Jetzt fängt mein Leben an!
Carolin Zane
Bianca 1279 20 - 2/01
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almutK.
1. KAP...
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Jetzt fängt mein Leben an!
Carolin Zane
Bianca 1279 20 - 2/01
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almutK.
1. KAPITEL Charlotte Beauchamp hatte ein Schwein am Hals. Nicht irgendeinen Chauvi, nein, sie hatte ein echtes Schwein am Hals. Und zwar ein kleines Hängebauchschwein, das sich grunzend im Matsch wälzte, wann immer es die Gelegenheit dazu fand, und eine ekelerregende Mischung aus Resten zum Frühstück fraß. „Wie bitte?" Miss Clarise Brubaker, eine entfernte Tante von Charlotte, war entgeistert. „Was hat Tante Dorothy getan, bevor sie starb?" Charlotte seufzte. „Sie hat mir ein Schwein hinterlassen." Miss Clarise und Big Daddy, mit dem sie seit über vierzig Jahren verheiratet war, tauschten einen ungläubigen Blick. „Ein ... Schwein?" „Genau so ist es." „Nur dieses Schwein?" „Bis auf weiteres, ja." Die drei saßen im Salon des weitläufigen alten Herrenhauses der Brubakers, das noch aus Zeiten vor dem Bürgerkrieg stammte. Das warme Licht der Nachmittagssonne fiel durch die Fenster, die vo m Boden bis zur Decke reichten, und glänzte schimmernd auf dem kostbaren Kristallleuchter und dem silbernen und goldenen Kunsthandwerk. Zwischen den Fenstern standen Statuen aus Marmor. Die langen weißen Stores bauschten sich in der leichten Brise, die über die endlosen Ländereien der Circle BO Ranch in Texas strich. Obwohl sie nur entfernt mit ihnen verwandt war, hatten der reiche Ölmagnat und seine Frau ihr immer das Gefühl vermittelt, zu ihrer weitläufigen Familie dazuzugehören. Sie hatten neun längst erwachsene Kinder und eine Schar von Enkelkindern, Neffen und Nichten. Charlotte mochte die beiden sehr gern. Ungläubig lehnten sich die beiden vor. „Meine Tante Dorothy hat dir ein Schwein vermacht?" Klappernd stellte Miss Clarise ihre Teetasse auf dem Silbertablett ab. Sie rang sichtlich um ihre Fassung. „Aber Darling, da deine Eltern nicht mehr leben, bist du als ihre Urgroßnichte ihre einzige Erbin! Und deine Nanna Dorothy war reich!" „Ziemlich reich", bemerkte Big Daddy. „Ich kann nicht glauben, dass sie so herzlos war! Besonders wenn man bedenkt, dass du sie die letzten zehn Jahre gepflegt hast und dafür dein eigenes Leben völlig zurückgestellt hast. Bestimmt kann man das Testament anfechten. Sie war ganz sicher nicht mehr ganz bei sich, wenn sie dir nur ein ... ein Schwein hinterließ!" „Nun ja, Miss Clarise, in gewisser Weise hat sie mir tatsächlich ihr ganzes Vermögen vererbt. Im Testament gibt es einen Abschnitt, der besagt, dass ich Toto adoptieren muss, wenn man das so sagen kann, und ihn aufziehe, als wäre er mein eigener Sohn." „Toto?" „Das Schwein." „Ich verstehe." Miss Clarise fehlten die Worte. „Ja. Nanna Dorothys Anwesen wird bald verkauft, und der Erlös wird mitsamt dem restlichen Vermögen treuhänderisch verwaltet werden. Ich werde alles erben, aber nur dann, wenn ich verspreche, diesen ... äh ... Toto bis zu seiner letzten Stunde zu lieben, zu ehren und mich in seine Dienste zu stellen, solange er lebt." Bei dem Gedanken an das abscheuliche Tier rümpfte sie die Nase. „Wenn er eines na türlichen Todes stirbt, dann wird der beträchtliche Fonds an mich überschrieben." Miss Clarise befingerte abwesend ihre diamantene Brosche. „Du meine Güte. Der Himmel möge verhindern, dass Toto ein Unglück zustößt." „Ganz richtig. Toto ist sein Gewicht in Gold wert, Hauptsache er stirbt an einer natürlichen Ursache." Charlotte straffte sich. „Unglücklicherweise ist er noch ziemlich jung, es wird also noch eine Weile dauern. Das heißt, ich muss mich nach einem Job
umsehen. " „Was hast du vor?" Charlotte versuchte, ihre Sorgen zu überspielen. „Ich weiß es noch nicht genau. Ich bin ja direkt vom Internat gekommen, um Nanna Dorothy zu pflegen. Ich habe keine richtige Ausbildung, und ehrlich gesagt hätte ich nach zehn Jahren Altenpflege Lust, mal etwas anderes auszuprobieren. Nur was? Keine Ahnung." Sie schob sich das dichte lockige Haar aus dem Gesicht und warf es über die Schultern. „Aber ich mache mir keine Sorgen", flötete sie in der Hoffnung, zuversichtlich zu klingen, „ich werde schon auf den Füßen landen. Das tun wir Beauchamps immer." Sie schenkte Miss Clarise, die vor ihrer Heirat mit Big Daddy eine Beauchamp gewesen war, ein bezauberndes Lächeln. „Um ehrlich zu sein, um das Erbe mache ich mir keine Sorgen. Wenn ich es bekomme, schön. Wenn nicht, werde ich schon irgendwie klarkommen. Ich hoffe, die nächsten Jahre zu überstehen, ohne Toto in Honigkruste auf dem Weihnachtstisch servieren zu müssen." „Ich glaube kaum, dass Nanna Dorothy das im Sinn hatte, als sie dir die Fürsorge für das Tier übertragen hat", meinte Miss Clarise. „Glaubst du, es gibt einen Grund für dieses ungewöhnliche Testament?" überlegte sie laut. Charlotte schüttelte den Kopf. „Schwer zu sagen. Sie betete Toto an und behandelte ihn wie ein Kind. So wie manche Leute ihre Hunde behandeln. Sie wusste sehr genau, dass ich eine gute Pflegerin war, aber sie wusste auch, dass ich nicht der Typ für Tiere bin. Und deswegen bin ich auch hier." Charlotte wandte sich an Big Daddy. „Totos Tierarzt hat deinen Neffen Tex erwähnt." „Ja, er lebt hier auf der Circle BO und ist der Sohn meines Bruders." „Bestens. Der Tierarzt sagte, er hätte einen guten Ruf als Tiertrainer. Besonders von Farmtieren. Es heißt, er könne selbst das wildeste Tier in ein frommes Lamm verwandeln." Big Daddy nickte. „Das stimmt. Er konnte schon mit Pferden umgehen, da reichte er mir kaum bis zu den Knien. Er hat eine gut gehende Praxis hier auf der Ranch, draußen hinter den Stallungen. Inzwischen arbeitet er außerdem immer öfter an Forschungsaufträgen für die Universität. Tex ist sozusagen ein Psychologe für Tiere." „Oh? Hmm. Ich brauchte wohl eher einen Exorzisten." Charlotte seufzte auf und ließ sich in die weichen Sofakissen zurücksinken. „Ich bin ziemlich sicher, dass Toto vom Teufel besessen ist." Mit einem Stöhnen rieb sie sich die Schläfen. „Wahrscheinlich dachte sich Nanna Dorothy, das würde alles ein riesiger Spaß werden." „Charlotte, Schätzchen, verzeih, dass ich mir Sorgen mache, aber was willst du denn machen, ohne Haus und Einkommen und ohne Berufsausbildung?" sorgte sich Miss Clarise. „Oh, ich komme schon zurecht. Eigentlich freue ich mich sogar darauf, endlich einen richtigen Job zu suchen und neue Leute kennen zu lernen. Bei Nanna Dorothy hatte ich dazu nie Gelegenheit." Sie lächelte wehmütig. „In den nächsten Tagen suche ich mir in Hidden Valley ein Apartment. Vielleicht finde ich ja etwas Günstiges, wo die Vermieter nichts gegen ein Schwein haben." Big Daddy lachte laut auf. „Still, Big Daddy", wies seine Frau ihn zurecht, dann ergriff sie Charlottes Hand. „Charlotte, Kind, du ziehst hier bei uns ein. Unsere Kinder sind alle verheiratet und aus dem Haus, da wäre es doch schön, wenn wir wieder Gesellschaft hätten. Du kannst dir eine von mindestens fünf leeren Suiten aussuchen." Sie sah ihren Mann an. „Nicht wahr, Sugar?" „Ganz recht, mein Küken." Charlotte traten - gegen ihren Willen - Tränen in die Augen. Die beiden waren immer so nett und großzügig. Sie blinzelte die Tränen weg und holte tief Luft. „Oh, danke für euer liebes Angebot, aber das kann ich einfach nicht annehmen." Big Daddy brummte. „Natürlich kannst du das. Ich lasse nicht zu, dass du in dem alten
Haus bleibst, bis es verkauft wird. Du ziehst hier ein, dann kannst du alles in Ruhe angehen. Keine Widerrede." Charlotte hatte einen Kloß im Hals. Die Fürsorge der beiden überwältigte sie. "Na gut", sagte sie leise und holte tief Luft. „Aber nur, bis alles geregelt ist. Dann will ich ... nein, dann muss ich selber klarkommen. Ich muss mir beweisen, dass ich auf mich selbst aufpassen kann." „Das verstehe ich." Big Daddy nickte anerkennend. „Aber ..." Charlotte sah ihre beiden Wohltäter verlegen an. „Ihr wisst, dass ich nur mit Toto einziehen kann, nicht wahr?" „Natürlich", versicherte Miss Clarise. „Gar kein Problem. Wir haben viel Platz, und sicher nimmt Tex ihn gern als Patienten auf." Vielleicht ist Miss Clarise zu voreilig, dachte Charlotte. Vielleicht war das Schicksal gegen sie. Vielleicht war es das Ziel dieses grässlichen Satansbratens Toto, ihr das Leben zur Hölle zu machen, denn gerade in dem Augenblick, als sie alle drei friedlich bei Tee und Keksen saßen, stürmte genau dieser scheußliche, sabbernde Derwisch wie eine rollende Tonne in den Salon. Hinter ihm donnerte ein finsterer Cowboy herein und blieb direkt vor der Sitzgruppe stehen. Er nickte Charlotte kurz zu, bevor er sich an die beiden anderen wandte. „Miss Clarise, Big Daddy, tut mir Leid, dass ich euch stören muss, aber ich habe dieses arme Schwein halbtot draußen in einem Auto gefunden. Irgendein Schwachsinniger hat es dort eingesperrt." Charlotte sprang wütend auf. Schwachsinniger? Sie warf dem arroganten Rancharbeiter einen vernichtenden Blick zu, bevor sie hinter Toto herrannte, der die Ecken des weitläufigen Salons beschnüffelte. „Oh, Miss Clarise, es tut mir so Leid, dass er rausgekommen ist", stieß sie atemlos hervor und verfehlte um ein Haar den Ringelschwanz der borstigen Rakete, die kehrtmachte und nun unter dem Teetisch zugange war. Wieder entwischte Toto ihrem Zugriff. „Ich komme für allen Schaden auf, den er anrichtet." „Das ist Ihr Schwein?" Der Cowboy schob sich den Stetson in den Nacken und grinste. „Ja", gab Charlotte bissig zurück und zerrte Toto am Halsband unter dem Tisch hervor, wobei sich allerdings der Inhalt einer Teetasse über den edlen Perserteppich ergoss. Toto quiekte wie die Reifen eines frisierten Rennwagens. Charlotte schenkte Miss Clarise und Big Daddy ein entschuldigendes Lächeln. „Ich bringe ihn nur schnell zum Auto zurück", brachte sie atemlos hervor. „Was?" Der arrogante Cowboy mit den unglaublichen Grüb chen stützte die Hände in die schmalen Hüften und bedachte sie mit einem Blick, als wäre sie eine Schwerverbrecherin. „Da draußen herrschen fast vierzig Grad. Wenn Sie das ernst meinen, dann hole ich einen Bratspieß. Bis heute Abend sollte der Festschmaus gar sein." Sein sarkastischer Tonfall verstärkte Charlottes Ärger nur noch. Erbost suchte sie in ihrer Handtasche nach der Leine und stürzte hinter Toto her, der ihr schon wieder entwischt war. Festschmaus? Sehr lustig. Dieser Typ hatte überhaupt kein Recht, so mit ihr zu reden. Sie war doch kein Kind! Sondern sehr wohl in der Lage, auf dieses widerwärtige Tier aufzupassen. Angesichts dieses herablassenden Mannes und Toto, der drauf und dran war, vor den samtenen Vorhängen sein Geschäft zu verrichten, stieg ihr Blutdruck gefährlich an. „Nein!" Sie scheuchte Toto weg. „Böses, böses, böses Schwein!" Charlotte spürte förmlich, wie der Cowboy hinter ihrem Rücken die Augen rollte, und hätte ihm am liebsten seine perfekte, arrogante Nase eingeschlagen. Aber bevor sie noch richtig in Versuchung kommen konnte, zerrte der mittlerweile ange leinte Toto sie zu einer gigantischen Topfpalme, deren Erdreich er mit seiner Schnauze klumpenweise in
hohem Bogen auf dem Boden verteilte. Charlotte wäre am liebsten vor Scham und Ärger im Erdboden versunken. „Nein, Toto, nein!" schrie sie. Auf Knien rutschend schippte sie die Erde mit den Händen wieder in den Topf zurück, von wo Toto sie genauso schnell wieder ausbuddelte. „Es tut mir furcht bar Leid! Normalerweise benimmt er sich nicht so unmöglich." „Wahrscheinlich liegt es daran, dass Sie ihn im Auto eingeschlossen haben." Charlotte kam schwankend wieder auf die Füße. Angriffslustig strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und starrte den Unbekannten an. Kein Wunder, dass er sich so gut mit diesem Schwein versteht, dachte sie. „Die Tür war nicht abgesperrt." Er gab einen verächtlichen Laut von sich. „Das ist ja sehr hilfreich für ein Huftier!" „Ich habe den Wagen im Schatten geparkt!" „Inzwischen steht er in der Sonne", bemerkte der Cowboy eisig. Nur weil Miss Clarise und Big Daddy die Szene so interessiert verfolgten, beschloss Charlotte, ihre guten Manieren nicht zu vergessen. „Ich habe die Fenster einen Spaltbreit offen gelassen und ihm Wasser hingestellt." „Hatten." Er hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen und trat einen Schritt auf sie zu. „Er hat es verschüttet." „Das sieht ihm ähnlich", zischte Charlotte. Mit aller Kraft zog sie Toto von dem Blumentopf weg und band die Leine an das Gitter, das den Kamin zierte, bevor sie sich wieder an den Mann wandte. „Aber selbst dann sollte es kein Problem sein. Ich habe den Motor laufen lassen, damit die Klimaanlage an war.“ „Das Benzin ist alle." Das Geräusch des Kamingitters, das über den Mahagoniboden schleifte, ließ Charlotte herumfahren. „Nein!" Entsetzt registrierte sie die Schleifspuren auf dem glänzenden Parkett. Die Idee mit dem Festschmaus wurde ihr immer sympathischer. Nach einem kurzen Kampf gelang es Charlotte unter den befremdeten Blicken der anderen, das teuflische Schwein loszubinden. Kaum frei, flitzte es mit Charlotte im Schlepptau durch den Raum, schnüffelte überall, warf etliche Antiquitäten um und war auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für sein Geschäft nicht zu bändigen. „Toto, nein!" Hilflos sah Charlotte zu, wie er in eine Porzellanvitrine krachte, die voll mit kostbaren Nippsachen war. „Er ist stubenrein, wirklich! Ich habe keine Ahnung, warum er sich so benimmt", entschuldigte sie sich zu Miss Clarise gewandt. Der Cowboy grinste. „Es ist doch sonnenklar, wieso." Charlotte kochte. „Wer sind Sie überhaupt?" Miss Clarise erhob sich, um die Situation zu entschärfen. „Charlotte, Liebes, darf ich dir meinen angeheirateten Neffen Tex Brubaker vorstellen, Tex, das ist Charlotte Beauchamp, eine entfernte Nichte von mir, und das heißt, dass ihr ... nun, nicht im Geringsten miteinander verwandt seid. Zu schade!" „Eigentlich gar nicht." Tex warf einen gelangweilten Blick auf Charlotte. „Sie sind Tex Brubaker?" Charlotte seufzte tief auf. Miss Clarise und Big Daddy tauschten einen viel sagenden Blick aus. „Miss Clarise, es tut mir alles so Leid ..." Charlotte deutete auf das Schwein, das am anderen Ende der Leine auf und ab tänzelte und ihre Kräfte auf eine echte Probe stellte. „Big Daddy, verzeih mir." „Nichts zu verzeihen, Kindchen. Tex, bring diese Schinkenschwarte raus in deine Hütte und gib ihm was Kaltes zu trinken." Big Daddy packte Toto am Nacken und schob ihn gewalt sam zu seinem attraktiven Neffen. „Wir schicken dir Charlotte rüber, wenn wir fertig sind mit unserem Gespräch." Tex erlaubte sich, Charlotte kurz von Kopf bis Fuß zu mustern. Dann nahm er die Leine, und auf ein einziges Wort von ihm legte Toto sich folgsam zu seinen Füßen auf den Boden. Charlotte kochte innerlich. Anfängerglück! Toto war jetzt erschöpft, aber sie sollten
nur warten, bis er wieder Aufwind bekam. Dann würden sie schon sehen, wie ruhig und unerschüt terlich dieser ... dieser Tierpsychologe war. „Und, Tex, Darling", Miss Clarise trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den beachtlichen Bizeps, „Charlotte wird eine Weile bei uns wohnen, bis sie Arbeit und eine Wohnung in Hidden Valley gefunden hat. Es wäre mir ein Anliegen, wenn du Charlotte und ihren ... ihren Toto als Patienten annimmst. Im Gedenken an meine verstorbene Tante Dorothy, die dieses Tier wie ein Kind liebte und sein Wohlergehen testamentarisch unserer Charlotte hier anvertraut hat." Tex' steinerne Miene wurde sanfter, als seine Tante ihm zublinzelte. „Für dich mache ich doch alles", sagte er liebevoll und gab ihr einen leichten Kuss auf die Schläfe. Zu Charlotte sagte er kühl: „Wir sehen uns später." Charlotte nickte. Und zu ihrem größten Entsetzen und Erstaunen trottete Toto auf einen Pfiff von Tex hin fröhlich hinter ihm aus dem Salon. „Komm, Schwein." Tex machte es sich auf einer Bank unter einem schattigen Baum, der innerhalb des Trainingareals seiner Praxis stand, bequem, stützte die Ellbogen auf die Knie und bot Toto einen Apfelschnitz an. Das Schwein zermalmte ihn eifrig zwischen den Zähnen und stupste Tex in der Hoffnung auf mehr an. Tex grinste und schnitt mit einem Taschenmesser noch ein Stück ab. Eine heiße Brise wirbelte etwas Staub auf, und in der Ferne hörte man Rinder muhen, die von einer Weide auf die nächste getrieben wurden. Nach diesem hektischen Tag genoss Tex die Ruhe. Totos feuchte Schnauze zitterte leicht in der Luft. Mit einem flehenden Blick aus seinen kleinen Augen sah er Tex' Hand an. Bei den gierigen Grunzern, die er von sich gab, musste Tex laut auflachen. „Du magst süße Sachen. Kein Wunder, dass du deine neue Herrin nicht leiden kannst. Sie ist so sauer wie ein unreifer Pfirsich." Er kicherte über seinen eigenen Witz und kraulte das schmatzende Tier am Kopf. Charlotte Beauchamp. Ein hartes Stück Arbeit. Sie war genauso aufgeblasen wie ihr Name. Kaum zu glauben, dass sie mit Miss Clarise verwandt war. Langsam schüttelte er den Kopf. Wer hatte so was schon erlebt, dass man ein Tier an einem so heißen Tag allein im Auto lässt? Es war klar, dass sie kein bisschen Verstand hatte. Na gut, sie hatte zwar Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, das musste er zugeben. Aber es hätte trotzdem schief gehen können. Eine Stunde später wäre der alte Toto ein To-Toast gewesen. „Bitte sehr." Tex griff in die Tüte neben sich auf der Bank und schnitt den nächsten Apfel in zwei Hälften. Freundlich schob er das Schwein etwas zurück, um seine Flanke besser tätscheln zu können. Er liebte alle Arten von Tie ren. Hässliche, süße, große, kleine - für ihn waren alle gleich. Das war so gewesen, solange er denken konnte. Seine Mutter erzählte immer wieder gern, wie er den Familienhund satteln und darauf reiten wollte, bevor er noch den Windeln entwachsen war. Tex hatte nichts übrig für Menschen, die Tiere nicht respektierten. Selbst wenn es eine Verwandte von Miss Clarise war. Eine mit dichtem, honigbraunem Haar und blauen Augen, die wie Feuerwerkskörper funkelten, wenn sie wütend war, und Beinen, so lang, als wollten sie überhaupt nicht mehr aufhören. Er hatte einen ziemlich guten Eindruck von diesen Beinen unter dem Rock bekommen, während sie mit dem Schwein gekämpft hatte. Und tatsächlich wäre er ihr früher zu Hilfe ge kommen, wenn er nicht so fasziniert von ihnen gewesen wäre. Ja, sie war tatsächlich beeindruckend. Aber Aussehen spielte keine Rolle. Für Te x zählte, wie ein Mensch hilflose Kreaturen behandelte. Babys, alte Menschen, Schwache und, ja, auch Tie re. Tex hatte für alle eine weite Seele. Und im Moment lagen ihm Tiere am meisten am Herzen. Wahrscheinlich würden sie irgendwann von Babys abgelöst
werden. Wenn er Glück hatte. Was die streitsüchtige Charlotte Beauchamp betraf, hätte er den ungezogenen Toto gerade so gelassen, wie er war. Geschähe ihr recht. Verzogenes reiches Gör. Wahrscheinlich hatte sie ihr ganzes Leben noch nichts gearbeitet. Na gut. Um seiner Tante willen würde er es tun, und zwar richtig. „So." Tex schnitt Toto noch eine weitere Scheibe Apfel ab. „Du hast Charlotte Beauchamp also geerbt, wie?" Toto grunzte. „Ja, ja. Ganz deiner Meinung." Miss Clarise und Big Daddy sahen Charlotte durch die Fenster des Salons nach. Sie ging an dem Springbrunnen vor dem Haus vorbei zu dem Pfad, der von einer Buchsbaumhecke gesäumt war und auf die Stallungen zuführte, wie es die beiden ihr beschrieben hatten. „Sie hat ganz schön Mut", murmelte Big Daddy, der hinter seiner Frau stand und ihr jetzt die Hände um die Taille legte. „Sie ist eine Beauchamp." „Ganz genau. Erinnert mich an eine andere tolle Frau, die ich kenne." Miss Clarise drehte sich zu ihm um. „Oh, Big Daddy. Du bist immer noch so ein Charmeur." Sie legte ihre Nase an seine. „Habe ich mir das nur eingebildet, oder war da was zwischen den beiden?" „Nun, er ist ein Brubaker und sie eine Beauchamp. Ich würde sagen, da gibt es nicht viele Möglichkeiten." „Hmm. Ich denke an eine Hochzeit im Freien." „Ja. Und ich habe irgendwie den Eindruck, sie legen Wert auf einen Festschmaus." „Ich mach mir schon mal Notizen."
2. KAPITEL
Noch nie in ihrem Leben hatte Charlotte Beauchamp eine eindeutigere Abneigung gegen jemanden empfunden als gegen Tex Brubaker. Es war Hass auf den ersten Blick. Immer noch vor Empörung zitternd, verfluchte sie diesen arroganten Cowboy im Stillen, während sie dem Pfad zu der Praxis hinter den Stallungen folgte. Wie konnte ein so liebenswür diger Mann wie Big Daddy Brubaker so einen Widerling zum Neffen haben? Kein Wunder, dass Tex mit Tieren so gut klarkam - er war selbst eins. Vor Big Daddy und Miss Clarise hatte er sie als - Charlotte atmete hörbar aus und ballte die Hände - herzlose Tierquälerin hingestellt. In ihrem ga nzen Leben war sie noch nie so gekränkt worden. Es stimmte zwar, dass sie nicht übermäßig begeistert von Toto war - auch von anderen Tieren nicht -, aber sie würde ihm nie absichtlich etwas antun. Bei dem bloßen Gedanken röteten sich ihre Wangen. Ja, Charlotte wusste Bescheid, was den lieben Tex anging. Er war einer von diesen armen Spinnern, die behaupteten, auch Tiere seien Menschen, und die sich im Namen der Wissenschaft in die Psyche von Eichhörnchen oder Schnecken vertieften. Wie viele Steuergelder wo hl jedes Jahr für diesen Blödsinn verschwendet wurden? Schade, dass Tex nicht achtzig Jahre früher auf die Welt ge kommen war. Die launische alte Nanna Dorothy hätte an seinem speziellen Umgang mit Tieren ihre helle Freude gehabt. Er war beleidigend, arrogant und unverschämt. Aber - so sehr Charlotte ihn auch ablehnte, sie musste zuge ben, dass er gut aussah. Sie hätte blind sein müssen, um diese blitzenden smaragdgrünen Augen und die Grübchen nicht zu bemerken. Unter seinem Cowboyhut wellte sich schwarzes Haar, das ihm ungebändigt in die Stirn fiel und höchst anzie hend auf Charlotte wirkte. Und er hatte einen Körperbau, Mamma mia! Das aufgeknöpfte Westernhemd hatte den Blick auf ein eng anliegendes T-Shirt freigegeben, das sich über einen mächtigen Oberkörper und einen Waschbrettbauch spannte. Die abgetragenen Jeans passten ihm wie angegossen, und sein lässiger Gang war einfach sexy. Nicht, dass Charlotte sich für ihn auch nur im Geringsten interessiert hätte. Schließlich war er ein Idiot, egal, wie er aussah. Da sie es nicht besonders eilig hatte, den Mann oder ihr Schwein wieder zu sehen, spazierte sie langsam an der baumge säumten Auffahrt entlang zu der modernen und überraschend beeindruckenden Praxis für Tierpsychologie. Einen Augenblick lang dachte sie ernstlich darüber nach, auf dem Absatz kehrtzumachen. Allein die Idee, Tex wieder zu sehen und sich einen weiteren selbstgefälligen Vortrag über die Pflege und psychologische Behandlung eines Schweins anhören zu müssen, war so abstoßend wie die Vorstellung, sich mit dem grässlichen Tier für die nächsten Jahre einzurichten. Kein Erbe dieser Welt konnte diesen Ärger aufwiegen. Auf der anderen Seite war Charlotte dem Erbe nicht abgeneigt, denn sie lebte durchaus gern in einem gewissen Komfort. Mit einem müden Seufzer hob sie die Hand, um die Augen ge gen die Mittagssonne abzuschirmen. Sie konnte Tex und Toto bereits in einer Art Einzäunung sehen. Als sie sich näherte, begannen Hunde aller Rassen und Größen zu bellen. Charlotte war dankbar, dass sie sich alle in einem gut verschlossenen Zwinger befanden. Sie mochte Hunde fast genauso wenig wie Schweine. Tex blickte hoch, als sie in einiger Entfernung stehen blieb. Er hatte das Hemd ausgezogen und sich die Ärmel des engen T-Shirts über die stählernen Oberarmmuskeln geschoben. Charlotte schluckte. Bei Nanna Dorothy hatte sie ein sehr behütetes Leben geführt. Und die verschiedenen Männer, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte, konnten Tex nicht das Wasser reichen, wenn es um seine männliche Ausstrahlung ging. Sie war geradezu überwältigend.
Ja, animalisch. Kein Wunder, dass er in diesem Beruf arbeitete. Er war bestimmt so wild und unkontrollierbar wie die ungezähmten Pferde, die auf der Koppel drüben tänzelten. Während die Hunde im Zwinger wild anschlugen und ihre Blicke sich trafen, hielt Charlotte Moment lang inne, unentschlossen, ob sie fliehen oder kämpfen sollte. Ohne den Blick von ihr zu wenden, befahl Tex den Hunden, ruhig zu sein. Wundersamerweise gehorchten sie ihm augenblicklich. Charlotte trat einen Schritt zurück, um eventuell doch noch die Flucht ergreifen zu können. „Also", rief er, „Sie glauben, Sie könnten es lernen, mit einem Schwein umzugehen?" Na schön, dann also Kampf. Sie straffte die Schultern und ging mit hoch erhobenem Kopf über den Weg zum Zaun. Trotzig sah sie Tex direkt ins Gesicht. „Oh, ja", antwortete sie zuckersüß. „Sogar mit Toto." Missbilligende Grübchen erschienen auf seinem Gesicht. Die vollen Lippen enthüllten makellos weiße Zähne. Charlottes Herz machte einen verräterischen Satz. „Touche", murmelte er. Einen winzigen Moment lang leuchteten seine Augen anerkennend auf. Er schob den Strohhalm, an dem er kaute, von einem Mundwinkel in den anderen und nickte mit dem Kopf zu einem Gatter. „Es ist offen." Charlotte folgte seiner Einladung. Innerhalb der Abzäunung sah sie, dass das Areal in verschiedene Trainingszonen aufgeteilt war. Manche waren asphaltiert, auf manchen lag Kies, lagen Holzspäne oder Gras. Alle möglichen Hilfsmittel, augenscheinlich für Hundetraining, lagen unaufgeräumt herum, als hätte sie jemand liegen lassen, um ein rasendes Schwein zu retten. Unsicher näherte sich Charlotte Tex, der breitbeinig auf der Bank saß, und setzte sich unter seinem durchdringenden Blick ans andere Ende. „So. Sie ziehen also hier ein, wie?" Sie nickte. „Morgen." Er brummte. „Ihre Begeisterung ist ja überwältigend." „Die Idee reißt mich nicht gerade vom Hocker." „Das habe ich auch nicht erwartet." „Ich werde Ihr Tier trainieren, um Miss Clarise einen Gefallen zu tun." Es klang absolut nicht begeistert. „Was Ihre Motive betrifft, habe ich keine Zweifel." „Gut. Also werden Sie hoffentlich nicht beleidigt sein, falls ich aufgeben sollte." „Wieso sollten Sie aufgeben?" Charlotte hoffte, ihr überlege nes Grinsen entging ihm nicht. Sie konnte sich nicht zurückhalten: „Bezweifeln Sie vielleicht, dass Sie einem schlichten Schwein etwas beibringen können?" fragte sie eine wenig spöttisch. „Um das Schwein mache ich mir keine Sorgen." Er zuckte die Schultern und schnitt wieder einen Apfelschnitz für den hungrigen Toto herunter. „Ich glaube, es könnte in kürzester Zeit zur Räson gebracht werden." „Wo liegt dann das Problem?" „Bei Ihnen." „Bei mir?" Charlotte deutete auf sich und lachte ungläubig. „Was meinen Sie denn damit?" „Ich glaube, Sie haben nicht das Zeug dazu." „Sie reden um den heißen Brei herum. Wozu soll ich nicht das Zeug haben?" „Um mit einem Tier richtige Fortschritte zu machen, muss auch der Besitzer bereit sein zu lernen, sonst braucht man gar nicht erst anfangen. Die Erziehung verlangt auch Ihnen einiges ab, und ich habe nicht den Eindruck, dass Sie die Zeit, das Ta lent oder auch nur die Lust dazu haben." „Ich habe nicht die Zeit... das Talent...", sie spuckte die Wörter förmlich aus, „... oder
die Lust dazu, mein Schwein aber schon?" Charlotte starrte ihn an. Wie konnte er es wagen! Dann lächelte sie spröde und holte tief Luft. „Ich will ja nichts sagen", fing sie an, um sein aufgeblasenes Ego wieder auf Normalgröße zu bringen, „aber sicher kann doch jeder Idiot lernen, wie man mit dummen Tieren umgeht." Tex sah sie an, als käme sie von einem anderen Stern. „Dumme Tiere? Sie glauben, Tiere sind dumm?" Charlotte verdrehte die Augen und zuckte die Schultern. „Na, großartig. Jetzt geht's los." „Was soll das denn heißen?" „Ich kenne Leute wie Sie. Sie werden mir jetzt erzählen, wie brillant und feinfühlig mein Schwein in Wirklichkeit ist, stimmt's?" „Hey, Sie haben nicht die geringste Ahnung von mir. Und offenbar haben Sie auch nicht die geringste Ahnung von Tieren, wenn Sie glauben, dass ein Schwein nicht denken kann. Oder fühlen." „Fühlen?" prustete Charlotte. „Ihrer Reaktion nach scheint es Ihnen egal zu sein, dass Ihr Tier zum Beispiel depressiv ist." Charlotte konnte nicht an sich halten und lachte laut auf. „Toto depressiv? Der ist zu gemein, um depressiv zu sein. Außerdem, wieso sollte er das überhaupt sein? Sein ganzes Leben war ein einziger Luxus. Er bekommt eine bessere Ernährung als viele Menschen." „Das kann schon sein, aber er vermisst Ihre verstorbene Großmutter Dorothy." „Urgroßmutter." „Egal." „Das ist blödes Pseudo-Psychologengewäsch. Ich glaube, mein Schwein pfeift. Oh, entschuldigen Sie das Wortspiel." Tex nahm den Strohhalm aus dem Mundwinkel und sah sie ernst an. „Sie sind ganz schön überzeugt von sich, wie?" Charlotte begegnete seinem dunklen prüfenden Blick und war plötzlich verunsichert. „Ja", schnappte sie, obwohl sie sich gar nicht mehr an die Frage erinnern konnte. Herrje, der Mann hatte hinreißende Augen. „Nun, dachte ich mir." Er klatschte sich bedauernd auf die Schenkel. „So sehr es mir auch Leid tut, Miss Clarise zu ent täuschen - es wird nicht klappen. Warum gehen Sie nicht mit Ihrem Schwein dahin zurück, wo Sie hergekommen sind, und suchen sich anderswo Hilfe? Mit Ihnen kann ich jedenfalls nicht arbeiten!“ „Schön", nickte Charlotte. Diesen arroganten Tierseelenklempner hatte sie doch gar nicht nötig. „Komm, Toto." Sie nahm das Tier an der Leine und zerrte das widerborstige quiekende Schwein zum Gatter. Es war ein Kampf, den sie niemals vergessen sollte. Hunde bellten, die Rancharbeiter sahen interessiert zu, und Tex, da war sie sich sicher, lachte sich innerlich kaputt. Sie brauchte volle zwanzig Minuten, um Toto die fünfzig Meter zu ihrem Auto zu schleifen und hineinzuzwingen. Und erst als sie den Wagen anlassen wollte, fiel ihr Tex' Bemerkung von vorhin ein, dass der Tank leer sei. Hunt, Red und Fuzzy, drei von Big Daddys Rancharbeitern, hatten von der Koppel aus dem Schauspiel zugesehen und standen nun am Zaun, um Charlottes Kampf mit dem widerborstigen Schwein zu verfolgen. „Wow, Baby", meinte Hunt anerkennend, „sieht ja ziemlich toll aus." „Ja", spaßte Fuzzy, „das Mädchen ist nicht schlecht." „Hast du diese Beine gesehen?" Hunt kaute gedankenverloren auf einem Strohhalm herum. „Bin doch nicht blind", konterte Red. „Und diese wilden Locken. So eine Frau habe ich hier schon lange nicht mehr gesehen." Hunt verschränkte die Arme auf dem obersten Balken des Zauns und
versuchte, einen Blick auf Charlotte zu erhaschen, die gerade in ihrem Auto verschwand. „Und ein Körperbau! Habt Ihr diese beiden ..." Er machte eine eindeutige Geste vor seiner Brust. Red unterbrach ihn. „Sie ist bestimmt eine neue Klientin in der Praxis." „Sie ist eine entfernte Nichte von Miss Clarise." Von hinten schlenderte Tex mit einem Zwanzigliterkanister Benzin heran. „Und lasst euch nicht von ihrem Äußeren täuschen, Jungs. Sie sieht süß aus, aber sie ist eine ganz schöne Kratzbürste." Hunt zwinkerte. „Dafür muss man wohl ein richtiger Mann sein, was?" „Ein richtig verrückter Mann, ja. Wieso, Hunt? Glaubst du, du wärst der Richtige für den Job?" „Vielleicht." „Na, dann. Aber pass auf, und komm ihr nicht zu nahe, sie beißt nämlich." Hunt lachte. Während Tex seinen Weg fortsetzte, um diese in Not geratene Wildkatze zu retten, fiel ihm auf, dass ihn Hunts Interesse an Charlotte irgendwie störte. Dafür gab es eigentlich überhaupt keinen Grund. Nun, vielleicht machte er sich ja Sorgen um den armen Hunt. Charlotte würde ihn glatt zum Frühstück verspeisen. Ja. Wer sich mit Charlotte Beauchamp einließ, musste wirklich ein dickes Fell haben. Mit einem wütenden Schrei schlug Charlotte auf das Lenkrad ein. „Warum ich?" stöhnte sie und ließ den Kopf auf das Steuer sinken. Als sie wieder aufblickte, sah sie Tex, der sich mit einem Kanister näherte. Er grinste lässig. Charlottes Ärger wuchs. Sie würde ihn einfach ignorieren. Sein verdammtes Benzin konnte er behalten. Eher würde sie den Wagen zu Fuß zu Nanna Dorothys Haus zurückschieben, als dass sie von diesem Mann etwas annahm. Sie blickte sich nach den Ställen um. Wo waren die anderen Arbeiter geblieben? Außer Tex war plötzlich keiner mehr da. Ein Glück. Sie murmelte in sich hinein und ließ sich in den aufgeheizten Sitz fallen. Herr im Himmel, hier drin war es so heiß! Sie musste zugeben, dass Tex Recht gehabt hatte. Sie knöpfte den obersten Knopf ihrer Bluse auf und schob sich das Haar aus dem Nacken. Noch ein paar Minuten ohne Klimaanlage, dann wäre sie erledigt. Sie fühlte sich jetzt schon ganz schwach. Mit diesem leicht schwingenden Gang, der sie rasend machte, kam Tex zum Wagen geschlendert und stellte den Kanister ab. Lässig legte er einen Arm aufs Autodach und klopfte ans Fens ter. Zu Charlottes größtem Kummer begann Toto fröhlich zu quieken. Sie seufzte. Verräterisches Schwein. Unmöglich, Tex weiterhin zu ignorieren. Besonders weil Toto auf dem Rücksitz Abdrücke seiner feuchten Schnauze auf der Scheibe hinterließ. Sie kurbelte das Fenster hinunter und bemühte sich, unbekümmert zu wirken - als würde es ihr Spaß machen, in einer Sauna zu sitzen, mit einem wild gewordenen 50-Kilo-Schwein hinter sich. Spöttisch hob er eine Augenbraue. „Brauchen Sie Hilfe?" Er öffnete die hintere Tür und ließ Toto heraus, der sich gern zum zweiten Mal von seinem Retter befreien ließ. „Komm, Junge." Bevor Charlotte Gelegenheit bekam, selbst auszusteigen, machte er ihre Tür auf, steckte den Kopf wieder ins Auto und blickte suchend umher. „Entschuldigen Sie mal!" Charlotte lehnte sich zurück. Tex' dichtes dunkles Haar streifte ihre Knie, während er unter ihrem Sitz zu wühlen begann. „Was ... he! Was machen Sie da?" verlangte sie atemlos zu wissen. „Wollen Sie mir unter den Rock schauen?" Er schnaubte verächtlich. „Träumen Sie weiter, Cousinchen", entgegnete er kühl, während sein heißer Atem ihre Beine strich. Er warf ihr ein spitzbübisches Grinsen zu, bevor er seine Suche fortsetzte und schließlich fand, was er suchte: den Hebel für den Tankdeckel. Die Muskeln seiner Arme spielten, als er sich aufrichtete und seine Nase nur
wenige Zentimeter von ihrer entfernt war. „Je eher wir Sie auf den Weg bringen, desto besser, nicht?" Charlotte schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. „Absolut richtig." „Gut." Elegant zog er sich aus dem Wagen zurück, schnappte sich den Kanister und ging um ihren Wagen herum. Toto folgte ihm wie ein gelehriger Welpe. Charlotte drehte sich auf dem Sitz und stieg aus. Sie bemühte sich, trotz der Muskeln, die sich unter dem Hemd abzeichneten, desinteressiert zu bleiben, als Tex den Kanister anhob und den Tank füllte. „Das müsste bis zur nächsten Tankstelle reichen." Charlotte verschränkte die Arme. Wenigstens brauchte er es nicht ganz so deutlich sagen, dass er sie loswerden wollte. „Ja. Wir sind schon unterwegs." „Schön." Sie biss die Zähne zusammen. Und dieser Typ brachte Tieren Manieren bei? Charlotte hielt die Hand vor die Stirn und blinzelte zum fernen Horizont. Die feuchte Hitze war unerträglich. Ihr Blick glitt zum Anwesen der Brubakers. Lange Säulenkolonnaden schmückten die vordere Terrasse des riesigen Hauses und stützten die Veranda des oberen Stockwerks. Die unglaub liche lange Auffahrt war von Schatten spendenden Bäumen gesäumt; ein halbes Dutzend weiterer Gebäude standen auf dem Gelände: Wohnungen der Angestellten, eine riesige Garage, eine Gartenlaube, ein Gewächshaus, ausgedehnte Stallungen und die Tierpraxis. Darüber hinaus gab es endlose Hektar Park mit verschiedenen Brunnen, Teichen und Statuen. Es war traumhaft schön. Charlotte wusste, dass hinter diesem Palast ein Swimmingpool von olympischen Ausmaßen lag. Wie verlockend bei dieser drückenden Hitze! Morgen würde sie als Erstes ein Bad in die sem Pool nehmen. Dann fiel ihr Blick auf Toto. Das hieß, wenn sie eine arme Seele fand, die eine Stunde auf dieses Schwein aufpassen würde. Sie seufzte auf. Praktisch war sie eine allein erziehende Mut ter. Die Mutter von Rosemarys Baby. Verstohlen sah sie zu Tex, der immer noch den Tank füllte. To to hatte sich auf Tex' Stiefeln niedergelassen, was er kaum zu bemerken schien. Sie hatte Mist gebaut. In dieser Gegend gab es weit und breit keinen zweiten Tierpsychologen. Ohne Tex' Fähigkeiten sah sie vermutlich langen Jahren mit dem durchgeknallten Toto entge gen. Sie warf einen Blick auf den zerfetzten Rücksitz und ließ die Schultern hängen. Ohne angemessenes Training würde Toto wahrscheinlich als Pfannkuchenbeilage in Ned's Lonestar Grill enden, und Charlotte könnte auf ihr Erbe pfeifen und den Rest ihres Lebens auf der Straße zubringen. Sie hatte die Wahl zwischen einem unge zogenen Schwein - heimlich beobachtete sie das Spiel der Muskeln unter Tex' T-Shirt - und einem schwierigen Typen. Vielleicht sollte sie ihren Stolz doch besser herunterschlucken. Tex setzte den Kanister ab und schraubte den Tankdeckel wieder auf. Mutig trat Charlotte einen Schritt auf Tex zu. „Danke", murmelte sie. „Keine Ursache." „Trotzdem." Charlotte sah ihm ins Gesicht, um seine Gedanken zu erraten, aber seine Züge waren verschlossen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und entschied, es doch noch einmal zu versuchen. „Ahm, Tex?" „Hm?" „Glauben Sie wirklich, dass man Toto helfen kann?" Bevor er antwortete, verschloss er den Kanister, dann straffte er sich und sah Charlotte direkt in die Augen. „Grundsätzlich ist er ein gutes Tier, aber reichlich verzogen. Er fühlt sich allein ohne seine alte Herrin, aber ich bin sicher, das kann man hinkriegen. Mit einiger Anstrengung kann man ihm helfen, ja." „Sehen Sie, da ich ja nun eine Zeit lang hier wohnen werde, glauben Sie, dass Sie Toto
...", Charlotte räusperte sich, „ ... und mich vielleicht doch als Patienten annehmen könnten? Als Gefallen für Miss Clarise? Ich verspreche, Ihnen zu helfen." „Sie sind gewillt, ordentlich mitzuarbeiten?" fragte er skeptisch. „Sicher." Das konnte ja nicht so anstrengend sein. In ein oder zwei Unterrichtsstunden wäre bestimmt alles erledigt. Und dann konnte sie ja vielleicht an diesem Pool zum ersten Mal nach zehn Jahren wirklich komplett entspannen. In dem Wis sen, dass sie endlich keine Pflichten mehr hatte und nicht ständig auf Abruf bereitstehen musste. „Okay", meinte Tex zu ihrer Überraschung. „Sie ziehen morgen früh ein, richtig?" „Ja." „Dann erwarte ich Sie um zehn Uhr in der Praxis." „Um zehn schon? Aber um zehn habe ich doch noch gar nicht alles ..." „Sie können später auspacken. Um zehn habe ich noch einen Termin frei." Er schob Toto zur Seite, nahm den Kanister und schlenderte davon. „Aber ich ..." „Um zehn." Mit offenem Mund starrte Charlotte ihm hinterher. Das war garantiert der unhöflichste, arroganteste Mann, dem zu begegnen sie je das Unglück gehabt hatte. Durch das Fenster der Küche der Brubakers beobachtete Tex am nächsten Morgen, wie Charlotte versuchte, Toto vom Rücksitz ihres Autos zu locken. Der Butler der BO Ranch und zwei weitere Angestellte waren gerade mit Charlottes Sachen im Haus verschwunden und hatten sie mit dem Schwein allein ge lassen. Tex grinste über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg. Charlotte hielt Toto wie einen Schubkarren an den Hinterläufen ge packt. Kaum hatte sie ihn ein kleines Stück aus dem Wagen gezerrt, kletterte er unter ständigem Gequieke wieder ein Stück hinein. Langsam aber sicher sog er Charlotte, mit sich in den Wagen zurück. „Guter Junge", murmelte Tex in seine dampfende Tasse, bevor er einen kräftigen Schluck nahm. „Bring sie dahin zurück, wo sie herkommt." Das Letzte, was Tex brauchte, war schon wieder eine starrsinnige Tierbesitzerin, die von ihm erwartete, dass er die ganze Arbeit tat, während sie desinteressiert daneben saß und sich die Fingernägel feilte. Diese Leute kannte er zur Genüge. Mit solchen Klienten musste er die meiste Zeit arbeiten. Und obwohl Charlotte sich Toto nicht ausgesucht hatte, war sie nun wohl oder übel seine Herrin. Ihre Abscheu vor dem armen Tier machte die Sache nur noch schlimmer. Zunächst musste er also ihre Einstellung zu Toto verändern. Diese Arbeit konnte er im Moment gar nicht brauchen. Wieso hatte er bloß diesen Termin mit ihr ausgemacht? Er warf einen Blick auf die Küchenuhr und stöhnte in seine Tasse. Viertel vor zehn. Er wusste genau, warum. Lange, schlanke Beine und ein frecher kleiner Mund, deswegen hatte er den Termin mit ihr vereinbart. Sie nervte ihn, ja schon. Aber da war noch etwas anderes an Charlotte, etwas, das er nicht genau bestimmen konnte. Etwas, das er entdecken wollte. Schließlich tauchte Charlotte wieder aus dem Wagen auf. Nun stand sie da, die Arme in die Seiten gestemmt, und schrie Toto an. Mit funkelnden Augen schüttelte sie sich wütend die wilde Mähne aus der Stirn und ließ eine Tirade von Kraftausdrücken folgen. Ihre laute Stimme, bisher eher sinnlich und klangvoll, drang sogar bis zu Tex in die Küche. „Komm sofort da raus, du elender Fettkloß! Du hast wohl vergessen, dass ich gerne Fleisch esse! Stinkendes Schwein! Raus da, oder ich schwöre dir, dass ich dich zum Abendessen verspeise!" Totos Quieken hätte man fast als Gelächter auslegen können. Mitleid stieg in Tex auf - ob für Charlotte oder für Toto, das hätte er nicht genau sagen können. Er trat vom Fenster zurück, goss eine zweite Tasse Kaffee ein, steckte sich einen Apfel in die Hemdtasche und ging mit beiden Tassen nach draußen. „Brauchen Sie Hilfe?" fragte er Charlotte, die mit den Nerven völlig am Ende schien.
„Nein!" schrie sie, dann holte sie tief Luft und verzerrte die Lippen zu einem angestrengten Lächeln. Sie winkte ab. „Nein, danke." „Kaffee?" Er hielt ihr die Tasse hin. Einen Augenblick zögerte sie, dann nahm sie die Tasse. „Ja, danke." Besonders dankbar klang es allerdings nicht. Sie hasste ihn ganz offensichtlich, und aus irgendeinem Grund musste Tex darüber grinsen. „Er ist schwarz und stark." „Ich nehme Milch und Zucker." Sie schürzte die Lippen und blies in den Kaffee, bevor sie einen Schluck nahm. Wie bezirzt sah Tex zu. „Aber es wird auch so gehen. Vielleicht hilft ja das Koffein, damit ich diesem Schwein zeigen kann, wer hier der Boss ist." Tex schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Er wusste nicht recht, ob Charlotte ihn meinte oder Toto. „Dazu brauchen Sie wohl erst ein bisschen Unterricht." „Oh, bitte! Aber Sie haben Recht." Beim Blick auf die Uhr ließ sie die Schultern sinken. „Es ist fast zehn. Wir sollten vermutlich anfangen." Tex nickte. Es klang nicht gerade begeistert, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Auf ein Fingerschnippen von ihm hin sprang Toto aus dem Wagen und setzte sich brav zu seinen Füßen. Mit schmalen Augen fixierte Charlotte ihn. „Wie haben Sie das gemacht?" „Das werden Sie in Lektion sechs erfahren." „Sechs? Wollen Sie damit sagen, dass das Ganze mehr als eine oder zwei Lektionen dauern wird?" „Wenn Sie möchten, dass Ihnen Toto tatsächlich gehorcht, müssen wir einen oder zwei Monate daran arbeiten." „Monate?" Charlotte war entsetzt. „Sie machen wohl Witze!" „Keineswegs." „Aber so lange werde ich gar nicht hier wohnen! Ich wollte mir eine Arbeit suchen und dann ausziehen." „Ist doch bestens." „Danke, sehr nett." Er ignorierte ihren Sarkasmus. „Und bis dahin werden Sie eben jeden Tag mit Ihrem Schwein trainieren. Wenn Sie dann in der Stadt arbeiten, können Sie ja pendeln." Bockig stampfte Charlotte mit dem Fuß auf. „Pendeln? Mit diesem Schwein? Niemals! Ich will, dass Sie ihn hinkriegen, und zwar schnell! Sie sind doch so ein toller Tierseelendoktor!" „Tierpsychologe. Ich studiere das Verhalten von Tieren, hauptsächlich von Hunden, Pferden und anderen Farmtieren." Er neigte den Kopf zu dem Schwein, das geduldig zu seinen Füßen saß. „Toto hier zum Beispiel." Das Tier rieb seinen borstigen Kopf an Tex' Hosenbeinen, und Tex schnitt ihm mit seinem Taschenmesser eine Scheibe von dem Apfel ab, den er mitgebracht hatte. „Was ist denn so interessant an dem Verhalten von Pferden und Hunden?" „Nun, zum Beispiel dient meine Arbeit der Entwicklung von neuen Trainingsmethoden. Damit wird die Effektivität von Rinderfarmen wie der Circle BO gesteigert. Und auch wenn die meisten Ranches dieser Größe zunehmend von Maschinen abhängig sind, um Rinderherden zu kontrollieren, wird man immer Hunde und Pferde dazu brauchen." Er deutete mit seiner Tasse in Richtung der Ställe. „Manchmal ist es eine Frage von Leben oder Tod, sich auf einen guten Hund oder ein gutes Pferd verlassen zu können. Wissen Sie", er deutete auf Toto, „man erzählt sich sogar von Schweinen, die Menschen aus Todesgefahr gerettet haben." Charlotte sah Toto skeptisch an. „Wenn Sie das sagen." „Kommen Sie. Wir gehen zum Trainingsbezirk und fangen an." Gemeinsam gingen die beiden die Auffahrt hinunter hinüber zu dem Pfad, der den Park durchschnitt, und stapften dann über den wuchernden Rasen zu den Stallungen. Mit
wippendem Schwänzchen trottete Toto nebenher. Er befand sich ganz offensichtlich im Schweineparadies, schnüffelte überall und blieb ab und zu stehen, um mit der Schnauze in der Erde zu wühlen. Tex spürte, dass Charlotte ihm immer noch nicht grün war, daher bemühte er sich, die Unterhaltung einfach fortzusetzen. Vielleicht würde Charlotte sich im Laufe der Zeit etwas ent spannen. „Erzählen Sie mal, was Sie über Schweine wissen", begann er. „Am Besten schmecken sie mit Chutney oder in Honigkruste." „Interessieren Sie sich außerdem noch für andere Aspekte Ihres Tieres?" „Ja. Wie lange lebt ein Schwein?" Tex grinste. Die Arme war ziemlich fixiert. Sicher würde es nicht leicht sein, ihre Meinung über den kleinen Toto zu ändern. „Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Hängebauchschweins wie Toto beträgt zwischen zwölf und achtzehn Jahren." „Sie machen Witze!" Charlotte sah ihn entsetzt an. „Nein. Sogar länger, wenn Sie es gut behandeln." „Oh nein." Charlotte blieb stehen und verbarg das Gesicht in den Händen. „Stimmt was nicht?" Sie stöhnte auf und spähte ihn zwischen den Fingern hindurch an. „Toto ist erst drei. Das heißt, ich habe ihn die nächs ten neun bis fünfzehn Jahre am Hals!" Tex warf den Kopf zurück und brach in ein unbändiges La chen aus. Das war ja zum Brüllen! Miss Hochnäsig hier musste ihre besten Jahre einem Schwein opfern. Köstlich. Das würde ihr nur gut tun, denn offensichtlich hatte sie bisher ein recht verhätscheltes Leben geführt. Dieses Schwein würde sie mit der Realität konfrontieren. Verzweifelt ging Charlotte hinter Tex her. „Ich werde über vierzig sein, wenn er endlich abrubbelt!" Vor Lachen kamen Tex die Tränen. Er blieb stehen, um sich auf die Schenkel zu klopfen. „Das ist überhaupt nicht lustig", schnappte sie. „Ganz und gar nicht." Tex wischte sich die Tränen mit dem Ärmel von den Wangen. Unbezahlbar, dieser Moment war unbezahlbar. Er holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen, aber so sehr er sich bemühte, ein Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. „In Anbetracht der Tatsache also, dass Sie nun einen festen Freund haben, möchten Sie sonst noch etwas wissen?" „Nein!" Tex johlte. Er konnte Charlottes tomatenrotes Gesicht nicht ansehen, es war zu komisch. „Na gut", meinte er vorsichtig. „Ich werde Ihnen nur das Wichtigste sagen. Lassen Sie mich überlegen. Toto kann sehr gut riechen." „Das kann man wohl sagen", murmelte sie. „Er duftet wie gut abgehangene Socken." „Nein, ich meine nicht, dass er stinkt, sondern dass er einen hoch entwickelten Geruchssinn hat." „Wie hält er es dann mit sich selber aus?" „Stechende Gerüche stören Schweine nicht." Charlotte stöhnte erneut, und wieder musste Tex gegen das aufkommende Lachen ankämpfen. „Vielleicht sollten Sie auch wissen, dass er sehr schlecht sieht. Schweine sind sauber, sehr klug und gutwillig. Wenn Sie ihn richtig ernähren, könnte er über sechzig Kilo schwer werden." „Toll", bemerkte Charlotte ungerührt. „Dann können wir uns ja bald die Kleider teilen." Jetzt konnte Tex das Lachen nicht mehr zurückhalten. Charlotte mochte ihm auf den Wecker gehen, aber sie war zweifellos unterhaltsam. Sie überquerten den Weg zu den Stallungen und umrundeten die Koppel, wo zwei ausgelassene Fohlen herumtollten. Tex registrierte, dass Charlotte die beiden Tiere keines Blickes wür digte.
Er fühlte einen kleinen Stich im Magen. Offenbar hatte sie mit Tieren wirklich nichts am Hut. Schade. Er traf nur selten Menschen, besonders Frauen, die nicht spätestens bei solch tollpatschigen Fohlen weich wurden. Tiere waren doch die besten Freunde des Menschen. Offensichtlich aber nicht in allen Fällen. Toto blieb stehen buddelte in der Erde, und Charlotte bekam einige Erdklumpen ab. Als sie ihrer Empörung Ausdruck verlieh, musste Tex die Zähne zusammenbeißen. Er brachte Charlotte und Toto in sein Büro, wo er das Licht anmachte und Charlotte auf einen Stuhl vor seinem unordentlichen Schreibtisch Platz nehmen ließ. Der große Raum war chaotisch: voller Käfige, Trainingsutensilien, Kauknochen und Tierfutter. Die Wände waren von oben bis unten mit voll gestopften Bücherregalen gesäumt, und in einer Ecke stand ein Fernseher mit Videogerät, daneben Dutzende von Videokassetten zu Tierverhalten und Trainingsmetho den. Tex liebte diese Welt, die er sich im letzten Jahr eingerichtet hatte. Gefolgt von Toto ging er zu einem Bücherregal und drehte sich zu Charlotte um. „Ich bitte alle meine Klienten, sich zu Be ginn des Trainings etwas einzulesen." „Einlesen?" Ihrem Ton konnte er entnehmen, dass sie sich nur widerwillig mit der Materie vertraut machen wollte. Er beschloss, nicht darauf einzugehen. „Ja. Normalerweise ein Buch über die jeweilige Hunderasse, dann etwas zum Unterricht. Aber da es sich hier um ein Schwein handelt..." Er kratzte sich am Kopf, während er den Blick über die Buchreihen gleiten ließ. Wo waren denn nur die Bücher über Schweine? Ach ja, richtig, in dem Schrank hinter dem Schreibtisch. Unter Stapeln von Zeitschriften kramte er dort einige Bücher hervor. „Hier, bitte." Triumphierend hielt er sie hoch, schloss das Schränkchen, bevor ihm der ganze Inhalt entgegenkam, und legte sie Charlotte auf die Knie. „Viel Spaß beim Lesen." Charlotte nahm das Buch, das zuoberst lag. „,Denken wie ein Schwein'", las sie laut. Sie warf Tex einen Seitenblick zu. „Das haben Sie garantiert gelesen." Er beschloss, auf ihren Spott nicht zu reagieren. „Es ist ein gutes Buch. Das und das zur Pflege und Fütterung sind hervorragend." „Welches?" Sie sah den Stapel durch. „,Essen wie ein Schwein'?" „Machen Sie sich ruhig lustig. Wenn Sie sich nur ein bisschen bemühen, werden Sie und Toto bald unzertrennlich sein." „Ich träume wohl." Tex ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in seinen Sessel sinken. „Es könnte jedenfalls passieren." „Warum ist mir dann trotzdem zum Heulen zu Mute?" „Was haben Sie denn gegen Tiere?" „Nichts. Aber muss ich unbedingt mit einem zusammenwohnen?" „Man sagt, dass Leute, die Tiere haben, länger leben." „Bei mir ist bestimmt das Gegenteil der Fall." „Wissen Sie, Sie sollten unbedingt einige Dinge ändern, dann werden Sie Toto bald in einem ganz neuen Licht sehen." Als er seinen Namen hörte, fing Toto an zu grunzen und rieb den Kopf an Tex' Schienbein. „Sie müssen nun für längere Zeit sehr eng mit mir zusammenarbeiten." Charlotte warf Tex einen Blick zu und biss sich auf die Unterlippe. War er zu direkt gewesen? Ganz offensichtlich war ihr diese Vorstellung ein Horror. „Können Sie das tun?" drängte er. Sie nickte. „Ich nehme an, ich habe keine Wahl." „Gut. Dann fangen wir gleich an." Als sie aufstanden, wurde die Tür geöffnet und ein junger Mann kam herein. Bei Charlottes Anblick blieb er stehen und fuhr sich mit der Hand über das bereits dünner werdende Haar. Dann streckte er ihr die Hand hin.
„Hi." Er machte ein merkwürdiges Geräusch. „Ich bin Wally, der Assistent von Tex. Sie sind bestimmt der Zehn-Uhr-Termin." Irgendetwas an Wallys Besitz ergreifenden Blick störte Tex. Nicht dass er irgendeinen Anspruch auf Charlotte hatte oder auch nur haben wollte, aber irgendwie schien ihm Wallys Verhalten unangemessen. Charlotte lächelte höflich und gab Wally die Hand. „Guten Tag. Ich bin Charlotte Beauchamp, Schweinebesitzerin, eingeheiratete Verwandtschaft." „Ah." Wallys Lächeln wurde so breit, dass seine Brille verrutschte. Er stopfte sich das Hemd in die ausgebeulten Cordho sen und zog den Gürtel hoch. „Nun, jede Verwandte der Brubakers ist auch meine Verwandte." Sein dröhnendes Lachen erfüllte den Raum. Plötzlich ungehalten, schob Tex Charlotte zur Tür. „Gut. Jetzt habt ihr euch ja vorgestellt, dann können wir wohl an die Arbeit gehen. Wally, räum hier drin ein bisschen auf, sei so gut."
3. KAPITEL
„Toto, Platz." Langsam entfernte sich Tex von der Stelle im Trainingsbezirk, wo das Schwein auf einem Grasflecken saß. Nachdem er drei Meter zwischen sich und das Tier gebracht hatte, blieb er stehen. Toto schnaubte mit bebender Nase und sah Tex fragend an. Tex holte eine kleine Karotte aus einem Plastikbeutel und hielt sie hoch. „Toto, komm her." Charlotte sah zu, wie Toto gehorsam auf Tex zutrottete und die Karotte fraß. Seit vollen zwanzig Minuten waren die beiden mit dieser Übung beschäftigt, und diese langweiligen Versuche machten Charlotte allmählich müde. Wie lange, um alles in der Welt, brauchte ein Schwein denn, bis es lernte, auf Zuruf zu kommen? Tex jedenfalls schien nicht im Mindesten ermüdet. „Schweine lernen sehr schnell, wenn man es richtig anstellt." „Oh. Mhm. Das sehe ich." Charlotte gähnte. „Der Trick mit der Belohnung funktioniert bei allen Tieren. Auch bei Menschen. Das ist nichts Neues." Er fand sich wohl sehr witzig. „Hier." Tex hielt ihr die Tüte mit den Karotten hin. „Sie sind dran. Ich glaube, er hat jetzt verstanden, worum es geht." „Glauben Sie?" Charlotte nahm die Tüte. Mann, sie war so müde. Gestern hatte sie noch bis spät in die Nacht in Nanna Dorothys Haus ihre Sachen gepackt und dann nur zwei Stunden geschlafen, weil Toto die ganze Nacht Radau gemacht hatte. Wenn er nicht gegrunzt oder gestöhnt hatte, hatte er irgendwo herumgestöbert oder mit seinem Schädel gegen ihre Matratze gestoßen. Um den Nebel in ihrem Kopf zu vertreiben, atmete sie tief ein und versuchte sich zu konzentrieren. „Wie läuft das Training?" rief jemand hinter ihr. Charlotte drehte sich um. Einer der jüngeren - und sehr gut aussehenden Rancharbeiter beobachtete die Szene. „Geht so", erwiderte Tex unverbindlich. Er schien leicht verärgert über die Unterbrechung. „Was gibt's, Hunt?" „Nichts. Ich dachte, ich scha u mal vorbei, was ihr so treibt." Charlotte war froh über die Ablenkung. „Es ist schrecklich", gestand sie. Dieser nette Cowboy gefiel ihr. Wieso konnte Tex nicht auch so nett sein? Es würde ihn doch sicher nicht umbringen, sich ein bisschen zu entspannen, oder? Sie straffte sich und kehrte Tex den Rücken zu. „Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas erreichen." „Bestimmt nicht, wenn Sie kein Interesse daran haben", brummte Tex. Sie ging ein paar Schritte auf Hunt zu. „Arbeiten Sie hier?" „Ja. Wenn ich nicht mit hübschen Frauen flirte." Er zwinkerte ihr zu. Charlotte freute sich. Hunt war wirklich süß. Am liebsten hätte sie sich länger mit ihm unterhalten, wenn sie nicht Tex' eisigen Blick im Rücken gespürt hätte. Tex räusperte sich. „Hört sich an, als wo llte der Boss etwas von Ihnen", meinte Hunt vertraulich. „Ich gehe besser, bevor er mich davonjagt." Wieder zwinkerte er. „Wir sehen uns noch." „Das wäre nett." Träumerisch sah Charlotte ihm nach. Hunt wäre eine wunderbare Ablenkung von diesen idiotischen Gefühlen für Tex, gegen die sie ankämpfte. Und Hunt hatte Sinn für Humor. Anders als gewisse andere Leute. „Kommen Sie, machen wir weiter." Als sie sich umdrehte, stand Tex breitbeinig mit verschränk ten Armen da, einen finsteren Ausdruck auf den markanten Zügen. „Okay, okay." Mit einem lauten Seufzer kam sie zurück. Tex deutete auf die Tüte, die sie immer noch in der Hand hatte. „Nehmen Sie eine
Karotte und halten Sie sie zwischen den Fingerspitzen." Seine Hand streifte ihre, als er eine Karotte aus der Tüte holte und es ihr vormachte. „So. Dann kann er sie gut sehen. Das mag sich platt anhören, aber Sie werden bald begreifen, dass noch viel mehr dazugehört. Es geht um positive und negative Verstärkung. Sie müssen verstehen, wie ein Tier denkt. Es wird Ihnen viel eher gehorchen, wenn es verstanden hat, dass es für gutes Verhalten eine Belohnung bekommt. Und ich fürchte, dass Sie Toto für gutes Benehmen bisher nie belohnt haben." Sie bedachte ihn mit einem schiefen Blick. „Welches gute Be nehmen?" Tex seufzte angesichts ihrer Starrköpfigkeit. „Na gut, fangen wir an. Gehen Sie langsam rückwärts. Nein, nicht so schnell. Langsam. So." Er fasste Charlotte sanft am Arm und führte sie zehn Schritte weg von Toto, der geduldig auf seinen Hinterpfo ten sitzen blieb. „Sagen Sie deutlich ,Platz', während Sie zurückgehen." Wenn Tex ihr so nah war, konnte Charlotte kaum denken. Mit geschürzten Lippen kniff sie die Augen zusammen und konzentrierte sich auf das Schwein, so gut sie konnte. „Plaaatz", warnte sie. Toto rutschte auf den Hinterläufen hin und her. „Platz! Plaaaaatz!" „Sehr schön, das reicht. Er müsste es kapiert haben. Vergessen Sie nicht, Schweine sind sehr intelligent. Sie brauchen ihm nicht zu drohen." „Das habe ich nicht. Er wollte weglaufen." „Nein. Er hat es sich nur gemütlich gemacht." Obwohl Charlotte den Verdacht hatte, dass Tex sich über sie lustig machte, schmeichelte ihr sein leiser, fast verführerischer Tonfall. „Kommen Sie, wir versuchen es noch mal." Tex berührte sie am Ellbogen und lenkte sie zur ück zum Ausgangspunkt. Eine ungewollte Welle der Anziehung schoss ihr vom Ellbogen direkt in den Magen und breitete sich warm in ihrem Körper bis zu den Wangen aus, die zu glühen anfingen. Die Luft schien plötzlich dichter zu sein, das Atmen fiel ihr schwerer. Charlottes Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, und in ihren Ohren schien es zu dröhnen. Und das alles nur, weil Tex sie am Arm berührte. Wie lächerlich! Spürte er dasselbe? Sie war zu verlegen, um ihn direkt anzusehen, aber sie konnte erkennen, dass sein Gesicht gespannt war. Nein, entschied sie, er empfindet gar nichts für mich außer höflich verdeckter Verachtung. Charlotte ärgerte sich darüber, dass sie sich von seinem Macho-Charme einnehmen ließ, obwohl Tex sie damit regelrecht zur Weißglut brachte. Sie entzog ihm den Ellbogen, trat einen Schritt zur Seite und setzte ein Lächeln auf. „Versuchen Sie es noch einmal", drängte er. Charlotte wusste, dass sie sich auch beim zweiten Mal zu schnell bewegte, aber jetzt lag es daran, dass sie so schnell wie möglich von den beiden wegkommen wollte. „Platz. Platz!" befahl sie, mehr in Richtung Tex als Toto. Dieses Mal fasste Tex sie von hinten an beiden Ellbogen, zog sie zu sich heran und entfernte sich gemeinsam mit ihr ein Stück von Toto. „Sagen Sie erst ,Toto, Platz', dann ...", er senkte die Stimme, und sein Atem ließ die losen Haare an ihrem Pferdeschwanz sie kitzeln, „gehen Sie gaaanz langsam zurück. Ja? So. Jetzt halten Sie ihm die Karotte hin und sagen ,Toto, komm her'." „Toto, komm her", befahl sie. Ihre Stimme klang lächerlich dünn. Ob das von dem warmen Gefühl kam, dass Tex ihr so nah war, oder von ihrer allgemeinen Erschöpfung, konnte sie nicht sagen. Egal, woran es lag, sie beschloss, seine elektrisierende Berührung zu ignorieren. Er war nichts für sie. Charlotte hatte nicht vor, sich in ihn zu verlieben, nur weil er so süße Grübchen hatte, so männlich duftete und den Körper einer griechischen Statue hatte. Toto rührte sich nicht. „Sehen Sie? Er hasst mich", seufzte sie. „Er hasst Sie nicht. Er ist es nur nicht gewohnt, dass Sie ihn belohnen wollen. Halten
Sie die Karotte höher", er glitt mit der Hand zu ihrem Handgelenk, „da kann er sie besser sehen. Versuchen Sie es noch mal." Auf seine Berührung hin bekam Charlotte eine Gänsehaut, was Bände sprach. Sie seufzte genervt und streckte heftig die Hand vor. Durch den Schwung entglitt ihr die Karotte und segelte ein paar Meter durch die Luft, um Toto genau zwischen den Augen zu treffen. Das Schwein sprang auf und rannte quiekend im Kreis. Tex fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Nun, das wird uns wohl eine oder zwei Lektionen zurückwerfen." Charlotte biss sich auf die Lippen. „Sollten wir nicht vielleicht eine Pause einlegen?" Er seufzte. „Ja. Wir sind fertig." Er bot Toto eine weitere Karotte an. „Toto, komm her." Das Schwein gehorchte und sah Tex verdutzt an. „Sie hat es nicht so gemeint, alter Junge. Hab Geduld mit ihr. Wir werden es ihr schon noch beibringen." Charlotte trat einen großen Schritt zurück. Weg von Tex. Weg von dieser elektrischen Spannung, die zwischen ihnen entstand, wenn sie sich zu nahe kamen. Verlegen verschränkte sie die Finger. „Ich muss gehen. Ahm, hören Sie. Ich muss nach Hidden Valley und mich um einen Job kümmern. Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn Toto hier bei Ihnen bleibt, oder? Ich kann ihn wirklich nicht zu einem Vorstellungsgespräch mitnehmen, und je eher ich eine Arbeit finde, desto früher kann ich ausziehen. Außerdem bin ich sicher, dass Miss Clarise nicht möchte, dass er in ihrem Park frei herumläuft." „Ja, er kann hier bleiben." Tex kniff die Augen zusammen und sah in die Ferne. „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, mache ich es gern. Sagen Sie mir, wenn ich etwas für Sie tun kann, packen zum Beispiel." „Vielleicht können Sie mir beim Einpacken helfen, wenn ich erst mal die Zeit hatte auszupacken." Wenigstens hat er den Anstand, etwas beschämt auszusehen, dachte sie verletzt. „Natürlich." Weitere peinliche Abschiedsworte blieben ihr glücklicherweise erspart, weil Wally gerade aus dem Büro kam. „Na, wie lief's?" fragte er zu laut und zu interessiert. „Bestens", schwindelte sie, weil sie keine Lust hatte, ihr Versagen einzugestehen. „Es braucht seine Zeit", fügte Tex hinzu, „aber wir werden es schaffen." Wally wandte sich an Charlotte, aber Tex entging es nicht, dass sein Assistent sie verstohlen von Kopf bis Fuß in Augenschein nahm. „Ich arbeite gerade an einer Kurzzeittrainingsmethode, mit der man schnelle Fortschritte erzielt. Vielleicht haben Sie ja Lust, sie mal in Ihrer Freizeit auszuprobieren." Kurzzeittrainingsmethode? Das hörte sich verlockend an. Hauptsache, Totos Benehmen wurde so schnell wie möglich akzeptabel. „Toll. Sicher. Hört sich gut an. Je eher wir Toto hinkriegen, desto eher kann ich mich um mein Leben kümmern." Sie hob die Hand, um Tex beiläufig zuzuwinken. „Am Besten fange ich gleich damit an. Wir sprechen uns später." Wally nickte, und ohne einen zweiten Blick auf Tex machte sich Charlotte aus dem Staub. „Die ist ja scharf." Wallys Blick blieb an Charlottes wohlgeformten Schenkeln hängen, als sie zum Anwesen hinüberging. Tex musterte das blöde Grinsen auf Wallys Gesicht. „Hattest du nicht 'ne ganze Menge zu tun, oder irre ich mich da?" „Ja, aber ich brauch 'ne Babypause." „Vielleicht könntest du noch an deinen Manieren arbeiten", meinte Tex bissig. Wally schnaubte und zog sich die Hosen hoch. „Verwandt oder nicht, du erzählst mir
nicht, dass du nicht siehst, was für ein Törtchen sie ist." „Wir sind nicht verwandt." „Aber sie sagte ..." „Wally, die Uni bezahlt dich nicht dafür, dass du den Klientinnen hinterherglotzt. Die Show ist vorbei. Sieh zu, was du über die Pflege von Hängebauchschweinen im Internet heraus finden kannst. Und dann fang mit den Grafiken an, die du für meine Konferenz zum Semesterende zusammenstellen sollst." „Aber die sind noch lange nicht..." „Plan geändert. Am Besten fängst du gleich an, sonst sitzt du wieder bis zum letzten Augenblick dran." „Ja, Boss." Wally machte sich auf den Weg zum Büro, und Tex sah Charlotte nach, die den Park durchquerte. Irgendetwas an der Art, wie Wally mit Charlotte gesprochen hatte, ärgerte ihn. Er sollte mit dem Kerl reden. Klientinnen waren tabu. Und das galt für alle. Einschließlich ihn selbst. Er konnte nur hoffen, dass dieses Knistern zwischen Charlotte und ihm nur seiner blühenden Fantasie entstammte. Tex schalt sich dafür, dass er ihr so nahe gekommen war und sie während der Trainingsstunde berührt hatte. Das durfte nicht noch einmal passieren. Es war unprofessionell. Und gefährlich. Ihm war klar, dass sein Interesse an Charlotte mehr als flüchtig war. Selbst jetzt beschwor der bloße Gedanke an sie den Duft ihres Haars herauf. Er erinnerte sich an das Gefühl ihres Körpers an seinem, als er sie geführt hatte. Ihre Gegenwart erfüllte seine Gedanken und brachte sein Blut in Wallung. Wally hatte Recht. Sie war etwas Besonderes. Wenn sie nicht gerade redete. Tex seufzte und presste die Finger an die Schläfen. Das Letzte, was er brauchen konnte, war eine Affäre mit einer Klientin. Besonders mit einer, die seine Arbeit so sah wie Charlotte. Traurig dachte Tex an das letzte Mal, als er den Fehler begangen hatte, sich in eine Frau zu verlieben, die mit Tieren nichts anfangen konnte. Jennifer war zwar anders gewesen als Charlotte, denn sie hatte Tiere nicht wirklich gehasst, sie war einfach allergisch auf sie gewesen. Auf alle. Sie bekam Niesanfälle und überall rote Flecken, ihr Gesicht schwoll an wie ein Kugelfisch, wenn sie auch nur in die Nähe eines Tieres kam. Und wenn Tex kurz vorher mit einem Hund oder einer Katze Kontakt gehabt hatte, reagierte sie auf ihn genauso. Es war für beide frustrierend gewesen, ganz einfach gesagt. Tex hatte nichts lieber gewollt, als seine Liebe zu seiner Arbeit mit Jennifer zu teilen, aber es war schlichtweg nicht möglich gewesen. Und weil es deswegen immer wieder Streit gegeben hatte, hatten sie sich schließlich getrennt. Wenn er so dumm war und sich dazu hinreißen ließ, mit Charlotte eine Affäre anzufangen, würde sicher genau dasselbe passieren. Aber das würde er nicht noch einmal mitmachen. Eine gescheiterte Beziehung reichte ihm vorerst. Die nächste Frau, in die er sich verlieben würde, würde nicht nur ihn mögen, sondern auch die Tiere, die sein Leben aus machten. Das war ihm seit der Beziehung zu Jennifer ganz klar. So einfach war das. Wollte er bei Verstand bleiben, sollte er sich von der verlockenden Charlotte fern halten. Am Nachmittag kehrte Charlotte erschöpft zurück auf die Circle BO Ranch. In Hidden Valley hatte sie mit ihrer bisherigen Tätigkeit nicht gerade Eindruck schinden können. Bettzeug wechseln und Hühnerbrühe füttern war an Tankstellen oder Schnellrestaurants nicht gefragt. „Mach dir keine Sorgen", sagte sie leise zu sich selbst, während sie ihr leinenes
Sommerkostüm ablegte und in einen schwarzen Badeanzug stieg. Schließlich hatte sie heute erst mit der Jobsuche begonnen und würde sich nicht so leicht entmutigen lassen. Irgendwann fand sie schon etwas. Sie hatte ja erst fünf oder sechs Absagen bekommen viele Möglichkeiten lagen noch vor ihr. Sicherlich würde irgendjemand in Hidden Valley ihre einzigartige Mischung von Fähigkeiten zu schätzen wissen. Charlotte beugte sich vor und warf ihr Haar nach vorn, um es zusammenzunehmen und die Lockenpracht mit einer Haarspange festzustecken. Auf dem Weg zur Tür schnappte sie sich ihre Sonnenbrille, ein Handtuch und eine Modezeitschrift. Es war ein strapaziöser Tag gewesen. Eine kleine Runde im Pool und Ausruhen auf einem Liegestuhl in der heißen Luft von Texas würde ihr gut tun. In den letzten zehn Jahren, die sie Nanna Dorothy gepflegt hatte, war ihr so ein Genuss selten vergönnt gewesen. Tex beobachtete, wie sich Charlotte die Haare mit dem Hand tuch trocken rubbelte. Dann machte sie es sich in dem Liege stuhl bequem, der an einer Ecke des Pools stand, und begann zu lesen. Von der Küche der Brubakers aus, wo Tex nach der Arbeit ein kühles Bier genoss, konnte er die wohlgeformten Beine bewundern, die ihm beim ersten Mal schon aufgefallen waren. Mit einem Arm stützte er sich auf den Fensterrahmen und genoss den Anblick in der Ferne. Sie war allein. Alle Arbeiter waren draußen auf den Weiden, Big Daddy und Miss Clarise befanden sich auf einer Party in Dallas, und außer den Hausangestellten war Tex der Einzige in der Nähe. Er wusste, dass er lieber schnell nach Hause gehen sollte. Er wohnte in einem kleinen Blockhaus etwa eine Meile jenseits der Stallungen, das er sich mit seinem Cousin Kenny teilte. Aber der Anblick der schönen Charlotte, die so entspannt in der Abendsonne lag, ließ ihn wie angenagelt stehen bleiben. Er überlegte, ob sie schon einen Job gefunden hatte. Wally hatte ihm mitgeteilt, dass sie vorhin im Büro nach Toto gefragt und umwerfend ausgesehen hätte. Wieder hatte er dieses merkwürdige Gefühl im Bauch, das sich wie Eifersucht anfühlte. Eifersucht? Niemals. Auf wen denn? Charlotte und Wally? Charlotte und Hunt? Er lachte auf. Nein, es war keine Eifersucht, wenn er genau darüber nachdachte. Es war ... es war ... ah, zur Hölle damit, aber was es auch war, er sollte es lieber unter Kontrolle bekommen, bevor es ihn beherrschte. Als er einen tiefen Schluck aus der Flasche nahm, fiel ihm etwas am Pool ins Auge. Wally? Mit schmalen Augen beobachtete Tex, wie sein Assistent durch das schmiedeeiserne Gitter aufs Poolgelände ging. Was machte der denn noch hier? Hatte er nicht heute Abend Seminare? Und was war mit den Grafiken? Wally stand einen Augenblick am Rande des Pools, sah ins Wasser und tat so, als bemerke er Charlotte nicht, die im Schatten unter der Überdachung lag. Wütend stieß Tex sich vom Fensterbrett ab und ging zur Tür. Zeit, dem Herrn Assistenten die Regeln im Umgang mit Klientinnen einzubläuen. Tex konnte Stimmen hören, als er durch den Rosengarten auf das Poolgelände zuging, von wo aus die beiden ihn nicht sehen konnten. Er blieb stehen, als er Wally zu Charlotte hinschlendern sah. Wallys nasaler Ton sollte wohl Überraschung heucheln. „Charlotte! Ich wusste gar nicht, dass Sie hier draußen sind." „Schwätzer", murmelte Tex und verdrehte die Augen. „Oh, hi, Wally." Charlotte setzte sich auf und schob sich die Sonnenbrille auf die Nasenspitze, so dass sie über den Rand sehen konnte. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich bleibe?" „Ich ... äh, nein. Bitte." „Toll. Hey, ich freue mich, dass ich Sie treffe." Wally stellte den Fuß auf einen Stuhl und lehnte sich vertraulich vor. „Ich wollte sowieso mit Ihnen reden wegen Ihres
Schweins. Ich glaube, ich habe da ein paar spitzenmäßige Methoden, die Tex nicht drauf hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, Tex ist ein guter Tierpsychologe, aber ich habe da einen etwas anderen Ansatz." Tex zog die Augenbrauen hoch. Na, das war ja interessant. „Was machen Sie denn anders?" „Ich entwickle gerade eine Kurzzeittrainingsmethode. Man kann dadurch mit den Tieren kommunizieren und sie auf diese Weise besser trainieren." Ein geheimnisvo ller Ton lag in seiner Stimme. „Wirklich?" „Ja." Wichtigtuerisch reckte Wally die Brust vor. „Jahrelang hat der Mensch Zeichensprache oder gesprochene Sprache verwendet, um mit Tieren zu reden. Aber ich glaube, dass das zu beschränkt ist. Und zu langsam." „Oh?" „Ja. In der Wildnis leben die meisten Arten in einer strengen hierarchischen Ordnung. Durch stumme Kommunikation können sie ihre Stellung im ,Clan', wenn Sie so wollen, deutlich ma chen. Ganz zu schweigen davon, wenn es ums Jagen geht, ums Weiterziehen und natürlich um die Paarung." Wally bedachte Charlotte mit einem bedeutsamen Blick. „Oh." „Im Augenblick dreht sich meine Forschung um ...", er senkte die Stimme, „... meine einzigartige Theorie, die auf dieser Vo raussetzung beruht." „Und was beinha ltet diese einzigartige Theorie?" Wally warf einen Blick um sich, als wollte er sichergehen, dass niemand lauschte. „Ich glaube, man kann mit Tieren kommunizieren, indem man Augenkontakt aufnimmt und die Botschaft sozusagen in das Hirn des Tieres hineindenkt." „Ich soll meine Botschaft in Toto hineindenken?" „Ich weiß, das hört sich seltsam an." Wallys Lachen klang ein wenig nervös. „Aber ich glaube, so können Sie Tieren etwas mitteilen, selbst ihrem Schwein. Kurz gesagt, ich denke, ich kann Ihnen beibringen, wie man die Schweinesprache spricht." Tex hielt einen Augenblick die Luft an, als er sah, wie Wally Charlotte aufmunternd fixierte. Es war offensichtlich, dass er versuchte, seine Theorie schon jetzt in die Praxis umzusetzen: Charlotte sollte die Signale empfangen, die er aussandte. Wie Tex es überhaupt mit diesem unseligen Assistenten aus hielt, der vorher schon in diversen anderen Praxen herumge reicht worden war, war ihm ein Rätsel. Die Zusammenarbeit mit dieser Knalltüte barg durchaus ihre Herausforderungen. Glück licherweise lief sein Vertrag nur ein Jahr. „Ich kann lernen, die Schweinesprache zu sprechen", wiederholte Charlotte langsam, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie Wally für verrückt halten sollte oder nicht. „Ohne Worte." „Ohne Worte?" Sie sah ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille hin an. „Ja. Und eines Tages vielleicht sogar laut." „Laut, wie zum Beispiel... durch Grunzen?" Tex kämpfte gegen einen Lachkrampf. „Ja. Ich glaube, ich bin da einer ganz heißen Sache auf der Spur, etwas, wovon eines Tages auch Menschen einen Nutzen haben werden. Eine Art primitive Telepathie. Wir Menschen nutzen nur ein Fünftel unserer Gehirnkapazität." „Manche mehr als andere", murmelte Tex vor sich hin. „Und wenn wir an die anderen vier Fünftel herankommen könnten ..." Tex schnaubte leise. „Ich glaube, du bist schon an zu viele Fünftel herangekommen, Freundchen." „... würden wir über das Potenzial in uns sehr erstaunt sein. Jedenfalls schreibe ich gerade einen Artikel über diese Theorie und würde sie gern an einem Schwein ausprobieren. An Ihrem Schwein, genauer gesagt. Mit Ihnen zusammen." Ohne seinen bedeutsamen Blick von Charlotte zu wenden, ordnete er die dünnen Haare, die den
kahlen Fleck auf seinem Schädel verdecken sollten. Charlotte wusste nicht, was sie sagen sollte. „Ich ... ich ..." So sehr er diese Vorstellung genoss, Tex konnte nicht den ganzen Abend zusehen, wie Wally seine wirren Ideen Charlotte aufdrängte. Er betrat das Poolgelände und blieb hinter Wally stehen. ,,'n Abend." Angesichts der Tatsache, dass er fast vor Lachen explodiert wäre, versuchte er so neutral wie möglich zu klingen. Charlottes Gesichtsausdruck war unbezahlbar. „Wally, was machst du hier? Ich dachte, du hast heute Abend Unterricht. Und was ist mit den Grafiken, die du zusammenstellen solltest?" „Ich sammle nur noch ein paar Informationen, Boss. Ich dachte, ich weite meine Forschung auch auf Hängebauchschweine aus, wenn dein Unterricht mit Toto schon Gelegenheit dazu bietet." Wally nahm den Fuß vom Stuhl, sah auf die Uhr und dann zu Charlotte. „Ich hole Sie später ab, okay?" „Ich ... äh, okay. Wiedersehen, Wally." Er ging zum Tor. „Wiedersehen, Charlotte." Tex wahrte die Beherrschung, bis Wally außer Hörweite war. „Glauben Sie, ich kann lernen, die Schweinesprache zu sprechen?" überlegte Charlotte laut, woraufhin Tex es aufgab, sich in die Wange zu beißen, und zu lachen begann. Er sank neben Charlotte auf die Kante des Liegestuhls und legte prustend den Kopf in den Nacken. Bei seinem ansteckenden Lachen fing auch Charlotte zu kichern an. Bald klatschten sie sich beide auf die Schenkel und konnten die Lachtränen nicht mehr zurückhalten. „Meinte er das ernst?" fragte Charlotte. Tex konnte nur nicken und legte sich eine Hand auf den Magen. Vor Lachen taten ihm bereits die Ba uchmuskeln weh. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so gelacht hatte. Dass Charlotte keuchend neben ihm saß und ihn am Arm gepackt hielt, verstärkte sein Lachen nur noch. Schließlich ebbte ihr Gelächter ab, bis sie beide nur noch ge legentlich aufprusteten und kicherten. Charlotte tupfte sich die Augen mit ihrem Handtuch ab. „Wo haben Sie denn diesen Kna ben her?" Tex starrte sie eindringlich an. „Lesen Sie meine Gedanken." Charlotte presste ihre Finger gegen die Schläfen und schloss die Augen. „Ich empfange Signale." Zum ersten Mal, seit sie sich kennen gelernt hatten, fühlten sie sich richtig wohl miteinander. Charlotte lehnte sich zurück und schob sich die Sonnenbrille übers Haar. Tex drehte sich, um Charlotte besser sehen zu können, und stützte sich mit einem Arm über ihren langen schlanken Beinen auf der anderen Kante der Liege ab. Ihre hell lackierten Fußnägel waren nur um Haaresbreite von seinem Handgelenk entfernt. Charlottes Füße waren hinreißend, und Tex hätte sie am liebsten auf seinen Schoß gezogen und ein wenig massiert. Aber er riss sich besser zusammen und beantwortete Charlottes Frage. „Ich habe ihn sozusagen geerbt. Als Rache für einen Streich in einer anderen Praxis. Lange Geschichte. Es reicht wohl, wenn ich sage, dass Wally nicht gerade der Hellste ist, aber sein Vater hat die Abteilung der tiermedizinischen Universität finanziert, daher das alles." „Ah ja, ich verstehe." Charlotte bewegte sich, so dass ihre Ze hen sein Handgelenk berührten. „Wieso wollten Sie überhaupt Tierpsychologe werden?" Tex hob die Schultern. „Das war ganz klar. Ich konnte immer gut mit Hunden und Katzen umgehen. Ich weiß nicht, warum. Sie reagieren einfach auf mich." Ihr Nicken drückte Interesse aus, und obwohl er sich ge schworen hatte, nicht zu freundlich zu Charlotte zu sein, fuhr er gegen jedes bessere Wissen fort. „Seit fast zwanzig Jahren reite ich Pferde zu..."
„Seit zwanzig Jahren?" Charlotte lehnte sich vor. „Wie alt sind Sie denn?" „Dieses Jahr werde ich dreißig." „Also haben Sie mit zehn angefangen, Pferde zuzureiten?" „Mhm. Ich hing schon früh bei den Ställen rum und habe die Arbeiter genervt. Habe alle geschockt, weil es mir gelang, ein wildes Pferd zu zähmen, das man schon aufgegeben hatte." „Wow. Haben Sie Tiere schon immer gemocht?" „Ja." Er zog eine Braue hoch. „Und? Haben Sie Tiere schon immer gehasst?" „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich sie nicht hasse. Ich sehe bloß keinen Grund, sie im Haus zu haben." „Hatten Sie keine Haustiere, als Sie klein waren?" „Nein." Sie klang abweisend. „Und ich glaube nicht, dass das so seltsam ist. Ich habe nicht das Gefühl, etwas versäumt zu ha ben." Tex zuckte die Schultern. „Man kann nicht vermissen, was man nie gehabt hat." „Bei Ihnen klingt das, als hätte ich keine normale Kindheit ge habt." „Und, hatten Sie eine?" „Ja. Dagegen ist eher mein jetziges Leben seltsam." Als Charlotte lächelte, war es ihm, als käme die Sonne über dem Horizont wieder ein Stück höher. „Erzählen Sie", drängte, er, weil er plötzlich alles über Charlotte wissen wollte. Alles. „Nein", protestierte sie. „Warum nicht?" „Darum! Wir sprachen gerade von Ihnen. Erzählen Sie weiter, wie Sie zu Ihrem Beruf kamen." „Oh, richtig." Er beugte sich ein wenig vor, so dass sein Hand gelenk ein bisschen deutlicher gegen ihren Knöchel lehnte. Charlotte zog den Fuß nicht weg. „Nun, wie ich schon sagte, mit Pferden konnte ich immer gut umgehen. Je größer und störrischer sie waren, desto mehr mochte ich sie." Sie schauderte. „Sie sind mutig." „Nein, nur verrückt." „Das auch." „Jedenfalls fingen die Leute an, mir ihre problematischen Pferde zu bringen. Dann fanden sie heraus, dass ich auch Kuhhunde trainieren konnte, also tat ich auch das ..." „Was ist ein Kuhhund?" „Sie sind wirklich ein Stadtmensch, nicht wahr? Es ist teils Kuh und teils Hund." „Sie lügen!" Tex lachte. „Es ist ein Wachhund für Kühe. Wie bei Schafherden." „Gut. Weiter." „Nun, das führte dazu, dass ich auch Blindenhunde ausbildete, Polizeihunde und Hunde für Spezialeinheiten, dann Polizeipferde. Später gab ich Erziehungskurse für Haustiere und ihre Besitzer, und außerdem war ich Berater für Pferdeszenen beim Film." „Wow. Klingt wundervoll." An ihrem interessierten Blick konnte Tex sehen, dass sie es ernst meinte. „Ich dachte, Sie glauben, meine Arbeit sei eine Art Hölle auf Erden." „Nein. Wenn Sie die Arbeit gern tun, ist es doch toll." Sie spielte mit ihren Fingern. „Ich wäre froh, ich hätte überhaupt einen Job, geschweige denn einen, den ich gern mache." „Oh, ja, stimmt. Wie war denn die Jobsuche heute?" „Schrecklich. Niemand braucht jemanden mit meiner Erfahrung." „Was können Sie denn?" „Nach der High School habe ich zehn Jahre lang meine Nanna Dorothy gepflegt." „Tut mir Leid, dass sie gestorben ist." „Ist schon gut. Ich hatte sie gern und vermisse sie sehr. In vieler Hinsicht war ich von
ihr abhängig. Aber mir geht's gut. Sie wurde hundert Jahre alt und hatte ein erfülltes Leben. Und in den letzten Jahren hatte sie ihre persönliche Pflegerin. Mich." Charlotte seufzte. „Welche Art von Arbeit suchen Sie denn?" „Ich weiß es noch nicht genau. Im Moment wäre ich mit allem zufrieden, was mir den Mindestlohn sichert. Ich muss Geld verdienen, damit ich und das Schwein was zu essen haben." „Sie hat Ihnen also das Schwein vererbt." „Ja. Nanna Dorothy liebte Toto wie ein Baby. Sie war ein bisschen exzentrisch. Jedenfalls hat sie in ihrem Testament festgelegt, dass ich dort weitermachen soll, wo sie aufhören musste, und Toto ... äh, wie ein eigenes Kind lieben sollte." „Und wie konnte sie Sie zu so etwas zwingen?" „Indem ich mein Erbe erst dann ausgezahlt bekomme, wenn Toto eines natürlichen Todes gestorben ist." „Autsch. Das kann ja noch Jahre dauern." „Sie sagen es. Daher brauche ich einen Job, und zwar schnell." Einen langen Moment sahen sie sich einfach nur schweigend an, ohne sich zu bewegen und den Bann zu brechen. Ihre Unterhaltung war so normal und entspannt, dass sie beide überrascht waren. Tex war völlig fasziniert. Er hatte Charlotte falsch eingeschätzt. Sie war nicht die verwöhnte reiche Erbin, für die er sie gehalten hatte. Sondern sie war liebevoll, geduldig und hatte Mut. Alles, was er an einer Frau bewunderte. In seinem Hinterkopf schrillten die Alarmglocken. Er überließ schon wieder seinen Emotionen die Oberhand. Genau wie bei Jennifer. Bei Jennifer hatte er sich eingeredet, dass ihre Allergien nichts mit seiner Arbeit zu tun hatten. Dass sie dieses Hindernis überwinden und zusammen glücklich sein könnten. Aber er hatte sich getäuscht. Sich weiter mit der Schönheit einzulassen, die da unter seinem Arm auf dem Liegestuhl lag, wäre ein schwerer Fehler. Be hutsam hob er den aufgestützten Arm über ihre Beine und setzte sich gerade auf. „Na dann", meinte er und wäre am Besten sofort gegangen, aber sein Verstand funktionierte nicht mehr. Charlotte in ihrem knappen Badeanzug hatte eine solche Wirkung auf ihn, dass er kaum denken konnte. „Hört sich an, als wäre das nicht ganz ein fach." Tex räusperte sich und blinzelte in den Sonnenuntergang. „Das könnte man so sagen", stimmte sie zu. „Nun ja, jedenfalls hoffe ich, dass Sie ... nun ... bald etwas finden." Er stand auf. „Mir fällt gerade ein, ich habe noch einen Termin. Wir sehen uns dann morgen." Charlotte nickte verwirrt. „Ahm, okay. Sicher. Um zehn?" „Ja. Um zehn." Bevor Tex es sich anders überlegen konnte und sich auf Charlotte stürzte, um sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, machte er auf dem Absatz kehrt und ging.
4. KAPITEL
Vier Tage waren seit der netten Unterhaltung mit Tex am Pool vergangen, und immer noch hatte Charlotte keine Ahnung, warum Tex plötzlich so unnahbar geworden war. Immer und immer wieder analysierte sie ihre Unterhaltung, um herauszufinden, wann genau diese Veränderung eingetreten war. Es war so sonderbar. Da waren sie, unterhielten sich richtig nett, und, peng, gingen die Rollläden bei Tex herunter. Hatte sie irgendetwas gesagt, was ihn verletzt hatte? Und wenn ja, was? Seither hatten sie zwar weiterhin gemeinsam mit Toto trainiert, aber es sprühten keine Funken mehr zwischen ihnen wie in der ersten Stunde. Stattdessen waren sie wieder zu ihrem üblichen Gezanke übergegangen, als hätte das freundliche Zwischenspiel am Pool überhaupt nicht stattgefunden. Wenigstens war Hunt jeden Tag vorbeigekommen, um ein bisschen mit ihr zu flirten. Heute früh hatte er sie zum Tanzfest eingeladen, das Big Daddy zwei Mal im Jahr veranstaltete. Laut Hunt gingen alle Angestellten der Ranch dorthin. Für Charlotte klang es nach einer netten Ablenkung, also hatte sie zugesagt, obwohl sie sich heimlich wünschte, dass Tex sie gefragt hätte. Jedenfalls schien Hunt ein netter Kerl zu sein. Sicher nicht so sprunghaft wie Tex. Allerdings auch lange nicht so sexy. Sie musste Tex aus ihrem Kopf verscheuchen. Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich in ihrem Liegestuhl am Pool, wo sie sich in den letzten Tagen am liebsten aufhielt. Es gab zwei Gründe, warum sie gern hier war. Erstens hoffte sie, Tex käme vorbei und sie würden ihr Gespräch an der Stelle wie der aufnehmen, wo sie es abgebrochen hatten, zweitens konnte sie sich hier am Besten entspannen, nachdem sie den ga nzen Tag erfolglos auf Arbeitssuche gewesen war. Nach einem Job, für den sie nicht qualifiziert war. Die Zeitung raschelte, als Charlotte den Kleinanzeigenteil der Hidden Valley Tribüne Appeal aufschlug. Mit einem roten Stift in der Hand ging sie die Anzeigen durch und hoffte gegen alle Hoffnung, etwas Neues zu finden. Etwas, wo sie sich noch nicht beworben hatte. Und abgelehnt worden war. Nein. Nichts. Rein gar nichts. Mist. Außer ... Ihr Blick blieb am Ende der Seite hängen, wo eine fett gedruckte Annonce ihre Aufmerksamkeit erregte. AT-HOME MAKE-UP COMPANY Ergreifen Sie die Gelegenheit! Suchen Sie eine herausfordernde Karriere in der glitzernden Welt der Kosmetik? Arbeiten Sie zu Hause und verdienen Sie bis zu 100.000 Dollar im Jahr auf Kommissionsbasis. Nur der Himmel ist Ihre Grenze, denn Sie sind Ihr eigener Chef! Wir suchen positive, offene und einsatzfreudige Menschen, die sich diese aufregende und einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen. Keine Erfahrung erforderlich, wir schulen Sie gratis. Zögern Sie nicht - wählen Sie noch heute 1-800-555! Hunderttausend Dollar pro Jahr? Wow! Die meisten Jobs, für die Charlotte sich bisher beworben hatte, boten nur einen oder zwei Dollar über dem Mindestlohn, im besten Fall käme noch Trinkgeld dazu. Vor Aufregung prickelte ihr ganzer Körper. Sie war doch positiv, offen und einsatzfreudig, oder etwa nicht? Und das Beste? Sie hatte keine Erfahrung! Sie war wie geschaffen für den Job. Obwohl sie selbst nicht oft Make-up trug, war sie in der Schule immer sehr kreativ mit Farben gewesen. Make-up zu verkaufen konnte sicher nicht so schwierig sein. Charlotte malte einen roten Kringel um die Anzeige und schnappte sich den Bademantel und ihre Sandalen. Sie konnte es kaum erwarten, die At-Home Make- up Company anzurufen. Wenn sie sich nicht beeilte, war sie vielleicht zu spät dran.
Ein lebhaftes Lächeln umspielte Charlottes Lippen. Wenn man ihr keinen Job geben wollte, schuf sie sich eben ihre eigene Position. Sie würde ihr verborgenes Talent schon noch finden. Es war nur eine Frage der Zeit. „Ich kann heute nicht lange bleiben, ich muss arbeiten", erklärte Charlotte, als sie sich auf den bequemen Stuhl vor Tex' Schreibtisch setzte. „Das geht in Ordnung." Tex zuckte die Schultern in dem Versuch, seine Enttäuschung zu verbergen. Was sie mit ihrer Zeit anfing, war ihre Sache, obwohl er zuge ben musste, dass er neugierig war auf ihren neuen Job. Und leider war er auf alles neugierig , was Charlotte Beauchamp betraf. Das war das Problem. Er vermied den Augenkontakt mit ihr und kramte in seinen Papieren. Charlotte stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch, goss sich Milch ein und tat großzügig Zucker hinein, rührte um und klopfte den Löffel am Rand ein paar Male ab. Tex fing bereits an, sich ihre Gewohnheiten einzuprägen. Schlechtes Zeichen. Jeden Morgen um zehn, kurz bevor sie anfingen, trafen sie sich - wie er es mit allen Klienten machte - und diskutierten die Fortschritte des vorigen Tages. Die Gespräche mit Charlotte waren kurz, und das passte Tex gut. Es war hart genug, sie so nah um sich zu haben und jeden Tag eine volle Stunde mit ihr zu trainieren. Zu sehen, wie sie sich zurücklehnte, ihre schlanken Beine überkreuzte, sich das dichte lockige Haar aus der Stirn strich und die Kaffeetasse an die vollen Lippen führte. Distanz zu halten war zu einer richtigen Aufgabe geworden. Durch die schnippisch Art, in der sie mit ihm sprach, begriff er, dass er letzte Woche am Pool ihre Gefühle verletzt hatte, als er sich so unvermittelt aus dem Staub gemacht hatte. Aber es ging nicht anders. Er musste Abstand zu ihr halten und hatte keine Ahnung, wie er das sonst tun sollte. Sicher war es so besser für sie beide. Bevor er noch überlegen konnte, ob es klug sei, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, hörte er sich schon sagen: „So. Sie haben also eine Arbeit gefunden." „Ja." Tex hasste sich dafür, aber er starb vor Neugierde. „Wo denn?" „Ich habe kein eigentliches Büro. Es ist ein Verkaufsjob." „Verkauf? Was verkaufen Sie denn?" „Ich bin selbstständig tätig für die At-Home Make- up Company", erklärte sie ihm. Ihr Stolz war unüberhörbar. „Nun, gratuliere." „Danke. Ich gebe heute Abend meine erste Party und möchte sichergehen, dass alles gut vorbereitet ist." „Party?" „Wir verkaufen unsere Produkte bei Hauspartys." Tex runzelte die Stirn. Wo war sie denn da hineingeraten? Was die Arbeitswelt betraf, schien ihm Charlotte ein Unschuldslamm. Irgendeine Art Beschützerinstinkt zwang ihn, näher nachzufragen. „Sie wollen Geld verdienen, indem Sie Partys ge ben?" Tex hatte offenbar einen bloßen Nerv getroffen, denn Charlotte wirkte ungehalten. „Was ist daran falsch? Es ist legal, es macht Spaß, ist interessant und vor allem profitabel. Man kann bis zu hunderttausend Dollar pro Jahr verdienen, wenn man hart arbeitet." Tex schnaubte. „Für hundert Riesen müssen Sie aber ganz schön viele Partys geben und eine Menge Lippenstift verkaufen." Charlotte stellte ihre Tasse auf dem Schreibtisch ab und verschränkte angriffslustig die Arme vor der Brust. „Nun, so viel werde ich im ersten Jahr sicher nicht verdienen, aber wenn ich die erforderlichen Kosmetikkurse besucht habe, bekomme ich bestimmt bald mein diamantenes Diadem." Ihr funkelnder Blick ließ Tex das Blut in den Ohren pochen. Verflixt, sie war entzückend, wenn sie sich aufregte. Was sie übrigens ständig tat.
Er wollte ihre Seifenblase nur ungern zerplatzen lassen, aber die ganze Sache schien ihm zu schön, um wahr zu sein. „Diamantenes Diadem?" „Ja", bestätigte sie und reckte das Kinn vor. „Es gibt verschiedene Stufen auf der Karriereleiter der At-Home Make-up Company. Zuerst bekommt man ein kristallenes Parfümfläschchen. Dann einen silbernen Mascara, später einen Lippenstift mit Saphirund Rubinbesatz und zuletzt, wenn man bei den hunderttausend Dollar ist, das Diamantdiadem. Das ist mein Ziel." „Hört sich an, als hätten Sie den Bogen schon raus." „Wissen Sie, ich höre an Ihrem Ton, dass Sie denken, das ist alles Schwachsinn. Aber Sie irren sich. Warten Sie's nur ab." „Ich glaube Ihnen." „Nein, das tun Sie nicht, aber das ist mir egal." Mit einem tie fen Atemzug stand sie kerzengerade auf und sah ihn unter ihren langen Wimpern hervor an. „Machen Sie sich nur lustig, wenn Sie meinen. Aber heute Abend werde ich Sie überraschen. Miss Clarise wird meine Gastgeberin sein: Wir haben alle Nachbarinnen und Verwandte in der Gegend eingeladen. Ich glaube, sogar Ihre Schwestern kommen heute Abend extra vom College hierher." „Welche?" „Die so heißen wie Bundesstaaten." Tex kicherte. „Alle in unserer Familie haben die Vornamen von amerikanischen Staaten." Einen Augenblick lang gab sie ihre defensive Haltung auf. „Wirklich?" „Ja." Er lehnte sich zurück und zählte auf. „Da sind Dakota, Montana, ich und Kentucky, der Tucker genannt wird. Dann gibt es fünf Mädchen: Virginia, die alle Ginny nennen, Carolina, Georgia, Maryland, kurz Mary, und zuletzt Louise-Anna. Wir nennen sie meistens Lucy. Sie geht noch auf die High School." „Wow." Charlottes Augen hatten sich geweitet. „Ich wette, sie alle tragen Make- up." „Die Jungs nicht." Zum ersten Mal in dieser Woche lächelte Charlotte ihn an. Tex schmolz dahin und strahlte, bis ihm klar wurde, dass er glotzen musste wie ein liebeskranker Teenager. Er schob seinen Stuhl zurück und begab sich sicherheitshalber wieder hinter seine kühle Fassade. „Wir sollten aufhören, unsere Zeit zu verschwenden, und uns besser an die Arbeit machen." Er wusste, dass seine Stimme strenger klang als nötig, aber er sprach mehr zu sich selbst als zu Charlotte. Auf dem Weg zur Tür dachte er, dass die Texassonne hoffentlich kühler war als sein Gesicht. Das ging alles überhaupt nicht gut. Charlottes Herz klopfte wild, und ihre Hände waren unange nehm feucht. Ein einziger Schulungstag war eindeutig nicht ausreichend. Sie fühlte sich schwindelig und hatte das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde schwanken. Egal. Irgendwie würde sie das schon durchstehen. Sie musste. Miss Clarise hatte fast sechzig Frauen eingeladen, von denen Charlotte die wenigsten kannte. Sie saßen im Salon und aßen Knabberzeug, während Charlotte ein Flipchart aufstellte und Farbräder sowie eine Unzahl von Kosmetikutensilien platzierte. Jetzt ging es los. Nachdem sie sich selbst und die At-Home Make-up Company vorgestellt hatte, schwiegen die Frauen erwartungsvoll. Nun sollte Charlotte ihre Make-up-Demonstration an EttaMae Hanson beginnen, der Chefköchin des Hauses. Als Charlotte noch in der Planungsphase war, schien EttaMae die perfekte Kandidatin für eine wundersame Verwandlung durch die At-Home Make-up Company Produkte zu sein: griesgrämig und ohne jeden Schick. Als sie noch allein probte und nicht in einem Raum gerammelt voll mit Frauen stand, die auf jedes Wort von ihr lauschten. Als sie von ihren Unterlagen ablesen konnte, wenn sie unsicher war ...
Charlotte wischte sich die klammen Handflächen an den Ho senbeinen ab und versuchte ein Vertrauen erweckendes Lächeln aufzusetzen. Sie konnte es. Von einem bisschen Lampenfieber würde sie sich nicht abhalten lassen. Sie nicht. Den ganzen Nachmittag hatte sie an der Puppe geübt, die sie von der Make- up Company gestellt bekommen hatte, aber leider sah EttaMae diesem perfekt proportionierten Modell überhaupt nicht ähnlich. „Okay. Ahm. EttaMae hat, ahm ...", Charlotte blinzelte und suchte nach einem professionellen Ausdruck, während sie Etta-Maes Gesichtshaut mit den Fingern abtastete, „... Mischhaut." Was auch immer das war. EttaMae brummte. Mit einem Haarband hatte die ältere Frau ihr ergrauendes Haar auf dem großen Kopf hoch getürmt. Ihr Kopf schien Charlotte überdimensional. Du liebe Güte, EttaMae bestand nur aus Gesicht. Das würde Ewigkeiten dauern. „Das heißt, dass wir zunächst mit unserer Allzweckbasiscreme Unregelmäßigkeiten glätten und EttaMae ein ... äh ... frisches Leuchten geben werden." Wieder brummte EttaMae. Einige Frauen reckten die Hälse, um besser sehen zu können. Bestellscheine raschelten auf ihren Knien. Jemand hustete. Alle fünf reizenden Schwestern von Tex saßen nebeneinander auf einer Couch, flüsterten miteinander und beschäftigten sich mit den Zetteln. Charlottes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ich kann es, ich kann es, redete sie sich im Stillen Mut zu. Charlotte hielt die Farbpalette neben EttaMaes rötlich geflecktes Gesicht. „Zuerst", flötete sie ganz nach Plan, „werden wir einen Farbabgleich machen und die Creme an einer Stelle testen." Und drehen, zwei, drei. Und lächeln, zwei, drei. Und nicken, zwei, drei, fröhlich und sorglos in Richtung Publikum. „Unsere speziellen Formeln", improvisierte sie, „werden nach geheimen Rezepten hergestellt und sind selbst für die empfindliche Haut eines Babypopos verträglich." EttaMae zog eine Grimasse und schnaubte. „Nun werden wir erst einmal herausfinden, ahm ... was für ein Farbtyp sie ist. Okay, EttaMae sieht nach ... äh ... Frühling aus. Nein, ahm ... vielleicht Sommer. Hmm, das stimmt nicht ganz ..." Charlotte studierte die Farbpalette, dann nahm sie die ältere Frau in Augenschein. EttaMaes Haut sah eher wie wetterge gerbtes Schuhleder aus. „Nein, ich glaube, Herbst. Also werden wir eine unserer Herbstfarben an ihr ausprobieren. Ich glaube, ,South-West-Sunset' ist genau das Richtige." „Hört sich romantisch ah", kam ihr Miss Clarise zur Hilfe, und deren Freundinnen murmelten höflich ihre Zustimmung. Charlotte tupfte einen Farbfleck auf EttaMaes Haut und massierte ihn sanft ein. „Sehr schön, das sieht prima aus. Während wir die Creme einwirken lassen, möchte ich Sie auf die Rückseite Ihres Infoblattes hinweisen. Bei der At-Home Make-up Company können Sie bis zu hunderttausend Dollar pro Jahr auf Kommissionsbasis verdienen. Und dazu müssen Sie nur wenige Tage pro Woche arbeiten, und noch dazu nur auf Partys." Die Damen in den Designerkleidern, behängt mit Diamanten, regten sich nicht. Offenbar hatten sie das Geld nicht nötig. Charlottes schoss das Blut in die Wangen. Nun, dieses war ein besonderes Publikum. Nicht alle ihre Partys würden bei so reichen Frauen stattfinden. Sie wandte sich EttaMae zu. Die Haut unter der „South-West-Sunset"- Grundierung schien sich tatsächlich in eine Art feurigen südwestlichen Sonnenuntergang zu verwandeln. Charlotte griff nach einem Kosmetiktuc h und rieb das Make-up weg. „Seltsam", murmelte sie. „Brennt das immer so?" grollte EttaMae. Alle lehnten sich vor, um besser sehen zu können. Manche blickten skeptisch und begannen, sich miteinander zu unterhalten. Miss Clarise ließ sich einen Eisbeutel bringen
und gab ihn Charlotte, die ihn an EttaMae weiterreichte. EttaMae presste ihn auf die böse aussehende Stelle. „Das fühlt sich an, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen", beklagte sie sich. „Unsere Produkte können etwas belebend auf empfindliche Haut wirken." EttaMae befühlte vorsichtig ihre Wange. „Beißt aber eher." „Ich .. ahm ..." Charlotte strahlte in die Runde. „Habe ich schon unsere fantastische Auswahl an Lippenstiften erwähnt?" Während sie in einer ihrer Taschen kramte, bemerkte sie bei Tex' Schwestern Unruhe. Als sie hochblickte, sah sie, dass sie jemandem in der Halle hinter einer der Säulen zuwinkten. Tex! Sein breites Grinsen war unübersehbar. Was um Himmels willen machte er denn hier? Charlottes Puls schlug noch schneller. Mit einem warne nden Blick versuchte sie ihm deutlich zu machen, dass er verschwinden sollte. Er beachtete sie jedoch nicht. „Jetzt möchte ich, dass EttaMae unseren ,Plumberry-Wine-Everlasting'-Lippenstift ausprobiert", kündigte Charlotte an und zwang sich, sich wieder auf ihre momentanen Aufgaben zu konzentrieren. Sie trug einen dicken Farbstreifen auf EttaMaes dünnen Lippen auf. „Die Spezialfarben dieses Produkts sind extra lange haltbar." „Exsra lamm hallbah?" stieß EttaMae zwischen ihren plötzlich aufschwellenden Lippen hervor. „Ich bill bas micht exsra lamm aup meimem Lippem hahm!" „Nein, nein." Charlotte lachte nervös. „Es hält nur einen Tag lang." EttaMaes Lippen waren jetzt so rot wie der Fleck auf ihrer Wange. „EttaMae, leiden Sie an einer Allergie?" „Meim!" „Wirklich nicht?" „Meim!" „Dann verstehe ich das nicht", murmelte Charlotte. Zur Runde gewandt sagte sie: „Keine Sorgen, meine Damen, ich habe alles unter Kontrolle. EttaMae geht es gleich wieder gut." Wieder entfuhr ihr ein nervöses Lachen. „Noch niemals ist jemand an unseren At-Home Make- up Company Produkten gestorben." Hoffe ich jedenfalls, fügte sie im Geist dazu. „Gestohbm?" kreischte EttaMae. Tex betrat jetzt den Raum und stellte sich nahe zu Miss Clarise an den Türbogen. Sein Lächeln war nicht mehr skeptisch, sondern aufmunternd. Dafür würde ihm Charlotte auf ewig dank bar sein, denn inzwischen tauschten die Frauen im Publikum alarmierte Blicke aus. Das Gemurmel wurde immer lauter. Manche witzelten, ob sie den Notarzt holen sollten, und es gab Gelächter. Immerhin haben sie wenigstens in einer Hinsicht Spaß, dachte Charlotte, während sie langsam panisch wurde. Miss Clarise hatte einen zweiten Eisbeutel bringen lassen. „Nein, nein", meinte sie beruhigend, obwohl ihr keineswegs danach war. „EttaMae, machen Sie sich keine Sorgen. Sehen Sie, ich probiere den Lippenstift an mir selbst aus." Charlotte griff sich den Lippenstift, und mit einem Blick in den Standspiegel, den Miss Clarise ihr für die Party geliehen hatte, trug sie das Make-up großzügig auf. Hmm. Charlotte bewegte die Lippen. Es fühlte sich an, als würden tausend kleine Nadeln sie in die Lippen pieksen. „Pühlt sich am bie Mabelstiche, stimm's?" fragte sie EttaMae. „Ja." EttaMae nahm den Eisbeutel weg, um ihre Lippen zu präsentieren, die heftig aufgeschwollen waren. „Pielleicht sollte jemamd eimem Ahzt rufem!" „Eimern Ahzt?" wiederholte Charlotte. „Ja, gupe Ibee." Glücklicherweise erhob sich in diesem Moment Miss Clarise. Sie trat an Charlottes Seite, kündigte eine Programmpause an und bat die Dame n, ihr doch ins Speisezimmer zu folgen, um zu klassischer Musik eine Erfrischung zu sich zu nehmen.
Ganz offensichtlich bester Laune - alle schnatterten wie Els tern - folgte die Runde Miss Clarise aus dem Raum. EttaMae riss sich den Plastikumhang herunter und eilte davon, um den Scha den an ihrem Gesicht zu begutachten. Allein und beschämt trottete Charlotte zu der Couch, wo Tex' Schwestern gesessen hatten, und ließ sich in die weichen Polster fallen. Tränen traten ihr in die Augen, und sie verbarg das Gesicht in den Händen. In dieser Welt erfolgreich zu sein war härter, als sie gedacht hatte. Tex stand immer noch an der Tür. Er war unsicher - Charlotte wirkte so einsam, wie sie dort auf der Couch saß, mit hängenden Schultern und geneigtem Kopf. Bei dem Anblick machte sein Herz einen Satz. Er konnte niemanden weinen sehen. Immer hatte er das Bedürfnis zu trösten, egal, wer es war. Obwohl er den Verdacht hatte, dass es sich bei Charlotte ein wenig anders verhielt. Sein Drang, sie zu beschützen, ging weit über Trost hinaus. Er sah zu Toto hinab, der es sich auf seinen Stiefeln bequem gemacht hatte. „Komm, Schwein", murmelte er. Auch wenn er jetzt einen riesigen Fehler machte, folgte er seinen Instinkten und ging zu Charlotte, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Toto trottete hinterher. Als spürte das Schwein, dass etwas nicht in Ordnung war, legte es seine Schnauze auf die Couch zwischen Tex und Charlotte und blinzelte sie an, ohne sich zu rühren. „Hey", flüsterte Tex und strich mit einem Finger über Charlottes Wange. Ihre aufgedunsenen Lippen waren traubenfarben, und er kämpfte gegen den Wunsch an herauszufinden, ob sie ge nauso köstlich schmeckten wie sie aussahen. Charlotte schniefte und bemühte sich um ein Lächeln. Winzige Fältchen bildeten sich um ihre nassen Augenwinkel. „Hi." „Wie geht's?" Sie winkte ab. „Ist schom gup." Ein schwerer Seufzer entrang sich ihr. „Es ist muh eime Prage der Zeit, bis ich bem passem-bem Berup pimbe. Ba braußen bartet eime Karriere aup mich, ich beiß es ganz gemau." „Hoffentlich", murmelte Tex. „Sie brauchen micht so bilb baraup seim, mich loszuberbem", schnappte sie. „Nein, nein, das wollte ich damit gar nicht ..." Tex drehte ihren Kopf zu sich und sah ihr tief in die Augen. „Es tut mir Leid." Wieder schniefte sie. „Tut es weh?" „Muh bemm ich lächle." „Vielleicht wird es besser, wenn ich Sie küsse?" neckte er sie, um ihre Laune zu heben, auch wenn eine ernste Frage in seiner Neckerei lag. „Ich .. ich beiß mich recht ..." Sie sah ihn unter ihren langen Wimpern hervor an, und einen Moment lang glaubte Tex in ihren Augen die gleiche Anziehungskraft zu sehen, die auch er spürte. Ohne lange zu überlegen, was er tat, legte er Charlotte einen Arm um die Schultern und zog sie an sich. Wundersamerweise gab sie nach, ohne zu protestieren. Sie legte ihm sogar eine Hand an die Brust, wo sein Herz im Stakkato schlug. Tex fragte sich, ob sie sich ihrer Wirkung auf ihn bewusst war. Ihre Blicke trafen sich, und einen langen Moment lang lagen in ihren sehnsüchtigen Blicken die Gefühle offen, gegen die sie so lange gekämpft hatten. Ganz langsam senkte Tex den Mund und begann, Charlotte sanft und unglaublich süß zu küssen. Er konnte es selbst kaum fassen, dass eine so wunderbare Erfahrung überhaupt von dieser Welt sein konnte. Eigentlich wollte er zärtlich sein, weil Charlottes Mund so weich war, aber es trieb ihn, den Kuss zu vertiefen. Er drehte ihren Kopf mehr zu sich und küsste sie so, wie er sich gewünscht hatte, Charlotte Beauchamp zu küssen, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte: mit allem Feuer und aller Leidenschaft, die ihre Hassliebe ausmachte. Ihre Lippen waren weich und süß und schmeckten nach Minze und „Plum
berry-Wine-Everlasting"- Lippenstift und Charlottes unverwechselbarem weiblichem Duft. Er spürte, dass sie genauso schwer atmete wie er. Mit den Händen schob er ihr die wundervolle Fülle ihrer Locken aus dem Gesicht und fuhr die zarten Konturen ihrer Wangenkno chen mit den Fingern nach. „Mmm." Noch nie hatte sein Herz schneller geschlagen. Tex fühlte sich schwindelig, und kleine Lichter tanzten vor seinen Augen. Er ließ die Fingerspitzen von ihren Wangen zu ihrem Kinn wandern, dann zaghaft zu ihren Lippen. Die Luft um sie bewegte sich leicht, als er an ihrem Mund flüsterte: „Besser?" „Meim." Charlotte schloss die Augen. „Meime Bippem simb pohp", stöhnte sie. Tex nahm etwas Abstand. „Dann hast du gar nichts gespürt?" Traurig schüttelte sie den Kopf. Tex wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er kam sich plötzlich dumm vor, weil er alle seine Gefühle in diesen Kuss gelegt hatte. Sein Körper war wach und reagierte auf jede Bewegung von ihr. Jeder Nerv seines ganzen Körpers, einschließlich seiner prickelnden Lippen, war aufgeladen mit ihrer Präsenz. Und sie hatte nicht das Geringste gespürt. „Oh, na dann", seufzte er und rang um seine Fassung, um die Situation zu retten. „Ich bin sicher, dass es bald nachlässt. Vielleicht versuchen wir es dann noch mal", neckte er sie hoffnungsvoll. Charlotte stöhnte wieder. Tex wusste nicht recht, was er mit dieser Antwort anfangen sollte: War es ein Stöhnen oder eine Drohung? Ekstase? Er legte sich die Handflächen aufs Gesicht und rieb sich die Augen. Es sah ganz so aus, als wäre es ein Fehler gewesen, Charlotte zu küssen. Was zum Teufel hatte er sich bloß dabei ge dacht? Sie war nicht auf eine Beziehung mit ihm aus. Sie wollte eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Nichts mehr und nichts weniger. Nach der Beziehung mit Jennifer hatte er gelernt, wie man sich abschottete. Er schloss also sein Herz in Windeseile wieder ein, als Charlotte sich jetzt an ihn lehnte, ohne den Arm von seinem Nacken zu nehmen. Auf dem Mahagoniboden hörten sie Schritte. Miss Clarise gab einen erstaunten Laut von sich, als sie die beiden sah. „Oh!" Mit funkelnden Augen trat sie einen Schritt zurück. „Entschuldigt. Ich wollte euch nicht stören." Verlegen wand sich Charlotte aus Tex' Umarmung und versuchte so zu tun, als sei nichts geschehen. „Ist schom im Orbmumm." Tex richtete sein Hemd. „Du störst nicht." „Oh." Miss Clarise kicherte wissend. „Nun, ich will euch jedenfalls nicht aufhalten." Mit Tränen in den Augen stand Charlotte auf und lächelte. „Bank Pex geht's mih bieber besser, Miss Clarise. Ich kämm jetzt bohl mip ber Präsempapion beipermachen." „Nun, darüber wollte ich gerade mit dir reden, Charlotte, Liebes. Ich glaube, die Damen müssen schon aufbrechen. Sie lassen dir ausrichten, dass sie wirklich alle einen wunderbaren, unterhaltsamen Abend genossen haben und deine Bestellbögen mit genommen haben, um sie zu Hause zu studieren. Tex, deine Schwestern lassen dich grüßen. Und Charlotte, sie rufen morgen früh an, um ihre Bestellung abzugeben." „Keime Uhsache, Miss Clarise. Ich ziehe mich aup bem Geschäpt zurück. Sag ihmem, sie sollem sich micht perplichtet sehm, eppas zu kaupem." „In Ordnung." Miss Clarise nickte. „Big Daddy und ich werden die Gäste verabschieden, du kannst dich also entspannen, Darling. Bleib einfach sitzen, das Hausmädchen wird alles aufräumen und auf dein Zimmer bringen. Dann rufen wir einen Arzt, der sich EttaMae und dich ansieht." „Okay." Charlotte fühlte sich elend und ließ sich wieder in die Couch sinken. Finster sah sie Miss Clarise nach, dann wandte sie sich zu Tex, der sie so mitleidig und liebevoll anschaute, dass sie am liebsten wieder zu weinen angefangen hätte. „Bie Bamem gehm.
Mach muh breißig Mimupen." Tex nickte. „Aber das ist nicht deine Schuld." „Boch. Boch, es ist meime Schulb." Unruhig schnüffelnd stupste Toto Charlottes Knie an. Offensichtlich wollte er sie trösten. Charlotte schob ihn zur Seite, aber er ließ sich nicht abwimmeln, sondern stieß gegen ihre Hand. Als sie nicht reagierte, drängte er sich zwischen ihre Beine und legte den Kopf auf ihren Schoß. Abwesend streichelte Charlotte den borstigen Kopf und kraulte Toto hinter den Ohren, was er offe nsichtlich genoss, denn er gab kleine Freudengrunzer von sich. Tex lehnte sich zurück und sah nachdenklich zu. Charlotte fragte sich, was er wohl dachte. Wahrscheinlich war sie die schlechteste Küsserin auf der Welt. Aber das war nicht ihre Schuld! Er hatte sie einfach an einem schlechten Tag erwischt. Sie würde es wieder gutmachen. Jedenfalls hatte sie nicht die Absicht, sein Angebot auszuschlagen, es noch einmal mit einem Kuss zu versuchen. Behutsam betastete sie die dicken Wülste, zu denen ihre Lip pen geworden waren. Entsetzlich. Und trotzdem hatte Tex sie geküsst. Und getröstet. Er war so ein netter Mann, wenn er ihr nicht in seiner herablassenden Art den letzten Nerv raubte. Einen Augenblick lang wunderte sie sich, dass sich noch keine Frau diesen Kerl geschnappt und vor den Altar gezerrt hatte. Nicht, dass sie darauf aus war, dorthin zu kommen. Nein. Charlotte war gerade erst dem Gefängnis bei Nanna Dorothy entronnen. Jetzt wollte sie die Welt auf eigene Faust erobern. Eine Beziehung mit einem Mann würde ihr da nur hinderlich sein.
5. KAPITEL
Goldene Staubteilchen schwebten träge im Sonnenlicht, das durch die breiten Fenster von Charlottes Suite strömte und sie weckte. Draußen hörte sie Vögel singen. „Beginn den Tag" schien die Melodie zu sagen. Charlotte wollte nicht aufwachen. Sie hatte es warm und bequem. Und sie hatte einen so köstlichen Traum gehabt. Tex hatte sie geküsst und ohhh ... Wenn diese Vögel doch bloß den Schnabel hielten, dann könnte sie in Ruhe weiterträumen. Die fröhlichen Gesänge veränderten sich plötzlich, als die Vögel am Dachgesims zu streiten begannen. Charlotte seufzte. Das Leben war schrecklich. Langsam öffnete sie die Augen und blickte sich um. Der Duft von frischem Kaffee zog ihr in die Nase und weckte die Lust, doch aufzustehen. Das Hausmädchen war da gewesen und hatte ihr das Frühstück hingestellt, wahrscheinlich, weil Charlotte nicht zum gemeinsamen Frühstück mit Big Daddy und Miss Clarise im Esszimmer erschienen war. Sie sah auf die Uhr. Halb zehn? Du liebe Zeit! Charlotte schoss hoch und sah ihre wilde Mähne in dem riesigen goldgerahmten Spiegel an der Wand über der Kommode ge genüber dem Bett. Sie hatte verschlafen! Zweifellos deswegen, weil sie die halbe Nacht damit zugebracht hatte, sich hin und her zu wälzen und immer wieder den Horror ihres schmachvollen Karrierebeginns in der Geschäftswelt zu durchleben. Das und Tex' zärtlichen Kuss. Sie sah völlig aufgelöst aus, aber wenigstens hatten ihre Lip pen wieder ihre normale Größe angenommen. Die Salbe, die der Arzt ihr und EttaMae verschrieben hatte, hatte Wunder gewirkt. Die Schmerzen waren verschwunden und die Schwellung fast ganz abgeklungen. Der Doktor hatte erwähnt, dass er nicht zum ersten Mal so einen Fall erlebte. Soweit er wusste, lagen gegen die At-Home Make- up Company mehrere Klagen der Verbraucherschutzbehörde vor. Offenbar verdiente die Firma ihr Geld damit, Anfängersortimente an gutgläubige Frauen zu verkaufen, die davon träumten, das große Geld zu verdienen. An Frauen wie mich, dachte Charlotte, als sie hastig den Pyjama auszog und unter die Dusche stürzte. Nun, immerhin hatte sie eine wertvolle Lektion gelernt. Das nächste Mal würde sie nicht so vertrauensselig sein, sondern die Firma genau unter die Lupe nehmen, bevor sie ihr kostbares Geld für irgendetwas ausgab. Nach dem Duschen zog sie sich ein leichtes Sommerkleid an und schlüpfte in Riemchensandalen. Von dem Tablett im Eingangsbereich schnappte sie sich zwei Croissants - eins für sich und eins für Toto - und den Anzeigenteil der Hidden Valley Tri büne Appeal. Sie überflog die Einträge. Jobs waren rar. Aber das hier wäre vielleicht etwas. Die Action-Adventure Clothing Company suchte aufgeschlossene Verkäuferinnen. Klang genau nach dem Richtigen. Charlotte liebte Mode. Wenn sie wirklich vorhatte, sich auf eigene Füße zu stellen, musste sie eben einfach wieder auf das Pferd steigen, das sie abgeworfen hatte. Herumzusitzen und sich selbst zu bemitleiden war nie Charlottes Art gewesen. Wenn sie auf etwas stolz war, dann war es ihre Beharrlichkeit. Sie war so hartnäckig, wie Totos Hinterteil breit war. Und sie würde einen Job finden, der zu ihr passte. Mit einem letzten Blick in den Spiegel auf ihre immer noch pflaumenfarbenen Lippen rief sie Toto und warf ihm ein Stück Croissant hin. „Bereit für den Unterricht?" Er grunzte. „Ja. Ich auch nicht. Der Abend gestern ist mir immer noch peinlich." Toto sah sie aus seinen kleinen Augen an, schmatzte und stupste Charlottes Hand an. Sie brach noch ein Stück ab und gab es ihm. „Ich weiß es genau, und du warst auch
dabei. War es wirklich so schrecklich, wie es mir vorkam?" Toto wackelte mit dem Kopf, ohne Charlotte aus den Augen zu lassen, und setzte sich auf die Hinterfüße, so dass sein schwarz-rosa gesprenkelter Bauch auf den Boden hing. „Nein?" Charlotte legte den Kopf schief und betrachtete ihr Tier, während sie gedankenverloren an ihrem Croissant knabberte. „Willst du mir etwa sagen, dass du dich amüsiert hast? Wie nett von dir." Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich glaube es nicht. Da rede ich mit einem Schwein. Vielleicht hat Wally ja doch Recht", murmelte sie. Es entging ihr nicht, dass Toto sie nicht aus den Augen ließ. „Seltsam." Toto quiekte. „Nein, nicht du. Trotzdem, danke für die Unterstützung, Schwein." Sie warf nochmals einen Blick in den Spiegel und fuhr sich vorsichtig mit dem Finger über die Unterlippe. Zu gern hätte sie gewusst, wie sich Tex' Lippen tatsächlich anfühlten. „Weißt du, Toto, das einzig Gute an der ganzen Geschichte war, dass ich wenigstens einen Kuss dafür bekommen habe. Zu dumm, dass ich rein gar nichts gespürt habe." Ihre Gedanken schweiften wieder zurück zu dem Moment, als Tex sie in die Arme genommen und seinen Mund auf ihren gepresst hatte. Es durchzuckte sie. Trotz der tauben Lippen war es dennoch einer der süßesten Momente ihres Lebens gewesen. Eine Erinnerung, die sie wie einen Schatz bewahren würde. Sie sah auf die Uhr. Fast zehn. Ihr Herz machte einen Satz. Warum war sie vor der heutigen Stunde so nervös? Sie hatte doch schon ein Dutzend Lektionen hinter sich. Vielleicht lag es daran, dass der gestrige Abend so peinlich ge endet hatte. Tex hatte sie zu ihrem Zimmer gebracht. Die Salbe hatte bereits Wirkung gezeigt, daher hatte Charlotte eine Gelegenheit gesucht, Tex noch einmal zu küssen. Sie hatte erwartet, dass er den ersten Schritt machen würde, doch er hatte sie nur brüderlich umarmt und war dann verschwunden. Der erste Kuss musste also ziemlich enttäuschend für ihn gewesen sein. Und jetzt musste sie Tex wieder gegenübertreten. Sie würde ganz cool sein. Offensichtlich wollte er es nicht anders. Nach der geschwisterlichen Umarmung zu urteilen, hatte er nicht vor, es mit einem zweiten Kuss auf ihre leblosen Lippen zu versuchen. Ihre Wangen flammten auf. „Komm, Schwein", rief sie, und gemeinsam trotteten sie die breite marmorne Treppe hinab und hinaus in die Morgensonne. Es wurde so unangenehm, wie Tex befürchtet hatte. Er sah zu, wie Charlotte abwesend viel zu viel Milch und Zucker in ihren Kaffee tat. Sie benahm sich eine Spur zu unbeschwert. Eine Spur zu munter. Als wäre das, was am Abend zuvor zwischen ihnen geschehen war, ein Versehen gewesen. Er hätte sie nie küssen sollen. Offensichtlich waren sie einfach nicht füreinander geschaffen. „Ich habe die heutigen Kleinanzeigen mitgebracht." „Oh?" „Ja, und ich habe wieder etwas Interessantes gefunden. Aber dieses Mal werde ich vorher prüfen, um was für eine Firma es sich handelt." „Gute Idee." Die Federn in seinem Stuhl quietschten, als er sich zurücklehnte. „Was für eine Firma ist es denn?" „Action-Adventure Clothing." „Nie gehört." „Sie haben ihren Standort anderswo." Sein Herz zog sich plötzlich zusammen. Er musste sich anstrengen, seine Betroffenheit nicht zu zeigen. „Heißt das, du ziehst aus?" „Ich bemühe mich", bestätigte sie kühl. Sie hatte ihn falsch verstanden. „Nein", beeilte er sich ihr zu versichern, „ich wollte nur wissen, ob du dann ein Büro in der Stadt hast oder anderswo." Anderswo - zu weit weg von hier. „Nein, auch hier handelt es sich wieder um Verkaufspartys."
Er hob eine Augenbraue. „Tex, nicht alle Firmen mit dieser Methode sind unseriös. Tupperware zum Beispiel ist sehr erfolgreich." „Warum gehst du dann nicht zu denen?" „Stimmt, sollte ich vielleicht." Sie klopfte auf die Anzeige in der Zeitung. „Aber ich will erst das hier probieren. Ich liebe Mode. Ich glaube, das könnte meine Berufung sein." „Nun, dann viel Glück." „Danke." In einer Ecke des Raums raschelte es. Charlotte sah Tex fragend an. „Was war denn das?" „Kitty wacht wohl gerade auf." „Kitty?" Er stand auf und brachte einen tragbaren Korb aus der Ecke. „Darf ich dir Kitty vorstellen?" „Habe ich eine Wahl?" Tex hob etwas aus dem Korb, das wie ein Häufchen Schafwolle aussah. Charlotte kniff die Augen zusammen. „Soweit ich das beurteilen kann, ist das keine Katze." „Du hast Recht. Dieses kleine Wesen ist ein Golden Retriever. Ich ziehe ab und zu Welpen groß, für einen Freund, der eine Schule für Blindenhunde leitet. Kitty hier ist erst acht Wochen alt. Wenn sie ein Jahr bei mir verbracht hat, ist sie für das Jahr in der Schule in Dallas bereit. Danach wird sie jemand bekommen, der blind oder sehbehindert ist." „Warum trainierst du sie nicht?" „Das könnte ich tatsächlich, ich habe eine Lizenz dafür. Weil die Praxis hier so floriert, habe ich im Moment allerdings keine Zeit dafür. Aber irgendwann mache ich es wieder." Er hielt ihr den flaumigen Ball hin. „Willst du sie mal halten?" „Nein, danke." „Komm schon. Tu mir den Gefallen. Nur so lange, bis ich ihr Futter geholt habe." Er setzte ihr das gähnende Knäuel einfach auf die Knie und verschwand im Lagerraum. Toto näherte sich, um diesen Neuzugang in der Praxis zu begutachten. Unbeholfen berührte Charlotte den Hund, der sie aus verschlafenen Augen ansah. „Kitty, wie? Wo hast du denn diesen dummen Namen her?" Der Welpe gähnte. „Mmm." Charlotte lächelte. „Du bist ja süß." Sie hob ihn vor ihre Nase hoch, um ihn besser anzusehen, und der Hund beschnüffelte sie und begann dann, daran zu saugen. Charlotte kicherte. „Du dummes Ding. Gib meine Nase wieder her." Sie setzte den Welpen auf ihren Schoß zurück, so dass die breiten Pfoten über ihre Schenkel hingen und Kitty den Raum betrachten konnte. Ihr weiches Bäuchlein war unwiderstehlich rund und rosa. „Erzähl bloß Tex nicht, was ich gerade gesagt habe. Aber du bist wirklich süß. Doch, das bist du. Ist das nicht ein süßes Mädchen, Toto?" Als er seinen Namen hörte, stieß Toto sie mit der Schnauze an und schnüffelte neugierig an dem Hund. „Komm bloß nicht auf dumme Gedanken", warnte sie das Schwein. „Du bist ein Einzelkind und wirst es auch bleiben." Ein paar Minuten lang beobachtete Tex durch einen Spalt in der Vorratskammer, wie Charlotte den Welpen streichelte. Er grinste übers ganze Gesicht. Charlotte Beauchamp, die Eisprinzessin, schmolz dahin. Oh ja, sie setzte liebend gern eine frostige Fassade auf, aber im Grunde ihres Wesens war sie warmherzig. Wer so mit einem jungen Hund sprach, hatte ihn schon lieb gewonnen. Ob er es merkte oder nicht. Es war Tex auch nicht entgangen, dass Charlottes Verhalten Toto gegenüber in der letzten Zeit nachgiebiger geworden war. Sie küsste ihn zwar nicht gerade vor
Begeisterung ab, aber immerhin pflegte sie jetzt ein recht freundschaftliches Verhältnis zu ihm. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung bei ihr. Tex stieß die Tür auf und wuchtete die 25-Kilo-Packung Welpenfutter auf ein Regal, wo schon andere Tüten standen. Er entschied sich, Charlotte nicht darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich gerade mit zwei Tieren unterhalten hatte, sondern nickte in Richtung Fenster. „Sieht aus, als finge Big Daddy schon mit den Vorbereitungen für das Tanzfest heute Abend an." Mehrere Lieferwagen eines Party-Service' hatten auf der Ra senfläche neben der roten Scheune geparkt. Etliche Männer luden große weiße Zelte ab und bauten Grillgelegenheiten und endlose Tischreihen auf. Charlotte stellte sich mit Kitty neben Tex und betrachtete die Aktivitäten. Aus einem Kleinlaster luden die Männer Musikins trumente und Verstärker und brachten sie in die Scheune. Außen wurden Lichterketten montiert und über die Büsche und Zäune verteilt, am Scheunentor wurden Flutlichter installiert. „Das wird bestimmt nett", meinte Charlotte und lächelte träumerisch. „Ja." Tex begegnete ihrem Blick. Keine andere Frau wirkte so attraktiv auf ihn wie Charlotte, wenn sie lächelte. Er schluckte. Ob sie vielleicht Lust hatte, mit ihm zum Tanz zu gehen? „Ich werde hingehen", warf er so beiläufig hin, wie er konnte. Voller Hoffnung. „Ich auch. Hunt hat mich gefragt." Tex' Herz blieb beinahe stehen. „Oh." Nun, jetzt wusste er es. Sie ging mit Hunt. Er hatte zu lange gezögert. „Dann werden wir uns ja wahrscheinlich sehen." Charlotte wandte sich wieder der Szenerie draußen zu. Dann sagte sie, eine Spur zu unbeschwert: „Sicher." „Komm, Schwein!" Tex ging hinaus zum Trainingsgelände und hätte sich am liebsten den ganzen Weg über selbst geohr feigt. Wie alle Partys, die von den Brubakers gegeben wurden, war der Tanzabend ein rauschender Erfolg. Auf beiden Seiten der langen Auffahrt parkten Wagen, selbst auf dem Feld hinter den Stallungen standen reihenweise Autos. Die mächtigen Flutlichter warfen Lichtkegel in den dunklen Himmel, Bedienstete sorgten in der Scheune für Getränke und reichten Snacks vom Grill. Charlotte betrat die riesige Scheune an Hunts Arm, dicht ge folgt von Toto. Sie blieben am Eingang stehen, um sich erst einmal zu orientieren und die Augen an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Die Party war bereits in vollem Gange. Eine Gruppe von Squaredancern wurde von einem alten Mann ordentlich in Schwung gehalten, und mit ebensolchem Schwung bearbeiteten die schon etwas betagten Bandmitglieder ihre Ins trumente. Die fröhliche Musik hallte zwischen den Dachbalken wider. Indirektes Licht ließ die Heuballen golden leuchten, Ballons und Luftschlangen schmückten altes Ranchgerät. An den Wänden waren Bilder von Cowboys auf sich aufbäumenden Pferden beim Rodeo zu sehen. Trockeneisnebel wallte über den Fußbo den. Es herrschte eine magische Atmosphäre. Aber etwas fehlte. Tex. Charlotte hatte durchaus widerstreitende Gefühle. Einerseits war sie froh, nicht ständig - wie heute Morgen - seinem prüfenden Blick ausgesetzt zu sein. Andererseits hatte sie sich genau darauf gefreut. Hatte ihr Haar frisiert und lange nach dem passenden Kleid gesucht, eben weil sie dabei Tex im Sinn gehabt hatte. Überall suchte sie nach den vertrauten Gesichtszügen, doch vergeblich. Mit sinkendem Mut klammerte sie sich an die Hoffnung, dass er einfach nur spät dran wäre und sicher gleich käme. Miss Clarise winkte herüber, und Charlotte sah, dass auch vie le der Frauen, die auf
ihrer Make-up-Party dabei gewesen waren, anwesend waren. Alle nickten ihr freundlich zu. Charlotte hoffte, sie sah nicht so dämlich aus, wie sie sich fühlte. Die Frauen schienen sich gar nicht über sie lustig zu ma chen, das war ja immerhin etwas. Besonders wenn sie vorhatte, sie in nicht allzu ferner Zukunft zu einer weiteren Verkaufsparty einzuladen. Sie winkte fröhlich und entschuldigend, als Hunt sie in die entgegengesetzte Richtung zum Punschstand drängte. Heimlich sah sie sich nach Tex um. Vier seiner Schwestern, Ginny, Mary, Carolina und Georgia, waren mit ihren Freunden gekommen, tanzten und unterhielten sich. Als sie Charlotte ent deckten, riefen sie ihren Namen. Unglücklicherweise war Tex nicht bei der Gruppe. Nicht, dass sie ihm das zum Vorwurf gemacht hätte. Charlotte holte tief Luft, um ihre Melancholie zu verscheuchen. Er hat gesagt, er kommt, erinnerte sie sich, also wird er schon noch auftauchen. Sie ließ sich von Hunt auf die Tanzfläche führen. Während sie sich um die komplizierten Schrittfolgen des Squaredances bemühte, tänzelte Toto um sie herum. Er zog amüsierte Blicke auf sich, denn Charlotte hatte ihm zur Feier des Tages ein rotes Halsband umgelegt und einen Strohhut auf den Kopf gebunden. Die Öhrchen schauten durch zwei Löcher heraus, so dass er recht keck aussah. „Auf geht's, Schwein!" rief Charlotte, und Totos Ringelschwanz wippte, die Hufe scharrten. Ab und zu belohnte sie ihn mit einer Karotte, die sie in der Tasche ihres rüschenbesetzten roten Rocks hatte. Ja, Toto war der Schönste beim Tanze. Und das Essen war ausgezeichnet. Die Musik wunderbar. Die Atmosphäre fantastisch. Und Hunt war gut aussehend und aufmerksam, brachte ihr Punsch und sorgte dafür, das ihre Unterhaltung nie stockte. Aber etwas Entscheidendes fehlte Charlotte heute Abend, und sie fürchtete, dass sogar Hunt wusste, dass es Tex war. Tex stand am Scheunentor und ließ den Lärm der Party auf sich wirken, die in vollem Gang war. Die Dielen vibrierten von den Schritten der Tanzenden zu der lebhaften Musik. Er schob sich den Stetson in den Nacken und rieb sich mit dem Handrücken die Stirn. Das war der letzte Ort, an dem er jetzt sein wollte. Die ganze Veranstaltung würde eine Quälerei werden, wenn er Charlotte mit Hunt zusammen sah. Er überlegte, ob er nicht doch wieder umdrehen sollte, obwohl er Big Daddy und Miss Clarise zuge sagt hatte. Wenn er nicht kam, hätten sie sicher Verständnis. Gerade als er wieder gehen wollte, zog ein Quieken seine Aufmerksamkeit auf sich. Vor lauter Freude, Tex zu sehen, sprang Toto von einem Fuß auf den anderen. Mist. Hinter dem Schwein kam Charlotte zum Vorschein. Ihr Gesicht war gerötet, und einige Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst. Noch nie hatte Tex sie so schön gefunden. „Toto!" Erst als sie ihn am Halsband packte, bemerkte sie Tex. Sie erstarrte. „Hi", grüßte sie etwas außer Atem. „Hi." „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr." „Dachte ich auch." „Oh." Sie zog eine Haarspange aus ihrer Frisur und strich sich die Lockenpracht mit den Fingern aus der Stirn und über die Schultern zurück. „Bleibst du?" „Ein bisschen." „Großartig. Ich meine, schön. Nun, ich ... wir", sie deutete auf Toto, „sind gerade mitten beim Tanz mit Hunt. Aber ich sehe dich doch nachher, oder?" „Lass ihn nicht meinetwegen warten." „Oh. Ja."
Charlotte drehte mit Toto um und wurde von der Menge verschluckt. Da es nun zu spät war, es sich anders zu überlegen, trat Tex in die Scheune und gesellte sich zu seiner Tante und seinen Schwestern. Er unterhielt sich ein wenig mit den anderen Gästen, aber nie verlor er Charlotte aus den Augen. Immer wieder erhaschte er einen Blick auf ihre endlos langen Beine, den rot gemusterten Rock und die gestärkten wippenden Petticoats darunter. Verflixt, sie war wunderschön, wenn sie mit diesen funkelnden Augen und den feuchten Lippen den Kopf zurückwarf und unbeschwert über irgendetwas lachte. Sie und Hunt schienen sich prächtig zu amüsieren, stellte Tex bitter fest. Nach ein paar Augenblicken setzte Wally sich neben ihm auf einen Heuballen. „Hey, Boss." „Hey, Wally." Wunderbar, diese Party wurde ja immer besser. Wally nickte in Charlottes Richtung. „Wenn deine Cousine endlich aufhören würde, mit diesem Typen zu tanzen, würde ich sie auch mal um einen Tanz bitten." „Sie ist nicht meine Cousine", korrigierte Tex kühl. „Egal." „Nun, Wally, alter Junge, wenn du sie von ihrem Freund weglocken kannst, wäre sie sicher ganz begeistert von deiner Idee." „Freund?" Wally wirkte zerschmettert. Eine Sekunde lang, nicht länger. Eine andere Frau in einem Rüschenkleid schwebte vorbei und erregte seine Aufmerksamkeit. „Schau dir die an", schwärmte er und starrte ihr nach. Als hätte sie den Blick gespürt, drehte sich die Frau um und lächelte. Sofort sprach Wally sie an, und die Unbekannte schien von seinem plumpen Charme gefesselt zu sein. Bevor Tex mit den Fingern schnippen konnte, war Wally mit der kichernden Frau auf der Tanzfläche verschwunden. Tex starrte ihnen ungläubig nach. Das war einfach zu viel Spaß auf einmal. Er ging! Charlotte sank das Herz. Während sie mit Hunt tanzte, sah sie, wie Tex sich von seinen Schwestern und anderen Leuten verabschiedete und sich dann einen Weg zum Ausgang bahnte. Sie stolperte und hielt sich an Hunt fest. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er schon wieder ging. Er hatte sie doch noch nicht einmal um einen Tanz gebeten! „Stimmt was nicht?" Charlotte sah schuldbewusst zu Hunt auf. Ihr war klar, wie enttäuscht sie wirken musste. „Nein. Ich bin nur ... ich weiß nicht. Wahrscheinlich einfach müde." „Es hat nicht zufällig mit dem Typen zu tun, der gerade ge gangen ist?" fragte Hunt freundlich. Spott blitzte in seinen Augen auf. „Wer?" Sie tat so, als wüsste sie nicht, wen er meinte. Hunt lachte. „Sie werden es früher oder später zugeben müssen." „Ist es so deutlich?" Er ließ die Schultern sinken. „Nun, aus eigennützigen Gründen wollte ich es erst nicht glauben. Aber dagegen kann ich wohl nichts machen." Charlotte seufzte tief und lächelte matt. „Sie haben Recht. Ich hoffe, ich habe Ihnen jetzt nicht den Abend verdorben." „Ich habe mich sehr gut unterhalten. Sie und Ihr Schwein sind die besten Tanzpartner, die ich je hatte." Sie warf den Kopf zurück und lachte. „Wollen Sie gehen?" „Ja, aber Sie brauchen mich nicht zu begleiten. Ich habe ja mein Schwein dabei, das passt auf mich auf." Sie lächelte. Hunt runzelte die Stirn. „Sind Sie sicher?" „Ja." Charlotte drehte sich zu Tex' Schwestern um, die in einer Ecke beisammen standen. „Ich glaube, eine von den Mädchen hat Sie den ganzen Abend beobachtet."
„Mich?" Er wirkte ehrlich überrascht. „Nein." „Doch, Sie." „Wahrscheinlich hat sie noch nie einen Mann mit einem Schwein Squaredance tanzen gesehen." Charlotte lachte noch ein weiteres Mal. Zu schade, dass dieser Abend so schief gelaufen war. Hunt war so ein netter Mann. Aber er hatte Recht. Sie konnte die Gedanken nicht von Tex abbringen, und ohne ihn war die Party für sie uninteressant ge worden. Weder hatte Tex Lust auf viele Leute, noch wollte er nach Hause gehen. Lieber plünderte er stattdessen im Schein der schwachen Glühbirne den riesengroßen Kühlschrank von Miss Clarise, er hatte schließlich noch nichts gegessen. Selbst durch die Fensterscheiben drang der Partylärm. Die Musik war langsamer geworden, und Tex summte die Melodie mit, während er nach dem Aufschnitt suchte. Verlierer. Mit grimmigem Lächeln belegte er sich ein Sand wich und schlug die Kühlschranktür mit dem Fuß zu. Die Küche versank wieder im Dunkel, das bestens zu seiner Stimmung passte. Er trat ans Fenster. Ein totaler Verlierer. Selbst Wally hatte heute Abend eine Verabredung. Oh, Mann, was für ein V-e-r-1-i-e-r-e-r. Da stand er nun, stopfte sich den Bauch voll und hoffte, Charlotte käme ihm nach und suchte ihn. Als ob sie auch nur entfernt auf diese Idee kommen würde. Gerade als er in das Sandwich beißen wollte, das er mit Käse, Tomaten, Salat, Pickles und einem Putenschnitzel belegt hatte, hätte er schwören können, dass Charlotte aus der Scheune kam und aufs Haus zusteuerte. Nein. Seine Augen spielten ihm einen Streich. Das war reines Wunschdenken. Nachdenklich begann er zu kauen und spülte den Bissen mit eiskalter Milch hinunter. Dann hielt er inne, lehnte sich vor und sah noch einmal aus dem Fenster. Dieser Rock. Diese Beine. Dieser Ausschnitt. Dieses Schwein. Er beobachtete wie gebannt, wie sie sich näherten. Es war tatsächlich Charlotte. Und sie kam auf das Haus zu. Auf diesen Flügel. Auf die Tür, die zu dieser Küche führte. Und hier stand er, der größte Loser, mit Mayonnaise im Gesicht und einem Milchbart auf der Oberlippe. Wo zur Hölle waren die Servietten? Er wischte sich das Gesicht am Ärmel ab. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihn dabei ertappte, wie er seinen Kummer in einem Viertelliter Milch und einem Sandwich ertränkte. Außerdem hatte er nicht das geringste Interesse daran sich anzuhören, wie toll der Abend mit Hunt gewesen war. Das hatte er bereits mit eigenen Augen feststellen können. Tex sah sich nach einem Versteck um. Er schnappte sich das Sandwich, duckte sich hinter den Arbeitstisch und watschelte mit einem raschen Blick über die Schulter wie eine Ente zu der Tür, die zum Frühstücksraum führte. Seine Knie fanden das weniger gut. Knacks, knacks, knacks. Warum mussten sie ihn ausgerechnet jetzt im Stich lassen? Doch bevor er auch nur in die Nähe der angesteuerten Tür gelangen konnte, ging das Oberlicht an, und Charlottes süße Stimme erfüllte den Raum. „Okay, Schwein", murmelte sie. Er erstarrte. „Aber nur einen Snack. Und dann ab ins Bett. Schokolade, meinst du? Hm, nein. Zucker ist gar nicht gesund und hält dich nur wach. Und wenn du nicht einschlafen kannst, kann ich es auch nicht." Charlottes Schritte und die klickenden Hufe von Toto schienen sich zu nähern. Sie wollten zum Kühlschrank. Der Kühlschrank, neben dem Tex kauerte! Oh nein. Dieser Abend wurde von Sekunde zu Sekunde besser. Gerade noch rechtzeitig glitt Tex um den freistehenden Arbeitstisch und hielt den Atem an. „Wie wär's mit einem Apfel?" fragte Charlotte, während sie das Obstfach
durchstöberte. Tex hörte, wie sie etwas heraus nahm und den Kühlschrank schloss. „Na so was", murmelte sie. „Irgendein Dreckspatz hat vergessen, hinter sich aufzuräumen." Sie zog eine Schublade auf und holte ein Messer heraus. Toto schnüffelte grunzend. Das Hufklicken kam näher. Tex schloss die Augen. Eine kalte Schnauze presste sich plötzlich gegen seinen Nacken, und Toto quietschte vor Freude auf. Tex fuhr he rum, packte ihn an der Schnauze und fixierte ihn mit Wallys Spezialblick. Halt den Mund, telegraphierte er dem Schwein, wenn du mich jetzt verrätst, mache ich Wurst aus dir. Toto schien unempfänglich für diese Art von Kommunikation. Er quiekte weiter. Wally war gefeuert. Tex hielt Toto das Sandwich hin. „Verschwinde", zischte er. „Toto?" rief Charlotte. „Komm her, Schweinchen." In Rekordzeit schlang Toto schmatzend das Sandwich hinunter und beschnüffelte Tex' Kleidung nach mehr. „Was hast du denn jetzt wieder vor?" Charlotte seufzte. Ihr Rock raschelte, als sie näher kam. Dann gellte ein markerschütternder Schrei durch die Küche. Charlotte schlug die Hände vor die Brust und prallte zurück. Nach Luft schnappend sank sie gegen den Kühlschrank. Tex sprang hoch, um sie aufzufangen. „Charlotte, ich bin's nur!" „T...T...Tex?" Als er sie festhalten wollte, fielen sie beide zu Boden und kamen in den Bergen von Charlottes Rüschenröcken übereinander zu liegen.
6. KAPITEL
„Was um Himmels willen machst du denn hier?" stieß Charlotte keuchend hervor und versuchte, sich von Tex zu befreien. Angesichts der voluminösen Unterröcke und Totos, der begeistert um sie herumtanzte, war das nicht ganz einfach. „Ich habe fast einen Herzschlag bekommen!" Sie musste sich mitbewege n, als Tex sich vorbeugte, um seinen Stiefelabsatz von diversen Schichten Petticoat zu befreien. Aber es war sinnlos - sie waren hoffnungslos verknäult. Tex gab einen Augenblick auf, um sich auszuruhen. Und offenbar auch, um sich zu amüsieren. Er wischte die Rüschen weg, die ihm in den Mundwinkeln hingen. Sein Mund war so nah, dass Charlotte die Grübchen seines Grinsens deutlich vor sich sah. „Tut mir Leid", schmunzelte er. „Ich wollte dich nicht erschrecken." „Es ist... ich ... oh." Sie versuchte, sich zurückzulehnen, aber es gelang nicht. „Hey! Vorsicht, ich glaube, meine Halskette hat sich mit deinem Hemdknopf verheddert." „Ach, das ist das Problem? Ich dachte, du brauchtest Mund-zu-Mund-Beatmung." Sein Grinsen wurde breiter. „Warum?" Sie tat so, als wollte sie nach ihm schlagen. „Kriegst du etwa keine Luft mehr?" fragte sie neckisch. „Ganz genau." „Wahrscheinlich macht es die Sache nicht besser, dass ich mehr oder weniger auf deinem Brustkorb sitze." „Schwein!" „Also, ich muss doch sehr ..." „Nein, das Schwein", ächzte er bei dem Versuch, Toto von sich herabzuschieben, der es sich auf ihm bequem machen wollte. „Oh! Toto, hierher." Zu Tex' großer Erleichterung gehorchte Toto, aber nur, um sich auf Charlottes Schoß niederzulassen. „Uff", stöhnten sie alle drei. Tex setzte sich auf, so gut er konnte, und begann damit, Charlottes Goldkette von seinem Knopf zu entwirren. „Vorsichtig", wies sie ihn an, „sie ist von Nanna Dorothy." „Dann ist sie sehr wertvoll?" „Mhm." Er sah auf, ohne die Arbeit zu unterbreche n. „Der Dreckspatz war übrigens ich." Tex war so nah, dass sein Gesicht vor ihren Augen verschwamm. Ihre Wangen erwärmten sich. „Im Dunkeln?" Sie lehnte sich zurück, um ihn besser ansehen zu können. „Vorsicht." Behutsam zog er einen Faden aus der Kette. „Würdest du mir glauben, dass ich so hungrig war, dass ich keine Zeit hatte, das Licht anzumachen?" „Nein", prustete sie. Die Nähe seines Gesichts war äußerst beunruhigend. Charlotte spürte, wie ihr Atem sich mit seinem vermischte, und stellte sich vor, ihre Lippen würden sich berühren. „Wieso hast du dann auf dem Boden gesessen?" „Vielleicht war ich vor Hunger so schwach, dass ich es nicht mehr zu einem Stuhl geschafft habe?" „Nein!" Völlig durcheinander von dieser Nähe brach Charlotte in Lachen aus. Sie saß immer noch zur Hälfte auf Tex, und die Petticoats raschelten, als sie sich drehte, damit er besser an ihren Nacken kommen konnte. Toto wollte sich nichts entgehen lassen und beschnüffelte interessiert ihre Gesichter. „Hast du auch das Gefühl, dass wir nicht allein sind?" bemerkte Tex scherzhaft. Charlotte kicherte und schob Toto weg. „Du willst mich ablenken. Komm schon, was ist der wahre Grund dafür, dass du hier im Dunkeln auf dem Boden gesessen hast?" „Der wahre Grund?"
„Sicher, warum nicht?" Er hielt einen Moment inne. „Na schön. Ich habe mich vor dir versteckt." „Vor mir versteckt? Bin ich so Furcht erregend?" „Nein. Ich hatte Angst, dass ich dich wieder küssen wollte, wenn wir allein wären. Und da du mit Hunt verabredet bist, hatte ich das Gefühl, ich sollte das besser vermeiden." „Du wolltest mich küssen? Obwohl das erste Mal so ein Reinfall war?" In seinem Seufzer lag eine jungenhafte Verletzlichkeit. „Tut mir Leid. Ich fürchte, ich bin ein bisschen aus der Übung." „Nicht du, du Dummkopf, ich! Ich hatte taube Lippen!" Er grinste schelmisch. „Mir erschienen sie aber gar nicht so taub." „Nein?" „Nein. Aber um deine Frage zu beantworten ...", er räusperte sich und heftete seinen Blick aufmerksam auf die verwickelte Kette, „... ja. Ich wollte dich wieder küssen. Aber nur, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe." „Sorgen?" „Nun, ich wollte sicher gehen, dass der Schaden an deinen Lippen nicht dauerhaft ist. Falls du meine Zeugenaussage in einem Prozess oder so benötigst." Die feinen Kettenglieder ha tten sich mittlerweile noch mehr verheddert. Charlotte fragte sich, ob Tex das wohl absichtlich machte. „Rein wissenschaftliches Interesse also", fuhr er lässig fort. „Hat natürlich nichts zu tun mit unserer schlechten Trainer-KlientinBeziehung." „Natürlich nicht." Charlottes Nacken begann zu schmerzen, daher lehnte sie ihre Stirn an seine. „Etwas anderes als reine, ahm ..." Sie wusste nicht mehr weiter. Sein Atem kitzelte ihre Wangen und sandte in Wellen Gänsehaut über ihren Körper. „Äh, Forschungszwecke anzunehmen wäre Unsinn, wenn man bedenkt, dass wir überhaupt nicht zueinander passen." „Gegensätzlicher geht es nicht mehr. Es würde höchstens ein Experiment bleiben." Er sah sie mit diesem herausfordernden Blick an, der ihr Blut schon so oft zum Kochen gebracht hatte. Nur kochte es jetzt aus ganz anderen Gründen. „Nur ein einziges Mal." „Gut. Einmal müsste reichen. Das hört sich an wie ... ein gut durchdachter wissenschaftlicher Versuch." „Findest du?" „Sicher. Schließlich bist du hier der Forscher." „Stimmt. Gut, ich bin dafür, dass wir es tun." Tex hörte auf, sich mit ihrer Halskette zu beschäftigen, und umschloss mit den Fingern sanft ihren Nacken. Auf seine Berührung hin begann Charlottes Herz heftig zu pochen. „Ich hatte gehofft, dass du mir noch eine Chance gibst", flüsterte sie seufzend. „Wirklich?" „Mmm. Ich ... weißt du, ... ich wollte nämlich auch sicher ge hen, dass alles wieder in Ordnung ist." „Nun, das können wir nur auf eine Weise herausfinden." Er ließ ihren Nacken nur so lange los, um den Rüschenberg sowie Totos bebende Schnauze zur Seite zu schieben und Charlotte näher an sich zu ziehen. Dann drehte er ihr Gesicht zu sich, suchte ihre Lippen und eroberte sie. Für Charlotte hatte dieser Kuss nichts mit dem Kuss zu tun, den sie nach der Make-upParty geteilt hatten. Der Kuss jetzt war lebendig und voll der Leidenschaft, die sie so lange ge leugnet hatte. Und er war mehr als ein Experiment. Er war ein Vorbote von Dingen, die noch kommen sollten. Daher hätte sie sich eigentlich von Tex lösen sollen. Sie hatten ihren Kuss gehabt, das Experiment war durchgeführt. Ihre Lippen waren lebendig. Sehr sogar. Aber anstatt auf ihren Verstand zu hören, folgte Charlotte ihrem Herzen. Hingebungsvoll legte sie die Arme Tex sanft auf die Schultern und verschränkte die
Finger um seinen Nacken. Sein Haar war so weich und viel seidiger, als es aussah, ein starker Kontrast zu dem stoppligen Dreitagebart, der sich auf ihrem Gesicht und ihren Lippen ganz köstlich anfühlte. Sie mochten zwar nicht füreinander bestimmt sein, aber im Augenblick gab es keinen Ort der Welt, wo Charlotte lieber ge wesen wäre als hier in Tex' Armen. Sie stöhnte leise auf, als er sich bewegte, um sie noch näher an sich zu ziehen. Charlotte kuschelte sich enger an ihn und küsste ihn glückselig. „Sie funktionieren wieder", murmelte sie an seinen Lippen. „Hmm?" Er schloss den Mund wieder über ihrem. „Meine Lippen." Sein Mund verschluckte ihre Worte. „Mmm." Offenbar war er der gleichen Meinung. Charlotte nahm den Kopf etwas zurück, als Tex an ihrer Unterlippe zu knabbern begann. Kichernd entzog sie sich ihm. „Das Experiment war also ..." Mit einem weiteren Kuss brachte er sie zum Schweigen, bevor sie atemlos ihren Satz beenden konnte: „... ein Erfolg?" „Mmm. Da muss ich zustimmen. Aber nur du weißt, ob alles wirklich in Ordnung ist. Ich würde hier bei dir bleiben und die ganze Nacht daran arbeiten, wenn es sein muss, um sicher zu stellen, dass du absolut keinen dauerhaften Schaden genommen hast." Den einzigen dauerhaften Schaden würde ihr Herz nehmen, fürchtete Charlotte, wenn sie noch länger so weitermachten. Sie war bereits viel zu sehr in ihre Gefühle für Tex Brubaker verstrickt. „Ich glaube", seufzte sie, „mir geht es gut." Sehr gut sogar. Besser, als es ihr je gegangen war. Und bei dem Gedanken, dass Tex es bei diesem Experiment belassen wollte, krampfte sich ihr Herz zusammen. „Aha." Wieder küsste er zärtlich ihre Lippen. „Dieser kleine Test bekommt also die Note ,Eins'?" „Mmm, ja und nein." „Ja und nein?" Es klang fast gekränkt. „Nun, dieser Kuss war gut, aber er wäre es auch gewesen, ohne dass mir dabei ein Hängebauchschwein ins Ohr schnaubt." Tex warf dem grunzenden Toto einen Blick zu und kicherte. „Er ist nur eifersüchtig." „Glaubst du?" „Ich weiß es." Zärtlich fuhr er ihre Lippen mit den Fingerspitzen nach. Charlotte hatte das seltsame Gefühl, dass seine Worte doppeldeutig waren. Und so sehr sie in dem Gedanken schwelgte, dass Tex vielleicht eifersüchtig auf Hunt war, war es ihr klar, dass Tex Recht hatte. Sie passten einfach nicht zusammen. Sich weiter als auf einen Probekuss darauf einzulassen wäre dumm. Am Besten sollte sie die beginnende Romanze beenden, bevor sie außer Kontrolle geriet. Charlotte brauchte ihre Freiheit. Später wäre immer noch ge nug Zeit, sich zu verlieben. Sie hatte lange genug nichts vom Leben gehabt. Jetzt wollte sie flirten, Freundinnen finden und etwas erleben. Sich zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens an einen einzigen Mann zu binden wäre ein großer Fehler. So dachte sie, obwohl sie sich schon wieder an Tex lehnte und auf einen weiteren - nur noch einen einzigen - Kuss wartete, der ihr den Verstand raubte. „Nun, Hunt wartet doch sicher auf dich. Wir sollten uns wohl besser trennen, bevor er uns hier findet und mit der Flinte auf mich losgeht." Ohne Charlotte aus seinen Armen freizugeben, stand Tex behutsam auf. Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe, als er den obersten Hemdknopf abriss, an dem sich ihre Kette verfangen hatte. Nun baumelte er an ihrer Kette. „Ein kleines Souve nir vom heutigen Abend." „Danke." Charlotte spielte mit dem Knopf. „Aber du kannst beruhigt sein, Hunt und ich sind nicht zusammen. Ich bin nur mit ihm zum Tanzfest gegangen, weil er so nett war
und mich eingeladen hat." Bedauernd sah Tex auf die zerrissene Stelle, an der der Knopf gesessen hatte. „Und das sagst du mir erst jetzt?" Sie kicherte. „Tut mir Leid." „Ich dachte, ihr zwei gehört zusammen." „Bist du deswegen wieder gegangen, ohne mich zum Tanz aufzufordern?" „Das war einer der Gründe, ja." „Oh. Nun, ich glaube, im Moment tanzt Hunt mit einer deiner Schwestern." „In diesem Fall würde ich natürlich auch auf ihn losgehen." „Das wäre aber nicht sehr nett." „Stimmt. Bist du deswegen so früh gegangen? Weil Hunt dich wegen meiner Schwester sitzen gelassen hat?" fragte er mit einem provo zierenden Grinsen. „Er hat mich nicht sitzen gelassen!" „Also gehst du doch mit ihm!" Charlotte schubste ihn. „Du bist doof!" Tex nahm ihre Hände in seine. „Bist du sicher, dass mit deinen Lippen alles in Ordnung ist? Ich will kein Risiko eingehen." „Na ja, vorhin prickelten sie ein bisschen." „Das ist ein gutes Zeichen." Er zwinkerte ihr zu. „Wie war's, wenn wir doch noch einen Tanz wagten, wo ich vorhin doch so unhöflich war, dich nicht zu fragen? Die Musik hört man bis hierher." „Mmm." Charlotte nickte. „Gehört das noch zu unserem Experiment? Nur um zu prüfen, ob der Lippenstift meine Fähigkeit zu tanzen beeinträchtigt hat? Ein Ganzkörpercheck sozusagen?" Tex lachte. „So ähnlich, ja." „Du hättest Arzt werden sollen." „Immerhin habe ich einen gespielt." „Im Fernsehen?" „Nein. Mit fünf. Mit der Nachbarstochter." „Wie ungezogen", kicherte Charlotte, während sie auf dem Linoleum ihre Runden drehten. „Das hat sie auch gesagt." Charlotte konnte nicht schlafen. Ob es an dem Partylärm lag oder an den Nachwirkungen von Tex' Gutenachtküssen, wusste sie nicht genau. Vermutlich an Tex. „Ooohhh", stöhnte sie und zog sich das Kissen über den Kopf. So kam sie nicht weiter. „Schlaf endlich", befahl sie sich laut und versuchte es mit Schäfchenzählen, aber stattdessen zählte sie nur die Küsse, die sie und Tex getauscht hatten, bevor sie sich schließlich trennten. Es war eine stattliche Anzahl gewesen. Heiße, aufregende Küsse, die ihr Innerstes völlig in Aufruhr gebracht hatten. So war sie noch nie geküsst worden. Und sie bezweifelte, dass es je wieder geschehen würde. Schließlich war es nur ein Experiment gewesen, das ein bisschen zu weit gegangen war. Noch einmal ermahnte sich Charlotte, dass ihre Freiheit ihr über alles ging. Sie brauchte niemanden in ihrem Leben, der ihr sagte, was sie tun oder lassen sollte. Oder fühlen oder denken. Nanna Dorothy hatte zehn Jahre lang ihr Leben bestimmt. Das reichte. Charlotte brauchte einfach Zeit für sich allein, ohne für irgendjemanden auf Abruf verfügbar zu sein. Obwohl, mit Tex wäre es sicherlich anders als bei Nanna Dorothy. Nein! Sie durfte sich nicht erlauben, so zu denken. Sie war frei, und sie wollte es bleiben. Oder doch nicht? Außerdem hatten sie und Tex überhaupt nichts gemeinsam, das hatte er ja selbst gesagt. Außer vielleicht diese gewaltige Anziehung, die sie jedes Mal spürte, wenn sich ihre Lippen trafen.
Charlotte schlug das Laken zurück und setzte sich auf. Eins war auf jeden Fall sicher: Es war die reine Folter, hier im Dunkeln zu liegen, Toto beim Schnarchen zuzuhören und sich sinnlosen Fantasien hinzugeben. Sie schwang die Beine aus dem Bett und knipste die Nachttischlampe an. In Nanna Dorothys Haus gab es noch einen Haufen Papierkram zu erledigen. Die Nacht war noch relativ jung, und mit dem Auto waren es nur zehn Minuten. Sie könnte hinfahren und nach dem Rechten sehen. Wahrscheinlich wäre sie um Mitternacht wieder zurück und hätte Tex völlig aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Ein perfekter Plan. Sie zog sich ein T-Shirt, Jeans und Tennisschuhe an, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und weckte Toto. Charlotte liebte das alte Anwesen im georgianischen Stil. Nanna Dorothys Haus war einst das Hauptgebäude einer riesigen Plantage gewesen. Inzwischen waren rings herum viele moderne Einfamilienhäuser errichtet worden, zwischen denen das alte Gebäude wie ein Cocktailkleid bei einer Trauerfeier wirkte. Heute Abend sah es besonders verloren aus. Nur eine Glühbirne brannte auf der vorderen Terrasse, und auf dem Rasen zur Linken stand das „Zu verkaufen"-Schild. Als Charlotte parkte und Toto aus dem Wagen ließ, freute sie sich über die vertrauten Geräusche der Nacht. Die Grillen zirpten, die Blätter rauschten leise im leichten Sommerwind, die entfernten Geräusche der Stadt... „Määäähhh! Määäähhh!" Und das Blöken der Ziege von Martkowskis. Charlotte verzog das Gesicht. Daisy Mae war etwas überschwänglicher als sonst, besonders für diese Tageszeit. „Still, Daisy Mae!" zischte sie und eilte zur Veranda. Daisy Mae schien nicht die Absicht zu haben zu schweigen, sondern verdoppelte nur ihre Anstrengungen, Aufmerksamkeit zu erregen. „Määäähhh! Määäähhh! Määäähhh!" Dämliche Ziege. „Toto, komm hier rüber. Sie will bloß beachtet werden." Was eher die Aufgabe ihrer Besitzer gewesen wäre. Verständnislos schüttelte Charlotte den Kopf, steckte den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf. „Määäähhh! Määäähhh!" Waren die Leute etwa taub? Dieses permanente Gemeckere trieb sie noch zum Wahnsinn. Die Martkowskis mussten vergessen haben, das blöde Ding zu füttern. Hoffentlich wachten sie bald auf und holten das Tier ins Haus, denn hier bei Nanna Dorothy hatte sie kein Ziegenfutter. „Määäääääähhhh!" Nach einem langen schwermütigen Blick über den Zaun, der die beiden Grundstücke voneinander trennte, trottete Toto hinter Charlotte ins Haus. „Daisy Mae! Sei still!" schrie sie und knallte die Tür hinter sich zu. Der vertraute Geruch von Veilchen und Zitronenpolitur weckte Erinnerungen in Charlotte. Sie legte ihre Handtasche mit den Schlüsseln auf den kleinen Tisch im Foyer und bückte sich nach der Post, die sich unter dem Schlitz in der Tür angehäuft hatte. Dann machte sie überall Licht an. Selbst von hier drinnen hörte sie, wie sich Daisy Mae immer mehr in ihre Wut hineinsteigerte. Welcher Idiot hielt sich auch eine Ziege in einem Vorort? Ja, die Martkowskis hatten einen großen Rasen, aber lohnte es wirklich die Mühe, eine Ziege zu halten, wenn doch ein Rasenmäher weniger aufwendig war? Ganz zu schweigen von der nächtlichen Lärmbelästigung. Aus der Küche holte Charlotte mehrere Papiertüten, um sie mit Ordnern und Papieren zu füllen, die sie mit zur Ranch nehmen wollte. „Määäähhh! Määäähhh!" Daisy Maes Aufstand machte es nicht leichter, den Safe zu öffnen. Charlotte musste die Kombination drei Mal ausprobie ren, bevor die schwere Tür aufging. Innen fand Charlotte verschiedene Dokumente, die Geburtsurkunde von Nanna Dorothy, die Papiere
zu Haus, Auto, Boot und Sommerhäuschen, weiter einige uralte Zeitungsartikel, Schlüssel, die wer weiß wozu gehörten, Fotonegative, ein bisschen Kleingeld sowie einen Umschlag mit der Weisung, ihn erst nach Nanna Dorothys Tod zu öffnen. Seltsam. „Määäähhh! Määäääääääähhh!" Was da wohl drin war? Charlotte öffnete den Umschlag und schüttete den Inhalt auf die Marmorplatte des alten Schreibtischs aus Kirschholz. „Mmmmmmääääääääääääähhh!" Ein Videoband? Was sollte das denn? Sie nahm den beiliegenden Brief zur Hand. „Mmmmmmmmmääääääääääääääääähhh!" Charlotte riss der Geduldsfaden. Entnervt schob sie das Band mitsamt dem Brief wieder in den Umschlag, warf alles zurück in den Safe und knallte die Tür zu. Es reichte. Diesen Idioten von Nachbarn würde sie ihre Meinung sagen. „Komm, Schwein", knirschte sie und ging durch die Vordertür hinaus zum Nachbarhaus, wo sie energisch die Klingel drückte. Keine Antwort. Sie klopfte, sie schrie - nichts. Stattdessen gingen auf der ge genüberliegenden Straßenseite die Lichter an. Mrs. Donnely steckte den Kopf voller Lockenwickler aus der Tür. „Hi, Mrs. Donnely! Sind die Martkowskis nicht da? Ich wollte ihnen mitteilen, dass sie mal nach ihrer Ziege sehen sollten." „Oh? Ich wünschte, sie würden das schreckliche Ding endlich weggeben. Jedenfalls sind sie für eine Woche in Urlaub gefahren, wenn nicht länger. Vorgestern sind sie los." „Urlaub? Na schön. Danke." Mrs. Donnely schloss die Tür. Offensichtlich hatte sie kein Interesse daran, Daisy Mae zu helfen. Urlaub? Charlotte verdrehte die Augen. Nun war es wohl an ihr, sich um dieses blöde Geschöpf zu kümmern. Tex' wegen wurde sie jetzt bei Tieren schwach. Bevor sie ihn kennen ge lernt hatte, wäre sie wahrscheinlich versucht gewesen, Daisy Maes Klagen zu ignorieren. Vielleicht aber auch nicht. „ Määääääääähhhh!" Das Tier war wirklich in Not. Tex war endlich in den Schlaf geglitten, als ihn das Läuten des Telefons auf dem Nachttisch wieder aufweckte. „Tex?" „Hmm?" Charlotte? Er tastete nach der Uhr. Nach Mitternacht. „Ich bin's, Charlotte." „Mmm." Er lächelte. Ein kleines Bettgeflüster war ihm sehr willkommen. „Tex", fuhr sie atemlos fort, „ich brauche dich! Du musst sofort hierher kommen!" Stirnrunzelnd setzte er sich auf. Das wurde ja interessant. Sie war immer ein wenig direkt, darüber würde er nicht mit ihr streiten. Besonders nicht, wenn er an den Traum von gerade eben dachte. „Äh, okay. Lass mir nur eine Sekunde Zeit zum Wachwerden." „Tex, hast du einen Bleistift?" Diese Frage erwischte ihn auf dem falschen Fuß. Einen Bleistift? Er blinzelte. Was meinte sie damit? „Äh, sicher. Moment." Er kramte in der Schublade des Nachtschränkchens. „Jetzt." „Gut. Schreib auf." Tex kam kaum mit, während er Charlottes Anweisungen auf einen leeren Umschlag kritzelte. Doch als die Liste fertig war, hatte er die vage Ahnung, dass es sich hier nicht um ein romantisches Rendezvous handelte. Einen Stapel alte Zeitungen. Eine Zinkwanne. Mehrere Laken. Einen Erste-Hilfe
Koffer und ... Ziegenfutter? Mit quietschenden Reifen hielt Tex vor dem Haus, dessen Adresse Charlotte ihm angegeben hatte, packte alles, was er tragen konnte, und stürzte aus dem Auto. „Was ist passiert?" rief er, als er Charlotte vor einer Art Hundehütte knien sah. Er ließ sich neben ihr nieder. Vor sich sah er eine Mutterziege und daneben zwei hilflose Zicklein. Mit tränenüberströmtem Gesicht sprudelte es aus Charlotte heraus. „Das ist Daisy Mae. Ihre Besitzer sind im Urlaub, und ich habe sie hier gefunden. Sie hätte sich beinahe mit ihrer Kette erdrosselt. Ich habe sie befreit. Wahrscheinlich hat sie ihre Jungen gerade erst geboren, aber ich habe keine Ahnung. Ihr Wassernapf war leer, und Futter hatte sie auch keins, und, Tex, oh, sie sah so elend aus! Wie kann man sie so allein lassen, trächtig, ohne Wasser und Futter in dieser Hitze! Die Jungen sind so klein ..." Ihre Stimme versagte. Tex schüttelte den Kopf. „So was passiert ständig." „Wirklich?" Ihre Stimme zitterte. „Mhm. Leider haben nicht alle Tiere solche Nachbarn wie dich, die sie retten." „Wird sie es schaffen?" „Bestimmt. Wir kümmern uns um sie und sehen dann morgen wieder nach ihr." „Sollte ich nicht lieber über Nacht hier bleiben?" Tex senkte den Kopf, um ein breites Grinsen zu verbergen. Die Charlotte, die er vor einigen Wochen kennen gelernt hatte, hätte nie auch nur im Traum daran gedacht, eine ganze Nacht bei einer geschwächten Ziege zu verbringen. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für sie beide? „Wenn du möchtest, bleibe ich bei dir." „Würdest du das tun?" „Sicher. Wenn du Kaffee machst." „Nanna Dorothy hat welchen da." „Schön." Charlotte richtete sich auf und strich Tex übers Haar. „Danke", flüsterte sie. Ihre Blicke trafen sich, und die Erinnerung an die Küsse von vorhin flackerte in ihren Augen auf. „Das tue ich gern", versicherte er ihr. „Ich ... äh, ich mache erst mal den Kaffee." Es würde eine lange Nacht werden. Daisy Mae und ihre Jungen lagerten nun bequem in einem weichen Bett aus ausgelegten Zeitungen, alten Kissen und Badehandtüchern aus Nanna Dorothys Garage. Das Muttertier hatte zwar nicht viel Appetit gehabt, aber wenigstens die Wasserschüssel leer getrunken, die sie ihr hingestellt hatten. Danach hatte sie ihre Jungen begutachtet und war dann eingeschlafen. Mit zwei Gartenstühlen, zwei Decken sowie einem Tablett mit Thermoskanne und Keksen hatten Tex und Charlotte das Grundstück der Martkowskis in ein behagliches Plätzchen verwandelt. Es war nicht richtig kalt, aber der Wind etwas unangenehm, daher war Charlotte froh über die Decken. Und über Tex' warme Finger, die er mit ihren verschränkt hatte. Der Vollmond war aufgegangen und beleuchtete zusammen mit einer Gartenfackel romantisch die Umgebung; Beruhigend flackerten die mitternächtlichen Schatten auf dem kleinen Ziegenlager. „Du warst also ein Einzelkind?" Tex hatte das Kinn in die freie Hand gestützt und betrachtete Charlotte mit diesem verführerischen Blick, der ihr den Verstand raubte. „Mhm. Aber ich kannte es nicht anders. Ich bin aufs Internat gegangen und hatte dort eine Menge Kameraden, die mir wie Geschwister vorkamen. Ich hatte immer das Gefühl, gar keine richtigen Eltern zu haben." Ihre Worte klangen bedauernd.
„Warst du einsam?" „Mmm, ja, und nein. Meine Eltern waren Lehrer und unterrichteten in einer anderen Stadt, daher habe ich sie nur selten am Wochenende und in den Ferien gesehen. Aber zum Glück kam Nanna Dorothy oft vorbei. Als sie noch jünger war, damals mit Ende siebzig, Anfang achtzig ...", Charlotte grinste auf Tex' Kichern hin, „... war sie wirklich rege. Du hättest sie gemocht. Jedenfalls hat sie mich unter ihre Fittiche genommen. Ich glaube, sie hat gespürt, dass ich allein war und mich nach Aufmerksamkeit sehnte. Sie rief oft an und schrieb wundervolle Briefe, und an meinem Geburtstag und an Weihnachten kam sie immer. Sie war wie eine Ersatzmutter." „Ein Glück, dass du sie hattest." „Oh ja. Daher war es auch gar keine Frage, dass ich mich nach der High School um sie kümmerte, als mit neunzig ihre Gesundheit weniger stabil wurde. Besonders weil meine Eltern gestorben waren, während ich noch in der Schule war. Meine Mutter an Lungenentzündung und mein Vater ein paar Monate später an Krebs." „Du hattest eine harte Kindheit." „Das kann man so sagen. Ich musste schne ll erwachsen werden." „Fragst du dich nicht, warum sie ein so seltsames Testament gemacht hat, wenn ihr euch doch so nahe standet?" Charlotte zuckte die Schultern unter ihrer Decke und neigte den Kopf, um Tex einen schläfrigen Blick zuzuwerfen. „Oh, ich weiß nicht. Nanna Dorothy war immer für eine Überraschung gut. Selbst mit hundert noch war sie echt Spitze. Manchmal so unleidlich, dass es zum Schreien war, aber meistens zum Kaputtlachen. Sie liebte Streiche. Ich bin sicher, dass ich deswegen auch Toto bekommen habe. Ich weiß nicht genau, ob noch mehr dahintersteckt, aber bisher hat sich gezeigt, dass der Be sitz eines Schweins sehr viel interessanter ist, als ich ursprünglich gedacht hatte." Tex sah Charlotte tief in die Augen. „Wir hätten uns nie kennen gelernt, wenn das Schwein nicht gewesen wäre." „Stimmt." „Und das doch wäre ein Jammer gewesen." Er führte ihre Finger an seine Lippen. So weiche warme Lippen. Charlotte sehnte sich danach, diese Lippen an ihre eigenen zu pressen. Aber das war unmöglich. Das Experiment war beendet. Am Ende dachte Tex noch, sie hätte die Ziegen vorge schützt, um mitten in der Nacht hier draußen weiterzumachen, wo sie zuvor aufgehört hatten. Nicht, dass das keine verlockende Idee gewesen wäre. Aber immerhin stand ihre Freiheit auf dem Spiel. Charlotte gestattete sich allerdings, die Augen zu schließen und einfach nur das Gefühl seiner Lippen an ihren Fingern zu genießen. Mmmm. Daran könnte sie sich gewöhnen. „Also", murmelte sie, um ihren rasenden Puls zu beruhigen. Wenn sie Tex in ein Gespräch verwickelte, könnte er auch nicht mehr in einer so wunderbaren Weise an ihren Fingern saugen. So, dass ihr Inneres zu flüssiger Leidenschaft wurde. „Also ...", sie räusperte sich, „ahm,... du hast ja eine Menge Geschwister." „Ja." Während er redete, hielt er ihre Fingerspitzen weiterhin vor seinen Mund, und an dieser einfachen Geste war etwas so Sinnliches, dass Charlotte das Gefühl mit geschlossenen Augen genoss. Sie lachte. „Ich komme immer noch nicht darüber weg, dass ihr alle nach Bundesstaaten benannt seid. Eine lustige Art, seine Kinder zu taufen." Tex zog ihre Hand auf sein Herz. „Wenn du das für lustig hältst, kann ich dir nur sagen, dass meine drei Onkel ihre Kinder nach Countrysängern, Autos und Monatsnamen benannt haben." „Du meine Güte!" Charlotte kicherte. „Ich nehme an, du wirst deine Kinder nach berühmten Tieren nennen." „Du meinst, Flipper und Lassie und so?" „Flipper wird bestimmt ein Sportler, meinst du nicht?"
„Natürlich." Sie lachten. Die Nacht ging mit der entspannten Unterhaltung dahin, und bevor sie es merkten, lugten die ersten Strahlen der Morgensonne über den Zaun. Viele wunderbare Stunden lang hatte Charlotte in ihrem Gartenstuhl über die wilden Geschichten gelacht, die Tex ihr aus seiner Jugend mit acht vorlauten Geschwistern erzählte. „Ich bin ganz eifersüchtig auf deine Familie", gestand sie schließlich und setzte sich auf, um sich die Lachtränen aus den Augen zu wischen. „Ich habe mir immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht." „Ja? Nun, ich wäre manchmal gern ein Einzelkind gewesen. Man wünscht sich wohl immer genau das Gegenteil von dem, was man hat." Charlotte sah ihn an. Sie fragte sich, ob sie sich wirklich etwas anderes wünschte, als mit einem Mann wie Tex zusammen zu sein. Wieder überlegte sie, wie klug es überhaupt war, Tex auf Abstand zu halten. Die Vorstellung eines Lebens ohne ihn schien im Lauf der Zeit immer weniger verlockend.
7. KAPITEL
Die folgende Woche verbrachte Charlotte damit, sich über die Action-Adventure Clothing Company zu informieren, ein Anfangssortiment zu bestellen und eine Party für Freitagabend zu organisieren. Mehrmals täglich fuhr sie zu den Martkowskis, um nach Daisy Mae und ihren Jungen zu sehen, die sich gut erholt hatten und ausgelassen auf dem Grundstück herumtollten. Daisy Mae hatte den Garten bereits ziemlich kahl gefressen, doch Charlotte fand, dass es den Martkowskis recht geschah. Auf keinen Fall würde sie die Ziege wieder festbinden, die sich vielleicht strangulierte, wenn gerade niemand da war. Wenn sie sich nicht um ihren Job oder die Ziegen kümmerte, übte sie mit Toto oder forschte im Internet über Blindenhunde, ein Thema, das sie immer mehr interessierte. Außerdem hatte sie immer noch Unterricht mit Toto bei Tex. In diesen Stunden schwang stets eine sexuelle Spannung mit, die so banale Themen wie Ziegenfutter zu elektrisierenden Unterhaltungen machte. Trotzdem versuchte Charlotte ihr Bestes, um Abstand von dem faszinierenden Mann zu halten. Seit dem Tanzfest hatten sie sich nicht mehr geküsst. Und obwohl die Sehnsucht nach seiner Berührung ihr einen ziemlich dauerhaften dumpfen Schmerz verursachte, war Charlotte zu einem ge wissen Grad erleichtert. Sie brauchte Zeit zum Überlegen, was da eigentlich zwischen ihnen passierte. „Kitty, sitz." Kitty wackelte über das Trainingsgelände und ließ sich vor Charlottes Füßen nieder. „Nein, du Dummerchen." Sie hob die weichen Vorderpfoten des Welpen so an, dass er zum Sitzen kam. „So, kleiner Dummie." Ohne zu merken, dass Tex sich näherte, sprach sie wie auf ein Baby weiter auf den kleinen Hund ein. „Aus welchem Buch hast du denn das gelernt?" „Oh, hallo!" Errötend richtete Charlotte sich auf und strich sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. „Du wirst es nicht glauben, aber du wärst stolz auf mich." „Du hast beschlossen, eine Frau für Toto zu adoptieren und ins Schweinetraining einzusteigen?" „Kaum. Nein, ich habe in einer Zeitschrift auf deinem Schreibtisch etwas über das Training von Blindenhunden gelesen." „Warum?" „Ich wollte mir nur die Zeit vertreiben, bis du kommst. Nanna Dorothy war zuletzt fast blind, daher interessiert es mich, weißt du." Sie zuckte die Schultern. Er wechselte das Thema. „Du bist früh dran heute." „Ja, ich muss früher gehen. Heute Abend gebe ich meine erste Action-Adventure Clothing Party." „Wieder im Sattel, wie?" „Sozusagen. Nach dem Fiasko von letzter Woche bin ich ein bisschen nervös." „Du wirst es schon schaffen." „Glaubst du?" „Ja. Ich glaube, dir gelingt immer, was du dir in den Kopf setzt." „Außer Make-up zu verkaufen." „Nun, war ja nicht deine Schuld." Sie sah ihn an. „Das ist nett von dir." „Ich sag nur, wie's ist." Einen langen Augenblick schwiegen sie und dachten an den Abend, an dem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Und an die ersehnten Küsse, die sie sich nicht erlauben wollten. Ent täuscht wandte sich Tex ab, rief Toto herbei und begann mit dem Training. Als Tex am Abend in sein Büro wollte, blieb er wie angewurzelt an der Tür stehen. Das Büro sah aus wie nach einem Bombenangriff. „Wally?" „Ja, Boss?" fragte sein Assistent abwesend vom Schreibtisch zurück. „Was zum Teufel soll das alles hier?" verlangte Tex zu wissen und deutete auf die
Reagenzgläser, Gasbrenner und Bücher, die jede freie Fläche verstellten. „Hier stinkt es." Wally sah kurz auf, bevor er sich wieder in sein Buch vertiefte. „Meine Abschlussprüfung in Chemie," „Warum kannst du das nicht bei dir zu Hause erledigen?" „Mein Zimmernachbar erträgt den Geruch nicht." „Kann ich gut verstehen! Hör zu, wenn du mein Büro als Chemielabor missbrauchen willst, dann bring das stinkende Zeug wenigstens in den Lagerraum, okay?" „Okay", murmelte Wally. „Wie kommst du mit den Grafiken voran?" Wally sah ihn verständnislos an. Tex fuhr hoch. „Wir hatten ausgemacht, dass du Grafiken zusammenstellst! Zu Beginn des Semesters. Ich brauche sie für die Konferenz in Houston, erinnerst du dich?" „Oh, richtig. Die sind unterwegs, Boss. Ich fange demnächst damit an." „Du hast noch nicht mal damit angefangen?" Tex deutete auf die Stapel von Unterlagen und Büchern. „Und was ist dann das da alles?" „Hausaufgaben." Wally schlug das Buch zu und sprang auf. „Wo gehst du hin?" „Ich habe eine Verabredung." Wally grinste. „Mona. Das Püppchen, das ich beim Tanzfest kennen gelernt habe." Püppchen? Und mit so einem Typen wollte diese Frau ausge hen? Langsam war Tex wirklich niedergeschlagen. Sogar dieser unmögliche Dämlack hatte ein Liebesleben. Das gab ihm den Rest. Er würde nicht schon wieder einen einsamen Freitagabend in der Gesellschaft von Hunden, Pferden und Schweinen verbringen. Nein,' er würde zu Charlottes ActionAdventure Clothing Party gehen. Und sich ein wenig umsehen. Aber nicht unbedingt nach Kleidern. Charlotte schob gerade das letzte Wägelchen mit Material in den Salon, als sie beinahe in Tex hineinfuhr. „Was machst du denn hier, Tex?" zischte sie und warf einen nervösen Blick in den voll besetzten Salon. Ihre letzte Party schien sich herumgesprochen zu haben, denn es waren doppelt so viele Interessentinnen da. Es mussten fast hundert Frauen sein, die da zwischen den Stühlen herum wuselten. Zusätzlich waren Klappstühle aufgestellt, die bis in den Flur hinein besetzt waren. Gut fürs Geschäft. Schlecht für Charlottes Nerven. „Mir war langweilig, da dachte ich, ich schaue mir deine Vorstellung an." Sie starrte ihn an. Tex wollte auc h zusehen? Ihr wurde übel. Offenbar hatte er die Panik in ihrem Blick gesehen, denn er legte ihr beruhigend einen Arm um die Schulter und rieb ihren Oberarm. „Du musst dir dieses Mal überhaupt keine Sorgen machen. Du hast dich doch bestens vorbereitet." „Aber was, wenn es nicht glatt geht? Ich kann mich schon jetzt nicht mehr an meinen Text erinnern", jammerte sie und lehnte das Gesicht an seine Schulter. „Ich glaube, ich bin einfach nicht zur Verkäuferin geschaffen." „Honey, lass dich von dieser kleinen Katastrophe neulich nicht verunsichern. Du bist eine Kämpfernatur, Charlotte Beauchamp. Das ist eins der Dinge, die ich an dir liebe." Sie nahm etwas Abstand, um ihn anzusehen. „Wirklich?" fragte sie unsicher. „Ja. Eins der vielen Dinge." Liebe? Hatte er „Liebe" gesagt? Hatte er gesagt, er liebe viele Dinge an ihr? Und hatte er sie wirklich gerade „Honey" ge nannt? Völlig verwirrt sah sie ihn mit offenem Mund an. Meine Güte, warum musste er sie gerade in diesem Moment so durcheinander bringen? Wer weiß, was er mit dieser Bemerkung meinte. Wahrscheinlich wollte er ihr nur Mut machen. Andererseits ... Als ihr klar wurde, wie dämlich sie dreinschauen musste, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Also bleibst du?" zwitscherte sie gespielt fröhlich.
„Ja. Ich dachte, ich könnte vielleicht was kaufen." Eine von Tex' Schwestern, die in Hörweite saß, johlte laut. „Habt ihr das gehört, Mädels? Tex will sich einkleiden!" Alle fünf brachen in Gelächter aus. „Macht nur so weiter, dann streiche ich euch bald von meiner Liste", drohte Tex grinsend, dann quetschte er sich zwischen seine Schwestern auf die Couch, um mit ihnen weiterzuscherzen. Sie rollte ihren Wagen durch die Menge, ohne das aufgesetzte Lächeln zu verlieren, knapp vorbei an teuren Schuhen und Schienbeinen ihrer potenziellen Kundinnen. Sachen an ihr, die Tex liebte? Was für Sachen? Irgendwie fand sie ihren Weg durch die Menge, dann arrangierte sie wie in Zeitlupe ihre Schautafeln, Modelle und Broschüren. Sie verteilte Bestellzettel und Stifte und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Tex die Unterlagen interessiert studierte. Was war mit diesem Kerl los? Sie kannte keinen einzigen Mann, der auch nur einen zweiten Blick für all das hier übrig gehabt hätte. Außer ihm. Charlotte holte tief Luft. Er fing an, sich wirklich für sie zu interessieren? Plötzlich war sie gebannt von seinem anziehenden Blick. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihr zublinzelte. Mit klopfendem Herzen wankte Charlotte von der Schreibtafel zum Podium. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Zuhö rerschaft. Die Vorstellung begann. Später, wenn sie Zeit hatte, würde sie das Wort „Liebe" in dem Zusammenhang analysieren, in dem Tex es benutzt hatte. Du liebe Güte! Er konnte sich doch nicht in sie verliebt haben. Sie passten doch überhaupt nicht zueinander. Nun gut. Sie würde ein anderes Mal darüber nachdenken. Jetzt im Augenblick wollte sie sich einfach darauf konzentrie ren, nicht ohnmächtig zu werden. „Und das Tollste an Action-Adventure Clothing ist die Multi- funktionalität." Tex hielt beide Daumen nach oben und lächelte ermutigend, während Charlotte etwas unbeholfen ihre zweite Party startete. „Wir von der ... äh, Action-Adventure Clothing Company sind der Meinung, dass man für jede Lebenslage gerüstet sein sollte. Mit Action-Adventure Clothing sind Sie stets für jede Gelegenheit bereit. Mit den Kleidern hier drin", sie hielt eine schmale Tasche hoch, „werde ich Ihnen zeigen, wie Sie von einer Bergwanderung übers Büro bis hin zur Tanzfläche alle Situationen meistern können. Sie lassen die Kleidung einfach ... ahm, rotieren, und natürlich auch die Accessoires! Der Vorteil von Action-Adventure Clothing ist, dass eine Größe einfach allen passt." Im Publikum erhob sich erstauntes Gemurmel. „Ja, einfach allen. Ist das nicht wunderbar?" sang Charlotte, während sie in einer Tasche nach den Stücken kramte, die sie zuerst präsentieren wollte. „Wenn EttaMae Hanson, unser Modell, bitte vortreten möchte, können wir anfangen." „Vor dem da hinten werde ich mich nicht umziehen", grollte EttaMae mit einem Finger auf Tex. Tex grinste. „Zieh dich aus, EttaMae!" rief er fröhlich, in dem Versuch, die Atmosphäre etwas aufzulockern. Bisher wirkte Charlotte so schreckhaft wie ein ungezähmtes Fohlen. Lachen schallte durch den Raum. EttaMae errötete wie ein junges Mädchen und wedelte mit der Hand. „Träum weiter, Sonnyboy!" „Keine Sorgen, meine Damen, EttaMae wird sich ohne Bedenken umziehen können", rief Charlotte scheinbar unbekümmert über die belustigte Menge hinweg, aber Tex konnte sehen, dass ihre Hände zitterten. „Dieser Dress für alle Gelegenheiten, der sich hinter dieser Tasche verbirgt, kann auch als trägerloses Sommerkleid, langer Rock oder leichter Bademantel verwendet werden, je nachdem, wie man die Reißverschlüsse und Knöpfe kombiniert. Im Hand umdrehen sind
Sie so für alle Anlässe gewappnet. Es ist ganz leicht: Eins ..." Sie zog an den Verschlüssen. „Zwei..." Charlotte prüfte die Richtung und versuchte es ein zweites Mal. „Drei. Hmm. EttaMae, könnten Sie hier bitte mal halten?" fragte sie und schob ihrem Modell die Tasche zu. Dann zerrte und zog sie an verschiedenen Kordeln. Ohne Erfolg. „Das verstehe ich nicht", murmelte sie und lief tiefrot an. „Heute Nachmittag hat es noch wunderbar funktio niert." Tex hob den Arm. „Wirf's hierher, Baby! Ich bin der Experte für Reißverschlüsse aller Art!" „Uuuuuuuhh!" Zwischenrufe und Kichern begleiteten die Kommentare des einzigen Mannes im Raum. Tex wackelte spitzbübisch mit dem Kopf und winkte der lächelnden Menge zu. Dankbar warf Charlotte ihm die Tasche zu, die er mühelos auffing. Seine Schwestern lehnten sich vor, um ihm zu helfen. „Während wir auf Tex warten, sehen wir uns schon mal den Action-Adventure BH an", schlug Charlotte vor. „Vor dem da probiere ich bestimmt keinen BH an!" protestierte EttaMae. Charlotte tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. „Nun gut. Dann eben die Kombination Trekking-Dinnerparty. EttaMae ...", Charlotte nahm ihre Notizen zu Hand, „... ich wette, in Ihrer Freizeit gehen Sie am liebsten wandern." „Nein. Ich hasse Wandern." „Oh? Okay. Äh,... dann ..." Charlotte las einfach weiter. „Und wenn Sie nicht wandern, trifft man Sie sicher gelegentlich auf Cocktailpartys." „Nie. Fuzzy und ich schauen fern. Er hat die Fernbedienung, ich stricke." Aus der Richtung von Tex' Couch kam ein alarmierendes Geräusch. Es hörte sich an wie reißender Stoff. Er und seine Schwestern sahen schuldbewusst hoch. Gebannt starrte das Publikum auf Charlotte. „Macht nichts", flötete sie und blätterte weiter. „Wir haben in unserer Kollektion ein weiteres Kleidungsstück, das man sowohl tagsüber als auch abends tragen kann." Charlotte entrollte etwas, das Tex wie ein übergroßes Tischtuch vorkam und mit einem elastischen Band gesäumt war. „Das ist unser Action-Adventure Wenderock-Cocktailkleid mit Stretchband. Es heißt ,Everything Dress'. Es ist schwer entflammbar, wasserdicht, luftundurchlässig und in Notfällen gut geeignet als Zelt oder Fallschirm." Zur Sicherheit sah sie noch einmal auf ihre Unterlagen. „Ja, ganz recht. Aber ...", sie warf einen nervösen Blick auf die ungnädige EttaMae, „... in Anbetracht der Tatsache, dass Sie sich eher drinnen aufhalten, spielt das vermutlich keine Rolle." „Ja, lassen Sie das Wort ,Zelt' in Zukunft lieber aus dem Spiel", pflichtete EttaMae ihr bei. „Gute Idee. Vergessen Sie es einfach", wandte sich Charlotte ans Publikum. Dann fragte sie EttaMae: „Fertig?" „Sieht so aus." Es hörte sich absolut nicht begeistert an. Charlotte drapierte das riesige Stofftuch über EttaMaes Krauskopf. „EttaMae, Sie können sich jetzt ausziehen." „Ich zieh mich vor ihm nicht aus", kam die erstickte Antwort. EttaMae beulte mit dem Zeigefinger den Stoff in Richtung Tex aus. „Raus aus den Klamotten, EttaMae!" rief Tex wieder. Mehr Gelächter. „Es geht in Ordnung, EttaMae, wir sehen gar nichts." Grummelnd fügte sich EttaMae, und schließlich erschien ihre Bluse unter dem Stoff, dann folgte ihr Rock. Tex pfiff. EttaMae steckte den Kopf durch das Loch oben und schnitt ihm eine Grimasse. „Sehr schön." Charlotte half EttaMae dabei, die Arme durch die vorgesehenen Löcher zu stecken und ordnete den Stoff unter ihren Achseln. Das voluminöse Kleidungsstück
glich tatsächlich einem Zelt. Charlotte brach der kalte Schweiß aus. Das würde wohl eine Spur komplizierter werden, als sie es sich vorgestellt hatte. Etta Mae sah aus wie ein Mehlsack. Ein Gürtel. Ja! Das könnte dieses Ensemble retten. Ein Gürtel und passende Schuhe. Charlotte sah zu Tex. Er lächelte ihr zu. Plötzlich war sie dankbar für seine beruhigende Anwesenheit. Sie würde es schaffen, denn Tex gla ubte an sie. Er hatte gesagt, dass sie eine Kämpfernatur war, und das stimmte, obwohl sie vorher daran hätte denken sollen, die Gürtel zu sortieren. Sie wählte einfach irgendeinen und legte ihn EttaMae um. Nero. EttaMae sah jetzt aus wie Kaiser Nero. Alles was noch fehlte, war ein Lorbeerkranz auf dem Kopf, dann wäre sie ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Vor ihrem inneren Auge sah Charlotte plötzlich Rom brennen. Im Raum war es still geworden. Die Frauen reckten die Köpfe, um die Vorteile dieses neuen Looks zu entdecken. Manche flüsterten, manche kicherten, und EttaMae wirkte definitiv unglücklich. Die armfreie Toga stand ihr nicht, das konnten alle sehen. Wem würde diese Toga überhaupt stehen? Und wieder war es Miss Clarise, die Charlottes Not beendete, indem sie eine Pause ankündigte und die Damen ins Nebenzimmer zu Dessert und Champagner bat. „Du hättest mir nicht hierher zu Nanna Dorothy folgen müssen. Mir geht es sehr gut." „Ich weiß. Ich wollte auch nur nach den Ziegen sehen." „Oh. Sicher", schniefte sie, glaubte ihm aber nicht im Geringsten. Tex ließ sich in den Gartenstuhl neben Charlotte fallen und nahm ihre Hand. Er sah, dass sie geweint hatte, ganz allein und zusammengesunken auf ihrem Stuhl im Garten der Martkowskis. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, und Wolken zogen vor dem leuchtenden Mond vorbei. Im flackernden Licht der Gartenfackel sah er die Tränenspuren auf Charlottes Gesicht. „Wie geht es ihr denn?" Er nickte in Richtung von Daisy Maes Stall. „Gut. Sie kann gut zuhören." Tex nickte. „Diese Erfahrung habe ich schon mit vielen Tieren gemacht." „Wusste ich gar nicht." „Doch. Sie unterbrechen dich nicht. Sie geben dir keine guten Ratschläge. Sie urteilen nicht, sie hören einfach zu." „So ähnlich wie du." „Hältst du mich für ein Tier?" Sie lächelte mit tränenerfüllten Augen. „Das war ein Kompliment." „Charlotte Beauchamp, ich glaube, du wirst noch ganz schwach, was unsere pelzigen Freunde betrifft." „Und auch die nicht ganz so pelzigen." Während sie redete, kraulte sie Toto den borstigen Schädel, aber Tex wusste nicht so genau, ob sie nicht eher ihn selbst meinte. Auf alle Fälle entschied er sich, das Thema zu wechseln, bevor er sie in die Arme nahm. Charlotte brauchte einen Freund, keinen Mann, der seinen Vorteil ausspielte, wenn sie sich nicht wehren konnte. „Nach deiner Vorführung wurden einige Sachen verkauft." „Nachdem ich weggerannt bin?" „Du bist nicht weggerannt. Alle hatten vollstes Verständnis für deine starken Kopfschmerzen." Skeptisch hob Charlotte eine Augenbraue. „Wer würde denn so dumm sein, nach dieser dämlichen Präsentation etwas zu kaufen?" „Nun, ich zum Beispiel, als Weihnachtsgeschenk." „Für wen? Für deine Rinder? Diese Kleider sind bestimmt nicht für Menschen gemacht." Ihr komischer Gesichtsausdruck brachte ihn fast zum Lachen. „Das stimmt nicht. Ich glaube, das Problem war dein Modell. EttaMaes Gesichtsausdruck hätte selbst die
kauffreudigsten Kundinnen abgeschreckt. Warum hast du sie überhaupt ausge wählt?" Charlotte zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Ich hatte einfach das Gefühl, dass sie den Durchschnitt darstellt." „Honey, EttaMae ist nicht einmal in ihrer Größenklasse der Durchschnitt." Tex freute sich, als er ein Lächeln über ihr Gesicht huschen sah. „Egal. Nachdem du weg warst, haben einige Frauen die Sachen anprobiert, und sie standen ihnen sehr gut. Miss Clarise hat die Bestellungen gesammelt, und ich glaube, du hast gar kein so schlechtes Geschäft gemacht." „Wirklich?" Sie lächelte schwach. „Miss Clarise ist wirklich ein Schatz. Aber trotzdem, ich werfe lieber das Handtuch, was diese Branche betrifft. Ich glaube, die Modewelt ist nicht bereit für mich." „Warum nicht?" „Es ist einfach so ein Gefühl." Sie setzte sich anders hin, um Tex besser ansehen zu können. Ihr Blick war von einer solchen Intens ität, dass Tex den Blick nicht von ihr wenden konnte. Ihre Worte klangen leidenschaftlich. „Tex, ich weiß, dass da draußen etwas auf mich wartet. Etwas Erfüllendes und Aufregendes. Etwas, das ich richtig gut kann und das ich gern tue. Ich muss nur noch herausfinden, was es ist." Auf dem Rasen zirpten die Grillen ihr Abendlied. In einiger Entfernung bellte ein Hund. Die umgebenden Geräusche der Nachbarschaft erfüllten die Luft, aber Tex hatte nur Ohren für Charlottes süße Stimme. „Ja", seufzte er schließlich. „Es ist sehr wichtig, eine Arbeit zu finden, die man liebt." Fast so wichtig, wie einen Menschen zu finden, den man liebt, dachte er. Sein Blick fiel auf ihre Hände, mit denen sie abwesend Toto zu ihren Füßen kraulte. Könnte Charlotte vielleicht doch die Eine für ihn sein? Tex streckte die Beine lang aus und verschränkte sie übereinander. Dann stützte er das Kinn auf die Hände und betrachtete nachdenklich die Frau, die zusammengekauert neben ihm im Schatten saß. Sie hatte keine Ahnung, dass sie innerhalb weniger Wochen seine ganze Welt aus den Angeln gehoben hatte. Und das machte ihm Sorgen. Denn so sehr er seine Arbeit liebte, er fragte sich immer wieder, ob er nicht alles für Charlotte Beauchamp aufge ben würde. „Die letzte Zeit war nicht ganz einfach für dich. Da dachte ich, dass wir vielleicht mal einen Tag Pause machen könnten. Heute ist Samstag. Ich weiß, du willst mit Totos Training so schnell wie möglich vorankommen, aber glaub mir, ein freier Tag würde uns allen sehr gut tun." Nach dem Fiasko der Modevorführung vom Vortag fühlte Charlotte sich wie gerädert. Übernächtigt blickte sie über den Rand ihrer Kaffeetasse zu Tex, der sie erwartungsvoll ansah. Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und vertrieb ihre Melancholie ein wenig. Er konnte wohl ihre Gedanken lesen. Heute Morgen mit Toto zu trainieren war das Letzte, worauf Charlotte Lust hatte. Nach dem Debakel gestern hätte sie sich am liebsten irgendwo auf den weitläufigen Ländereien der Brubakers versteckt. Aber ein Tag mit Tex wäre vielleicht die bessere Idee. Sie lehnte sich zurück. „Woran hattest du denn gedacht?" Er zuckte die Schultern. „Wir könnten mit Toto und Kitty einen Ausflug zu dem See hinter den Blockhütten machen. Schwimmen gehen, picknicken, ein bisschen entspannen." Mit Tex schwimmen gehen, statt Toto zu trainieren? Das klang himmlisch. Obwohl sie wusste, dass sie die Einladung lieber ablehnen sollte, wenn sie auch nur einen Funken Verstand übrig hätte, ignorierte sie die warnende Stimme in ihrem Innern. Die Stimme der Vernunft, die ihr sagte: Dieser Mann ist nichts für dich. Nimm die Beine in die Hand, die Freiheit ruft. „Das wäre wunderbar. Wann fahren wir?" In seinen Augen leuchtete es freudig auf. „Sobald du deine Badesachen gepackt hast."
„Den Badeanzug habe ich schon an." Nach dem Unterricht wollte sie sowieso zum Swimmingpool gehen, daher hatte sie ihn gleich unter ihren Shorts angezogen. „Wenn das so ist ...", Tex stand auf, weil er es kaum erwarten konnte loszukommen, „... nach dir." Die Morgensonne trieb das Thermometer bereits in die Höhe, als die beiden mit Kitty und Toto zu den Stallungen gingen. Charlotte dachte, dort hätte Tex seinen Jeep geparkt, er schlug jedoch vor, zum See zu reiten. Sie war zu erstaunt, um zu widersprechen, und folgte ihm zur Koppel, während sie gegen die Angst vor ihrem ersten Ritt ankämpfte. Die Pferde waren in ihren Augen riesig. Ihre Angst wuchs. Wie Tex Spaß daran finden konnte, mit solch einschüchternden Tieren zu arbeiten, war ihr ein Rätsel. Sie nahm ihm Kitty ab, bevor er im Stall verschwand, um Sattel und Zaumzeug zu holen. Draußen pfiff er nach den Pferden und wählte eines aus. Fasziniert beobachtete Charlotte seine kraftvollen, natürlichen Be wegungen und die Muskeln, die sich unter dem ausgebleichten Stoff des dunkelblauen T-Shirts abzeichneten. Das Pferd blieb geduldig stehen, während Tex es routiniert sattelte. Sie sah ihm den jahrelangen Umgang mit diesen Tieren an. Am liebsten hätte sie ihm den ganzen Tag zugeschaut. Sie atmete tief ein. Tex war ein echter Mann. Charlotte musste feststellen, dass er nicht mehr der ungeho belte Klotz vom Frühsommer war, als sie ihn kennen gelernt hatte. Langsam hatte sich ihr Verhältnis gebessert. Der Tex, den sie jetzt kannte, war stark, aber auch witzig und nett, sensibel und verständnisvoll. Und wenn er sie in seinen Armen hielt und küsste, setzte ihr Verstand aus. Eine Frau sollte unglaublich glücklich sein, Tex ihr Eigen zu nennen. Als ihr klar wurde, dass sie Tex die ganze Zeit anstarrte, kam sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Sie befahl sich, nicht über ihn nachzudenken. Mühsam richtete sie den Blick auf To to, der um Tex' Füße sprang, während er den Sattelgurt festzurrte und die Steigbügel einstellte, ohne sich von dem kleinen Quieker stören zu lassen. Mit einem nachsichtigen Lächeln musste Charlotte zugeben, dass auch Toto sich verändert hatte. Ob es ihr passte oder nicht, der Unterricht hatte Wunder gewirkt. Seit einiger Zeit gehorchte ihr das Schwein willig. Tex schob Toto zur Seite, also lief er zu Charlotte. Sie tätschelte ihm die Flanken, und er drängte sich an sie, damit sie ihn weiter kraulte. Sie musste leise kichern. Wenn er wollte, konnte er wirklich lieb sein. „Sieht aus, als hättest du einen neuen Freund." „Das wird sich noch zeigen." „Er mag dich." „Woher willst du das wissen?" „Das sehe ich einfach." Als sie aufschaute, sah sie Tex lächeln. Charlotte fühlte, wie ihr die Wärme in die Wangen stieg. Er hatte ihren freundlichen Umgang mit Toto bemerkt und dachte jetzt bestimmt, dass sie sich noch zu einer echten Tierfreundin entwickeln würde. Oh, Toto war auf seine Weise ganz erträglich geworden, sogar richtig nett, jedenfalls für ein Schwein. Aber würde sie sich jemals freiwillig eins zulegen? Nein, höchst unwahrscheinlich. Am Besten sagte sie Tex gleich, dass er sich keine Hoffnungen machen sollte. Sie war nur zufällig Totos Herrin geworden, nicht weil sie es sich ausgesucht hätte. Weder wollte Charlotte etwas vortäuschen, was sie nicht fühlte; noch konnte sie es. Nicht einmal einem so wunderbaren Mann wie Te x. Nicht einmal, wenn sie wusste, wie sehr es ihn freuen würde, dass sie Toto nicht länger verachtete und selbst Kitty in Ordnung fand. Sie sah zu dem Welpen auf ihren Knien. Okay, niedlich. Trotzdem, es reichte einfach nicht aus. Wenn und falls Tex sich jemals an eine Frau band, dann konnte es nur eine Frau sein,
die seine Träume und seine Tierliebe teilte. So sehr Charlotte sich an diese Vierbeiner gewöhnt hatte, sie war einfach nicht - Charlotte spürte plötzlich ein Brennen im Hals und schluckte, weil ihre Augen feucht wurden - die Richtige für Tex. Sein ganzes Leben drehte sich um Tiere. Sie dagegen hatte keine Ahnung von Tieren. Außer vielleicht von Toto. Und Daisy Mae. Und jetzt noch Kitty. Dennoch musste sie sich klarmachen, dass sie aus verschiedenen Welten kamen. Auf lange Sicht würden diese Unterschiede doch nur Leid bringen. Ein Tierpsychologe und eine ... eine ... was? Charlotte seufzte und lachte lautlos auf. Wenn sie keinen Schimmer hatte, wer oder was sie überhaupt war, wie sollte sie dann wissen, was sie wollte? In diesem Moment jedenfalls wusste sie eines ganz genau: Sie brauchte ihre Freiheit. Zeit, um sich selbst zu entdecken und die Welt auf eigene Faust zu erobern. Bevor sie eine Beziehung einging, musste sie sich beweisen, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte. Es war Zeit, einen anderen Job zu finden und ein Apartment in Hidden Valley zu suchen. „Fertig?" Tex' verführerische Stimme ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Er öffnete das Gatter und führte das hoch gewachsene Pferd am Zügel zu ihr heraus. „Und wo ist dein Pferd?" Wenn er erwartete, dass sie ganz allein auf diesem Monster ritt, hatte er sich geschnitten. „Hier." Er nickte zu dem Tier und ging zurück, um das Gatter zu schließen. „Oh. Und meins?" „Wir reiten zusammen auf einem." „Ach so?" Das hörte sich schon besser an. Plötzlich erschien ihr das Vorhaben nicht mehr ganz so schrecklich. Gekonnt schwang er sich in den Sattel und lehnte sich zu ihr hinab. Das Leder knarrte. „Komm." „Ich? Jetzt?" Er nickte. „Jetzt ist die beste Gelegenheit." Bevor sie noch protestieren konnte, hatte er sie mitsamt Kitty auch schon hochgehoben und ihr auf den engen Platz zwischen dem Sattelhorn und seinen kräftigen Oberschenkeln geholfen. Ihr Kopf ruhte gerade unterhalb seines Kinns, das angenehm ihr Haar berührte. Mit einem Arm um ihre Taille hielt er sie sicher an sich gedrückt. Selbst jetzt, wo sie kaum atmen konnte, nahm sie den männlichen Duft seines teuren Rasierwassers war. Sein warmer Atem kitzelte sie am Ohr. „Komm, Schwein", rief er. Toto trottete ihnen hinterher, als Tex das Pferd auf die offene Straße lenkte. Das Herz schlug Charlotte bis zum Hals, als sie sich von der beträchtlichen Höhe aus umsah. Nun, das ... das war ... einfach großartig! Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Reiten war tatsächlich umwerfend! Warum hatte sie nie bemerkt, was für erstaunliche und vollkommene Tiere Pferde waren? Und der Mann, der es so souverän lenkte, war ebenso beeindruckend. Geborgen in seiner männlichen Umarmung, wagte sie einen Blick in die Umgebung. Sie konnte richtig weit sehen. Das Pferd ging völlig ruhig. Tex hatte so breite und bequeme Schultern. Es war alles wunderbar! Ihr Herz klopfte laut vor Glück, und erstaunt stellte Charlotte fest, dass sie das Leben herrlich fand.
8. KAPITEL
Selig lehnte sich Charlotte gegen Tex und sah zu ihm hoch. Er neigte den Kopf, und das schelmische Grinsen machte sich auf seinem ganzen Gesicht breit. Ihre Lippen waren nur einen Hauch voneinander entfernt, und Charlotte musste sich zurückhalten, Tex nicht eine Hand um den Nacken zu legen und ihn zu einem Kuss zu sich herabzuziehen ... Und ihn zu küssen, bis sie in seinen Armen ganz schwach wurde. Während sie noch überlegte, ob sie es tun sollte oder nicht, nahm Tex ihr glücklicherweise die Entscheidung ab, indem er den Blick wieder zum Horizont hin richtete. Was war bloß an diesem Mann, dass sie sich so Sehr wünschte, er verliebte sich in sie? Wollte sie wirklich eine feste Bindung? Sollte er der Vater ihrer Kinder werden, wenn sie doch gar nicht sicher war, ob sie überhaupt welche wollte? Sollte sie ihre Chance auf die Freiheit vertun, auf die sie so lange gewartet hatte? Sie riss den Blick von seinen Zügen los, um stattdessen seine muskulösen Arme zu betrachten, in denen sie sich so sicher und weiblich fühlte. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, die kräftig, rau und gebräunt von der Arbeit im Freien waren. Hände, die ... Schluss damit! Was zum Kuckuck war bloß los mit ihr? Charlotte straffte die Schultern. Sie musste stark bleiben. Ja. Unempfänglich für seine Anziehungskraft. Für diese Sehnsucht, die ihre ganzen Pläne durcheinander zu bringen drohte. Zehn lange Jahre, in denen sie Nanna Dorothy gepflegt hatte, hatte sie von einem eigenen Leben geträumt. Davon, selbstständig zu sein. Zu kommen und zu gehen, wann sie wollte. Aber wenn sie genau das wollte, warum war sie dann nicht in der Lage, auch nur eine Minute ohne Tex zu verbringen? Wenn sie nicht zusammen waren, sehnte sie sich nach seiner Berührung. Nach seinem warmen Lachen. Seinem Kuss. Seinem Besitz ergreifenden dunklen Blick, der diese unausgesprochene Verbindung zwischen ihnen bestätigte. Und wenn sie an ihre erste Begegnung zurückdachte, fand sie sogar Gefallen an seiner überheblichen Art, die Dinge in die Hand zu nehmen. Sie litt richtig unter den widerstreitenden Gefühlen, die diese Nähe zu ihm heraufbeschwor. Dabei war sie doch heute Morgen mitgekommen, um sich zu erholen und ihre Sorgen zu vergessen. Mühsam zwang sie ihre Gedanken weg von der Hitze, die ihre Körper zusammenschmelzen ließ, so dass sie nicht mehr wusste, wo Tex begann und wo sie selbst aufhörte. Und wie sein Körper sich an ihren schmiegte ... Oooooh. Sie seufzte innerlich. Schluss damit! Charlotte löste sich von Tex und beugte sich nach vorne, um nach Toto zu sehen. Ja, da war er immer noch, trottete fröhlich neben ihnen her und machte sich nichts aus dem Staub, den die Pferdehufe um seine Schnauze aufwirbelten. Sie blieb nach vorne auf den Sattelknauf gelehnt und richtete den Blick auf die grandiose Aussicht vor sich. Sie ritten über die endlosen Felder der Ranch zu den Blockhütten, wo Tex und die anderen Rancharbeiter wohnten. Charlotte genoss die großartige weite Landschaft. Viel zu früh bogen sie auf einen schattigen Weg ab, und Erleichterung und Enttäuschung kämpften in Charlotte, als der Ritt sich dem Ende näherte. Dieses Erlebnis würde sie so bald nicht vergessen. Neugierig sah sie sich um. Vor ihr standen einige malerische Blockhäuser unter mächtigen Weiden und Eichen, dahinter leuchtete ein riesiger See. Im Wasser spiegelte sich der tiefblaue Sommerhimmel, auf dem Wattewölkchen dahinzogen. Es war einmalig. „Hier wohnst du also." „Mmmm." Tex brachte das Pferd vor einem der Blockhäuser zum Stehen und schwang sich elegant aus dem Sattel. „Diese Hütte hier teile ich mir mit Kenny." Er hielt Charlotte die Hände hin, um ihr vom Pferd zu helfen.
„Schön hier", murmelte sie und vermied es, Tex anzusehen, aus Sorge, ihre Gefühle zu enthüllen. Tex hielt sie einen Moment länger fest als notwendig. „Mir ge fällt es. Es ist schlicht. Ganz anders als in unserer Kindheit, wo wir mit Dienstpersonal groß geworden sind." Charlotte nickte verstehend. „Sieht wirklich so aus." Jenseits der Blockhütten strich der Wind durch weite Getreidefelder. Rinder schlugen mit den Schwänzen nach den Fliegen und grasten friedlich im Schatten der Bäume, Kälber tanzten ausgelassen um ihre Mütter. Alles wirkte absolut friedlich auf Charlotte. Einen Moment lang schloss sie die Augen und atmete die warme Sommerluft ein. Tex riss einen Grashalm ab und steckte ihn sich zwischen die Zähne. „Ich habe gestern Abend etwas zu essen für heute vorbereitet." Er zeigte auf einen Anleger am Seeufer. „Nimm doch die Tiere mit da rüber, und mach es dir auf den Liegestühlen unter dem Sonnenschirm bequem. Ich komme gleich mit dem Es sen nach." „Einverstanden." Charlotte setzte den kleinen Welpen auf den Boden. Ausgelassen tapste Kitty los. Zu ausgelassen. Denn das Pferd hatte offensichtlich keine Lust, sich in die Fesseln beißen zu lassen, und schlug blitzschnell aus. Kitty kugelte in einer Staubwolke rückwärts und quiekte auf, aber mehr vor Überraschung als vor Schmerz, doch Charlotte war außer sich. „Du riesiges, fettes Monster, was glaubst du eigentlich? Suc h dir jemandem von deiner Größe!" schrie sie und schubste das große Tier mit der Schulter an, bevor sie den heulenden Welpen aufhob. „Guck mal, was du angestellt hast! Du hast Kitty weh getan! Entschuldige dich auf der Stelle, du Grobian!" Das große Tier zuckte mit den Ohren und drehte langsam den Kopf, um nachzusehen, wer da solchen Radau machte. „Alles in Ordnung, meine Süße?" Charlotte küsste Kitty auf die Pfoten und drückte die Nase in ihr weiches Fell. „Hat dich dieser Rohling erschreckt? Armes Baby. Halte dich in Zukunft fern von dem bösen Kerl, dann tut er dir nicht mehr weh." Sie warf dem Pferd einen wütenden Blick zu, der das Tier jedoch nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. Tex, der die Szene von der Tür aus beobachtet hatte, senkte den Kopf, damit Charlotte sein Schmunzeln nicht sah. „Brauchst du noch irgendwas von drinnen?" Charlotte setzte den Hund, der sich wieder beruhigt hatte, zu ihren Füßen ab. „Habt ihr hier draußen die Hidden Valley Tribune Appeal?" „Ja, haben wir." „Und einen Ro tstift. Oh, und ein Handy." Sie knöpfte ihr Hemd auf. Dieser Anblick brachte ihn völlig durcheinander, obwohl er wusste, dass sie einen Badeanzug darunter trug. „Und einen Schreibblock ..." „Charlotte, heute ist dein freier Tag!" Sie lächelte dieses rätselhafte Mona- Lisa-Lächeln, von dem ihm so heiß wurde. „Ich weiß." „Okay. Sonst noch was?" „Das sollte fürs Erste reichen." Hoffentlich vergaß er nichts. Eigentlich hatte er gar nicht richtig zugehört, weil er auf ihre Hände starrte, mit denen sie langsam Knopf für Knopf öffnete. Wie magnetisiert ging er rückwärts, bis er gegen Toto hinter sich stieß. „Oh, hopsa!" Dämlich grinsend fing er sich wieder. „Ich bin gleich zurück." Er drehte sich um und machte, dass er davonkam. Sie lagen in der Sonne am Ende des Anlegers. Tex ertrug kaum, wie gut Charlotte in dem schwarzen Badeanzug aussah, der so geschnitten war, dass er ihre ganzen Reize zur Geltung brachte. Und Reize hatte sie genug. Er bemühte sich, die Reaktionen seines
Körpers auf Charlotte zu unterdrücken. Sie lag auf der Seite und ließ die langen schlanken Beine von der Kante der Liege baumeln. Ihre Fußnägel waren pfirsichfarben lackiert, und mit den Zehen kraulte sie Kitty, die im Schatten unter der Liege döste. Ein winziges Lächeln huschte über Tex' Gesicht. Der Hund folgte ihr seit dem Zwischenfall mit dem Pferd auf dem Fuße. Charlotte mochte es noch nicht realisiert haben, aber sie würde Kitty so bald nicht mehr loswerden. Er betrachtete sie durch die Gläser seiner dunklen Sonnenbrille. Bestimmt dachte sie, er döste. Das war in Ordnung. Er wollte sich nur noch ein paar Minuten diese fantastischen Beine einprägen, die Kurven ihrer Hüfte hinauf zur Taille und zur Rundung ihrer Brüste. In den letzten Wochen hatte ihre Haut von den Abenden am Pool einen leichten Goldton angenommen, und in ihrer lockigen honigbraunen Mähne zeigten sich jetzt helle Strähnchen. Tex atmete langsam aus. Schon der Ritt hierher war eine Tortur gewesen, aber jetzt wurde es noch schlimmer. Immer wieder war er knapp davor gewesen, alle Vorsicht in den Wind zu schla gen und sie leidenschaftlich zu küssen. Aber das ging nicht. Charlotte wollte unabhängig sein. Sich unglücklich in sie zu verlieben wäre ... Ach egal, er war ohnehin längst unglücklich in sie verliebt. Sehenden Auges rannte er in sein Unglück, besonders wenn sie tatsächlich einen Job in der Stadt fand und von hier fort ziehen sollte. Sein Mund wurde trocken, als sie sich mit Sonnenschutz eincremte. Darüber, dass auch er einen Sonnenbrand bekommen könnte, schien sie sich keine Gedanken zu machen. Vielleicht sollte er sie bitten, ihm auch etwas davon auf die Schultern zu reiben. Und die Arme. Und die Brust. Sein Atem ging schneller, und er blinzelte, rückte die Sonnenbrille gerade und richtete den Blick auf den See, um nach auftauchenden Fischen zu suchen. Keine zu sehen. Charlotte raschelte mit der Zeitung und lenkte seine Aufmerksamkeit von den unkooperativen Fischen weg. Sie war schon wieder dabei, die Stellenanzeigen zu durchforsten. Vor Konzentration legte sie die Stirn in Falten und strich sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. Erst schien sie nichts zu finden, dann ging plötzlich ein Leuchten über ihr Gesicht. Sein Herz sank. Wieder ein Job. Beim dritten Mal klappte es bestimmt. Und dann zog sie weg. Seit Tagen redete sie immer wieder davon, dass sie endlich auf eigenen Füßen stehen müsste. Was so toll daran sein sollte, allein zu leben, war ihm inzwischen unbegreiflich. Schlecht gelaunt schlug er nach einer Mücke. „Was gefunden?" fragte er in der Hoffnung, er täuschte sich. „Mm, mm, mm." Sie setzte sich auf. Er sah ihr die Vorfreude förmlich an. „So gut?" „Mhm." „Was ist es denn dieses Mal? Frisieren? Oder Nägellackieren?" „Nein. Ich habe der Modewelt den Rücken gekehrt, hast du das vergessen?" Strahlend deutete sie auf die umkringelte Anzeige. „ReadyMaid Heimpflege-Artikel. Ich habe ein gutes Gefühl." „Von dieser Firma habe ich noch nie gehört. Arbeiten die auch mit Verkaufspartys?" „Ja, aber hier ist es anders, da bin ich sicher. Schließlich müs sen alle für ihren Haushalt sorgen. Und diese Produkte hören sich sehr gut an. Ich werde eine Show für die Hausangestellten von Miss Clarise machen, und ihre Freundinnen können ihr Personal schicken ..." Mit leuchtenden Augen kritzelte sie eifrig weitere Ideen auf ihren Block. „Soll ich dir bei der Party helfen?" Sie nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und überlegte lange, bevor sie antwortete. „Ja. Das wäre großartig. Und", sie zögerte, „wenn es dir nichts ausmacht,
würde ich mich freuen, wenn du mir in den nächsten Tagen bei der Wohnungssuche hel fen würdest. Falls du Zeit hast." Tex erschrak. Verdammt. Dieses Mal machte sie wirklich Ernst. „Wenn ich diesen Job bekomme, ziehe ich aus. Ich habe Miss Clarises Großzügigkeit schon zu lange beansprucht. Es wird Zeit, dass ich selbstständig werde." „Okay." Tex seufzte. „Kann ich dein Handy benutzen? Ich rufe bei der Firma an und frage, wann ich anfangen kann. Dann rufe ich Miss Clarise an und arrangiere einen Termin für die Party. Und danach werde ich mich in der Zeitung nach einem günstigen Apartment umsehen." „Sicher." Aller Sonnenschein schien aus diesem wunderbar faulen Tag zu weichen, und plötzlich lag ihm das Picknick schwer im Magen. Eine Runde im See würde ihm sicher gut tun. Er rollte sich von der Liege am Ra nd des Anlegers hoch und stürzte sich mit einem Kopfsprung in das kalte Wasser. „Warum leitest du die Ranch eigentlich nicht?" Charlotte lehnte sich in Tex' Armen zurück und sah zu ihm hoch. Die Sonne stand schon tief am Abendhimmel. Müde von dem entspanne nden Tag hatten sie ihre Sachen zusammengepackt und ritten nun zu den Stallungen zurück. Tex' Herz begann heftig zu schlagen. Charlottes schläfrige, warme Stimme klang wie eine Melodie in seinen Ohren. „Wollte ich nicht. Ich habe mehrere Jahre dort gearbeitet und dann meinem Cousin Kenny den Vortritt gelassen, als es um die Vorarbeiterstelle ging." „Warum?" „Ich wollte die Praxis gründen." „Wolltest du nicht für deinen Vater arbeiten?" „Nein, ich bin lieber selbstständig." „Und warum arbeiten alle Jungs hier auf der Ranch, wenn sie doch in den Firmen ihrer Väter groß einsteigen könnten?" Er sah zu ihr hinunter und grinste. „Du stellst ganz schön vie le Fragen." „Ich kann nichts dafür." Sie lehnte sich an ihn und bedachte ihn mit einem schelmischen Blick. „Du bist eben interessant." Für Tex schien die Zeit stillzustehen. Charlotte war so schön. Das magische Licht der Abendsonne tauchte ihr Gesicht in einen schwachen goldenen Schimmer und leuchtete feurig in ihren Augen. Tex seufzte tief auf und verstärkte den Griff um ihre Taille. Wie war noch mal die Frage gewesen? Oh, ja. „Normalerweise arbeiten die meisten Brubaker-Jungs zuerst auf der Ranch, bevor sie eine der Firmen übernehmen. Mein Vater und Big Daddy glauben, das mache uns fit dafür, und ich finde sogar, sie haben Recht. Der Umgang mit dem großen Geld will genauso wie das Ranchleben gelernt sein." „Das stimmt wahrscheinlich", murmelte sie. „Manche suchen sich aber trotzdem danach andere Arbeitszweige aus. Wie ich zum Beispiel." „Und von deinen Schwestern oder Cousinen interessiert sich keine für die Arbeit auf der Ranch?" „Bisher nicht." Er grinste. Vielleicht wollte sich ja Charlotte für diesen Job bewerben, wenn es mit ReadyMaid nichts wurde? Er bezweifelte das allerdings. Zu viele Tiere für ihren Geschmack. „Ich verstehe, dass es dir hier draußen gefällt." „Wirklich? Warum?" Charlotte zuckte die Schultern. Ihre Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck, als sie den Blick auf den fernen Horizont richtete. „Ich weiß nicht. Es ist so groß hier. So weiträumig. Man fühlt sich nicht so beengt wie in der Stadt." „Stimmt."
„Es muss toll sein, hier aufzuwachsen", fuhr sie wehmütig fort. „Ja. Den Sommer verbrachten wir immer hier oder in der Nähe auf dem Grundstück meines Vaters, und Big Daddys Kinder waren meistens dabei. Manchmal war es, als hätte ich siebzehn Geschwister." „Wow." „Ja, es war immer jemand da, mit dem man sich zanken konnte." „Bist du deswegen heute so gut im Streiten?" fragte sie amüsiert. „Ich würde sagen, die Liebe liegt mir jetzt viel mehr." „Oh?" „Ja. Heute war ein wunderbarer Tag", flüsterte er ihr ins Ohr. „Finde ich auch." Er freute sich über ihre zaghaft hingehauchten Worte. „Wir sollten öfter die Schule schwänzen." „Mhm." Sie schloss sie Augen. Wenn es nach Tex gegangen waren wäre, hätten sie noch ewig so weiterreiten können, aber schon kamen die Stallungen in Sichtweite, und das Pferd beschleunigte die Gangart. Toto musste sich anstrengen, Schritt zu halten. Viel zu früh waren sie wieder zurück. Tex zerbrach sich den Kopf, wie er Charlotte noch zum Bleiben bewegen könnte. Als sie abgestiegen waren und das Pferd versorgt hatten, gingen sie gemeinsam Hand in Hand in Richtung Büro. „Ich mache uns noch einen Kaffee, und dann füttern wir die Tiere", versuchte er es. „Okay, aber ich kann nicht so lange bleiben." „Warum nicht?" Er musste seine Enttäuschung verbergen. „Ich muss Daisy Mae und ihre Jungen füttern. Sie war den ganzen Tag in der Hitze draußen, und seit heute Morgen habe ich nicht nach ihr gesehen." „Oh." Er bemühte sich um einen verständnisvollen Tonfall, während er den Schlüssel zur Bürotür aus der Hosentasche angelte. Doch überraschenderweise war die Tür offen. Dabei sollte sie nach Büroschluss eigentlich immer abgeschlossen sein. „Wally?" rief er. Alle Lichter brannten, die Stereoanlage spielte laut. Keine Antwort. Charlotte trat hinter Tex ein. „Sieht aus, als hätte eine Bombe hier eingeschlagen." Sie rümpfte die Nase. „Und genauso riecht es auch." „Chemische Testreihen. Wenn du glaubst, hier riecht es schlimm, dann geh mal in die Vorratskammer." Tex rieb sich den Nacken und kreiste den Kopf. „Ich glaube es einfach nicht." „Sehr ordentlich scheint er nicht zu sein." Sie deutete auf einen Schreibblock. „Wenigstens hat er dir eine Nachricht hinterlassen." Dort standen in krakeliger Schrift die Worte Bin mit Mona unterwegs. Das Telefon war nicht richtig eingehängt. „Sieht aus, als hätte er es eilig gehabt. Wahrscheinlich studiert er gerade eine ganz andere Art von Chemie." Charlotte ging zu Wallys Schreibtisch und setzte die Kappen auf die Leuchtmarker. „Der Ruf der Wildnis." Charlotte lachte. „Dann solltest du ihm gnädig sein." „Ja. Diesen Ruf kann man schwer ignorieren." „Besonders nicht am Samstagabend." „Bist du sicher, dass du noch nach diesen Ziegen sehen musst?" „Tex Brubaker! Ich muss doch sehr bitten! Natürlich muss ich, wofür hältst du mich?" gab sie halb missbilligend, halb im Spaß zurück, pfiff nach Toto und verließ das Büro. Grinsend fragte sich Tex, wann sie wohl bemerken würde, dass Kitty immer noch über ihrem Arm hing. Eine Stunde später fuhr Charlotte vor Nanna Dorothys Haus vor. Sie war erleichtert, Tex
entkommen zu sein, bevor sie eine Dummheit begehen konnte, die sie garantiert ihre Unabhängigkeit gekostet hätte. Aber während sie nun den Sicherheitsgurt abschnallte, überlegte sie doch, ob sie nicht umkehren und zur Ranch zurückfahren sollte. Zu der magnetischen Anziehungskraft von Tex' verführerischem Blick. Zu seiner elektrisierenden Umarmung. Zu dem Gefühl ihrer Lippen auf seinen. Sie blinzelte und fixierte Nanna Dorothys Haus. Das Haus, in dem sie zehn Jahre lang praktisch eine Gefangene gewesen war. Um das Gefühl der Platzangst loszuwerden, das sie plötzlich zu überkommen drohte, stieg sie aus und ließ auch Toto aus dem Wagen. Als sie das Anwesen betrat, war es ihr unmöglich, die unheimliche Stille zu ignorieren, die dort herrschte. Selbst nachdem alle Lichter brannten und Toto und Kitty fröhlich durch die Halle tollten, schien alles trostlos und einsam. Charlotte ließ sich auf den knarrenden Stuhl an Nanna Dorothys Schreibtisch sinken und lauschte auf die Stille. Genau so würde es sein, wenn sie allein lebte. Sie versuchte sich vorzustellen, was an einem typischen Abend passieren würde. Charlotte sah sich um. Die Bücherregale waren voll von verstaubten alten Büchern. Wenn sie dann alle Zeit der Welt hatte, würde sie endlich lesen. Sie konnte jedes Buch hier lesen, wenn sie Lust dazu hatte, sogar die ganze verdammte Nacht dazu wach bleiben. Außer natürlich, wenn sie am nächsten Tag arbeiten musste. Und wenn sie alles gelesen hatte? Nun, dann nähte sie eben. Na ja, das musste sie erst lernen, aber das konnte doch wohl kein Problem sein. Und Klavier spielen, stricken, im Internet surfen, sich in der Küche beschäftigen, fernsehen. Die Liste schien endlos. Endlos langweilig. Charlotte lehnte sich zurück und lauschte dem regelmäßigen Schlag ihres Herzens. Diese Stille war traurig und unheimlich. Sie dachte an die trostlose Existenz, die sie führen würde; abgesondert von der Welt, nur weil sie sich etwas beweisen musste. Deutlich sah sie sich selbst in Nanna Dorothys Alter umgeben von Näharbeiten am Klavier sitzen. Charlotte schloss die Augen und wurde ganz still, als ihre Gedanken eine andere Richtung nahmen. All diese Dinge, von denen sie glaubte, dass sie sie tun wollte ... Konnte sie die nicht auch tun, wenn sie verheiratet war? Und Kinder hatte? Und vielleicht ein Schwein und einen Hund oder zwei? Aber das hatte sie doch gar nicht vorgehabt. Oder doch? Sie stand auf, um diese beunruhigenden Gedanken loszuwerden. Zur Ablenkung packte sie den ganzen Papierkram ein, den sie eigentlich letzte Woche schon hatte mitnehmen wollen, bevor ihr Daisy Mae dazwischengekommen war. Der Umschlag mit dem Video im Safe fiel ihr wieder ein. Sie holte ihn heraus und warf ihn mit den anderen Sachen in ihre Tasche, Das konnte sie sich zu Hause bei den Brubakers ansehen, wo sie ein Videogerät hatte. Gerade als sie Wasser und Futter für Daisy Mae vorbereitete, hörte sie eine Tür schlagen. Charlotte ging zur Spüle und schob den Vorhang beiseite. Nebenan war Licht. Die Martkowskis waren aus dem Urlaub zurück. Die Wut, die Charlotte eine Woche lang genährt hatte, stieg wieder in ihr auf. Entschlossen marschierte sie hinüber und klingelte Sturm, bis das Licht auf der Veranda anging und die Sicherheitskette rasselte. „Ja? Was gibt's denn?" fragte Mrs. Martkowski. „Oh, Charlotte! Sie sind es!" Sie legte die Kette ab und öffnete die Tür ganz. „Hallo, meine Liebe. Meine Güte, es tut mir so Leid wegen Ihrer Urgroßmutter. Ich hatte noch keine Zeit, um mal vorbeizukommen und ..." „Schon gut." Charlotte winkte ungeduldig ab und warf das Haar zurück, bevor sie ihre Nachbarin fixierte. „Hören Sie, Mrs. Martkowski, ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass ich die Art und Weise, wie Sie Daisy Mae behandeln, nicht billigen kann. Sie haben sie
hier draußen allein in dieser entsetzlichen Hitze gelassen, obwohl sie trächtig war. Man kann nicht von einem Tier erwarten, dass es eine volle Woche ohne Wasser und Futter auskommt und..." „Ich habe ... ich habe ... was?" Mrs. Martkowski stand der Mund offen. „Kein Wasser? Kein Futter? Aber ich hatte doch eine Pflegeperson bestellt!" „Tatsächlich?" Das nahm Charlotte etwas den Wind aus den Segeln. „Ja! Bei einem Tiersitter-Service. Für die ganze Woche!" „Es ist aber niemand hier gewesen. Das weiß ich genau, denn ich habe mich mehrmals am Tag um Daisy Mae und die beiden Jungen gekümmert, während Sie im Urlaub waren." „Aber das ist unmöglich! Ich habe doch im Voraus bezahlt!" Mrs. Martkowski war völlig außer sich. „Charlotte, bitte, kommen Sie einen Moment herein, ja?" Charlotte wartete in der Halle, bis Mrs. Martkowski den Tiersitter-Service angerufen hatte und ihr davon berichtete. „Sie hatten uns für die nächste Woche vorgemerkt. Charlotte, es tut mir sehr Leid. Ich kann Ihnen nicht genug danken. Daisy Mae bedeutet meinem Mann und mir die Welt! Sie ist das Einzige, was wir von Großvater haben, seit wir seine Ranch verkauft ha ben. Wenn ihr etwas zustoßen würde, nun ..." Der Nachbarin traten Tränen in die Augen. „Ich möchte Sie für Ihre Freund lichkeit belohnen." „Nein, nein, Mrs. Martkowski, das ist wirklich nicht nötig. Das hätte doch jeder getan." „Das stimmt nicht, Liebes. Heutzutage ist es selten, jemanden zu finden, der sich so bemüht, und auch noch um eine einfache Ziege. Ihre Nanna Dorothy war mir die ganzen Jahre, die sie hier lebte, eine wundervolle Freundin. Ich muss Ihnen einfach eine Belohnung geben." Charlotte wollte die aufgelöste Frau nicht verletzen, aber sie hatte nicht für die Ziege gesorgt, weil sie dafür eine Belohnung erwartete, sondern weil sie es nicht ertragen konnte, das arme Tier leiden zu sehen. „Wirklich, ich ..." „Bitte." Charlotte gab nach. „Wenn Sie darauf bestehen." Mrs. Martkowski nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Hand tasche und führte Charlotte in den Garten. „Nehmen Sie sich eines von Daisy Maes Jungen, Liebes. Ich verspreche Ihnen, eine Ziege wird Ihnen lange Jahre Gesellschaft leisten und viel Freude machen."
9. KAPITEL „Was hast du denn da?" „Wonach sieht es denn wohl aus?" gab Charlotte bissig zurück, während sie sich durch die Tür kämpfte, die reinste Menagerie von Tieren im Schlepptau. Tex zog eine Augenbraue hoch. Offensichtlich war Charlotte an diesem schönen Montagmorgen schlecht gelaunt. Er spähte über den Schreibtisch. „Eine Ziege." „Nein", ihre Worte trieften förmlich vor Sarkasmus, „es ist eine Belohnung. Dafür, dass ich mich um Daisy Mae gekümmert habe, weil der Tiersitter-Service es verschlafen hat. Bitte, darf ich dir Ozzie vorstellen." „Ozzie?" „Wie im Zauberer von Oz. Nanna Dorothy wäre begeistert ge wesen." Charlotte schrie über ihre Schulter. „Daisy Mae!" Zu Tex gewandt erklärte sie: „Ozzie ist noch zu jung, um von seiner Mutter und seiner Schwester getrennt zu werden, daher bestand Mrs. Martkowski darauf, dass ich sie gleich alle mitnehme, bis die Kleinen entwöhnt sind. Ist doch wunderbar, nicht?" Daisy Mae und das zweite Zicklein trotteten in Tex' Büro und beäugten die neue Umgebung. Tex bog den Kopf zurück und lachte bei Charlottes gepeinigtem Gesichtsausdruck laut auf. Das war ja zu schön. Bald hätte sie einen ganzen Zoo beisammen. Er lachte sich kaputt! Mit einem genervten Schnaufen schmiss Charlotte die Tür zum Büro zu, warf die verschiedenen Leinen hin, die sie in der Hand hatte, und ging zur Kaffeekanne. Von einer Frisur konnte heute nicht die Rede sein, ihr Kleid war zerknittert. Sie drehte sich um und starrte Tex an. Offenbar sah sie die Situation mit etwas weniger Humor als er. „Können wir den Unterricht nicht heute ausfallen lassen?" Tex wischte sich die Augen. „Sicher, kein Problem. Aber ich muss morgen nach Houston zu einer Konferenz, das heißt, dass die nächsten beiden Tage auch ausfallen werden." Sie wurde auf einmal ganz still. „Du fährst weg? Über Nacht?" „Ja, warum? Wirst du mich vermissen?" Mit geröteten Wangen ignorierte sie seine herausfordernde Be merkung. „Ist schon in Ordnung", beeilte sie sich zu sagen, „wir können ja weitermachen, wenn du wieder da bist." „Schön. Also, was gibt's?" „Heute früh habe ich einen Anruf von ReadyMaid bekommen. Ich bin dabei. Das erste Sortiment bekomme ich heute Nachmittag, und heute Abend halte ich die erste Party." „Heute Abend? Warum denn schon so früh?" „Je früher, desto besser." „Na schön." Ernüchtert fragte er: „Und was hat das mit der Lektion heute zu tun?" „Ich möchte, dass du mit mir nach Hidden Valley fährst, um eine Wohnung zu suchen. Ich habe jetzt einen neuen Job und keine Ausrede mehr, warum ich Miss Clarise und Big Daddy noch länger auf der Tasche liegen sollte." Sie bemühte sich um ein Lächeln. Plötzlich war Tex das Lachen vergangen. Er stützte die Ellbogen auf die Schreibunterlage und betrachtete ihr schönes Gesicht. „Also ist es dir ernst damit, allein zu leben." Einen Moment lang wirkte sie unsicher, dann trat Bestimmtheit in ihren Blick. „Ja." Entschlossen presste sie den Kiefer zusammen, als wollte sie sich gegen jeden Einwand wappnen, den Tex vorbringen könnte. „Ich habe ein paar Besichtigungstermine ausgemacht. Bitte komm mit, ich möchte nicht allein gehen." „Warum nicht?" Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Einfach so. Ich ha be so etwas noch nie gemacht."
Er brummte. „Ist das ein Ja?" Tex nickte. „Wir können los, wann du willst." „Hier kannst du doch nicht wohnen!" Charlotte sah die Muskeln um seinen Mund zucken. „Und warum nicht?" gab sie kampflustig zurück. Das hatte er bis jetzt bei jeder Wohnung gesagt, die sie sich angesehen hatten. Allmählich bedauerte sie es, Tex mitgenommen zu haben. Eigentlich hatte sie gedacht, er könnte ihr bei der Entscheidung helfen, aber nun störte er eher. Dieses Gebäude sah zwar ziemlich heruntergekommen aus, aber wenigstens hatte der Vermieter dort nichts gegen Tiere. Gegen keine Art von Tieren, wenn man dem Hausmeister glauben durfte. Charlotte war sich nicht ganz sicher, aber es klang, als besäßen die Nachbarn ein Pferd. „Weil es ein Loch ist, deswegen." In Tex' Augen glitzerte es vor Ärger. „Na und? Es ist ja nur vorübergehend, und außerdem ist das meine Sache." „Nicht ganz." „Aber bald, wenn ich unterschrieben habe", zischte sie. Sie senkte die Stimme, damit der neugierige Hausmeister ihre Unterhaltung nicht mithören konnte. Die beiden gingen von dem winzigen Flur ins Wohnzimmer, das seine besten Zeiten deutlich hinter sich hatte. Der Putz war in Brocken von der Wand gefallen und gab den Blick auf Drähte und Leitungen frei. Nikotin- und Wasserflecken zierten die Decke, und Charlotte dachte lieber nicht darüber nach, woher die Flecken auf dem schäbigen Teppichbelag kamen. Doch die ses Apartment konnte sie bezahlen, also durfte sie sich nicht beschweren. Tex wurde jetzt richtig böse. Er verschränkte die Arme über der Brust, stellte sich breitbeinig vor Charlotte und fixierte sie. Seine Grübchen waren verschwunden. „Auf keinen Fall ziehst du hier ein." „Schsch!" Über die Schulter lächelte sie dem Hausmeister vor der Fliegentür zu, dann sah sie Tex vernichtend an. „Er hört dich doch." „Hey, Mister, sie zieht nicht in dieses Loch hier ein!" rief Tex. „Wir haben uns noch nicht entschieden", rief Charlotte hinterher. Sie schlug Tex auf den Arm, dann zog sie ihn am Ohr zu sich heran. „Würdest du das bitte lassen? Ich kann mir mit meinem Gehalt nichts anderes leisten!" „Welches Gehalt?" „Ich werde Geld verdienen. Bald." Sie schenkte dem Hausmeister wieder ein entschuldigendes Lächeln. „Hör zu, Tex. Seit wir uns kennen, fragst du immer wieder, wann ich ausziehe. Nun ist der Augenblick gekommen, und jetzt sträubst du dich. Was ist los mit dir?" „Was mit mir los ist?" Er packte Charlotte am Arm und zog sie an sich. Überrascht schnappte sie nach Luft. „Hey, Sie entschuldigen uns sicher einen Moment, oder?" Tex trat einen Schritt auf die Fliegentür zu, an die der Mann das Gesicht presste, und schlug ihm die Vordertür vor der Nase zu. Dann drängte er Charlotte gegen den bröckelnden Putz der Wohnzimmerwand und hielt sie an den Oberarmen fest. Mit leiser Stimme und funkelnden Augen grollte er, so dass sein Atem ihre Wangen streifte: „Was meinst du damit, was mit mir los ist? Was ist mit dir los? Du glaubst, ich will, dass du aus ziehst? Häng mir diesen Mist bloß nicht an, meine Liebe. Ich will nicht, dass du ausziehst. Ich wollte nie, dass du ausziehst." „Nie?" flüsterte sie schwach. „Nein!" explodierte er. „Nur du redest davon, seit du auf der Ranch eingezogen bist! Dass du da wieder weg musst. Dass du deine verdammte Unabhängigkeit brauchst. Deinen Freiraum. Dass du beweisen musst, dass du es allein schaffen kannst!" „Aber ich war nie richtig frei", versuchte sie einzuwenden. „So ein Blödsinn! Hör auf dich selbst. Du bist frei! Das ist ein freies Land, Charlotte
Beauchamp. Du kannst kommen und ge hen, wie du willst, niemand hält dich auf, am allerwenigsten ich. Aber ich sage dir eins. Wenn du glaubst, dass ich - oder irgend jemand sonst aus der Familie, damit dir das klar ist - zulasse, dass du hier einziehst, dann hast du dich gründlich getäuscht." Charlotte hatte das Gefühl, ihr Herz würde ein paar Schläge lang aussetzen. „Willst du wissen, was ich denke?" „W...w...was?" „Ich glaube, ich habe dir viel zu viel Raum gelassen", stieß er schroff hervor. Er hielt sie mit seinem Blick gefangen, und das ließ ihr Herz erneut stocken. Ihr Atem kam stoßweise, als Tex sich ihr näherte. „Ich denke", er ließ ihre Arme los und sank mit einem Stöhnen in seiner ganzen Länge gegen sie. Zärtlich fuhr er mit den Händen durch ihr Haar. „Ich denke", murmelte er an ihren Lip pen, „dass dir ein bisschen weniger Raum gut täte." Damit eroberte er ihren Mund. Die Intensität seines Kusses erfasste sie beide wie ein Wirbelsturm und wurde immer heftiger. Tex vertiefte den Kuss, und Charlotte bog sich ihm entgegen. Das ist es! dachte sie verschwommen. Tex' Kuss brachte ihr eine ganz andere Freiheit als die, die sie sich immer vorgestellt hatte. Schwer atmend unterbrach Tex den Kuss und lehnte das Kinn gegen Charlottes Stirn, um seinen Verstand zu sammeln. Charlotte ließ den Kopf an die Wand fallen, und Tex küsste sie auf den Hals. „Du ziehst hier nicht ein", erklärte er heftig. „Okay", stieß sie atemlos hervor. „Du kommst mit mir nach Hause." Er ließ seine Lippen hinunter zu ihrem Schlüsselbein und dann noch tiefer zu ihrer Halsbeuge wandern. Charlotte stöhnte. „Einverstanden." „Du ziehst überhaupt nirgendwo hin." „Ich rühre mich nicht von der Stelle." „Gut." Er barg ihren Kopf in seinen Händen, wieder fanden sich ihre Lippen, und in ihrem Kuss enthüllten sie voreinander die ganze Leidenschaft, die sie seit dem ersten Tag unterdrückt hatten. Dann löste Tex sich schwer atmend von Charlotte und küsste sie auf die Nasenspitze. „Sehr gut. Denn", er lächelte verlegen, „ich glaube nicht, dass ich im Moment in der Verfassung bin, irgendwohin zu gehen." Charlotte kicherte. „Schau nicht hin, aber ich glaube, unser Hausmeister guckt schon ganz glasig durchs Fenster." „Noch ein Grund, warum du auf keinen Fall hier einziehen wirst." „Warum? Hast du vor, mich noch weiter zu küssen?" „Auf alle Fälle." Als Charlotte am Abend vor der Menschenmenge in Miss Clarises Salon stand, war sie unendlich beruhigt, dass Tex ihr dieses Mal zur Seite stand. Vielleicht war es ein bisschen voreilig ge wesen, die erste Party gleich für heute Abend anzusetzen und so viele Leute einzuladen, da bei der großen Anzahl bestimmt nicht alle etwas sehen, geschweige denn hören konnten. Offenbar hatte sich schon herumgesprochen, dass Charlotte Beauchamp zwar nichts verkaufte, ihre Partys aber trotzdem höchst unterhaltsam waren. Sie seufzte. Egal. Sie war es leid, in diesen unsicheren Verhältnissen zu leben, sie wollte endlich einen richtigen Job, und zwar sofort. Seit heute Morgen hatte sie zwar dank Tex' Hilfe bei der Erinnerung an ihre Küsse errötete sie - ihre Ansicht etwas geändert, was ihre Freiheit betraf, aber sie beabsichtigte immer noch, ihr eigenes Geld zu verdienen. Inzwischen hatten sie und Tex die einleitenden Worte über ReadyMaid und einige mehr oder weniger erfolgreiche Produktdemonstrationen hinter sich gebracht. Nun war es langsam an der Zeit, das große Finale anzusteuern. Charlotte holte tief Luft und strahlte bezaubernd ins Publikum.
„EttaMae", sie nickte der griesgrämigen Frau zu, die neben einer der Säulen saß, „wenn Sie vielleicht Ihre ungespülten Pfannen aus der Küche bringen, können wir Ihnen unser Starprodukt WonderKleen vorstellen." Tex hielt eine Flasche WonderKleen hoch, damit alle sie sahen. EttaMae erhob sich brummend. „Bringen Sie uns ruhig Ihre härtesten Fälle!" flötete Charlotte. EttaMae bahnte sich einen Weg durch die Menge und verschwand. „Bis EttaMae zurückkehrt, zeigen Tex und ich Ihnen jetzt, wie Sie mit WonderKleen auch Flecken aus Ihren Teppichen entfernen können, von denen Sie dachten, dass sie niemals wieder rausgehen." Tex' Schwestern, die wie üblich auf der Couch saßen, lachten und pfiffen. Tex stemmte die Hände in die Hüften und warf ihnen spaßend einen drohenden Blick zu, der sie nur noch mehr anstachelte. „Zeig uns, wie man sauber macht, Teppich-Boy!" rief Ginny. „Yeah, Babyyy!" johlte Mary. „Das muss ich fotografieren, sonst glaubt uns Mutter das nie!" Georgia ließ mehrmals die Kamera blitzen. Charlotte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern fuhr lächelnd fort. „Wenn du bitte die Tinte hier auf Miss Clarises weißen Teppich schüttest." Tex zog eine Grimasse. „Tinte?" Mit einem zweifelnden Blick auf Miss Clarise nahm er die Flasche. „Bist du sicher?" Miss Clarise nickte ermutigend. Charlotte hielt einige Broschüren hoch und lächelte Vertrauen erweckend in die Runde. „WonderKleen garantiert Ihnen die perfekte Entfernung von Tintenflecken. Wenn nicht, erhalten Sie sofort Ihr Geld zurück." Tex zögerte. „Fang an", drängte sie ihn leise und strahlte wieder ins Publikum. Endlich kniete sich Tex auf den Boden und goss einen guten Schuss Tinte auf den teuren schneeweißen Teppich. Das Publikum hielt erschrocken den Atem an. „Und jetzt", verkündete Charlotte, „reiben Sie einfach einen Teelöffel WonderKleen auf die Stelle, und wie von Zauberhand wird der Fleck verschwinden." Sie reichte Tex einen Löffel Pulver. Im selben Augenblick kehrte EttaMae mit einem Stapel klappernder Töpfe und Pfannen aus der Küche zurück und drängelte sich zu Tex und Charlotte durch die Menge. „Sie sagten, ich soll die ungespülten Sachen nehmen", bellte sie und streckte den Stapel Charlotte entgegen. „Hier bitte." „Oh, ahm, ... danke, EttaMae." Saucenspritzer landeten auf dem kostbaren Teppich. Charlotte warf ein Lächeln ins Publikum. „Uups! Nun, glücklicherweise haben wir ja genug WonderKleen dabei", kommentierte sie fröhlich, während Tex das Pulver ins Gewebe rieb. EttaMae verzog das Gesicht. „Sagen Sie mal, raucht dieses Zeug immer so?" Alle drei beugten sich vor, um das seltsame Phänomen zu betrachten. EttaMae hatte Recht: Von dem Fleck stiegen kleine Rauchwölkchen auf, die sich langsam über den Teppich aus breiteten und immer größer wurden. „Sieht aus, als frisst dieses Zeug sich durch den elenden Teppich", erklärte EttaMae. „So funktioniert das also!" Sie sah Charlotte an. „Da kriegen Sie Ihr Geld nicht zurück. Wie Sie sagten, der Fleck ist tatsächlich weg!" Das Publikum war sprachlos. EttaMae hustete krächzend. „Das ist ja ein starkes Zeug. Brennt einem bald die Nase weg." Mit tränenden Auge n wich sie zurück. EttaMae hörte gar nicht mehr auf zu husten. Charlotte warf Tex einen besorgten Blick zu, klopfte EttaMae auf den Rücken und reichte ihr ein Glas Wasser.
Der seltsame Rauch, der weiterhin vom Teppich aufstieg, hatte einen stechenden, geradezu giftigen Geruch. Charlotte versuchte gemeinsam mit Tex, den Rauch ohne Feuer mit dem Ab satz auszutreten, und als das nichts half, nahm sie der hustenden EttaMae das Wasserglas wieder ab und kippte den Inhalt über das Loch im Teppich. Formvollendet wie immer verkündete Miss Clarise eine Pause im Rosengarten und versicherte, dass es weiterginge, sobald sich die Dämpfe verzogen hätten. „Ich wünschte, du würdest hier bleiben." „Ich auch." Tex lud Gepäck, Aktentasche und Notebook in seinen Jeep. Mit einem tapferen Lächeln wandte er sich zu Charlotte. „Aber es ist nur für eine Nacht. Morgen Nachmittag bin ich wieder da." Es war der Morgen nach der ersten ReadyMaid Party, die wie der ein absolutes Desaster geworden war. Doch dafür fühlte sich Charlotte Te x näher als je zuvor, denn er hatte sie wunderbar unterstützt. Wie sie so viele Jahre ohne ihn hatte leben können, war ihr ein Rätsel. Und gerade jetzt musste er wegfahren, um auf einer tierärztlichen Konferenz einen Vortrag zu halten. Es war zwar nur für einen Tag, aber Charlotte kam es vor wie ein Abschied für immer. Seine Umarmung fühlte sich himmlisch an. Warum hatte sie so lange gegen den Himmel auf Erden angekämpft? Weil sie verwirrt war, naiv. Nun, jetzt nicht mehr. Sie konnte seine Rückkehr kaum erwarten, damit sie sich Zeit nehmen konnten, sich noch viel besser kennen zu lernen. Charlotte lehnte die Wange an den weichen Stoff seines T-Shirts und lauschte auf das regelmäßige Klopfen seines Herzens. „Beeilst du dich?" flüsterte sie. Tex nickte und senkte den Kopf, um ihr einen leichten Kuss zu geben, der sofort ihren Appetit auf mehr weckte. „Ja." Er knabberte an ihrer Unterlippe. „Mmm. Fahr vorsichtig." „Immer." „Rufst du mich an?" „Natürlich. Hältst du die Stellung?" „Sollte ich wohl, vor allem, weil mir inzwischen bald die Hälfte der Tiere hier selbst gehört." Er kicherte. „Gut." Jetzt küsste Tex sie mit aller Hingabe, dann riss er sich atemlos von Charlotte los. „Ich muss fahren." Das Telefon klingelte. Charlotte sprang Hals über Kopf vom Bett, hechtete über die Couch vorbei an ihrem Zoo und riss den Hörer von der Gabel. „Hallo?" fragte sie atemlos. „Charlotte?" Es war Tex. Seit seiner Abfahrt waren erst zwei Stunden verstrichen, aber es waren die einsamsten ihres Lebens gewesen. Sie versuchte, gelassen zu klingen, doch vor Erregung, seine Stimme zu hören, gelang ihr das nicht. „Tex! Wie geht's dir?" „Ich habe gerade im Hotel eingecheckt. Bevor ich mir meinen Vortrag noch mal durchsehe, dachte ich, ich rufe lieber dich an." „Ich rangiere vor deiner Arbeit?" „Kaum zu glauben, nicht wahr?" Auf der Suche nach etwas Essbarem umrundete das Ziegentrio den Kaffeetisch. „Platz!" wies Charlotte sie an und wedelte mit dem Arm. „Ich liebe es, wenn du mich rumkommandierst," „Nicht dich. Die Farm der Tiere. Sie sind alle da. Toto lässt dir ausrichten, dass er dich vermisst." „Du hast die fünf bei dir in der Suite?" Charlotte seufzte. „Da, wo Charlotte hingeht, da gehen auch die lieben Kleinen hin",
zwitscherte sie. „Wenigstens bist du nicht einsam." „Na ja." Sie hob Kitty auf ihren Schoß und kraulte sie am Bauch. „Was machst du heute noch?" „Ich melde mich bei der Konferenz an, esse zu Mittag, treffe ein paar Leute, dann komme ich wieder ins Hotel und sehe mir an, was Wally auf meinen Computer geladen hat. Das ist seine Chance, sich zu rehabilitieren. Wenn er wieder versagt, ist er ge feuert." „Sieh es ihm nach. Schließlich ist er verliebt." „Nun ja, ich bin auch verliebt, aber ich benehme mich deswegen nicht so daneben." Charlotte wusste nicht, was sie mit dieser Aussage anfangen sollte, aber glücklicherweise redete Tex weiter. „Und was hast du heute noch vor?" Sie räusperte sich und versuchte, das laute Klopfen ihres Herzens zu überhören. „Oh, ich will ein Buch über die Erziehung von Blindenhunden lesen. Vielleicht schaffe ich es ja, Kitty das Platznehmen beizubringen. Sie wird bestimmt einmal eine sehr gute Blindenhündin. Ich nehme an, Toto kann man für solche Zwecke nicht trainieren, oder?" Tex kicherte. „Ein Blindenschwein? Nein. Das würde nie funktionieren. Schweine denken völlig anders." „Toto ist sehr klug", verteidigte sie ihn. Tex lachte. „Du wirst dich doch nicht etwa mit ihm ange freundet haben?" „Überhaupt nicht." „Also wirst du den ganzen Tag mit den Tieren verbringen?" „Den großen Teil. Aber zuerst schaue ich mir noch das Video an, das ich bei Nanna Dorothy im Safe gefunden habe. Dann füttere ich meinen Stall hier." „Sieh bitte auch nach Wally. Er sollte den ganzen Abend da sein. Lass ihn nicht mit Mona ausbüchsen. Die Tür zum Büro muss abgeschlossen werden, genauso der Hundezwinger. Auf der Circle BO gehen viele Leute aus und ein. Einige der Hunde sind unbezahlbar." „Aye, aye, Boss." „Charlotte?" „Hmm?" „Ich vermisse dich wirklich sehr." „Ja", flüsterte sie, „ich dich auch." Eine Stunde später saß Charlotte auf der bequemen Couch in ihrem Wohnzimmer, die Fernbedienung des Videorecorders lose in der Hand. Geistesabwesend kraulte sie Toto den Kopf. Vor ihr auf dem Tischchen lagen die Papiere aus dem Umschlag mit dem Video. „Das glaube ich einfach nicht ", murmelte sie, als das Bild der läche lnden Nanna Dorothy langsam ausblendete. Das Band war zu Ende, und surrend schaltete das Gerät auf Rücklauf. Charlotte starrte ins Leere. Auf dem Kaminsims tickte die Uhr. Sie dachte über die letzten Worte ihrer Urgroßmutter nach. Es schien, als sei die gute alte Nanna Dorothy bis zuletzt zu Scherzen aufgelegt gewesen. Plötzlich traf die Komik der Lage Charlotte mit voller Wucht, und sie warf sich in die Plüschkissen zurück und brach in schallendes Gelächter aus.
10. KAPITEL
Wally war nicht da. Typisch, dachte Charlotte, als sie die unverschlossene Tür zu Tex' hell erleuchtetem Büro aufstieß. Sie hatte Kitty in ihrem Zimmer gelassen, Ozzie und die anderen beiden grasten etwas entfernt auf der Rückseite der Stallungen in einer kleinen Ab zäunung. Toto dagegen folgte ihr wie immer treu auf dem Fuße. Aus dem Bellen der Hunde im Zwinger nebenan schloss Charlotte, dass Wally vergessen hatte, sie zu füttern, bevor er sich aus dem Staub machte. Wieder einmal hatte er eine Nachricht hinterlassen. Bin mit Mona beim Abendessen, komme bald wieder. „Gut, dass du zuerst an deinen eigenen Bauch denkst", grummelte Charlotte und kramte in dem Durcheinander auf Wallys Schreibtisch nach den Schlüsseln für den Hundezwinger, der durch eine Tür mit dem Büro verbunden war. Dann ging sie zu den Hunden, die vor Freude japsend und bellend herumsprangen. „Ganz ruhig, meine Damen und Herren, Mami ist schon da." Sie ging zurück ins Büro und zerrte einen schweren Sack Hundefutter aus dem Lagerraum hinüber in den Gang vor dem. Zwinger. „Wally, mein Süßer, du bist so was von gefeuert, denn wenn Tex dich nicht feuert, dann tu ich es", murmelte sie dabei ärgerlich. Während sie den Hunden ihr Futter gab und Wasser in die Näpfe füllte, versuchte sie, die allzu aufgeregten Hunde zu beruhigen. „Hey, Rex, alter Junge, wie geht's? Komm, mein Kleiner. Was du nicht sagst! Ja, ich erlaube dir, diesen Kerl zu beißen, wenn er wieder auftaucht. Aber erst nach mir, okay? Guter Junge, so ist es brav." Nach einer Stunde hatte Charlotte die Hunde versorgt und im Büro etwas Ordnung geschaffen. Sie setzte sich an Tex' Schreibtisch. Auf seinem Stuhl zu sitzen und seine Sachen zu berühren gab ihr fast das Gefühl, er wäre selbst da. Wie sie es bei ihm schon so oft gesehe n hatte, lehnte sie sich auf dem quietschenden Lederstuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Sie wollte nur kurz die Augen schließen, bis Wally zurückkam. Schließlich bin ich auch bei mir in der Suite allein, dachte sie, während Toto es sich unter dem Tisch bequem machte. Sie hasste es, einsam zu sein. Hier fühlte sie sich dem geliebten Tex näher. Und hier konnte sie Wally nach seiner Rückkehr ohne Verzögerung den Kopf abreißen. Toto rammte quiekend den Kopf an ihren Stuhl. Charlotte wachte kurz auf, um das Schwein wegzuschieben und wieder zu ihrem wunderbaren Traum zurückzukehren, in dem Tex sie umarmte und küsste ... Es war das reinste Feuerwerk der Gefühle. Toto gab seine ärgerlichen Störungsversuche nicht auf. „Toto, Schluss damit!" murmelte sie und rekelte sich in dem breiten Stuhl. „Iiiieeek!" quiekte Toto und rammte die Schnauze unter der Armlehne in Charlottes Oberschenkel. „Toto, ich meine es ernst! Wenn du nicht still bist, kommst du auf den Grill. Mit zwei Eiern, schön knusprig gebra..." Charlotte öffnete die Augen. Was war das für ein Geruch? Sie setzte sich schlagartig auf und sog die Luft ein. Irgendetwas stimmte nicht. „Iiiieeek! Iiiiiiiiiiieeek!" quiekte Toto weiter und rannte an die Tür zur Vorratskammer. „Iiiieeek!" „Okay, mein Junge, ich komm ja schon." Charlotte rieb sich die Augen und stand mühsam auf. Dann erst bemerkte sie den Rauch, der unter der Tür hervorquoll. Feuer? Eine heulende Alarmsirene zerriss plötzlich die Stille. Feuer! Die Praxis brannte! Vor dem Fenster konnte sie Flammen aus dem Dach des Lagerraums zum Himmel schlagen sehen. Es sah aus, als sei der ganze hintere Teil des Büros bereits von Flammen umgeben. Wann war das passiert? Sie war eingeschlafen. Tex' geliebte Praxis stand in Flammen, und sie schlief!
Charlotte raste zur Tür, die zum Lagerraum führte, und legte versuchsweise einen Finger ans Holz. Heiß. Glühend heiß. Sie zuckte zurück und saugte an der Brandblase an ihrem Finger. Panisch versuchte sie sich zu erinnern, was man im Brandfall tun sollte. Unter keinen Umständen durfte man Türen öffnen, so viel wusste sie jedenfalls. Wegen der Zugluft, sonst würde alles sofort in Flammen aufgehen. Hol die Hunde raus, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. „Richtig. Die Tiere! Die Tiere! Die Tiere!" Die Hunde waren alle im Zwinger eingesperrt. Wo waren die verdammten Schlüssel? Vorhin waren sie doch noch da, sie wusste es genau, aber wo zum Teufel hatte sie das Schlüsselbund hingelegt? Irgendetwas explodierte. Charlotte hörte Glas splittern und schrie auf. Dieses Büro war eine Zeitbombe. Sie beschloss, die Schlüssel zu vergessen, und rannte durch die Tür, die zu dem Gang vor dem Hundezwinger führte, Toto im Schlepptau. Als fühlten sie die Gefahr, spielten die Hunde bereits verrückt und bellten so wild, dass Charlotte keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie rüttelte an der Eisenkette. Der erste Hund dahinter stellte sich freudig auf die Hinterpfoten. „Haltet durch, meine Süßen, ich hol euch hier raus!" Aus Tex' Büro drang bereits Rauch und zog in den Zwinger. Die Zeit wurde knapp. Charlotte ging auf die Knie und robbte zum Ende des Ganges, wo ein kleiner eiserner Stuhl stand. Mit ungeahnten Kräften, die sie aus ihrer Angst heraus entwickelte, schlug sie so lange auf die Gitterstäbe ein, dass genug Platz für die Tiere zum Durchschlüpfen war. Die bellenden Hunde stürzten durcheinander aus dem Zwinger und rasten in Tex' Büro. Charlotte kroch auf dem Boden hinterher. Die Tür zur Vorratskammer war verschwunden, und ge rade verschlangen die Flammen Wallys Unterlagen sowie ein Bücherregal. Wieder zersplitterte Glas, Regalbretter sausten zu Boden. Die Luft war glühend heiß. Charlotte tastete auf dem Boden nach der Tür nach draußen, die sie vor sich vermutete. Aber da war sie nicht. Sie war verloren. „Charlotte?" In der Ferne schien jemand ihren Namen zu rufen. Es klang wie Tex, aber das konnte doch nicht sein. Tex war in Houston. Offenbar verlor sie schon ihren Verstand. „Charlotte? Charlotte, Liebling! Antworte mir!" „Tex?" hustete sie, unsicher, ob dieser helle Lichtschein vom Feuer kam oder schon auf ihre himmlische Belohnung deutete. „Charlotte? Toto?" „Tex!" Über dem Lärm war Charlottes dünner Schrei kaum vernehmbar. Wo war diese verdammte Tür? Das Herz klopfte ihr so hoch im Hals, dass sie zu ersticken glaubte. Ein lautes Schnaufen neben ihr sagte ihr, dass Toto da war. Offenbar hatte er den Ruf von draußen gehört und tänzelte freudig herum. „Toto?" keuchte sie. Toto stupste ihr mit seiner feuchten Nase ins Ohr. Vom Rauch geschwächt, wusste Charlotte kaum noch, wo sie war. Sie packte Toto am Halsband und hielt sich daran fest, als hinge ihr Le ben davon ab. Hinter Toto krauchte sie über den Boden, bis das Schwein schließlich die Tür fand. Hustend und keuchend fiel Charlotte in die Nachtluft nach draußen. Die Hunde stürmten hinterher. Im selben Augenblick wurde sie von starken Armen hochge hoben und auf die Füße gestellt. Jemand führte sie weg von dem brennenden Gebäude. Charlotte blinzelte durch den Rauch und erkannte Tex. „Oh, Tex", schluchzte sie und ließ sich in seine tröstende Umarmung fallen, „Welch ein Glück, dass du da bist!" Dann lehnte sie sich zurück und starrte ihn an, als könnte sie ihren Augen nicht trauen. „Was machst du hier? Bist du nicht in Houston?" „Ich bin zurückgekommen."
In der Ferne schrien die Rancharbeiter. Charlotte hörte die Alarmsirene kaum noch, die mit weiter heulte, sondern sog in vollen Zügen die frische Nachtluft ein. „Bist du in Ordnung?" schrie Tex über den brüllenden Lärm des Feuers, das nun die ganze Praxis erfasst hatte. Er brachte Charlotte noch ein Stück weiter weg, um sie genauer zu betrachten. „Ja", schluchzte sie und klammerte sich an ihn. „Aber ich weiß nicht, wo Toto ist!" Sie spähte in die Schatten und rief, aber Toto ließ sich nicht blicken. „Komm her, Schwein!" rie f sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Toto!" Ihre Stimme versagte. Halb schreiend, halb schluchzend wandte sie den Blick überall hin. „Totooooo!" Es sah ihm gar nicht ähnlich, nicht zu gehorchen. Jedenfalls inzwischen nicht mehr. Er war doch sicher nicht noch einmal zurück ins Gebäude gegangen? Oder doch? Tex hatte ihr Geschichten von heldenhaften Schweinen erzählt. War das Tier zurück, um nachzusehen, ob auch alle Hunde draußen waren? „Tex, warum gehorcht er nicht?" Die Tränen, die in ihren Augen aufstiegen, kamen nicht nur vom Rauch. „Ich muss da noch mal rein!" „Auf keinen Fall!" „Aber Tex, ich muss!" „Nein! Du kannst da nicht noch mal rein, Charlotte!" Er ließ ihre Handgelenke los und umfasste ihr Gesicht mit den Händen. „Liebling, kein Erbe dieser Welt ist es wert, sich dafür umzubringen." „Aber", schluchzte sie, überwältigt von Schmerz und Angst, „Toto hat mir das Leben gerettet!" Bevor Tex reagieren konnte, hatte sie sich aus seinem Griff ge wunden und raste zurück zum brenne nden Büro, ohne auf seine warnenden Schrei zu achten. Niemals in seinem ganzen Leben war Tex so erschrocken wie in diesem Moment, als Charlotte in dem lohenden Inferno verschwand, das einmal sein Büro gewesen war. Und in diesem scheinbar endlosen Momenten des Wahnsinns, in denen er ihr nachgerannt und sie schließlich gefunden hatte, wusste er mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er keine Sekunde seines Le bens mehr ohne Charlotte Beauchamp verbringen wollte. Und jetzt, als er ihr durchscheinendes Gesicht im Krankenhausbett betrachtete, wurde ihm klar, dass er sie bedingungslos liebte. Ja sogar seine Tiere würde er für sie aufgeben. Seine Karriere. Sein ganzes Leben. „Hey, schlafende Schöne." Tex lehnte sich vor und küsste Charlotte leicht auf die Wange, als sie sich regte. Erleichterung durchströmte ihn. „Ich habe mich schon gefragt, ob du wohl je wieder aufwachst." Ganz langsam öffnete Charlotte die Augen und blinzelte in das helle Neonlicht über ihrem Kopf. „Wo bin ich?" flüsterte sie. „Im Krankenhaus. Es ist drei Uhr morgens. Du hast ganz schön Glück gehabt, Charlotte Beauchamp. Wir sind gerade noch aus dem Büro gekommen, bevor es in unendlich viele Stücke explodiert ist." „Warum bist du von der Konferenz zurückgekommen?" Tex verdrehte die Augen. „Wally hat vergessen, die Grafiken auf mein Notebook zu laden. Ohne die ist mein Vortrag keinen Pfifferling wert." Charlotte stöhnte auf. „Er ist so was von gefeuert." Plötzlich riss sie die Augen weit auf und packte seine Hand. „Und Toto?" „Es geht ihm gut. Den Hunden auch. Dank dir." Er küsste sie wieder auf die Wange und lachte leise. „Dein Goldesel ist so frech und fett wie immer. Ich wollte ihn eigentlich mitbringen, aber aus irgendeinem Grund sind Schweine zur Besuchszeit nicht erlaubt." „Er ist... nicht mein ..." Sie versuchte zu protestieren, bekam aber einen Hustenanfall. Tex hielt ihr einen Becher Wasser mit Strohhalm hin, und Charlotte trank in tiefen Zügen. „Danke", flüsterte sie. „Toto ist nicht mein Goldesel." Tex beugte sich nach vorne, ohne seine Finger von Charlottes zu lösen, um ihre
heisere Stimme besser zu hören. „Wie meinst du das, Liebling?" „Nach unserem Telefongespräch gestern Abend habe ich mir das Video angesehen, von dem ich dir erzählt habe. Das aus Nanna Dorothys Safe." Tex nickte. „Es waren Papiere dabei. Ein Testament. Ein neues Testament." Er runzelte die Stirn. „Wirklich?" „Mhm. Nanna Dorothy muss jemanden beauftragt haben, sie zu filmen, während ich einkaufen war, denn ich hatte keine Ahnung davon. Jedenfalls erklärt sie auf dem Band, wenn sie sic h nicht gerade kaputtlacht, dass das erste Testament ein Witz sei und ich alles erben würde, sobald ich das Band finde und ihren Anwalt kontaktiere. Und, soweit ich weiß, ist es ein beachtlicher Batzen Geld." Charlotte rollte den Kopf auf dem Kissen hin und her und lächelte. „Nanna Dorothy hatte schon immer einen sehr seltsamen Sinn für Humor. Sie wollte meinem Leben wohl etwas Wür ze verleihen, indem sie mit Toto vermachte." Tex sah sie ungläubig an, dann begann er zu lachen. „Du hast dein Leben für dieses Schwein riskiert, dabei ist es keinen Pfennig wert?" „Für mich ist es unbezahlbar", widersprach Charlotte. „Es hat mir das Leben gerettet." „Oh, Charlotte Beauchamp, ich liebe dich." Tex lachte, dass ihm die Tränen kamen. „Tex", seufzte sie, „du bist Nanna Dorothy ähnlicher, als mir lieb ist." Er holte tief Luft und wischte sich die Augen. „Ich wünschte, ich hätte sie gekannt." „Das wünschte ich auch." Nostalgie und Glücksgefühle kämpften in Charlotte. „Und weißt du was?" „Hmm?" „Ich liebe dich auch." Ohne auf eine Aufforderung zu warten, legte sich Tex neben Charlotte aufs Bett und zog sie in seine Arme. „Wenn ich dich fragen würde, ob du mich heiraten willst, würdest du es doch nicht wegen des Brubaker-Geldes tun, oder?" neckte er sie. „Wenn du es nicht tust, tu ich es auch nicht." „Ich verspreche es. Du bist also reich, auch ohne dass Toto sterben muss. Das ist ja rasend komisch." „Ja, aber ich will trotzdem etwas tun. Ich möchte Blindenhundprojekte unterstützen." Sie zuckte die Schultern. „Und ich will immer noch einen Job finden. Damit ich aus dem Haus komme. Etwas, womit ich mich gern beschäftige, bevor wir ..." Sie errötete. „Bevor wir uns einrichten und eine Familie gründen." Tex strich ihr sanft übers Haar und küsste sie auf die Nasenspitze. „Nun, du hast Glück. Ich musste gerade diesen Typen feuern, der mit mir zusammengearbeitet hat. Es waren übrigens seine Chemikalien, die den Brand ausgelöst haben. Jetzt brauche ich eine Assistentin, die mir dabei hilft, eine neue und größere Praxis aufzubauen. Eine, die ich auf meinem eigenen Grundstück errichten werde. Willst du dich bewerben?" „Wie hoch ist das Gehalt?" fragte Charlotte keck. „Ein Leben lang Küsse und Umarmungen. Und vielleicht ein paar Kinder, Hunde und Ziegen." „Und ein Schwein?" „Und ein Schwein." „In Ordnung, ich bin dabei." Lächelnd näherte Tex seine Lippen zu einem Kuss, und ein nie gekanntes Freiheitsgefühl durchströmte Charlotte.
EPILOG „Äähm!" Big Daddy klopfte auf das Mikrofon und blies darüber. „Ist dieses Ding jetzt an?" brüllte er. „Ja!" Ein Lachen ging durch die Menge, die sich an diesem strahlenden Oktobertag zu Tex' und Charlottes Hochzeitsempfang versammelt hatte. Die beiden, die gerade verliebt die Köpfe zusammengesteckt hatten, sahen auf und grinsten ihren Onkel an. „Gut!" röhrte Big Daddy. „Dann möchte ich jetzt einen Toast aussprechen." Er hielt sein Glas hoch. „Ein Hoch auf die schö nen Beauchamp-Frauen und ihren exzellenten Geschmack, was Männer betrifft. Mögen mein Neffe Tex und seine reizende Frau Charlotte mit dem gleichen Glück gesegnet sein, das ich mit Miss Clarise Beauchamp Brubaker gefunden habe." Miss Clarise, die hinter ihrem Mann stand, machte eine verlegene Handbewegung. „Ich bin ein glücklicher Mann", fuhr Big Daddy fort. „Fünf meiner eigenen Kinder sind schon vor den Altar getreten, und bereits drei meiner Neffen genießen das Eheglück. Immerhin ha be ich also noch einen Vorsprung von zweien." Im Spaß blickte er zu dem Tisch, an dem Tex' Schwestern saßen. „Oder habt ihr vielleicht etwas anzukündigen?" „Nein!" riefen sie lachend wie aus einem Munde. „Nun, dagegen müssen wir wohl etwas unternehmen." Vergnügt wandte er sich zu seiner Frau um. „Wir haben doch ein paar ordentliche Kerle hier auf der Party, nicht wahr, Liebling?" „Lass doch die armen Mädchen in Ruhe, Big Daddy." „Nun gut, mein Schatz, aber jetzt wird es langsam Zeit, dass Charlotte den Brautstrauß wirft." Charlotte erhob sich lachend und raffte ihre voluminösen Satinröcke hoch. Ohne Tex' Hand loszulassen, kam sie auf die Fläche, wo sie vorhin getanzt hatten. Toto trottete hinterher. Er sah umwerfend gut aus mit der Fliege und den vier Gamaschen um die Hufe. Von der Orchestertribüne her erklang ein Trommelwirbel. Tex instruierte Charlotte, wie sie ihr Bukett am Besten werfen sollte. „Schau nach oben und halte die Ellbogen zusammen. Wirf ihn so hoch, wie du kannst." „Verstanden. Okay, jetzt geht's los!" rief Charlotte lachend. Die jungen Frauen hüpften hoch und kreischten vor Lachen, als Charlotte die Blumen in hohem Bogen hinter sich warf. Die Zeit schien still zu stehen, als der Strauß durch die Luft segelte. Doch anstatt unter den Mädchen zu landen, machte er im letzten Moment eine Drehung und fiel in eine Gruppe Cowboys, die das Schauspiel amüsiert beobachtet hatten. Er landete direkt in Hunts Armen, dem vor Staunen der Mund offen stehen blieb. Alles brach in schallendes Gelächter aus. „Hunt, mein Junge, mir scheint, jetzt bist du dran", dröhnte Big Daddy. „Ich hoffe nur, du findest ein nettes Mädchen, das dich so glücklich macht wie mich meine Frau." Dunkelrot im Gesicht warf Hunt das Bukett zu den Mädchen weiter, die sich johlend darauf stürzten. Das Orchester begann, eine mitreißende Melodie zu spielen, und die Menge füllte wie der die Tanzfläche. Niemand - mit Ausnahme eines gut gekleideten Schweins, eines jungen Golden Retrievers und einer blökenden kleinen Zie ge - schien zu bemerken, wie der Bräutigam die Braut mit sich in den Rosengarten zog und den Kuss beendete, den er am Altar begonnen hatte.
- ENDE