KLEINE BIBLIOTHEK DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
GÖTZ WEIHMANN
IRLAND INSEL UNTER DEM ...
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KLEINE BIBLIOTHEK DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
GÖTZ WEIHMANN
IRLAND INSEL UNTER DEM D O P P E L T E N REGENBOGEN
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K - BASEL
JNein, es roch nicht, es stank. Es stank nach Babywindeln, Seekrankheit und Alkohol. Eine feine Mixtur! Und diese Dunstwolke lag über einem Raum unter Deck, der für sechzig Personen gedacht und mit hundertdreißig Menschen besetzt und belegt war — wobei ich eigentlich noch hinzufügen müßte: bestellt, denn viele standen auch, siebeneinhalb Stunden hindurch. So lange dauert nämlich die Überfahrt vom englischen Hafen Fishguard nach dem irischen Hafen Waterford. Aber es machte ihnen nichts aus, denn sie waren alle Iren, und das heißt, sie waren Mühsal und Entbehrungen gewohnt. Wer hätte gedacht, daß die Schiffe von der britischen Insel nach Irland so ausverkauft — nein, so überquellend vollgestopft sein würden! Denn Irland, nicht wahr, das ist doch ein belangloses Eiland am Rande Europas, sowohl geographisch wie politisch und wirtschaftlich ohne jede Bedeutung und somit auch ohne Bedeutung für alle, die nicht zufällig dort wohnen. Was gibt's da schon über den Sankt.Georges-Kanal hin- und herzufahren? Nun, das sah ich eben recht deutlich, was es da hin- und herzufahren gibt! Vor mir auf dem Sofa, zum Beispiel, saß eine Mutter mit vier Kindern; ein fünftes hockte auf der Lehne, Nummer sechs — der Älteste — lag zu Füßen dieses Stillebens langestreckt, Nummer sieben — das Jüngste — strampelte im Kinderwagen. Der Vater der Familie stand gegen eine Stützsäule gelehnt. Zwei weitere Erwachsene, wohl Onkel und Tante oder so etwas Ähnliches, teilten sich in einen Klappstuhl, der die Belastung allerdings nur die halbe Überfahrt aushielt. Dies zusammen war eine ganz durchschnittliche Durchschnittsfamilie hier an Bord. Zwar gab es auch Familien mit nur drei Kindern, dafür fand ich draußen auf dem Vordeck eine mit neun. Später sollte ich lernen, daß Irland das kinderreichste Land 2
Europas ist, wo Familien mit mehr als zehn Kindern nichts besonders Bemerkenswertes sind. Was hier auf dem Schiff war, kam meist von Verwandtenbesuch: Man war bei der ältesten Tochter gewesen, die drüben in Birmingham als Hausmädchen tätig war, hatte den Sohn in Newport besucht, der dort als Mechaniker recht gut verdiente, oder man hatte den Neffen hinüberbegleitet, den eine Stellung beim Onkel zweiten Grades nach Llandrindod in Wales gelockt hatte. Denn das ist das Schicksal des Iren: auszuwandern. Nur zwei aus der Familie, im Durchschnitt gerechnet, können in der Heimat bleiben, auf diesem Boden, der für mehr Menschen einfach nicht genug hergibt; alle anderen müssen hinaus in die Fremde — nach England, nach Brasilien, nach den Vereinigten Staaten, nach Kanada. Wie hart kommt ihnen das an! Denn selten hängt ein Menschenschlag so an seinem Heimatboden und an seiner Familie wie der Ire, verläßt einer sein Zuhause so schwer wie er. Ein auswandernder Irländer, das ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Und doch wimmelt es in den überseeischen Arbeitsvermittlungsbüros von Iren. Man sagt, Menschen seien Irlands bester Exportartikel.
Und es stank nicht nur, es wurde auch gegreint und geweint, gelallt und gelacht. Nämlich, gleich nach der Abfahrt — das war punkt zwölf Uhr nachts — hatte der Schenkkellner hinter der Bar seinen Laden aufgemacht; und wenn auch der Weg nach dort, quer durch den Raum zwischen den Stehenden, Sitzenden, Hockenden, Liegenden hindurch, die Fähigkeiten eines Seilakrobaten erforderte, so schaffte das doch ein jeder, der das wollte. Und viele wollten esl Zwar waren die Preise nicht niedrig, besonders wenn man auf echten irischen Whiskey spekulierte (der sich — im Gegensatz zum schottischen — mit einem e vor dem y schreibt), aber für Alkohol macht der Ire immer noch einen Schilling locker. Wohl gab es auch ein paar Nicht-Irländer in diesem Zweite-KlasseGemeinschaftsraum, aber mehr als fünf waren es sicher nicht. Denn was ein Engländer ist, der fährt natürlich Erster Klasse, und sonstige Touristen tun das auch. 3
Ich persönlich habe immer am meisten davon, wenn ich nicht Erster fahre, sondern „Volksklasse". Denn in den Salons sieht's überall in der weiten Welt gleich aus. Dabei hätte ich ein Stockwerk tiefer für eine Kleinigkeit immerhin eine sehr bequeme Liegestatt haben können, mit Ruhe, guter Luft und richtiger Bettwäsche. Von den fünfundzwanzig Plätzen dort waren ganze sechs belegt, obwohl sie nur drei Shilling kosteten. Aber hätte ich dann sehen können, wie eine fünfköpfige Familie in einer knappen halben Stunde eine Zweiliterkanne Tee hinunterplempert? Wie Papa das Baby versorgt, damit Mutti ein wenig nicken kann? "Wie ein in der Hocke Schlafender kurz hintereinander viermal von Vorüberbalancierenden umgestoßen wird und sich jedesmal in stoischem Gleichmut und ohne ein murrendes Wort wieder zurechthockt zu neuem Schlafversuch? Und überhaupt, wann wäre eine bessere Gelegenheit gewesen, den Iren als Typ zu studieren? , Aber der Ire ist gar kein Typ — ich meine jetzt in seinem äußeren Erscheinungsbild. Er wirkt, im Gegenteil, in jeder Hinsicht unscheinbar, durchschnittlich, oft sogar ein bißchen verquert. Wer hier „Rasse" erwartet, wird enttäuscht! (Das ist genau wie beim Norweger, der so gar nichts von dem erwarteten „nordischen Menschen" hat.) Nein, die Werte des Iren liegen nicht im Äußerlichen; sie liegen im Herzen und in der Seele.
Pünktliche Dampfer sind, finde ich, immer etwas Erstaunliches. Man bedenke: die Strömungen, Wind und Nichtwind, Ebbe und Flut — so voller Wankelmut ist der Wasserweg! Doch auch diesmal waren wir pünktlich. Morgens gegen halb acht legte sich unser „Transporter" am Kai von Waterford längsseits. Die Menschen quollen über die Gangway, schiebend und quetschend und drängelnd, wie überall in der Welt, wo ein Dampfer seine Passagiere ausspuckt, lärmend und lachend. Ich nahm mir Zeit, denn mein Auto — als erstes von vielleicht vierzig in den Schiffsbauch hineingesenkt — würde sicher als letztes aus dem Schiffsbauch wieder herauskommen. Und da stand ich nun auf irischem Boden und — fror. Im August! Das machte der Wind. Wind ist das eine Wetterelement Irlands, Regen das andere, Sonne das dritte. Man wird sagen: wo ist das 4
Von einem begrünten Felsen grüßt die Ruine einer siebenhundertjährigen Kathedrale herüber. nicht! Und doch, auf dieser Insel empfindet man Wind, Regen und Sonne — jedes für sich — mit ganz anderer Eindringlichkeit als unter unserem Himmel. Wenn es auf Irland weht, dann ist dieses Wehen allbeherrschend; wenn es regnet, dann, meint man, regnet die ganze Welt; und scheint die Sonne, dann ist da Sonnenschein und Leuchten durch und durch. Da aber hier im Sommer Regen und Sonne in einem ständigen Machtkampf liegen und wie zwei Florettfechter in raschem Wechselspiel gegeneinander vordringen und gleich darauf blitzschnell retirieren, empfindet auch der Mensch (jedenfalls der, dem solches ungewohnt ist) einen ständigen Wechsel zwischen Himmelhochjauchzend und Zutodebetrübt. Sechs-, achtmal am Tage vertreibt die Sonne den Regen und vertreibt der Regen die Sonne. Blitzblauer Himmel ohne ein Wölkchen — zwanzig Minuten später tropischer Schüttregen — dann wieder blauer Himmel mit schnell in die Ferne ziehenden Wolkenballen. Und zwischen Regen und Sonnenschein jedesmal Regenbögen, fast stets in doppeltem Halbkreis 5
geschlagen und von so unwahrscheinlicher Leuchtkraft, daß man glaubt, der Himmel brenne. Ich sagte, ich fror. Also ging ich ins nächste Gasthaus eine Tasse Tee trinken. Eine Tasse, das heißt hierzulande: eine Vier-MannKanne voll. Übrigens, Tee erster Qualität! Daß ich dennoch nur die halbe Portion zwang, konnte die Kellnerin offenbar gar nicht begreifen. Gegen neun Uhr stand ich wieder am Pier. Die Ladearbeiter am großen Kran machten gerade Teepause, die dritte schon seit halb acht, wie ich hörte. Wenn einer Durst hatte, hörten alle auf mit der Arbeit. So setzte ich mich auf einen Steinsockel und guckte in die irische Luft. „A nice day today, is'nt it?" Einer war herangekommen, mich so anredend. „Ein hübscher Tag heute, nicht wahr?" Natürlich konnte der Mann nicht begreifen, warum ich daraufhin zu lachen anfing. Er wußte ja nicht, daß mir vor der Abreise zu Hause ein Irland-Kundiger gesagt hatte: „Ich wette mit Ihnen, daß der erste Mensch auf der Insel, der Sie anredet, vom Wetter sprechen wird!" Er hatte die Wette gewonnen. „A nice day today", gelegentlich variiert durch „lovely" statt „nice", was dasselbe bedeutet — jedes Gespräch hebt unweigerlich damit an. Und so geht es weiter: „In der Tat, ein herrlicher Tag heute." „Ja, ich hoffe, es wird so bleiben!" „O, ich hoffe auch. So ein schöner Tag ist sehr bemerkenswert." „Sie haben recht, sehr bemerkenswert!" „Letztes Jahr um diese Zeit war es nicht ganz so schön, dieses Jahr haben wir einen besonders feinen Sommer." „Wahrhaftig, dies ist ein höchst bemerkenswerter Sommer!"
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Ein paar Tage später geschah mir Folgendes: In einer sehr belebten Straße der südirischen Hafenstadt Cork hatte ich an verbotener Stelle geparkt. Gleich kam ein Polizist. Er wollte eben den Mund aufmachen, da kam ich ihm rasch zuvor: „It's a nice day today, is'nt it?" Von da ab wurde nur noch vom Wetter gesprochen. Man muß das verstehen. Das Wetter ist für den Iren ein lebensbestimmendes Element. Es kann dort — besonders in den schlechten 6
Jahreszeiten — so gotterbärmlich regnen, so durch und durch nässen und stürmen und nebeln, und dies an manchen Tagen so unaufhörlich, daß der Mensch die Sonne des Sommers als Gottesgeschenk empfindet, welches man nicht genug lobpreisen kann. „A nice day" — das soll ja gar nicht so sehr ein „hübscher" Tag heißen, sondern ein glücklicher: glückbringend durch seinen Sonnenschein oder, in den düsteren Monaten, auch schon durch seine Regenlosigkeit. Mit anderen Worten, es heißt nicht mehr als unser „Guten Tag, na wie geht's?" Da wir einen very nice, einen very lovely day hatten, kam mein Auto bereits gegen elf Uhr ans Tageslicht. Und schon setzte das Ungetüm von Kran es zart und elegant auf den Kai. Der Zöllner fragte nach Schmuggelware, der Hafenpolizist nach Gewehren, Maschinenpistolen und Sprengstoffen, der Gehilfe des Hafenmeisters besprühte unterdes die Räder des Wagens mit einem Mittel gegen das Einschleppen von Maul- und Klauenseuche. Und „schon" rollte ich von dannen — im Linksverkehr übrigens, wie auf der britischen Insel.
Das Stichwort „britische Insel", zusammen mit der Frage des Polizisten nach Waffen, bringt mich ganz zwanglos zu ein paar Worten über die politische Struktur dieser Insel: Irland ist wie das heutige Deutschland ein geteiltes Land. Von den 32 Grafschaften, den „County's", bilden 26 die völlig selbständige, fast rein katholische „Irische Republik" — in der gälischen Ursprache „Poblacht na Eireann" genannt —, die restlichen sechs das zu England zählende gemischtgläubige „Nordirland", englisch „Northern Ireland". Die Grenze zwischen der Republik und Nordirland ist heute noch umstritten und so scharf bewacht und so gesättigt mit politischem Sprengstoff, wie nur je eine Grenze es sein kann. Unablässig patrouillieren hier auf englischer Seite Polizei und Miliz, sticheln auf irischer die Freiheitskämpfer mit Protestaktionen, nächtlichen Gewehrschüssen und auch Brückensprengungen. Protest gegen wen? Nun, gegen die verhaßten Herren im Norden, gegen den Engländer, dem sie zwar nach jahrhundertelanger Besatzungszeit endlich, im Jahre 1921, fünf Sechstel der bis dahin gänzlich von ihm beherrschten Insel wieder entrissen haben, der nun 7
aber auch aus dem restlichen, dem nördlichen Sechstel verschwinden soll, ein Wunsch, den man einem so freiheitsdurstigen Volk wie den Iren nachfühlen kann. Freilich, die in Nordirland lebenden Menschen — im Laufe der Zeit sehr bewußt mit britischen Volksteilen durchsetzt und vor allem wirtschaftlich sehr, sehr viel besser gestellt als die Republikaner — wissen gar nicht recht, wie sie sich verhalten sollen: Was darf die Unabhängigkeit kosten, was ist die politische Freiheit wert? Dazu die religiösen Gegensätze, die hier sehr ernst genommen werden und Jahrhunderte hindurch Anlaß zu schweren Kämpfen gewesen sind. So ist die Teilung der Insel politisch, wirtschaftlich und religiös das Zentralproblem Irlands, für das es vermutlich überhaupt keine Lösung gibt.
Mein Landepunkt Waterford ist ein nicht gerade kleiner, doch auch nicht besonders attraktiver Hafenort im Südosten der Insel, also im Freistaat. Weitaus wichtigster Hafen ist Cork, gälisch „Corcaish", die 80 000-Menschen-Stadt an der Mündung des Lee. Dorthin wollte ich zunächst einmal! Die Straße war — wie allgemein in Irland — in tadellosem Zustand, asphaltiert und somit staubfrei, doch wenig befahren. Auf der Karte führt sie dicht am Wasser entlang; aber wie das oft so ist mit sogenannten Küstenstraßen: nur ganz gelegentlich kommt das Meer in Sicht, und man bemerkt kaum, wie rauh, ,wie zerrissen die Küste hier ist. Schon diese Namen der zahllosen vorspringenden Felsköpfe: Dunabrattin Head, Ballyvoyle Head, Ardmore Head, Knockadoon Head . . . so geht das dutzendweise fort, und wenn man die ganze Insel rundet — was man kann —, dann sogar hundertweis. Nicht weit ab von der Küste aber, gleich nördlich der Straße, hebt sich das Land, steigen die ersten Gebirge an. Da sind die Comeraghund die Monavullagh Mountains, nur zwölf Kilometer in der Luftlinie entfernt, gleich drauf die Knockmealdown Mountains, dann wieder etwas sanftere Hügel wie Tallow Hill oder Caher-Hill. Und so geht das fort. Fast die ganze, 84 000 Quadratkilometer große Insel, was der Fläche Österreichs entspricht, ist von Gebirgen gesäumt. Doch da ist schon Cork. Eine betriebsame Stadt! Beiderseits des Flusses mächtiger Autoverkehr, doppelstöckige Omnibusse wie in Lon8
don, nur grün statt rot lackiert; Ladengeschäfte jeder Art und Ausstattung, doch dann wieder ein geradezu jammervoller Kramermarkt in der Cornmarket Street, wo die ärmere Bevölkerung abgelegte Kleider und getragenes Schuhwerk kaufen und verkaufen kann: Weiter ein paar der wenigen irischen Industriewerke, wie es sich für eine solche alte Hafen- und Handelsstadt gehört: Textilfabriken, Mühlen, Brauereien und was nicht alles. Wie gesagt, eine betriebsame Stadt! Doch auch das Geistige und Geistliche hat hier ein Zentrum: Cork ist Bischofssitz, hat ein Universitäts-College, Theater, Museen. Nur eines: Cork fesselt nicht. Man braucht für Cork kaum viele Tage vorzumerken! Anderes lockt den Reisenden mit mehr Berechtigung. Vieles, vieles lockt!
Denn Irland ist groß und weit. Es ist, möchte ich sagen, doppelt so groß wie auf der Landkarte. Das macht schon einmal das unerwartet dichte Straßennetz, auf dem man von überall nach überall und
Die „Cottage", das Haus des irischen Bauern und Fischers — das Strohdach ist in sturmreichen Gegenden mit Schnüren verspannt." 9
selbst zu den abgelegensten Ecken gelangen kann; das machen aber vor allem die schier unzählbaren Kulturdenkmäler aus alten und ältesten Zeiten, die sich allerorten finden und von denen man doch wenigstens die bedeutendsten gesehen haben möchte, von der immer wieder wechselnden, großartigen und tief beeindruckenden Landschaft ganz abgesehen, und ebenso auch von der näheren Berührung mit den eigenartigen Menschen Irlands. So gibt es sich, daß man im üblichen touristischen Sinne gar nicht recht vorankommt auf dieser Insel, daß Woche auf Woche vergeht und man immer noch nicht über die untere Hälfte der Landkarte hinausgekommen ist. Das ist die große Überraschung für jeden, der zum erstenmal und unvorbereitet auf eine Reise durch Irland geht: Es ist dies eben nicht „ein belangloses Eiland am Rande Europas und ohne Bedeutung für alle, die nicht zufällig dort wohnen." Nein, Irland i s t . . . Und nun muß ich einmal tief Luft holen und sagen: Irland ist ein uraltes Kulturreich, von den verschiedensten Völkerschaften bestürmt, oft besiegt und besetzt, dann wieder befreit und wieder überwältigt — und hat dabei doch immer seine eigene Art und seine eigene Geisteswelt (und Geisterwelt!) bewahrt. Zur Gruppe der Kelten zählen sie, die Iren, und so sprechen sie ihr Gälisch •— einen keltischen Dialekt — in manchen abgelegeneren Teilen des Landes neben dem sonst üblichen dialektisch verfärbten Englisch noch heute. Den christlichen Glauben haben sie schon sehr frühzeitig übernommen. Aber bis heute haben sich auch heidnische Vorstellungen und heidnische Bräuche erhalten. (Auf dem Lande werden verfallene Häuser nicht abgerissen, denn es könnten ja die Geister daraus in das neuerbaute Haus nebenan überspringen — da verzichtet man lieber auf das schöne Baumaterial.) Dabei sind es Iren gewesen, die das Christentum in Mitteleuropa verwurzelt und überhaupt geistiges Gut gepflegt und in alle Länder getragen haben. Wer weiß heute noch, daß beispielsweise das schweizerische St. Gallen eine irische Gründung ist? St. Patrick, das ist der bedeutendste irische Sendbote (allerdings englischer Herkunft) gewesen, der um das Jahr 400 gewirkt hat und heute drüben als Schutzheiliger und als Symbol der Verbreitung des christlichen Glaubens verehrt wird. Sankt-Patricks-Kreuze finden sich überall im Land. Und überall auch die lebendig gebliebene Erinnerung an alte Zeiten — in ihren Sagen 10
und Geschichten, in ihren Häusern, ihren Karren und Boot ihren unzählbaren Kirchen- und Festungsruinen, in ihren teilwe'se wohlerhaltenen großartigen Rundtürmen aus jener Zeit, als die Wikinger ins Land gestürmt kamen und vergebens gegen diese fensterund trittlosen „Schornsteine" anrannten, weil die Männer oben die Strickleitern hochgezogen hatten. Ja, lebendig gebliebene Erinnerung! Der Ire hat eine seltsame Fähigkeit, das neu auf ihn Einstürmende mit dem Althergebrachten zu verschmelzen und das eine wie das andere am Leben zu lassen. Nicht wie bei uns: weg mit dem Alten, das Neue ist besser! Sondern: ja, das Neue ist ganz brauchbar — stellen wir es neben das Alte! Ein winziges Beispiel für dieses Fortdauern des Alten, für dieses Einbeziehen der Vergangenheit in die Gegenwart: die Friedhöfe hierzulande. In Clonmacnoise, einer altirischen Gedenkstätte und einem Zentralpunkt irischer Kirchenkultur, findet sich das Grab eines irischen Königs aus dem Jahre 914 mit dem Sonnenrad im Kreuzschnittpunkt; rechts davon liegt eine Grabplatte aus dem 16. Jahrhundert; links steht ein Grabkreuz — immer noch das irische Kreuz mit dem Sonnenrad — von 1957. Alles bleibt eben dem augenblicklichen Lebenskreis einbezogen, nichts wird „Museum". Vergangenheit und Gegenwart gelten eins. Eben erwähnte ich einen irischen König. Nun, Irland gliederte sich einst in fünf Königreiche mit einem „Hochkönig" über allen. Vier von diesen fünf Teilgebieten sind noch heute als „Provinzen" erkennbar: Ulster im Norden, Leinster im Osten, Connaught im Mittelwesten und Munster im Südwesten. Nur das alte Königreich Meath ist zu einer Grafschaft geschrumpft und als solche heute Teil von Leinster. Von dieser Zeit der Könige ist freilich nicht viel mehr übriggeblieben als die Namen jener wahrhaft irischen Männer. O'Donnell und O'Neill hießen die beiden letzten Könige, die 1601 und 1603 aus der irischen Geschichte verschwanden — Namen, die man noch heute auf Schritt und Tritt im Lande findet. Trotz ihrer Abgelegenheit hat die Insel schon seit je das Interesse fremder Völker gefunden: Es kamen die Normannen, auch Wikinger oder Waräger genannt — sie gründeten zum Beispiel Dublin und Cork; es kamen die Spanier und sonstwas für Völker, angeblich sogar die Mauren, und — es kamen die Engländer, die Briten. Seif 11
nunmehr achthundert Jahren strebt England nach dem Besitz der Insel. Der Kampf gegen den Engländer ist zum Schicksal Irlands geworden. Wir wollen nicht den Einzelheiten dieser historischen Erzfehde nachgehen: den Eroberungszügen Heinrichs VIII., dem blutigen Kampf Elisabeths gegen die irischen Freiheitshelden, der Beschlagnahme riesiger Ländereien durch Elisabeth und Jacob I., wodurch schließlich drei Viertel des Grund und Bodens in den persönlichen Besitz englischer Adliger kam, den entsetzlichen Kämpfen und Zerstörungen durch Cromwell, der Aushungerung der Bevölkerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts; damals starben über eine Million Menschen in Irland, fast ein Fünftel der Bevölkerung... Es ist ein wenig erfreuliches Kapitel der europäischen Geschichte. Noch heute findet man zahllose Kirchen- und Klosterruinen als traurige Erinnerungen an den Glaubensfanatiker Cromwell, findet man rund um dicoft riesigen Landsitze der alten Großgrundbesitzer die kilometerlangen, zweimannhohen „Hungermauern", so genannt, weil sie von der irischen Einwohnerschaft in Fronarbeit für 1 Penny Tageslohn errichtet werden mußten. Erst ganz allmählich, etwa von 1870 an, bekam dieses Kapitel englischer Kolonialgeschichte mildere und menschenwürdigere Züge. Doch konnte das nicht mehr die Bildung der radikal-nationalistischen Bewegung „Sinn Fein" („Wir selbst") verhindern, die unter ihrem Führer de Valera die völlige Befreiung von der englischen Herrschaft anstrebte. Und im Jahre 1919 war es dann soweit: In Dublin trat ein Nationalparlament zusammen, aus dem zwei Jahre später der „Freistaat Irland" erwuchs. Allerdings, die sechs nördlichen, zur Provinz Ulster zählenden Grafschaften Antrim, Armagh, Down, Fermanagh, Londonderry und Tyrone konnten und wollten sich dem neuen Freien Irland nicht anschließen; sie blieben als „Nordirland" bei der englischen Krone. Und so ist es noch heute.
Ich hatte also die Südküste gesehen, war auch im südlich von Cork gelegenen Kinsale gewesen, einem kleineren Badeort, den die Engländer gern als Sommerfrische benutzen, war dort in den Ruinen des Charles Forts herumgestiegen, einer riesigen Festung aus alten spanischen Zeiten, hatte vom Leuchtturm auf dem Cap 12
An der zerrissenen Westküste, auf der großen Halbinsel von Kerry: tintenblau das Meer, weiß der Strand, rot die Fuchsienhecken. Old Head durch das altertümliche lange Fernrohr des Leuchtturmwärters John O'Brien einem einsamen Makrelenfischer zugeschaut, der vom gemächlich dahintuckernden Boot aus seine Fangschnur einholte und die Beute — schöne Fische! — stückweise von den Haken nahm .. Und hatte auf diese Weise doch glatte drei Tage über den Reiseplan gelebt und mußte nun zusehen, wieder einmal ein Stück Riditung Westen voranzukommen. Richtung West, das heißt also: durch das Tal des Lee auf Macroom zu. Durch eine saftig übergrünte Hügellandschaft geht es da, manchmal ganz dicht am Fluß entlang, der unbehindert von der regulierenden Hand des Menschen sich seinen Weg suchen darf; weit ist der Horizont in dieser so unendlich reinen Luft, und über allem segeln am klarblauen Himmel als ein szenisch formendes Element die Herden der Haufenwolken dahin. Da ist der Lough Allua! (Das gälische „Lough" entspricht dem schottischen „Loch" und heißt „See".) Gleich dahinter klettert die 13
Straße in die Shelly Mountains hoch. Beim Paß von Keimaneigh fand ich einen bequemen Durchschlupf, und schon war ich drunten in Kealkilt. Das ist ein völlig unbedeutendes Dorf, in dessen Umgebung aber eine keltische Kultstätte liegt, von denen es in Irland so viele gibt: Abseits der Ortschaft, in den Maughanaclea Hills und in diesem unübersichtlichen, von Erika und Sumpfblumen und Riedgras überwucherten Gelände nicht leicht zu finden, standen da in kreisförmiger Anordnung sechs, sieben riesige Steinblöcke. Die meisten waren mannshoch, doch einer hatte mindestens die doppelte Größe. Niemand weiß mehr Sinn und Zweck dieser Kultstätte mit Sicherheit zu deuten. War es ein rein religiöser Versammlungsplatz, eine Beratungsstätte, ein Richtplatz? War es vielleicht alles dies zugleich? Wie auch immer — ein unsichtbares Band aus Vermutungen, Vorstellungen und einem Hauch Ehrfurcht zieht sich, sitzt man auf solch einem jahrtausendealten Stein, von der Gegenwart in die Vergangenheit. Bald darauf überschreitet man die Grenze zwischen den Grafschaften Cork und Kerry. Dieses County Kerry — nun schon an der Westküste — hat zwei Attraktionen zu bieten: den „Ring of Kerry" und das Naturschutzgebiet von Killarney. Der „Ring", wie man auch kurz sagt, ist eine Straße, die auf 170 Kilometer Länge rund um die ganze große Halbinsel von Kerry führt, und zwar auf großen Strecken tatsächlich dicht am Meer entlang. Keine Irlandreise ohne den Ring! Denn hier bekommt man einen besonders tiefen Eindruck von der Wildheit und Zerrissenheit der irischen Westküste. Hier liegt das offene Meer mit dem Land seit Urzeiten in einem ständigen Kampf; es nagt, es leckt und frißt, bildet hier einen fjordartigen Einschnitt, läßt dort einen allzu harten Brocken inmitten des ewig spülenden Wassers als bizarre Insel stehen, formt da wieder eine weitgeschwungene Bucht und füllt sie mit herrlichem weißem Sand — Platz für tausend Campingfreunde. Doch findet man selten mehr als ein Dutzend Wohnwagen und Zelte. Und immer wieder diese Farben: tintenblau das Wasser (wenn's nicht gerade stürmt oder regnet), grün und braun und grau das Land, blutigrot die Fuchsienhecken allüberall an der Straße und wieder die schneeweißen Wolkenbällchen am Himmel — da kommen die Linsen der farbfilmgeladenen Kamera ins Glühen! 14
In den Gärten und Parks der Küstenorte aber gedeihen in Üppigkeit Stechpalme und Agave, Lorbeer und Rhododendron, Eukalyptus und die fremdartigsten Nadelhölzer. Ja, der Südwesten Irlands liegt unter einem subtropischen Klima! Das machen die immer feuchten Winde, die von Westen über das Meer hereinwehen, und das macht vor allem der Golfstrom, der ja die irische Westküste noch mit seiner ganzen thermischen Kraft bespült, ehe er, sich aufspaltend, an England und Schottland vorbeiströmt, die norwegischen Gewässer hochzieht und sich schließlich in den polaren Massen der Barentssee verliert. Inmitten der Halbinsel Kerry aber, nur wenige Kilometer vom Meere entfernt, erheben sich die höchsten Berge, die Irland zu bieten hat: die über tausend Meter hohen Macgillycuddy's Reeks mit dem Carrauntoohil, dem Beenkeragh, dem Mullaghanattin — Namen, die doch wirklich exotisch klingen. Das ist eben Gälisch, eine weder dem Germanischen noch dem Romanischen verwandte Keltensprache, die dadurch an Seltsamkeit noch gewinnt, daß sie meist in einer eigenen Schrift geschrieben wird. Übrigens ist die Regierung der Republik Irland eifrig bemüht, das vom Englischen schon fast völlig verdrängte Gälisch wieder zur Blüte zu bringen: Lehrer, die auf Gälisch unterrichten, bekommen Gehaltszulage, Eltern, die mit ihren Kindern nachweislich gälisch sprechen, erhalten pro Kind eine jährliche Barzuwendung. Straßennamen, Wegweiser, Denkmalsinschriften werden zweisprachig gehalten, und auf den Münzen und den Briefmarken steht nicht das englische „Ireland", sondern das gälische „Eire". So versucht man, die eigene alte Kultur wachzuhalten beziehungsweise wiederzuerwecken und das übermächtige britische Element zurückzudrängen — mit minderem Erfolg freilich, denn die Masse der irischen Jugend ist für diese wohl doch nicht mehr zeitgemäße Sprache nicht recht zu begeistern. Englisch ist bequemer! Und dann „Muckross Estate", der Naturschutzpark von Killarney, ein vierzig Quadratkilometer großes Gebiet, das sich von den Macgillycuddy's Reeks im Südwesten bis hart an das Städtchen Killarney im Nordosten erstreckt. Hohe Berge schließt dieses Gelände ein, ein halbes Dutzend wunderhübscher Seen, den bekanntesten Wasserfall Irlands, auch ein paar romantische Burgruinen natürlich, und sogar — Wald. Wald ist die einzige Landschaftsform, an der 15
Irland wirklich arm ist. Nur ganz selten — zum Beispiel in den Wicklow-Bergen südlich Dublin und eben hier im Muckross Estate — findet sich echter, reicher Wald. Die einmalig schöne Komposition aller Naturformen um Killarney ließen Arthur Vincent sagen: „Ich hoffe, Muckross wird zu einem echten Garten der Freundschaft unter den Menschen und zur bedeutendsten Erholungsstätte der Welt. Es gibt keinen schöneren Platz in der Welt, und ich kenne sie alle." Wer dieser Herr Vincent gewesen ist? Nun, er und seine Schwiegereltern waren als irische Auswanderer in Amerika reich geworden, waren eines Tages nach Hause zurückgekehrt, hatten das ganze Land um die Seen von Killarney gekauft und — als Nationalpark dem irischen Staat geschenkt. Wer dieses schöne Stück Land kennenlernen will, muß allerdings sein Kraftfahrzeug stehenlassen. Der Park darf nur zu Fuß und zu Fahrrad oder mit Reitponies und Pferdekutschen, die man stunden- und tageweise mieten kann, besucht werden. Ein erholsames Intermezzo für den, der sonst eilig zu reisen gezwungen ist! Ich sagte eben „Intermezzo". Da möchte ich gleich von einem anderen Erlebnis berichten, das sich eine Woche später begab. Wir müssen dazu von Killarney einen weiten Sprung nach Norden machen, hinauf nach Galway an der Galway-Bucht. Diese sehr alte Hafenstadt, die vor allem zur Zeit des Handels mit Spanien von großer Wichtigkeit war, ist Ausgangspunkt für die Fahrt zu den drei Aran-Inseln, jenen einsamen Vorposten Europas draußen im Atlantik, die trotz dieser Abgeschiedenheit einst, vor Jahrhunderten, von großer kultureller und geisteswissenschaftlicher Bedeutung waren. Diese Inselgruppe wollte ich natürlich kennenlernen!
Das Dampferchen mit dem alt-irischen Namen „Naomh Eanna" stampfte beharrlich durch die Nebelsuppe westwärts. Hinter uns versank im Grau die Bucht von Galway. Fünfzig Kilometer weit vor uns mußten sie irgendwo liegen, die drei Aran-Inseln. Die schwere Dünung zwang immer mehr grüngesichtige Passagiere an die Reling, die es längst bereuten, um dieses Abenteuers willen vor acht Uhr aufgestanden zu sein — eine viel zu frühe Zeit für irische Verhält16
nisse. Endlich, nach Stunden, hob sich wie ein grauer Walroßrücken der erste der drei Landbrocken aus den Wellen des Atlantik: Inisheer, nackt und schutzlos wie die beiden anderen Eilande den Stürmen und den Eis- und Regenschauern ausgeliefert. Diese Arans! Kein Mutterboden hat sich hier bilden können, und die Inselleute wären wohl schon vor Jahrhunderten ausgestorben, hätten sie nicht gelernt, sich ihre Äcker und Gärten zu „machen". Und so tun sie's heute noch auf altertümliche Weise: In unendlicher Mühe ziehen ihre kleinen Esel schwere Karren voll Sand von den Meeresbuchten herauf zu einem halbwegs ebenen, unbewachsenen Felsenviereck. Dort wird die Ladung gleichmäßig aufgeschüttet. Darüber breiten die Leute sorgfältig eine Lage Tang, den ihnen das Meer in reicher Fülle anspült, darüber wieder Sand und wieder Tang, so lange, bis die Schicht dick genug ist, daß Klee oder Kartoffeln darin wurzeln können. Wer gar Gerste anbauen will, der muß noch viel sorgfältiger verfahren und sich noch viel mehr plagen. Damit aber das mühselig Erreichte nicht von der nächsten Sturmbö wieder ins Meer gefegt wird, schützen sie nach irischer Art jedes Äckerchen,
Das Ereignis des Jahres für ganz Irland: die Dubliner Horse Show 17
jede Weide, jedes Beet durch halbmannshohe, locker gefügte graue Steinmauern — denn an Steinen ist hier kein Mangel. Von altersher sind die Männer von Aran dem Meer verbunden, denn der Fischfang war stets ihre Lebensquelle. Sie ziehen auch heute noch hinaus — nicht mehr so ausschließlich wie einst, aber auf dieselbe Weise: mit dem „Curragh", einem Boot, das es außer an der irischen Westküste nirgendwo wieder gibt. Leicht und zierlich wie eine Gondel, aber wendig und stark und schier unsinkbar, so ist es das wichtigste Werkzeug der Aran-Fischer. Bis zu sechs Männer treiben es mit fast blattlosen Riemen über die Wogen, und das einzige, was sie vom Wasser trennt, ist eine schwarzgeteerte Leinwand, straff über ein dünnes, kielloses Spantengerippe gezogen. Es gibt viele Curraghs auf den Inseln, und wenn sie zum Schutz vor der Brandung umgekippt auf Felsen und Sand liegen, mag man sie für einen Schwärm gestrandeter Wale halten. Mit solch einem Boot machte ich auf den beiden kleineren Inseln Inisheer und Inishmaan Bekanntschaft: Der Dampfer findet dort keinen Kai vor und muß ein paar hundert Meter vorm Strand Anker werfen; und im Nu umschwärmt ein Rudel schwarzer Boote, jedes mit zwei Mann besetzt, das Schiff und kommt längsseits. Wer diese Inseln besuchen will, muß sich einem Curragh anvertrauen! Acht Fremde etwa wurden zu den zwei Ruderern in ein Boot gequetscht, und da war keiner, der sich nicht heimlich nach einem festen Halt umsah, denn die Nußschale schwankte bedenklich. „Don't worry it! — Keine Angst!" lachten die Fischer und brachten uns alle sicher hinüber und später ebenso wieder zurück. Der Spaß kostete nur ein paar Shilling. Allerdings gelangt man nicht trockenen Fußes über den Strand, man muß Schuhe und Strümpfe in die Hand nehmen und die letzten Schritte waten. Auf der größten Insel, Inishmore, fährt der Besucher nicht mit Curraghs, denn hier findet das Schiff einen richtigen Landekai; dafür aber benutzt er ein anderes seltsames Beförderungsmittel, das es in dieser Art auch nur bei den Iren gibt: einen „Jaunting Car", wie ich ihn schon im Park von Killarney kennengelernt hatte. Das ist ein hoher zweirädriger Pferdewagen ohne Verdeck für vier bis fünf Fahrgäste. Man sitzt nicht mit dem Blick nach vorn, sondern Rücken an Rücken seitlich zur Fahrtrichtung immer zu zweit auf einem schma18
len Brett. Die Beine baumeln in der Luft, nur mangelhaft von schwankenden Leisten gestützt. Wind und Regen peitschen dem mutigen Fahrgast um die Ohren. Und fällt das flotte Roß in Trab, was es fast immer tut, so rüttelt es ihn fast vom luftigen Sitz herunter und schüttelt ihm Knochen und Gedärm durcheinander. Wahrlich eine sportliche Art des Fahrens! Aber was wissen die harten Männer von Aran wie es einem verweichlichten Kontinentler zumute i s t . . . Doch auch das gehört zum Abenteuer „Aran", so wie die prächtigen Menschen, die hier noch das alte Gälisch sprechen, die noch ihre Kleider selber weben und die in sturmdurchtobten Winternächten um das offene Torffeuer sitzen und Geschichten erzählen aus der großen Vergangenheit Irlands, von Helden und Heiligen. Aus diesen alten, ruhmreichen Zeiten fand ich mancherlei Zeugen auf den Inseln — Burgtürme, Kirchenruinen, Ringwälle. Der schönste unter allen aber war Dun Aengus auf Inishmore, „das großartigste barbarische Monument Europas", wie es heißt. Niemand weiß mehr, wer es erbaute. Hoch über dem Meer, auf senkrecht abbrechender Klippe, ragen drei gigantische hufeisenförmige Ringwälle in den Himmel, lose aus rohen Quadern gefügt und doch Jahrtausende überdauernd. Sechs, acht Meter hoch türmt sich der innerste Wall, in fünfzehn Schritt Abstand konzentrisch umschlossen von den beiden anderen. Bis zum Klippenrand reichen die Mauern, als wären sie einst mit ihm abgebrochen in die Tiefe — und vielleicht sind sie's auch. Der Innenhof — grasbewachsen, leer, großartig — endet mit dem Felsplateau, und keine Schranke warnt vor dem Nichts da unten. Das Meer donnert heran, daß der Fels erzittert. Doch sehen kann die Brecher nur, wer sich auf dem Bauche liegend weit über den Abgrund schiebt. Dann aber tut sich ein Blick auf, der alles umfaßt, was Leben auf Aran bedeutet: das ruhelose Spiel der Brandung, die tückische Welt der Riffe, die gläserne Ferne des Meeres — alle Härte und alle Schönheit in
Ich glaube, der Sprung vorhin von Kiüarney nach Galway war doch etwas kühn! Es lag da manches am Wege (oder etwas abseits davon), das man nicht so einfach unterschlagen darf. 19
Zum Beispiel Limerick, nach Dublin und Cork die drittgrößte Stadt der Republik. Limerick liegt am Fluß Shannon, der dann alsbald ins Meer mündet, wobei sich die eingefleischten Iren immer streiten, wo der Fluß aufhört und die Meeresbucht anfängt. Limerick selbst ist bei weitem nicht so geschäftig wie Cork, ist auch ein bißchen langweilig gebaut und ohne sonderliche Attraktionen. Hier aber ist die Heimstätte der „Limericks", der so überaus typisch-irischen Ulkverse mit ihrem oft etwas hintergründigen Unsinngehalt. Wer in Gesellschaft ein paar Limericks hervorsprudeln kann, hat schon gewonnen! Überhaupt, nichts gilt dem Iren höher als die Kunst des Erzählens. Und was sind das oft für Geschichten, die da an den Wirtshaustischen oder daheim vorm wärmenden Torffeuer zum besten gegeben werden! Da knistert es nur so vor dramatischer Spannung und geheimnisvollen Unergründlichkeiten, und manchmal sind da noch Feen und Kobole und unsichtbare Wichte im Spiel — und da ist kein Zuhörer, der ihre Existenz anzweifelt. Nicht weit von Limerick der Flughafen Shannon, letzte Tankstation der Flugzeuge auf dem Wege nach Nordamerika, soweit sie nicht als superschnelle Düsenmaschinen von Festlandeuropa heute in direktem Flug New York ansteuern. Nun liegt Shannon-Airport im Gegensatz zu manchen anderen Flughäfen in einer denkbar trostlosen weiten Ebene, die dem Auge keinen freundlichen Halt bietet. So kommt es, daß viele Flugreisende Irland für ein geradezu schreckliches Land halten und jedermann warnen, dorthin zu fahren. Sie kennen die Insel eben nur aus dieser Ecke! Wie anders zeigt sie sich schon ein Stück nordwestlich von ShannonAirport, dort, wo die Küste einer Nase gleich in den Atlantik vorspringt: Da haben sich in Tausenden von Jahren „The ClifFs of Moher" gebildet, senkrecht abstürzende Felsabbrüche, an die dreihundert Meter tief. Das ist wieder so ein echtes Stück Irland! Da steht man weltverloren oben auf dem Kliff und schaut nach links und nach rechts ein paar Meilen weit die Gigantenmauer entlang. Und drunten, für das Auge unermeßlich tief, donnert und gischtet und schäumt der Atlantik . . .
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Durch die Hauptstraßen Dublins, der Hauptstadt des irischen Fredstaates, flutet der Verkehr rings um die Nelsonsäule — aber einige Querstraßen seitwärts lebt die „gute alte Zelt". Baile Atha Cliath! Das ist keineswegs ein altindischer Liedanfang noch auch ein Merkvers etwa für die linken Nebenflüsse des Mississippi, sondern das ist der gälische Name für Dublin, die Hauptstadt der Republik Irland; Baile Atha Cliath — ein etwas umständlicher Name, der sich gegen das praktischere „Dublin" kaum durchsetzen konnte, obwohl die Kulturgewaltigen im zuständigen Ministerium hartnäckig darum kämpfen. Dublin, an der England zugewandten Ostküste gelegen, und zwar fast genau auf gleicher Höhe wie drüben Galway, hat mein Herz sogleich gefangen. Es ist eine liebenswerte Stadt. Und ich gebe dem Prospekt recht, der da schreibt: „Dublin ist eine Stadt, die in einer tragischen und zugleich glanzvollen Geschichte wurzelt, mit zahlreichen Erinnerungen an große Patrioten, Staatsmänner, Wissenschaftler und Gelehrte. Es ist eine Stadt mit weiträumigen Straßen, hüb21
sehen Bauwerken und freundlichen Menschen; eine Stadt, die die Annehmlichkeiten gemächlicher Jahrhunderte mit moderner Fortschrittlichkeit vereint. Wenige Hauptstädte sind so reizvoll gelegen: Die Bucht von Dublin schwingt sich in einem eleganten, sichelförmigen Bogen von den Hügeln der Halbinsel Howth bis nach Dalkey, ein salziger Wind bläst mitten hinein in das Herz der Stadt, und in den südlichen Stadtvierteln scheinen sich vom Ende einer jeden Straße aus unmittelbar die Hänge der Wicklow-Berge zu erheben." In der Tat, dieses Dublin — beiderseits der hier ins Meer mündenden Liffey gelegen und mit seiner Einwohnerzahl längst über die halbe Million hinaus — hat sich allen Zeitläufen zum Trotz ein Stück altmodischer Gemütlichkeit erhalten. Die Menschen hier haben's noch nicht so schrecklich eilig, es bleibt immer ein Minütchen für einen kleinen Schwatz. Zwar flutet durch die Hauptstraßen und über die zahlreichen Liffey-Brücken ein heftiger Verkehr, aber schon zwei, drei Querstraßen seitwärts glaubt man sich in die gute alte Zeit zurückversetzt — die hier allerdings gar nicht so gut gewesen ist. Allerlei Parks und Grünanlagen lockern zudem das Stadtbild auf und geben ihm einen Hauch Beschaulichkeit. Ja, man pflegt in Dublin durchaus beschauliche Lebensart! Als ich am Morgen nach meiner abendlichen Ankunft gegen neun Uhr auf der Bank Geld wechseln wollte, fand ich überall verschlossene Gitter: Vor zehn Uhr fängt hier das Geschäftsleben nicht an. (Was allerdings keine spezielle Eigenart des Dubliners ist, sondern eine sehr allgemeine der Iren überhaupt.) Mittelpunkt der Stadt ist die betriebsame breite O'Connell Street, die am Ende mit der dreibogigen O'Connell Bridge über den Fluß führt. (Wieder eine kleine Anmerkung: O'Connell ist der irische „Maier", und unserem „Müller" entspricht dortzulande der O'Brien. Nehmen wir dazu die O'Flahertys, die O'Sullivans und vielleicht noch die O'Neills und die O'Sheas — alles Nachkommen einst bedeutender Staatsmänner und Volksführer —, dann haben wir sozusagen die halbe irische Bevölkerung beieinander. Wobei das O' dem schottischen Mc entspricht und dies wieder dem skandinavischen -sen wie bei „Andersen" oder „Soerensen", alles Umschreibungen für „Nachkomme des . . . " ) 22
Mitten auf der O'Connell Street die riesige Nelsonsäule. Wie, eine Nelsonsäule? Was hat der englische Admiral Lord Nelson, der mehrfache Sieger über Napoleon, im republikanisch-irischen Dublin zu suchen? Nun, genau genommen hat er da längst nichts mehr zu suchen, ganz im Gegenteil. Aber man läßt sie stehen, die Säule, und stört sich auch am Nelson droben nicht. „Laßt doch das Alte, es schadet ja nicht! Wer wird denn alles nicht mehr ganz Zeitgemäße gleich wegreißen!" Bewährte irische D e n k a r t . . . N u n könnte ich zu erzählen anfangen vom Trinity College, der ehrwürdigsten unter den Universitäten der Stadt, vom Nationalmuseum mit seinen unerhörten Schätzen an Bronce-, Gold- und Silberarbeiten aus vier Jahrtausenden, darunter Schmuckstücke von einzigartiger Schönheit und Formvollendung als Zeugen altirischer Kulturepochen, ich könnte die St. Patricks Cathedral und den Botanischen Garten und natürlich auch den Hafen beschreiben, dessen Kais fast bis ins Zentrum der Stadt v o r s t o ß e n . . . Lassen wir das, es wird so leicht ein „Reiseführer" draus! Und das Liebenswerte an Dublin sind ja nicht die Gebäude und die Verkehrsanlagen, sondern es ist die Atmosphäre und der Lebensstil dieser Stadt. Aber von der Horse Show, von der muß ich noch erzählen! Die Dubliner Horse Show — wörtlich „Pferdeschau" — ist für ganz Irland das Ereignis des Jahres. Natürlich ist das nicht nur eine „Schau". Nein, das ist ein Volksfest im wahren Sinne des Wortes, und es dauert volle acht Tage. Da strömt alles zusammen, was Sinn und Interesse für Pferde, hat. Das heißt aber: ganz Irland strömt zusammen, denn welcher Ire hat keinen Sinn für Pferde? Vier Leidenschaften nämlich hat der Irländer: Geschichtenerzählen, Whiskey, Pferde und Wetten — und auf der Horse Show kann er allen vieren zugleich frönen. Schauplatz ist ein weites Gelände draußen am Rande der Stadt mit einem der schönsten Turnierplätze Europas als Mittelpunkt. Und hier nun wird alles geboten, was nur irgendwie mit Pferden zusammenhängt: Ausstellung und Prämiierung schöner Pferde aller Rassen, Klassen und Altersgruppen, An- und Verkauf beziehungsweise Versteigerung von Pferden, Reit- und Fahrvorführungen, und dann natürlich Turniere, also Springkonkurrenzen, wobei die Wettbewerbe für Kinder — Mädchen und Buben oft von erst zehn Jahren — 23
ebenso leidenschaftlich durchgefochten werden wie die großen internationalen Springen mit Gästen aus aller Welt. In diesen Tagen kaufen hier die reichsten Rennstallbesitzer der Welt ihre Pferde ein. Nebenbei flaniert man durch die Messehallen, in denen alles für den Reiter — vom Zylinder bis zum Sporn — feilgehalten wird, erfrischt man sich in einem der zahlreichen Restaurationsbetriebe, wo die Kellnerinnen acht Tage lang aus dem Schwitzen nicht herauskommen, und sitzt man vor allem Stunde um Stunde auf den Tribünen und beklatscht den dritten Sieger im Ponyreiten für Kinder bis zwölf Jahre mit der gleichen Herzlichkeit wie den Champion aus USA oder aus Deutschland — den sogar ganz besonders, denn die Deutschen genießen in Irland ein enormes, fast schon peinliches, da gar nicht so sonderlich begründetes Wohlwollen. Alle sind sie hier unterwegs: der Graf von Armagh in den engen braunen Hosen des Landadels und mit dem englischen schwarzen Rundhut auf dem Kopf; der Bauer aus der Grafschaft Cork, den sein gutverdienender Neffe im Auto mit hergebracht hat; der kleine Bankangestellte aus Sligo, der eigens für diese Unternehmung ein paar Tage von seinem Urlaub abgezwackt hat; das Kolonialwarenladen-Ehepaar aus Portlaoighise samt drei der fünf Kinder (die beiden ältesten müssen derweilen daheim den Ladenbetrieb allein in Schwung halten) — alle sind sie da, alle. Und wenn dann das Fest vorüber ist, dann hebt zu Hause das große Erzählen an: von den Vollblütern, die man gesehen, von den Whiskeys, die man getrunken, ;yon den Stories, die man gehört, von den Wetten, die man — natürlich! — gewonnen hat.
Drei Tage später war ich wieder in Galway. Ein bißchen umständlich, dieses Hin und Her, wo doch der Weg quer durch die Insel von Dublin an der Ostküste nach Galway im Westen immerhin zweihundert Kilometer weit ist, und zweihundertfünfzig, wenn man ein paar Umwege macht (was man in Irland immer tun sollte). Aber mir fehlte da noch eine Ecke; die man keinesfalls auslassen darf: das Gebiet von Connemara und Joyee's Country. Eine einsame Landschaft ist das, durch den riesigen Loügh Corrib und den Lough Mask fast halbinselartig abgetrennt und selbst in der Saison nur wenig besucht. 24
Wenn schon ganz allgemein in Irland der Mensch nur in sehr geringem Maß die Natur mit seinen Zeichen von Technik, Zivilisation und „Ordnung" umprägen konnte — hier in Connemara (und ferner, wie noch zu erzählen sein wird, im Donegal) konnte er's am allerwenigsten. Diese unberührte N a t u r . . . nein, sie ist nicht gewaltig oder erschütternd, sie ist eher lieblich und verträumt — wohl einsam, wie gesagt, aber doch nie bedrückend-einsam, sondern ganz im Gegenteil befreiend und beruhigend: Berge grün in Grün, Seen dunkelblau wie Augen, in denen sich die weißen Wolken spiegeln, und dann Killary Harbour, der größte und schönste Fjord Irlands . . . Ich glaube, wenn ich mir ein Haus baute, ich möchte es in Connemara bauen! Der eilige Reisende fährt auf der großen T 51 direkt nach Clifden im Westen Connemaras, wo am 15. Juni 1919, also acht Jahre vor Lindberghs Ozeanflug, die Engländer Alcock und Brown nach der ersten geglückten Atlantiküberquerung gelandet sind. Ich aber nahm mir etwas mehr Zeit und pinscherte die Küste entlang nach Ballynew und nach Costelloe und nach Carraroe (nein, das steht alles nicht auf der Landkarte, denn das sind alles nur winzige Fischerdörfer!) und dann
Schloß Florenee Court — das schönste erhaltene Schloß Norddrlands; 25
über einen Damm auf die Inseln Lettermore und Gorunna. Hier, an dieser sehr flachen und zerrupften steinigen Küste war zu sehen, wie der Mensch dem Meer noch anderes abzugewinnen vermag als Fische, nämlich — Tang. Tang in unvorstellbaren Massen! Dieses nicht ausgesprochen appetitlich aussehende Grünzeug hängen sie zum Trocknen auf, dann wird es in Fabriken gereinigt und zu medizinischen Jodpräparaten verarbeitet. Aber auch als Gemüse findet es seine Liebhaber. Es steht in den feinsten Restaurants auf der Karte, und es schmeckt recht apart und ist auf alle Fälle kolossal gesund. Und Torf gab es hier! Natürlich gab es hier Torf. Wo in Irland gibt es keinen Torf? Ein volles Siebentel der Inselfläche besteht aus Torfboden, und wo man auch herumfährt, überall kommt man an Torfstichen vorbei, wo sie die Soden zehntausendweis herausstechen, zu Häufchen schichten und an der Luft trocknen lassen und dann zu Mieten stapeln. Torf ist das Brennmaterial Irlands; ja, ich habe sogar ein Kraftwerk besichtigt, dessen Kessel mit Torf gefeuert wurden. Man bedenke dazu: luftgetrockneter Torf ist fast dreimal so leicht wie Kohle und bringt dabei pro Kilo nur den halben Heizwert; also muß man dem Ofen für gleiche Heizleistung gegenüber Kohle etwa das sechsfache Volumen ins Maul schieben! Kein Wunder, daß überall in Irland neben den Cottages Torfmieten stehen, die sich vor Anbruch der Heizperiode fast so hoch türmen wie das ganze Haus, doch verschwunden sind, wenn's in den neuen Sommer geht. Habe ich eigentlich schon von dieser irischen Cottage erzählt? Das muß ich wohl rasch nachholen! Denn wie kann man über Irland berichten, ohne die Cottage zu erwähnen? Das ist nun also das Haus des Bauern und des Fischers hierzulande: ein ebenerdiger, meist schneeweiß gekalkter Bau, vom Bewohner selbst errichtet, natürlich, und mit einem Strohdach gedeckt. Jedes Jahr bekommt das Dach eine neue Lage Stroh; die alte aber bleibt liegen, so daß die Bedachung immer dicker wird. Damit die Geschichte beim Sturm nicht wegfliegt, spannen sie gewöhnlich Schnüre darüber, die wiederum an dicken Holzdübeln Halt finden, welche oben rund um das Haus laufen. Und damit das Häuschen auch etwas von sich macht, wird der Kalkanstrich mindestens einmal, in manchen Gegenden aber auch zwei-, ja dreimal im Jahr erneuert. In den Fenstern stehen dann Geranien oder sonst schöne bunte — möglichst rote — 26
Blumen, und vor dem Haus wird noch ein bißchen Grünzeug gepflanzt, alles ganz klein und eng und bescheiden, und zwei Hunde und ein paar Hühner laufen drumherum und viele, viele Kinder. Und das ist dann alles sehr gemütlich. Innen freilich geht's meistens arg eng zu. Da sind gewöhnlich nur zwei Räume und ein offenes Torffeuer und das Allernotwendigste an Ausstattung und Möbeln. Manche Cottages sind wohl etwas üppiger und geräumiger, sind dann auch mit Schindeln oder gar Ziegeln gedeckt. Aber die Grundform des Hauses bleibt sich doch immer gleich. Denn das ist klar: auch wenn der Bauer oder Fischer nicht zu den Armen zählt, sondern es zu etwas mehr gebracht hat als die Nachbarn (die ein paar Kilometer entfernt wohnen) — eine Cottage muß sein!
Um gerecht zu sein, muß ich noch ein paar Worte über das Donegal verlieren, das ja vorhin schon einmal erwähnt war. Das ist nun wohl die ärmste Ecke der wahrhaftig schon nicht wohlhabenden Insel Irland. Ganz droben im Nordwesten liegt diese Grafschaft, die sich gälisch „Dun na n'Gall" nennt, fast ganz von der übrigen Republik abgezwickt durch das hier weit nach Westen vordringende EnglischNordirland. Gerade noch ein sieben Kilometer breiter Korridor bei dem Städtchen Ballyshannon ist hier dem Donegal als Brücke zur nächsten Grafschaft belassen. Wenn man da durchschlüpft (weil man vorläufig das bürokratische Gehabe an den Grenzstationen gegen englisches Gebiet scheut und deshalb und überhaupt lieber noch der Republik treu bleibt), kann man wohl richtig Herzklopfen bekommen angesichts der sandsackbewehrten Schilderhauschen und tier Soldatengestalten mit Maschinenpistolen drüben am Grenzbaum oder an der Grenzbrücke. Doch keine Angst, so schnell gehen hier die Sprengbomben nicht los! Und das Herzklopfen verfliegt von einer Sekunde zur andern, wenn man erst einmal hineingeschlüpft ist ins County Donegal, in dieses große, weite, einsame Land. O, die Natur ist auch hier nicht langweilig oder einförmig, sie ist nur nicht „laut". Und das Donegal hat viele Gesichter: Einmal fuhr ich durch ein weites, kahles Tal am Croaghconnellagh, in dem sich ein Karl-Maysches Gefecht zwischen 27
Indianern und einem westwärts ziehenden Kolonistenzug sehr gut gemacht hätte; dann wieder glaubte ich mich in einem stillen Eck des Allgäu (das war, als ich einen Abstecher hinter zum lieblichen Lough Eske machte); ein andermal — das war in dem urweltlich zerrissenen Küstengebiet von The Rosses — erlebte ich den wildesten Sturm meines Lebens, als der Wind giftig an den Dachsparren rüttelte, die Schwaden des Torffeuers in die Gaststube drückte und draußen an der Grenze zwischen Land und Wasser die Gischt turmhoch über die Klippen jagte. Ja, das Donegal hat viele Gesichter!
Schön und arm — das liegt oftmals beieinander. Irland ist ein treffliches Beispiel dafür: Vom County Waterford im Südosten bis zum County Donegal im Nordwesten findet die Bevölkerung nur eine dürftige Lebensgrundlage. Man ist versucht zu fragen, warum. Gewiß, Irland hat weder Kohle noch Eisen, hat auch keine Wälder wie etwa Finnland, das ja vom Holze lebt; und ein gut Teil des Bodens geht überdies durch seine Vertorfung der landwirtschaftlichen Nutzung so gut wie verloren. Aber daß man auch aus kargem Boden etwas herausholen kann, zeigen die Bauern an der rauhen Küste von Cläre, die das beste Vieh Irlands züchten und mit gutem Gewinn exportieren. Nun, der Grund für die wirtschaftliche Misere des Landes liegt einfach in der völlig unrationellen, ja unsinnigen Aufteilung von Grund und Boden in Klein- und Kleinstwirtschaften. Da kann es zu keiner ordentlichen Produktion kommen, geschweige denn zu einem Überschuß für Handel und Export. Hier holt eben der Bauer seinen Torf nicht mit dem Traktor herein, sondern in kleinen Körben auf dem Eselsrücken; und die Landwirtschaft rings um die Cottage würden wir eher als Schrebergartenbetrieb denn als Felderwirtschaft bezeichnen. Der berühmte irische Tweed entsteht in mühsamer Heimarbeit am Handwebstuhl, und der größte Teil der irischen Wolle ist handgesponnen und wird handverstrickt. Man lebt hier wie zur Petroleumlampenzeit (und hat auch oft noch Petroleumlampen). Und dies zu ändern, ist der Ire zu konservativ, zu wenig beweglich und — zu wenig geschäftig. Woran allein kein Mangel ist, sind Kinder 28
und — Geistliche. Nir?pn^^,„ e t •i Ti/r„oJ,„ i " f t e n d w o in Europa begegnet man so vielen Menschen im schwar7pn l
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Neuerdings bemüht sich die Regierung, der Volkswirtschaft durch Förderung der Industrie auf die Beine zu helfen. Nun, das ist ein langwieriger Prozeß. Und der Ire ist auch eigentlich kein Industriemensch, Fabriksirenen und Stechuhren passen nicht zu seiner gemächlichen Lebensart. A. E. Johann, der große Weltenbummler und Weltenkenner, beschreibt ihn, nachdem er zuvor die Fähigkeit des irischen Volkes bewundert hat, andersstämmige Menschen aufzusaugen und zu seiner irischen Art umzuformen, mit diesen Worten: „Dies kleine Inselvolk hat seinen einmaligen irischen Charakter mit solcher Zähigkeit und Treue bewahrt, daß es ganz unverwechselbar unter den Völkern weißer Rasse dasteht, stolz, liebenswert, gesprächig, fromm, wunderbar altmodisch und den sogenannten Fortschritt bisweilen ein wenig belächelnd, versponnen und versonnen, nicht sehr ,tüchtig', aber ungeheuer lebenszäh, zurückhaltend, selbstbewußt und mühelos liebenswürdig und chevaleresk, wie es nur ein sehr altes Volk sein kann, das viel erlebt hat — mehr Bitteres als Süßes." „Haben Sie zollpflichtige Ware bei sich? Darf ich Ihre Fahrzeugpapiere sehen? Ist das noch der Originalmotor? Wo ist Ihr Reserverad? Bitte zur Überprüfung der Fahrgestellnummer hier in diese
Halle." England hat mich wieder! Das war in der nordirischen Grenzstadt Londonderry, der zweitgrößten Stadt im britischen Nordirland, dem wichtigsten Hafen besonders für den Verkehr hinüber nach Schottland. Ich fand dieses „Derry", wie sie es kurz nennen, ziemlich scheußlich und jedenfalls völlig belanglos. Kein Anlaß, hier großen Aufenthalt zu nehmen. Und überhaupt bin ich subjektiv genug, Nordirland hier nicht jenes Sechstel an Raum zu widmen, wie es ihm mit seinem Sechstel an Bodenfläche gegenüber der irischen Republik vielleicht zukäme, oder gar, auf Grund seiner sehr dichten Bevölkerung —„1,4 .gegen 2,9 Mil29
lionen —, noch mehr. Hier ist das Alte, Ursprüngliche eben doch vom britischen Element weitgehend verdrängt worden: Man ist geschäftig, man hat immer zu tun, der Tageslauf ist streng geregelt; man bekommt alle für ein ziviles Leben notwendigen Güter von „drüben", so wie man seine eigenen Überschußwaren hinüberschickt; man hat also auch Kohle statt des bäuerlichen Torfs und wohnt nicht mehr in Cottages, sondern in „ordentlichen" Reihen- und Siedlungshäusern . . . Kurzum, hier ist nicht mehr Petroleumlampenzeit. Vergleichen wir nur die nordirische Hauptstadt Belfast mit der republikanischen Hauptstadt Dublin: In Belfast ist keine Zeit für einen Schwatz am hellichten Werktag, und da könnte eine Horse Show sicher auch nicht acht Tage lang dauern. Schön ist Nordirland trotzdem! Da wäre zum Beispiel die Ostküste zwischen Ballycastle und Larne (nördlich Belfast) und dann wieder, südlich davon, zwischen Dundrum und Warrenpoint: steile Abbruche, weitgeschwungene Buchten, großartige Fernblicke von vorspringenden Kaps und Felsköpfen, bei klarem Wetter bis hinüber zu den Bergen Schottlands. Oder da ist der romantische Lough Neagh, der so groß ist, daß fünf der sechs nordirischen Grafschaften ihn berühren (nur ein Drittel mehr, und er hätte die Größe des Bodensees!), und da ist ebenso das tausendfältig zerrissene Seengebiet um Enniskillen im County Fermanagh, wo man nie recht weiß, ob das, was man eben sieht, schon wieder ein neuer See ist oder noch derselbe, eine neue Insel oder noch die gleiche. Die touristische Sensation Nordirlands aber, an der ich nun keinesfalls vorübergehen darf, ist: Giant's Causeway an der Nordküste, unweit Bushmills. Vor Urzeiten sind hier, dicht am Wasser, mächtige Lavamassen unter ganz besonderen Druck- und Temperaturverhältnissen zum Erstarren gekommen. Dadurch haben sich etwa 40 000 (vierzigtausend!) Basaltsäulen von regelmäßiger Vieleckgestalt gebildet. Dicht bei dicht stehen sie und ragen gewöhnlich zehn bis vierzig Meter empor, manche freilich lugen kaum noch einen Meter aus dem Boden heraus. Das Verblüffendste jedoch ist die Regelmäßigkeit ihrer Form; meist sind sie sechsseitig, selten fünf- oder siebenseitig. Überdies sind diese eckigen Orgelpfeifen (eine bestimmte sechzigsäulige Gruppe heißt „Giant's Organ", Riesenorgel) fast alle in regelmäßigen Abständen waagerecht durchgebrochen. So sieht das Ganze aus wie mächtige übereinander30
geschichtete, miteinander verschmolzene Schraubenmuttern Viele sol che Muttern — wohl vierzig Zentimeter im Durchmesser und zwanzig Zentimeter hoch — haben sich ganz abgelöst und liegen nun wirr der Gegend. Hunderte von Metern zieht sich diese phantastische Szenerie am Meere hin. Nicht darin herumgeklettert zu sein, das zählt zu den wirklich bedauerlichen Versäumnissen einer Irlandreise.
. . . Und wieder eine Fähre, wieder viele Menschen, wieder dieses immer faszinierende Bild einer Schiffsreise mit winkenden und weinenden und lachenden Menschen. Abschied von Irland, Oberfahrt über den North Channel vom nordirischen Larne zum schottischen Stranraer! Nein, diesmal stank es nicht, roch es kaum. Denn wir waren ja auf einer rein englischen Linie. Hier fuhr nicht Volk, hier fuhren Leute. War das nun besser? Bequemer war es, jawohl, und gesitteter und zivilisierter und auch in der zweiten Klasse recht passabel. Aber — es war nicht mehr irisch! Und ich vermißte ihn schon jetzt, den Iren, diesen einfachen, selbstsicher in sich ruhenden und immer liebenswerten Menschenschlag, wie er sich nur in solcher Abgeschiedenheit am Rande Europas halten konnte. Ja, Irland hatte mein Herz gefangen! Und ich glaube, es wird jedermanns Herz gefangennehmen, der sie einmal betritt, die „Insel unter dem doppelten Regenbogen".
Irland auf einen Blick Größe: 84 200 qkm, einschl. Binnengewässern (zum Vergleich: Österreich 83 850 qkm); größte Länge: 486 km; größte Breite: 304 km; Umfang = Gesamtlänge der Küste: 3380 km. Lage: nördlichster Punkt = Malin Head (etwa auf der Höhe von Odense in Dänemark, also nicht weit nördlich der deutsch-dänischen Grenze); südlichster Punkt = Mizen Head (auf der Höhe von Essen im Rheinland). Geologisches: höchster Berg = Carrauntoohil im Südwesten der Insel, 1041 m hoch; größter See = Lough Neagh (in Nordirland), 396 qkm (zum Vergleich: Bodensee = 538 qkm); längster Fjord: Killary Harbour an der Westküste, 13 km lang. 31
politische Gliederung: Die ganze Insel heißt „Irland", englisch „Ireland" gälisch „Eire". Sie besteht aus 32 Grafschaften („County's"). Davon bilden 26 (mit 2,9 Mill. Einwohnern auf 70 300 qkm) die völlig selbständige „Irische Republik", englisch „Irish Republic", gälisch „Poblacht na Eireann"; 6 nördlich und nordöstlich gelegene Grafschaften (mit 1,4 Mill. Einwohnern auf 13 900 qkm) bilden das zu Großbritannien gehörende „Nordirland", englisch „Northern Ireland". Neben der Einteilung in Grafschaften gibt es noch die historische Gliederung in die 4 Provinzen Ulster (9 Grafschaften, davon 6 zu Nordirland gehörend), Connaught (5 Grafschaften), Leinster (12 Grafschaften), Munster (6 Grafschaften). Hauptstadt der Republik Irland: Dublin (523 000 Einw.); Hauptstadt von Nordirland: Belfast (445 000 Einw.). Sonstige Städte über 20 000 Einwohner: Republik Irland: Cork (80 000 Einw.), Limerick (51 000 Einw.), Waterford (29 000 Einw.), Galway (westlichste Stadt Europas, 22 000 Einw.); Nordirland: Londonderry (50 000 Einw.), Bangor (23 000 Einw.). Landeserzeugnisse: Pferde, Rindfleisch, Tweed, Bier (Firma Guiness in Dublin, größte Brauerei der Welt), Whiskey. Währung: Republik Irland = das irische Pfund; Nordirland = das englische Pfund. (1 ir. Pfund = 1 engl. Pfund = 20 Shilling = 240 Pence). Flagge der Republik Irland: grün-weiß-orange. Wappensymbol der Republik: eine grüne Harfe (das Instrument der irischen Hochkönige), außerdem ein dreiblättriges Kleeblatt (das „Shamrock", Symbol der Heiligen Dreieinigkeit).
Umschlagsgestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Fotos im Textteil: Götz Weihmann (Bild vor dem Titel: Grabkreuz eines irischen Königs aus dem Jahr 914) Lux-Lesebogen
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