Jetzt studierte Bill erneut das simultan auf vier Wandbildschirmen sichtbare Standbild. Stephie stand neben dem offenen Massengrab und winkte. Sie musste gewusst haben, das ihr Vater dieses Video sehen würde, und deshalb war klar, dass sie ihm zuwinkte. Sie war verschmutzt, und die ganze rechte Seite ihres Halses war von einem Verband verdeckt. Ihre Kampfstiefel waren schmierig, und die Seitentaschen der weit geschnittenen Hosen ihres Kampfanzugs drohten zu platzen. Obwohl Sie schlank war, wirkte sie durch die kugelsichere Weste stämmig. An ihrem Gurtwerk hingen drei Feldflaschen, dutzende Munitionstaschen, an Tannenzapfen erinnernde Handgranaten, kurze 40mmGranaten, ein Messer, eine Taschenlampe und verschiedene kleine Werkzeuge mit Plastikklammern. Ihr Helm war von knapp daneben gegangenen Kugeln zerkratzt, und Bill bekam eine Gänsehaut angesichts der peinigenden Geschichten, von denen diese Schrammen kündeten. Stephie lächelte ansatzweise – ein Mundwinkel war hochgezogen –, während sie winkte. Auf Bill hatte das Bild eine fast körperlich spürbare Wirkung. Dies war dasselbe Mädchen, das er vor vierzehn Jahren auf dem von der Sonne verdorrten Rasen vor dem Haus ihrer Mutter am Strand von Mobile, Alabama, gesehen hatte. Damals flehte sie ihn an, zum Lunch zu bleiben, weil sie ihm so viel zu zeigen hatte. Sie rannte in ihrem Kinderzimmer herum und zog wahllos Zeichnungen, Puppen und Haarbürsten hervor. Es war ein verzweifelter Versuch, ihren Vater zu einem etwas 365
längeren Aufenthalt zu bewegen. Aber im Korridor vor der Tür ging Rachel auf und ab, die immer häufiger ihren Kopf durch die Tür steckte und sie anfunkelte. Da sie Bill nur eine halbe Stunde zugestanden hatte, tippte sie mit wutverzerrtem Gesicht auf ihre Armbanduhr, als Bill die ihm zugebilligte Besuchszeit überschritten hatte. Als Stephie sich auf dem Rasen vor dem Haus von ihm verabschiedete, versuchte sie zu lächeln, doch dieses Lächeln wirkte gezwungen. Und jetzt stand dasselbe Mädchen neben Bergen verwesender Leichen und war wiederum auf ähnliche Weise unfähig, ihrem Leben irgendeine Freude abzugewinnen. Als Frank Adams in der Tür erschien und ebenfalls auf seine Armbanduhr tippte, schien sich der Kreis irgendwie zu schließen. Während er einen letzten, langen Blick auf seine Tochter warf, winkte Bill ihrem Bild halbherzig zu. Er blickte durch den verdunkelten Konferenzraum zu dem Techniker hinüber, der schnell den Blick niederschlug und sich wieder auf seine Konsole konzentrierte. Bill stand langsam auf und ging auf den Aufzug zu. Er musste gegen eine Flutwelle der Depression ankämpfen, die das in sturmgepeitschter See fahrende amerikanische Staatsschiff, dessen Kapitän er war, zum Kentern zu bringen drohte. Während sie auf Präsident Baker warteten, unterhielten sich Clarissa und Vizepräsidentin Sobo im Korridor auf eine etwas gezwungene Weise. Das für beide Seiten nicht eben angenehme Gespräch zwischen der Geliebten des Präsidenten und seiner möglichen Nachfolgerin endete, als sie Bill den Korridor herabkommen sahen. Er wurde von seinem Militärberater aufgehalten. »Mr President«, flüsterte ihm der Lieutenant Commander der Navy zu. »Es ist uns gelungen, in gewissen Abständen Kontakt zu einem Colonel der Marines in Hawaii aufzunehmen, der Kommandeur der verbliebenen Soldaten aus allen vier Waffengattungen ist – insgesamt ungefähr zwölfhundert Männer und Frauen. Über Funk hat er Kontakt zu einigen der anderen Einheiten. Er bittet um Befehle, Sir.« Der Militärberater brauchte es nicht explizit zu sagen – offenbar erbat der Colonel die Erlaubnis, kapitulieren zu dürfen. »Ich würde gern mit ihm reden«, sagte Bill. »Nun, Sir, da bleibt nur die Kurzwelle. Es gibt atmosphärische Störun366
gen, und das schwache Signal kommt und geht, aber wir werden wohl in der Lage sein, ihn in ein paar Minuten wieder zu erreichen.« Bill nickte, dann ging er mit dem Militärberater auf die beiden wartenden Frauen zu. Clarissa warf ihm ein Lächeln zu, doch er schaffte es nicht, es zu erwidern. Im Moment war er unfähig, etwas anders als Trauer zu empfinden. »Der Secret Service wird es nicht zulassen, dass wir beide in denselben Helikopter steigen«, sagte Elizabeth Sobo. »Er wird uns nicht einmal gleichzeitig nach Andrews lassen. Mein Flugzeug wartet in Baltimore.« Als Bill durch zwei große Glastüren auf den südlichen Rasen des Weißen Hauses blickte, wurden diese von zwei Marines in Paradeuniform sofort geöffnet. »Sie nehmen Marine One«, sagte er. »Ich werde unseren noch auf Hawaii befindlichen Soldaten die Kapitulation befehlen. Wir treffen uns dann in Omaha.« Elizabeth Sobo lächelte Clarissa an. Frank Adams, Bills Stabschef, hatte sich dagegen ausgesprochen, Clarissa mitzunehmen, auch deshalb, weil das Unternehmen aus politischen Gründen absolut geheim gehalten worden war. Bei der jetzt anstehenden Generalprobe sollte das Befehls- und Kontrollsystem von Amerikas alternativem Kommandozentrum in Omaha getestet werden, und wenn Nachrichten darüber an die Öffentlichkeit drangen, konnte das der Moral der Nation erheblichen Schaden zufügen. Jetzt schweifte Elizabeth Sobos Blick durch die Gänge des Weißen Hauses mit ihren alten Porträts, den Nischen mit den Statuen und den dicken Orientteppichen. »Irgendetwas sagt mir«, bemerkte die Vizepräsidentin melancholisch, »dass die Unterbringung in Omaha spartanischer ausfallen wird.« »Das erinnert mich daran, dass die Spartaner bei den Thermopylen bis auf den letzten Mann getötet wurden«, antwortete Bill. »Vielleicht wecken Sie da doch etwas unglückliche Assoziationen.« Mit grimmigem Gesichtsausdruck dachte Elizabeth Sobo einen Augenblick über Bills Bemerkung nach. Schließlich erwiderte sie lapidar: »Vielleicht.« Dann wandte sie sich um und schritt durch die Tür, die die Marines wieder schlossen, während draußen die Triebwerke des Helikopters zu heulen begannen. Jetzt standen Bill, Clarissa und der Militärberater allein in dem Gang. »Dann werde ich mal den zweiten Hubschrauber überprüfen«, sagte der Lieutenant Commander. 367
Sobald sie allein waren, ergriff Clarissa das Wort. »Ich habe einen Brief bekommen, Bill. Ich bin die Zielperson einer Untersuchung des Justizministeriums nach dem National Secrecy Act.« Bill runzelte nur die Stirn. »Wusstest du davon?«, fragte Clarissa vorwurfsvoll. »Nein«, antwortete Bill. Er wusste einfach nicht, wie er die Wahrheit sagen und zugleich sein Versprechen Richard Fielding gegenüber halten sollte, nämlich zu schweigen. Aber Clarissa war viel zu klug, als dass ihr Bills Verstellung nicht aufgefallen wäre. Sie wirkte verletzt. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, wandte sie sich geschockt ab. »Clarissa, ich…«, begann Bill erneut, aber er unterbrach sich wieder. Sie schüttelte langsam den Kopf. Bill legte Clarissa eine Hand auf die Schulter. »Wir werden dir einen erstklassigen Anwalt besorgen.« »Ich habe bereits einen«, rief sie, während sie sich losriss. »Mein Vater hat mir einen besorgt!« Er wünschte sich so, sie trösten zu können und sie energisch und um jeden Preis zu beschützen. »Das ist doch offensichtlich ein politisch motivierter Trick«, versuchte Bill sie zu beruhigen. »Ich verspreche dir, dass das Weiße Haus mit aller Macht dagegen angehen wird.« Ihrem wütenden Blick konnte Bill entnehmen, dass sein Versprechen, sie zu unterstützen, offenbar nicht besonders überzeugend ausgefallen war. Obwohl die Glastüren geschlossen waren, hörte man jetzt draußen die Triebwerke von Marine One lauter werden. Während der Helikopter in den Himmel aufstieg, war das Heulen so laut, dass kein Gespräch mehr möglich war. Aber der verletzte Blick, mit dem Clarissa Bill ansah, sprach Bände. Eine heftige Explosion ließ Glas zersplittern und riss die beiden Marines an der Tür von den Beinen. Rein zufällig sah Bill in den Falten seines Anzugs Glassplitter glitzern, als er seine Arme um Clarissa schlang. Dann fiel ihm das Blut auf dem Hals und dem kahl geschorenen Schädel des Marine auf, der sich neben der Tür auf die Knie aufzurichten versuchte. Und dann hörte er den Aufprall des Hubschraubers, dessen sich immer noch drehende Rotorblätter sich in den Rasen bohrten. Starke Hände rissen Bill und Clarissa auseinander und stießen sie in entgegengesetzten Richtungen den Korridor hinab. Bill wurde von vier, fünf, schließlich acht Männern vom Secret Service eingekeilt, die ihn so brutal 368
antrieben, dass er keinerlei Widerstand leisten konnte. Sie packten sein Jackett so fest, dass sie ihn selbst dann aufrecht gehalten hätten, wenn er völlig in sich zusammengesackt wäre. Bill reckte den Hals und rief mehrfach lautstark nach Clarissa. Schließlich sah er sie an einer Biegung des Gangs. Ein einzelner Sicherheitsbeamter vom Secret Service mit schussbereiter Maschinenpistole wartete, während Clarissa sich auf den Orientteppich erbrach.
Roanoke River, North Carolina 25. November, 1115 Uhr Ortszeit Die Luft war kühl, aber der Rauch, ein Überbleibsel des Angriffs im Morgengrauen, hatte sich verzogen, und die Sonne drang durch den Dunst und wärmte Stephies Hals, ihre Arme und ihre Füße. Sie saß auf dem stinkenden Wrack eines chinesischen Panzers, den sie in der Nacht zuvor zerstört hatten. Vor ihr lag der gewundene Strom, dessen Wasser gemächlich um die Biegungen seines Laufs floss. Stephies Socken lagen auf dem ausgebrannten Panzer, der immer noch warm war. Ihre durchnässten Stiefel, mit denen sie während der Inspektion des Gefechtsfelds in den Fluss gewatet war, standen mit zurückgezogenen Zungen zum Trocknen auf dem Panzer. Da ihre Kopfhaut juckte, hatte Stephie ihren Helm abgesetzt. Jetzt las sie eine Zeitung, die sie dem Piloten eines Sanitätshubschraubers abgeschwatzt hatte. In den hektischen Minuten nach dem Gefecht hatte sie nur einen flüchtigen Blick darauf werfen können. Nachdem sie Sergeant Chambers in den gut ausgestatteten Sanitätshubschrauber verfrachtet hatten, sah sie durch die Plexiglasscheibe der Kanzelhaube das Foto des auf dem Rasen vor dem Weißen Haus abgestürzten Helikopters Marine One. Nun las sie den Artikel unter der fetten Schlagzeile, die die Titelseite der Washington Post dominierte: »Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten fällt einem Attentat zum Opfer.« Darunter stand zu lesen: »Wahrscheinlich war Präsident Baker das Ziel des Anschlags.« In dem Artikel stand, Stephies Vater und seine Geliebte seien mit heiler Haut davongekommen, weil in letzter Sekunde die Pläne geändert worden seien. Eine eingehendere Analyse weiter unter auf der Seite warnte davor, 369
automatisch davon auszugehen, dass die Chinesen für den Mord verantwortlich waren. Der Verfasser des Artikels wies darauf ihn, dass in Washington schon seit Wochen Gerüchte über einen Staatsstreich kursierten. Davon hörte Stephie allerdings zum ersten Mal. Sie war geschockt. Ein Staatsstreich?, fragte sie sich ungläubig. Ein Putsch? Für einen Moment blickte Stephie von der Zeitung auf, um sich zu vergewissern, ob ihr nunmehr routiniertes Platoon das Gefechtsfeld auch gründlich säuberte. Ihre Leute zogen chinesische Gewehre aus dem Wasser, wanden den Toten Pistolengriffe von Maschinengewehren aus den Händen und kletterten auf gepanzerte Kampffahrzeuge, um schwere 12.7mm-Geschütze und automatische Granatpistolen abzumontieren. Weil allen klar war, dass sie sich wieder zurückziehen würden, überließen sie es den Chinesen, die Leichen ihrer Landsleute zu begraben. Erneut wandte sich Stephie der Zeitung zu. Die Ermittlungen lagen in den Händen des FBI. »Du solltest besser deinen Helm aufsetzen«, sagte John, der durch das seichte Wasser am Ufer auf Stephie zukam. Stephie blickte ihn an. »Wo ist Becky?« »Das ist das erste Mal, dass du diese Frage stellst«, antwortete John. »Keine Ahnung, wo sie sich rumtreibt. Vermutlich im Hauptquartier der Kompanie. Setz deinen Helm auf.« Stephie zeigte auf den Horizont. »Wir haben unsere Patrouillen drei Meilen weit nach Süden geschickt. Ich höre nichts von ihnen.« Das Flusswasser plätscherte gegen die Reifen. »Ist mit dem Panzer alles in Ordnung?«, fragte John. »Hab’ ich noch nicht überprüft.« »Findest du nicht, dass du das unbedingt tun solltest, bevor du dick darauf setzt und deinen kleinen Urlaub vom Krieg nimmst?« Wütend ließ Stephie die Zeitung fallen und legte ihr Gewehr wie einen Briefbeschwerer darauf. Mit eingeschalteter Taschenlampe spähte sie durch die Luke des Panzers, der völlig ausgebrannt und verkohlt war. Hinter dem schweren Geschütz waren noch die völlig deformierten Überreste von drei Männern zu erkennen. »Alles in Ordnung!«, rief Stephie, während sie nach ihrer Sprühdose griff und den Turm des Panzers mit einem großen weißen X markierte. 370
Dann setzte sie sich wieder, um mit der Lektüre der Washington Post fortzufahren. John kletterte auf den Panzer und setzte sich neben sie. »Was ist bloß in dich gefahren?«, fragte er. »Die gleiche beschissene Frage könnte ich dir auch stellen«, antwortete Stephie, ohne von der Zeitung aufzublicken. Jetzt schwieg John länger, sodass sich Stephie die Gelegenheit bot, ihn verstohlen zu beobachten. Er starrte auf einen Kasten links unten auf der Titelseite, wo die Namen der Vizepräsidentin, ihrer Berater und der Männer vom Secret Service aufgelistet waren, die bei dem Anschlag ihr Leben verloren hatten. Darauf war sein Blick auch vorhin gefallen, als Stephie zum ersten Mal aufgesehen hatte. Wie vorhin wirkte er betroffen. Ihre Blicke trafen sich. Ihre Gesichter waren nicht weit voneinander entfernt. »Mach dir keine Sorgen, deinem Vater wird schon nichts passieren«, sagte John. »Aber hier steht was von einem Putsch.« »Für seine Sicherheit ist viel besser gesorgt als für deine«, antwortete John, während er Stephie den Helm auf den Kopf setzte. Sie überrumpelte ihn mit einem Kuss. Dann begann sie, ihre mittlerweile getrockneten Socken anzuziehen.
Weißes Haus, Wohntrakt 25. November, 23 30 Uhr Ortszeit »Du musst vorsichtig sein, Dad!«, hallte Stephies Warnung durch Bills Gedanken. Seine Tochter hatte ihm eine V-Mail geschickt, die er am Computer betrachtet harte. »Am besten reist du nirgendwo hin, es ist zu riskant! Bleib im Weißen Haus, und verdopple oder verdreifache die Zahl deiner Sicherheitsbeamten! Vertrau niemandem mehr. Behandle jeden wie einen Verräter, denn einen gibt es mit Sicherheit in deiner Umgebung.« Schon bevor er das Schlafzimmer betrat, war Bill klar, dass Clarissa noch wach war. Er hatte Licht durch die Ritze unter der Tür dringen sehen. Dennoch drehte er den Türknauf sehr vorsichtig und leise. Clarissa presste mit beiden Händen die Steppdecke an ihr Kinn. Ihr 371
Kopf lag etwas höher, da sie das Kopfkissen am Ende des Betts aufgestellt hatte. Sie begrüßte Bill nur mit einem flüchtigen Augenaufschlag und einer nichts sagenden Handbewegung. Unter der Steppdecke bewegten sich ihre Zehen permanent auf und ab. »Wie geht’s?«, fragte Bill. »Gut«, antwortete sie ein bisschen zu schnell. Sie hatte auf ihn gewartet und war hellwach. Schweigend begann Bill, sich auszuziehen. Er legte seine Manschettenknöpfe auf eine kleine Schale auf der Kommode und blickte dabei in den Spiegel. Clarissa starrte ihn an. Er wandte sich zu ihr um. »Ist wirklich alles in Ordnung?« »Aber natürlich!«, sagte sie ohne eine Spur von Sarkasmus. Ihre Zehen wackelten pausenlos. Der von der Nachttischlampe geworfene Schatten ihres sich unruhig bewegenden Körpers verstärkte den Eindruck, dass sie Angst hatte. Unter der Lampe auf dem Nachttisch lagen auf einem Schnellhefter ein paar Papiere, die Bill bisher noch nicht aufgefallen waren. Nachdem er seine Anzugjacke ausgezogen hatte, ging er in Hemdsärmeln zu Clarissa hinüber und küsste sie auf die Lippen, aber es lag keine Leidenschaft darin. »Was sind das für Papiere?«, fragte er, während er zum Nachttisch blickte. »Nur eine gerichtliche Vorladung«, sagte sie, als handelte es sich um eine Lappalie. Bill griff nach den Unterlagen. Clarissa wurde unter Strafandrohung vom Bundesbezirksgericht des District of Columbia in Washington vorgeladen, um dort eine Zeugenaussage zu machen. Oben auf der Vorladung wurde lediglich lakonisch verkündet, dass In Sachen der Vereinigten Staaten von Amerika verhandelt werde. Halbwegs informativ waren nur eine Berufung auf den National Secrecy Act und eine ausführliche Passage auf der zweiten Seite, wo Clarissa – wie bei einer Verhaftung – über ihre in der Verfassung festgeschriebenen Rechte aufgeklärt wurde. »Was ist das?«, fragte Bill. »Keine Ahnung!«, platzte es aus der niedergeschlagen wirkenden Clarissa heraus. Bill nahm sie in die Arme, und sie brach in Tränen aus. »Mach dir keine 372
Sorgen, mach dir keine Sorgen«, wiederholte er in einem ruhigen, besänftigenden Ton. »Mach dir keine Sorgen, Clarissa.« Ihr Schluchzen ließ nach. Sie sank wieder gegen das Kissen zurück. Als Bill sich weiter auszog, spürte er erneut ihren Blick, der seinen Rükken zu durchbohren schien, und als er dann zu ihr ins Bett kam, saß sie immer noch in derselben Haltung da, wie er sie beim Eintreten in das Schlafzimmer vorgefunden hatte. Ihre Zehen bewegten sich auf und ab, auf und ab. Er blickte sie an. Clarissa reagierte, als hätte sie etwas vergessen, und schaltete die Nachttischlampe aus. Bill streckte die Arme aus, um sie zu trösten, doch sie legte sich unverzüglich auf ihn und begann, seine Stirn und Augen zu küssen. Dann küsste sie ihn mit offenem Mund und presste sich immer leidenschaftlicher gegen ihn.
Bessemer, Alabama 29. November, 9 30 Uhr Ortszeit Sie hatten gewartet, bis der Mond nur noch eine schmale Sichel war und das Wetter hinlänglich klar zu sein schien. Hart hatte sein Waffendepot verdrahtet, um es vor seiner Rückkehr in das freie Amerika in die Luft zu jagen. Der Mann von den Green Berets, die arbeitslose Kellnerin, das junge Mädchen, das sich in Hart verknallt hatte, und der Junge, für den er ein Held war, verließen den betrunkenen Ehemann und Familienvater, der schweigend in der Haustür stand. Schon vor Stunden hatte der Mann mit seiner Flucherei aufgehört, um nach und nach zu Mitleid erregenden, flehenden Bitten überzugehen, mit denen er seine Familie zum Bleiben überreden wollte. Der einzige Trumpf des Mannes war der gewesen, seine Frau und seine Kinder verprügeln zu können, doch damit war es seit jener mittlerweile sechs Tage zurückliegenden Nacht in der Küche vorbei, als Hart ihn zur Räson gebracht hatte. Niemand hatte auch nur den leisesten Zweifel daran, dass Hart ihn bei der geringsten Provokation töten würde, und das stimmte auch. Jimmy hatte sich tapfer gehalten, als sein Vater ihn als wertloses und unbrauchbares Miststück beschimpfte, obwohl ihm klar war, dass der neben ihm ste373
hende Hart ihm das Genick brechen würde, wenn er auch nur eine Hand erhob. In der angespannten Atmosphäre dieser paar Tage, in denen die Familie zerbrach, bemerkte Hart Amandas Blick. Ihrer Mutter war schon viel früher aufgefallen, dass ihre Tochter in Hart verliebt war, und sie hatte es diesem durch einem strengen und wissenden Blick zu verstehen gegeben. Tatsächlich war ihr Blick so streng, dass Hart die Mutter in der Küche aufsuchte. »Sehen Sie, wegen Amanda…« »Sie ist zu jung.« »Was? Nein! Ich wollte doch nur sagen, dass sie sich einfach in mich verguckt hat. Guter Gott, ich bin einunddreißig!« »Sie sehen aber nicht danach aus«, antwortete die Mutter misstrauisch. »Dann ist also nichts passiert?« »Wie bitte? Um Himmels willen, nein!« Es war ein furchtbares Gespräch, das einen noch länger anhaltenden und etwas unangenehmen Nachgeschmack hinterließ. Offensichtlich war die Mutter noch immer unzufrieden mit Harts Auskunft, Amanda habe ihn – genau wie Jimmy – nur deshalb so häufig in dem Sturmschutzkeller besucht, weil sie sich mit ihm unterhalten wollte. Die Mutter behielt ihre Tochter weiterhin im Auge, was von dieser mit wütenden Blicken quittiert wurde. Jetzt wanderten sie, mit Proviant für zwei Wochen in den Rucksäcken, zu viert über die dunklen Hügel. Tagelang hatten sie darüber diskutiert, ob sie sich als Familie ausgeben sollten, wobei Hart die Rolle des Familienvaters übernommen hätte. Wiederholt machte Amanda angesichts dieser Aussichten verbitterte Bemerkungen, die stets von höhnischem Gelächter begleitet waren. »Du sollst seine Frau sein?« Später erzählte Jimmy Hart unter vier Augen, dass Amanda ihrer Mutter vorgeschlagen hatte, sie übernehme die Rolle von Harts Frau und die Mutter die der Großmutter. Jimmy lachte, als er Hart von der darauf folgenden, erbitterten Auseinandersetzung erzählte, doch dann kam er zum eigentlichen Grund für das Gespräch. »Ich meine, wir gehen quer durchs Land, und Sie tragen die Uniform und haben das Gewehr… Ist nicht so, dass wir uns direkt vor denen verstecken, oder? Na ja, und ich bin mit dem Jagdgewehr absolut Spitze! Erst neulich habe ich aus fast dreihundertfünfzig Metern Entfer374
nung einen Rehbock erledigt! Ich würde mein Gewehr wirklich gern mitnehmen, und zwar geladen.« Als Hart nicht antwortete, ließ der Junge niedergeschlagen den Kopf hängen. Hart konnte den traurigen Blick beinahe nicht ertragen. Fast mit Tränen in den Augen sprach der Junge weiter. »Ich fühl’ mich echt beschissen.« Er sprach leise, und seine Stimme zitterte. »Einfach unser Zuhause im Stich lassen und wegrennen, ohne zu kämpfen.« Jetzt liefen ihm tatsächlich Tränen über die Wangen. Hart musste ihm erklären, dass sie versuchen würden, jeder Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Dann setzte er dem Jungen auseinander, dass sie wahrscheinlich alle sterben würden, wenn man sie entdeckte, und dass er seine Waffe nur für den Notfall mitnahm. Es sei ja immerhin denkbar, dass ihm nur die Möglichkeit bliebe, einen Wachtposten zu töten, was ihm dann hoffentlich möglichst lautlos gelänge. Jetzt erreichten sie die in der Finsternis vor ihnen liegende Landstraße. Hart ließ Ausrüstung und Waffe fallen und kletterte über den Stacheldrahtzaun. Die anderen reichten ihm seine Sachen, dann gab Jimmy ihm seinen Rucksack und sein Jagdgewehr. Hart nahm beides und wartete, bis Jimmy neben ihm in dem Straßengraben stand. Dann war die Mutter an der Reihe. Hart nahm ihren Rucksack und half ihr über den Zaun, während die Klammern, die den Draht an den Pfosten hielten, ächzend nachzugeben begannen. Als er Amanda auf dieselbe Weise half, brach der Zaun zusammen, und sie stürzte in Harts Arme. Hart wurde einen Schritt zurückgeschleudert. Unablässig starrte ihn das Mädchen an. »Vorsicht!«, mahnte die Mutter aus der Finsternis. Amandas Miene verriet Hart, dass das Mädchen in Gedanken die Rolle spielte, die ihr ihre Mutter verweigert hatte.
Bundesbezirksgericht, Washington 2. Dezember, 9 30 Uhr Ortszeit »Nennen Sie bitte Ihren Namen«, sagte der stellvertretende Bundesanwalt der Vereinigten Staaten. »Clarissa Jane Leffler«, antwortete Clarissa, die in einem schmuddeli375
gen Raum der aus zwölf schweigenden Anklägern bestehenden Jury gegenübersaß. Die meisten Mitglieder der Jury waren alt, weiblich und schwarz und blickten sie teilnahmslos an. Was mochte wohl in ihren Köpfen vorgehen? Welche Beweise hatte das FBI wohl vor ihrer Vorladung präsentiert? Der Staatsanwalt, der Clarissa draußen auf dem Gang mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt hatte, verhielt sich jetzt kühl und korrekt. »Und wo wohnen Sie gegenwärtig?« »Gegenwärtig?«, fragte Clarissa. Er nickte. »Nun… Ich schätze, im Weißen Haus.« Die meisten Mitglieder der Anklagejury fanden diese Antwort bemerkenswert genug, um sich bedeutungsvoll anzublicken. War das Ganze nur Schnickschnack oder bewies es irgendeine bedeutsame Behauptung aus der Anklage? Tagelang hatte sich Clarissa mit ihren Rechtsanwälten beraten, doch diese hatten keine Ahnung, was für Fakten Hamilton Asher zusammengetragen haben mochte, die Clarissa in juristischer Hinsicht in Gefahr bringen konnten. Und wie hätten sie es wissen können? Clarissa hatte ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Der zögerliche Untersuchungsbeamte – Mitte dreißig, kurzes Haar, Brille, konservativer Anzug mit zugeknöpftem Jackett – machte mit den einleitenden Fragen ihrer Vernehmung weiter. Geburtsdatum, frühere Wohnsitze, Detailfragen über ihre Ausbildung und berufliche Karriere. Schließlich war er bei ihrem gegenwärtigen Job angelangt, und damit begann offensichtlich die zweite Phase der Vernehmung. »Haben Sie als Chefin der China-Abteilung im Außenministerium Zugang zu geheimen Informationen, die die nationale Sicherheit betreffen?« »Ja, natürlich«, antwortete Clarissa und trank einen Schluck des von der Regierung spendierten Wassers. Sie räusperte sich. »Ich habe Zugang zu Top-Secret-Informationen.« Der Mann vermittelte den Eindruck, auf ihrer Seite zu sein und sie insgeheim tatkräftig zu unterstützen. Er ging auf seinen Tisch zu, als wollte er seine Notizen holen, doch dann überraschte er Clarissa, indem er ihr eine Frage stellte, während er ihr noch den Rücken zukehrte. »Mrs Leffler, haben Sie jemals ein nicht genehmigtes Gespräch über geheime militärische Informationen geführt?« Jetzt ist es raus, dachte Clarissa. »Wie bitte?«, sagte sie, obwohl sie die Frage deutlich verstanden hatte. Der Untersuchungsbeamte wiederholte sie 376
Wort für Wort, und Clarissa hob verwirrt den Kopf. Das war ihre Chance. Er bot ihr die Gelegenheit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Sich alles von der Seele zu reden und sich von dem Gift zu befreien, das in jede Zelle ihres Körpers eingesickert war, bis sie sich schließlich von Kopf bis Fuß krank fühlte. Dann würde sie ihr eigenes Leben und auch das ihres Vaters zerstören und die nächsten Jahre – wie viele es auch sein mochten – im Gefängnis verbringen. »Nein!«, antwortete Clarissa. »Sie wollen wissen, ob ich jemals mit irgendjemandem über militärische Geheimnisse diskutiert habe? Nein, habe ich nicht. Niemals.« Das schien den Beamten zu befriedigen, der dieses Thema daraufhin außer Acht ließ. Tatsächlich stellte er überhaupt keine irgendwie substanziellen Fragen mehr. Ein paar Minuten später war die Vernehmung beendet.
Tennessee River, Alabama 4. Dezember, 2045 Uhr Ortszeit Nachdem sie vier Nächte durch die finstere Hügellandschaft von Nordalabama marschiert waren und fünf Tage unter Harts Schutzdecken verbracht hatten, die gegen die Entdeckung durch Infrarotdetektoren abschirmten, waren die drei Zivilisten völlig erschöpft. Zuerst war das Wetter mild gewesen, dann bitterkalt. Jetzt war es wieder mild, und der stetige Wetterumschwung machte das Leben unter freiem Himmel zu einer echten Herausforderung. Dennoch waren sie relativ gut vorangekommen, und Hart fragte die anderen, ob sie für den Rest der Nacht ausruhen wollten. Alle schüttelten einmütig den Kopf, und sie marschierten weiter. Nach relativ kurzer Zeit erreichten sie den Fluss Tennessee, wo Hart eine Spezialkarte zu Rate zog, auf die er sich nur äußerst ungern verließ, weil die gleiche Karte auch von anderen Männern der Special Forces benutzt wurde, die hier im Süden aktiv waren. Und das hieß, dass auch die Chinesen im Besitz dieser Karte waren, die sie zweifellos Harts zahllosen toten Kameraden entwendet hatten. Aber die Karte war einzigartig, weil sie Eigenheiten des Terrains verzeichnete, die auf normalen Karten wahr377
scheinlich schon längst nicht mehr berücksichtigt wurden. Sie folgten dem gewundenen dunklen Fluss, bis sie schließlich auf Gleise mit verrosteten Signalmasten stießen. Wegen einer neueren Brücke, die ein paar Meilen weiter flussaufwärts lag, war dieser Abschnitt der Bahnstrecke aufgegeben worden. Amanda hatte Hart flüsternd angefleht, sie nicht allein zurückzulassen, doch Hart versteckte die drei Lipscombs an einem zugigen Ort hinter einem Bergkamm. Vorsichtig schlich er los, um die Lage zu sondieren. Nachdem er sein Fernglas von Restlichtverstärkung auf Infrarotbetrieb umgestellt hatte, überprüfte er die Brücke und die beiden Ufer des Flusses. Zwar hatten sie schon mehrere Flüsse überquert, doch dieser Strom war der breiteste. Harts Spezialkarte hatte das Geheimnis bewahrt: Durch die aufgegebene Eisenbahnbrücke würden sie ein Hindernis hinter sich lassen, das ansonsten unüberwindbar gewesen wäre. Alle neueren Brücken – ob für Züge oder Autos – wurden von einem großen Aufgebot chinesischer Soldaten bewacht. Aber ihre kleine Gruppe würde sich für einen weniger häufig benutzten Übergang entscheiden. Hart zog einen Emissions-Richtmonitor hervor, der im ausgeklappten Zustand an eine gabelförmige Dachantenne erinnerte. Nachdem er die Schutzkappen von den Infrarot- und Magnetfeld-Detektoren abgeschraubt hatte, schaltete er die Stromversorgung ein. Dann schwenkte er den Monitor über die Eisenbahnbrücke und ihre Zugänge zu beiden Seiten des Flusses. Die kleine LED-Anzeige über dem Pistolengriff leuchtete grün. Bisher hatten die Chinesen noch keine elektronischen Überwachungsgeräte an den Gleisen installiert. Als Hart wieder zu dem Felsvorsprung zurückgekehrt war, wo er die Lipscombs zurückgelassen hatte, waren diese verschwunden. Er wurde von Panik erfasst. Um ihn herum schien die Finsternis lebendig zu werden. Nur noch von seinen Instinkten geleitet, lief Hart los. Bald hörte er Gelächter und Männerstimmen. Es roch nach verbranntem Holz. Fast wäre Hart das Herz aus der Brust gesprungen. Er ging in die Richtung des Gelächters. Seine Fantasie produzierte Bilder, die die Geräusche erklären konnten, und diese Gedanken ließen eine kalte, mörderische Wut zurück. Sie waren geliefert, er und die Lipscombs. Aber vorher würde er noch die Chinesen töten. Die Chinesen hatten ihr Lager in einer kleinen Mulde aufgeschlagen, die 378
durch hohe Felswände und Bäume vor dem schneidend kalten Wind geschützt war. Sie hatten ein helles Lagerfeuer entzündet, um das in einem Halbkreis auf Baumstämmen ein Dutzend rauchender und lachender chinesischer Soldaten saßen. Zwei Männer hielten Mrs Lipscomb in halb liegender Stellung zwischen sich fest, doch die meisten richteten ihre Aufmerksamkeit auf die im Licht des Feuers tanzende Amanda. Mühsam versuchte Hart, das Problem aus militärischer Perspektive zu analysieren. Er zählte zehn Männer. Würden die Chinesen eine solche Gruppe von Infanteristen durch MG-Schützen oder Soldaten mit Lenkwaffen verstärken? Hart sah nur neben den Chinesen liegende Gewehre. Und warum sollten sie eine solche Infanterieeinheit auch verstärken? In militärischer Hinsicht hatte die Brücke keinen Nutzen. Diese Soldaten sollten fliehende Zivilisten aufhalten und nicht etwa gegen amerikanische Soldaten kämpfen. Sollte es hier Soldaten mit MGs oder Lenkwaffen geben, würden diese zweifellos mit am Lagerfeuer sitzen, weil sie Amandas Auftritt nicht verpassen wollten. Ein Soldat stach mit der Spitze des an seinem Gewehr montierten Bajonetts nach Jimmy, während ein anderer ihm den Mund zuhielt und ihn mit den Absätzen seiner Stiefel am Boden hielt. Alle Augen richteten sich auf Amanda, die wie in Zeitlupe tanzte. Eigentlich fehlte nur die Musik. Jetzt begann sie schluchzend ihre Bluejeans auszuziehen. Hart konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Für welche Waffe sollte er sich entscheiden? Nahkampf, dachte er. Er griff nach der an seinem Rucksack befestigten Maschinenpistole, die er seit Kriegsbeginn noch nie benutzt hatte, und überprüfte das mit dreißig Patronen bestückte Magazin und die beiden Reservemagazine. Dann wartete er, bis Amanda unter großem Jubel der Chinesen ihre Jeans abgestreift hatte. Mit einem klackenden Geräusch zog er den Schlagbolzen zurück. Sein Plan war gefasst – wenn es nicht gut lief, musste er seine letzten Kugeln für Amanda aufsparen. Er stand auf und ging direkt auf das Lager zu. Als er den halben Hügel hinabgegangen war, wurde Hart klar, dass die Chinesen keine Zigaretten, sondern Marihuana rauchten. Der Soldat mit dem Bajonett stach Jimmy mit der scharfen Spitze, und Amanda begann, in der kalten Nacht ihr Flanellhemd aufzuknöpfen. Die beiden Männer, die die Mutter der beiden belästigten, hatten diese bereits halb ausgezogen. 379
Als Hart den Rand der Lichtung erreicht hatte, wurde er von einigen Soldaten entdeckt, die noch immer gut gelaunt grinsten. Doch damit sollte es schnell vorbei sein. Die aufbellende Heckler & Koch-Maschinenpistole in der Hand, marschierte Hart auf die Männer zu. Einige wurden von den Baumstämmen gefegt, auf denen sie saßen, andere warfen sich dahinter, um ihr Leben zu retten. Hart hielt die Waffe mit ruhiger Hand und feuerte von rechts nach links. Die Männer, die am dichtesten bei ihm waren, wurden von Kugeln durchsiebt. Der Soldat mit dem Bajonett wurde in den Rücken getroffen, der, der Jimmy festhielt, in die Brust. Hart wusste nicht mit Sicherheit, ob er alle Männer zwischen Jimmy und Mrs Lipscomb getroffen hatte, doch niemand griff nach den an den Baumstamm gelehnten Gewehren. Amanda flüchtete vor Harts Kugelhagel, der nun die beiden Männer erfasste, die ihre sich jetzt zu Boden werfende Mutter festgehalten hatten. Das erste Magazin war leer, und Hart legte ein neues ein, während er zugleich darauf achtete, aus welcher Richtung das Stöhnen getroffener Chinesen oder das Rascheln des Unterholzes zu ihm drang. Während Hart sich zuerst die leichten Ziele vorknöpfte, rannte Jimmy zu seiner Mutter. Am Boden und über den Baumstämmen lagen grotesk gekrümmte Körper. Aus Harts Waffe stieg Rauch auf, dann schossen wieder lange Flammen aus dem Lauf. Ein Mann versuchte aufzustehen, doch Hart stieß ihn mit dem Stiefel zu Boden und tötete ihn mit einem Schuss in den Hinterkopf. Er zählte sieben Leichen. Nachdem er seine Taschenlampe eingeschaltet hatte, fielen ihm zwei Blutspuren auf. Eine führte zu einem in einem Gebüsch kauernden, grimassierenden Mann, der sich mit einer blutigen Hand den Bauch hielt und sich die andere wegen Harts Taschenlampe vor die Augen hielt. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte Hart ihn mit einem halben Dutzend 9mm-Kugeln getötet. Die zweite Blutspur führte ihn in die Richtung eines Mannes, den er in der Finsternis wimmern hörte. Der junge Chinese war an der Schulter getroffen worden und blutete stark. Er blinzelte in das grelle Licht der Taschenlampe, bettelte aber nicht um sein Leben. Er ließ den Kopf zu Boden sinken und blickte in eine andere Richtung. Das konnte Hart nicht imponieren. Nachdem er die Taschenlampe auf den Boden gelegt hatte, packte er die Haare des Manns und riss seinen Kopf herum. Der Chinese begann zu schluchzen, und Tränen rannen über sein mit Dreck verschmiertes Gesicht. 380
»Mach die Augen auf!«, forderte Hart, während er dem Mann die heiße Mündung seiner Waffe in den Mund presste. Der Chinese schrie vor Schmerz, und als er die Augen öffnete, ließ Hart sein Haar los und drückte ab. Nach drei Kugeln war Schluss, das Magazin war leer. Lauschend blickte Hart sich um, doch er hörte nichts. Er schaltete die Taschenlampe aus, richtete sich auf und legte das dritte Magazin ein. Dann setzte er seine Nachtsichtbrille auf und drückte den »Power«-Knopf. Durch das flackernde, etwa zehn Meter entfernte Lagerfeuer war die Welt jetzt in ein grünliches Licht getaucht. Hart ging zu dem Lager zurück, wo sich die traumatisierten Lipscombs umarmten und zu trösten versuchten. Das waren neun, dachte Hart. Niemand hatte es zu der Stelle geschafft, von wo aus Hart mit der Mündungsfeuer speienden Maschinenpistole auf die Lichtung getreten war. An den anderen Seiten war das Lager von Hügeln umgeben. Nummer zehn musste irgendwo in diesem Käfig gefangen sein. Hart hob die Maschinenpistole an die Schulter und ging langsam und in leicht gebückter Haltung durch die in künstliches Licht getauchte Nacht. Während er methodisch einen Fuß vor den anderen setzte, glitten sein Blick und der Lauf der Waffe permanent hin und her. »Captain Hart?«, rief Mrs Lipscomb zaghaft, aber Hart – ganz auf seine Beute konzentriert – ignorierte sie. »Wo sind Sie?«, ertönte Amandas zitternde Stimme. Hart blickte sich um. Jimmy war gerade mit seiner Inspektion eines chinesischen Sturmgewehrs fertig und zog den Schlagbolzen zurück. Hart wandte sich wieder der Suche nach seinem Opfer zu. Vor ihm waren zwei große, halb in der Erde begrabene Felsbrocken, zwischen denen ein kleiner, kümmerlicher Busch wuchs. Obwohl Hart nichts Verdächtiges sah, ließ ihn seine Intuition innehalten. Nachdem so viele Wochen lang er der Gejagte gewesen war, beruhte seine Vermutung jetzt auf Erfahrung. Er schaltete die Brille auf Infrarot-Betrieb, und schon sah er in dem Busch die Konturen eines hell glühenden Körpers. Da der Mann am Boden lag und beide Hände unter die Achselhöhlen geschoben hatte, war Hart klar, dass er unbewaffnet war. Zu bluten schien er nicht, weil die InfrarotNachtsichtbrille dann die warme Blutspur auf der Erde und den Blättern sichtbar gemacht hätte. Als Hart dicht an den Mann herangetreten war, 381
konnte er auf den hoch auflösenden Bildschirmen in seiner Nachtsichtbrille erkennen, dass der Chinese zitterte. »Leben Sie noch, Captain Hart?«, schrie Amanda verzweifelt, bevor sie wieder laut zu schluchzen begann. Hart trat gegen die Stiefel des Manns, der sofort seine Beine einzog, als hätte er auf einen Zitteraal getreten, und sich dann wie ein Fötus zusammenrollte. »Komm schon«, sagte Hart. »Aufstehen.« Es bedurfte weiterer Tritte, bis dem Mann klar geworden war, dass man ihn gefunden hatte. Langsam richtete sich der unverletzte Chinese auf. Den Finger fest um den Abzug gelegt, presste Hart ihm die Maschinenpistole ins Kreuz. Dann legte er dem Mann die Hände an den Kopf, um ihn von Kopf bis Fuß zu filzen. Was er in seinen Taschen und an seinen Gürteln fand, warf er zur Seite. Dann stieß er den Mann vor sich her. »Wir kommen!«, rief er. Jimmy hatte das Sturmgewehr an seine Schulter gepresst. Mit dem Gefangenen trat Hart in den Lichtschein des Lagerfeuers. Auch Jimmys Gewehr richtete sich auf den kleinen, schlanken Chinesen, dessen Kinn auf seine Brust gesackt war und der verzweifelt die Augen geschlossen hatte. Amanda rannte zu Hart und klammerte sich zitternd und schluchzend an ihm fest. »Haben sie ein Funkgerät benutzt?«, fragte Hart, doch Jimmy antwortete nicht. Er hatte das Gewehr an die Schulter gepresst. Seine Wange ruhte am Schaft der Waffe, und sein rechtes Auge konzentrierte sich auf das hintere Visier. Er hatte die Zähne zusammengebissen, aber seine Wange zuckte. Immer wieder lockerte er seine verkrampfte rechte Hand, die den Griff der Waffe umklammerte. Hart wandte sich der Mutter zu, die wie benommen auf einem blutverschmierten Baumstamm saß. »Haben sie ein Funkgerät benutzt, nachdem sie euch gefunden hatten?« Mrs Lipscomb blickte ihn erschöpft an und schüttelte langsam den Kopf. »Was spielt das denn für eine Rolle?«, fragte Amanda mit tränenerstickter Stimme. »Alle müssen die Schüsse gehört haben.« »Vielleicht«, sagte Hart, der auf die hohen, den Lagerplatz einschließenden Hügel blickte. »Vielleicht aber auch nicht.« Die kalte Luft würde zwar Geräusche weitertragen, aber durch die Hügelwände um die Mulde herum war der Lärm nach oben abgelenkt worden. Und die nächsten Chinesen konnten gut zehn Meilen entfernt sein. 382
»Warum haben Sie den nicht getötet?«, fragte Jimmy, der das Gewehr noch immer auf ihren Gefangenen angelegt hatte. Hart ließ die Augen über die vielen geladenen Waffen gleiten, mit denen der Boden übersät war und die dem gesenkten Blick des Chinesen mit Sicherheit nicht entgangen waren. »Ich weiß es nicht«, antwortete er, aber tatsächlich wusste er es. Seine alles verzehrende Mordlust hatte sich mit Nummer neun erschöpft, und sie war nicht wieder aufgeflackert, als er Nummer zehn gefunden hatte. »Was machen wir mit ihm?«, fragte Jimmy. Mittlerweile hatte sich Amanda etwas beruhigt. Zwar hielt sie sich immer noch an Hart fest, aber sie hatte den Kopf gehoben und starrte schniefend auf den Gefangenen. »Wir töten ihn«, beantwortete sie mit ruhiger Stimme die Frage ihres Bruders. Hart wollte schon widersprechen, doch dann gebot er sich Einhalt. Schließlich war er selbst gerade durch das Lager spaziert und hatte skrupellos getötet. Warum sollten sie Nummer zehn verschonen, was keinen Sinn gehabt hätte? Das Problem bestand darin, dass es Hart nicht richtig zu sein schien. Durch schieren Zufall hatte der zehnte chinesische Soldat das Gemetzel überlebt. Er war gefangen genommen worden, und Gefangene tötete man nicht. Oder etwa doch? Jetzt richteten sich alle Augen auf Hart. Amanda, die den Vorschlag gemacht hatte, den Chinesen zu liquidieren, schaute ihn mit großen, unschuldigen Augen an, während Jimmys Blick sich nur für einen flüchtigen Moment von seiner Waffe ablenken ließ. Mrs Lipscomb wirkte durch den Schock noch immer wie betäubt. Auch der Chinese blickte auf, obwohl sein Kinn noch auf der Brust ruhte. »Wir können ihn nicht laufen lassen«, sagte Jimmy. Amanda ließ Hart los und hob ein Gewehr vom Boden auf. Hart und der Chinese beobachteten sie. Noch immer schniefend, drehte sie das Gewehr in den Händen, um den Sicherungshebel zu suchen. Vielleicht hatte sie ihren Bruder beobachtet, oder sie wusste, wie man den Schlagbolzen zurückzog, weil sie einer Familie aus dem Süden entstammte, wo ein Gewehr zur Grundausstattung eines Haushalts gehörte. Es klappte nicht ganz, und sie schob den Schaft zwischen ihre Knie und zog erneut. Eine Patronenhülse wurde ausgeworfen, eine neue Kugel schob sich sauber in die Kammer. 383
»Ist die Waffe gesichert?«, fragte sie Hart. Als der bejahte, legte sie den Hebel auf »Feuer« um und hob das Gewehr. Der chinesische Soldat stand neben dem Lagerfeuer, nur etwa anderthalb Meter von dem Mädchen entfernt. Als er das Krachen der Waffe hörte, zuckte Hart zusammen. Das aus dem Lauf schießende Mündungsfeuer berührte fast den Chinesen, der rückwärts zu Boden geschleudert wurde. In dem folgenden Schweigen hörte Hart ein weiteres Klicken. Amanda hängte sich die mittlerweile wieder gesicherte Waffe über die Schulter und begann, Munitionsgurte einzusammeln. Ihr Bruder folgte ihrem Beispiel. Hart widersprach nicht. Bald darauf überquerten sie die Brücke, um ihren Fußmarsch in Richtung Norden fortzusetzen.
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6. KAPITEL
Hauptverteidigungslinie, Tennessee 7. Dezember, 7 15 Uhr Ortszeit Es war kalt, und über dem stillen Gefechtsfeld hing Nebel. Vorsichtig bahnten sich Jim Hart und die Lipscombs ihren Weg durch die verkohlte, in Dunst gehüllte Landschaft. Jimmy und Amanda hielten ihre Gewehre schussbereit in den Händen, doch Hart wusste, dass das sinnlos war. Sie waren mitten zwischen zwei Armeen eingeklemmt, gegen deren Arsenale ihre Waffen nichts ausrichten konnten. Während der zurückliegenden Nacht hatte die kleine Gruppe die Front erreicht. Direkt hinter den chinesischen Linien hatten sie ungeduldig auf den Sonnenaufgang gewartet. Zweimal kamen in unmittelbarer Nähe Patrouillen vorbei, aber die Gefahr war in Harts Plan einkalkuliert. Ihr Überleben hing vom richtigen Timing ab. Sie wollten eine Stunde vor der Morgendämmerung, wenn es noch finster war, die feindlichen Linien überqueren, und dann im ersten Tageslicht die amerikanischen Linien erreichen. Bis jetzt hatten sie Glück gehabt. In ihrem Frontabschnitt gab es keinen Angriff vor der Dämmerung, doch schon mit dem allerersten Tageslicht begannen schwere Auseinandersetzungen, die ein paar Meilen zu beiden Seiten jener Stelle tobten, wo sie die Front passieren wollten. Während sie auf allen vieren entlang von eiskalten Wasserläufen, die sich tief in die Erde eingegraben hatten, durch das Niemandsland krochen, übertönte der Lärm des Gefechts jedes von ihnen verursachte Geräusch. »Mir ist kalt«, flüsterte die zitternde Amanda. Wie alle anderen war auch sie durchnässt von dem Wasser, das durch die Flussbetten tröpfelte. Energisch massierte Hart ihr Arme und Beine. Ihr Atem ging stoßweise, ihre Zähne klapperten. Jimmy war kreidebleich. Mrs Lipscombs Augen lagen tief in den Höhlen. Die dunklen Tränensäcke ließen sie krank aussehen. 385
»Okay«, sagte Hart in einem normalen Tonfall, der allen übermäßig laut erschien. Er stand auf. »Was haben Sie vor?«, fragte Jimmy beunruhigt. »Alle aufstehen«, befahl Hart, während er ein weißes Laken hervorzog, das sie im Haus der Lipscombs zusammengenäht hatten. »Kommt schon, aufstehen.« »Aber sie werden uns sehen!«, schrie Amanda. »Das sollen sie.« »Die Chinesen?«, fragte Amanda. »Nein, die Amerikaner.« Die drei Lipscombs blickten sich an und standen dann langsam und stöhnend auf. Sie folgten Hart, der die weiße Fahne trug, in Richtung Norden – nach Amerika. Ihre Blicke schweiften über Hügel und Wälder. Mit jedem Schritt nahm Harts Anspannung zu, aber seinem Gesichtsausdruck war nichts davon anzumerken. Einmal lächelte er Amanda sogar an, die ihre Augen vor Angst weit aufgerissen hatte. Als sie den Kamm eines kleinen Hügels erreicht hatten, sah Hart mehrere durchlöcherte, gepanzerte Kampffahrzeuge, die sowohl chinesischer als auch amerikanischer Bauart waren. Ihnen gegenüber erhob sich ein bewaldeter Hügel. Hart schwenkte die weiße Fahne, und die Lipscombs blickten abwechselnd auf die menschenleere Landschaft und auf ihn. Als nichts geschah, ließ Hart die Fahne sinken und ging bergab, um das Tal zu durchqueren. Schon nach fünf Schritten hörte er den ersten Schuss. Die Lipscombs warfen sich zu Boden. Amanda schrie nach Hart, doch der grinste und schwenkte die weiße Fahne über seinem Kopf. Einige Augenblicke später kam eine amerikanische Squad in einer Reihe den gegenüberliegenden Hügel herunter. Sie machten Umwege, die aber mit Bedacht gewählt waren. Drei Meter vor Jim Harts Stiefelspitzen begann ein Minenfeld. »Was… was sagen Sie da?«, fragte Amanda Lipscomb Hart. Sie saß in einem Sanitätswagen der Army und hatte drei Decken um ihre Schultern gelegt. Der schneidend kalte Wind hatte ihre Gesichtshaut gerötet, und in ihrem völlig verworrenen Haarschopf hingen winzige Zweige und Fichtennadeln. Sie blickte Hart mit weit aufgerissenen Augen und mit einem flehenden Blick an. »Sie sagen Lebewohl? Einfach so?« 386
Hart zuckte die Achseln und seufzte dann. Amandas Bruder und ihre Mutter – ebenfalls in dicke Decken gehüllt – blickten die beiden an. »Aber… ich habe gedacht…« Jetzt wandte Amanda sich mit ihren flehenden Blicken an ihre Mutter. Mrs Lipscomb warf ihrer Tochter einen teilnahmsvollen Blick zu. Verzweifelt wandte sich Amanda wieder Hart zu. »Aber nach dem Krieg, okay? Jetzt müssen Sie kämpfen, aber nach dem Krieg werden Sie uns suchen, ja? Sie werden uns finden.« Du meinst wohl, dass ich dich finden werde, dachte Hart stirnrunzelnd. »Sie werden kommen«, beharrte Amanda. »Sie werden es tun. Nach allem, was wir zusammen durchgestanden haben… Sie haben mir das Leben gerettet! Uns allen! Sie werden kommen, versprechen Sie es.« Hart schwieg. »Versprechen Sie es!« »In Ordnung«, antwortete Hart. »Nach dem Krieg werde ich euch besuchen, wenn…« »Sie werden kommen«, wiederholte Amanda. Sie stand auf und küsste Hart auf die Lippen. Als er das Gesicht abwandte, küsste sie ihn auf die Wange. Schließlich gab er ihr einen Kuss auf die Stirn, um dann Jimmy die Hand zu drücken und ihn zu umarmen. Zu guter Letzt umarmte er Mrs Lipscomb. »Sie werden kommen«, sagte Amanda noch einmal, während Hart mit seinem Gewehr aus dem Sanitätswagen stieg. »Ja, Sie werden kommen.«
Raleigh, North Carolina 8. Dezember, 8 45 Uhr Ortszeit Die Krankenschwester, eine Filipina, stieß die Tür auf. Wu betrat das für Offiziere der 11. Heeresgruppe bestimmte Feldlazarett. Fast jeder Quadratmeter der Cafeteria der Schule wurde genutzt, um dort Betten aufzustellen. Am Gang Nummer sieben blieb Wu stehen. Die schwer verwundeten Patienten lagen Kopfende an Kopfende. Als Wu den Gang hinabging, stellte er fest, dass immer zwei Betten nebeneinander standen und dass die Gänge zu beiden Seiten so schmal waren, dass das Personal gerade die Bettwäsche wechseln konnte. Ärzte mit kleinen Palmtops eilten von Bett zu Bett und sprachen kurz mit Krankenschwestern und Patienten. 387
Ein Mann auf einer Bahre, dessen Körper völlig von einer Decke verdeckt war, wurde aus dem Feldlazarett herausgeschafft. Sanitäter zogen das Bett ab, warfen die schmierigen Laken in einen großen Wagen und bezogen das Bett in weniger als einer halben Minute neu. Ein weiterer Mann auf einer Bahre – dieser lebte noch – wurde aus der Küche gebracht, die in einen Operationssaal umfunktioniert worden war. Das saubere Bett war für ihn bestimmt. Sie arbeiten schnell und effizient, dachte Wu. Und mit Verwundeten kennen sie sich aus. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Noch enervierender war der üble Geruch offener Fleischwunden und der noch schlimmere Gestank der Antiseptika. Aber am verstörendsten war das Stöhnen der Verwundeten, denen durch intravenöse Infusionen Betäubungsmittel verabreicht wurden. Sauerstoffzelte begruben die Opfer schwerer Verbrennungen unter sich, Sauerstoffgeräte, deren Schläuche in Nasen und Mündern verschwanden, ermöglichten den Patienten das Atmen. Maschinen überprüften lebenswichtige Körperfunktionen, untersuchten Urinproben auf Nierenschäden oder maßen Gehirnströme, um noch Lebende zu erkennen. Wu durchmaß den großen Saal auf der Suche nach Leutnant Tsui, seinem besten Freund von der Militärakademie. Sie hatten vierzehn Jahre lang das Zimmer geteilt, von ihrem vierten Lebensjahr bis zum letzten Sommer. Tsui stand Wu fast so nahe wie ein Bruder. Die dick verbundenen oder durch innere Verletzungen zu grotesken Proportionen angeschwollenen Gesichter der Patienten waren nicht zu identifizieren. Neben jedem Bett stand ein Computer mit Touchscreen, dem Ärzte und Schwestern durch einen Fingerdruck piepende Geräusche entlockten. Auf den Bildschirmen leuchteten Krankenakten und Herzschlagkurven auf, in der Kopfzeile waren die Namen der verwundeten Offiziere verzeichnet. Während Wu an den Betten entlangging, überprüfte er die Namen und sah dabei die schwersten nur vorstellbaren Verwundungen, die der Betroffene kaum überleben konnte. Ein gutes Drittel der Patienten hatte Glieder verloren. Während man offenbar in der Regel nur einen Arm verlor, schienen Beine immer paarweise abgeschossen zu werden. Noch schlimmer sahen die Brandopfer aus, die mit ihrer transplantierten künstlichen Haut, nackt wie unvollständige Flickenteppiche, unter Sauerstoffzelten lagen, 388
oder aber die unter schwersten Körperquetschungen Leidenden. Sie waren lebende Baustellen, die mit ihren auf übermenschliche Größe geschwollenen Köpfen und Händen genauso wenig erkennbar waren wie die Brandopfer. »Bist du das, Wu?«, ertönte plötzlich Tsuis vertraute Stimme. Plötzlich begannen Wu’s Lippen aus unerklärlichen Gründen zu zittern, und er hätte beinahe zu weinen begonnen. Er zwang sich, seinen Freund anzublicken, der beide Beine verloren hatte. Er begrüßte Tsui, doch dieser antwortete nicht. Die rechte Hälfte seines Gesichts war durch einen Verband verdeckt. Wu trat näher an das Bett heran. Auf dem grünlich leuchtenden Monitor sah er, dass Tsuis Herzschlagkurve nicht Besorgnis erregend war. Wu schaute auf seinen Helm hinab, den er in den Händen hinund herdrehte, und blickte dann Tsui an. »Es tut mir sehr, sehr Leid«, flüsterte er auf Chinesisch. Wieder antwortete Tsui nicht, dafür begann er zu schluchzen. Tränen liefen über seine Wangen, und bei Wu war es nicht anders. Er schob seine Arme unter den Körper seines Freundes und drückte ihn. »Es ist ungerecht«, sagte Tsui mühsam. »Es ist so ungerecht!« Jetzt klang seine Stimme wütend. Wu packte Tsuis Baumwollnachthemd, und dieser krallte sich an Wu’s dicker Feldbluse fest. »Was ist passiert?«, fragte Wu. Tsui löste sich aus der unbeholfenen Umarmung und sank erschöpft auf das Kissen zurück. Der neunzehnjährige Offizier wandte den Blick ab. »Was ist passiert?«, wiederholte Wu. »Was spielt das noch für eine Rolle?«, murmelte Tsui. Verstohlen warf Wu einen Blick auf die Stelle unter Tsuis Rumpf, wo die Bettdecke flach auf der Matratze lag. »Weißt du, Tsui, das muss nicht unbedingt das Ende deiner militärischen Karriere sein. Im Generalstab tauchen jetzt immer häufiger verwundete Offiziere auf. Vielleicht könnte ich dir bei General Sheng einen…« »Ich will bei der Armee keine Karriere mehr machen!«, rief Tsui in einem überraschend energischen Ton. Ärzte und Krankenschwestern blickten auf, einige verwundete Soldaten hoben die Köpfe. »Ich habe meine Meinung geändert und will kein Soldat mehr sein! Ich will meine Beine wiederhaben!« Alle starrten nicht etwa Tsui an, sondern den gesunden Offizier vom Stab in der sauberen Uniform. 389
Greensboro, North Carolina 8. Dezember, 1430 Uhr Ortszeit An der Tür von General Shengs Büro versuchte Shen Shen, Wu am Eintreten zu hindern. »Ich werde ihm sagen, dass du hier bist!«, rief sie aus. Dann schlang sie von hinten die Arme um Wu, doch dieser riss sich los und öffnete die Tür. Der alte General saß an seinem Schreibtisch und kritzelte Notizen auf eine Karte. Sonst war niemand im Raum. Nachdem Sheng den Stift aus der Hand gelegt hatte, wartete er. Fast schien es, als hätte er Wu’s Besuch erwartet. Wu nahm vor dem Schreibtisch des kommandierenden Generals Haltung an, und Shen Shen schloss die Tür. »Das mit Ihrem Freund tut mir sehr Leid«, sagte Sheng in einem Ton, der erkennen ließ, dass er über Wu’s Schmerz im Bilde war. »Mein liebster Klassenkamerad von der Militärakademie ist in meinen Armen gestorben«, fuhr er langsam und bedächtig fort. »Nachdem den Nordvietnamesen das Morphium ausgegangen war, musste ich ihm zwei Tage lang den Mund zuhalten, weil er so laut schrie. In dem Operationsraum, der in einem Tunnelsystem unter einem kleinen Dorf lag, gab es nur eine einzige Lampe. Die Luft war verbraucht, und es stank.« Damit war es mit Shengs fernen Erinnerungen vorbei, und er blickte zu Wu auf. »Sie sind aus einem bestimmten Grund hier und wollen mir etwas sagen.« »Ich bin Soldat«, stellte Wu lapidar fest. »Wir befinden uns im Krieg, und ich sollte an der Front kämpfen.« Sheng starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an, hob dann herausfordernd den Kopf und blinzelte. »Mehr haben Sie mir nicht zu sagen?«, fragte Sheng. Wu wusste, was Sheng hören wollte: »Mein Vater ist ein Verräter.« Doch stattdessen bestätigte er nur, dass dies sein einziges Anliegen sei. Der alte Kommandeur der 11. Heeresgruppe Nord nickte. »Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als ich in Ihrem Alter war. Damals habe ich alles in Bewegung gesetzt, um nach Südvietnam zu kommen, wo ich meinen ersten Amerikaner sah, der noch jünger war als ich. Er hat mich angeschossen.« Sheng zeigte auf eine Narbe, die sich von seiner Stirn bis über sein linkes Auge zog. »Er kam heran, weil er dachte, ich wäre tot. 390
Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht glauben konnte, was er gerade getan hatte. Dann begann er zu weinen.« Sheng seufzte. »In meinem ganzen Leben ist mir nichts so schwer gefallen, wie diesen Mann zu töten.« »War es schwerer, als amerikanische Zivilisten zu töten?« Jetzt wirkte Shengs Miene wie versteinert. »Sie wissen noch nicht, was es wirklich bedeutet, Soldat zu sein«, sagte er. »Sie haben keine Ahnung, was das erfordert.« »Werde ich jetzt Kommandeur an der Front?«, fragte Wu. Sheng schien zu zögern, das Thema weiterzuverfolgen, doch dann lehnte er sich seufzend zurück. »Vor einer halben Stunde habe ich einen Anruf aus Peking erhalten«, sagte er. Wu schlug die Augen zu Boden – er hatte Sheng übergangen und sich direkt mit Peking in Verbindung gesetzt. »Ja, Sie kommen an die Front«, fuhr Sheng fort, »aber Sie sollten gut aufpassen, dass Sie dort nicht das Leben verlieren. Auf Sie warten noch große Aufgaben, Leutnant Wu.« Eine Zeit lang blieb diese Prophezeiung im Raum stehen. Wu schaute Sheng an, der seinerseits auf die Schreibtischplatte starrte. Auf Sie warten noch große Aufgaben. Der Verteidigungsminister hatte kurz zuvor dieselben Worte benutzt.
Winchester, Virginia 13. Dezember, 1615 Uhr Ortszeit Obwohl keinerlei Sonnenlicht durch den Dunst drang, gab es an diesem grauen Wintertag blasse Schatten. Master Sergeant Stephanie Roberts kauerte in ihrem Loch und beobachtete die Wölkchen, die ihr Atem vor ihren aufgesprungenen Lippen bildete. Sie war von Kopf bis Fuß dick vermummt, aber die Kälte schnitt trotzdem durch ihre Kleidung. Dies war das erste Mal, dass man ihr ein taktisch wichtiges Kommando anvertraut hatte. Stephie fror nicht etwa wegen des kalten Winterwetters, sondern weil sie Angst hatte, dass ihre Leute sterben könnten. Sie gab ein Zeichen mit vier Fingern, zeigte auf eine Stelle, und ein Fire Team stürmte in ein finsteres Gebäude. Stephie wartete darauf, dass das 391
Feuer eröffnet wurde, aber es geschah nichts. Sie winkte und zeigte auf den unglücklichen Squad-Führer, der zu ihr herüberblickte, und wies dann seitlich auf die Wälder, die vermint sein konnten oder in denen Sich womöglich wartende Chinesen verborgen hielten. In gebückter Haltung gingen zehn verängstigte Männer und Frauen los. Vielleicht liefen sie direkt vor die Mündung eines Maschinengewehrs… Doch auch diesmal passierte nichts. Stephies Einheit überprüfte das Gefechtsfeld. Sie war ganz allein für das Schicksal ihrer Leute verantwortlich, die jetzt lautlos vorrückten. Kein Funkverkehr, keine Signale aus dem Mikrowellenband, kein Laser, keine durch Infrarotdetektoren lokalisierbare Wärmeentwicklung. Ihre neuen Tarnanzüge absorbierten die Körperwärme. Stephie hatte dafür gesorgt, dass First Lieutenant John Burns – mittlerweile der neue Kommandeur der Charlie Company – ihr ihr altes Third Platoon anvertraute, dessen früherer Führer bei einem heftigen Gefecht, das sich später als Auftakt eines Großangriffs herausgestellt hatte, durch einen Kopfschuss getötet worden war. Major Ackerman – der für die Einsätze des gesamten Bataillons verantwortliche Offizier – hatte Stephies Beförderung zugestimmt. Jetzt war sie Platoon-Führerin. Dumpfe Explosionen wühlten zu beiden Seiten meilenweit die Erde auf, doch der Frontverlauf wurde durch die Hügel in Dutzende einzelner Gefechtsfelder aufgeteilt. In jedem Tal spielte sich ein andersartiger Krieg ab. Während der letzten paar Tage hatten die Amerikaner Siege errungen, die entweder durch militärische Perfektion zustande gekommen oder mit vielen Toten bezahlt worden waren. Doch kürzlich hatte auch militärische Perfektion nichts mehr daran ändern können, dass sie schwere Verluste erlitten hatten. Stephie befand sich auf dem Grund einer zwischen steilen Hügelwänden gelegenen Schlucht. Hier würde das Third Platoon die Chinesen aufhalten. Das durch das Tal verlaufende Bett eines kleinen Flusses war ausgetrocknet, aber das Wasser der letzten Schneeschmelze hatte zwischen den Hügeln eine tiefe Furche gegraben. Durch die Bäume über ihr trieb Rauch, und Stephie hörte den Lärm der Gefechte. Nachrichten gab es nicht. Seit sie in dem Tal angekommen waren, hatte es keinerlei Funkkontakte mehr gegeben. Stephie hatte zwei Melder losgeschickt, die bisher noch nicht zurückgekehrt waren. 392
Sie war zuversichtlich, dass ihr Platoon für die Kampfhandlungen gerüstet war. Sie hatte den vier Squads Stellungen und Schussfelder zugewiesen und würde befehlen, wann gefeuert und wann der Rückzug angetreten wurde. »Wo bleibt die Artillerie?«, ertönte die nörgelnde Stimme von Animal aus ihrem Funkgerät. Dass Simpson sich nicht an die Übereinkunft hielt, die Funkgeräte nicht zu benutzen, kotzte Stephie an. Sie war für die linke Seite des Platoons zuständig, Animal – mittlerweile Staff Sergeant Simpson – für die rechte. Auf seiner Flanke gab es jede Menge nervöse Grünschnäbel, die ihrem ersten Gefecht entgegensahen und die Stephie dort postiert hatte, weil diese Seite vermutlich leichter zu halten war. Simpsons Leute waren auf einem nicht so steilen Abhang weiter rechts, wo es Felsbrocken, Baumstämme und Schutzwälle gab. Dagegen lagen Stephies Soldaten zu beiden Seiten des ausgetrockneten Flussbetts. Links ragte eine steile, nicht zu erklimmende Felswand auf. Durch dieses Flussbett würden die Angreifer kommen. Von der gewundenen Frontlinie mit ihren nicht ausgebauten Stellungen aus hatte Stephie das Third Platoon mehrere hundert Meter weit nach vorn geführt. Die Rucksäcke auf dem Rücken, waren sie aus den Schützengräben geklettert und wie Spähtrupps in Richtung Feind vorgerückt. Doch sie waren keine Patrouille, die bei der ersten Feindberührung zu den eigenen Linien zurückeilen würde. Ihr Plan bestand darin, den nichts ahnenden Chinesen einen Hinterhalt zu legen, indem sie dort Position bezogen, wo die Angreifer nicht damit rechneten – vor deren Linien. Nachdem Stephies Platoon das Flussbett blockiert und die Chinesen festgenagelt hatte, würde die Artillerie… Aber ohne Funkkontakt würde es auch keine Artillerieunterstützung geben – diesen Teil ihres Plans konnte sie vergessen. Nie hätte John sie in einen Einsatz geschickt, bei dem sie nicht über Funk Artillerieunterstützung anfordern konnte. Doch bei anderen, da war sich Stephie sicher, sah das anders aus. Und diese anderen würden die Stellung halten, genau wie Stephie jetzt. Das Third Platoon würde jedem chinesischen Angriff in dem Flussbett die Spitze abbrechen. Fünfzehn Meter vor ihr lagen ihre Männer und Frauen in flachen Löchern. Stephie ließ den Blick über die Helme schweifen. Die Linie orien393
tierte sich an der Form der tiefen Schlucht, die an ein »V« erinnerte. Sie begann zu ihrer Linken, etwa zehn Meter den Berg hinauf, an einem Felsvorsprung. Dann verlief sie zu einer Stelle auf dem Grund des Flussbetts und stieg an dem nicht so steilen Abhang zu ihrer Rechten bis zu einem Punkt an, wo sich der Glücklichste der Grünschnäbel aufhielt. Er hatte die höchstgelegene Stellung auf dem Hügel zugewiesen bekommen und daher auch die besten Überlebenschancen. Er würde mit dem eigentlichen Kampf praktisch nichts zu tun haben und konnte mühelos den Kamm des Hügels überwinden, um zu den eigenen Linien zurückzugelangen. Dann konnte er zumindest melden, wo, wann und wie sie gestorben waren, ohne jedoch die alles entscheidende Frage nach dem Warum beantworten zu können. Warum? Kopfschüttelnd versuchte Stephie, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Die Chinesen würden direkt den Hügel herunterkommen. Dann kam für sie nur das mit Kieseln übersäte Flussbett in Frage, wo sich Stephies beide MG-Schützen in den Uferbänken eingegraben hatten. Jetzt erblickte sie den Helm des neuen Führers der First Squad – ihrer alten Squad –, der das Kommando über die beiden Maschinengewehre hatte. Sie drückte auf den Knopf ihres Funkgeräts. »Alles in Ordnung…?«, begann sie, doch dann unterbrach sie sich. Fast hätte sie »Sergeant Johnson« gesagt, aber Stephon Johnson war schon lange tot, und dieser Gedanke traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Wie hieß der Neue noch mal?, fragte sie sich angestrengt, aber der Name des Ersatzmanns wollte ihr einfach nicht einfallen. Mühelos erinnerte sie sich dagegen an andere Namen: Sergeant Kurth, Peter Scott, Tony Massera, Rick Dawson, Patricia Tate. Und wie hieß dieser arme Kerl, den es sofort erwischt hatte? Ach ja, Shelton Trulock. Ganz genau konnte sich Stephie an den Tod jedes Einzelnen erinnern. Wie es geschehen war, zu welcher Tageszeit, und wie sie sich damals gefühlt hatte – müde, betäubt, traurig, krank, gleichgültig. In den ersten paar Momenten nach der Tragödie brannten sich einem die Erinnerungen in größter Schärfe und Klarheit dauerhaft ein. Mit kristallener digitaler Klarheit ertönte eine Stimme durch Stephies Kopfhörer. »Haben Sie sich gemeldet, Sergeant Roberts?« Das war Smith, der Mann hieß ausgerechnet Smith. Ein Allerweltsname. »Ich bin gut, an 394
meinen Maschinengewehren kommt niemand vorbei. Wie gesagt, Sie können darauf zählen, dass ich…« »Schon gut!«, fuhr ihn Stephie an, und Smith verstummte. Smith’ Vorname lautete »Sayed« oder »Said«, und es war viel über ihn geredet worden. Der Corporal arabischer Abstammung war erst kürzlich zu ihnen gestoßen, nachdem er aus dem Lazarett entlassen worden war, wo er sich von direkt nach der Invasion erlittenen Verwundungen erholt hatte. Für Stephie war der Mann ein kampferprobter Veteran, und sie hatte ihm ihre alte First Squad anvertraut. Erst danach offenbarte Smith ihr sein Geheimnis. Das Verwundetenabzeichen Purple Heart war ihm schon als Private verliehen worden. Die Medaille, die in diesem zermürbenden, blutigen Krieg immer mehr Soldaten verliehen wurde, brachte Smith die Beförderung zum Private First Class ein. Dann, als er sich wieder zum Dienst zurückmeldete, wurde er von der 41st Infantry Division zum Corporal befördert, doch Smith’ Problem bestand darin, dass er seine Kampferfahrung in ganzen sechs Minuten gesammelt hatte. Stephie hörte ihm zu und antwortete dann in dem burschikosen, bei der Armee üblichen Tonfall. »Zum Teufel, Smith! Du bist ein verdammt harter, in der Schlacht gestählter Veteran, Mann! Ein Mann, der alles umlegt, was sich ihm in den Weg stellt! Mein Gott! Sechs Minuten! Scheiße!« Sie bedachte ihn mit einem überraschend harten Handkantenschlag gegen die kugelsichere Weste. Smith lächelte. Etwas anderes blieb ihm auch kaum übrig. »Also wirst du mein Squad-Führer.« Stephie hob ihre Hand, und Smith klatschte dagegen. Doch dann runzelte er die Stirn, und dieses Stirnrunzeln gab Stephie seitdem zu denken. Squad-Führer mussten beinhart sein, ganz wie die Verteidiger beim Football – sie waren das Rückgrat, das die Linie zusammenhielt. Ihre wichtigste Funktion bestand darin, dass sie keinen Zentimeter von der Stelle wichen, und diese Entschlossenheit würde acht andere Männer gleichfalls an ihrem Platz halten. Rannte der Squad-Führer aber davon, würden es die anderen auch tun. Dann war der Platoon Sergeant – ein Dutzend Meter hinter der in Panik geratenen Squad – das einzige Bollwerk gegen die anbrandende Flut. Stephie hatte das Platoon zusammengerufen und Smith vorgestellt. Seit Ackermans Tagen waren beim Third Platoon bestimmte Formen gewahrt worden. »Corporal Smith ist der neue Führer der First Squad«, sagte sie. 395
»Nachdem er seine Wunden auskuriert hat, die er sich in der Schlacht um Birmingham in Alabama zugezogen hatte, kehrt er jetzt zur 41st Infantry Division zurück.« Stephie schlug einen respektvollen Ton an. Birmingham, dachten die Grünschnäbel vermutlich. Das waren schlimme, schlimme Zeiten. Smith stand die ganze Zeit über nur wortlos da. Er lächelte nicht und nickte niemandem zu. Sein Gesichtsausdruck zeigte keinerlei Gefühlsregung, was von den anderen Soldaten so ausgelegt wurde, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Schon kurz nach dem Treffen des Platoons liefen hinter vorgehaltener Hand Gerüchte um. Demnach war Smith ein eiskalter Krieger, ein grausamer Dreckskerl, der mit der Charakterisierung »gemein« noch viel zu gut wegkam. Ein übler Killer, mutmaßten die Grünschnäbel, einer von diesen Typen, die still und unauffällig, aber tief in ihrem Inneren gnadenlos und gefährlich sind. Seine blutigen Erinnerungen hatten eine Hornhaut auf seiner Seele zurückgelassen. Schließlich kamen alle zu der Schlussfolgerung, dass er ein grausamer, Furcht einflößender Schlächter war. Smith war in den ersten Tagen des Krieges verwundet worden, und sie hatten darüber gesprochen. Die Charlie Company patrouillierte seit zwei Wochen durch die umliegenden Hügel, hatte aber trotz Scharmützeln mit chinesischen Patrouillen nur acht Leute verloren, von denen zwei gestorben waren. Im Vergleich zu den Verlustzahlen der frühen Großangriffe war das gar nichts. Andererseits war allen klar, dass die Chinesen ihre Soldaten wieder zusammenzogen. Bei diesen Großangriffen wurde praktisch jeder getroffen, aber entscheidend war, dass Smith noch lebte. Keiner wusste Näheres über Smith’ Verwundung, bis eines Tages ein Grünschnabel aus dem Zelt mit den Duschen auftauchte und berichtete, Smith habe am Gesäß, am unteren Rücken, an beiden Oberschenkeln und an der linken Wade Wunden, als wäre er von einer Ladung Schrot erwischt worden. »Schrapnell«, erklärte Stephie. Die Uneingeweihten hielten den Krieg für eine Art natürliche Selektion, bei der nur die Stärksten und Tapfersten halbwegs glimpflich davonkamen. Und die Grausamsten kehrten eines Tages an die Front zurück, um sich dort auszutoben. Das alles war natürlich totaler Unsinn, aber Stephie korrigierte die Vorstellungen ihrer Leute nicht. Tatsächlich hatte sie selbst die Gerüchte in Umlauf gesetzt. 396
Legt euch bloß nicht mit Corporal Smith an, riet sie ihren Leuten. Stellt ihm keine dummen Fragen. Nervt ihn nicht, fallt ihm nicht auf den Wekker. Erzählt ihm nichts Persönliches. Glaubt bloß nicht, dass ihr ein Recht habt, irgendwas über ihn zu wissen. Tut sofort genau das, was er sagt, aber haltet euch so gut wie möglich von ihm fern. Aber, aber, aber…. gaben die Grünschnäbel zu bedenken. Wenn ihr richtig tief in der Scheiße steckt, fuhr Stephie fort, bleibt ihr möglichst dicht bei ihm. Buddelt euch in seiner Nähe ein, schlaft in seiner Nähe. Sollte Gefahr bestehen, dass ihr überrannt werdet, gebt ihr eure Stellungen auf und sammelt euch an seiner Seite, auch wenn ihr dabei den Tod oder ein Verfahren vor dem Kriegsgericht riskiert. Wie chaotisch die Situation auch sein mag, ihr dürft Smith niemals aus den Augen lassen. Euer SquadFührer ist für euch wie die Luft zum Atmen, eure Rückfahrkarte nach Hause. Das alles erklärte Stephie ihren Leuten in zwangloser Atmosphäre unter vier Augen. In diesen Momenten war sie nicht die Tochter des Präsidenten, die ihren Leuten irgendwelchen Mist erzählte, sondern First Sergeant der Charlie Company, die ranghöchste Unteroffizierin. Durch diese Gespräche versuchte sie, die Moral ihrer Soldaten zu stärken. Sie erinnerte sie an die legendären zurückliegenden Gefechte – an ihre Patrouille an den Stranden von Mobile, an die ersten massiven Kampfhandlungen mit den Chinesen bei Atlanta, an die blutige Schlacht am Savannah, wo sie die Stellung gehalten hatten. Mit diesen Geschichten waren die jungen Infanteristen zu beeindrucken, die gerade eine zehnwöchige, verkürzte Grundausbildung hinter sich hatten. Das Third Platoon war unerfahren, nach Stephies Meinung sogar noch unerfahrener als das ursprüngliche Third Platoon, das in ihrer Heimatstadt auf Patrouille gegangen war. Von den zweiundvierzig Stephie unterstellten Soldaten waren sechsundzwanzig noch keine zwei Wochen bei ihnen, und die Hälfte von ihnen hatte bisher noch gar keine Kampferfahrung, da man sie absichtlich auf Patrouillen hinter der Front geschickt hatte. Oft war die Ankunft der Neuankömmlinge ein makaberes Schauspiel. Wenn die Grünschnäbel von den Lastwagen kletterten, wurden sie Zeugen, wie ihre Vorgänger auf blutigen Bahren oder in Leichensäcken in einen dieser Lastwagen verfrachtet wurden. Es war eine Begegnung mit dem Schicksal, das ihnen möglicherweise ebenfalls drohte. 397
Nun wurden alle gebraucht, und es spielte keine Rolle, ob jemand Veteran oder Grünschnabel war. Die Schlacht um Washington konnte jeden Tag beginnen. Jetzt meldete sich Animal, und Stephie hörte über ihr Funkgerät sein Seufzen. »Die beschissene Artillerieunterstützung muss abgeblasen worden sein.« Stephie drückte auf den Knopf. »Halt die Klappe!«, antwortete sie. »Wir bekommen keine Artillerieunterstützung, die lassen uns einfach sitzen!«, erwiderte Simpson. »Vielleicht sitzen sie auch selbst bis zum Hals in der Scheiße! Der Plan ist geändert worden, nur leider haben es diese kleinen Arschlöcher versäumt, uns darüber zu informieren.« »Das ist doch Unsinn, natürlich hätten sie es uns erzählt.« »Wann hast du zum letzten Mal was von ihnen gehört, und wie sieht’s bei deinem Funkgerät mit der Signalstärke aus? Bei mir ist sie echt beschissen.« Stephie hob den kleinen, an ihrem Helm baumelnden Stift und blickte auf das winzige LCD-Display. Die Signalstärke tendierte gegen null. Jetzt verfluchte sie die hohen Hügel um sich herum. Als sie den Lautstärkeregler aufdrehte, drang ein Schwall elektronischer Störgeräusche durch ihren rechten Kopfhörer, doch nach ein paar Sekunden konnte sie zwischen den Pfeiftönen eine menschliche Stimme ausmachen. Wiederum einige Sekunden später identifizierte sie diese als eine männliche Stimme. Der Mann, wer immer es sein mochte, schrie verzweifelt in sein Funkgerät. Schließlich konnte sie ein paar Worte verstehen. »… von da, verschwindet! Zieht euch zurü…« Es war John Burns’ Stimme. Jetzt hörte sie zu ihrer Rechten einen Helikopter, und Johns Stimme war deutlicher zu verstehen. Aber so sehr Stephie es sich auch wünschen mochte, John selbst saß nicht in dem Hubschrauber, über dessen Funkgerät seine eindringlichen Befehle nur weitergegeben wurden. »Zieht euch sofort aus dem Tal zurück! Sie kommen und werden sich nicht aufhalten lassen!« Stephie hörte Artilleriegranaten durch die Luft orgeln. »Wiederholen!«, brüllte Stephie in der bösen Vorahnung, dass sie gleich wegen des Dröhnens nichts mehr verstehen würde. Sie verkroch sich tief in ihrem Loch, und schon erzitterte unter ihr die Erde. Gesteinssplitter 398
prallten von den Felsbrocken ab, Zweige trafen ihren Helm. »Stephie…!«, ertönte es durch ihren Kopfhörer, aber der aufgeregte Schrei wurde durch ohrenbetäubendes Sperrfeuer übertönt. Vor dem Third Platoon schlugen Dutzende schwerer Granaten ein, die die Erde erneut erzittern ließen. »Wir geraten unter Beschuss!«, schrie Stephie in ihr Funkgerät. »Das sind unsere Geschütze!«, antwortete John. »Zieht euch zurück, und zwar schnell! Sofort!« Sein Tonfall ließ Stephie die Situation schlagartig begreifen. Hier stand ihnen Schlimmes bevor. »Du hast gehört, was er gesagt hat!«, wandte sie sich an Animal. »Wir ziehen uns zurück!«, antwortete Simpson, und in diesem Augenblick eröffneten die chinesischen Geschütze das Feuer. »Alle Squads ziehen sich zum Sammelpunkt zurück!«, befahl Stephie, als sich der erste Amerikaner erhob. »Smith!«, brüllte Stephie. »Gebt uns Feuerschutz!« Sofort begannen die beiden Smith unterstehenden Maschinengewehre zu feuern. Stephie sah, dass zwei von Simpsons Grünschnäbeln in dem chinesischen Kugelhagel zu Boden gingen. Ihre Kameraden zerrten die sich windenden Soldaten nach hinten, ohne auf ihre Wunden Rücksicht zu nehmen. Noch schlimmer erging es den Soldaten links neben Stephie. Als sie an ihrer Stellung vorbeikam, hatten die meisten von ihnen klaffende, blutende Wunden davongetragen. Weit aufgerissene Augen kündeten von Schock und Angst. »Smith!«, schrie Stephie noch einmal. Systematisches amerikanisches Artilleriefeuer erleuchtete die vor ihnen liegenden Felsen. Smith hielt sich dicht bei seinen beiden MG-Teams. Durch ihren Kopfhörer hörte Stephie weiterhin John brüllen, doch sie ignorierte ihn. In dem Artilleriefeuer sah sie tausende chinesische Soldaten, die durch die enge Schlucht auf sie zukamen. »Smith!«, brüllte Stephie, ohne etwas damit auszurichten. Einige Männer ohne Waffen sprinteten an ihr vorbei. Ohne Vorgesetzten würden sie womöglich über den Sammelpunkt hinaus flüchten. »Kommt hierher, Smith! Wir ziehen uns zurück!« Kugeln schlugen in die harte Erde ein, andere pfiffen durch die Zweige. Stephie musste den Kopf einziehen. Als sie ihn wieder hob, legte sie ihr 399
Gewehr an und holte zwei feindliche Soldaten von den Beinen, die den steilen Abhang erklommen, weil sie von dort aus eine bessere Schussposition hatten. »Verdammt, Smith!« Smith koordinierte das Feuer der beiden schweren Maschinengewehre perfekt. Er selbst kauerte auf der Uferbank, wobei er ein MG fast berührte. Das andere feuerte kontinuierlich von der direkt gegenüberliegenden Seite des Flussbetts aus. Seine Kugeln pfiffen um Haaresbreite an Smith’ ausgestreckten Fingern vorbei. Smith zeigte auf dutzende anstürmende chinesische Soldaten, und die Maschinengewehre erledigten sie – genau wie Stephie es geplant hatte. »Um Himmels willen, Stephie, antworte endlich!«, rief John kläglich. Das war ihre letzte Chance, die Flucht zu ergreifen. Smith und seine vier Männer, die dem Feind fünfzehn Meter näher waren, hatten ihre letzte Chance bereits verpasst. »Smith!«, schrie Stephie ein letztes Mal, während sie aus ihrem Schützenloch kletterte. Zum Teil rechnete sie damit, das die MGs verstummen würden, weil die fünf Männer sich ebenfalls – wenn auch zu spät – zurückzuziehen versuchten. Aber es waren keinesfalls ihre stahlharten Nerven, die die vier MG-Schützen an Ort und Stelle hielten – es war Corporal Smith. Dieser elende Smith, der Fels in der Brandung, dessen Funkgerät offensichtlich von einer Kugel zerstört worden war. Zwei Minuten später, als die beiden Maschinengewehre endgültig und fast gleichzeitig verstummten, legte Stephie auf ihrer Flucht endlich eine Pause ein. Schwer atmend griff sie nach ihrem Funkgerät. »Unsere letzte Stellung ist geräumt! Richtet das Feuer auf die letzte Stellung! Feuer!« »Stephie?«, unterbrach John. »Richtet das Feuer auf unsere letzte Stellung!«, wiederholte sie »Aber Stephie…?« »Das Tal ist geräumt! Feuer! Auf meine Verantwortung!« Sie zog sich weiter zurück, während hinter ihr alles von Flammen erleuchtet war. Major Ackerman hatte einen altmodischen Notizblock und einen Stift in der Hand. »Verluste?«, fragte er. Er stand vor der vorderen Stoßstange seines gepanzerten Kommandofahrzeugs. John Burns blickte Stephie an. »Vier Tote«, antwortete sie mit hölzerner Stimme. »Elf Verletzte. Sechs Vermisste, wahrscheinlich im Kampf gefallen.« 400
Ackerman schrieb mit, was Stephie nervte. Seufzend rieb sie sich die Augen. Dann wischte sie sich mit dem Ärmel ihre laufende Nase ab. »Wie sieht’s mit feindlichen Verlusten aus?«, fragte John. Stephie benetzte ihre aufgesprungenen Lippen und zuckte dann die Achseln. »Keine Ahnung.« Erschöpft blickte sie in eine andere Richtung. Eine entsetzliche Stunde lang hatte es gedauert, bis sie ihr Platoon wieder zusammengetrommelt hatte. Dann hatten sie sich hinter den kalten Felsen um die sterbenden Männer und Frauen kümmern müssen, und diese letzte Stunde hatte ihre Kraftreserven erschöpft. Schon jetzt war ihr alles ziemlich egal, und wenn die Batterien alle waren, würde sie sich um gar nichts mehr kümmern. »Wie wär’s mit einer Schätzung?«, fragte Ackerman. Sie musste nachdenken. Feindliche Verluste? »Durch den Artilleriebeschuss und die beiden MGs?« Wieder zuckte sie die Achseln. »Hundert, zweihundert, dreihundert, keine Ahnung.« Ackerman notierte etwas. »Seit wie vielen Tagen bist du jetzt im Kampfeinsatz?«, fragte er. »Die letzte Verschnaufpause hatten wir vor über zwei Wochen«, antwortete Stephie. »Er redet von dir«, sagte John sanft. »Also, wie lange?«, wiederholte Ackerman. »Soll ich die Tage zählen und mit der Zeit in Alabama anfangen?« »Ich frage, wie lange du ohne Unterbrechung im Kampfeinsatz bist?«, fragte Ackerman. »Also?« Stephie bedachte ihn mit einem höhnischen Lächeln und wandte sich dann John zu. »Als ob du das nicht wüsstest.« Ackerman steckte Stift und Notizblock in die Tasche seiner Feldbluse. »Fünfunddreißig Tage«, antwortete John für Stephie. »Das ist zu lange«, stellte Ackerman fest. »Verschonen Sie mich mit der Scheiße!«, rief Stephie so laut, dass es auch Ackermans Funker und Fahrer mitbekam, der an der hinteren Stoßstange wartete. Der Major ging auf die Beifahrertür zu. »Ich ziehe das Third Platoon von der Front ab.« »Ich habe keinen Mist gebaut!«, platzte es aus Stephie heraus. »Wollen Sie was anderes behaupten?« »Nein, Stephie«, warf John ein. 401
Stephie starrte den Major an, und dessen verbissenem Gesichtsausdruck konnte sie entnehmen, dass er keinen Zentimeter zurückweichen würde. Mühsam versuchte Ackerman, seinen Zorn unter Kontrolle zu behalten. »Irgendwann stößt jeder an seine Grenzen«, sagte er, für den es bis dorthin auch nicht mehr weit war. Dann wandte er sich John Burns zu. »Ich stelle das Third Platoon dem Hauptquartier der Brigade für örtliche Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung.« Nachdem er lautstark die Tür zugeknallt hatte, war der Wagen innerhalb von ein paar Sekunden verschwunden. Die sechs großen Reifen des Vehikels spritzten Dreck hoch, mit dem die vereiste Straße gestreut worden war. »Das wollte er damit nicht andeuten«, beruhigte John Stephie. Er versuchte, ihren Arm zu ergreifen, doch sie riss sich los und rannte davon. Sie wollte nicht ihren Zorn verbergen, sondern die Art und Weise, wie sie darauf reagierte. Tränen rannen über ihre Wangen, und ihre Lippen zitterten. Öfter als einmal bekam man ein solches Kommando nicht.
Weißes Haus, Oval Office 13. Dezember, 1845 Uhr Ortszeit Präsident Baker klappte den tausend Seiten dicken Bericht Zu. Um ihn hinter geschlossenen Türen studieren zu können, hatte er alle für den Nachmittag anberaumten Termine abgesagt. In den Wochen nach dem Mord an Elizabeth Sobo, den sechs Beratern und der Crew des Helikopters Marine One hatte eine hastig zusammengestellte, hochkarätig besetzte Untersuchungskommission rund um die Uhr an diesem Bericht gearbeitet. Noch liefen die vielen Fäden nicht zusammen, aber in einer Schlussfolgerung waren sich fast alle einig. Eigentlich hatte die Bombe Bill Baker töten sollen. Er rief seine Sekretärin an. »Wartet Fielding immer noch draußen?« »Er ist im Lageraum, Sir.« »Lassen Sie ihn hierher bringen.« Bill überflog erneut das Resümee der Untersuchungskommission, die 402
sich bisher noch kein abschließendes Urteil darüber gebildet hatte, ob die Täter Ausländer oder Amerikaner waren. Dennoch war der Bericht von erschöpfender Detailfülle und gründlich recherchiert. Jetzt schlug er noch einmal eine besonders ärgerliche Seite auf. Die Untersuchungskommission erwähnte, dass es Clarissa nach dem Bombenattentat schlecht geworden war, und schrieb das dem verständlichen Schock zu. Da sie eigentlich selbst in dem Helikopter sitzen sollte, schied sie als Verdächtige aus. Aber in einer Fußnote war verzeichnet, dass das FBI anderer Meinung war. Auf Hamilton Ashers Liste der Verdächtigen stand Clarissa nach wie vor. Jetzt betrat Richard Fielding das Oval Office. Mit einem krachenden Geräusch ließ Bill den dicken Bericht auf seinen Schreibtisch fallen. »Dieses elende Arschloch von Asher ist bereit, Clarissa was anzuhängen und die wirklichen Mörder laufen zu lassen, nur um mir auf diese billige Weise politischen Schaden zufügen zu können!« Bill rief den Präsidenten des Obersten Bundesgerichts in Omaha an, wo im Notfall der größte Teil der Regierung untergebracht werden sollte. »Es ist verabscheuungswürdig!«, sagte er, während sie warteten. Jetzt tauchte das Bild des Präsidenten des Obersten Bundesgerichts auf dem Videomonitor auf. »Guten Abend, Mr President.« »Wann werden Sie endlich so weit sein, das Urteil über den National Secrecy Act verkünden zu können?«, fragte Bill wütend und ohne weitere Vorreden. Der erstaunte Präsident des Obersten Bundesgerichts antwortete, er könne dem Gericht nicht vorgreifen. »Ich werde jetzt nicht über diesen Fall diskutieren, aber dieses Gesetz ist verfassungswidrig, und das wissen Sie verflixt gut!«, sagte Bill. »Ich brauche Ihre Entscheidung, und zwar jetzt! Ich führe zwei Kriege, einen gegen die Chinesen und einen gegen Hamilton Asher, der die Hälfte meiner Leute, die an hochgradig geheimen Kriegsplänen arbeiten, mit Vorladungen unter Strafandrohung überzieht, beschatten lässt und wahrscheinlich auch ihre Gespräche abhört! Wie zum Teufel soll man militärische Geheimnisse schützen, wenn alles vom FBI verwanzt ist? Es ist unglaublich! Hier steht das Leben unserer jungen Männer und Frauen und das Überleben unserer Nation auf dem Spiel! Ashers Aktivitäten – und zwar alle seine Aktivitäten – vollziehen sich unter dem Deckmantel eines Gesetzes, von dem ich wohl annehmen darf, dass Ihr Gericht es bereits als verfassungswidrig abgelehnt hat! Jetzt verlange ich von Ihnen nur, dass irgendeiner von Ihren Leuten die Urteils403
begründung niederschreibt und dass die Entscheidung des Gerichts bekannt gegeben wird! Wir befinden uns im Krieg!« »Ich versichere Ihnen, Mr President, dass uns die Dringlichkeit der Situation bewusst ist«, antwortete der Präsident des Obersten Bundesgerichts ruhig. Unterdessen hatte sich auch Baker ein bisschen beruhigt. Er dankte seinem Gesprächspartner und legte auf. Zwar hatte er Dampf abgelassen, aber sein Zorn war keineswegs völlig verraucht. »In dem Augenblick, wo dieses Urteil verkündet wird«, sagte er zu Fielding, »werde ich das Finanzministerium anweisen, Ashers Budget um achtzig Prozent zu kürzen, und dem Verteidigungsministerium befehlen, die Ausnahmeregelung zu widerrufen, nach der FBI-Agenten nicht eingezogen werden. Das sind fast zwölftausend Männer und Frauen, die die Papierkörbe der Mitarbeiter meines Stabs durchwühlen. Mit diesen Leuten könnten wir eine ganze neue Division aufstellen!« Fielding räusperte sich leise. »Wer soll die Gegenspionage im Inland übernehmen, wenn Sie das FBI ausschalten, Mr President?«, fragte er. Bill lächelte über Fieldings unschuldigen Versuch, die Bedeutung und das Budget seiner eigenen Behörde auf Kosten seines alten Feindes vom FBI wiederherzustellen. »Oh, keine Ahnung«, antwortete Bill. »Glauben Sie, dass die CIA der Aufgabe gewachsen wäre?« »Das Gesetz verbietet es der CIA, im Inland zu operieren«, sagte Fielding achselzuckend. »Bis wir diesen Krieg gewonnen haben, bin ich das Gesetz«, erklärte Baker kategorisch.
Ausserhalb von Fredericksburg, Virginia 16. Dezember, 2 30 Uhr Ortszeit Es kam Hart so vor, als würde sein Gesicht von kleinen eisigen Klingen zerschnitten. Der schneidende Wind trug harten Schnee mit sich und pfiff seitlich durch das Unterholz, in dem er in Deckung lag. Jetzt war er wieder zu Hause. 404
Nur eine Woche hatte er hinter den eigenen Linien verbracht, und die meiste Zeit davon schlief er. Er schlief, während er auf Transporte wartete. Er schlief, während neue Papiere vorbereitet wurden. Er schlief auf Lastwagen, in Flugzeugen und Hubschraubern. Danach war es schwierig, den neu gefundenen körperlichen Rhythmus wieder abzulegen. Als er durch die amerikanischen Linien in den besetzten Teil seines Heimatlandes zurückkehrte, hatte er sich nur mit Mühe wach halten können. Jetzt gehörten diese Probleme der Vergangenheit an, Hart war hellwach. Er erklomm einen Beobachtungsposten, von dem aus er einhunderttausend chinesische Soldaten sah. Zumindest ließ ihn das seine Infrarotkamera vermuten, die er über das finstere Tal schwenkte. Von dem fast sechzig Meter hohen Sendemast aus, der sich auf von den Chinesen kontrolliertem Gebiet befand, konnte man in der völligen Finsternis mit bloßem Auge nur dunkle Baumkronen ausmachen, doch auf seinem Bildschirm sah Hart hunderttausend Pünktchen – winzige Emissionsquellen von Wärme. Heller und deutlicher waren laufende Motoren und Generatoren zu erkennen, auch Heizleitungen, die von einem schwach leuchtenden Zelt zum nächsten verliefen. Aber in der Hauptsache war da dieses Heer von Glühwürmchen. Die Zeltplanen der Chinesen reflektierten die Infrarotstrahlen nicht nach innen, und Hart konnte die friedlich schlummernden Glühwürmchen deutlich erkennen. Für seine Aufklärungspatrouille hinter den feindlichen Linien war dieser Sendemast eine nahe liegende Wahl, und das war vermutlich auch den wackeren Chinesen nicht entgangen, die ihn ebenso wie Hart erklommen hatten. Vermutlich hatten sie die Antennen und die Kabel überprüft. Doch in dem Sendemast aus Stahl verbarg sich der auch durch Röntgenaufnahmen nicht zu entdeckende Transmitter, an den jetzt Harts Kamera angeschlossen war. »Schwenken Sie die Kamera dreißig Grad nach links«, sagte der Einsatzleiter, der Harts Mission aus dem fünfzig Meilen entfernten Washington kontrollierte. Hart folgte der Anweisung, und beide sahen auf ihren Bildschirmen dasselbe Bild. Hart selbst war gleichsam der schwenkbare Kameraarm, der in dem böigen Wind hoch über der gefrorenen Erde schwebte. Das eiskalte Wetter war die perfekte klimatische Voraussetzung für diese Mission, die überdies nachts gestartet werden musste. Die digitale Infra405
rot-Videokamera erkannte nichts als Wärmeentwicklung. Tagsüber war die Erde ein hell glühender Bildhintergrund, von dem sich allenfalls heiß gelaufene Motoren oder offene Feuer abhoben. Doch nachts erfasste die Kamera durch die eiskalten Zeltplanen hindurch rote Pünktchen, von denen einige reglos verharrten, andere sich bewegten. Auf das Stichwort aus der Ferne hin schwenkte Hart die Kamera langsam von einem Ende des Tals zum anderen. Überall auf dem zwölf Zentimeter breiten Bildschirm waren die rötlichen Pünktchen sichtbar – einfach überall. »Das war’s dann schon fast«, sagte der Einsatzleiter, dessen Stimme klar und in Stereo durch die beiden kleinen Kopfhörer drang. »Ist die Sicherheitslage immer noch gut?« Hart blickte auf die Bäume hinab, dessen Wipfel zwischen seinen herabbaumelnden Beinen schaukelten. Er hing an den Befestigungen der Antenne. Hätte die Kamera nicht einen eingebauten Bildstabilisator gehabt, wären die Aufnahmen nutzlos gewesen, da er von jedem Windstoß erfasst wurde. »Alles in Ordnung«, sagte er ins Mikrofon. »Dann nehmen Sie noch mal den Konvoi ins Visier«, kam die knappe Anweisung. Hart richtete die Kamera auf den aus einem Dutzend Fahrzeugen bestehenden Konvoi und stellte das Zoom ein. Vor dem Hintergrund der Nacht und der dunklen Erde stachen die heiß gelaufenen Motoren scharf hervor. Der Konvoi kam mitten in dem Tal zum Stehen, und über einhundert glühende Strichmännchen kletterten von den Lastwagen. Hart hielt die Kamera ruhig und wartete ab. Der Einsatz näherte sich seinem Ende. Hart hatte das Gefühl, noch etwas zu dem Einsatzleiter sagen zu sollen. Vor seiner Pause hatte er den Mann aus der Fifth Special Forces Group noch nicht gekannt, der sich dann bei ihm gemeldet hatte, weil er auf der Suche nach einem erfahrenen Soldaten für diese Mission war. Einem Soldaten wie Hart. Von Leuten mit einer Erfahrung von einem halben Jahr, denen man gerade erst das Green Beret verliehen hatte, wollte er nichts wissen. Er informierte Hart über die Existenz verschiedener Berichte, in denen von einer groß angelegten Zusammenziehung chinesischer Truppen die Rede sei. Den Experten war dieses Tal als idealer Bereitstellungsraum erschienen. Der Einsatzleiter und die anderen angespannt wirkenden Offiziere, mit denen Hart sich traf, zeigten ein fast auffällig großes Interesse an ihm. 406
»Warum ausgerechnet dieses Tal?«, fragte Hart ohne weitere Vorreden. »Es verläuft in Nord-Süd-Richtung, und es gibt dort einen direkt nach Washington führenden Highway«, antwortete der Einsatzleiter, ein Colonel, dem ein Auge fehlte. Hart hatte herausgefunden, dass die Verletzung des Offiziers der Special Forces auf die Auseinandersetzungen in der Karibik während der Anfangsphase des Krieges zurückging. Erst jetzt, in den vielleicht schon letzten Stunden des Krieges, war der ernsthaft verwundete, humpelnde Mann in den aktiven Dienst zurückgekehrt. Mittlerweile waren die hellen Flecken, die die heiß gelaufenen Motoren der Lastwagen des Konvois auf dem Bildschirm sichtbar gemacht hatten, deutlich dunkler geworden. Die abgestellten Motoren kühlten ab. Die Lastwagen waren geparkt worden, wahrscheinlich für die ganze Nacht. »In Ordnung, Mission beendet«, meldete sich der Colonel. »Ziehen Sie sich zurück.« Hart würde die Gefahrenzone um den Sendemast herum sofort verlassen, doch hinter den feindlichen Linien bleiben. Er war nicht auf dem Rückweg nach Hause – oder vielleicht war er schon dort, wo sein wirkliches Zuhause war. Nach nur einer Woche Urlaub in einem fremden Land, wo noch kein Krieg herrschte, war er jetzt wieder im besetzten Teil Amerikas. »Haben Sie verstanden?«, fragte der einäugige Colonel. »Mission beendet. Ziehen Sie sich zurück.« Hart bemerkte, dass die Infrarotkamera immer noch eingeschaltet und auf die abkühlenden Motoren gerichtet war. »Verstanden«, antwortete Hart, der die Kamera ausschalten wollte, dann aber zögerte. »Da unten sind jede Menge Chinesen«, konstatierte er das Offensichtliche. Vor seinem geistigen Auge sah er eine Truppenparade der Chinesen auf der Pennsylvania Avenue in Washington. Einzelne Soldaten kletterten, wie das bei siegreichen Armeen so üblich war, auf berühmte Denkmäler, um sich dort fotografieren zu lassen. »Legen Sie alle um, die Ihnen über den Weg laufen«, sagte Hart. »Lassen Sie es nicht zu, dass sie unsere Hauptstadt einnehmen.« »Roger«, antwortete der Colonel nach einer kurzen Pause. Hart schaltete die Kamera aus, zog die drei Stecker aus den Buchsen und kletterte in der Finsternis die schmale Leiter hinab. 407
Als Hart den Sendemast umgebenden Zaun hinter sich gelassen hatte, empfand er instinktiv das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Dann, nach einigen Meilen, war er über eine Patrouille gestolpert. Die Chinesen hatten Taschenlampen, automatische Waffen und – was am bedrohlichsten war – Funkgeräte dabei. Jetzt lag er in einem Abflussrohr unter einer asphaltierten Landstraße und presste sich Schaumstoffstöpsel tief in die Ohren. Weglaufen konnte er nicht, auf diesem völlig offenen Terrain gab es keinerlei Deckung. Er wäre entdeckt und sofort erschossen worden. Aber es gehörte auch zu den Routineaufgaben einer Patrouille, Abflussrohre zu überprüfen. Er hatte Scheiße gebaut, und er wusste es. Es war vorbei, er war am Ende, er war tot. Verflucht!, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wie aus heiterem Himmel standen ihm plötzlich Tränen in den Augen. Er konnte es einfach nicht glauben. Mist! Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Er hob die Infrarot-Nachtsichtbrille und rieb sich mit den behandschuhten Daumen und Zeigefinger die Augen. Schnüffelnd ließ er die Nachtsichtbrille wieder sinken. »Scheiße«, murmelte er, während er die Patrouille näher kommen hörte. Den Stimmen nach hatten die chinesischen Soldaten gute Laune. Offenbar glaubten sie sich in Sicherheit. Hart hob seine Furcht erregende Waffe an die Wange und wand seinen linken Unterarm in ihren Gurt. Das Überleben hinter den feindlichen Linien hing davon ab, dass man nicht entdeckt wurde und hundertprozentige Stille wahrte. Niemand durfte etwas von der tödlichen Bedrohung ahnen. Harts einzige Chance waren die hohen Hügel und die dichten Kiefern, die um das Abflussrohr und die Straße herum aufragten. Wegen der akustischen Reflektoren würde Lärm nicht weit hörbar sein, mit Sicherheit nicht meilenweit. Wenn es sich bei der Patrouille nicht um ein Platoon, sondern nur um eine Squad handelte, konnte er verhindern, dass andere Chinesen alarmiert wurden. Er würde jedes menschliche Wesen in Hörweite dieses Abflussrohrs töten, bevor irgendjemand zum Funkgerät greifen konnte. Gelang ihm das nicht, würde er in einem kurzen Kugelhagel sterben. Und hier kam seine Waffe ins Spiel, die er sorgfältig im Waffendepot der Fifth Special Forces Group in Maryland ausgewählt hatte. Anstelle eines polierten Holzschafts war sie mit schlanken schwarzen Röhren ver408
sehen, die ein dickes Magazin hielten. Sie war kurz und nicht besonders elegant, aber sie hatte die höchste Feuergeschwindigkeit aller in dem Arsenal verfügbaren Waffen. Anstelle eines Bajonetts war sie mit einem dicken, dreißig Zentimeter langen Schalldämpfer ausgerüstet. Doch die Bezeichnung »Schalldämpfer« war eigentlich unsinnig. Mit dieser Waffe konnte man seine Anwesenheit gar nicht verbergen, da die Geschwindigkeit ihrer jede kugelsichere Weste durchbohrenden Kugeln aus einer Entfernung von zehn Metern nur knapp unter der Schallgeschwindigkeit lag. Die Hitze, die aus dem abgesägten Lauf schießende Flamme und der Gestank konnten einem gar nicht entgehen – wenn man noch lang genug lebte. Jetzt war in dem schmalen Abflussrohr ein schwaches rotes Glühen zu erkennen. In dem kalten Betonrohr registrierte Harts InfrarotNachtsichtbrille jede Wärmeentwicklung. Das hochgeklappte Visier seiner Maschinenpistole, die etwa die Größe eines Karabiners hatte, emittierte ein unsichtbares Signal, das Harts Nachtsichtbrille darüber informierte, worauf er zielte. Die Spezialbrille warf einen grünen Punkt auf seine Netzhaut, der den Zielpunkt darstellte. Und dieser helle Punkt wackelte jetzt etwas am Ende seines Grabs hin und her. Durch den Druck des kühlen Schafts schmerzte Harts Wange. Einerseits ärgerte er sich über sich selbst, andererseits war er von Selbstmitleid erfüllt. Wegen eines dummen, äußerst dummen Patzers saß er in der Falle und würde mit dem Leben bezahlen müssen. Die Stimmen kamen näher. Instinktiv wickelte Hart den Gurt noch einmal fest um seinen linken Unterarm. Um den Ellbogen, wenn man genau sein wollte. Die Maschinenpistole war leicht und würde nach oben gerissen werden, aber durch den Riemen – und seine Konzentration und Nervenstärke – würde Hart das zu verhindern wissen. Die Wange weiter an die Waffe gepresst, öffnete Hart den Reißverschluss einer Tasche an seinem Gürtel, in der drei Schrapnellgranaten und drei Blendgranaten steckten. Wenn alle Stricke rissen, waren sie seine letzte Hoffnung. Vorn fiel kurz ein zittriger Lichtstrahl in das Abflussrohr, und Hart schaltete seine Brille vom Infrarot- auf den Nachtsichtmodus um. An die Stelle der roten Flecken trat ein Schleier von Spinnweben, die er bisher nicht gesehen hatte. Rauch. Wie durch einen Zufall schoss ihm, als er die Spinnweben sah, 409
dieser Gedanke durch den Kopf. Die Chinesen nutzten Sichtgeräte, die Lichtquellen verstärkten, doch Rauch würde sie förmlich erblinden lassen. Aber mit seiner auf den Infrarotmodus eingestellten Nachtsichtbrille würde er den Rauch durchdringen können! Während er mit der linken Hand die Maschinenpistole hielt, nahm Hart Helm und Nachtsichtbrille ab, legte sie in seinen Schoß und griff dann nach einer zusammengerollten Gasmaske, die an seinem Gürtel befestigt war. Seit dem Einsatz in der Basketballhalle hatte er sie immer mit sich geführt, sie aber nie mehr benutzt. Das würde sich jetzt ändern. Als er einatmete, saugte sich die eng anliegende Gasmaske an seinem Gesicht fest. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte er Helm und Brille wieder aufgesetzt und die Waffe gejuckt. Jetzt waren sie ganz in der Nähe, die Boten des Schicksals, die ihm den Tod bringen würden. Einige konnte Hart über sich auf der Straße hören. Als er den Reißverschluss seiner Tasche mit den vier Rauchgranaten aufzog, ließ ihn das Geräusch eine Grimasse ziehen. Aber seine Gegner waren noch etwa ein dutzend Meter entfernt, und er befand sich unter der Straße. Nachdem er sich noch einmal aufmunternd zugenickt hatte, korrigierte er den Sitz der Riemen seines Rucksacks und schlich dann durch das Abflussrohr in Richtung Feind. Er musste sich seinen Weg durch Spinnweben bahnen, stieß mit dem Helm an die Decke. Seine Gummisohlen schabten über den Betonboden oder platschten durch Pfützen – jedes Geräusch konnte seinem Leben ein Ende bereiten. Aber er musste vor den Chinesen am hinteren Ende des Abflussrohrs sein. Wenn er in dem Rohr in der Falle saß, war er geliefert, weil sie dann nur an beiden Enden eine Granate hineinwerfen mussten. Als knapp zwei Meter vor ihm die große rötliche Öffnung auftauchte, traf vor dem Abflussrohr die Patrouille ein. Hart hörte jedes Wort, verstand aber natürlich nichts. Es konnten fünf Männer sein, aber auch zehn. Irgendwo dazwischen lag die Grenze zwischen Leben und Tod. Einen dieser Männer würde er vielleicht nicht mehr töten können, oder zumindest nicht, bevor er selbst tödlich getroffen war. Doch er wusste, dass das sowieso unausweichlich war. Jetzt blieb nur noch eine Frage: Wie viele kann ich erledigen, bevor sie mich erwischen? Mehr und mehr drängte sich ihm der Gedanke an die bevorstehende Tragödie auf, der Gedanke, dass sein Leben hier und jetzt enden würde. 410
Ein greller Lichtstrahl fiel in den Abwasserkanal, in dem Hart sein Leben lassen würde. Das Wasserrinnsal schimmerte wie die Schaumkronen auf Meereswellen an einem strahlenden Sommertag, doch das lag nur an seiner Brille, die wieder von Infrarotbetrieb auf den Nachtsichtmodus umschaltete. Es war ein künstlicher Effekt – und doch der letzte Eindruck von Schönheit, den Hart in diesem Leben empfangen sollte. Hinter der Gasmaske traten ihm erneut Tränen in die Augen, doch diesmal ignorierte er sie. Mit der rechten Hand zog er eine Rauchgranate aus der Tasche. Die Taschenlampe wurde ausgeschaltet, und Hart hob den rechten Arm wie ein Quarterback beim Football. Von der parallel zu dem Abflussrohr verlaufenden Straße her hörte er jetzt einen in einem lässigen Tonfall erteilten Befehl. Mit dem Daumen entsicherte Hart die schlanke, zylindrische Rauchgranate, während seine Linke ruhig die automatische Waffe hielt. Für den Fall, dass sie verwundet werden sollten, wurde den Green Berets in der Ausbildung beigebracht, mit beiden Händen zu schießen. Der imaginäre, auf die Netzhaut seines Auges projizierte Zielpunkt ruhte auf einer fernen Biegung des Entwässerungskanals, deren Entfernung ebenfalls angegeben war – »11« Meter. Die Biegung schien ein gewölbter Zugang zu einem Einstiegsschacht zu sein, um den herum der Abwasserkanal ausgeschachtet worden war. Schaltete er die Nachtsichtbrille auf Infrarotbetrieb ein, war dieses gepanzerte Versteck schwarz. Kalter, harter Beton. Harts Zuflucht, seine Hoffnung, seine letzte Chance. Elf Meter, dachte Hart. Zehn oder elf Schritte, die über Leben oder Tod entschieden. Plötzlich sprang die Anzeige auf »5« um, während sich der grüne Punkt auf angewinkelte, laufende Knie einpendelte. Auf Hosen von Tarnanzügen, die in Stiefeln steckten. Hart stockte der Atem, als plötzlich sechs Männer in den Entwässerungsgraben rutschten oder durch das Wasserrinnsal in der Mitte platschten. Er schleuderte die Rauchgranate durch die rötliche Öffnung, wobei er die Beine seines potenziellen Mörders knapp verfehlte. Während sie durch den Dreck ins Wasser holperte, nahm Hart seine Waffe wieder in die rechte Hand. Er hörte eine hohe, erschrockene Stimme auf Chinesisch etwas rufen, 411
doch eigentlich erinnerte das Ganze an ein verängstigtes Kreischen. Dann brach Gelächter aus. Sie verhöhnten ihren Kameraden, weil ihm etwas Angst einjagte, das sie vermutlich für eine Ratte hielten. Der rote Punkt pendelte sich auf dem gebückten Oberkörper des armen Hundes vor Hart ein, der an einer großen, starken Taschenlampe herumfummelte. Das Kreischen der Rauchgranate war doppelt so laut wie der schrille Schrei des Chinesen, der jetzt herumwirbelte und entsetzt zusammenzuckte. An beiden Seiten des glühenden roten Zylinders der laut heulenden Granate trat Rauch aus, der den Abwassergraben, die Straße und die Bäume einhüllte. Hart drückte ab, und die Waffe hämmerte gegen seine Schulter und zuckte wie wild in seinen Händen. Er bemühte sich, den Lauf unten zu halten. Aus dem kurzen Lauf und dem langen Schalldämpfer schossen Flammen. Dutzende Kugeln trafen die Chinesen. Hände, Oberschenkel, Knie, Schienbeine und Becken wurden wie Zweige zerfetzt. Noch immer feuernd, rannte Hart auf die Öffnung zu. Bevor er aus der Röhre ins Freie brach, gab er noch zwanzig, dreißig oder vierzig Schüsse ab. Unmenschlich wirkende Schreie gellten durch die Luft. Hart rannte weiter, ohne sich durch irgendetwas aufhalten zu lassen, den Finger am Abzug. Seine Flammen speiende Waffe brachte die Schreie zum Verstummen. Er riss den Lauf von einer Seite zur anderen, sprang über zu Boden gefallene Körper und die Rauchgranate. Als er mit der Wange, seiner Ausrüstung und beiden Knien gegen den harten, kalten Beton stieß, ging ihm die Munition aus. Er prallte zurück und landete auf dem Hintern. Er hatte es überlebt. Es war ein absolutes Wunder. Aber er hatte nur zeitweilig einen Vorteil. Wenn sich die Verwirrung gelegt hatte, würden ihn diejenigen, die auf der Straße geblieben waren, jagen und zur Strecke bringen. Mit einer Hand justierte er den Sitz der Nachtsichtbrille, mit der anderen tastete er sich zur hinteren Seite des Einstiegsschachts vor. Nachdem er nachgeladen hatte, kletterte er an der Wand des Grabens auf den harten, halb in der Erde vergrabenen Betonklotz. Durch den dichten Rauch hindurch konnte er dank seiner InfrarotNachtsichtbrille sechs rötlich glühende chinesische Soldaten sehen, die tot 412
in dem Graben lagen. Erstaunlich war, dass die sechs Chinesen auf der Straße jetzt hektisch Schutzanzüge, Masken und Handschuhe anlegten. Offensichtlich hielten sie den Rauch für Gas. Sie knieten auf der Straße, als würden sie beten. Waffen und Ausrüstung lagen herum. In der fälschlichen Annahme, gerade durch eine unheimliche, von amerikanischen Fanatikern zurückgelassene chemische Mine vergiftet worden zu sein, ließen sie jede Vernunft sausen, um sich so schnell wie möglich zu schützen. Niemand hatte sich die Zeit genommen, ein Funkgerät zu benutzen. Hart riss die Waffe zu einem Soldaten herum und zielte, bis die beiden Punkte – der grüne Zielpunkt und der glühend rote des Kopfes – übereinander lagen. Er stellte seine Maschinenpistole auf kurze Feuerstöße von drei Schuss ein, zoomte die Nachtsichtbrille auf »2-fach«, überprüfte die korrekte Position der Punkte und feuerte. Der Mann war tot. Niemand hörte Harts Waffe, niemand sah den Mann zu Boden stürzen. Die laut heulende Rauchgranate übertönte jedes Geräusch, und wegen des dichten Nebels konnten die Chinesen nichts sehen. Sobald sich der Punkt auf den nächsten Mann eingependelt hatte, drückte Hart erneut ab. Eine Fontäne warmen roten Bluts verfärbte sich schwarz, während sie sich in der Luft abkühlte. Es war wie eine Schießübung aus einer Entfernung von fünfzehn Metern – Hart holte die Männer nacheinander von den Knien. Alles wäre innerhalb von ein paar Sekunden erledigt gewesen, wenn nicht ein Sterbender auf einen anderen gefallen wäre. Solchermaßen vorgewarnt, sprang der letzte noch lebende Mann in den Graben und kroch dann in die Betonröhre, die bisher Harts Zuflucht gewesen war. Er feuerte neun Schüsse ab, traf aber nicht. »Mist«, murmelte Hart, bevor ihn die Bewegungen der Verwundeten auf der Straße veranlassten, noch ein paar kurze Feuerstöße abzugeben. Eins, zwei, drei. Um ganz sicher zu gehen, legte er noch eine Kugel drauf. Jetzt blieb nur noch der Gegner in der Betonröhre. Hart kletterte wieder in den Entwässerungskanal hinunter, atmete tief durch, nickte sich ermutigend zu und presste den Helm fest auf den Kopf. Er ging wieder auf die Betonröhre zu, die kalt und dunkel vor ihm lag und am Ende über dem ausgewaschenen Graben hing. Die Granate stieß noch ein paar Flammen und – was Hart wegen des Infrarotmodus seiner 413
Brille nicht sehen konnte – wirbelnden, dichten Rauch aus. Er wich den immer noch warmen, am Boden liegenden Körpern aus und postierte sich dann neben der finsteren Röhre. Diesmal stand er draußen, während sein Gegner in der Röhre war – hoffnungslos in der Falle sitzend und so gut wie tot. Mit abgehackter Stimme brüllte der weinende Mann in sein Funkgerät. Er versuchte es wieder und wieder. Eine Pause gönnte er sich nur, um hektisch nach Luft zu schnappen. Seine Stimme zitterte. Offensichtlich versuchte er, leise zu sprechen, aber er gab seiner Verzweiflung nach und brüllte aus vollem Hals. Das Funkgerät blieb stumm. Während der Chinese mit tränenerfüllter Stimme flehte, feuerte Hart mit der Maschinenpistole in die Betonröhre. Zwei Sekunden lang zuckte die Maschinenpistole, und das Echo der Schüsse wurden vom hinteren Ende der Röhre zurückgeworfen. Dann waren nur noch die knisternden Störgeräusche aus dem Funkgerät zu hören. Zu Harts Füßen lag die Taschenlampe mit der dicken Batterie. Er hob sie auf und schaltete sie ein. In der Betonröhre wirbelte Rauch umher. Da das Licht kein Feuer provozierte, blickte Hart zögernd in die Röhre, doch außer den Rauchwolken sah er nichts. Nachdem er die grelle Taschenlampe ausgeschaltet hatte, traten, weil die Brille auf Infrarotmodus umgestellt hatte, an die Stelle der weißen Rauchwolken wieder die roten und schwarzen Töne in Harts Welt, in der sich alles um Wärme oder Kälte drehte. Aber jetzt war alles schwarz – außer der glühend heißen Waffe, die Hart in Händen hielt, den allmählich abkühlenden roten Patronenhülsen auf dem Boden und dem schwachen Glühen eines verrenkt daliegenden Toten, der von fünfzig Kugeln zu Boden gerissen worden war. Hart stand zwischen den rötlich glühenden Toten, die er in dem Graben und auf der Straße zurückgelassen hatte. Einen Augenblick lang fühlte er sich unbesiegbar. Nach ein oder zwei Meilen Fußmarsch war der Adrenalinstoß abgeebbt. Von da an fühlte er sich nur noch elend.
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7. KAPITEL
Suffolk, Virginia 18. Dezember, 8 00 Uhr Ortszeit Der Boden des kreisenden Kampfhubschraubers erzitterte, während Wu sich neben einem schwenkbaren, sechsläufigen Bordgeschütz niederkauerte. Die an eine Gatling-Maschinenkanone erinnernde Waffe zielte durch transparentes Panzerglas nach unten und schwenkte mit digitaler Präzision und Schnelligkeit hin und her. Obwohl Wu sich mit beiden Daumen die Ohren zuhielt, zuckte er immer noch zusammen, wenn das Furcht erregende 30mm-Geschütz in einer Sekunde hundertmal feuerte. Die Vibrationen erschütterten ihn bis ins Mark. Unter dem Helikopter glitt die Landschaft von Virginia vorbei. Mühsam und mit mäßigem Erfolg versuchte Wu, festen Stand zu gewinnen auf diesem glatten Boden, der aus durchsichtigem Laminat bestand. In der Mitte der Kabine gab es einen einen halben Meter breiten, mit Gummi beschichteten Läufer, der an einen Catwalk erinnerte und den unteren Teil des Rumpfs fast verdeckte. Auf der anderen Seite dieses mit Gummi beschichteten Gangs saßen Wu sechs Soldaten gegenüber, deren Augen tief in den Höhlen versunken waren und die ihn mit einer Art mürrischer Neugier anstarrten. An dem Bereitstellungsraum der chinesischen Truppen waren einige von ihnen humpelnd und sehr vorsichtig an Bord des Kampfhubschraubers geklettert. Wu glaubte, dass ihre Wunde so frisch war, dass eine völlige Ausheilung eher unwahrscheinlich war. Als sie sich auf der Wu gegenüberliegenden Seite der Kabine versammelten, hatte dieser noch gedacht, dass sie kein Interesse an ihm hatten. Wu trug eine tadellos gereinigte Uniform und makelloses Gurtwerk. Das schwarze Sturmgewehr, das er sich in der Waffenkammer ausgesucht hatte, war durch keinerlei Schrammen verunstaltet. Wu war klar, dass die gewöhnlichen Soldaten ihn verächtlich als Neuling betrachteten. 415
Jetzt begriff er, dass die sechs jungen, aber bereits kampferprobten Soldaten wussten, dass man sich besser nicht neben dem infernalischen, ferngesteuerten Bordgeschütz aufhielt. Als erneut eine Salve von einhundert Explosivgeschossen abgefeuert wurde, durchzuckte Wu ein unangenehmer Adrenalinstoß. Es war, als wäre direkt neben ihm unerwartet eine Tür zugeknallt worden. Wu’s Blick verfolgte die auf den Wald unter ihnen zurasenden Leuchtspurgeschosse. Einen Kilometer entfernt stand das ganze Ufer eines Flusses in Flammen, dessen Wasser in Fontänen aufspritzte, als das Bordgeschütz erneut feuerte. Wu wich vor den zunehmend heißen Läufen des Geschützes zurück. Der Pilot ließ seine Maschine in extrem niedriger Flughöhe um sein rauchendes Ziel kreisen. Jetzt kam ein Besatzungsmitglied aus dem Cockpit mit unsicherem Gang auf Wu zu. Nur ein paar Meter unter den Füßen des Mannes, der sich von einem Handgriff zum nächsten hangelte, schossen die Baumkronen vorbei. Als er schließlich neben Wu stand, stöpselte er einen Stecker in Wu’s Helm. Wu seinerseits stöpselte die beiden Kopfhörer ein, die an seiner kugelsicheren Weste baumelten. »In einer Minute ist alles erledigt«, brüllte das Besatzungsmitglied über die Bordsprechanlage. »Ein Beobachter am Boden hat uns umdirigiert! Sie haben die Waffe entdeckt!« Mit einer Kopfbewegung wies er auf das automatische Geschütz, dessen Bewegungen durch eine auf dem Rumpf angebrachte Fernsehkamera koordiniert wurden. »Wir haben ein Beobachterteam am Boden!« Das Besatzungsmitglied legte die Hände zusammen, als würde es einen imaginären Joystick bedienen. »Sie haben einen Bildschirm und übernehmen die Feuerleitung. Wir fliegen nur über das Zielgebiet, bis sie uns wieder abdrehen lassen! Da unten hat nur einer durchgehalten, und das sollte nicht lange dauern!« Wu justierte das an seinem Kinnriemen befestigte Mikrofon. »Wollen Sie damit sagen, dass sich da unten nur noch ein Mann aufhält?«, fragte er. Das Besatzungsmitglied schüttelte den Kopf. »Offenbar ist es eine Frau, die sich mit einem Gewehr in den Wäldern herumtreibt!« Er zog eine Grimasse und zuckte die Achseln, als wollte er sagen, dass das wirklich kaum zu glauben sei. Dann verschwand er wieder im Cockpit. Wie der Mann vorhergesagt hatte, schwankte der Hubschrauber plötzlich nicht mehr, das Geschütz stellte das Feuer ein, und sie verließen das brennende Zielgebiet. Mission erfüllt, Frau tot, dachte Wu. Für den Rest 416
des Fluges blieb ihm Zeit, den Sieg schweigend zu genießen. Seine Stimmung entsprach der der sechs Soldaten, die ihn immer noch anstarrten. Der Helikopter landete auf dem Parkplatz einer Shopping Mall in einer Vorstadt, und Wu trat in die kühle Luft hinaus. Als der Hubschrauber wieder abhob, zwang der Abwind Wu und die anderen in die Knie, bis schließlich wieder Stille eintrat. Wu richtete sich auf und blickte sich um. Der Boden war mit Waren und Verpackungen aus den diversen Geschäften übersät, und das Ganze wirkte, als wären sie nach einer Explosion durch aufgedrückte Türen und zerborstene Fenster nach draußen geschleudert worden. Aber hier hatte es keine Explosion gegeben, sondern nur sozialen Aufruhr. Ganz offensichtlich waren die Geschäfte geplündert worden. Einige der Soldaten, die mit Wu in dem Helikopter geflogen waren, gingen auf die Shopping Mall zu, aber Wu’s Aufmerksamkeit richtete sich auf die nördlich gelegenen, bewaldeten Hügel. Es hatte einer zehntägigen Wartezeit und weiterer Besuche bei General Sheng bedurft, bis Wu’s Einsatz an der Front bewilligt worden war, und zwar selbstverständlich vom Verteidigungsminister persönlich. Shen Shen hatte die Zeit genutzt, indem sie verzweifelt versucht hatte, Wu durch permanente Verführungsmanöver zum Bleiben zu bewegen. Wu schnauzte die potenziellen Plünderer an und zeigte in Richtung Front, wo das dumpfe Grollen der Artillerie und der unheilvoll wirkende schwarze Rauch die Position der amerikanischen Verteidigungsstellungen markierten, die um den großen Marinestützpunkt von Norfolk angeordnet waren. Von allen Stellen des nördlichen Horizonts drang das fast permanente Knattern von Handfeuerwaffen zu ihnen herüber, von dem sich das stärkere Krachen leichter Artillerie abhob, das an Trommelwirbel erinnerte. Die noch dumpferen Explosionen schwerer Raketen verwiesen auf das Finale, doch die Symphonie fand kein Ende. Es gab keinen letzten Satz, sondern nur das Stakkato der Infanteriewaffen, die immer den Ton angaben. Die morgendliche Luft war kühl. Sie marschierten über die aufgegebenen Weiden vor den Toren der südlichen Kleinstadt. Nachdem sie über einen Stacheldrahtzaun geklettert waren, stiegen sie einen bewaldeten Hügel hinauf. 417
Im Unterholz lag stellenweise noch etwas Schnee. Trotz der an der Front wütenden Kämpfe schien in diesen Wäldern fast Stille zu herrschen. Wu’s junge Soldaten, im Alter von neunzehn oder zwanzig Jahren bereits kampferprobte Veteranen, hatten ihre Gewehre feuerbereit. Wu hatte keine Ahnung, mit was für einem Zusammenprall sie hier rechneten. Dennoch nahm auch er sein Gewehr von der Schulter, überprüfte das Magazin und hielt die Waffe dann schussbereit in den Händen. Nachdem sie den Kamm des Hügels überwunden hatten und auf der anderen Seite hinabgestiegen waren, befanden sie sich erneut auf offenem Weideland. In der Mitte der Wiese stand ein großes, aufblasbares Zelt, das von tausenden braunen Flecken umgeben war, die sich von dem grünen Gras abhoben. Das Ganze wirkte, als hätten Schatzjäger systematisch die hügelige Landschaft aufgewühlt, um nach versteckten Wertgegenständen zu graben. Aber Wu begriff, dass die braunen Flecken um das mobile Feldlazarett herum Gräber waren. Das Lazarett, dem sie sich jetzt näherten, war völlig überfüllt. Direkt vor dem Zelt, unter freiem Himmel, lagen Männer auf Bahren. Krankenschwestern und Ärzte kümmerten sich um Patienten, die wegen der grellen Sonne mit ihren Händen die Augen beschirmten. Wu führte seine Gruppe in einem großen Halbkreis um das Feldlazarett herum, aber dennoch drang das Stöhnen der von Schmerzen gepeinigten Verwundeten zu ihnen hinüber, das die Symphonie der Waffen in eine Tragödie wandelte. Bald würden in dieses Lazarett neue Verwundete eingeliefert werden. Eine junge chinesische Krankenschwester in einem weißen Kittel kam auf Wu’s kleine Gruppe zugerannt. »Wie brauchen Blut!«, rief sie. »Es wir keine zehn Minuten dauern!« Aber Wu blieb nicht einmal stehen, sondern schüttelte nur den Kopf und bedachte die Frau mit einer wegwerfenden Handbewegung, als wäre sie eine Bettlerin. »Bitte!«, rief die Krankenschwester. »Das medizinische Personal kann kein weiteres Blut mehr spenden! Hier sterben Soldaten, weil sie keine Bluttransfusion bekommen!« Jetzt blieb Wu doch stehen. Mit seinen Männern im Schlepptau folgte er der Krankenschwester.
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Schließlich wurde Wu beim Kommandeur der Kompanie vorstellig, um ihm Meldung zu machen. Sie befanden sich in einem von Kugeln durchsiebten Haus, in dem es dem Geruch nach offensichtlich auch gebrannt hatte. Der nicht eben saubere Hauptmann stand auf und starrte Wu mit weit aufgerissenen Augen an. »Warum sind Sie hier?«, fragte er mit schriller Stimme. Offensichtlich hatte man ihm erzählt, wer Wu war. Wu nahm Platz, und auch der Hauptmann setzte sich wieder. Der höherrangige Offizier beugte sich aufmerksam vor, die Hände auf die Knie gestützt, während Wu es sich auf seinem Stuhl bequem machte und dann lässig seine Handschuhe abstreifte. »Ich brauche Kampferfahrung«, antwortete Wu wahrheitsgemäß. »Am liebsten wäre mir eine Stelle als Zugführer bei der Infanterie.« »Sie müssen wahnsinnig sein!« Der Hauptmann schrie fast. »Haben Sie eine Ahnung, worum Sie da bitten? Wissen Sie über die Lebenserwartung von Zugführern bei der Infanterie Bescheid? In sechs Wochen hatten meine vier Züge sieben Zugführer!« Er beugte sich weiter vor und senkte die Stimme. »Sollten Sie sterben, wird Ihre Familie mich hängen!« »Fast alle meine Kameraden von der Militärakademie sind Zugführer geworden«, beharrte Wu. »Sie sind meine Familie.« Obwohl er mit der Antwort noch immer unzufrieden war, blieb dem Hauptmann keine andere Wahl, als schließlich nachzugeben, weil er seine Befehle bereits erhalten hatte. Er stand auf, schüttelte Wu die Hand und entließ den Leutnant dann. Als dieser verschwunden war, betrat aus einem Nachbarzimmer ein Oberst den Raum, um dessen Hals Kopfhörer baumelten und der ein verstecktes Mikrofon und eine Kamera hervorzauberte, die er dann verpackte. »Haben Sie, was Sie brauchen?«, fragte der Hauptmann. Aber der Oberst lächelte nur, während er seine Geräte verstaute, und der Hauptmann versuchte nicht, ihn zu einer Antwort zu drängen. Einem Mann, der direkt aus dem Verteidigungsministerium in Peking kam, stellte man besser nicht zu viele Fragen. Als Wu zu seinen neuen Soldaten stieß, befanden sich diese gerade auf einer Patrouille. Der Hauptmann stellte in Deckung kauernden Zweieroder Dreiergruppen ihren neuen Zugführer vor. Es war eine merkwürdige Begrüßung. Während der Kommandeur der Kompanie die Einheit verließ, 419
fiel Wu auf, dass er mehrfach stehen blieb, um die Unteroffiziere des Zugs, wie Wu vermutete, darüber zu informieren, wer genau ihr neuer Vorgesetzter war. Wann immer der Hauptmann bei einem der Feldwebel stehen blieb, blickten diese zu Wu hinüber. Wu ging nicht voran, sondern folgte seinen Männern zu einer Autowerkstatt am Rande einer belagerten amerikanischen Stadt. Ihr Einsatz schien einfach und nicht besonders riskant zu sein. »Wir säubern einen dreihundert Meter breiten Frontabschnitt zwischen dem Highway und den Stromleitungen«, hatte der Feldwebel des Zugs Wu erklärt und ihn dabei prüfend angeblickt, ob dieser irgendeine Reaktion zeigte. Aber Wu hatte nur genickt. Nach allem, was Wu der Karte entnehmen konnte, hatte die kleine Stadt keinen Namen, aber sie war eines der Verbindungsglieder in dem äußeren Verteidigungsring um die Marinewerft von Norfolk gewesen. Alles war mit verrenkt daliegenden Leichen übersät – Amerikaner und Chinesen, aber größtenteils Chinesen. Das zufällige Chaos menschlicher Überbleibsel auf einem Gefechtsfeld, dachte Wu, der den Anblick und den Geruch mit Interesse zur Kenntnis nahm. Anhand der Lage der verstreuten Leichen und Blutflecken versuchte er, den Verlauf der Ereignisse zu rekonstruieren, doch letztlich beschloss er, dass das keinen Sinn ergab. Chinesische und amerikanische Tote lagen nebeneinander, an einigen Stellen hingen sie über dem Rand von Schützenlöchern, in denen sich zuvor durchaus Soldaten beider Armeen hätten aufhalten können. Auch ohne eine genaue Vor-Ort-Untersuchung wusste Wu, was hier geschehen war. Der Gesamteindruck ließ Rückschlüsse darauf zu, was sich im Einzelnen abgespielt hatte. Wiederholte chinesische Angriffe hatten die Linien der Amerikaner schließlich zusammenbrechen lassen. Wir haben sie überwältigt, dachte Wu, während er auf das Ufer eines kleinen künstlichen Teichs blickte, in dem fast kein Wasser mehr war. Dieser Schutzwall aus Schlamm und Gras hatte den angreifenden Chinesen vermutlich zeitweilig Deckung geboten, bis ein unsichtbares amerikanisches Geschütz aus einer nicht entdeckten Stellung das Feuer eröffnet hatte. Dreißig Tote lagen in einer fast perfekt geraden Reihe. Ein Lattenzaun, über dem Leichen hingen, neigte sich um fünfundvierzig Prozent, und die Füße der Toten steckten im Wasser. Der Kommandeur der Kompanie hatte sich aussuchen können, welchen 420
Zug er Wu anvertrauen wollte, weil alle ihren einzigen Offizier verloren hatten. Die Einheit, für die er sich schließlich entschieden hatte, war der einzige Zug, der nicht an dem Großangriff auf die örtliche Miliz teilnehmen würde. Diese bestand aus früh pensionierten Berufssoldaten in mittleren Jahren, die jetzt im Hafen arbeiteten und hartnäckig die Stadt verteidigten. Die Aufgabe von Wu’s Zug bestand darin, die Türen von Gebäuden einzutreten und schlecht ausgebildete Partisanen und verzweifelte Versprengte zu töten, die von ihren Linien abgeschnitten waren. Wu kniete hinter der Stoßstange eines Wagens, der auf Betonblöcken stand. Ihm fiel auf, dass seine Soldaten, die auf dem Bauch in Mulden lagen oder anderswo in Deckung gegangen waren, müde wirkten. Vier seiner Männer, angeführt vom Feldwebel des Zugs, brachen Stahltüren auf, aber sie öffneten sie gerade so weit, um Granaten in die Finsternis schleudern zu können. Bevor die Explosion die Fenster erleuchtete und zersplittern ließ, glaubte Wu einen erstickten Schrei gehört zu haben. Die Seitenwand wurde von Schrapnellsplittern durchbohrt, und durch die Löcher drang Rauch. Wu stand auf und ging auf den Eingang zu, aber der Feldwebel, der ihn näher kommen sah, erteilte schnell Befehle. Bevor Wu bei dem Eingang angelangt war, traten zwei Soldaten in den Türrahmen. Beide starben in einem Kugelhagel, der Wu veranlasste, sich blitzartig auf den Bauch zu werfen. Ohne Befehle erhalten zu haben, das Feuer zu eröffnen, begann Wu’s Zug das ganze Gebäude zu zerstören. Sie standen in einem Halbkreis vor der Vorderseite der Werkstatt und hatten freies Schussfeld – direkt über Wu’s Kopf hinweg. Der Feldwebel und die beiden Überlebenden vorn an der Tür warfen weitere Granaten in das Innere des Gebäudes. Nachdem Wu in sein vormaliges Versteck zurückgekrochen war, gab der Feldwebel den Befehl, das Feuer einzustellen. Nach einer Minute, während der das Gebäude mit automatischen Waffen, Handgranaten und aus Granatpistolen abgefeuerten Geschossen attackiert worden war, war jeder Quadratmeter der Werkstattmauern mit gezackten, rauchenden Löchern übersät. Wieder schickte der Feldwebel Männer in das Innere des Gebäudes, und erneut waren Schüsse zu hören, doch diesmal feuerten die Chinesen. Mit gezücktem und entsichertem Gewehr ging Wu auf die rauchgeschwärzte, qualmende Werkstatt zu, und zwar hinter ein paar zusätzlichen Soldaten, 421
die nach dem Willen des Feldwebels offensichtlich als menschliche Schutzschilde für Wu auserkoren waren. In dem Gebäude angekommen, bestand für Wu kein Zweifel, dass die Werkstatt zu einem primitiven amerikanischen Feldlazarett umfunktioniert worden war. Sterbende lagen stöhnend zwischen bereits Gestorbenen. Er sah männliche und weibliche Soldaten, Ärzte und Krankenschwestern und Männer, Frauen und Kinder, die offensichtlich Zivilisten waren. Ein etwa zehnjähriges Mädchen, dessen Gesicht und Brust blutverschmiert waren, streckte Wu ihre Hand entgegen, aber sie wies nicht auf ihn. Dir Handteller zeigte nach unten, als wollte sie Wu auffordern, ihre Hand zu ergreifen und ihr auf die Beine zu helfen. Vielleicht hatte sie doch auf ihn gezeigt. Ihre schrillen Schmerzensschreie hätten auch eine Anklage sein können. Ein Fluch, der auf seiner Seele für alle Zeiten einen Fleck zurücklassen würde. Wu’s Männer erlösten die Überlebenden aus ihrem Elend, indem sie sie schnell mit gezielten Schüssen töteten. Die Amerikaner waren alle so schwer verstümmelt, dass ohnehin keiner von ihnen überlebt hätte. Dies war die einzige humane Reaktion. Noch immer weinten und wimmerten einige Amerikaner, die allerdings nicht um ihr Leben bettelten. Sie waren viel zu schwer verwundet. Meistens gaben sie unartikulierte, klagende Laute von sich, mit denen sie ihr entsetzliches Ende betrauerten. Wu beobachtete eine amerikanische Krankenschwester, die einem beinlosen Mann ihre Hand über die Augen legte, während sich eine rauchende Mündung gegen seine Schläfen presste. Als der Schuss fiel, zuckte Wu zusammen. Die Krankenschwester begann Blut zu spucken. Ein rotes Loch in ihrem grünen Chirurgenkittel war das einzige Anzeichen für die tödliche Wunde in ihrer Brust. Während sie hustete, zerfetzte ein weiterer Schuss ihren Kopf. Das junge Mädchen zu Wu’s Füßen hatte seine Augen weit aufgerissen, aber sein Arm war zu Boden gesunken. Ein Feldwebel richtete seine Waffe auf das Mädchen, blickte aber Wu an. Doch Wu flüchtete vor dem Blut, den Schreien und dem Gestank des Gemetzels nach draußen, wo an diesem kühlen Nachmittag die Sonne schien. In seinem Rücken fiel der Schuss. Er hätte genauso gut Wu getroffen haben können, der auf die Knie fiel, die Arme um seinen Oberkörper schlang und am ganzen Leib zitterte. So hatte er sich die Front nicht vorgestellt. 422
Nordvirginia 19. Dezember, 1830 Uhr Ortszeit Das Wetter war mild. Die Mitglieder von Stephies Third Platoon hatten es sich in ihren Schützenlöchern bequem gemacht, die sie in einem Ring um die mit Tarnnetzen überspannten, aufblasbaren Zelte ausgehoben hatten, welche als Hauptquartier der Brigade dienten. Die Köpfe der Männer ruhten auf ihren Rucksäcken, und sie hielten sich zufrieden die vollen Bäuche. Ein Koch mit einer Schürze ging von einem Loch zum nächsten und füllte Aluminiumbecher mit dampfend heißem Kaffee. »Noch eine Tasse?«, fragte eine dunkle Stimme hinter Stephie, die sich umwandte und dann vor dem Kommandeur der Brigade Haltung einnahm. Fast jeden Tag kam der Ein-Stern-General die fünfzig Meter von seinem Zelt zu Stephies Loch hinüber, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt streckte er ihr einen Keramikbecher mit dem Logo der Militärakademie West Point entgegen. Aus Höflichkeit nahm Stephie das Angebot an. Der General ließ seinen Blick über den dunkler werdenden Himmel gleiten. »Angeblich wird das Wetter über Nacht noch stabil bleiben, aber morgen soll eine Kaltfront hier durchkommen«, sagte er. »Haben Sie und Ihre Leute genug Decken und Heizgeräte?« »Ja, Sir, alles in Ordnung. Danke, Sir.« »Ich habe etwas für Sie«, sagte der General, während er in die große Tasche seines Uniformrocks griff, der ihm bis zu den Oberschenkeln reichte. Er zog einen kleinen Palmtop-Computer hervor, öffnete ihn und schaltete ihn ein. Nach ein paar Pieptönen reichte er Stephie den Computer. Auf dem kleinen Plasma-Display war ein Standbild von Stephies Vater zu sehen. »Bringen Sie ihn mir, wenn Sie fertig sind«, sagte der General, bevor er Stephie allein ließ. Sie setzte sich auf den Rand ihres Schützenlochs und stellte den Kaffeebecher auf einen flachen Sandsack. Dann drückte sie auf »Play«, und das Bild ihres Vaters begann sich zu bewegen. »Ich bin’s, Sweetheart«, sagte er lächelnd. »Ich habe von deiner neuen Aufgabe gehört. Seitdem du sie hast, schlafe ich sehr viel besser, auch wenn es mittlerweile ja keinen wirklich sicheren Aufenthaltsort mehr gibt. Seit deine Mutter herausgefunden hat, dass wir uns E-Mails schicken, ruft sie fast jeden Tag an. Es gefällt ihr gar nicht, dass ich ihr deine E-MailAdresse nicht gebe.« 423
Stephie lachte. »Mittlerweile hat dein Stiefvater einen Job in einer Fabrik in Michigan gefunden, wo rüstungstechnische Produkte hergestellt werden. Sie haben sich in Dearborn niedergelassen, und ich habe ihnen versprochen, dir ihre neue Adresse mitzuteilen.« Stephie griff nach einem Notizblock und einem Stift und notierte Adresse und Telefonnummer. »Als ich deiner Mutter erzählt habe, dass dein Platoon von der Front abgezogen worden ist, war sie sehr erleichtert.« Mit zusammengebissenen Zähnen und einem finsteren Blick fragte sich Stephie erneut, wie ihr Third Platoon es bloß geschafft hatte, hier jetzt eine so ruhige Kugel zu schieben. Allerdings schien das ihren Soldaten nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil – sie dachten nur daran, dass ihre vermutlich kurze Lebenserwartung verlängert worden war. Doch Stephie war diese leichte Arbeit mittlerweile verhasst. Mehrfach war sie mit einem Wagen zur Front gefahren, um nach John und den anderen Soldaten der Charlie Company zu sehen. Manchmal traf sie sie in ihren Stellungen an, manchmal saßen sie tief in der Scheiße. Jedes Mal, wenn Stephie sie gefunden hatte, waren es weniger Soldaten. Lieutenant Colonel Ackerman, mittlerweile Kommandeur des Bataillons, hatte John zum Captain befördert. Beim Hauptquartier der Brigade gab es keine Möglichkeit, sich für eine Beförderung zu empfehlen, und man konnte in der militärischen Hierarchie auch nicht dadurch aufsteigen, dass der unmittelbare Vorgesetzte im Kampf fiel. Bis zum Rang eines Lieutenant Colonel – dem Kommandeur eines Bataillons – waren hohe Opferzahlen zu verzeichnen. Ein Bataillon wurde manchmal überrannt, nicht aber eine Brigade, die immer noch unter dem Kommando eines Colonel oder Brigadier General stand. »Wie auch immer, es wird dich glücklich machen, dass ich deinen Ratschlägen hinsichtlich meiner persönlichen Sicherheit gefolgt bin«, sagte Stephies Vater. »Tatsächlich ist das Sicherheitspersonal des Weißen Hauses vervier- oder verfünffacht worden. Es wimmelt nur so von Männern vom Secret Service, die mittlerweile auch schon eher nach Infanteristen als nach Bodyguards aussehen. Also, mir geht’s gut, Honey, ich hoffe, dass es bei dir auch so bleibt. Ich denke an dich, bete für dich und kann unser Wiedersehen gar nicht abwarten. Vielleicht werde ich unseren Truppen bald mal einen Besuch abstatten, man kann nie wissen.« Er grinste, trotzdem wirkte sein Gesichtsausdruck traurig. 424
Als das Video zu Ende war, küsste Stephie ihre Fingerspitzen und presste sie gegen das Display. »Goodbye, Dad.« Seufzend trank sie den Kaffee, dann stand sie auf, um den Computer dem General zurückzubringen, der in der Mitte ihrer Verteidigungsstellungen residierte. Durch das Tor in dem Stacheldrahtzaun kamen jetzt die Leute vom Stab der Brigade, die Nachtschicht hatten, und unterwegs kam ihnen ein Dutzend schläfriger Büroarbeiter entgegen. Die Männer und Frauen standen unter dem Tarnnetz direkt vor dem Polyurethan-Zelt und wurden mit den neuesten Informationen über ihre Arbeit versorgt. Dieser Anblick ließ Stephie die Stirn runzeln. Ihr Platoon war vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst, im Freien, Regen und Schnee ausgesetzt. Aus dem Dämmerlicht kam ein heulendes Geräusch, das an den Tod denken ließ. Vom Sendemast der Brigade, der etwa siebenhundert Meter entfernt war, drang ein infernalischer Krach zu ihnen herüber. Die Mitarbeiter im Stab der Brigade duckten sich und begannen zu schreien. Einige rannten in gebückter Haltung auf Unterstände zu, wobei sie die Helme fest auf ihren Kopf pressten. Andere ließen sich fallen, krochen ziellos davon oder rollten sich einfach zusammen. Während der Raketenangriff aus der Ferne verstummte, ging Stephie zu den Bürokräften, die offenbar einen verzweifelten Kampf gegen präzise gezielte Radiowellen führten. Allmählich wurden die dumpf grollenden Echos von dem Gelächter der Mitglieder von Stephies Third Platoon verdrängt. Ihre Infanteristen guckten aus ihren Löchern, tranken Kaffee und zeigten auf die von Panik erfasste Bürokraft, die sie am meisten amüsierte. »Wären Sie so nett, das dem Kommandeur der Brigade zu geben?«, fragte Stephie eine Frau, die vor ihren Stiefeln auf dem Bauch lag. Der weibliche Captain reckte den Hals, blickte unter ihrem Helm hinweg auf Stephie, stand auf und strich sich den Dreck von der Uniform. »Danke«, sagte Stephie, während sie ihr den Computer und den Kaffeebecher reichte. Jetzt kam der General aus dem Zelt, um einen Blick auf die Rauchsäule zu werfen, die über den Bäumen hinter einer Weide in den Himmel stieg. »Also dann!«, brüllte er seinen Leuten zu, bevor er sich an Stephie wandte. »Alles zusammenpacken, wir ziehen um!« Mist!, dachte Stephie, während sie auf die Perimeterstellungen zuging. 425
Mit ein bisschen Entspannung wurde es an diesem Abend nichts. Stattdessen mussten sie neue Schützenlöcher graben, Stacheldraht spannen, Minen legen, Glasfiberkabel für das Intranet verlegen und beim ersten Tageslicht weitermachen, vielleicht schon früher. »Scheiße!«, sagte einer ihrer Männer, als sie den Befehl erteilte. »Haltet die Klappe und setzt euch in Bewegung!«, schnauzte Stephie ihre Leute an. »Und hört endlich auf, euch über die Typen von der Brigade zu amüsieren, verdammt!«
Petersburg, Virginia 21. Dezember, 6 30 Uhr Ortszeit Leutnant Wu wurde aus dem Schlaf gerissen, weil jemand sanft seine Schulter schüttelte, doch er hatte so fest geschlafen, dass es einige Augenblicke dauerte, bis er wieder einigermaßen klar im Kopf war. In seinem Albtraum hatte er mit toten Chinesen und Amerikanern, Soldaten und Zivilisten, in einem Massengrab gelegen. Er setzte sich auf und schnappte nach Luft, während er immer noch glaubte, dass Erde auf sein Gesicht niederregnete. Nachdem er ein paarmal geblinzelt hatte, sah Wu seinen schmierigen Kampfanzug und seine Stiefel, die auf einer nackten Matratze lagen. Offensichtlich befand er sich in einem bescheidenen amerikanischen Eigenheim. Er war so müde gewesen, als er hier strandete, dass er sich an nichts erinnerte. Vor ihm stand Oberst Li, General Shengs Adjutant, und Wu bekam sofort Kopfschmerzen. Es war eiskalt, und sein trockener Husten verursachte stechende Schmerzen. Das Gemetzel des Vortags hatte in seinem Mund einen schalen Nachgeschmack zurückgelassen, der ihn an seine Angst und seinen Ekel erinnerte. »Wir müssen reden«, sagte Oberst Li. Wu schwang seine Füße auf den Boden und nahm erst einmal eine Tablette. In den Lazaretten wurden die Schmerzmittel großzügig verteilt, wenn sich jeden Morgen Schlangen von Kranken oder Verletzten bildeten. Die meisten warfen einfach nur die Pillen ein, um danach zu ihren Einhei426
ten zurückzukehren. Dabei ignorierten sie die Vielzahl ihrer Leiden, die von kleinen Kratzern bis hin zu klaffenden emotionalen Wunden reichten. Wu wusste, warum Oberst Li hier war, doch er würde darum kämpfen, dass man ihn nicht wieder von der Front zurückrief. Trotzdem sehnte sich ein Teil von ihm nach Shengs Hauptquartier zurück. Oder danach, nach Peking abberufen zu werden. Oder an irgendeinen anderen Ort, der weit genug von diesem Gemetzel entfernt war, das ihn krank machte und demoralisierte. Während die beiden Offiziere durch das Haus schritten, kamen sie an erschöpften Soldaten vorbei, die nachlässig Haltung annahmen. Oberst Li, der eine scharf gebügelte und makellose Uniform trug, schien sich unter den mürrischen Blicken der Soldaten unwohl zu fühlen. Bald traten sie durch die Eingangstür des Hauses in die Morgendämmerung eines neuen Tages hinaus. Wegen der eiskalten Luft zog Wu die Reißverschlüsse vorn an seiner Jacke und an den Ärmeln zu. Dann nahm er kurz seinen Helm ab, um eine eng anliegende Wollmütze überzustreifen. Die welligen Weiden und die Straße waren mit Kratern übersät, die von den schweren 155mm- und 175mm-Artilleriegeschützen gerissen worden waren und einen Durchmesser von zwei Metern hatten. Von den Bäumen um die Fenster herum war die Rinde abgeschält worden, alle Fensterscheiben waren zersplittert. Gerade wurde ein einzelnes gepanzertes amerikanisches Kampffahrzeug von einem chinesischen Spezialfahrzeug für die Bergung solcher Wracks von der Straße gezerrt. Während das Gefährt zurücksetzte, erinnerten die piependen Geräusche an einen Wagen der Müllabfuhr. »Lassen Sie uns ein Stück gehen«, sagte Oberst Li, und die beiden marschierten im Gleichschritt den Bürgersteig hinab. Wu war fest davon überzeugt, dass Li ihm gleich erklären würde, seine Zeit an der Front sei abgelaufen. Oder dass der Verteidigungsminister seine Meinung geändert habe. Oder dass Wu schon genug Gefechte gesehen habe, was tatsächlich der Wahrheit entsprach. Oder dass Wu’s Großvater oder sein Großonkel interveniert hätten. »General Sheng ist dabei, einen fürchterlichen Fehler zu machen«, flüsterte Oberst Li. Wu war geschockt. Er blieb stehen und wandte sich Li zu, der es offenbar ernst meinte. »Die Zusammenziehung der Truppen hier – südlich von Washington – ist nur ein Ablenkungsmanöver«, erklärte Li 427
mit leiser, besorgt klingender Stimme. »Sheng hat eine dritte Invasion angeordnet, ohne Peking darüber zu informieren.« »Eine dritte Invasion?«, fragte Li. »Wo denn?« »Er will seine Truppen direkt in Philadelphia an Land gehen lassen. Unsere Marine wird die letzten beiden amerikanischen Flugzeugträger versenken und dann unsere Soldaten an der amerikanischen Marinewerft von Philadelphia landen, wo sie die beiden Arsenalschiffe unter ihre Kontrolle bringen werden, die in nur einem Monat in Dienst gestellt werden können. Aber das ist ein entsetzlicher Fehler. Die Leute von unseren Nachrichtendiensten haben allen Grund zu der Annahme, dass die Raketenwerfer auf den Arsenalschiffen bereits funktionstüchtig sind. Sollte das der Fall sein, werden sie unsere Invasionsflotte vernichten und hunderttausende unserer Soldaten töten.« Wu blickte auf einen großen Krater, der wegen einer geborstenen Hauptleitung mit Wasser voll gelaufen war. Eine Blutspur verlief über die halbe Straße und endete dann in einem großen, getrockneten Flecken. Niemand wusste, ob es das Blut eines Chinesen oder eines Amerikaners war. Nicht, dass das irgendeine Rolle gespielt hätte. »Schon jetzt haben wir zwei Millionen Tote zu beklagen«, flüsterte Li. »Sollte Sheng seinen Plan in die Tat umsetzen, in Philadelphia eine weitere Invasion zu starten, könnte sich diese Zahl noch verdoppeln. Wir könnten diesen Krieg verlieren, und wenn das passiert, werden Köpfe rollen.« »Warum erzählen Sie das mir!«, fragte Wu. Li wartete, bis Wu ihn anblickte. »Sie könnten diese Invasion verhindern.«
Petersburg, Virginia 21. Dezember, 1345 Uhr Ortszeit Han Zhemin war so ungeduldig, dass er das Seitenfenster seiner Limousine herunterkurbelte, um in Erfahrung zu bringen, was sein Fahrer den Militärpolizisten fragte. Es machte ihn wahnsinnig, dass dieser offensichtlich den genauen Weg zu Wu’s Korps oder Division nicht kannte und nur den schlichten Hinweis gab, sie sollten einfach dem Highway folgen. 428
»Fahren Sie einfach!«, brüllte Han dem Fahrer zu. Als der Wagen anrollte, kurbelte Han wegen des kalten Winds das Fenster wieder hoch. Wie konnte er sich nur so dumm anstellen?, dachte Han mit zusammengebissenen Zähnen. Der Premierminister hatte ihn zusammengestaucht, weil er Wu’s Leben nicht hinreichend schützte. Tatsächlich kritisierte er sogar generell die Art und Weise, in der Han seinen Sohn behandelte! »Er ist doch noch ein Junge! Wir haben uns darauf verlassen, dass du ihn im Auge behalten würdest!«, rief Han’s Vater. »Du treibst ihn in die Arme der Militärs«, schimpfte der Premierminister. Jetzt seufzte Han verärgert auf, und zwar so laut, dass das Geräusch halb an ein Stöhnen und halb an ein Knurren erinnerte. »Seine Einheit ist nicht weit von hier stationiert«, sagte Han’s Berater über die Gegensprechanlage. Han verbarg seine Verärgerung vor den durchbohrenden Blicken seines besorgten Beraters, aber deshalb baute sich der Druck nur noch mehr auf. Wu hatte seinen Vater eingeladen, ihn bei »seiner Einheit« an der Front zu besuchen, wie er es in seiner E-Mail formulierte. Ein sofortiger Anruf bei General Sheng bestätigte die Tatsache, dass der junge Wu sich entschieden hatte, an die Front zu gehen. Han ging vor Wut in die Luft, »Wie konnten Sie es zulassen, dass er ein solches Risiko eingeht?«, fragte er herausfordernd. General Sheng schnitt ihm einfach das Wort ab. »Der Verteidigungsminister hat mir befohlen, Leutnant Wu’s Bitte zu entsprechen.« Jetzt verlangsamte Han’s Limousine das Tempo, weil sie die Interstate verlassen hatten und eine Umleitung nehmen mussten. Die beiden über einen schmalen Fluss führenden Brücken waren gesprengt worden. Der Lärm wurde lauter als die große schwarze Limousine über eine behelfsmäßige, mit Kies bestreute Straße knirschte. Während es den steilen Abhang zum Wasser hinunterging, konnte der Wagen nur noch im Schritttempo vorwärts kriechen. Pioniere kippten vom Lastwagen Steine und Erde in den Fluss. Offensichtlich führten sie einen permanenten Kampf darum, dass man den Fluss zumindest zeitweise überqueren konnte. Der Übergang führte über einige riesige Betonröhren, durch die ungehindert das Wasser des Flusses strömte. Zunächst glaubte Han, dass das Wasser steigen und die schwächliche Brücke hinwegfegen würde, was General 429
Sheng das Leben erschweren würde. Als der Wagen langsam auf den improvisierte Übergang fuhr, spähte Han zu den gesprengten Brücken vierzig Meter weiter rechts hinüber. Auf beiden Seiten der Brücke, die offenbar repariert werden sollte, sprühten Schweißbrenner Funken. Obwohl Han’s Limousine wegen der Panzerung, des kugelsicheren Glases, des Sechshundert-PS-Motors und des Allradantriebs extrem schwer war, erreichten sie mühelos das andere Ufer. Von jetzt an sah Han neben dem Highway nur noch ein riesiges Zeltlager. Auf der Interstate, die im Vergleich zu dem holprigen Umweg äußerst komfortabel erschien, beschleunigte die Limousine wieder, doch Han hatte nur noch Augen für das, was er neben der Straße sah. Zwischen den Bäumen, unter Tarnnetzen, erkannte er Panzer, automatische Artilleriegeschütze, Schützenpanzer, Pontonbrücken und tausende und abertausende Zelte. Farbloser Rauch stieg aus den kleinen Schornsteinen auf, die durch die Zeltleinwände hervorlugten. Ganze Kompanien standen angetreten zwischen den Reihen von Zelten, andere Kompanien warteten vor riesigen Zelten, in denen sie verpflegt wurden. Gelegentlich am Straßenrand vorbeigleitende Häuser dienten offensichtlich einer Brigade oder Division als Hauptquartier. Davor standen gepanzerte Kommandofahrzeuge mit langen Antennen. Obwohl Han nur die Hauptquartiere zählte, war er auch hier schon bald bei mehreren Dutzend angelangt. Seiner groben Schätzung nach war hier, südlich von Washington, eine Million Soldaten zusammengezogen worden. Am Ufer des Potomac ging Han zu Fuß weiter, um nach seinem Sohn zu suchen. Er war dankbar, dass der Boden so hart gefroren war, weil er ansonsten mit seinen eleganten Halbschuhen bis zu den Knöcheln im Morast versunken wäre. Han’s Berater fragte eingezogene Wehrpflichtige, deren Augen tief in den Höhlen versunken waren und die durch den Frost wie erstarrt wirkten, nach dem Weg. Zwanzigjährige Soldaten rappelten sich wie alte Männer hoch. Ihre Gesichtshaut war aufgesprungen, ihre rissigen Lippen bluteten, und sie antworteten mit ausdrucks- und lebloser Stimme. Außerdem war ihren Manieren, der nachlässigen Körperhaltung und dem höhnischen Grinsen zu entnehmen, dass sie Han und seinem Berater keinerlei Respekt entgegenbrachten. 430
»Wissen Sie jetzt, wo die Einheit ist, oder haben Sie keine Ahnung?«, wiederholte Han’s aufgebrachter Berater. Der einfache Soldat zuckte nur die Achseln. Als Han näher an den Mann herantrat, schien dieser merklich ängstlicher zu werden. Er roch nach Marihuana. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Kleidung war nachlässig und verschmiert. Um sie herum standen seine Kameraden, die die Szene verwirrt beobachteten. Alle waren bewaffnet und – wie Han vermutete – auch gefährlich. »Was ist los?«, fragte Han. »Was meinen Sie?«, erwiderte der respektlose Soldat. Das gedämpfte Lachen seiner Kameraden gefiel dem unverschämten Soldaten. »Warum werden diese Truppen hier zusammengezogen?«, fragte Han, während er mit einer ausladenden Handbewegung auf die von Soldaten wimmelnde Umgebung zeigte. »Was hat man Ihnen gesagt?« Der Mann lachte nur. Jetzt war er auf die Ermutigung durch seine Kameraden nicht mehr angewiesen. Offensichtlich kam seine Verärgerung von innen. »Was man mir erzählt hat?«, fragte er höhnisch. »Na, mal sehen. Nach ihren Worten sollte der Krieg schon im letzten Monat zu Ende sein, und vermutlich stimmt das auch, zumindest für die meisten der Männer, die mit mir hierher gekommen und jetzt neben diesem beschissenen Highway verbuddelt sind.« Die Wut des Soldaten war unübersehbar. Zwar gefiel es Han, General Sheng herauszufordern, aber bei Männern wie diesen sah die Sache anders aus, weil sie nur noch wenig zu verlieren hatten. Als er sich umblickte, sah er keine Offiziere oder Unteroffiziere, die offensichtlich auch nicht viel Sinn für Disziplin hatten. Schon seit einem Jahrzehnt waren die meisten höherrangigen Unteroffiziere nicht mehr auf Heimaturlaub in China gewesen, und wenn der Krieg in Amerika noch viel länger dauerte, würden nur sehr wenige überhaupt jemals wieder zurückkehren. »Sie haben behauptet, dass die Amerikaner schon nach ein paar Wochen mit ihrer Artillerie am Ende wären«, fuhr der Soldat fort, dessen Tonfall zwar wütend, aber nicht bedrohlich klang. »Stattdessen werden wir permanent bombardiert und beschossen. Sie haben verkündet, dass es keine Partisanenaktivitäten gebe, weil unser Feind zermürbt sei, aber stattdessen schießen sie uns mit Jagdgewehren in den Rücken, während wir scheißen oder uns vor der Feldküche anstellen.« 431
»Wenn sie uns überhaupt was zu fressen geben«, bemerkte ein anderer. Han’s Berater war so geschockt von dem aufmüpfigen Verhalten, das ihm vor Schreck die Kinnlade herunterfiel. Demgegenüber musste Han sich bemühen, ein Grinsen zu Unterdrücken. »Warum werden die Truppen hier zusammengezogen?«, wiederholte er ruhig. »Sind Sie über den Zweck dieser Aktion unterrichtet worden?« Der Soldat schnaubte und zog dann die Nase hoch. »Sie haben behauptet, wir könnten nach Hause zurückkehren«, antwortete er niedergeschlagen. Dieses Thema schien ihn in Depressionen versinken zu lassen. »Wenn Washington fällt, haben sie gesagt, können alle nach China zurückkehren.« Er blickte Han an, als erwartete er von diesem eine Bestätigung oder eine abschlägige Antwort. »Stimmt das?«, fragte er. Der Zyniker von vorhin schien sich unerklärlicherweise plötzlich in einen Optimisten verwandelt zu haben. »Was glauben Sie denn?«, fragte Han trocken lächelnd zurück. Der Soldat schloss die Augen, als wären seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden. Er ließ sich an dem schmalen Baumstamm zu Boden gleiten, an dem er zuvor gelehnt hatte. Gedankenverloren wandte sich Han ab, doch aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Berater dem Soldaten gegen die Beine trat. Der sitzende Mann ließ keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass er den Tritt überhaupt bemerkt hatte. »Warum bist du nur so blöde?«, giftete Han seinen Sohn an. Hinter Wu standen dessen Soldaten, die Han mit funkelnden Blicken bedachten, was er ignorierte. »Wie konntest du erwägen, dein Leben an der Front aufs Spiel zu setzen?« »Ich bin Soldat«, antwortete Wu mit kaum verständlicher Stimme. »Du bist kein Soldat!«, schnappte Han. »Du bist mein Sohn!« »Du hast mich nie offiziell anerkannt«, antwortete Wu wie aus der Pistole geschossen, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. Wu’s beispiellose Unverschämtheit schockierte Han. »Alle wissen, wer du bist«, murmelte er abweisend. »Niemand weiß, wer ich bin«, kam Wu’s rätselhafte, aber überzeugt klingende Antwort. Noch bevor Han antworten oder auch nur beginnen konnte, die Bedeutung der Antwort seines Sohnes zu enträtseln, sprach dieser schon weiter. »Wir müssen reden.« Der Satz klang wie ein Befehl. 432
Wu wandte sich brüsk ab, was Han’s erstaunter Berater mit einem wütenden Blick quittierte. Han Zhemin folgte einem schweigsamen Wu zu der Limousine. Als sie eingestiegen und unter sich waren, erzählte Wu seinem Vater von dem geheimen Plan, in den Shengs Adjutant ihn eingeweiht hatte. »Ich glaube, dass Oberst Li mich angelogen hat«, bemerkte Wu. »Natürlich hat er dich angelogen!«, stieß Han hervor, wobei er durch seinen Tonfall die Naivität der Bemerkung seines Sohns verächtlich machte. »Du brauchst dir doch nur die Truppen anzuschauen, die Sheng für seinen Bodenangriff auf Washington zusammengezogen hat!« »Aber warum sollte Sheng Li zu mir schicken, damit er mir diese Lüge auftischt?«, fragte Wu. »Damit er dich und mich dabei erwischt, wie wir Hochverrat begehen«, antwortete Han, der, erneut über die naive Frage seines Sohnes erstaunt, verzweifelt die Augen rollte. »Von was für einem Hochverrat redest du?«, fragte Wu mit gerunzelter Stirn, die von Verwirrung und Beunruhigung zeugte. »Von dem Hochverrat, den ich begehen werde, wenn ich Oberst Lis Informationen an die Amerikaner weitergebe«, erklärte Han, als hätte er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. Wu ignorierte die Kränkung und fragte seinen Vater, was er jetzt vorhabe. »Ich werde die Informationen an die Amerikaner weitergeben. Warum bist du nur so begriffsstutzig, dass du solche Dinge nicht verstehst, Wu?« »Aber du weißt doch, dass das mit den angeblichen Plänen nicht stimmt«, bemerkte Wu. »Guter Gott!«, sagte Han kopfschüttelnd auf Englisch, bevor er in seiner Muttersprache weiterredete. »Natürlich! Unsere wirklichen Pläne würde ich ihnen wohl kaum verraten!« Angesichts seines ratlosen Sohnes schnaubte Han amüsiert. »Wir müssen die Arsenalschiffe in unsere Hand bringen, Wu. Wenn Baker seine Männer aus den Verteidigungsstellungen um Washington herum abzieht, weil sie eine Invasion vom Meer her verhindern sollen, wird Sheng durchbrechen und Philadelphia auf dem Landweg einnehmen. Du siehst also, dass ich Sheng helfen werde, die Schlacht um Washington zu gewinnen, indem ich das tue, was er vermutet, dass ich es schon die ganze Zeit über getan habe. Er verdächtigt mich, militärische Geheimnisse an die Amerikaner weiterzugeben.« 433
»Und hast du Geheimnisse an die, Amerikaner verraten?«, fragte Wu. »Nein, aber ich würde es tun, wenn ich es für richtig hielte.« »Das bedeutet also Folgendes: Wenn Sheng seine Siege zu leicht erringt – wenn der Preis, den er an Opfern zahlt, zu gering ist –, würdest du versuchen, die Waage wieder ins Gleichgewicht zu bringen, um deine Position zu stärken.« »Sheng hat Geheimnisse an die Amerikaner verraten«, sagte Han. »Du wechselst das Thema. Außerdem glaube ich dir nicht«, erwidert Wu. »Das ist doch eine ganz einfache Frage. Würdest du die Kriegsanstrengungen der Amerikaner unterstützen, um an der Heimatfront politisch zu punkten?« Lächelnd lehnte Han sich zurück. »Einige Fragen lassen sich nicht einfach mit einem Ja oder Nein beantworten. Außerdem ist deine Frage rein hypothetischer Natur. Die Zahl der Opfer, die Sheng vorzuweisen hat, ist atemberaubend, und wenn er Washington angreift, wird sie sich noch verdoppeln oder verdreifachen. Wusstest du, dass das Verteidigungsministerium die Familien, deren Söhne als Soldaten gefallen sind, nur noch verzögert benachrichtigt? Und jede Erwähnung eines Gefallenen in einem Brief oder einer E-Mail wird damit bezahlt, dass man sofort an die Front geschickt wird.« Shengs törichter Plan brachte Han zum Lachen. »Tatsächlich haben sie vor, diese Benachrichtigungen allmählich ganz einzustellen. Pro Monat fallen zehn- oder zwanzigtausend Soldaten. Offensichtlich sind sie jetzt schon bei einer Million Toten, und die Familien wissen bisher noch nicht einmal etwas davon.« Han brach in schallendes Gelächter aus. »Ich glaube dir nicht«, sagte Wu. »Meiner Ansicht nach planen sie, um den 15. Januar herum einen ganzen Schwall von diesen Benachrichtigungen herausgehen zu lassen«, sagte Han, der aus seinen Unterlagen das entsprechende Papier herauszusuchen begann. Schließlich fand er es. »Nein, am 16. Januar, wenn sie die Schlacht um Washington gewonnen haben. Dann werden sie die Opfer als notwendigen Preis des glorreichen Siegs über die Vereinigten Staaten von Amerika hinstellen. Aber der Haken bei diesem ansonsten geschickt ausgedachten Plan sind die Zahlen.« Han bemühte sich, nicht wieder in lautes Gelächter auszubrechen. »Bis dahin haben sie viel mehr Soldaten verloren, als sie in diesem Gefecht eingesetzt haben werden. Und dann wird die 434
große Stunde irgendeines TV-Nachrichtenmagazins schlagen, dass sich etwas auf seinen investigativen Journalismus zugute hält. So wird den Chinesen die offensichtliche Lüge aufgetischt, und der Sieg bei Washington verwandelt sich in Chinas nationale Tragödie.« »Und was ist, wenn die Amerikaner die Schlacht um Washington gewinnen?«, fragte Wu. Wieder lachte Han, aber offenbar schien er es nicht mehr so sehr zu genießen wie zuvor. »Du kennst die Amerikaner nicht sehr gut, Wu. Was Sheng für sie bereithält, können sie nicht aushalten. Er ist unnachgiebig, findet kein Ende und wird ihnen schließlich durch seine brutalen Methoden das Genick brechen. Aber dabei wird er sich auch selbst das Genick brechen. An den Ufern des Potomac werden die Amerikaner und Sheng verlieren.« Wu wich dem Blick seines Vaters aus, und das Schweigen wurde immer unbehaglicher, je länger es dauerte. Schließlich zuckte Wu die Achseln. »Ich sollte zu meinem Zug zurückkehren.« Als Han nicht reagierte, schaute Wu ihn an. »Es sei denn, dass der Premierminister sich dadurch gekränkt fühlen würde.« Han schnaubte erneut, doch dann grinste er. Diesmal verstand er seinen Sohn, der offensichtlich vom Krieg die Nase voll hatte. Wu blickte auf seine Stiefel und das zwischen seinen Knien eingeklemmte Gewehr. Ein selbstgefällig dreinblickender Han drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Fahren Sie uns nach Richmond zurück.«
Hauptquartier der chinesischen Zivilisten, Richmond 21. Dezember, 1530 Uhr Ortszeit Als Han Zhemins Limousine vor dem Hauptquartier vorfuhr, stieg sein Berater aus und wartete, bis ihm sein Chef durch ein Nicken bedeutete, den Schlag zu öffnen. Während der langen Rückfahrt hatten Vater und Sohn kein Wort miteinander gesprochen. Beide hatten nur auf die endlosen Reihen der Zelte und die eindrucksvolle Anhäufung von militärischem Gerät gestarrt. Jetzt blieb Wu zwar weiterhin in der Limousine sitzen, aber schließlich brach er das 435
Schweigen. »Ich sollte in Shengs Hauptquartier zurückkehren«, murmelte er. »Was immer du auch tun magst«, sagte Han, »halte dich von Shengs Hauptquartier fern. Dasselbe gilt für Häfen, Bereitstellungsräume, Flugplätze und strategische Ziele. Und ich verbiete dir strengstens, dich der Front auch nur zu nähern. Das ist ein Befehl. Hast du mich verstanden, Wu?« Jetzt begriff Wu den Plan seines Vaters vollkommen. »Du willst deinen alten Freund Baker davon überzeugen, Philadelphia gegen die Invasion zu verteidigen, damit er seine Soldaten aus den Verteidigungsstellungen um Washington herum abzieht«, sagte er anklagend. »Nach dem Fall von Washington werden unsere Truppen dann auf dem Landweg nach Philadelphia vorstoßen, und Präsident Baker bleibt keine andere Wahl, als Atomwaffen einzusetzen… und genau davor hat die zivile politische Führung Chinas gewarnt. Wir werden die Marinewerft von Philadelphia nicht einnehmen, sondern sie durch einen nuklearen Vergeltungsschlag zerstören. Du willst sicherstellen, dass sich die Warnung des Premierministers als berechtigt erweist, und deshalb wirst du dafür sorgen, dass die Amerikaner Atomwaffen einsetzen! Und dann wird der Premierminister die horrende Zahl unserer Opfer ausschlachten, um den Verteidigungsminister politisch anzugreifen!« »Endlich hast du es kapiert!«, sagte Han, der plötzlich wieder lebhaft wurde. »Und du hast geglaubt, du wärst für die Geschäfte unserer Familie nicht geeignet.« Wieder trat Schweigen ein. Han’s gute Laune stand in einem auffälligen Kontrast zu der Stimmung seines Sohns. »Und was ist, wenn Präsident Baker sich weiterhin weigert, zu Atomwaffen Zuflucht zu nehmen?«, fragte Wu zähneknirschend. »Pläne für den Notfall gibt es immer«, antwortete Han, ohne irgendein Anzeichen dafür zu erkennen zu geben, dass er darüber hinaus noch etwas sagen würde. Dann nickte er seinem Berater zu, der endlich den Schlag öffnen konnte. »Denk daran, dass du dich von allen wichtigen strategischen Zielen fern hältst«, sagte Han, bevor sein Berater hinter ihm die Tür zuwarf. Einen Augenblick lang saß Wu schweigend da. Während der Fahrer in den Rückspiegel blickte, umklammerte er das Lenkrad. Schließlich drück436
te Wu auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Bringen Sie mich zum Hauptquartier der Armee.«
Washington D.C. 22. Dezember, 1000 Uhr Ortszeit Präsident Bill Baker und Tom Leffler, der Sprecher des Repräsentantenhauses, inspizierten gemeinsam die von Einschusslöchern entstellten Sehenswürdigkeiten der fast menschenleeren, evakuierten Hauptstadt Amerikas. Am Fuß des Washington Monument schüttelten sie den einzigen hier sichtbaren Touristen die Hände, einer aus Wisconsin angereisten Familie. »Was führt Sie hierher?«, fragte Baker die Eltern. »Wir wollten das einmal sehen und es unseren Kindern zeigen, solange es noch möglich ist«, antwortete die Mutter. Die beiden mürrischen Kinder im Grundschulalter schwiegen mit ausdruckslosen Mienen. Die Familie eilte davon, um vor dem Fall Washingtons noch alle Sehenswürdigkeiten in Augenschein nehmen zu können. Die kurze Begegnung verdüsterte die Stimmung der beiden wichtigsten gewählten Politiker Amerikas, die unter den wachsamen Augen von dreihundert Agenten des Secret Service dahinschlenderten. Die Mitglieder des für Bakers Sicherheit abgestellten Sonderkommandos trugen dunkle Sonnenbrillen und waren mit Waffen ausgerüstet, die man sonst eher bei der Infanterie vermutete. Wegen der darunter verborgenen Munition drohten ihre Anzüge aus den Nähten zu platzen. Da die Bodyguards so dicht bei ihnen waren, unterhielten sich die beiden Politiker nur in gedämpftem Tonfall. Als Bill auffiel, dass der alternde Leffler langsamer zu gehen begann, steuerte er auf eine Bank zu, wo sie Platz nahmen. Die Agenten postierten sich um sie herum, und etwas weiter weg wurden die Motoren einiger schwarz lackierter, gepanzerter Fahrzeuge angeworfen, die ein paar Meter näher kamen, um besser vorbereitet zu sein, falls sie reagieren mussten. Lefflers Mund öffnete und schloss sich ständig, und seine Wangen hingen schlaff herab. In den letzten zwei Jahren ist er um zehn Jahre gealtert, dachte Baker. Aber das lag nicht am Krieg, sondern am Verlust seiner 437
Frau Beth, die ihm immer Kraft gegeben hatte und der Fixstern in seinem Leben gewesen war. »Der Supreme Court hat Ihren National Secrecy Act gerade für verfassungswidrig erklärt, Tom«, sagte Bill sanft, während er Leffler eine gefaxte Kopie der Urteilsbegründung reichte, doch dieser warf nicht einmal einen Blick darauf. »Hören Sie, Tom, wir beide sind die politischen Führer dieses Landes. Sollten Sie irgendein Problem haben, dann lassen Sie uns darüber reden. Mir sind gewisse Dinge zu Ohren gekommen.« Lefflers blutunterlaufene Augen richteten sich auf Bill, der seinen Blick über die Skyline von Washington schweifen ließ. »Es gibt Menschen«, sagte Baker mit einer wie abwesend klingenden Stimme, »die daran glauben, dass die Monumente, die wir in dieser Stadt errichtet haben, für ganz Amerika stehen. Folglich glauben sie auch, dass wir alle Waffen aus unserem Arsenal einsetzen müssen, um zu verhindern, dass die Chinesen sie einnehmen oder dass wir hier den Krieg verlieren. Sie vertrauen nicht darauf, dass unsere Männer und Frauen in den Bunkern an den Ufern des Potomac diesen Job erledigen können. Deshalb wollen sie in Nordvirginia nukleare, chemische und sogar biologische Waffen einsetzen.« Bakers Stimme drohte zu brechen. »Aber ich werde das nie zulassen.« Er klopfte mit einer Faust auf seine Oberschenkel. »Niemals! Ich werde sie bis zum letzten Mann auf dem letzten Gipfel der Rocky Mountains kämpfen lassen, und zwar deshalb, Tom, weil immer ein kämpfender Mann mit einem Gewehr in der Hand auf diesem Gipfel stehen wird. Das ist Amerika, Tom, das ist Amerika« Baker traten Tränen in die Augen. Unerwarteterweise legte Leffler dem jüngeren Mann – dem Liebhaber seiner Tochter – einen Arm um die Schultern. »Ich mache mir Sorgen um Clarissa«, sagte der alte Mann schließlich. »Sie steht mir sehr nahe, Tom, und ich habe nicht die Absicht, sie zu verletzen«, sagte Baker ernst. Aber Leffler schüttelte nur den Kopf – er hatte etwas anderes gemeint. »Wollten Sie sagen, dass Sie sich um ihre Sicherheit Sorgen machen?«, fragte Baker. Plötzlich wirkte Leffler aufgeregt. Er atmete tief durch, aber er wollte Baker nicht in die Augen blicken. »Wissen Sie irgendetwas über die Ermordung der Vizepräsidentin, Tom?«, fragte Baker. Während Leffler gemächlich den Kopf schüttelte, schienen seine Augen 438
ins Nichts zu blicken. »Ich schwöre bei Gott, dass ich nichts darüber wusste«, murmelt er. Leffler hatte statt »weiß« »wusste« gesagt. Obwohl Baker ihm glaubte, wunderte er sich doch über seine Wortwahl. »Sorgen Sie sich wegen des FBI, Tom?« Sofort wirbelte Lefflers Kopf zu Baker herum. »Ich werde Asher absägen«, flüsterte Baker seinem neuen Vertrauten zu. »Nach dem Urteil, das Sie da in Händen halten, ist es mit seinen Gestapo-Methoden vorbei.« »Sie wissen, dass sie hinter Clarissa her sind«, sagte Leffler. »Man sagt, dass sie sie als… chinesische Spionin verhaften werden.« Sofort flammte Bills Zorn auf. »Hat Asher Sie unter Druck gesetzt oder gar bedroht, Tom?« Einen entkräfteten alten Mann, dachte er wütend, aber natürlich sprach er es nicht aus. »Dieser Dreckskerl!« Bill fluchte noch immer leise vor sich hin, als der Chef vom Sonderkommando des Secret Service zu ihnen trat und sich für die Störung entschuldigte. »Es ist der Außenminister, Mr President.« Bill griff nach dem abhörsicheren Mobiltelefon. »Was gibt’s denn?«, fuhr er den nichts ahnenden Politiker an, da sein Zorn immer noch nicht ganz verraucht war. Aber der Außenminister erstattete unerschrocken sofort Bericht. »Han Zhemin bittet um ein weiteres Treffen mit Ihnen.«
Nordvirginia 23. Dezember, 2310 Uhr Ortszeit Major Jim Hart lag unter einem Haufen Laub am Fuße eines Baums und warf sich unruhig in seinem Schlafsack hin und her. Es war eine kalte Nacht, aber wenigstens regnete oder schneite es nicht. Er schnaubte verächtlich, frustriert über sein gegenwärtiges Leben, und vor seinem Mund bildeten sich Rauchwölkchen. Mittlerweile lag sein letzter riskanter Einsatz bereits eine Woche zurück, doch sein Einsatzleiter – der einäugige Colonel – hatte ihm befohlen, sich versteckt zu halten und nichts zu unternehmen. Hart war genervt. 439
Ihm war klar, dass er für einen Krieg bereits genug geleistet hatte, aber im Laufe der Woche hatte die Untätigkeit dazu geführt, dass er glaubte, an schleichenden inneren Vergiftungserscheinungen zu leiden. Gegen diese Krankheit gab es nur ein Heilmittel – er musste endlich wieder handeln. Wie ein Sportler, der sich verausgaben und schwitzen musste, musste Hart kämpfen. Er wusste, dass eine entscheidende Schlacht bevorstand. Er befand sich hinter den chinesischen Linien, exakt zwölf Meilen von der Front entfernt, und für den Fall, dass man ihn zurückrufen würde, hielt er sich in der Nähe dieser Linien. Dort verbarg er sich vor den chinesischen Helikoptern, die bei ihren Übungen Tierflüge durch die Täler flogen, vor den Lastwagen und gepanzerten Kampffahrzeugen, die unablässig über die Landstraßen rumpelten, und vor den feindlichen Artilleriegeschützen, die unter Tarnnetzen versteckt waren. Bald würden diese schweren Geschütze junge Amerikaner töten, die ihre – und Harts – Hauptstadt verteidigten. Warum haben sie sich bloß für diese Taktik entschieden?, fragte sich Hart wütend zum hundertsten Mal. Es musste doch die Hölle sein, diesen Sturm in einem Bunker überwintern zu wollen, in dem sie wie die Ratten darauf warteten, dass das Ende durch den gut gezielten Schuss eines feindlichen Panzers kam – oder dadurch, dass sie irgendwann von den Chinesen überrannt wurden. Seine Zähne knackten laut, und er zuckte zusammen. Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn. Dies war wahrlich nicht der geeignete Ort, um sich einen Zahn zu brechen. Doch seine Zunge entdeckte keine Bruchstellen. Der Schmerz ließ nach, nicht aber Harts Zorn. Schließlich beschloss er resolut, wieder aktiv zu werden. Selbst wenn sie ihn zu den eigenen Linien zurückrufen sollten, würde er vorher nicht tatenlos herumsitzen. Was ist eigentlich, wenn sie mich gar nicht zurückrufen?, dachte Hart. Wenn sie mich hier kämpfen lassen, bis ich selbst getötet werde? Hart drehte sich der Magen um. Dann kam ihm die Galle hoch. Wegen des üblen Geschmacks in seinem Mund wollte er einen Schluck aus der Feldflasche nehmen, doch er war zu müde. Außerdem hatte er keine Lust, hinterher erneut seine Tasche mit Blättern bedecken zu müssen. Jetzt führte er Krieg gegen die Kälte und seine Sehnsucht, endlich wieder einmal duschen und in einem warmen Bett schlafen zu können. Aber 440
wenigstens war die Luft klar und frisch, was in einem Bunker bestimmt anders war. Allein schon dieses Wort, »Bunker«, dachte Hart. Damit assoziierte er immer nur »Grab« oder »Mausoleum«. Und wie heißt noch das andere Wort, das mir dann immer einfällt?, fragte er sich. Beinhaus, antwortete eine andere Stimme in seinem Kopf, die Stimme, die ihm jetzt Gesellschaft leistete. Mittlerweile führte Hart immer häufiger Selbstgespräche. Bei den Lipscombs war das noch ganz anders gewesen, und Hart wurde melancholisch, wenn er an diese Zeit zurückdachte. Damals hatte er täglich Kontakt zu Menschen gehabt. Er unterhielt sich mit Jimmy und Amanda, wenn sie aus der Schule kamen, und nach dem Abendessen sprach er mit ihren Eltern. Und jetzt liege ich hier und rede nur noch mit mir selbst, dachte er. Um Himmels willen, ich muss wieder kämpfen, eine beschissene Brücke in die Luft jagen, einen Konvoi unter Feuer nehmen oder Minen legen! Aber sein Einsatzleiter hatte ihm befohlen, auf keinen Fall zu riskieren, dass er entdeckt wurde. »Halten Sie sich nur versteckt«, hatte der einäugige Colonel von den Special Forces gesagt. Hart fragte ihn nach dem Grund. Der Einsatzleiter, der sich irgendwo in einer unterirdischen Befehlszentrale in Maryland aufhielt, sagte irgendetwas von einem »strategisch wichtigen Aktivposten«, doch seine ersten Worte waren durch eine Schwankung des Funksignals fast unverständlich gewesen. Hart glaubte, dass er gesagt hatte, Amerika müsse alle seine für das Schicksal der Nation strategisch wichtigen Aktivposten schonen. Da begriff Hart, dass er mittlerweile zu wertvoll war, als dass man ihn unnötig einem Risiko ausgesetzt hätte. In Maryland hatte er während seiner Kampfpause nach der Flucht mit den Lipscombs erfahren, was mit den anderen Leuten aus seiner Einheit geschehen war. Eigentlich durfte er darüber nichts wissen, weil er gefangen genommen werden konnte und man dann versuchen würde, Geheimnisse aus ihm herauszupressen, aber ein einfühlsamer Mitarbeiter erzählte es ihm trotzdem. Vor dem Beginn des Krieges waren viertausendsechshundert Green Berets von der 5 th Special Forces Group auf das Territorium von Alabama und Mississippi verlegt worden. Von viertausendeinhundert fehlte jede Spur. Wahrscheinlich waren sie getötet oder gefangen genommen worden. Von weiteren dreihundert Männern wusste man, dass sie im 441
Einsatz getötet worden waren, die meisten hatten die Chinesen öffentlich exekutiert. Die Namen der letzten zweihundert Green Berets Waren auf Listen mit Kriegsgefangenen aufgetaucht. »Das macht insgesamt viertausendsechshundert«, bemerkte Hart. Der Stabsoffizier nickte. »Und was ist mit mir?«, sagte Hart erregt. »Ich habe überlebt.« »Kleine Fehler sind eben nie ganz auszuschließen.« Diese Worte waren Hart im Gedächtnis geblieben. Was für eine Rolle spielte ein weiterer Todesfall in einem Krieg, in dem Millionen starben? Vielleicht überlebe ich das Ganze doch, dachte er, während er in dieser eiskalten, klaren Nacht durch die kahlen Äste zu den Sternen hinaufblickte. Vielleicht auch nicht, antwortete die andere Stimme in seinem Kopf. Aber es spielt eigentlich auch keine Rolle, stimmten beide überein.
Hauptquartier der chinesischen Zivilisten, Richmond 24. Dezember, 1600 Uhr Ortszeit Han saß im dritten Stock eines gewöhnlichen amerikanischen Bürogebäudes an seinem Schreibtisch. Eigentlich hätte sein Hauptquartier in der Villa des Gouverneurs des Bundesstaats untergebracht werden sollen, aber die war von sich zurückziehenden Männern der Nationalgarde zerstört worden. In der Zwischenzeit hatten sie nichts Besseres als diese schäbigen Büroräume einer Versicherungsgesellschaft gefunden. Bald würde die Renovierung des vierzigsten Stockwerks abgeschlossen sein, und vielleicht würde er sich dann in dieser behaglicheren Umgebung mehr zu Hause fühlen. Eine Explosion ließ Fenster und Türen erzittern. Han’s Nerven lagen blank. Es hatte keinen Luftalarm gegeben, und die Explosion hatte ganz in der Nähe stattgefunden. Jetzt folgten Salven aus Maschinengewehren. Fast hätte Han’s Herzschlag ausgesetzt. Das war’s dann wohl, dachte er. Er tippte auf seinen Videomonitor, der aus der Schreibtischplatte in die Höhe schoss und ein Bild seines Wartezimmers zeigte, das gerade von Soldaten in Paradeuniformen gestürmt wurde, bei denen es sich entweder um das für seine Sicherheit verantwortliche Sonderkommando oder um 442
verkleidete Widersacher handeln musste. Die Tür flog auf, und Han zuckte zusammen. Mit Gewehren bewaffnete Soldaten stürmten in das Büro, und Han machte sich auf das Schlimmste gefasst. Aber statt ihn zu exekutieren, bauten sich die Männer um seinen Schreibtisch herum auf. »In Deckung, Administrator Han!«, brüllte einer. Han wurde an beiden Armen gepackt und zu Boden gezerrt, wobei sein Brustkorb schmerzhaft auf den Fuß seines Drehstuhls krachte. Dann wurde er unter seinen Schreibtisch geschubst, der immerhin gepanzert war. Diese Soldaten wollten ihn nicht umbringen, sondern waren zu seinem Schutz hier. Han’s Beklemmung löste sich wieder, und er konnte befreit durchatmen. Er lebte noch. Tatsächlich war Han angesichts der ihm gewährten Gnadenfrist in so euphorischer Stimmung, dass ihn die knatternden Schüsse im Stockwerk unter ihm nicht ernsthaft irritierten. Um sich zwischen dem gepanzerten Schreibtisch und den sechs Leibwächtern eine etwas bequemere Körperhaltung zu verschaffen, stieß Han einen Soldaten mit dem Ellbogen. Einer seiner Kameraden verfolgte über ein Funkgerät den weiteren Verlauf des Partisanenangriffs auf Han’s Hauptquartier. »Sie sind im Treppenhaus, im Treppenhaus!«, konnte Han leise durch die Kopfhörer des nächsten Soldaten hören. Vor seiner Tür wurde aus automatischen Waffen gefeuert. »Geht den Korridor runter, sie platzieren eine Sprengstoffladung. Werft Handgranaten! Handgranaten!« Die Explosionen von einem Dutzend Granaten ließen das Gebäude erzittern. Wieder folgten Salven aus Schnellfeuerwaffen. Dann herrschte Stille. »Das Gebäude ist sicher.« Die Leibwächter machten einem bereits wieder munteren Han Platz, der aufstand und sich den Staub von seinem Anzug klopfte. »Ich verlange einen detaillierten Bericht darüber, wie diese Partisanen in das Gebäude gelangen konnten«, sagte Han, während er die Soldaten entließ. Sie waren zufrieden, so glimpflich davongekommen zu sein. Auf einem Sofa in seinem Wartezimmer saß ein Soldat, dessen Gewehr auf seinen Oberschenkeln lag. Die gerade erst beendete gewalttätige Auseinandersetzung, die sich direkt in seiner Nähe abgespielt hatte, schien ihn nicht weiter beunruhigt zu haben. Er trug eine schmutzige Uniform und 443
hielt seinen Helm in den Händen. Durch die extrem kurz geschorenen Haare schimmerte seine gebräunte Kopfhaut, und am Hals hatte er eine lange rote Schramme. Er blickte Han direkt in die Augen. »Wer ist das?«, fragte Han, als sein Berater gerade die Tür seines Büros schließen wollte. Hastig steckte der Berater noch einmal seinen Kopf durch die Tür. Anscheinend hatte ihm der Angriff zugesetzt, und er wollte augenscheinlich so schnell wie möglich Land gewinnen. »Keine Ahnung, er ist ohne Voranmeldung hier aufgetaucht. Er steht nicht im Terminplan, der sowieso schon voll ist.« Der Berater hustete. »Aber er weigert sich zu verschwinden. Ich hatte bereits die Leute vom Sicherheitsdienst benachrichtigt, aber die waren offensichtlich beschäftigt.« »Was will er denn?«, fragte Han, der irgendetwas zu riechen schien. »Und finden Sie heraus, ob es irgendwo im Gebäude brennt. Hier stinkt’s nach Rauch.« »Ja, ich rieche es auch. Also, der Mann da draußen will mit Ihnen reden.« Han war aufgebracht. »In einem solchen Fall sollten Sie mich benachrichtigen!« Er tippte erneut auf seinen versenkten Videomonitor, der vor ihm nach oben schoss. Nachdem er auf zwei Knöpfe gedrückt hatte, richtete sich die Kamera auf den Soldaten. Jetzt trat der Berater aus dem Türrahmen in das Büro. »Wir wussten nicht, ob wir ihm vertrauen können.« »Wie hat er es geschafft, mit der Waffe in mein Wartezimmer zu gelangen?«, fragte Han. »Natürlich können Sie ihm vertrauen! Er sitzt in einem Wartezimmer und wartet! Bitten Sie ihn herein!« Der Mann nickte, als hätte er das schon die ganze Zeit über vorgehabt. Der wartende Offizier – ein Major – wurde in Han’s Büro gerührt, und dieser beobachtete den Besucher aufmerksam, während der sein Gewehr an einen Stuhl neben der Tür lehnte. Als er die Waffe sicherte, ertönte ein Klicken. Obwohl der Soldat Major war, konnte er nicht älter als dreißig sein, aber so war das eben in Kriegszeiten. Fünf oder sechs Jahre nach Erhalt des Offizierspatents befehligten die Überlebenden schon mit Mitte zwanzig Kompanien, und wenn sie auch noch dreißig wurden, waren sie Kommandeur eines Bataillons mit sechshundert Achtzehnjährigen. 444
Der Offizier nahm vor Han’s Schreibtisch Haltung an und salutierte. »Was kann ich für Sie tun, Major?«, fragte Han wohlwollend. »Die Armee wird meine Männer massakrieren«, antwortete der Major. »Sie bereitet sich darauf vor, alle meine Männer zu exekutieren – vierhundert Soldaten.« »Und warum?« »Wegen Fahnenflucht. Sie halten sie in Schuppen bei einer Highschool am nördlichen Stadtrand fest.« Jetzt begann Han’s Gehirn zu schalten, und er spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch. Hatte dieser Mann irgendetwas mit einer Falle zu tun, die Sheng ihm stellte? Oder hatten sich seine Männer wirklich einer beweisbaren Fahnenflucht schuldig gemacht? Käme seine Einmischung einer Störung der militärischen Ordnung und Disziplin durch einen Zivilisten gleich? Das würde der Verteidigungsminister mit Sicherheit nicht hinnehmen, und in diesem Fall würde sich der Premierminister nicht schützend vor ihn stellen können. Oder hatte es mit dieser Sache gar keine tiefere Bewandtnis? Handelte es sich nur um die Bitte eines Soldaten mit Gewissen und infolgedessen um genau die Gelegenheit, nach der Han gesucht hatte, um der Zwangsjacke seines offiziellen Terminkalenders zu entkommen? »Warum hat man Ihre Einheit der Fahnenflucht bezichtigt, Major?«, fragte Han. Plötzlich wurde der Mann lebhaft. »Das ist doch alles Unsinn!« Er beugte sich über Han’s Schreibtisch, wobei er beide Hände auf der Platte abstütze. Als er Han erschrocken zurückzucken sah, überlegte er es sich anders und stand dann wieder reglos da. »Mein Pionier-Bataillon erhielt den Befehl, unsere Brückenbauausrüstung zu einem Ort zu bringen, der noch von amerikanischen Soldaten in Schützengräben gehalten wurde, als wir dort ankamen!« »Ist das wirkliche Ziel Ihres Einsatzes der Potomac?«, fraget Han plötzlich. Einen Augenblick lang wirkte der Major konsterniert, und er antwortete nicht. Sein Blick schweifte durch Han’s Büro, in dem es kleine Flaggen an winzigen Fahnenmasten und Fotografien gab, die Han beim Händedruck mit dem Premierminister zeigten. Han wartete ab. Der Major schluckte und nickte dann. »Über Funk habe ich durchgegeben, dass wir nicht weiter 445
vorrücken könnten, weil wir unter Beschuss geraten wären. Der Kommandeur des Regiments hat geantwortet, dass wir absitzen und diese Stellungen einnehmen müssen. Aber die Amerikaner hatten sich in Betonbunkern verschanzt, vor denen sich tausend Meter weit überlappende Schussfelder erstreckten! Außerdem gab es Minenfelder, die erst hätten geräumt werden müssen! Mir war klar, dass bei der Planung irgendein Fehler passiert sein musste, und folglich habe ich mich direkt ins Hauptquartier der Division begeben.« Und das war der erste aufrührerische Akt, dachte Han nickend. Bisher hatte die Geschichte Hand und Fuß. Indem der Major den halsstarrigen Kommandeur des Regiments umgangen hatte, hatte er die hierarchische Befehlskette ignoriert. Wenn das seinem Wesen entsprach, würde die Anklage wegen Meuterei schließlich auf Han’s Schreibtisch landen, der ziviler Administrator der besetzten Gebiete, aber nominell eben auch Chef der Militärs war. »Während meiner Abwesenheit«, fuhr der junge Offizier fort, »gerieten meine Männer unter schweren indirekten Beschuss durch die amerikanische Artillerie. Mein Stellvertreter ordnete einen taktischen Rückzug aus dem beschossenen Gebiet an und rannte dabei dem Kommandeur des Regiments in die Arme, der mich zu einem Angriff nötigen wollte. Was dann genau geschah, weiß ich nicht, aber der Kommandeur des Regiments bekam einen Wutanfall und gab schreiend Befehle aus, die mein Stab ignorierte. Dann hat er an Ort und Stelle sechs meiner Offiziere mit seiner Pistole exekutiert!« Wieder nickte Han – eine hochgradig plausibel klingende Geschichte. Um seinen eigenen Arsch zu retten, hatte der hitzköpfige Kommandeur des Regiments alle verhaften lassen und anordnen müssen, dass sie exekutiert wurden. »Jetzt ist mein gesamtes Bataillon in diesem Lager interniert. Als ich dort auftauchte, wurde ich abgewiesen, und man sagte mir, es sei zu spät. Ein Kriegsgericht hatte meine vierhundert Männer zum Tode verurteilt!« »Wird man Sie auch festnehmen und vor ein Kriegsgericht stellen?«, fragte Han. »Nach Ihrer Erzählung scheint es unwahrscheinlich, dass der Kommandeur des Regiments Ihnen vergibt und alles auf sich beruhen lässt.« 446
»Er ist tot. Während die Militärpolizei meine Leute entwaffnete, hat einer von ihnen ihn umgebracht.« Während Han in Gedanken die Teile des Puzzles zusammensetzte, nickte er bedächtig. Jetzt ergab alles ein klares Bild. »Und was wollen Sie von mir?«, fragte Han. »Dass Sie das tun, was Sie für richtig halten, Administrator Han Zhemin«, sagte der Mann lapidar, bevor er den Blick senkte. War seine etwas ausweichend formulierte Antwort ehrerbietig gemeint, oder wollte er Han in eine Falle locken? Schließlich bat er ihn darum, einen verhängnisvollen, kriminellen Schritt zu tun, durch den Han sich offen in die Angelegenheiten der militärischen Justiz einmischen würde, und die Kriegsgerichte waren das wichtigste Instrument der Armee. »Wie sind Sie hierher gekommen?«, fragte Han, doch sein Besucher schien ihn nicht zu verstehen. »Sind Sie gefahren, haben Sie ein Auto?« »Ich habe einen Geländewagen, der vor der Tür geparkt ist.« Er zeigte auf das Fenster. Han stand auf und blickte auf die Straße, wo viele Stockwerke unter ihm ein ramponierter, mit Tarnfarben besprühter Geländewagen stand. »Dann wollen wir mal das Leben Ihrer Männer retten, Major«, sagte Han. »Aber erst muss ich mich umziehen.« Han saß allein in seiner gepanzerten Limousine, die dem Geländewagen des Majors folgte. Umgeben waren sie von den üblichen gepanzerten Fahrzeugen, in denen die Leute von Han’s Sicherheitskommandos untergebracht waren. Als sie die in einem Vorort gelegene Highschool erreicht hatten, wurden sie an einem mit Wachtposten bemannten Tor durchgewunken. Draußen wurde es langsam dunkel, und zuerst fielen Han die Flutlichter auf. Dann bemerkte er lange Gräben, die von Baggern ausgehoben worden waren. Direkt neben dem Eingang des Sportplatzes ließ er den Konvoi anhalten und stieg aus. Der Spätnachmittag war eisig kalt. Han’s Berater zitterte und trat von einem Bein aufs andere. »Sie haben recht daran getan, sich für Ihre Skijacke zu entscheiden«, sagte der Mann, der Nadelstreifenanzug und Wollmantel trug. Han hatte kurz zu Hause angehalten und warme Unterwäsche, Stiefel, schwarze Jeans und eine dreitausend Dollar teure schwarze Skijak447
ke angezogen. Jetzt zog er eine schwarze Skimütze über und zupfte an seinen ebenfalls schwarzen Handschuhen. Der Major trat zu ihnen, und sie betraten gemeinsam das Stadion, wo tausende junge Soldaten mit hinter den Kopf gelegten Händen auf dem Football-Feld knieten. Da es keinen Zaun gab, wurden sie von Maschinengewehren in Schach gehalten. Als Han mit dem Major im Schein der Flutlichter auftauchte, verursachte das einiges Aufsehen. Sie gingen zu einer etwas erhöhten Bühne, auf der ein langer, mit grünem Tuch bezogener Tisch stand, der offenbar den Eindruck eines Gerichtssaals erwecken sollte und an dem das aus drei Richtern bestehende Militärtribunal seines Amtes gewaltet hatte. Wegen der eisigen Kälte war vermutlich alles schnell abgewickelt worden. Der Kommandant des Lagers organisierte Züge von Männern, um die Gefangenen aufzuteilen, damit sie abgeführt werden konnten. Für einen nichts ahnenden Außenstehenden schien das alles ganz einfach zu sein, doch Han wusste aus langjähriger Erfahrung, dass eine solche Aktion, wenn sie ohne Komplikationen durchgeführt werden sollte, eine jedes Detail berücksichtigende Planung erforderte. Gewöhnlich praktizierte die Armee eine Methode, nach der von den etwa vierzig zu exekutierenden Männern, die mit dem Rücken zu der offenen Grube standen, diejenigen begnadigt wurden, die sich am besten benommen hatten. So konnten sie wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden. Auf dem Weg dorthin versuchten sich alle gegenseitig darin zu übertreffen, die Befehle der Wärter unterwürfig zu befolgen. Aber Han wusste, dass das dreckige kleine Geheimnis der Militärs darin bestand, dass es keinerlei Begnadigungen geben würde. Folglich würde es auch keine Überlebenden geben, die die grausame Wahrheit über die Vorgehensweise der Armee verbreiten konnten. Für die Männer, die als »Begnadigte« aus den Reihen herausgezerrt wurden, bestand die einzige Belohnung darin, dass sie als Letzte erschossen wurden. Der überraschte Lagerkommandant trat schon zu Han, bevor dieser den »Gerichtssaal« erreicht hatte. Neben Han standen seine Berater und der Major, und in ihrem Rücken wartete Han’s eigene kleine Armee. Die zwei Dutzend bewaffneten Soldaten, die unpassenderweise auch noch Paradeuniformen trugen, waren Han von der Armee als Leibwächter zur Verfügung gestellt worden und schienen sich nicht ganz sicher zu sein, welche 448
Rolle sie jetzt hier spielen sollten. Der Lagerkommandant – ein Oberst – und sein Stab salutierten vor Han. Demonstrativ schenkte Han ihrem militärischen Gruß keinerlei Aufmerksamkeit. Stattdessen warf er einen ernsten Blick auf die Gesichter der zahllosen Häftlinge. Alle Augen richteten sich auf ihn. Nachdem die Häftlinge stundenlang ihren fast sicheren Tod erwartet hatten, geschah jetzt doch noch etwas Unerwartetes. Han fiel auf, dass selbst die Wachtposten ihn – den zivilen Administrator der besetzten Gebiete – anblickten, und bei den Männern, die mit Gewehren und MGs die Häftlinge umringten, verhielt es sich nicht anders. Warum?, fragte sich Han. Was geht in den Herzen dieser Männer vor, die die Exekutionen durchführen werden? Wie der Major ignorierte auch Han die Befehlskette, aber im Gegensatz zu dem Major wandte er sich nicht an jemanden über dem Lagerkommandanten, sondern an dessen Untergebene. Han erklomm die Bühne und nahm das Mikrofon an sich, das vor dem leeren Stuhl des mittleren der drei Richter stand. Als er es einschaltete, hörte er über die Lautsprecheranlage des Stadions ein lautes Geräusch. Han blickte nicht die vierhundert aufmerksamen Häftlinge an, sondern die paar Dutzend bewaffneten Wachtposten, die diese umringten. Der Lagerkommandant und seine Leute tauschten verwirrte Blicke aus. »Beenden Sie dieses Verbrechen!«, ertönte Han’s Stimme über die Lautsprecheranlage. »Beenden Sie es! Sofort!« Die Ellbogen der Häftlinge bewegten sich von einer Seite zur anderen, während sie abwechselnd ihre Nachbarn und ihre Wächter anblickten, die ihrerseits Han anschauten. »Sie sind keine Schlächter!«, hallte Han’s Stimme über die leeren Tribünen. »Diese Männer vor Ihnen sind hilflose menschliche Wesen. Sie sind Soldaten, die genau wie Sie in diesen entsetzlichen Krieg verstrickt sind!« Jetzt blickten sich die Wächter gegenseitig an, ohne dass sich dadurch etwas auf augenfällige Weise geändert hätte. Noch immer zielten ihre Waffen auf die Häftlinge. Aber unter ihren Füßen begann unsichtbar der Boden zu schwanken. Das Fundament »rational« zurechtgemachter Argumente, auf denen der Gehorsam des Exekutionskommandos gegenüber den Befehlen ihrer Vorgesetzten beruhte, begann langsam zu zerbröckeln. »Sie alle waren Zeugen dieses angeblichen Kriegsgerichts!«, brüllte Han in einem anklagenden Tonfall. »War es ein gerechtes Verfahren? Wurde 449
jeder dieser Männer wirklich eines Landesverrats überführt, der mit dem Tode bestraft werden sollte?« Trotz der voll aufgedrehten Lautsprecheranlage brüllte Han aus vollem Hals. Vermutlich hatte der dem Militärtribunal versitzende Richter versucht, seine fragliche Autorität durch Lautstärke aufzumotzen. Jetzt war es aufgrund der schieren Lautstärke unmöglich, Han’s Ermahnungen auszublenden. Mit dröhnendem Organ appellierte Han auf ungewöhnliche Weise an jene Humanität, die im Seelenleben der Wächter so lange unterdrückt worden war. Allmählich ließen die Wächter ihre Waffen sinken. Zuvor hatte ihre gemeinsam geteilte Schuld sie noch schweigen lassen, jetzt begannen sie, sich lebhaft zu unterhalten. Als seine Rede ihren Sinn erfüllt hatte, brach Han ab. Auch den Häftlingen war nicht entgangen, dass er den Sieg davongetragen hatte. Die Mündungen von auf Zweifüßen montierten Maschinengewehren, die vorher aus den Planen von Lastwagen hervorgelugt hatten, verschwanden im Inneren der Fahrzeuge. Die Wächter, denen die Häftlinge mittlerweile völlig egal waren, hatten ihre Gewehre umgehängt und standen in Grüppchen zusammen. Tausende Häftlinge ließen die Arme sinken, Tränen flossen, die Männer umarmten sich. Einige brachen in völliger emotionaler und physischer Erschöpfung auf dem Rasen zusammen. Aber alles änderte sich wieder, als neben Han mit grimmigem Blick der Lagerkommandant auftauchte, der zugleich wütend und verängstigt war. Nacheinander blickte er die Häftlinge, die Wächter und Han an, und niemand wich seinem Blick aus. Alle standen gemeinsam gegen den Lagerkommandanten. Mit Abstand am bedrohlichsten wirkten die eigenen Leute des Obersten. Ihrem höhnischen Grinsen und der Art und Weise, wie sie ihre Waffen umklammerten, konnte Han entnehmen, dass eine Meuterei unmittelbar bevorstand. Die Männer des Lagerkommandanten wollten die moralische Schuld dem Offizier zuschieben, der all die zurückliegenden Exekutionen befohlen hatte. Auch dem Kommandanten entging die drohende Gefahr nicht. Mit wutverzerrtem Gesicht blickte er Han an, dem er dann das Mikrofon aus den Händen riss. Die Lautsprecheranlage verstärkte das grimmige Schnauben des Kommandanten, und alle wussten Bescheid. Der Mann war aufgebracht, die Augen traten ihm aus den Höhlen, er kochte geradezu vor Wut. 450
Schon immer hatte Han geglaubt, dass die beiden Wörter »Armee« und »Gefängnis« eigentlich Synonyme waren – die Eingezogenen waren Häftlinge. Und nichts, das wusste er aus langjähriger Erfahrung, warf ein so schlechtes Licht auf die Leistungen eines Offiziers der chinesischen Armee wie die Tatsache, dass er die Kontrolle über seine Soldaten verlor. Nervös warf der Oberst einen letzten Blick auf seine unzuverlässigen Männer, aber obwohl er vor Wut schäumte, entschied er sich für den rationalen Kurs, um statt des drohenden Chaos die Ordnung wiederherzustellen. Deshalb wollte er seine Männer in die Richtung lenken, die sie ohnehin schon eingeschlagen hatten. Tatsächlich war dies die Option, die ihm am ungefährlichsten schien. »Alle Häftlinge freilassen!«, befahl der Oberst abrupt. Sofort brach Jubel aus. Die Männer rappelten sich hoch und vollführten trotz ihrer von der Kälte steifen Glieder Luftsprünge. Sie lagen sich in den Armen, und manche begannen sogar, die Leute vom Exekutionskommando zu umarmen. Han ging durch den Tumult zu dem Major, der bereits von seinen glücklichen Soldaten umringt wurde. Jetzt sprangen sie auf Han zu, dessen Leibwächter bereits ihre Waffen anlegten. Han hob wie ein Verkehrspolizist die Hand, während die Männer vor ihm auf die Knie fielen. Sie packten seine Hosenbeine und gelobten schluchzend ewige Dankbarkeit. Als das ganze Bataillon des Majors um Han versammelt war, winkte er den Kommandanten heran. »Danke, Administrator Han!«, übertönte der Major lauthals den Lärm. Han konnte seine Leibwächter kaum noch sehen, da diese von den Häftlingen umarmt wurden und in der Menschentraube verschwanden. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten!«, brüllte Han dem Major zu. »Was immer Sie wollen!«, antwortete der strahlende Mann. Han stellte den verbeulten Geländewagen des Majors am Rand einer verwaisten Straße in Nord Virginia ab. Die Nacht war dunkel, kalt und friedlich. Am Himmel funkelten die Sterne. Nachdem Han alle Reißverschlüsse seiner warmen Skijacke zugezogen hatte, setzte er eine Wollmütze auf. Wenn sein Orientierungssinn ihn nicht trog, sollte er nach den Worten der Amerikaner die Front an einer Stelle überqueren, die keine Meile weit von hier entfernt war. Die eiskalte Luft trug den angenehmen Geruch brennenden Holzes zu 451
ihm hinüber, und als Han den Kamm eines Hügels erklommen hatte, sah er, wo der Rauch aufstieg. Die enge Landstraße schlängelte sich durch ein paar dunkle, ziemlich weit auseinander liegende Häuser. Han hätte Abstand zu den Häusern halten sollen, da es hier Hunde oder Hauseigentümer mit Gewehren geben konnte, aber seine Neugier war geweckt. Während er an den Häusern vorbeiging, warf er Blicke durch die Fenster. Die meisten Häuser schienen verlassen zu sein, aber aus einigen Schornsteinen stieg Rauch auf, dessen Geruch ihn zusammen mit dem trüben Kerzenlicht an einen Ferienort für Wintersportler denken ließ. In einem dieser Häuser sah Han eine alte, gebrechlich wirkende Frau mit weißem Haar in einem Sessel sitzen, die eine dicke Jacke trug und eine Wolldecke über ihre Knie gelegt hatte. Da sie alt und wohl fest in ihrer Heimat verwurzelt war, ergab es für Han durchaus einen Sinn, dass sie hier geblieben war, obwohl alle anderen die Flucht ergriffen hatten. Allerdings verstand er nicht, wie sie davon ausgehen konnte, dass sie diesen Winter überleben würde. Als er neben der greisen Frau Bewegungen wahrnahm, ließ Han sich zu Boden fallen. Er sah zwei junge Kinder in Pyjamas, ein Mädchen und einen Jungen, die der Frau behutsam einen Becher und einen kleinen Teller reichten. Nachdem die alte Dame ihnen die Hinterköpfe gekrault hatte, nahm sie ihr Essen entgegen. Die Kinder verschwanden wieder, und Han begab sich zu einem anderen Beobachtungsposten. Unter einem reich geschmückten Weihnachtsbaum, dem nur die Lichter fehlten, packten die Kinder Geschenke aus, während ihre Eltern sich im flackernden Licht das Kaminfeuers neben sie hockten. Als der kleine Junge mit einem ernsten Gesichtsausdruck eine Bemerkung über ein Päckchen machte, begannen alle zu lachen. Han setzte seinen Fußmarsch in Richtung der Frontlinien fort. In einer so friedlichen Nacht – keine Gewehrschüsse, keine knatternden MGs, keine Explosionen von Bomben oder Granaten – schien das Wort »Front« fehl am Platze zu sein. Am Vorabend der titanischen Schlacht um Amerikas Hauptstadt war alles ruhig. Aber auch in einem anderen Sinn war das Wort »Front« unzutreffend. Wie man Han gesagt hatte, stieß er nirgends auf chinesische Soldaten. Offenbar fürchtete Shengs Armee keinen unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Angriff. Im Gegensatz zu den Amerikanern verschanzte 452
sie sich nicht in Bunkern an der Front. Die Chinesen konnten ihre Truppen nicht für einen Angriff zusammenziehen und zugleich eine kontinuierliche Linie bemannen. Stattdessen zogen sie sich zurück, um Bewegungsraum zu haben, sich so auf ihre Offensive vorbereiten zu können und den durchbohrenden Blicken der feindlichen taktischen Aufklärung zu entgehen. Man hatte elektronische Sensoren installiert, die kleine Gruppen von Amerikanern entdecken sollten, welche durch die poröse Grenze der besetzten Gebiete einsickerten. Um diese Eindringlinge würden sich dann später an Straßensperren postierte Sicherheitskommandos kümmern, die Han während seiner Autofahrt gesehen hatte. In den dichten Wäldern hinter dem verschlafenen ländlichen Dorf wurde Han’s Fußmarsch beschwerlicher. In der Finsternis schrammten Zweige und kleine Äste über seine Jacke, Handschuhe und sein Gesicht. Während er den Hügel erklomm, drohte er mehrfach auszurutschen. Einige Male blieb er stehen, weil er ein Geräusch gehört zu haben glaubte. Auf dem Kamm angelangt, sah er sein Ziel – ein Flussbett, das die Grenze des von den Chinesen besetzten Gebiets markierte. Han war sich sicher, dass Shengs Kartografen in diesem Fluss eine geeignete Demarkationslinie sahen, die das eigene vom feindlichen Territorium trennte. Als eine Art natürliche Grenze würde sie die eigenen Kommandeure daran hindern, das ihnen gesetzte Limit ihres Vormarschs zu überschreiten. Der Fluss wand sich durch Hügel und musste normalerweise über von Pionieren installierte Brücken überquert worden, doch um diese Jahreszeit war er nur ein schmales Rinnsal. Die sanfte Brise flaute einen Augenblick lang ab, und Han hörte wieder das Geräusch – Gesang. Angestrengt lauschend versuchte er, Näheres herauszufinden. Da er weder die Richtung lokalisieren noch die Sprache identifizieren konnte, ging er weiter den Hügel hinab. Als er schließlich den Fluss erreicht hatte, löste sich das Rätsel. Die Sprache war Englisch, und der Gesang drang vom anderen Ufer zu ihm herüber – aus den amerikanischen Bunkern auf dem Hügel. Han blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen und zu lauschen. Zwar konnte er nicht alles verstehen, aber er begriff, dass es in dem Lied um einen jugendlichen Trommler ging. Ein gemischter Chor von Männerund Frauenstimmen wiederholte den seltsamen Refrain: »…a rum-pumpum-pum. Me and my drum.« Es war ein schönes, fast bewegendes Weih453
nachtslied, vorgetragen von hunderten leiser, friedlicher Stimmen. Der Wasserstand des Flusses war so niedrig, dass Han ihn mühelos überqueren konnte, indem er auf ein paar große Steine trat. Als er das andere Ufer erreicht hatte, war der Gesang verstummt. Etwas weiter weg hörte Han ein raschelndes Geräusch, dann herrschte wieder Stille. Nach ein paar Schritten blieb er erneut stehen, um zu lauschen und in der Dunkelheit den Hügel zu beobachten. Die Büsche neben Han erzitterten. Dunkle Gestalten sprangen auf ihn zu, warfen ihn zu Boden, rissen ihm die Hände auf den Rücken und pressten sein Gesicht in den Dreck. Der kalte Lauf einer Pistole bohrte sich in Han’s Wange. »Kein Sterbenswörtchen!«, flüsterte jemand auf Englisch. Han seufzte erleichtert auf. Er war in Sicherheit.
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DRITTER TEIL Ich kenne den Krieg. Ich habe ihn zu Lande und zur See erlebt. Ich habe das Blut der Verwundeten gesehen und das Husten vergaster Männer gehört. Ich habe Soldaten im Schlamm sterben gesehen. Ich kenne den Anblick zerstörter Städte und habe Hunderte von Humpelnden, erschöpften Soldaten von der front zurückkehren sehen – die Überlebenden eines Regiments von tausend Männern, das vor achtundvierzig Stunden vorgerückt war. Ich habe Kinder verhungern sehen und kenne den Schmerz der Mütter und Ehefrauen. Ich hasse den Krieg. Franklin Delano Roosevelt, Rede in Chautauqua, New York (1936)
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1. KAPITEL
Camp David, Maryland 24. Dezember, 2300 Uhr Ortszeit Han stand vor dem knisternden Feuer in einem Raum, dem es an nichts fehlte, was zu einer gemütlichen Atmosphäre beitrug: Es gab einen steinernen Kamin, einen dicken Teppich und Wände aus naturbelassenem Holz. Als Bill Baker eintrat, rieb sich Han gerade vor dem Kaminfeuer die Hände. »Das ist Dr. Clarissa Leffler«, stellte Baker die Frau vor, die ihm auf dem Fuße folgte. Han war überrascht. Er hob die Augenbrauen, ergriff Clarissas ausgestreckte Hand und schüttelte sie langsam. »Clarissa ist die Chefin der China-Abteilung im Außenministerium«, sagte Baker. »Da sie deshalb an allen Fragen der chinesischen Politik interessiert ist, hat sie um eine Unterredung mit dir gebeten.« »Ich bin erfreut, dass Dr. Leffler an unserem Gespräch teilnimmt«, antwortete Han freundlich. »O nein«, sagte Clarissa kopfschüttelnd. »Ich wollte nur…« Aber Han ergriff Clarissas Arm, geleitete sie zu einem Sofa am Kamin und setzte sich dann neben sie. Baker blieb noch einen Moment stehen und nahm dann in einem Sessel den beiden gegenüber Platz. Han und Clarissa tauschten auf Chinesisch Nettigkeiten aus. Han, der durch Geheimdienstberichte wusste, dass sie fließend Chinesisch sprach, machte ihr Komplimente, weil sie seine Muttersprache so gut beherrschte. Unterdessen wartete Baker mit stoischer Ruhe darauf, dass Han seine Aufmerksamkeit wieder ihm zuwandte und sich auf Englisch mit ihm unterhielt. Schließlich hatte der stets freundliche Han die Güte. »Ich hoffe doch wohl, dass unser Treffen unter strengster Geheimhaltung stattfindet«, sagte er. »Du musst verstehen, dass ich mich in diesem Fall persönlich ziemlich weit vorwage.« 456
»Offiziell verbringe ich hier einen kurzen Weihnachtsurlaub«, erwiderte Baker knapp. Han nickte lächelnd und zwinkerte dann Clarissa zu, was Bill wütend zu machen schien. Die inoffizielle Lesart, gab Han ihr durch sein Zwinkern zu verstehen, ist wohl, dass der Präsident sich hier mit seiner Geliebten zu einem kleinen Rendezvous trifft. Clarissa saß auf der Kante des Sofas und blickte nicht Han, sondern Bill an. »Dann ist ja alles bestens«, bemerkte Han lapidar. Clarissa stand auf. »Ich sollte jetzt…« Auch Han erhob sich. »Es ist in Ordnung, dass Sie hier sind, bitte bleiben Sie. Ich bin mir sicher, dass Sie in Ihrer Position Zugang zu TopSecret-Informationen haben dürfen.« Baker fixierte nach wie vor Han, und sein Blick wirkte wütend und misstrauisch. Aber Clarissa blieb hartnäckig. »Ich sollte jetzt wirklich lieber…« »Die chinesische Armee plant eine Invasion Philadelphias vom Meer aus«, sagte Han schnell. Der Präsident sprang auf. »Die Zusammenziehung der Truppen südlich von Washington ist nur ein Ablenkungsmanöver«, fuhr Han fort. »Tatsächlich sind die meisten Einheiten, die ihr in Nordvirginia vermutet, an Bord von Truppentransportern, die auf die Marinewerft von Philadelphia zusteuern.« Lächelnd ließ Han seinen Blick zwischen der verdutzten Clarissa Leffler und dem nicht minder konsternierten Bill Baker hin- und herwandern. »General Sheng will die beiden Arsenalschiffe in unversehrtem Zustand unter seine Kontrolle bringen.« »Warum erzählst du mir das?«, fragte Baker. Han blickte Bill in die Augen. »Ich schulde dir einen Gefallen.« »Unsinn!«, erwiderte Baker prompt. Han lächelte. »Dann lass es mich mal so ausdrücken – wir beide haben gemeinsame Interessen. Du willst die chinesische Armee besiegt sehen, und bei mir verhält es sich nicht anders.« »Und welche Gegenleistung erwartest du?«, fragte Baker. Han zuckte die Achseln und verzog das Gesicht. »Keine, das war nur ein kleines Gastgeschenk.« Die beiden Männer fixierten sich, und Clarissa ließ ihren Blick zwischen Baker und Han hin- und hergleiten. »Du willst, dass ich die Invasion niederschlage und eure Soldaten niedermetzeln lasse?«, fragte Baker. »Aus welchem Grund?« 457
»Frag doch die Chefin der China-Abteilung deines Außenministeriums«, sagte Han, während er Clarissa anlächelte.
Weißes Haus, Lageraum 25. Dezember, 2 30 Uhr Ortszeit In dem unterirdischen Raum drängten sich schweigende Menschen um Bill und Clarissa, auf denen die schwere Bürde lastete, jetzt eine Entscheidung treffen zu müssen. Aber auch alle anderen Männer und Frauen – führende Mitarbeiter der mächtigen nationalen Sicherheitsbehörden – empfanden diese drückende Last. Um Amerika retten zu können, mussten Wahrheit und Lüge auseinander gehalten werden. Vertrauen oder Misstrauen, das war hier die Frage. Alle betrachteten zum wiederholten Male das Video mit Han Zhemins Enthüllungen, das aus einem Dutzend verschiedener Perspektiven von versteckten Kameras aufgezeichnet worden war. Manche schnaubten, andere schüttelten nur ungläubig den Kopf. Aber alle saßen gespannt auf der Stuhlkante, und bis das letzte Video gezeigt worden war, wagte sich niemand mit seiner Meinung vor. Zuerst ergriff Verteidigungsminister Bob Moore das Wort. »Entweder sagt er die Wahrheit, und sie wollen tatsächlich auf dem Seeweg unsere Linien umgehen, oder der Dreckskerl lügt, und sie greifen mit aller Macht unsere Linien um Washington herum an. Sollten wir jetzt mit unserer Vermutung falsch liegen, werden wir den Krieg verlieren.« »Er sagt wirklich die Wahrheit!«, platzte es aus Clarissa heraus. Alle Blicke richteten sich auf die Angestellte aus dem Außenministerium, die sich einfach in einen Dialog zwischen dem Präsidenten und dem Verteidigungsminister einmischte. Aber Bill hörte aufmerksam zu, als Clarissa schnell und wild gestikulierend weiterredete. »Die Auseinandersetzung zwischen der zivilen politischen Führung Chinas und den obersten Militärs tritt in seine entscheidende Phase! Sie alle haben die Berichte aus Peking gesehen! Der Verteidigungsminister hätte den Kommandeur des Militärbezirks Peking nicht verhaftet, wenn dieser keine Verschwörung gegen ihn 458
geplant hätte! Er muss einen Coup geplant haben! Und wer könnte in einer besseren Lage sein, den Verteidigungsminister aus dem Amt zu jagen, als der Mann, der die in der und um die Hauptstadt herum stationierten Truppen befehligt? Dieser General aus der zweiten Reihe hätte nie allein gehandelt, aber es hat keine anderen Festnahmen gegeben!« »Und was wollen Sie damit sagen?«, fragte Außenminister Dodd, Clarissas Vorgesetzter, in kühlem Tonfall. »Dass die Zivilisten dahinter stehen müssen!« Angesichts dieser Schlussfolgerung brach ein Tumult aus. »Jetzt lautet die Maxime ›Kämpfen oder untergehen‹.«, übertönte Clarissa den Aufruhr. »Han Zhemin versucht sicherzustellen, dass wir diesen Krieg gewinnen! Er bietet uns den Sieg an, weil nur eine blutige militärische Niederlage das Machtgleichgewicht in Peking wiederherstellen kann! Mit jeder Meile amerikanischen Bodens, den das chinesische Militär besetzt hat, ist dessen Macht größer geworden!« Die Anwesenden blickten sich verstohlen und schweigend an, doch niemand wagte es, Clarissas Analyse zu kritisieren. Während sie ihre Nachbarn beobachteten, kamen alle zu dem Schluss, dass es besser war, mit der eigenen Meinung hinterm Berg zu halten. Fast alle. »In Nordvirginia sind über drei Millionen chinesische Soldaten zusammengezogen worden«, bemerkte Richard Fielding, der sich aber nicht an Clarissa, sondern an den Präsidenten wandte. »Das ist eine Tatsache, unsere Aufklärung vor Ort arbeitet gut. Aber wo ist diese mysteriöse Invasionsflotte?« Bill wandte sich Admiral Thornton zu, dem Oberbefehlshaber der Marine. »Gibt es irgendwelche Anzeichen, die auf die Vorbereitung einer Invasion vom Meer her schließen lassen?« »Nein, Sir«, antwortete Thornton kopfschüttelnd. »Keine. Aber…« Baker wartete, musst dann jedoch nachfragen. »Aber was?« Der glatzköpfige Admiral kniff die Lippen zusammen und verzog einen Mundwinkel, als wollte er lächeln. »Aber wir würden es nicht notwendigerweise wissen.« Sein Kinn sackte auf seine Brust, weil er jeglichen Blickkontakt vermeiden wollte. »Die Invasionsflotte, die an der Westküste an Land gegangen ist, haben wir auch nicht bemerkt. Trotz Unterseebooten, Flugzeugen und Schiffen haben wir nichts davon mitgekriegt. Sie sind uns durch die Lappen gegangen. Die Linie unserer Horchinstrumente am 459
äußeren Kontinentalsockel haben sie durch ferngesteuerte TiefseeUnterseeboote zerstört. Wir werden unsere Patrouillen verdoppeln oder verdreifachen, aber was ich Ihnen zu erklären versuche, Mr President…« »Ich verstehe schon«, sagte Baker. »Es tut mir Leid, Sir«, entschuldigte sich Thornton. »Es tut mir wirklich sehr Leid.« Jetzt war es nicht an der Zeit, Stolz zu zeigen. Jetzt war die Zeit für ehrliche Antworten gekommen. »Dann könnte Han also die Wahrheit gesagt haben!«, rief Clarissa aus, um die Sache auf den Punkt zu bringen. Thornton zuckte die Achseln. »Warum sollte er auch lügen?«, fragte sie, zunehmend von Zuversicht erfüllt, die anderen Anwesenden überzeugen zu können. »Warum sollte er wollen, dass die chinesische Armee den Krieg gewinnt?« »Weil er Chinese ist«, antwortete Fielding leise. Wieder wagte sich niemand in die Debatte einzuschalten, und Schweigen senkte sich über den Raum. »Wir können nur entweder Washington oder Philadelphia verteidigen«, bemerkte schließlich General Cotler, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. »Für welche Alternative sollen wir uns entscheiden?« Alle warteten auf Bakers Entscheidung, doch Bill ignorierte sie. Die ganze Zeit über hatte er Clarissa angestarrt und große Schuldgefühle empfunden, weil er es zugelassen hatte, ihr gegenüber misstrauisch zu sein. Das ist nur Paranoia, versicherte er sich. Aber dieses Misstrauen war zu einem Bestandteil seines Lebens geworden, zu einer Methode des Selbstschutzes und des politischen Überlebens. Es nagte an ihm, zwang ihn zum Zweifel und auch dazu, Clarissa genau unter die Lupe zu nehmen. »Vertrauen Sie Han Zhemin?«, bohrte Fielding. Irgendetwas an der Art und Weise, wie er diese Frage gestellt hatte, verschaffte Bill Klarheit über die Entscheidung, die er treffen würde. Nacheinander blickte er erst Fielding, dann Moore, schließlich Clarissa an. »Wir verteidigen Philadelphia«, bestimmte er. Clarissa lächelte. »Sehen wir uns oben?«, fragte Clarissa Bill an der Tür des unterirdischen Raums, in dem jetzt hektisches Treiben herrschte. Berater strömten herein und hinaus. Sie trugen große Aktenstapel vor sich her, die ihnen bis unters Kinn reichten. Jetzt glich der Raum einem 460
Bienenstock. Generale und zahlreiche Colonels waren durch Bills abrupten Strategiewechsel genötigt, ihre Aktivitäten sofort an den neuen Gegebenheiten auszurichten. »Ich habe jede Menge zu erledigen«, murmelte Bill, der sich schon halb abwandte. Clarissa blickte ihn mitfühlend an, strahlte aber trotzdem. »Es wird alles gut«, flüsterte sie. »Das ist der Durchbruch, auf den wir gewartet haben.« Trotz der späten Stunde wirkte sie hellwach, fast schon etwas leichtsinnig. Noch bevor Bill ihr zulächeln konnte, trat sie vor ihn, um dann doch noch im letzten Moment ihren Wunsch zu unterdrücken, ihn zu küssen. Dann lachte sie über sich selbst, tippte sich an die Stirn und legte die Hand vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. Sie zeigte die zwischen ihnen bestehende Nähe nur dadurch, dass sie seine Hand drückte und sich zu ihm vorbeugte, um ihm etwas zuzuflüstern. »Ich sehe nur noch Schnell in meinem Büro nach dem Rechten, dann können wir uns oben zu einem kleinen Rendezvous treffen, wenn du verstehst, was ich meine.« Bill nickte. Dann blickte er ihr nach. Als sie längst verschwunden war, stand er immer noch dort. Jetzt trat Richard Fielding zu ihm. »Werfen Sie bis auf die wichtigsten Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats alle raus«, sagte Bill leise. Die Türen schlössen sich, und es herrschte Stille in dem Raum, der jetzt fast leer wirkte. Bill Baker stand vor den entscheidenden Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrats, umfasste die Rückenlehne seines Stuhls und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Er zweifelte nicht an seiner Entscheidung, er bedauerte sie. »Han Zhemin lügt«, sagte er. »Wir werden Washington gegen einen Angriff am Boden verteidigen, und zwar mit jedem verfügbaren Mann, gleichgültig von welcher Waffengattung. Aber wir werden sie glauben machen, dass wir Philadelphia verteidigen werden. Das sind jetzt Ihre Befehle.« Die Anwesenden beurteilten Bakers Plan aus verschiedenen Blickwinkeln. Doch niemand schien so interessiert zu sein wie der Chef der CIA. Bill wandte sich Richard Fielding zu. »Kommen Sie mit«, sagte er, während er bereits auf die Tür zuging.
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Außenministerium, Washington 25. Dezember, 5 15 Uhr Ortszeit Während Clarissa die E-Mail las, verdüsterte sich ihre Stimmung. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihr Mund wie ausgedorrt. Während sie zuerst nur den Kopf schüttelte, murmelte sie schließlich »Nein, nein, nein« vor sich hin. Mit vor Fassungslosigkeit offen stehendem Mund las sie die EMail ein weiteres Mal. Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen. Die Nation steht am Rand der Niederlage und der Vernichtung. Es gibt keinerlei neue Pläne, wie wir diesen Krieg gewinnen könnten. Keinerlei Hoffnung, dass am Ende dieser Feuerprobe ein anderes Resultat stehen könnte als die trostlose Einsicht, dass die Chinesen einen Bundesstaat nach dem anderen unterjocht haben. Der gegenwärtigen politischen Führung mangelt es an visionären Plänen, die uns den Sieg bringen könnten. Jetzt bleibt uns nur noch eine Option. Wir werden nicht lautlos in der Nacht verschwinden. Jetzt ist die Zeit zum Handeln da. Seien Sie vorbereitet. Vorbereitet? Vorbereitet? Worauf? Clarissa war verzweifelt. Was sollte sie tun, was sollte sie nur unternehmen? Mit knirschenden Zähnen löschte sie die E-Mail mit dem ihr vom Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellten »Schredder«. Dann glitten ihre Augen über den Schreibtisch, als wäre dort eine Antwort zu finden. Sorgen und Ängste machten sie fast krank. Sie schlug die Hände vors Gesicht, presste ihre Fingerspitzen gegen die geschlossenen Augenlider und schüttelte immer wieder langsam den Kopf. »Oh, mein Gott«, murmelte sie. Plötzlich blickte Clarissa zur Tür hinüber, die geschlossen war. Jetzt wusste sie, was zu tun war. Sie öffnete auf ihrem Computermonitor ein Fenster, um mit Hilfe des anonymen Routers eine E-Mail an die gleichfalls anonymen Verschwörer zu schicken, die hinter dem geplanten Staatsstreich standen: Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber unternehmen Sie jetzt noch nichts!!!! Präsident Baker hat gerade Befehle gegeben, durch deren Umsetzung wir den Krieg gewinnen könnten! Durch Han Zhemin hat er von höchster 462
Stelle entscheidende Informationen erlangt, nach denen die Chinesen eine Invasion Philadelphias planen. Wir werden unsere Truppen dorthin umdirigieren, um die Werft zu verteidigen und die chinesische Invasionsflotte zu vernichten. Wenn wir diesen großartigen Sieg erringen, wird das eine Wende des Kriegsverlaufs bedeuten. Es besteht also kein Grund, irgendwelche anderen Aktionen durchzuführen. Was immer Sie auch tun, unternehmen Sie jetzt nichts!!!! Mit klopfendem Herzen und zittrigen Fingern schickte Clarissa die E-Mail per Mausklick ab. Dann löschte sie schnell die Kopie der Botschaft in der Sendeliste ihres E-Mail-Programms, lehnte sich zurück und seufzte erschöpft und erleichtert auf. War es schon zu spät, um den Staatsstreich noch aufzuhalten? Würde ihre E-Mail ausreichen, um Schlimmeres zu verhindern? Ihr war klar gewesen, dass es nicht genügt hätte, die Verschwörer nur anzuflehen, auf die Umsetzung von Bakers Plan zu warten, ohne ihnen ein paar genauere, wichtigere Informationen über diesen Plan mitzuteilen. Genau das hatte sie getan, und das sollte die Verschwörer veranlassen, noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken. Ihr Vater! Vielleicht konnte er dafür sorgen, dass der Staatsstreich ausgesetzt wurde. Sie würde sich mit ihm treffen müssen. Clarissa nickte nicht nur einmal, sondern gleich dreimal kurz ein. Zunächst brauchte sie etwas Schlaf. Bill würde damit rechnen, dass sie ihn in seinem Bett erwartete. Nachdem sie sich ein letztes Mal vergewissert hatte, dass die belastende E-Mail tatsächlich gelöscht worden war, stand sie von ihrem Schreibtisch auf, schaltete das Licht aus und verließ ihr Büro. Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür zu dem verdunkelten Büro. Die Eindringlinge trugen Anzüge und dünne Gummihandschuhe. An ihren Kopfhörern waren stiftförmige Taschenlampen angebracht. Mit leise surrenden, elektrischen Schraubenziehern öffneten sie einen Einschub von Clarissas Computer. Innerhalb von Sekunden hatten sie an einer verborgeneren Buchse ein Kabel angeschlossen, die Festplatte von Clarissas Computer aktiviert und ihren eigenen tragbaren Computer wieder abgenabelt. Erneut surrten kurz die elektrischen Schraubenzieher, und schon war ihre Arbeit erledigt. 463
Eine halbe Minute, nachdem die Männer in das Büro eingedrungen waren, verschwanden sie wieder, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen.
Weißes Haus, Oval Office 25. Dezember, 4 45 Uhr Ortszeit Wegen der neuerdings vor den Fensterfronten des Weißen Hauses installierten Schutzschirme aus Stahl konnte Bill Baker nicht sehen, was draußen auf dem Rasen vorging, aber er hörte die lauten Befehle, die um diese Tageszeit mittlerweile Routine waren. In den Stunden vor Sonnenaufgang wurde die Zahl der Soldaten verdoppelt, die in direkt hinter dem Zaun des Weißen Hauses ausgehobenen Schützengräben postiert waren. Wenngleich sie sich Meilen hinter den eigenen Linien befanden, war es mittlerweile bei allen im Feld stehenden Einheiten der U.S. Army üblich, im Morgengrauen verstärkt Präsenz zu zeigen, da chinesische Angriffe um diese Tageszeit schon Routine geworden waren. Jetzt spähte Bill durch einen kleinen Spalt zwischen den gepanzerten Schutzschirmen. In einem Fass auf dem Rasen loderte ein flackendes Feuer, und er versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Um besser sehen zu können, musste er ein Auge schließen. Zuerst glaubte er, dass die Wachtposten sich an dem Feuer wärmen wollten, doch dann sah er eine nicht abreißende Prozession von Agenten des Secret Service, die zwischen dem Weißen Haus und dem Fass hinund herliefen. Jetzt erkannte Bill den Sinn des Feuers. Unter den wachsamen Augen von mit Sturmgewehren bewaffneten Männern warfen die Leute vom Secret Service Akten und Papiere in das lodernde Feuer. Ein dumpfes Grollen in der Ferne kündigte den Anbrach eines neuen Tages an. Bill ließ sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen und lauschte. Die frühe Morgenstunde, der Schlafmangel – er war erschöpft, erschöpft auch von der so wichtigen Entscheidung, die er getroffen hatte. Und auch von all den anderen Entscheidungen, die sich meistens als falsch herausgestellt hatten. 464
Das Trommelfeuer der Artillerie, das von der fast dreißig Meilen entfernten Front an sein Ohr drang, erweckte keine Ehrfurcht, sondern nur eine erstickende Angst. Durch die Entfernung wurden die einzelnen Explosionen verwischt, unter denen die Erde erzitterte. Tausend Geschütze, zehntausend. Stephie. Bill schlug die Hände vors Gesicht, Tränen traten ihm in die Augen. Er schluchzte, er ließ sich gehen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, er gab sich keine Mühe mehr, den Anschein von Haltung aufrecht zu erhalten. Jetzt gestattete er sich die Gefühle, die er sonst vor allen verborgen hielt. Mit geschlossenen Augen und fest zusammengebissenen Zähnen wartete er darauf, dass die Welle des Schmerzes abebbte. Dann war der emotionale Sturm plötzlich vorbei, und seine Hände sanken auf die Platte des Schreibtischs. Er empfand ein seltsames Gefühl der Ruhe. Schniefend trocknete er seine Tränen. Vom südlichen Stadtrand Washingtons her – vom zu Virginia gehörenden Ufer des Potomac – drangen erneut dumpfe Explosionen an sein Ohr. Die chinesischen Geschütze mit der großen Reichweite griffen nach der Hauptstadt – auf der anderen Seite des Flusses, in Alexandria, hatten sie schon jetzt verheerende Zerstörungen angerichtet. Das Pentagon war nur noch eine zerlöcherte Hülle, und auch auf den Rollbahnen des National Airport klafften Krater. Durch das offene Terminal flogen Vögel. Bill hörte die markerschütternden Explosionen, für ihn eine Warnung an alle, die sich der feindlichen Kriegsmaschinerie in den Weg stellten, dass das Ende nah war. Bumm. Eine Million gefallene, verwundete oder gefangen genommene amerikanische Soldaten. Bill hörte das vertraute Kreischen einer durch komprimiertes Gas angetriebenen Flugabwehrrakete, die im Lafayette Park gestartet wurde und wie ein umgekehrter Blitz in den Himmel schoss, wo die Antriebsaggregate zündeten und eine weiße Spur verbrannter Luft in ihrem Schlepptau hinterließen. Bumm. Vor dem Weißen Haus ertönte die Alarmanlage eines Autos. Ein Großteil des Landes unter chinesischer Kontrolle, von Mississippi bis Virginia, die Hälfte Kaliforniens. 465
Als Richard Fielding das Oval Office betrat, starrte Bill ins Nichts. Der CIA-Direktor durchquerte den Raum, öffnete seinen Aktenkoffer und zog ein Schriftstück mit einem einzigen Absatz hervor. Bill setzte sich an seinen Schreibtisch und las Clarissas E-Mail. »Es ist nicht ganz so, wie wir gedacht haben«, sagte Fielding. »Aber sie spioniert für irgendeine Verschwörergruppe.« »Ich kann’s nicht glauben«, antwortete Bill. Fielding durchschaute Bills Lüge, sagte aber nichts. »Zumindest glaubt sie, dass es Verschwörer sind, die einen Staatsstreich vorhaben«, fuhr er stattdessen fort. »Der Empfänger dieser E-Mail könnte genauso gut das chinesische Militär sein. Andererseits gab es den Anschlag auf Marine One, und unsere Leute sind davon überzeugt, dass die Täter aus unseren Reihen kamen, Mr President.« »Aber wer?«, fragte Bill mit schwacher Stimme. Doch seine Gedanken waren woanders. Warum, Clarissa, warum? Fielding zuckte die Achseln. »Augenscheinlich weiß Dr. Leffler nicht, wer es ist«, antwortete er. »Aber ich wette darauf, dass das bei ihrem Vater anders ist.« Bill wollte den Chef der CIA schon zurechtweisen, doch Fielding informierte ihn über das verdächtige Verhalten des alten Leffler, der einst Bills Mentor gewesen war. Er hatte seine Sekretärin gefragt, wie man abgeschickte oder empfangene E-Mails vernichtete. Den stellvertretenden nationalen Sicherheitsberater hatte er beim Lunch gelöchert, wer bei bestimmten Sitzungen des Sicherheitsrats teilgenommen hatte. Er hatte in einem Leihhaus in Reston in Virginia eine Pistole gekauft, ständig sein Haus nach Wanzen absuchen lassen und sich mit Clarissa an einem Aussichtspunkt direkt neben dem George Washington Parkway getroffen. Mehrfach dachte Bill darüber nach, mit einer wütenden Frage in Erfahrung zu bringen, wer die Überwachung des Sprechers des Repräsentantenhauses autorisiert hatte, aber mit jeder Tatsache, wie immer diese auch ans Licht gekommen sein mochte, erlahmte sein Widerspruchsgeist. Noch war das Bild unvollständig, und jeder konnte sich alles so zurechtlegen, wie es ihm gerade passte. Bei Bill fielen die Informationen auf fruchtbaren Boden, und aus seiner Depression und Paranoia erwuchsen sofort neue Ängste. »Wir müssen wissen…« Bill räusperte sich. »Wir müssen dieser Sache auf den Grund gehen.« 466
»Erteilen Sie mir die Genehmigung, alles gründlich zu untersuchen?«, fragte Fielding. Noch immer Clarissas E-Mail in den Händen haltend, nickte Bill schließlich. »Werden Sie der Staatsanwaltschaft mitteilen, dass Sie meine Nachforschungen autorisiert haben? Ich brauche Ihre Unterstützung.« Bill nickte. Nachdem er den Präsidenten lange schweigend angeschaut hatte, sprach Fielding weiter. »Bis wir mit Sicherheit wissen, ob ein Staatsstreich vorbereitet wird, sollten Sie das Weiße Haus besser verlassen, Sir. Offensichtlich sind sie in der Lage, die hiesigen Sicherheitsvorkehrungen zu durchlöchern.« Bill antwortete, Vizepräsident Simon befinde sich an Bord eines über Omaha kreisenden Flugzeugs, das im Notfall als Zentrale des Oberbefehlshabers diene. »Ich rede über Ihre Sicherheit, Sir«, sagte Fielding. »Es wäre wirklich besser, wenn Sie Washington verlassen würden.« »Ich bleibe im Weißen Haus«, murmelte Bill, aber es klang eher lethargisch als heroisch. Nach kurzem Zögern nickte Fielding, der Bills Entscheidung offenbar als endgültig akzeptiert hatte. Jetzt wählte er seine Worte sorgfältig. »Was diese Geschichte mit Dr. Leffler angeht, Sir, bin ich bereit, jederzeit zu bezeugen, dass Sie Clarissa die ganze Zeit über benutzt haben, um Desinformationen an die Chinesen weiterzugeben.« Als Bill Fielding in die Augen blickte, fügte der CIA-Direktor hinzu: »Wenn wir Dr. Leffler verhaften, werde ich Sie in politischer und juristischer Hinsicht schützen.« Verhaften, dachte Bill. Wenn wir Dr. Leffler verhaften. Obwohl er die Nachricht, was für ein Schicksal Clarissa erwartete, noch nicht ganz verdaut hatte, richteten sich seine Gedanken bereits in die Zukunft. Mit welcher Strafe muss sie rechnen? Hochverrat in Kriegszeiten, wo das Überleben der Nation auf dem Spiel stand. Mit welchen Urteilen bestraften Gesellschaften wie Amerika solche Verbrechen? Die offensichtliche Antwort lastete schwer auf ihm, und er schloss die Augen. Der Gerechtigkeit würde schnell, hart und unnachsichtig Genüge getan werden. »Wir müssen sie für unsere Zwecke einsetzen«, fuhr Fielding fort. Bill öffnete die Augen wieder. »Wir müssen die Initiatoren des Staatsstreichs 467
in die falsche Richtung lenken – oder die Chinesen oder wer immer es sonst auch sein mag, mit dem sie kommuniziert, um herauszufinden, wer sie sind. Wer hat Vizepräsidentin Sobo umgebracht? Auch ihren Vater müssen wir in unserem Sinn einsetzen. Im Moment wissen wir noch gar nichts. Möglicherweise dauert es nur noch kurze Zeit, bis sie die Verfassung in Fetzen reißen und Sie töten, Mr President. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Mitleid oder halbherzige Maßnahmen.« Bills Blick irrte ziellos durch das Oval Office. »›Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen‹«, murmelte er. Er zuckte zusammen und sprach mit geschlossenen Augen weiter. »Ich benutze sie, damit sie unter den Augen der CIA ein Verbrechen begeht, auf das die Todesstrafe steht.« »Dieses Verbrechen hat sie bereits begangen, Mr President. Aber wenn Sie wollen, kann ich es vielleicht mit der Staatsanwaltschaft so arrangieren, dass sie nicht mit der Todesstrafe rechnen muss. Aber es gibt politische Erwägungen, die es als fraglich erscheinen lassen, ob das der richtige Schritt wäre. Es gibt noch andere Verräter, Kollaborateure in den besetzten Gebieten, mit denen wir uns eines Tages beschäftigen müssen. Wenn Sie Dr. Leffler eine Sonderbehandlung einräumen, wird sie diese Entscheidung irgendwann in der politischen Arena einholen. Aber meiner Ansicht nach gibt es vielleicht auch da eine Möglichkeit, die Dinge zu regeln.« Bill war zu erschöpft, um den nie um eine Antwort verlegenen Fielding zu fragen, wie er das anstellen wolle. Schweigend stimmte er mit einem weiteren Nicken zu. Anschließend redete Fielding ohne Punkt und Komma über Operationelle Details und Pläne – Sicherheit, personelle Besetzungen, Vorgehensweisen. Dann zog er ein juristisch verbindliches Dokument aus seinem Aktenkoffer, und Bill unterzeichnete die Genehmigung, dass die CIA Überwachungsmaßnahmen im Weißen Haus vornehmen durfte – genau jene Genehmigung, die er Hamilton Ashers FBI so wütend verweigert hatte. Aber die ganze Zeit über ging Bill immer nur ein Gedanke durch den Kopf. Alle Frauen, die ich liebe, betrügen mich. »Mr President?«, fragte Fielding leise, aber eindringlich. »Hm?« Für einen Augenblick wirkte Bill verwirrt, bevor er sich wieder auf Fielding konzentrierte. »Ich habe gesagt, dass sie keinerlei Verdacht schöpfen darf, Sir. Es darf keinerlei Veränderungen geben, die Dr. Leffler vermuten lassen könnten, 468
dass sie unter Verdacht steht. Auch in Ihrem Tagesablauf sollte es keinerlei Veränderungen geben, verstehen Sie? Ist Ihnen klar, wie wichtig das ist, Mr President?« Während Fielding pausenlos weitersprach, war Bills Blick auf seine Krawatte niedergesunken. Schließlich blinzelte er, und nachdem er tief durchgeatmet hatte, schaute er Fielding wieder in die Augen. Mit einem Nicken gab er zu verstehen, dass er Fieldings Plan zustimmte.
Weißes Haus, Wohntrakt 25. Dezember, 5 15 Uhr Ortszeit Als Bill das Schlafzimmer betrat, war das Licht ausgeschaltet. Er warf seine Kleidung über eine Stuhllehne, behielt aber seine Unterwäsche an und kroch dann in das warme Bett. Clarissa schmiegte sich an ihn. Sie war nackt, ihre Haut weich und warm. Ihr Duft verdankte sich keinem Parfüm, sondern ihrer Haut und ihren Haaren. Sie legte sich auf ihn und begann sich zu bewegen. »Frohe Weihnachten«, flüsterte sie. Es kostete sie einige Anstrengungen, bis es endlich losging, doch dann endete es für beide in einer überwältigenden Ekstase. In beider Schuldgefühlen verbarg sich so etwas wie eine unzulässige Erregung.
Interstate 66, Nordvirginia 25. Dezember, 9 40 Uhr Ortszeit Über die Heckklappe und durch einen klaffenden Riss in der Plane des Lastwagens sah Stephie die Bäume vorbeigleiten. Alle waren in Bewegung, die Highways verstopft. Die gesamte Armee war in einer Richtung unterwegs. »Washington D.C. 32 Meilen«, verkündete ein grünes Straßenschild an einer Überführung. 469
Seit ein paar Stunden gehörte das geruhsame Leben beim Hauptquartier der Brigade der Vergangenheit an. Unerwarteterweise waren Lastwagen eingetroffen, und Stephie hatte angenommen, dass das Hauptquartier erneut verlegt werden würde. Aber Animal spähte bereits hinten in einen Lastwagen und brüllte: »Packt euren Kram zusammen!« Die Lastwagen waren nicht leer. Ausgemergelte, verschmierte Soldaten kletterten über die Heckklappe. Etwas weiter stand ein erschöpfter John Burns, der Stephie anstarrte. Niemand sagte ein Wort, während die Mitglieder von Stephies Third Platoon ihre Ausrüstung zusammenzusuchen begannen. Vor ihnen standen brüllende Sergeants. Die ganze Zeit über blickte Stephie John an. Sein Schweigen verriet ihr, dass ihnen Schlimmes bevorstand. Während der Lastwagen durch Nordvirginia rollte, schliefen alle fest – außer Stephie, der das in einem Fahrzeug noch nie möglich gewesen war. Dafür musste man ein Gefühl der Sicherheit empfinden, und das hatte sie noch nie gehabt. Plötzlich gaben die Bremsen des Lastwagens ein langes, dumpfes Stöhnen von sich, das sich zu einem schrillen Kreischen steigerte, als der Konvoi zum Stehen kam. Die auf der Ladefläche zusammengepferchten und unsanft aus dem Schlaf gerissenen Soldaten hörten das permanente Krachen von Gewehrschüssen. Einen Augenblick lang fühlte sich Stephie nach Alabama zurückversetzt, in die ersten Tage des Krieges, als sie vor der sich immer enger zuziehenden Schlinge der Chinesen fliehen mussten. Als sie jetzt ihr Funkgerät einschaltete, hörte sie sofort Animal. »… zum Teufel ist da los?«, fragte Simpson aufgeregt und wütend. »Haben sie die beschissene Straße abgeschnitten?« An der Heckklappe schlug John Burns die Plane zurück, und Stephie lächelte ihn an. Dann trat der Präsident der Vereinigten Staaten neben John. Bill Baker war von etlichen Sicherheitsbeamten des Secret Service umringt. Soldaten auf den umstehenden Lastwagen steckten die Köpfe durch die Planen, und die Hälfte der Leute von Stephies Platoon, die auf dem gleichen LKW mitfuhren, blickten ebenfalls völlig verdutzt. Nachdem Stephie von der Ladefläche geklettert war und vor ihrem Vater stand, 470
starrte sie ihn zunächst nur wortlos an, bis er sie umarmte. Er schlang seine Arme um ihre kugelsichere Weste und drückte sie fest an sich. Noch immer hielt Stephie ihr Gewehr in der Hand. Sie spürte, wie sich die Waffe hinter dem Rücken ihres Vaters bewegte, als einer der Männer vom Secret Service überprüfte, ob das Gewehr gesichert war. »Lass uns ein paar Schritte gehen, damit wir uns setzen und reden können«, sagte Bill Baker. Sie folgte ihrem Vater direkt neben dem Highway einen Hügel hinauf. Bald sah sie, wo die Schüsse aus den Handfeuerwaffen abgegeben worden waren. Ein Feld auf der gegenüberliegenden Seite des Highways war zu einem lärmerfüllten, improvisierten Schießplatz umfunktioniert worden. Hinter den Gewehren und Maschinengewehren lagen bäuchlings Soldaten, die aus einer absurd kurzen Distanz von einhundert Metern auf Pappzielscheiben feuerten. Ein Unteroffizier verteilte einzelne Magazine an Männer und Frauen, die in einer Schlange warteten, bis sie an der Reihe waren. Eine Zivilistin folgte dem Unteroffizier mit Pappbechern mit heißem Kaffee und Biskuits. Einige wartende Männer trugen mit Fett- und Ölflecken verschmierte Drilliche, da sie offenbar Fahrzeuge gewartet hatten, andere Schürzen, deren Flecken aus Feldküchen stammten. Wieder andere hatten blutverschmierte Chirurgenkittel an und arbeiteten offensichtlich in einem überlasteten mobilen Lazarett. Alle diese Soldaten aus der Nachhut trugen Helme und Kampfausrüstung. Dann ist es also jetzt so weit, dachte Stephie, der ein eiskalter Schauder der Angst über den Rücken lief. Ihr Vater legte ihr einen Arm um die Schulter, und Stephie bemerkte, dass er sie aufmerksam beobachtete. Er drückte sie an sich, und fast schien es, als würde er zu weinen beginnen. Doch dann wandte er sich ab, und sie gingen weiter. Vor ihnen schwärmten zwischen den Bäumen die Männer vom Secret Service aus. Obwohl es bei diesem Aufgebot an Sicherheitsbeamten unnötig war, trug Stephie wie immer ihr Gewehr bei sich. An einem Abhang über dem Highway setzten sie sich unter einen Baum. Die restlichen Soldaten der 41st Infantry Division machten große Augen, als sie mit ihren LKWs an den Fahrzeugen der Charlie Company vorbeikamen, die am Straßenrand neben dem Helikopter Marine One geparkt waren. Sie erklommen den Hügel und blieben dann auf dem gegenüberliegen471
den Abhang an einem Felsvorsprung stehen, wo es einigermaßen ruhig war. Die Agenten formierten sich zu einem Dreihundertsechzig-GradKordon um sie herum, hielten aber Abstand. Die Schüsse von dem behelfsmäßigen Schießplatz schienen – genau wie die Schlacht, die ihnen bevorstand – zugleich weit weg und gefährlich nah zu sein. Die ganze Zeit über blickte Bill Baker seine Tochter an, die jetzt ihren Helm abnahm und mit den Fingerspitzen ihren Pony kämmte. Als sie schielend auf die dünnen Locken in ihrer Stirn blickte, lachte er. Sie ließ es bleiben und setzte mit einem finsteren Blick ihren Helm wieder auf. Ihr Vater lächelte sie an. »Was ist?«, fragte Stephie, während sie sich mit beiden Händen den Dreck von den Wangen wischte. Seine Antwortet war unerwartet. »Ich bin auf dich stolzer als auf irgendetwas anderes auf dieser Welt, Stephie.« Sie zuckte zusammen und schlug den Blick nieder. »Du bist eine Heldin und gibst mir die Stärke, die ich zum Weitermachen brauche.« Zähneknirschend wandte sich Stephie ab. »Was ist denn?«, fragte Bill unsicher. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« Sie zuckte nur stirnrunzelnd die Achseln. »Also?«, fragte er. Stephie wirbelte zu ihm herum. »Ich bin keine Heldin, sondern nur eine ganz normale Soldatin! Wie alle anderen erledige ich auch nur meinen Job!« »Und gerade das ist für mich heldenhaft«, erklärte Bill mit flüsternder Stimme, die seine angespannte Gefühlslage verriet. Tränen traten in seine Augen, und er sprach mit belegter Stimme weiter. »Das gilt für euch alle. Wir stehen sehr in eurer Schuld, Stephie. Verstehst du das nicht? Du glaubst, nur deine Pflicht zu tun. Wir befinden uns im Krieg, und du bist achtzehn und wirst eingezogen. Klingt alles ganz einfach, aber es ist nicht so einfach! Du bist noch ein Kind! Wie schaffst du das nur, und warum schaffst du es? Vor fünf Jahren warst du noch…« Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, sein Unterkiefer zitterte. Sie ging zu ihm und nahm erneut ihren Helm ab. Ihr Haar hing unordentlich hinunter, aber sie setzte sich dennoch neben ihn und legte ihren Kopf aus seine Schulter. Jetzt schien in seinem Inneren ein Damm zu brechen. Er schlug die Hände vors Gesicht, doch selbst das konnte die Flut 472
der Tränen nicht aufhalten. Als Stephie ihre Arme um ihn legte, fühlte sie, wie sehr er zitterte. Er schien nichts dagegen machen zu können, dass er schluchzte. Sie drückte ihn so lange fest an sich, bis das Zittern nachgelassen hatte. »Wir tun es für dich«, erwiderte Stephie auf die Frage, die ihrem Vater solches Kopfzerbrechen zu bereiten schien. Ihr Lächeln wandelte sich zu einem spitzbübischen Grinsen. »Wir tun es, damit du stolz auf uns sein kannst.« Er löste sich sanft aus ihrer Umarmung und stand auf. »Ist was?«, fragte Stephie. Ihr Vater wirkte abgelenkt. »Habe ich was Falsches gesagt?« Er zog eine Serviette aus der Tasche und entfaltete sie. Auf dem weißen Leinen lag ein kleines schwarzes Rangabzeichen aus Kunststoff – so klein und doch so bedeutsam. »Ist das für mich?«, fragte Stephie mit klopfendem Herzen. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte ihr Vater mit schwacher und rauer Stimme, »Lieutenant Roberts;« Stephie sprang mit offenem Mund auf. »Ich kann’s nicht glauben!«, rief sie aus, während sie das unbezahlbare Stück Plastik aus allen Richtungen beäugte. Dann stellte sie sich lachend auf die Zehenspitzen, um ihren Vater auf die Wange zu küssen. Wieder hielt er sie fest, und einen Augenblick lang glaubte sie, er würde erneut einen Weinkrampf bekommen. Aber er ließ sie los, und sie sah sein bleiches, ausdrucksloses Gesicht. Seine düstere Stimmung stand in einem krassen Gegensatz zu der Fröhlichkeit, die sie angesichts ihrer Beförderung empfand. »Noch bin ich kein Lieutenant«, sagte sie neckisch verschämt. Sie blickte auf ihren Kragen, und als ihr Vater nicht verstand, tat sie es ein weiteres Mal. Noch befanden sich die beeindruckenden Rangabzeichen eines Master Sergeant an der Stelle, wo bald der schwarze Streifen prangen würde. Bill heftete ihr das neue Rangabzeichen an. »Jetzt musst du mich vereidigen«, sagte Stephie. »Was muss ich?« »Mich vereidigen!«, forderte sie grinsend. »Oh, natürlich. Es tut mir Leid, aber ich kenne den Wortlaut des Eids nicht.« 473
»Aber ich«, antwortete Stephie grinsend. »Ich habe ihn Wort für Wort auswendig gelernt.« Sie lachte, aber ihr Vater wirkte wie ein Kranker. Stephie setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf, richtete sich gerade auf und hob ihre rechte Hand, musste aber gleich wieder vor Freude kichern. »Tut mir Leid… ich bin so weit.« Die Hand zum Eid erhoben, begann sie mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Ich, nennen Sie Ihren Namen…« Wieder musste sie lachen. »Nein, noch mal.« Sie wischte sich über den Mund, als wollte sie den unangemessenen Gesichtsausdruck verscheuchen, und räusperte sich. Dann richtete sie sich kerzengerade auf und wurde dadurch drei Zentimeter größer. Jetzt war es ihr wirklich ernst. »Ich, Stephanie Amanda Roberts, gelobe feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten gegen alle ausländischen und inländischen Feinde verteidigen werde und ihr in wahrer Treue und Loyalität verbunden bin.« Sie lächelte. »Ich schwöre, dass ich deinen Befehlen… den Befehlen des Präsidenten der Vereinigten Staaten und den Befehlen meiner vorgesetzten Offiziere gehorchen werde, wie es in den Vorschriften und im Uniform Code des Militärgesetzbuchs niedergeschrieben ist. So wahr mir Gott helfe.« Sie hielt ihre Hand noch eine Zeit lang zum Schwur erhoben, bis es ihr merkwürdig vorkam, ließ sie dann sinken und streckte sie ihrem Vater entgegen, der sie aber nicht schüttelte, sondern sie fest umarmte. »Ich bin so stolz auf dich«, wiederholte Bill. »Und ich bin stolz auf dich, Dad.« Als er sich aus der Umarmung löste, bemerkte sie erneut seinen düsteren Gesichtsausdruck. »Hey!«, sagte sie humorvoll, während sie seine Oberarme packte und ihn durchschüttelte. »Was ist los mit dir, Dad? Machst du dir Sorgen? Um mich?« Sie schüttelte ihn noch einmal, diesmal aber etwas sanfter. »Es ist alles in Ordnung. Ich habe meinen Frieden mit Gott gemacht. In diesem Krieg habe ich mehr Gefahren überlebt, als ich hoffen konnte. Und heute ist so ein wunderschöner Tag.« Sie machte sich von ihm los und zeigte auf den spätnachmittäglichen Himmel. »Ich hatte jede Menge Zeit, um mich auf alles vorzubereiten, das auf mich zukommen mag.« Jeder von Stephies Sätzen ließ Bill zusammenzucken, und schließlich 474
waren seine Augen so weit geschlossen, als wollte er gleich einschlafen. Er versuchte, etwas zu sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Dann wandte er sich ab, um keuchend nach Luft zu schnappen. »Dad?«, fragte Stephie. »Dad?« Nachdem er sich wieder umgedreht hatte, reichte er Stephie ein mit Samt ausgelegtes Schmuckkästchen, in dem Stephie ein mit Diamanten besetztes silbernes Kreuz fand. Als sie die Kette aus dem Kästchen nahm, fiel ihr die Kinnlade herunter. »Mein Weihnachtsgeschenk«, stieß Bill mit unübersehbarer Mühe hervor. Seine Stimme klang benommen, und als hätte er die Orientierung verloren. »Frohe Weihnachten.« Mit ihren schmutzigen Fingern legte sie die Kette um ihren Hals. »Schmuck zu tragen verstößt gegen die Vorschriften, deren Einhaltung ich eben gelobt habe«, sagte sie. Ihr Vater starrte auf das im Sonnenlicht glitzernde Kreuz. »Es ist wunderschön«, sagte Stephie, die auf das Kreuz niederblickte, bevor sie es unter der kugelsicheren Weste verschwinden ließ. Noch immer hielt sie ihre Hand darüber. Wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Aber ihr Vater griff sich an die Brust und wandte ihr den Rücken zu. Für einen Moment dachte sie, dass er einen Herzinfarkt hatte. Sie wollte ihm die Hand auf die Schulter legen, berührte sie dann aber nicht. Er schien zu dicht vor einem erneuten Zusammenbruch zu stehen. Sich an den Händen haltend, kehrten sie zum Highway zurück. Aus unterschiedlichen Gründen waren sich weder Stephie noch ihr Vater der Agenten des Secret Service bewusst, die hundert Meter vor ihnen in alle Richtungen ausschwärmten. Stephie plapperte drauflos und erzählte Geschichten aus dem Alltagsleben beim Militär. Ihr Vater war leichenblass und schweigsam. Mehrmals hielt Stephie mitten im Satz inne, um auf ihre Hand hinabzublicken, die ihr Vater mit einem festen, feucht-kalten Griff umklammerte. Auf dem Highway unter ihnen fuhr an den abgestellten Fahrzeugen des Konvois langsam ein Lastwagen vorbei, der einen Tieflader mit einem schweren Kampfpanzer zog. Als der LKW hinter dem Konvoi wieder beschleunigte, stieß der altersschwache Motor dunkle Rauchwolken aus. »Sieg!«, brüllte ein junger Soldat dem Präsidenten zu. Er lehnte aus dem offenen Fenster der Fahrerkabine und formte mit zwei gespreizten Fingern das »V« für victory. Hinter dem Tieflader mit dem Panzer hatte sich ein 475
kleiner Stau gebildet – Lastwagen mit jungen Frauen und Männern, alle in Stephies Alter, die durch Planen, aus Fahrerkabinen und von gepanzerten Fahrzeugen mit Maschinengewehren aus die Szenerie beobachteten. Sie beäugten den Helikopter, die gut gekleideten Männer vom Secret Service und den Präsidenten selbst und brachen dann in ein großes »Hallo« aus. Bill winkte noch dem letzten Fahrzeug zu, als schon der nächste LKW mit seiner jubelnden Besatzung vorbeifuhr. »Machen Sie ihnen die Hölle heiß, Mr President!«, brüllten die Soldaten ihrem Oberbefehlshaber zu, der etwas unbeholfen lächelte und nickte. »Wir werden sie mit einem Arschtritt nach Peking zurückbefördern!«, schrie jemand von einem anderen Lastwagen. Begeistert nahm Stephie die Bewunderung der Soldaten zur Kenntnis, die diese dem Mann entgegenbrachten, den auch sie bewunderte. Aber ihren Vater schienen die rauen Begrüßungen und Schreie eher zu beunruhigen. Auf einen der alten grünen Lastwagen war mit weißer Farbe »Wir kehren nach Miami zurück!« gepinselt, die spanische Übersetzung wurde wegen der vielen dort lebenden Hispanics gleich mitgeliefert. Der Fahrer des noch immer langsam fahrenden Lastwagens hängte sich weit aus dem Fenster und machte den Präsidenten durch sein lautes Geschrei auf sich aufmerksam. »He, Mr President, wir werden denen den Arsch versohlen!«, brüllte er. Die beiden mit ihm im Führerhaus sitzenden Soldaten zerrten den Verrückten hinter sein Lenkrad zurück und ermahnten ihn mit Flüchen und Schlägen. Der Fahrer verteidigte sich kämpferisch. Schließlich gelang es ihm, das ausscherende Fahrzeug wieder sicher auf die Straße zu manövrieren. »Wir sollten jetzt gehen, Sir«, sagte der Chef des Sonderkommandos vom Secret Service, der nervös die südlich gelegenen Hügel beäugte. Stephie trat einen Schritt zurück, um genau wie ihre Waffenbrüder vor ihrem Vater zu salutieren. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr President!«, rief einer der vorbeifahrenden Soldaten. »Dies ist die kämpfende 41st Infantry Brigade! Nach Washington kommt keiner rein, das lassen wir nicht zu, Sir!« Wieder brach überall Jubel aus, aber ganz besonders bei den Soldaten der Charlie Company, die um die geparkten Lastwagen herum warteten. Noch immer stand Stephie stocksteif da, die Fingerspitzen an den Helm gelegt. Sie war dreckig. Kleine, aufgebügelte Flicken verdeckten Löcher 476
und Risse in ihrer Uniform, wodurch das gesprenkelte Tarnmuster noch merkwürdiger wirkte. Ihre einstmals schwarzen Kampfstiefel waren so ramponiert und zerkratzt, dass sie eigentlich schon auf den Abfallhaufen gehörten. Sie hatte die Hacken militärisch korrekt zusammengeschlagen. Noch nie war sie so stolz gewesen – auf die Charlie Company und die kämpfende 41st Infantry Brigade. Und sie war stolz auf ihren Vater, der schließlich ihren Salut erwiderte. Als sie ihn ein letztes Mal umarmte, hörte sie trotz des nicht abreißenden Jubels seinen stoßweise gehenden Atem. Da begriff sie, dass er dicht vor einem weiteren Zusammenbruch stand. Sie befreite sich aus seinen Armen, die sie nicht loslassen wollten. »Goodbye, Dad.« Er wollte antworten, brachte aber kein Wort heraus. Seine Lippen zuckten, dann verschwand er schnell durch die Gasse, die ihm die ausgestreckten Arme eines Sicherheitsbeamten gebahnt hatten. Zuerst ging er schnell, doch dann begann er zu laufen, um schließlich mit eingezogenem Kopf in dem Helikopter zu verschwinden.
Alexandria, Virginia 26. Dezember, 1015 Uhr Ortszeit Während sich Wu in einem gepanzerten Kommandofahrzeug durch den Vorort von Washington chauffieren ließ, betrachtete er die Straßen der angenehmen Wohngegend. Durch die offene Luke über seinem Kopf pfiff kalter Wind. Hinten im Wagen war ein Mann mit einem Maschinengewehr postiert. Ein Stadtviertel nach dem anderen glitt vorbei, doch alle wirkten ausgestorben, und Wu’s Hoffnungen sanken. Keine rauchenden Schornsteine, keine Autos, kein Müll auf der Straße, den die verängstigten Hausbesitzer bei ihrer Flucht mitten in der Nacht zurückgelassen hatten. Offensichtlich hatten die Einwohner von Alexandria genügend Zeit zur Flucht gehabt, und sie hatten ihre Chance genutzt. Vielleicht, dachte Wu, wird es schon bald keine Zufluchtsorte für die Amerikaner mehr geben. Dennoch war der Gedanke an den Sieg auf eine seltsame Weise verwirrend. 477
Hin und wieder kamen sie an ausgebrannten Kampffahrzeugen vorbei. Einige waren amerikanischer Bauart, und auf den Wracks war mit dicker weißer Farbe in chinesischen Schriftzeichen vermerkt, dass sie aus Sicherheitsgründen überprüft worden waren. Aber die meisten der zerstörten gepanzerten Fahrzeuge waren chinesischer Herkunft. In den Vorstädten der amerikanischen Hauptstadt kamen auf ein zerstörtes amerikanisches Kampffahrzeug fünfzehn, zwanzig oder gar dreißig chinesische Wracks. Während Wu’s Kommandofahrzeug sich durch die Verkehrshindernisse schlängelte, geriet er noch mehr aus der Fassung. Einer der Soldaten hinter ihm beugte sich mit einer Karte vor. »Links, links!«, brüllte er zu spät. Fluchend trat der Fahrer auf die Bremse, um zurückzusetzen. Dann gab er Gas und bog mit quietschenden Reifen nach links ab. Wu hatte schon bemerkt, dass der Fahrer an hohem Tempo Gefallen fand. Am Bremsen oder gar an Manövern im Rückwärtsgang schien er keinerlei Interesse zu haben. Jetzt spähte Wu noch aufmerksamer und wachsamer durch die dunklen, verspiegelten Fenster. Genau wie die anderen nervösen Soldaten in dem Kommandofahrzeug wusste auch er, dass ihrer aller Leben davon abhing, dass jemand in einem Sekundenbruchteil richtig reagierte, falls sie in einen Hinterhalt geraten sollten. Trotz der Tatsache, dass es in ihrem Rücken von talentierten Scharfschützen der amerikanischen Spezialkommandos nur so wimmelte, machten sie sich darum im Moment keine Sorgen. Tagsüber würden diese Profis niemals zuschlagen. Mit Unruhe erfüllte sie die durch Partisanen drohende Gefahr, patriotische Fanatiker, die unbekümmert ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten und denen es völlig egal war, ob es gerade hell oder dunkel war. Tag oder Nacht – das war ihnen so gleichgültig wie Leben oder Tod. An der nächsten Kreuzung ließ der hinten im Wagen postierte Navigator den Fahrer abbremsen. Das auf dem Dach montierte Maschinengewehr gab ein quietschendes Geräusch von sich, als der Schütze seine Waffe von einer Seite zur anderen riss. »Beeilung!«, drängte der Fahrer. »Ma-puh«, versuchte der Navigator, die Aufschrift des Straßenschilds zu entziffern, das umgestürzt war und neben dem Bordstein lag. »Maple«, korrigierte Wu. »Maple Street, hier sind wir richtig.« »Abbiegen!«, kam der Befehl von hinten, und das Turbinentriebwerk heulte auf. 478
Der Navigator zählte auf Chinesisch die mit einer Schablone auf den Bordstein gesprühten Hausnummern mit. »6707,6709,6713,6715! Da, das ist es!« Doch Wu’s Blick heftete sich bereits auf das einstöckige Gebäude aus rotem Backstein. Das Haus wirkte alt, musste aber einst durchaus respektabel gewesen sein. Vom Dachgesims blätterte weiße Farbe ab, und auf dem verdorrten Gras lagen Blätter. Unter einer halb geschmolzenen Schneedecke stand ein altersschwaches Auto, dessen Farbe sich nicht eindeutig bestimmen ließ. Wu öffnete die Tür auf der Seite des Beifahrersitzes, und die fünf Soldaten wollten schnell das Kommandofahrzeug verlassen. »Nein!«, befahl Wu. »Alle bleiben im Wagen.« Die Männer blickten sich an. Keiner von ihnen war scharf darauf, das gepanzerte Fahrzeug zu verlassen, keiner war überhaupt für diese Tour gewesen, von der sie noch nicht einmal den hiesigen Kommandeur informiert hatten. Aber Wu wusste, dass sie sich um seine Sicherheit fast genauso sorgten wie um die eigene, weil ihr Schicksal von seinem abhing. »Es wird nicht lange dauern«, sagte Wu, um sie zu beruhigen. Dann trat er in die frische Winterluft hinaus. Von den selbstklebenden Buchstaben am Briefkasten fehlte die Hälfte, dennoch war sicher, dass der Familienname »Fisher« lautete. Auf dem Weg zur Eingangstür knirschten die nicht weggefegten Blätter unter seinen Stiefeln. Er stieg drei Stufen hinauf, blieb vor der Tür stehen und wollte anklopfen. Nach kurzem Zögern zog er seine Handschuhe aus und setzte den Helm ab. Er klemmte sich die Sachen unter den Arm und klopfte. Keine Reaktion. Er klopfte ein zweites Mal. Ein drittes Mal – diesmal lauter. Ein letztes Mal. Noch immer hörte er aus dem Inneren des Hauses keinerlei Geräusch. Sie war nicht zu Hause. Geflohen, wie alle anderen. Wu’s Zuversicht sank. Seufzend senkte er den Kopf. Natürlich hatte sie den Gefahren der Kämpfe entfliehen wollen. Aber diese rationale Erklärung trug nichts dazu bei, seine Enttäuschung zu dämpfen. Er drehte sich um und blickte zu dem gepanzerten Kommandofahrzeug hinüber. Die Augen der Soldaten richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Wu wandte sich wieder zur Haustür um. Egal, das ist ihr Zuhause, dachte er. 479
Er prägte sich Ansichten, Geräusche und Gerüche ein, aber es befriedigte ihn nicht. Unvermittelt zückte er sein Gewehr. Nachdem er einen Schritt zurückgetreten war, feuerte er auf den Türknauf. Bevor Wu sie zurückwinken konnte, waren die Soldaten aus dem Kommandofahrzeug schon auf die Straße gesprungen. Nach dem dritten Krachen fielen Schloss und Beschläge mit einem klirrenden Geräusch auf die Stufen, während zugleich die Echos von Wu’s Schuss verhallten. Er trat hart gegen die Tür, die sich aber immer noch nicht öffnete, da sie offensichtlich zusätzlich von innen verriegelt war. Fluchend zog er eine Handgranate hervor und ging ein paar Schritte in Richtung Bürgersteig zurück. Nachdem er die ängstlichen Soldaten gewarnt hatte, indem er die Handgranate hob, verschwand auch der Körper des Maschinengewehrschützen wieder durch die Luke, und die kugelsicheren Fenster schlössen sich mit einem elektrischen Summen. Wu zog den Stift aus der Handgranate und warf sie auf die Veranda, wo sie direkt vor der Schwelle der Haustür liegen blieb. Dann rannte er ein paar Schritte an der Frontseite des Hauses entlang, während hinter ihm mit einem lauten Krachen die Granate explodierte. Das Echo hallte durch die Straße, und Wu machte sich auf den Rückweg. Während er die mit Trümmern übersäten Stufen hinaufstieg, musste er immer wieder den Rauch verscheuchen. Jetzt gab es keine Tür mehr. Der Teppich in der Diele war mit großen Holzsplittern übersät. Wu trat ein. Zu seiner Rechten befand sich das Wohnzimmer. Er sah abgewetzte Sessel, die einst bestimmt ansehnlich gewesen waren. Die Lehnen waren mit farblich schlecht passenden Schutzbezügen versehen. Vor dem Kamin lagen zwischen Glassplittern gerahmte Fotos, die durch die Explosion von dem Kaminsims gefegt worden waren. Wu hob die Rahmen mit den alten Fotografien auf. Ein Bild zeigte zwei attraktive junge Frauen mit dunklen Sonnenbrillen, die in einem Wintersportort die Arme umeinander gelegt hatten und herzlich lächelten. Nachdem Wu das Foto aus dem Rahmen genommen hatte, drehte er es um. In der unteren Ecke stand mit blauer Tinte: »Rachel und Cynthia, Frühjahr 1996«. 480
Es gab weitere Bilder: Fotos von einem Highschool-Ball, von alternden, aber sympathischen Eltern. Wu studierte die Aufnahmen, doch leider fand er keine aus dem Lebensabschnitt, der ihn am meisten interessierte. Fotos eines geheimen, längst vergessenen Lebens. »Was wollen Sie hier?«, fragte plötzlich eine zitternde Stimme in gebrochenem Chinesisch mit amerikanischem Akzent. Als Wu sich umdrehte, sah er eine Frau in mittleren Jahren, die mehrere Sweater übereinander trug und frierend die Arme um ihren Oberkörper schlang. »Guter Gott im Himmel!«, flüsterte sie geschockt auf Englisch, bevor sie sich nach Luft schnappend an einem Sessel festklammerte. Wu trat einen Schritt auf sie zu, und sie hangelte sich an der Lehne des Sessels entlang, um sich schließlich darauf fallen zu lasen. Von dort aus starrte sie Wu ungläubig an. Träten traten ihr in die Augen. »Wie hast du…? Du hast mich gefunden, du hast mich gefunden…« »Warum hast du mich damals weggegeben?«, fragte Wu auf Englisch. »Habe ich nicht!«, rief sie, während die Anstrengung und ihre offensichtlichen Seelenqualen ihren Oberkörper nach vorn rissen. Ihre Tränen schienen durch Erinnerungen zu versiegen, die man hinter ihrem abwesenden Blick erahnen konnte. In einem erschöpften, monotonen Ton begann sie mit ihren Erklärungen. Während ihrer Schwangerschaft, berichtete sie, habe man sie in Peking wie eine königliche Hoheit behandelt, aber direkt nach Wu’s Geburt sei sie sofort zum Flughafen verfrachtet worden. Immer wieder betonte sie, dass sie keine Schuld treffe. Sie begann in einem hölzernen Tonfall, doch schließlich wurde ihre Stimme schrill. »Du hättest mir schreiben können«, sagte Wu, dessen Stimme ruhig klang, was sich jedoch eher seiner Niedergeschlagenheit verdankte. Sie behauptete, Angst gehabt zu haben. Man habe sie gewarnt und sie in Angst und Schrecken versetzt. Die verschwiegene Affäre mit Han Zhemin und Wu’s Geburt seien das größte Geheimnis ihres Lebens gewesen. Die Verhaltensänderung seitens Wu’s Familie – speziell seines Vaters – sei völlig überraschend gekommen und habe sehr bedrohlich auf sie gewirkt. »Damals ist für mich die Welt zusammengebrochen!«, rief sie. »Meine Eltern waren tot, meine Familie bestand nur noch aus Rachel! Aber glaubst du, meine Schwester hätte mich mit offenen Armen empfangen, als Han mich nach Hause schickte? Nach dem, was ich getan hatte? Wegen 481
mir war auch ihr Leben nur noch ein Scherbenhaufen! Zumindest hat sie das gesagt! Ihr Leben war schon immer chaotisch. Zuerst flog sie in den luxuriösen Privatjets deines Vater um die Welt, die es mit der Ausstattung von Air Force One durchaus aufnehmen konnten, und schließlich heiratete sie diesen ungehobelten Südstaatler, diesen Ingenieur aus Mobile in Alabama! Sie hat kein einziges Wort mehr mit mir gesprochen, seit dein Vater…« Sie führte den Satz nicht zu Ende. »Seit er was…«, fragte Wu mit zusammengekniffenen Augen. »Das weißt du nicht?«, fragte sie leise. »Ich weiß, dass du nicht mal versucht hast, Kontakt zu mir aufzunehmen!«, platzte es aus Wu heraus. »Ich weiß, dass ich die letzten vierzehn Jahre meines Lebens in Militärakademien verbracht habe, ohne Familie und ohne…« »… ohne Mutter!«, ergänzte sie verletzt. Aus dem Augenwinkel sah Wu sie näher kommen. Zögernd streckte sie die Hand aus, ohne jedoch dem Impuls nachzugeben, sie Wu auf die Schulter zu legen. »Es gibt so viel, das du nicht weißt, Wu.« »Dann erzähl es mir!« Sie zuckte verängstigt zusammen. Seufzend senkte Wu den Kopf. Er wünschte, dass seine Worte anders geklungen hätten. Aber sie wühlte ihn auf mit ihrer Geschichte, seiner Geschichte, der schmutzigen Geschichte ihres Zweigs seiner Familie. »Weißt du, wer meine Schwester Rachel ist?« Wu nickte. »Und du weißt auch, wer ihr erster Ehemann war?« Wu bejahte erneut. Er wusste von den seltsamen Banden, durch die sein Leben mit dem von Stephanie Roberts und dem des Präsidenten der Vereinigten Staaten verknüpft war. »Dein Vater hatte eine Affäre mit meiner Schwester«, erklärte Wu’s Mutter. »Sie hat Bill Baker verlassen, um mit Han nach Hongkong zu verschwinden. Weil Han meine Schwester verführt hat, ging ihre Ehe in die Brüche.« »Warum hat er das getan?«, fragte Wu. »Sie waren doch die besten Freunde.« Sie zuckte die Achseln. »Weil er es sich leisten konnte.« Wu war geschockt. Aber das war noch nicht alles. »Kaum einen Monat, nachdem Han sie drüben in einem Haus untergebracht hatte – das angemessenere Wort wäre eigentlich Palast –, rief Ra482
chel mich an und sagte, ich müsse sie sofort besuchen. Das Ticket, natürlich erste Klasse, hat sie mir zugeschickt. Drüben angekommen, konnte ich es nicht glauben. Die Autos, die Boote, die Hubschrauber und Privatjets. Und erst das Haus! Der ganze Reichtum, es war unbeschreiblich.« Weil er wollte, dass sie weitersprach, nickte Wu nur ungeduldig. »Rachel war schwanger«, stellte Wu’s Mutter lapidar fest. »Mit Stephanie, Bills Kind. Du musst verstehen, dass meine Schwester in einer verzweifelten Lage war. Wir haben darüber nachgedacht, ob eine Abtreibung in Frage kam, aber wir waren in Hongkong. Nachdem wir einen Arzt aufgesucht hatten, von dem wir glaubten, dass er an die Schweigepflicht gebunden wäre, erfuhr Han noch am selben Abend davon. Er war wütend, und wir wussten nicht einmal, warum! Nachdem er nach Peking aufgebrochen war, begannen die Diener, Racheis Sachen zu packen. Sie bettelte mich an, ebenfalls nach Peking zu fliegen und mit Han zu reden. Sie hat mich förmlich angefleht.« »Also bist du hingefahren und hast sofort mit ihm gevögelt«, sagte Wu. Cynthia war geschockt. »Wie kannst du es wagen…? Du bist noch ein Kind und weißt gar nichts!« »Aber es stimmt, oder?« Sie ließ den Kopf hängen, tief in Gedanken verloren, und schien weit weg zu sein. »Er war so…« Nach kurzem Warten beendete Wu den Satz für sie. »… mächtig? Reich? Attraktiv?« »Alle diese Dinge spielten eine Rolle, aber da war noch mehr«, antwortete sie. »Er war beängstigend, Wu… ich hatte Angst! Er bekommt immer, was er will, oder? Verstehst du nicht? Er bekommt immer, was er will.« »Also hat er dich bekommen, und du wurdest schwanger. Dann kam ich, und er ließ dich fallen.« Erneut war sie weit weg, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nachdem ich schwanger war, hat er mich nie mehr angerührt und mich gut behandelt. Geradezu großartig! Geschenke! Luxus! Neun Monate lang war ich die Königin von Hongkong. Er selbst war immer in irgendeiner wichtigen Mission in Asien unterwegs und unterzeichnete Nichtangriffsabkommen mit all diesen Ländern, die China bald erobern würde. Aber hin und wieder tauchten in den Zeitungen oder im Fernsehen Bilder auf, die deinen Vater im Hintergrund bei einem Empfang zeigten, bei einer offiziellen 483
Versammlung oder sonst wo. So erfuhr ich, dass er in Peking war, aber niemals in Hongkong. Ich war in Hongkong.« »Also ist durch meinen Vater«, fasste Wu mit einem bitteren Lächeln zusammen, »die Ehe zwischen Bill Baker und deiner Schwester in die Brüche gegangen. Dann bist du als Mätresse meines Vaters an die Stelle deiner Schwester getreten.« Die Ohrfeige kam unerwartet, und sie tat weh. Wu widerstand dem Drang, seine brennende Wange zu berühren. »Es tut mir Leid«, sagte seine Mutter, die ihre Hand zurückzog und sie auf ihren Mund legte. »Es tut mir so Leid, bitte verzeih mir!« »Es gibt nichts zu verzeihen«, sagte Wu, der bereits zur Tür schritt. Cynthia ergriff ihn von hinten und schlang die Arme um ihn. Sie küsste seinen Nacken und näherte sich mit ihren Küssen seiner Wange. Er stand reglos wie eine Statue da, bis sie fertig war. »Mein Gott«, sagte sie atemlos. »Was haben Sie nur mit dir gemacht.« Wu riss sich los und ging mit knirschenden Schritten durch die Trümmer auf den türlosen Eingang zu. »Wu!«, rief sie ihm nach, und ihr trauriger Tonfall ließ ihn innehalten und sich umdrehen. Sie stand da, die Arme um den Oberleib geschlungen, und starrte ihn verzweifelt an. »Seit der Krieg begonnen hat, sind keine Schecks mehr von deinem Vater gekommen. Den letzten habe ich vor neun Monaten gekriegt. Es war nicht viel, aber sonst hatte ich nichts. Also bin ich hier in meinem Haus geblieben, während alle anderen geflohen sind. Für den Fall, dass die Schecks jetzt wieder kommen sollten… Ich meine, das ist jetzt von den Chinesen kontrolliertes Territorium, und die Post funktioniert. Also könnten die Schecks jetzt wieder eintreffen.« Wu wandte sich um und ging. »Ich liebe dich!«, rief sie ihm nach. Als Wu in das Kommandofahrzeug kletterte, richteten sich alle Augen auf ihn, doch angesichts seiner düsteren Stimmung sagte niemand ein Wort. Seine Mutter stand im verwüsteten Türrahmen ihres Hauses, die Arme noch fester als zuvor um ihren Oberkörper geschlungen. Die Soldaten in dem Wagen schauten zwischen den beiden hin und her, mit neugierigen, spöttischen oder durchbohrenden Blicken. »Wollen Sie ins Hauptquartier der Armee?«, fragte der Fahrer. 484
»Nein«, antwortete Wu. »Ich will zur Front und dort meinen Zug suchen.« Wieder blickten sich die Soldaten an. Der vor Angst stotternde Fahrer behauptete, er habe Befehle, Wu ins Hauptquartier zu bringen, und ein vor Wut schäumender Wu durchbohrte den Mann förmlich mit seinem Blick. »Dann haben Sie jetzt eben neue Befehle!« Der Fahrer wirkte wie versteinert. »Sobald Sie mich abgesetzt haben, fahren Sie zu diesem Haus zurück und lassen die Tür reparieren. Außerdem versorgen Sie die Frau mit genügend Lebensmitteln für den Winter.« Der verstörte Mann ließ den Motor an. Tollkühn fragte er dann, wer die Frau sei. »Ein Niemand«, antwortete Wu wahrheitsgemäß.
Hauptquartier der chinesischen Zivilisten, Richmond 27. Dezember, 5 15 Uhr Ortszeit Als die Tür ohne jede Vorwarnung aufflog, saß Han Zhemin gerade an seinem Schreibtisch. Es war General Sheng, und Han war unbehaglich zumute. Aber die Kameramänner vom Militärsender, die Sheng im Schlepptau hatte, ließen die Angst wieder verfliegen, die Han die Kehle zuzuschnüren drohte. Angesichts der Medienpräsenz war ihm klar, dass man ihn nicht auf der Stelle exekutieren würde – so etwas wurde nie im Fernsehen gezeigt. »Heute sind Sie aber wirklich früh auf den Beinen, General«, sagte Han leutselig. »Sie stehen unter Arrest, Administrator Han Zhemin«, konstatierte Sheng in einem offiziösen Tonfall. Verbindlich in die Kameras lächelnd, stand Han hinter seinem Schreibtisch auf. Sein Berater half ihm in sein Jackett. »Was wirft man mir vor?«, fragte er, noch immer mit seinem Jackett beschäftigt. »Anstachelung zum Hochverrat bei den Wächtern eines Gefangenenlagers«, antwortete Sheng. Mit einem breiten Grinsen hob Han herausfordernd den Kopf. Das ist alles?, schien er durch sein Verhalten fragen zu wollen. Shengs Lippen 485
zuckten kurz, bevor er sich abwandte. Beiden war klar, dass Han diese Anklage vor dem alles entscheidenden Gerichtshof der chinesischen Öffentlichkeit niederschlagen würde. Han konnte sich als nobler, ziviler Administrator präsentieren, der ganz allein dafür kämpfte, dass es mit den Grausamkeiten der chinesischen Armee ein Ende nahm. Alle sollten sehen, wie Han die Oberhand behielt. Darauf hatte der Premierminister persönlich gesetzt. Wenn die Wahrheit über die Gräueltaten, die Shengs Truppen in Amerika angerichtet hatten, von mit den Zivilisten sympathisierenden Nachrichtenjournalisten präsentiert wurden, würde das hohe Offizielle aus dem Verteidigungsministerium bloßstellen, und die Armee würde es nach Möglichkeit nicht so weit kommen lassen. Allerdings konnte sie vielleicht auf die Idee verfallen, Han wegen seines tatsächlich begangenen Hochverrats anzuklagen. Aber Sheng hatte seinen Ausflug nach Camp David mit keinem Wort erwähnt, zumindest bis jetzt nicht. Noch nicht. Vielleicht hatten sie nicht genügend Beweise. Wahrscheinlicher war, dass die Militärs erst dann mit ernsthafteren Anklagen aufwarten würden, wenn die politische Schlacht gegen die Zivilisten in Peking gewonnen war. Aber Han’s Exekution würde nicht den bevorstehenden Sieg der Militärs über die zivilen politischen Kräfte markieren, sondern für die Armee der Anfang vom Ende sein. Deshalb hing jetzt alles davon ab, dass Amerika die Schlacht um Washington verlor und anschließend zu Atomwaffen Zuflucht nahm, um einen totalen Sieg der Chinesen zu verhindern. Han kannte Bill Baker sehr gut – zu einer Zeit, als Freundschaft noch wichtig zu sein schien, war Bill sein einziger Freund gewesen. In den folgenden Jahrzehnten hatte Han jeden Artikel über den Aufstieg des Politikers gelesen und sich jede Rede und jedes Interview auf Video angesehen. Er war sicher – oder zumindest fast sicher –, dass Bill vor dem Fall von Philadelphia zu Atomwaffen Zuflucht nehmen würde. Schließlich hatte er alle seine Hoffnungen darauf gesetzt, den Krieg durch seine beiden verbliebenen, so wertvollen Arsenalschiffe zu gewinnen. Die Fernsehkameras surrten, und Han stand im gleißenden Scheinwerferlicht gefasst und zuversichtlich vor Sheng. Er selbst geleitete die Leute nach draußen, die ihn festnehmen sollten, und diese subtile Nuance würde den stets aufmerksamen Fernsehzuschauern in China zweifellos nicht entgehen. 486
Auf der Straße wurden die Kameras abgeschaltet. Sheng und sein Adjutant, Oberst Li, brachten Han schweigend zu dem gepanzerten Kampffahrzeug, das ihn ins Militärgefängnis bringen sollte. Han’s Hauptquartier war von mindestens einem Bataillon uniformierter Soldaten umstellt. »Und dieser ganze Aufwand – alles nur wegen mir?«, fragte Han amüsiert. Oberst Li wirkte selbstgefällig, General Sheng schien sich seiner Sache weniger sicher zu sein. Ganz plötzlich lief ein dumpfes, grollendes Geräusch über die Straße, doch man konnte unmöglich sagen, aus welcher Richtung es kam. Aber alle – Soldaten und Zivilisten – blickten in Richtung Norden. Dort lag die Front, dort spielte sich die Schlacht um Washington ab. Die Stahltüren des gepanzerten Kampffahrzeugs standen offen, und Han wandte sich General Sheng zu. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Schlacht«, bemerkte er. Oberst Li fühlte sich durch Han’s Kommentar nur zu einem verächtlichen Schnauben inspiriert. »Wirklich, ich meine es ernst«, fügte Han hinzu. »Gewinnen Sie die Schlacht um Washington, und nehmen Sie dann Philadelphia im Sturm. Bringen Sie die Arsenalschiffe unter Ihre Kontrolle, bevor es zu spät ist.« »Und was dann?«, fragte Sheng unerwartet. Han lächelte. »Dann geht’s landeinwärts, immer weiter, immer weiter, um den endgültigen Sieg sicherzustellen.« Alle Soldaten, die anlässlich von Han’s Festnahme mitgekommen waren, starrten jetzt Sheng an. »Man muss immer einen Plan haben, General Sheng. Und Ihr Plan sollte darin bestehen, auch den Rest Amerikas zu erobern.« Han kletterte in das Kampffahrzeug, und die Türen schlossen sich hinter ihm. Die Soldaten wirkten angesichts des Gesprächs, das sie gerade mitgehört hatten, völlig verdutzt.
Nordvirginia 27. Dezember, 6 30 Uhr Ortszeit Als Major Jim Hart abrupt aus dem Schlaf gerissen wurde, schien das Weltende unmittelbar bevorzustehen. Auf einen Schlag eröffneten zehn487
tausend Geschütze das Feuer. Auf den umliegenden Hügeln wurden tausende Raketen abgefeuert, die kreischend von ihren Startrampen schossen und lange weißliche Feuerschweife hinter sich herzogen. Das Licht der grellen Blitze fiel auf Harts Uhr – die Hölle war exakt um sechs Uhr morgens losgebrochen. Es war so weit, der Angriff hatte begonnen. Bitte lass die Linie nicht einbrechen, betete er. Aber sein Stoßseufzer richtete sich nicht an Gott – der Glaube war ihm irgendwann in diesem Krieg abhanden gekommen. Bitte haltet durch, flehte er die Soldaten in den Bunkern an. Haltet die Linie. Nur dieses eine Mal, ihr könnt es schaffen. Er rollte sich auf die andere Seite und überprüfte seinen auf dem Mikrowellenband arbeitenden Transceiver, der automatisch das Signal des Einsatzleiters fand. Aber durch den einen Kopfhörer, den er auch während des Schlafs in seinem Ohr ließ, drang nur tödliches Schweigen. Es war, als wären auch dort alle in Bunker geflüchtet. »Echo Foxtrott zwei-eins-neun ruft India Zulu vier-vier, können Sie mich hören, over?« Als Hart seine Worte gerade wiederholen wollte, kam die Antwort. »Hier spricht India Zulu vier-vier. Kopf einziehen, ich wiederhole: Kopf einziehen. Bestätigen Sie.« Frustriert runzelte Hart die Stirn. »Bestätige, Kopf einziehen. Ende.« Kopf einziehen, dachte Hart. Er musste weiter in Deckung bleiben, jeden Kontakt mit dem Feind vermeiden und weitere Befehle abwarten. Jetzt erfolgten in seiner unmittelbaren Nähe die ersten Explosionen – die Reaktion der amerikanischen Artillerie. Die Feuerleit-Controller lokalisierten die chinesischen Artilleriebatterien, indem sie mittels Radar die Flugbahnen der feindlichen Geschosse zurückverfolgten. Das amerikanische Feuer erhellte die Niederungen, aus denen die chinesische Artillerie bereits floh. Mit Steuerflossen versehene amerikanische Raketen mit Wärmesuchkopf suchten die heißen Motoren der davonrasenden Fahrzeuge. Die Hälfte der feindlichen Geschütze und Raketenwerfer hatte keine Chance, den extrem wendigen amerikanischen Raketen mit ihrer großen Reichweite zu entkommen. Das aus großer Distanz geführte Gefecht verlagerte sich in ein anderes Tal, und bald drang die konstante Geräuschkulisse nur noch aus der Ferne 488
an Harts Ohr. Eine erbitterte militärische Auseinandersetzung, ein verzweifelter Kampf, und Hart war eingeschlossen. Ich bin wohl zu wertvoll, als dass sie mich jetzt einsetzen würden, höhnte er wütend. Oder ich bin zu nutzlos, meldete sich eine andere Stimme. Der Krieg war in seine entscheidende Phase getreten, und Sieg oder Niederlage hingen nun von den Eingezogenen ab. Von Lückenfüllern bei der Infanterie, von Büroangestellten oder Computerprogrammierern, denen man ein Gewehr in die Hand gedrückt hatte und die jetzt in Schützengräben und Bunkern hockten, wo sie bis zum bitteren Ende kämpfen mussten. Diese Gedanke machte Hart wütend. Kälteschauer liefen ihm den Körper hinab, fast so, als würde er eine Grippe bekommen. Beinahe hätte er einfach zum Gewehr gegriffen, um den nächsten chinesischen Wachtposten zu töten. In seinem Inneren meldete sich eine leise Stimme, die den halb ausgegorenen Plan aufnahm und unwahrscheinliche Prognosen abzuspulen begann, wie hoch die Zahl der feindlichen Opfer sein würde. Zehn tote Chinesen zu eins, fünfzehn zu eins, zwanzig zu eins. Soundsoviel zu eins, dachte Hart, aber ich würde auf jeden Fall ins Gras beißen. Auf eine seltsame Weise verstummte die Stimme, die gerade noch so verlockend gewirkt hatte. Und es gab keine andere Stimme, die ihm geraten hätte, sich für das Leben zu entscheiden, das sich eines Tages vielleicht wieder von seiner schönen Seite zeigen würde. Aber es waren diese Stille und dieses Schweigen, die Hart im lärmenden Getöse des Krieges das Leben retteten. Er ließ den Kopf wieder auf das steinharte Handtuch sinken und lauschte der Geräuschkulisse des Gefechts. Das chinesische Sperrfeuer war abgeflaut, jetzt hörte er nur noch einzelne Schüsse. Jedes Mal, wenn irgendwo ein amerikanisches Geschoss einschlug, spürte er unter sich den Boden erzittern. Nach ein paar Minuten schlief er ein.
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McLean, Virginia 27. Dezember, 7 30 Uhr Ortszeit Eine Kamera des chinesischen Fernsehens folgte Leutnant Wu auf Schritt und Tritt. Der Kameramann, ein Zivilist mit einem buschigen grauen Haarschopf, überspielte bisher nie gesehene Liveaufnahmen des Kriegsgeschehens, die in China zur besten Sendezeit von einer Milliarde Zuschauern gesehen wurden. Wegen der kurzen, aufrüttelnden Einführung des Premierministers hatten zwei Dutzend Fernsehkanäle das laufende Programm unterbrochen. »Mein Enkel Han Wushi«, erklärte der alte Mann, »ist ein achtzehnjähriger Offizier, der mit unserer Armee in den Krieg gezogen ist. Und für ihn – genau wie für all die anderen noch in der Blüte ihrer Jugend stehenden Soldaten – kommt jetzt am Rande der amerikanischen Hauptstadt der Augenblick der Wahrheit. Bitte sehen Sie sich diese ungeschnittenen Liveaufnahmen von der Schlacht um Washington an, und beten Sie mit mir für das Leben von Leutnant Han Wushi.« In China starrten alle wie gebannt auf die ersten unzensierten Bilder aus der Hölle. Auf allen Bildschirmen tauchte in Großaufnahme das Bild von Leutnant Wu auf, der wegen des mörderischen Sperrfeuers der amerikanischen Artillerie zusammenzuckte und den Kopf zwischen die Schultern zog. Nach jedem knapp vorbeigegangenen Schuss regnete Dreck auf seinen Helm und seine Wangen nieder, Ton und Bild würden über einen hohen, ein paar hundert Meter entfernten Sendemast zu einem Übertragungswagen geschickt, der das Material über ein Network mit hoher Bandbreite in die unter dem Meeresgrund des Golfs von Mexiko verlaufenden Glasfiberkabel einspeiste. Diese wiederum verliefen auf dem Gebiet von Nicaragua kurzzeitig überirdisch, um dann auf der anderen Küste des mittelamerikanischen Staats in die kalten Gewässer des Pazifiks einzutauchen. Einen Sekundenbruchteil später waren die Bilder in China. Nichts unterschied das haarfeine Kabel, das Wu’s Bild und Stimme übertrug, von der Vielzahl anderer Glasfiberkabel in dem dicken Bündel. Wenn man davon absah, dass die Monitore im Regieraum des Senders die Blitze der Explosionen zeigten und die Lautsprecher das dumpfe Grollen der schweren Geschütze übertrugen. Wenn das Signal schließlich in den Wohnzimmern Chinas eintraf, war 490
das Gesicht des Krieges in Amerika identisch mit dem Han Wushis. Trotz des elektronischen Bildstabilisators der Kamera zitterten die Bilder, und die LED-Anzeigen für die Lautstärke schlugen voll aus. Europäische Fernsehsender schalteten sich in die laufende Übertragung ein. Es war Wochenende, und die Fußball- und Basketball-Übertragungen wurden unterbrochen. Jetzt schwoll das Publikum um weitere fünfhundert Millionen Zuschauer an, und genau wie die Asiaten waren auch sie gleichzeitig fasziniert und geschockt. Denn Wu’s Grimassen ließen keinerlei Anzeichen von Heroismus erkennen. Alle sahen seinen verzweifelten Kampf um das nackte Leben. Er lag in einem Straßengraben in einer amerikanischen Vorstadt, und die Asphaltdecke wurde gerade von markerschütternden Explosionen in die Luft gesprengt. Auf der ganzen Welt konnte sich niemand der Anziehungskraft dieser Szene entziehen, alle konnten sich in Wu wiedererkennen: Chinesen, Amerikaner, Deutsche, Briten und Franzosen. Bei jeder der schweren Detonationen verschwand Wu’s Gesicht kurzzeitig von den Bildschirmen, und während dieser kurzen Pause beschäftigte die Zuschauer nur eine einzige Frage. Hat er es überlebt oder ist er tot? Aber jedes Mal wurde Wu wieder von der Kamera eingefangen – trotz ständig schlechter werdender Überlebenschancen schaffte er es irgendwie. Milliarden teilten seine traumatische Erfahrung, und Wu wurde gleichsam zur Symbolfigur, die das Grauen des Krieges stellvertretend für all die anderen jungen, unschuldigen Männer miterlebte. Zugleich wurde er zu einer weltweit bekannten Berühmtheit. Die in aller Kürze hergestellte Verbindung zwischen dem jungen Mann und dem alternden Premierminister, die für die europäischen Zuschauer durch die aus dem Off kommentierenden Moderatoren nachgereicht wurde, verlieh Wu die Identität, die er zuvor nie besessen hatte. Eben noch ein Niemand, wurde er zum Erben der regierenden politischen Dynastie. Aber wegen der allenfalls skizzenhaften Einführung des Helden dieses Live-Dokudramas blieb der Fantasie von Milliarden Zuschauern genug Freiraum, um die Lücken in Wu’s persönlicher Geschichte auszufüllen. Alle nahmen an, dass er die Existenz eines vornehmen, quasi-adeligen Prominenten der postkommunistischen Ära geführt hatte, dessen Leben jetzt genauso wie das der namenlosen anderen Soldaten auf dem Spiel stand. »Warum hat er sich nur darauf eingelassen?«, fragten in Millionen 491
Wohnzimmern die Menschen in einem Dutzend unterschiedlicher Sprachen. Was konnte einen jungen Prinzen dazu bewegen, alles zu gefährden, wo es ihm doch mit Sicherheit möglich gewesen wäre, der Gefahr aus dem Wege zu gehen? Oder konnte er seinen Verpflichtungen nicht entkommen? Hatte seine Familie ihn in den Krieg geschickt? Aber warum sollten zivile, zumindest halbherzig gegen den Krieg eingestellte Politiker so viel von einem noch so jungen Mann verlangen? Es gab eine Unzahl von Fragen und Antworten, die in zahllosen Variationen abgewandelt werden konnten, aber die Menschen vor den Bildschirmen hatten eins gemeinsam. Für alle war es plötzlich von entscheidender Wichtigkeit, ob dieser junge Mann das live übertragene Gemetzel überstehen würde. Plötzlich hörte das amerikanische Sperrfeuer auf. Die hochauflösende Kamera zitterte nicht mehr und wurde erneut gekonnt auf Wu gerichtet. Die technische Ausrüstung war auf dem neuesten Stand und befand sich in den Händen der besten Kriegsreporter, die die Feldzüge des letzten Jahrzehnts überlebt hatten. Um diesen beispiellosen Film präsentieren zu können, waren keinerlei Kosten gescheut worden. Im Hintergrund konnten alle den Donner der schweren Bombardierung hören, aber der Held war zeitweilig von der ihn umgebenden Gewalt erlöst. Wu stand auf, und durch die von seiner Uniform rieselnde Erde wirkte das Bild, als wäre er gerade aus einem vor der Zeit geschaufelten Grab auferstanden. Im Hintergrund erhoben sich andere Soldaten, aber einige würden nie wieder aufstehen können. Die Männer fragten sich, ob alles in Ordnung war. In Europa lieferten Computerprogramme die Übersetzungen, die prompt als Untertitel über die Bildschirme flimmerten. Im Bildvordergrund erteilte Wu jetzt seine Befehle. »Alle Mann! Sprung auf, Marsch-Marsch«, brüllte er. »Auf die Bunker vorrücken!« Drei Dutzend Überlebende liefen mit grimmigen Gesichtern über die schlichte Straße eines amerikanischen Vororts auf den bewaldeten Kamm eines vor ihnen liegenden Hügels zu, von dem wie Fontänen hohe Flammen in die Luft schossen. Jetzt war es an den Amerikanern, vor dem Sturm in Deckung zu gehen. Der Kameramann folgte den Soldaten. Wu wich rauchenden Kratern aus, mit dem die Asphaltdecke und die Rasenflächen gleichermaßen über492
sät waren. Teilweise waren die an der Straße gelegenen Häuser noch in makellosem Zustand, wie in der Vorkriegszeit, aber andere waren durch verirrte Geschosse getroffen worden und brannten lichterloh. Nach einem langen Sprint – die Kamera übertrug nur noch verwackelte Bilder – holte der Kameramann Wu ein. Neben ihm gehend, filmte er den jungen Leutnant in einer heroischen Profilansicht, dann stürmte er vor, um sich nicht entgehen zu lassen, wie Wu mit seinen Männern den Hügel erklomm. Aber der Kameramann war keineswegs tollkühn. Er kniete sich hin und nahm Wu von unten auf, wodurch dieser plötzlich überlebensgroß erschien, während er in gebückter Haltung, das Gewehr in der Hand, an dem Kriegsberichterstatter vorbeirannte. Die Kamera wurde geschwenkt, blieb aber zurück, weshalb sie jetzt aus immer größerer Ferne Bilder mit immer stärkerer Vergrößerung schoss. Trotz der begleitenden Bombardierung wurde ein halbes Dutzend von Wu’s Männern durch schweres, belferndes Maschinengewehrfeuer von den Beinen gerissen. Genauso gut hätte es auch Wu treffen können, was den Realitätsgehalt dieses Dokudramas noch einmal nachhaltig unterstrich. Einem kurzen Kreischen folgte der massive, unerwartete Einsatz chinesischer Raketen, und der Kameramann verlor den Boden unter den Füßen. Vor den Bildschirmen auf der ganzen Welt führte die zu Boden krachende Kamera dazu, dass die Menschen sich an ihren Sessellehnen festklammerten oder ihren Blick von den Mattscheiben abwandten, wo gleich alles noch viel schrecklicher kommen würde. Aber der erfahrene Reporter schaffte es, die Kamera ächzend wieder in die Höhe zu stemmen. In Cafes, Wohnzimmern und Büros tauchte jetzt auf den Bildschirmen der Kamm des Hügels auf, wo Fontänen von Erde in die Luft spritzten und zu Boden fielen. Große Trümmerstücke zogen wie teuflische Kometen schwarze Rauchfahnen hinter sich her. Ohne sich eine Pause zu gönnen, um die Szene auf sich wirken zu lassen, rannte der Kriegsberichterstatter mit einem weiteren Stöhnen plötzlich nach vorn. Als Kenner von Kriegsschauplätzen lief er im Zickzackkurs, und die Kamera überspielte nur noch verwirrende, verwischte Bilder, aber der nicht beeinträchtigte Ton war noch beunruhigender. Lautsprechersysteme mit Dolby Surround gaben lebensecht wieder, aus welchen sich stets ändernden Richtungen die Schmerzensschreie und die Hilferufe kamen. »Kommt wieder auf die Beine!«, ertönte plötzlich die feste Stimme von 493
Leutnant Han Wushi, die mit jedem langen Schritt des rennenden Kameramanns lauter wurde. »Marsch-Marsch! Aber plötzlich! Vorrücken! Räumt mit diesen Bunkern auf! Nehmt sie ein! Zum Sturmangriff! Marsch-Marsch!« Angesichts dieser Tapferkeit bekamen die chinesischen Zuschauer eine Gänsehaut. Bei allen anderen riefen die entschlossenen, in einer fremden Sprache gebrüllten Befehle freilich ein Gefühl des Entsetzens aus, da sich dieser Macht offenbar kein Einhalt gebieten ließ. »Nehmt den Hügel ein, nehmt den Hügel!«, knurrte Wu mit rauer Stimme. »Schaltet die Maschinengewehrnester aus!« Als die Kamera sich wieder beruhigt und auf Wu gerichtet hatte, der gerade mit einer dramatischen, ausladenden Armbewegung auf den Hügel wies, sahen vor den Bildschirmen alle, dass seine Männer sich tatsächlich erhoben, um auf die Bunker vorzurücken. Die überlebenden Amerikaner direkt vor ihnen intensivierten das Feuer, aber sie schossen blindlings durch vor ihren Bunkern aus den Kratern aufsteigende Rauchwolken. Allerdings waren Wu’s Männer diesem aufs Geratewohl abgegebenen Kugelhagel aus den schweren Maschinengewehren, die von den Schützen von einer Seite zur anderen gerissen wurden, schutzlos ausgeliefert. Wer zu langsam reagierte oder Pech hatte, wurde in Stücke gerissen. Die Kamera suchte Wu. Hinter einem dünnen Baum lag ein chinesischer Soldat, der sich lange Holzsplitter aus dem Arm zog. Soldaten rannten durch den mörderischen Kugelhagel, als wären sie lebensmüde. Einige schafften es, andere starben einen entsetzlichen Tod. Dünne Bäume erzitterten und stürzten dann um. Zäune flogen in die Luft, Mülltonnen aus Kunststoff wurden zerfetzt. Automatische Artilleriegeschütze demolierten geparkte Autos. Die Kamera fand Leutnant Wu, der weit vorn einem wie erstarrt dakauernden Soldaten Befehle zubrüllte. In gebückter Haltung lief der Kameramann hinter Wu her. Eine schwarze, durch das chinesische Raketen-Bombardement ausgelöste Rauchwolke verdeckte die Sonne. Der durch Brände und Explosionen immer dichter werdende Dunst am Boden verschluckte Wu zeitweilig, aber er tauchte immer wieder aus dem Nebel auf. Doch nur selten konnte die Kamera mehr als eine verschwommene Profilaufnahme einfangen. Zweimal musste Wu verängstigte, in Deckung kauernde Soldaten aufscheuchen, und beide Male waren diese Männer den Hügel hinaufgestürmt und in den 494
Rauchwölken verschwunden, bis diese durch kurze, grelle Explosionen erhellt wurden. In den Wohnzimmern der ganzen Welt schossen die Köpfe hin und her, während taumelnde Männer durchs Bild stolperten, und verängstigte Schreie verebbten erst, als andere Familienmitglieder auf den umherwandernden jungen Offizier zeigten. »Da! Da ist er! Er lebt!«, riefen die Zuschauer. Als der Kameramann sich erneut erhob, um Wu zu folgen, kam er an den blutigen Überresten eines Menschen vorbei, der im Sterben lag, bevor er bemerkte, was hier vor sich ging. Nur sporadisch fing die Kamera Bilder von Wu ein, aber das Muster war klar. Wenn die Nerven eines Soldaten zu versagen drohten, tauchte Wu an seiner Seite auf. Der Kameramann bediente sein Zoom und filmte Nahaufnahmen von Wu, der neben seinen Männern unter Dachgesimsen, in Büschen oder hinter Autos lag. Niemals trat oder beschimpfte er seine Männer. Weder zückte er seine Waffe, noch bedrohte er sie auf irgendeine andere Weise. Stattdessen blickte er den wie versteinert wirkenden Soldaten in die Augen und sprach ruhig mit ihnen, bis sie nickten. Dann stand Wu wieder auf und ging voran. Jedes Mal folgten ihm seine Männer. Je mehr sich der angreifende Zug den amerikanischen Bunkern näherte, desto häufiger verlor die Kamera die Soldaten in dem dichter werdenden Rauch aus dem Blick. Immer wieder tauchte Wu auf, aber von seinen Leuten war immer seltener etwas zu sehen. Die Kamera wurde herumgeschwenkt, weil der Kriegsberichterstatter den hinter ihnen liegenden Abhang des Hügels filmen wollte. Durch den treibenden Rauch erfasste die Kamera eine mit Toten und sich windenden, dem Tode nahen Schwerverletzten übersäte Landschaft. Aus einer geborstenen Hauptleitung strömte Wasser, das sich rötlich verfärbte, während es die Straße hinab über die Leichen lief. Die Lachen, die sich neben den Toten auf dem Asphalt und den Rasenflächen ausbreiteten, waren von einem unverfälschten Karmesinrot. Überall lagen Trümmer jeder Größe, aus denen Flammen züngelten. Schließlich gab es wieder eine Nahaufnahme von Wu, der aus dem Dunst auftauchte und plötzlich neben dem Kameramann stand. »Gegen die Maschinengewehre vorrücken!«, befahl er. Wieder warf er seine Arme nach vorn, in Richtung Feind. Die Pose hätte einem heroischen Kriegerdenkmal alle Ehre gemacht, aber Wu war nicht aus Marmor. 495
Die Statue aus Fleisch und Blut rückte gegen den Feind vor, und die Kamera folgte ihm. Durch den Rauch waren nur die orangefarbenen Mündungsblitze der Maschinengewehre zu erkennen, deren Läufe durch die Schießscharten der Bunker ragten. Zuerst rückten nur Wu und der Kameramann vor. Wu machte sich nicht einmal die Mühe, auf die Betonwände der Bunker zu feuern, er marschierte einfach nur weiter, und irgendwie, so unglaublich es schien, überlebte er. Langsam, einer nach dem anderen, gesellten sich seine Männer zu ihm. Nicht eben eifrig, noch nicht einmal willig, sondern einfach nur, weil sie mussten. Denn Wu verschwand in dem Rauch und griff den Feind allein an. In gebückter Haltung rückte ein Dutzend zögernder Soldaten vor, während das amerikanische Feuer allmählich schwächer wurde. Plötzlich wurde der Bunker über der Straße durch eine Reihe vernichtender Explosionen erhellt und die Bilder der jungen Soldaten zwanzig Meter vor der Kamera wurden von Flammen eingerahmt. Die Hälfte wurde von der Druckwelle zu Boden geschleudert, die andere Hälfte warf sich freiwillig hin, als eine zweite Salve von einhundert Mörsern auf den Bunker und die ihn umgebenden Schützengräben niederging. Bäume stürzten um, entlang der ganzen Straße blieb kein Fenster heil. Alle waren verdutzt und völlig paralysiert – außer dem erfahrenen Kameramann, der sofort hinter Wu weiter den Hügel hinaufeilte. Wieder begannen die Bilder zu wackeln. Der junge Leutnant saß ohne Helm und im Schneidersitz mitten auf der den Hügel hinaufführenden Straße, mit geradem Rücken, wie ein Mönch vor einer Selbstopferung. Die Kamera filmte aus gleicher Höhe sein Gesicht, dessen untere Hälfte – unter dem langen Riss auf seiner Wange – blutete. Eine Kugel hatte sein Gesicht gestreift und ihn beinahe getötet. Wie durch ein Wunder tauchte von hinten ein Sanitäter in einer verblüffend sauberen Uniform auf, der den mittlerweile aufgeschreckten und sich wehrenden Wu von der Straße zerrte und dann hinter einer Stützmauer unter der Last seines Patienten zusammenbrach. Die Kamera beobachtete die professionelle medizinische Hilfe des Sanitäters, der Wu mit seinen Stiefeln umklammerte, als führte er mit ihm einen Ringkampf auf. Unter Wu liegend, säuberte der Sanitäter die Wunde, um sie dann zu klammern und zu verbinden. Erst jetzt versammelten sich Wu’s Männer um ihren Zugführer. Gemeinsam suchten sie hinter der Mauer vor dem Kugelhagel Schutz. Mit 496
dem frischen Verband verarztet, richtete sich Wu auf die Knie auf, hockte einen Moment auf allen vieren und rappelte sich dann hoch. Dunkle Rauchwolken trieben über den grauen Kriegsschauplatz, der von keinerlei Sonne mehr beschienen wurde. Die rechte Hälfte von Wu’s Gesicht war provisorisch mit einer weißen Salbe und großen Pflasterstreifen verarztet worden. Wu ließ seinen Blick über die neun Männer schweifen, die jetzt noch unter seinem Kommando standen. Sie lehnten schlaff an der groben weißen Mauer und schienen zufrieden, den Krieg bisher überlebt zu haben. Die Erde der Blumenbeete wurde durch den Dauerbeschuss in die Luft gespritzt und regnete auf ihre Köpfe nieder. Unerwartet stürmte Wu an der Kamera vorbei, aber er folgte nicht der Straße, sondern überquerte sie, um sein Gewehr und seinen Helm aufzulesen. Als er zurück war, brüllte er seine Männer mit einer rauen Stimme an, die mittlerweile allen vertraut war. »Alles auf! Gegen die Bunker vorrükken! Ich führe!« Und diese letzten Worte vollbrachten das Wunder – alle rappelten sich auf. Neun Soldaten, ein Sanitäter und der Kameramann bogen um die Stützmauer. Sechs Soldaten und der Kriegsberichterstatter waren noch bei Wu, als sie schließlich zwischen den Trümmern direkt unter dem alles beherrschenden Bunker standen. Der mittlerweile rauchgeschwärzte und teilweise von Rissen durchzogene Bunker war in den Ruinen eines abgerissenen Hauses errichtet worden, das einst an einer – jetzt taktisch wichtigen – Kurve der Straße oben auf dem Hügel errichtet worden war. Während er zwischen den Überresten des Hauses in Deckung lag, stapelte Wu neben sich Handgranaten auf. Ein permanenter Kugelhagel kratzte an seiner Deckung. Die Soldaten folgten seinem Beispiel, und auf Wu’s Signal hin schleuderte jeder eine Granate in Richtung Schießscharte. Sechs gingen daneben, eine flog durch den Spalt. Nachdem die sieben Granaten explodiert waren, hörten sie den schrillen Schrei einer Frau, der alle zögern ließ, bis Wu sie erneut ermahnte. Die noch lebenden Verteidiger des Bunkers feuerten wie wild zwischen die Trümmer. Gesteinssplitter regneten auf die Angreifer nieder. Die amerikanischen MG-Schützen in den Bunkern neben Wu’s Ziel konnten ihre Waffen nicht weit genug herumreißen, um ihren Kameraden Feuerunterstützung zu geben. Die Chinesen befanden sich in einer Lücke zwischen den 497
Schussfeldern, und diese Lücke wurde durch mit Gewehren bewaffnete Soldaten in offenen Schützengräben ausgefüllt. Allerdings waren diese schlecht geeignet, um das Sperrfeuer zu überwintern, und die Schüsse der paar Verteidiger wurden immer spärlicher. Von den nächsten sieben Handgranaten flogen zwei durch die Schießscharte, aber eine wurde sofort zurückgeworfen. Aus dem Bunker schossen Flammen, gefolgt von Schreien. Bei der dritten Salve verlor einer von Wu’s Männern durch einen Kopfschuss das Leben. Nach drei weiteren Angriffen mit Handgranaten war der rauchende Bunker schließlich von tödlicher Stille umgeben. Wu gab ein Signal, und fünf Männer folgten ihm in Richtung Bunker. Der letzte Mann ihrer Gruppe geriet ins Stolpern und trat auf eine Mine, die ihn in Stücke riss. Einige seiner Körperteile landeten vor dem nachkommenden Kameramann, der Wu schließlich in einem Schützengraben an der Rückseite des Bunkers einholte. Der Kriegsberichterstatter rutschte mit seiner Kamera auf der abschüssigen Seite eines Kraters hinab, die einst die vertikale Wand des Schützengrabens gewesen war. Die Soldaten von Wu’s Zug, mittlerweile nurmehr eine Gruppe, feuerten durch die Löcher in der Betonwand des Bunkers. Ein Querschläger traf die Hand eines Mannes, der das Gewehr fallen ließ und mit seiner Hand herumfuchtelte, als wäre er von einer Biene gestochen worden. Sein Handteller war von einer Kugel durchschlagen worden. Jetzt tauchte dicht über ihnen ein Schwarm chinesischer Kampfhubschrauber auf, die ihre Raketen auf die nächste Verteidigungslinie abfeuerten. Einer der nachfolgenden Soldaten stieß zu Wu’s Männern und zog dann einen kleinen Kanister aus seinem Rucksack. Alle suchten in einem tiefen Krater Schutz, als der Mann das explosive Kraftstoff-Luft-Gemisch in den Bunker schleuderte und sich dann in Sicherheit brachte. Der Kriegsberichterstatter folgte ihm auf dem Fuße und richte seine Kamera auf den Himmel, der förmlich in Flammen stand, als der Bunker explodierte und alle Verteidiger ums Leben kamen. Jetzt ließ der Reporter seine Kamera über die sechs Überlebenden gleiten, die von Wu’s Zug, der ursprünglich aus vierzig Soldaten bestanden hatte, noch übrig geblieben waren. Sie lagen neben Wu auf dem Grund des Kraters. Im Bildhintergrund strömte Wasser den Hügel hinab, weil ein grüner Wassertank von hunderten Geschossen durchlöchert worden war. 498
Eine neue Linie chinesischer Soldaten eilte an dem Krater vorbei. Als die Ersten den Kamm des Hügels erreichten, eröffneten amerikanische Maschinengewehre das Feuer. Einige Soldaten stürzten gleich wieder rückwärts den Abhang hinunter, während die zweite Welle auf die nächste Linie der amerikanischen Bunker vorrückte. Verzweifelt und meistens erfolglos mühten sich die Sanitäter ab, starke Blutungen zu stillen. Die Szenerie glich der Hölle, die Wu und die paar Glücklichen unter seinen Männern gerade überlebt hatten. Aber es mussten immer noch drei weitere Linien mit Bunkern genommen werden.
Alexandria, Virginia 27. Dezember, 1515 Uhr Ortszeit Mit Oberst Li im Schlepptau trat Sheng in das Hauptquartier, das man ihm in der Nähe der Front eingerichtet hatte. Der Gesichtsausdruck des Generals war finster. Im Keller der Schule standen ramponierte, staubige Schreibtische mit Computern, aber General Shengs Blick wurde nicht von den Monitoren angezogen, sondern von einem alten Schild an der Wand, das den Weg zu einem Strahlenschutzraum wies und ihn unfreiwillig erschaudern ließ. Trotz der enormen Bedeutung der Schlacht um Washington, von der nach Shengs Meinung zweifellos der Ausgang dieses Krieges abhing, starrte er konsterniert auf einen kleinen Fernseher. Er ignorierte die elektronischen Karten, auf denen die Markierungen für die Standorte der Einheiten sich nicht weiter vorwärts zu bewegen schienen. Vor dem Fernseher hatten sich ein paar Offiziere versammelt, und der Gefechtslärm war deutlich zu hören. Als Sheng auf sie zutrat, machten die Offiziere Platz, und jetzt erkannte der General Leutnant Wu, der erschöpft in einem Krater hockte. Er atmete keuchend und wirkte körperlich und seelisch schwer mitgenommen. Seine rechte Gesichtshälfte war durch einen Verband verdeckt. Oberst Li telefonierte und wollte wissen, wer die Ausstrahlung der Bilder von der Front durch ein Team von Zivilisten autorisiert habe. »Wo 499
steht ihr verdammter Übertragungswagen?«, fragte er dann. »Wollen Sie etwa sagen, dass das alles live ausgestrahlt wird? Finden Sie heraus, wo das gefilmt wird und…! Was zum Teufel soll das heißen, dass die Bilder direkt in die Glasfiberkabel im Meer eingespeist werden? Wer hat das genehmigt?« »Der Verteidigungsminister«, antwortete General Sheng hinter ihm, und Oberst Li drehte sich geschockt um. »Der Verteidigungsminister hat diese Übertragung autorisiert«, wiederholte Sheng niederschlagen mit lebloser Stimme. Jetzt wandten sich alle Offiziere dem Bildschirm zu, weil sie sich nicht entgehen lassen wollten, was Wu unternehmen würde. Unterdessen waren die Beine und Stiefel der zweiten Welle chinesischer Soldaten zu erkennen, die an dem Krater vorbeistürmten. Der routinierte Kriegsberichterstatter ließ seine Kamera über die Gesichter der bedrückend wenigen Überlebenden schweifen, schwenkte aber immer wieder zu dem Star des Dokudramas hinüber – dem tapferen jungen Leutnant mit dem Gesichtsverband. Unterdessen telefonierte Oberst Li an einem anderen Apparat. Dann legte er eine Hand über den Hörer und sprach im Flüsterton mit Sheng. »Die nationalen Fernsehsender haben ihr laufendes Programm unterbrochen und strahlen das Material unzensiert aus!« Nachdem Shengs Adjutant kurz wieder den Hörer an sein Ohr gehalten hatte, erstattete er seinem Vorgesetzten Bericht. »Sie sind verrückt nach Wu und wollen alles über seine Vergangenheit und die Geschichte seiner Familie wissen! Und darüber, wer sein Vater ist!« Mit einer genervten Handbewegung brachte Sheng seinen Adjutanten zum Schweigen. Jetzt meldete sich Shengs General, der für die hiesigen Operationen die Verantwortung trug. »Auf unserer linken Seite ist der Vormarsch stecken geblieben. Die 412. und die 526. Division werden ihr Ziel nicht erreichen. Schon am ersten amerikanischen Verteidigungsgürtel mussten sie schwere Verluste hinnehmen.« »Schicken Sie die 131. und die 1107. Division«, befahl Sheng, ohne den Fernseher und Wu aus den Augen zu lassen. Verwundete wurden über den Kamm des Hügels geschleift, wo Wu in Deckung lag. Aber es kamen auch Soldaten zurück, denen offensichtlich nichts fehlte. Dem Angriff der zweiten Welle war der Wind aus den Segeln genommen worden. 500
»Die 131. Division ist bereits in die Mitte verlegt worden«, rief der verantwortliche General Sheng ins Gedächtnis. »Dann schicken Sie eben die 305.«, befahl Sheng. »Aber die hat noch nicht die volle Truppenstärke…«, begann der General. »Schicken Sie sie trotzdem los!«, fuhr Sheng den Mann an, der nickte und dann den Raum verließ. Durch den Lautsprecher des Fernsehers hörte man jetzt Wu’s Funkgerät. Irgendein in der hierarchischen Befehlskette weit unterhalb von Sheng angesiedelter Offizier gab Befehle, doch auch dieser Mann rangierte noch weit über Leutnant Wu. Alle lauschten fasziniert den über das Funkgerät durchgegebenen Befehlen.
McLean, Virginia 27. Dezember, 1520 Uhr Ortszeit »Angriff, Angriff, Angriff!«, ertönte eine blechern klingende, aber lautstarke Stimme aus Wu’s Funkgerät. Auch die anderen sechs Männer in dem Krater konnten die Befehle klar und deutlich verstehen. Der Kriegsberichterstatter kletterte die Wand des Kraters hoch, um das sich vor ihnen abspielende Gemetzel zu filmen, und auf den Mattscheiben rund um die Welt tauchte der zweite Ring amerikanischer Bunker auf, die diesmal schon deutlich stabiler und widerstandsfähiger zu sein schienen. Explosionen wühlten die Erde der in dichten Rauch gehüllten Landschaft auf, es war eine höllische Szenerie. Noch immer blitzte in den Bunkern Mündungsfeuer auf, doch als der amerikanische Dauerbeschuss nachließ, krochen ein paar armselige chinesische Angreifer weiter vorwärts. Erneut schlitterte der Kriegsberichterstatter die Wand des Kraters hinunter, um seine Kamera auf Leutnant Wu zu richten. »Alle Einheiten, alle Einheiten!«, hörte man den Offizier über das Funkgerät brüllen. »Sofortiger Angriff auf den zweiten Verteidigungsgürtel! Ich wiederhole, sofortiger Angriff auf den zweiten Verteidigungsgürtel!« »Was werden wir tun?«, fragte Wu’s einzig noch verbliebener Unterof501
fizier. Als Wu nicht antwortete, sondern nur gedankenverloren in die Ferne blickte, wiederholte er seine Frage. Vor dem Krater schrien Verwundete, drinnen richteten sich alle Augen auf Wu. Der Kameramann bediente das Zoom, und Wu vermutete, dass jetzt die nächste Großaufnahme fällig war. »Wie lauten Ihre Befehle?«, erkundigte sich der Feldwebel. Jetzt kamen Männer ohne Helm und Waffen zurückgesprintet, und ihre Gesichter mit den weit aufgerissenen Augen verrieten nackte Panik. »Wie lauten Ihre Befehle, Leutnant Wu?«, hakte der Unteroffizier nach. »Angriff, Angriff, Angriff!«, ertönte erneut die Stimme des höherrangigen Offiziers über das Funkgerät. »Wir ziehen uns zum Sammelpunkt zurück«, ordnete Wu an. Jetzt blickte der Unteroffizier nicht mehr auf Wu, sondern auf das Funkgerät. »Wir ziehen uns zum Sammelpunkt zurück«, wiederholte Wu mit gebieterischer Stimme. »So lauten meine Befehle.« Als er die volle Aufmerksamkeit seiner Männer hatte, sprach Wu weiter. »Ihr habt euer Bestes gegeben und eure Arbeit getan. Für uns ist dieses Gefecht vorbei.« »Angriff, Angriff, Angr…!« Mit einem Klicken schaltete Wu das Funkgerät ab.
Alexandria, Virginia 27. Dezember, 1525 Uhr Ortszeit Als Wu mit seinen Männern den Krater verließ, schloss General Sheng resigniert die Augen. Wie immer folgten die Soldaten ihrem Leutnant, doch diesmal in Richtung Nachhut. Unterwegs sammelte Wu sogar kopflos flüchtende Männer der zweiten Welle auf, deren Angriff von den amerikanischen Verteidigern niedergeschlagen worden war. Als Sheng die Augen wieder öffnete, war Wu auf dem Rückweg zum Sammelpunkt. Um sich herum hatte er eine Einheit versammelt, die zahlenmäßig mehr als zweimal so stark war wie der Zug, mit dem Wu an diesem Morgen ins Gefecht gezogen war. Die etwa einhundert Männer hatten keine Ahnung, wer Wu war, aber sie folgten dem ruhigen Offizier, der ohne Drohungen 502
und Tobsuchtsanfälle auskam und eine Gelassenheit an den Tag legte, die einem in die Wiege gelegt sein musste. »Ich will eine Kopie von der Aufzeichnung dieser Übertragung«, befahl Oberst Li. Der neben dem Monitor sitzenden Techniker nickte. Ein weiterer Mitarbeiter zeigte auf den Fernseher. »Sie zählen gerade«, sagte der aufgeregte Major, »wie viele Soldaten sich Leutnant Han Wushi angeschlossen haben!« Sheng sah, dass in einer Ecke des Bildschirms gerade die Zahl »105« aufblitzte. »Mittlerweile einhundertsieben Männer!«, verkündete der Reporter, als der Zähler auf »107« sprang, und so ging es weiter. Eine gute Stunde später wandte sich Oberst Li an General Sheng, dem er zuvor aus dem Weg gegangen war, um sich demonstrativ von ihm zu distanzieren. Was für ein Mitleid erregender Feigling, der Mann hat keinen Mumm, dachte Sheng, um Oberst Li dann dennoch anzulächeln. »Wie sieht eigentlich Ihre Bilanz im aktiven Kampfeinsatz aus, Oberst Li?«, fragte Sheng. »Wie bitte?«, fragte Li mit weit aufgerissenen Augen. »In den letzten Tagen unseres glorreichen Feldzugs in Indien, der mit einer vernichtenden Niederlage des Feindes endete, haben Sie eine Woche im aktiven Einsatz an der Front verbracht. Sie haben Recht, für einen Offizier Ihres Rangs reicht das nicht. Folglich werde ich über Ihre Bitte nachdenken.« »Über meine Bitte?«, platzte es aus dem verwirrten Li heraus. »Aber in der Zwischenzeit benötige ich hier Ihre volle Unterstützung«, sagte Sheng. Oberst Li, der die Drohung begriffen hatte, schlug den Blick zu Boden. »Mobilisieren Sie die Reserve, die mit allen Heeresgruppen für den Angriff zur Verfügung stehen muss«, sagte Sheng. »Noch vor Einbruch der Dunkelheit will ich am Potomac stehen, und um Mitternacht müssen wir den Fluss in nennenswerter Truppenstärke überquert haben.« Li nickte, den Blick weiterhin unterwürfig zu Boden gerichtet, wie es sich gehörte. Dann lief er zu den Karten und Funkgeräten zurück, wo er kriecherischen Mitarbeitern Befehle zubrüllte. Deshalb hatte Sheng ihn benutzt, und deshalb brauchte er ihn noch. Sheng war von giftigem Hass auf den rückgratlosen Speichellecker erfüllt, der das Gemetzel unbeschadet überstanden hatte. Was für ein Idiot er doch ist, begreift er denn gar nichts?, dachte Sheng, während Li den höch503
sten Sanitätsoffizier anherrschte. Mittlerweile hatten sich 1239 Soldaten um Wu geschart, und ihre Zahl stieg weiter. Es ist vorbei, jetzt kommt nur noch der Schlussakt.
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2. KAPITEL
An den Ufern des Potomac, Virginia 27. Dezember, 1730Uhr Ortszeit »Steht euren Mann!«, brüllte Stephie in ihr Funkgerät, als an diesem sehr klaren Tag am äußersten Rand Virginias die Schlacht um Washington begann. Das dumpfe Grollen der Artillerie lief über die Hügel auf ihre Linie zu. Salven von Geschossen, eine Reihe nach der anderen, tauchten über den Hügelkämmen auf, rissen Bäume um und kamen dann direkt auf die Bunker an ihrer Linie zu. Der Dritte Weltkrieg wurde fast so ausgetragen wie der Erste Weltkrieg. Die 41st Infantry Division bemannte einen eine Meile langen Abschnitt der Front an Washingtons letzter Verteidigungslinie. In ihrem Rücken floss der eisige Potomac. Stephies Platoon hatte auf einem Abschnitt von sechshundert Metern Länge Stellung bezogen, und es gab weder Platz für Bewegungen, noch eine Rückzugsmöglichkeit. Bis zum letzten Mann und zur letzten Frau war allen klar, dass sie sich hier dem Feind entgegenstemmen mussten. Die Lawine des Todes kam immer näher. Fontänen brauner Erde wurden aufgewirbelt, Baumstämme knickten wie dünne Zweige und wurden seitlich durch die Luft geschleudert. Rauchwolken hingen in der Luft, und jede Reihe neuer Explosionen überholte die vorhergehende. Die Detonationen schüttelten Stephie mit einer immer brutaleren und beängstigenderen Wucht durch. Als die Einschläge nur noch vierhundert Meter entfernt waren, trommelte ein Schrapnellregen gegen die Betonwände des Bunkers, und Stephie warf sich zu Boden. Die Blitze des höllischen Infernos ermöglichten es ihr, einen letzten prüfenden Blick auf den Bunker zu werfen. Fünfzehn zusammengerollt an den Wänden liegende Männer und Frauen bereiteten sich auf den Einsatz hochexplosiven Sprengstoffs vor, der in ihrer Sicht Atomwaffen in nichts nachstand. Das Ende der Welt schien gekommen. 505
Wenngleich Stephie und Animal versucht hatten, die Grünschnäbel auf das Kommende vorzubereiten, hatte noch nie jemand von ihnen an einer Schlacht wie der am Savannah teilgenommen. Sie hatten die Daumen fest gegen ihre Hightech-Ohrschützer gepresst, und ihre Haut war mit einer speziellen Creme eingerieben, die jenen Sonnenbrand verhindern sollte, der an schlimme Verbrennungen grenzte. Ihre Schutzkleidung gegen den Einsatz von biologischen oder chemischen Waffen – ein einteiliger Kampfanzug mit transparenten Schutzplatten aus Kunststoff – war zusätzlich auch feuerresistent. Ihre Kevlar-Helme und die kugelsicheren Westen schützten sie vom Hals bis zu den Oberschenkeln vor schweren Projektilen und Schrapnell. Doch nichts konnte die jungen Frauen und Männer vor der Angst schützen, die an ihren wackeligen Selbstschutzmechanismen rüttelte. Das Sperrfeuer der Artillerie rückte immer näher. Zu den Erschütterungen des Betonbunkers kamen die bebenden Stimmen, die sich über Funk meldeten. Stephie kniff die Augen zu. Bald waren über beide Funknetze – für beide Richtungen der Befehlskette – nur noch knisternde Störgeräusche zu hören. Sie wurden von einer Sturmflut der Gewalt überschwemmt, die sich unausweichlich und mit einer entsetzlichen Geschwindigkeit näherte. Mit jeder Explosion wurden Stephies körperliche Schmerzen größer. Jede Detonation erschütterte den Bunker, bei dem der Beton ein Plastikgerüst ummantelte. Diese Konstruktion erzitterte zwar, und den Insassen wurde übel, aber sie hielt stand – zumindest in der Theorie. Stephie drohte das Trommelfell zu platzen, und sie bekam keine Luft mehr, aber nicht, weil die Luft aus dem Bunker abgesaugt worden war, sondern wegen eines heftigen Stoßes gegen die Brust. Ihr Zwerchfell war durch die Explosion paralysiert. Weil dichter Rauch umherwirbelte, mussten Flammen in den Bunker geschossen sein. Über die Kopfhörer unter ihrem Helm hörte sie die Schreie der Verwundeten. Stephie riss an dem Reißverschluss ihres Schutzanzugs, dann zerrte sie sich die Kapuze vom Kopf. Schließlich kamen der Helm und die Kopfhörer an die Reihe. Hustend sog sie Luft in ihre widerspenstigen Lungen. »Oh, mein Gott, Mama!«, schrie ein junger Soldat. »Mama! Bitte! Mein Gott!« In dem verrauchten, engen Bunker warfen die Wände seine Stimme mit doppelter Lautstärke zurück. Wir müssen kämpfen, begriff Stephie plötzlich. Nachdem sie noch ein506
mal mit Mühe durchgeatmet hatte, versuchte sie lautstark, Befehle zu geben. »Alle…!« Schon folgte der nächste Hustenanfall, und dann musste sie sich zu ihrer größten Überraschung erbrechen. Das Würgen dauerte etliche Sekunden lang. »O Gott, gütiger Gott!«, schrie ein schwer verwundeter Grünschnabel. »Alle an die Schießscharten!«, brüllte Stephie, die ausspuckte, um den üblen Geschmack loszuwerden. Als sie sich mühsam aufgerappelt hatte, sah sie durch die Scharte die anstürmenden chinesischen Soldaten. Enttäuscht zog sie unwillkürlich den Kopf wieder ein. Es bestand keinerlei Chance, die Stellung zu halten, das Ende war nah. Stephie hob erst den Kopf, dann das Gewehr und wandte sich ihren geschockten Soldaten zu. »Verdammt noch mal, kommt endlich auf die Beine!« Sie legte ihr Sturmgewehr an und feuerte eine Salve von dreißig Schuss den Hügel hinab, wobei sie etwa dreißig Meter der Front unter Feuer nahm. Ein halbes Dutzend chinesische Soldaten ging zu Boden, vielleicht auch mehr. Nachdem sie nachgeladen hatte, zog sie die Waffen wieder nach links, nach einem weiterem Laden nach rechts. Das chinesische Feuer intensivierte sich, und Stephie ließ sich an der Betonwand hinabgleiten, um ihre rauchende Waffe erneut mit Munition zu füttern. Eine Frau in ihrem Alter klammerte sich an Stephies Wade fest. Ihr Körper war halb zerfetzt, und sie hatte sich mit letzter Kraft zu Stephie hinübergeschleppt. Eine Blutspur markierte ihren Weg. Sie hatte sich zu Lieutenant Roberts gezogen, weil sie in Stephie ihre letzte Überlebenschance sah. Stephie blickte der jungen Frau in die Augen und schüttelte dann den Kopf. Die tödlich verletzte Soldatin ließ den Kopf sinken, und Stephie begann zu weinen. »Kämpft!«, schrie sie den anderen zu. »Kämpfen!«, wiederholte sie in Richtung des völlig verwirrten Sanitäters. Nachdem sie das Magazin in ihr Sturmgewehr gerammt hatte, machte sie sich von dem Griff der Toten frei, die immer noch ihre Wade umklammerte. Weinend begann sie wieder zu töten, leidenschaftlich und von nacktem Hass erfüllt. »Angel drei, Angel drei, können Sie mich verstehen?«, ertönte John Burns’ Stimme über das Funknetz des Kompaniechefs. Stephie hörte Explosionen, offensichtlich waren Handgranaten in seinen Bunker geworfen worden! 507
»… werden überrannt! Wiederhole, Befehlsstand wird überrannt!« Als sie das Wort zum zweiten Mal hörte, setzte Stephie sich bereits in Bewegung. »Du, du, du, du und du!«, rief sie, während ihre Hand hart auf Helme und Schultern niedersauste. Drei Männer und zwei Frauen blickten sie an. »Folgt mir!«, rief Stephie, bevor sie auf den Ausgang zustürmte. Fünf Infanteristen eilten hinter ihr her. Auf dem sonnigen Abhang etwas weiter nördlich stürmten chinesische Infanteristen in den Schützengraben. »Sie sind drin!«, informierte Stephie ihre Soldaten. Dann führte sie den Angriff an. Jetzt musste die Lücke in der Linie gestopft werden, die in der Richtung von Johns Bunker lag. Als Stephie die ersten chinesischen Soldaten sah, ließ sie sich auf den Bauch fallen. Sofort begann sie zu feuern, und die Kugeln der hinter ihr liegenden amerikanischen Soldaten pfiffen direkt über ihren Kopf. Auf der Stelle war ein halbes Dutzend chinesischer Soldaten tot. Es hatte den Anschein gehabt, als fänden sie sich in den labyrinthartigen Gräben nicht zurecht. »Vorwärts!« Stöhnend rappelte Stephie sich hoch, um dem Feind weiter entgegen zu stürmen. Von den Soldaten der Second Squad des First Platoon hatte niemand überlebt. Die Leichen lagen auf dem Grund eines Kraters, der mitten in dem Schützengraben klaffte und aus dem weißer Rauch aufstieg. Sie kletterten in halb eingestürzte Feuerstellungen und nahmen chinesische Soldaten unter Beschuss, die etwa dreißig Meter unterhalb von ihnen den Hügel erklommen. Der Angriff kam überraschend, und ein Dutzend überlebte es nicht. »Weiter!«, schrie Stephie, die bereits auf Johns Bunker zueilte. Als sie den Eingang schließlich gefunden hatte, sah sie niemanden. Schwarzer Rauch trieb nach draußen. »Hörst du mich?«, flüsterte sie in ihr Funkgerät, doch auf eine Antwort wartete sie vergebens. Vielleicht liegt’s am Beton, dachte sie, während sie ihre Leute langsam in die Rauchwolke geleitete. So langsam, dass zwei Soldaten, die auf keinen Fall zurückbleiben wollten, gegen die Absätze ihrer Stiefel traten. »John?«, flüsterte sie in das Mikrofon, während sie sich vorwärts bewegte. »Kannst du mich hören?« »Bleibt draußen!«, schrie John. 508
»Vorwärts!«, zischte Stephie ihren fünf Leuten zu. Alle stürmten durch den gewundenen Eingang des Bunkers in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Wie ein Vorschlaghammer sauste ein Gewehrkolben auf Stephies Helm nieder. Über ihr brach ein Kugelhagel los, doch dann verlor sie das Bewusstsein. Als sie wieder zu ich kam, hörte sie die flehentlichen Bitte einer abgehackt klingenden, aber vertrauten Stimme. »Bitte!«, jammerte Becky Marsh. »Mein Gott, bitte, bitte…!« Als sie krampfhaft nach Luft zu schnappen begann, verebbte ihr Schluchzen. Stephie öffnete die Augen. Ihr Kopf lag nicht auf dem Boden. Sie sah Becky Marsh vor einem halben Dutzend Gewehrmündungen knien. Zwei von Stephies Soldaten lagen tot in immer größer werdenden Blutlachen. Von draußen hörte sie den Lärm heftiger Kämpfe. An einer Wand von Johns Befehlsbunker standen sechs Amerikaner, die von zugleich angespannt und ängstlich wirkenden chinesischen Soldaten in Schach gehalten wurden, die mit schussbereiten Gewehren an der gegenüberliegenden Wand lehnten. Ihre Mienen und die Art und Weise, wie sie ihre Waffen umklammerten, ließ erahnen, dass in ein paar Sekunden alles vorbei sein würde. Offensichtlich warteten sie nur auf einen knappen Befehl. Stephie blickte zu dem Mann auf, der ihren Kopf in seinen Schoß gebettet hatte. Sein Gesicht war angeschwollen, seine Augen fast nicht zu erkennen, seine Unterlippe war aufgeplatzt und hing schief herab. »John?«, versuchte Stephie hervorzubringen. Ihre linke Schläfe war von einem pochenden Schmerz erfüllt, »Sie, sie da…!«, rief Becky, als Stephie sich zu bewegen begann. Auf den Knien rutschte sie zu Stephies Stiefeln, um mit einem klatschenden Geräusch dagegen zu schlagen. »Sie ist die Tochter des Präsidenten, des Präsidenten! Verstehen Sie? Des Präsidenten der Vereinigten Staaten! Präsident Baker, sie ist seine Tochter!« Stephie trat nach Beckys Händen, aber es war bereits zu spät. Mehrere chinesische Soldaten blickten sich überrascht an. Offensichtlich reichte ihr Englisch aus, um Beckys Worte zu verstehen. Die meisten ließen ihre Gewehre sinken oder zielten in eine andere Richtung. Als zwei Männer auf Stephie zutraten, versuchte John, sie mit seinen Händen fern zu halten, 509
aber die Chinesen hoben drohend ihre Gewehrkolben. »Nein!«, schrie Stephie. Ein Feldwebel kam näher und stieß einen seiner Männer gegen die Betonwand. Seine respektvolle Verbeugung wirkte, als wäre ihm Stephies Herkunft bekannt. Er half ihr, sich aufzusetzen. Unter begütigendem Nikken zog er sie vorsichtig von den anderen weg. »Nein!«, sagte Stephie zu dem Feldwebel, der ihren Arm sofort losließ. Während sie sich mit einer Hand an Johns Schulter festklammerte, zeigte sie mit der anderen auf das halbe Dutzend amerikanische Soldaten, von denen die meisten verwundet waren. »Zusammen, wir bleiben alle zusammen!« Sie verschränkte die Finger und presste ihre Hände fest zusammen. »Zusammen, wir bleiben alle zusammen!«, wiederholte Becky. Der Feldwebel gab einen Befehl, und sie wurden gemeinsam nach draußen gebracht. Ohne ihren Helm fühlte sich Stephie irgendwie nackt. Kalte Luft strich über das langsam trocknende Blut, das aus der Wunde unter ihrem Haaransatz gesickert war. Ein junger chinesischer Soldat fand ihren Helm, riss die Kopfhörer heraus und setzte ihn ihr dann wieder auf. Als sie den Hügel hinauf abgeführt wurden, entfernten sie sich von der Hauptstadt, die sie doch eigentlich weiter hätten verteidigen sollen. Auf dem Kamm angekommen, blickte Stephie über die Schulter. Von hier aus konnte sie das Washington Monument erkennen. Unter ihr spritzten große weiße Wasserfontänen aus dem Fluss auf. Chinesische Pioniere bauten eine Pontonbrücke, die aber getroffen worden war. Langsam trieben brennende Brückenteile den Fluss hinab. An den Ufern lagen hunderte tote Pioniere, und auch im Potomac trieben die Leichen chinesischer Soldaten gemächlich in Richtung Meer. In diesem Augenblick wusste Stephie, dass die Chinesen die Schlacht um Washington verlieren würden. Sie kehrte dem Fluss den Rücken, aber sie lächelte, während sie durch das von den Chinesen besetzte Territorium marschierten. In einem Schuppen mit über zweihundert Kriegsgefangenen wurden John, Becky und Stephie von den anderen – zumeist verwundeten – Soldaten getrennt. Eine chinesische Krankenschwester hatte Stephies Wunde mit brennendem Alkohol und sterilen Pflastern verarztet und auf Stephies 510
Drängen hin auch einen Blick auf John geworfen. Doch dessen Zustand ließ sie schnell die Stirn runzeln und schmerzlich das Gesicht verziehen. Dann mussten sie stundenlang in der Kälte unter freiem Himmel ausharren. Die untätigen Soldaten warteten im Licht greller Scheinwerfer, neben denen die dunklen Gesichter der bewaffneten Wachtposten zu sehen waren. Trotz der frühen Morgenstunde schliefen nur wenige. »Ich habe euch das Leben gerettet«, flüsterte Becky, die es offenbar satt hatte, von den anderen geächtet zu werden. »Ich habe euch allen das Leben gerettet.« Wenngleich Stephie ihr Recht geben musste, änderte das nichts an der Verachtung, die sie für Becky empfand. John Burns, den die Gewehrkolben der chinesischen Soldaten brutal getroffen hatten, lag zusammengerollt am Boden und stöhnte. Als Stephie seinen geschwollen Kopf betastete, war sie sich sicher, dass er einen Schädelbruch erlitten hatte. Wegen seiner gebrochenen Rippen fiel ihm auch das Atmen schwer. Er würde sie bestimmt keinen Blick auf seine blutende Lende werfen lassen, die er verbarg, indem er beide Hände zwischen seine Oberschenkel klemmte. »Wenn wir alle zusammen bleiben, werden wir das hier unbeschadet überstehen«, sagte Becky. »Dir werden sie nichts tun, schließlich bist du die Tochter des Präsidenten.« »Ja, das höre ich dauernd«, antwortete Stephie verbittert. Schließlich hielt Becky den Mund. Stephie wusste, dass Becky durch ihr taktisches Gespür zu der Meinung verleitet worden war, den Sturm bei der Charlie Company bequemer überstehen zu können, aber diesmal hatte sie sich geirrt. Schon zuvor hatte sie Stephie anvertraut, sie habe zufällig aufgeschnappt, dass Ackermans Hauptquartier des Bataillons sich an einem ungünstigen Abschnitt der Linie befinde. Die Stellung ihrer alten Einheit war ungefährlicher – zumindest hatte sie das vermutet. Als John aus der Bewusstlosigkeit aufwachte, griff er nach Stephies Hand. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie in jenem optimistischen Tonfall, mit dem man sich an ein krankes Kind wandte. Sein Händedruck war überraschend fest. Schließlich schob er die Hand wieder zwischen seine Oberschenkel, und Stephie starrte auf ihren blutverschmierten Handteller. Als ein paar chinesische Soldaten auf Stephie zukamen und sie vom Boden hochzogen, kam Unruhe auf. John griff mühsam nach dem Fußknöchel eines Chinesen, doch dieser schüttelte seine Hand ab. Andere Soldaten halfen dem stöhnenden John beim Aufstehen, Becky benötigte keine 511
Einladung. Dann wurden sie durch einen engen Gang geführt. Erschöpfte amerikanische Kriegsgefangene bedachten sie schweigend mit verdrießlichen Blicken, bis schließlich jemand Stephie erkannte. »Lass den Kopf nicht hängen!«, schrie er. Als Stephie den verwundeten First Sergeant in der Menge erblickt hatte, nickte sie ihm zu. Auch andere Gefangene hatten den Ruf gehört. »Zum Teufel mit ihnen!«, brüllte ein anderer Mann. Einer von Stephies Wächtern begann bedrohlich klingende chinesische Worte von sich zu geben, doch auch das konnte den losbrechenden Sturm nicht aufhalten. »Ein Hoch auf unsere Army!«, rief eine Frau. »Mach ihnen die Hölle heiß!«, fiel ein anderer ein. »Gott segne Amerika!« »Sag Ihnen, dass sie sich ins Knie ficken sollen!« »Lang leben die Vereinigten Staaten!« Ein einziges, schlichtes Wort ließ alle in einen Chor einstimmen: »Sieg!«, brüllten bald hunderte wie aus einem Mund. »Wir werden gewinnen! Sieg!« Als die kleine Gruppe den Zaun erreicht hatte, hatte Stephie energisch den Unterkiefer vorgeschoben. Ihre Muskeln waren angespannt, ihre Hände zu Fäusten geballt. Ihre Unterlippe zitterte, weil sie in Tränen auszubrechen drohte. Sie war bereit, entschlossen. Niemand würde ihren Willen brechen.
Hauptquartier der chinesischen Armee, Richmond 28. Dezember, 8 45 Uhr Ortszeit Während Leutnant Wu durch General Shengs Hauptquartier ging, machte sich in den Fluren Unruhe breit. Alle hatten ihn gesehen. Obwohl sie schon zu Wu’s Zeiten beim Generalstab gewusst hatten, wer er war, hatte sich jetzt etwas verändert. Etliche der Registratoren und Sekretärinnen, die nun die Korridore säumten, hatten zuvor über Bildtelefone Anrufe aus China erhalten. »Aber natürlich kenne ich ihn!«, hatten sie bei dieser Gelegenheit aufgeregt geantwortet. »In der Cafeteria habe ich jeden Tag neben ihm gesessen!« Jetzt baten ihn viele um Autogramme, doch Wu war zu entschlossen, um sich durch die ihm entgegengestreckten Notizblöcke und Stifte aufhalten zu lassen. 512
Dann trat ihm vor dem Treppenhaus Shen Shen in den Weg. »Wu!«, rief sie aus, während sie ihre Arme um ihn schlang. Demonstrativ küsste sie ihn mit offenem Mund auf die Lippen. Alle sollten es mitbekommen, aber es war das erste Mal, dass sie zu erkennen gab, dass sie Wu nicht nur dienstlich kannte. »Dein Gesicht!«, rief sie, während sie neugierig lächelnd mit den Fingerspitzen den Verband auf Wu’s Wange betastete. Offensichtlich glaubte sie, dass die zurückbleibende Narbe ein dauerhafter Beweis für seinen Heldenmut und seine Männlichkeit sein würde. Shen Shen blickte auf die flüsternden Zuschauer. Ihr KUSS hatte aufgeregtes Geplapper provoziert, und sie quittierte es mit einem stolzen Lächeln. Nachdem Wu sich aus ihrer Umarmung befreit hatte, ging er die Treppe hinab. »Nein!«, rief Shen Shen aus, die ihn sofort wieder von hinten packte. »Ich habe eine Nachricht für dich!« Er stieß ihre schlanken Arme zur Seite. »Der Premierminister bittet dich, ihn sofort anzurufen!« Wu ignorierte sie und stieg in den Keller des Gebäudes hinab. Dort angekommen, wollte man ihn mit Bajonetten am Weitergehen hindern, doch als der noch immer schmutzige Wu den Wachtposten in die Augen blickte, ließen diese ihre Gewehre schnell sinken. »Wo ist sie?«, fragte Wu. Die Wachtposten blickten sich gegenseitig an, dann schauten sie wieder auf Wu. »Oberst Li hat gesagt, dass jeder Zutritt untersagt ist«, flüsterte einer in einem verschwörerischen Ton. »Wo ist sie?«, wiederholte Wu mit einem bedrohlichen Unterton. Der Unterfeldwebel gab auf und geleitete Wu zur Tür der Zelle, wo zwei weitere Wachtposten vor Wu Haltung annahmen. Wu nickte, und die Tür ging auf. Eine schreiende Frau wurde mit einem nassen Rohrstock geschlagen. Hinter Wu fiel die schwere Stahltür ins Schloss. »Roberts!«, brüllte die Frau gequält. »Stephanie! Second Lieutenant! Sieben fünf neun, zweineun…!« Ein weiterer Schlag mit dem Rohrstock beendete ihre Antwort vorzeitig. Wu ging auf das grelle Licht zu, das ihn an Bühnenscheinwerfer denken ließ. Neben einer Fernsehkamera standen General Sheng und Oberst Li, etwas seitlich zwei amerikanische Kriegsgefangene, ein offensichtlich verwundeter Captain und eine winselnde Frau. 513
Im grellen Licht der Scheinwerfer sah Wu Stephanie Roberts, die mit vorgebeugtem Oberkörper und zerrissenem T-Shirt gefesselt auf einem Stuhl saß. Die Feldbluse mit dem Tarnmuster lagen neben ihr auf dem Boden. Von der Taille an aufwärts war sie halb nackt, und ihr Rücken war mit roten Striemen übersät. Ihr Gesicht war zwischen den Knien vergraben, ihre Brüste pressten sich gegen ihre Hosenbeine. Sheng und Li starrten Wu an und ließen keinen Blick von ihm, als der Leutnant auf die beiden hohen Offiziere zukam. Nun stand der achtzehnjährige Wu dicht vor dem Kommandeur der 11. Heeresgruppe Nord. Obwohl Wu keinerlei Einladung für seinen Besuch erhalten hatte, schienen weder Sheng noch Li ihn hinauswerfen zu wollen. Niemand sagte ein Wort, bis Oberst Li schließlich einem Hauptmann zunickte, der mit dem Rohrstocke herumfuchtelte, als benutzte er ihn nicht zum ersten Mal. »Sie werden laut die Aussage von diesem Teleprompter ablesen!«, befahl der Hauptmann auf Englisch. Dann beugte er sich zu Stephanie hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das Wu gerade noch verstehen konnte. »Mit diesen Schlägen wollen wir nicht Ihren Willen brechen, sondern den Ihres Freundes da. Machen Sie sich auf einiges gefasst, und beobachten Sie, wie er zusammenzuckt.« Stephanie wandte ihr gerötetes, tränenüberströmtes Gesicht den beiden anderen Kriegsgefangenen zu. Der Rohrstock traf sie mit voller Wucht, sie zuckte zusammen, und der amerikanische Captain trat einen halben Schritt vor. Sofort bohrte sich die Mündung eines Gewehrs unter sein Kinn. Der Wachtposten hatte den Finger am Abzug, blickte aber Sheng und Li an. »Es tut nicht weh!«, rief Stephanie ihrem Mitgefangenen zu, bevor sie erneut zu schluchzen begann. Der Hauptmann flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie wandten den Kopf ab, er versuchte es mit dem anderen Ohr, und so ging das Spielchen noch eine Zeit lang weiter. Nur undeutlich hörte Wu die zischend hervorgestoßenen Worte, aber er war sicher, dass der Folterer ihr einen bequemen Ausweg aus ihrer schlimmen Lage versprach. Der amerikanische Captain gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Er konnte sich nicht bewegen, seine Hände waren gefesselt, und die Mündung des Gewehrs bohrte sich in seinen Adamsapfel. Erneut sauste der Rohrstock nieder, und Wu zuckte zusammen. »Sie müssen ja nicht dabei sein«, bemerkte Sheng in einem leisen Ton, der wohl vertraulich klingen sollte. 514
Wu antwortete, ohne Sheng dabei anzublicken. »Ich vertraue darauf, dass Sie nicht beabsichtigen, diese Gefangene zu verletzen, General.« »Präsident Bakers Tochter?«, fragte Oberst Li vergnügt. »Nein, wir werden sie nicht verletzen.« Li zog seine automatische Pistole aus dem Holster und richtete sie auf die Decke, während er auf den amerikanischen Captain und die zitternde Soldatin zuging. Stephanie Roberts’ nackte Arme, die fest hinter der Stuhllehne gefesselt waren, schienen sich zu straffen. Ihre weit aufgerissenen Augen richteten sich auf ihre beiden Kameraden und Oberst Li. Der Hauptmann mit dem Rohrstock wartete auf Lis Stichwort und schlug dann erneut auf Stephanies Rücken ein. »Hören Sie auf!«, stieß der amerikanische Captain mit dem verletzten Kiefer und den aufgedunsenen schwarzen Lippen hervor. Der Oberst presste ihm seine Pistole gegen die Stirn, und Wu rechnete damit, dass gleich der tödliche Schuss fallen würde. Wu wollte dem Oberst etwas zurufen, doch da dieser den Amerikaner noch immer unmittelbar bedrohte, wandte er sich lieber an Stephanie Roberts. »Vielleicht sollten Sie es sich überlegen.« »Nein, tu es nicht«, rief der Captain mit schleppender Stimme. »Nein, nein, nein!«, flehte Stephanie, und Wu wusste, dass das dem amerikanischen Captain das Leben rettete. Offensichtlich war der Mann lebend zu wertvoll, um ihn zu töten. Dafür wurde jetzt die Soldatin hysterisch. Sie schluchzte und zerrte an ihren Fesseln, wobei sie wie ein verwundetes, in der Falle sitzendes Tier kreischte. Da fiel ein Schuss, der die auf die Frau aufpassenden Wachtposten offensichtlich völlig überraschte. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie begriffen hatten, dass die Frau mit einem Kopfschuss getötet worden war und dass ihr Blut jetzt ihre Uniformen befleckte. Sie ließen den schlaffen Körper auf den Betonboden fallen. Als Sheng ihnen zunickte, schleiften sie die Leiche aus dem Raum. Stephanie Roberts und der Captain starrten auf die Blutspur. Wu vermutete, dass die junge Frau ungefähr in seinem Alter gewesen war. Er wandte sich Sheng zu, aber der alte General wollte Wu nicht in die Augen blicken. 515
Wieder presste Li dem amerikanischen Captain die Pistole an den Kopf, und die Wachtposten zuckten schon zurück, weil sie erneut mit einem Schuss rechneten. Mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten warf Wu dem Oberst einen funkelnden Blick zu, aber mehr konnte er nicht hin. Es war noch nicht der richtige Zeitpunkt. So lauteten seine Befehle. Doch dadurch wurde es für ihn nur umso leichter, sich von lähmenden Konflikten zu befreien. »Ich werde es lesen, ich werde es vorlesen!«, schrie Stephanie, die immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. »Nein, tu es nicht!«, brüllte der amerikanische Captain erneut. Aber es spielt überhaupt keine Rolle!, wollte Wu den beiden zurufen. Lesen oder nicht lesen, es ist völlig unwichtig! Stephanies Fesseln wurden gelöst, und sie schlüpfte in ihre Feldbluse. Eine Visagistin wollte Stephanies Gesicht herrichten, doch sie knurrte, als wollte sie der Frau in die Hand beißen. Die Visagistin zuckte zurück und ergriff dann die Flucht. Wu musste ein Lächeln unterdrücken. Trotzig saß Stephanie da. Sie starrte in die grellen Scheinwerfer, ohne zu blinzeln. Ihr Haar war strähnig und verfilzt, ihre Haut gerötet und glänzend. Einen weiteren Versuch, ihr ein Make-up aufzulegen, quittierte sie mit einem wütenden »Lasst mich in Ruhe!« Waffen bohrten sich hart in ihre Rippen, aber sie hatte sich durchgesetzt. Sie las mit hölzerner Stimme, emotionslos und ohne Änderung ihres Tonfalls. »Mein Name ist Stephanie Roberts, und ich bin Second Lieutenant der U.S. Army. Mein Vater ist der Präsident der Vereinigten Staaten, und ich wurde während der Kampfhandlungen von der chinesischen Armee gefangen genommen.« Sie benetzte ihre Lippen und schluckte, bevor sie mit brüchiger Stimme fortfuhr. »Ich war persönlich anwesend, als amerikanische Soldaten an hilflosen chinesischen Gefangenen Gräueltaten verübt haben. Meine Regierung hat hunderttausende chinesische Kriegsgefangene vergast oder erschossen und damit gegen die Genfer Konvention verstoßen. Wiederholt sind verbotene chemische und biologische Waffen eingesetzt worden, und zwar auf Befehl… meines Vaters, des Präsidenten. Ich bedaure diese entsetzliche Versündigung an den Geboten der Menschlichkeit und an China, und ich missbillige diese kriminellen Taten meiner Regierung.« Jetzt sprach sie schneller. »Ich bitte die Chinesen um Verge516
bung für diese schrecklichen Taten, durch die so viele ehrenwerte chinesische Soldaten ihr Leben verloren haben.« Es war vollbracht. Der Produktionsleiter des Fernsehsenders der Armee lächelte zufrieden und nickte dann Oberst Li zu. Stephanie krümmte ihren Oberkörper nach vorn und begann erneut zu schluchzen. Durch ein Handzeichen gab General Shengs Adjutant zu verstehen, die Kamera laufen zu lassen. Die chinesische Öffentlichkeit würde den dramatischen Moment miterleben, in dem Stephanie Roberts ihre Steifheit aufgab. Als die Scheinwerfer erloschen, schlug sie die Hände vors Gesicht, richtete sich aber nicht wieder auf. Man riss ihr die Hände vom Gesicht und fesselte sie erneut hinter ihrem Rücken. Dennoch verbarg sie den Kopf weiterhin zwischen ihren Knien. Ihr Rücken wurde von wütenden, aber lautlosen Weinkrämpfen geschüttelt. Nur das Schicksal des amerikanischen Captain vermochte ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie beobachtete, wie er abgeführt wurde, und verbarg dann den Kopf wieder zwischen den Knien. Die Kamera, der Teleprompter und die Scheinwerfer wurden weggeschafft. Wu bedachte Sheng mit einem funkelnden Blick. »Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft«, sagte er mit eisiger Stimme, »dass diese Beichte bei den Amerikanern irgendeinen Eindruck hinterlassen wird.« »Sie ist ja auch nicht für die Amerikaner gedacht«, antwortete Oberst Li lächelnd für seinen Chef. Wu ignorierte ihn und wandte sich wieder direkt an Sheng. »Wollen Sie etwa so erklären, warum wir die Nachrichten an die Familien der Gefallenen zurückgehalten haben? Indem Sie behaupten, sie seien von den Amerikanern gefangen genommen und dann massakriert worden?« General Sheng reagierte nicht auf Wu’s stahlharten Blick. Stattdessen verließ er mit dem Oberst den Raum, und Wu blieb mit den Wachtposten und Stephanie Roberts zurück. »Raus!«, befahl Wu auf Chinesisch. »Verschwindet, und zwar alle! Sofort!« Sein Tonfall ließ Stephanie zu ihm hinüberblicken. Die Wachtposten gingen an Wu vorbei auf die Tür zu, die hinter ihnen ins Schloss fiel. Jetzt war Wu allein mit Stephanie. Sie blickte zu ihm auf und studierte seine Gesichtszüge, die teilweise an einen Weißen europäischer Abstammung erinnerten. Für Chinesen war das auf den ersten Blick zu erkennen, aber Wu hatte nicht gedacht, dass es für 517
Ausländer so augenfällig war. Als er sein Messer zog, fiel ihr Blick auf die gezackte schwarze Klinge. Er ging auf sie zu, und sie wandte schweigend den Blick ab. »Ich werde Ihnen nicht wehtun«, versicherte Wu auf Englisch, aber offensichtlich überzeugte sie das nicht. Wu umrundete den Stuhl, und sie wandte sich ab, als wollte sie nicht Zeuge ihres entsetzlichen Endes werden. Doch dann zuckte sie nur gequält zusammen, als Wu die Fesseln aus Kunststoff zerschnitt, die schmerzhaft um ihre Handgelenke geschlungen worden waren. Ohne den Oberkörper aufzurichten, stützte sie die Hände unters Kinn und begann erneut zu weinen. Auf dem Boden neben dem Stuhl lag eine zerrissene silberne Kette mit einem mit Diamanten besetzten Kreuz. Wu hob die Kette auf und hielt sie ihr hin. Da sie es nicht bemerkte, öffnet Wu eine ihrer geballten Fäuste und legte die Kette und das Kreuz in ihre Hand. Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesicht, und Wu suchte in der Seitentasche seiner Hose nach einem Taschentuch, fand aber etwas anderes. Er reichte ihr den billigen Plastikring mit dem imitierten Stein, den er in dem Bunker am Savannah gefunden hatte. Sie nahm ihn und blickte zwischen Wu und dem Ring hin und her. »Wer sind Sie?«, fragte Stephanie mit gerunzelter Stirn und einem verwirrten Gesichtsausdruck. »Ein Freund.« Stephanie Roberts blickte ihm in die Augen. Wu hatte das Gefühl, als würde eine Ewigkeit vergehen. »Leck mich am Arsch«, sagte sie dann, während sie den Kopf wieder sinken ließ. So hatte sich Wu ihre Begegnung nicht vorgestellt, aber so war es eben, und es ließ sich nicht ändern. Er beugte sich dicht über Stephie. »Es tut mir Leid«, sagte er. Dann küsste er sie auf den Scheitel und verließ den Raum. Han Zhemin saß in seiner kalten Zelle. Völlig von der Außenwelt abgeschnitten, musste er sich den Verlauf der Ereignisse anhand kleinster Bruchstücke zusammenreimen. Die Zelle hatte keine Fenster, und folglich hatte er auf das dumpfe Grollen der Atomexplosionen gelauscht, das aber ausgeblieben war. Auch auf das aufgeregte Geplapper der Wachtposten hatte er vergeblich gewartet. Aber es musste mittlerweile passiert sein. 518
Laut Informationen des Premierministers bestand der Plan der Armee darin, die Situation nach dem Fall Washingtons blitzschnell auszunutzen. Im Gegensatz zu den großen räumlichen Entfernungen, die im amerikanischen Süden, im Mittleren Westen und im Westen die strategischen Ziele voneinander trennten, lag im Nordosten alles dicht beieinander. Wenn alles nach Plan gelaufen war – wenn die Armee die Hauptstadt um Mitternacht überrannt hatte –, dann würde Philadelphia im Morgengrauen unter Beschuss geraten. Und das dumpfe Grollen eines Atomkriegs wäre bis in die Tiefen von Han’s Zelle hinabgedrungen. Dann war weiter unten den Korridor hinab ein einzelner Schuss gefallen, und Han’s Nerven waren blitzartig angespannt. Von nun an entging ihm nicht das geringste Geräusch. Er hörte quietschendes Metall, eine zuschlagende Tür und das Klicken der mit Stahlkappen beschlagenen Stiefelsohlen der Stabsoffiziere. Und diese Schritte kamen jetzt immer näher auf Han’s Zelle zu. Schlüssel rasselten im Schloss, und Han wartete wie versteinert. Seine Hände waren eiskalt, dennoch brach ihm unter den Achseln der Schweiß aus. Das Atmen wurde zu einem mühsamen Akt, der Willenskraft erforderte. Gleich würde er wissen, ob sein Ende unmittelbar bevorstand oder ob er überleben würde. General Sheng und sein Adjutant betraten die Zelle. Beide waren bewaffnet, aber sie hatten keine Fernsehkameras im Schlepptau. »Ich entschuldige mich bei Ihnen«, sagte General Sheng niedergeschlagen, ohne den Blick von dem Betonboden zu haben. »Die Anklage gegen Sie ist fallen gelassen worden.« Han lächelte. Innerhalb eines Sekundenbruchteils waren die Panik und die quälende, lähmende Angst wie verflogen. Er stand auf und streckte die Glieder, als hätte er nur eine Nacht in einer etwas unbequemen Unterkunft verbringen müssen, und zog dann sein Jackett an. »Nun, General Sheng, wie läuft der Krieg denn so?« Sheng quittierte Han’s Belustigung mit einem versteinerten Gesichtsausdruck. »Vermutlich nicht so gut, nehme ich an«, bemerkte Han lächelnd. Plötzlich fügten sich die Teile des Puzzles zusammen. Die chinesische Armee musste die Schlacht um Washington verloren haben, und jetzt wurden alle Pläne überarbeitet. »Vermutlich interessiert es Sie«, sagte Sheng, »dass Leutnant Wu hel519
denhaft gekämpft und das Gefecht mit nur einer unbedeutenden Wunde überlebt hat. Sie können sehr stolz auf ihn sein.« Zähneknirschend musste Han zur Kenntnis nehmen, dass Wu seinem unmissverständlichen Befehl nicht gehorcht hatte. Das war einfach zu viel! Han hatte alles in seiner Macht stehende für Wu getan, aber dieser letzte Akt der Widerspenstigkeit ging nun wirklich zu weit. Nach einem Anruf beim Premierminister würde er über Wu’s Strafe entscheiden. Gegenüber Sheng und Oberst Li ließ er sich von diesen Gedanken freilich nichts anmerken. »Aber Sie irren sich, General Sheng. Wie Leutnant Wu sich in diesem Krieg geschlagen und ob er sich im Gefecht bewährt hat, ist für mich ohne jede Bedeutung.« Während Han diese Worte sprach, betrat Wu leise auf Gummisohlen ohne Stahlkappen die Zelle. »Oh«, sagte Sheng lächelnd zu Wu, der seinen Vater mit einem funkelnden Blick bedachte. »Vermutlich haben Sie Ihren kleinen Ausflug nach Camp David genossen, Administrator Han«, fuhr Sheng dann fort. Diese Äußerung ließ Wu seine Stirn in noch tiefere Falten legen, aber Oberst Li grinste. Ganz offensichtlich ging Sheng davon aus, dass er Han durch die Aufdeckung des Hochverrats in der Hand hatte. Aber wie immer war Han den geistig etwas schwerfälligen Militärs um einige Schritte voraus. Er strich die Revers seines Jacketts glatt, knöpfte sein Hemd zu und zog den Knoten seiner Krawatte fest. Dann lächelte er Wu zu, aber der junge Soldat antwortete mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. »Unglücklicherweise, General Sheng«, fuhr Han fröhlich fort, »sieht es ganz so aus, als hätte mein Täuschungsmanöver, das für mich mit einem großen persönlichen Risiko verbunden war, nicht genügt, um Ihrer Armee den Sieg in der Schlacht um Washington zu ermöglichen. Ich habe Ihre falschen Pläne hinsichtlich einer Invasion Philadelphias an Präsident Baker weitergegeben. Ganz so, wie Sie es beabsichtigt hatten, General Sheng.« »Offenbar haben die Amerikaner Ihrer Desinformation keinen Glauben geschenkt«, bemerkte Sheng. »Falls Sie diese Pläne tatsächlich weitergeleitet haben.« Diese Beschuldigung unterstellte, dass Han Baker vielleicht dadurch geholfen hatte, dass er ihm die Wahrheit über die Pläne eines Angriffs auf Washington verraten hatte. Immerhin wusste Han jetzt, dass Shengs Nachrichtendienste in Washington nicht alles in Erfahrung ge520
bracht hatten. »Am Ufer des Potomac hat uns ihre gesamte Armee in gut vorbereiteten Verteidigungsstellungen erwartet«, sagte Sheng. Wu wartete auf Han’s Antwort. »Eigentlich hätte ich gedacht, dass Ihr Plan diese Möglichkeit vorhersieht, General Sheng«, antwortete Han selbstgefällig, während er seinen Sohn anlächelte. Sheng machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, dicht gefolgt von Oberst Li. Die Tür der Zelle blieb offen. »Lass uns verschwinden«, sagte Han. Wu folgte seinem Vater. Soldaten geleiteten sie die Treppen hinauf, und schließlich standen sie in einem gewöhnlichen, von Büros gesäumten Flur. Aus einem der Räume tauchte eine weibliche Bürokraft in Uniform auf, die erstaunt die Augen aufriss und dann wieder zu ihren Kollegen rannte. »Da ist er, da ist er!« Offensichtlich machte sich in dem Büro eine ziemliche Unruhe breit. Han, vor dem Aufzug stehend, drückte auf den Knopf mit dem nach oben zeigenden Pfeil. In ihrem Rücken begannen Kameralichter aufzuflammen, aber Han widerstand der Versuchung, sich umzudrehen und sich den Fernsehjournalisten zu stellen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Er wollte gelassen wirken. Der glorreiche Auszug aus dem Militärgefängnis würde zum Bestandteil seiner Legende werden. Han riskierte einen verstohlenen Blick. Das grelle Licht stammte nicht von den Scheinwerfern professioneller Kamerateams, sondern von gewöhnlichen, tragbaren Videokameras. Ein pickeliger junger Mann filmte die Szene mit seinem privaten Camcorder, und jetzt tauchte eine Sekretärin mit Videokamera auf, die den Lichtern vor dem Lift noch ein weiteres hinzufügte. Doch sie war noch längst nicht die Letzte. Niemand will sich diesen historischen Augenblick entgehen lassen!, dachte Han, während er sich aufrichtete, seine Gesichtszüge ordnete und ein Lächeln aufsetzte. Er verharrte in dieser Pose, bis der altmodische Aufzug klingelte. Bevor er in den Lift trat, winkte er der Menge noch einmal zu. Wu folgte seinem Vater, und als die Türen sich schlössen, erloschen die Lichter der Videokameras. Han lächelte seinem Sohn zu, der, was ungewöhnlich war, mit hängenden Schultern in einer Ecke der Kabine stand. 521
Das waren ganz gewöhnliche Soldaten, dachte Han überrascht. Selbst sie erahnen meine Macht. Für sie war er ein Held! Bisher hatte Han geglaubt, dass man die feinen Nuancen, durch die sich wahre Macht verriet, nur in den exklusiven Kreisen Pekings deuten konnte. Aber vielleicht war das Verständnis für Politik ja jetzt – nachdem die Zivilisten ein Jahrzehnt lang die Medien beherrscht harten – endlich bei den Massen angekommen. Han fühlte sich geschmeichelt. Er war in gehobener Stimmung und wirklich beeindruckt. Es ist ein Anzeichen für die geistige Weiterentwicklung des Mannes von der Straße, dass er endlich meine Größe erkennt, dachte er. Das Bimmeln des Aufzugs kündigte ihre Ankunft im Erdgeschoss an. Als sich die Türen öffneten, flammten erneut die Lichter von dutzenden Camcordern auf. Ein weiterer unglaublicher Beweis für Han’s Popularität! Lässig aus dem Lift schlendernd, beglückte Han seine Fans mit den Bildern, auf die sie scharf waren. Aber plötzlich fand er sich allein in der Dunkelheit wieder. Einen Augenblick lang hatten ihn die grellen Lichter geblendet, doch jetzt sah Han, dass niemand sich um ihn kümmerte. Dafür stießen ihm die Leute die Ellbogen in die Rippen. Die Kameras wurden über seinen Kopf oder neben seinen Körper gehalten. Alle wollten den besten Platz erobern, um Wu filmen zu können. Wu, in gleißendes Licht getaucht, wurde von den jungen Soldaten angehimmelt, doch sein Blick galt Han. Alle strahlten Wu an und wünschten ihm alles Gute. Wütend machte Han kehrt. Während er auf den Ausgang zustrebte, musste er immer mehr Fans seines Sohnes ausweichen. »Da ist er!«, schrie eine Frau, und Han blickte instinktiv hin. Aber sie zeigte über ein Meer von Köpfen hinweg auf Wu. Han stürmte durch die Drehtür und stand dann auf den Stufen – allein, von allen ignoriert, ohne Bedeutung. Ein Frösteln überlief ihn, und er atmete tief die kühle Luft ein. Die Straße lag ruhig vor ihm, und das war der denkbar größte Kontrast zu dem Tumult in dem Gebäude. Am Fuß der Treppe ließ er seinen Blick über die Straße schweifen. Keine Journalisten, kein wartender Wagen, keine Entourage, kein Autokonvoi. Außer vier Panzern sah er nur einen Geländewagen mit Tarnanstrich, um den ein paar rauchende Soldaten herumstanden. »Ich nehme dich mit«, sagte Wu hinter ihm. Die Drehtür kam nicht zur 522
Ruhe, während immer mehr Menschen, lärmend und mit Kameras bewaffnet, aus dem Gebäude stürmten. Sie rannten die Stufen hinunter und bildeten ein Spalier, das bis zu dem Geländewagen der Armee reichte. Als Wu die Treppe hinunterging, brandete Applaus auf. Alle jubelten dem vorbeikommenden Star zu. Und Han folgte seinem Sohn.
An den Ufern des Potomac, Virginia 28. Dezember, 9 00 Uhr Ortszeit Die amerikanischen Soldaten, an denen Bill Baker vorbeischritt, waren zwar erschöpft, aber überglücklich. Sie waren dreckig, viele verwundet, doch ihre Moral war ungebrochen. Auf der Washington zugewandten Uferseite des Potomac begrüßte Bill einen Haufen herumlungernder Soldaten mit zwei gespreizten Fingern, dem »V«. Hunderte verdreckte Männer und Frauen brachen in überraschend lauten Jubel aus. Der Sieg war selbst für die Verwundeten süß. Bill überquerte die wackelige Pontonbrücke, und bald stand er am anderen, zu Virginia gehörenden Ufer des Potomac, von dem aus man die Georgetown University sehen konnte. Dort drehte er seine Runden, um den Soldaten die Hände zu schütteln oder ihnen auf die Schulter zu klopfen. Im letzten Fall stiegen Staubwolken aus den Uniformen. »Wie weit haben wir unsere Linien wieder nach vorn verlagert, Colonel Ackerman?«, fragte Bill herzlich. »Von hier aus ungefähr sieben Meilen in Richtung Süden«, antwortete der Offizier mit monotoner Stimme, die Bill sofort mit Angst erfüllte. Der Gesichtsausdruck des Kommandeurs des Bataillons ließ ihn plötzlich das Schlimmste befürchten. »Lassen Sie uns reingehen«, sagte Ackerman, der mit der Hand auf einen mit Sandsäcken versehenen Bunker zeigte. Sein mit Fettschminke eingeriebenes Gesicht wirkte hager und mitgenommen. Unter den Augen mit dem leeren Blick waren dunkle Ringe zu sehen. Während er nach den nervösen Männern vom Secret Service den Bunker betrat, fühlte sich Bill hundeelend. Als sie allein waren, wandte sich Bill dem Kommandeur zu. »Rücken Sie mit der Sprache heraus, Colonel Ackerman. Wo ist sie?« 523
»Im Moment gilt sie als vermisst, Mr President«, antwortete Ackerman. »Sie ist spurlos verschwunden. An vier Stellen ist es den Chinesen gelungen, unsere Linie zu durchbrechen, und sie ist mit ein paar Leuten aus ihrem Bunker losgezogen, um eine Lücke beim Kommandoposten ihrer Kompanie zu stopfen. Wir haben ihre Waffe gefunden, in dem Befehlsbunker zwei ihrer Soldaten – beide tot. Aber von Ihrer Tochter und einigen anderen fehlt jede Spur.« »Gehört John Burns auch zu den Vermissten?«, erkundigte sich Bill. Ackerman nickte. »Wollte sie ihn retten?« Erneut ein zustimmendes Nikken. Bill schloss die Augen und rieb seine Lider. »Und es gibt von keinem eine Spur?«, fragte er. »Nein, Sir«, sagte Ackerman leise. »Ich… Ich möchte mich entschuldigen, Mr President. Ich…« Bill schüttelte den Kopf und hob eine Hand, um Ackerman zum Schweigen zu bringen. »Ich möchte jetzt allein sein.« Alle verließen den Bunker, und Bill ließ sich auf einen Stuhl sinken. Wieder schloss er die Augen, und das Atmen fiel ihm schwer. Wie soll ich das Rachel sagen?, war sein erster, niederschmetternder Gedanke.
Hauptquartier der chinesischen Zivilisten, Richmond 28. Dezember, 1150 Uhr Ortszeit In seinem nur trübe beleuchteten Büro saß Han vor einem Stoß bisher ignorierter Berichte. Wenn er an die ungeheuerlichen Veränderungen dachte, die während seines kurzen Aufenthalts in dem Militärgefängnis eingetreten waren, wurde ihm fast schwindlig. Warum?, fragte er sich gequält. Reiner Zufall war das alles bestimmt nicht. Han’s Berater hatte die bizarre Abfolge der Ereignisse Revue passieren lassen, durch die Wu plötzlich zum Star geworden war. Dann hatte er Han ein Video des heldenhaften Angriffs auf Washington gezeigt, den Wu schließlich aus Gründen der Menschlichkeit abgeblasen hatte. Das Resultat war offensichtlich eine Kombination von zwei Faktoren: Wu hatte viel Glück gehabt, doch das Ganze musste auch perfekt inszeniert gewesen 524
sein. Aber von wem? Niemand aus Han’s Stab konnte diese Frage beantworten. Er hatte gefrühstückt, geduscht und sich angezogen. Zwischendurch telefonierte er mit einem Dutzend Botschaftern und etlichen hohen Funktionären, von denen es in einem so riesigen Land wie China sehr viele gab. Niemand wusste, wer hinter der Sache steckte. Einige glaubten, es müsse die Armee sein, andere ließen das Offensichtliche ungesagt. Hinter Wu’s kometenhaftem Aufstieg zu beispielloser Popularität mussten Han’s Vater und sein Onkel stehen. Ein Klopfen an der Tür schreckte Han aus seinen Gedanken auf. Der Blick seines Beraters wirkte, als hätte er etwas zu verbergen, und er schaute zu Boden. Er wirkt aufgeregt, dachte Han. Entmutigt. »Leutnant Wu möchte Sie sehen«, sagte der Berater. Wu betrat den Raum in einem frischen Kampfanzug. Sein Vater beugte sich erwartungsvoll vor, die Hände auf den Schreibtisch gestützt. Der Arzt hatte Wu Schmerzmittel gegeben, und Shen Shen hatte dafür gesorgt, dass er sie auch schluckte. Geradezu verzweifelt hatte sie Wu liebkost und geküsst. Von seinen Plänen, wieder an die Front zurückzukehren, hatte Wu ihr nichts erzählt. Wie alle anderen hatte auch sie ihn im Fernsehen gesehen. Dennoch schien es Wu, dass ihre Liebesbeweise erst jetzt, als er überlebt hatte und zu einer Berühmtheit geworden war, ihren Höhepunkt erreichten. Nun wollte sie die Sache so schnell wie möglich perfekt machen. »Ich liebe dich!«, hatte sie leidenschaftlich zwischen etlichen feuchten Küssen gehaucht. Han saß einfach nur an seinem Schreibtisch und wartete. Wu fiel auf, dass er ein elegantes Oberhemd und eine perfekt gebundene Krawatte, aber kein Jackett trug. Sein Vater wirkte still und verschlossen. Wahrscheinlich ist ihm ganz schwindelig von den sich überstürzenden Ereignissen, dachte Wu. Han Zhemin – Administrator der besetzten amerikanischen Gebiete und gewandter Fechter auf dem Gipfel der Macht – musste gerade erfahren, wie tief man fallen konnte. »Ich bin wegen der Telekonferenz hier«, begann Wu behutsam. »Telekonferenz?«, fragte Han mit weit aufgerissenen Augen. Wu nickte, und Han konsultierte seinen gedruckten Terminplan. »Was… Was für eine Telekonferenz?« Sein Mund war so ausgetrocknet, dass seine Aussprache undeutlich wurde. Wu fühlte, wie er von einem betäubenden Gefühl der Trauer erfasst 525
wurde. Ein dumpfer Schmerz griff nach seinem Herz. So gefiel ihm sein Vater überhaupt nicht. »Man hat mir gesagt, ich soll mich hier mittags wegen einer Telekonferenz einfinden«, erklärte Wu mit gedämpfter Stimme. »Und wer?«, fuhr Han seinen Sohn an. »Wer hat gesagt, dass du hierher kommen sollst?« »Shen Shen«, antwortete Wu. »Die Telekonferenz wurde vom Premierminister einberufen?«, fragte Han, der anscheinend plötzlich alarmiert war. »Ich liebe dich«, hatte Shen Shen zu Wu gesagt. Zuerst konnte er nur daran denken. Er musste den Blick von seinem Vater abwenden, der völlig mit sich selbst beschäftigt war. Han klingelte seinen Diener herbei und ging dann im Raum auf und ab, wobei er leise mit sich selbst sprach. Um den am Boden zerstörten Wu kümmerte er sich nicht. Shen Shen, dachte Wu. Shen Shen. »Schwörst du, dass du keine Spionin bist?«, hatte Wu sie auf ein Dutzend verschiedene Weisen gefragt. »Niemand hat dich geschickt? Du bist kein Spitzel?« Jedes Mal hatte sie ihn angelogen, manchmal durch scheinbar unzweideutig verneinende Worte, manchmal durch energisches Kopfschütteln oder ein gestöhntes Nein, während sie ihre Hüften an ihn presste und ihre Zunge seine suchte. Aber durch einen scheinbar unbedeutenden sprachlichen Ausrutscher hatte Han sie verraten. »Also arbeitet Shen Shen für den Premierminister?«, stieß Wu mühsam hervor. Ein Diener brachte Han’s Jackett und hielt es ihm offen hin. »Hm?«, antwortete Han. »Oh, ja, sie spioniert Sheng für uns aus«, sagte Han mit einem abwesenden Blick, während er in sein Jackett schlüpfte. »Und mich spioniert sie gleich mit aus«, murmelte Wu, aber sein Zusatz wurde nicht zur Kenntnis genommen. Han war viel zu sehr damit beschäftigt, in einem gut beleuchteten Spiegel, den ihm sein stummer Diener hinhielt, sein Gebiss zu studieren. Wu’s Tonfall, sein gequälter Gesichtsausdruck und seine mutlos herabhängenden, sonst stets gestrafften Schultern entgingen ihm völlig. Er hatte keine Ahnung, was für Schmerzen Wu durchlitt. Wu wartete, bis der Diener gegangen war. »Hast du ihre Informationen nach Peking weitergeleitet?«, fragte er dann. 526
Han stützte sich gegen das Fenster ab und blickte in den grauen Tag hinaus. »Was?«, fragte er über die Schulter. »Hast du persönlich Shen Shens Informationen nach Peking weitergeleitet?«, wiederholte Wu. Zum ersten Mal während dieses Gesprächs blickte Han Wu direkt an. Er hob herausfordernd den Kopf und studierte seinen Sohn. »Worauf willst du hinaus?«, fragte Han. »Interessiert dich das Mädchen?« »Du hast mit ihr geschlafen«, sagte Wu. »Wie oft?« Han’s Berater klopfte und steckte dann den Kopf durch die Tür. »Entschuldigung, Sie beide werden bei der Telekonferenz erwartet.« Han und Wu gingen durch das mittlerweile luxuriös ausgestattete zivile Hauptquartier, von dem aus die besetzten amerikanischen Gebiete verwaltet wurden. Allgemein wurde diese Machtzentrale nur »Das vierzigste Stockwerk« genannt. Die gut gekleideten »Soldaten« in Zivil – Offizielle und Zuarbeiter – waren ein handverlesenes Team und entstammten dem für internationale Geschäftsbeziehungen zuständigen Zweig der chinesischen Bürokratie. Sie alle bemannten einen Außenposten in einem Krieg, der sich fern der Heimat abspielte. Die Greise aus Peking entfernten sich nie weit vom asiatischen Kontinent. Der Brückenkopf Amerika war von tausendenjungen Businessprofis von Eliteschulen gestürmt worden, und diese Professionals trugen nicht nur scharf gebügelte Anzüge, sondern hatten auch einen scharfen Verstand. Alle sprachen fließend Englisch, sie waren die Besten der Besten. Sie besaßen herausragende Fähigkeiten, was die geschäftliche Verwaltung der besetzten Gebiete betraf, aber sie kannten sich auch bestens mit den Kämpfen auf Leben oder Tod aus, die mit den feindseligen Verbündeten aus den Reihen der chinesischen Armee ausgefochten werden mussten. In diesem inneren Heiligtum trug einzig Wu Uniform. Die BusinessKrieger, an denen sie vorbeikamen, wussten offensichtlich genau, wer er war. In den Korridoren schienen ungewöhnlich viele Mitarbeiter herumzulungern – die meisten etwa Mitte dreißig –, die Wu verstohlene Blicke zuwarfen. Die kühneren unter den Männern in den zugeknöpften Anzügen nickten und lächelten Wu zu. Computerfachleute und persönliche Assistenten, die etwa zehn Jahre jünger waren, konnten nicht anders, als ent527
setzt auf Wu’s weiß bandagiertes Gesicht zu blicken. Wie für ihn selbst war dies auch für sie der erste Krieg. Wenn Wu seinem Vater einen Blick zuwarf, fiel ihm auf, dass dieser geschockt wirkte. Seine Festung war durch Wu’s immer stärker zunehmende Popularität zermürbt worden. Mit leicht geöffnetem Mund beobachtete Han, wie seine Mitarbeiter Wu anblickten. Er benetzte seine trockene Lippen mit der Zunge, sagte aber nichts. Wiederholt überprüfte er, ob sein Jackett zugeknöpft war. Nervös fingerten seine Hände an seiner Krawatte, seinem Kragen und an seinen Haaren herum, was aber völlig überflüssig war. Frisch geduscht, frisch rasiert und perfekt angezogen, wirkte Han wie aus dem Ei gepellt. Es schmerzte Wu, seinen Vater in einem solchen Zustand sehen zu müssen. Er empfand Mitleid für diesen Mann, der seinerseits nichts für ihn empfand. Sein Vater war immer die Inkarnation der Macht gewesen, die menschliche Verkörperung des Systems. Sein ganzes Leben lang war Wu durch Han’s bloße Existenz begünstigt worden. Schon den jungen Wu hatte man mit Gefälligkeiten überschüttet. Aber die Privilegien wurden dem Jungen nicht aus finanziellen Gründen gewährt, sondern um sich bei seiner Familie einzuschmeicheln und bei der möglicherweise größten Dynastie in Chinas Geschichte etwas gutzuhaben. Doch Han Zhemin – Wu’s einzige Sicherheit, dass die Familie ihn nicht fallen ließ, seine einzige Verbindung zu dieser Dynastie – war jetzt auf dem absteigenden Ast. Der fensterlose Innentrakt des vierzigsten Stocks wurde von mindestens vierzig bis an die Zähne bewaffneten Bodyguards bewacht, deren kugelsicherer Kevlar-Körperschutz in ihre schwarzen Anzüge eingenäht war. Ihre Kopfhörer waren praktisch unsichtbar, aber hinter den Ohrläppchen ragten Mikrofone hervor. Als Han und Wu an den Männern mit den versteinerten Mienen vorbeikamen, flüsterten diese in ihre Funkgeräte, und die Türen vor ihnen öffneten sich wie auf ein Stichwort. Am auffälligsten an den bedrohlichen, schweigenden Leibwächtern waren die schwarzen Sturmgewehre. Die tailliert geschnittenen Jacketts beulten sich an den Stellen aus, wo sie weitere Magazine verborgen hatten. Ihre einzige Konzession an die hier üblichen Gepflogenheiten bestand darin, dass ihre schwarzen Helme auf dem Rücken hingen. Wenn die Ka528
meramänner es geschickt anstellten, würden sie nicht im Bild zu sehen sein. Die Männer hatten alle einen Bürstenschnitt. Wu fiel auf, dass es hier auch Frauen mit modischen Kurzhaarfrisuren gab, die wahrscheinlich unter den Helmen nicht in Unordnung geraten würden. Die schwarzen Kostüme der ebenfalls bewaffneten Frauen waren unterschiedlich geschnitten, und ihre reglosen Gesichter ließen erahnen, dass sie genauso wenig Spaß verstanden wie ihre männlichen Kollegen. Das müssen Spezialkräfte des Sicherheitsministeriums sein, dachte Wu. Wahrscheinlich gehörten sie zu den zivilen Elitedivisionen, die in und um Peking herum stationiert waren. Da Wu diesen zivilen Sicherheitskräften, die Tag für Tag das Leben des Premierministers und der Mitglieder seiner Regierung schützten, noch nie begegnet war, faszinierte ihn dieser Anblick. Mit Sicherheit war dies ein Anzeichen dafür, dass der Machtkampf mit den Militärs auf einen Höhepunkt zusteuerte. Han geleitete Wu am Empfang vorbei in die Kommunikationszentrale. An einem Schreibtisch stand ein älterer, stämmiger Mann, der leise Befehle in das hinter seinem Ohr hervorschauende Mikrofon murmelte. Er trug die schwarze Uniform der Spezialkräfte des Sicherheitsministeriums und hatte den Gesichtsausdruck und den Tonfall eines Offiziers. Wu blieb neben ihm stehen. »Wie viele Ihrer Männer sind denn aus Peking eingetroffen?«, fragte er beiläufig. Es war der erste Test, wie man auf seine neue Machtstellung reagierte. Würde der ergrauende Funktionär des Sicherheitsministeriums gegenüber dem jungen Offizier der Armee eine so wichtige Information preisgeben? »Hier in Richmond?«, fragte der schon etwas ältere. Nacheinander nickte Wu den drei alten Männern zu. Er hatte die nur notdürftig kaschierte Drohung des Chefs des Sicherheitsministeriums verstanden. Die Trumpfkarte der Zivilisten waren die Familien der Angehörigen des Offizierskorps der Armee. »Ich habe noch eine Frage«, sagte Wu. »Oder eher eine Bitte.« Der Handelsminister und der Premier drehten ihre Köpfe und blickten sich an, und in diesem Moment begriff Wu, dass sich die drei Männer alle im selben Raum aufhielten – in einem ähnlichen Konferenzraum wie Han und Wu. Das muss ein seltenes Ereignis sein, dass diese drei sich persönlich treffen, dachte Wu. Und er war sich darüber im Klaren, dass sich der politische Krieg seinem Höhepunkt näherte. So oder so würde er bald zu Ende 529
sein. Die vier Männer warteten auf Wu’s Bitte. »Ich möchte, dass Präsident Bakers Tochter freigelassen und sofort unversehrt den Amerikanern übergeben wird.« Die drei Männer in Peking blickten sich überrascht an. »Ich verlange, dass Stephanie Roberts unversehrt den Amerikanern übergeben wird«, wiederholte Wu mit ruhiger Stimme. Der Handelsminister entschuldigte sich, auch in Namen der anderen, und bat Han und Wu zu warten. Die Bildschirme wurden wieder blau, und die Lautsprecher verstummten. Ein bleicher Han warf seinem Sohn einen erstaunten Blick zu. Wu war klar, dass sich die Welt seines Vaters in einem Schwindel erregenden Tempo veränderte. Seine permanenten Versuche, Wu’s Stellung in dieser Welt einzuschätzen, hatten einen kreidebleichen, verwirrten Mann zurückgelassen. Was für eine neue Macht war seinem Sohn zugewachsen, die ihn jetzt so anmaßende Forderungen stellen ließ? Doch selbst während Han die Topografie der Macht erneut vermaß, war Wu klar, dass die Desorientierung seines Vaters nicht für immer anhalten würde. Han Zhemin war zu gewieft und hatte sein Leben lang hart dafür gearbeitet, den Gipfel der Macht zu erklimmen. Wenn er seine Orientierung erst einmal wiedergefunden hatte, würde Han zuversichtlich einen neuen Kurs einschlagen. Auf den Bildschirmen vor Wu und Han tauchte erneut das Triumvirat der alten Politiker auf, und ihren grimmigen Mienen konnte Wu sofort entnehmen, dass sie seiner Bitte nicht entsprechen würden. »Wir empfinden alle Mitgefühl mit Präsident Baker und seiner Tochter«, begann der Premier mit einem tief besorgten Gesichtsausdruck. »Um es gleich zu sagen, sie hätte nie in diesem Krieg kämpfen dürfen. Wir werden unsere Forderungen artikulieren und auch öffentlich Kritik üben. Sollte die Armee ungebührliche Pläne hinsichtlich dieses Mädchens hegen, werden wir diese als herzlos anprangern. Aber eine direkte Intervention in dieser Angelegenheit ist einfach unmöglich.« Wu stand auf, um die Telekonferenz zu verlassen. »Wu!«, fuhr Han seinen Sohn entsetzt an. Kopfschüttelnd hob der Premier eine Hand. »Ich möchte dich bitten, erst gründlich und lange darüber nachzudenken, wem du deine Sympathie schenkst, Leutnant Han Wushi«, sagte er. Zum ersten Mal erwähnt er 530
Wu’s militärischen Rang. Er nickte seinem Bruder zu. »Wir sind deine Familie. Im Leben ändert sich vieles, aber die Blutsbande binden uns auf immer. Und sie binden uns auch an unsere Pflicht. Die Familie unterstützt und schützt ihre Mitglieder, aber sie benötigt auch selbst Unterstützung und Schutz.« »Das ist genau das, was ich tue: Ich schütze meine Familie«, sagte Wu, bevor er seinen entsetzten, sprachlosen Vater allein zurückließ. Direkt hinter der Tür packte Han mit einem schmerzhaft harten Griff Wu’s Arm und drehte ihn um. Wütend trieb Han seinen Sohn durch den Flur. Dann riss er die Tür eines Büros auf und gab einer verdutzten Frau, die sich vor ihrem Computer die Lippen schminkte, ein Zeichen, den Raum zu verlassen. Nachdem die Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, untersuchte Han den Raum mit seinem winzigen Wanzendetektor, aber er wurde nicht fündig. Dann trat er seinem Sohn gegenüber und studierte eingehend dessen Gesichtsausdruck. »Die Videoaufnahmen von deinem Angriff auf die amerikanischen Bunker – waren die frisiert?« Verständnislos hob Wu den Kopf. »Hielten sich in diesen Bunkern Chinesen auf?«, fragte Han, der Wu an beiden Armen packte und ihn durchschüttelte. »Fragst du etwa, ob der Angriff inszeniert war?«, erkundigte sich Wu in schleppendem Tonfall. »Ob chinesische Soldaten ihre Kameraden getötet haben?« »Dich hat jedenfalls niemand getötet«, bemerkte Han, um sein Misstrauen plausibel erscheinen zu lassen. »In Tokio hat Verteidigungsminister Liu eine solche Inszenierung veranstaltet. Nur weil er keine guten Bilder für die Abendnachrichten hatte, hat er die Einnahme des Kaiserpalastes noch einmal aufführen lassen! Bei diesen Täuschungsmanövern haben sie sich mittlerweile zu echten Experten entwickelt!« »Du bist ja verrückt«, bemerkte Wu. »Den angreifenden Soldaten in Tokio haben sie nichts davon erzählt«, antwortete Han. »Die ›Verteidiger‹ des Palastes waren Strafgefangene, denen die Todesstrafe drohte.« »Einfach lächerlich!«, rief Wu aus, während er sich vom Griff seines Vaters befreite. »Aber es war so«, stellte Han ruhig fest. »Hast du die Leichen in dem Bunker gesehen?« 531
»Sie waren völlig verkohlt.« »Und wer hat sie verbrannt?« »Ein Soldat der nachrückenden Einheit«, erwiderte ein zunehmend verunsicherter Wu. »Mit einem Sprengkörper, der mit einem Kraftstoff-LuftGemisch gefüllt war.« »Hast du diesen Mann vorher schon einmal gesehen?«, hakte Han nach. »Kam der Befehl, in dem Bunker Feuer zu legen, von dir?« Kopfschüttelnd wandte Wu sich ab. »Das ist ja völlig absurd!« Er wirbelte wieder zu seinem Vater herum. »Nachdem du viel zu viele Jahre mit diesen alten Dreckssäcken in Peking intrigiert und konspiriert hast, bist du nur noch ein Paranoiker!« Zwar lächelte Han nicht gerade, aber sein Blick wurde weniger hart. »Vielleicht hast du Recht. Was für Männer würden so etwas schon tun? Dennoch, eine Frage muss ich dir noch stellen. Kannst du dich erinnern, wie du verwundet wurdest? Wegen des Rauchs konnte man das auf dem Video nicht erkennen. Wie hast du dir die Gesichtswunde zugezogen?« Wu konnte sich nicht erinnern. Er betastete die Wunde an seiner Wange, die sich mittlerweile gelblich-braun verfärbt, aber auch einen Stich ins Purpurfarbene hatte. Nie war er sich ganz darüber im Klaren gewesen, was ihn da eigentlich getroffen hatte. Aber er war betäubt und halb bewusstlos gewesen, als ihn der sengende Schmerz erfasste. Han beobachtete seinen Sohn, während dieser sich die Stirn rieb. »Hast du jemals die Auswirkungen von Gummigeschossen gesehen?«, fragte Han. Wu ließ seine Hand sinken und starrte auf die weiße Wand, hörte aber zu. »Ich schon, und zwar auf unseren Werften in Südkorea«, fuhr sein Vater fort. »Dort konnten wir die Arbeiter nicht einfach töten. Sie revoltierten, weil wir es ihnen nicht gestattet hatten, ihr Essen mit nach Hause zu nehmen. Sie mussten auf der Werft essen. Das Essen kam von uns, und da sie es mit ihren Familien teilten, bekamen sie nicht mehr genug Kalorien, um noch effektiv arbeiten zu können. Wie auch immer, bei der Gelegenheit haben unsere Soldaten Gummigeschosse eingesetzt, die die Leute zwar umwerfen, aber keinen ernsthaften Schaden anrichten.« »Alles nur Produkte einer krankhaften, durch zu viele politische Ränkespiele pervertierten Einbildungskraft«, knurrte Wu. »Aber es ist wahr, ich habe alles mit eigenen Augen gesehen«, insistierte Han. »Als die Unruhen zum ersten Mal niedergeschlagen wurden, war ich 532
nicht dabei, da ich mich gerade in Hongkong aufhielt und telefonisch aufgefordert wurde, mich nach Seoul zu begeben. Aber ich war rechtzeitig vor Ort, um Zeuge der Neuinszenierung dieser Unruhen zu werden, die von den Militärs gefilmt wurden. Verantwortlich war der Oberbefehlshaber der Marine, General Liu. Zunächst hatten sie vor, den Aufruhr zu vertuschen, doch dann haben sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Spezialisten für Desinformation haben Liu davon überzeugt, dass Szenen revoltierender Werftarbeiter vielleicht den Westen einlullen könnten. Dieser sollte glauben, dass das Schiffsbauprogramm dem Zeitplan hinterherhinke, während es ihm tatsächlich voraus war. Also wurde ich Zeuge dieser Inszenierung, und General Liu, der neben den Kamerateams vom Militär stand, versicherte mir glaubhaft, sie sei eine getreue Nachstellung des tatsächlichen Aufruhrs. Sie haben die Werftarbeiter zusammengetrieben, ein paar Fahrzeuge in Brand gesetzt, einen rostigen, alten Kran zerstört, der sich im Bildhintergrund gut machte, und dann Gummigeschosse abgefeuert.« »Ich glaube dir nicht«, beharrte Wu, dessen Selbstsicherheit allerdings nachließ. »Hast du dir deine Wunde mal genau angesehen?«, fragte Han. »Bei einer Kugel müsste die Wunde an den Rändern flacher und in der Mitte tiefer sein. Außerdem wären Knochen zersplittert. Eine durch ein Messer verursachte Schnittwunde würde den Konturen deines Gesichts folgen und müsste sehr viel schmaler sein, als eine durch eine 5.56mm-Kugel verursachte Verletzung.« Jetzt schien Wu’s Blick die nackte Wand zu durchdringen und auf einem imaginären Punkt weit in der Ferne zu verharren. Vielleicht auf dem Gefechtsfeld, wo für ihn nichts auf eine Inszenierung hingedeutet hatte. »Willst du das Leben dieses Mädchens retten?«, fragte Han leise. Wu wandte sich seinem Vater zu und nickte. »Aber dir ist doch wohl klar, dass sie nach dem Willen dieser alten Männer in Peking sterben soll, oder? Wenn sie stirbt, am besten als Folge von Folter, bekommen sie politisch wieder festeren Boden unter die Füße, weil sie öffentlich die Armee wegen ihrer brutalen Methoden anprangern können. Dann können sie die öffentliche Empörung in Schach halten. Verstehst du? Sie wollen, dass sie stirbt.« Wu nickte. »Solltest du wirklich Interesse daran haben, dass sie unversehrt an die 533
Amerikaner übergeben wird, kann ich dir dabei helfen«, sagte Han. »Aber du musst mir vertrauen. Ich bin dein Vater, und du solltest mir vertrauen.« Jetzt schlich sich wieder ein berechnendes, selbstsicheres Lächeln auf Han’s Gesicht. Aber als Wu abrupt auf die Tür zustürmte und ihm diese förmlich ins Gesicht knallte, verging Han das Lächeln wieder.
Washington D.C. 28. Dezember, 1200 Uhr Ortszeit Clarissas Vater saß allein in einem Park, in dem seine Tochter als Kind gespielt hatte. Er murmelte vor sich hin, ganz in ein lebhaftes Selbstgespräch versunken, und merkte nicht, dass seine Tochter auf ihn zukam. Für Clarissa war diese öffentliche Zurschaustellung seiner sich rapide verschlimmernden Senilität äußerst schmerzlich. Als der alte Mann schließlich begriffen hatte, dass seine Tochter bei ihm war, wirkte er völlig überrascht. Clarissa warf ihm ein Lächeln zu, das man gewöhnlich für Geistesschwache reservierte. Es Lächeln sollte ihm bei der Bewältigung dieses schwierigen Lebensabschnitts helfen, doch anscheinend tat es ihm nicht gut. Tom Leffler war bleich. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Rücken gekrümmt. Dagegen war Clarissa jung, schlank und hielt sich gerade. Sie atmete tief durch. »Erinnerst du dich noch an die Zeit, als wir hierher kamen?« Sie nahm auf einem Stuhl gegenüber ihrem Vater Platz und begann dann, sachte auf- und abzuwippen. »Früher hast du dich hier mit Mom und mir getroffen, erinnerst du dich?« Sein abwesender Blick ließ Clarissa vermuten, dass er sie nicht gehört hatte, doch dann nickte er. Aber ihre Bemerkung schien seine Sorgen nicht gelindert zu haben. Stattdessen war er jetzt nervös und aufgeregt. Sein Gesichtsausdruck wirkte arg mitgenommen. »Du hast ein…« Der alte Leffler fand nicht sofort die richtigen Worte und schluckte. »… ein gelbes Kleid getragen, das am Rücken zugeschnürt wurde. Eins von diesen… Wie nennt man sie noch?« »Strandkleider, Dad«, sagte Clarissa leise. 534
»Du warst acht.« Clarissa glaubte, dass ihr Vater zu weinen beginnen würde. Sein Zustand war weitaus schlechter, als sie geglaubt hatte. Der Krieg forderte seinen Tribut. Oder ist es etwas anderes?, fragte sie sich. Als sie auf ihren Vater zuging, knirschten die Kieselsteine unter ihren Sohlen. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ist der Staatsstreich abgeblasen?«, flüsterte sie. Tom Lefflers Kopf schoss nach oben, und er wirkte plötzlich alarmiert. Nachdem er zuerst starr seine Tochter fixiert hatte, wanderte sein Blick unstet und ziellos hin und her, als wollte er ihr ausweichen. Er wirkte zunehmend überreizt, und Clarissa ging in Abwehrhaltung. »Als du mich gebeten hast, dich hier zu treffen, bin ich davon ausgegangen, dass sich ein Atomschlag nach unserem Sieg in der Schlacht um Washington erledigt hat!« Der alte Mann schien einnicken zu wollen. Seine Augen waren fast geschlossen. Er bewegte wortlos die Lippen, und Clarissa begriff, dass er betete. »Rede mit mir, Dad«, sagte sie leise, aber eindringlich. Sie setzte sich neben ihn und ergriff seine behandschuhten Hände. »Konzentrier dich«, mahnte sie. Er öffnete die Augen und blickte sie an. Noch immer bewegte er die Lippen, aber er brachte kein verständliches Wort hervor. »Wenn du sagst, dass der Staatsstreich nicht abgeblasen ist«, fuhr sie fort, »müssen wir ihn verhindern. Wenn es sein muss, werde ich ihn verhindern!« »Ich muss jetzt gehen«, sagte Tom Leffler, während er abrupt aufstand. Durch das Verhalten ihres Vaters wurde Clarissa bewusst, dass sie in Gefahr schwebten. Als er sich von der Bank erhob, empfand sie ein unangenehm prickelndes Gefühl. Sie versuchte, sich ganz normal zu verhalten, aber ihr Blick wurde von einer Grundschule mit langen Reihen dunkler Fenster angezogen. An der verschlafenen Straße parkten mit Eis bedeckte Autos und Lieferwagen. Sie spürte es, irgendetwas stimmte nicht. »Okay«, flüsterte Clarissa, während ihr Blick noch immer die Bedrohung auszumachen suchte. Als sie sich gerade umdrehen und gehen wollte, ergriff ihr Vater plötzlich überraschend mit beiden Händen ihr Gesicht und küsste ihre Stirn. Unbeholfen umarmte Clarissa seinen buckligen Rücken. Als aus dem KUSS eine väterliche Umarmung wurde, hätte Clarissa schwören können, dass ihr Vater »Vergib mir, Beth« murmelte. Clarissa schloss die Augen und drückte ihn fest an sich. Je näher Tom Lefflers Tod rückte, desto enger wurde das Verhältnis zu seiner verstorbe535
nen Frau wieder. »Lass uns heute Abend weiterreden«, sagte Clarissa, während sie sich aus der Umarmung löste. Auf dem Weg zu ihrem Auto sah sie niemanden. Keine Bewegung, nichts. Vielleicht waren es nur die schwachen Nerven eines alten Manns. Angesichts der gegenwärtigen Verfassung ihres Vaters konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen. Womöglich spielte ihm seine Fantasie einen Streich, und er erinnerte sich nur an längst Vergangenes. Vielleicht war der Putsch auch längst abgeblasen worden. Ja natürlich, es musste so sein! Zum ersten Mal hatten die Amerikaner die Chinesen aufgehalten. Irgendwie hatte Bill es gleichzeitig geschafft, Philadelphia gegen eine Invasion und Washington gegen einen Angriff zu verteidigen. Er war ein Genie, ein Retter. Eigentlich musste das jetzt schon jedem klar sein. Mit Sicherheit würde es künftigen Historikern nicht verborgen bleiben. Als sie den Motor ihres Wagens anließ und losfuhr, fühlte sich Clarissa erleichtert. Ein letzter Blick auf ihren Vater rief allerdings sofort wieder das quälende Gefühl des Mitleids hervor. Noch immer stand er mit gesenktem Kopf an derselben Stelle wie bei ihrem Abschied und wirkte verwirrt und ratlos. Er schien unfähig zu sein, auch nur die einfachste Entscheidung zu treffen oder die simpelsten Schritte durchführen zu können. Nachdem Clarissa verschwunden war, stolperte Tom Leffler auf einen unbeschrifteten Wagen zu, der vor dem Lieferanteneingang der Grundschule abgestellt war. Nachdem er angeklopft hatte, flogen die Türen auf. Agenten sprangen heraus, packten den alten Mann unsanft unter den Armen und zogen ihn brutal ins Innere des Lieferwagens. Nachdem die Türen zugeknallt worden waren, erlosch das trübe Tageslicht. »Nicht die Todesstrafe!«, brüllte der alte Leffler aus vollem Hals, während man die Kabel aus dem Innenfutter seines Mantels riss. Die ruppige Art, wie man mit ihm umsprang, schockte den alten Mann, der auf die auf die Parkbank gerichteten Kameras starrte. »Wenn Clarissa begnadigt wird, werde ich Ihnen alles sagen!«, schrie er. Man legte ihm Handschellen an, und der alte Mann wiederholte immer wieder laut, klar und eindringlich dieselben Worte: »Nicht die Todesstrafe für Clarissa!« »So ist es abgemacht«, bestätigte Richard Fielding, der Direktor der CIA. 536
Weißes Haus, Oval Office 28. Dezember, 1400 Uhr Ortszeit Bills Kopf lag auf seinen gekreuzten Armen, die ihrerseits auf dem historischen Schreibtisch des Oval Office ruhten. Als er die Tür hörte, musste er einen inneren Kampf ausfechten, ob es sich überhaupt lohnte, den schweren Kopf zu heben, um zu schauen, wer ihn besuchte. »Mr President?«, ertönte die vertraute Stimme Richard Fieldings. Aha, das, dachte er. Mit einer großen Kraftanstrengung blickte Bill zu dem CIA-Direktor auf, der seinen Aktenkoffer öffnete. Bill vergewisserte sich, dass die Tür geschlossen war. »Stimmt es?«, fragte er. »Ist Clarissa wirklich…« Bill brachte den Satz nicht zu Ende, aber Fielding konnte seine unausgesprochene Frage beantworten. »Ja, Sir, sie ist in die Vorbereitung des Putsches verwickelt.« Nachdem der CIA-Direktor seinem Aktenkoffer ein einzelnes Blatt Papier entnommen hatte, hielt er es hoch, und Bill sah, dass es nur mit einem einzigen Absatz bedruckt war. »Aber ich bin nicht deshalb hier, Mr President.« Verwirrt verzog Bill das Gesicht. Der Ausdruck, den Fielding ihm jetzt entgegenstreckte, würde die Erklärung liefern. Er streckte die Hand aus, aber da er Stephies Namen am Ende des Absatzes entziffern konnte, traute er sich nicht, nach dem Papier zu greifen. Seine Finger schwebten nur Zentimeter vor dem Blatt. Als er weiter zögerte, drückte Fielding es ihm schließlich in die Hand. Die Seite zitterte wie ein Laubblatt im Wind. Jetzt ergriff Bill sie mit beiden Händen, doch das Blatt zitterte immer noch, als litte er an Schüttellähmung. Die Augen weit aufgerissen und immer wieder blinzelnd, um klar sehen zu können, atmete Bill tief durch. Er ging davon aus, jetzt den Bericht lesen zu müssen, vor dessen Eintreffen er sich so lange gefürchtet hatte: »Roberts, Stephanie, Lieutenant der U.S. Army, ist gefallen…« An: Den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Absender: General Sheng, Kommandeur der 11. Heeresgruppe Nord. Betrifft: Gefangenenaustausch. Nach den Bestimmungen der Genfer Konvention schlage ich einen Gefangenenaustausch vor, und zwar am 31. Dezember an der über den 537
Potomac führenden Brücke des Highways 301. Die chinesische Armee wird zehntausend Kriegsgefangene in amerikanische Obhut übergeben, darunter auch Second Lieutenant Stephanie Roberts. Im Gegenzug fordern wir, dass sich der Präsident der Vereinigten Staaten den Chinesen stellt, damit er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden kann. Sollte dieses Angebot bis heute Nachmittag um siebzehn Uhr nicht akzeptiert worden sein, werden Sie in absentia verurteilt, und Second Lieutenant Stephanie Roberts wird ihre Strafe erleiden müssen. Stephie lebte! Auf Bills Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Er blickte zu Fielding auf, doch dessen Miene war ernst. Der CIA-Chef schlug sogar die Augen zu Boden. »Würden Sie mir die Gelegenheit geben, ein paar Punkte zu klären, bevor Sie sich eine abschließende Meinung über dieses Angebot bilden, Mr President?« »Das kommt zu spät, Dr. Fielding«, antwortete der erleichterte Präsident, dem ein schwerer Stein von der Seele gefallen war. Bill hatte den Eindruck, als wäre ihm in einer Welt, wo alles von Kompromissen beherrscht wurde, endlich eine saubere, perfekte Lösung angeboten worden. »Dann nur ein Punkt, wenn Sie gestatten, Mr President«, insistierte der CIA-Direktor. »Ein Gefangenenaustausch ist immer eine verzwickte Sache, und zwar in körperlicher, technischer und logistischer Hinsicht. Und ich rede nur von den praktischen Aspekten der Übergabe.« »Was soll daran so verzwickt sein?«, fragte Bill. »Zuerst übergeben sie uns die zehntausend Kriegsgefangenen, dann gehen Stephie und ich auf die Brücke und…« Er unterbrach sich. Auf der halb zerstörten Brücke wären sie beide schutzlos preisgegeben, und die Chinesen konnten auf sie feuern, ohne dass sie eine Fluchtmöglichkeit hätten. »Aber sie wollen mich doch lebend, nicht tot«, sagte Bill, der die Sache auf den Punkt brachte, nachdem er Fieldings Gedanken durchschaut hatte. »Sie wollen einen Schauprozess inszenieren, bei dem ich den Hauptangeklagten geben soll. Wenn wir die Brücke überqueren, werde ich langsamer gehen als Stephie. Bis ich auf der chinesischen Seite bin, wird sie längst an unserem Ufer sein.« »Und was ist, wenn es sich bei der ganzen Geschichte um einen Trick 538
handelt?«, fragte Fielding, der sich anschickte, Bills saubere Lösung rücksichtslos auseinander zu nehmen. »Sie wollen mich lebend!«, insistierte der Präsident. Zwar nickte der CIA-Direktor jetzt, doch Bill war klar, dass damit nur ein Punkt von Fieldings langer Liste verschwunden war, die etliche Gegenargumente enthielt, warum er sich nicht den Chinesen stellen sollte. In erster Linie ging es Fielding vermutlich um seine in der Verfassung festgeschriebenen Pflichten. Er fühlte sich gezwungen, seine Entscheidung zu verteidigen. »Dieses Land wird auch ohne mich weiter seinen Weg gehen. Der Krieg wird fortgesetzt, und die Nation wird nicht ohne politischen Führer dastehen. Glen Simon ist ein guter Mann. Aus diesem Grund gibt es schließlich Vizepräsidenten. Bevor ich die Brücke betrete, werde ich ihm meine Vollmachten übertragen. Ich bin kein König, sondern Präsident. Die Nachfolge wird reibungslos über die Bühne gehen.« Fielding öffnete schon den Mund, doch Bill ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und was den propagandistischen Nutzen für die Chinesen angeht – wie werden unsere kämpfenden Soldaten und Soldatinnen wohl reagieren, wenn sie erfahren, was die Chinesen getan haben? Zum Teufel, Richard, ich werde als Märtyrer dastehen, und ihre Wut wird mehr wert sein als zwei neue Divisionen!« Offensichtlich hatte der CIA-Direktor noch immer weitere Punkte in Reserve. Bill setzte nach. »Sehen Sie, wir wissen nicht, was sie tun werden, wenn ich auf die Brücke hinaustrete, aber wir wissen, was sie tun werden, wenn ich ablehne. Ich beabsichtige, das Angebot bis siebzehn Uhr zu akzeptieren.« Jetzt nickte Fielding. »Das war’s«, sagte Bill. »Da haben Sie Ihre Antwort. Ergreifen Sie jede nur erdenkliche Vorsichtsmaßnahme, und tun Sie alles, um die Chinesen an irgendwelchen faulen Tricks zu hindern. Bringen Sie Vizepräsident Simon vor dem 31. Dezember ins Weiße Haus zurück. Treffen Sie alle Arrangements für die Übergabe. Und stellen Sie mit hundertprozentiger Sicherheit klar, dass die chinesische Armee erfährt, dass ich ihr Angebot akzeptiere.« Fielding nickte. Mit zusammengekniffenen Lippen musste er zur Kenntnis nehmen, dass er mit seinen Einwänden nicht mehr zum Zuge kommen würde. »Und jetzt erzählen Sie mir alles über Clarissa«, sagte Bill, nachdem die Entscheidung gefallen war. 539
Richmond, Virginia 28. Dezember, 1445 Uhr Ortszeit Die Schlange der bleichen und ausgemergelten, kranken amerikanischen Zivilsten erstreckte sich von der Tür des Krankenhauses über den Bürgersteig bis zu einer fünfzig Meter entfernten Straßenkreuzung. Frauen hielten Babys in den Armen, und die Älteren behaupteten ihren Platz in der Warteschlange, indem sie sich einfach auf den Bürgersteig setzten. Gleichzeitig zitternde und schwitzende Menschen hatten sich in Decken gehüllt. Als Wu am Eingang der Klinik aus dem Kommandofahrzeug kletterte, starrten ihn die Amerikaner aus trüben Augen entsetzt an. Ein großer Mann, der eine Decke um seinen Kopf geschlungen hatte, wandte sich ab. Um ihn herum schlössen die Zivilisten die Reihen, um ihn zu verdecken. Auf dem hellen Beton unter dem Mann trockneten Blutstropfen. Wahrscheinlich ein bewaffneter Green Beret, dachte Wu. »Ihr deckt die Vorderseite«, sagte er zu den aus dem Kommandofahrzeug aussteigenden Soldaten. »Bleibt hier.« Ohne Begleitung stieg Wu die Stufen vor dem Krankenhaus hinauf. Der Anblick des überfüllten Wartezimmers war Mitleid erregend, die Luft mit üblen Gerüchen geschwängert. Es stank nach Erbrochenem, nach Eingeweiden, nach dem Atem von Lungenkranken. Eine Krankenschwester, eine ältere Afroamerikanerin, die seltsamerweise einen frischen weißen Kittel trug, ging mit einem altmodischen Klemmbrett zwischen den Patienten herum. Einen tragbaren Minicomputer suchte man bei ihr vergebens, aber sie benötigte auch keinen schnellen Zugriff auf Daten der Krankenversicherung. Stattdessen notierte sie die Leiden der Patienten und gab jedem eine Nummer. Im Moment war sie bei Nummer 879. »Wo ist der Arzt?«, fragte Wu die Frau. Ihr Hass auf Wu sprang diesem aus ihren funkelnden Augen beinahe entgegen, und sie schien kurz davor zu stehen, ihm ins Gesicht zu spukken. Aber dann führte sie ihn doch durch einen mit Patienten belegten Gang in ein Untersuchungszimmer, wo eine alte Frau mit zitterndem Kiefer auf einem Tisch lag und auf die Decke starrte. Ihre Tochter, eine Frau in mittleren Jahren, hielt ihre Hand. Der Arzt, dessen graue Bartstoppeln verrieten, dass er sich drei Tage 540
lang nicht rasiert hatte, wandte sich Wu zu. Seine Augen waren trübe und blutunterlaufen, und seine Schürze war mit hässlichen braunen und gelben Flecken übersät. »Ich möchte Sie um Ihre Meinung bitten«, sagte Wu. »Um meine Meinung?«, fragte der Arzt, während sein Blick über Wu’s Verband glitt. »Ihre Krankenhäuser und Lazarette sind bestens mit technischer Ausrüstung und Medikamenten versorgt. Ich habe kaum noch was, und das brauche ich für die Schwerkranken.« »Ich möchte Sie um Ihre Meinung bitten«, wiederholte Wu. Nach kurzem Zögern ging der Arzt über den Flur in sein Büro. Wu folgte ihm und schloss die Tür. »Dann lassen Sie mal die Hosen runter«, sagte der Arzt. »Wie bitte?« »Ich kann diagnostizieren, welche Geschlechtskrankheit Sie haben«, sagte der amerikanische Mediziner. »Aber wenn Sie Penizillin brauchen sollten, werden Sie sich das aus den Beständen der chinesischen Armee besorgen müssen. Ich habe schon seit einem Monat keins mehr.« »Es geht um das hier«, sagte Wu, der unter Schmerzen den Verband von seinem Gesicht riss. Nachdem der Arzt die Wunde aus einer gewissen Entfernung betrachtet hatte, schaltete er seine Schreibtischlampe ein und drehte sie so, dass der Lichtstrahl nach oben gerichtet war. »Kommen Sie näher«, sagte er, während er Wu mit einer Handbewegung herbeiwinkte. Er setzte seine Lesebrille auf und packte dann ziemlich unsanft Wu’s Kinn – zumindest erschien es dem so. Dann drehte er den Kopf zur Seite, um mit seiner freien Hand Wu’s Gesicht zu bearbeiten. Er dehnte die Haut so, dass Wu zusammenzuckte. »Keine Spur von einer Infektion. Anstatt die Wunde zu nähen, haben sie sie mit einer Art Kontakt-Klebstoff geschlossen. Ich wusste gar nicht, dass es in der chinesischen Armee plastische Chirurgen gibt.« Er schaltete die Lampe wieder aus. »War es wegen einer Frau oder wegen einem Kartenspiel?«, fragte der Arzt. »Wovon reden Sie?« »Wer hat Ihnen die Wunde beigebracht?« »Ich wurde im Gefecht verwundet.« 541
»Erzählen Sie mir nicht, dass es da mit Säbeln zur Sache ging«, bemerkte der Arzt. »Ich wurde von einer Kugel getroffen, zumindest fast. Es war ein Streifschuss.« Nachdem der Arzt die Lampe wieder eingeschaltet hatte, drehte er Wu’s Kopf erneut in alle Richtungen und knipste dann das Licht wieder aus. »Ganz wie Sie meinen«, kommentierte er. »Und was meinen Sie?« »Hinsichtlich der Wunde in Ihrem Gesicht?« Wu nickte. »Ich behaupte, dass der Schnitt durch ein Messer verursacht wurde. Die Inzision ist so schmal, dass es sich sogar um ein Skalpell gehandelt haben könnte. Zwar werden Sie eine Narbe zurückbehalten, aber keine, wie man sie durch einen Streifschuss davontragen würde.« Er drückte auf Wu’s Wangenknochen. Wu’s Kopf zuckte zurück, und seine Wunde verursachte einen stechenden Schmerz. »Wenn hier eine Kugel eingedrungen wäre, könnten Sie den Knochen vergessen. Er wäre an einem halben Dutzend Stellen zersplittert.« Der Arzt betastete die untere Ecke des Schnitts. »Und hier wäre die Kugel wieder ausgetreten…« Bevor der Mann ihm erneut wehtun konnte, wandte Wu lieber das Gesicht ab. Der Arzt schnaubte, aber Wu war sich nicht sicher, ob er angeekelt oder nur belustigt war. »Ich habe von Männern gehört, die sich in den kleinen Zeh schießen, um nicht mehr an die Front zu müssen. Aber ich habe noch nie gehört, dass sich jemand freiwillig eine Schnittwunde im Gesicht beigebracht hätte. Offensichtlich müsst ihr ja mittlerweile ein ziemlich hartes Los haben.« Ein schüchternes Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Arztes, und er zwinkerte mit den Augen. »Hab’ gehört, dass es in Washington nicht so gut gelaufen sein soll.« Jetzt konnte er sein Lächeln endgültig nicht mehr zurückhalten. »Ich danke Ihnen«, sagte der am Boden zerstörte Wu. Auf die Antwort war der Arzt nicht vorbereitet. Sein Lächeln verschwand. Nachdem er Wu den Verband wieder angelegt hatte, wandte sich dieser gedankenverloren um, um das Untersuchungszimmer zu verlassen. »Warum gebt ihr nicht einfach auf?«, fragte der Arzt hinter Wu. »Ihr werdet diesen Krieg niemals gewinnen. Nie war ich davon so überzeugt wie jetzt. Vor der Invasion hatte ich meine Zweifel und Ängste. Aber jetzt bin ich sicher, dass wir gewinnen werden. Und wenn es so weit ist, sollten 542
Sie uns besser aus dem Weg gehen, junger Mann. Vielleicht sollten Sie schon mal damit beginnen, sich selbst wichtigere Körperteile wegzuschießen, weil wir dann verdammt schlechte Laune haben werden und ein höllischer Preis zu zahlen sein wird.« Ohne sich noch einmal zu dem Arzt umzudrehen, ging Wu den Korridor mit den Kranken hinab, um schließlich wieder in die frische Luft hinauszutreten. Die Warteschlange hatte sich nicht einen Zentimeter vorwärts bewegt, erstreckte sich aber dafür mittlerweile über den ganzen Block und verlor sich in der Ferne. Nachdem Wu wieder in das Kommandofahrzeug eingestiegen war, wandte er sich an den Fahrer. »Fordern Sie über Funk ein Team von Ärzten und Sanitätern an, das herkommen und in dem Krankenhaus helfen soll.« Der Feldwebel schien zu zögern. »Unsere Feldlazarette sind hoffnungslos mit Verwundeten überfüllt, Leutnant Wu. Wu wirbelte zu dem Mann herum. »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«, brüllte er. Der Fahrer und die anderen Soldaten hinten in dem Kommandofahrzeug rissen erschrocken die Augen auf. Der Fahrer nickte. »Dann nehmen Sie Ihr Funkgerät, und geben Sie den Befehl weiter. Und zwar sofort.«
Hauptquartier der chinesischen Armee, Richmond 28. Dezember, 1915 Uhr Ortszeit Vor der Tür von Stephies Zelle rasselten Schlüssel. Sie hatte auf dem Bauch gelegen und setzte sich jetzt auf ihrem Bett auf. Ihr Rücken wurde von einem stechenden Schmerz geplagt, als hätte man ihr ein Brandzeichen verpasst. Aber eine junge, einfühlsame Krankenschwester hatte sie getröstet und mit einer Salbe verarztet, die geholfen hatte. Ein junger chinesischer Wachtposten in einer gestärkten Ausgehuniform brachte Stephie auf einem Silbertablett ihr Abendessen. Die Tür blieb offen. Ein zweiter Wachtposten spähte in die Zelle, doch als er sah, dass Stephie ihn anblickte, verschwand er wieder. Ihr »Kellner«, in dessen weißem Lederhalfter eine automatische Pistole steckte, 543
nahm die Leinenservietten von der Schüssel, in der sich ein dampfendes Reisgericht mit Hühnerfleisch befand. Der große, muskulöse, kurzhaarige Zwanzigjährige war geschniegelt und gestriegelt wie ein Paradepferd. Wiederholt warf er Stephie verstohlene Blick zu, während er das silberne Besteck arrangierte. Sie waren allein. »Wissen Sie, was mit dem amerikanischen Captain passiert ist, der mit mir hergebracht wurde?«, flüsterte Stephie. Der Soldat konzentrierte sich ganz darauf, den Pfeffer- und Salzstreuer richtig zu arrangieren. Seinem Gesichtsausdruck ließ sich nichts entnehmen, er glich einer undurchdringlichen Maske. Durch den lackierten Schirm und Kinnriemen seiner Mütze wirkte er wie ein Spielzeugsoldat aus Zinn. »Nun sagen Sie schon«, flüsterte Stephie in einem eindringlichen Tonfall. »Ich weiß, dass Sie Englisch sprechen! Lebt er noch?« Der chinesische Soldat, der sich vorgebeugt hatte und dessen Gesicht nur Zentimeter von Stephie entfernt war, bewegte fast unmerklich das Kinn auf und ab. Es war eine fast nicht wahrnehmbare Bewegung, aber er hatte genickt – definitiv. Stephie fiel ein schwerer Stein von der Seele. Ihr Informant hatte seine Arbeit getan und marschierte in Richtung Tür. Da der Mann ihr einziger Kontakt zur Außenwelt war, musste Stephie sich schnell eine neue Frage einfallen lassen. Da kam ihr im Moment nur ein Gedanke. »Warum sind Sie in meinem Land?« Wie angewurzelt blieb der Wächter stehen. Mit einem Mitleid erregenden Gesichtsausdruck wandte sich der chinesische Soldat zu der Gefangenen um. Er kniff die Augen zusammen, und seine Lippen öffneten sich leicht. Bei diesem Mann mit den maskenhaften Gesichtszügen war das ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass er Qualen litt. Sein Blick glitt an der hinteren Wand von Stephies Zelle hoch, dann machte er abrupt kehrt und verschwand durch die Tür. Er hatte sich in der falschen Richtung gedreht – von der Tür weg. Anstatt sich neunzig Grad nach rechts zu drehen, war er zweihundertsiebzig Grad nach links herumgewirbelt, und dabei hatte er flüchtig auf eine Stelle oben an der Wand geblickt. Da sie jeden Zentimeter ihrer Zelle kannte, war Stephie klar, was er ihr damit sagen wollte. Ihr Blick hatte seinem gar nicht zu dem Lüftungsschacht folgen müssen, außerdem wollte sie nicht, dass der Mann 544
wegen ihr Ärger bekam. Durch seinen Blick hatte er ihr verraten, dass in dem Lüftungsschacht eine Kamera und ein Mikrofon installiert waren. Auch das hatte sie schon vermutet, als sie ihre Zelle zum ersten Mal genau in Augenschein genommen hatte. Nachdem sie schweigend ihr Essen verzehrt hatte, analysierte sie noch einmal ihren »Gedankenaustausch« mit dem Wächter. »Ich kann nicht reden, weil wir beobachtet werden.« Zuerst glaubte sie, dass er ihr nur das hatte sagen wollen, doch je länger sie darüber nachdachte, desto verblüffter war sie darüber, was der Soldat wirklich auszudrücken versucht hatte. Könnte das tatsächlich stimmen?, fragte sie sich. Der Wachtposten gehörte bestimmt zu einer handverlesenen Truppe, die dieses Gebäude zu schützen hatte, bei dem es sich um ein großes Hauptquartier der Armee zu handeln schien. Mit Sicherheit gehörte er zu den Loyalsten der Loyalen, und er sah auch ganz so aus. Stephie bekam eine Gänsehaut, als sie sich noch einmal durch den Kopf gehen ließ, was seine »Antwort« möglicherweise tatsächlich meinte. Als die Frage »Warum sind Sie in meinem Land?« aus ihr herausgeplatzt war, hatte der Mann direkt in die Kamera geblickt. In die Richtung der Sicherheitskräfte, die hinter den Monitoren saßen und ihre Kameraden bespitzelten. In die Richtung der Autorität, die vom Unteroffizier bis in die höchsten Ränge hierarchisch strukturiert war. Bis hinauf zu den Machthabern in Peking, die womöglich sogar live diese Videoaufnahmen betrachteten. Ein kaum wahrnehmbarer Blick, eine sorgsam kontrollierte Reaktion, die den durch Stephies Frage ausgelösten Schock verriet. Ein nicht ganz so unschuldiger Blick zur Kamera. Hier hatte gerade ein einfacher Soldat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Stephie zu verstehen zu geben, dass er keineswegs aus freien Stücken, sondern nur wegen »ihnen« in Amerika war. Sie hatten ihn hierher befohlen, und er hatte sich mit seinem Blick dafür entschuldigt. Wieder bekam sie vor Aufregung eine Gänsehaut, als sie sich der wahren Bedeutung der Reaktion des Soldaten bewusst wurde. Wir haben gewonnen, dachte sie. Es ist vorbei.
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3. KAPITEL
Nordvirginia 28. Dezember, 2030 Uhr Ortszeit »Echo Foxtrott zwei-eins-neun, können Sie mich hören, over?«, ertönte eine Stimme in Harts Traum. »Angriff auf Peking, wiederhole, Angriff auf Peking.« Plötzlich befand sich Hart nicht mehr in der hügeligen Landschaft von Nordvirginia, sondern blickte auf die chinesische Hauptstadt hinab, die seltsamerweise wie Birmingham in Alabama aussah. Als er in Peking einmarschierte, zerstörte er Autos, Häuser und sogar ganze Straßenzüge, aber anscheinend gelang es ihm nicht, die um seine Füße herumwimmelnden chinesischen Soldaten zu töten. Selbst Schüsse aus nächster Nähe schienen sie auf unerklärliche Weise zu verfehlen. Er war Godzilla und hielt eine vollautomatische Granatpistole in den Händen. »Echo Foxtrott zwei-eins-neun, können Sie mich hören, over?« Hart öffnete die Augen. Es war Nacht. Zeit, an die Arbeit zu gehen. »Echo Foxtrott zwei-eins-neun, können Sie mich hören, over?« Diesmal war es kein Traum. In den dunklen Wäldern um ihn herum war alles still, aber er hörte deutlich die Stimme in seinen Kopfhörern. Er räusperte sich und drückte dann auf den Knopf seines Funkgeräts. »Hier ist Echo Foxtrott, ich kann Sie verstehen, over.« »Echo Foxtrott, hier ist India Zulu vier-vier«, ertönte die vertraute Stimme seines Einsatzleiters. »Kluger Kopf, kluger Kopf. Bestätigung, over.« Zu dieser verschlüsselten Botschaft fiel Hart absolut nichts ein, und er geriet in Panik. Er hatte sich dutzende Parolen nebst der dazu gehörenden Antwort eingeprägt, und die Formulierungen wurden stets so ausgewählt, dass sich keine direkten logischen Assoziationen einstellten. Aber aufgrund dieser Sicherheitsmaßnahmen war es auch schwierig, sich die Parolen zu merken. »Echo Foxtrott«, meldete sich der ungeduldige Einsatzleiter erneut. »Ich wiederhole. Kluger Kopf, kluger Kopf, over.« Das war Harts letzte Chance. Wenn ihm innerhalb der nächsten paar Se546
kunden nicht die korrekte Antwort einfiel, war der Krieg für ihn zu Ende. Dann würde es keinerlei Sinn mehr machen, Kontakt zu dem einäugigen Colonel aufzunehmen. Keine Erklärung würde mehr die Annahme zerstreuen können, dass die Chinesen Hart eine Waffe gegen die Schläfe pressten. Er wäre ganz auf sich allein gestellt und würde auf eigene Faust den Rückweg zu den eigenen Linien finden müssen. Ganz ruhig, sag nichts, riet eine leise Stimme in seinem Kopf. Geh nach Hause. Heimspiel!, brüllte eine andere Stimme in seinem Inneren. Das war die korrekte Antwort. Heim, Heimat, Zuhause. Wo ist das? Mit klopfendem Herzen justierte Hart sein Mikrofon. »India Zulu viervier, hier ist Echo Foxtrott zwei-eins-neun.« Noch immer wusste er nicht genau, wie er antworten sollte. »Heimspiel«, sagte er dann. »Wiederhole, Heimspiel, Heimspiel, over.« Der Colonel der Green Berets meldete sich schnell und erteilte Hart seine Befehle. Es war sein erster Einsatz nach langer, langer Zeit. »Studieren Sie Ihre Karte und begeben Sie sich zu den Koordinaten Echo Golf sechsdrei-sieben-vier und Kilo Alpha zwei-neun-sieben-drei, over.« Nachdem Hart sich den Schlafsack über den Kopf gezogen und die Taschenlampe angeknipst hatte, kramte er die Karte hervor. Er fand die GitternetzKoordinaten, die aus Sicherheitsgründen nur auf seiner Karte eingetragen waren. Hart wurde zu dem von den Chinesen gehaltenen Ufer des Potomac beordert, das zum Bundesstaat Virginia gehörte. Das Grundstück des von den Chinesen eingenommenen Waffenlabors der U.S. Navy lag zu beiden Seiten eines Highways, und das auffälligste Merkmal des Geländes war die über den Fluss führende Brücke des Highways 301, die zwar beschädigt und nicht mehr befahrbar war, aber immer noch stand. »Seien Sie vorsichtig, aber begeben Sie sich so schnell wie irgend möglich dorthin«, sagte der Einsatzleiter. »Es ist äußerst wichtig, dass Sie übermorgen um vier Uhr früh an Ort und Stelle sind.« Zwar war Hart seinem Ziel relativ nah, aber ein Geländemarsch über fünfzehn Meilen würde normalerweise – bei Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen – zwei oder drei Nächte beanspruchen. Jetzt würde er die Strecke in einer Nacht bewältigen müssen. »Roger, alles verstanden«, antwortete Hart, der eine Gänsehaut bekam. Es war so weit. Er spürte es, jetzt kam der ganz große Job. »Wie lauten meine Befehle, wenn ich da bin, over?« 547
Hart schluckte. »Sie gehen in Deckung, nehmen Kontakt zu uns auf und warten weitere Anweisungen ab, over.« Harts Aufregung – aber auch die Angst – waren wie weggeblasen. Verdammter Mist!, ertönten mehrere Stimmen in seinem Kopf im Chor. »Haben Sie verstanden, Echo Foxtrott?«, fragte der Colonel der Green Berets. Mit größter Willensanstrengung gelang es Hart, zwischen zusammengebissenen Zähnen seine Antwort hervorzubringen. »Verstanden.« »Echo Foxtrott, hier ist India Zulu. Noch eine weitere Anweisung. Nehmen Sie das lange Gewehr. Haben Sie verstanden, over?« Das ist es also, dachte Hart. Ein Attentat. Das lange Gewehr, sie brauchen einen Scharfschützen, der aus großer Entfernung zuschlagen kann. Vielleicht werde ich sogar mit dem Leben davonkommen. »Klar und deutlich verstanden«, antwortete Hart. »Echo Foxtrott, over und out.«
Weißes Haus, Wohntrakt 28. Dezember, 2300 Uhr Ortszeit »Das kannst du nicht tun, Bill!«, rief Clarissa aus. Bill Baker antwortete nicht. »Du bist der Präsident, und wir befinden uns im Krieg!« »Die Entscheidung ist gefallen«, murmelte Bill, während er seine Schnürsenkel löste. »Das geht nicht, du kannst einfach nicht…! Du darfst das nicht tun! Bitte. Bitte.« »Vizepräsident Simon wird von einer Menge guter und loyaler Leute unterstützt.« Als Bill ins Bett stieg, blickte er sie nicht an. Clarissa verstummte. Ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust, und ihr gelöstes Haar war ihr ins Gesicht gefallen. »Ich liebe dich«, flüsterte sie leise, als müsse sie sich vor Mikrofonen in Acht nehmen. Ich liebe dich auch, dachte Bill. Zumindest glaube ich es. Er rollte sich auf die Seite, zog sie zu sich heran und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter von seinen entfernt, und er blickte ihr direkt in die Augen. »Sag es noch einmal.« 548
Sie wandte sich nicht ab und sah ihn mit einem ruhigen Blick an. »Ich liebe dich«, wiederholte sie leise, aber deutlich. Jetzt berührten ihre Lippen fast die Bills. »Dann liebe ich dich auch.«
Nordvirginia 29. Dezember, 5 30 Uhr Ortszeit Schweißgebadet, mit schmerzendem Rücken und müden Beinen erreichte Captain Jim Hart sein Ziel unmittelbar vor Tagesanbruch. Noch war es stockfinster, und er hörte nur die Geräusche der Chinesen. Erdarbeitsmaschinen knurrten oder zirpten, je nachdem, ob der Vorwärts- oder Rückwärtsgang eingelegt war. Über die Straßen rollten Lastwagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern, deren Fahrer mit Infrarotbrillen ausgestattet waren. Gegen Ende seines fünfzehn Meilen langen Geländemarsches hatte Hart sich immer wieder fallen lassen und dann schnell losrennen müssen. Seine Lungen brannten, und sein Herz hämmerte so heftig, als würden Nägel in Holz eingeschlagen. Wie es die Chinesen taten, wenn sie Galgen bauten. Er war nah dran. Zwar musste er immer wieder husten und spucken, aber über seine Kopfhörer hörte er bereits Töne. Das taktische Funknetz des Feindes – ein Funksystem mit niedriger Emission, das dem der Amerikaner in nichts nachstand – musste sich innerhalb eines Radius von ein paar hundert Metern befinden. Jetzt musste er erst einmal seine Lage einzuschätzen versuchen. Er musste einen Hügel erklimmen. Nimm den dort, schlug eine erschöpfte Stimme in seinem Kopf vor. Gleich den hier vorn. Als Hart sich mühsam hochzurappeln versuchte, begannen sich sämtliche Muskeln gleichzeitig zu verkrampfen, und von seinen Oberschenkeln strahlte ein brennender Schmerz aus. Auf halbem Weg musste Hart innehalten und zu Dehnübungen Zuflucht nehmen. Alles schmerzte. Er ließ sich zu Boden gleiten und zählte bis dreißig, während sich seine verkrampften Muskeln zu entspannen begannen. Seine Kraftreserven waren erschöpft, und er musste unbedingt etwas 549
essen. Obwohl er unmittelbar in der Nähe des Feindes war, schlang er drei Bissen eines nach Eisen schmeckenden Power-Riegels herunter. Dann berührte er ein letztes Mal mit den Fingerspitzen seine Zehen, um die Kniesehnen zu lockern. Schließlich griff er nach dem Gewehr mit dem überlangen Lauf, um es einhundert Meter weiter auf den Hügel zu schleppen. Oben angekommen, konnte er durch seine Nachtsichtbrille wegen des bedeckten Himmels nur den Fluss erkennen. Nachdem er auf Infrarotmodus umgeschaltete hatte, wurde das kalte Wasser dunkel. Am Fuß der Brücke sah er hunderte chinesische Soldaten umherschwärmen. Die Soldaten waren vierhundert – eventuell auch fünfhundert – Meter entfernt. Hart war vielleicht nicht der allerbeste Schütze, aber mit einer Distanz von fünfhundert Metern würde er schon klarkommen. Damit sich seine Silhouette später nicht vor dem Himmel abzeichnete, postierte er sich weiter unten auf dem vorderen Abhang, doch dann bewegte er sich noch einmal fünfzig Meter weiter nach rechts, weil der rückwärtige Abhang an dieser Stelle nicht zu erklimmen war. Unangenehme Überraschungen von hinten wollte er ausschließen. Nachdem er zwischen Felsbrocken und Büschen Position bezogen hatte, holte er seinen MikrowellenEmpfänger hervor. Über Kopfhörer hörte Hart einen kurzen Schwall von Störgeräuschen, und das verriet ihm, dass er die richtige Trägerfrequenz erwischt hatte. Der Mikrowellenstrahl richtete sich sofort exakt auf Harts Position und tauschte die Codes aus. Prompt wurde Hart durch einen Piepton alarmiert. Ich habe Post, dachte er, während er gespannt wartete. »Echo Foxtrott zwei-eins-neun, können Sie mich hören, over?«, ertönte eine Stimme, die Hart nicht kannte. Er bestätigte den Empfang. »Warten Sie auf Befehle«, sagte jemand, dessen Position sich weiter nördlich befinden musste, in Sichtweite, am anderen Ufer des Potomac. Auf der von den Amerikanern gehaltenen Seite. Ein Trick der Chinesen konnte ausgeschlossen werden. Während der nächsten halben Stunde wurde Hart von mehreren ihm unbekannten Stimmen instruiert. Seine Befehle waren so unglaublich wie detailliert, und praktisch jeder Aspekt seines bevorstehenden Einsatzes bedurfte einer klärenden Nachfrage. Das ist absolut unfassbar!, sangen die Stimmen in seinem Kopf im Chor. Hart bat darum, noch einmal jede Ein550
zelne der erstaunlichen Anweisungen zu wiederholen, aber er fragte nicht nach Erklärungen. Er erkundigte sich nach dem Wann, Wie und Wo – und natürlich auch, wen er ins Visier nehmen sollte. Aber die Frage nach dem Warum verkniff er sich, weil sie unangemessen gewesen wäre. Es war eine verwirrende Abfolge von Befehlen, und das Muster war immer dasselbe: Wenn dies passiert, tun Sie das, wenn das eintritt, tun Sie stattdessen dies. Bei extrem wichtigen Punkten in dem verästelten Verlauf der Befehlsfolge, wo es um Situationen ging, in denen Hart innerhalb eines Sekundenbruchteils eine über Leben und Tod bestimmende Entscheidung treffen musste, wurde er ausdrücklich gebeten, den Befehl zu wiederholen. Auch die Abfolge der von der Situation abhängigen Handlungen, die man von ihm erwartete. Ein halbes Dutzend Stimmen formulierte Harts Befehle mit mathematischer Präzision. Nie bestand irgendein Zweifel daran, wie Hart handeln sollte. Wenn Punkt A eintritt, feuern Sie, ansonsten beachten Sie Alternative X. Bei B abdrücken, ansonsten Y. Am Ende der verästelten Befehlsfolgen stand immer ein sicherer und in der Regel tödlicher Ausgang. Aber manchmal stand am Ende doch ein anderes Resultat: »Unternehmen Sie nichts.« Dann kehrten die Hart unbekannten Einsatzleiter an den Ausgangspunkt zurück, um sich für eine völlig andersartige Befehlsfolge zu entscheiden. Dann war es an Hart – dem für die nationalen strategischen Ziele so wichtigen Aktivposten –, sich auf alles einen Reim zu machen. Er wiederholte die Anweisungen, aber noch war er nicht zufrieden. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Fast hätte Hart vergessen, dass es um ihn herum vor Feinden nur so wimmelte, und beinahe wäre ihm eine in einer Entfernung von sechzig Metern an seinem gut getarnten Versteck vorbeikommende Patrouille entgangen. Aus solchen Gründen musste er seine Antworten gelegentlich unterbrechen, aber die Einsatzleiter warteten geduldig und ohne auf Erklärungen zu bestehen. »Bestätigen Sie die Befehle, Echo Foxtrott zwei-einsneun?«, fragte abschließend ein Einsatzleiter, den Hart nicht kannte. »Hier Echo Foxtrott, alle Befehle bestätigt«, antwortete Hart wie benommen. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« 551
In Harts Kopf drehte sich alles. Was zum Teufel ist eigentlich los?, hätte er am liebsten gebrüllt. Wo ist der einäugige Colonel? Und wer sind Sie? Scheiße! Aber er durfte nur Fragen nach praktischen Details stellen, darüber hinaus würde man ihm nichts erzählen. Schließlich befand er sich hinter den feindlichen Linien. Doch es gab noch ein praktisches Detail, das die Einsatzleiter bisher außer Acht gelassen hatten. »Wie sieht’s mit meinem Rückzug aus?« »Machen Sie das Beste draus«, antwortete eine anonyme Stimme nach einer langen Pause. Dann meldete sich eine tiefere, sympathischer klingende Stimme zu Wort. »Wenn dies erledigt ist, können Sie endgültig nach Hause zurückkehren, Echo Foxtrott.« Hart war klar, dass seine Chancen in diesem Punkt äußerst schlecht standen. »Verstanden«, flüsterte er heiser. So lange Gespräche war er nicht gewohnt. »Zwei-eins-neun, over und out.«
Weißes Haus, Oval Office 29. Dezember, 1000 Uhr Ortszeit Da Präsident Baker sich dagegen entschieden hatte, die Amtsübergabe an seinen Nachfolger im höchsten Staatsamt in dem unterirdischen Lageraum stattfinden zu lassen, hatte sich die Menge in dem sonnenbeschienenen Oval Office versammelt. Die auffälligste Veränderung war, dass die gegen Raketenbeschuss vor den Fenstern installierten Schutzschirme wieder entfernt worden waren. Jetzt strömte strahlendes Tageslicht in den Raum. Die Vereinigten Staaten hatten die Schlacht um Washington gewonnen und die Chinesen zurückgedrängt. Und dieser historische Moment des Sieges sollte nach Bills Willen für die Zukunft festgehalten werden. Direkt neben der Tür stand – gemeinsam mit Bills Sekretärin, dem Butler und anderen Mitgliedern seines persönlichen Stabs – eine aschfahle Clarissa. Das Kabinett hatte sich um Bills Schreibtisch herum versammelt, und die hohen Militärs, mittlerweile wieder in den gewohnten grünen und blauen Uniformen, hatten sich in einem Ring um die Mitglieder der Regierung formiert. Neben Bills Schreibtisch standen zwei große Flachbildschirme auf Rollen. Auf einem war der Vizepräsident zu sehen, der in dem Flug552
zeug mit der mobilen Kommandozentrale über Baltimore kreiste. Wenn Bill sich zu dem Gefangenenaustausch begab, würde er landen und sofort ins Weiße Haus gebracht werden. Der zweite Bildschirm war für den Präsidenten des Obersten Bundesgerichts reserviert, der sich in einem unterirdischen Bunker in Omaha aufhielt. Der vorläufig amtierende Senatspräsident und Tom Leffler – der Sprecher des Repräsentantenhauses – saßen dem Präsidenten an seinem Schreibtisch direkt gegenüber. Bei ihrem Eintreffen hatte Clarissa ihrem Vater etwas zuzuflüstern versucht, der ihr aber sofort durch ein Kopfschütteln Einhalt geboten hatte. Nach einem gequälten Lächeln in Bills Richtung hatte sie sich dann zur Tür zurückgezogen. Clarissa sah wunderschön aus, und sie schien Bill durch angedeutete Lippenbewegungen zu verstehen geben zu wollen, dass sie ihn liebte. Ganz die junge Witwe, als käme sie direkt von einem Casting für die Besetzung einer solchen Rolle, dachte Bill. Perfekt gekleidet, die Handtasche eng an den Körper gepresst. Die vom Schicksal gebeutelte Frau, die durchzuhalten und durchzukommen versuchte. Ihr Vater war nur noch ein Schatten seiner selbst und starrte Bill aus trüben Augen wütend an. »Tut mir Leid, dass Sie so lange in der Luft bleiben mussten«, sagte Bill einleitend in Richtung des Monitors mit dem Bild des Vizepräsidenten. Seit er zum zweiten Mann im Staat ernannt worden war, hatte der republikanische Kongressabgeordnete und frühere Verteidigungsminister einen ganzen Monat an Bord des als Kommandozentrale dienenden Militärflugzeugs verbracht. »Das geht schon in Ordnung, Mr President«, antwortete Glen Simon. Durch einen schnellen Anruf am Vortag hatte Bill ihn über seine Entscheidung informiert, sich auf das Geschäft mit den Chinesen einzulassen. Jetzt saßen sie sich zum ersten Mal sozusagen von Angesicht zu Angesicht gegenüber, was durch die Anwesenheit so vieler Menschen eine noch merkwürdigere Situation war. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich in Gedanken bei Ihnen bin«, sagte der Vizepräsident. »Was Sie da tun, ist… Nun, Sie sind ein bemerkenswerter Mann, Mr President. Sie sind… ein wahrer Präsident. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Tochter nach Hause zurückkehren kann, und dann werden wir Sie irgendwie ins Oval Office zurückbringen – selbst 553
wenn wir dafür bis nach China vorrücken müssen. Das verspreche ich Ihnen.« »So müssen wir vorgehen«, sagte Bill zu dem Mann, der schon bald auf seinem Stuhl sitzen würde. Aber seine Worte richteten sich auch an die Mitglieder seines Kabinetts, die Militärs und die Leute hinter den Kameras, die sich diskret im Hintergrund hielten und die Zeremonie filmten. »Wir haben uns wie Narren verhalten und uns einschläfern lassen. Unser Fehler war, dass wir uns den Luxus gegönnt haben, uns dem Glauben hinzugeben, das Überleben der Nation würde nicht einzig und allein von brutaler Gewalt abhängen. Noch immer ist unsere Nation nicht ganz aus diesem verhängnisvollen Schlummer aufgewacht. In zwei Jahren werden wir zwanzig Arsenalschiffe in Dienst gestellt haben, und dann wollen wir mal sehen, wie die Chinesen damit klarkommen.« Die Vereinigten Stabschefs und etliche Kabinettsmitglieder nickten beifällig. »Aber wir dürfen nicht ruhen, bis wir diesen Krieg gewonnen haben und bis die chinesische Militärmaschinerie vernichtet und die Welt befreit ist. Man darf nicht vor dem Kampf zurückschrecken, auch dann nicht, wenn dieser sich geografisch in weiter Ferne abspielt. Damit unsere Kinder in Frieden leben können, müssen wir weiterkämpfen, bis wir einen Sieg auf der ganzen Linie errungen haben.« Im Oval Office herrschte Schweigen. Es gab keinerlei tosenden Applaus, die Stimmung war eher von tiefem Ernst geprägt. Einige harten feierlich die Köpfe gesenkt, ganz wie Bill, der auf sein Manuskript niederblickte. Jetzt wandte er sich an den Präsidenten des Obersten Bundesgerichts. »Morgen früh, um sechs Uhr Washingtoner Zeit, werde ich den Potomac überqueren und mich in die Hände des Feindes unserer Nation begeben. Deshalb beabsichtige ich, unmittelbar vor dem Gefangenenaustausch ohne weitere Prozeduren meine Machtbefugnisse und Pflichten, die mit dem Amt des Präsidenten der Vereinigen Staaten verbunden sind, an den derzeitigen Vizepräsidenten zu übergeben. Von diesem Zeitpunkt an wird Mr Glen Simon als amtierender Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika fungieren.« Bills Kehle war vor Angst wie zugeschnürt, und er musste sich räuspern. »Der juristische Berater des Weißen Hauses und der Nationale Sicherheitsrat haben mich darüber informiert, dass eine temporäre Übergabe meiner Machtbefugnisse nach Paragraf drei, Artikel fünfundzwanzig der 554
Verfassung mich dazu berechtigt, das Amt des Präsidenten auch dann erneut zu beanspruchen, wenn ich mich noch in den Händen des Feindes befinde. In diesem Fall wäre die Übermittlung einer schriftlichen Erklärung an den vorläufig amtierenden Senatspräsidenten und an den Sprecher des Repräsentantenhauses erforderlich, und diese Erklärung könnte mir in der Haft durch Zwang abgenötigt werden. Folglich bitte ich, Bill Baker, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, den Präsidenten des Obersten Bundesgerichts, einer bedingten Übertragung meiner Machtbefugnisse und Pflichten durch seine Unterschrift zuzustimmen, und zwar gemäß den in Paragraf vier, Artikel fünfundzwanzig festgeschriebenen Verfahrensweisen.« Bill ließ den Blick über die Mitglieder seines Kabinetts schweifen, die fast alle lange und hart in einem politischen Kampf gefochten hatte, dessen einziges Ziel darin bestanden hatte, den Wahlsieg Bill Bakers sicherzustellen, damit dieser das Land retten konnte. Jetzt waren einige verbittert, weil er das Land im Stich ließ, aber der Rest verstand ihn – wenn auch eher widerwillig. Bill wandte seinen Blick wieder von den schweigenden Kabinettsmitgliedern ab und kehrte verbissen zu dem Manuskript seines Rechtsberaters zurück. »Nach Meinung des juristischen Beraters des Weißen Hauses und des Nationalen Sicherheitsrats könnte man jedem Versuch meinerseits, das Amt des Präsidenten erneut zu beanspruchen, während ich noch in chinesischer Haft bin, dadurch zuvorkommen, dass ich dem pro tempore amtierenden Senatspräsidenten und dem Sprecher des Repräsentantenhauses eine schriftliche Erklärung zukommen lasse, in der ich versichere, dass es mir nicht zusteht, den dann amtierenden Präsidenten und eine Mehrheit der wichtigsten Entscheidungsträger der Exekutive von ihren Machtbefugnissen und Pflichten zu entbinden.« Bill lehnte sich zurück, jetzt war der Präsident des Obersten Bundesgerichts an der Reihe. Clarissa, die noch immer an der Tür stand, fing Bills Blick auf und schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie Qualen litt – die junge Witwe hielt nicht länger durch. Sie wandte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen, aber schließlich konnte sie nicht anders, als den Raum zu verlassen. Jetzt meldete sich der Präsident des Obersten Bundesgerichts aus seinem 555
unterirdischen Bunker in Omaha zu Wort. »Ich halte hier eine schriftliche Erklärung von Vizepräsident Glen Simon und einer Mehrheit der wichtigsten Entscheidungsträger der Exekutive in Händen.« Der weißhaarige Mann hielt ein juristisch verbindliches Dokument hoch. »Darin findet sich eine Feststellung, dass Sie von dem Augenblick an, in dem Sie die Brücke des über den Potomac führenden Highways 301 betreten, nicht mehr berechtigt sind, die Machtbefugnisse und Pflichten des Präsidenten wahrzunehmen. Diese Bestimmung wird erst dann wieder außer Kraft gesetzt, wenn Sie auf von den Vereinigten Staaten kontrolliertes Territorium zurückgekehrt sind.« Baker nickte. »Ich stimme dieser Feststellung zu«, sagte er, obwohl das in seinem Manuskript nicht vorgesehen war. Aber er wollte nicht, dass unter den Historikern Gerüchte aufkamen, es könnte sich bei der Übergabe seiner Macht in irgendeiner Weise um einen Trick gehandelt haben. »Verfügen der pro tempore amtierende Senatspräsident und der Sprecher des Repräsentantenhauses über eine beglaubigte Abschrift dieser Erklärung?«, fragte der Präsident des Obersten Bundesgerichts. »Ja«, bestätigte der amtierende Senatspräsident. Tom Leffler saß in zusammengesunkener Haltung und mit herabhängenden Wangen da. Ein Berater flüsterte dem alten Mann fieberhaft etwas ins Ohr. »Ja, ich auch!«, sagte Leffler plötzlich. »Ich habe eine Abschrift.« Der Präsident des Obersten Bundesgerichts kam zum Abschluss. »Mr President, Mr Vice President, verehrte Mitglieder der Exekutive, verehrte Mitglieder des Kongresses – hiermit stelle ich fest, dass die Übertragung der Macht des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Mr William Baker an Mr Glen Simon in Kraft tritt, wenn sie gemäß Paragraf vier, Artikel fünfundzwanzig der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vollzogen wird. Möge Gott uns allen gnädig sein.«
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Hauptquartier der chinesischen Armee, Richmond 29. Dezember, 1300 Uhr Ortszeit Die Tür von Stephies Zelle öffnete sich. Die Wachtposten trugen lange Wollmäntel, und einer legte auch Stephie einen dieser langen Mäntel um die Schultern. Man brachte sie nach draußen. Zuerst glaubte sie, dass man sie auf einem Exerzierplatz antreten lassen würde. Die einzige andere Möglichkeit war, dass ein Exekutionskommando auf sie wartete. Aber das hätten sie wahrscheinlich im Keller erledigt. Stephie kam an einer endlosen Reihe von dicken Stahltüren vorbei. Am Ende des Gangs warteten sie auf einen Aufzug. »Stephie?«, fragte John Burns hinter ihr. Sie wandte sich um und sah, dass ihr Kamerad von zwei Wächtern an beiden Ellbogen festgehalten wurde. Sein Körper war lädiert, sein Kopf geschwollen, aber Stephie schlang trotzdem die Arme um ihn. John stöhnte, und sie trat wieder zurück. »Mein Gott, John, sie haben deine Wunden ja gar nicht behandelt.« Seine Körperhaltung war gekrümmt, sein Gang schlurfend. Nacheinander blickte Stephie die Wächter an. »Er braucht einen Arzt, Sie müssen ihm helfen!« Die Chinesen gaben vor, nicht zu verstehen. »Sie alle verstehen Englisch!«, brüllte Stephie. Mit einem Bimmeln blieb der Aufzug stehen, und sie wurden hineingeführt. Schwerfällig lehnte sich John an Stephie, und schon das allein verängstigte sie. Schließlich wurden sie in einer unterirdischen Garage zu einer Limousine gebracht. In dem Wagen wartete der chinesische Leutnant aus dem Folterkeller, in dem Becky getötet und Stephie gezwungen worden war, ihr Land und ihren Vater zu denunzieren. Der Mann, der noch immer denselben Gesichtsverband trug, half John beim Anschnallen. Der amerikanische Captain saß zusammengesunken da und stieß die Luft aus, als hätten ihn seine Schmerzen auf dem Weg zu dem Auto gezwungen, die ganze Zeit über den Atem anzuhalten. Als der Wagen angefahren war, versank John in einen Dämmerzustand. So war Stephie mit dem chinesischen Offizier unter sich. Oder mit diesem zumindest halb chinesischen Offizier, dachte sie, während sie die Gesichtszüge des Leutnants studierte, der rundliche Augen hatte und einen Weißen europäischer Abstammung unter seinen Vorfahren zu haben schien. 557
»Er braucht einen Arzt«, sagte Stephie. »Sie werden nach Hause zurückkehren«, antwortete der Leutnant. Vor lauter Aufregung lief es Stephie kalt über den Rücken. Kann das stimmen?, fragte sie sich. Ist das denkbar? »Werden wir gleich übergeben?«, fragte sie. Der feindliche Soldat schlug den Blick nieder. Draußen glitten winterlich kahle Bäume vorbei. »Nein«, antwortete er schließlich. »Sie werden gemeinsam mit zehntausend anderen Kriegsgefangenen gegen Ihren Vater ausgetauscht.« »Wie bitte?«, rief Stephie aus. »Er kann doch nicht…! Er…!« Sie kniff die Augen zu, schlug die Hände vors Gesicht und zerrte an ihrem Haaransatz. Natürlich würde er das tun! Es war alles ihre Schuld. Ihre Schuldgefühle machten sie fast krank. Sie hörte einen Piepton. Der Leutnant überprüfte mit einem kleinen schwarzen Wanzendetektor das Innere des Autos, aber die kleine LED-Anzeige blieb grün. »Ich wünschte, Ihnen versichern zu können, dass Ihr Vater nicht in Gefahr schwebt, aber der Gefangenenaustausch wird auf einer über den Potomac führenden Brücke stattfinden«, sagte der chinesische Offizier, dessen Englisch nur einen schwachen Akzent hatte. »Wenn die anderen Kriegsgefangenen den Fluss überquert haben, werden Sie und der Captain auf der einen Seite auf die Brücke treten, Ihr Vater auf der anderen. In der Mitte der Brücke werden Sie Ihren Vater treffen. Sagen Sie ihm dann bitte, dass er sich bereit halten soll, sich auf den Boden fallen zu lassen.« »Wie bitte?«, fragte Stephie. »Wovon reden Sie?« »Sie sind Soldatin«, sagte der chinesische Offizier mit dem Gesichtsverband. »Falls irgendetwas passiert, soll er sich auf den Boden fallen lassen und Deckung suchen. Und falls er die Möglichkeit haben sollte, sich selbst das Leben zu nehmen, sollte er nicht zu schnell handeln und lieber noch etwas warten.« »Damit man ihn foltern wird«, sagte Stephie, deren Oberlippe angesichts des offensichtlichen Tricks dieses Dreckskerls vor Wut zuckte. »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass er überleben wird«, antwortete der Leutnant offen. »Falls es nicht richtig sein sollte, dass er überlebt« – der Mann wählte seine Worte sorgfältig, was in diesem Fall gar nicht so leicht war – »werde ich mein Bestes geben, dass es für ihn schnell geht. Und für Sie und den Captain. Aber die momentane Situation auf dieser 558
Seite der Front ist extrem« – er suchte nach dem richtigen Ausdruck – »extrem ungewiss. Im Augenblick kann ich nur sagen, dass ich einen Plan habe – oder auch Befehle, wenn ich mich genauer ausdrücken soll –, durch den ich Ihnen, Ihrem Vater und dem Captain das Leben retten kann. Ich verspreche Ihnen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werden, Lieutenant Roberts.« »Und warum?«, fragte Stephie. »Wer sind Sie?« Als sie ihren Blick durch die Limousine schweifen ließ, wunderte sie sich, dass diese von einem jungen Leutnant benutzt werden durfte. Musste man nicht davon ausgehen, dass die Tochter eines Präsidenten normalerweise eher von einem Oberst oder General begleitet werden würde? »Ich bin Han Zhemins Sohn, der Sohn des Administrators der besetzten amerikanischen Gebiete«, antwortete der chinesische Offizier. »Ich bin der Enkel des Handelsministers und der Großneffe des Premierministers. Mein Name ist Han Wushi, und ich bin Ihr Cousin, Stephanie Roberts.« »Mein Cousin?«, fragte Stephie. Der Mann nickte. Seine lächerliche Behauptung brachte Stephie zum Lachen »Wie könnten Sie denn mit mir verwandt sein?« »Durch Ihre Tante«, antwortete Wu. »Cynthia Fisher ist meine Mutter.« »Tante Cynthia?«, platzte es aus Stephie heraus, die erst verächtlich lachte und dann den Kopf schüttelte. »Hören Sie, ich weiß ja jede Hilfe zu schätzen, die Sie uns leisten können, aber Sie irren sich.« Wieder fiel Stephie auf, dass die Gesichtszüge des chinesischen Offiziers vage Ähnlichkeiten mit denen von Menschen aus der westlichen Welt aufwiesen. Er starrte sie nur an. »Meine Tante und Ihr Vater, der oberste chinesische Administrator?«, fragte Stephie. Wu nickte. »Dieser Typ, der auf dem College mit meinem Vater im selben Zimmer gelebt hat?« Wieder nickte Wu. »Wie?«, fragte sie. »Wann?« Aber dann fand Stephie schlagartig selbst die Antworten. Blitzartig fügte sie alle Bruchstücke zusammen, alle diese kleinen Informationsfetzen, die sie aus Zeitungen und Illustrierten hatte. »Ihr Vater und meine Tante…?« Ein drittes Nicken. Das erklärte, warum Stephies Mutter nie über ihre Schwester sprach. Rachel Roberts war eine durch und durch prüde und intolerante Frau, der es schon bei dem bloßen Gedanken schlecht geworden sein musste, dass ihre Schwester mit einem Chinesen schlief. Aber da gab es noch etwas, das keinen Sinn zu haben schien. »Warum habe ich nie was von dir gehört?«, fragte Stephie. 559
»Sie… Du solltest wissen, dass bedeutende Männer häufig Geheimnisse haben«, antwortete Wu. »In meinem Land beherrschen sie es aber noch besser, sie für sich zu behalten.« Stephie war geschockt, nickte aber bedächtig. »Und wie bist du in der chinesischen Armee gelandet?« »Ich bin Chinese.« »Bist du in China geboren und erzogen worden?«, fragte Stephie. Wu nickte. Tante Cynthia ist also nach China gegangen, um ihr Kind zur Welt zu bringen? Schweigend versuchte Stephie, sich einen Reim auf diese verblüffende Abfolge von Enthüllungen zu machen. Seine reiche Familie musste für die Reise, die Ärzte und alles andere aufgekommen sein. Die Familie ihrer Mutter war nicht wohlhabend gewesen. Sie wandte sich wieder dem aufmerksamen Chinesen zu, der ihrem Blick nicht auswich. Seine ganze rechte Wange war von dem Verband verdeckt. »Bist du in der Schlacht am Potomac verwundet worden?« Er nickte kurz, blickte dann aber weg. »Warum kämpfst du, wenn deine Familie so reich und mächtig ist?«, fragte sie. »Aus deinem Mund ist das eine sehr seltsame Frage.« »In meinem Land liegen die Dinge anders«, antwortete Stephie. »Was meinst du damit?«, fragte Wu, der plötzlich äußerst interessiert wirkte. »Na ja, in Amerika gibt es bestimmte politische Spielregeln. Mein Vater kann nicht einfach im Hintergrund Fäden ziehen, um mich von der Einberufung auszunehmen.« »Dann behauptest du also, dass es wichtig ist, wie so etwas auf die Massen wirkt. Die Tatsache, dass sie dich – die Tochter des Präsidenten – an der Front kämpfen sehen, ist bedeutsam und politisch wichtig.« Jetzt war Stephie mit dem Nicken an der Reihe. »Hast du je darüber nachgedacht«, fragte Wu, »selbst in die Politik zu gehen?« Stephie schnaubte verächtlich. »Ich? Mein Gott, nein!« Anscheinend ganz in Gedanken verloren, schlug Wu den Blick nieder, aber Stephie betrachtete weiter eingehend das neue Mitglied ihrer Familie, bis dieses wieder den Kopf hob. »So völlig andersartig liegen die Dinge in meinem Land gar nicht«, sagte Wu. »Zumindest dann nicht, wenn’s um Politik geht.« 560
Kopfschüttelnd beeilte sich Stephie, ihm die Sache zu erklären. »Ich habe nicht behauptet, dass ich nur aus einem politischen Grund für mein Land gekämpft habe! Ich habe es getan, weil ich mein Land liebe und weil es richtig ist! Weil ich nicht mehr in den Spiegel sehen könnte, wenn alle anderen…!« Bevor sie ihren Satz beenden konnte, nickte Wu bereits. »Bei mir ist es genauso«, sagte er leise. Die zu der Brücke führende Straße war holprig und mit Kratern übersät, die notdürftig mit loser Erde aufgeschüttet worden waren. Der Wagen zwängte sich an einer endlosen Schlange von LKWs vorbei, die leer vom Ufer des Potomac zurückkamen. Die letzten paar hundert von insgesamt zehntausend amerikanischen Kriegsgefangenen warteten ungeduldig darauf, sich endlich der Schlange anschließen zu können, die von dem von den Chinesen gehaltenen Ufer bis zur amerikanischen Seite reichte. Viele der Männer waren verwundet und mussten sich auf ihre Kameraden stützen. Vorsichtig wichen alle den großen Löchern in der Brücke aus, die aussahen, als wäre hier der Asphalt weggeschmolzen. Stellenweise neigte sich die Brücke bedenklich, doch der an eine Ameisenprozession erinnernde Zug überquerte sie, ohne sich um eventuelle Gefahren weitere Gedanken zu machen. Diese Amerikaner – gleich ehemalige Kriegsgefangene – wussten nur zu gut, welche Gefahren hinter ihnen lagen. Als Stephanie, John und Wu aus der Limousine ausstiegen, wurden sie von einem Blitzlichtgewitter und Kamerascheinwerfern erwartet. Wegen des gleißenden Lichts musste Stephie ihre Augen abschirmen. Ein hinter ihr stehender chinesischer Offizier in Paradeuniform bat sie höflich, den Arm sinken zu lassen. Als sie es tat, drängte sich die Meute der Kameramänner immer dichter an sie heran. Jetzt blieb nur noch ein schmaler Korridor, der zu einer hölzernen Bühne führte. Wu und Stephie ergriffen beide einen von Johns Armen und halfen ihm, die paar Stufen zu der Bühne zu erklimmen, auf der sie bereits von chinesischer Prominenz erwartet wurden. Der chinesische General und der Oberst, der Becky ermordet hatte, lächelten ihnen entgegen, aber ein eleganter Zivilist in einem dunklen Anzug trat auf sie zu. Erneut flammten Blitzlichter auf, als er Wu grinsend 561
auf die Schulter klopfte, der seinerseits kein bisschen amüsiert zu sein schien. Stephie bemerkte das Augenzwinkern des chinesischen Zivilisten, auf das Wu aber gleichfalls nicht reagierte. Das ist sein Vater, schoss es Stephie durch den Kopf. Ohne John auch nur eines Blickes zu würdigen, wandte der elegante Mann sich Stephie zu. »Ich bin Han Zhemin, Miss Roberts.« Er schüttelte Stephie schnell die Hand, doch als er sie hob, um sie mit einem Handkuss zu beehren, riss Stephie sie zurück. Auf und vor der Bühne lachten die Leute. Die Kameras hatten nicht den Handkuss, sondern Han Zhemins Demütigung aufgezeichnet. Kurzzeitig erstarb Han’s Lächeln, doch dann gab er tapfer vor, sich aus der Zurückweisung nichts zu machen und sich mit der Gruppe chinesischer Reporter zu amüsieren. Leutnant Wu beobachtete die Szene. Noch immer war er kein bisschen belustigt. Tatsächlich wirkte er eher nervös und zappelig. Überall um die Bühne herum sah man Kameras. Kameras von zivilen und militärischen Fernsehteams, Digitalkameras mit langen Objektiven. Auch hier trugen die Fotografen entweder Uniform oder Bluejeans. Dazu kamen dutzende Fotoapparate und Camcorder, die Soldaten gehörten – meistens Offizieren. Alle wollten Zeugen des historischen Augenblicks sein, und alle konzentrierten sich ganz auf den Star der Veranstaltung: die Tochter des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Jetzt hatte der Letzte in der langen Schlange der amerikanischen Kriegsgefangenen die Brücke betreten. Stephie versuchte, sich die Freude dieser Männer über ihre Heimkehr vorzustellen, ohne selbst dieses Gefühl teilen zu können. Irgendwo am hinteren Ende der teilweise zerbombten Brücke wartete ihr Vater, der gleich das denkbar größte Opfer bringen würde. Dieser Gedanke machte Stephie ganz krank, und fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. Dann ergriff Wu ihren Arm. Auch das wurde von hunderten Kameras aufgezeichnet.
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Highway 301, Brücke über den Potomac, Maryland 29. Dezember, 1400 Uhr Ortszeit Das Sonnenlicht glänzte auf dem grauen Wasser des Potomac, der einige Kilometer weiter östlich in die Chesapeake-Bucht mündete. Jetzt sah Hart, dass die Chinesen keine Galgen gezimmert hatten, sondern eine Holzbühne, die von Kameras und Scheinwerfern umgeben war. Das Spektakel spielte sich am Highway 301 ab, direkt vor der Brücke über den Potomac, fünfhundert Meter von Harts Beobachtungsposten entfernt. Er riskierte es, seinen Kopf ein bisschen vom Boden zu heben. Die braunen Plastikblätter an seinem Helm, die farblich auf das gefallene Laub in den Wäldern von Virginia abgestimmt waren, kitzelten seine Wangen. Hart war auf einem der Brücke, der Bühne und dem Fluss gegenüberliegenden Hügel in Stellung gegangen. Zu seiner Linken führte eine Senke zu einem ausgetrockneten kleinen Bach hinab, dessen Bett durch einen Sattel zwischen zwei Hügeln verlief. Damit verband sich seine einzige Hoffnung auf ein mögliches Überleben. Sein Blick folgte der Senke und dann dem Flussbett, das schließlich in einer Betonröhre verschwand, die unter einer Eisenbahnlinie hindurchführte. Das einzige Problem bestand darin, dass er keinerlei Ahnung hatte, wo die Betonröhre wieder ans Tageslicht kam. Die Tür der Limousine öffnete sich, und Bill Baker zuckte erschrocken zusammen. Aber noch war es nicht so weit. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Fluss und die Brücke, neben der das Auto geparkt war. Nachdem Fielding zu ihm in den Wagen gestiegen war, schloss der CIADirektor die Tür. »Sind Sie auf alles vorbereitet, Mr President?«, fragte Fielding. Bill war wie versteinert, aber er nickte. Nach einer gründlichen Untersuchung hatte ihm der Arzt geraten, auf jeden Fall noch einmal gut zu essen. Bevor er das Weiße Haus verlassen hatte, war ihm ein opulentes Mahl serviert worden. Schweigend hatten sich Bill und Clarissa gegenüber gesessen. Keiner der beiden hatte seine Mahlzeit auch nur angerührt. Wegen des Kloßes in seiner Kehle hatte Bill es nicht fertig gebracht, auch nur einen einzigen Bissen hinunterzuwürgen, und wahrscheinlich war das wegen seiner Magenverstimmung auch gut gewesen. Als hätte er seine Gedanken erraten, 563
zauberte der CIA-Direktor jetzt eine Pille hervor. Bill ging davon aus, dass es sich entweder um eine Magentablette oder um ein Beruhigungsmittel handelte. Die kleine Kapsel lag auf Fieldings nicht verschwitzter Hand. Bill blickte ihn an, bevor er seine Hand nach der Tablette ausstreckte. »Sie ist nicht wasserlöslich«, sagte Fielding. »Stecken Sie sie zwischen Wange und Unterkiefer. Sollten Sie die Tablette versehentlich schlucken, ist das auch kein Malheur. Warten Sie einfach darauf, dass sie unversehrt wieder herauskommt – dann können Sie sie immer noch richtig einsetzen.« Jetzt verstand Bill. Er nickte, während er nach der kleinen, harten Kapsel griff. »Und was tue ich…« Wegen seiner zitternden Stimme unterbrach er sich kurz. »Also, wie wird’s gemacht?« »Sie müssen darauf beißen«, antwortete Fielding. »Einfach fest darauf beißen, das ist alles. Wenn Sie sie zerbissen haben…« »O-okay«, sagte Bill, wobei ein begleitender Seufzer wiederum das Zittern seiner Stimme kaschieren sollte. Als er die Tablette in seine Jacketttasche gleiten lassen wollte, musste er feststellen, dass sich unter den Klappen des seltsamen, schweren Anzugs keine Taschen verbargen. Fielding versuchte, seine vergeblichen Anstrengungen humorvoll zu nehmen. »Die Chinesen sind sowieso verdammt scharf auf diese KevlarAnzüge.« Fielding öffnete Bills Jackett, damit der die Tablette in der Brusttasche seines Oberhemds verschwinden lassen konnte. »Sie sind ganz schön schwer«, sagte Bill. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte Fielding. »Vielleicht Valium?« Bill schüttelte ruckartig den Kopf. Irgendwie kam er sich etwas lächerlich vor. Seine Tochter und Millionen anderer Soldaten hatten in einem mit äußerster Brutalität geführten Krieg gekämpft, und was er jetzt tun musste, erforderte nicht ein Zehntel ihrer Tapferkeit. Dennoch fühlte er sich wie gelähmt. Er blickte Fielding an. »Und was ist, wenn es sich um einen Trick handelt?«, fragte Bill zum hundertsten Mal, doch es war eher eine rhetorische Frage. Tatsächlich war sie in den frühen Morgenstunden beantwortet worden, wenn auch nicht auf eine besonders zufrieden stellende Weise. Er hatte sie jetzt nur gestellt, um sich beruhigen zu lassen. Aber da war er bei dem immer skeptischen Fielding an der falschen Adresse. 564
»Für diesen Notfall haben wir unsere Maßnahmen getroffen, Mr President«, sagte Fielding. »Wenn die Sache mit der Pille aus irgendeinem Grund nicht funktionieren sollte, bleiben Sie einfach so reglos wie irgend möglich stehen. Verstehen Sie?« Bill nickte. »Ohne Sie ist Ihre Tochter für die Chinesen nur von begrenztem Nutzen, und sie werden keinen Grund haben, ihr irgendetwas anzutun. Durch den Austausch wird sie schnell wieder bei uns sein. Es wird schon klappen, Mr President.« Als jemand an das Fenster der Limousine klopfte, begann Bill zu zittern. Kurzzeitig dachte er darüber nach, doch um eine Valium-Tablette zu bitten, doch da wurde die Tür bereits geöffnet. Als er ausstieg und in die kalte Luft hinaustrat, wurde das Zittern schlimmer. Ein Offizier der Army geleitete Bill und Fielding hinter eine Wand von in einem Halbkreis aufgetürmten Sandsäcken, wo auf einem Dreifuß ein leistungsstarkes Scherenfernrohr installiert war. Als Bill hindurchblickte, sah er am anderen Ufer des Flusses eine Menschenmenge, und als er die stärkste Vergrößerung eingestellt hatte, konnte er Stephie erkennen, die, von chinesischen Soldaten umringt, neben einem gebeugten amerikanischen Kriegsgefangenen und dem einzigen Zivilisten stand. Sie befanden sich auf einer kleinen Bühne, die von Journalisten und hunderten neugieriger Soldaten umringt war. Ganz plötzlich fühlte sich Bill ruhig. Er richtete sich gerade auf und nickte – er war bereit. Sie stiegen die grasige Uferböschung hoch. Wegen der gepanzerten Hosenbeine seines Anzugs hatte Bill Schwierigkeiten, seine Knie richtig zu bewegen. Mehrere Male mussten ihm aufmerksame Soldaten helfen. Auf der Uferböschung auf der amerikanischen Seite gab es keine Kameras und Journalisten. Stattdessen sah Bill schwere Kampfpanzer und einen Strom ehemaliger Kriegsgefangener, die die Brücke verließen und ihre Kameraden umarmten. Als die Soldaten Bill und seine kleine Entourage auf die Brücke zukommen sahen, war es mit dem Schluchzen und dem Jubel vorbei. Da Bill zu sehr in Gedanken verloren war, nahm er die Soldaten nicht zur Kenntnis, doch diese begrüßten ihren Präsidenten. »Lang leben die Vereinigten Staaten!«, durchbrach die laute Stimme eines mit getrockneten Blutflecken besudelten Mannes die Stille des winterlichen Nachmittags. »Bleiben Sie auf der rechten Seite der Brücke«, sagte ein Offizier von 565
den Pionieren zu Bill. »Da ist die Stabilität der Brücke eher gewährleistet.« Er sagte noch etwas, aber seine Stimme ging in dem aufbrandenden Lärm völlig unter. »Lang leben die Vereinigten Staaten!«, brüllten im Chor die kürzlich freigelassenen Kriegsgefangenen, die an der von Kratern übersäten Straße Spalier standen. »Lang leben die Vereinigten Staaten!« Erst waren es ein Dutzend, dann hunderte, schließlich tausende immer lauter werdende Stimmen. Wieder begann Bill zu zittern, doch diesmal war der Grund nicht Angst, sondern Stolz. Nachdem er die Zyankali-Tablette in den Mund gesteckt hatte, betrat er die Brücke.
Highway 301, Brücke über den Potomac, Virginia 29. Dezember, 1415 Uhr Ortszeit Auf der Bühne an der anderen Seite des Flusses konnten Han Zhemin und die anderen die Hochrufe der Amerikaner deutlich hören. Han blickte Bill Bakers Tochter an, die mit tränenfeuchten Augen auf das andere Ufer starrte. Auch Wu fixierte Stephie. Als General Sheng auf Stephanie Roberts zutrat, versuchte er gar nicht erst, ihr die Hand zu schütteln. Sein selbstgefälliges Lächeln zwang Han, seinerseits ein solches zu unterdrücken. »Sie können jetzt gehen«, brachte Sheng mühsam auf Englisch hervor. »Von mir aus kannst du in der Hölle verschmoren, du Schwanzlutscher«, antwortete Stephie. Laut lachend beobachtete Han, wie General Sheng erst auf Oberst Lis geflüsterte Übersetzung warten musste. General Sheng war ganz und gar nicht amüsiert, und genau das hatte Stephanie Roberts auch bezweckt. Jetzt trat Han auf die Tochter des amerikanischen Präsidenten zu. »Sie sind genau wie Ihre Mutter«, bemerkte er breit grinsend. »Wie bitte?«, fuhr sie ihn an. »Meine Mutter!« Der schwer lädierte amerikanische Captain ergriff ihre Arme und wies auf die Treppe. Über die Schulter blickte Stephie Han noch immer an, als 566
sie bereits mit Wu dem Verwundeten half, die Treppe hinabzusteigen, an deren Fuß sie von dem Spalier der sensationslüsternen Journalisten erwartet wurden. Jim Hart blickte durch sein Zielfernrohr und bewegte den Lauf seines Scharfschützengewehrs hin und her. Mal nahm er den weit entfernten Präsidenten ins Visier, dann dessen Tochter, deren Vorankommen durch einen gekrümmt humpelnden Soldaten verlangsamt wurde. Bei starker Vergrößerung konnte er das schmerzverzerrte, geschwollene Gesicht des Mannes erkennen, dem Stephanie Roberts offensichtlich aufmunternde Worte zuflüsterte. Diese beiden, die sich noch auf der chinesischen Seite der Brücke befanden, wo auch Hart in Deckung lag, waren leicht zu treffen. Auf dem rechten Hosenbein des Mannes erblickte Hart eine lange, frische Spur, die man für Urin hätte halten können. Doch an den Flecken, die der Mann, nachdem er einen Moment lang ausgeruht hatte, an der hellen Betonbrüstung hinterließ, konnte Hart erkennen, dass er stark blutete. Offenbar war das auch der Frau nicht entgangen, die ihren verwundeten Kameraden jetzt mehr oder weniger trug. Während seiner einwöchigen Pause hatte Hart gelesen, dass sie viel erlebt hatte. In einem großen Artikel in Time wurde über ihre Erfahrungen in diesem Krieg berichtet. Als er mit der Lektüre begann, glaubte Hart noch, dass man ihre Teilnahme an kleineren Scharmützeln wegen des dramatischen Effekts zu Heldentaten aufgedonnert hatte, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Sie war eine wirkliche Soldatin von der kämpfenden Infanterie. Als Hart erneut den Präsidenten ins Visier nahm, stellte er das Zielfernrohr auf maximale Vergrößerung ein. Mittlerweile hatte Bill Baker die Mitte der Brücke erreicht, wo er, wie mit den Chinesen vereinbart, neben dem Transformatorenhäuschen stehen blieb. Von dort aus beobachtete er, wie sich seine Tochter zwischen den riesigen Löchern in der robusten Brücke langsam ihren Weg bahnte. Man hatte Hart informiert, dass die Chinesen die Brücke eingenommen hatten, bevor sie von amerikanischen Pionieren zerstört werden konnte. Während der Bombardierung der Brükke war ein halbes Dutzend Flugzeuge abgeschossen worden. Jetzt half die Tochter des Präsidenten dem zusammengesunkenen Captain über den nach oben zeigenden, scharfen Rand eines Bombenkraters 567
hinweg. Irgendwie hatte die Stahl-Beton-Konstruktion dutzenden Tausend-Pfund-Bomben standgehalten. Zwar war die Brücke nicht mehr befahrbar, aber zu Fuß konnte man sie überqueren. Sie war deformiert, doch nicht eingestürzt. Vor langer Zeit hatte hier ein Ingenieur ganze Arbeit geleistet. »Es ist doch nur noch ein kleines Stück, John«, drängte Stephie. Sie wollte ihn überreden, wieder aufzustehen. John hatte behauptet, ihm wäre schwindelig, und deshalb hatte er sich hingekniet. Er hatte Blut gespuckt, das jetzt über die sich neigende Asphaltdecke rann. »Drüben wartet ein Krankenwagen auf dich. Komm schon, John. Komm hoch!« Stephie kauerte sich nieder, schob ihre Arme unter seine Achselhöhlen und hievte den stöhnenden Verwundeten wieder auf die Beine. Sein Kopf wackelte, als wäre sein Genick gebrochen. »Komm schon!«, keuchte sie, erschöpft von der Anstrengung, ihn aufrecht halten zu müssen. »Wir sind fast da.« Jetzt sah sie ihren Vater auf sich zukommen, der schon ein paar Schritte über die Stelle hinaus getan hatte, wo er eigentlich warten sollte. »Nein, halt!«, rief sie, während sie ihn zurückzuwinken versuchte. John begriff, was vorging. Stephie hatte ihre Arme um seine Taille geschlungen, und er schlurfte weiter. Bei jedem Schritt drohten seine Knie nachzugeben. Die ganze Zeit über behielt Stephie ängstlich ihren Vater im Auge. Wenn sie nah genug bei ihm war, wollte sie ihn überreden, einfach loszurennen – zurück. Aber was wird dann aus John?, dachte sie. Ihre Gedanken lieferten sich ein Wettrennen mit ihren Füßen. Noch war ihr Vater zwanzig Meter entfernt, und sie musste entscheiden, was zu tun war – bevor sie ihn erreicht hatte. Stöhnend gab John unartikulierte Laute von sich. »Es wird nur noch eine Minute dauern!«, sagte Stephie. »Irgendwas stimmt hier nicht!«, stieß der von Schmerzen geplagte Mann mit dem gebrochenen Unterkiefer unter äußerster Anstrengung hervor. Stephie glaubte schon, dass er auf der Stelle sterben würde, aber John hob einen Arm und zeigte auf ihren Vater. »Es ist ein Trick«, sagte John desillusioniert. »Mein Gott, es ist ein Trick.« Jetzt sah auch sie, was John aufgefallen war. Die Tür des Transformatorenhäuschens in der Mitte der Brücke stand einen Spalt weit offen. 568
»Geh zurück, Dad!«, schrie Stephie, die wie wild mit ihren Armen herumfuchtelte. »Lauf!« Die Tür flog auf, und zwei chinesische Soldaten stürmten nach draußen. Sie rempelten Stephies rennenden Vater hart mit den Schultern an. Als Bill auf dem Asphalt aufschlug, fühlte er sofort das Gewicht der beiden Männer auf sich lasten. Einer schützte den Hinterkopf ihres Vaters mit behandschuhten Händen. Dann stürzten weitere Chinesen aus dem Transformatorenhäuschen, doch sie gerieten sofort in einen verheerenden Kugelhagel. Blutfontänen schossen aus Brustkörben, Köpfe flogen in Stücke, Glieder wurden von Körpern gerissen. Und das alles, bevor das Dröhnen der amerikanischen Maschinengewehre zu hören war. Als dann eine halbe Meile entfernt das laute Knattern anhob, prallten schwere Kugeln von den Brückenträgern ab, und John riss Stephie zu Boden. Exakt in diesem Augenblick rammte ein Chinese ihrem Vater einen Keil in den Mund, um auf der anderen Seite mit einem in einem Latex-Untersuchungsfingerling steckenden Finger etwas zu suchen. Bill schlug um sich, wurde aber von einem Mann zu Boden gepresst, der ihn gleichzeitig filzte. Schließlich hatte der erste Mann gefunden, was er suchte. Er warf die Tablette durch ein Bombeneinschlagsloch in der Brücke. Die schweren amerikanischen Maschinengewehre verstummten, aber dafür eröffneten jetzt chinesische Panzer das Feuer. Lautem Krachen folgten fast simultan Explosionen, die an dem von den Amerikanern gehaltenen Flussufer Rauchsäulen in den Himmel steigen ließen. Dennoch wurde das Feuer nicht erwidert. Die nervösen Amerikaner, die über ihre Kopfhörer mit Sicherheit panische Aufforderungen hörten, auf keinen Fall zu schießen, wahrten Disziplin. Da ihr Präsident sich schutzlos mitten auf der Brücke aufhielt, nahmen sie die schweren Schläge hin. Dutzende verloren ihr Leben. »Lassen Sie sofort das Feuer einstellen!«, brüllte ein wütender Wu über den Lärm hinweg General Sheng an. Alle knieten, krochen auf allen vieren, lagen auf den Bäuchen. Nur Sheng und Wu standen aufrecht da. »Geben Sie sofort den Befehl, des Feuer einzustellen!«, wiederholte Wu. Noch nie in seinem Leben war Wu so zornig gewesen, und das war auch gut so. Er brauchte die Wut und den Adrenalinstoß, den die markerschüt569
ternden Explosionen schweren Artilleriebeschusses bei ihm auslösten. Sheng blickte Wu in die Augen und fuhr dann seinen Nachrichtenoffizier an, der zu seinen Füßen auf dem Bauch lag. »Feuer einstellen!« Der Offizier gab den Befehl weiter, dann verstrichen noch zehn lange Sekunden. Die Panzer feuerten weitere dreißigmal. Wu und Sheng starrten sich an. Nach einem letzten Krachen senkte sich Stille über den Fluss. »Es gibt auch einen ehrenwerten Weg«, sagte Wu ohne bedrohlichen Unterton und nicht einmal nachtragend zu Sheng. Mit weit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund starrte der General den jungen Leutnant an. Als Oberst Li aufstand, hielt er Distanz zu Sheng. Seine Reaktion spiegelte einen hochgradig entwickelten politischen Instinkt. Mehrere gleichzeitig verlaufende Berechnungen führten dazu, dass bei dem kühlen Oberst Li innerhalb kürzester Zeit Neutralität an die Stelle der Loyalität trat. General Sheng hatte einen harten, verschlossenen Gesichtsausdruck. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und seine Lippen waren fest zusammengekniffen. Das hätten wir, dachte Wu. Harts Fadenkreuz tanzte über die Helme der beiden Soldaten, die auf dem Präsidenten lagen. Von den Chinesen lebten auf der Brücke nur noch diese beiden; sieben andere lagen mit verrenkten Gliedern in immer größer werdenden Blutlachen. Aber die beiden anderen, die den Präsidenten am Boden festnagelten, wollten nicht von ihrer Beute lassen. Harts grausiges Dilemma war technischer Natur. Benutzte er die Munition vom Kaliber 50, würden Knochen- und Kevlar-Splitter wie Schrapnell auf den Präsidenten einprasseln. Und wenn an seinem Scharfschützengewehr die Regler gegen den Einfluss des Winds, der Luftfeuchtigkeit und des Luftdrucks nicht aktiviert waren, konnte das anderthalb Zentimeter dicke Geschoss versehentlich in den Schädel des Präsidenten eindringen und an seinem Fuß wieder austreten. Dazu kam noch, dass Hart nur einmal feuern konnte, bevor der dann noch lebende zweite Soldat sich fest an den Präsidenten klammern und diesen als menschliches Schutzschild benutzen würde. Und selbst wenn es Hart gelingen sollte, auch diesen Soldaten noch auszuschalten, würden die Chinesen einfach die ganze Brücke unter Feuer nehmen und außer Baker auch alle anderen töten, die sich mit ihm darauf aufhielten. 570
Jetzt sah Hart, dass sich am hinteren Ende der Brücke eine amerikanische Infanteriekompanie in Bewegung setzte und mit schussbereiten Waffen im Laufschritt auf die Brücke stürmte. Auf der anderen Seite spielte sich bei den Chinesen eine fast identische Szene ab, und bald standen sich die beiden Infanteriekompanien in der Mitte der Brücke gegenüber. Die Lage war hoffnungslos. »Scheiße!«, fluchte Hart leise vor sich hin. In ungefähr fünf Minuten würde es hier ein Feuergefecht geben, und die fünf zwischen den Einheiten eingeklemmten Menschen – unter ihnen der Präsident und seine Tochter – würden mit Sicherheit gemeinsam mit ein paar hundert Infanteristen sterben. Innerhalb eines Sekundenbruchteils änderte Hart sein Ziel Das Fadenkreuz wanderte von den Helmen der Chinesen zu dem ungeschützten Kopf des Präsidenten der Vereinigten Staaten hinüber. »Falls es eine Falle ist«, hatte Hart dreimal über Funk bestätigt, »töte ich den Präsidenten! Richtig verstanden? Over!« Aber Hart drückte nicht ab – er zögerte. Sie hatten nicht gesagt, dass er gleich die erste Gelegenheit beim Schöpf ergreifen sollte. Der chinesische Soldat zerrte schmerzhaft an Bills Haaren, Sein Gesicht war nur fünf Zentimeter entfernt, und Bill roch seinen stinkenden Atem. »Wenn wir die Brücke jetzt nicht verlassen, wird Ihre Tochter sterben«, sagte der Mann auf Englisch. Bill war dem Chinesen so nah, dass er durch dessen Kopfhörer sogar die über Funk durchgegeben Befehle hören konnte. »Sie haben die Wahl, Mr President.« Bill nickte. Die beiden Männer hielten sich dicht an seiner Seite und schirmten ihn ab wie Bodyguards. Bill richtete sich kerzengerade auf, um eine bessere Zielscheibe abzugeben, aber einer seiner beiden Beschützer versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. Bill blieb die Luft weg, und er krümmte sich vornüber. Dann rannten sie mit ihm auf Stephie und den verwundeten Soldaten zu, wobei eine von Bills Händen fest auf seinen Rücken gepresst blieb. »Dad!«, schluchzte Stephie, während sie sich umarmten. Die beiden chinesischen Soldaten drängten sich an sie. Einer bohrte eine kurzläufige Waffe in Bills Rippen, der andere presste sie Stephie unter das Kinn. Jetzt erkannte Bill das geschwollene Gesicht John Burns’, der auf dem Boden 571
saß und aus glasigen Augen zu ihm hinaufstarrte. Zwischen seinen Beinen hatte sich eine Blutlache angesammelt. Einer der beiden Soldaten presste dem Wehrlosen ein Knie gegen die Brust. »Vorwärts!«, befahl der andere. Bill und Stephie richteten sich auf, aber der chinesische Soldat grunzte, als hätte er beim Aufstehen Probleme. Dann fiel er plötzlich auf den Asphalt, wo er vergeblich versuchte, das direkt unter seiner kugelsicheren Weste in seinem Rücken steckende Messer herauszuziehen. John hatte das Messer aus der mittlerweile leeren Scheide am Stiefel des Mannes gezogen. Der Riemen der Maschinenpistole klatschte gegen den Lauf der Waffe, als der noch verbleibende chinesische Soldat es zu John Burns herumriss. Knurrend sprang Stephie los. John packte die Mündung der Maschinenpistole. Die Kugeln durchschlugen seine Hände und trafen sein Gesicht. Stephie rang den Soldaten zu Boden. Noch immer umklammerten die Hände eines nicht mehr wieder zu erkennenden John Burns die rauchende Maschinenpistole. Mit einem wütenden Knurren versuchte Stephie, dem Soldaten die Augen auszukratzen, und der kreischende Chinese versuchte ohne Erfolg, mit einer Hand etwas dagegen zu unternehmen. Mit seiner freien Hand ging er Stephie an die Kehle. Der Würgegriff ließ ihr Gesicht rot anlaufen. Schluchzend rammte sie ihr spitzes Kinn auf die Hand des Chinesen, während sie ihn zugleich mit fünf Fingernägeln zu töten versuchte, die sie in seine Augen bohrte. Kreischend riss der Mann seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Mittlerweile benötigte er beide Hände, um sich zu verteidigen. Stephie schnappte nach Luft. Der Chinese versuchte, sich aufzubäumen, aber Stephie konnte ihre Position auf ihm behaupten und begann ihn langsam, wie in Zeitlupe, zu töten. »Stirb ab, du Arschloch!«, knurrte sie. Der Chinese schrie und versuchte, sie in die Hand zu beißen. Bill entwand John Burns’ blutigen Fingern die Maschinenpistole und presste sie dem Soldaten gegen die Schläfe. »Jetzt wirst du sterben«, sagte Stephie, die sich plötzlich aufsetzte und von ihrem Gegner abließ. Bill drückte ab, und der Feuerstoß aus der MP riss dem Mann den Kopf von den Schultern. Noch immer thronte Stephie über ihrem blutigen Opfer. Sie wischte sich die Hände an der Uniform des Chinesen ab. Es war 572
ihr tatsächlich gelungen, dem Mann ein Auge auszukratzen. Stephie riss Bill die Maschinenpistole aus den Händen, der völlig überrascht war, wie abgebrüht sich seine Tochter in dieser Situation verhielt. Sie ließ das Magazin aus der Waffe springen, griff in die Munitionstasche des Chinesen und lud nach. Ihr Opfer hätte genauso gut nie existiert haben können. Für sie existierten jetzt einzig und allein die anrückenden Chinesen. Bill folgte ihrem Blick. Auch er sah die auf- und abwippenden Helme. »Nein, Stephie.« »Sie kommen«, sagte sie, ohne zu ihrem Vater aufzublicken. »Lauf endlich los!« »Nein!« »Hau ab!« Stephie blickte sich auf der sich neigenden Brücke nach einer Stelle um, wo sie in Deckung gehen konnte. »Nur wenn du mitkommst!« »Du verschwindest, ich bleibe!« »Nein!«, schrie Bill. »Du bist der Präsident der Vereinigten Staaten, und ich bin Soldatin!«, kreischte sie schluchzend. Die chinesischen Soldaten waren schon bedenklich nahe. Einige kletterten auf Brückenpfeiler, um die beiden schutzlosen Amerikaner besser ins Visier nehmen zu können. Bill packte den warmen Lauf der Maschinenpistole und presste ihn auf den Asphalt. Stephie musste die Waffe loslassen. Schluchzend warf sie sich ihrem Vater in die Arme. »John!«, stieß sie immer wieder hervor, während sie sich an Bills Brust ausweinte. »John!« »Er war vom Secret Service, Stephie«, sagte Bill, der den Rücken seiner Tochter streichelte, während die Chinesen immer näher kamen. »Er war in deiner Einheit, um dich zu beschützen. Er hat nur seinen Job getan.« »Ich weiß!«, platzte es aus Stephie heraus, die wie ein Kind schluchzte. »Ich habe es. von Anfang an gewusst! Es war klar! Aber ich liebe ihn, und er liebt…! Ich habe ihn ge…! O Gott! O Gott, warum? Warum, warum nur?« Hilflos fuchtelte Stephie mit ihren Armen herum. Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Ihr ganzer Oberkörper wurde im Krampf geschüttelt. Ihren Kopf und ihren Hals streichelnd, versicherte ihr Bill, dass bald alles in Ordnung kommen würde. Überall um Bill und Stephie herum bezogen schwer keuchende, ver573
schwitzte und verängstigte chinesische Soldaten Position. Jetzt sah Bill über der höchsten Stelle der Brücke auch die Helme und Gewehrmündungen der amerikanischen Infanteristen auftauchen, die das Wettrennen nur knapp verloren hatten. Die Chinesen führten Bill und Stephie zum zu Virginia gehörenden Ufer des Potomac ab, und die Amerikaner feuerten wieder nicht. Wegen der vielen Menschen, die Präsident Baker wie menschliche Schutzschilde umringten und seinen Oberkörper nach unten drückten, war Hart in einer unangenehmen Lage, und es half ihm auch nicht weiter, dass er sein Auge vom Zielfernrohr nahm und zu seiner einzigen Fluchtroute hinüberblickte. Bis zu dem runden schwarzen Loch in der Erde würde er es nie und nimmer schaffen. Das Krachen seines Scharfschützengewehrs würde meilenweit zu hören sein, und er würde die Waffe fallen lassen und lossprinten müssen. Schüsse aus immer schwereren Waffen würden durch die Wälder hallen, und schließlich würden ihn die Kampfpanzer beharken, die jetzt an der Straße unter ihm in Stellung gingen. Sollte er es durch irgendeinen Zufall bis zum rückwärtigen Abhang und der finsteren Betonröhre schaffen – was dann? Am anderen Ende konnte ihn ein Stahlgitter empfangen, und dann saß er ihn der Falle. Das wäre sein Ende, er würde sterben. Jetzt hatten Baker und seine Tochter das Ende der Brücke erreicht. Harts Fadenkreuz pendelte sich auf dem Kopf des Präsidenten ein, aber es war in der augenblicklichen Situation nicht mit Sicherheit möglich, ihn durch einen perfekten Kopfschuss zu töten. Doch jetzt traten die menschlichen Schutzschilde plötzlich zur Seite, und der Präsident und seine Tochter wurden in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht. Erstaunt darüber, dass sich ihm unvermittelt eine so günstige Gelegenheit bot, dachte Hart irritiert noch einmal über die Lage nach. »Sie dürfen unter keinen Umständen zulassen, dass er überlebt«, hatten ihm seine Einsatzleiter eingebläut. Durch sein leistungsstarkes Zielfernrohr beobachtete Hart den Präsidenten, der jetzt die Stufen zur Bühne hinaufschritt. Plötzlich schienen Hart seine Befehle nicht mehr so plausibel. Er konnte seinen Oberbefehlshaber nicht einfach so exekutieren. Zum ersten Mal schoss ihm das Wort »ermorden« durch den Kopf, und das behagte ihm 574
überhaupt nicht. Schon als die Falle der Chinesen augenfällig wurde, hatte er ausdrückliche Befehle ignoriert, und auch jetzt konnte er sich nicht entschließen, was er tun sollte. Oder wann er zuschlagen sollte. Stattdessen waren Harts Gedanken bei seinem Präsidenten, der die letzten kostbaren Augenblicke eines Lebens durchlebte. Wo mag er sich verstecken?, fragte sich Bill Baker, während sein Blick über die hohen Hügel glitt. Obwohl er versuchte, Abstand zu Stephie zu gewinnen, wollte diese nicht von seiner Seite weichen. Sie ließ den Kopf hängen, doch Baker wartete hoch erhobenen Hauptes auf das Ende. »Keine Sorge«, flüsterte ein junger chinesischer Offizier Stephie zu. »Leck mich am Arsch«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. Bill starrte den jungen Soldaten mit dem Gesichtsverband an, der offensichtlich Weiße unter seinen Vorfahren hatte und nur zur Hälfte Asiate war. Auch der Chinese schaute ihn mit einem irritierten Blick an. »Darf ich dir meinen Sohn Han Wushi vorstellen, Bill«, sagte Han Zhemin, der plötzlich neben dem Präsidenten auftauchte und ihm den Blick auf die Hügel versperrte. Drück endlich ab, dachte Bill zähneknirschend, während er darauf wartete, dass sein Kopf explodierte. Alles würde so schnell gehen, dass er es nicht mehr mitbekommen würde. Vor der Bühne rangelten die Kameramänner um die besten Plätze. Der Medienrummel war Bill vertraut. Möglicherweise lag das an dem Schauspieler in ihm – vielleicht auch an dem Politiker –, aber er konnte vor seinem geistigen Auge exakt die Bilder sehen, die der Kameramann durch sein Objektiv erblickte. Die Kameras würden auf ihn und Stephie schwenken, Han Zhemin übergehen, und sich dann wieder auf dessen Sohn richten. Immer wieder auf Han’s Sohn. Denn dieser junge Offizier der chinesischen Armee war der Star der Show. Bill und Stephie hatte man die zweite Hauptrolle zugeschrieben, Han war eher eine Zugabe. »Präsident Baker«, ertönte eine dünn und gebrechlich klingende Stimme. Als Han zur Seite trat, erblickte Bill einen kleinen, breit lächelnden General. Dicht hinter ihm stand etwas seitlich ein Adjutant. Wieder war die Situation schwierig für jeden Scharfschützen, der sich in den bewaldeten Hügeln hinter ihnen verstecken mochte. »Ich bin General Sheng. Sie stehen unter Arrest. Ihnen wird vorgeworfen…« 575
»Nein«, unterbrach Han’s Sohn, der junge Offizier mit dem Gesichtsverband. Er zog seine Pistole und drückte ab. Bill zuckte zusammen, Han ebenso. Stephie packte ihren Vater, als wollte sie ihn zu Boden reißen. Der alte General fiel tot zu Boden. Das aus einem Loch in seiner Stirn strömende Blut sammelte sich neben ihm zu einer Lache. Ein weiterer Schuss ließ Bill erneut zusammenzucken. Stephie riss ihn zurück und stellte sich schützend vor ihn. Der Adjutant des Generals lag tot neben seinem Chef. Noch immer hielt die ausgestreckte Hand des Leutnants die rauchende Pistole in die Luft. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Han Zhemin auf seinen Sohn und die rauchende Mündung. Bill sah, dass ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand und dass er befürchtete, Wu würde ihn ebenfalls umbringen. Niemand wagte einzuschreiten. Bill stieß Stephie zur Seite. »Wu«, flüsterte Han mit einer demütigen Verbeugung. Außer dem Surren der elektronischen Motoren von zweihundert Videokameras war nichts zu hören. Wu ließ die Waffe sinken. Keiner der tausend Menschen vor der Bühne sagte auch nur ein einziges Wort. Bill fiel auf, dass Wu die Pistole nicht wieder in das Holster schob. Stattdessen umklammerte er krampfhaft ihren Griff – wahnsinnig, wütend oder erregt. »Tu es nicht, Wu«, sagte Stephie plötzlich, den Blick auf die Waffe geheftet. »Noch ist nicht alles vorbei. Tu es nicht, Wu, tu’s nicht.« Noch immer starrte Stephie auf die Pistole. Jetzt begriff Bill, dass der junge Offizier darüber nachdachte, seinem eigenen Leben ein Ende zu machen. Bill legte seine Arme um Stephie, die sich an ihn schmiegte und ihren Kopf an seine Brust legte. Mit tränenfeuchten Augen starrte Wu auf die Umarmung von Vater und Tochter. Irgendjemand in der Menschenmenge vor der Bühne schrie etwas auf Chinesisch, und sein Ruf wurde fast sofort von anderen aufgegriffen. Aus den Kehlen von dutzenden, schließlich hunderten Soldaten stiegen ausgelassene, rhythmische, bewundernde Schreie auf. Bill verstand kein Wort Chinesisch, aber die drei euphorisch hervorgestoßenen Silben verrieten ihm alles. 576
»Han…« »Wu… » »… shi!« Das Geschrei der Soldaten vor der Bühne wollte kein Ende nehmen. Harts Finger ruhte fest auf dem kalten Abzug seines Scharfschützengewehrs. Wieder hatte sich das Fadenkreuz auf Bill Bakers Kopf eingependelt. Für diese spezielle Situation gab es keine ausdrücklichen Befehle. »Falls ein chinesischer Leutnant einen chinesischen General umbringt, werden Sie…« Nein, für diesen Fall gab es keinen Plan, und Hart war wieder auf seine ursprünglichen Befehle zurückgeworfen. »Falls er gefangen genommen wird, entscheide ich mich für den Präsidenten!«, hatte Hart seinen ihn bedrängenden, unbekannten Einsatzleitern gleich viermal bestätigt. In diesem einen Punkt waren seine Anweisungen von kristallener Klarheit. Ausnahmen gab es nicht. Ungewissheit war nicht vorgesehen, nähere Bestimmungen und Modifikationen existierten nicht. Zum Teil ging Hart davon aus, dass er mehr oder weniger automatisch abdrücken würde und dass er damit nicht nur Bill Bakers Leben, sondern indirekt auch seinem eigenen ein Ende bereiten würde. Doch ganz plötzlich schien der Abzug seinem Finger zu viel Widerstand entgegenzusetzen, und er lockerte den Druck. Während der chinesische Leutnant den Präsidenten und seine Tochter von der Bühne geleitete und dann mit ihnen auf die Brücke zuging, kamen sie an einer Reihe wartender Limousinen vorbei. Hart nahm den Finger ganz vom Abzug und benutzte sein Zielfernrohr nur noch wie ein Fernglas. Als sie auf der Brücke waren, hatte Hart schon begonnen, verstohlene Blicke auf das Abflussrohr auf dem Abhang zu seiner Linken zu werfen. Plötzlich empfand er ein Gefühl zunehmender Leere. Er verspürte das dringende Verlangen, sich eine mögliche Zukunft vorstellen zu können. Was wird aus mir, wenn ich es überstehe?, fragte er sich beunruhigt. Auf diese Frage fand er keine Antwort, und er verlor sein Zeitgefühl. Von Zukunftsplänen bedrängt, blickte er immer seltener zur Brücke hinüber. Er musste ein neues Leben finden, und zwar schnell. Ein anderes Leben. Wu wandte sich um, um Präsident Baker und Stephanie Roberts zu warnen, die ihm schweigend folgten. Vorsichtig zwängten sie sich an dem 577
großen Bombeneinschlagsloch in der Mitte der Straße vorbei, hinter dem die weiße Fahrbahnmarkierung wieder zu sehen war. Erneut drehte sich Wu zu Vater und Tochter um, die Arm in Arm gingen. Die Tochter stützte sich erkennbar ein bisschen auf Bill, der seinen Blick weiterhin auf Wu heftete. Wu war klar, dass er eigentlich an das denken sollte, was jetzt vor ihm lag. Das Ganze glich einem Schwindel erregenden Wirbelwind – alles war von den besten Leuten bis ins letzte, sei es auch noch so kleine Detail geplant worden. Er atmete tief die kalte Luft ein. Dieser Ort dort, das war die Freiheit, und vielleicht war es das letzte Mal für eine Weile, dass er die süße Luft der Freiheit einatmen würde. Als sie sich den drei tot in der Mitte der Brücke liegenden Soldaten näherten, fiel Wu auf, dass die Gesichter des amerikanischen Captain und eines chinesischen Soldaten grausam entstellt waren. Der zweite chinesische Soldat hatte einen geschockten Gesichtsausdruck. In seinem Rücken steckte ein Messer. Stephanie Roberts, noch immer Arm in Arm mit ihrem Vater, starrte mit einem leeren Blick auf die Leichen. Wu geleitete sie zur Mitte der ächzenden, rostigen Brücke. An dem Transformatorenhäuschen lagen sieben tote chinesische Soldaten. »Stehen bleiben!«, schrie jemand auf Englisch, der sich hinter einem deformierten Brückenpfeiler verbarg. Mit einer Handbewegung gab Präsident Baker den amerikanischen Soldaten zu verstehen, dass sie ihre Waffen sinken lassen und Wu nicht weiter ins Visier nehmen sollten. »Können wir reden?«, fragte Wu Präsident Baker. »Entschuldige«, fügte er in Stephies Richtung hinzu. »Unter vier Augen, wenn es dir nichts ausmacht.« Stephie ging auf die wartenden amerikanischen Soldaten zu. Zwei Männer mit Gewehren und ein Sanitäter stürmten ihr entgegen. »Mir fehlt nichts«, sagte sie, während sie hilfsbereite Hände zur Seite schob. »Aber dort hinten liegt ein gefallener amerikanischer Captain. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie…« Sie brauchte ihren Satz nicht zu beenden. Durch ein Handzeichen bedeutete der First Lieutenant einer Squad, die Brücke hinabzulaufen. Stephies Blick folgte ihnen, und dabei fiel ihr auf, dass sich ihr Vater angeregt mit 578
Wu unterhielt. Zumindest Bill wirkte sehr lebhaft. Dagegen erschien Wu ruhig und gefasst. Wenn ihr Vater Fragen stellte, nickte Wu, schüttelte er wütend und ungläubig den Kopf, redete Wu unnachgiebig auf ihn ein. Aber Wu’s Miene blieb ausdruckslos. Ihr Vater wirkte zunehmend beunruhigt. »Was zum Teufel macht er da?«, fragte ein Unteroffizier den First Lieutenant. »Er redet zu lange«, sagte der Offizier zur Tochter des Präsidenten. Stephie kehrte zu den beiden Männern zurück. »Ich traue Ihnen nicht«, hörte sie ihren Vater sagen. »Doch, das tun Sie«, antwortete der chinesische Leutnant. Als Stephie näher kam, unterbrachen sie ihr Gespräch. Aber ihr Vater schüttelte noch immer den Kopf. »Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte er schließlich. Fast schienen Wu’s Lippen von einem Lächeln umspielt zu sein. »Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen.« Damit schien der Wortwechsel beendet zu sein. Mit offenem Mund starrte Stephies Vater Wu an. »Wir müssen gehen, Dad«, sagte Stephie. Besorgt die Stirn runzelnd, fixierte Bill Wu, aber schließlich nickte er. Stephie wandte sich ihrem Cousin zu. »Warum kommst du nicht mit uns?«, schlug sie vor, während sie Wu’s Hände ergriff. »Geh mit uns über diese Brücke, auf unsere Seite des Ufers. Wenn du zurückkehrst, werden sie dich mit Sicherheit hängen!« Wu schwieg. »Nein«, sagte Bill, der Wu anstarrte. »Sie werden Ihnen nichts antun, oder?«, fragte er. »Vermutlich wird das Gegenteil der Fall sein.« Wu’s Gesichtsausdruck gab nichts preis. Dann blickte er auf Stephies Hände hinab. »Komm trotzdem mit uns!«, sagte Stephanie, die seine Hände drückte. »Ich kann nicht«, antwortete Wu. »Und warum nicht?« Jetzt wurde Stephie durch die im Laufschritt vorbeieilenden amerikanischen Soldaten abgelenkt, die einen schwarzen, an den Ecken mit Tragegriffen versehenen Leichensack schleppten. Wu zog seine Hände zurück. »Ich bin Chinese!«, rief er aus, seinen Gefühlen freien Lauf lassend. Doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. Bedächtig wiederholte er den Satz. »Ich bin Chinese.« 579
»Führen Sie Ihre Befehle aus!«, brüllte der Einsatzleiter über Funk. Eine Antwort war Hart zu riskant. Er lag reglos in Deckung und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass man seine Antwort hören konnte. Darüber hinaus bestand auch die Möglichkeit, dass man ihn vielleicht zu überzeugen versuchen würde, doch noch auf den Präsidenten zu schießen. Deshalb lag er nur mucksmäuschenstill da und lauschte den hektischen, verzweifelten Stimmen. »Feuer eröffnen!«, befahl eine Stimme. »Schießen Sie, verdammt«, sekundierte ein zweiter Mann. »Erledigen Sie ihn auf der Stelle!«, drängte ein dritte Stimme. Aber die Stimme des einäugigen Colonels war nicht darunter. Später, so plante Hart, würde er den Mann aufsuchen und herauszufinden versuchen, wer diese Arschlöcher waren, die ihn hier über Funk nervten. Als der Präsident und seine Tochter die letzten Meter rannten und dann zwischen den amerikanischen Soldaten verschwanden, die die Brücke nicht verlassen hatten, war durch Harts Kopfhörer schlagartig nichts mehr zu vernehmen. Der chinesische Leutnant mit dem weißen Gesichtsverband wurde von Kameramännern umringt. In einem schwarzen, gepanzerten Kampffahrzeug traf ein großes Kontingent von Männern ein, die keine grünen Uniformen, sondern schwarze trugen. Sie umringten den jungen Leutnant, der aber ganz offensichtlich nicht festgenommen wurde. Stattdessen nahmen die Sicherheitskräfte die Befehle des jungen Offiziers entgegen. Die Soldaten in den Tarnanzügen machten einen großen Bogen um sie. Einem verdutzten chinesischen Zivilisten in einem schwarzen Anzug wurde die Tür seiner Limousine förmlich ins Gesicht geknallt. Als der Wagen beschleunigte, zuckte der Mann ängstlich zusammen. Damit war die Vorstellung beendet, jetzt musste nur noch aufgeräumt werden. Einige Journalisten schossen noch ein paar makabere Fotos von den blutigen Leichen auf der Bühne, dann hatten alle für heute die Nase voll. Und es war ja auch ein ereignisreicher Tag, dachte Hart. Möglicherweise ein historischer. Er war Zeuge der Ereignisse gewesen, hatte aber keine Ahnung, was sie bedeuten mochten. Obwohl er jede Menge Zeit zum Nachdenken hatte, während er auf den Einbruch der Dunkelheit wartete, konnte er sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, was hier gerade passiert war. Unter ihm leerte sich das Tal, an Patrouillen hatte offensichtlich niemand 580
mehr Interesse. Die Leichen des Generals und seines Adjutanten wurden – ziemlich respektlos, wie Hart schien – auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen. Als im Westen der Himmel dunkel wurde, schien Hart der Zeitpunkt gekommen, den Kontakt mit Maryland wieder aufzunehmen, aber die Funkverbindung war tot. Am anderen Ende meldete sich niemand, und daraus schloss er, dass dies sein letzter Auftrag gewesen war. Nach seinem strapaziösen nächtlichen Geländemarsch und dem Tag, den er in Deckung liegend verbracht hatte, schmerzten schon die einfachsten Bewegungen fürchterlich. Doch als sich seine Muskeln lockerten, fühlte er sich allmählich besser. Nachdem er die Eisenbahnschienen erreicht hatte, lief er praktisch schon wieder im Dauerlauf. Weil er ein klickendes Geräusch vernommen zu haben glaubte, ließ er sich abrupt zu Boden fallen. Anschließend ging er in einem sehr viel langsameren Tempo weiter. Als er das Klicken zum zweiten Mal hörte, warf er sich erneut zu Boden. Weit vor ihm, wo die eingestürzte Eisenbahnbrücke, die parallel zu der Brücke des Highways 3101 verlief, ins Wasser hing, erkannte er durch seine Infrarot-Nachtsichtbrille ein winziges glühendes Pünktchen. Als er sich das Zielfernrohr des Scharfschützengewehr vor ein Auge hielt, konnte er dort die Entfernung ablesen – hundertfünfzig Meter. Wieder trug ein kalter Windstoß das Klicken zu ihm herüber – Hart stand in Windrichtung. In seinem Fadenkreuz tauchte das helle Gesicht eines chinesischen Soldaten auf, der gerade mit einem störrischen Feuerzeug eine lange Pfeife anzuzünden versuchte. Zwei seiner Kameraden hielten sich im selben Schützenloch auf und versuchten, mit ihren Handschuhen die Flamme abzuschirmen. Hart stand auf und lief das ausgetrocknete Flussbett hinab. Bei der Betonröhre angelangt, sah er durch seine Brille deutlich den rot glühenden Kreis am hinteren Ende. Die Luft schien rein zu sein. Der Wind trug das Gelächter der drei Chinesen zu ihm herüber. Wären sie nicht ganz allein gewesen, hätten sie sich vermutlich nicht getraut, Marihuana zu rauchen. Offensichtlich glaubten sie sich mitten im Niemandsland. Bevor er sich auf den Weg machte, dachte Hart noch kurz darüber nach, ob er die Chinesen töten sollte. Er hätte das ohne Lärm erledigen können. Doch dann überlegte er es sich anders und verschwand in der Betonröhre. Am hinteren Ende war kein Gitter angebracht. 581
Im Hyatt Regency, Richmond, Virginia 29. Dezember, 1630 Uhr Ortszeit Wie ein Einbrecher schlich sich Wu in seine Hotelsuite. Aus dem Schlafzimmer hörte er, wie Shen Shen ein populäres amerikanisches Lied vor sich hin summte. Auf dem gemachten Bett, neben ihrem grünen Matchbeutel, lagen fünf farblich aufeinander abgestimmte DesignerReisetaschen. Als Shen Shen frisch geduscht ins Zimmer trat, trug sie zwar einen Slip, aber keinen Büstenhalter. Sie faltete ein makellos weißes Morgenjäckchen zusammen und zog dann den Reißverschluss einer Tasche auf. Als sie Wu schließlich sah, rannte sie mit wippenden Brüsten auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Sie presste sich fest an ihn und küsste sein Gesicht und seine Lippen. Als Wu sich aus ihrer Umarmung befreite, war Shen Shen alarmiert. »Ich bin glücklich, dass du den alten Scheißkerl umgelegt hast!«, platzte es aus ihr heraus. »Und Li gleich dazu! Ich habe davon geträumt, dasselbe zu tun! Ich weiß gar nicht, wie oft ich diesen schmierigen alten Sack im Traum…!« Wu brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu blicken. »Du bist ein Held! Du musst die Zeitungen sehen. Ich habe mit meiner Mutter telefoniert. In China zeigen sie immer wieder die Aufnahmen von den Ereignissen an der Brücke, und dann strahlen sie Filmmaterial von Shengs Gräueltaten aus! Jetzt geht alles seinen Weg!« Wu suchte nach seiner Tasche und spürte, dass sie ihn dabei beobachtete. »Wu?« Er warf seine Reisetasche über die Schulter. »Wu?«, wiederholte Shen Shen. Ihre Stimme und ihre Augen verrieten die Frage, die sie nicht zu stellen wagte. Als sie ihre Brüste mit einem Arm verdeckte, war dies das erste Anzeichen von Schamgefühl, das Wu bei ihr feststellte. »Ich muss gehen«, sagte er. »Was ist los?«, fragte Shen Shen, die keinerlei Anstalten machte, den Weg freizugeben. »Ich weiß, für wen du arbeitest«, sagte Wu. Shen Shen stürzte auf ihn zu, zügelte dann aber ihr Temperament und blieb dicht vor ihm stehen. Damit er nicht ging, legte sie ihre Hände auf seine Brust. »Hat dein Vater dir erzählt, dass ich für den Premierminister arbeite? Es ist nicht wahr!«, fügte sie hinzu, als wäre durch diese Erklä582
rung wieder alles in Ordnung. »Er glaubt das nur!« Sie blickte sich im Zimmer um. »Die Wahrheit ist«, flüsterte sie, »dass ich für den Verteidigungsminister arbeite!« Wu spürte ihren warmen Atem an seinem Hals. »Ich weiß«, erwiderte er kühl. Schockiert wich Shen Shen einen Schritt zurück. »Woher?« »Der Verteidigungsminister hat’s mir erzählt«, antwortete Wu. Jetzt wirkte Shen Shen völlig verwirrt. Ihr Blick irrte schnell und unstet hin und her, als litte sie an der Bewegungskrankheit. »Du…? Du hast mit ihm gesprochen? Mit dem Verteidigungsminister?« »Ich muss jetzt gehen«, sagte Wu und versuchte, um sie herumzukommen. Aber Shen Shen trat ihm in den Weg und packte seine Arme. »Gehst du zurück nach Peking, Wu?« Er antwortete nicht. »Sag’s mir! Was wird geschehen?« Wu verzog den linken Mundwinkel. »Sag dem Verteidigungsminister doch einfach, dass ich Ja gesagt habe.« Sie wartete, aber offenkundig hatte Wu sonst nichts zu sagen. »Ja wozu?«, fragte sie. Wu zwängte sich an ihr vorbei. »Ja wozu, Wu?«, schrie sie. »Sag’s ihm einfach.« Mehr hatte Wu ihr nicht mitzuteilen. Er sah noch, dass sie auf dem Teppich auf die Knie sank, dann schloss er die Tür. Im Flur wartete seine Armada von schwarz gekleideten Sicherheitskräften. Wu nickte, und der Chef des Sicherheitskommandos erteilte seine Befehle. Dann gingen sie mit zielstrebigen Schritten auf den Aufzug zu.
Hauptquartier der chinesischen Zivilisten, Richmond 29, Dezember, 1900 Uhr Ortszeit Han’s Berater waren ratlos. Niemand hatte vorher etwas von Wu’s mörderischen, aufrührerischen Plänen geahnt, und auch jetzt wussten sie nicht mehr. Sie saßen um einen Konferenztisch in einem Haus, das einst der Sitz der Macht gewesen, nun aber nur noch ein ganz normales, verfallendes Bürogebäude war. »Es geht das Gerücht um«, sagte die Chefin von Han’s 583
Nachrichtenabteilung, »dass Sheng einen Coup gegen den Verteidigungsminister plante.« Han rollte die Augen. »Es gibt keinen Coup!«, fuhr er seine Mitarbeiterin an. »Das war gezielte Desinformation!« Dieser Ausbruch trug eher wenig dazu bei, eine offenere Diskussion zu befördern. Es dauerte ein bisschen, bis sich einer von Han’s mutigeren Beratern zu Wort meldete. »Wir können nicht einfach nur herumsitzen, wir müssen etwas tun! Wir müssen Macht ausüben, und sei es auch nur darum, damit alle sehen, dass wir noch Macht haben. Wenn wir Stärke demonstrieren, werden sich die Leute um uns scharen. Die Menschen stehen nicht hinter dem Militär. Wenn wir Stärke zeigen, werden sie uns unterstützen, sich fügen und unsere Macht anerkennen.« Und dadurch wird es erneut erstarken, dachte Han. Sie sind fast am Ziel. »Haben Sie versucht, mit dem Premierminister zu sprechen, Administrator Han?« Da Han keinen Rückruf seines Onkels erhalten hatte, ignorierte er die Frage des Beraters. »Oder mit dem Handelsminister oder dem Minister für Staatssicherheit?« In Peking würde niemand mehr Han’s Telefonanrufe annehmen, nicht einmal sein Vater oder sein Onkel. Er spürte förmlich, wie seine Macht stündlich dahinschwand. Der Chef der kürzlich in Richmond eingetroffenen Spezialeinheiten des Sicherheitsministeriums hatte auf keinen von Han’s zahlreichen Anrufen reagiert. Shen Shen hatte unter Tränen berichtet, Wu sei aus dem Hotel ausgezogen. Einige von Han’s Mitarbeitern waren plötzlich verschwunden. Just in diesem entscheidenden Augenblick hatten sie einen außerplanmäßigen Heimaturlaub angetreten, und mit Sicherheit wussten sie, dass es bei ihrer Rückkehr keinen Platz mehr für sie geben würde. Wenn sie überhaupt zurückkehren, dachte Han verzweifelt. »Also, was werden wir tun?«, fragte eine Beraterin niedergeschlagen. Das Offensichtliche entgeht ihnen immer noch, dachte Han frustriert. Seufzend schüttelte er den Kopf. Alle starrten ihn schweigend an und warteten darauf, dass er das Wort ergriff. »Ich sage Ihnen, was wir tun werden«, verkündete Han schließlich. »Wir werden einen Coup starten.« Verdutzte Blicke richteten sich auf ihn. »Nicht in Peking!«, schrie er. »In Washington! Lassen Sie die Parole rausgehen. Die Losung, die Parole! Schicken Sie sie raus.« Han schaltete auf Englisch um. »›Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen.‹« 584
Weißes Haus, Wohntrakt 29. Dezember, 2300 Uhr Ortszeit Bill Baker wartete vor Stephies Schlafzimmer in einem Sessel. Gesellschaft leisteten ihm nur die schweigenden Sicherheitsbeamten vom Secret Service, die keine Miene verzogen, kugelsichere Westen trugen und mit Scharfschützengewehren bewaffnet waren. Als die Tür sich öffnete, stand Bill auf. Rachel Roberts und ihr Mann traten aus Stephies Zimmer in den Korridor. Rachel kam zu Bill, blickte aber weiterhin auf den Orientteppich. »Der Arzt sagt, sie braucht Ruhe«, bemerkte sie. Damit wollte sie wohl andeuten, dass Bill seine Tochter nicht sehen konnte. Dann stürmte sie in das benachbarte Schlafzimmer, wo sie mit ihrem zweiten Mann die Nacht verbringen würde. Hank Roberts, Stephies Stiefvater, streckte seine Hand aus, und Bill schüttelte sie. »Danke«, sagte Hank, bevor er zu weinen begann. Bill umarmte ihn und spürte, wie ihm selbst Tränen in die Augen traten. Nachdem sie sich getrennt hatten, klopfte Bill leise an Stephies Tür. »Komm rein«, sagte sie mit schriller Stimme. Sie lag in dem großen Bett und trug ein Spitzennachthemd. Ihr Kopf ruhte auf zwei dicken Kopfkissen, und sie hatte die Bettdecke mit beiden Händen bis unter ihre Schultern gezogen. Bill setzte sich auf die Bettkante. Die frisch gebadete Stephie blickte auf ihr Nachthemd. »Das hat Mom mir gekauft«, bemerkte sie. Der Arzt hatte behauptet, ihre Wunden seien nicht besonders schwerwiegend. Zumindest diejenigen, die man sehen konnte. Stephie schniefte. Unter ihren geröteten Augen sah Bill dunkle Ringe. »Ich schätze, ich sehe darin ziemlich bescheuert aus.« Stephie blickte immer noch auf ihr mädchenhaftes Nachthemd. Erst lachte nur Bill, dann fiel auch Stephie ein, doch ihr Lachen endete in Tränen. Sie setzte sich auf, und die beiden umarmten sich. Wieder versuchte Bill, seine Tochter zu beruhigen, aber er achtete sorgfältig darauf, nicht ihren Rücken zu berühren. Der Arzt hatte ihm ein Foto ihres mit roten Striemen überzogenen Rückens gezeigt. Bill musste gegen die kalte Wut ankämpfen. Stephie ließ sich wieder auf die Kissen zurücksinken und erzählte ihrem Vater dann von John Burns. Manchmal lachte sie, doch meistens endeten die Anekdoten in Tränen. Bill berichtete, wie er John 585
kennen gelernt hatte, der eines der jüngsten Mitglieder des Sicherheitskommandos des Präsidenten gewesen war. Nachdem er sich freiwillig erboten hatte, Stephie zu beschützen, lud Bill ihn ins Oval Office ein. Vor Stephie wiederholte Bill die Gelöbnisse, die John unaufgefordert abgelegt hatte, nicht. Aber er hatte dem Präsidenten versprochen, im Notfall sein Leben zu opfern, um Stephie zu retten. Genau das hatte Bill hören wollen, und er hatte den Einsatz des jungen Agenten mit einem kurzen Nicken besiegelt und damit praktisch sein Todesurteil unterzeichnet. »Da ist noch was«, sagte Stephie plötzlich aus heiterem Himmel, »was Merkwürdiges. Leutnant Wu, dieser chinesische Offizier, der uns gerettet hat, behauptet, mein Cousin zu sein.« Sie musterte Bills ausdrucksloses Gesicht. »Er behauptet, Tante Cynthia sei seine Mutter.« Stephie wartete auf Bills Reaktion. »Hast du deine Mutter gefragt?« Stephie schnaubte verächtlich. »Die würde mir nichts erzählen. Wirst du es tun?« »Dafür ist wirklich eher deine Mutter zuständig.« Stephie rollte nur die Augen und tat Bills Vorschlag mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Habe ich etwa nicht das Recht, über diese Dinge Bescheid zu wissen?«, fragte sie in flehendem Tonfall. »Schließlich bin ich kein Kind mehr!« Bill bemühte sich, sie dadurch zu besänftigen, dass er halbherzig ihre Mutter in Schutz zu nehmen versuchte, aber letztlich würde sich Stephie nur mit der Wahrheit und der ganzen Geschichte zufrieden geben. »Han Zhemin hat deine Mutter verführt und unsere Ehe zerstört«, begann Bill. Verächtlich und ungläubig stieß Stephie die Luft aus. Das hörte sich so gar nicht nach der Rachel an, die sie kannte. Bill gab sich alle Mühe, es ihr zu erklären. Rachel sei jung gewesen, Han reich und charmant. Han habe das gehabt, was sie bei ihrer Hochzeit in Bill gesehen habe. Aber ihn selbst treffe genauso viel Schuld wie sie. Damals habe er ihr nicht erzählt, dass er Hollywood zu verlassen beabsichtige, um das nicht eben spektakuläre Leben eines Studenten zu führen. Demgegenüber habe Han Rachel alles bieten können, was sie ersehnte: luxuriöse Privatjets, Reisen in die aufregenden Metropolen dieser Welt, exorbitanten Reichtum. Han sei schon mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden und habe nie etwas anderes gekannt, als sein Vermögen auszugeben. 586
»Dann war sie also gar nicht diese ewige Kirchgängerin, diese Heilige aus der Kleinstadt, als die sie sich immer so gern präsentiert!«, sagte Stephie aufgebracht. »Sie war einfach nur eine raffgierige Hure!« »Stephie!«, mahnte Bill. »Sie war jung! Ich auch! Wir alle waren jung, und junge Menschen machen Fehler!« »Als Han Zhemin auf der Bühne an der Brücke gesagt hat, ich wäre wie meine Mutter…« Sie war entrüstet und knurrte verärgert. »Dieser Scheißkerl!« »Ja, er ist ein Scheißkerl«, stimmte Bill zu. »Ungefähr einen Monat nach ihrer gemeinsamen Abreise nach Hongkong stellte deine Mutter fest, dass sie schwanger war – mit dir. Sie rief ihre Schwester an – deine Tante –, die darauf ebenfalls nach Hongkong flog. Damals hat Rachel Cynthia gebeten, nach Peking zu reisen und Han mitzuteilen, dass sie ein Kind erwartet. Sie sollte ihm sagen, dass es mein Kind war.« »Mom war in Hongkong und Han in Peking?«, fragte Stephie. »Warum?« »Wahrscheinlich hatte er schon die Nase voll von ihr«, antwortete Bill. »Also flog Tante Cynthia nach Peking, wo Han sie auch sofort gebumst hat?« »Stephie!« Bill zog eine Grimasse. »So muss man das wirklich nicht ausdrücken.« »Mein Gott! Aber genau so war es doch, oder? Er hat sie ›verführt‹, oder wie immer du das lieber ausdrücken würdest. Er hat’s ihr besorgt, und das Ergebnis war der gute Wu!« »Du solltest dich jetzt besser etwas ausruhen«, bemerkte Bill. »Ich will, dass du mit mir sprichst!«, sagte Stephie. »Bitte, geh jetzt nicht!« Er sah in ihrer Aufforderung mehr, als sie hineingelegt hatte, und ihm traten die Tränen in die Augen. »Entschuldige«, murmelte Stephie, während sie ihre Arme um ihn legte. »Es tut mir Leid. Ich hab’ dich lieb, Dad. Ich wollte nur sagen, dass wir noch gar nicht über dich geredet haben. Erzähl mir von dir.« Bill machte sich aus ihrer Umarmung frei und zuckte die Achseln, dann tupfte er ihr die in ihren langen Wimpern hängenden Tränen ab. »Ich will alles über dich wissen«, sagte Stephie. Lächelnd nickte er. »Also, wer ist diese Clarissa Leffler, von der ich immer wieder lese? Liebst du sie?« Diese Frage durchbohrte Bill wie ein Pfeil, den er mit jedem Herzschlag 587
erneut spürte. »Das ist eine komplizierte Geschichte«, murmelte er, während er mühsam nach den richtigen Worten suchte. »Also liebst du sie«, kommentierte Stephie. »Aber irgendwas stimmt nicht.« Bill schnaubte verbittert. Ein Lächeln brachte er nicht zustande. »Aber was könnte nicht stimmen? Meiner Ansicht nach seid ihr ein großartiges Paar! Du bist der Präsident, sie ist die Tochter des Sprechers des Repräsentantenhauses. Sie ist wunderschön.« Stephie griff nach ihren unordentlichen, ungekämmten Haaren, als wollte sie die Schönheit der Geliebten ihres Vaters dadurch unterstreichen. »Und sie ist so gebildet.« »Das wirst du auch bald sein, Stephie«, bemerkte Bill. »Ich weiß, wie gut deine Noten und deine Zugangsvoraussetzungen für das College waren. Du kannst dir das College aussuchen.« »Außerdem bin ich ja die Tochter des Präsidenten«, sagte Stephie mit einem breiten Grinsen. Aber sie schien sich nicht selbstironisch über ihre Privilegien lustig zu machen, sondern ihren »Titel« – First Daughter – zu genießen, weil er ihr so neu erschien. »Außerdem bist du Kriegsveteranin«, fügte Bill lächelnd hinzu. »Also, was stimmt nicht mit meiner neuen Mom, dieser Clarissa?«, fragte Stephie in einem mädchenhaften, neckenden Ton. »Sie spioniert für die Chinesen«, antwortete Bill, fast ohne nachzudenken. Stephie amüsierte sich, aber dann verging ihr das Lachen. »Wie bitte?«, rief Stephie aus, als sie begriff, dass ihr Vater keinen Witz gemacht hatte. Sie setzte sich kerzengerade auf. Die Lautstärke und der aggressive Tonfall ihrer Antwort überzeugten Bill davon, dass die Amerikaner Clarissa niemals vergeben würden. Vielleicht konnte er ihr verzeihen, wenn er sich energisch zu einer rationalen Betrachtungsweise zwang, aber damit würde er praktisch allein stehen. Doch auch wenn Bill Clarissa verteidigte, würde das nichts daran ändern, dass sie ins Gefängnis kam. Da konnte nur eine Begnadigung Abhilfe schaffen. Doch wenn er sie begnadigte, würde er damit auch seinen eigenen Untergang besiegeln. Nie wieder würde er dann die Nation in einen Krieg gegen China führen können. »Willst du damit sagen, dass all diese hässlichen Geschichten in den Zeitungen…?« »Später hat sich herausgestellt, dass alles stimmt«, antwortete Bill. »Das Traurige an der Geschichte ist, dass Clarissa gar nicht weiß, dass sie eine 588
chinesische Spionin ist. Sie hält sich für ein Mitglied einer ultrapatriotischen Gruppe von Amerikanern, was sie tatsächlich auch ist.« »Was denn für eine Gruppe?«, fragte Stephie misstrauisch. »Was will die?« »Mich umbringen«, antwortete Bill achselzuckend. »Oh«, sagte Stephie sarkastisch. »Das erklärt alles!« Sie brauchte Schlaf, aber ihr Vater, der sie doch eigentlich beruhigen wollte, bevor sie einschlief, regte sie auf. »Verdammt, du solltest sie einbuchten lassen! Hat ihr Vater auch was mit der Sache zu tun?« Bill nickte. »Dann sperrst du dieses Arschloch gleich mit ihr ein!« »Wir haben alles unter Kontrolle«, versicherte Bill. »Und außerdem«, fuhr er mit einem unbeholfenen Lächeln fort, »solltest du vielleicht ein bisschen auf deine Sprache achten. Ich hab’s dir eben schon gesagt.« »Du klingst wie Mom«, bemerkte Stephie, die sich auf die Kissen zurücksinken ließ. Als ihr Rücken die Matratze berührte, verzog sie vor Schmerzen das Gesicht. »Bei der Army kann man ja vielleicht fluchen und obszöne Ausdrücke benutzen, aber im Zivilleben wirkt das etwas fehl am Platze.« Stephies Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was soll das denn heißen?«, fragte sie empört. »Willst du damit sagen, dass meine Zeit bei der Army abgelaufen ist? Habe ich deine Bemerkung über die ›Veteranin‹ so zu verstehen?« Bill öffnete den Mund, aber ihm fehlten die Worte. Auf diese Frage war er völlig unvorbereitet. »Nun, nach allem, was geschehen ist… Also, Stephie, deine Mutter und ich haben gedacht, dass du vielleicht vom Kämpfen die Nase voll hast, für einen Krieg zumindest… Damit will ich keinesfalls vorschlagen, dass du dein Offizierspatent zurückgeben sollst«, log Bill, »aber vielleicht solltest du über eine Versetzung nachdenken.« »Ich bin bei der Infanterie«, sagte Stephie erregt, während sie sich erneut aufsetzte. »Und ich bin eine verdammt gute Soldatin! Wir sind im Krieg, und die chinesische Armee hält die Hälfte unseres Landes besetzt. Und…« Bill versuchte, sie mit einem Handzeichen zum Schweigen zu bringen. »Morgen gehe ich zu meiner Einheit zurück!«, platzte es trotzig aus Stephie hervor. »Aber du bist doch verwundet«, widersprach Bill. »Sind nur Kratzer!«, rief sie. »Ich werde die Army nicht verlassen, defi589
nitiv nicht!« Bill versuchte, sie dazu zu bewegen, sich wieder hinzulegen. »Das habe ich auch Mom gesagt! Nur über meine beschissene Leiche!« Bill brach in Gelächter aus, und einen Augenblick später fiel auch Stephie ein. »Das hast du zu deiner Mutter gesagt?«, fragte Bill. »Zu Rachel?« »Ja, hab’ ich« antwortete Stephie, jetzt wieder ganz das kleine Mädchen mit den großen Augen. »Okay«, sagte Bill. »In Ordnung.« Er küsste Stephies Stirn. Sie schlang ihre Arme um ihn und küsste ihn dreimal auf die Wange. Es war genauso wie damals, als Bill sie als ernsthafte Vierjährige zum ersten Mal gesehen hatte. »Ich hab’ dich lieb, Dad«, sagte sie. »Ich dich auch«, antwortete Bill, bevor er aufstand und das Licht ausschaltete. Bill fand Clarissa im Bett sitzend vor, den Rücken an ein paar Kissen gelehnt. Sie knetete das Bettlaken mit beiden Händen. Es war so zerknautscht, dass sie mindestens seit einer halben Stunde damit beschäftigt sein musste. Durch die zusammengekrampften Fäuste wirkte sie gehetzt, dachte Bill, während er sich auszog. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Keiner der beiden sagte ein Wort. Auf dem Weg von ihrem Büro zum Schlafzimmer hatte Clarissa, auch wenn sie ein paarmal beiläufig gegrüßt worden war, mit niemandem gesprochen. Gemeinsam mit Fielding hatte Bill in Zeitlupe die Nahaufnahmen digitaler Videoaufzeichnungen studiert. Es war ein Wechselbad der Gefühle: Da waren die quälenden Schuldgefühle, dass er sie ausspionieren ließ, und da war seine Liebe zu Clarissa, die durch das erdrückende Gewicht dessen belastet war, was er auf dem Monitor sah. Als Clarissa allein in den Aufzug trat, erlitt sie einen völligen Zusammenbruch. Es war nicht so, dass sie sich gehen ließ, als sie um eine Lücke in der Überwachung wusste. Ihr musste klar sein, dass sie beobachtet wurde. Während sie mit dem Lift die drei Stockwerke bis zu den persönlichen Gemächern des Präsidenten der Vereinigten Staaten zurücklegte, konnte sie ihr Schluchzen nicht mehr unter Kontrolle bringen. Es war, als hätte ihr ein Schlag den Atem geraubt, und auch Bill spürte diesen Schlag. Er sah zu, als Clarissa sich umdrehte und in einer Ecke des Lifts lautlose Schreie 590
von sich zu gab. Obwohl sie eine Hand vor den Mund presste, hörte man das erstickte, Mitleid erregende Flehen. Verlorene Hilfeschreie, die in Bill das Verlangen weckten, ihr beistehen zu können. Deshalb hatte er sie anschließend an dem einzigen Ort aufgesucht, wo gemäß seiner Anordnung keine Kameras des Secret Service installiert waren. In seinen persönlichen Räumen gab es keinerlei Wanzen und Videoüberwachung, auch nicht von den eigenen Leuten. »Ich dachte, dass du in deinem Büro bist«, sagte Bill, ohne nachzudenken. Er war glücklich, dass er dem Bett den Rücken zukehren konnte. »Ich war auch in meinem Büro«, erwiderte Clarissa in einem defensiven Tonfall. Fast klang es so, als würde sie eine Untreue zu kaschieren suchen, was ja auch der Fall war – wenn auch keine sexuelle. Abgesehen vom Politischen war sie ihm in jeder Hinsicht treu. Aber in der politischen Arena hatte sie sich mit seinen Feinden verbündet, um ihn zu töten und die Verfassung in Fetzen zu reißen. »Ich bin gerade erst zurückgekommen. Vor einer Stunde habe ich noch etwas Papierkram erledigt und ein paar EMails abgeschickt.« »Lange warst du nicht weg«, bemerkte Bill, während er seine Hose über die Rückenlehne eines Stuhls hängte. »Ist irgendwas?« »Warum drehst du dich nicht um und siehst mich an, wenn wir miteinander reden?«, stieß sie schnell und in einem schrillen Ton hervor. Bill wandte sich um und bedachte sie mit dem Lächeln, das er immer für die Kameras parat hatte. Die bequeme Lösung. »Stimmt was nicht?«, fragte er unschuldig. »Vielleicht in deinem Büro?« »Mein Vater…«, begann Clarissa, bevor ihre Augen unstet durch den Raum zu irren und ihre Gedanken in den hintersten Ecken ihres Gehirns nach einem Ausweg zu suchen begannen. »In seinem Büro war er nicht. Ich habe mit dem Chef seines Stabs und mit seiner Sekretärin gesprochen. Zu Hause oder in seinem Klub war er auch nicht. Und auch an keinem der anderen Orte, wo ich ihn gesucht habe.« Bill wusste, dass Tom Leffler wegen Hochverrats in Kriegszeiten unter Arrest stand und allenfalls seine Anwälte sehen durfte. »Er wird schon wieder auftauchen«, sagte er lahm, während er zu Clarissa ins Bett stieg. Sein Verhalten erschien ihm herzlos. »Irgendetwas muss ihm zugestoßen sein«, sagte sie ruhig. Da sie ihre Schlussfolgerung nicht erregt vorgebracht hatte, entging Bill, dass sich bei 591
ihr eine entscheidende Veränderung vollzogen hatte. Clarissa drehte sich zu Bill um und blickte ihm in die Augen. Sie war von Panik gepackt und saß in der Klemme. »Aber du hast ihn gesehen«, sagte Bill, der sich vor sich selbst ekelte. Wiegen Sie sie in einem falschen Gefühl der Sicherheit, hatte Fielding ihm geraten. Er wandte den Blick ab und schaltete das Licht aus. »Dein Vater war im Oval Office«, sagte er. Außerdem hast du ihn in dem Park gesehen, dachte er dann. »Heute Morgen«, fuhr er schuldbewusst fort, »als ich die Machtbefugnisse des Präsidenten an Simon übergeben habe. Außerdem hat er heute Abend meine schriftliche Erklärung akzeptiert, nachdem ich ins Weiße Haus zurückgekehrt war und der Präsident des Obersten Bundesgerichts bestätigt hatte, dass ich wieder im Amt bin.« »Warum durfte ich nicht dabei sein?«, fragte Clarissa aus den lichtlosen Tiefen ihres Verlieses. Das Rascheln ihres Haars auf dem Kissen verriet Bill, dass sie ihren Kopf gedreht hatte. Offensichtlich ließ seine Antwort zu lange auf sich warten. »Nun, eine großartige Zeremonie hat’s nicht gegeben«, sagte er in einem gemessenen Ton, der sie beruhigen sollte. Er versuchte, den Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken. »Wir haben uns ans Protokoll gehalten und die Sache hinter uns gebracht.« »Mein Vater war heute Abend im Weißen Haus? Und er hat nicht versucht, mich zu sehen?« »Er war über einen Videomonitor zugeschaltet«, erklärte Bill. Stille senkte sich über den Raum. »Und wer hat ihn zugeschaltet?«, fragte sie schließlich. »Vermutlich Techniker aus dem Weißen Haus. Du weißt doch, dass seine Schritte von der NSA verfolgt werden. Schließlich kommt er in der Präsidentennachfolge direkt hinter dem Vizepräsidenten.« Das musste dumm und unbeholfen gewirkt haben. Bill wartete ab. Clarissa schwieg etliche peinigende Sekunden lang. Bill versuchte, sich für das Kommende zu wappnen, aber nichts geschah. »Er ist ein alter Mann«, murmelte Clarissa schließlich. »Seit Moms Tod mache ich mir Sorgen um ihn.« Er ist ein Selbstmordkandidat, dachte Bill. Der Mann, der sein Mentor gewesen war und ihm nach seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten die Führung der Partei übergeben hatte. Und jetzt hatte Bill ent592
deckt, dass dieser Mann – der Sprecher der Repräsentantenhauses – ein Verräter war. »Wenn du mit ihm reden willst, könnte ich eine Videokonferenz arrangieren«, sagte Bill. Zwar hatte er nicht mit dem Staatsanwalt darüber gesprochen, aber er nahm an, dass die Entscheidung bei ihm lag. Fielding würde ohnehin alles aufnehmen. »Solltest du sozusagen unter vier Augen mit ihm reden wollen… Wenn du über irgendetwas nur mit ihm allein reden kannst, über etwas, das zu privat ist, um mit einem anderen darüber zu sprechen…« Etwa mit mir, dachte Bill. Der Zielscheibe der Attentäter. »Die Verbindung wäre abhörsicher«, versprach er, wobei ihm das Lügen plötzlich keine Probleme mehr bereitete. »Nein«, murmelte sie schließlich. »Wenn du sagst, dass es ihm gut geht, dann genügt mir das.« Bill hatte seine Rolle schlecht gespielt. Vielleicht hatte er den Bogen sogar überspannt. Er wandte ihr den Rücken zu. Clarissa bewegte sich nicht, aber Bills Laken wurde Millimeter um Millimeter zurückgezogen. »Willst du…?«, fragte sie zögernd. Sie war hellwach, einsam und verängstigt. »Ich bin müde«, antwortete Bill. Fast sofort drehte sich Clarissa von ihm weg. Täglich hatte Fielding ihn gewarnt: »Keine Änderung der gewohnten Routine… besonders nicht im persönlichen Bereich. Sie wird hinsichtlich jeglicher Zurückweisung sensibilisiert sein.« Verzweifelt sehnte sich Bill danach, der Farce ein Ende zu machen. Für die Frau, die er liebte, hätte das jeder anständige Mann getan. Und er liebte sie tatsächlich. Aber vielleicht konnte er überhaupt niemanden lieben. Seinerzeit hatte er keinerlei Versuche unternommen, Rachel zurückzugewinnen. Er nicht einmal auf ihre verzweifelten, Anrufe aus Hongkong mit einem Rückruf reagiert. Warum schrie er es nicht einfach heraus? »Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen!« Oder vielleicht war es besser, wenn er ihr zuflüsterte: »Sag und tu nichts, Clarissa. Alle wissen Bescheid. Du hast zwar riesige Probleme, aber ich werde dir in jedem Fall helfen!« Und zum Teufel mit allen Amerikanern, die anders darüber dachten. Er würde zurücktreten und den Thron verlassen für die Frau, die er liebte. 593
Mitten in Kriegszeiten, wo das nationale Überleben auf dem Spiel stand. Ihm war klar, dass er dann durch einen weltfremd-idealistischen politischen Selbstmord in die Geschichtsbücher eingehen würde. Und wie um Himmels willen würde Stephie darüber denken, wenn sie an die Front zurückkehren würde? Ab Punkt acht Uhr morgen früh, hatte in der anonym an Clarissa geschickten E-Mail gestanden, behalten Sie das Objekt genau im Auge. Sollten irgendwelche Veränderungen hinsichtlich der Sicherheitsmaßnahmen vorgenommen werden, oder sollten sich bei unserem Objekt unvorhergesehene Änderungen des Terminplans ergeben, erstatten Sie sofort – unverzüglich – Bericht. Die Verschwörer bezeichneten ihn als »Objekt«, ein Wort, das laut Fielding mit »Zielscheibe« übersetzt werden musste. Clarissa hatte dieselbe EMail gelesen. In diesem Moment seufzte sie hinter seinem Rücken auf. Bill drehte sich zu ihr um und nahm sie in die Arme. Sofort zog sie ihn fester an sich. Er küsste ihr dichtes Haar, das wie immer nach ihr roch, ein Duft, den er jetzt begierig zum letzten Mal einatmete und über dessen Ursprung er nie mehr etwas erfahren würde. Ihr Körper war warm, und Bills Verlangen wurde stärker. »Gibt es noch irgendetwas, das du mir sagen möchtest?«, fragte er. Einen Augenblick lang erstarrte sie, dann drehte sie sich wieder auf die andere Seite. Sie wird es mir nicht erzählen, dachte Bill erstaunt und schockiert. Dabei weiß sie, dass sie mich töten und Amerika in einen Atomkrieg stürzen wollen. Und dennoch hat sie mir nichts gesagt. Er drehte sich von ihr fort.
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4. KAPITEL
Weißes Haus, Oval Office 30. Dezember, 8 00 Uhr Ortszeit Im Oval Office wimmelte es nur so von Mitarbeitern. Der Pressereferent des Weißen Hauses erklärte den Journalisten, der Präsident sei wieder im Hause und gehe seinen Amtsgeschäften nach. Als Hamilton Asher das Oval Office betrat, legte Bill Baker den Bericht des Energieministers zur Seite. Grinsend schüttelte der FBI-Direktor Bills engsten Mitarbeitern die Hand. Schließlich hatte er sich bis zum Schreibtisch des Präsidenten vorgearbeitet. »Hamilton?«, fragte Bill, ohne seine Hand auszustrecken. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich zum Treffen des Nationalen Sicherheitsrats eingeladen haben, Mr President«, antwortete Asher lächelnd. »Es ist an der Zeit, dass das FBI an den Konferenztisch zurückkehrt«, sagte Bill in einem ausdruckslosen, nicht überzeugenden Ton. Er empfand keinerlei christliche Nächstenliebe für Hamilton Asher. Tatsächlich hatte er vor, seiner Exekution beizuwohnen. »Hier sind die CDs mit den Video-Dateien, um die Sie gebeten haben«, sagte Asher, während er einen flachen Umschlag auf Bills Schreibtisch legte. Er trat einen Schritt zurück und blickte auf die Uhr. »Das Treffen wird gleich beginnen.« Innerhalb von Sekunden war er verschwunden, und nach ein paar weiteren Sekunden hatte sich das ganze Oval Office geleert. Bill blieb allein zurück.
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Weißes Haus, Lageraum 30. Dezember, 8 05 Uhr Ortszeit Clarissa saß neben ihrem Vater, konnte aber kein einziges Wort aus ihm herauslocken. Bill hatte sie gebeten, an dem Treffen des Nationalen Sicherheitsrats teilzunehmen, wobei er etwas von wichtigen Entwicklungen vor sich hin gemurmelt hatte. Nach der Sitzung, die direkt nach dem Treffen mit Han Zhemin am Heiligen Abend in Camp David stattgefunden hatte, war dies das erste Mal, dass sie in diesen unterirdischen Raum zurückgekehrt war. Nervös biss Clarissa auf ihren Fingernägeln herum. Han Wushi, dachte sie. Sie werden einen Bericht über seinen Aufstieg zu Macht und Ansehen von mir verlangen. Dir Vater starrte sie an. Er war ein bleicher, faltiger, zusammengesunken dasitzender Greis. Aus blutunterlaufenen Augen musterte er sie mitleidig. »Du siehst krank aus!«, flüsterte Clarissa wütend, doch ihr Vater saß weiterhin nur mit herabhängendem Unterkiefer da und schwieg. »Was stimmt denn nicht?« Er schüttelte nur den Kopf. »Warum bist du hier?«, fragte sie. Er zuckte die Achseln. »Rede mit mir!«, sagte sie mit schriller Stimme, aber doch nicht so laut, dass es den an dem langen Tisch Sitzenden aufgefallen wäre. »Ich liebe dich.« Mehr hatte ihr Vater nicht zu sagen. Sie werden Bill töten!, wurde ihr schlagartig klar. Jetzt gleich werden Sie ihn durch ein Attentat ums Leben bringen. Sie stand auf und… Plötzlich packte ihr Vater mit einem festen Griff schmerzhaft ihr Handgelenk und zog sie auf den Stuhl zurück. Unter dem Tisch hielt er ihre Hand weiterhin fest. Clarissa versuchte, sich zu befreien, doch er ließ nicht los. Sein Griff war genauso hart wie früher, wenn sie sich als Kind schlecht benommen hatte – ein Mittel, sie auf gewaltsame Weise unter Kontrolle zu bekommen. Zu anderen Mitteln körperlicher Züchtigung hatte er nie gegriffen. »Lass los!«, stieß sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Es ist zu spät«, sagte er. Sofort gab sie den Kampf auf. »Nein, nein!« Als Hamilton Asher eintrat, kam etwas Unruhe auf. Ein gedämpftes, dumpfes Geräusch über ihnen wirkte, als hätte jemand ein dickes Buch auf den Boden fallen lassen. Nur gab es über diesem 596
Raum kein Stockwerk. Der Lageraum befand sich über dreißig Meter unter der Erde. Generäle, Minister und Berater blickten gleichzeitig zur Decke auf. Einen entsetzlichen Augenblick lang schien die Zeit für alle still zu stehen. Dann klingelte es, und General Cotler drückte auf einen Knopf des Telefons mit Freisprechanlage und Raumlautsprecher. Im Hintergrund hörte man verwirrte, aufgeregte Schreie, dann meldete sich eine geschockte weibliche Beraterin. »Der Präsident! Im Oval Office hat es eine Explosion gegeben!« »Ist der Präsident verletzt?«, fragte Cotler mit dröhnendem Organ. »Er ist tot!«, kreischte die Frau. Clarissas Welt zerbrach in Scherben. Als sie sich aufzurichten versuchte, wurde sie erneut von ihrem Vater auf den Stuhl zurückgezogen. »Ich muss gehen, ich muss gehen…« Sie begann zu weinen, und ihr Vater legte einen Arm um sie. »Sie sind alle tot!«, fuhr die Beraterin fort. »Von der ganzen Seite des Gebäudes ist nichts mehr übrig! Mein Gott…!« »Informieren Sie den Vizepräsidenten«, befahl Verteidigungsminister Moore, und ein Nachrichtenoffizier lief davon. »Hier sind wir in Gefahr, weil wir alle zusammen sind«, bemerkte General Cotler. »Gehen Sie«, sagte Außenminister Art Dodd zu Bob Moore. »Bringen Sie sich irgendwo in Sicherheit, und zwar schnell.« »Ich halte Kontakt zu Ihnen«, antwortete Moore, der bereits nach Jackett und Aktentasche griff. Wie ein Squad-Führer zeigte Cotler auf zwei Colonels und einen Captain der Navy. »Sie, Sie und Sie. Begleiten Sie den Verteidigungsminister.« Mit seinen uniformierten und zivilen Begleitern eilte Moore auf den Aufzug zu, um den über ihnen lauernden Gefahren mutig entgegenzutreten. »O mein Gott, mein Gott!«, stammelte Clarissa, die kaum Luft bekam. Sie schüttelte so energisch den Kopf, dass die Haare förmlich auf ihr Gesicht einpeitschten. Ihr Vater bohrte seine Fingernägel in ihre Handgelenke. Clarissa befreite sich und schlug ihm dann auf die Schulter und ins Gesicht. Elender Mörder, dachte sie. Mörder! »Alle herhören!«, bellte General Latham von der Air Force. Der ergrauende Offizier ließ den Telefonhörer sinken. »Das Flugzeug des Vizepräsi597
denten, in dem sich die zweite nationale Kommandozentrale befand, wurde von einem Abfangjäger abgeschossen!« »Über Kansas?«, brüllte Verteidigungsminister Moore. »Unmöglich!«, behauptete General Cotler. »Aber es war tatsächlich so!«, antwortete Latham. »Die Abfangjäger kamen in niedriger Flughöhe, mit fünffacher Schallgeschwindigkeit im Tiefflug.« Cotler hatte keine Lust mehr, sich noch länger mit dem General der Air Force abzugeben. »Finden Sie innerhalb der nächsten fünf Minuten heraus«, befahl er einem Colonel der Army, »ob diese angeblichen Überschall-Abfangjäger am Boden eine tausend Meilen lange, sichtbare Spur hinterlassen haben, was ja der Fall sein muss, wenn sie im Tiefflug herangekommen sind. Und geben Sie die entsprechenden Befehle aus, dass so schnell wie möglich Such- und Rettungsmaschinen sowie ein Untersuchungsteam an Ort und Stelle zu schaffen sind.« »Ich habe Combat Air Patrol-Piloten über der Absturzstelle«, verkündete Latham. »Überlebende gibt es nicht.« Art Dodd zeigte auf einen schwarzen Plasma-Monitor. »Sehen Sie zu, dass wir Bilder bekommen. Ich will sie sehen, und zwar schnell.« »Ich arbeite daran«, antwortete der General der Air Force. Alles ging rasend schnell. Allmählich zeichneten sich Konsequenzen ab, die man zuerst gar nicht bedacht hatte. Um sich der Tragweite der Ereignisse bewusst zu werden, benötigten alle Zeit. Am schnellsten reagierte Clarissa. »Jetzt bist du der Präsident«, sagte sie laut zu ihrem Vater. Der Sprecher des Repräsentantenhauses starrte demütig auf seinen Schoß, offensichtlich niedergedrückt von der Last seines neuen Amtes. Er ist ein alter, gebrechlicher Mann, der auf jede nur erdenkliche Hilfe angewiesen sein wird, dachte Clarissa. »Wir sollten Mr Leffler jetzt vereidigen«, sagte jemand von anderen Ende des Raums her. Es war Hamilton Asher. Dieser verfluchte Hamilton Asher!, wütete Clarissa innerlich. Aber er war ein toter Mann. Sie hatte ihn in der Hand und konnte sich für Bills Tod rächen. Mithilfe der Macht ihres Vaters konnte sie dieses Monster vernichten. Diesen Killer, der das Leben unschuldiger Menschen auf dem Gewissen hatte. Auf dem Monitor hinter Art Dodd flackerte ein Testbild auf, gefolgt von den ersten Videoaufnahmen. Vor dem Hintergrund der ordentlichen Halm598
reihen eines Weizenfelds sah man hier und da schwarze Flecken, aus denen Flammen züngelten. Auf dem flachen Feld lagen deformierte Wrackteile. Andere Trümmer waren nicht zu identifizieren. Die Amtseinsetzung des neuen Präsidenten wurde zügig organisiert. Überraschend schnell, dachte Clarissa, die nervös auf ihren Fingernägeln herumbiss und sich umblickte. Sie wollte sich vergewissern, ob noch jemand misstrauisch zur Kenntnis nahm, mit welchem Tempo die Übergabe der präsidialen Machtbefugnisse arrangiert wurde. Es wäre besser gewesen, wenn man diesen Prozess etwas aufgehalten hätte. Jetzt tauchte auf einem Monitor das Bild des Präsidenten des Obersten Bundesgerichts auf. Die Formulierungen stammen zwar aus der Verfassung, dachte Clarissa, aber diese Amtsübergabe ist trotzdem verfassungswidrig. Sie war ein Novum in der amerikanischen Geschichte. Weil es so viel zu tun gab, schüttelte sie diesen Gedanken ab. Während das Land in einen entsetzlichen Krieg verstrickt war, musste ihr gebrechlicher Vater eine neue Administration aufbauen. Jetzt hob er gerade die Hand, um mit schleppender Stimme den feierlichen Amtseid zu sprechen. Aber Clarissas Gedanken richteten sich schon in die Zukunft. Vertrauen, dachte sie. Wir müssen jemanden finden, dem wir vertrauen können. Von Bills mächtigsten Beratern war wahrscheinlich Richard Fielding am vertrauenswürdigsten. »Mr President?«, fragte General Latham direkt nach dem Ende der Zeremonie. Dicht hinter ihm stand Hamilton Asher. »Jetzt sind Sie der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika«, sagte der ranghöchste General der Air Force. »Hinter diesen Mordanschlägen stehen zweifellos die Chinesen. Sollte es anders sein, werden wir es sehr bald herausfinden. Sie werden uns in beiden Fällen für verletzbar halten und eine günstige Gelegenheit wittern.« »Um uns anzugreifen?«, fragte Cotler. »Mit Atomwaffen? Es gibt definitiv keinerlei Hinweise dafür, dass…« »Die Lage ist hochgradig instabil!«, bemerkte Latham, der sich an Cotler und Clarissas Vater wandte. »Noch ist Präsident Leffler nicht detailliert über alles unterrichtet worden, und ich möchte ein paar Optionen darlegen, ihn über den Einsatz der Atomwaffen informieren und ihm endlich die Codes übergeben.« Latham!, schoss es Clarissa sofort durch den Kopf. Und Asher. Jetzt 599
wollten sie das einzige »Versprechen« ihres Vaters einlösen. Das war ihre Bedingung dafür gewesen, dass ihr Vater Bills Amt übernehmen konnte. Jetzt begriff sie auch zum ersten Mal, dass sein politisches Überleben nur darauf zurückzuführen war. Weigerte er sich, würden sie sich einfach an den Nächsten wenden, der für die Präsidentschaftsnachfolge vorgesehen war. Vielleicht hatten sie es bereits getan. Mit einem zögerlichen Nicken gab Cotler Latham zu verstehen, er solle fortfahren, aber Clarissa hatte ihre Zweifel, ob Latham sich hätte aufhalten lassen, wenn der General der Army widersprochen hätte. Doch nach drei oder vier Sätzen, die Latham fast im Flüsterton an Clarissas Vater richtete, hatte Cotler die Nase voll. »Sie geben ihm spezifische Instruktionen für einen atomaren Erstschlag!«, sagte Cotler wütend. »Was wird hier eigentlich gespielt, Martin?« »Wenn sie uns angreifen, ohne wie bisher den Verschleiß ihrer Truppen einzukalkulieren, Adam«, antwortete Latham inbrünstig, »sind wir erledigt. Dann ist es aus und vorbei!« »Aber es ist keinerlei feindlicher Angriff in Vorbereitung!«, widersprach Cotler. »Um Himmels willen, General Latham, unsere Verteidigung ist so gut, dass wir jede Menge Zeit gewinnen können, um…« »Wie lauten Ihre Befehle, Mr President?«, fragte Latham plötzlich unvermittelt. »Wie bitte?«, brüllten Cotler und Admiral Thornton, der Oberbefehlshaber der Marine, wie aus einem Mund. Die beiden Männer waren erregt aufgesprungen. »Wir schlagen zu«, krächzte Clarissas Vater. »Ganz wie geplant.« »Und wer hat das geplant?«, wollte Art Dodd wissen. »Mein Vater wollte wohl sagen, dass General Latham es ihm befohlen hat!«, schrie Clarissa, die sich erhob und sich über den Tisch beugte, als wollte sie ihren ansonsten wehrlosen Vater verteidigen. Doch auf der anderen Seite stand Hamilton Asher neben dem alten Leffler – ein sehr viel besser bewaffneter Beschützer. »General Latham…!«, begann Cotler, bevor er zum anderen Ende des Tisches hinüberblickte und sah, dass sein Gegenspieler von der Air Force telefonierte. »Zwei-neun-Echo-Gold«, sagte Latham gerade. Um seinen Stuhl herum 600
hatte ein Kader von Offizieren der Air Force Position bezogen. »Hallo?«, fragte Latham in den Hörer. »Hört mich jemand? Hallo? Hallo!« Die Aufnahmen des Flugzeugswracks erstarrten zum Standbild. Einen Augenblick lang glaubte Clarissa, dass die Chinesen vielleicht einen heimlichen Angriff gestartet hatten. Die Doppeltür flog auf, und Clarissa zuckte zusammen und schnappte nach Luft. Bill Baker und Richard Fielding betraten den Raum, gefolgt von einem Tross von Sicherheitsbeamten des Secret Service, die ihre Waffen gezückt hatten. »Du lebst«, flüsterte Clarissa Bill zu, der ihr einen stahlharten Blick zuwarf. Die Sicherheitsbeamten schwärmten in beide Richtungen aus, umzingelten den Tisch, wobei sie ihre Zielpersonen keine Sekunde lang aus den Augen ließen. Zuerst wurden General Latham unsanft Handschellen angelegt, dann wurden einige seiner uniformierten Berater aussortiert und festgenommen. Andere wurden aufgefordert, zur Seite zu treten. Jetzt tauchten die Agenten vom Secret Service hinter Clarissa auf, die wieder auf den Stuhl neben ihrem Vater zurückgesunken war. Ihre Haut kribbelte, als würde sie einen Messerstich erwarten. Asher stöhnte laut auf, als ihm die Arme auf den Rücken gerissen wurden. Dann schlössen sich die Handschellen auch um die Gelenke von Clarissas Vater, der keinerlei Widerstand leistete. »Dr. Leffler«, sagte irgendein gesichtsloser Todesengel hinter ihr in höflichem Ton. Clarissa stand auf und wandte sich gefasst zu dem Agenten um. Vielleicht ging es ja um etwas ganz anderes. Jemand packte behutsam ihre Handgelenke, und die Handschellen schlössen sich. Clarissa war geschockt, ihr Mund stand weit offen. Asher wurde durch ein Spalier von Ministern und Generälen mit ausdruckslosen Gesichtern abgeführt. Dann folgte Tom Leffler, tief beschämt, mit hängendem Kopf. Schließlich wurden Clarissas Ellbogen gepackt, und jetzt begann auch für sie das Spießrutenlaufen. Alle starrten sie schweigend an, Männer und Frauen, Uniformierte und Zivilisten. Berater, die sie nie zuvor gesehen hatte. In ihren Gesichtern war nichts als Verachtung und Hass zu lesen. In diesem Augenblick verließ Clarissa ihre gewöhnlich schnelle Auffassungsgabe. Sie konnte einfach nicht begreifen, warum ihr solcher Hass entgegenschlug. 601
»Man wird Sie erschießen«, sagte Richard Fielding deutlich vernehmbar zu General Latham. »Ich war immer bereit, mein Leben für mein Land zu geben!«, antwortete Latham. Dutzende Offiziere kommentierten seine Bemerkung mit wütenden Ausrufen. Die spontane Empörung über Lathams falsch verstandenen Patriotismus schloss Offiziere aller Ränge und Waffengattungen ein. Am tiefsten waren die Offiziere der Air Force getroffen. Geschockter als General Latham war nur Clarissa. Denn sie teilte die feindselige Einstellung der Offiziere gegenüber Latham und Asher, sie spürte die Empörung genauso spontan wie sie. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und ihr bestand darin, dass sie auch Lathams und Ashers Schuld teilte. Jetzt stellte sich Bill Clarissa in den Weg. »Ich bin unschuldig!«, flehte Clarissa. »Bill, ich habe nicht…!« Bill unterbrach sie. »Jetzt ist es an der Zeit, dass alle aufrechten Männer ihren Landsleuten zu Hilfe kommen.«
Außerhalb von Richmond, Virginia 31. Dezember, 8 40 Uhr Ortszeit Der amerikanische Angriff war ins Stocken geraten. Kurz zuvor hatte Lieutenant Colonel Ackerman, der Kommandeur des Third Battalion, Stephanie Roberts provisorisch zum First Lieutenant befördert, wodurch sie zum stellvertretenden Kompaniechef der Charlie Company wurde. Als deren eigentlicher Kommandeur, der den Krieg bisher wegen einer Rückenverletzung am Schreibtisch verbracht hatte, nach zehnminütigem Kampf von einer Mine in Stücke gerissen wurde, war Stephie zum Chef der Charlie Company geworden, die zum Third Battalion der 519 th Infantry Division gehörte. Obwohl etliche Offiziere der Charlie Company wie Stephie durch den Gefangenenaustausch wieder in die amerikanischen Reihen zurückgekehrt waren, war die Einheit bei der Verteidigung des Potomac doch stark dezimiert worden. Die Kompanie, die auf die übliche Weise verstärkt worden war, bis sie hundertfünfzig Soldaten zählte, bestand jetzt nur noch aus achtzig Männern und Frauen, und 602
aus ursprünglich vier Platoons waren nun zwei gebildet worden. Jetzt wartete das Second Platoon auf den Feuerschutz des First Platoon. Trotz eines dichten Kugelhagels der Chinesen krochen Stephie und ihr Commo durch ein Parkhaus auf das zögernde First Platoon zu, dessen Mitglieder mit eingezogenen Köpfen hinter einer Betonmauer hockten, die an manchen Stellen brannte. Hektische Sanitäter kümmerten sich um blutende, vor Schmerzen schreiende Verwundete, von denen einer, wie Stephie über Funk erfahren hatte, der Platoon-Führer war. »Ich brauche Feuerschutz!«, brüllte Animal von einem thailändischen Restaurant herüber, das sich direkt außerhalb des Parkhauses befand. Mittlerweile befehligte Stephies alter Kamerad das Second Platoon, das durch schweren feindlichen Beschuss festgenagelt war. »Warte kurz!«, schrie Stephie zurück. Hinter der Betonmauer lagen achtzehnjährige Soldaten, von denen die meisten ihre Rucksäcke noch trugen. Alle waren total verängstigt. Während ihrer kurzen Zeit bei der Army hatten sie in Bunkern und Schützengräben gekämpft, doch das hier war eine andere Art von Krieg. Wenngleich auch das Kämpfen aus festen Stellungen heraus schon eine entsetzliche Erfahrung war, war diese Art Nahkampf noch viel schlimmer. »Der Kugelhagel ist zu dicht!«, schrie Animal über Funk. »Über die Straße schaffen wir es nicht, Stephie! Mist! An meinem Abschnitt der Front gibt’s vier MGs. Völlig ausgeschlossen, wir haben keine Chance!« »Verstanden!«, antwortete Stephie knapp. Hinter der zerbröckelnden, brennenden Mauer kauerte eine lange Reihe verängstigter Amerikaner, die Stephie – ihre neue Kommandeurin – aus verängstigten Augen anblickten. Waren die Squad-Führer nicht selbst ums Leben gekommen, kümmerten sie sich um die vielen Verwundeten. Das Second Platoon war sozusagen führerlos. »Also dann, alles mal herhören!«, schrie Stephie aus vollem Hals. Selbst die Sanitäter überließen ihre stark blutenden und um sich schlagenden Kameraden für einen Augenblick sich selbst. Die Chinesen konnten auf sie vorrücken – die Uhr lief. Stephie machte es so kurz wie möglich. »Der Plan ist geändert worden, jetzt gibt’s einen neuen! Dieses Platoon wird das Angriffsziel einnehmen, das Second Platoon gibt Feuerschutz! Das hier ist ein Angriff, und jeder wird voll bei der Sache sein! Zaudern gibt es nicht!« Stephie schlug mit einer geballten Faust auf die andere Handfläche. 603
»Je schneller und brutaler wir es erledigen, je mehr wir feuern, desto mehr von uns werden durchkommen!« Durch ermutigende Blicke versuchte Stephie, die Moral der plötzlich wie versteinert wirkenden Soldaten zu stärken. »Wir rücken vor! Angriff, Angriff, Angriff! Wir sind Infanteristen!« Während alle mit festem Griff ihre Waffen umklammerten, versuchten sie, ihre zitternden Unterkiefer unter Kontrolle zu bekommen. »Rucksäcke ab, ausschließlich Kampfausrüstung wird mitgenommen! Squad-Führer zur Einsatzbesprechung!« Über Funk gab Stephie ihre Befehle an Animal weiter. Den Hintergrundgeräuschen konnte sie unschwer entnehmen, dass Simpsons Platoon unter schwerem Beschuss lag. Stephie wandte sich ihren Leuten zu, bildete aus ursprünglich vier Squads drei und unterrichtete dann jedes separat über deren spezifischen Einsatz. Sie ging von einem Soldaten zum nächsten, drückte Arme, klopfte auf Schultern und Helme. Nach jedem Körperkontakt wartete sie darauf, dass ihre Soldaten ihr zunickten. Es ging ihr darum, dass die Soldaten ihr durch einen Blick stillschweigend ein persönliches, bindendes Versprechen gaben, mit ihr in den Kampf zu ziehen. Das Parkhaus war durch einen überdachten, an den Seiten offenen Durchgang mit einem demolierten Bürogebäude verbunden. Chinesische Kugeln trafen das dünne Blechdach und die Stützpfeiler aus Stahl. Auf dem kurzen Stück zwischen dem Parkhaus und dem nur zehn Meter entfernten, ausgebombten Gebäude verlor eine Soldatin durch einen tödlichen Kopfschuss ihr Leben. Die erste Hälfte des Platoons hatte die Distanz bereits unbeschadet überwunden, und nach dem Zwischenfall mit der Soldatin erreichte auch der Rest sicher das Bürogebäude. Stephie führte das Platoon durch das verkohlte, zerstörte Haus, von dessen Wänden und nackten Stützpfeilern aufs Geratewohl abgefeuerte Kugeln abprallten. Getrennt waren die beiden Armeen durch eine Vorortstraße, die Stephies First Platoon beim Angriff überqueren musste. Simpsons Second Platoon hatte in dem angrenzenden thailändischen Restaurant Position bezogen, feuerte aber noch nicht. Durch die leeren Fensterrahmen konnte Stephie sehen, dass die Vorderseite des Restaurants von den Chinesen beschossen wurde. Stephies Stiefel knirschten durch die Asche im Erdgeschoss des ausgebrannten Gebäudes. Obwohl die Flammen schon vor Stunden erloschen 604
sein mussten, hing noch Rauch in den Gängen des zerstörten Bürohauses. Der Gestank ließ ihr die Tränen in die Augen treten, und sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Aber immerhin stand das Gebäude noch. Während sie sich den nebeneinander an der Straßenseite des Hauses liegenden Büros näherten, kam es in nächster Nähe zu Explosionen. Angesichts des Schrapnellhagels mussten sich alle ducken, aber da wurde Stephie klar, dass es sich um amerikanisches Feuer handelte. »Wo bist du?«, übertönte Animal das Sperrfeuer. »Wir sind fast da!«, antwortete Stephie. »Ich gebe gleich den Befehl! Noch eine Minute!« Sie wandte sich ihren auf dem Bauch liegenden Soldaten zu. »Kommt auf die Beine, das ist unsere Feuerunterstützung!«, rief sie, während sie auf die höllischen Explosionen zeigte, vor denen sie in Deckung gegangen waren. »In fünfundvierzig Sekunden geht’s los! In Reihe! Vorwärts! Marsch!« Stephie ging voran. Sie kamen durch ein Büro, das sich in einen einzigen Krater verwandelt hatte. Dann kletterten sie die abschüssigen Seitenwände des geborstenen Fundaments in ein fensterloses, durch einen schweren Raketensprengkopf entstandenes Atrium hinab. Auf der anderen Seite stiegen sie bis zur Höhe des Erdgeschosses hoch, und schließlich traten sie aus dem Gebäude in die frische Luft hinaus. Vor ihnen lag eine intakte, einen Meter hohe Backsteinmauer. Wegen diesem entscheidenden Vorteil hatte sich Stephie für diese Route entschieden. Hier befand sich die zu dem Bürogebäude gehörende, unter freiem Himmel liegende Raucherzone, und Stephie ging zwischen Zigarettenkippen in Deckung. Sie dirigierte die drei Squads in unterschiedliche Richtungen. Dass sie die Köpfe einziehen und hinter der Mauer bleiben mussten, brauchte sie nicht eigens zu erwähnen. Daran wurden sie schon durch die heißen Flammen, das Dröhnen des Sperrfeuers und die Granatsplitter erinnert. Unumgänglich war allerdings, dass sie ihre Leute zur Eile antrieb. »Vorwärts! Robben! Vorwärts!« Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Lange würde das Sperrfeuer der Artillerie nicht dauern. In einer Minute würden chinesische Raketen in der Luft sein – wenn es überhaupt so lange dauerte. Bis dahin mussten die gepanzerten, vollautomatischen amerikanischen Geschütze fünfhundert Meter weit zurückgezogen werden. 605
Als das First Platoon gerade entlang der Straße Stellung bezogen hatte – auf der anderen Seite lauerten die chinesischen Waffen –, verstummte das Sperrfeuer. »Wir sind da!«, gab Stephie an Simpson durch. »Ihr könnt jetzt feuern!« Schon bevor die Echos des Artilleriebeschusses verhallt waren, gab Stephie über Funk den Befehl durch. »First Platoon, vorrücken! Feuer!« Sie kletterten über die Mauer, brachen durch die Hecke auf der anderen Seite und stürmten dann über die Straße. Als Stephie über das versengte Gras und den rissigen Bürgersteig rannte, gab sie halb unfreiwillig ein tiefes, gutturales Knurren von sich, das ihre Nerven stählen und ihren Körper dazu überreden sollte, auf die unsichtbaren feindlichen Waffen zuzustürmen. Aber es war auch eine unfreiwillige Vorwegnahme denkbarer künftiger Qualen. Auch die anderen Soldaten gaben dieses tiefe Knurren von sich, während das First Platoon über die Straße rannte. Überlebende chinesische MG-Schützen, die unvorsichtigerweise ihre Köpfe hoben, wurden von Simpsons Second Platoon unter Beschuss genommen, dessen Gewehre, MGs und Raketenwerfer permanent in Aktion waren. Die Geschosse pfiffen an Parkuhren und Briefkästen vorbei, bevor sie in die Wände und Fenster des auf der anderen Straßenseite liegenden Einkaufszentrums einschlugen. Wenn die Chinesen die Köpfe nicht einzogen, waren sie unweigerlich tot. Beim Überqueren der Straße gingen von Stephies Leuten nur drei Soldaten zu Boden, die sofort in Deckung geschleift wurden, wodurch Blutspuren auf dem Asphalt zurückblieben. Es war ein bemerkenswertes Meisterstück. Stephie blieb bei der First Squad und hielt sich ungefähr in der Mitte des Platoons. Zu ihrer Linken befand sich die Third Squad, deren Ziel das kleine, frei stehende Gebäude einer chemischen Reinigung war, in dem sich niemand aufzuhalten schien. Dennoch wurde es unter Beschuss genommen, bevor die Soldaten eindrangen und Stephie über Funk mitteilten, dass die Luft rein war. Zu ihrer Rechten schleuderten die Soldaten der Second Squad pausenlos Granaten in ein zweistöckiges, brennendes Möbelgeschäft, das an das lange U-förmige Einkaufszentrum angrenzte, welches ihr eigentliches Ziel war. Stephies First Squad würde den zentralen Job übernehmen – die Säuberung des Einkaufszentrums. Aus einer Hintertür jenseits eines kleinen Parks wurde auf sie geschos606
sen. Fenster gab es dort nicht – nur die eine Tür, durch die Granaten aus unter Sturmgewehren angebrachten Granatpistolen abgeschossen wurden. »Sie werden hinter der Tür auf uns warten!«, brüllte Stephie einem der beiden Pioniere zu, die sie auf dem Rückweg von Washington zu ihrer Einheit aufgegabelt hatte. Der andere war beim Überqueren der Straße getroffen worden. »Wir müssen ein Loch in die Wand sprengen!« , Unter dem Feuerschutz der anderen rannten der Pionier und zwei mit Gewehren bewaffnete Soldaten zu der Backsteinmauer des Einkaufszentrums. Die Stelle war etwa vier Meter von dem mittlerweile verwaisten Türrahmen entfernt. Einige Sekunden später entfernten sich die drei mit noch größerer Eile von der rauchenden Sprengladung, die gut einen halben Meter über der Erde auf einem Wasserzähler deponiert worden war. Der letzte Mann in der Reihe wurde durch die Explosion von den Beinen gerissen, aber er hatte Glück. Durch die leichte Brise verzog sich der Rauch schnell wieder. Aus geborstenen Leitungen spritzte Wasser. In dem gezackten Loch in der Wand lag ein toter Chinese, dem durch die Explosion die Glieder vom Körper gerissen worden waren. Schon als sie sich unter Stephies Führung dem Gebäude näherten, feuerte sie in das finstere, rauchverhangene Gebäude. Nachdem sie den Befehl gegeben hatte, schleuderte sie mit acht anderen Überlebenden der First Squad pausenlos Handgranaten durch das Loch, dann gingen sie neben der Wand in Deckung. Eine Frau konnte den Folgen der Explosion nur mit knapper Not entkommen. Sofort kletterte Stephie durch das Loch in den erstickenden Rauch, die beiden Squads folgten. Der Boden des hinteren Büros war mit Leichen übersät. Durch den treibenden Rauch wie blind, prallte Stephie gegen einen umgestürzten Aktenschrank, aber ihre Hose war mit eingenähten Schienbein- und Knieschützern versehen. Als sie auf einen zerbrochenen Backstein trat, verstauchte sie sich den Knöchel. Die ganze Zeit über beunruhigten sie die nervösen Soldaten hinter ihr genauso wie die Chinesen vor ihr. »Noch mal Sprengstoff«, flüsterte sie dem Pionier zu, während sie durch die Tür des Büros auf den dahinter liegenden Flur zeigte. Er schaute Stephie an, als wäre sie verrückt. Hochexplosiver Sprengstoff in einem abgeschlossenen Raum, in unmittelbarer Nähe – das erschien ihm zu riskant. »Einfach weit genug werfen«, schlug Stephie vor. 607
Der Mann schluckte und kroch dann unter dem Feuerschutz der anderen auf die Tür zu. Er fummelte an seinem Sprengstoffpaket herum, holte aus und schleuderte das schwere Päckchen den Korridor hinunter, wo es außer Sichtweite aufschlug. Während der Pionier so schnell wie möglich auf Ellbogen und Knien zu Stephie zurückrobbte, wurde der Türrahmen von chinesischen Kugeln durchsiebt. Nachdem sie ihren Helm abgelegt hatte, hielt sich Stephie mit beiden Daumen die Ohren zu. Durch den Boden übertrug sich die Explosion am heftigsten, und der brutale Stoß war bis in ihre Wangenknochen hinein spürbar. Trümmer schossen in die Luft oder regneten von Regalen herab. Eine ihrer Soldatinnen schrie auf, als sie unter einem umstürzenden Aktenschrank begraben wurde. Rauch und Staub drohten sie zu ersticken. Obwohl Stephie sich sofort hochrappelte, waren schon zwei Leute vor ihr an der Tür. Allmählich lernten ihre Soldaten eine wichtige Lektion – vielleicht hatten sie sie zwischenzeitlich auch nur vergessen: Wollte man als Infanterist überleben, musste man der Feuerunterstützung auf den Fersen folgen, und man musste den Feind in den paar Sekunden töten, bevor er wieder einen klaren Kopf hatte. Bevor sich seine Sinne und Nerven beruhigt hatten. Mündungsblitze aus den automatischen Waffen der beiden Soldaten erhellten den Korridor. Stephie folgte ihnen, sah aber keinen lebenden Chinesen mehr. Vier weitere Male sprengten sie Löcher in Wände und räumten umhertaumelnde Verteidiger aus dem Weg. Alles war leichter als erwartet. Die Chinesen waren ausgebrannt, am Ende ihrer Kräfte. Sahen sie einen Amerikaner, feuerten sie sofort, doch dann rannten sie weg oder sie rollten sich unter dem gegnerischen Kugelhagel zusammen. In beiden Fällen starben sie, ohne ernsthafte Gegenwehr geleistet zu haben. Gemeinsam mit ihren Infanteristen kroch Stephie durch einen Ausstellungsraum mit Waschmaschinen und Trocknern, die aber definitiv keinen guten Schutz vor chinesischen Kugeln boten. Ein Mann und eine Frau verloren ihr Leben, als sie – aufrecht hinter den Haushaltsgeräten sitzend – ihre Waffen nachluden. Die Third Squad deckte den Raum hinter ihnen, und die Second Squad verstärkte die Soldaten, die Stephie noch geblieben waren. Nachdem sie durch das nächste Sprengloch geklettert waren, mussten sie rennen, weil 608
die Chinesen die Teppichabteilung in Brand gesetzt hatten, bevor sie aus dem Laden geflohen waren. Die Dämpfe der in Flammen stehenden Teppichböden waren erstickend. Drei Amerikaner gingen zu Boden, einem war nicht mehr zu helfen. Als der Rest den Flammen entkommen war, war der Rückzug der Chinesen in vollem Gange. Doch dieser Rückzug wurde zu einem totalen Fiasko, da Animal mit seinem Second Platoon die Straße überquerte und die Verteidiger von der Flanke her angriff, die eigentlich den Rückzug der Chinesen decken sollten. Mindestens einhundert Chinesen wurden hinter dem Einkaufszentrum durch Schüsse in den Rücken getötet. Feuern und vorrücken – das war in der Praxis eine neue Erfahrung für die Soldaten, die früher aus Bunkern heraus gekämpft hatten. Aber es war genau die Taktik, die man sie in der Grundausbildung gelehrt harte und die sie auch bei den Chinesen gesehen hatten. Sie hatten gesiegt, als echte Infanteristen, und sie genossen ihren Triumph. Die überlebenden Angreifer gratulierten sich gegenseitig. Mitglieder der beiden wieder vereinten Platoons schüttelten sich herzlich die Hände. Einige feierten ihr Überleben durch Umarmungen. Nur Simpson und Stephie war nicht nach Feiern zumute. »Wie viele?«, fragte sie leise, während sie Simpson im Schutz einer rauchenden Ruine hinter dem Einkaufszentrum begrüßte. Überall lagen in grotesk verrenkten Körperhaltungen tote Chinesen. Befriedigt stellte Stephie fest, dass einige bei ihrer panischen Flucht nicht einmal mehr ihre Waffen mitgenommen hatten. »Sieben«, antwortete Simpson. »Drei Tote, um die Verwundeten kümmern sich zwei Sanitäter.« »Meine Verluste sind höher«, sagte Stephie. »Vermutlich zwölf Leute, die Hälfte davon tot. Scheiße! Beim nächsten Mal müssen wir besser aufpassen.« »Werden wir«, antwortete Animal zuversichtlich. Jetzt erkundigte sich Ackerman über Funk nach den Verlusten, und Stephie erstattete Bericht. »Eine oder zwei Stunden könnten wir gut gebrauchen, wir benötigen etwas Zeit.« »Geht nicht«, antwortete Ackerman. »Sie sind auf der Flucht, und unsere Panzer kommen auf der rechten Seite den Highway hoch.« Aus der Ferne hörte Stephie das Krachen schwerer Panzergeschütze. Es war lange 609
her, seit sie rollende amerikanische Panzer gehört hatte. Fast immer hatten diese in der letzten Zeit aus der Deckung heraus defensive Aufgaben wahrgenommen. Während der langen Monate des Krieges hatte die Army ihre mobilen Einsatzkräfte zusammengezogen. An der Straße hinter ihrer Linie hatte sie meilenweit einen Panzer hinter dem anderen stehen gesehen. »Wir müssen abhauen, oder wir bleiben auf der Strecke«, fuhr Ackerman fort. »Vor uns sollte die Luft rein sein. Unsere Panzer drohen auf beiden Seiten durchzubrechen. Die Chinesen nehmen die Beine in die Hand.« Stephie glaubte Ackermans Lächeln zu sehen. Nachdem sie gemeinsam mit Simpson ihre beiden Platoons zusammengetrieben hatte, nahm sie zu den benachbarten Kompanien Kontakt auf, dann brach sie durch einen hölzernen Zaun. Sie fand sich auf einer ruhigen Straße wieder, die inmitten dieses Gefechtsfelds wie eine seltsame Insel des Friedens wirkte. Um sie herum tobten Feuergefechte, und obwohl Explosionen praktisch allgegenwärtig waren und Flammen und Rauchsäulen in die Luft stiegen, schien die anheimelnde Straße mit den einstöckigen Häusern von den Kriegsereignissen völlig unberührt zu sein. Dennoch war Stephie auf der Hut. Sie musste an die Mason Street in Alabama denken, doch jetzt waren die Rollen vertauscht. Diesmal griffen die Amerikaner, mittlerweile im Kampf erprobte Veteranen, die Chinesen an, die sich mit jüngst eingetroffenen Grünschnäbeln herumschlagen mussten. Sie rückten von Haus zu Haus vor, jederzeit bereit, bei der ersten Bewegung zu feuern. Plötzlich tauchte aus einem der Fernster eine weiße Fahne auf, und Stephie nahm an, dass es sich um kapitulierende Chinesen handelte. Als die Charlie Company zu Beginn ihrer Mission an den Einsatzort gebracht worden war – in gepanzerten Mannschaftstransportfahrzeugen und nicht mehr auf Lastwagen mit Planen –, waren kleine Kessel umzingelter Chinesen von Überlebenden der ersten Welle gesäubert worden, die ursprünglich in die feindlichen Linien vorgedrungen war. Die amerikanischen Sieger gingen nicht gerade zimperlich mit ihren verdreckten Gefangenen um, die sie, an Händen und Fußgelenken gefesselt, an den Haaren über den Asphalt schleiften. Aber soweit Stephie es beurteilen konnte, war keiner so mit ihnen umgegangen, wie es die Chinesen mit Becky Marsh und John Burns getan hatten. »Wenn ihr eine Waffe seht, erledigt ihr sie sofort«, sagte Stephie ins Mikrofon, während sie sich mit zusammengebissenen Zähnen und ange610
legtem Gewehr dem Fenster näherte. Sie hatte das hochgestellte Visier ihres M-16 weiterhin auf das offene Fenster über der weißen Flagge gerichtet. So eine Kapitulation war immer eine verzwickte Sache, die jederzeit schief gehen konnte. Mit einem einzigen, sinnlosen Schuss konnte ein übrig gebliebener Chinese seine bereits entwaffneten Kameraden zum Tode verdammen. Stephie war zu allem bereit. Es hatte keinen Sinn, kurz vor dem Sieg noch unnötige Risiken einzugehen. »Hallo da draußen!«, rief eine alte Frau mit dünner, gebrechlicher Stimme. »Hallo!« Zuerst schoss Stephie der Gedanke an eine Geiselnahme durch den Kopf. »Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, befahl sie laut. Dann stellte sie durch Handsignale sicher, dass zwei Maschinengewehre auf die Haustür gerichtet waren. Schließlich trat eine weißhaarige alte Dame in einem Morgenmantel aus dem Haus. Hinter ihr waren die erregten Rufe von Familienmitgliedern zu hören. »Mutter!«, schrie ein erwachsener Mann, dessen Stimme frustriert klang. Aber die alte Dame schwenkte die weiße Fahne so lange, bis sie die amerikanischen Soldaten entdeckt hatte. Dann warf sie sie auf die Treppe vor dem Eingang, um einen langen Holzlöffel aus ihrem Morgenmantel zu ziehen, an dem sie eine kleine amerikanische Flagge angebracht hatte, die sie sofort über ihrem Kopf zu schwenken begann. »Hurra!«, schrie sie. »Ein Hoch auf euch Soldaten und Soldatinnen! Ein Hoch auf Amerika! Hurra!« Stephie traten Tränen in die Augen, doch diesmal lag es nicht an ihrem Zorn. Es war eine unerwartete Gefühlsaufwallung. Sie bekam eine Gänsehaut und begann zu weinen. Während sie und ihre Kameraden die Waffen sinken ließen, wandte sich die tanzende, triumphierende alte Frau zur Haustür um. »Alles in Ordnung, es sind unsere Soldaten! Unsere Soldaten! Sie sind zurückgekommen!« Die Tränen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, liefen Stephie über die Wangen. Sie war nicht verrückt, sie war nicht traurig, aber sie weinte. Jetzt tauchten aus dem Haus andere Familienmitglieder auf: zuerst der Vater, ein Mann in mittleren Jahren, dann die Mutter, schließlich zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Der Hund tauchte auf, von dem Jungen gejagt. Der goldfarbene Labrador stürmte auf Animal zu, um ihm das Gesicht zu lecken. »Guter Junge«, sagte Simpson, während er dem Hund das Fell kraulte. »Braver Junge.« 611
Weitere Haustüren öffneten sich, weitere Amerikaner verließen zögernd ihre Verstecke. Fast die Hälfte der Häuser schien noch bewohnt zu sein. »Sie sind in der Richtung verschwunden!«, riefen ein paar Zivilisten dem nächsten amerikanischen Soldaten zu. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen«, sagte ein ungefähr zehnjähriges Mädchen, das den Trainingsanzug ihres Fußballteams trug. Als die Kleine in Richtung Feind davonstürmen wollte, wurde sie von ihrer Mutter gepackt, aber das dünne Mädchen streckte immer noch seinen Arm aus, um den Soldaten den Weg zu weisen. Obwohl Simpson eine Squad losschickte, war Stephie bereits klar, dass der Krieg für diese kleine Mittelklasse-Siedlung vorbei war. Das leiser werdende Brüllen der Panzergeschütze verriet ihr, dass die Schlacht schon weit entfernt war. Nachbarn begrüßten Nachbarn, und das Ganze wirkte wie eine improvisierte Party. Doch es war eher eine Wiederbegegnung von Menschen, die isoliert voneinander ausgehalten hatten. Soldaten hatten ein paar Zivilisten zu Stephie geführt, da sie die Kommandeurin war. Die alte Dame mit der amerikanischen Flagge hielt einen Stoß Papiere hoch, und eine andere Familie brachte ein Bündel grüner Formulare, um es auf die der alten Frau zu legen. »Was ist das?«, fragte Stephie. »Wir haben uns gedacht, dass Sie das sehen sollten«, sagte die alte Frau, durch deren dicke Brillengläser große, traurige Augen zu sehen waren. Anscheinend hatte sie seit langer Zeit nicht mehr geduscht und gegessen. »Was ist das?«, wiederholte Stephie, während sie nach den Formularen griff, auf denen oben »Loyalitätserklärung« stand. In der Randspalte sah sie chinesische Schriftzeichen und Zahlen. »Niemand von uns hat das unterschrieben«, ertönte die Stimme eines Mannes aus der Menge. »Keiner aus dem ganzen Viertel.« Die alte Frau in dem Morgenmantel lieferte Stephie die Erklärung. »Wenn wir unterschreiben, haben die Chinesen gesagt, bekommen wir Lebensmittel und Medikamente. Dafür müssten wir nur unterschreiben. Aber keiner von uns hat es getan, keiner!« Weitere Formulare wurden auf den Stapel getürmt. Nickend überflog Stephie die Loyalitätserklärung, durch die nach dem Willen der Chinesen die Staatsangehörigkeit der »früheren Vereinigen Staaten« widerrufen werden sollte. Sie zog ein Feuerzeug aus der Tasche, was von Zivilisten und Soldaten gleichermaßen mit einem Lächeln quit612
tierte wurde, das sich zu einem Gelächter steigerte, als Stephie die Formulare anzündete und dann auf den Rasen fallen ließ. Schnell war das zerknitterte Papier verbrannt. Die alte Frau, die anderen Erwachsenen und die Kinder trampelten auf der rauchenden Asche herum. Als die Formulare schließlich allenfalls noch Symbole waren, beteiligten sich auch Stephies Soldaten an dem Ritual. »Ich wünschte, all die anderen könnten das hier noch erleben«, sagte Animal leise zu Stephie. Namen und Gesichter kehrten zurück, das Lächeln der Verstorbenen. Sie hatten gesiegt – aber John Burns war immer noch tot. »Lass und verschwinden«, sagte Stephie, die vor den Erinnerungen und den wortlosen Blicken fliehen wollte.
Peking, China 31. Dezember, 2130 Uhr Ortszeit In Peking wurde ein opulentes Bankett gegeben. Han saß am äußersten Rand des langen Tisches auf dem erhöhten Podium, weit entfernt von der für ihn mittlerweile unerreichbaren Mitte. Wegen des langen Fluges von Amerika nach China fühlte er sich ein bisschen desorientiert. Nachdem die Flugplätze auf Hawaii von versprengten amerikanischen Marines angegriffen worden waren, die mittlerweile alle tot sein mussten, hatte Han’s Maschine einen Umweg über Südamerika und den Südpazifik nehmen müssen. Etwa eintausend Würdenträger waren zu dem Bankett geladen worden, der riesige Saal von den Geräuschen zahlloser angeregter Unterhaltungen erfüllt. Die Leute in dem riesigen Saal saßen an runden Tischen, und die Prominenten auf dem Podium hatten nebeneinander und den Gästen gegenüber Platz genommen. Diese Sitzordnung bot wenig Gelegenheit für Gespräche, doch in der unmittelbaren Nahe von Han schien die Gesprächsbereitschaft ganz auf dem Tiefpunkt zu sein. Han kam die Sitzordnung auf dem Podium symbolisch vor. Familienbeziehungen existierten nur insofern, als man sie den Massen vorführen konnte. Hinter der Fassade waren Gefühle einzig für Mätressen reserviert. So etwas wie Liebe gab es 613
hier nicht. Diese Flausen waren der herrschenden Klasse über Generationen hinweg ausgetrieben worden. Bisher hatte Han sein Essen noch nicht angerührt. Jetzt beugte er sich vor, um zur Mitte des langen Tisches zu seiner Linken hinüberzublicken. Rechts davon saßen die Zivilisten, links – in gleicher Anzahl – Militärs, die in Begleitung ihrer Ehefrauen waren. Han selbst, der für die anderen mittlerweile kaum noch zu existieren schien, befand sich am rechten Rand des langen, mit weißen Leinentüchern gedeckten Tisches, neben entfernt verwandten Onkels und Cousins. Bisher hatte er sich nie auch nur die Mühe gegeben, sich deren Namen einzuprägen. Zu seiner Linken, weit weg, verlief die Grenze zwischen der zivilen und der militärischen Führungsschicht. Auch Han’s Vater und Mutter saßen in der Nähe der Mitte, und noch näher dran waren der Premierminister und dessen Gattin. Direkt an der Grenze hatte Wu Platz genommen, eine mittlerweile gewiefte politische Größe, der aber keine Uniform mehr trug, sondern einen dunklen Anzug. Bisher hatte Han seinen Sohn noch nie in Zivilkleidung gesehen. Wu hatte das Zentrum der politischen Welt besetzt, und während des ganzen langen Essens tauchten ihn die Scheinwerfer der Fernsehkameras in gleißendes Licht. Dazu kamen die Blitzlichter der Fotografen, die sein Bild für alle Zeiten verewigten. Han beugte sich noch weiter vor. Direkt neben Wu – auf der anderen Seite der Grenze – saß Liu Yi, die wunderschöne Lieblingsenkelin des, Verteidigungsministers. Die Partie, die für Han vorgesehen war – zumindest bis zu Wu’s Komplotten. Links neben Yi saßen der alte General, Liu Changxing, und seine nicht eben vorzeigbare Frau, daneben Yi’s Vater, ebenfalls ein General, und ihre Mutter. Dann folgten, hierarchisch nach Rang und Bedeutung angeordnet, all die anderen Offiziere nebst Gattinnen, und am Ende des Tisches fanden sich die untergeordneten Repräsentanten politischer Macht: Offiziere, die nicht etwa wegen ihres Rangs, sondern wegen ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen auf das Podium geladen worden waren. Und diese unbedeutenden Personen waren jetzt Han’s Gegenspieler in den Reihen der Militärs. Han hatte seine Macht verloren, und es war ein Schwindel erregender Absturz gewesen. Obwohl er alles getan hatte, was man von ihm erwartete, und jedem Befehl gefolgt war, hatte ihm das nicht mehr geholfen. Er 614
hatte sich keinerlei Fehlkalkulationen oder Versäumnisse zu Schulden kommen lassen, für die man ihn bestrafen würde. Doch als er in den frühen Morgenstunden in Peking gelandet war, hatte auf der finsteren Rollbahn nur ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf ihn gewartet. Den ganzen Tag über hatte Han versucht, ein Treffen mit Wu zu arrangieren, doch sein Sohn war durch andere Termine und Einladungen okkupiert. In Peking rissen sich alle nur noch um Wu, der bei seiner ersten großen Vorstellung in der Hauptstadt der Welt überall von spontanem Beifall empfangen worden war. Wurde er irgendwo gesichtet, unterbrachen die landesweit ausgestrahlten Fernsehsender sofort das laufende Programm. Einmal wurde er gefilmt, als er das Ministerium für Staatssicherheit verließ, dann wieder, als er vor dem Handelsministerium eintraf. Ein Essen mit dem Ministerrat, ein nachmittäglicher Besuch bei verschiedenen militärischen Befehlszentralen. Die Bewunderung der Massen, die Wu bei jedem Zwischenstopp entgegenschlug – und das war das eigentlich Erstaunliche –, war nicht von der Regierung inszeniert worden. Ein Phänomen wie Han Wushi war in China bisher unbekannt gewesen. Für das riesige Publikum vor den Fernsehschirmen war er gleichzeitig der verlorene Sohn und der militärische Held, ein Idol und der Retter der Nation. Denn Han Wushi war zu einem Symbol der Hoffnung geworden. Für Han glich er einer riesigen Leinwand, auf die jeder Zuschauer im ganzen chinesischen Reich seine Hoffnungen projizieren konnte. Für andere verkörperte Wu, der in der Schlacht so verbissen gekämpft hatte, den Fortbestand des Versprechens, dass der Krieg zu gewinnen war. Wieder andere sahen in seiner Weigerung, einen selbstmörderischen Angriff fortzusetzen, ein Anzeichen dafür, dass es mit dem sinnlosen Blutvergießen bald vorbei sein würde. Doch für alle bedeutete Wu den Wandel, und genau diesen Wandel sehnten alle herbei. Ein neues Gesicht, frischer Wind in den muffigen Korridoren der politischen Machtzentralen Pekings, in denen bisher Greise residiert hatten. Wu spielte seine Rolle als Hoffnungsträger und Projektionsfläche für die Masse gerade deshalb so perfekt, weil er für ein größeres Publikum ein völlig unbeschriebenes Blatt war. Da er noch nicht jahrelang in politische Intrigen verwickelt gewesen war, hatte er eine blütenweiße Weste. Dazu kam, dass er Mitglied der zivilen Herrscherfamilie und Soldat war – ein Soldat mit Fronterfahrung, der durch einen Streifschuss des Feindes 615
eine lange rote Wunde im Gesicht davongetragen hatte. Han war klar, dass Wu das alles nicht allein bewerkstelligt hatte. Außerdem war das Ganze nicht überstürzt inszeniert worden. Dieser Plan war ganz oben ausgeheckt worden, schon vor Monaten, vielleicht vor der Invasion. Ob der Plan ursprünglich auf Zivilisten oder Militärs zurückging, wusste Han nicht, aber letztlich hatten ihn beide Seiten gebilligt. Sowohl der Premier als auch der Verteidigungsminister hatten Wu für ihre Zwecke eingespannt, doch er hatte selbst tatkräftig an allem mitgewirkt. Han war sicher, dass der Mord an General Sheng und Oberst Li vom Premierminister und General Liu gemeinsam angeordnet worden war. Für Ersteren war Sheng schon immer eine Gefahr gewesen, für Letzteren hätte er zu einer solchen werden können. Aber die Überstellung Bill Bakers und seiner Tochter an die Amerikaner war ganz allein Wu’s Idee gewesen, und er hatte niemandem etwas davon erzählt. Es war ein Indikator für Wu’s neue politische Macht, dass weder die Zivilisten noch die Militärs mit einer Kampfansage reagiert hatten – eine kluge Entscheidung. Wie alles, was Wu getan hatte, war auch seine konziliante Geste an den Feind äußerst populär. Nun war Wu, der niemandem zu Dank verpflichtet war, ein eigenständiger politischer Machtfaktor. Doch offensichtlich glaubten die alten Narren in den beiden sich erbittert befehdenden politischen Lagern, seine Macht begrenzen und ihn zu ihrem eigenen Vorteil einspannen zu können. Auch Han’s Nachbarn starrten – genau wie er – auf Wu. Han lehnte sich zurück und begann, in seinem Essen herumzustochern. Als er, noch unter dem Jetlag leidend, an diesem Abend in dem Saal eingetroffen war, wo das Bankett gegeben wurde, hatte er sich ganz hinten in der Warteschlange anstellen müssen. Die Gäste defilierten an dem tapferen, jungen Wu mit dem Gesichtsverband vorbei, dann an einer wunderschönen, strahlenden und ebenfalls noch jungen Yi, die Wu bei seiner Ankunft vor dem Gebäude zum ersten Mal gesehen hatte. Das Warten verschaffte Han Zeit, sich innerlich auf die Begrüßung seines Sohns vorzubereiten. Wu’s Stolz würde durch eine düstere Stimmung gedämpft sein. Ein fester Händedruck, ein verkniffenes Lächeln, ein Nicken. Dagegen war Yi vermutlich bester Laune, und auch Han würde sie gut gelaunt begrüßen: »Vielleicht kann ich Ihnen bei Ihrem nächsten Amerikabesuch Disneyland zeigen.« Denn immerhin war Han direkt vor dem Start seiner Maschine – der Flughafen von Atlanta würde bald nach Han Wushi benannt werden – zum Administrator 616
aller besetzten amerikanischen Gebiete ernannt worden, im Westen und im Osten des Landes. Aber noch bevor Han bei den beiden Ehrengästen angekommen war, wurden alle an ihre Tische gebeten. Wahrscheinlich würde sich ihm jetzt keine Gelegenheit mehr bieten, mit den beiden frisch Verheirateten zu reden. Denn bevor es sich noch jemand anders überlegte, war die Trauung vor dem Bankett in aller Eile über die Bühne gebracht worden. Han hatte die Neuigkeit fluchend zur Kenntnis genommen, weil dadurch sämtliche Pläne nichtig geworden waren, an denen er den ganzen Tag über gearbeitet hatte. Bevor er etwas unternehmen konnte, hatten sich die beiden Hälften der politischen Welt gegen ihn verbündet. Das Summen in dem riesigen Saal verstummte wie das Zirpen von Grillen bei der Annäherung eines Raubvogels – Verteidigungsminister Liu stand auf. Ein Soldat hielt das Richtmikrofon so, dass es nicht von den Kameras erfasst wurde. Dem Minister zu Füßen saßen – schweigend und erwartungsvoll – schlechthin alle, die in der chinesischen Politik eine Rolle spielten: Minister, Generäle, Behördenchefs und Unternehmensbosse. Selbst aus den entferntesten Ecken des weitläufigen Reichs waren kurzfristig Botschafter und Gouverneure angereist, alle in Begleitung ihrer ungeheuer wichtigen und politisch fanatischen Ehefrauen, die ebenfalls zu dem angeblich gesellschaftlichen Ereignis eingeladen worden waren. Als der Verteidigungsminister sein Glas erhob, standen alle auf, und auch Han machte selbstverständlich keine Ausnahme. Sekunden später war das kratzende Geräusch von tausenden Stuhlbeinen verstummt. »Ich möchte mit Ihnen auf das Wohl eines jungen Mannes anstoßen«, ertönte die Stimme des Generals über die Lautsprecher im Saal und über die von einer Milliarde Fernseher, »der all das verkörpert, was wir in Ehren halten. Er entstammt einer von Chinas bedeutendsten Familien, die den legendären Namen Han trägt. Er ist ein dekorierter Kriegsheld, der seine Soldaten heldenhaft in die siegreiche Schlacht um Washington geführt hat! Und jetzt ist er das jüngste Mitglied meiner stolzen Familie. Lassen Sie uns auf Han Wushi anstoßen!« Die Reaktion des Publikums ließ nicht lange auf sich warten. »Auf das Wohl von Han Wushi!«, riefen wie aus einem Mund eintausend Würdenträger, während die Fernsehkameras surrten und die Blitzlichter der Fotografen aufflammten. Indem die Gäste Wu’s Namen riefen, leiste617
ten sie einen Eid der Loyalität zum neuen Regime. Zivile politische Führungspersönlichkeiten und Offiziere der Armee versprachen, sich im Sinne des höheren Wohles Chinas hinter den jungen Wu zu stellen. Für Han bezeugte das ihre geheime, von allen geteilte Furcht vor dem wieder erwachten Giganten jenseits des Meeres. Denn Chinas Armee hatte die Chance verpasst, diesen Giganten zu töten, während er sich noch schlummernd in Sicherheit wiegte. Während Han den Trinkspruch aufsagte, schoss ein einsamer Fotograf ein Bild von ihm, doch dann eilte auch er wieder zum Mittelpunkt des Geschehens. Aller Interesse galt einzig und allein Han’s Sohn und seiner Schwiegertochter. Alle standen, und manche richteten sich gar auf den Zehenspitzen auf, als Wu und Yi zur Tanzfläche gingen und auf dem Parkett, wie immer ins gleißende Licht der Scheinwerfer getaucht und von einem Dutzend Kameras gefilmt, einen Walzer tanzten. Lächelnde Generäle und Minister schauten wohlwollend zu. Was während des letzten Jahrzehnts undenkbar gewesen war, wurde jetzt Realität: Greise Männer in Uniform unterhielten sich freundschaftlich mit ebenso alten Zivilisten in Anzügen. Die Zahl der Pressefotografen überstieg die der Kameramänner, und ihre Bilder würden in ganz China und der restlichen Welt eine unmissverständliche Botschaft verkünden. Ohne das Wissen des ahnungslosen Han hatte die zivile politische Führung bei ihrem entscheidenden Machtkampf mit den Militärs auf zwei Pferde gesetzt, Im letzten Moment war der Premierminister der Konfrontation ausgewichen, deren Zuspitzung Han für ihn in Szene setzen sollte, und hatte sich für den Kompromiss entschieden. Eine solche Änderung des politischen Kurses hatte natürlich auch zu personellen Veränderungen geführt. Der junge Wu, eine perfekte Mischung aus einem Soldaten und einem politisch einflussreichen Zivilisten, hatte die selbstzerstörerische Kollision zwischen den beiden Machtzentren zu verhindern gewusst. Die alte Garde tritt ab, neue Leute kommen an ihre Stelle, dachte Han verbittert. Der König ist tot, lang lebe der König! Han stand auf und verließ den Saal, ohne dass das irgendjemandem aufgefallen wäre. Hohe politische Würdenträger, die einst vor ihm gekrochen waren, ignorierten ihn jetzt. Er stand für eine schlimme Vergangenheit, Wu für eine glänzende Zukunft. Han kehrte in seine Wohnung zurück, wo Shen Shen in einem kurzen 618
Negligee vor dem Fernseher wartete. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, doch ihre Miene verriet wütende Entschlossenheit. Sie war mit Han in dessen Privatjet nach China zurückgekehrt und hatte während des ganzen Fluges Intrigen gesponnen. »Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte sie Han. »Nein«, antwortete er, »aber morgen wird Wu den Unternehmen in Hongkong seinen Antrittsbesuch abstatten. Wohnen wird er im Haus unserer Familie. Dafür kann ich dir eine Eintrittskarte verschaffen.« »Wird er allein sein?«, fragte Shen Shen. Lächelnd nickte Han. »Yi bleibt in Peking.« »Und heute Nacht? Schlafen sie in getrennten Betten?« »Das bezweifle ich«, sagte Han, diesmal mit einem grausamen Lächeln. Shen Shen knirschte mit den Zähnen. »Immerhin lässt er sie schon einen Tag nach der Hochzeit allein.« Erneut wandte sie sich dem Fernseher zu. Der junge Wu lachte übermütig, während er den aus der Flasche spritzenden Champagner vergoss. Mit ihren einundzwanzig Jahren war Yi älter als Wu, aber sie kicherte wie ein zehnjähriges Mädchen. All die alten Leute um sie herum, die Han niemals auch nur lächeln gesehen hatte, lachten jetzt mit den beiden fröhlichen jungen Eheleuten. Das Bild war das im Fernsehen ausgestrahlte Symbol eines glücklichen künftigen Lebens, das eines Tages auch auf Chinas zurückkehrende Soldaten wartete. »Diese Schlampe!«, fluchte Shen Shen, während sie wütend ein Satinkissen zerknüllte. »Ich werde mich um sie kümmern«, sagte Han. »Und du kümmerst dich um Wu, wie immer das auch aussehen mag.« Er lächelte und schaltete das Licht aus. Er fand ihren Körper im flackernden Licht des Fernsehers, von dem die beiden auch dann kaum den Blick lassen konnten, als sie miteinander schliefen.
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Philadelphia, Marinewerft 15. Januar, 1330 Uhr Ortszeit Captain Stephanie Roberts von der United States Army stand im Hafen von Philadelphia auf einer Bühne und blickte auf das funkelnde blaue Wasser hinaus, wo sie ein Dutzend Kriegsschiffe sah. Admiral Thornton erzählte ihr, die wichtigsten Eskorten der Arsenalschiffe seien unsichtbar. »Unsere Werft in New London in Connecticut hat sehr schnell neue Unterseeboote gebaut«, sagte der Oberbefehlshaber der Marine, der eine blaue Paradeuniform mit goldenen Epauletten trug. »Und die werden dafür sorgen, dass es im Meer um den Verband herum keine chinesischen Unterseeboote gibt.« Auf Stephie wirkte der Admiral außerordentlich zufrieden, vermutlich deshalb, weil er jetzt endlich eine Hauptrolle in diesem Krieg spielen konnte. »Die genaue Anzahl dieser neuen Unterseeboote unterliegt natürlich der Geheimhaltung«, sagte Thornton, bevor er sich näher zu Stephie herüberbeugte. »Aber es sind mehr, als die Chinesen glauben«, flüsterte er. »Sie halten unsere Produktionskapazität für begrenzt, aber es sind sehr viel mehr, als sie denken.« Er zwinkerte Stephie zu und lächelte dann. Unter ihnen spielten Kapellen für die blau gekleideten Marinesoldaten und Zivilisten, die Fahnen schwenkten und Transparente mit patriotischen Sprüchen hochreckten. Stephie vermutete, dass es sich bei den Zivilisten um die Werftarbeiter und ihre Familien handelte. »Haben Sie Urlaub?«, fragte Admiral Thornton Stephie. »Ja, Sir«, antwortete sie knapp. »Wo ist Ihre Einheit jetzt?«, fragte ein anderer Marineoffizier. »In Südvirginia«, antwortete Stephie. »Möge Gott ihnen beistehen«, bemerkte der gut gelaunte Thornton, während ihm die in den zwei Sitzreihen hinter Stephie zuhörenden Offiziere mit ihren Ehefrauen zulächelten. »Wir sollten langsam damit anfangen, ihnen die Sache etwas leichter zu machen. Hab’ ich nicht Recht, Jungs?« Diesmal richtete sich Thornton an das Korps höherer Marineoffiziere, das ihn umringte. »Aye, Sir!«, antworteten die Männer in Blau wie aus einem Mund. Stephie wandte sich ab. Diese Speichellecker von der Navy!, dachte sie verächtlich. Offensichtlich wartete Thornton darauf, dass sie etwas sagte. 620
»Wann werden die Arsenalschiffe auslaufen?«, fragte sie. »Mit Besatzung und kampfbereit, meine ich.« »Das unterliegt natürlich auch der Geheimhaltung«, antwortete Thornton und beugte sich erneut zu ihr vor. »Nächste Woche«, flüsterte er. Weil sie ein wissendes Grinsen unterdrücken mussten, verzogen die Kapitäne und Admiräle die Gesichter. Offensichtlich konnten sie es gar nicht abwarten, bis es endlich so weit war. Die Kapellen hörten zu spielen auf, und über die Lautsprecher ertönte die Stimme von Stephies Vater, den sie auf einem Bildschirm sah. Er stand – etwa fünfhundert Meter weit entfernt – am Bug eines der riesigen Arsenalschiffe. Obwohl er nur eine kurze Rede hielt, wurde er ein Dutzend Male durch den Applaus und die Hochrufe der Menge unterbrochen. Am lautesten waren die Rufe nach seinen letzten Worten. »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen U.S.S. Ronald Reagan!« Als Bill Baker eine Flasche gegen den Rumpf des eine halbe Million Tonnen schweren Ungetüms schleuderte, schwoll der Applaus weiter an. Von ihrem Beobachtungsposten aus blickte Stephie auf das lange, flache Deck, das an einen Supertanker erinnerte. Doch anstelle von Öl befanden sich auf diesem Schiff achttausend Senkrechtstartsysteme für Marschflugkörper, die sich selbst vollautomatisch nachluden. In seinem Inneren lagerten in den Magazinen hunderttausend spezielle, für alle Zwecke ausgelegte Flugkörper. »Soldaten und Soldatinnen der United States Navy!«, rief Bill Baker. »Bemannt dieses Schiff und nehmt es in Betrieb!« Wieder begannen die Kapellen zu spielen, und Marinesoldaten in Paradeuniformen liefen die Fallreepstreppen hinauf. Ein Dutzend Kampfflugzeuge flog über ihre Köpfe hinweg, dicht gefolgt von sechzig Flugkörpern, die eine perfekt synchronisierte Kunstflugvorführung boten. Nachdem die Lenkwaffen schließlich gleichzeitig explodiert waren, war der Zeitpunkt gekommen, wo Stephie ins Rampenlicht treten musste. Sie war wie versteinert, und ihre Hände waren so kalt, dass sie ihre eigene Haut nicht zu berühren wagte. Alle Fernsehkameras richteten sich auf sie, und ihr Vater, der weiter weg auf einer identischen Bühne stand, betrachtete auf seinem Monitor lächelnd das Bild seiner Tochter. Admiral Thornton reichte ihr eine Riesenflasche Champagner, die in einem Netz mit einem langen Seil daran lag. Stephie trat vor die vielen Mi621
krofone und musste blinzeln, weil die Blitzlichter der Fotografen sie blendeten. Sie räusperte sich. »Nur zu«, flüsterte Admiral Thornton. Mit aller Kraft schleuderte Stephie die Champagnerflasche gegen den knapp zehn Meter entfernten Schiffsrumpf. Die Menge johlte bereits, bevor die Flasche an dem schwarzen Bug zerschellte. Das Publikum bekam sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Stephie zuckte zusammen. Die Schiffstaufe hätte eigentlich der letzte Akt ihres Auftritts sein sollen, nicht der erste. »Ich hab’ Scheiße gebaut«, flüsterte sie Admiral Thornton zu, doch sie stand zu nah vor den Mikrofonen. Tausende Zuschauer brachen in noch lauteres Gelächter aus. Auf dem Bildschirm sah Stephie, dass sich auch ihr Vater köstlich amüsierte. Sie spürte, wie sie errötete. »Sie sind noch nicht fertig«, sagte der grinsende General. Stephie räusperte sich erneut, trat dicht vor die Mikrofone und sprach den Text, den sie in der vergangenen Nacht auswendig gelernt hatte. »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen U.S.S. Bill Baker!« Die Lautsprecheranlage ließ ihre Stimme durch den ganzen Hafen schallen. »Soldaten und Soldatinnen der United States Navy, bemannt dieses Schiff und nehmt es in Betrieb!« Wieder brach die Menschenmenge in Hochrufe aus, diesmal noch lauter. Die Kapellen spielten die Nationalhymne. Amerika meldete sich als Seemacht zurück.
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