BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
JELTOS TRAUM
von Marc Tannous Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlia...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
JELTOS TRAUM
von Marc Tannous Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert. um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten - mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um deren Bedürfnisse zu kümmern. jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, die das Getto umgibt und - wie sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch daraus zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer fleischfressender Vegetation. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10-jähriges Mädchen - das unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten Scobee-GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kam. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in ungewisser Zukunft gestrandet. John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blaue Augen, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. In Clouds Körper kreisen immer noch Reste von Protomaterie, die es ihm ermöglichen, die Sprache der Foronen zu beherrschen. Cloud wurde durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij«« genannt werden. SESHA Die SESHA - oder RUBIKON II, wie John Cloud das rochenförmige Raumschiff getauft hat - hat eine Schwingen-Spannweite von ca. 300 Metern, eine Länge (ohne Schwanz) von ca. 250 Metern und eine Dicke von ca. 60 Metern. Im Inneren ist sie jedoch ungleich größer (ca. 10 km x 8 km x 2 km). Ihre Primärwaffe verursacht einen Riss in unserem Raum-Zeit-Gefüge, der alles in seiner Nähe verschlingt. Die Foronen Die Namen ihrer Anführer lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden letztgenannten sind weiblich. Mont ist von Sobek ermordet worden. Die Foronen sind die Herren der SESHA. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Bezeichnung, welche die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen verliehen haben. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik«. Über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen AußenBasen, von wo aus sie ihre aggressiven Eroberungsfeldzüge koordinieren. Samragh Der Name der Foronen für ihre Heimat - die Große Magellansche Wolke.
Die RUBIKON hat den Aqua-Kubus - die Geburtsstätte einer ganzen Flotte von ForonenRaumschiffen - verlassen. Ihr Ziel: die Große Magellansche Wolke, aus der Sobek und Siroona einst, vor Jahr-zehntausenden, mit ausgewählten Angehörigen ihres Volkes flohen - vor den übermächtigen Virgh. Existieren die Eroberer des Foronen-Reiches noch? Was ist aus der ursprünglichen Heimat der Kubus-Erbauer geworden? John Cloud und seine Gefährten sind gezwungen, sich der Expedition zur Nachbargalaxis anzuschließen. Die RUBIKON-baugleichen Giganten bleiben in der Milchstraße zurück und schwärmen mit unbekannten Befehlen aus. Doch bereits im Halo der Milchstraße endet die Reise der RUBIKON beinahe. Das Volk der Jaroviden versucht, sich in den Besitz des Schiffes zu bringen - ein Übergriff, der von Sobek auf grausamste Weise geahndet wird. Danach nimmt das Schiff seinen ursprünglichen Kurs wieder auf, und die beispiellose Leere und Einsamkeit zwischen den Galaxien beginnt, an der Besatzung zu nagen. Zumindest an der menschlichen, und insbesondere an einem... »Ich hatte einen Traum«, sagte Jelto, der Florenhüter, und seine Stimme knisterte wie welkes Laub. Aylea sah ihn aus großen Augen an. Wie ihr Freund kauerte auch die Zehnjährige auf einer futonartigen Liege. Sie lag auf dem Bauch und hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt, als sei ihr die Last ihrer eigenen Gedanken zu schwer. »Kam ich auch darin vor?«, fragte sie leise. Jelto lächelte müde. Seine Augen fixierten einen imaginären Punkt an der Decke der spärlich eingerichteten Kabine. »Ihr wart alle da«, murmelte er. »Du, Scobee, John...« »Und Jarvis?« »Jarvis auch.« »Was ist passiert?« Der Florenhüter zögerte, als müsse er sich die Einzelheiten seines Traums erst mühsam ins Gedächtnis zurückrufen. »Es war herrlich«, sagte er dann. »Wir lebten in einer Hütte im Wald. Alles um uns herum blühte in saftigem Grün. Mächtige Mammutbäume reckten ihre Kronen bis in den Himmel. Und Blumen, wie du sie noch nie zuvor gesehen hast, verströmten einen betörenden Duft.« »Wie schön...« »Ja. Das war es.« Einen kurzen Moment lang sah Jelto fast glücklich aus. Doch als er weiter sprach, verdüsterte sich sein Blick: »Mit einem Mal veränderte sich alles. Wolken brauten sich am Himmel zusammen und verdunkelten die Sonne. Die Farben verschwanden. Alles wurde grau und trocken und verwelkte vor unseren Augen, wurde zu Asche, bis es nichts mehr gab als vertrocknetes Ödland.« Jeltos Körper bebte und seine glatte, faltenlose Haut schien einen Ton dunkler zu werden, als würde er selbst langsam verwelken. Seufzend rollte sich Aylea auf den Rücken und schlug ihre Beine übereinander. Sie hatte eine ungefähre Ahnung davon, wie sehr der Florenhüter unter der Trennung von seinen Pflanzenkindern litt. Freilich verfügte sie nicht über Jeltos außergewöhnliche Gabe. Seine geheimnisvolle Aura, die es ihm ermöglichte, auf einer außersinnlichen Ebene mit jeder Pflanze in eine Art Mentalkontakt zu treten. Mit dem Fehlen jedweder Vegetation an Bord der RUBIKON war ihm der bisher einzige Sinn seiner Existenz entzogen worden. Zuhause auf der Erde war er im Auftrag der Herrschenden für ein riesiges Waldstück verantwortlich gewesen, das die verseuchte Zone Pekings wie ein Gürtel umschloss. Ein Todesgürtel, zuckte es ungewollt durch Ayleas Gedanken, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Tatsächlich hatte dieses tödliche Paradies allein dem Zweck gedient, die Gettobewohner an der Flucht aus der Zone zu hindern. Viele der außerirdischen Pflanzen waren in der Lage, einen Menschen bei lebendigem Leibe zu verschlingen.
Dennoch konnte sie Jelto nicht böse dafür sein, dass er einem System wie dem der Master gedient hatte. Der Klon mit dem »grünen Daumen« hatte in seiner ganz eigenen Welt gelebt. Einer Welt, in der sich Begriffe wie gut oder böse, richtig oder falsch allein am Wohlergehen seiner Pflanzenkinder definiert hatten. Aylea hatte jedenfalls nie einen Erwachsenen getroffen, dessen Gedanken so rein, so ursprünglich waren, wie die des Florenhüters. Plötzlich hatte sie das Gefühl, irgendetwas Tröstendes sagen zu müssen. »Du wirst deinen Wald irgendwann wieder sehen. Oder einen anderen.« Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Und wer konnte es ihr verdenken? Auch für sie war Trost eine Mangelware an Bord dieses Schiffes. Ihr Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen so radikal verändert, wie sie es sich bis kurzem noch nicht hätte vorstellen können. Eben noch war sie ein ganz normales zehnjähriges Mädchen gewesen. Mit allen Möglichkeiten, die einem Kind ihres Alters auf der Erde des 23. Jahrhunderts offen standen. Sorgenfrei hatte sie mit ihren Eltern in der Metrop Washington gelebt. Bis sie auf ein düsteres Geheimnis gestoßen war, das sich hinter der Fassade dieser in allen Lebensbereichen optimierten Welt verbarg. Praktisch über Nacht hatte man sie abgeholt. Man hatte sie ihrer Familie entrissen und an einen Ort gebracht, von dessen Existenz sie bis dahin noch nicht einmal etwas geahnt hatte - die Zone, Heimat der Entrechteten und Ausgestoßenen. Wahrscheinlich wäre sie noch heute dort, wäre sie auf ihrer Flucht vor einer Straßenbande nicht einem Mann namens John Cloud in die Arme gelaufen. Eine folgenschwere Begegnung, die von da an ihr weiteres Schicksal bestimmt hatte. Und die sie schließlich hierher geführt hatte. An Bord der RUBIKON - oder SESHA, wie seine Schöpfer, die Foronen, das gewaltige Rochenschiff nannten. Und da saß sie nun, irgendwo zwischen den Galaxien. Unterwegs zu einem Ziel, von dem sie weder wusste, ob sie es jemals erreichen würden, noch was genau sie dort erwartete. Je länger sie sich an Bord des Schiffes aufhielt, desto mehr kam es ihr so vor, als würde die Dunkelheit des Universums zunehmend gegen die Außenwände des Rochenschiffes drücken. Als würde sie es wie einen Schraubstock zusammenpressen, bis es schließlich zerbarst und die Kälte des Alls nach ihrem Herzen griff. Sofort waren ihre Gedanken wieder bei Jelto. Wenn sie, die sie in einer hoch technisierten Welt aufgewachsen war, schon so empfand, wie elend musste sich der naturverbundene Florenhüter dann erst fühlen? Aylea setzte sich auf, ließ die Beine vom Rand ihrer Liege baumeln und blickte in Jeltos Richtung. Er hatte die Augen geschlossen und seine Hand lag auf dem seltsamen Amulett, das er an einer Kette um den Hals trug. Normalerweise verbarg er es unter seiner Kleidung. Sie sprang zu Boden, ging zu ihrem Freund und blieb vor ihm stehen. »Schläfst du?«, fragte sie leise. Keine Reaktion. Und dann, für die Dauer eines Lidschlags, glaubte sie ein Aufblitzen zu sehen. Einen grellen Schein, der Jeltos hageren Körper umhüllte wie ein Gewand aus purem Licht. Im nächsten Moment war es auch schon wieder vorbei und seine Haut war so matt und glanzlos wie zuvor. Aylea rieb ihre überanstrengten Augen. Dann ging sie vor ihm auf die Knie und bettete ihren Kopf auf seine Brust. »Ach, Jelto«, seufzte sie leise. »Was wird nur aus uns beiden?« Eine Antwort bekam sie nicht...
John Cloud räusperte sich und zog die Stirn in Falten. Scobee konnte förmlich dabei zusehen, wie
sein Gehirn die Neuigkeit verarbeitete, die sie ihm soeben aufgetischt hatte.
»Hältst du das für eine gute Idee, Scob?«, fragte er schließlich mit sorgenvollem Blick.
Der ehemalige Kommandant der ersten RUBIKON und die GenTec hatten sich in Clouds Kabine
zurückgezogen, um ungestört reden zu können. Dennoch war sich Cloud keineswegs sicher, ob sie nicht trotzdem abgehört wurden. Sobek, oberster des ehemals siebenköpfigen Hohen Rats und Anführer der Foronen, hatte keinen Zweifel daran gelassen, wer Herr auf diesem Schiff war. Umso mehr überraschte es Cloud, dass er Scobee nun eine Expedition in die unbekannten Tiefen des geheimnisvollen Rochenschiffes genehmigt hatte. »Wenn du mich fragst, sollten wir lieber zusammenbleiben, soweit es geht«, meinte er. »Wir können unserem Gastgeber nicht über den Weg trauen. Schließlich hat er uns bewiesen, dass er ohne zu zögern über Leichen geht, wenn es ihm nützlich erscheint.« Scobee nickte betroffen. Sie wusste natürlich, worauf Cloud anspielte. Auch sie war noch immer entsetzt von der Skrupellosigkeit, mit der der Forone das Schicksal eines ganzen Volkes besiegelt hatte. Ohne zu zögern hatte er die Energiebänke der Jaroviden angezapft und sie damit ihrer Lebensgrundlage beraubt. Nur so war es ihnen letztendlich gelungen, jene Leerzone zu verlassen, die durch ein vollständiges Fehlen der für den Schiffsantrieb so wichtigen Dunklen Materie gekennzeichnet gewesen war. Und obwohl die Jaroviden selbst für die Schaffung dieses Vakuums, und damit für die prekäre Lage des gestrandeten Rochenschiffes verantwortlich gewesen waren, war die Entscheidung des Foronenführers nach menschlichen Maßstäben vollkommen inakzeptabel. Cloud und Scobee hatten jedenfalls einen deutlichen Eindruck von der Natur dieses uralten Volkes bekommen. »Die Foronen handeln vollkommen egoistisch, verfolgen konsequent ihre eigenen Interessen und setzen sich rücksichtslos über jedes Hindernis hinweg, das sich ihnen dabei in den Weg stellt«, analysierte Scobee die Denkweise des Wüstenvolkes. »Aber sie sind nicht unsere Feinde, John. Wenn es uns nicht gelingt, ihnen ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenzubringen, haben wir schon jetzt verloren.« John Cloud atmete tief durch und strich über sein glatt rasiertes Kinn. »Wie gesagt... Mir ist nicht wohl bei der Sache. Aber letzten Endes ist es deine Entscheidung.« »Ich danke Ihnen, Commander«, flachste Scobee in Anspielung auf Clouds früheren Rang auf der RUBIKON I und grinste dabei. Dann wurde sie übergangslos wieder ernst. »Ich muss einfach irgendetwas tun, verstehst du? Diese verfluchte Warterei, dieses Gefühl des Ausgeliefertseins bringt mich noch um den Verstand.« Das wiederum konnte Cloud ihr sehr gut nachempfinden. Die Hilflosigkeit, die ein Mensch im Angesicht der Ewigkeit des Universums unweigerlich empfinden musste, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei. Seit sie die Vakuumzone der Jaroviden hinter sich gelassen hatten, war dieses Gefühl noch schlimmer als vorher. Vielleicht, dachte er sich, lag es daran, dass er zum ersten Mal seit langem die Zeit dazu hatte, über ihr Schicksal nachzudenken. Er und die GenTecs waren in einer Zeit gestrandet, die nicht ihre eigene war. Und seit ihrem Erkenntnisgewinn über die heutigen Machtverhältnisse auf der Erde, beziehungsweise seit ihrer überstürzten Flucht von dort, gab es endgültig keinen Ort mehr, den sie guten Gewissens als »Heimat« bezeichnen konnten. Sie trieben mitten im Nirgendwo, an Bord eines gewaltigen Raumschiffes, dessen gigantische Ausmaße sich selbst einem überdurchschnittlich entwickelten menschlichen Verstand nicht einmal ansatzweise erschlossen. Und auch der Blick in die nahe Zukunft gab wenig Anlass zu Hoffnung. Das Ziel ihrer Reise war die Große Magellansche Wolke, die Heimatgalaxie der Foronen, wie Sobek ihnen verraten hatte. Schön und gut. Doch was erwartete sie dort? Hatten die ominösen Virgh, vor denen das Volk der Foronen einst geflohen war, ihre Stützpunkte wirklich abgezogen? Sobek und Siroona, die zweite Vertreterin der sieben Herrscher der Foronen an Bord der RUBIKON II, gingen davon aus. Sie hofften es zumindest. Aber was war, wenn sie sich irrten? Mit welcher Art von Feind würden sie es dann zu tun bekommen? Was mussten das für Wesen sein, vor denen selbst ein Volk kapitulierte, das mit seiner grenzenlos erscheinenden Macht ein Jahrhundertwerk wie den Aqua-Kubus geschaffen hatte?
Cloud bemühte sich, diese quälenden Gedanken abzuschütteln. Scobee hatte Recht. Wenn sie zu viel nachdachten, drehten sie irgendwann noch durch. »Wann wirst du aufbrechen?«, fragte er. »Sobald wie möglich«, gab sie zurück. »Jarvis wird mich begleiten, falls es dich beruhigt. Das war übrigens Sobeks Vorschlag.« Und wieder runzelte Cloud die Stirn. Jarvis" jetzige Existenz gehörte ebenfalls zu den Dingen, die ihm Rätsel aufgaben. Unter normalen Umständen hätte der GenTec nämlich gar nicht mehr am Leben sein dürfen. Dass er es dennoch war, lag daran, dass sein Geist seine sterbliche Hülle im Augenblick des Todes verlassen hatte und in den Körper eines amorphen Kunstwesens der Foronen übergewechselt war. Und so froh John Cloud über die Rettung seines bis vor kurzem noch todgeweihten Gefährten auch war, so suspekt waren ihm die näheren Umstände dieses Vorgangs. Immerhin handelte es sich bei dem Amorphen um ein Wesen, das bis vor kurzem noch unter Sobeks Kontrolle gestanden hatte. Konnte Jarvis über seinen neuen Körper wirklich frei bestimmen? Oder konnte er das nur, solange der Forone dies zuließ? »Was ist?«, fragte Scobee, die Clouds Zögern bemerkt hatte. »Nichts. Ich rate dir nur, wachsam zu sein...«
Aylea presste ihren Rücken an die glatte Wand des lang gestreckten Korridors und lauschte dem Zischen der Durchgangsschleuse. Als Nächstes hörte sie Schritte. Sie klangen zielstrebig, fast militärisch. Wenn Aylea nicht alles täuschte, waren es zwei Personen, die soeben durch die Schleuse in den Nebengang getreten waren. Sie kamen genau in ihre Richtung und würden jeden Moment die Einmündung des Ganges passieren, in dem sich Aylea versteckt hielt. Die Zehnjährige hielt den Atem an und presste sich noch fester gegen die Wand, als wollte sie mit dem kalten Material verschmelzen. Stimmen klangen auf, doch was gesagt wurde, verstand Aylea nicht. Die Sprache der Foronen war in ihren Ohren nicht mehr als unverständliches Kauderwelsch. Einen Moment lang sah Aylea die riesenhaften Körper dieser so fremdartigen Wesen, die sich an der Einmündung des Korridors vorbei schoben. Kurz darauf waren sie auch schon vorbei. Aylea atmete tief durch. Ihr war vom Luftanhalten schon ganz schwindlig, sodass grelle Sterne vor ihren Augen zerplatzten. Doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Immerhin befand sie sich auf einer Mission, von der das Überleben des gesamten Universums abhing. Da durfte man nicht zimperlich sein. Natürlich war alles nur ein Spiel. Eine harmlose Phantasterei, mit der sie versuchte, sich von der Langeweile abzulenken, die sie an Bord des Rochenschiffes in zunehmendem Maße empfand. Mit Ausnahme von Jelto hatte sie keinen Spielkameraden. Und der lag seit Stunden in seiner Kabine und blies Trübsal. Wenn sie sich davon nicht anstecken lassen wollte, musste sie eben selbst für Unterhaltung sorgen. Für einen kurzen Moment musste sie an das Netz denken. Jene virtuelle Realität, in der sie auf der Erde einen Großteil ihrer Freizeit verbracht hatte. In der Rolle des Packa-Mädchens Mashanabà hatte sie zahlreiche Abenteuer bestanden, bevor sie auf das schreckliche Geheimnis dieser angeblichen Scheinwelt gestoßen war. Es hatte sich herausgestellt, dass die katzenartigen Packa so real waren wie sie selbst. Sie waren ein extraterrestrisches Volk, das von den Erinjij geistig versklavt worden war. Mashanabà hatte diese Erkenntnis mit dem Tod bezahlt - und Ayleas eigenes Leben war komplett aus den Fugen geraten. Wie beruhigend war es da, sich zur Abwechslung einmal ganz auf die eigene Phantasie verlassen zu können. Aylea sah sich noch einmal um.
Dann löste sie sich von der Wand und huschte in den wabenförmigen Gang, den gerade noch die beiden Foronen entlang geeilt waren. Wenn sie nicht alles täuschte, so ging es links zur Kammer, in der der »Kristall der Macht«, das Heiligtum ihres Volkes, aufbewahrt wurde. Mit seiner Hilfe würde es ihr gelingen, die Macht über ihr gewaltiges Sternenreich zurückzuerobern und die feindlichen Besatzer, die den Kristall geraubt hatten, in die Flucht zu schlagen. Bis dahin durfte sie natürlich keinem dieser Wesen in die Arme laufen, sonst war alles aus. Diese Außerirdischen besaßen mächtige Waffen, die jedes organische Wesen mühelos in seine atomaren Bestandteile auflösen konnten. Die Schleuse glitt automatisch auf, als Aylea sich ihr bis auf wenige Meter genähert hatte. Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf die andere Seite der Schleuse und wurde sich dabei der Tatsache bewusst, dass sie sich noch nie zuvor so weit von ihrer Kabine entfernt hatte. Sie stand kurz davor, unerforschtes Terrain zu betreten. Einen weißen Flecken auf der Blaupause in ihrem Kopf, die sie auf ihren bisherigen Streifzügen durch die Gänge des Rochenschiffes angefertigt hatte. Schwer atmend blieb sie auf der anderen Seite stehen, während sich die Schleuse in ihrem Rücken schloss. Ihre flackernden Augen versuchten, jedes Detail ihrer neuen Umgebung zu erfassen, doch ihr Verstand weigerte sich zu glauben, was sie ihm übermittelten. Auf den ersten Blick unterschied sich der Korridor durch nichts von all den anderen, die sie bisher durchstreift hatte. Erst wenn man versuchte, seinem Verlauf zu folgen, stellte man fest, dass er kein Ende zu nehmen schien. Schnurgerade erstreckte er sich in scheinbar endlose Weiten, als würde er auf direktem Wege bis an die Grenzen des Universums führen. Die Wucht dieses Eindrucks war zu viel für die Zehnjährige. Hatte sie sich zuvor schon einsam und verloren gefühlt, so potenzierte sich dieses Gefühl beim Anblick dieser unbeschreiblichen Leere und Weite. Stöhnend wich sie zurück. Zwar hatte sie sich zuvor schon gedanklich mit den gigantischen Ausmaßen des Rochenschiffes auseinander gesetzt, doch waren all diese Überlegungen eben nicht mehr als reine Gedankenspiele gewesen. So als würde man über die Ewigkeit des Universums philosophieren, ohne eine wirkliche Vorstellung davon zu haben. Ohne es zu merken, stolperte sie langsam zurück. Erst das Zischen, mit dem sich die Schleuse wieder öffnete, riss sie aus ihrer atemlosen Starre. Sie wirbelte auf dem Absatz herum - nur um sofort wieder zurückzuprallen. Keine zwei Schritte von ihr entfernt stand eine hoch gewachsene Gestalt. Ayleas Schrei blieb auf halbem Wege in ihrer Kehle stecken, als sie den Mann erkannte. Einen Mann mit breiten Schultern, mittellangen blonden Haaren und blaugrauen Augen, die sie tadelnd anblickten. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst immer in der Nähe bleiben?«, fragte John Cloud mit strengem Tonfall. »Was hast du hier zu suchen?« »Nichts... Ich...« Stammelnd suchte Aylea nach einer plausiblen Rechtfertigung, doch der Mann aus der Vergangenheit winkte ab. Gleichzeitig verschwand die Strenge aus seinem Blick. »Ich weiß, dass das alles nicht einfach für dich ist. Umso wichtiger ist es, dass du gewisse Regeln befolgst. Wir wissen einfach noch zu wenig über dieses Schiff und die Gefahren, die es möglicherweise birgt.« Aylea nickte stumm und senkte den Kopf. »Tut mir Leid...« »Schon gut. Hauptsache du hörst in Zukunft auf das was man dir sagt.« »Versprochen.« »Na dann...« John Cloud trat mit einer unmissverständlichen Geste zur Seite. Als Aylea an ihm vorbeiging, bemerkte sie noch den Ausdruck, der sich in Johns Clouds Züge grub, während er durch die geöffnete Schleuse schaute. In ihm schienen sich all die Sorgen und Ängste wiederzuspiegeln, die sie gerade noch selbst verspürt hatte. Es war eine Erkenntnis, die nicht gerade dazu beitrug, ihre eigenen Sorgen zu zerstreuen.
»Vertrautheit« war wohl das richtige Wort für das Gefühl, das Scobee verspürte, als sie mit Jarvis die Tiefen des Rochenschiffes durchstreifte. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre ersten »Ausflüge« durch die Gänge und Räume SESHAs. Damals, als sie mit Hilfe des Schiffes aus dem Zentrum des Aqua-Kubus geflohen waren. Als Resnick und Jarvis unter rätselhaften Umständen verschwunden waren... Als Darnok das Schiff verlassen hatte... Darnok... Seltsamerweise war es der Gedanke an den Keelon, der Scobees Herzen den schmerzhaftesten Stich versetzte. Seltsam deshalb, weil sie sich lange Zeit nicht einmal sicher gewesen waren, wie dieses fremdartige Wesen einzuschätzen war. Doch im Laufe zahlreicher Abenteuer, die sie gemeinsam überstanden hatten, war er ihr allmählich ans Herz gewachsen. Heute erfüllte es sie mit tiefer Trauer, dass es ihnen nicht gelungen war, ihn aus der Gewalt seiner Artgenossen zu befreien, und sie ihn auf der Erde hatten zurücklassen müssen. Scobee seufzte schwermütig. Es war müßig, sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Mit jeder Sekunde wuchs der Abstand zu ihm, und es war schwer zu sagen, ob und wann sie ihren Heimatplaneten jemals wieder sehen würden. »Rechts oder links?«, fragte Jarvis, als sie zum wiederholten Male an eine Weggabelung kamen. »Rechts«, gab Scobee lapidar zurück. Sie hätte sich genauso gut für die andere Richtung entscheiden können. Es spielte keine Rolle. Je tiefer sie in den Bauch des Schiffes vordrangen, desto mehr fühlte sie sich an ein gewaltiges Labyrinth erinnert. Sie hatten damals schnell bemerkt, dass das Schiff im Inneren größer war, als es von, außen wirkte. Aber tatsächlich bewusst war sie sich der wahren Ausmaße SESHAs erst geworden, nachdem Sobek die Dimensionsschranke deaktiviert hatte. Bis dahin waren weite Teile des Schiffes in einer Raumverfaltung verborgen gewesen. Inzwischen wussten sie, dass das Schiff eine Länge von annähernd zehn und eine Spannweite von gut acht Kilometern besaß, und dabei zehntausende von Räumen beherbergte. Und einige hundert von ihnen waren von Leben erfüllt. Die GenTec fröstelte bei dem Gedanken, dass sie sich damals auf ihrem Weg zur Erde völlig allein gewähnt und dabei nicht einmal geahnt hatten, dass mehrere zehntausend Foronen mit ihnen an Bord gewesen waren. Ein ganzes, verlorenes Volk, das die letzten Jahrtausende im Staseschlaf verbracht hatte. Jetzt war es erwacht, um seine einstige Stellung im Universum wieder einzunehmen. Letzteres war ein Gedanke, von dem Scobee noch nicht so recht wusste, ob er sie mit Hoffnung oder Furcht erfüllte. Zu wenig war bisher über die wahren Motive dieser Rasse bekannt, als dass sie sich diesbezüglich ein Urteil erlauben wollte. »Nach links?«, fragte sie, als sie eine weitere Abzweigung erreichten. Jarvis - oder vielmehr die amorphe Hülle, die Jarvis' Geist aufgenommen hatte - nickte. Wie fast immer hatte er seine ursprüngliche, menschliche Gestalt angenommen, obwohl die schillernde Masse, die einst dem verstorbenen Foronen Mont als Rüstung gedient hatte, jede nur erdenkliche Form annehmen konnte. Wahrscheinlich fiel es Jarvis dadurch leichter, sich an seinen neuen Körper zu gewöhnen. Und sich dabei noch immer als so etwas Ähnliches wie ein Mensch zu fühlen, ging es Scobee unwillkürlich durch den Kopf. Schon »normalen« GenTecs fiel es zuweilen trotz - oder gerade wegen - ihrer körperlichen Überlegenheit schwer, sich gegenüber nicht In-vitro-Geborenen als gleichwertiges Individuum zu fühlen. »Ich frage mich allmählich, ob wir uns nicht schon die ganze Zeit im Kreis bewegen«, mutmaßte Jarvis. Scobee wusste, worauf er anspielte, doch sie schüttelte den Kopf. Angesichts einer Besatzung von
gut tausend Foronen, erschien es ihr keineswegs ungewöhnlich, dass sie seit gut einer Stunde
irdischer Zeitrechnung nur an Mannschaftsquartieren vorbeigekommen waren.
Doch auch in diesen Bereichen gab es einiges zu entdecken. Wie etwa jene seltsamen,
besenkammergroßen Räume, die Scobee zunächst für Nasszellen gehalten hatte. Erst bei näherer
Inspektion hatte sich herausgestellt, dass es sich dabei um Wärmekammern handelte, in denen eine
künstliche Sonne eine Hitze erzeugte, die für Menschen kaum zu ertragen war.
Scobee hatte sich nur kurz darin aufgehalten und war davon überzeugt, dass sie bereits wenige
Minuten später das Bewusstsein verloren hätte.
Die Foronen dagegen schienen diese brennende, überaus trockene Hitze zu genießen. Sobek hatte
zuvor bereits erklärt, dass sein Volk von einer wasserarmen, extrem heißen Wüstenwelt stammte.
Und auch wenn diese unmenschlichen Temperaturen offenbar nicht lebensnotwendig für sie waren,
schien sie ab und zu doch wesentlich zu ihrem seelischen und körperlichen Wohlbefinden
beizutragen.
Nach geraumer Zeit erreichten sie ein wabenförmiges Schott, dass mit hieroglyphenartigen
Zeichenfolgen und Einkerbungen übersät war.
Es öffnete sich von selbst, als die GenTec sich ihm bis auf ein paar Meter genähert hatte. Dahinter
erstreckte sich ein etwas breiterer Gang. Er war von einem fluoreszierenden Leuchten erfüllt, das
direkt aus den Wänden zu kommen schien. Nein, korrigierte sich Scobee in Gedanken. Es war
mehr, als würde jeder einzige Luftpartikel aus sich heraus leuchten, sodass es aussah, als würde ein
dünner, gleichmäßig verteilter Dunst zwischen den Wänden hängen.
»Allmählich wird es interessant«, murmelte Scobee andächtig, als würde sie eine Kirche betreten.
Jarvis folgte ihr wortlos durch die Schleuse.
Mehrere Türen flankierten den Korridor beidseitig in einem Abstand von jeweils fünf bis zehn
Metern. Fast alle waren mit ähnlichen Zeichenfolgen versehen, wie die auf dem Durchgangsschott.
»Lesen müsste man können«, murmelte Jarvis, als er vor einer von ihnen stehen blieb.
»Sie dir das an!«, rief Scobee, die schon einige Schritte weiter gegangen war.
Die Tür, vor der sie stand, unterschied sich von all den anderen durch ein ins Auge stechendes
Detail.
Etwa auf Kopfhöhe war eine blutrote Halbkugel von der Größe eines Tennisballs in das bläuliche
Material eingelassen.
Scobee beugte sich vor und kräuselte ihre verschnörkelten Tattoos, die bei ihr die Augenbrauen
ersetzten. »Merkwürdig...«
»Was ist?«, fragte Jarvis.
»Es fühlt sich an, als würde irgendetwas nach mir tasten. Wie tausend unsichtbare Härchen, die
durch meine Kleidung dringen und ganz behutsam über meine Haut streichen. Ich muss gestehen, es
ist nicht unangenehm.«
»Denkst du, es hat mit diesem Ding da zu tun?«
Bevor Scobee antworten konnte, leuchtete die seltsame Kugel auf. Im nächsten Moment ertönte ein
leises Klicken, und das Türschott schob sich zur Seite.
Der Raum dahinter war quadratisch und deutlich kleiner als Scobee vermutet hatte.
Doch das eigentlich Auffällige waren die Wände. Bereits auf den ersten Blick kamen sie Scobee
seltsam verschwommen vor. Als würde das Licht wenige Zentimeter davor auf seltsame Weise
gebrochen.
Ganz langsam näherte Scobee ihre rechte Handfläche der Wand. Noch bevor sie auf einen
stofflichen Widerstand stieß, spürte sie, dass sie zunehmenden Druck aufbringen musste, je näher
sie der eigentlichen Wand kam. Es war so ähnlich, als versuchte man, zwei gleichpolige Magneten
einander zu nähern.
Ein Blick zu Jarvis verriet ihr, dass auch er dabei war, die eigenartige Wandverkleidung zu
inspizieren.
»Was hältst du davon?«, fragte sie.
»Scheint sich um eine Art Kraftfeld zu handeln«, meinte er, während er testete, wie weit er mit
seiner Faust vorstoßen konnte. »Ich frage mich jedoch, wozu es dient.«
Diese wage war berechtigt. Der Raum war völlig leer, sodass sich sein Zweck auch für Scobee nicht
einmal ansatzweise erschloss.
Erst als sie einige Schritte weiterging, entdeckte sie auf der linken Seite eine rechteckige Fläche, die
von dem Kraftfeld offenbar ausgespart wurde. Sie war etwa zwei Meter hoch, einen halben Meter
breit und schillerte metallicblau.
»Was ist das?«, fragte Jarvis, der hinter ihr stehen blieb und über ihre Schulter blickte. »Eine Tür?«
»Von der Größe her würde ich sagen, ja«, gab Scobee zurück. »Ich sehe nur keinen
Öffnungsmechanismus und...«
Die GenTec verstummte mitten im Satz. Wieder hatte sie das Gefühl, als würde sie von irgendetwas
abgetastet. Und diesmal schien es nicht nur über ihre Haut zu streichen. Nein, es war, als würden
unsichtbare Strahlen durch ihre Stirn in ihr Gehirn dringen. Als würde eine fremde Macht in ihrem
Innersten wühlen, ihre tief verborgenen Ängste und geheimsten Sehnsüchte an die Oberfläche
zerren.
All das dauerte nur Sekunden, dann war es vorbei.
Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, löste sich das Rechteck aus der Wand, stieß einige
Zentimeter vor und glitt dann geräuschlos zur Seite.
Scobees Nägel gruben sich tief in ihre Handballen. Ihre Lippen waren blass und blutleer. Eine kaum
zu beschreibende Spannung hatte sich ihrer bemächtigt.
Hinter der Tür befand sich kein Durchgang, so viel konnte sie jetzt erkennen. Es war mehr wie...
eine Art Wandschrank.
Ein leises Summen aus seinen Tiefen verriet ihr, dass der Vorgang, den sie offenbar durch ihre
bloße Präsenz ausgelöst hatte, noch immer nicht abgeschlossen war.
Und dann sah sie die humanoide Silhouette, die sich aus der Dunkelheit schälte und dabei
zunehmend Form annahm. Sie bewegte sich nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern stand auf
einer Art Förderband, das sie beharrlich in Scobees Richtung schob.
Erst als die Gestalt die Öffnung erreichte, erkannte Scobee, dass es sich bei ihr um keine organische
Lebensform handelte. Sie war völlig gesichtslos. Ihr Körper glänzte silbern und war völlig glatt.
Scobee konnte ihr eigenes, verzerrtes Spiegelbild in der blank polierten Fläche erkennen.
»Ist das ein Verwandter von dir?«, fragte sie flapsig, während sie Jarvis über die Schulter hinweg
ansah.
Tatsächlich waren gewisse Ähnlichkeiten zu dem Amorphen vorhanden. Dennoch... Etwas war
anders.
In seiner Beschaffenheit erinnerte der Humanoide eher an eine Art Roboter. Das Material aus dem
er bestand, wirkte massiv und unbeweglich. Der Körper des Amorphen dagegen war äußerst
formbar und befand sich meist in ständiger Bewegung.
»Ah..., Scobee...«
Die GenTec wusste die Reaktion ihres Partners zunächst nicht zu deuten. Erst als er die Hand hob
und über ihre Schulter nach vorne zeigte, ahnte sie, dass irgendetwas nicht stimmte.
Schnell drehte sie sich wieder um - und erstarrte.
Das roboterhafte Wesen war dabei, sich zu verändern. Die vormals so makellose Oberfläche schien
jetzt aus abertausend winzigen, paillettenartigen Schuppen zu bestehen, die aufgeregt vibrierten,
dabei ständig ihre Farbe veränderten.
»Wir sollten hier nichts mehr anfassen«, versetzte Jarvis trocken, während Scobee einen Schritt
zurücktrat.
Urplötzlich stoppte der Vorgang.
Und Scobee fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
Schon zuvor hatte für sie kein Zweifel bestanden, dass dieses nackte, geschlechts- und identitätslose
Ding dabei war, eine Gestalt anzunehmen.
Damit hatte sie jedoch nicht gerechnet:
Die Gestalt, die der Humanoide gewählt hatte, war ein exaktes Ebenbild ihrer selbst...
Für die Dauer eines Lidschlags scheint es, als würde die Welt in einer Woge aus gleißend hellem
Licht vergehen.
Es ist kein herkömmliches Licht, keines, das nur die Dunkelheit vertreibt. Seine Strahlen dringen
tiefer, bohren sich wie Fühler in stoffliches Gewebe und tasten nach dem Zentrum der Existenz, das
es zu beseelen gilt.
Es ist auch kein zerstörerisches Licht.
Mit all seinen Nervenenden spürt Jelto die schöpferische Kraft, die ihm innewohnt. Jenen Funken,
der die Flamme des Lebens explosionsartig entzündet.
Der Florenhüter wundert sich nicht darüber. Er selbst ist die Quelle dieses Lichtes, und er weiß um
die Macht, die es besitzt.
Er spürt wie es jetzt, da seine Aufgabe erfüllt ist, zu ihm zurückfließt, ihn wie eine Schale umhüllt.
Und noch bevor er die Augen aufschlägt, hört Jelto die Stimmen. Erst eine, dann noch eine und eine
weitere...
Sie alle sprechen zu ihm, obwohl sie keine wirklichen Worte artikulieren.
Es ist mehr ein Sirren, weit außerhalb des wahrnehmbaren Frequenzbereichs.
Deshalb sind es auch nicht seine Ohren, mit denen Jelto die Worte vernimmt. Er spürt sie in sich,
wie ein Gefühl von Freude und Erleichterung, das ihn durchfließt.
Dennoch versteht er, was sie sagen. Er hört ihnen zu und genießt dabei ihre bloße Gegenwart. So,
wie man die wärmenden Strahlen der Sonne auf der Haut genießt, oder die laue Luft an einem
Frühlingstag.
Schließlich antwortet er ihnen, und ein Lächeln legt sich dabei auf seine Lippen.
Meine Kinder..., sagt er, ohne dass ein Laut seine Kehle verlässt. Wie habe ich euch vermisst...
John Cloud fühlte sich, wie er sich in Sobeks Gegenwart immer fühlte. Krampfhaft bemühte er sich, das Oberhaupt der Foronen nicht spüren zu lassen, dass ihm die Autorität seiner bloßen Präsenz so erdrückend schien, dass ihm seine Instinkte dazu rieten, jede Konfrontation mit dem obersten Foronen zu meiden. Cloud hasste sich dafür. Er selbst war es gewohnt, von anderen als Autorität wahrgenommen zu werden. Sogar damals, im Rahmen der Ereignisse um die Schwarze Flut, als ihm seine Führungsposition auf der RUBIKON I von offizieller Stelle entzogen worden war, hatte sich alles in ihm dagegen gesträubt, sich dem Kommando eines anderen zu unterwerfen. Und schon fast selbstverständlich war es ihm vorgekommen, als auf ihrer Flucht aus dem AquaKubus die KI des Rochenschiffes ihn scheinbar sofort als neuen Kommandanten akzeptiert hatte. Unwillkürlich irrte sein Blick an Sobek vorbei, zu einem der sieben Schalensitze der Kommandozentrale, von dem aus er selbst vor kurzem noch das Schiff gesteuert hatte. Versucht hatte, ihm seinen Willen aufzuzwingen... Bis Sobek ihn und Scobee schließlich des Schiffes verwiesen hatte. Jetzt waren die Sitze von Foronen belegt. Sie - sowie zehntausende ihrer Artgenossen - hatten noch bis vor kurzem als Schläfer die Zeit seit ihrer Flucht überdauert. Etwa tausend von ihnen waren nach ihrem Erwachen an Bord geblieben. Der Rest hatte sich auf die 87 Kopien des Rochenschiffes verteilt, die in der Ewigen Stätte Tovah’Zaras entstanden und die in der Milchstraße zurückgeblieben waren. Wieso und weshalb, das war nur eine weitere Frage, auf die John Cloud wohl erst dann eine Antwort erhalten würde, wenn sein Gastgeber es so wollte. »Du musst noch viel lernen, John Cloud«, sagte Sobek, und die dünne Membranhaut, die sein knöchernes Gesicht überzog, vibrierte dabei. »Du bist wie ein Kind, das gerade erst gelernt hat zu
laufen, und doch schon verlangt, dass man ihm die Zusammenhänge des Universums erklärt.«
Cloud ballte die Fäuste und atmete tief durch. Nur mühsam gelang es ihm, die Welle des Zorns
zurückzudrängen, die sich in ihm erhob.
Sein einziger, wenn auch schwacher Trost war die Tatsache, dass wohl jeder andere Mensch, ganz
gleich wie mächtig, wie selbstbewusst und willensstark er in einem früheren Leben gewesen sein
mochte, im Angesicht eines Jahrtausende alten Wesens kaum weniger hilflos gewesen wäre.
Zu unvorstellbar waren Sobeks Möglichkeiten, zu groß sein Wissen, als dass ein Widerspruch aus
Clouds Mund auch nur irgendetwas bewirkt hätte.
Cloud war sich ohnehin nicht sicher, warum er den Foronen um diese Unterredung gebeten hatte.
Wahrscheinlich war es die Hoffnung, mehr über diese Spezies zu erfahren, deren
Entwicklungsstand alles übertraf, was der Mann aus der Vergangenheit bis vor kurzem noch für
möglich gehalten hatte.
Es gab so vieles, das er nicht verstand.
Zum Beispiel, wie ein wissenschaftlich so hoch entwickeltes Volk so unterentwickelte ethische
Grundsätze haben konnte.
Oder war es gerade ihre darwinistische Lebensphilosophie vom Recht des Stärkeren, die eine solch
immense Entwicklung dieser Spezies erst möglich gemacht hatte?
Vielleicht, so soufflierte ihm sein Unterbewusstsein, waren menschliche Maßstäbe von Ethik und
Moral im Rahmen weit reichender kosmischer Ereignisse tatsächlich überholt und unbrauchbar.
Vielleicht waren er und Scob nicht mehr als Relikte einer vergessenen Epoche und für das
Überleben in einer Zeit wie dieser nicht geschaffen.
Was, fragte er sich unweigerlich, wäre beispielsweise aus ihnen geworden, hätten sie die
Energiereserven der Jaroviden unangetastet gelassen? Wie lange hätte es wohl gedauert, die
Vakuumzone aus eigener Kraft zu verlassen?
Cloud schüttelte den Kopf. Solche Gedanken wollte er gar nicht erst zulassen.
»Ich wäre nur gerne darauf vorbereitet, was uns am Ende dieser Reise erwartet«, versuchte er es
noch einmal. »Wer oder was sind die Virgh? Warum fürchtet ihr sie so sehr, dass ihr ganze Welten
erschaffen müsst, um euch der Konfrontation mit ihnen zu entziehen?«
Bevor Sobek antworten konnte, öffnete sich die Schleuse der Zentrale und herein kam ein Forone,
der sich nur in wenigen Details von Sobek unterschied. Sein Kopf war etwas flacher, außerdem war
er einige Zentimeter kleiner.
Seinen rechten Arm hatte er um Ayleas Brustkorb geschlungen und hielt sie etwa einen Meter über
den Boden. Dass das Mädchen in seinem Griff zappelte und wild um sich schlug, schien ihn nicht
zu beeindrucken.
»Sie stürmte an mir vorbei und war kaum aufzuhalten«, erklärte ihr Bewacher. Die Foronen hatten
es sich mittlerweile angewöhnt, in Gegenwart der Menschen deren Sprache zu benutzen.
»Lass sie runter!«, zischte Cloud und ging auf die beiden zu. Doch erst auf Sobeks knappe
Kopfbewegung hin, setzte der Forone sie auf den Boden.
»Ihr müsst mitkommen!«, stieß Aylea hervor. Ihr Gesicht war stark gerötet.
»Wieso? Was ist denn los?«, fragte Cloud.
»Es ist Jelto. Er hat sich in seiner Kabine eingeschlossen und öffnet nicht.«
Cloud runzelte die Stirn. »Vielleicht schläft er und hat dich nicht gehört.«
Aylea schüttelte entschieden den Kopf. In ihren Augen blitzte ehrlich empfundene Angst. Angst um
ihren besten Freund.
»Ihm ging es vorhin schon sehr schlecht. Ich fürchte, irgendetwas stimmt mit ihm nicht...«
Völlig perplex starrte Scobee auf ihren sonderbaren Zwilling.
Dabei war es nicht die Tatsache, ein Ebenbild zu besitzen, die sie irritierte. Schließlich war sie einst
die Matrix für ein ganzes Bataillon von Klonen gewesen.
Nein, es war vielmehr die Art und Weise wie dieses Abbild entstanden war.
Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt, um die Gestalt zu berühren. Zu prüfen, ob der
Humanoide nicht etwa nur sein Aussehen, sondern auch seine stoffliche Substanz verändert hatte.
Bei genauerem Hinsehen glaubte sie nicht daran. Die Haut wirkte nicht annähernd so geschmeidig
wie die eines Menschen. Die Gesichtszüge waren starr, die Augen ausdruckslos wie die einer
Puppe.
Einer nahezu perfekt modellierten Puppe, wie Scobee zugeben musste.
Wirkliches Leben schien dieser Körper jedoch nicht zu beherbergen.
»Gut getroffen, wie ich finde«, versetzte Jarvis trocken. »Auch wenn der Teint etwas rosiger sein
könnte. Du solltest...«
Der GenTec verstummte, als Scobee II urplötzlich in Bewegung geriet. Die Pailletten auf ihren
Oberschenkeln glitten auseinander, schufen Einbuchtungen, aus denen zwei Greifarme hervor
geschossen kamen. Die Gegenstände, die sie hielten, erinnerten Scobee entfernt an Schusswaffen,
waren jedoch deutlich graziler als jeder noch so hoch entwickelte Energiestrahler, den sie bisher
gesehen hatte.
Die Lippen von Scobee II spalteten sich. Heraus kam ein unverständliches Kauderwelsch, das die
GenTec als Foronensprache identifizierte.
Scobee drehte die Handflächen in einer hilflosen Geste nach außen. »Sorry, ich...«
»Wähle deine Waffe!«, unterbrach Scobee II sie in perfektem Englisch. Die GenTec von der Erde
schluckte.
Hatte ihr Ebenbild sie gerade zu einem Duell herausgefordert?
Als sie nicht reagierte, wiederholte Scobee II ihre Aufforderung.
»Ich denke, du kannst das Angebot annehmen«, meinte Jarvis. »Es scheint sich hierbei um eine Art
Kampfsimulation zu handeln. Ich glaube nicht, dass die Waffen scharf sind.«
Scobee schüttelte energisch den Kopf. »Nein, danke. Da haben wir wirklich Besseres zu tun.« Sie
drehte sich um und trat entschlossen an ihrem Freund vorbei. »Komm, Jarvis. Wir gehen!«
Sie war erst drei Schritte gegangen, als sie ein kurzes Schnarren vernahm, das aus mehreren
Richtungen zu kommen schien.
Fast zeitgleich verspürte sie einen leichten Stich im Rücken. Er war nicht besonders schmerzhaft.
Mehr wie ein Insektenstich. Dennoch kreiselte sie erschrocken herum.
Ihr Blick fiel auf Scobee II, die mit der Waffe auf sie zielte, während ihr Gesicht einen Ausdruck
von Triumph imitierte.
Sie äfft mich nach, wurde es Scobee bewusst. Sie hat mein Innerstes durchleuchtet und agiert jetzt
genauso wie ich.
»Ich habe gewonnen«, sagte ihr Gegenüber mit einer Stimme, die eindeutig nach dem Vorbild der
echten GenTec moduliert war.
Scobee atmete tief durch und trat vor ihr Ebenbild. »Also gut. Wollen wir doch mal sehen, was du
so drauf hast.«
»Ich wünsch euch beiden Hübschen viel Spaß«, flachste Jarvis und ging auf die Tür zu. »Wenn ihr
nichts dagegen habt, warte ich draußen. Ich würde euch ungern in die Quere kommen.«
Scobee wartete, bis sich die Tür hinter Jarvis geschlossen hatte, dann griff sie nach der Waffe.
Obwohl sie wie Metall glänzte, fühlte sich ihr Material geschmeidig, ja fast organisch an. Sie
schmiegte sich so perfekt in ihre Hand, als wäre sie extra für sie angefertigt worden.
Noch während Scobee sich fragte, wo bei dieser Konstruktion der Abzug war, ertastete sie eine
leichte, noppenähnliche Erhebung an der Unterseite. Ein sanfter Druck genügte, um sie einzudellen.
Nichts geschah.
»Die Waffen sind erst bereit, sobald das Signal ertönt«, erklärte Scobee II. »Doch ich gewähre dir
einen Probeschuss.«
Scobee versuchte es noch einmal. Und dieses Mal schoss ein nadeldünner, gleißend heller Strahl
aus dem angedeuteten Lauf. Er jagte schräg in die Höhe, traf das Energiefeld der Decke und wurde
sofort von ihm absorbiert. Dabei blitzte ganz kurz eine handtellergroße Fläche aus grellen,
netzartigen Verästelungen auf.
»Dreh dich um und geh sechs Schritte zurück«, sagte Scobee II unbeeindruckt und deutete auf eine
helle Markierung, die hinter der GenTec auf dem Boden aufleuchtete.
Scobee gehorchte widerwillig, jedoch nicht ohne mit einem Blick über ihre Schulter zu prüfen, ob
auch ihre Gegnerin ihr den Rücken zuwandte. Sie tat es.
»Wenn das Signal ertönt«, sagte das Double, »ist die Runde eröffnet. Jedem Spieler steht eine
beliebige Anzahl von Schüssen zur Verfügung. Gewonnen hat, wer als Erster einen Treffer erzielt.«
Scobee schloss die Augen und ging in Wartestellung.
Wenige Sekunden später ertönte wieder dieses schrille Schnarren. Scobee schnellte herum...
»Das ist in der Tat merkwürdig«, murmelte John Cloud, nachdem Aylea ihm auf dem Weg zu Jeltos Kabine von ihrer vorherigen Unterhaltung mit dem Florenhüter berichtet hatte. »Du sagst, seine Aura blitzte für einen kurzen Moment auf?« Schon bei ihrer ersten Begegnung in der Hütte des Klons, hatte die Aura so strahlend geleuchtet, dass Cloud zunächst geglaubt hatte, statt eines Menschen aus Fleisch und Blut ein überirdisches Geschöpf vor sich zu haben. Seit ihrem Aufbruch aus dem Aqua-Kubus war Jeltos Aura zunehmend schwächer geworden. Als Cloud ihn zum letzten Mal gesehen hatte, hatte seine Haut matt und glanzlos gewirkt, regelrecht kränklich. Cloud hatte es auf die Strapazen der Reise und die Aufregung der vergangenen Wochen geschoben. Doch was, wenn er sich getäuscht hatte? Litt Jelto unter der räumlichen Distanz zu seinen Pflanzen doch mehr, als Cloud es sich bisher hatte vorstellen können? War er am Ende ohne sie überhaupt nicht überlebensfähig? Und falls dem so war - war dann das kurze Aufleuchten seiner Aura gar ein letztes Aufbäumen gewesen, bevor...? Cloud weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu führen. »Er hatte sein Amulett freigelegt und die Hände darüber gefaltet«, fuhr Aylea fort. »Denkst du, das hat etwas zu bedeuten?« Unwillkürlich musste Cloud an die Geschichte denken, die Jelto ihnen damals, bei ihrem Anflug auf den Washingtoner Master-Turm in Shen Sadakos Residenzgleiter erzählt hatte. Das erste Korn... Angeblich hatte Jelto, bevor er sein Amt als Florenhüter angetreten hatte, verschiedene Prüfungen
absolvieren müssen. Eine hatte darin bestanden, allein Kraft seiner Gedanken aus einem Samen eine
Pflanze sprießen zu lassen, um sie anschließend wieder in das Korn zurück zu zwingen.
Eben jenes Erste Korn, das er seitdem, eingeschlossen in einen bernsteinartigen Tropfen, um den
Hals trug.
Damals hatte Cloud die Geschichte nicht geglaubt, hatte sie für eine Legende gehalten, mit der Jelto
ihn und Aylea hatte aufmuntern wollen.
Im Licht der jüngsten Ereignisse war es vielleicht angebracht, die Geschichte neu zu bewerten.
»Wenn es etwas damit zu tun hat, werden wir es herausfinden«, beantwortete Cloud schließlich
Ayleas Frage.
Inzwischen hatten sie die Kabine erreicht.
Cloud betätigte die Taste der Sprechanlage, die neben Jeltos Kabine in die Wand eingelassen war.
»Jelto, hörst du mich?«
Keine Antwort.
»Ich bin's, John. Wir müssen reden. Lass mich bitte rein! o
Cloud und Aylea sahen sich mit wachsender Besorgnis an, während sie vergeblich auf ein
Lebenszeichen des Florenhüters hofften.
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Cloud schließlich und wandte sich an Sobek, der ihnen
schweigend gefolgt war. »Gibt es eine Möglichkeit, die Tür von außen zu öffnen?«
Die Frage war rein rhetorischer Natur. Cloud wusste, dass Sobek in enger geistiger Verbindung mit
der Schiff s-KI stand, sie nach seinem Willen lenken und beeinflussen konnte.
Sobek antwortete zunächst nicht. Er stand nur still da, ohne jede Regung.
Dann war ein leises Zischen zu hören, mit dem die Tür zur Seite glitt.
Überrascht drehten sich John Cloud und Aylea um - und prallten angesichts des Anblicks, der sich
ihnen bot, unwillkürlich zurück.
Es dauerte einige Sekunden, bis Cloud die Eindrücke, die da auf ihn einstürmten, geistig verarbeitet
hatte.
Das Schott stand jetzt weit offen, doch der Zugang zu Jeltos Kabine war noch immer versperrt.
Cloud glaubte zunächst, auf eine massive Wand zu starren. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte
er die einzelnen Bestandteile, aus denen sich das ungewöhnliche Hindernis zusammensetzte.
Pflanzenstränge, Blätter und Äste bildeten ein undurchdringliches, fast lückenloses Dickicht, das
den gesamten Türausschnitt ausfüllte.
»Jelto!
Ayleas schriller Schrei war gleichzeitig ihr Startsignal, mit dem sie sich vom Fleck löste. In letzter
Sekunde trat ihr Cloud in den Weg und schlang blitzschnell seine Arme um den Oberkörper des
Mädchens.
»Bleib hier!«, rief er. »Das ist zu gefährlich!«
Cloud spürte, wie sich ihr Brustkorb unter schnellen Atemzügen hob und senkte, während sie mit
bebender Stimme fragte: »Was ist das?«
John Cloud gelang es nicht, sich von dem Anblick zu lösen. Ihm war, als müsse er zwanghaft
hinsehen, um sich mit jeder Sekunde neu zu vergewissern, dass es keine Einbildung war.
»Ich weiß es nicht...«, sagte er leise.
Scobee kreiselte herum, täuschte nach rechts an, wich dann jedoch blitzschnell nach links aus.
Gleichzeit stieß sie die Waffe mit der Rechten vor und wollte gerade ihre Gegenspielerin
anvisieren, als sie auch schon einen stechenden Schmerz in ihrer Brust verspürte.
»Mist!« Keuchend sank sie auf die Knie und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Ich habe gewonnen«, sagte Scobee II triumphierend und blieb breitbeinig stehen.
Sie wusste genau, wie ich reagieren würde, wurde es der GenTec schlagartig klar. Sie hat mein
Bewusstsein durchforscht. Hat meine Stärken und Schwächen ausgelotet und ihre Kampfstrategie
der meinen angepasst.
»Wünscht du noch eine Partie?«
»Na gut, du«, knurrte Scobee. »Du willst es also auf die harte Tour...«
Scobee II reagierte nicht einmal ansatzweise auf die harschen Worte, sondern behielt ihr
provokantes Lächeln bei, das sie seit ihrem perfekt platzierten Schuss auf den Lippen hatte.
Scobee schraubte sich in die Höhe. Dann drehte sie sich um und bezog erneut Position.
Sekunden vergingen.
Sekunden, in denen Scobee ihre Strategie überdachte. Sie hatte den Fehler begangen, ihre Gegnerin
zu unterschätzen. Jetzt war ihr klar, dass sie den nächsten Kampf nur dann für sich entscheiden
konnte, wenn sie sich von ihren ureigenen Instinkten löste und eine
Richtung einschlug, mit der sie sich selbst überraschte.
Das Schnarren ertönte.
Und Scobee reagierte.
Sofort sank sie in die Grätsche, während sie nur ihren Oberkörper drehte.
Sie gönnte sich nur den Bruchteil einer Sekunde, um ihre Gegnerin anzuvisieren, dann betätigte sie
den Auslöser.
Doch noch während der Energiestrahl auf Scobee II zujagte, sprang diese gut anderthalb Meter in
die Höhe, zog in der Luft die Beine an und verwandelte den Sprung in eine Rolle.
Der Strahl wischte eine Handbreit unter ihr vorbei und zerschellte auf dem Energiefeld der Wand.
Die GenTec stutzte.
Kam es ihr nur so vor, oder breiteten sich die grellen Verästelungen, die bei dem Aufprall
entstanden, diesmal auf einer weit größeren Fläche aus?
Ihr blieb keine Zeit, ihre Beobachtung einer näheren Untersuchung zu unterziehen.
Scobee II hatte ihre zirkusreife Showeinlage inzwischen beendet und schickte nun selbst eine Salve
durch den Raum.
Die GenTec wollte aufspringen, sich irgendwie aus der Schussbahn manövrieren, als der Strahl sich
auch schon in ihre rechte Schulter bohrte.
Ein gleißender Schmerz jagte durch ihren Körper - viel schlimmer als bei den ersten beiden Malen.
Sie stöhnte, während sich ihre Hand öffnete und die Waffe zu Boden fiel. Sekundenlang sah sie nur
noch Sterne.
Es stimmte also. Die Dosis war offensichtlich erhöht worden.
»Ich habe gewonnen« hörte sie ihr Gegenüber mit ihrer eigenen Stimme sagen.
»Aus!«, rief Scobee und wehrte mit der Linken ab, während sie mit der Rechten ihre Schulter
massierte. »Spielabbruch!«
Entsetzt stellte sie fest, dass ihre Worte keinerlei Wirkung erzielten.
Durch den sich lichtenden Schleier vor ihren Augen sah sie, dass Scobee II erneut in Position ging.
Die Waffe! Wo ist die verfluchte Waffe? Hektisch tastete Scobee ihre Umgebung ab. Irgendwo musste das Mistding doch sein.
»Ach, Scobee...?«
Irritiert sah die GenTec auf.
»Was war es für ein Gefühl, ein Spielzeug in den Händen eines Mannes wie Cronenberg zu sein?«
Scobee stockte der Atem. »Woher...?«, setzte sie an und gab sich die Antwort gleich selbst.
Das Biest kennt meine Erinnerungen! Es hat meine Gedanken gelesen. Und jetzt verwendet es sie gegen mich! »Hat es dich Überwindung gekostet, deine Freunde zu verraten?«, setzte Scobee II nach.
Ganz ruhig!, ermahnte sich die GenTec selbst. Lass dich von diesen Psychospielchen nicht aus der
Ruhe bringen.
Endlich ertasteten ihre Finger die Waffe.
Im selben Moment schnarrte das Signal.
Blitzschnell rollte sich Scobee zur Seite, sprang in die Hocke und drückte ab.
Der Strahl zischte aus dem Lauf, jagte jedoch einen halben Meter am Ziel vorbei. Mit Schrecken
stellte sie fest, dass die Entladungen, die durch den Einschlag im Kraftfeld entstanden, gut ein
Drittel der gesamten Wand überzogen.
Scobee kam nicht mehr dazu, diese Erkenntnis zu verarbeiten.
Der nächste Treffer folgte prompt. Und er traf sie mit der Wucht eines Dampfhammers...
Es war eine Szene wie aus einem bizarren, surrealen Traum.
Ein blonder, junger Mann aus der Vergangenheit, ein zehnjähriges Mädchen und ein Außerirdischer
standen in einiger Entfernung einträchtig nebeneinander und starrten auf ein undurchdringliches
Pflanzendickicht, das in dieser absolut künstlichen Umgebung völlig deplaziert wirkte.
»Mir scheint, als würde euer Freund wieder aufblühen«, brach Sobek schließlich das Schweigen.
Cloud wunderte sich nur kurz über den Zynismus, mit dem der Hirte diese ernste Situation
kommentierte. Allmählich gewöhnte er es sich ab, sich im Zusammenhang mit dem Foronen noch
über irgendetwas zu wundern.
»Wie ist das möglich?«, murmelte Cloud.
Dass Jelto das Wachstum von Pflanzen beeinflussen konnte, war nichts Neues. Doch selbst ihm
durfte es schwer fallen, auch nur einen Grashalm, geschweige denn einen halben Urwald,
buchstäblich aus dem Nichts heraus zu erschaffen. Jedenfalls konnte Cloud sich nicht daran
erinnern, auch nur einen Setzling in Jeltos Kabine gesehen zu haben. Es sei denn... Das Erste Korn... Nein, ausgeschlossen. Nach Jeltos Erzählung hatte seine Prüfung darin bestanden, eine einzige
Pflanze aus dem Korn sprießen zu lassen, nicht jedoch einen kleinen Dschungel.
»Was auch immer für dieses Phänomen verantwortlich ist, wir können es nicht dulden«, erklärte
Sobek und trat mit ausladenden Schritten auf das Dickicht zu.
»Was hast du vor?«, fragte John.
Als Antwort stieß der Forone seine rechte Klaue in das Dickicht, schloss sie um einen
daumendicken Strang und riss ihn mit einem Ruck heraus.
Und wieder einmal wurde sich John Cloud der unbändigen Körperkraft bewusst, die dem über zwei
Meter großen Geschöpf innewohnte.
Im selben Moment, in dem der Strang riss, war ein ohrenbetäubender Schrei zu hören.
Cloud zuckte innerlich zusammen. Die Intensität dieses Schreis, das Leid, das aus ihm herausklang,
versetzte ihm einen Stich.
Sein Verursacher musste sich irgendwo inmitten des Pflanzendickichts befinden - und litt zweifellos
Höllenqualen.
»Jelto!« Aylea wollte sich losreißen, doch John Cloud dachte gar nicht daran, den Griff zu lockern.
Aus der Entfernung beobachteten sie, wie Sobek den entwurzelten Strang unbekümmert hinter sich
warf und kurz darauf beide Hände gleichzeitig in das Gestrüpp stieß. Ein weiterer Ruck und ein
ganzer Ballen aus Blättern, Farnen und Ästen flog durch die Luft. Untermalt von einem weiteren
gellenden Schrei wollte er erneut zupacken, als...
»Aufhören!«
Es war Aylea, die diesen Befehl brüllte. Ihre Stimme erklomm dabei Frequenzbereiche, die John
Clouds Trommelfelle vibrieren ließen.
»Es tut ihm weh! Merkst du das denn nicht?«
Sobek schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. In wilder Raserei wühlte
er sich durch das Pflanzendickicht, riss im Sekundentakt Sträucher, Äste und Blätter aus und warf
sie in hohem Bogen hinter sich, während Jeltos Schreie ihren Höhepunkt erreichten.
»Sobek!« John Cloud erschrak fast vor der Intensität seiner eigenen Stimme.
In der kurzen Zeit, in der er den Foronen kannte, hatte er ihm gegenüber noch nie einen derartigen
Befehlston angeschlagen. Doch nun war es nötig - spätestens jetzt, da es um das Wohlergehen eines
Freundes ging.
Cloud drückte Aylea zur Seite, trat auf Sobek zu und legte seine Hand auf dessen Rücken. »Hör
damit auf! Wir dürfen das nicht tun!«
Zu Clouds Überraschung hielt Sobek tatsächlich inne. Allerdings nur, um sich ruckartig zu ihm
umzudrehen.
»Wage es nicht, mir in die Quere zu kommen! Für dieses Problem gibt es nur eine Lösung. Oder
willst du deinen Freund da drin verrotten lassen?«
»Es muss einen anderen Weg geben. Lass uns doch erst einmal nachdenken. Wir...«
John Cloud verstummte, als er bemerkte, dass Aylea an ihnen vorbei getreten war und jetzt nur
noch eine Handbreit von der Tür der Kabine entfernt stand.
Das Mädchen hatte seinen rechten Zeigefinger ausgestreckt, um die Spitze einer Schlingpflanze zu
berühren, die aus dem Dickicht heraus stach.
Was dann geschah, ließ Cloud zuerst an eine optische Täuschung glauben.
Es begann als leichtes Zittern, das wellenartig durch den schlangenhaften Pflanzenkörper lief. So,
als würde ein leichter Luftzug darüber hinweg streichen.
Doch im nächsten Moment gab es keinen Zweifel mehr. Die Pflanze bewegte sich nicht nur, nein,
sie wich förmlich vor der Hand des Mädchens zurück.
Erschrocken über diese plötzliche Reaktion, zog auch Aylea ihren Finger blitzschnell zurück.
Ohne Sobek weiter zu beachten, ging John Cloud neben ihr in die Hocke.
»Kannst du das noch mal versuchen?«, flüsterte er andächtig, als wolle er die Magie dieses
Moments nicht zerstören.
»Ich... weiß nicht«, gab Aylea ebenso leise zurück und streckte ihre Hand bereits wieder zögernd
nach dem Dickicht aus.
Und tatsächlich! Diesmal waren es gleich mehrere Pflanzen, die blitzschnell zurück und zur Seite
wichen, dabei eine Schneise hinterließen, in die Aylea bequem ihre Hand stecken konnte.
»Sieh dir das an...«, murmelte sie und tat einen Schritt über die Schwelle.
Jetzt geriet die Pflanzendecke erst so richtig in Aufruhr.
Die Zweige und Blätter bogen sich rechts, links und oberhalb von Aylea zur Seite und schufen so
einen gleichmäßigen, bogenförmigen Korridor, gerade hoch genug, dass Aylea ihn aufrecht betreten
konnte.
Einen Moment lang zweifelte John Cloud daran, ob es richtig war, das Mädchen weitergehen zu
lassen. Wer konnte schon sagen, was sie im Innern der Kabine erwarten würde?
Doch als er sah, wie selbst eine mit scharfen Dornen gespickte Ranke sich fast schon demutsvoll in
das Geflecht des Korridors einfügte, zerstreuten sich seine Sorgen.
Auch wenn ihm im Moment noch keine rationale Erklärung dafür einfiel, so sah es ganz danach
aus, als würde irgendetwas dafür sorgen, dass dem Mädchen kein Haar gekrümmt werden würde.
»Wie macht sie das?«, fragte jetzt auch Sobek, der zum ersten Mal, seit Cloud ihn kannte, mit
seinem Latein am Ende zu sein schien.
»Es muss mit Jelto zusammenhängen«, mutmaßte John. »Ihn und das Mädchen verbindet eine ganz
besonders enge - Freundschaft. Ich nehme an, seine Pflanzenkinder spüren das...«
Aylea war mittlerweile gut drei Meter in die Kabine vorgedrungen.
Cloud wollte ihr folgen, als er mit ansehen musste, wie sich hinter ihr der Korridor allmählich
wieder zu schließen begann, sich die Pflanzen wieder zu einem Dickicht vereinten, das ihm noch
dichter erschien als zuvor.
Cloud zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen.
Was, wenn er sich geirrt hatte?
Was, wenn die Pflanzen ihr doch nicht so freundlich gesonnen waren, wie er glaubte?
Ihre Herkunft war schließlich ausgesprochen mysteriös, ihr plötzliches Auftauchen geradezu
widernatürlich.
Und dann, zwei Sekunden später, schienen sich all seine schlimmsten Befürchtungen zu
bewahrheiten, als ihm ein weiterer entsetzter Aufschrei aus dem Dickicht entgegenbrandete.
Und dieses Mal zweifelte er keine Sekunde daran, wer für diesen Ausbruch ungezügelten
Entsetzens verantwortlich war.
»Aylea!«
Scobee schrie auf, als die nächste Salve sie traf. Eine Woge des Schmerzes schlug über ihr
zusammen und sie spürte, wie sich ihre Glieder unter dem Einschlag versteiften.
»Aufhören!«, schrie sie.
Sie glaubte, mit Leibeskräften zu brüllen. In Wahrheit verließ nur ein ersticktes Keuchen ihre
Kehle.
»Ich habe gewonnen!«
Die Worte drangen wie durch einen Wall aus Watte in Scobees Bewusstsein. Dennoch versetzten
sie ihr körpereigenes Warnsystem in höchste Alarmbereitschaft.
Reiß dich zusammen!, peitschte sie sich auf.
Wenn es ihr nicht bald gelang, ihre Gegnerin außer Gefecht zu setzen, war möglicherweise alles
aus. Sie wusste nicht, welches die höchste Dosis war, die diese Waffen abgeben konnten, vermutete
aber, dass sie die nächste Salve nicht überleben würde.
In Gedanken verfluchte sie sich selbst. Niemals hätte sie sich auf dieses gefährliche Spiel einlassen
dürfen. Vermutlich waren diese Waffen auf die Körpereigenschaften der wesentlich robusteren
Foronen geeicht und für einen Menschen daher alles andere als ungefährlich. Selbst wenn es sich
dabei um einen genetisch optimierten GenTec handelte... Mit zusammengebissenen Zähnen bemühte sich Scobee, die Waffe zu heben. Es kam ihr vor, als würde sie Tonnen wiegen. Schuld daran waren ihre Muskeln, die noch immer teilweise taub und gelähmt waren. In einem gewaltigen Kraftakt zwang sie sich auf die Knie und kroch auf die Tür zu, die jedoch verschlossen blieb. Scobee entdeckte auch keinen Mechanismus, mit dem sich das Schott im Notfall öffnen ließ. Wie es aussah, musste sie diesen Kampf zu Ende führen. Da war es wieder, dieses Nerven zerfetzende Schnarren! Sie wuchtete sich auf Knien herum und visierte ihre Gegnerin an, deren Waffe im selben Moment aufblitzte, in dem Scobee kraftlos vornüber sackte. Und noch während der gefährliche Strahl über sie hinwegsengte, hörte sie ein leises Zischen, das sie erst Sekundenspäter einordnen konnte. Das Türschott! Es hat sich geöffnet! Als ihr das klar wurde, war die kleine Explosion des Energiestrahls auf der Brust von Scobee II
bereits verpufft und sie senkte die Waffe.
»Du hast gewonnen«, verkündete ihr Double. »Gratuliere.«
Scobee verstand die Welt nicht mehr.
Was war geschehen? Sie selbst hatte keinen Schuss abgegeben. Aber wer dann?
Die Erkenntnis folgte, als sie Jarvis erblickte. Die amorphe Hülle des GenTec, der plötzlich in der
Tür erschienen war, musste den Energiestrahl reflektiert und zu Scobee II zurückgeworfen haben.
Der Roboter hatte sich praktisch mit seiner eigenen Waffe »erlegt«.
»Woher wusstest du...?«, setzte Scobee an, als Jarvis ihr aufhalf.
»Keine Ahnung. Ich fühlte auf einmal eine Art Impuls. So als wäre eine fremde Stimme in meinem
Kopf, die mir befahl, die Tür zu öffnen. Und wenn mich nicht alles täuscht, gehörte sie Sobek.
Scobee ballte die Fäuste.
Sie und John hatten ja schon geahnt, dass der Hirte die Befehlsgewalt über den Amorphen nicht
völlig aufgegeben hatte. Diese Ahnung schien sich nun zu bestätigen.
Diente Jarvis ihm unbewusst als eine Art Aufpasser?
Wusste er gar über jeden ihrer Schritte Bescheid?
Scobee verscheuchte diese unangenehmen Gedanken und drängte aus dem Raum.
»Lass uns gehen! Ich habe keine Lust, noch einmal ins Kreuzfeuer meines Spiegelbildes zu
geraten...«
Aylea bemerkte nicht einmal, dass sich hinter ihr der Korridor wieder schloss.
Ihr Blick war stur nach vorn gerichtet, während sie mit angehaltenem Atem beobachtete, wie
Dornen, Knospen und Aste vor ihr zur Seite glitten, ihr Platz schufen, während sie sich Schritt für
Schritt weitertastete.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie ein riesiges, tropfenförmiges Blatt erreichte,
das sich ganz langsam nach oben bog und damit den Blick auf das freigab, was im Zentrum der
Kabine nur auf sie gewartet zu haben schien.
Sekundenlang verharrte Aylea am Fleck, als würde ein schnell wirkendes Nervengift ihre Glieder
lähmen.
Was sie sah, war so bizarr und dabei doch so grausig schön, dass es ihr schwer fiel, die Fassung zu
bewahren.
Am Rande ihres Bewusstseins erkannte sie, von wo aus sich dieses Dickicht in der Kabine
verbreitet hatte. Sie sah, dass alle Stiele, alle Wurzelenden sich in einem einzigen Gefäß vereinten,
das vor Jeltos Liege stand. Es war ein becherförmiger Behälter, aus dem wie durch Zauberei ein
unkontrolliert wuchernder Moloch gesprossen war.
Doch es war etwas anderes, das sie ihrer Fassung beraubte.
Es war Jelto, der neben dem Tisch ausgestreckt auf seiner Pritsche lag. Er hatte die Augen
geschlossen, die Arme ausgestreckt. Und aus seiner Brust wuchs eine so einzigartig schöne Blume,
deren Anblick so überwältigte, dass ihre Lippen bebten und sich eine kleine, salzige Träne aus
ihrem Augenwinkel löste.
Sekunden vergingen. Vielleicht waren es auch Minuten. Aylea hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Doch irgendwann entluden sich all ihre aufgestauten Empfindungen in einem gellenden Schrei!
John Cloud glaubte, Triumph und Überlegenheit in Sobeks Haltung zu entdecken. So, als wolle der
Forone sagen: Das hast du nun von deiner Gutmütigkeit.
Aber vielleicht bildete er es sich nur ein. Ihm fiel es noch immer schwer, das Verhalten der Foronen
exakt zu deuten.
Im Augenblick hatte er ohnehin andere Sorgen.
»Aylea!«, rief er. »Was ist passiert?«
Ihr durchdringender Schrei war erst vor wenigen Sekunden abgeebbt. Jetzt drang ein leises,
ersticktes Schluchzen aus dem Dickicht. John nahm es als ein Zeichen dafür, dass sie nicht in
unmittelbarer Lebensgefahr schwebte. Wie es um Jelto bestellt war, stand jedoch auf einem anderen
Blatt.
Er versuchte es noch einmal. »Aylea! Hörst du mich?«
Keine Antwort!
Cloud blickte Sobek an. Der Hirte hatte die Situation bisher nicht kommentiert und wirkte auf
irritierende Weise teilnahmslos.
»Wir müssen irgendetwas tun«, herrschte Cloud ihn an.
Der Forone gab ein Geräusch von sich, das wie ein verächtliches Schnauben klang. »Sieh an. Haben
dich deine edlen Grundsätze in die Klemme manövriert?«
»Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit«, knurrte Cloud. »Von mir aus können wir diese
Diskussion gerne später führen. Im Moment haben wir ein drängenderes Problem.«
»Und ich bin schon gespannt darauf, wie du es zu lösen gedenkst«, spottete Sobek und verschränkte
die Arme vor der Brust - eine erstaunlich menschliche Geste, wie Cloud fand.
Am meisten ärgerte ihn, dass Sobek auch noch Recht hatte. Augenscheinlich gab es keine andere
Möglichkeit, als das Dickicht gewaltsam zu entfernen. Und das wiederum erschien ihm
undurchführbar angesichts der Qualen, die Jelto offenkundig schon bei Sobeks erstem Versuch
erlitten hatte.
»Ich würde vorschlagen, du denkst etwas schneller«, sagte Sobek.
Irgendwie verstärkte sich Clouds Gefühl, dass er die Situation auf irgendeine Art und Weise genoss.
Cloud blickte zu ihm auf und wollte zu einer wütenden Entgegnung ansetzen, doch was er in
diesem Moment bemerkte, verdeutlichte ihm noch einmal auf erschreckende Weise, dass die Zeit
allmählich drängte.
Einige der Pflanzenstränge hatten sich ein Stück weit über die Oberkante der Kabinentür
hinausgeschoben und pressten sich jetzt wie Kletterranken gegen die Decke des Korridors.
Mein Gott, ging es durch Clouds Gedanken. Sie wachsen weiter...
Angesichts der Geschwindigkeit, in der sich die Pflanzen in Jeltos Kabine ausgebreitet hatten, war
»Besorgnis« noch ein schwacher Begriff für das Gefühl, das schlagartig Besitz von ihm ergriff.
Irgendwo, an den Grenzen ihrer Wahrnehmung, hörte Aylea wie jemand nach ihr rief.
Es war ihr einerlei.
Alles, was in diesen schrecklich langen Momenten zählte, war das schreckliche und dabei doch so
faszinierende Bild, das sie vor Augen hatte.
Und dann, von einem Moment auf den anderen, gab es für sie kein Halten mehr. Sie löste sich vom
Fleck, stürzte auf ihren leblosen Freund zu schüttelte ihn.
Jelto...
War er tot?
Nein, seine Brust hob und senkte sich - wenn auch nur schwach - und seine Augenlider flatterten.
Aus geweiteten Augen ließ Aylea ihren Blick am Stiel der Pflanze hoch wandern, die mitten aus
Jeltos Brust wuchs. Sie war leuchtend rot und hatte herzförmige Blüten, die entfernt an
Schmetterlingsflügel erinnerten, und ein betörender, fast schon berauschender Duft ging von ihr
aus.
Und dann erkannte Aylea, woraus die Blume entstanden war. Es war ein einziges Korn, das lose auf
Jeltos Brustbein lag.
Das Erste Korn, präzisierte sie ihre Beobachtung, und ein leichter Schauer strich über ihren Nacken.
Also stimmte es, was er ihnen damals in Washington erzählt hatte.
Aylea schob alle störenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf Jelto. Behutsam
legte sie ihre Hände auf seine hageren, glatt rasierten Wangen und strich sanft über sein spitzes
Kinn. Seine Aura loderte in kurzen Abständen auf, die mit den Schlägen seines Herzens
übereinstimmen mochten.
»Jelto?«
Unregelmäßige Zuckungen erfassten immer wieder seinen Körper und brachten die Blume auf
seiner Brust zum Beben.
Er schien zu träumen.
Dem Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen, war es ein schöner Traum. Der Ansatz eines
Lächelns lag auf seinen Lippen und ein Ausdruck tief empfundener Zufriedenheit hatte sich in seine
knochigen Züge gegraben.
Noch während Aylea überlegte, was nun zu tun sei, wurde sie erneut auf den Duft aufmerksam, den
die Blüte dieser fremdartigen Blume verströmte. Irgendetwas daran zog sie magisch an.
Gleichzeitig hatte er eine zutiefst beruhigende, ja geradezu einlullende Wirkung auf sie.
Langsam und mit verschleiertem Blick, als würde sie unter Hypnose stehen, näherte sie ihr Gesicht
der Blüte und tastete mit der rechten Hand nach dem fingerdicken, leicht gebogenen Stiel.
Und dann...
Für den Bruchteil einer Sekunde war da nur noch ein grelles Licht, das unmittelbar in ihrem
Bewusstsein zu explodieren schien.
Mit einem Schlag sah sie ein Bild vor ihrem inneren Auge, als würde es direkt in ihr Gehirn
projiziert.
Waren das dieselben Traumbilder, die auch Jelto in diesen Moment sah? Es musste wohl so sein.
Da war ein weitläufiges Waldgebiet. Aylea sah es aus der Vogelperspektive, als würde sie aus
großer Höhe darüber hinwegschweben.
Kurz darauf geriet eine Lichtung mit einer Hütte in ihr Blickfeld.
Und sie sah einen Residenzgleiter der Master, der sich der Lichtung in rasantem Flug näherte...
Jeltos Erinnerungen (I) »Da unten ist deine neue Heimat, Grüner. Sieh sie dir genau an!«
Der Unformierte, auf dessen Brust das Emblem der Master prangte, fletschte die Zähne und zeigte
durch das Glas der Kanzel nach unten.
Jelto beugte sich vor, um besser sehen zu können. Doch alles was er sah, war eine wogende, grüne
Masse, die sich meilenweit in alle Himmelsrichtungen erstreckte.
Das Herz in seiner Brust machte einen kleinen Sprung. Noch nie hatte er etwas von solcher
Erhabenheit gesehen. Er konnte dieses Gefühl schwer beschreiben, aber auf irgendeine Art und
Weise kam es ihm so vor, als würde er nach Hause kommen.
Dabei war sein bisheriges Zuhause ein Forschungslabor in der Nähe der Metrop Washington
gewesen. Seit seiner Geburt, von der er selbst nicht wusste, wie lange genau sie her war, hatte er
sein spartanisches Zimmer nur selten verlassen. Und das obwohl er schon immer den Drang
verspürt hatte, die Mauern seines Gefängnisses zu überwinden. Hinaus in die Welt zu ziehen und
einfach nur frei zu sein.
Die Aussichtslosigkeit, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen, hatte ihn, seit er denken konnte, mit
einem Gefühl von Traurigkeit erfüllt, das wie ein Gewicht auf seiner Brust lag.
Tief in seinem Innern hatte er immer gespürt, dass er zu etwas anderem geschaffen worden war, als
sich in einer kleinen Kammer unzähligen Tests auszusetzen.
Und jetzt sollte es also so weit sein?
Jelto konnte es kaum glauben.
Und doch sprach alles dafür.
Sie hatten ihm nicht viel verraten, als sie ihn abgeholt hatten. Nur, dass er die sterilen Gänge und
Räume des Labors in naher Zukunft nicht wieder betreten würde.
Der Klon lehnte sich zurück, als der Schwebegleiter in den Sinkflug überging. Sekundenlang fühlte
es sich an, als würde sein Magen im luftleeren Raum schweben. Nervös presste er sich das Bündel,
in dem sich seine wenigen Habseligkeiten befanden, an den Bauch und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, schwebten sie nur noch knapp zwanzig Meter über dem Grund der
Lichtung. Sein Blick verlor sich in dem kantigen Schatten des Gleiters, der im flachen Gras immer
größer wurde, bis er schließlich sanft und übergangslos auf dem Boden aufsetzte. Kurz darauf
wurden die Türen geöffnet..
»Na los! Steig schon aus!«, zischte einer der beiden Männer, die ihn auf dem Flug Gesellschaft
geleistet hatten. Aus irgendeinem Grund schien er es ziemlich eilig zu haben, von hier weg zu
kommen.
Er ist kein guter Mensch, dachte Jelto beiläufig.
Auch wenn er selbst keine Erklärung dafür hatte, spürte er die Gefühlskälte, die von dem
Uniformierten ausging, wie einen eisigen Luftzug auf seiner Haut.
Jelto erhob sich von seinem Sitz und sprang leichtfüßig durch die geöffnete Luke. Sein einfaches
Leinengewand plusterte sich im Luftzug ballonartig auf.
»Wo, zum Teufel, steckt der alte Narr?«, zischte der zweite Uniformierte.
»Keine Ahnung. Lass uns aussteigen und nachsehen.«
Jelto hörte die Worte wie aus weiter Ferne.
Sein Blick glitt beeindruckt über die mächtigen Baumkronen, die sich rings um die Lichtung in den
Himmel erhoben: Bäume wie diese hatte er bisher nur in den Biologiebüchern gesehen, die man
ihm in der Forschungseinrichtung zum Lesen gegeben hatte. Bis zum jetzigen Zeitpunkt war er sich
jedoch keineswegs sicher gewesen, ob derartige Gewächse wirklich existierten, oder nur dem Geist
eines verwirrten Phantasten entsprungen waren.
Und dann war ihm, als würde er von überallher leise Geräusche vernehmen. Ein leises Sirren, als
sei der Wald voller Harfenseiten, die vom Wind gestreift wurden. In seinen Ohren klang es wie ein
vielstimmiger Chor, der nur ihm zu Ehren sang.
»Na, komm schon, Grüner! O, drängte einer seiner Begleiter.
Jelto fühlte sich wie ein Gefangener, als sie ihn in ihre Mitte nahmen und ihn in die Richtung der
Holzhütte lenkten.
»Wer wohnt hier?«, fragte er, noch immer unter dem Eindruck seiner Umgebung stehend.
»Dein neuer Mentor«, erwiderte der Mann zu seiner Rechten.
Jelto zog die Stirn in Falten. Bisher hatte er nur eine Person gekannt, die er mit dem Begriff
»Mentor« in Verbindung gebracht hätte. Professor Harper, ein Genetikspezialist, der sein
hauptsächlicher Ansprechpartner im Washingtoner Laborkomplex gewesen war. Harper hatte ihm
stets das Gefühl gegeben, eine Art Vaterersatz für ihn zu sein, obwohl Jelto immer gewusst hatte,
dass es zahllose andere wie ihn gab, um die sich der Professor ebenso aufopfernd kümmerte.
»Wie heißt er?«, fragte er den Uniformierten. Er kam dabei nicht umhin zu bemerken, dass dieser
seinen Energiestrahler gezogen hatte und seine Blicke in alle Richtungen gleichzeitig zu huschen
schienen.
»Ganz schön viele Fragen für so einen Grashüpfer«, spottete er nur.
Als sie die Hütte erreichten, fiel Jelto auf, dass keinerlei künstliche Baustoffe verwendet worden
waren. Nicht einmal Nägel oder Scharniere waren zu entdecken. Die einzelnen Hölzer wurden
lediglich mit Pflanzenfasern zusammengehalten, und die Spalten waren mit einer harzartigen Paste
abgedichtet worden, die an einigen Stellen hervorgequollen war, bevor sie getrocknet war.
»Hey Grüner! Wo steckst du?«, brüllte der Uniformierte, als sie die grob zusammen gezimmerte
Eingangstür erreichten.
Jelto glaubte zunächst, dass ihm der Ruf gegolten hatte, und zuckte wie unter einem unsichtbaren
Peitschenhieb zusammen. Doch dann sah er, dass der Mann in die entgegen gesetzter Richtung
blickte.
Ein schwaches Gefühl von Hoffnung keimte in Jelto auf. Gab es hier etwa jemanden, der so war
wie er?
»Gehen wir rein«, knurrte der andere Wachmann einsilbig und zog bereits die Tür auf.
Ein seltsamer Geruch drang Jelto aus dem Innern der Hütte entgegen. Süßlich, mit einer leichten
Fäule unterlegt, aber nicht unangenehm. Eine Mischung aus Torf, Blütenblättern und abgestorbenen
Pflanzenfasern.
»Hey, alter Mann! Wir haben dir etwas mitgebracht.«
Jelto ahnte dumpf, dass mit diesem »Etwas« er gemeint war.
Ehe er nachfragen konnte, war der Uniformierte auch schon an ihm vorbei über die Schwelle
getreten. Den Strahler hielt er dabei unschlüssig in einem Neunzig-Grad-Winkel über den Boden.
Kurz darauf hatte ihn das Zwielicht der Hütte verschluckt.
Jelto blieb inzwischen stehen und schloss die Augen. Die Auslöser dieser Gefühle, die ihn vorhin
ereilt hatten, schienen im Innern der Hütte kaum weniger stark ausgeprägt zu sein als draußen im
Wald. Dieses Sirren, das ihn wie eine leichte elektrische Spannung durchfloss, seine Nackenhaare
aufstellte und sein Herz zum Klopfen brachte, erschien ihm hier sogar noch eine Spur intensiver.
»Schlag keine Wurzeln!«, knurrte der Mann hinter ihm. »Dazu hast du später Gelegenheiten
genug.«
Jelto spürte einen leichten Stoß in den Rücken. Aufgeschreckt öffnete er die Augen. Dann stolperte
er wie automatisch hinter seinem ersten Bewacher in das Halbdunkel der Hütte, während der zweite
dicht hinter ihm blieb.
Der erste Uniformierte stand am Ende eines kargen Flurs, von dem linkerhand eine geöffnete Tür
abzweigte.
Die Dielen unter Jeltos Füßen knarrten, als er zögernd weiterging.
Urplötzlich begann sein Herz zu rasen und kalter Schweiß strömte sturzbachartig aus seinen Poren.
Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er plötzlich mit jeder Faser seines Bewusstseins. Die Stille
war trügerisch. Sie war wie ein samtener Vorhang, hinter dem eine blutrünstige Bestie die Zähne
fletschte.
Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch die Sinneseindrücke, die erneut auf ihn einstürmten,
versiegelten seine Kehle.
Wie in einem Traum beobachtete er, wie der Unformierte seinen Kopf durch die Tür streckte, sich
sekundenlang umsah, ihn wieder zurückzog und sich zu Jelto und seinem Kollegen umdrehte.
»Hier ist niemand«, sagte er ratlos.
Alles Weitere geschah so schnell, dass Jelto gar keine Gelegenheit mehr gehabt hätte, den Mann zu
warnen.
Er sah ohnehin nur einen knochendürren, grünen Arm, der blitzschnell aus der Türöffnung hervor
schoss, sich innerhalb von Sekundenbruchteilen um den Hals des Uniformierten wickelte und ihn
mit einem heftigen Ruck zur Seite riss. Der Wachmann hob vom Boden ab und segelte förmlich in
den Raum.
»Verdammt!«, stieß Jeltos anderer Bewacher hervor. »Mach Platz!«
Jelto geriet ins Wanken, als der zweite Uniformierte ihn beiseite schubste, an ihm vorbeistürmte
und sich vor der Tür aufbaute. Jelto glaubte zu sehen, wie er kurz um Fassung rang, bevor er den Energiestrahler ins Zimmer richtete und brüllte: »Lass ihn los!« Jelto wollte sich dagegen wehren, doch der innere Drang, der seinen Willen ausschaltete, und der von diesem mysteriösen Zimmer ausging, wurde mit jeder Sekunde stärker. Er spürte die Präsenz dieses... Dings, als würde es mit unsichtbaren Fühlern direkt nach seinem Bewusstsein tasten. Mit verschleiertem Blick setzte sich der Klon in Bewegung, schritt auf die Tür zu und blieb schräg hinter dem Uniformierten stehen. Über dessen Schulter hinweg konnte er den ganzen Raum überblicken. Die Szene war in der Tat gespenstisch. Bei dem Zimmer schien es sich um eine Art Gewächshaus zu handeln, in der die fremdartigsten Pflanzen gezüchtet wurden, die Jelto jemals gesehen hatte. Zu den merkwürdigsten gehörte sicherlich das kelchförmige, einen halben Meter hohe Gewächs, das aus einem ordentlich angelegten Beet in der Mitte des Raumes wuchs. Es besaß keinen Stiel oder Stamm. Stattdessen befand sich unterhalb des Blütenkelchs ein knollenartiges Geflecht, aus dem wiederum vier tentakelartige, meterlange Stränge wuchsen. Drei davon lagen unbeweglich um die Pflanze herum und sahen dabei aus wie achtlos hingeworfene Schläuche. Lediglich der vierte tanzte aus der Reihe. Es war jener, der sich um den Hals des Uniformierten geschlungen hatte. Jetzt hielt er ihn im Würgegriff auf den Boden gepresst. Das Gesicht des Wachmanns war stark gerötet, die Adern auf seiner Stirn traten blau hervor, und seine Augen quollen aus den Höhlen. Er strampelte wie ein Kleinkind mit den Beinen, während er verzweifelt versuchte, die Hände zwischen seinen Hals und den Pflanzenstrang zu zwängen. Seine Bewegungen wurden mit jeder Sekunde schwächer. »Schieß...«, quetschte er gerade noch mühsam hervor. Es klang weniger wie ein Wort, sondern mehr wie ein Röcheln, dem er in einer letzten verzweifelten Anstrengung einen Sinn zu geben versuchte. Sein Partner schwenkte seine Waffe hilflos in der Luft herum und versuchte, einen Punkt anzuvisieren, an dem er einen Schuss ansetzen konnte, ohne dabei seinen Kameraden zu gefährden. »Ich an deiner Stelle würde nicht dagegen ankämpfen!« Die Stimme drang aus dem hinteren Teil des Gewächshauses. Sie klang knarrend und kratzig, wie ein Ächzen im Unterholz. Jelto kniff die Augen zusammen. Der Sprecher verbarg sich in den Schatten, die sich vor der gegenüberliegenden Wand zusammenballten. Nur seine Silhouette hob sich undeutlich von seiner Umgebung ab. Bevor der Uniformierte antworten konnte, fuhr der Unbekannte fort. »Bei diesem Burschen handelt es sich um einen Mandogo. In der Regel tötet er seine Opfer nicht sofort. Er ernährt sich von ihrem Blut, das er durch die Kapillaren in seinen Fangarmen aufnimmt. Oft dauert es Tage, bis ein Beutetier völlig leer gesaugt ist. Bei einem Menschen könnten es sogar mehrere Wochen sein. Wenn sich die Beute allerdings zu sehr wehrt, kann es durchaus vorkommen, dass sie sich dabei selbst stranguliert. Auf seinem Heimatplaneten sterben auf diese Weise jährlich Dutzende von Ureinwohnern.« »Du alter Narr!«, stieß der Mann mit der Waffe hervor. »Du hast... es dazu angestiftet! Ein kratzendes Geräusch, das ebenso ein Husten wie ein Kichern sein konnte, kam als Antwort zurück. »Mandogos lassen sich nicht so leicht beeinflussen, wie du vielleicht denkst. Sie haben einen ungewöhnlich starken Willen. Fast könnte man von so etwas wie einem Bewusstsein sprechen. Eine faszinierende Spezies, die selbst ich noch nicht vollständig durchschaut habe. Ich...« »Hör auf mit dem Blödsinn! Sag ihm, er soll ihn loslassen, oder ich jage dir eine Salve zwischen die Augen!« Um seine Drohung zu unterstreichen, schwenkte er den Lauf des Strahlers auf den Alten. Sekunden verstrichen, scheinbar ohne dass etwas geschah. Doch Jelto vernahm die Schwingungen, die den Raum erfüllten. Sie waren schon die ganze Zeit
präsent gewesen. Jetzt schwollen sie an, wurden zu einem Summen, das so hoch war, dass es Jeltos
Schädeldecke zum Vibrieren brachte.
Er wusste nicht, wie viel Zeit verging. Von einem Moment auf den anderen löste der Pflanzenarm
den Druck vom Hals seines Opfers, sodass der Uniformierte sich stöhnend aus dem Würgegriff
befreien konnte.
Im ersten Moment wankte er noch etwas, doch dann wirbelte er auch schon um die eigene Achse,
um mit bloßen Fäusten auf den Mann im Dunkel los zu gehen.
»Du mieses Schwein!«, krächzte er mit rauer Kehle. »Dich mach ich fertig!«
Bevor er seine Ankündigung in die Tat umsetzen konnte, war sein Partner bei ihm und hielt ihn an
der Schulter zurück.
»Lass gut sein. Sehen wir lieber zu, dass wir von hier wegkommen.«
Sekundenlang durchbohrten die Blicke des Ersten das Zwielicht. Seine geballten Fäuste zitterten
vor mühsam unterdrückter Wut.
Dann atmete er tief durch, bückte sich nach seinem Energiestrahler, den er im Eifer des Gefechts
verloren hatte und humpelte, gestützt von seinem Partner, zur Tür.
»Das ist übrigens Jelto«, sagte er noch im Vorbeigehen. »Setz ihm keine Flausen in den Kopf.«
Erst als beide verschwunden waren, trat der Alte aus dem Schatten.
Ein weites, sackartiges Gewand verhüllte seinen hageren Leib. In der Hand hielt er einen langen,
knöchernen Stock, auf den er sich stützte. Sein schlohweißes Haar war ihm zum Großteil
ausgefallen. Nur noch ein zarter Flaum, wie der eines Neugeborenen, bedeckte seinen Schädel.
»Tritt näher, Junge, damit ich dich ansehen kann«, flüsterte er.
Jelto folgte der Aufforderung. Als er vor dem Alten stehen blieb, hob dieser die dürren Arme und
legte ihm beide Hände auf die Schultern.
Urplötzlich hatte Jelto den Eindruck, als würde er unter den tiefen Falten, die die ledrige Haut wie
Täler durchzogen, etwas Vertrautes erkennen.
War er dem Mann zuvor schon einmal begegnet? Hatte er ihn vielleicht auf einem Bild gesehen?
Und dann stürmte die Erkenntnis mit solcher Wucht auf ihn ein, dass es ihm schwer fiel, die
Fassung zu bewahren.
Das hagere Gesicht.
Die grünen Augen.
Die schmale Nase.
Es war sein eigenes Antlitz, um Jahrzehnte gealtert, das er da vor sich sah.
Jeltos Herz klopfte, als sich die schmalen Lippen des Alten spalteten und er ihn die folgenden
Worte sagen hörte:
»Mein Name ist Kirko. Willkommen zu Hause!«
Es dauerte eine Weile, bis Scobee ihren Kampf mit ihrem eigenen Ich verdaut hatte. Dabei wog die Schmach über die beinahe erlittene Niederlage schwerer, als die Erkenntnis, dem Tod ins Auge geblickt zu haben. Die ganze Zeit über trottete sie schweigend neben Jarvis her, während ihr Blick trotz ihrer faszinierenden Umgebung nach innen gekehrt war. »Von mir aus hätten wir die Aktion auch abblasen können«, sagte Jarvis, nachdem sie einen guten Kilometer in dem Gang mit dem fluoreszierenden Licht hinter sich gebracht hatten. »Wenn du willst, können wir jederzeit umkehren.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, schnappte Scobee. »Diese Genugtuung gönne ich Sobek nicht.« Jarvis verstand, was sie meinte. Die Foronen verhielten sich in ihrer Gegenwart, wie Vertreter hoch entwickelter Zivilisationen sich üblicherweise unterprivilegierten Völkern gegenüber verhalten: mit einer zur Schau gestellten Arroganz und Gönnerhaftigkeit, die auch für Jarvis manchmal nur schwer zu ertragen war.
Wenn sie schon beim kleinsten Anzeichen eines Problems den Schwanz einkniffen, würden sie die
Einschätzung der Foronen nur bestätigen. Jarvis kannte Scobee gut genug, um zu wissen, dass ihr
Stolz es ihr verbot, sich eine solche Blöße zu geben. Auch wenn er fand, dass es deutlich mehr als
nur ein kleines Problem war, um ein Haar von seinem »bösen Zwilling« gekillt zu werden.
»Wie dem auch sei«, knurrte Scobee. »Von jetzt an werden wir uns vorsichtiger verhalten.«
Der Gang wurde mehrmals von Räumen unterbrochen, in denen sich seltsame Anordnungen
befanden, deren Funktion Scobee und Jarvis nicht einmal erahnen konnten. Deshalb wahrten sie
stets einen respektvollen Abstand und bestaunten diese Dinge wie Besucher in einem Museum.
Irgendwann - sie schlenderten gerade durch einen schmalen, nur schwach beleuchteten Gang - hielt
Scobee inne und rümpfte die Nase.
Jarvis sah sie fragend an.
»Irgendetwas hier riecht seltsam.« Sie ging einige Schritte weiter und fügte hinzu: »Aber nicht
unangenehm... So ähnlich wie brennende Kräuter.«
Sie blieb wieder stehen und drehte sich nach rechts. Dort in der Wand befand sich eine schmale
türlose Öffnung. Dahinter erstreckte sich ein niedriger Gang, der in schummrig waberndes Licht
getaucht war.
»Es kommt von dort«, stellte Scobee fest.
Bevor sie eintreten konnte, war Jarvis bei ihr und legte ihr seine Hand auf die Schulter.
»Warte!«, bat er. »Wir wissen nicht, womit wir es hier zu tun haben. Lass mich vorgehen!«
Scobee überlegte, dann nickte sie. Jarvis konnte aufgrund der Eigenschaften seines neuen Körpers
vermutlich schneller auf mögliche Gefahren reagieren, als sie es vermochte. Sie ging zur Seite und
ließ ihn vorbei.
Bereits nach knapp zehn Schritten knickte der Gang nach rechts ab und verästelte sich kurz darauf
weiter.
»Sieht aus, wie eine Art Labyrinth«, mutmaßte Scobee.
»Hältst du es in diesem Fall für klug, weiterzugehen?«, fragte Jarvis.
Die GenTec hob die Schultern. »Im Prinzip nicht. Aber...«
»...deine Neugier lässt dir keine Ruhe.«
Scobee lächelte schief und deutete in einen Gang, der nach links abzweigte. »Der Geruch kommt
von dort. Wenn du mich fragst, kann die Quelle nicht weit sein.«
Na, dann lass sie uns suchen«, sagte Jarvis und setzte sich in Bewegung.
Tatsächlich wurde das Gangsystem immer verzweigter, je weiter Scobee und Jarvis vordrangen.
Ein ums andere Mal mussten sie umkehren, weil sie in eine Sackgasse gerieten.
Dann wiederum stellten sie fest, dass sie bereits zweimal an derselben Stelle vorbeikommen waren.
Doch immer schafften sie es, sich neu zu orientieren - nicht zuletzt dank der überragenden Sinne
von Jarvis' Amorphen-Körper.
Nach einer Weile erreichten sie einen Gang, der wieder einmal in einer Sackgasse zu enden schien.
Erst auf den zweiten Blick erkannte Scobee, dass es sich bei der vermeintlichen Wand, die sich vor
ihnen aufbaute, vielmehr um einen dunklen Vorhang handelte.
Jarvis verlangsamte seine Schritte. Und auch Scobee versetzte sich in Alarmbereitschaft.
Der Geruch war bisher noch nie so intensiv gewesen wie an dieser Stelle. Und dann entdeckte
Scobee dünne Rauchschwaden, die unter dem Saum des Vorhangs hervorquollen.
Sie ließ sich etwas zurückfallen, während Jarvis den Vorhang ein Stück weit beiseite schob und
einen vorsichtigen Blick dahinter warf.
Schließlich winkte er Scobee zu sich und bedeutete ihr, leise zu sein.
Sie huschte näher, nahm seinen Platz ein und spähte selbst hinter den Vorhang.
Ihr Blick fiel in einen kleinen, schummrig beleuchteten Raum.
Sie entdeckte eine schmale Amphore, die auf einer hohen Säule stand. Aus ihr quoll der dünne
Rauch hervor, der wohl für diesen seltsamen Geruch verantwortlich war.
Dann bemerkte sie den Foronen. Er kniete auf dem Boden, mit dem Rücken zum Vorhang. Sein
Haupt war demutsvoll gesenkt.
Handelte es sich bei diesem Ort etwa um eine Art Gebetsraum?
Bisher hatten die Foronen nicht erwähnt, dass sie irgendeine Religion besaßen. Irgendwie hätte das
auch nicht zu der kühlen Rationalität gepasst, die diese Spezies charakterisierte.
Wie dem auch sei..., dachte Scobee. Es war offensichtlich, dass dieses Zimmer zumindest eine Art
Rückzugsraum darstellte und der Forone sicher nicht gestört werden wollte.
Sie wollte sich gerade wieder zurückziehen, als sich der Forone blitzschnell zu ihr umdrehte.
Und da erkannte Scobee ihn. Oder besser gesagt sie.
»Siroona«, sagte sie leise.
Obwohl sich die Foronen für menschliche Augen alle ziemlich ähnlich sahen, hatte Scobee
mittlerweile gelernt, sie anhand bestimmter Merkmale auseinander zu halten.
»Was willst du hier?«, zischte die Hirtin. »Warum störst du meine Totenwache?«
»Ich...« Scobee suchte nach den rechten Worten, während ihr Blick auf den sarkophagähnlichen
Quader fiel, vor dem Siroona bis vor wenigen Sekunden gekniet hatte. Zuerst hatte sie ihn für eine
Art Altar gehalten, doch jetzt erkannte sie, dass es sich dabei um ein deckelloses Behältnis handelte.
Und darin - lag ein Forone.
Es musste sich um Mont handeln, dem verstorbenen Mitglied der Hohen Sieben.
Scobee hatte diese Erkenntnis noch nicht verdaut, als Siroona auch schon auf sie zustürmte.
»Ist es bei euch Menschen üblich, ungebeten in Privaträume einzudringen?«, keifte die Forone.
Es war seltsam, doch Scobee glaubte zu spüren, dass Siroonas Wut nur eine Fassade war, mit der
sie ein ganz anderes Gefühl kaschierte. Ein Gefühl von Trauer und Schmerz...
»Es tut mir Leid«, sagte Scobee schnell. »Ich wusste nicht, dass jemand hier ist. Die Tür stand offen
und...« Sie atmete tief durch. »Ich bitte um Entschuldigung.«
Siroona blieb dicht vor ihr stehen, dann wandte sie ihr ruckartig den Rücken zu.
Scobee wollte gehen, als die Hirtin zu ihrer Überraschung sagte: »Komm ruhig näher und sieh ihn
dir an!«
Die GenTec zögerte, warf Jarvis einen fragenden Blick zu und erntete ein Achselzucken.
Schließlich fasste sie sich ein Herz und trat auf den Sarkophag zu.
Mont sah aus als würde er schlafen. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet und wirkte in diesem
Moment alles andere als mächtig und erhaben.
»Er hat dir viel bedeutet, nicht wahr?«, fragte Scobee.
Siroona antwortete nicht. Sie ließ sich neben dem Quader zu Boden gleiten und winkelte die Beine
an.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte sie dann.
»Handelt sie von... ihm?«
»Hör einfach zu!«, zischte die Forone. »Und wag nicht, mich zu unterbrechen!«
Ein knappes Lächeln huschte über Scobees Lippen. Nur keine Sentimentalität aufkommen lassen...
Nachdem die GenTec sich neben sie auf den Boden gesetzt hatte, begann Siroona zu erzählen...
Aylea bäumte sich unter der Wucht der Bilder, die auf sie einstürmten, auf. Doch selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre es ihr nicht gelungen, den geistigen Kontakt zu unterbrechen. In verkrümmter Haltung kauerte sie halb auf der Liege und hatte die Augen weit geöffnet, ohne wirklich zu sehen. Alle scheinbaren Sinneswahrnehmungen wurden direkt in ihr Bewusstsein projiziert. Es waren Gedanken, die ihr Gehirn zu Bildern, Geräuschen und Gerüchen verarbeitete. Ihr dabei den Eindruck vermittelten, als würde sie die Ereignisse nicht nur aus der Ferne beobachten, sondern unmittelbar miterleben...
Jeltos Erinnerungen (II)
Die ersten Tage und Wochen in der Waldstation vergingen für Jelto wie im Flug. Kirko brachte ihm alles bei, was er für die Aufzucht und Pflege der unterschiedlichsten Pflanzenarten wissen musste. Er lehrte ihn, die unzähligen Arten zu unterscheiden und klärte ihn über die Gefahren auf, die von ihnen ausgingen. Denn eines wurde Jelto sehr bald klar: Der Wald rund um die Station war anders als jene, die rund um die Metrop Washington existierten und die der Bevölkerung als Naherholungsgebiete dienten. Hier herrschte ein gnadenloser Kampf ums Überleben. Viele Gewächse waren giftig, manche in der Lage, einen Menschen bei lebendigem Leibe zu verschlingen. Doch trotz dieser offensichtlichen Gefahren fühlte sich Jelto nie bedroht, wenn er mit Kirko durch den Wald streifte. Schon bei seiner Ankunft auf der Station hatte er die geistigen Bande gespürt, die sein Bewusstsein mit jedem einzelnen dieser Geschöpfe vernetzten. Auch wenn viele von ihnen den Tod bringen konnten, haftete ihnen nichts Bösartiges an - im Gegensatz zu vielen Menschen, denen er bisher begegnet war. Die Kraft, die sie beseelte, war rein und unverdorben. Ihre Auren blieben von Gefühlen wie Neid, Hass und Missgunst unberührt. Und das machte für Jelto den Umgang mit ihnen um so vieles leichter als den mit seinen Artgenossen. Eines Tages - er und Kirko waren seit dem frühen Morgen unterwegs - kamen sie an eine Stelle, an der das Blätterdach etwas lichter war und die Strahlen der Sonne bis auf den Boden fielen. Dort, inmitten einer flachen Erdkuhle, wuchs ein ähnliches Gewächs wie jenes, das am Tage von Jeltos Ankunft den Uniformierten attackiert hatte. Es war etwas größer als das Exemplar in der Hütte. Mit seinen Fangarmen, die schlaff aus dem kelchförmigen Leib wuchsen, sah es aus wie ein gigantischer Tintenfisch. Jelto zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich dachte, der Mandogo im Gewächshaus sei der einzige seiner Art.« »Nicht ganz«, gab Kirko mit rasselnder Stimme zurück und stütze sich auf seinen langen Stock. Jelto kannte zwar nicht sein genaues Alter, dennoch war er zutiefst beeindruckt über die Ausdauer mit der der Florenhüter stundenlang auf den Beinen war, ohne das geringste Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. »Insgesamt brachten sie mir drei Setzlinge«, fuhr Kirko fort. »Einer davon starb bereits während des Transports. Die anderen beiden waren nur durch sehr viel Hingabe zu retten. Es ist eine Schande, mit welcher Nachlässigkeit mit diesen Geschöpfen umgegangen wird, bevor sie ihren letzten Zufluchtsort erreichen.« Jelto zuckte innerlich zusammen, blieb äußerlich jedoch unbewegt. Es war nicht das erste Mal, dass er aus Kirkos Munde leise Kritik am Vorgehen der Master vernahm. Er selbst war nie einem jener sagenumwobenen Geschöpfe begegnet, die angeblich in den Türmen der Metrops residierten. Alles was er über die Herrscher wusste, war, dass sie mit ihrer Ankunft einst den Frieden gebracht und die Menschheit in eine bessere Zukunft geführt hatten. »Nimm Kontakt zu ihm auf!«, unterbrach Kirko seinen Gedankenfluss. »Sprich mit ihm!« Jelto nickte und schloss die Augen. Schon eine ganze Weile hatte er, im Hintergrund seines Denkens, den »Ruf« des Mandogos vernommen. Er erinnerte ihn an ein Kind, das um Aufmerksamkeit bettelt. Behutsam streckte Jelto seine geistigen Fühler aus, als wären es wirkliche Gliedmaßen, tastete nach der Aura des Mandogo und verankerte sie darin. Die nächsten Minuten stand er einfach nur da, tastete jeden Winkel der Aura des Pflanzenwesens ab und hielt stumme Zwiesprache mit ihm. Erst als Jelto eine sanfte Berührung an seiner Wange spürte, öffnete er die Augen. Doch er konnte kaum glauben, was er sah. Der sonst so blutdürstige Jäger hatte einen seiner Tentakel ausgestreckt und strich mit der Spitze über sein Gesicht. So sanft und behutsam, dass er einen leichten Schauer verspürte. »Siehst du«, sagte Kirko zufrieden. »Er hat dich als seinesgleichen akzeptiert.« Jelto nickte ergriffen, während ihn ein beunruhigender Verdacht in den Sinn kam. »Kirko...?«, setzte er an und sah seinem Mentor tief in die von unermesslicher Weisheit durchdrungenen Augen. Dann senkte er den Blick. Er hatte sich noch immer nicht an das Antlitz seines eigenen, wenngleich
um Jahrzehnte älteren Ichs gewöhnt.
»Ja?« Kirko blickte ihn fragend an: »An jenem Tag, als ich hierher gebracht wurde...«
»Sprich weiter!«
»Du warst es, der den Mandogo... aufgehetzt hat. Nicht wahr?«
Kirko atmete tief durch. Das Rasseln in seiner Brust Mang wie das Knacken von brennendem
Feuerholz.
»Warum hast du das getan?«, setzte Jelto nach, als ihm das Warten auf eine Antwort zu lang wurde.
»Die beiden Männer waren Abgesandte der Master, und...«
»Und...?«
»...haben unseren uneingeschränkten Respekt verdient.«
Kirko legte den Arm in einer väterlichen Geste um Jeltos Schulter und seufzte schwer. »Du musst
noch viel lernen, junger Freund. Nicht alles ist so wie es scheint. Zuweilen verbirgt sich das
Raubtier im Pelz der Beute.«
Die Ungläubigkeit in Jeltos Blick verwandelte sich in pures Entsetzen. Hastig trat er einen Schritt
zurück, um sich aus Kirkos Umarmung zu lösen.
»Wie kannst du nur so von ihnen sprechen?«, rief er empört. »Weißt du denn nicht, was wir ihnen
zu verdanken haben? Sie haben unsere Welt zu der gemacht, die sie heute ist. Vor ihrer Ankunft
hatten die Menschen mit unvorstellbaren Problemen zu kämpfen. Es gab Kriege, Hungersnöte,
Naturkatastrophen...«
Kirko nickte bedächtig. »Manchmal wünsche ich mir die Zeit zurück, in der auch ich die Dinge so
gesehen habe, wie du sie schilderst. Wissen kann eine Last sein, an der man schwer zu tragen hat.«
Eine ganze Weile standen sie sich schweigend gegenüber. Unzählige Fragen schwirrten in Jeltos
Kopf, wie ein in Aufruhr geratener Fliegenschwarm. Doch irgendetwas - war es die Angst vor einer
ehrlichen Antwort - lähmte seine Zunge.
Irgendwann blickte Kirko zum Himmel und sagte: »Lass uns aufbrechen. Die Sonne steht schon
tief.«
Tatsächlich war das Rot des Glutballs zerflossen und hatte sich wie Blut über den Horizont verteilt.
Ohne Jeltos Antwort abzuwarten, drehte sich Kirko um und bahnte sich mit seinem Stab einen Weg
durch das. Unterholz.
Jelto wollte ihm folgen, doch ein schrilles Kreischen bannte ihn auf dem Fleck. Er drehte sich um
und bemerkte einen Nager, der einem der Fangarme des Mandogo zu nahe gekommen war und jetzt
hilflos zappelnd in seinem Griff hing. Jelto blieb eine Weile stehen und beobachtete, wie die
Bewegungen des Tieres immer schwächer wurden und dann ganz erstarben.
»Jelto? Kommst du?«
Erst Kirkos Ruf veranlasste den Klon, sich von diesem grausigen Anblick zu lösen.
Nachdenklich folgte er seinem Mentor zurück zur Hütte.
Siroonas Geschichte (I) Was ich dir jetzt erzähle, geschah lange - sehr lange -, bevor ich mein heutiges Amt antrat. Einige hundert Jahre vor meiner Berufung zu den Hohen Sieben hätte ich es nie für möglich gehalten, dass mir das Schicksal je eine solch bedeutende Rolle zuweisen würde. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich den Großteil meiner Jugend auf einem kleinen, eher unbedeutenden Planeten in Samragh - eurer Großen Magellanschen Wolke -, fernab der großen foronischen Ballungszentren, verbracht habe. Verglichen mit den strategisch und wirtschaftlich bedeutenderen Regionen unseres Reiches, war das Leben auf Taloon einfach und kärglich. Dabei hätten die Lebensbedingungen für unsere Rasse kaum besser sein können. Mehr als zwei Drittel Taloons waren von Wüsten bedeckt. Über den Rest spannten sich gewaltige Gebirgsmassive. Das ganze Jahr über herrschte eine herrliche Dürre. Regen gab es so gut wie nie,
und wenn doch, war er meist nur von kurzer Dauer.
Dennoch hätte ich mir in meiner Jugend einen aufregenderen Ort vorstellen können.
Es war damals noch nicht lange her, dass unser Volk Taloon annektiert und seine wenigen,
hauptsächlich aus Nomaden bestehenden Ureinwohner in Reservate getrieben hatte. Die
Infrastruktur war noch im Aufbau begriff en und der Grad der Technisierung lag zunächst weit
hinter den Möglichkeiten unseres Volkes zurück.
Mein Vater und ich gehörten zu den ersten Siedlern, die nach Taloon aufbrachen, um dort eine
foronische Zivilisation zu begründen.
Vater, ein begnadeter Wissenschaftler, hatte schon seit längerem die Idee mit sich herumgetragen,
eine eigene Forschungs- und Fertigungsanlage für Nanotechnologie zu gründen.
Taloon schien wie geschaffen dafür.
Die Abgeschiedenheit war durch unsere technischen Möglichkeiten leicht zu überwinden. Dennoch
war es wirtschaftlich wesentlich günstiger, fernab der Industrie- und Forschungs-Planeten des
Reiches eine neue Existenz aufzubauen.
Meine Familie war immer vermögend, dennoch stand das Projekt von vornherein auf tönernen
Füßen.
Bereits kurz nach Baubeginn gerieten die Arbeiten ins Stocken. Wie sich herausstellte, waren weite
Teile des Landes, das Vater erworben hatte, von einer Insektenart verseucht, die wir Korpeden
nannten.
Sie lebten in unterirdischen Höhlen, besaßen zwei gewaltige Scheren, einen segmentierten Körper,
einen biegsamen Schweif mit einem Giftstachel und waren mehrere Fortek lang.
Nachdem es mehrfach zu Übergriffen gekommen war, war Vater es leid und rückte ihnen mit Gift
zu Leibe.
Nachdem dieses Problem beseitigt war, ließen weitere nicht lange auf sich warten.
Noch heute bewundere ich ihn für seine innere Kraft, die ihm dabei half, trotz aller Rückschläge
niemals aufzugeben. Schon seit dem frühen Tod meiner Mutter war es ihm wahrlich nicht leicht
gemacht worden.
Umso tragischer stellen sich die Ereignisse jenes Tages dar, von denen ich dir nun berichte.
Ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern passiert.
Es war Samiira, meine Zofe und wichtigste Vertrauensperson, die mich eines späten Nachmittags in
meinem Gemach aufsuchte.
Schon als sie eintrat, spürte ich, dass etwas passiert sein musste. Ihre Membran vibrierte schon
bevor sie anfing zu sprechen und die Haut über ihren Kopfwülsten zuckte unkontrolliert.
»Oh, Siroona«, setzte sie an und nahm eine traditionelle, jedoch damals schon veraltete
Demutshaltung ein, die ich ihr seit Jahren abzugewöhnen versuchte.
»Steh aufrecht, Samiira«, sagte ich auch dieses Mal. »Dein Rücken ist für derartige Verrenkungen
nicht geschaffen.«
Üblicherweise neigte sie an dieser Stelle dazu, mir einen Vortrag über die Bedeutung der Etikette
auch in der heutigen Zeit zu halten. Dass sie an diesem Tag auf ihren Sermon verzichtete, ließ mich
ahnen, dass sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.
»Es geht um deinen Vater«, stieß sie hervor.
Auch die Tatsache, dass sie nicht auf telepathischem Wege mit mir kommunizierte, war ein Zeichen
von Unterwürfigkeit.
Ich stutzte. Vater hatte sich Stunden zuvor zur Fertigungsanlage begeben, um dort nach dem rechten
zu sehen. Der Bau der Anlage war wieder einmal unterbrochen worden. Ich weiß den genauen
Grund nicht mehr.
»Was ist mit ihm?«, fragte ich.
»Er hätte seit geraumer Zeit zurück sein müssen. Aarmon ist längst eingetroffen.«
Erst jetzt erinnerte ich mich daran, dass Vater von einem Geschäftstermin gesprochen hatte. Ein gut
betuchter Kaufmann von irgendeinem Planeten aus dem Zentrum der Galaxie hatte sich für heute
angemeldet, um über eine mögliche Beteiligung an Vaters Projekt zu verhandeln.
Für mich rückte das die Verspätung in ein völlig neues Licht. Vater hatte noch nie einen
Geschäftstermin versäumt.
»Hast du versucht, ihn zu erreichen?«, hakte ich nach.
»Ohne Erfolg«, sagte sie. »Ich konnte keinerlei Funkkontakt zur Anlage herstellen. Irgendetwas
muss passiert sein.«
Davon war ich jetzt auch überzeugt. Ich musste nicht lange überlegen, bevor ich die Entscheidung
traf, persönlich nach dem rechten zu sehen...
Jeltos Erinnerungen (III) Seit Jeltos Ankunft mochten zwei oder drei Monate vergangen sein - schon am dritten Morgen hatte
er aufgehört die Tage zu zählen. Zeit spielte hier in der Station ohnehin keine Rolle. Es war so, als
würden der Wald und die Hütte völlig losgelöst von der sie umgebenden Welt existieren.
Augenscheinlich war jeder neue Tag ein Abglanz des vorherigen. Dennoch spürte Jelto die
Veränderung, die jeder von ihnen mit sich brachte. Es war kein Wandel, der sich an Äußerlichkeiten
festmachte. Vielmehr spürte Jelto die Veränderung in sich selbst. Mit jedem Tag, mit jeder neuen
Prüfung, die er erfolgreich absolvierte, schien er innerlich zu wachsen. Er spürte förmlich, wie
Kirkos Wissen auf ihn überging, ihn in neue Sphären katapultierte und ihn seiner zukünftigen
Aufgabe Schritt für Schritt näher brachte.
Doch so freudig Jelto diesen Reifeprozess auch aufnahm, so traurig war er über die Konsequenz,
die sich daraus für Kirko ergab. Was würde sein, wenn Jeltos Ausbildung abgeschlossen war?
Denn eines hatte er aus den Andeutungen und Erzählungen des Alten herausgehört: Zu keinem
Zeitpunkt in der Geschichte der Station hatte es zwei Florenhüter gleichzeitig gegeben.
Was also würde mit Kirko geschehen, wenn Jelto dessen Amt übernahm?
Diese Frage beschäftigte Jelto tagelang, bevor er eines Abends beschloss, den Alten darauf
anzusprechen.
Zu diesem Zweck suchte er ihn in seinem Arbeitszimmer auf, wo er sich jeden Tag nach
Sonnenuntergang stundenlang verbarrikadierte, ohne dass Jelto wusste, was genau er dort tat.
Die Tür war wie immer geschlossen. Jelto klopfte kurz an und öffnete gleich darauf.
Im Schein der Kerze, die auf einem niedrigen Tisch stand, sah er Kirko, der am anderen Ende des
Zimmers vor einem Regal stand.
Jelto schien ihn bei irgendetwas gestört zu haben. Rasch legte der Alte den Gegenstand beiseite, den
er gerade betrachtet hatte, und wandte sich um.
»Was tust du hier?« In seiner Stimme lag eine Schärfe wie Jelto sie bei ihm nie zuvor vernommen
hatte.
Hier, in diesem diffusen Spiel aus Licht und Schatten, wirkte Kirkos Körper regelrecht dürr und
ausgemergelt. Mehr denn je erinnerte er ihn an einen alten, morschen Baum, der bald entwurzelt
werden musste, um Platz für einen gesunden, jungen zu schaffen.
»Ich... würde mich gerne mit dir unterhalten.«
»Wozu?«, knurrte Kirko ungehalten. »Stimmt etwas nicht?«
Jeltos Blick ging an dem Körper des Alten vorbei und fand den Gegenstand, mit dem er sich bis zu
seinem Eintreten beschäftigt hatte. Es war ein schweres, in braunes Leder gebundenes Buch.
Jelto war es zuvor schon aufgefallen. Es schien der einzige Gegenstand zu sein, der dem Alten
etwas bedeutete.
Jelto hatte ihn einmal danach gefragt und war daraufhin barsch von Kirko zurechtgewiesen worden.
Danach hatte er es nie wieder gewagt, den Folianten zur Sprache zu bringen.
Jeltos Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Seufzer, in dem der naive Weltschmerz
eines jungen Mannes lag, der von der Welt noch nicht allzu viel gesehen hatte. »Du vergräbst dich
jeden Abend in deinem Zimmer und lässt mich allein mit meinen Gedanken. Dabei läge mir
unendlich viel daran, sie mit dir zu teilen.«
Kirko nickte ergeben, dann forderte er ihn mit einer Geste auf, an dem runden Tisch Platz zu
nehmen.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte der uralte Florenhüter und sah ihn über die Kerzenflamme hinweg
an. »Wahrscheinlich habe ich gehofft, das Unvermeidliche hinauszögern zu können, wenn ich
jedem Gespräch darüber aus dem Weg gehe. Wahrscheinlich ahnst du es schon. Du hast viel
gelernt, in den letzten Wochen. Bald bist du so weit und kannst meinen Platz einnehmen.«
Jeltos Augen wurden groß. »Aber was wird dann aus dir, Kirko?«
»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Für mich ist gesorgt.«
Damit konnte sich der junge Klon nicht zufrieden geben. »Was bedeutet das? Was geschieht mit
einem Florenhüter, der seine Aufgaben erfüllt hat?«
Kirko senkte den Blick. »Ich weiß es nicht. Darüber haben nur sie zu entscheiden...«
»Sie? Du meinst...?«
»Jene, die jeden Bereich unseres Lebens kontrollieren. Die uns benutzen, um...« Kirko verstummte
und sah dabei aus, als würde er seine Worte bereits jetzt bereuen.
»Um was...?«, fragte Jelto. Sein Herz wog so schwer in seiner Brust, dass er meinte, es müsse ihm
jeden Moment in die Kniekehlen rutschen.
»Hör zu, Jelto. Du bist ein aufgeweckter junger Mann. Du wirst deinen eigenen Weg gehen. Ich
habe nicht das Recht dazu, ihn dir zu weisen. Würde ich es tun, gäbe es kein Zurück mehr für dich.«
»Was hat das zu bedeuten? Was sollen diese Andeutungen?« Jelto ballte hilflos die Fäuste. Zum
ersten Mal in Kirkos Gegenwart spürte der Klon ein Gefühl von Wut in sich aufsteigen, und seine
Aura loderte auf.
»Du denkst, die Master hätten das Wohl der Menschheit im Sinn. Ich kann dir nur sagen, dass die
Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Bleibe wachsam und vertraue niemandem. Das ist alles, was
ich dir für deine Zukunft mit auf den Weg geben kann.«
»Wie kommst du zu diesen Ansichten? Steht das in diesem Buch?« Jelto sprang auf und wollte zum
Schrank hinüber laufen, doch Kirko stellte sich ihm mit ausgebreiteten Armen in den Weg.
»Ich möchte doch nur ein paar Antworten, mehr nicht«, bettelte Jelto. »Was hat es zum Beispiel mit
diesem Gebiet auf sich, das du das Getto nennst? Wer lebt dort? Und warum?«
Es hatte alles keinen Sinn.
Kirko verwies Jelto des Zimmers und nahm in seiner Gegenwart nie wieder Begriffe wie »Master«,
oder »das Getto« in den Mund.
Seine Tür schloss er von diesem Tage an immer ab...
Siroonas Geschichte (II) Die glühende Hitze des späten Nachmittags umhüllte uns, als wir den Gleiter bestiegen. Ein augenblickliches Gefühl von Wohlbehagen erfasste mich, trotz der dunklen Wolke, die unsichtbar über meinem Haupt schwebte. Aarmon hatte darauf bestanden, mich zur Anlage zu begleiten. Schon deshalb, um sich selbst einen Überblick über die Gegebenheiten vor Ort zu verschaffen. Zunächst hatte ich versucht, ihn davon abzubringen. Zum einen, weil ich nicht wusste, ob es Vater recht war, wenn plötzlich unverhoffter Besuch auftauchte. Zum anderen, weil eine dunkle Vorahnung mich zur Vorsicht mahnte. Was, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert war? Ich verdrängte diesen Gedanken, während ich den Gleiter in den wolkenlosen Himmel steuerte. Erst aus einiger Höhe war zu erkennen, dass das schroffe Felsplateau, auf dem sich unsere Stadt befand, von nichts als Wüste umgeben war. Wo sich vor einiger Zeit noch unzählige Echsenarten auf nacktem Fels geaalt hatten, ragten heute riesige, in der Sonne blitzende Gebäude aus Glas und Stahl empor. Und auch wenn wir uns in technischer und architektonischer Hinsicht nicht einmal ansatzweise mit den gewaltigen Großstädten anderer Planeten messen konnten, erfüllte mich der Anblick mit einem gewissen Stolz.
Schließlich hatten die wenigen Siedler die Stadt fast ohne fremde Hilfe und mit vergleichsweise
primitivem technischem Aufwand errichtet.
Aarmon schien das kalt zu lassen. Ihn interessierten seine Geschäfte, alles andere war zweitrangig.
Vermutlich zählte er bereits die Stunden bis zu seiner Abreise.
Keiner von uns sprach während des Fluges besonders viel. Die Wüste erstreckte sich unter uns wie
ein riesiger, orangefarbener Teppich, ohne auch nur ein einziges Mal vom Grün einer Oase gestört
zu werden.
»Das da hinten ist Kattao«, sagte ich, als die pechschwarze Festung am nördlichen Horizont
auftauchte. Aus dieser Entfernung hätte sie genauso gut ein Schmutzfleck auf der Scheibe sein
können. »Wir müssen sie großräumig umfliegen. Der gesamte Umkreis ist militärisches
Sperrgebiet.«
Ich glaubte, endlich so etwas wie Interesse bei Aarmon auszumachen.
Es überraschte mich nicht. So viele Legenden rankten sich um diesen militärischen Elitestützpunkt,
dass ich noch niemandem begegnet war, den die bloße Erwähnung des Namens völlig unberührt
gelassen hatte.
Ich selbst interessierte mich damals nicht für solche Dinge. Mir wäre es lieber gewesen, Taloon
hätte seine Prominenz einer anderen Attraktion verdankt.
Die Schatten wurden bereits länger, als wir die Fertigungsanlage erreichten, einen Komplex aus
zweckmäßigen Fabrikbauten.
Der Gleiter meines Vaters parkte unweit der Haupthalle. Demnach stand fest, dass er die Anlage
nicht verlassen hatte. Aber was war dann geschehen? War es zu einem technischen Ausfall
gekommen, der die komplette Funkanlage außer Gefecht gesetzt hatte?
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich allein nach dem rechten sehe«, sagte ich, doch Aarmon sprang
bereits aus dem Gleiter.
Ich griff nach meiner Waffe, einem simplen, aber dennoch effektiven Antimaterie-Strahler, der
eigentlich für die Jagd bestimmt war, und folgte dem Beispiel meines Begleiters.
Schon als wir uns dem Eingangsschott der Haupthalle näherten, stellten wir fest, dass hier etwas
passiert sein musste. Die Türhälften des Schotts bewegten sich hektisch auf und zu. Offensichtlich
gab es tatsächlich irgendeinen elektronischen Defekt.
Der Spalt war gerade breit genug, dass ich mich ohne allzu große Mühen durchquetschen konnte.
Ein kurzer Gang führte vom Eingangsbereich aus in die eigentliche Produktionshalle. Noch bevor
wir sie erreichten, wehte mir der Geruch von geschmolzenem Metall und durchgeschmorten Kabeln
entgegen.
Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte und stürmte in die Halle.
Ich musste es einfach wissen.
Und obwohl ich bereits mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, übertraf das Ausmaß des Grauens
doch alles...
Jeltos Erinnerungen (III) Es geschah an einem nebelverhangenen Vormittag, dass sich Jeltos Leben für immer veränderte. Und das gleich in zweierlei Hinsicht. Er war an diesem Tag allein im Wald unterwegs. Mit dem Kriecher hatte er eine Lichtung einige Meilen östlich der Station angeflogen, um das Wachstum einer Gruppe erst kürzlich gepflanzter Kuana-Bäume zu überprüfen. Die Messgeräte zeigten, dass sich die Jungbäume perfekt an ihre Umgebung angepasst hatten. Noch reichten sie ihm gerade bis an die Schultern, doch schon bald würden sie ihre Köpfe weit in den Himmel recken. Jelto wollte sich zufrieden abwenden, als er den Schrei vernahm, der laut und durchdringend durch die Wildnis hallte.
Nicht nur der Klon zuckte zusammen. Ein Schwarm Squerls erhob sich kreischend aus der
Baumkrone eines nahen Kuanas und stieg flatternd in den Himmel.
Unschlüssig sah Jelto in die Richtung, aus der der Schrei erklungen war. Er stammte von einem
Menschen, so viel stand fest.
Diese Erkenntnis reichte schon aus, um ihn in Alarmbereitschaft zu versetzen. Nie zuvor war ihm
ein anderer Mensch in diesem Wald begegnet, in dem es von gefährlichen Pflanzenarten nur so
wimmelte.
Als sich der Schrei wiederholte, war sich Jelto sicher, dass er von einer Frau stammte.
Rasch bückte er sich, hob einen Stock vom Boden auf und bahnte sich behutsam einen Weg durch
das dichte Buschwerk, immer darauf bedacht, keinem noch so dürren Ast Schaden zuzufügen.
Es dauerte nicht lange, bis er die Stelle erreichte, von der die Schreie kamen.
Sein Magen verkrampfte sich, als er sah, womit er es zu tun hatte.
Es waren zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Beide waren blond, etwa zwanzig Jahre alt und
trugen alte zerschlissene Kleidung, wie er sie bei den Menschen in den Metrops nie gesehen hatte.
Jelto konnte sich nicht vorstellen, woher sie kamen, oder wie es ihnen gelungen war, so weit in den
gefährlichen Wald vorzudringen. Doch dann entdeckte er einzelne Trümmerteile. Offenbar waren
sie mit einem Fluggefährt abgestürzt.
Der Mann hatte das Schlimmste bereits hinter sich, wie Jelto schon von weitem feststellte. Er war in
die Fänge einer Klytone geraten.
Diese Pflanze, die eigentlich auf einem fernab der Erde gelegenen Dschungelplaneten beheimatet
war, bestand aus mehreren, unterschiedlich großen Röhren, die wie Orgelpfeifen aussahen. Zum
Beutefang produzierte sie ein zähes, klebriges und überaus giftiges Sekret, das sie auf ihre Opfer
verschoss. Wer sich darin verfing hatte nicht den Hauch einer Überlebenschance.
Die Frau dagegen war einer Krakata zum Opfer gefallen. Krakatas besitzen eine bis zu zwei Meter
hohe Hülse, welche sie bei Bedarf auf- und zuklappen konnten und die im Innern mit nadelspitzen,
armlangen Zacken gespickt sind.
Bei dieser Krakata handelte es sich um ein kleineres, noch nicht ganz ausgewachsenes Exemplar.
Wohl nur deshalb hatte die Frau bis jetzt überlebt.
»Gott sei Dank!«, keuchte sie, als sie Jelto erblickte. »Hilf mir bitte! Wir wollten... fliehen. Wir...
kommen... aus... dem Getto... und...«
Den Rest ihrer Worte hörte Jelto schon gar nicht mehr.
Das Getto!
Also stimmte es.
Es gab tatsächlich Menschen in diesem riesigen, kreisförmigen Gebiet, das vom Wald vollständig
umschlossen wurde.
Doch wer waren sie? Warum lebten sie dort, in dieser ungastlichen Zone, anstatt in einer der
zahlreichen Metrops, in denen das Leben doch um so vieles angenehmer war?
In diesem Moment hatte Jelto das Gefühl, dass die Antworten, die Kirko ihm stets verweigert hatte,
nur noch eine Armlänge von ihm entfernt waren. Wenn es ihm nur gelang, das Leben der jungen
Frau zu retten...
Er kniete sich neben sie und besah sich ihre Wunden.
Einer der Stachel hatte sich mitten durch ihre Schulter gebohrt, ein anderer steckte in ihrer Hüfte.
Rings um die Spitze, die zentimeterweit aus der Wunde ragte, hatte sich ihr Lumpengewand mit
Blut voll gesogen.
Die Verletzungen waren nicht unmittelbar lebensbedrohend, doch es war nur eine Frage der Zeit,
bis der Blutverlust sie dahinraffen würde. Von möglichen inneren Verletzungen ganz zu schweigen.
»Wir sind... so weit... gekommen«, flüsterte die Frau stockend und ihr Blick verlor sich im Blau des
Himmels, das weit oben durch die Baumkronen schimmerte. »Wir... wollten... fliehen. Ein
besseres... Leben beginnen... Weit weg von diesem... grässlichen Ort.«
Ruhig«, sagte Jelto sanft und strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Du darfst dich jetzt
nicht anstrengen.«
Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Schweiß stand tröpfchenweise auf ihrer Stirn, und ihr Körper
bebte unter einem Anfall von Schüttelfrost. Der Himmel mochte wissen, wie lange sie hier bereits
lag. Allein, verletzt und mit dem Wissen, dass es jede Minute mit ihr zur Ende gehen konnte.
Ein Schmerzensschrei entwich ihrer Kehle als Jelto versuchte, sie vorsichtig anzuheben. Sofort ließ
er sie wieder sinken.
Die Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit durch seinen Kopf.
Wahrscheinlich war es zu riskant, sie hier und jetzt zu bewegen. Zu groß war die Gefahr, dass
innere Organe verletzt waren und die junge Frau ihm unter den Händen wegsterben würde. Was er
benötigte, waren Verbände, Medikamente, Schmerzmittel...
Und Kirko!
Er würde wissen, was zu tun war. Jelto stand auf und sah den stummen Protest in ihren Augen.
»Hab keine Angst«, sagte er schnell. »Ich hole Hilfe. Es dauert nicht lange. Versuch bitte, dich
möglichst wenig zu bewegen.«
Wie ein Wirbelwind stürmte er zurück zum Kriecher, ohne sich um die Blätter und Zweige zu
kümmern, die ihm ins Gesicht peitschten und blutige Kratzer auf seiner Haut hinterließen.
Den Protest der Pflanzen um ihn herum ignorierte er.
Mit zitternden Fingern startete er das Gefährt, zog es steil in die Höhe, bis dicht über die
Baumkronen, und steuerte die Station an.
Schon von weitem sah er, dass seine Begegnung mit den beiden Flüchtigen nicht das letzte
folgenschwere Ereignis an diesem Tag bleiben würde.
Der Residenzgleiter, der neben der Station gelandet war, löste unwillkürlich ein Gefühl der
Ablehnung in ihm aus, auch wenn die jahrelange Konditionierung, die er durch seine Schöpfer
erfahren hatte, noch immer präsent war.
Die Master wollen nur dein Bestes, spulte es sich wie automatisch in seinem Kopf ab. Sie haben die
Erde gerettet und die Menschheit ins Licht geführt.
Doch dieses Mal waren es nur leere Worthülsen ohne jede Bedeutung.
Die grausigen Bilder der beiden Menschen im Wald schoben sich aufdringlich vor die bröckelige
Kulisse seiner simplen Schulweisheiten. Untermalt wurde sie von Kirkos Worten.
Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen... Vertraue niemandem... Kirko!
Beim Näher kommen sah er den Alten. Zwei Uniformierte hatten ihn in ihre Mitte genommen und
führten ihn auf den Gleiter mit dem Emblem der Master zu.
Das dumpfe, Unheil verkündende Pochen in seinem Bauch wurde stärker.
Waghalsiger, als er es sich unter normalen Umständen zugetraut hätte, zog er den Kriecher nach
unten und landete ihn so dicht neben den Uniformierten, dass diese erschrocken zur Seite wichen.
»Was tut ihr da?«, brüllte er, noch während er sich aus dem beengten Gefährt zwängte.
»Es ist in Ordnung, Junge«, antwortete Kirko anstelle seiner Bewacher. »Meine Uhr ist abgelaufen.
Du erfüllst nun alle Anforderungen. Nun liegt es an dir, mein Werk fortzuführen.«
Jeltos Augen füllten sich mit Tränen, als er verstand, dass das Unvermeidliche, das er sich so viele
Male zuvor ausgemalt hatte, nun eintreffen würde.
»Freu dich, Grüner!«, blaffte einer der Soldaten hinter dem Visier seines Helms hervor. »Du bist
jetzt ein vollwertiger Florenhüter.«
»Wohin bringt ihr ihn?«, fragte Jelto mit wankender Stimme.
»An einen Ort, an dem es ihm an nichts fehlt...«
Kirko nickte. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin alt, und die Arbeit hier ist mühsam. Ich bin
froh, dass jemand da ist, der alle Voraussetzungen erfüllt, um meine Arbeit angemessen
weiterzuführen.«
Jelto schüttelte den Kopf und trat auf den Alten zu.
Kirko legte ihm einen Arm auf die Schulter und tat etwas, das er in Jeltos Gegenwart bisher noch
nie getan hatte.
Er lächelte.
»Werden wir uns irgendwann einmal wieder sehen?«, fragte Jelto, obwohl er die Antwort bereits
kannte.
»Ich denke nicht.«
Jelto nickte. »Danke. Für alles...«
Hilflos sah er dabei zu, wie der Alte als Erster in den Gleiter stieg. Danach folgten die beiden
Uniformierten.
Kurz bevor sich das Eingangsschott schloss, durchfuhr es Jelto wie ein Blitzschlag.
Die Verletzte im Wald! Die Trauer um den Abschied von Kirko hatte die Sorge um die junge Frau für einen kurzen
Moment zurückgedrängt.
Unwillkürlich stolperte er auf den Gleiter zu.
»Halt!«, rief er. »Wartet!«
Der Uniformierte, der noch in der Luke stand, schaute über seine Schulter. »Was ist?«
Jelto verharrte.
In diesem Moment glaubte er, noch einmal die Worte der Frau zu hören.
Wir wollten fliehen... Weit weg von diesem grässlichen Ort...
Und darunter mischte sich Kirkos warnende Stimme.
Vertraue niemandem... »Red schon!«, zischte der Wachmann ungehalten. »Oder hast du deine Zunge verschluckt?«
»Es ist nur, dass...«, stotterte Jelto. »Sag Kirko, dass ich ihn nicht enttäuschen werde.«
Der Uniformierte stieß eine gehässige Bemerkung aus, dann schloss sich das Schott und der Gleiter
stieg in die Höhe.
Jelto schaute ihm nach, bis er nur noch ein winziger Punkt am Himmel war.
Dann rannte er los.
Sein Ziel war der medizinische Versorgungsraum im hinteren Teil der Station. Hastig packte er ein
Notfallbündel mit Verbandszeug sowie pflanzlichen Medikamenten und Tinkturen zusammen.
Mit dem Kriecher brach er zum zweiten Mal an diesem Vormittag zur Unglücksstelle auf. Er
kämpfte sich durch das Dickicht und sank bei der blonden Frau auf die Knie.
Sie sah ihm starr und ausdruckslos entgegen. Die Angst war aus ihrem Blick verschwunden,
genauso wie der Schmerz. Spätestens als Jelto nach ihrem Puls fühlte, erlosch sein letzter
Hoffungsfunke.
Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er war zu spät gekommen.
Jelto schloss ihr die Augen und drückte noch einmal ihre Hand. Darm stand er auf.
Später am Tag würde er zurückkehren und ein Grab ausheben. Das war die letzte Ehre, die er den
beiden erweisen konnte.
Wie in Trance trottete er zum Kriecher und flog zurück zur Station.
Ein bohrendes, tief sitzendes Gefühl sagte ihm, dass sie dafür verantwortlich waren.
Die Master wollen nur dein Bestes. Sie haben...
Seid still!, befahl er den fremden Stimmen in seinem Kopf. Seid doch einfach still!
Und dann, wie ein Pfeil, der sich in seinen Kopf bohrte, kam ihm ein abenteuerlicher Gedanke.
Konnte es- sein, dass...?
Er musste Gewissheit haben.
Holprig landete er den Kriecher auf der Lichtung und stürmte in die Hütte. Erst vor Kirkos Gemach
hielt er schnaufend inne.
Nervös öffnete er die Tür. Noch auf der Schwelle fiel sein Blick auf das Regal auf der anderen Seite
des Zimmers.
Gleichzeitig zerbrach seine Hoffnung.
Das Regal war vollkommen leer. Kirkos Buch war verschwunden...
»Kirko... Das Buch... Wo ist das...?«
Jeltos abgehackte Worte begleiteten Ayleas Erwachen aus der Trance.
Urplötzlich brach die Verbindung ab. Als habe sie bis zu diesem Moment ein unsichtbares Kraftfeld
an Jelto und die seltsame Blume gefesselt, fiel Aylea nun zurück und kippte von der Liege. Sie
konnte ihren Sturz gerade noch abfangen, bevor sie mit voller Wucht auf den Boden knallte.
Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, wo sie war. Der Eindruck des gerade Erlebten, war noch so
präsent, dass es ihr vorkam, als würde sie in einem Vakuum zwischen Vergangenheit und
Gegenwart treiben.
Dann fiel ihr Blick auf das Dickicht, das sie noch immer umgab. Und auf Jelto, der sich
schweißgebadet auf seiner Liege aufbäumte.
»Kirko...«, keuchte er. »Das Buch...«
Aylea baute sich vor ihm auf und berührte seinen Arm.
»Jelto!«, sagte sie, zunächst leise, dann etwas lauter: »Jelto!«
Der ehemalige Florenhüter schlug die Augen auf. Er schien das Mädchen zu erkennen. Zumindest
verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln - das kurz darauf, begleitet von einem schrillen
Aufschrei, zu einer Grimasse des Schmerzes zerfiel.
Aylea trat erschrocken zurück. »Jelto, was hast du?«
»Er soll... damit... aufhören! Er darf ihnen... nicht... wehtun!«
Die Zehnjährige musste schlucken. Sie hatte eine dumpfe Ahnung, wen Jelto damit meinte.
Sobek!
Aylea konnte nicht einmal schätzen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie durch das Dickicht in
Jeltos Kabine getreten war. Sobek schien es jedenfalls zu lang geworden zu sein. Ganz deutlich
hörte sie jetzt das Brechen von Ästen, dessen Ursprung in der Nähe der Tür liegen musste.
Und wieder bäumte sich Jelto schreiend auf.
Sie musste etwas unternehmen.
Das Mädchen trat auf das Dickicht zu, das sich erneut vor ihm teilte, einen Tunnel bildete, den es
aufrecht durchschreiten konnte.
Sie würde Sobeks mitleidslosem Treiben Einhalt gebieten...
Siroonas Geschichte (III) In der Halle sah es aus wie nach einer Explosion. Nicht nur die wenigen bisher vorhandenen
Gerätschaften waren zertrümmert. Der stabile, mehrschichtige Boden war stellenweise regelrecht
aufgerissen worden.
Wohin ich auch sah, klafften riesige Löcher mit jeweils einem Radius von mehreren Fortek. Es sah
aus, als sei ein Meteoritenregen in der weitläufigen Halle niedergegangen.
Was auch immer passiert war, zum Zeitpunkt des Ereignisses hatten sieh zum Glück nur wenige
Foronen in der Halle befunden. Ich erkannte einen Mitarbeiter meines Vaters, der von einem
verbogenen Stahlrohr aufgespießt worden war. Drei weitere hatten so starke Verletzungen erlitten,
dass eine Identifizierung unmöglich war.
Ohne innezuhalten rannte ich weiter - über Berge von Schutt, vorbei an unzähligen Gruben.
So lange bis ich die Bestätigung für meine grausige Vermutung fand. Vater...
Zuerst sah ich nur seinen Kopf. Er lag abgetrennt auf dem Boden. Sein Körper lag einige Schritte
daneben. seltsam verkrümmt wie ein Kind im Mutterleib.
Fassungslos sank ich vor ihm auf die Knie und muss eine ganze Weile in dieser Haltung verharrt
sein. Meine Erinnerung an diesen Moment ist äußerst verschwommen.
Ich weiß nur noch, dass sich irgendwann Aarmons Stimme hinter mir erhob. Was er sagte, weiß ich
nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich es damals schon nicht wahrgenommen.
Dennoch stand ich auf und drehte mich zu ihm um. Und was ich dann sah, ließ mich meinen
Kummer für den Augenblick vergessen.
Aarmon stand etwa drei Armlängen hinter mir und dicht vor einem jener seltsamen Löcher.
Als ich den Schatten sah, hielt ich ihn erst für eine Sinnestäuschung.
Dann ging alles ganz schnell.
Ich sehe es noch genau vor mir. Dieser lange, segmentierte Schwanz mit dem unterarmlangen
Stachel, der sich hinter Aarmon in die Höhe schob und sich dabei nach vorne bog.
Pass auf! Obwohl ich ihm die Warnung auf telepathischem Wege sandte, erreichte sie ihn zu spät.
Rasend schnell bohrte sich der Stachel in seinen Rücken und trat fast im selben Moment aus der
Brust wieder aus.
Mein einziger Trost ist, dass er wohl nicht zu lange gelitten hat. Die riesige Schere, die plötzlich
neben ihm auftauchte, sich um seinen Hals legte und zudrückte, war einfach zu schnell.
Sein Kopf fiel zu Boden wie eine reife Frucht vom Baum. Sein Körper folgte erst Augenblicke
später.
Jetzt hatte ich völlig freie Sicht auf jenes achtbeinige Wesen, das seinen flachen, schmalen Körper
aus der Grube schob.
Ich habe die Korpeden ja bereits zu Beginn meiner Erzählung kurz erwähnt. Auch, dass mein Vater
geglaubt hatte, dieses Problem ein für alle Mal aus der Welt geschafft zu haben.
Nun, zweifelsohne hatten wir uns geirrt. Wie mir klar wurde, als sich dieses Biest auf mich
zuschob, hatten diese Spinnenwesen den Giftangriff nicht nur überlebt, er schien ihnen sogar
äußerst gut bekommen zu sein. Ein Exemplar dieser Größe hatte ich zuvor jedenfalls noch nie
gesehen.
Da stand ich also, Auge in Auge mit einer Bestie.
Zudem merkte ich, dass ich meinen Antimaterie-Strahler nicht mehr in der Hand hielt.
Wahrscheinlich hatte ich ihn neben der Leiche meines Vaters zu Boden gelegt.
Wie also sollte ich mich verhalten?
Du musst bedenken, wie jung ich damals noch war. Jung und unerfahren und nicht im Entferntesten
bereit, mich einer solchen Gefahr zu widersetzen.
Ich sank kraftlos zu Boden und musste mit ansehen, wie sich der Schwanz mit dem Giftstachel
erneut über den gepanzerten Rücken bog. In Gedanken hörte ich bereits das Knacken, mit dem die
Scheren meinen Kopf vom Rumpf trennen würden.
Bis plötzlich... Ich weiß nicht mehr genau, ob ich den Schuss in diesem Moment wirklich hörte.
Zumindest sah ich, wie sich der Korpede aufbäumte, ins Torkeln geriet, abrutschte und zurück in
die Grube stürzte.
Ich sank erschöpft auf den Rücken und benötigte eine ganze Weile, bis ich begriffen hatte, dass mir
soeben ein neues Leben geschenkt worden war.
Als ich mich aufrichtete, sah ich meinen Retter vor mir, den schweren Strahler noch in der Hand.
Zu meiner Überraschung war es ein gut aussehender Forone, den ich nie zuvor auf Taloon gesehen
hatte.
Er reichte mir die Hand, half mir auf die Beine und fragte mich, ob alles in Ordnung sei.
Dann nannte er mir seinen Namen...
»Mont!«, warf Scobee nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit ein.
»Ja«, bestätigte Siroona. »Auch er war damals noch sehr jung und befand sich zu
Ausbildungszwecken auf der Militärfeste Kattao.«
»Woher wusste er...?«
»Reiner Zufall«, sagte die Hirtin. »Die Messgeräte auf Kattao hatten zuvor ungewöhnliche
Erderschütterungen in diesem Gebiet gemeldet. Da sie nicht mit einer wirklichen Gefahr rechneten,
entsandten sie den jungen Mont, um nach dem rechten zu sehen.«
Scobee nickte verständig.
Noch vor wenigen Minuten hätte sie es sich selbst nicht erträumt, dass sie jemals in der Lage sein
würde, eine so tiefe Verbundenheit zu der Forone zu empfinden, wie es hier und jetzt der Fall war.
»Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt«, fuhr Siroona fort. »Monts Auftreten hatte mich so
sehr beeindruckt, dass ich mich nach dem Tode meines Vaters selbst um eine militärische
Ausbildung auf Kattao bewarb. Ich wurde angenommen und erklomm damit die erste Sprosse auf
meiner... wie sagt ihr dazu? Karriereleiter?«
Scobee nickte.
»Aber obwohl sich Monts und meine Wege schon bald trennten, kreuzten sie sich doch immer
wieder. Bis zum Schluss...«
Sie sah noch einmal auf den toten Körper hinab und berührte seine Brust mit ihrer Klauenhand.
Dann schloss sie den Deckel.
.Warte noch!«, bat John Cloud und nahm eine gebieterische Pose ein. »Vielleicht kann Aylea ja irgendetwas ausrichten.« Da war es wieder, dieses verächtliche Schnauben des Foronen, das John auch ohne Translator mühelos übersetzen konnte. »Vielleicht kann sie das«, sagte er abgehackt. »Falls sie noch lange genug lebt...« Die Emotionslosigkeit, mit der der Forone dieses sagte, war nur ein weiterer Nadelstich, der John Cloud in seiner Opposition zu ihm bestätigte. Die Stimmung zwischen dem Mann aus der Vergangenheit und Sobek, dem obersten der Foronen, war nie gereizter gewesen. Es war, als würden sämtliche Meinungsverschiedenheiten, die sie in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder entzweit hatten, in dieser einen Machtfrage, die ihr weiteres Vorgehen betraf, kulminieren. Für Cloud ging es längst nicht nur noch um das Wohl seiner Freunde. Es ging auch darum, ob es ihm gelang, sich gegen den Foronen durchzusetzen. Sollte er scheitern, würde er auch in Zukunft nicht mehr als ein Handlanger dieses unbeschreiblich charismatischen und gleichzeitig so bedrohlich wirkenden Wesens sein. Auch Sobek wusste das, und es machte seine Haltung nur noch unnachgiebiger. Die Crux an der Sache war, dass Cloud sich mit jeder verstreichenden Sekunde unsicherer fühlte. Augenblicklich sah es tatsächlich so aus, als würde der Fortgang der Ereignisse den Standpunkt des Foronen stützen. Ein Blick an die Decke des Korridors genügte, um zu erkennen, dass Clouds Strategie immer fragwürdiger wurde. Einige der grünen Pflanzenarme hatten sich bereits meterweit über das Schott der Kabine hinaus geschoben. Doch das war nicht alles. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die einzelnen Stränge neue Triebe bildeten, die größer wurden, sich ihrerseits verästelten und so ein Flechtwerk aus ineinander verwobenen Strängen bildeten. »Du würdest uns wirklich alle dem Untergang preisgeben, nur um deinen Prinzipien treu zu bleiben, nicht wahr?«, sagte Sobek. »Ihr Menschen seid eine der seltsamsten Spezies, mit der ich es je zu tun hatte. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: ihr Menschen des 21. Jahrhunderts... Noch so eine Stichelei, mit der der Forone ihn ganz bewusst verhöhnte. In der Tat schien die heutige, von den Mastern beherrschte Menschheit Begriffe wie Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft aus ihren Wörterbüchern gestrichen zu haben. In weiten Teilen des Universums waren sie nur unter dem Begriff Erinjij, die Geißel der Galaxie, bekannt. Als eine rücksichtslose galaktische Supermacht, die in ihrem Expansionsbestreben Welten unterjochte und deren Bewohner versklavte. Freilich waren die wahren Hintergründe weitaus komplexer. Sobek wusste selbst, dass auch die Menschheit nicht mehr war als das Werkzeug einer außerirdischen Macht, die sie für ihre zwei felhaften Ziele missbrauchte. Ein leises Keuchen aus Jeltos Kabine ließ Cloud zusammenzucken. Aylea!
Hilflos starrte Cloud auf das Pflanzendickicht, das das Schott noch immer völlig ausfüllte. Es bestand nicht der Hauch einer Chance, zu erkennen, was sich dahinter abspielte. »Aylea! Hörst du mich?« Cloud kam es vor, als würden die Pflanzen seinen Ruf abfangen. Ihn schlucken und gar nicht erst in die Kabine dringen lassen. »Nervosität«, bemerkte Sobek besserwisserisch. »Diese Emotion ist wohl eine der deutlichsten Ausprägungen für das Unvermögen deiner Spezies.« Cloud spürte die Wut in sich aufsteigen wie Lava im Innern eines Vulkans. Doch bevor sie endgültig zum Ausbruch kommen konnte, schob sich das Bild der Zehnjährigen vor sein inneres Auge. Auf gewisse Weise hatte er die Verantwortung für sie übernommen, als er sie aus dem Getto geholt hatte. Wenn ihr etwas geschah, würde er es sich nie verzeihen. Er atmete tief durch, dann trat er zur Seite. Sobek verstand die stumme Aufforderung. Ohne jede Eile baute er sich vor dem Schott auf - und explodierte. Wie eine lebendige Häckselmaschine fing er an zu wüten. Was er dabei genau tat, war mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen. Seine Arme schienen überall gleichzeitig zu sein. Cloud sah nur noch Pflanzenteile durch die Luft fliegen und musste ausweichen, um nicht von ihnen getroffen zu werden. Zeitgleich mit Sobeks Wutausbruch, setzten auch Jeltos Schreie wieder ein. John Clouds Mimik entgleiste. Mitanhören zu müssen wie Jelto litt, bereitete ihm fast selbst körperliche Schmerzen. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, um diese entsetzlichen Schreie nicht mit anhören zu müssen. Mein Gott, er stirbt!, dachte er, und fühlte sich dabei wie ein Verräter. Der Kampf, den Cloud in diesen Momenten mit sich selbst ausfocht, brachte seinen Kopf schier zum Zerplatzen. Er wollte gerade vortreten und Sobek Einhalt gebieten, als dieser plötzlich von selbst inne hielt. Kurz darauf erkannte Cloud den Grund dafür. Wie schon zuvor hatte sich das Dickicht wie durch ein Wunder geteilt. Doch nicht Sobek war der Grund dafür. Es war Aylea, die mit ausgebreiteten Armen vor dem Foronen stand, und ihn mit anklagendem Blick taxierte.
»Hör damit auf!«
Ayleas Stimme vibrierte vor mühsam unterdrückter Wut. Ihr Gesicht war gerötet und ihre schmalen
Lippen zitterten.
»Aylea...«
John Cloud schob sich an Sobek vorbei, hob das Mädchen in die Höhe und trug es auf den Gang
hinaus.
»Was ist passiert? Was hast du die ganze Zeit gemacht?«
In knappen Worten schilderte sie, was sie gesehen und erlebt hatte. Die Episoden aus Jeltos
Vergangenheit, die sie auf telepathischem Wege erfahren hatte, schnitt sie dabei nur kurz an.
Cloud hörte mit wachsender Verblüffung zu und meinte dann:
»Ich verstehe trotzdem nicht, wie es zu diesem Bewuchs kommen konnte.«
Aylea zuckte mit den Schultern.
»In dem Behälter auf Jeltos Tisch müssen sich Pflanzensamen befunden haben. Er hat sie wohl
irgendwie an Bord geschmuggelt. Vielleicht hat er sie aus Skytown mitgehen lassen. Seine
meditative Verschmelzung mit dem Ersten Korn muss die Samen dann zu diesem
unkontrollierbaren Wachstum angeregt haben.«
Cloud nickte und räusperte sich.
Wenn Aylea so sprach, fiel es ihm schwer zu glauben, dass er es mit einer Zehnjährigen zu tun
hatte. Obwohl er wusste, dass der durchschnittliche IQ der Menschen dieser Zeit wesentlich höher
lag als es im 21. Jahrhundert der Fall gewesen war, und bereits Grundschulkinder in Quanten- und
Atomphysik unterrichtet wurden, befremdete ihn ihre Ausdrucksweise zuweilen. Doch es dauerte
selten lange, bis sie wieder irgendetwas tat oder sagte, dass ihn davon überzeugte, dass sie sich doch
nicht so sehr von ihren Altersgenossen von früher unterschied.
Jetzt, wo sie ihn mit großen Kulleraugen traurig ansah, war wieder ein solcher Moment.
»Das Wissen um den Ursprung dieser Anomalie beinhaltet noch keine Lösung für unser Problem«,
gab Sobek zu bedenken.
Cloud blickte zur Decke und sah sich genötigt, ihm zuzustimmen.
Das Pflanzenwachstum hatte noch immer nicht aufgehört. Vielmehr kam es ihm so vor, als würde
es mit jeder Minute schneller voranschreiten. Die Ranken waren bereits meterweit in den Gang
vorgedrungen und bildeten im Sekundentakt weitere Triebe.
Besorgt wandte er sich wieder Aylea zu.
»Kannst du Jelto bitten, damit aufzuhören?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich kann es versuchen, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt ansprechbar ist.«
Mit ausladenden Schritten trat das Mädchen auf die grüne Wand zu - und wäre fast dagegen
gelaufen. Denn anders als zuvor machten die Pflanzen diesmal keinerlei Anstalten, sich vor ihr zu
teilen.
»Jelto. Ich bin es.« Sie sprach so leise als würde sie ohnehin nur mit einem Kontakt auf mentaler
Ebene rechnen.
Als nichts geschah, blickte sie über ihre Schulter und hob die Hände.
»Nun gut«, versetzte Sobek und schob das Mädchen unsanft zur Seite. »Niemand kann sagen, ich
hätte keine Geduld bewiesen.«
»Was hast du vor?« Clouds Frage war überflüssig, da er die Antwort bereits kannte.
Tatsächlich stieß der Forone seinen Arm wieder in das Dickicht hinein, bekam einen besonders
dicken Strang zu fassen und...
... was dann geschah, überraschte wohl Sobek selbst am meisten.
Wie Harpunen schossen sie aus dem Urwald hervor: Vier fingerdicke Ranken, die sich zeitgleich
und in Sekundenschnelle mehrfach um Arme und Beine des Foronen wickelten.
Aylea schrie auf, stolperte rückwärts und presste sich an John Cloud, der seine Arme schützend um
sie schlang.
Mit offenen Mündern beobachteten sie, was weiter geschah.
Die Pflanzenarme zerrten Sobeks Extremitäten auseinander und hoben ihn dann gut einen Meter
über den Boden.
Sobeks Arme und Beine begannen zu zittern, als wollte er seine Fesseln mit bloßer Muskelkraft
sprengen.
Vergebens.
John Cloud schüttelte ungläubig den Kopf.
Die Tatsache, dass selbst die übermenschliche Körperkraft des Foronen der Standfestigkeit dieser
Tentakel nichts entgegenzusetzen hatte, war beängstigend.
Doch falls er geglaubt hatte, dass damit bereits der Höhepunkt des bizarren Schauspiels erreicht
war, belehrten ihn die folgenden Ereignisse eines Besseren.
Es begann damit, dass Sobek den Kopf senkte. Es sah aus als habe er bereits vor der Stärke seines
ungewöhnlichen Gegners resigniert.
Dass genau das Gegenteil der Fall war, zeigte sich Sekunden später.
Es begann mit einem verräterischen Knacken, das von einem Moment zum anderen einsetzte.
John Cloud hörte es nur kurz, dann klangen auch schon wieder die Schreie auf.
Jeltos Schreie.
Sie hörten sich an, als würde ihm bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Cloud verstand, was hier eigentlich vor sich ging. Sobek war
immer noch im Griff der gigantischen Pflanzenstränge gefangen. Doch hilflos - das bewies er auf
eindrucksvolle Weise - war er deshalb noch längst nicht.
»Was passiert hier?«, hauchte Aylea. Angst ließ ihre Stimme vibrieren.
Cloud trat vor. Ihm war nicht entgangen, dass das Pflanzendickicht in Bewegung geraten war.
Jedoch auf eine ganz andere Weise als die Schlingpflanzen, die Sobek angegriffen hatten. Vielmehr
sah es so aus, als würden sie aus verschiedenen Richtungen von einer immensen Kraft aufeinander
zu geschoben. Und dann erkannte Cloud auch den Grund dafür.
»Die Wände...«
»Was ist damit?«
»Sie bewegen sich aufeinander zu. Wie in einer gewaltigen Schrottpresse...«
»Sobek«, sagte Cloud mit finsterer Mine.
Der Hirte musste sich auf mentalem Wege mit der Schiffs-KI kurzgeschlossen und sie zu dieser
Maßnahme angestiftet haben.
Sobeks Strategie schien zu fruchten.
Das lautstarke Bersten von Ästen und Zweigen verriet, dass die Pflanzen dem unnachgiebigen
Kraftakt nichts entgegenzusetzen hatten. Doch nicht nur sie schwebten in unmittelbarer Gefahr,
sondern auch...
»Jelto!«, stieß Aylea aus und wollte sich erneut auf die Kabinentür stürzen, doch Cloud fing sie
gerade noch ab.
»Lass mich! Er muss damit aufhören. Er bringt ihn doch um!«
Mit Armen und Beinen schlug das Mädchen um sich. Cloud hatte alle Mühe, sie zu bändigen.
»Du musst jetzt vernünftig sein!«, schrie er sie an. »Ich werde nicht zulassen, dass Jelto etwas
geschieht. Das verspreche ich dir. Nur bitte, sei vernünftig...!«
Die Worte schienen zu fruchten. Ayleas Bewegungen wurden schwächer, bis sie sich
widerspruchslos absetzen ließ.
Cloud trat auf Sobek zu, der mit noch immer gesenktem Haupt gut einen Meter über dem Erdboden
hing. Er sah aus als sei er in tiefe Meditation versunken. Cloud hoffte, dass es ihm überhaupt
gelang, sich dem Foronen bemerkbar zu machen.
»Sobek!«, rief er mit erhobener Stimme - schon deshalb, um Jeltos markerschütternde Schreie und
das immer lauter werdende Knacken zu übertönen. »Hör auf damit! Du willst Jelto doch nicht
wirklich töten! Wir finden eine andere Lösung.«
Er spürte Ayleas bohrenden Blick in seinem Rücken und bemühte sich, keine Unsicherheit zu
zeigen. Dabei wusste er selbst nicht, wie er sich verhalten würde, sollte er bei Sobek auf taube
Ohren stoßen.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, wenn auch auf eine ganz andere Weise, als Cloud es
sich erhofft hatte.
Die Pflanzen wichen in der immer enger werdenden Kabine zurück, glitten auseinander, schufen
einen Durchgang der vom Eingangsschott bis zur gegenüberliegenden Wand führte.
Cloud entdeckte Jelto, der sich schmerzgepeinigt auf seiner Liege aufbäumte.
Schließlich gerieten die Pflanzenarme, die Sobek umklammert hielten, in zappelnde Bewegung und
zerrten den Foronen ins Innere der Kabine, die noch knapp zwei Drittel ihrer ursprünglichen Größe
besaß.
Die Schiffs-KI reagierte umgehend auf die neue Situation. Die Wände stoppten, als würden sie auf
einen unsichtbaren Widerstand stoßen.
John Cloud setzte zu einem Seufzer der Erleichterung an - doch er blieb ihm im Halse stecken, als
er sah, wie die Pflanzenstränge Sobek in der Luft auf den Rücken drehten
Um besser sehen zu können, trat Cloud weiter vor - und wäre kurz darauf vor Schreck fast wieder
zurückgesprungen.
Rasend schnell teilte sich das Blattwerk auf der linken Seite des Raumes und etwas schoss daraus
hervor. Es sah aus wie ein gewaltiges, weit aufgerissenes Maul, mit mehreren messerscharfen
Zahnreihen. Und es schnellte unmittelbar auf Sobek zu, um ihn bei lebendigem Leibe zu
verschlingen...
Die Szene war so bizarr, dass John Cloud ein Frösteln überkam, das vom Nacken ausgehend durch
seinen ganzen Körper floss.
Der Hirte selbst war noch immer in sich versunken, während er, gehalten von den vier armdicken
Pflanzensträngen, waagerecht und mit dem Rücken nach unten, auf das riesige Maul zuschwebte.
»Was passiert gerade?«, fragte sich Aylea, die an der Wand des Korridors stehen geblieben war und
von den Ereignissen nicht viel mitbekam. Lediglich Johns Reaktion mochte ihr verraten haben, dass
irgendetwas nicht ganz nach Plan verlief.
»Bleib wo du bist!«, herrschte Cloud sie an.
Sobek war nur noch wenige Zentimeter von dem Maul entfernt, als die Situation endgültig
eskalierte.
Cloud hatte sich ganz auf den Foronen konzentriert, deshalb nahm er die Bewegung zunächst nur
im Augenwinkel wahr.
Jelto!
Clouds Blick huschte irritiert in die Richtung des Klons. Doch nicht er, nein, die Pritsche, auf der er
lag, war in Bewegung geraten. Sie war mit nur einem Fuß im Boden verankert. Und genau dieser
Fuß verlängerte sich auf wundersame Weise, sodass die Pritsche mit rasender Geschwindigkeit in
die Höhe schoss, bis Jelto zwischen ihr und der Kabinendecke wie in einem Schraubstock
eingeklemmt wurde.
»Verdammt, Sobek!«
Cloud zweifelte keine Sekunde daran, dass der Forone die Schiffs-KI zu diesem Schritt veranlasst
hatte. Aus der Sicht des Foronen war es freilich verständlich, dass er alles daran setzte, seine Haut
zu retten. Auch wenn die Folgen dieses Vorgehens nicht absehbar waren.
Für Jelto nicht.
Für Sobek nicht.
Und auch nicht für alle anderen an Bord dieses Schiffes.
Clouds Blick hatte sich auf die Unterseite der Pritsche geheftet, als könne er sie mit reiner
Gedankenkraft dazu bewegen, von dem Florenhüter abzulassen.. Von Jelto war, bis auf einen Arm,
der zappelnd über die Kante hing, nichts mehr zu sehen. Cloud hörte nur seinen erstickten
Aufschrei. Es klang, als würde ihm mit immenser Kraft die Luft aus den Lungen gepresst.
»Jelto!«
Jetzt gab es für Aylea kein Halten mehr. Sie stürmte vor, blieb stehen und starrte mit offenem Mund
auf die makabere Szene.
Die Pflanzenstränge hatten Sobeks Körper mittlerweile so weit ins Maul der Pflanze geschoben,
dass diese nur noch zuschnappen musste, um ihn sich einzuverleiben.
Jeltos Schreie wurden derweil immer schwächer und auch das Zucken seiner Hand ließ nach. Es
war vermutlich eine Frage von Minuten, bis den Florenhüter seine Kräfte verlassen und er
unweigerlich zwischen Pritsche und Kabinendecke zermalmt werden würde.
Es war eine Patt-Situation wie Cloud sie sich vertrackter kaum vorstellen konnte. Das Mentalduell,
das Sobek und Jelto sich hier lieferten, konnte keinen Sieger hervorbringen. Nicht, so lange keiner
von beiden bereit war, nachzugeben.
Es war Aylea, die eine Entscheidung traf.
Sie stürmte in die Kabine. Cloud streckte noch seine Hände nach ihr aus, um sie festzuhalten, doch
da war sie ihm auch schon entwischt.
Und dann sah Cloud, worauf das Mädchen zusteuerte.
Es war die Blume, die aus dem Ersten Korn gewachsen war. Sie musste von Jeltos Brust gerutscht
sein, als die Pritsche aufwärts gerast war. Jetzt lag sie auf dem Boden. Ein leuchtend roter Fleck auf
dem nackten Boden.
Unwillkürlich dachte Cloud daran, was ihm das Mädchen vor wenigen Minuten noch erzählt hatte.
Und da verstand er, was die Kleine im Sinn hatte.
Sie sank vor der Blume auf die Knie, streckte ihre Hand danach aus und berührte eines der
Blütenblätter mit der Kuppe ihres Zeigefingers.
Alles Weitere spielte sich auf einer rein geistigen Ebene ab, zu der John Cloud keinen Zugang fand.
Er konnte nur hoffen, dass es der Zehnjährigen gelingen würde, das Schlimmste zu verhindern.
Jelto! Hörst du mich? Aylea kam es vor, als sei sie von einem Moment zum anderen erblindet. Um sie herum war alles
finster. Dunkle Schatten erfüllten ihren - nein, Jeltos Geist, mit dem sie mithilfe des Ersten Korns in
Verbindung getreten war.
Der Florenhüter schwebte in einem Zustand zwischen Ohnmacht und Bewusstsein, das spürte sie
jetzt ganz deutlich. Seine Kräfte waren am schwinden und es konnte nicht mehr lange dauern, bis
sein Lebenslicht endgültig erlöschen würde.
Gleichzeitig war da etwas, dass sich wie ein wucherndes Krebsgeschwür in Jeltos Seele gegraben
hatte und kaum noch zu kontrollieren war.
Etwas, das Aylea niemals mit der Gefühlswelt des Florenhüters in Verbindung gebracht hätte.
Es war Hass.
Unbändiger Hass auf jenes Wesen, das seinen Pflanzen schier unerträgliches Leid zugefügt hatte
und das jetzt dafür büßen sollte.
Jelto!, versuchte sie es noch einmal. Ich bin es! Aylea!
Sie spürte, wie es um sie herum heller wurde, während sie sprach.
Offenbar fielen ihre Worte auf fruchtbaren Boden.
Du musst damit aufhören, Jelto! Sofort verdichtete sich die Dunkelheit wieder. Aylea spürte die Abneigung, die ihr entgegenschlug. Es ist ungeheuer wichtig! Du bringst uns alle in Gefahr!
Plötzlich sah es so aus, als würde sich das Geschwür des Hasses tatsächlich zurückziehen.
Aylea fühlte sich bestärkt. Hörst du, Jelto? Niemand weiß, wie die Schiffs-KI reagieren wird. Wenn
du Sobek tötest, tötest du vielleicht auch andere! Mich eingeschlossen...
John Clouds Fingernägel gruben sich in seine Handballen, als er sah, wie die Pflanzenarme Sobek
aus der Gefahrenzone brachten. Noch wagte er nicht aufzuatmen. Erst als die Stränge den Foronen
zu Boden setzten, klang leise Hoffnung in ihm auf. War es Aylea tatsächlich gelungen, Jelto zur
Vernunft zu bringen?
Es sah ganz danach aus. Die Stränge lösten sich von den Beinen des Foronen.
»Siehst du, Sobek«, sagte John, ohne zu wissen, ob er ihn hörte. »Jelto macht dir ein
Friedensangebot. An deiner Stelle würde ich es annehmen. Sonst... o Sein Blick wanderte zu dem
geöffneten Maul der fleischfressenden Pflanze.
Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah.
Dann, ganz langsam, senkte sich die Pritsche wieder hinab. Doch erst als sie den Boden erreichte,
zogen sich auch die Stränge um Sobeks Arme zurück.
Kurz darauf kam der Forone wieder zu sich.
Und auch Aylea erwachte aus ihrer Trance. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als
sie die Augen aufschlug und Jelto erblickte.
Der Florenhüter wirkte erschöpft, regte sich aber schon wieder leicht.
Sofort war Aylea bei ihm und schlang ihre Arme um seinen Brustkorb.
Auch Cloud trat vor seine Pritsche. Gerade rechtzeitig, um bei ihm zu sein, als Jelto die Augen
öffnete.
»Gut gemacht«, sagte John leise, und meinte damit beide. Jelto und Aylea.
»Darf ich die Augen aufmachen?«, fragte Aylea ungeduldig.
»Noch nicht. Einen Moment...«
Die Zehnjährige seufzte. Nach ihrem Empfinden hatte Jelto sie ohnehin schon viel zu lange
hingehalten, bis er ihr endlich Zugang zu seinem neuen Reich gewährt hatte.
Nicht, dass er ihre Anwesenheit als störend empfunden hätte. Er hatte einfach darauf bestanden,
dass bei ihrem ersten Besuch alles perfekt war.
»Jetzt darfst du«, sagte er schließlich.
Aylea öffnete die Augen - und strahlte über das ganze Gesicht. Wohin sie auch sah, überall
erblickte sie Blumen, Sträucher, Farne und sogar kleine Bäumchen.
»Es ist wunderschön.«
»Nicht wahr?«, sagte Jelto stolz und strich über eine Knospe, die unter der Berührung sofort
erblühte.
Der Florenhüter konnte es noch immer kaum glauben, dass Sobek ihm tatsächlich einen eigenen
Bereich zur Verfügung gestellt hatte. Einen hydroponischen Garten, in dem er nach Herzenslust
Zwiesprache mit seinen Pflanzen führen konnte.
Ganz uneigennützig war die Entscheidung des obersten der Foronen freilich nicht gewesen. John
Cloud hatte ihn in einem langen Gespräch davon überzeugt, dass sich die Begabung des
Florenhüters möglicherweise noch einmal als ungeheuer wertvoll erweisen würde.
Aylea ließ sich gegenüber von Jelto auf den Boden sinken und sah ihn über die Blume hinweg an.
Der Florenhüter spürte, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Er sprach sie darauf an.
»Ich habe mich nur gefragt, ob du jemals wieder etwas von Kirko gehört hast«, sagte sie.
Jelto senkte den Kopf.
»Nein. Der Alte hat Recht behalten. Wir haben uns nie wieder gesehen.«
»Und was war mit diesem Buch? Hast du irgendwann erfahren, was darin stand?«
»Leider nicht. Ich habe lange nicht mehr darüber nachgedacht. Wahrscheinlich hat Kirko sein
Geheimnis mit ins Grab genommen.«
»Schade«, sagte sie leise.
»Ja. Sehr schade.«
Für einen kurzen Moment verspürte er noch einmal dieselbe Trauer, die er empfunden hatte, als
Kirko damals abgeholt worden war.
Doch dann, ganz plötzlich, lächelte er. Nicht, weil er Kirko nicht mehr vermisste, oder ihm sein
Schicksal auf einmal egal gewesen wäre.
Nein, ihm war nur soeben klar geworden, dass der alte Mann, wo auch immer er sich gerade
aufhielt, verdammt stolz auf ihn sein musste.
Verständnislos starrten John Cloud und Scobee auf den Schmiegschirm der Zentrale, auf dem im Sekundentakt irgendwelche Meldungen aufblitzten, deren Sinn sich ihnen entzog. Lediglich Sobeks und Siroonas Verhalten entnahmen sie, dass etwas Unvorhergesehenes eingetreten sein musste. Sie standen ein paar Schritte von ihnen entfernt. Und obwohl es keine äußeren Anzeichen dafür gab, war John davon überzeugt, dass sie sich gerade auf telepathischem Wege austauschten. Eigentlich hatten die beiden Menschen die Zentrale aufgesucht, um sich noch einmal bei Sobek für die Güte zu bedanken, die er Jelto gegenüber an den Tag gelegt hatte.
Gerade hatten sie den Florenhüter noch in seinem neuen Garten besucht und dabei den Lebensmut
gespürt, der ihn seit kurzem wieder beseelte.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Cloud, nachdem sie eine Weile schweigend neben den Foronen
gestanden hatten.
Trotz seines Rundumblicks wandte sich Sobek ihm zu.
»Ich würde es eher als ungewöhnliches Phänomen bezeichnen.«
»Könntest du das näher erläutern?«, fragte Scobee.
Siroona antwortete an seiner statt:
»Die Schiffs-KI hat eine Ansammlung größerer Objekte im Grenzgebiet der Großen Magellanschen
Wolke geortet. Wir empfangen schwache, aber doch verwertbare Signale künstlichen Ursprungs,
deren Quelle noch etwa 50000 Lichtjahre entfernt ist.«
»Das bedeutet...?«
»Nun... Da wir sie aus dieser Entfernung bereits orten können, müssen wir davon ausgehen, dass die
Objekte wirklich gewaltig sind.«
»Könnten es Schiffe der Virgh sein?«, fragte Cloud mit sorgenvollem Blick.
»Bis vor kurzem mussten wir noch damit rechnen. Dann erhielten wir eine detailliertere
Auswertung der Signale und...«
Sobek verstummte kurz, sprach dann weiter.
»Ich bekam soeben eine Bestätigung der letzten Analyse. Damit steht fest, dass die Signale
höchstwahrscheinlich foronischen Ursprungs sind.«
Cloud runzelte die Stirn.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht«, gab der Hirte zu. »Aber wir werden es herausfinden. Ich habe der Schiffs-KI
soeben befohlen, die Koordinaten anzusteuern...«
ENDE
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