Jetzt weiß ich, was Liebe ist
Diana Whitney
Bianca 1133 26 - 2/98
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von
1. KAPI...
18 downloads
955 Views
493KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Jetzt weiß ich, was Liebe ist
Diana Whitney
Bianca 1133 26 - 2/98
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von
1. KAPITEL
"Wer hat dir gesagt, dass du Pause machen kannst, Mädchen? Das Büfett füllt sich schließlich nicht von selbst auf. Jetzt aber dalli!" Ellie Malone griff sofort nach einem Rührlöffel und versuchte, das quälende Pochen im unteren Bereich ihres Rückgrats zu ignorieren. "Bin ja schon fast soweit", sagte sie zu dem finster dreinblickenden Küchenchef eines Gasthofes im Wintersportgebiet der Sierra Nevada. In den letzten sechs Wochen hatte dieser Mann ihr das Leben gründlich vermiest. "Die Kartoffeln sind schon unter dem Aufwärmer, und die Rühreier sind in zwei Minuten fertig." "Eine Minute genügt, es gibt noch andere Dinge zu tun", knurrte er und warf einen verächtlichen Blick auf ihren gewölbten Bauch. "Okay, Sir." Ellie prüfte mit dem Löffel, ob die Eier bereits gar waren. Dann schnappte sie sich ein Küchentuch und hob die schwere Eisenpfanne mit beiden Händen an, um die Rühreier auf eine Frühstücksplatte aus glänzendem Edelstahl zu befördern. Ein Muskelkrampf traf sie wie ein Faustschlag. Ellie keuchte auf und krümmte sich. Die Pfanne fiel mit Getöse auf den Boden. "Ungeschickte dumme Kuh!" schrie der Küchenchef. "Schau, was du getan hast!" Ellie hielt sich an der Kante der Arbeitsplatte fest und biss sich auf die Lippen, bis der Schmerz nachließ. Als sie wieder atmen konnte, erblickte sie die gelben Klumpen, die auf den polierten Holzdielen verteilt lagen. "Es tut mir leid ... Ich mache es sauber." Der zornige Mann war damit nicht zu beschwichtigen. "Ich hab' denen ja gleich gesagt, dass du mir keine Hilfe sein würdest", tobte er. "Wenn dir gerade mal nicht übel ist, dann hast du stechende Rückenschmerzen oder brennende Füße, oder du fühlst dich ganz einfach schlecht. Früher haben Schwangere ihre privaten Probleme nicht anderen aufgezwungen. Sie sind zu Hause geblieben, wo sie hingehörten." "Ich weiß. Es tut mir leid." Unbeholfen ging Ellie in die Hocke, um die Pfanne aufzuheben, und wünschte sich dabei, sie hätte die Kraft, ihrem verhassten Boss damit eins über den Schädel zu geben. Doch im Augenblick war ein Job mehr wert als ihre Würde. "Ich kümmere mich um alles, das verspreche ich Ihnen. Für eine neue Portion Rührei brauche ich nicht länger als fünf Minuten..." Der Küchenchef riss sich die weiße Kochmütze vom Kopf und warf sie wütend auf das Schneidebrett. "Fünf Minuten! Guck doch mal raus, Missy!" Er zeigte mit einem haarigen Finger auf das große Aussichtsfenster, hinter dem der Parkplatz zu sehen war. "Der Reisebus ist gerade angekommen, und all die Skiläufer werden wie ausgehungerte Geier über uns herfallen. Was soll ich denen erzählen? Dass sie nichts zu essen bekommen, weil sich meine schwangere Köchin noch den Rücken einreiben lassen musste?" Verzweifelt kam Ellie mit der Pfanne aus der Hocke hoch und schleppte sich zur Spüle, die bereits mit heißem Seifenwasser gefüllt war. Ellie verschloss die Ohren gegen den Wortschwall ihres Küchenchefs, tauchte die Pfanne in das Wasser und warf einen Blick in Richtung des Fensters, um die Anzahl der Besucher abzuschätzen. Ihr Mut sank. Der Parkplatz war tatsächlich vollgepackt mit in Parka gekleideten Touristen, deren Gesichter vom eisigen Wind gerötet waren und in deren Augen sich die Enttäuschung darüber widerspiegelte, dass der Betrieb der Skilifts wegen eines aufkommenden Sturms bereits eingestellt worden war. Verhinderte Skiläufer waren für ihren großen Appetit bekannt. Da die Bar erst am Nachmittag geöffnet hatte, blieb ihnen nur noch der bereits überfüllte Essraum. Hinter Ellie hörte der Küchenchef nicht auf mit seinem Geschimpfe über die unverdiente Strafe, sich mit nutzlosen Hilfskräften herumärgern zu müssen. Ellie schluckte ein Aufwallen von Panik herunter. So wenig sie ihren unflätigen Boss leiden konnte, so musste sie doch zugeben, dass er recht hatte. Es war ihr nicht möglich
gewesen, mit den anderen Köchen mitzuhalten. Wenn es hier nicht einen mitfühlenden Personalleiter mit vier Kindern und einem weichen Herzen gegeben hätte, wäre die Bewerbung einer Frau, die im siebten Monat schwanger war, kurzerhand zurückgewiesen worden. Aber das Glück war Ellie gnädig gewesen, als sie vor etwas mehr als einem Monat im Winterurlaubsort Sky Mountain auf der verzweifelten Suche nach Arbeit angekommen war. Nun da sie den Job hatte, war sie entschlossen, ihn auch zu behalten, trotz ihrer Probleme mit Erschöpfung, Rückenschmerzen und dem immer runder werdenden Bauch, der ihr bei der Arbeit immer mehr im Wege war. Sie hatte vorgehabt, bis zum Tag der Geburt zu arbeiten, der in knapp einem Monat kommen würde. Aber an den schlechten Tagen, an Tagen, wenn ihre Beine schwer wurden, die Rückenmuskeln ihr zu schaffen machten und das ständige Sodbrennen sie quälte, fragte Ellie sich, ob sie die nächste Stunde würde überleben können, von einem vollen Monat ganz zu schweigen. Nicht, dass sie eine Wahl hätte. Sie musste arbeiten, musste genug Geld sparen, damit sie aus dem kärglichen Zimmer, das sie mit einer der Angestellten dieses Gasthofes teilte, in eine: eigene kleine Wohnung ziehen konnte, um dem Kind, das in ihr wuchs, ein warmes und liebevolles Heim zu schaffen. Ein Sohn. Der Doktor hatte ihr gesagt, dass es ein Sohn sein würde, ein überaus hübscher Junge. Ellie wurde warm ums Herz vor Vorfreude. Sie konnte es kaum erwarten, ihren kleinen Sohn in den Armen zu halten, seine winzigen Finger zu zählen, in seine Babyaugen zu schauen, die neugierig und prüfend seine Mutter betrachteten. Seine Mutter, die ihn für alle Zeiten über alles lieben würde. Eine dröhnende Stimme riss Ellie aus ihren Gedanken. "Wo zum Teufel sind die Eier?" "Es ist gleich soweit." Sie konzentrierte sich wieder auf das Nächstliegende, spülte die Pfanne unter dem Wasserhahn ab, trocknete sie und warf noch einen schnellen Blick aus dem Fenster, gerade als eine luxuriöse Limousine vor dem Haupteingang des Gasthauses anhielt. Angst beschlich Ellie. Die Beifahrertür öffnete sich, und eine blonde Frau glitt geschmeidig wie eine Raubkatze aus der Limousine. Der Mann stieg von der Fahrerseite aus. Mit arrogant erhobenem Kopf prüfte er kritisch die Umgebung, seine zusammengepressten Lippen deuteten auf grimmige Entschlossenheit hin. Ellie wurde von Panik ergriffen. Sie stieß sich von der Spüle ab, riss sich die Schürze vom Leib und stürmte in den Pausenraum für die Angestellten, ohne sich um die gemeinen Flüche des Küchenchefs zu kümmern. Sie schnappte sich ihre Jacke vom Kleiderhaken, holte in fieberhafter Eile ihren Rucksack aus dem Spind und hetzte durch den Hinterausgang in den Wald. Dort kannte sie eine Skihütte, die seit dem Sommer leer stand und die ihr Sicherheit bieten würde. Angst trieb sie an, dämpfte das Pochen im unteren Bereich ihres Rückgrats, linderte das Stechen des peitschenden Schnees in ihrem Gesicht. Sie rannte kopflos, war blind gege n die drohend aufziehenden grauen Wolken, gegen die sich im Wind biegenden Kieferbäume, gegen die immer schlechter werdende Sicht. In diesem Moment hatte nur ihre Flucht eine Bedeutung für sie. Man hatte sie aufgespürt. Nun musste sie entkommen. Die Axtklinge zerschnitt die Luft, spaltete sauber den Klotz. Samuel zerhackte die Hälften in vier Teile und warf die Scheite auf einen riesigen Haufen, der an der Ostseite der Hütte aufgestapelt war, dort, wo das Brennholz vor den Schneewehen geschützt war. Er stieß die Axt in den Hackstumpf und Stellte den Kragen seiner Schafspelzjacke gegen den heulenden Wind auf. Scharfe Eiskristalle stachen ihm ins Gesicht, ein sicheres Signal dafür, dass ein
Sturm aufkam. Schwarze Wolken sammelten sich am Waldrand. Der Schnee würde heute nacht dick herunterkommen. Bis zum Wochenende lag er bestimmt schon meterhoch. Samuel Evans hatte nichts dagegen. Sierra Nevada mochte im Winter tückisch sein, aber die Gebirgslandschaft konnte auch wunderschön sein ... ein geheimnisvolles Märchenland, dessen Wildnis ganz mit Weiß bedeckt, von friedlicher Ruhe umfangen und in Stille eingehüllt war. Tief in den Bergen wagte nur die Natur ihre Stimme zu erheben, mit dem Wind zu heulen, durch die Bäume zu wispern oder sich selbst in dem gedämpften Knirschen von Pfoten zu offenbaren, wenn ein Tier über die verkrustete Schneedecke tappte. Samuel liebte alles daran ... die Großartigkeit, die Gewalt eines Unwetters, die vollkommene Stille, die nach einem Sturm einsetzte. Am meisten jedoch schätzte er die Abgeschiedenheit. Dies hier war Gottes eigenes Land, wo der Mensch mit seinen Gedanken allein sein konnte, sich in Ruhe mit der Vergangenheit auseinandersetzen konnte, um über das, was hätte sein können, nachzusinnen. Ein Rascheln von der Veranda her erweckte Samuels Aufmerksamkeit. Ihm folgte das hohle Klicken von Pfotennägeln auf rauen Planken. Einen Moment später tappte sein alter, schlappohriger Jagdhund um die Ecke und ließ aus der Schnauze einen Tannenzapfen zu den gestiefelten Füßen seines Herrn fa llen. Der alte Baloo setzte sich vorsichtig auf die eisige Schneekruste, seine feuchten karamelfarbenen Augen guckten hell und hoffnungsvoll unter hängenden Lidern hervor. "Was ist los, Loo? Du meinst wohl, ich hätte mich heute noch nicht genug bewegt?" Baloo drehte den Kopf in, Richtung der holprigen, unbefestigten Straße durch den Wald, die, jetzt vollkommen vereist war. Dann sah er mit einem warnenden Glitzern in den Augen zu seinem Herrn auf. Lächelnd hob Samuel den Tannenzapfen hoch und ließ ihn auf der behandschuhten Hand hüpfen. "Achtzig Meter." Der alte Jagdhund gähnte und kreuzte seine Vorderpfoten, was der hündische Ausdruck für ein menschliches Schulterzucken war. "Hey, hier wird nicht gefaulenzt. Nimm dir ein Beispiel an mir, Ich hab soeben ein halbes Klafter Brennholz gehackt." Nach einen trägen Seufzer legte Baloo die ergrauende Stirn in Falten und richtete seinen gespannten Blick auf den Tannenzapfen; in der Hand seines Herrn. Samuel nahm die Haltung eines Baseballwerfers ein und schielte auf den Weg, um die Entfernung kurz abzuschätzen. Dann nahm er den Tannenzapfen zwischen die Hände, hob ihn über den Kopf und ließ ihn langsam bis zur Brustmitte sinken. In Erwartung des Spiels wedelte Baloo glücklich mit dem Schwanz und nahm Platz. Samuel holte tief Luft, hielt den Atem an und blickte verstohlen auf seinen grauschnäuzigen Jagdhund. Dann spannte er sich an und warf. Der Tannenzapfen machte einen Bogen, dann segelte er seitwärts und landete knapp vierzig Meter von ihnen entfernt auf dem Boden. Samuel murmelte vor sich hin und rieb sich den Nacken. "Hab' den Wind falsch eingeschätzt", teilte er dem enttäuschten Tier mit, das eigentlich viel zu bequem war, um Tannenzapfen hinterherzujagen, es aber trotzdem genoss, seinem Herrn beim Werfen zuzusehen. Nachdem er seinem Herrn einen vorwurfsvollen Blick über die Schulter zugeworfen hatte, trottete Baloo auf die überdachte Veranda der Hütte zu. Samuel nahm stapfend den gleichen Pfad und wunderte sich über den Jagdhund, der von der untersten Verandastufe plötzlich höchst eindringlich den verschneiten Waldweg hinunterstarrte. "Was gibt's denn da zu sehen, alter Junge?" Der Hund winselte, und zu Samuels Überraschung schoss er plötzlich quer über die Lichtung zur Straße hin. "Loo!" Samuel stieß durch die hohlen Hände einen schrillen Pfiff aus. Der Hund war trainiert, darauf zu hören. Diesmal jedoch verschwand er einfach in den Wald. "Verdammt."
Es wäre nicht das erstemal, dass der sonst so faule alte Hund ein Haschen-und-FangenSpiel mit einem herumschleichenden Reh oder einem daherhoppelnden Hasen anfing. Samuel ärgerte sich über das abrupte Verschwinden, aber er war nicht besonders besorgt. Der alte Baloo kannte diese Wälder in- und auswendig und wurde sogar extra angefordert, wenn es galt, unkundige Skiläufer aufzuspüren, die vom Weg abgekommen waren. Samuel wusste, dass das dickköpfige Tier zurück sein würde, wenn ihm danach war, also klopfte er sich auf den Verandastufen den; verharschten Schnee von den Stiefeln und ging in die Hütte, um sein Mittagessen vorzubereiten. Eine Stunde später glühte der mit Holz beheizte Ofen, das Eintopfgericht brodelte im Propankochtopf, und der verführerische Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee verbreitete sich in der schlichten, aber behaglichen Hütte, die Samuels Vater vor fa st drei Jahrzehnten gebaut hatte. Die Ausstattung war einfach, aber funktionell. Die Frontseite der Hütte wurde von dem in der Mitte stehenden Ofen in einen Wohn- und einen Schlafbereich aufgeteilt. Darüber befand sich ein enger Dachboden, wo Samuel und sein älterer Bruder früher geschlafen hatten. Es gab eine zweckdienliche Küche, die groß genug war für einen runden Tisch aus Kiefernholz und vier Stühle. Das kleine Badezimmer lag zwischen dem Schlafbereich und der Küche. Samuel blickte aus dem Küchenfenster hinaus. Die fallenden Schneeflocken hatten feuchte Spuren auf dem Fenster hinter lassen. Es waren immer noch minus fünf Grad draußen, obwohl die Temperatur gegen Morgen noch bis unter zwanzig Grad minus sinken würde. Stirnrunzelnd schaute er auf die Wand uhr. Dass Baloo noch nicht zurück war, beunruhigte ihn. Ihn fröstelte schon bei dem Gedanken, sich in den Schneesturm hinauszubegeben, aber er würde das wohl müssen. Dieser faule alte Köter bedeutete ihm alles. Samuel würde alles tun, sich sogar zu Tode frieren, um seinen treuen Gefährten in Sicherheit zu bringen. Er seufzte resigniert und griff nach der warmen schafswollgefütterten Jacke, als er das vertraute Bellen hörte, dem ein schwaches Kratzen an der Hüttentür folgte. Samuel atmete erleichtert auf. Mit drei langen Schritten hatte er den Raum überquert, dann riss er die Tür weit auf. "Wo zum Teufel hast du ..." Die Frage blieb ihm im Hals stecken, als er auf das Bild vor sich starrte. Baloo bellte wieder und bewegte sich, um das Gewicht einer Frau abzus tützen, die gegen ihn lehnte und ihre vor Kälte steifen Finger um sein Halsband festgekrallt hatte. Ihr Gesicht war weiß wie der Schnee, die Lippen blau. Aus der neonblauen Parkakapuze hatte sich ein Gewirr von schwarzem Haar befreit, das ihr in die Augen hing und ihr die Sicht nahm. Das einzige Geräusch, das sie von sich gab, kam von dem krampfhaften aufeinanderschlagen ihrer Zähne. Samuel war so überrascht, dass er sich erst einmal nicht rührte. Dann umfasste er mit einem Griff die Taille der Frau, von deren zitternden Schultern ein klumpiger Rucksack baumelte. Mit einem Arm hielt er die Frau an sich gedrückt, mit der anderen Hand nahm er ihr den Rucksack ab und warf ihn in die Hütte. "Alles wird wieder gut", flüsterte er beruhigend und zog sie nach innen. "Hier drinnen ist es warm." Ihre glasigen Augen starrten nach vorn, gaben keinen Hinweis darauf, dass sie ihn gehört hatte, aber sie setzte einen Fuß vor den anderen, zentimeterweise, und bei jedem Schritt zuckte sie vor Anstrengung zusammen. Samuel wurde klar, dass ihre Füße von der Kälte ganz taub sein mussten, also legte er ihren Arm um seinen Nacken und gab ihr so die nötige Stütze. "Nur noch wenige Schritte", murmelte er und löste ihre steifen Finger von Baloos Halsband. "Wir haben Sie im Nu aufgetaut." Vom Griff ihrer Finger befreit, trottete Baloo in die Hütte, seine Augen blank vor Sorge, während Samuel die erschöpfte Frau auf die Arme nahm und unter ihrem Gewicht schwankte. Ächzend kickte er die Tür hinter sich zu, quälte sich zum Schlafbereich, wo er die Frau langsam auf dem Bett absetzte. Das zarte Gesicht hatte ihn getäuscht. Sie war schwerer, als er angenommen hatte. "Entspannen Sie sich", sagte er zu ihr. "Alles wird wieder gut."
Sie blickte verständnislos drein, als Baloo die Vorderpfoten auf ihren Schoss setzte. Winselnd leckte er das Gesicht der Frau, während Samuel ihre Pupillen prüfte, den Puls fühlte, dann ihr die Lederschuhe und die durchfeuchteten Baumwollsocken auszog, Dabei sah er genau nach, ob ihre Haut die für Erfrierung typische Verfärbung zeigte. Erleichtert, dass er nichts gefunden hatte, wickelte er ihre eiskalten Füße in ein Handtuch, das er vor dem Ofen zum Trocknen aufgehängt hatte. Als nächstes war ihre Jacke dran. Es war eine dieser bunten Jacken aus Kunststoffaser mit durchgesteppter Wattierung, die eher modische Ansprüche er füllte als zweckdienliche. Samuel öffnete den Reißverschluss stolperte einen Schritt zurück und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Die Frau war schwanger. Und zwar nicht nur so angedeutet schwanger. Sie war hoch schwanger, so weit schwanger, dass die Entbindung jeden Augenblick einsetzen konnte. Ihre Augenlider flatterten. Als sie den Blick auf Samuel richtete, zog sie die Brauen zusammen. Samuel schluckte schwer, umfasste ihre Taille mit dem Arm und hob die Frau leicht an, damit er ihr die feuchte Jacke abstreifen konnte. Nachdem er das getan hatte, warf er die Jacke zur Seite, half der Frau, sich auf dem Bett auszustrecken, und zog eine warme Decke über sie. Die Frau sah zu ihm auf. "Wissen Sie, wo Sie sind?" fragte er. Sie öffnete die Lippen, aber kein Laut kam heraus. Sie zitterte heftig, legte die Hände schützend auf ihren gewölbten Bauch, Auf einmal weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. "Ah-h-h ..." Sie schnappte nach Luft, drückte auf ihren Bauch und hob den Kopf so weit, dass ihr Kinn den halsfernen Rollkragen ihres übergroßen Baumwollsweaters berührte. Ihre Lippen formten ein verzweifeltes „Oh“, dann spannte sie sich an, während sie die Zähne fest aufeinander presste. Völlig verblüfft ging Samuel neben dem Bett in die Hocke und betete, dass er nicht sah, was er zu sehen glaubte. Im nächsten Moment ließ die Frau den Kopf auf das Kissen zurückfallen und japste. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stöhnte erleichtert auf. Dann öffnete sie die Augen und blickte wieder Samuel an. "Keine Sorge", murmelte sie schwach. "Ein Krampf." Samuel konnte nur hoffen, dass das auch stimmte. "Wann ist das Baby fällig?" Sie fuhr sich mit der zitternden Hand durch ihr zerzaustes Haar, "In drei Wochen." "Im letzten Schwangerschaftsmonat gibt es häufig schon Vorwehen." Er stand auf und holte seinen Erste-Hilfe-Koffer aus der Ecke hinter dem Vorhang, die ihm im Schlafbereich als Schrank diente. "Oft werden sie durch extremen Stress oder anstrengende körperliche Aktivitäten hervorgerufen. Sie haben sich eine ganz schön üble Zeit zum Wandern ausgesucht." "Ja", gab sie einsilbig zurück. Samuel legte sich das Stethoskop um den Nacken und wandte sich zum Bett um. Die Frau lag seitwärts auf den Ellbogen gestützt und beobachtete jede seiner Bewegungen; Ihr Blick richtete sich auf das Thermometer, das er hielt. "Ich möchte jetzt Ihre Temperatur messen", erklärte er. Sie überdachte einen Moment das, was er gesagt hatte. "Sind Sie Arzt?" "Nein." Samuel setzte sich auf die Bettkante. "Aber ich habe einen Medizinkursus belegt. Legen Sie sich zurück, bitte." Als sie sich in die Kissen zurücklegte, hielt er ihr das Thermometer hin. Er bemerkte den Argwohn in ihren Augen, ehe sie schließlich die Lippen öffnete, so dass er ihr das Thermometer unter die Zunge stecken konnte. Ihr Blick war nun wieder klar, auch wenn ihre mandelförmigen dunklen Augen wachsam auf ihn gerichtet waren. Recht reizvoll, diese Augen, dachte Samuel, obwohl er im Moment mehr an ihrer
Gesundheit interessiert war. Erneut prüfte er ihren Puls und fand ihn regelmäßiger, aber immer noch schwach. "Wie heißen Sie?" Mit Schiefem Mund murmelte sie am Thermometer vorbei: "Ellie." "Ein netter Name", entgegnete Samuel und bemühte sich darum, ruhig und kompetent zu wirken; Auf diese Weise konnte er verängstigte Patienten immer am besten beruhigen. "Ich bin früher mit einer Ellie zur Schule gegangen. Ist Ihr Name in Wirklichkeit Eleanor?" Er stellte die Frage, während er aus dem Koffer eine kleine Taschenlampe hervorholte. Ellie schreckte zurück. "Ich werde Ihnen nicht weh tun, ich möchte nur ganz einfach herausfinden, wie ihre Pupillen auf das Licht reagieren." Das Thermometer bewegte sich leicht. "Warum? "Um sicher zu sein, dass sie kein Kopftrauma erlitten haben." Er leuc htete in jedes Auge und war zufrieden, als die Pupillen sich, normal zusammenzogen. "Was haben Sie eigentlich da draußen im Sturm gemacht?" Er nahm ihr das Thermometer aus dem Mund, so dass sie antworten konnte. Ellie legte sich entspannter zurück und blickte sich im Raum um, "Ich habe mich wohl verirrt. Ich wollte zur Hütte von Freunden." Nachdem Samuel sich vergewissert hatte, dass ihre Körpertemperatur zwar unter 37 Grad lag, aber nicht so niedrig war, dass es gefährlich werden konnte, steckte er das Thermometer in das Etui zurück. "Noch eine Stunde dort draußen, und Sie wären wahrscheinlich tot gewesen", teilte er ihr frei heraus mit" Ellie zuckte zusammen, sagte aber nichts. Wie auf Stichwort legte Baloo seine Vorderpfoten auf das Bett und winselte besorgt. Für seine Anteilnahme empfing er ein dünnes Lächeln. "Du bist mein Held", erklärte Ellie dem Tier, der bei ihrem Lob mit dem Schwanz wedelte. Ellie schaffte es, dem Hund einmal über den geschmeidigen Kopf zu streichen, ehe sie die Hand fallen ließ, so als ob die Strapaze zuviel für sie gewesen wäre. Ihre Augenlider schlossen sich, ihr Atem ging flach. Sie war blass. Zu blass, wie Samuel fand. Weiß wie der Tod, Er legte sich das Stethoskop wieder um den Nacken und drückte mit der Hand ihre Schulter. "Ma'am ... Ellie ... ich würde Sie gern untersuchen, wenn Sie es mir erlauben." Sie öffnete die Augen. "Untersuchen?" wiederholte sie als ob sie das Wort noch nie zuvor gehört hätte. "Ich möchte gern den Herzschlag Ihres Babys abhören, nur um sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist. Einverstanden?" Ellie musterte ihn eine ganze Weile, als ob sie sich erst einmal überzeugen wollte, dass sie ihm trauen konnte. Dann seufzte sie leicht und nickte, wenn auch zurückhaltend. Samuel zog die Decke zurück, hob den Saum ihres übergroßen Pullovers und drückte das Stethoskop auf das strammgezogene Baumwollhemd über ihrem gewölbten Bauch. Er suchte nach dem gedämpften, rhythmischen Herzschlag des Ungeborenen. Unter Samuels prüfenden Fingern spannte ihr Bauch sich an und wurde hart wie Stahl Auf einmal bäumte Ellie sich auf und stieß einen erstickten Schrei aus. Sie schien nicht zu wissen, was vor sich ging. Aber Samuel wusste es. Eine kritische Situation hatte sich soeben noch um einiges verschlimmert. Und da gab es nichts, was er daran ändern könnte. Es war wie eine Rückschau, die Ellie nicht abstellen, konnte, eine Erinnerung, die sie wieder mit all der bitteren Kälte und dem betäubenden Schrecken durchlebte. Um sie herum wirbelten Schneeflocken ... der weiße Tod. Der Schmerz durchzuckte ihr Rückgrat, umklammerte ihren Bauch wie ein Ring aus Stacheldraht. Stolpernd bewegte sie sich durch das Dickicht, griff nach vom Wind gepeitschten Ästen. Jeder Baum sah gleich aus, jeder Stein wie der andere. In ihren Ohren hallte der heulende Wind wider. Sie konnte ihre Füße nicht mehr spüren.
Es war vorbei. Sie wusste es. Sie fühlte es. Ihr Leben, ihre Hoffnungen, ihre Träume von Glück für das Kind, das sie unter dem Herzen trug, all das war nun vorbei. Sie konnte nicht mehr weitergehen. Der Schutzengel erschien aus dem Nichts, ein lebender Engel, der Wärme ausstrahlte und sie, Ellie, mit erstaunlicher Kraft vorwärtsstupste. Sie griff nach der Erscheinung und ließ es zu, von ihr gezogen zu werden, von ihr durch das schreckliche Gewirr des Waldes gelotst zu werden. Vorbei an eisverkrusteten Bäumen mit im Sturm knirschenden Ästen ... während ihr die Zweige ins Gesicht schlugen und ihr die Haut zerkratzten. Und dann auf einmal sah sie ganz weit entfernt eine dünne Rauchfahne aufsteigen, die sich über den Bäumen hochringelte. Der Engel zog sie dem Rauch entgegen, zu einer Zufluchtsstätte der Wärme, der Sicherheit. Sie waren fast da. Ellie konnte die beleuchteten Fenster sehen, die Wärme fühlen, die von der Hütte ausging. Fast da. Sie fiel gegen Stufen, raue Holzdielen knarrten unter ihren Füßen. Fast... Die Tür quietschte. Ein dünner Streifen von goldenem Licht fiel auf den wirbelnden Schnee.... Da. Ganz allmählich öffnete sich die Tür, Stück für Stück. Ellie zitterte. Ein Gesicht kam zum Vorschein, vom Licht im Hintergrund beschattet. Schmerz nagte am unteren Teil ihres Rückgrats, ein anschwellender Schmerz, der sie erfasste, langsam, langsam. Langsam. Sie blinzelte in die Helle, richtete den Blick auf das Gesicht ihres Retters. Er lächelte freundlich. Doch dann wurde sein Lächeln immer breiter, wurde zu einem Grinsen. Zähne blitzten weiß wie eisiger Schnee. Ein Lachen. Vertraut. Böse. Sie krümmte sich vor Schrecken. Schmerz schnitt durch ihren Bauch wie eine Klinge. Er hatte sie gefunden. Diesma l gab es kein Entkommen mehr. "Hier, trinken Sie das." Samuel legte den Arm um Ellies Schultern und berührte mit dem Rand des Suppenbechers ihre farblosen Lippen. "Vorsicht, es ist heiß." Sie nippte behutsam, legte die zitternden Hände um den warmen Becher und nippte wieder. Nach einer Weile wandte sie das Gesicht ab - als Zeichen, dass sie genug getrunken hatte. Samuel setzte den dampfenden Becher ab, ließ Ellie auf die Kissen zurücksinken und strich ihr das dunkle, zerzauste Haar aus dem Gesicht. "Sie müssen etwas essen." "Hab' keinen Hunger", flüsterte sie und zwang sich zu einem Lächeln. "Aber lieb gemeint. Danke." Sie atmete aus, und schloss die Augen. Ihre Atemzüge wurden tiefer. Sie sank wieder in den Schlaf. Was gut war. Die Tortur, die sie im Wald durchlitten hatte, hatte sie erschöpft. Sie brauchte Kraft für das, was noch auf sie zukam. Samuel strich über die weiche Haut ihrer Wange, entwirrte mit den Fingern das zerzauste dunkle Haar. Es war voll und dicht und leicht gewellt. Er überlegte, wie es wohl aussehen rnochte, wenn es durchgebürstet war. Wahrscheinlich wäre es dann eine glänzende Mähne mit hübschen gewellten Haarsträhnen, die ihr zartes Gesicht liebkosten. Um die hohen Wangenknochen würde jedes Model sie beneiden. Ihre Haut war blass, cremigweiß, makellos bis auf die dunklen Ringe unter den Augen, die wie Blutergüsse wirkten. Unter normalen Umständen wäre sie schön, dachte Samuel. Ihr Gesicht war perfekt geschnitten, ihre Lippen waren voll und weich. Doch ihre exotisch geformten kaffeebraune n fast schwarzen Augen waren das auffallendste Merkmal. Er fand es bezaubernd, wenn Ellie die Mandelaugen aufmerksam auf ihn gerichtet hatte. Ihr haftete etwas Einzigartiges an, etwas angeboren Faszinierendes. Von ihr ging eine Verletzlichkeit aus, die ihn berührte, und er fragte sich, was da geschehen war. Keine Sekunde glaubte er daran, dass eine Frau in dieser kritischen Verfassung einfach nur so durch die Wälder streifte,
schon gar nicht beim Ausbruch eines Sturms, der als der schlimmste seit Jahrzehnten vorhergesagt worden war. Irgend etwas hatte sie in die Wälder getrieben. Vielleicht der gleiche Schrecken, den sie in ihren Träumen ... oder Alpträumen ... durchlebt hatte. Samuel hatte es an ihrem Wimmern im Schlaf und dem unruhigen Hin- und Herwerfen erkannt. Mit Alpträumen kannte sich Samuel gut aus. Das gedämpfte Klicken von Pfotennägeln auf poliertem Kiefernholz kündigte Baloos Ankunft aus der Küche an, wo er gerade einen Napf voll Hundefutter heruntergeschlungen und eine Schale Wasser geschleckert hatte. Das Tier gähnte, legte das triefnasse Kinn auf Samuels Knie und richtete seinen besorgten Blick auf die schlafenden Frau. Samuel kraulte ihn hinter dem Schlappohr. "Was hältst du davon, Loo?" Baloo winselte und legte eine Vorderpfote über seine Schna uze. "Da hast du recht. Es ist schon seltsam, dass sie mich nicht darum gebeten hat, jemanden anzurufen." Nicht, dass er das gekonnt hätte, da es in der Hütte gar kein Telefon gab, aber es war trotzdem erstaunlich, dass sie nicht danach gefragt hatte. "Es muss dort draußen doch jemanden geben, der vor Sorge um sie fast den Verstand verliert. Freunde, Familie ..." Er blickte auf ihren Bauch. "... einen Ehemann.'' Baloo schwenkte den Kopf herum, gab auf diese Weise seinen verwunderten Kommentar dazu ab. "Tja, ich weiß. Ich habe das gleiche gedacht. Vielleicht ist sie ja gerade vor ihm weggerannt." Es ergab zwar einen Sinn, aber der Gedanke ärgerte Samuel. Er erhob sich von der Bettkante und fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. Dabei schaute er auf die schlafende Frau herunter. Sie schien ihm nicht der Typ zu sein, der einen miesen Kerl tolerieren oder sogar von so einem ein Baby erwarten würde. Zugegeben, er wusste nicht viel über seinen unerwarteten Hausgast, aber Samuels Beruf erforderte die Fähigkeit, Charaktere schnell einschätzen zu können. Als er in Ellies Augen geschaut hatte, hatte er darin Angst gesehen, aber auch eine außergewöhnliche Willenskraft. Und das war gut so. Denn Samuel wusste, dass sie nun all die Kraft brauchen würde, die sie aufbieten konnte. Und sie würde sie bald brauchen. Samuel lief unruhig hin und her und wärmte sich am Ofen die Hände. Ellies Wehen kamen nun in immer kürzeren Abständen, nach der letzten Zählung alle acht Minuten, und sie verstärkten sich. Draußen wütete der Sturm mit furchteinflößender Stärke. Der Wind war so heftig, dass die Hütte unter den Böen ächzte, und der Schnee fiel so dicht, dass es so aussah, als würde sich die Schwärze der Nacht hinter einem weißen Leinentuch verbergen. Es gab keine Möglichkeit, überhaupt keine, auch nur einen Fuß aus der Hütte zu setzen. Nicht für Ellie, nicht für ihn. Das Baby drängte ans Licht, und Samuel konnte das nicht aufhalten. Samuel versuchte, seine zitternden Hände zu beruhigen, indem er sich vorhielt, dass er bereits Dutzende von gesunden Babys auf die Welt geholt hatte. Natürlich waren die Bedingungen niemals so primitiv gewesen, aber die Geburt selbst war ja ein primitiver Vorgang im wahrsten Sinne des Wortes. Bereits seit Ewigkeiten brachten Frauen Kinder zur Welt, und das war ihnen auch schon ohne die modernen medizinischen Erkenntnisse der heutigen Zeit gelungen. Ja, Ellies Baby würde in dieser Nacht geboren werden. Samuel schloss die Augen und kreuzte die Arme vor der Brust, um die Hände in den Achselhöhlen zu wärmen. Dabei kämpfte er gegen eine Angst an, die ihn zu überwältigen drohte. Eine ihm vertraute Angst. Eine allzu vertraute Angst. Etwas stieß gegen seinen Schenkel. Es war Baloo, der zu ihm aufblickte, als ob er ihm helfen wollte. "Tja, dir geht's wohl so wie mir", sagte er dem Hund. "Aber da müssen wir durch."
Baloo gähnte, trottete hinüber zum Wohnbereich der Hütte und fing an, nach etwas neben dem amerikanischen Jugendstilsofa zu schnüffeln. Der Hund jaulte und scharrte mit der Pfote über einen Gegenstand. "Was hast du da, Loo?" Baloo tappte ein paar Schritte zurück und schwenkte den Kopf mit einem Blick auf Samuel zur Seite, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Gegenstand, den Samuel jetzt als den Rucksack der Frau erkannte. Er hatte ihn vollkommen vergessen, und nun wurde ihm mit einmal klar, dass der Rucksack hilfreiche Informationen über seinen geheimnisvollen Gast enthalten könnte. Ein Anflug von schlechtem Gewissen meldete sich, als Samuel einen heimlichen Blick auf die Frau warf, die auf dem Bett lag und dort ruhig vor sich hindöste. In ihren Habseligkeiten herumzuwühlen war ein Einbruch in die Privatsphäre, andererseits erschien es Samuel unter diesen besonderen Umständen gerechtfertigt, also verdrängte er seine Schuldgefühle und machte sich an die Ermittlung. Als erstes fand er ein Sweatshirt mit passender Hose aus schlichtem grauen Flausch, beides zu einem festen Zylinder gerollt. Er legte die Kleidungsstücke zur Seite und zog einige persönlichere Dinge heraus ... eine Haarbürste, einen Lippenstift und eine kleine Reisetasche, die er nicht öffnete. Er fand auch noch andere Kleidungsstücke wie T-Shirts in Übergröße und mehrere winzige Babysachen, dazu ein noch nicht ganz fertig gestricktes Mützchen. Die Stricknadeln steckten noch im Wollgarnknäuel. Samuel war froh, dass das Kind etwas anzuziehen haben würde. Es gab auch zwei Babydecken für das Neugeborene. Es war ganz klar, dass Ellie sich auf das Baby liebevoll und mit großer Vorfreude vorbereitet hatte. Und es war genauso klar, dass der Rucksack aus Nylon all die weltliche Habe dieser Frau enthielt. Aus einer Brieftasche, die in einer Seitentasche steckte, holte er den in Sacramento, Kalifornien auf den Namen Eleanor Elizabeth Malone ausgestellten Führerschein hervor. Das Foto zeigte eine lächelnde Ellie, genau so, wie Samuel sie sich vorgestellt hatte ... mit glänzender Haarmähne, die ihr reizvolles Gesicht umrahmte, mit Augen so dunkel wie ein mitternächtlicher Gebirgssee. Er betrachtete das Bild eine Weile, ehe er den Führerschein in die Brieftasche zurücksteckte. Dort fand er auch einen Ausweis mit ihrer Sozialversicherungsnummer und einige wenige Dollarscheine, aber keine Kreditkarte, nichts, was vielleicht etwas mehr über Ellies Persönlichkeit aussagen würde. Dafür aber entdeckte er einen Lohnstreifen des größten Gasthofes in Sky Mountain. Samuel blickte auf den Lohnstreifen und überlegte, ob eine Frau in ihrem Zustand die elf Meilen von dem Ort bis hierher zu Fuß zurücklegen konnte. Natürlich, wenn sie sich quer durch den Wald geschlagen hätte, hätte sie den anstrengenden Marsch um mehrere Meilen verkürzt, aber das Gelände war heimtückisch, sogar von geübten Wanderern schwer zu bewältigen. Doch von wo aus Ellie sich auf den Weg gemacht hatte, tat eigentlich gar nichts zur Sache. Sie war jetzt hier, und solange der schlimmste Schneesturm seit Jahrzehnten in den Bergen wütete, konnte Samuel daran auch nichts ändern. Der Schrei weckte Samuel. Er fuhr im Sessel, in dem er geschlafen hatte, abrupt hoch, zu benommen, um zu erkennen, dass der entsetzliche Laut nicht aus seinem Alptraum kam. Beim zweiten schrillen Schrei sprang er auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Sein Herz raste. Auf der anderen Seite der Hütte bellte Baloo und umkreiste wild das Bett, in dem Ellie immer noch schrie, als ob sie sterben müsste. Samuel eilte zum Bett, wo Ellie sich vor heftigen Schmerzen wand, und schnappte sich das Stethoskop vom Nachttisch. "Schon gut", murmelte er mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. "Alles wird gut, ganz bestimmt." "Mein Baby", schrie sie, dann krümmte sie sich nach vorn, ihr Gesicht schmerzverzerrt.
"Ihrem Baby geht's großartig, es will nur heraus, das ist alles." Samuel beeilte sich, um die sauberen Handtücher, die er bereits herausgelegt hatte, zu holen und sie aus Taktgründen über den Unterleib und die Oberschenkel der Frau zu legen. Und während er das tat, betete er, wie er noch nie zuvor gebetet hatte. "Kurze Atemzüge, Ellie, blas die Wangen auf und hechle wie ein Hund." Ellie gehorchte, dann zog sie keuchend tief die Luft ein und fiel erschöpft in die Kissen zurück. Baloo winselte, sprang auf das Bett und leckte hektisch ihr Gesicht. Samuel ergriff das Tier beim Halsband. "Herunter mit dir. Lass sie in Ruhe." Offensichtlich machten Ellie die feuchten Spuren der hündischen Besorgnis nicht viel aus, denn sie brachte sogar ein Lächeln zustande, "Vielleicht wollte er mir nur Nachhilfeunterricht im Hecheln geben." "Mag sein, aber Sie müssen dabei ja nicht gleich vollgesabbert werden", murmelte Samuel. Er vertrieb den Hund vom Bett. "Geh, leg dich hin, oder ich binde dich am Küchentisch fest." Als Baloo sich wegschlich, schloss Ellie die Augen. "Sie sind ein harter Mann", flüsterte sie. "Erinnern Sie mich daran, dass ich mich vor Ihnen in acht nehmen muss." Im nächsten Augenblick krallte sie die Hände in das Kissen und bäumte sich auf. "Oh..." Samuel schaute auf die Uhr, und ihm stockte das Herz. Die Wehen folgten immer dichter hintereinander. "Ah-h- h-h!" Ellie biss die Zähne zusammen, warf sich fast eine Minute lang hin und her, bevor ein markerschütternder Schrei aus ihr herausbrach. Draußen wütete der Sturm mit dämonischer Heftigkeit. Auf der anderen Seite des Raumes legte Baloo den Kopf zurück und heulte, während Samuel herumhetzte und geübt den Puls der Frau prüfte, den Herzschlag des Ungeborenen abhörte und all die anderen nötigen Handgriffe tat. Es fiel ihm leicht, wieder in die alte Routine zu verfallen, sich innerlich von den Geburtswehen der Frau zu distanzieren. Gefühle wirkten sich auf das, was er zu tun hatte, nur störend aus. Mitleid verursachte Angst, Angst schaffte Chaos, Chaos war Versagen, und Versagen bedeutete Tod. Also verschloss Samuel sich vor den Qualen der Frau. Er beachtete auch nicht den wütenden Sturm, das Heulen des besorgten Hundes. Er blockte alles ab, was ihn ablenken könnte, und konzentrierte sich ausschließlich auf das Nächstliegende. "Helfen Sie mir. Bitte, helfen Sie mir." Schatten aus der Vergangenheit drängten sich ihm auf, drohten ihn zu überwältigen. Dunkle Augen, vor Angst und Schmerz weit aufge rissen. Eine ausgestreckte Hand. Ein Flehen nach Hilfe. Furcht ergriff ihn. "Helfen Sie ... mir." Die verzweifelte Stimme hallte in seinem Kopf wider, brachte seine dunkelsten Alpträume an die Oberfläche. Er stockte, konnte sich nicht rühren, nicht atmen, nicht die lähmende Flut von Erinnerungen zurückdrängen, auch wenn ein Chaos um ihn herum ausbrach. Der Sturm tobte. Die Frau schrie. Der Hund heulte. Die Schatten umzingelten ihn. Samuel war vor Angst plötzlich wieder wie erstarrt.
2. KAPITEL
Die Frau brauchte ihn. Samuel sah das ein, doch er konnte sich nicht rühren. Not. Verzweiflung. Leben und Tod. Er wollte mit all dem nichts zu tun haben, wollte nicht gebraucht werden, nicht verantwortlich sein. Er wollte nicht versagen. Nicht schon wieder. Ihre Augen öffneten sich, dunkel und flehend. Sie streckte die Hand aus. Ihre Lippen bewegten sich. Kein Laut kam heraus, aber Samuel kannte die Worte, die sie zu schwach war auszusprechen. Er hatte sie zahllose Male zuvor gehört. Helfen Sie mir. Seine Augen wurden feucht, als ob sie vom kalten Wind brannten. Helfen Sie mir. Er erinnerte sich an den Klang dieser Worte. Helfen Sie mir. Er hörte die Worte trotz des Höllengetöses, das in seinen Ohren rauschte, hörte dieses einfache Flehen, das ihm immer zu Herzen gegangen war. Er hatte immer darauf geachtet, war immer darauf eingegangen, hatte immer sein Bestes getan. Auch jetzt hatte Samuel keine andere Wahl, als darauf einzugehen und wieder sein Bestes zu tun. Er betete, dass es diesmal gut genug war. Ellie fühlte die warme Hand auf der Stirn, hörte das besänftigende Murmeln. "Sie machen es ausgezeichnet, Ellie, wirklich ausgezeichnet." Etwas Kaltes und Feuchtes berührte ihre Lippen. Gierig fuhr sie mit der Zunge über das Eis. Doch diese Wohltat dauerte nur einen kurzen Augenblick, ehe ein krampfhafter Schmerz sie aufschreien ließ. Aber es war diesmal anders. Samuel war bei ihr, redete mit ihr im Flüsterton, sagte ihr, dass sie sich nicht fürchten solle. "Kämpfen Sie nicht gegen die Krämpfe an", ermahnte er sie. "Betrachten Sie jeden Krampf als Unterstützung für Sie, denn er umschließt Ihr Baby und hilft ihm auf seiner Reise in eine neue Welt." Ellie biss die Zähne zusammen, konzentrierte sich auf die besänftigende Stimme, auf die zarte Berührung. Es gelang ihr, sich vo n den Schmerzen loszulösen und die Kontrolle über sich wieder zurückzugewinnen. Der Mann an ihrer Seite war der Anlass dafür. Ohne ihn wäre sie verloren und in einen Abgrund aus Schmerz und Angst gestürzt. Er gab ihr Sicherheit. Sie brauchte ihn. Sie brauc hte ihn. "Pressen Sie, Ellie. Pressen Sie!" "Ich ... kann nicht." "Sie müssen aber. Ihr Baby kommt. Es braucht Ihre Hilfe." Samuels Stimme klang entschieden. "Sie können es, Ellie. Ich weiß, dass Sie es können." Sie konnte es tun. Sie musste es tun. "Pressen Sie, jetzt!" Ein tiefes Stöhnen wuchs zu einem erstickten Schrei an. Ellie wusste, dass sie es war, die diesen verzweifelten Laut von sich gab, versuchte jedoch, ihn zu ignorieren und sich statt dessen auf die ruhige Stimme des Mannes zu konzentrieren. Ihr Baby war fast geboren. Ihr Baby brauchte sie. Sie krallte die Finger in die Matratze und warf den Kopf von einer Seite zur anderen, während das Blut ihr in den Ohren dröhnte. Ihr war, als ob sie von weit her ein Quäken vernehmen würde. Sie zwang sich, ein Augenlid zu heben. In der grauen Morgendämmerung sah sie fast schattenhaft, wie sich am Fußende ihres Bettes jemand bewegte. Ein Hund heulte, bellte dann. Das winzige Quäken verstärkte sich zu einem ungehaltenen Geschrei. Ellie kniff die Augen zusammen, sie war zu schwach, um sich hochzustemmen. Einen Moment später beugte Samuel sich über sie. "Sie haben einen Sohn", flüsterte er und legte ihr das in ein Tuch gewickelte Neugeborene in die Arme. "Einen wunderschönen Sohn."
Ellie fuhr mit der Fingerspitze über die weiche rote Wange des Babys. "Er heißt Daniel", sagte sie leise. Dann lächelte sie, schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Die Zeit verstrich für Ellie unter einem Schleier von Müdigkeit. In den kurzen Augenblicken des Wachens waren ihre Sinne ganz auf das Baby gerichtet, das an ihrer Brust nuckelte. Doch dann zerstob die Wirklichkeit um sie herum wieder, und sie sank zurück in die gesegnete Wärme eines tiefen und heilenden Schlafes. In den seltsam klaren Träumen konnte Ellie die Bedeutung von allem, was um sie geschah, überdenken. Sie erinnerte sich an den sanften Mann mit den blauen Augen, daran, wie er Betttücher zu Windeln zerriss, dann ihr Kind mit einer solchen Zartheit umsorgte, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Sie erinnerte sich an alles, von dem würzigen Duft, der aus der Küche herüberwehte, wenn er in einem Topf auf dem Herd rührte, bis zu dem eiskalten Luftzug, wenn er die Tür öffnete, um gegen den Sturm gebückt hinauszustürmen und dann mit einem Armvoll Feuerholz zurückzukehren. Ellie erinnerte sich an alles, was mit dem robusten Fremden zu tun hatte, der ihr geliebtes Kind gerettet hatte. Raue Finger, die über ihre Stirn strichen. Hellblaue Augen, in deren Winkeln sich kleine Fältchen bildeten, wenn er lächelte. Eine Stimme wie roher Honig. Das Scharren seiner Stiefel auf den Holzdielen. Der Geruch seiner feuchten Lederjacke. Das Aufblitzen von weißem Schafsfellfutter, wenn er sie ausschüttelte. Und über allem schwebte der wohltuende Duft von Zedernholz. Für Ellie war das alles ein Traum. Ein wunderschöner Traum. Es würde Tage dauern, bis sie erkannte, dass es sich dabei um die Wirklichkeit handelte, Samuel hatte den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr im Blick, während er Ellies schwächer werdenden Pulsschlag zählte. Er tat es jede Stunde und machte sich große Sorgen, weil sie immer schwächer zu werden schien. Sorgen machte er sieh auch um das Neugeborene. Klein- Daniel war sehwach, und durch das Stethoskop hatte Samuel ein beunruhigendes gurgelndes Geräusch in den winzigen Lungen des Jungen gehört. Draußen türmten sich die Schneeverwehungen bis zur Hälfte der Fenster, und der Wind heulte noch immer wie ein vor Hunger rabiat gewordener Wolf. Samuel fragte sich, wann das Wetter sich endlich so weit klären würde, dass er sich zum Feuerturm aufmachen könnte, um von dort aus Hilfe zu rufen. Tage, vielleicht sogar Wochen. Samuel konnte nur beten, dass er Mutter und Kind noch so lange am Leben halten konnte. Er steckte Ellies Hand unter die Bettdecke und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie wirkte so friedlich, fast engelsgleich. Sie lächelte im Schlaf. Das verblüffte Samuel. Für ihn war der Schlaf ein Feind, für Ellie hingegen schien er ein geschätzter Freund zu sein. Ihre Träume müssen süß sein, dachte er, und der Gedanke machte ihn froh. Immerhin verdiente sie süße Träume nach all dem, was sie durchgestanden hatte. Und sie verdiente es, zu leben. Ein klägliches Wimmern kam von dem behelfsmäßigen Kinderbettchen im Wohnbereich. Beim ersten Laut wachte Baloo auf, trottete zum Sofa, um durch die Stäbe des Stuhls zu gucken, den sein Herr dicht vor das Sofa, gestellt hatte. Das Tier beobachtete aufmerksam das weinende Neugeborene, dann schwenkte es den Kopf herum, um Samuel mit einem besorgten Blick anzuschauen. Baloo bellte kurz, dann tappte er in die Küche. Einen Moment später erschien er wieder und zog eine alte, verwaschene Decke hinter sich her, die sonst in seinem Hundebett lag. Samuel lächelte. "Wirklich großzügig, Loo. Aber ich glaube, das Baby hat es auch so schon warm genug." Baloo öffnete seine Schnauze, um die Decke loszulassen, und bellte kurz. Samuel warf einen Blick auf die schlafende Frau in seinem Bett. Dann beugte er sich über ihren zappelnden kleinen Sohn, fuhr mit der Fingerspitze über die winzige Hand. Niedliche Finger öffneten sich, zitterten, schlossen sich dann zu Fäustchen. Samuel wurde bei diesem
Anblick ganz warm ums Herz. "Hast du das gesehen, Loo?" fragte er erstaunt. "Er hat versucht, meinen Finger zu erwischen." Baloo schnaubte verächtlich. "Du glaubst es mir nicht? Dann schau mal genau hin." Samuel wiederholte das Ganze, und Daniel schloss wieder seine kleine Hand zur Faust. "Siehst du?" Der Hund war offensichtlich eingeschnappt, saß einfach mit einem gleichgültigen Ausdruck da. Samuel lächelte. "Du wirst es nie zugeben, dass du dich geirrt hast, nicht wahr?" Baloo gähnte gelangweilt und mied absichtlich den Blick seines Herrn. Samuel wandte sich wieder dem quengelnden Neugeborenen zu. "Was ist los, Bürschchen? Bist du wieder hungrig?" Er öffnete die Windel. "Aha. Das ist es also. Und was machen wir nun?" Beim Klang der tiefen Stimme wurde das Baby ruhig und blickte mit großen blauen Augen hoch. Samuel hatte schon einige Babys gesehen, viele sogar, aber er hatte niemals diese starke Zuneigung dabei empfunden, diesen Drang gehabt, sie zu beschützen. Natürlich hatte er niemals die Verantwortung gehabt, ein solch zerbrechliches Leben zu umsorgen. Es war bisher immer jemand dagewesen, um das zu übernehmen. Doch diesmal war Samuel allein. Das ängstigte ihn zwar, aber es forderte ihn auch heraus. Entschlossen machte er sich daran, sich um den Winzling zu kümmern, den heilenden Nabel mit antiseptischer Salbe einzureiben, die empfindliche Haut des Neugeborenen mit Maismehl statt Talkpuder, das er nicht hatte, zu schützen. Zum Schluss wurde das Baby in eine frische Windel aus einem sauberen weißen Bettlaken gewickelt. Der Junge blinzelte, verzog das winzige Gesicht und ließ ein Bäuerchen hören, laut genug, dass Baloo die Ohren spitzte. "Na, wenn es einem danach nicht besser geht, dann weiß ich auch nicht." Samuel zog aus seiner Hemdentasche das Stethoskop heraus und wärmte es in seiner Handfläche. "Dann lass uns doch noch mal hören, Kumpel. Du kennst die Prozedur ja schon." Er setzte das Stethoskop auf Daniels kle ine Brust, hörte das leichte Pfeifen bei jedem Atemzug und war erleichtert, dass es sich nicht schlimmer anhörte als beim letztenmal. Im Gegenteil, er stellte sogar eine Besserung fest, eine leichte zwar, aber sogar die erschien ihm wie ein Wunder: Zufrieden steckte Samuel das Stethoskop zurück in die Tasche und warf einen Blick hinüber in die Küche, wo ein Topf mit Zedernborke auf dem Herd vor sich hinsiedete. Ihr Duft verbreitete sich in der Hütte. Dieser Duft weckte immer nostalgische Erinnerungen an seine Kindheit in ihm. Es war eins der Heilmittel seiner Mutter gewesen, die sie angewandt hatte, um den an Bronchitis oder an anderen Atmungsinfektionen Erkrankten Linderung zu bereiten. Als Kind hatte Samuel das warme Kribbeln in der Brust Erleichterung verschafft, wenn er den duftenden Dampf inhalierte. Bis zu diesem Tag brachte ihm der Geruch von Zedernholz die sorgenfreien Tage seiner Kindheit ins Gedächtnis, und er fühlte sich wieder gehegt und gepflegt und geliebt. Vielleicht würde Daniel ja eines Tages einen Bergwald durchwandern und dabei das gleiche Wohlgefühl empfinden ... ein schwacher Nachklang seiner ersten Lebenstage, als auch er gehegt und gepflegt worden war. Und geliebt. "Ich lasse dich nicht im Stich, Kumpel." Samuel fuhr mit dem Handrücken sanft über das samtweiche Köpfchen des Babys. "Du und deine Mama, ihr schafft es schon", sagte er, und es überraschte ihn, dass er sogar daran glaubte. Nachdem er das schlummernde Kind zugedeckt hatte, ging Samuel in die Küche zurück. Auf dem Tisch lag ein ganzer Haufen von abgeschälten, glatten, biegsamen Zedernzweigen, aus denen Samuel ein Geschenk für das Kind flechten wollte. Schon jetzt war er eine tiefe, bleibende Bindung mit dem kleinen Jungen eingegangen. Während er arbeitete, klärten sich seine Gedanken, ihm wurde warm ums Herz, und er lächelte in sich hinein. Zum erstenmal, seit Ellie Malone in seine abgelegene Hütte gestolpert war, hatte Samuel seine innere Ruhe wiedergefunden.
Samuel setzte sich abrupt in dem Sessel mit der hohen Rückenlehne auf. Er war von der eigenartigen Stimme wach geworden, die klar und zärtlich bis in seinen Schlaf gedrungen war. "Mein süßer kleiner Junge mit den verschlafenen Äuglein, Mama wird dir jetzt ein Wiegenlied singen." Samuel blinzelte, um das Bild klar zu erfassen, das sich ihm bot. Ellie saß auf dem Bettrand und wiegte das Baby in den Armen. Die Melodie war ihm bekannt, obwohl der Text von Ellie selbst zu stammen schien. "Ein Lied der Liebe will ich singen", sang sie und schlug dabei vorsichtig die Decke, in das das Baby eingewickelt war, auf, um die beiden winzigen rosigen Füße zu begutachten. "Es soll dir süße Träume bringen." Sie küsste erst das eine, dann das andere Füßchen, ehe sie mit ihrem seltsamen Singsang fortfuhr. "Und wenn Klein- Daniel Hunger hat ..." Sie schlug die Decke wieder um ihren schlafenden Sohn. "...wird Mama dich schnell machen satt." Samuel starrte sie an. "Dich schnell machen satt?" Nun war es an Ellie, ihn überrascht anzublicken. Zunächst wurde sie vor Verlegenheit rot, dann lachte sie so herzlich, dass sich in Samuels Brust etwas rührte. "Zumindest reimt es sich." Mit der Fingerspitze fuhr sie über die Wange des Neugeborenen, und als seine winzigen Lippen sich leicht verzogen, lächelte sie. "Ist er nicht wunderschön?" "Ja." Aber bei weitem nicht so schön wie die umwerfende Frau, die ihn in den Armen hielt. Hellwach, mit blitzenden Augen und rosa Wangen war sie zweifellos das schönste Wesen, dem Samuel jemals begegnet war. "Das mit gestern nacht tut mir leid." "Gestern nacht?" Sie beobachtete Samuel, als er vom Sessel aufstand und zusammenzuckte, weil ihm der ganze Körper schmerzte. "Sie haben sitzend geschlafen, weil eine fremde Frau Ihr Bett beansprucht hat. Es war ganz schön unverschämt von mir, unangemeldet hereinzuschneien, Ihr Heim in einen Kreißsaal zu verwandeln und dann auch noch prompt in Ihrem Bett einzuschlafen. Sie müssen ziemlich verärgert sein." "Überhaupt nicht." Ihr Läche ln war strahlend. "Sie sind ein wunderbarer Mann. Wenn ich Ihren Namen wüsste, könnte ich mich richtig bei Ihnen bedanken." "Samuel Evans", stellte er sich vor. "Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, Samuel. Ich bin Ellie, und dies ist Daniel." Sie lachte leicht auf. "Aber Sie zwei kennen sich ja bereits, nicht wahr?" Ihr Lächeln verblasste. "Ich kann mich erinnern, dass Sie ihn mir während der Nacht gebracht haben, damit ich ihm die Brust geben kann. Ich wollte Ihnen danken, aber ich habe dafür keine Worte gefunden." Sie blickte zum Fenster hinüber, hinter dem das graue Tageslicht sich neblig über dem schne ebedeckten Fenstersims zeigte. "Heute ist Weihnachten, nicht wahr?" Samuel zögerte. "Weihnachten war letzte Woche." Als Ellie ihn verwirrt anblickte, erklärte er: "Sie waren sehr krank. Daniel ist vor sechs Tagen geboren worden." "Vor sechs Tagen?" "Es ist nicht ungewöhnlich für sehr kranke Patienten, vorübergehend das Zeitgefühl zu verlieren. Wie fühlen Sie sich jetzt? Irgendwelche Benommenheit, Übelkeit oder Schmerz?" Ellie schüttelte den Kopf, legte das Baby auf ihren Schoss und sah so niedergeschlagen aus, dass es Samuel weh tat, "Sechs Tage", murmelte sie. "Sie haben sich sechs Tage lang um mich gekümmert." Ihre Augen wurden groß, als sie hinzusetzte: "Und Sie haben auch Daniel versorgt. Sie haben ihn gewindelt, ihn zu mir gebracht, haben ihn nachts gewiegt, wenn er unruhig war. Sie haben mir Suppe und warmen Tee gegeben, und Sie haben mich mit dem Schwamm gewaschen, und Sie haben ... Sie haben ..." Ihre wunderbar hohen Wangenknochen färbten sich blutrot. "Das alles war kein Traum, nicht wahr? Das ist alles wirklich geschehen." "Ja."
Die Farbe wich so schnell aus ihrem Gesicht, wie sie gekommen war. Ellie holte tief Luft, ehe sie atemlos die nächste Frage stellte: "Weiß irgend jemand, dass ich hier bin?" "Nein, es tut mir leid. Es war mir nicht möglich gewesen, Kontakt zu irgend jemandem aufzunehmen." Als sie die Luft hörbar ausstieß, nahm Samuel an, dass sie darüber bestürzt war, und um sie zu besänftigen, setzte er schnell hinzu: "Der Sturm sollte sich nächste Woche gelegt haben. Nun, da Sie sich so viel besser fühlen, kann ich Sie auch allein lassen, um mich zur nächsten Funkstation auf den Weg zu machen und ... '' "Nein!" Das Nein kam so heftig heraus, dass es Samuel verblüffte. "Ich meine, das ist absolut nicht nötig." Samuel bemerkte, dass sie seinem Blick auswich. "Ihre Familie muss sich halb zu Tode um Sie sorgen." "Daniel und ich haben keine Familie", murmelte Ellie und zupfte nervös an einem losen Faden in der Babydecke. "Bestimmt wird der Vater des Babys ..." Ellie fiel ihm ärgerlich ins Wort. "Er hat in unserem Leben nichts zu suchen." "Wirklich schade." So etwas wie Ärger kam in Samuel auf, weil das Kind keinen Vater haben würde. Aber er unterdrückte das Gefühl schnell, denn es ging ihn natürlich nichts an. Doch so ganz gelang es ihm nicht. "Was ist mit Ihren Freunden?" Als Ellie den Kopf schüttelte, betrachtete Samuel sie aufmerksam. "Sie sagten doch, dass Sie sich auf dem Wege zur Hütte von Freunden verirrt hätten." Ellie befeuchtete wieder ihre Lippen. "Diese Freunde haben mich gar nicht erwartet. Das heißt, ihre Hütte ist im Augenblick unbewohnt. Die Besitzer bleiben den Winter über in Palm Springs. Sie haben mir den Schlüssel gegeben und mich gebeten, dort nach dem Rechten zu sehen." "Ach so." Er wunderte sich über ihre plötzliche Nervosität. "Was ist mit Ihrem Arbeitgeber?" Ellie blickte abrupt hoch. "Mein Arbeitgeber?" "Ja, das Gasthaus in Sky Mountain." Ein Anflug von Schuldgefühlen ließ ihn wegschauen. "Ich habe einen Lohnstreifen in Ihrem Rucksack gefunden." "Oh." Dass sie auf seine Mitteilung nicht gereizt reagierte, nahm Samuel dankbar zur Kenntnis. "Ich arbeite dort nicht mehr." Das klang durchaus sinnvoll. Die meisten Frauen traten den Mutterschaftsurlaub während der letzten Wochen ihrer Schwangerschaft an. Trotzdem, der Lohnstreifen war auf den Tag vor ihrer Ankunft in seiner Hütte datiert worden. Doch bevor Samuel sie danach fragen konnte, hob Ellie den Kopf und schnupperte. "Dieser Duft", flüsterte sie. "Dieser wunderbar harzige Duft. Ich dachte erst, ich hätte nur davon geträumt. Was ist es?" "Siedende Zedernrinde. Sie erweitert die Bronchien und erleichtert das Atmen." "Sie sind Arzt, nicht wahr?" Samuel zog die Augenbrauen zusammen. "Nein", antwortete er. "Ich bin mal Sanitäter bei einer Rettungswache gewesen." Mit zur Seite gelegtem Kopf betrachtete Ellie ihn auf seltsam mitfühlende Weise. "Gewesen?" Das war kein Thema, auf das Samuel eingehen wollte. "Sie haben jetzt bestimmt Hunger." Sie zögerte einen Moment, dann lächelte sie traurig, als ob sie seinen Schmerz herausgefühlt hätte, aber seine Zurückhaltung respektierte. "Ja, ich bin wirklich am Verhungern." "Gut." Samuel erhob sich und ging um Baloo herum, der mit der Schnauze auf dem Boden vor dem Bett ausgestreckt lag und wachsam jede Bewegung seines Herrn und der fremden Frau verfolgte.
Ellie lächelte auf den Hund herab, der sogleich aufstand und sich vor sie hinstellte. "Mein Held", murmelte sie und strich ihm über das Fell. "Ich bin dir ein riesiges Steak schuldig." Der Jagdhund legte eine leicht rheumatische Pfote neben sie auf das Bett, schnaufte verzückt und brachte den Kopf so unter ihre Finger, dass sie ihn hinter den Schlappohren massieren konnte. Als Ellie zu Samuel hochblickte, stellte sie überrascht fest, dass er mit leuchtenden Augen auf das schlafende Kind in ihrem Schoss schaute. Sogar jetzt, wo er sich für den Tag noch nicht frischgemacht hatte, war er ein gutaussehender Mann. Seine ausgeprägten Gesichtszüge waren wie von einem Bildhauer geformt. Feine Fältchen zogen sich um seine Augen und um seine ungewöhnlich vollen Lippen, und sein stoppeliges Kinn wirkte sehr energisch. Aber es waren vor allem seine Augen, die sie so sehr gefangennahmen ... Sie waren groß und tiefblau. Ellie erinnerte sich an diese Augen. In ihren Träumen hatten sie sie besorgt gemustert, mit Wärme auf sie herabgesehen oder sie entschlossen angeblickt. Sie hatte diesen Augen in ihren Träumen vertraut und vertraute ihnen noch immer. "Sie sind mein Held, Samuel.'' Ellie brachte es nur mühsam heraus, weil sich in ihrer Kehle ein Kloß gebildet hatte. "Ich weiß nicht, was ich ... was wir getan hätten, wenn es Sie nicht gegeben hätte." Dieser von Herzen kommende Dank überwältigte Samuel. Es war offensichtlich, dass er es nicht gewohnt war, für seine Taten gerühmt zu, werden. Zumindest machte es ihn befa ngen. Sein Lächeln war aufgesetzt, und er wirkte nervös. "Um es gleich auf den Punkt zu bringen ... Sie hätten sich Ihr Frühstück eigentlich selbst heißmachen sollen, aber da nur ich allein mit dem griesgrämigen alten Herd zurandekomme, werde ich erst mal das Kochen übernehmen." "Sie brauchen mich nicht mehr zu bedienen. Ich fühle mich wirklich wieder gut." Ein listiges Glitzern trat in seine Augen. "Wenn das so ist ... okay. Da drüben liegen ein halbes Dutzend Windeln, die alle gewaschen werden müssen, der Vorrat an Feuerholz ist uns so gut wie ausgegangen, der Fußboden müsste dringendst gewischt werden, und sollten Sie noch dazu kommen, das Mittagessen vorzubereiten, dann vergessen Sie bitte nicht, dass ich eine besondere Vorliebe für Rostbraten habe. Aber ein Hackbraten würde es auch tun." Ellie starrte ihn eine ganze Weile verwirrt an, dann brach sie in Lachen aus. "Sind Sie sicher, dass ich nicht auch noch den Hund baden sollte?" Baloo fühlte sich ganz offenbar angesprochen, denn in seine Augen trat ein beunruhigter Blick. "Nur wenn Sie Zeit dazu finden", erwiderte Samuel, als der Hund aus dem Raum schoss. "In der Zwischenzeit lege ich Ihren Sohn zum Schlafen hin, damit Sie frühstücken können. Bei dem Tagesplan, den Sie vor sich haben, brauchen Sie die Nahrung." Gekonnt nahm er das schlafende Kind auf den einen Arm, während Ellie sich bequem in die frisch aufgeschüttelten Kissen zurücklehnte. Sie beobachtete Samuel, als er mit ihrem winzigen Sohn, der in seiner Armbeuge lag, zum gemütlichen Wohnbereich schlenderte. Dieser Mann war schon ein seltsames Phänomen: Einerseits fühlte er sich in der Abgeschiedenheit seiner Berghütte wohl, andererseits ließ er sich nicht durch die plötzliche Gegenwart zweier Fremder aus der Ruhe bringen, von denen einer ein neugeborenes Baby war. Es war fast ein Widerspruch, dass ein Mann, der zweifellos seine Privatsphäre schätzte, diese sofort zugunsten anderer aufgab, ohne auch nur eine Spur von Verärgerung oder gar Verbitterung dabei zu empfinden. Die meisten Menschen hätten sich nicht so selbstlos verhalten. Und wieder erkannte Ellie instinktiv, dass Samuel Evans anders als die anderen war. Er war zweifellos ein sehr besonderer Mann. Sie beobachtete ihn fasziniert, bis er hinter dem Ofen aus ihrer Sicht verschwand. Einen Moment später kam er wieder hervor und trug etwas, das ein Korb auf Beinen zu sein schien.
"Ich dachte mir, dass Daniel bestimmt am liebsten sein eigenes Bettchen hätte", sagte Samuel als Antwort auf ihren neugierigen Gesichtsausdruck. "Und dafür kommt entweder dies hier oder die Besteckschublade in Frage." Er setzte den Korb neben Ellies Bett ab, nahe genug, dass sie ihn mit der Hand erreichen konnte, aber nicht nahe genug, dass sie hineinsehen konnte. "Eine Wiege", flüsterte Ellie und staunte über den perfekt ge flochtenen Korb in der Form eines ausgehöhlten Eis, der auf gekreuzten Beinen aus dicken Zweigen befestigt war. "So etwas Pfiffiges habe ich noch nie gesehen. Wie haben Sie das gemacht?" Samuel zuckte die Schultern. "Hab nur ein paar abgeschälte Zedernzweige zusammengeflochten, das ist alles. Meine Mutter hat es mir beigebracht." Ellie spitzte die Ohren bei diesem persönlichen Hinweis. "Ihre Mutter?" "Meine Familie hat früher die Sommer hier verbracht." Samuel lächelte, als ob er sich an etwas sehr Hübsches erinnerte, und fuhr mit der Hand über den adretten Hand der Wiege. "Mutter kam nie mit uns zum Fischen und blieb fast den ganzen Tag über allein in der Hütte. So brachte sie sich selbst das Korbflechten bei, weil ihr ein ganzer Wald vor der Tür das Material lieferte. Sehr bald kamen uns die vielen Körbe und Matten zu den Ohren wieder heraus, aber ich muss zugeben, dass Mutter ganz schön gut darin war." "Verbringt Ihre Familie noch immer die Sommer hier?" "Nein. Sie sind vor einigen Jahren, nach Florida gezogen, und mein Bruder lebt in New York," "Das ist traurig", flüsterte Ellie. "Wahrscheinlich vermissen Sie Ihre Familie sehr." "Sie sind glücklich dort, wo sie sind. Ich besuche sie, wenn ich es kann." Ellie zögerte, dann riskierte sie es. "Es ist wahrsche inlich nicht leicht für. Sie, sich einfach freizunehmen. Ich meine, von Ihrem Job. Sanitäter kommen doch bestimmt nicht so leicht weg." Als Samuel nichts darauf erwiderte, wagte sie sich weiter vor. "Aber natürlich, Sie haben ja schon gesagt, dass Sie gar nicht mehr als Sanitäter arbeiten. Vielleicht haben Sie in Ihrem jetzigen Beruf ja flexiblere Arbeitszeiten?" Anstatt darauf einzugehen, ging Samuel neben der Wiege in die Hocke. "Das da ganz unten ... sehen Sie? ... das sind Kufen. Sie müssen der Wiege nur einen leichten Stoß versetzen." Er zeigte es ihr, und die Wiege schaukelte sanft. "Daniel mag das. Das Schaukeln scheint ihn zu besänftigen." Ellie sah Samuel mit schiefgelegtem Kopf an. "Ich habe das Gefühl, Sie möchten über Ihren Job lieber nicht reden." Er kam aus der Hocke hoch, rieb die Handflächen aneinander und warf einen Blick in Richtung Küche. "Ich kümmere mich jetzt am besten um das Essen." Noch ehe Ellie darauf reagieren konnte, war er bereits auf der anderen Seite der Hütte. Gleich darauf hörte sie das Scheppern eines Kochtopfs und das Strömen von Wasser aus dem Hahn. Sie lehnte sich plötzlich erschöpft zurück in die Kissen. Ihr war, als schwebte sie, und dieses Empfinden lullte sie in einen leichten Schlaf ein. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Samuel mit einem Tablett neben dem Bett. "Meine Güte", murmelte sie benommen und setzte sich auf. "Das ging aber schnell." Er stellte das Tablett auf ihren Schoss. "Es gibt noch mehr davon, wenn Sie wollen." Ihre Augen wurden groß beim Anblick der größten Schüssel mit Haferflockenbrei, die sie je gesehen hatte, dazu gab es gebutterten Toast und ein riesiges Glas Milch. "Wo haben Sie denn bloß die Milch her?" Sein Lächeln war liebenswert. "Wenn man in den Bergen überwintern will, erfordert das gewisse Überlegungen. Ich mag Milch, aber da hier Monate vergehen, ehe man wieder in einen Laden kommt, decke ich mich vor allem mit Trockennahrung ein und füge Wasser hinzu. Es hört sich schlimmer an, als es eigentlich ist." Er rieb die Handflächen aneinander, was ein Zeichen dafür war, dass er sich weiterer Arbeit zuwenden wollte. "Der Wind kommt
wieder auf. Ich muss das Feuerholz hereinbekommen, ehe der Sturm losbricht. Es dauert nur ein paar Minuten. Kommen Sie allein zurecht?" "Natürlich", murmelte Ellie und hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie so viel von seiner Zeit in Anspruch nahm. "Bitte, tun Sie das, was Sie tun möchten. Ich komme schon klar." Samuel nickte, drehte sich um, ging zur Tür, und auf dem Weg dahin nahm er seine Lederjacke vom Wandhaken. Während er sie überzog, fiel Ellie auf, dass es eine andere Jacke war als die, die sie in ihrer lückenhaften Erinnerung glaubte, gesehen zu haben. Diese Lederjacke hing lose an ihm herunter und schien dünner zu sein als die, an die sie sich erinnerte. Als er die Tür öffnete, duckte er sich gegen den Wind und stellte den Kragen auf, genau so, wie sie es in ihren Träumen gesehen hatte. Aber diesmal blitzte kein weißer Schafspelz als Jackenfutter hervor, und das Leder flatterte lose um seine Gestalt. Ellie setzte sich abrupt auf, "Samuel...?" Die Hüttentür fiel zu, und er war weg, Sie stellte das Frühstückstablett neben sich auf das Bett und stand auf. Dann atmete sie tief durch und blickte in die wunderschön geflochtene Wiege hinein. Dort entdeckte sie genau das, was sie erwartet hatte ... ihr Baby, in den weichen Schafspelz geschmiegt. Samuel hatte das, was ihn warmhielt und ihm Schutz gegen die eisige Kälte gab, aufgeopfert, damit das Kind einer Fremden es noch behaglicher hatte. Diese Geste rührte ihr Herz und brachte Tränen der Dankbarkeit in ihre Augen. Samuel Evans war wahrhaftig ein außergewöhnlicher Mann. "Sieht aus, als ob wir diesmal Glück hätten", wisperte sie ihrem schlummernden Sohn zu. "Hier werden sie uns nicht finden, mein Liebling. Wir sind in Sicherheit." Tränen rannen ihr über die Wangen. "Wir sind in Sicherheit."
3. KAPITEL
Auch die nächsten zwei Tage verbrachte Samuel damit, Ellie zu versorgen, während ein neuer Schneesturm über die Sierra Nevada tobte. Am dritten Tag wurde die graue Düsternis schließlich durch glitzernden Sonnenschein vertrieben. Samuels Stimmung änderte sich. Hatte er sich vorher fürsorglich und ernst gegeben, so schien er jetzt unruhig und voller Vorfreude. Er beeilte sich mit dem Frühstück und warf sehnsüchtige Blicke aus dem Fenster, als ob er fürchtete, dass der blaue Himmel verschwinden würde, wenn er zu lange wartete. Sogar Baloo zeigte Unruhe. Er konnte es offensichtlich kaum erwarten, im Schnee ausgiebig herumzutollen. "Warum lassen Sie nicht einfach alles stehen? " fragte Ellie, als Samuel das Geschirr abwaschen wollte. "Das schöne Wetter hält bestimmt nicht lange an." Samuel lächelte verlegen. "Wahrscheinlich haben Sie recht", erwiderte er. "Es wäre dumm, wenn ein neuer Sturm hereinbrechen würde, noch ehe ich den Pfad vom Schnee freigeschaufelt habe. Der Schnee liegt auch ziemlich dick auf dem Dach, und das ist gar nicht gut für die Tragepfeiler." "Also, dann nichts wie los. Das Dach über unserem Kopf hat Vorrang vor dem Abwasch." Sofort trat Samuel von der Spüle zurück, trocknete die Hände an seinen Jeans und umschmiegte zärtlich Ellies Gesicht. "Kommen Sie und Daniel denn allein zurecht?" fragte er. Es fiel ihr sehr schwer, die kribbelnde Hitze, die in ihr aufstieg, und die damit verbundenen Gedanken zu verbergen. "Natürlich kommen wir zurecht." Und um diese Antwort auch noch zu bestärken, lächelte sie ihn zuversichtlich an, legte ihre Stricksachen zur Seite, lehnte sich in die Kissen zurück und faltete die Hände im Schoss. "Ich bleibe in der Nähe", sagte Samuel. "Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich einfach." "Daniel und mir wird es an nichts fehlen, Samuel. Bitte, tun Sie das, was Sie tun würden, wenn wir nicht hier wären." "Wenn Sie das wirklich so meinen." "Ich meine es so." Ehe er sich umdrehte, schenkte er ihr ein Lächeln, für das Ellie glattweg ihr letztes Hemd gegeben hätte, dann durchquerte er den Raum, zog einen dicken Wollpullover an und schnappte sich seine ungefütterte Lederjacke. Ein heftiger kalter Windstoß fegte in die Hütte, als Samuel die Tür öffnete. Baloo schoss nach vorn. Mann und Hund fielen fast übereinander, als sie sich zur gleichen Zeit durch die enge Öffnung zwängten. Baloo gewann. Samuel stieß einen unterdrückten Fluch aus, warf Ellie einen entschuldigenden Blick über die Schulter zu und stolperte hinaus. Sobald die Tür zufiel, warf Ellie die Bettdecke zurück und suchte mit den Füßen nach dem Boden. "Ah." Sie stand auf und streckte sich ausgiebig. Himmlisch, einfach himmlisch. Bisher hatte Samuel sie bei jedem Schritt überwacht, als ob er die Aufsicht über eine zerbrechliche Achtzigjährige auf einer Waldwanderung hätte. Ellie hatte mittlerweile so viele Tage im Bett verbracht, dass ihre Kehrseite ganz taub war. Es war einfach herrlich, sich strecken zu können und sich seiner eigenen Kraft wieder bewusst zu werden. Freiheit war so etwas Wunderschönes! Fröhlich vor sich hinsummend, huschte sie zum Fenster und musste gegen das fast grelle Leuchten des Sonnenscheins auf dem frisch gefallenem Schnee blinzeln. Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, war sie ganz überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot. Der Schnee lag so hoch, dass ganze Baumstämme von ihm verborgen waren. Offensichtlich hatte Samuel mittlerweile die Veranda vom Schnee befreit und dazu den Pfad, der zur Ostseite der Hütte führte, wo, wie Ellie annahm, das Brennholz aufgestapelt war.
Er hatte so viel für sie und Daniel getan, dass sie nur tiefe und aufrichtige Dankbarkeit empfinden konnte. Samuel. Der Name passte zu ihm. Rau und doch sanft, kraftvoll und doch empfindsam. Er gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Fast genauso wie die abgeschieden liegende Hütte sie ihr gab. "Oh, Daniel", flüsterte sie, obwohl der Junge sie gar nicht hören konnte. Er lag friedlich schlummernd in seiner kunstvoll geflochtenen Wiege. "In meinem ganzen Leben hab ich noch nie so viel Schnee gesehen. Nicht einmal ein Motorschlitten würde durch diese Schneewehen durchkommen." Sie lächelte zufrieden. Dieses Versteck war perfekt, absolut perfekt. Niemand konnte sie hier erreichen. "Hier in den Bergen", sang sie leise, "bei Eis und Schnee, bist du sicher, niemand tut dir weh ..." Sie unterbrach sich und lauschte. Baloos entferntes Bellen erinnerte sie plötzlich daran, dass Samuel nicht der einzige war, der Arbeit zu verrichten hatte. Sie schlüpfte schnell in ihre Schuhe und ging in die Küche, um das Geschirr abzuwaschen und die Arbeitsfläche zu säubern, bis sie blitzeblank war. Dann öffnete sie die grünlackierten Türen, die von der Küche abgingen. Hinter der einen lag zu Ellies großer Freude eine rie sige Vorratskammer, in der sich genug Nahrungsmittel für die nächsten Monate befanden. Die andere Tür führte in eine von feinem Maschennetz gegen die Insekten umschlossene Veranda, auf der eine Wäschemangel aus den dreißiger Jahren stand, außerdem ein mit Propangas gespeister Tiefkühler, der bis zum Rand mit vom Metzger eingepacktem Fleisch gefüllt war. Ganz eindeutig hatte Samuel vor dem Frühjahr keinen Ausflug zum nächsten Lebensmittelladen eingeplant. "Perfekt", murmelte Ellie wieder. Die Dinge könnten nicht besser laufen, wenn sie sie selbst geplant hätte. Sie spähte durch das Maschennetz nach draußen und sah unter einer dicken Schneedecke ein Dach hervorlugen, das das Dach eines kleinen Gebäudes zu sein schien. Es musste eine Art Schuppen sein, der unge fähr hundert Meter von der Hütte entfernt stand. Was immer es auch war, es würde Stunden dauern, einen Weg dorthin freizuschaufeln. Fröstelnd kehrte sie zurück in die warme Hütte mit ihren lackierten Kiefernholzwänden und dem lodernden Feuer im schwarzen Eisenofen. Sie blickte sich neugierig um und entdeckte dann die Leiter zum Dachboden. Jeden Abend hörte sie Samuel diese Leiter hinaufklettern, jeden Morgen kam er dann wieder herunter. Manchmal hörte sie ihn dort oben und stellte sich vor, wie er sich in der Dunkelheit bewegte. Er war unglaublich männlich. Natürlich wäre ein Mann, ob männlich oder nicht, das letzte, was Ellie in ihrem Leben brauchen würde. Dennoch brannte sie darauf, einen heimlich Blick in Samuels private Welt zu werfen. Sie schlenderte zur Treppe, fuhr mit den Fingern über das raue Holz und sah sich schuldbewusst um, als ob sie erwartete, dass Samuel plötzlich in der Tür auftauchte und "Aha!" schrie. Das beruhigende schabende Geräusch von der Schneeschaufel auf dem Dach deutete jedoch darauf hin, dass dies nicht sehr wahrscheinlich war. Ellie hatte nicht ernsthaft vor, herumzuschnüffeln. Sie wollte sich nur ganz schnell und kurz in Samuels Schlafquartier umschauen. Das erste, was sie dort sah, war eine Wäscheleine, auf der ein halbes Dutzend Windeln zum Trocknen hingen. Ellie stand nun auf der obersten Sprosse der Leiter. Sie war überrascht und sehr dankbar, gleichzeitig kam sie sich schrecklich dumm vor. Während der letzten zwei Tage, seitdem sie tagsüber nicht mehr schlief, hatte sie gedankenlos frische Windeln gebraucht, ohne sich groß darum zu kümmern, woher der frische Stapel immer wieder kam. Sogar jetzt, wo sie die Erklärung dafür direkt vor Augen hatte, konnte sie nicht fassen, was sie sah. Nur wenige Männer würden sich überwinden, Windeln zu waschen. Und noch weniger Männer würden es tun, ohne zumindest ein bisschen Anerkennung für ihre Mühe zu erwarten. Nicht nur, dass Samuel davon kein Wort hatte verlauten lassen, er hatte sich offensichtlich die Zeit so eingeteilt, dass er diese Arbeit
erledigte, während sie schlief. Sie hatte kein einziges Mal mitbekommen, dass er Daniels Sachen wusch oder die nasse Wäsche nach oben trug, um sie dort aufzuhängen. Ein seltsames Gefühl überkam Ellie. Es war kein behagliches Gefühl. Als sich zuletzt ein Mann besonders angestrengt hatte, ihr gegenüber freundlich zu sein, hatte er mit seiner Freundlichkeit ein bestimmtes Ziel verfolgt und damit fast ihr Leben zerstört. Diese Erfahrung hatte Ellie verändert. Sie war nun nicht mehr so gutgläubig und naiv wie damals, sie glaubte nicht mehr sofort alles, ließ sich von ihrem ersten Eindruck nicht mehr in die Irre führen. Natürlich war sie für Samuels Aufmerksamkeiten dankbar, aber es machte sie auch argwöhnisch. Güte und Liebenswürdigkeit konnten blind machen, konnten süchtig machen. Im Nu hatte man sich so daran gewöhnt, dass man völlig willenlos wurde und gar nicht merkte, wie man immer mehr in eine Abhängigkeitsposition geriet. Natürlich musste das alles noch lange nicht heißen, dass auch Samuel Evans eigennützige Motive hatte. Andererseits wiederum war es durchaus möglich ... Ellie musste vorsichtig sein. Sie hatte keine andere Wahl. Bevor sie die Leiter wieder herunterstieg, ließ sie noch einmal kurz den Blick schweif en und entdeckte dabei mehrere Kartons in der Ecke neben einem Werkzeugkasten, einem Fischnetz und ein paar Fischruten. Zwei Kojen waren gegen die Außenwand geschoben. Auf der einen waren Bücher, zusammengelegte Kleider, ein Matchbeutel und ein ganzer Haufen von nicht weiter identifizierbarem Trödel angehäuft. Auf der anderen Koje war ein Schlafsack ausgerollt. Es gab noch ein Kopfkissen, und das war alles. Ellie dachte an das hübsche Bett, das sie in Beschlag genommen hatte. Hier oben dagegen war es ungemütlich und staubig. Ernüchtert kehrte sie in die Küche zurück, um ihren Teil der Hausarbeit zu übernehmen. Es gehörte sich einfach so, dass sie es tat. Alles andere wäre unhöflich. Aber Ellies Plan ging sogar noch darüber hinaus. Sie würde die Lektion, die sie im Leben hatte bitter lernen müssen, jetzt zu ihren Gunsten einsetzen. Ellie nahm sich vor, Samuel zu umsorgen, ihn mit ihrer Freundlichkeit und Fürsorge vollkommen zu überwältigen. Von jeder kleines Aufmerksamkeit, die sie ihm zukommen lassen wollte; sollte er so abhängig werden, dass er in ihr schließlich viel mehr sehen würde als bloß einen netten Gast, der ihm den Alltag ein wenig erleichterte. Durch all den Kummer, den sie in ihrem Leben durchleiden musste, hatte sie zumindest gelernt, wie sie einem Mann unentbehrlich wurde. Und nur so konnte sie erreichen, dass Samuel sie und ihr Kind nicht gleich wieder wegschickte. Samuel lehnte sich auf die Schneeschaufel, zog mit den Zähnen einen Handschuh aus und steckte ihn in die Jackentasche. Er bewegte seine steifen Finger und wärmte die Hand mit seinem Atem. Wieder zogen Wolken auf, und er hatte, erst die Hälfte des Dachs vom Schnee freigeschaufelt. Er war völlig erschöpft, diese Arbeit war er nicht mehr gewohnt. Außerdem hatte er Hunger. Ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigte ihm, dass es bereits über die Mittagszeit hinaus war. Ellie konnte mittlerweile bestimmt ebenfalls etwas zu essen gebrauchen. Er überlegte gerade, ob er noch eben ein Stück des Daches vom Schnee befreien sollte, bevor er sich ans Kochen machte, als eine melodische Stimme von unten seine Aufmerksamkeit erregte. "Juhu ... Hallo, Sie da oben." Samuel legte die Schaufel ab und bewegte sich vorsichtig auf den rutschigen Dachziegeln, bis er die Stufen, die zur Veranda hinaufführten, sehen konnte. Es war keine Einbildung. Ellie stand dort unten und blinzelte zu ihm nach oben. Mit ihren rosigen Wangen und dem zerzausten Haar sah sie aus, als ob sie gerade aus dem Bett ihres Liebsten gekommen wäre. Schön. Sexy. Verführerisch. Samuel starrte auf sie herunter, war über ihre äußerliche Veränderung genauso verblüfft wie über seine eigene körperliche Reaktion darauf. Sie lächelte breit, als sie ihn sah. "Hallo, Schneemann, bereit fürs Mittagessen?"
Er verdrängte die erotischen Fantasien, die in ihm aufstiegen, und bemühte sich, gelassen zu wirken. An ihren funkelnden Augen erkannte er jedoch, dass es ihm nicht gelungen war. Ellie hatte ihn durchschaut, und es belustigte sie. Langsam wurde ihm heiß. "Ich hatte eigentlich vor, hier noch mehr zu Schaffen, aber wenn Sie hungrig sind, mache ich Ihnen etwas zu essen." "Och, ich bin tatsächlich recht hungrig, aber Sie müssen nicht ... Ups!" Sie glitt auf den Stufen aus und fiel lachend nach hinten in den weichen Schnee. Baloo kam von irgendwoher angerast und setzte seine schneeigen Vorderpfoten auf ihre Schultern. "Okay, okay, nun ist's genug", rief sie, als der Hund ihr Gesicht eifrig ableckte. "Ja, mein Lieber, ich hab' dich nicht vergessen. Ich hab' sogar etwas ganz Besonderes für dich." Baloo ließ sofort von ihr ab und setzte sich auf die Hinterpfoten, dann schnupperte er und schoss auf die Veranda zu und aus Samuels Blickfeld. Samuel hörte noch, wie die mit einer Sprungfeder versehene Tür sich mit einem Knarren öffnete und im nächsten Moment mit einem Knall zuschlug. Immer noch lachend, wischte Ellie sich über das Gesicht und klopfte den Schnee von ihrer Kleidung. "Ganz schön stürmisch, der Gute, nicht?" Meine Güte, war sie schön. Samuel wunderte sich, warum er das nicht schon vorher gemerkt hatte. Natürlich war ihm nicht verborgen geblieben, dass Ellie überaus reizvoll war. Aber so war sie ihm noch nie erschienen. Er hatte seine Freude daran, Wie ihre Augen aufblitzten, wenn sie lachte, und daran, wie fröhlich ihr Lachen klang. Ellie legte den Kopf schief und überschattete mit der Hand die Augen gegen die Sonne, die zwischen den dahinziehenden Wolken immer wieder auftauchte. "Ich habe es doch eben schon gesagt, Sie müssen heute kein Essen machen, weil es bereits auf dem Tisch steht. Sie müssen nur noch vom Dach herunterkommen." Samuel blinzelte, eigentlich mehr um seine erotischen Vorstellungen auszuschalten, als um klarer sehen zu können. Auf einmal wurde ihm bewusst, was sie gerade gesagt hatte. "Sie haben Mittagessen gemacht?" "Ja, und ohne mich groß loben zu wollen, es ist mir auch gelungen. Sie sollten sich lieber beeilen, ehe es kalt wird." "Kalt wird", wiederholte er, während er sich wieder an das Knarren der Tür erinnerte, als Baloo in die Hütte hineinlief. "Sie haben es doch wohl nicht wortwörtlich gemeint, als sie sagten, dass das Essen schon auf dem Tisch steht, nicht wahr?" Ellie zog die Stirn kraus. "Natürlich habe ich es so gemeint. Warum?" "Ach du Schreck." Mit einem Ruck zog Samuel sich den zweiten Handschuh aus und ging auf die Leiter zu. Er war noch nicht ganz unten, als er Ellies Schritte auf der Veranda hörte. Wieder knarrte die Schwingtür, und dann kam ein Aufschrei. Samuel war mit einem Satz von der Leiter gesprungen und in die Hütte geeilt, wo er genau das sah, was er befürchtet hatte. Baloo hockte mit den Hinterpfoten auf dem Stuhl und stützte sich mit den Vorderpfoten auf den Tisch, sein Maul hatte er in die Spaghetti gesteckt und sie so schnell aufgesogen, dass die Pastafäden nur so um seine Schnauze sausten. Ellie stand neben dem Ofen, hatte beide Hände vor den Mund geschlagen und war völlig regungslos, wie erstarrt. "Verdammt, Loo", knurrte Samuel, "schau, was du getan hast." Baloo guckte hoch und leckte sich die Soße vom Barthaar. "Böser Hund!" Samuel drohte ihm mit dem Finger und zeigte dann zu Baloos Schlafecke. "Abmarsch. Aber sofort!" Gehorsam hopste Baloo vom Stuhl herunter und trottete in seine Ecke, wo er sich auf seiner schäbigen Decke zusammenrollte, ein klebriges rotes Kinn auf die Vorderpfoten legte und außergewöhnlich zufrieden mit sich selbst zu sein schien. Samuel ging zu Ellie, die mit dem Rücken zu ihm stand, legte eine tröstende Hand auf ihre bebenden Schultern und drängte sie, sich zu ihm umzuwenden. Sie tat es, aber sie hatte ihr
Gesicht mit beiden Händen bedeckt, und sie gab leise, keuchende Laute von sich, was ihm fast das Herz brach. "Oje. Bitte weinen Sie doch nicht. So schlimm ist es gar nicht, wirklich nicht. Ich schlage uns schnell ein paar Eier in die Pfanne und ..." Ellie hob den Kopf, holte schnaufend tief Luft und sackte wieder zusammen. Samuel machte verdutzt einen Schritt zurück. Sie weinte nicht, überhaupt nicht. Nein, sie lachte, konnte sich vor Lachen nicht mehr halten, konnte kaum atmen, geschweige denn sprechen. Sie konnte nur auf die klebrige Schnauze des Hundes zeigen, der soviel Spaghetti gefressen hatte, dass sie ihm förmlich zu den Ohren wieder herauskamen. Ellie hielt sich den Bauch vor Lachen, und Tränen rannen ihr die Wangen herunter. Samuel hätte sie am liebsten geküsst. Zum Mittagessen gab es mit Thunfisch belegte Brote. Gleich darauf ging Samuel wieder an die Arbeit, um das Dach vom Schnee zu säubern, während Baloo auf seinem Lager schnarchte und Ellie in der Hütte herumflitzte, um einen ihrer Pläne in die Tat umzusetzen. Sie hatte mittlerweile ausgeknobelt, wie die altmodische Wäschemangel zu gebrauchen war, und als Samuel sich kurz vor Sonnenuntergang müde in die Hütte schleppte, hing dort frisch gewaschene Wäsche auf der Leine, und ein mit Knoblauch gespickter Braten schmorte im Topf auf dem Herd. Ellie glättete das saubere Karohemd aus Flanell, das Samuel ihr geliehen hatte, fuhr sich zerstreut mit den Fingern durch das frisch gebürstete Haar und lächelte ihn fröhlich an. "Ich hoffe, Sie sind hungrig. Ich habe den größten Braten aus dem Tiefkühlschrank herausgefischt und genug Soße gemacht, um damit einen kleinen Fluss zum Überlaufen zu bringen." Samuel stand da wie angenagelt. Sein Blick wanderte von Ellie zu dem Topf auf dem Herd und dann zu Baloo, der gähnte und sich auf seinem Lager streckte. "Das wäre wirklich nicht nötig gewesen." "Ich wollte es aber." "Sie sollten sich nachmittags ausruhen." Ellie schluckte einen Anflug von Ärger herunter und zeigte auch weiterhin ihr sonniges Lächeln. "Ich fühle mich gut. Und Sie haben den ganzen Tag hart gearbeitet. Sie verdienen ein heißes Abendessen." Sie legte den Kopf schief und fügte hinzu: "Außerdem bin ich eine sehr gute Köchin." Ohne ein weiteres Wort zog Samuel die Jacke aus, hängte sie auf den Haken und marschierte in das Badezimmer. Wenig später würde die Dusche voll aufgedreht. Ellie war sich nicht ganz sicher, welche Reaktion sie von ihm erwartet hatte, aber ganz sicher nicht diese. Sie runzelte die Stirn, als Baloo zu ihr herübertrudelte und sich gegen ihren Schenkel lehnte. "Ist er immer so mürrisch vor dem Essen?" Baloo winselte, schob ihre Hand mit der Schnauze an und wurde mit einem befriedigenden Kraulen hinter seinen Ohren belohnt. "Zumindest gibt es einen hier, der meine Kochkünste zu würdigen weiß." Ellie nagte an ihrer Unterlippe und blickte beunruhigt auf die geschlo ssene Badezimmertür. Ob ihre Anwesenheit Samuel wohl allmählich unangenehm wurde? Sie schluckte hart und tätschelte Baloos großen Kopf. "Nun gut", sagte sie dem Tier mit einer Stimme, die nur ein wenig zitterte. "Wir haben nach einem Zufluchtsort gesucht und diesen hier gefunden. Ich kann nur hoffen, dass wir noch ein kleines Weilchen Zeit..." Ein quengeliges Wimmern von der Wiege ließ Ellie aufhorchen. Sie eilte hin und lächelte auf ihren anspruchsvollen Sohn herunter. "Keine Angst, mein Kleiner. Mami lässt es nicht zu, dass dir etwas Böses geschieht." Sie nahm Daniel auf die Arme, summte leise und schmiegte sein seidenweiches Köpfchen an ihre Nackenbeuge. Samuel hatte gesagt, dass es fast ein Wunder sei, wie schnell sich die Lungen des Babys geklärt hätten, und einer altmodischen Waage nach, die eigentlich zum Wiegen für Fische gedacht war, hatte das Baby fast drei Pfund seit der Geburt zugenommen. Daniel gedieh, und Ellie hätte vor Erleichterung weinen können.
Dies hier war der perfekte Ort für ihren Sohn ... der perfekte Ort für sie, denn hier konnte sie ihre Gedanken sammeln und ihre Flucht planen. Eigentlich hatte sie gehofft, mehr Zeit dafür zu haben, aber wenn es nicht möglich war, so würde sie es auch so schaffen, schließlich hatte sie es auch sonst immer irgendwie geschafft. Ellie hatte Übung im Fliehen. Als Kind war sie in ihre eigene Phantasiewelt entflohen, wo die Menschen nett zueinander waren, weil sie es sein wollten. Und nicht, weil sie es aus Eigennutz sein mussten. Nicht, dass Ellie eine trostlose Kindheit gehabt hätte. Im Gegenteil. Sie war geliebt und umsorgt worden. Einen einzigen Makel hatte es allerdings gegeben. Ihre unglückliche Mutter hatte sich in ihrer Selbstlosigkeit das Leben zur Qual gemacht. Ellie hatte nicht vor, ihr darin nachzueifern. Das Leben war kurz, und man sollte es genießen und nicht einfach nur erdulden. Ellie hatte immer Freude am Leben gehabt, hatte immer gern gelacht und ihren Spaß gehabt und war jedem Konflikt ausgewichen, sobald er sich abgezeichnet hatte. Sie kannte sich selbst sehr gut Und konnte sich durchaus eingestehen, dass sie vor Schwierigkeiten davonrannte. Jetzt ging es aber um Leben und Tod. Sie konnte Samuel nicht erzählen, warum sie an jenem Schicksalstag in die Wälder gerannt war. Sie konnte ihm nicht vertrauen, konnte niemandem vertrauen. Dennoch, sie musste es einfach tun. Zum erstenmal in ihrem Leben saß Ellie fest und konnte nicht mehr weglaufen. Und das machte ihr angst. "Möchten Sie noch ein Stück? Wir haben genug davon." Ellie hielt Samuel das Serviertablett hin. Er schüttelte den Kopf und stand vom Tisch auf. "Wie wär's mit Kaffee?" schlug sie statt dessen vor. Er musterte sie einen Augenblick lang. "Das wäre nett." Ellie sprang auf und holte die Kaffeekanne von dem alten Herd. "Ich habe nachgedacht", murmelte sie, während sie den Becher, den Samuel ihr hinhielt, füllte. "Wenn das Wetter es morgen zulässt, könnten wir vielleicht einen Schneemann bauen. Das wäre doch bestimmt lustig. Daniel hat noch nie einen gesehen." Samuel schlürfte den Kaffee und guckte sie über den Becherrand hinweg an. Dann setzte er den Becher ab und blickte eine Weile vor sich hin. "Es ist ein bisschen zu kalt für ein Neugeborenes." "Ach, ich würde Daniel ja auch nicht mit nach draußen nehmen." Ellie setzte die Kaffeekanne auf den Herd zurück und wandte sich wieder dem düsteren Mann zu, der während des ganzen Essens noch kein halbes Dutzend Worte gesprochen hatte. "Wir müssen ihn so unterbringen, dass er aus dem Fenster schauen kann," Samuel blickte nicht hoch, obwohl seine Augenbrauen seltsam zuckten und, wie Ellie meinte, seine Mundwinkel sich zu einem halben Lächeln nach oben zogen. "Daniels Augen haben sich noch nicht weit genug entwickelt, er nimmt im Moment nur Licht und Schatten und einige helle Farben wahr." "Unsinn. Er folgt mit den Augen jeder Bewegung, die ich mache." "Bewegungen kann er ja auch erkennen", stimmte Samuel zu. "Und instinktiv folgt er dem Klang Ihrer Stimme. In diesem frühen Alter ist das Gehör noch um vieles schärfer als die Sicht." "Woher wissen Sie das alles?" "Es ist wissenschaftlich erwiesen." "Aha, Sie sind also Wissenschaftler." "Nein, eigentlich nicht." "Zuerst haben Sie gesagt, dass Sie eigentlich kein Arzt sind, obwohl Sie sich ärztlich betätigt haben. Und nun behaupten Sie, Sie seien kein richtiger Wissenschaftler, obwohl Sie wissenschaftliche Theorien, von sich geben." Ellie lachte in sich hinein, war höchst erfreut darüber, dass sie Samuel endlich zum Sprechen gebracht hatte, auch wenn es nur ein
nichtssagendes Geplänkel war. "Sie wissen auch genau, wie man ein Neugeborenes versorgt. Sagen Sie mir, Mr. Unfassbar, wie viele Babys haben Sie schon großgezogen?" Samuel machte ein betroffenes Gesicht. "Ich habe keine Kinder, wenn das Ihre Frage war." "Entschuldigung", flüsterte Ellie, beschämt darüber, dass sie ihn unabsichtlich gekränkt hatte. "Ihr Privatleben geht mich wirklich nichts an. Ich bin nur von Natur aus ein wenig vorwitzig und geschwätzig." "Wenn ich Kinder hätte", fuhr Samuel ruhig fort, "würde ich auch bei ihnen sein, und das sollte meiner Meinung nach jeder Vater tun, der als solcher bezeichnet werden will." Ellie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Nun hatte sie ein Thema angeschnitten, über das sie wirklich nicht sprechen wollte. "Ich kümmere mich um den Abwasch", murmelte sie und stellte das Geschirr auf dem Tisch zusammen. "Entspannen Sie sich, und trinken Sie Ihren Kaffee." Samuel beobachtete sie nachdenklich, während sie geschäftig hin - und herrannte und die Spüle mit Wasser füllte. "Wo ist Daniels Vater?" fragte er schließlich. Ein Teller klirrte in die Spüle. Ellie zuckte zusammen, legte dann vorsichtig das Steingutgeschirr in das Seifenwasser. "Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er in unserem Leben nichts zu suchen hat." "Das ist Ihre Entscheidung", erwiderte Samuel freundlich. "Ob es Daniels Entscheidung wäre, bleibt dahingestellt. Ein Junge braucht seinen Vater." Ellie biss die Zähne zusammen und packte eine seifige Schüssel so fest, dass sie nur wie durch ein Wunder nicht zersprang. "Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Vater und einem Samenspender." Abrupt schob Samuel seinen Stuhl zurück. "Sie haben sich künstlich befruchten lassen?" Überrascht warf Ellie einen Blick über die Schulter und sah, dass Samuels Frage absolut ernst gemeint war. Sie wand te sich wieder dem Abwasch zu. Sie hasste Lügen und war auch nicht besonders gut darin. Doch die Sache mit Daniels Vaterschaft war ein unerfreuliches Thema, und sie hatte nicht vor, es wieder aufzurollen und von allen Seiten zu durchleuchten. Nein, sie wollte es ein für allemal begraben. Und Samuel hatte ihr soeben die Gelegenheit verschafft, genau das zu tun. Sie räusperte sich, schluckte die Lüge und entschloss sich zu einer vagen Antwort, die viel aussagte und nichts bestätigte. "Das ist etwas sehr Persönliches", murmelte sie und setzte ein abgespültes Glas auf den Abtropfständer. "Ich bin sicher, dass Sie es verstehen, wenn ich darüber nicht reden möchte." Sie hielt den Atem an und wartete. Nach einer Weile sagte Samuel: "Sie haben einen gesunden, hübschen Sohn. Und das ist die Hauptsache." Wieder hörte sie, wie die Stuhlbeine über den Fußboden schabten. Ellie blickte sich um, gerade als Samuel in den Wohnbereich hinüberschlenderte und vor der Wiege stehenblieb. Lächelnd beugte er sich hinunter. "Hey, Kumpel, du bist ja wach." Eine Art Gurgeln war die Antwort, und Samuel freute sich darüber. "Ganz schön gescheit für dein Alter bist du, nicht wahr? Hier, kleiner Mann, lass uns mal deinen Griff testen. Wow, gar nicht so übel. In Null Komma nichts wirst du Feuerholz hacken." Ellie beobachtete die Szene und war berührt von dem väterlichen Stolz, den Samuel dem kleinen Daniel gegenüber empfand. Er war ein guter Mann und vor allen Dingen ehrlich. Sie fand es schrecklich, ihn täuschen zu müssen. Wenn sie nur nicht so furchtbar verzweifelt wäre! "Er hat Hunger." "Hm?" Ellie wurde aus ihren Gedanken gerissen und merkte, dass Samuel sie von der Wiege her scharf beobachtete. "Ach ja, natürlich. Ich bin hier gleich fertig." Sie spülte schnell das Besteck ab, wischte die Spüle sauber, dann trocknete sie sich die Hände an einem Küchentuch ab und beeilte sich, ihren Sohn mit den blanken Äuglein aus der
Wiege zu nehmen. Samuel hatte sich inzwischen auf das Sofa gesetzt und sich ein Buch aus dem Stapel neben dem Couchtisch geholt. Mit dem Sohn auf ihren Armen warf Ellie schnell noch einen Blick auf den Einband des Buches, ehe Samuel es aufschlug. "Immobilienrecht?" Er schaute nach dem Lesezeichen und öffnete das Buch, sagte aber nichts. "Ich habe gesehen, dass Sie auch Bücher über Unternehmensberatung im Bereich der Geldanlage und der Anleihefinanzierung haben. Haben Sie einen Karrierewechsel vor?" Samuel setzte sich bequemer hin und nahm die Augen nicht von der Buchseite, als er sagte; "Ich habe am Nachmittag einen Hubschrauber gehört." Ellie erstarrte und schluckte schwer. Sie hätte darauf nichts erwidern können, auch wenn sie es gewollt hätte. "Es war der Rettungshubschrauber eines Sheriffs." Samuel lehnte sich bequem in die Sofakissen zurück und legte den Fußknöchel auf das angezogene Knie. "Es sah mir ganz nach einer Suchaktion über der Felsschlucht, der Miner's Ravine, aus." Ellie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und legte Daniel auf das Bett, um die Windeln zu wechseln. Ihre Hände zitterten. "Wahrscheinlich halten sie Ausschau nach irgend so einem Waghals, der sich beim Skilanglauf verirrt hat. Das geschieht nicht gerade selten." "Wirklich?" Ein verstohlener Blick bestätigte ihr, dass Samuel das Buch gesenkt hatte und zu ihr herüberstarrte. Sie schaute schnell weg, steckte die feuchte Windel in eine Plastiktasche und schnappte sich eine frische von dem Stoß. "Während meiner Arbeit im Gasthof habe ich zwei bis dreimal in der Woche mitbekommen, dass Rettungsmannschaften hinausgeschickt wurden. Gefährliche Gebiete sind zwar deutlich ausgeschildert, aber es gibt immer Leute, die sich nicht daran halten." Das Sofa quietschte. "Einige Leute sind wohl so." "Ja, einige sind so", flüsterte sie. Trotz der zitternden Finger hatte sie sich nur einmal gestochen, als sie die Windel mit der Sicherheitsnadel befestigte. Dann nahm sie Daniel auf die Arme und setzte sich mit ihm aufs Bett. "Dieser ... Hubschrauber. Nur so aus reiner Neugier ... wie weit war er denn von der Hütte entfernt? Ich meine, ich habe nichts gehört, also kann er ja nicht allzu dicht herangekommen sein." "Miner's Ravine liegt ungefähr zehn Meilen hinter dem Tal." "Oh. Na ja." Ellie räusperte sich wieder, lehnte sich in die Kissen zurück und öffnete die Bluse, um Daniel die Brust zu geben. "Ich hoffe, sie finden, wen auch immer sie suchen." "Bis jetzt haben Sie noch jeden gefunden." Die Warnung in seiner leisen Antwort sandte Ellie einen eiskalten Schauer über den Rücken. Dieser herumkurvende Hubschrauber machte sie nervös. Obwohl sie sich immer wieder vor Augen hielt, dass er zu weit entfernt gewesen war, um eine unmittelbare Bedrohung zu sein. Aber wo würde er morgen oder übermorgen sein? Sie fragte sich, ob Samuel ihre Besorgnis erkannte hatte, aber als sie verstohlen zu ihm hinübersah, hielt er das geöffnete Buch vor sein Gesicht ... ungewöhnlich hoch, wie sie fand, aber hoch genug, um die Sicht auf Ellie beim Brustgeben zu blockieren. Es war eine ritterliche Geste, doch ziemlich unnötig, wenn man die Intimität ihrer ersten Stunden zusammen betrachtete. Von Daniels Geburt erinnerte Ellie sich nur an den besänftigenden Klang von Samuels Stimme, den freundlichen Blick aus seinen blauen Augen. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre sie in jener Nacht gestorben. Und mit ihr Daniel. Schuldgefühle kamen in ihr auf. Seinen selbstlosen tapferen Einsatz vergalt sie ihm nun mit bewusster Täuschung und Irreführung. Eigentlich sollte sie Samuel die Wahrheit sagen, aber sie hatte Angst davor, ihm zu sehr zu vertrauen. Wenn man jemandem vertraute, lieferte man sich ihm aus, man verlieh ihm eine unglaubliche Macht, die, wenn sie missbraucht wurde, vernichtend sein konnte. Tief in ihrem Innersten konnte Ellie jedoch nicht glauben, dass Samuel diese Macht jemals missbrauchen würde.
Aber sie hatte sich von Stanton auch ganz gewiss nicht vorstellen können, dass er sie jemals verraten würde. Wie falsch das gewesen war, hatte sich dann leider auf eine furchtbar grausame Weise erwiesen. Es war nach Mitternacht, als Ellie plötzlich wach wurde. Sie hielt den Atem an, lauschte in die Dunkelheit hinein. Dann hörte sie es, jemand stöhnte, als empfände er große Schmerzen, und keuchte, als hätte er schreckliche Angst. Über ihr vibrierte der Boden, als ob die Koje von Dämonen heimgesucht würde. Ein kehliger Schrei trieb sie aus dem Bett. Offenbar hatte Samuel wieder einen Alptraum, und den heftigen Lauten zufolge war es ein schrecklicher Alptraum. Auf Zehenspitzen lief sie zur Leiter, zögerte, dann stieg sie hinauf, wollte Samuel nur wecken, wollte ihm versichern, dass die Quälgeister nicht wirklich da waren, dass sie nur in seinem Traum existierten. Aber Ellie war noch nicht ganz oben, als ein durchdringender Schrei ihr das Blut in den Adern stocken ließ, so dass sie sich nicht mehr vom Fleck bewegen konnte. Es war der gellende Schrei eines sterbenden Tieres, das wütende Knurren eines Dämons aus der Hölle. Es war der schrecklichste Laut, den sie jemals gehört hatte. Und er war nicht menschlich.
4. KAPITEL
Der Schrei wurde zum Kreischen, dann zu einem wütenden Knurren und wurde begleitet von einem Hö llenlärm von aufjaulendem Geheul. Panik überkam Ellie. Sie umklammerte die Seiten der Leiter so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Erst als der gewöhnlich so abgeklärte Baloo vor Furcht anfing zu bellen und sich unter dem Bett verkroch, wurde Ellie aus der Erstarrung herausgerissen. Sie stieg die wenigen Stufen, die sie die Leiter hinaufgeklettert war, wieder herunter, und zur gleichen Zeit erschien Samuel oben und blickte auf sie hinab. Er benutzte die Leiter gar nicht. Mit einem geschmeidigen Satz war er unten und durchquerte die Hütte. Er hatte nur Boxershorts an. Sein nackter Oberkörper glänzte in dem sanften Glühen des niederbrennenden Feuers hinter dem Ofenfenster. Mit seinen muskulösen Schultern und den schlanken Beinen war er zweifellos der männlichste Mann, dem Ellie jemals begegnet war. Nachdem er unter dem Sofa ein Gewehr herausgezogen hatte, wirbelte er herum. Erst jetzt bemerkte er Ellie. Ihre Blicke begegneten sich. Seine Augen weiteten sich überrascht, ihre waren vor Schock weit aufgerissen, während ihr Herz so laut pochte, dass die schrecklichen Geräusche nicht mehr so schrill klangen. Nur kamen sie nicht von oben, wie Ellie gemeint hatte, sondern von der Veranda her, auf der etwas Schreckliches vor sich ging. Soviel war klar. "So können Sie nicht hinaus. Sie erfrieren ja", stammelte sie. Das Gewehr hielt Samuel schussbereit, drehte sich der Tür zu und zischte: "Bleiben Sie hier." Ein Aufheulen, lauter als das zuvor, ging Ellie durch und durch. "Hilfe, was ist das denn?" Samuel antwortete nicht. Ellie wollte nicht mitten in der Hütte stehenbleiben, sie wollte an Samuels Seite sein. Als er die Hand zum Türknauf ausstreckte, lehnte sie sich vor und flüsterte: "Seien Sie vorsichtig." Erschrocken drehte er sich zu ihr um und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. "Sie folgen nicht gern Anweisungen, nicht wahr?" "Nein, eigentlich nicht." Ellie zuckte zusammen und wich von der Tür zurück, als ein dumpfes Poltern die Wände der Hütte erschütterte. Das entsetzliche Heulen klang jetzt entfernter, aber es war immer noch zu nahe, als dass sie aufatmen konnten. "Dort draußen ist irgend etwas", erklärte Ellie. "Ein Tier oder... oder so etwas," Samuel warf ihr einen vernichtenden Blick zu. "Ach, wirklich?" Ganz offensichtlich beunruhigt, schaltete er das Außenlicht an, öffnete vorsichtig die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus. Ellie, die immer noch hinter ihm stand, war schrecklich nervös. "Was ist denn los? Was geht hier vor sich?" Samuel stieß die Tür noch ein kleines Stück weiter auf und steckte den Kopf hinaus, um eine bessere Übersicht über die nähere Umgebung zu haben. "Es ist doch kein Bär, oder? Ich meine, Bären halten Winterschlaf, stimmt's?" Als Samuel noch immer keine Antwort gab, ließ die Neugier sie ihre Furcht vergessen. Ellie bückte sich und sah unter seinem ausgestreckten Arm selbst hinaus. Zerrissene Stücke von fettigem Zeitungspapier lagen zerstreut auf dem Verandaboden, daneben Reste von Fleischstücken. Ellie hatte die Fleischreste nach dem Essen in Zeitungspapier gewickelt und nach draußen gelegt, um sie am nächsten Tag an die Kleintiere im Wald zu verfüttern. "Oh." Als Samuel langsam die Augen auf sie heftete, zuckte sie bloß hilflos die Schultern und zeigte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Nach einem unterdrückten Fluch blickte er wieder durch den Türspalt. Ellie tat das gleiche.
Jetzt bemerkte sie, dass der untere Teil der Fliegentür zerfetzt war. Sie sah auch mehrere bedrohlich wirkende Schatten im weiteren Umkreis. Einer der Schatten wagte sich bis unmittelbar vor die Fliegentür. Das Tier hob die spitze Schnauze und blickte die menschlichen Wesen neugierig an, und mit genau der gleichen Neugier starrten diese zurück. "Ein Kojote", flüsterte Ellie. Noch bevor sie es ausgesprochen hatte, stieß das Tier ein überraschtes Geheul aus, als ein wütend knurrender Klumpen Pelz hinter dem Tiefkühler auf der Veranda hervorschoss. Der Kojote sprang mit einem Aufjaulen davon, während ein halbes Dutzend Schatten im Mondlicht auseinanderstoben und mit der Schwärze der Nacht verschmolzen. Der knurrende Pelzklumpen sauste herum und richtete schwarze Knopfaugen auf den Spalt der geöffneten Verandatür, hinter der Samuel und Ellie sich duckten. "Meine Güte, es ist nur ein fettes kleines Frettchen", murmelte sie. "Das ist kein verdammtes Frettchen", zischte Samuel. Er stieß die Tür zu und riss Ellie zurück, nur knapp bevor das knurrende Pelztier mit schrillem Schrei die Tür traf, um sie dann mit den Krallen zu bearbeiten. Erstaunt, dass ein Tier von der Größe eines kleinen Frettchens so bösartig sein konnte, stolperte Ellie zurück und hielt sich an Samuels Arm fest. "Tun Sie etwas", flehte sie, als die Tür erzitterte. "Verjagen Sie es." "Wenn es reinkommt, erschieße ich es", erwiderte Samuel ruhig. "Wenn es reinkommt?" Seine Ruhe machte Ellie verrückt. "Lieber Himmel, wollen Sie damit sagen, dass dieses Ding dazu fähig ist, sich durch die Tür zu beißen?" Samuel zuckte die Schultern und nahm das Gewehr in die andere Hand. "Es gibt nur wenig, was ein verstörter Dachs nicht tun kann, wenn er es sich erst mal in den Kopf gesetzt hat." "Ein Dachs?" Ellie starrte auf die erzitternde Tür und verglich das, was sie gemeinhin von diesen Tieren gehört hatte, mit dem, was im Augenblick geschah. Waren Dachse denn nicht gutartige, herumstrolchende Wesen, die mit einem solch wütenden Tier nichts gemeinsam hatten? "Ich dachte, Dachse seien harmlos." "Dachse sind alles andere als harmlos. Ein Dachs dieser Größe kann es sogar mit einem Bären aufnehmen, einen Berglöwen ausnehmen, ohne dabei ins Schwitzen zu kommen, und sich gegen einen Haufen hungriger Wölfe behaupten. Oder Kojoten." Zitternd drängte Ellie sich an Samuels Seite und presste das Gesicht an seine Schulter. "Wird er wieder verschwinden?" "Nach einer Weile schon." Seine Muskeln spielten gegen ihre Wange. "Wenn er einsieht, dass wir keine Bedrohung für seine Mahlzeit sind, hört er auf, die Tür zu zerkratzen, und beendet sein Abendessen, das Sie freundlicherweise draußen gelassen haben." Samuel warf ihr einen vernichtenden Blick zu. "Aber vielleicht hätte ich Sie auch warnen sollen, dass der Duft von Fleisch die wilden Tiere anzieht. Hier in dieser Gegend muss man damit besonders vorsichtig sein." Ellie kam sich richtig dumm vor, doch sie lächelte strahlend zu ihm auf. "Andererseits haben wir dadurch die einmalige Gele genheit gehabt, die Tierwelt einmal hautnah zu erleben." Dann, zu ihrem eigenen Schrecken, fing sie an zu kichern. Sie schlug die Hand vor den Mund, aber diese ganze Situation war zu absurd, als dass sie sie ernst nehmen konnte. Ellie konnte ihre Belustigung nicht zurückhalten. Samuels Gesichtsausdruck war urkomisch gewesen, als der Dachs in Angriffsstellung ging. "Ich bin, äh ..." Sie zog die Lippen nach innen, kämpfte gegen ein Lachen an und räusperte sich zerknirscht. "Es tut mir wirklich leid, Samuel. Ich hätte die Fleischreste in den Abfalleimer unter der Spüle werfen sollen. Aber ich wollte nicht, dass sie dort zu stinken anfangen." "Stinken", wiederholte Samuel, als sei er etwas schwer von Begriff. Er starrte sie eine Weile an, dann rieb er sich die Stirn. "Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen keinen
Abfall im Haus haben, also werfen Sie ihn auf die Veranda. Bei der Gelegenheit laden Sie jedes Raubtier hier in den Wäldern dazu ein, rund um die Hütte seine persönlichen Visitenkarten zu hinterlassen, die noch viel mehr zum Himmel hinaufstinken als die verfaulenden Fleischreste. Hey, ich hab's begriffen!" "Es tut mir sehr, sehr leid. Wirklich." Ellie bemühte sich um eine entschuldigende Miene, aber Samuel sah so hinreißend pikiert aus, dass sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. "Ich werde von jetzt an vorsichtig sein, das verspreche ich." Das Kratzen an der Tür wurde plötzlich durch ein Tapsen von Pfoten über den Holzboden der Veranda abgelöst, dann hörten sie ein verräterisches Rascheln von Zeitungspapier. Ellie zog die Hand von Samuels muskulösem Arm zurück, wenn auch zögernd. "Er scheint sich jetzt tatsächlich zurückzuziehen." "Ja", antwortete Samuel einsilbig, seufzte gequält, zog sich einen Stuhl heran, und setzte sich. Das Gewehr hatte er sich über den Schoss gelegt. "Ich bleibe hier, und Sie gehen zu Bett." Ellie rieb sich die Arme durch den weichen Flausch des zu großen Jogginganzugs, der ihr als Pyjama diente. Am Halsbund war das Shirt eingerissen und an der einen Schulter heruntergerutscht. Auf einmal kam sie sich sehr unordentlich vor, außerdem ungepflegt und dumm. "Ich ... also ... ich ..." Ein Wimmern von der Schlafstätte her unterbrach sie. "Daniel ist wach", sagte Ellie. Samuel erwiderte nichts darauf. Sein Blick war auf ihre bloße Schulter geheftet, und in seinen Augen lag ein so glühender Ausdruck, dass Ellies ganzer Körper darauf reagierte. Ihre Blicke begegneten sich. Sie konnte kaum atmen, konnte sich nicht rühren. Aus Daniels zaghaftem Wimmern war ein missmutiges Weinen geworden, das sich schließlich zu einem heftigen beleidigten Schreien steigerte. Das zarte Bindeglied zwischen Ellie und Samuel zerbrach. Er hob ruckartig den Kopf und starrte auf die Tür, die zur Veranda führte. Seine Wangemuskeln arbeiteten. "Gehen Sie lieber zu Ihrem Sohn", sagte er rau. Ellie nickte nur und eilte davon. Samuel starrte vor sich hin, lockerte den Griff um das Gewehr in seinem Schoss und hielt sich vor, was für ein Idiot er doch war. Diese Frau brachte ihn ja schon völlig aus der Fassung, wenn sein Blick auch nur auf ihre unschuldig entblößte Schulter fiel! Er verhielt sich ungehörig, ungehobelt, kurzum: ganz und gar nicht wie ein Gentleman. Ganz klar, dass er schon viel zu lange wie ein Mönch lebte. Zweifellos würde es ein verdammt langer Winter werden.
5. KAPITEL
"Guck mal, Daniel, es schneit." Ellie hielt den Säugling so, dass sein kleines Gesicht dem Fenster zugekehrt war. "Oh, ganz große fette Schneeflocken. Schau, wie sie wirbeln, als ob sie vor Freude tanzen." Daniel bewegte sein Köpfc hen hin und her und blinzelte mit seinen großen blaugrauen Augen auf den trägen weißen Wirbel, während seine Mutter leise sang. "Weiße Flocken in finsterster Nacht ... leuchten hell in silberner Tracht." Ein lautes Bäuerchen beendete abrupt ihr Lied. "Da schau her", murmelte Ellie und rieb den winzigen Rücken des Säuglings. "Ein Musikkritiker." Samuel blickte von dem Buch, in dem er gerade las, hoch. "Es ist ein harter Job, aber irgend jemand muss es ja tun." "Verräter! Dabei dachte ich immer, Ihnen gefallen meine Lieder." "Wie kommen Sie denn darauf?", fragte er trocken, obwohl seine Augen belustigt funkelten. "Sie haben mir nie gesagt, ich solle aufhören." "Hätten Sie denn aufgehört?" "Natürlich nicht." Ellie lachte leise und küsste Daniels seidige Wange. "Zeit zum Bettigehen, Pützchen." Die Couch knarrte, als Samuel sich bewegte. "Er sieht aber nicht müde aus." "Vielleicht nicht, aber ich habe irgendwo gelesen, dass eine zuverlässige Routine für Kinder sehr wichtig sei. Es übt eine beruhigende Wirkung auf sie aus." Ellie schaute liebevoll auf ihren Sohn mit den großen Augen und dem kleinen neugierigen Gesicht. Zwar war sie als Mutter natürlich voreingenommen, trotzdem war sie überzeugt davon, dass Daniel das liebste, schönste und ganz sicher auch klügste Neugeborene auf der ganzen weiten Welt war. Die Röte von der Geburt war aus seinem Gesichtchen verschwunden, und es war voller geworden. Nun hatte er runde Wangen und ein kleines Doppelkinn mit Grübchen. Goldbrauner Haarflaum bedeckte das perfekt geformte Köpfchen. Daniel war einfach wunderschön. Er gedieh prächtig. Und er gehörte ihr. Ihr ganz allein. "Ellie?" Dass Samuel sie angesprochen hatte, musste sie erst registrieren, und als sie schließlich zu ihm herüberblickte, sah sie seinen verdutzten Ausdruck. Ihr wurde auch bewusst, dass Daniel kleine unwillige Laute von sich gab und mit den Ärmchen ruderte, weil sie ihn auf einmal zu sehr an sich gedrückt hatte. Sofort lockerte sie den Griff und legte ihre Wange an seine. "Hat Mama dich gekniffen, Purzelchen? Armes kleines Kerlchen." "Ist alles in Ordnung?" fragte Samuel ruhig. "Klar." Ellie zwang sich zu einem breiten Lächeln. Er ist so süß, und ich konnte nicht anders, ich musste ihn ganz fest an mich drücken." Samuel musterte sie skeptisch, sagte aber nichts. "Komm, lass uns Samuel gute Nacht sagen. Schau, dort ... dort ist er!" Sie hob das winzige zerbrechliche Händchen und ließ Daniel sachte Winkewinke machen. "Siehst du, du kannst es ja ...Oh!" Die Deckenbeleuchtung flackerte, als sie unter ihren Füßen spür te, wie der Fußboden der Hütte seltsam erzitterte. "Ach, du liebe Güte!" Sie hielt Daniel fest an ihre Schulter und wirbelte herum. Es war, als ob ein Hubschrauber auf dem Dach gelandet wäre ... das Motorengeheul, die Schwingungen des Rotors ... Man hatte sie gefunden! Ein eiskaltes Grauen überkam sie. "Was ist das? Was ist los?" Samuel blätterte seelenruhig eine Seite um und antwortete, ohne hochzusehen: "Der Generator ist angesprungen."
"Der Generator?" Der Schrecken lag Ellie noch immer in den Gliedern. "Welcher Generator? Ich sehe keinen." "Der Generator zum Stromerzeugen, er befindet sich unter der Veranda." Ellies Verhalten verblüffte Samuel. "Es gibt überhaupt gar keinen Grund, sich Sorgen zu machen", versicherte er ihr. "Die Elektrizität für das Licht und die Wasserpumpe kommt aus riesigen Batterien, die in einem Fach unter der Hütte liegen. Es gibt eine Reguliervorrichtung, die automatisch den Generator anwirft, wenn die Batterien aufgeladen werden müssen." "Wie kommt es, dass ich das bisher noch nic ht gehört habe?" Samuel zuckte die Schultern. "Er schaltet sich höchstens zweimal die Woche ein. Ich selbst höre es meistens auch nicht." "Oh." Ellie war erleichtert, aber immer noch durcheinander von dem Schrecken. Sie legte Daniel in seine Wiege und blieb eine Weile bei ihm, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie wusste, dass Samuel sich über sie wunderte, denn sie hatte seinen misstrauischen Blick aufgefangen. Ihre ständige Angst könnte sie womöglich noch verraten, also musste sie sich besser unter Kontrolle haben. "Gute Nacht, mein Liebling", murmelte sie. "Träum schön." Sie ging zum Fenster hinüber und starrte hinaus auf den fallenden Schnee. Und sie weinte. Es war am nächsten Tag, nachdem Daniel gefüttert und gewindelt worden war und nun in seiner Wiege ein Nickerchen hielt, als Ellie aus dem Fenster guckte, um nachzuschauen, wie weit Samuel mit dem Freischaufeln des Weges gekommen war. Wie sie sehen konnte, hatte er es mittlerweile bis zur Schuppentür geschafft, die jetzt offenstand. Nun kam Samuel aus dem Schuppen heraus und hatte zwei sonderbar aussehende Tennisschlägern unter dem Arm ... zumindest wirkte es auf Ellie so. Sie runzelte die Stirn, dann stockte ihr der Atem, als sie erkannte, dass es Schneeschuhe waren. Samuel trug Schneeschuhe unter dem Arm! Ohne auf die schneidende Kälte zu achten, rannte sie hinaus. Samuel blickte ihr überrascht entgegen. "Sie sollten schleunigst wieder zurückgehen", sagte er. "Es ist eisig kalt." Die Kälte, die Ellie im Moment empfand, hatte jedoch nichts mit den derzeitige n Minustemperaturen zu tun. "Wo gehen Sie hin?" fragte sie ihn flüsternd. Als er nicht antwortete, folgte sie seinem Blick zu der sich schwach abzeichnenden Silhouette einer entfernt liegenden Holzkonstruktion, die sich über den Bäumen erhob. "Zum Feuerturm?" Er nickte. "Ich werde nicht lange wegbleiben. Höchstens zwei Stunden." Sie ergriff seinen Arm. "Nein, bitte. Ich meine, was ist, wenn der Sturm früher einsetzt als erwartet? Es ist zu gefährlich, und außerdem gibt es keinen Grund, warum Sie dorthingehe n sollten, überhaupt keinen Grund." Samuel schaute zuerst auf ihre Finger, mit denen sie seinen Arm umklammerte, dann auf ihr Gesicht. Ein Schatten verdunkelte seine Augen, der einzige Hinweis, dass er beunruhigt war. "Der Turm hat ein Funkgerät", teilte er ihr mit. "Es könnte noch ein, zwei Tage dauern, bis ein Rettungshubschrauber Sie aufspürt, es hängt vom Wetter ab. Aber mit ein wenig Glück werden Sie und Daniel schon am Wochenende zurück in Ihrem Heim sein." "Nein!" Ellie sah, wie Samuel zusammenzuckte, als sie die Nägel in den Ärmel seiner Jacke grub. "Daniel und ich haben gar kein richtiges Zuhause, zumindest nicht im Augenblick. Mein Job in der Skihütte war nur befristet, und uns sucht auch niemand." Ihr überdrehtes Lachen klang verzweifelt. "Außerdem haben wir hier alles, was wir brauchen. Daniel geht es wunderbar, und ich weiß, dass ich nicht gerade viel getan habe, aber ich verspreche, von jetzt an die Hütte blitzblank sauberzuhalten und zu kochen..." Ellie hielt inne, um Atem zu schöpfen, als Samuel seine behandschuhte Hand über ihre verkrampften Finger legte. "Ellie, Sie müssen nicht..." "Ich helfe Ihnen sogar beim Schneeschaufeln", unterbrach sie ihn hektisch. "Ich bin viel stärker, als ich aussehe. Ich kann auch Feuerholz hacken, das werden Sie schon sehen. Ich stapele es so hoch auf, dass Sie eine Leiter brauchen, um ..."
"Ellie, hören Sie auf." Samuel ließ die Schneeschuhe fallen und ergriff Ellie bei den Schultern. "Beruhigen Sie sich." "Ich bin doch ruhig", plapperte sie drauflos. "Ich bin absolut ruhig und absolut glücklich, und Daniel ist auch absolut glücklich, also sehe ich nicht ein, warum Sie so darauf drängen, uns loszuwerden. Aber wenn Sie möchten, dass wir gehen, dann gehen wir, Sie brauchen gar nicht erst jemanden zu rufen, der uns abholt. Wir packen alles zusammen und gehen und ... und ..." Die sinnlosen Worte kamen in der frostigen Luft wie gefrorener Nebel heraus. Ellie schwankte, sah das Entsetzen in Samuels Augen, und ihr wurde klar, dass er glaubte, sie sei durchgedreht. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er vielleicht sogar recht hatte. "Ich habe es nicht so gemeint", murmelte sie und rieb sich die Stirn. "Sie wissen, dass ich es nicht so gemeint habe." "Wirklich nicht?" Eine zitternde Hand berührte ihren Mund. Es war ihre eigene Hand. Ellie wandte sich um, biss sich auf die Lippen, fühlte, wie ihre Hoffnung wie schmelzender Schnee zerrann. Wenn Sie Samuel jetzt nicht aufhalten konnte, wenn sie ihn nicht davon abhalten konnte, den Feuerturm zu erreichen und Hilfe herbeizurufen, würde alles, was ihr lieb und teuer war, für immer verloren sein. Samuel sprach leise, mit einer Stimme, die eher besorgt als verärgert klang. "Was ist denn los, Ellie? Wovor rennen Sie weg?" Angst stieg in ihr auf. Verzweifelt drehte sie den Spieß einfach um und stellte ihm die gleiche Frage. "Und was ist mit Ihnen, Samuel? Warum verlässt ein Mann seinen Job und sein Zuhause, nur um sich mitten in der eisigen Wildnis wie ein Bär zum Winterschlaf in seine Höhle zurückzuziehen?'' Als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte, stolperte Samuel zurück, aber Ellie war alles egal, "Also, Samuel, machen Sie doch den Anfang. Erzählen Sie mir, warum Sie davongerannt sind. Vielleicht können wir danach ja über mich reden." Eine unendliche Traurigkeit zeigte sich in Samuels Gesicht und seinen Augen. Ohne ein Wort hob er die Schneeschuhe auf und befestigte sie an seinen Stiefeln. Als er losmarschierte, hörte er Ellie seinen Namen rufen, aber er verschloss sich gegen den Klang ihrer Stimme. "Samuel, bitte!" Die Stimme kam immer näher, vor Panik klang sie schrill. "Ich hätte das nicht sagen sollen. Es tut mir so leid. Samuel!" Es war ein Schrei. "Gehen Sie nicht." Nun war es nur noch ein Flüstern. Ein verzweifeltes Flüstern, das ihn dazu veranlasste, sich umzudrehen. Ellie kniete mitten im Schnee, nur wenige Meter von ihm entfernt. Ihr Gesicht war blutleer, ihre braunen Augen groß vor Schrecken. Sie streckte die Arme aus ... nach ihm. Um ihn zu berühren, damit er ihr Sicherheit gab. Damit er ihr das Leben rettete. Der Alptraum setzte wieder ein. Dunkle Augen. Eine ausgestreckte Hand. Ein Flehen um Hilfe. "Bitte, gehen Sie nicht", bettelte Ellie. "Ich erzähle Ihnen alles. Ich schwöre, dass ich es tun werde. Bitte, bitte, tun Sie mir das nicht an!" Nicht schon wieder, dachte Samuel verzweifelt. Bitte nicht. Er taumelte nach vorn, fiel direkt vor Ellie auf die Knie und zog sie in die Arme. Sie klammerte sich an ihn, zitternd, schluchzend, haltlos. "Halt dich fest, Liebes." Samuel strich ihr das Haar aus der Stirn. "Gemeinsam kommen wir hier heraus, ich verspreche es. Halte dich nur fest. Und lass nicht los" flüsterte er. "Ganz gleich, was geschieht, lass niemals los." Ellie fühlte sich wie betäubt und erledigt. Sie ließ sich auf den Stuhl am Küchentisch fallen, schloss die Augen und lauschte den vertrauten Geräuschen in der Hütte. Das Scharren von Samuels Stiefeln über die Holzdielen. Das beruhigende Rauschen des Wasserhahns und das leichte Kratzen des Kessels, als Samuel ihn auf die Gasflamme stellte. Die Hütte war Ellies Zuflucht, ein besonderer Ort, wo die Außenwelt und der Schmerz zu einer
verschwommenen Erinnerung verblasst waren. Sie fühlte sich sicher hier. Beschützt. Umsorgt. Und nun würde sich das alles ändern. Samuel setzte einen Becher mit dampfendem Kaffee vor sie hin und nahm dann ihr gegenüber am Tisch Platz. Er beobachtete sie. Sie schniefte, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ehe sie den Becher umfasste, um ihre eiskalten Hände zu wärmen. Ellie murmelte ihren Dank, dann nippte sie am Kaffee und dann noch einmal. Ihr gegenüber saß Samuel .und wartete schweigend. Mit einem Schaudern setzte Ellie den Becher ab und starrte vor sich hin. "Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll", flüsterte sie schließlich. Ein bedrückendes Schweigen folgte. Samuel lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er zeigte keine Ungeduld. Er wartete einfach. Ellie nahm wieder einen Schluck von dem Schwarzen Kaffee und atmete tief ein. "Ich habe früher bei verschiedenen Versicherungsgesellschaften gearbeitet. Die Arbeit hat mir keinen Spaß gemacht, es ist ein halsabschneiderisches Geschäft. Ich bekam mit, wie Menschen sich mit allen Mitteln die Karriereleiter hocharbeiteten, wie sie auf jedem herumtrampelten, von dem sie meinten, dass er sich ihnen in den Weg stellte. Das Leben ist zu kurz für Feindschaften, finden Sie nicht auch?" Sie sah Samuel kurz an, konnte seinen Gesichtsausdruck jedoch nicht deuten, also fuhr sie fort: "Ich habe häufig die Stelle gewechselt, bis ich schließlich bei einem Unternehmen landete, wo die Kollegen freundlich waren und ci h mich in der entspannten Atmosphäre wohlfühlte." Als Ellie wieder schwieg, murmelte Samuel: "Wir sollten du zueinander sagen. Das macht die Sache wahrscheinlich einfacher. Rede einfach darauflos, Ellie. Wir haben viel Zeit. Du wirst schon auf den Punkt kommen, wenn du soweit bist." Ellie schluckte. Samuel kannte sie bereits sehr gut, wusste um ihre Neigung, einfach ins Plappern zu verfallen, um dem eigentlichen Thema auszuweichen. Bei Samuel konnte sie damit nicht landen. Wenn nötig, würde er bis zum Tauwetter im Frühling hier sitzenbleiben und nicht eher aufstehen, bis sie ihm alles erzählt hatte. Alles. "Gegenüber vom Bürohaus lag ein Park", sagte sie langsam. "Während der Mittagspause bin ich immer quer durch den Park gejoggt. Und dort bin ich Stanton begegnet." Samuels Interesse war geweckt. "Stanton?" "Stanton Mackenzie." Ellie fühlte sich auf einmal erschöpft und musste gegen den Drang ankämpfen, den Kopf mit der Stirn auf den Tisch zu legen. "Präsident einer Firma in Sacrame nto, die Computerteile herstellt, außerdem hatte er politische Beziehungen. Natürlich habe ich ihn anfangs für irgendeinen flotten Yuppie gehalten, der sich im Park seinen täglichen Fitnesskick holt. Aber er war sehr humorvoll, das gefiel mir, und wir, na ja ..." Sie hob den Kopf, sah Samuel aber nicht an. "Wir verstanden uns sehr gut'', schloss sie lahm. Samuel wartete einen Augenblick, dann lehnte er sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. "Wie sahen denn seine politischen Beziehungen aus?" "Sein Schwager ist die rechte Hand des Gouverneurs," "Ach so." Samuel setzte sich wieder auf dem Stuhl zurück. "Du und dieser Mackenzie, ihr seid also miteinander ausgegangen..." Ellie nickte. "Zuerst blieb es bei ungezwungenen Treffen. Weder ich noch er suchten nach einer ernsthaften Beziehung." "Aber dann kam die Zeit, wo es nicht mehr ganz so ungezwungen blieb?" "Ja." Ellie fuhr sich wieder durchs zerzauste Haar. "Ich muss schlimm aussehen", murmelte sie und versuchte, das Haar zu entwirren. "Was ist denn passiert?" "Es ist durch den Schnee und Wind ganz verklettet..." "Was ist mit Mackenzie passiert?"
"Oh." Ellie hatte wieder ausweichen wollen. "Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, wirklich nicht. Erst hatten wir einfach nur Spaß miteinander und planten einen Ausflug in einen Vergnügungspark, dann war Stanton plötzlich zwei Wochen lang verschwunden. Als er wieder auftauchte, sah er mich an, als ob ich die einzige Praline in einer Schachtel wäre." Sie lachte kurz auf. "Und von da ab ging es Schlag auf Schlag. Rote Rosen auf meinem Schreibtisch und vor der Apartmenttür. Romantische Abendessen in Restaurants mit französischen Namen, die ich nicht einmal aussprechen konnte. Phantastische Hotelsuites mit Champagner und Zimmerservice. Wir, äh ..." Ellie sagte es sehr leise. "Wir wurden ein Liebespaar." Sie blickte hoch und sah Verständnis in seinen Augen, aber auch einen Hauch von Traurigkeit: "Ihr wart beide erwachsen", erwiderte Samuel ruhig. "So etwas kommt vor." "Ja", murmelte sie und schluckte einen Kloß herunter. "So etwas kommt vo r." "Warst du in ihn verliebt?" "In Stanton? Ja, das war ich." Die Schärfe in ihrer Stimme überraschte sie beide. "Ich wollte es nicht. Es geschah einfach." "Und Daniel? Geschah er auch nur so einfach?" Ellie wirkte betroffen. "Ja. Nicht, dass ich ihn nicht über alles liebe, Daniel ist ein Geschenk", antwortete sie heftig. "Ich hatte es nicht eingeplant, schwanger zu werden, aber von dem Moment an, wo ich erfuhr, dass in mir ein neues Leben heranwuchs, wurde alles anders. Ich wollte mein Baby. Ich wollte es mehr als alles andere," Samuel legte seine warme Hand auf ihre kalte. "Du bist eine wunderbare Mutter, Ellie. Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass du deinen Sohn über alles liebst." Ihre Augen wurden feucht. Samuel war so unendlich gütig, so lieb, so völlig anders als der Mann, der der Vater ihres Sohnes war. "Und dieser Stanton war nicht gerade erfreut über die Schwangerschaft." Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Ellie zog die Hand aus Samuels beruhigendem Griff und schüttelte den Kopf. "Im Gegenteil, er war geradezu in Hochstimmung. Er machte für mich einen Termin bei dem besten Gynäkologen am Ort aus und fuhr mich selbst hin. Er deckte mich mit Vitaminen für Schwangere ein, rief mich sechsmal am Tag an, um sicher zu sein, dass ich das Richtige aß, genügend Bewegung hatte und auch sonst auf mich gut aufpasste. Das einzige, was er nicht tat..." Sie wurde immer leiser. "Er war nicht bei mir." "Willst du damit sagen, dass es fortan zwischen euch keine Liebesbeziehung mehr gegeben hat?" "Über einen keuschen Kuss auf die Wange ging es nicht hinaus. Ich hatte dann bald den Eindruck, dass er sich fast von einer Bürde befreit fühlte. Es tat mir sehr weh", gestand Ellie leise. "Und es verwirrte mich." "Das ist verständlich." Samuel überlegte eine Weile. "Also hat dieser Stanton dich umworben, dich verführt, war über deine Schwangerschaft höchst erfreut, hatte aber kein einziges Mal das Wort Heirat in den Mund genommen." Ellie zuckte mit den Schulter. "Er konnte es nicht." "Warum nicht?" Tränen füllten wieder ihre Augen, Ellie wischte sie mit dem Handrücken ab. "Er konnte mich nicht heiraten, weil er bereits verheiratet war." Sie seufzte, nahm einen Schluck von dem inzwischen kalten Kaffee und zuckte vor dem harten Blick; mit dem Samuel sie ansah, zurück. "Bitte, schau mich nicht so an. Ich habe es nicht gewusst." Sie setzte den Becher ab. "Ich habe es durch Zufall herausgefunden, als mein Boss mich zum Mittagessen in eins der feineren Restaurants eingeladen hat. Stanton war dort mit einer sehr schönen Blondine. Mein Boss war geradezu entzückt. Er kannte sowohl Stanton als auch seine Frau von der Tätigkeit in der Handelskammer. Also zog er mich mit zum Tisch der beiden, um mich vorzustellen.
Stanton war natürlich überhaupt nicht erfreut, und da ich keine Ahnung gehabt hatte, dass er verheiratet war, ging mir das ganz genauso." "Natürlich", flüsterte Samuel. "Noch am gleichen Nachmittag rief Stanton mich an. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle, und er lachte mich aus. Lachte mich aus. Er sagte, dass ich sein Kind erwarte und dass ich ihn nicht aus meinem Leben heraushalten könne. Ich dachte, er habe den Verstand verloren." Ihre Lippen zitterten. "Aber er hat ihn nicht verloren. Er hat es durchaus so gemeint. Mir wurde klar, dass ich in Schwierigkeiten steckte, als ich die Papiere erhielt." Samuel blickte überrascht hoch. "Papiere?" Ellie zitterte am ganzen Körper, die Hände auf dem Tisch hatte sie zu Fäusten geballt. "Ein Haufen von juristischem Kauderwelsch, aber immerhin habe ich verstanden, dass ich eine Menge Geld erhalten würde, wenn ich das Recht auf unser Kind aufgäbe. Ich lehnte natürlich ab. Also kam Stanton selbst zu mir. Er gab zu, dass seine Frau keine Kinder haben könne und dass er mich absichtlich in diese Affäre gelockt habe. Er sagte, dass ich jung sei, dass ich noch mehr Kinder haben könne und dass dies die einzige Chance für ihn wäre. Er weinte. Er flehte. Ich blieb bei meiner Weigerung. Und schließlich ging er zur Tür, und bevor er verschwand, lächelte er auf eine Weise, dass es mir den Rücken kalt herunterlief, und sagte, dass wir uns vor Gericht sehen würden. Am nächsten Tag erhielt ich die Vorladung. Stanton klagte auf alleiniges Sorgerecht für unser Kind." Samuels Augen blitzten vor Zorn, seine zusammengepressten Lippen waren weiß. "Ich war außer mir", sagte Ellie einfach. "Ich suchte einen Rechtsanwalt auf, der nur die Schultern zuckte und mir zur Antwort gab, dass die Mackenzies reich und mächtig genug seien, um den Prozess zu gewinnen. Ich hatte nicht genug Geld, mich gegen sie zu wehren." Samuel blickte ihr in die Augen. "Was hast du dann getan?" Sie erwiderte seinen offenen Blick, "Ich tat das, was ich immer schon getan habe, wenn die Dinge schiefliefen. Ich rannte davon." "Aber er hat dich gefunden, nicht wahr?" Samuel lehnte sich vor und umfasste mit den Fingern ihr Kinn, als sie das Gesicht von ihm abwenden wollte. "Und nachdem er dich gefunden hatte, bist du wieder davongerannt, in die Wälder." Tränen liefen ihr die Wange herunter, und sie nickte schwach. Samuel stand so abrupt auf, dass der Stuhl nach hinten fiel. Er lief mit grimmigem Gesicht in der Hütte auf und ab und rieb sich den Nacken. Dann blieb er stehen und sah über die Schulter zu Ellie hin. "Und Mackenzie sucht dich noch immer?" "Ich weiß, dass er es tut", flüsterte Ellie, und dann brach sie in Tränen aus. "Er wird niemals aufgeben, niemals. O Gott, Samuel, er wird mir Daniel wegnehmen." "Nein, das wird er nicht." Samuel zog Ellie vom Stuhl zu sich hoch und umarmte sie heftig. "Ich lasse es nicht zu." Einen kurzen süßen Moment lang glaubte Ellie ihm fast.
6. KAPITEL
Samuel hielt Ellie in den Armen, strich ihr über das Haar, murmelte besänftigende Worte, bis ihre Tränen trockneten. Er fühlte einen unbändigen Zorn in sich. Ellie war auf die grausamste Weise verraten worden, und dazu von einem Mann, den sie geliebt hatte, einem Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass auch er sie liebte. Alles war eine Lüge gewesen, eine absichtliche Täuschung. Ellie schmiegte sich in seine beschüt zende Umarmung. Dann rührte sie sich, so als ob sie sich von ihm lösen wollte. Samuel spannte sich an, hielt sie fester. Nur ungern wollte er sie loslassen und damit das zarte Band des Vertrauens zwischen ihnen lösen. Es war sogar noch mehr als Vertrauen. Es war ein seelischer Gleichklang. Sie brauchten einander. Wir brauchen einander. Samuel erstarrte. Er wollte das nicht, es bedeutete Abhängigkeit. Und das machte Samuel Angst. Angst vor seiner Unfähigkeit, den Bedürfnissen des anderen nachzukommen. Um genauer zu sein: Er fürchtete zu versagen. Als er sich von Ellie zurückzog, erschauerte Ellie, schniefte und fuhr sich mit dem Handrücken über das feuchte Gesicht. "Mir geht's schon wieder ganz gut", murmelte sie, obwohl das ganz offensichtlich nicht der Fall war. Samuel führte sie zum Tisch, zog einen Stuhl heraus und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Dann brachte er ihr ein Glas Wasser. Sie trank gierig und versuchte zu lächeln. "Du bist so gut zu mir." "Wird wohl Zeit, dass jemand das ist." Er bedauerte sofort die Schärfe, mit der er es gesagt hatte, und fragte zartfühlend: "Du hast keine Familie?" "Meine Eltern leben im Osten", murmelte Ellie. "Aber Stanton würde natürlich dort zuerst nach mir suchen." Sie kaute an ihrer Unterlippe, ehe sie leise hinzufügte. "Ich liebe meine Eltern, und ich weiß, dass sie mich lieben, aber sie verstehen es, einem Menschen die Freude am Leben zu nehmen. Besonders meine Mutter lebt nur für ihre Krankheiten, die zumeist eingebildet sind." "Also hast du Probleme mit deiner Familie." Der Gedanke machte Samuel traurig. Er selbst schätzte seine Eltern sehr und liebte Vater und Mutter über alles. "Wir kommen ganz gut miteinander aus. Wir sehen die Dinge nur sehr unterschiedlich." Sie seufzte und rieb sich den Nacken. "Ich habe Freude am Leben." "Das habe ich gemerkt." Er dachte an die kleinen Lieder, die sie ihrem Sohn immer vorsang. "Deine Eltern haben wohl etwas gegen deine leichtere Einstellung zum Leben." Ellie zuckte die Schultern. "Sie haben keinen Humor und sehen in allem ein großes Dilemma." "Na ja, einiges ist ja auch wirklich ein Dilemma, Ellie." "Ich weiß das." "Du kannst nicht immer vor den Problemen davonlaufen." Er ging vor ihrem Stuhl in die Hocke und rieb ihre kalten Hände zwischen seinen Handflächen. "Ich habe keine Angst vor Konflikten." Es klang nicht sehr überzeugend. "Zumindest nicht, wenn sie fair ausgetragen werden. Aber diesen Konflikt kann ich nicht gewinnen, Samuel, und ich will meinen Sohn nicht verlieren." "Das wirst du auch nicht." Seine Zusicherung war unverantwortlich, wie er fand, obwohl er es von ganzem Herzen so gemeint hatte. Nachdem er Ellie und ihr Kind aus den eisigen Klauen des Todes errettet hatte, würde er es einfach nicht zulassen, dass Mutter und Sohn von diesem kaltherzigen, grausamen Kerl namens Stanton auseinandergerissen wurden. "Du kannst dich hier nicht für immer verstecken, Ellie." Sie mied seinen Blick, ihre Lippen waren blutleer. "Es dauert nur noch einige Wochen, bis die Wege wieder passierbar sind. Vielleicht könntest du uns dann irgendwohin bringen, wohin auch immer ... Ich würde es bezahlen. Ich habe Geld auf der Bank."
"Es ist keine Frage des Geldes." Er gab Ellies Hände frei, erhob sich und fing an, unruhig hin und her zu laufen. Baloo kam neugierig herbei, um die knarrenden Holzdielen zu inspizieren. Er legte den Kopf schief und betrachtete seinen Herrn, ehe er sich in seine Kuschelecke zurückzog. "Samuel..." Ellie war vom Stuhl aufgestanden und hielt sich am Tischrand fest, als ob sie fürchtete, dass ihr die Knie nachgeben würden. "Ich brauche nur ein wenig Zeit. Bitte, gesteh mir die doch zu!" Das Flehen in ihren Augen brach ihm fast das Herz. Er kam zu ihr herüber und strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. "Ja, das kann ich tun", flüsterte er und war überrascht, wie erleichtert er sich auf einmal fühlte. Irgendwie wünschte er sich insgeheim, dass Ellie ihn nie verlassen würde. Sie und Daniel hatten sein Leben auf den Kopf gestellt, aber sie hatten ihm auch sehr viel Freude gebracht. Sie brauchten ihn. Sie brauchen mich. Er wiederholte diese Worte im stillen. Und diesmal machten sie ihm keine angst mehr. Ein eisiger Februarwind fegte herein, als Samuel mit eingezogenem Kopf in die Hütte trat, den einen Arm angewinkelt, um eine Art Beule unter der ungefütterten Lederjacke zu umfangen. Baloo schoss an ihm vorbei ins Innere und umtänzelte aufgeregt die Beine seines Herrn, jaulte enttäuscht und versuchte, Schnauze und Pfoten unter den Saum von Samuels Jacke zu schieben. Ellie ließ den Besen fallen, eilte an Samuel vorbei und schlug die Tür hinter ihm zu. "Lieber Himmel, ist was passiert? Hast du dir weh getan?" Auf die hektischen Fragen bekam sie eine Antwort, als Samuel seine Hand unter der Jacke hervorzog und ein Fellknäuel mit spitzen, büscheligen Ohren enthüllte. "Oh, es ist ein Häschen." Baloo schwenkte den Kopf herum und bellte kurz zustimmend. "Loo hat es gefunden." Samuel zog umständlich den Arm aus der Jacke und ließ sich von Ellie dabei helfen, nachdem sie vorsichtig den verschreckten Hasen in die andere Hand nahm. "Er steckte unter einem abgebrochenen Ast und konnte sich nicht rühren." Nachdem Ellie die Jacke aufgehängt hatte, sah sie sich das winzige grauweiße Tier genauer an, das sich in Samuels sanfte Hände schmiegte. Um seine Hinterläufe entdeckte sie einen dunkelroten Schmierfleck. "Oh, das arme kleine Ding ist ja verletzt." "Ja, es hat wohl ein paar Schrammen abbekommen, als der Ast vom Wind abbrach und die Hinterläufe gegen einen Fels presste." "Wird es sich wieder erholen?" "Ich weiß es nicht." Samuel ging zum Küchentisch. "Haben wir etwas, worauf wir es legen können?" Ellie eilte ins Badezimmer und kam mit einem blauen Badetuch zurück, das sie mitten auf dem Tisch zu einem weichen Kissen zusammenfaltete. "So, da haben wir's, kleiner Bursche", murmelte Samuel und bettete das Tierchen auf seine Lagerstatt. "Und jetzt gucken wir uns mal deine Verletzung an." Samuel zog die Stirn kraus und murmelte etwas vor sich hin, während er die Hinterläufe des Häschens begutachtete. "Offensichtlich ist nichts gebrochen, obwohl es keine Anstalten machte, davonzuhoppeln, als ich die Äste von ihm herunternahm. Ich war deshalb ziemlich sicher, dass seine Läufe schlimm verletzt wären." Ellies ganze Aufmerksamkeit galt nicht dem Häschen, sondern der Zärtlichkeit, mit der Samuel das Tierchen behandelte. Er hatte schöne Hände, lange schlanke Finger, die über das zerbrechliche winzige Geschöpf glitten. Er wirkte auf Ellie so unglaublich gütig, dass sich in ihrem Hals ein Kloß bildete und sie schwer schlucken musste, um ihn loszuwerden. Sie erinnerte sich daran, wie diese kompetenten Hände sie umsorgt hatten, ihre Angst vertrieben
hatten, ihre Schmerzen gemildert hatten, in ihr das gleiche Vertrauen wachgerufen hatten, wie sie es jetzt bei dem verängstigten Hasen beobachten konnte. Sie erinne rte sich, und ihr Herz schlug schneller. "Runter da", stieß Samuel leise hervor und riss damit Ellie aus ihren fast sinnlichen Träumen. Baloo sprang gehorsam vom Stuhl herunter, um sich trübsinnig zu den Füßen seines Herrn zu setzen. Kaum hatte Ellies Pulsschlag sich beruhigt, umfasste Samuel sanft ihre Finger und brachte damit gleich wieder ihr Herz zum Flattern. "Halte ihn ruhig", sagte er und legte ihre Hand auf den zitternden Körper des Häschens. "Ich hole die Erste-Hilfe-Tasche." Ellie streichelte sanft das seidige Fell und spürte, wie wild das winzige Herz darunter schlug. "Es ist schon gut, Hoppelchen." Auf gewisse Weise fühlte sie sich mit dem verwundeten Tier verbunden. "Du bist jetzt in den besten Händen." "Hoppelchen?" Samuel kam mit der Tasche zurück. "Mein Bruder und ich fanden einmal ein junges Eichhörnchen im Wald. Mom erlaubte uns, es ins Haus zu nehmen und es gesundzupflegen, aber sie wollte nicht, dass wir ihm einen Namen gaben. Es ist Gottes Geschöpf, sagte sie, und nicht unseres." Er holte aus der Tasche eine Flasche mit Antiseptikum und eine Rolle Klebeband und legte sie neben das blaue Hasenlager. "Ich war ganz schön aufsässig als Kind. Ich dachte mir, dass Gott viel zu beschäftigt sei, um ein so winziges Eichhörnchenbaby in der großen Welt zu bemerken, also hab' ich dem Bürschchen heimlich doch einen Namen gegeben." Ellie sah ihm lächelnd dabei zu, wie er einen Wattebausch mit dem Antiseptikum tränkte und zart die Schürfwunden reinigte. "Und wie hast du das Eichhörnchen genannt?" "Büschelschwänzchen." Ellie lachte. "Büschelschwänzchen. Meine Güte!" Er wirkte fast betroffen. "Was gibt's denn da zu lachen?" "Nun, ich finde den Namen wirklich sehr lustig, sehr witzig sogar." "Ich war damals sechs Jahre alt. Heute hätte ich mir ganz sicher etwas anderes ausgedacht." "In dem Falle lasse ich es durchgehen." "Danke." Samuel drückte aus einer Tube ein wenig Salbe heraus. "Wie auch immer, der Tag, an dem wir das Eichhörnchen in die Freiheit entließen, war für mich ein trübseliger Tag. Während mein Bruder dem Tierchen glücklich hinterherwinkte und hinterherschrie, weinte ich mir die Augen aus und rief: ,Wiedersehen, Büschelschwänzchen. Komm bald wieder zurück. Komm zurück.' Es war alles ganz furchtbar traurig." "Oh, mach doch keine Witze." "Es ist die reine Wahrheit." Ellie lachte selbstvergessen. Es war eine so hübsche Geschichte. "Würdest du mir ein paar Streifen vom Klebeband schneiden? Drei Stück, ungefähr fünf Zentimeter lang." Ellie tat es, und Samuel befestigte mit den Streifen den Verbandsmull. "Ob es dir gefällt oder nicht, dieser kleine Bursche hier wird Hoppelchen genannt, was sagst du nun dazu?" "Ich sage ..." Er hielt inne, um den Verband zu überprüfen. "... dass du, wenn dieser Hase schließlich völlig ausgeheilt in die Wälder zurückhoppelt, heulend auf der Veranda stehen wirst, um ihm wehleidig nachzublicken. Und dann wirst du dir wünschen, du hättest deinen Gefühlen nicht soweit nachgegeben und ihn ins Herz geschlossen." Ernüchtert durch den wehmütigen Klang in seiner Stimme, sah Ellie zu ihm auf. In seinen Augen stand so etwas wie Bewunderung, aber auch Schmerz. Dann blinzelte er, der Ausdruck verschwand und wurde durch ein höchst zufriedenes Lächeln ersetzt. "Na bitte, Hoppelchen. Nach zwei Wochen Bettruhe fühlst du dich wie neugeboren." Er streichelte das Köpfchen mit der Fingerspitze, dann hob er das Häschen vorsichtig hoch und legte es in Ellies Arme.
"Wo gehst du hin?" "Ich bin gleich wieder zurück", murmelte er und verließ die Hütte durch die Hintertür. Baloo jaulte und hörte gar nicht mehr auf damit, während er seine Vorderpfoten auf den Tisch legte und interessiert an dem Tierchen auf Ellies Armen schnüffelte. "Zuerst ich und nun ein verletzter Hase. Was bist du doch für ein Retter in der Not, was, Baloo?" Der Hund bellte erfreut und wedelte so schnell mit dem Schwanz, dass sein ganzes Hinterteil vibrierte. "Beruhige dich, Hoppelchen. Dir geschieht schon nichts", flüsterte Ellie dem verängstigten Hasen zu. "Baloo will nur zeigen, wie sehr er sich freut, das ist alles." Das seidenweiche kleine Felltier blickte aus dunklen Augen hoch und wackelte mit seinem samtigen grauen Näschen. "Du bist zum Knuddeln", flüsterte Ellie, "Und mir ist es egal, was Samuel sagt. Ich finde, Hoppelchen passt absolut zu dir." Noch während sie sprach, ging ihr Samuels Warnung durch den Kopf.... und dann wirst du dir wünschen, du hättest deinen Gefühlen nicht soweit nachgegeben und ihn ins Herz geschlossen. Doch Ellie dachte dabei nicht an das süße Tier auf ihren Armen. Sie dachte an Stanton Mackenzie. Daniel war jetzt der Mittelpunkt des Universums für sie, das Kostbarste in ihrem Leben. Ellie verachtete Stanton, verachtete seine Lügen, verachtete, was er ihr, und damit auch ihrem Kind, anzutun versucht hatte. Aber so sehr Ellie auch die Beziehung zu Stanton bereute; sie könnte niemals das, was daraus entstanden war, bereuen,.. den Sohn, den sie vor dem Mann, der ihn gezeugt hatte, beschützen musste. Es war nach zehn Uhr, als Samuel schließlich das Buch zur Seite legte und sich die Augen rieb. Der Generator, der ungefähr eine halbe Stunde lang gebrummt hatte, schaltete sich plötzlich von selbst aus. In der Hütte war es still. Ellie blickte von ihrer Strickarbeit hoch. Aus der aufgetrennten Wolle von Samuels altem Pullover strickte sie ein Babyjäckchen. "Ich habe dich ja bereits gewarnt, dass du dir mit dieser ganzen Immobiliensache nur die Augen verdirbst." Als Samuel nichts darauf erwiderte, legte sie ihre Arbeit beiseite. "Warum erzählst du mir nicht, was es damit auf sich hat." Er sah sie überrascht an, dann schaute er weg. "Du interessierst dich doch in Wirklichkeit gar nicht dafür." "Du doch auch nicht." Seine Kinnmuskeln spannten sich an. Er sagte nichts. "Es ist eine reine Zeitverschwendung, Samuel, und schade um dein Talent und deine Fähigkeit. Du bist ausgebildeter Sanitäter, in Krisensituationen behältst du einen kühlen Kopf, kannst mit deinem Einfühlungsvermögen Menschen beruhigen und ihnen die Angst nehmen. Man Vertraut dir instinktiv." Ellie blickte zum Käfig auf der anderen Seite des Raumes, in dem das Häschen seiner Genesung entgegenschlummerte. "Auch die Tiere tun es. Du hast heilende Kräfte, und das ist ein großes Geschenk, Samuel. Warum verkriechst du dich also in die Wildnis, paukst dir ein Wissen darüber ein, wie man Immobilien kauft und verkauft, lernst die ganze Fachsprache auswendig und die Marktanalyse dazu? Es bedeutet dir doch ganz offensichtlich nichts." Mit über der Brust verschränkten Armen und durchgedrückten Schultern saß Samuel da und rührte sich nicht. Sein Gesicht war ausdruckslos. Und dann zeigte sich in den blauen Tiefen seiner Augen plötzlich ein so heftiger Schmerz, dass Ellies Herz sich zusammenzog. Sie erkannte seine Seelenqual. Wie auf Stichwort flackerte das Feuer im Ofen noch einmal auf und schwelte dahin. Samuel stand abrupt auf und legte ein Holzscheit nach. Dann wünschte er Ellie eine gute Nacht und zog sich auf den Dachboden zurück. Stunden später lag Ellie wach in ihrem Bett und lauschte dem Stöhnen und dem schweren Atmen. Samuel hatte wieder Alpträume; Sie werden schlimmer, dachte Ellie. Und sie kamen immer öfter. Ellie wusste nicht, welche Schrecken seinen Schlaf plagten, welches Grauen er
noch einmal in der Hölle seiner Erinnerungen durchlebte. Sie wusste aber ganz sicher, dass Samuel Evans seelisch verwundet war, ein Mann im Kampf mit sich selbst. Ellie hätte fast alles darum gegeben, um den wahren Grund dafür zu erfahren.
7. KAPITEL
Ellie stand vor dem Herd, auf dem angewinkelten Arm hielt sie Daniel, während sie mit der freien Hand Pfannkuchen wendete. Sie summte leise vor sich hin, während ihr kleiner Sohn zu ihr aufschaute. Aus seinen Äuglein, die von Tag zu Tag dunkler wurden, strahlte Bewunderung. Er war jetzt sechs Wochen alt und ein pummeliges und glückliches Baby. Er lächelte und folgte jeder Bewegung mit einem interessierten Blick. Daniel zappelte mit den Ärmchen, wenn er aufgeregt war, und zog eine Schnute, wenn ihm etwas nicht passte. Er entwickelte sieh zu einer richtigen kleinen eigenständigen Persönlichkeit. Samuel war total verschossen in das winzige Bürschchen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich wäre, würde er zugeben, dass er auch ganz verschossen in die Mutter des Kindes war Aber sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, war nicht gerade Samuels Stärke. Vor allem dann nicht, wenn es um seine Gefühle ging. Und ganz schlimm wurde es, wenn es um starke Gefühle ging. Dann versuchte er, diese Empfindungen auf vernünftige Weise wegzuerklären, oder aber er ignorierte sie ganz. Als er Ellie vom Tisch aus mit sehnsuchtsvollem Blick verfolgte, kreidete er also das Flattern in seiner Brust dem Schuldbewusstsein an. Ellie arbeitete, während er, Samuel, nur dasaß und sein Frühstück aß. Er stand auf. "Setz dich jetzt. Ich mache für dich weiter." Als Ellie den Kopf wendete, um ihn anzusehen, fiel ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Sie warf sie mit einer Kopfbewegung zurück und wedelte mit dem Spachtel. "Oh, nein, Mylord. Ich weiß Ihre Ritterlichkeit wohl zu schätzen, aber wenn Sie diese unbezahlbaren Eierfladen auch nur anrühren, so sollen Ihre Finger den schmerzhaften Schlag meines Zorns zu spüren bekommen." "Und das bedeutet?" "Und das bedeutet, dass wenn du auch nur in Reichweite dieses Pfannkuchens kommst ..." Sie fuhr mit dem Spachtel auf eine so eindeutige Weise durch die Luft, dass sich jedes weitere Wort erübrigte. "Ich habe schon verstanden." Samuel gab nach, wenn auch nicht ganz. "Lass mich wenigstens Daniel nehmen." "Du kannst aber nicht essen und zur gleichen Zeit ein Baby halten." "Wenn du kochen und ihn halten kannst, kann ich auch essen und ihn halten. Außerdem ..." Samuel nahm ihr einfach das Kind ab und legte es gekonnt in seine Armbeuge, "...müssen Daniel und ich Männerfreundschaft schließen." "Männerfreundschaft?" Ellie musste lachen und hob einen Pfannkuchen auf die Servierplatte. "Ganz genau. Psychologische Studien besagen, dass eine positive Verbindung zum gleichen Geschlecht entscheidend ist für die seelische Entwicklung des Kindes." Samuel hatte das so dahingesagt, ohne lange, darüber nachzudenken. Als er aber sah, wie das lustige Aufblitzen in, Ellies Augen verschwand, wurde ihm bewusst, wie taktlos er sich angehört haben musste. "Ich hab' es nicht so gemeint, Ellie. "Ich weiß." Sie nahm abrupt die Schüssel mit dem Eierteig in die Hand und wandte sich von Samuel ab, um den Teig für einen neuen Pfannk uchen in die Pfanne laufen zu lassen. Doch so schnell sie sich auch umgedreht hatte, Samuel hatte bemerkt, wie ihre Lippen zitterten. Er nahm Daniel auf den anderen Arm. "Sehr viele glückliche, gesunde Kinder wachsen bei alleinerziehenden Eltern auf. Es hä ngt allein davon ab, wieviel Liebe sie bekommen. Und Daniel wird geliebt, Ellie, er wird sehr geliebt. Nur darauf kommt es an." "Auch das weiß ich." Sie setzte die Schüssel ab und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab. "Dein Frühstück wird kalt." Aus Furcht, dass er die Dinge nur noch verschlimmern würde, wenn er zu einer ausführlicheren Erklärung ansetzte, folgte Samuel Ellies Hinweis und fing an zu essen.
Doch die Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum. Er machte sich Sorgen um Ellies und Daniels Zukunft. Wenn es Gerechtigkeit auf der Welt gäbe, würden Ellie und ihr Sohn niemals getrennt. Aber Samuel wusste, dass die Welt nicht gerecht und das Leben nicht fair war. Die schlimmsten Dinge widerfuhren den besten Menschen. Samuel hatte versucht, dies zu ändern. Aber er hatte versagt, Bei Ellie würde er jedoch nicht versagen, er würde nicht zulassen, dass man ihr Daniel wegnahm. Im Augenblick hatte er keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Er wusste einfach nur, dass er es verhindern würde. Und wenn es sein Leben kostete. Mit Hilfe eines kleinen Propanheizkörpers konnte die Temperatur auf der von Maschennetz umschlossenen Veranda gerade so über dem Gefrierpunkt gehalten werden. Eine Kältewelle hatte die Schneewehen in Eis verwandelt und die Berge selbst in einen von Bäumen, besetzten Gletscher. Der klare Februarhimmel und die frische Luft waren trügerisch. Sie luden zum Spaziergang ein, aber es war zu eiskalt dafür. Bevor Samuel sich mit Baloo auf den Weg gemacht hatte, hatte er sich vier Lagen Kleidung übergezogen und einen Wollschal um die untere Hälfte des Gesichtes gewickelt. Weder Mann noch Hund hatten sich von der Eiseskälte abschrecken lassen. Ellie dagegen, die fast ihr ganzes Leben in Kalifornien verbracht hatte, war diese Kälte nicht gewö hnt. Und im Augenblick bestand ihr größtes Problem darin, die Wäsche fertig zu bekommen ohne sich dabei vor Kälte einen Muskelkrampf herbeizuzittern; Der kleine Heizofen half, wenn auch nicht genug. Es war ein grausames Gefühl, wenn ihre nassen Hände mit der eiskalten Luft in Berührung kamen, und das Seifenwasser, das anfangs noch angenehm warm gewesen war, war inzwischen merklich abgekühlt. Zähneklappernd schrubbte Ellie die Wäsche gegen ein altertümliches Waschbrett, um sie dann durch eine quietschende Mangel zu drehen, die an der Seite der alten Waschwanne angebracht war. Das. Ganze wirkte wie eine Konstruktion aus dem letzten Jahrhundert. Anschließend warf Ellie die nasse Wäsche in einen Korb, den sie neben den Heizkörper gestellt hatte, damit die feuchten Sachen nicht gefroren. Und nachdem sie all das getan hatte, musste das Wasser aus der Wanne gelassen werden, damit Ellie sie wieder mit klarem Spülwasser füllen und den grauenvollen Vorgang wiederholen konnte. Als sie endlich soweit war, den Korb voller sauberer nasser Wäsche in die Küche zu schleppen, taten ihr die Schultern und der Rücken weh. Sie hob den Korb mit einem Ächzen auf den Tisch, dann schleppte sie sich zurück auf die Veranda, um den Heizkörper auszustellen. Und dabei bemerkte sie, dass die Waschwanne immer noch mit Wasser gefüllt war. Verdutzt überprüfte sie den Abfluss. Er war unbedeckt, aber das Wasser lief nicht ab. "Verflixt", murmelte Ellie und gab der Wanne einen Fußtritt, ehe sie widerwillig nach draußen ging, um beim Abflussschlauch nachzusehen. Sie fand genau das, was sie befürchtet hatte. Das Rohr, an dem der Schlauch angeschlossen war, war völlig mit vereistem Wasser verstopft. Frustriert und frierend eilte sie zurück auf die Veranda, um zu überlegen, was sie nun tun könnte. Wenn sie den Behälter voll mit Wasser ließe, würde es innerhalb kurzer Zeit gefroren und die Wanne damit tage-, womöglich sogar wochenlang unbrauchbar sein. Die Windeln in der Küchenspüle zu waschen fand Ellie ein wenig unappetitlich. Also hatte sie keine andere Wahl, als das Wasser aus der Wanne zu schöpfen. Ellie fand einen kleinen Eimer und machte sich an die Arbeit. Samuel ließ den Tannenzapfen auf der Handfläche auf- und abhüpfen. "Der dritte Zedernbaum hinter der Lichtung", verkündete er. Baloo fasste den Zielbaum ins Auge und bellte kurz, als sein Herr sich auf den Wurf vorbereitete. Samuel konzentrierte sich, senkte den Zapfen auf Brusthöhe und hatte gerade das Knie angezogen, um ihn in bester Baseballmanier loszuwerfen, als ein grauenhafter Schrei die Stille zerriss.
"Hilfe!" Samuel ließ den Tannenzapfen fallen. "Ellie?" "Samuel!" "Ellie!" Er machte einen Satz nach vorn, seine Füße glitten unter ihm weg, und er fiel auf den eisverkrusteten Schnee. Der Jagdhund ließ ein heroisches Heulen hören und sprintete davon. Um seinen frustrierten Herrn und Meister, der sich inzwischen wieder aufgerappelt hatte und den Weg zum Haus schlitternd zurücklegte, kümmerte er sich nicht. Schließlich fand Samuel hinter der Hütte Baloo, der wie wild die am Boden liegende Ellie umkreiste. Samuel stockte das Herz vor Schreck. Er rutschte von dem Schneehaufen herunter zum freigeschaufelten Pfad, wo Ellie auf der Seite lag, fast bewegungslos, bis auf die eine Hand, mit der sie den Hund davon abzuhalten versuchte, mit seiner großen Zunge ihr Gesicht zu lecken. Vergeblich, wie Samuel feststellen musste. "Hör auf!" schrie Ellie und umfasste die Schnauze des besorgten Tieres. "Willst du, dass deine Zunge an meinem Ohr festfriert? Oh, um Himmels willen ... Samuel, hilf mir." "Ich bin ja schon hier." Er kniete sich hinter sie, riss den Wollschal von seinem Gesicht und versuchte, Ellie an den Schultern anzuheben. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, aber rührte sich nicht von der Stelle. Samuel versuchte es noch einmal, diesmal mit einem Ruck. Und wieder stieß Ellie einen Schrei aus, dann fing sie an heftig zu spucken, als Baloo ihr einen saftigen Hundekuss quer über den geöffneten Mund gab. Samuel brauchte einen Moment, um das ganze Ausmaß von Ellies misslicher Lage zu begreifen, Er setzte sich zurück in die Hocke und starrte sie dann ziemlich entgeistert ah. "Wie um alles in der Welt...?" "Frag nicht." Ihre Schultern bebten. Da sie das Gesicht von ihm abgewandt hatte, war Samuel sich nicht sicher, ob sie vor Resignation seufzte oder ob sie in, sich hineinlachte. Aber als sie wieder sprach, klang unmissverständlich Belustigung durch. "Also dann, du bist hier schließlich der Experte. Was steht denn im Handbuch für Rettung aus Notlagen über dumme Leute, die am Boden festfrieren?" "Ich... äh,., muss dieses Kapitel überschlagen haben." Nachdem Samuel zu seiner Erleichterung feststellen konnte, dass Ellies Haut nicht festgefroren war und dass sie weder Schmerzen hatte, noch sich in unmittelbarer Gefahr befand, schloss Samuel die Lippen ganz fest, um nicht in Gelächter auszubrechen. Was für einen Anblick sie bot! Sie sah aus wie ein menschlicher Eiszapfen: Mit der Kleidung und sogar zum Teil mit den Haaren war sie am Boden festgefroren. Als Samuel sich kurz umdrehte, erblickte er einen Eimer und gleich darauf auch den vereisten Wannenausguss. Ganz klar, dass Ellie ausgerutscht und hingefallen war, als sie versuchte, das Wasser mit dem Eimer aus der Waschwanne zu schöpfen. "Pass auf sie auf, Loo", sagte Samuel zu Baloo. Der Hund nahm seinen wichtigen Auftrag mit einem glücklichen Bellen an, und Samuel sprintete davon, um eine Eishacke zu holen. Ellie murmelte vor sich hin, als er wegging, und sie murmelte noch immer, als er zurückkam. "Rühr dich nicht", warnte er sie. Ellie drehte den Kopf herum, soweit das festgefrorene Haar es zuließ. Ihre Augen waren groß und der Blick beunruhigt. "Ich hoffe, du weißt, was du tust." "Schau mich nicht so an. Es macht mich nervös." "Du bist nervös?" Sie zuckte bei den in alle Richtungen fliegenden Eisstücken zusammen. "Was: glaubst du denn, wie ich mich fühle?" "Ein wenig albern, möchte ich meinen. Zu schade, dass ich keine Kamera besitze." Ellie schloss fest die Augen, als Samuel das Eis um ihr Haar herum weghackte. Als er damit fertig war, hob Ellie den Kopf und stöhnte erleichtert. "Oh, das tut gut."
"Roll dich ein wenig mehr zur Seite. So ist's fein. Nun kann ich auch unter deinen Ellbogen kommen." Samuel nahm seinen dicken Wollschal und Wickelte ihn ihr um Gesicht und Ohren, so dass nur ihre Augen frei blieben. "Danke." Ihre riesigen braunen Augen mit den bernsteingelben Flecken blitzten wie ein Sonnenuntergang auf einem Gebirgssee. Es waren Augen, die in die Seele eines Mannes eindrangen und ihn nicht wieder losließen. Auf einmal konnte Samuel nicht mehr atmen, das Blut rauschte laut in seinen Ohren, und sein Herz Schlug wie verrückt. Ellie war schön. Vielleicht war sie sogar die schönste Frau auf Erden. Aber sie war noch mehr als das. Sie war das bezauberndste Wesen und die begehrenswerteste Frau, die Samuel jema ls kennengelernt hatte. Er wollte sie. Im Bruchteil einer Sekunde zerstreuten sich all die Lügen, von denen er sich selbst hatte überzeugen wollen, durch die er seine Sehnsucht nach ihr verleugnen wollte. Er begehrte sie, begehrte diese Frau verzweifelt. Und das ängstigte ihn halb zu Tode. "Samuel? Du bist auf einmal so blass geworden. Ist alles in Ordnung?" Er blinzelte und wandte den Blick von ihren verführerischen Augen ab. "Es dauert nur noch ein paar Sekunden, dann hab' ich's geschafft." Ellie seufzte gequält. "Tu, was du tun musst, ehe wir uns zu Tode frieren." Jedesmal, wenn er wieder ein paar Zentimeter von ihrer Kleidung aus dem Eis befreit hatte, bewegte Ellie sich und stöhnte leise und, wie Samuel fand, so sinnlich, dass er vor Verlangen innerlich ganz wild wurde. Und als er die letzten Eissplitter herausgeschlagen hatte, war Samuel in ernsthafter Bedrängnis. Ellie dagegen war in Hochstimmung. Unendlich erleichtert, dass sie sich wieder frei bewegen konnte, setzte sie sich mit einem ausgelassenen Freudenschrei auf und legte ihm die Arme glücklich um den Nacken, als er ihr aufhalf. "Endlich frei, endlich frei." Sie tätschelte den Kopf des um sie herumspringenden Hundes mit ihrer behandschuhten Hand. "Langsam habe ich mich wie eine Fliege in einem Eiswürfel gefühlt," Sie blickte mit rosigen Wangen und strahlenden Augen zu Samuel auf, "Mein Held ... schon wieder hast du mich gerettet." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, zog den Wollschal vom Mund und legte leicht ihre Lippen auf seine. Der Kuss war impulsiv, sollte ein keuscher Ausdruck der Dankbarkeit sein, der allerdings so sehr nach mehr schmeckte, dass weder Ellie noch Samuel Anstalten machten, ihn zu beenden. Samuel war bis ins Innerste ergriffen. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. Er konnte von Ellie einfach nicht genug bekommen, wollte mehr, wollte sie ganz. Es war schließlich Ellie, die sich von ihm löste, atemlos, zitternd, ihre Augen groß vor Schock, dunkel vor Sehnsucht; Samuel erkannte die stumme Bitte. Er biss die Zähne zusammen, atmete tief die eisige Luft ein und zwang sich, Ellie loszulassen. "Ich hätte es nicht tun dürfen", sagte er mit heiserer Stimme. Sie ging auf die Verandatür zu und warf einen Blick auf Samuel zurück. "Ich glaube, es wäre angemessener zu sagen, wir beide hätten es nicht tun dürfen." Es klang nervös. "Ich habe nicht gerade geschrien oder mich gewehrt." Nachdem sie die Tür geöffnet hatte und sie aufhielt, bis auch Samuel die Veranda erreicht hatte, sagte er entschlossen: "Es ist meine Verantwortung." Drinnen, in der warmen Hütte zog Ellie die Handschuhe aus und stellte sich vor den bullernden Ofen. "Du bist nicht für alles, was in der Welt geschieht, verantwortlich, Samuel. Was geschehen ist, ist geschehen, aber es wäre nicht passiert, wenn ich es nicht gewollt hätte."
Ihre Blicke begegneten sich, sandten sich gegenseitig stumme Botschaften zu, die beide verstanden und doch nicht laut aussprechen wollten. Und schließlich schauten sie wieder weg. Samuel straffte die Schultern. "Es kommt nicht wieder vor." Ellie musterte ihn einen Moment lang. Ihre Augen leuchteten auf, und ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. Doch, es würde wieder vorkommen. Sie beide wussten das. "Dann mal los, Hoppelchen. Deine letzte hausgemachte Mahlzeit." Ellie schob einen Teller mit Mohrrübenstücken und eine kleine Schüssel mit Müsliflocken in den Käfig und setzte sich zurück auf die Fersen. Sie blickte hinüber zum Sofa und ertappte Samuel dabei, wie er sie anstarrte, bevor er seinen Blick ganz schnell wieder auf das Buch richtete. Ellie gab vor, es nicht gemerkt zu haben. "Bist du sicher, dass Hoppelchen schon soweit ist, in die Wildnis zurückzukehren? Drei Wochen kommen mir für das Auskurieren der Verletzungen ziemlich kurz vor." Samuel ließ das Buch auf seinen Schoss sinken. "Dem Hasen geht es gut, Ellie. Und wenn unser kleiner Gast sprechen könnte, würde er dir bestimmt versichern, dass er gern wieder in seine gewohnte Umgebung zurückkehren würde." "Aber es ist kalt dort draußen. Sollten wir nicht warten, bis es wärmer wird?" "Es war schon kalt, als wir ihn gefunden haben. Darum hat die Natur ihn auch mit einem warmen Fell ausgestattet." Ellie blickte Samuel böse ah. "Du musst nicht mit mir reden wie mit einem Kind." "Das war nicht meine Absicht." Um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln, das er mühsam versteckt halten wollte. "Ich bin mir nämlich durchaus bewusst, dass nur reife Erwachsene Worte wie ,Wackelöhrchen', ,Schnüffelnäschen' oder ,Kuschelschwänzchen' verwenden, wenn sie mit einem Hasen sprechen, der gar nicht die Möglichkeit hat, etwas dagegen einzuwenden."' Ellie hob das Kinn und rümpfte die Nase. "Hoppelchen versteht jedes Wort, das ich ihm sage." "Na ja, dann gibt es immerhin einen hier, der das tut." Sie lachte und ging zur Wiege, um ihren quengelnden Sohn aufzunehmen. "Frauen sollten geheimnisvoll sein. Das macht uns so verlockend." "Dann kann ich dir sagen, dass du die verlockendste Frau bist, der ich je begegnet bin." Obwohl Ellie wusste, dass Samuel nur Spaß machte, schlug ihr Herz ein wenig schneller. Sie drückte Daniel an ihre Schulter und rieb seinen winzigen Rücken. "Bin ich das?" fragte sie weich. Samuels Lächeln schwand, und seine Augen verdunkelten sich. Er erwiderte nichts darauf. Er brauchte es auch nicht. Das Verlangen in seinen Augen war Antwort genug für Ellie. Samuel begehrte sie. Er wollte es nur nicht zulassen. Samuel bekämpfte seine Sehnsüchte aus dem gleichen Grunde, aus dem auch Ellie ihre bekämpfte. Sie beide lebten mit einer Lüge, gaben vor, so weitermachen zu können wie bis jetzt, wollten nicht zugeben, dass diese Idylle irgendwann ein Ende nehmen musste, und zwar früher, als sie beide es wahrhaben wollten. Die Morgendämmerung brach an, klar und kalt, versprach einen Tag mit blauem Himmel und glitzerndem Eisschnee. Der Anblick, der sich Ellie bot, war so atemberaubend schön, dass sie darüber hätte weinen können. Sie zog sich dick an und. trat stoisch auf die vordere Veranda, um Abschied zu nehmen. Von der Treppe aus beobachtete sie Mann und Hund dabei, wie beide über die Schneehügel auf den Wald zugingen. Kur z vor den alles verdeckenden Bäumen blieb Samuel stehen und drehte sich um. Er hielt den Hasen in der Armbeuge, schien dem Tierchen etwas
zuzuflüstern, hob ihn einen Moment hoch, als wolle er sich ein letztes Mal von ihm verabschieden, dann drehte er sich um und trug es in den Wald. Ellie stand da, bis auch der letzte Schatten hinter den Bäumen verschwand. Eine Träne löste sich aus ihrem. Auge und blieb an den Wimpern hängen. "Lebe wohl, Hoppelchen", wisperte sie. "Hab ein glückliches Hasenleben." Du wirst auf der Veranda stehen, und du wirst dir wünschen, du hättest deinen Gefühlen nicht soweit nachgegeben und ihn ins Herz geschlossen. Schlimm, dass sie ihre Empfindungen nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Wieder einmal.
8. KAPITEL
Ellie kam die Dachbodenleiter herunter und hielt dabei einige eingerahmte Fotografien an sich gedrückt, die sie in einem Sammelbehälter unter der unbenutzten Koje entdeckt hatte. Sie nahm sie mit in die Küche, wo Samuel über den Tisch gebeugt dasaß und in ein Notizbuch Eintragungen machte. Ohne aufzublicken, fragte er: "Hast du etwas Brauchbares zum Anziehen finden können?" "Ja, einige T-Shirts, einige alte Flanellhemden, aus denen ich für Daniel Strampelhöschen nähen kann, und zwei Paar Jeans, die mir vielleicht passen." Sie legte die Fotografien auf einen Stuhl, nahm die über die Schulter gelegten; Kleidungsstücke ab und hielt eine verwaschene und abgetragene Denimhose hoch. "Meine Güte, so etwas nenne ich geräumig." Trotzdem, Ellie war von ihrem Fund geradezu begeistert. Sie war es leid, immer nur in den wenigen Sachen, die sie hatte, herumzulaufen. Ihre gesamte Garderobe bestand aus Umstandsoveralls. "Ich kann die Hose aber leicht auf meine Figur umändern." "Rory liebt Bier", murmelte Samuel und blätterte eine Seite um. "Und sein Bauch zeugt davon." "Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie schmal er als Junge war." Samuel brummelte seine Zustimmung, dann legte er den Kugelschreiber neben das Notizbuch und sah überrascht hoch. "Wie willst du das wissen?" Ellie war dabei, das Flanellhemd zu begutachten und zu überlegen, wie viele Strampelhöschen sie da herausbekommen könnte. "Was soll ich wissen?" "Dass mein Bruder ein schmaler Junge war." "Oh, das hab' ich fast vergessen." Sie schob die Kleidungsstücke, die sie auf den Stuhl gelegt hatte, zur Seite, kramte die Fotografien darunter hervor und brachte sie zum Tisch. "Die hier habe ich in einem Behälter gefunden. Das bist doch du, stimmt's?" Sie zeigte auf den kleineren der zwei Jungen, die "neben einem kleinen Fluss standen, jeder mit einer Angelrute in der Hand. "Dieser ernste Blick kann nur dir gehören." Samuel nahm die gerahmte Fotografie in die Hand und betrachtete sie lächelnd. "Du würdest auch ernst dreingucken, wenn du gerade das Taschengeld eines ganzen Monats eingebüßt hättest. Rory und ich haben darum gewettet, wer den besten Fang macht." Ellie stand hinter seinem Stuhl und beugte sich vor, bis sie mit der Brust ungewollt seine Schulter streifte. Sofort richtete sich Ellie wieder auf, bekam aber trotzdem mit, wie Samuel zusammenzuckte. Der seifige Duft, der von seinem frischgewaschenen Haar ausging, wirkte seltsam erotisch auf sie. Ellie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und wartete, bis ihr Puls sich beruhigte, ehe sie vorsichtig über Samuels Schulter mit dem Finger auf den Jungen neben ihm hinwies. "Er hat dich also übertrumpft, hm?" "Ja, das hat er", stimmte Samuel ihr grantig zu. Samuels verdrießliche Miene war der auf dem Foto so ähnlich, dass Ellie lachen musste. "Wie alt warst du damals?" "Acht oder neun. Rory muss also ungefähr dreizehn gewesen sein." Er legte die gerahmte Fotografie beiseite und nahm die nächste auf. Sie zeigte wieder die Jungs, nur dass diesmal ein Mann dabei war, der die gleichen ernst dreinblickenden Augen wie Samuel hatte; "Das ist mein Vater. Gleich nachdem meine Mutter dieses Foto geschossen hat, habe ich Rory versehentlich einen Schubs gegeben, so dass er rückwärts ins Wasser gefallen ist." "Versehentlich, ja?" Als Samuel über den Verdacht aufstöhnte, lachte Ellie noch mehr und zerzauste ihm spielerisch das Haar. Sie hatte ihn damit nur necken wollen. Aber als sie mit den Fingern in das überraschend weiche Haar fuhr, musste Ellie sich mächtig zusammenreißen, um nicht zärtlich darüberzustreichen.
Dass Samuel sich bei der Berührung versteifte, nahm Ellie wahr. Und als sie die Hand zurückzog, hörte sie ihn tief ausatmen. Es war klar, dass sie Samuel nicht gleichgültig war. Das gefiel Ellie, obwohl sie nicht darüber nachdenken wollte, warum das so war. Ellie räusperte sich hörbar, um sicherzugehen, dass ihre Stimme sie nicht verriet. "Hast du vielleicht noch mehr Fotografien von deiner Familie?" "Irgendwo gibt es hier ein Fotoalbum mit Bildern von unseren Ferien." Er mied ihren Blick, stand auf und schob den Stuhl nach hinten. "Ich schau mal nach, ob ich's finden kann." Ellie hatte eher den Verdacht, dass Samuel einen Moment allein sein wollte. Auch sie konnte die Zeit gut gebrauchen, um ihr innerliches Gleichgewicht wiederzufinden. Doch Daniel hatte seine eigene Vorstellung. Ein griesgrämiges Quieken trieb Ellie zur Wiege, wo sie nach ihrem wach gewordenen Sohn sah. "Was ist los, mein Kleiner?" Sie hob das sich windende Baby aus der Wiege und legte es gegen ihre Schulter. Die Frage wurde durch ein befriedigendes Bäuerchen beantwortet. "Meine Güte. So viel Luft im Bäuchlein? Jetzt fühlst du dich sicher besser, nicht?" Ellie rieb seinen Rücken, fuhr mit der Hand leicht über die. Wange und das seidenweiche Köpfchen und fing an zu summen. Daniel gähnte und schloss die Äuglein, während Ellie ihm ein Gutenachtlied sang. "Schlafe, schlafe, Kindchen ... mein Schatz mit dem lieben Gesichte. Schlafe, schlafe, Kindchen ... in deiner Wiege aus Fichte." Die Bodenleiter knarrte. "Es ist Zedernholz." Samuel kam mit einem dicken, in Leder gebundenen Album unter dem Arm herunter. "Die Wiege ist aus Zeder, nicht aus Fichte." "Das reimt sich aber nicht. Ellie lächelte, während sie ihren eindösenden Sohn in die Wiege zurücklegte und ihn zudeckte. "Oh, du hast das Fotoalbum gefunden", stellte sie dann erfreut fest und setzte sich zu Samuel auf das Sofa. Sie wusste nicht, warum ein Blick in die Vergangenheit dieses rätselhaften Mannes so verlockend war, aber sie konnte es kaum abwarten, die Fotos zu sehen. Gleich das erste Foto zeigte einen Jungen mit zerzaustem Haar, der verzweifelt das zu weite Gummiband einer viel zu großen Badehose nach oben zerrte. "Bist du das?" rief Ellie fröhlich. Samuel nickte kurz und hätte die Seite umgeblättert, wenn Ellie ihn nicht davon abgehalten hätte. "Wie alt warst du da, fünf?" "Wohl eher sechs." "Warum schreist du in die Kamera?" "Weil ich wütend war." "Das ist offensichtlich, aber warum?" Samuel seufzte. "Wenn das Foto zwei Sekunden früher aufgenommen worden wäre, hättest du gewusst, warum." Ellie konnte sich so ungefähr vorstellen, was er meinte. Es belustigte sie. "Wäre dann auf dem Foto ein wenig mehr Haut zu sehen gewesen?" Sein mürrischer Ausdruck wich einem angedeuteten Lächeln. "Sagen wir mal, diese schlottrige Badehose in Verbindung mit einer schnellen Wasserströmung und eine r Mom, die immer bereit ist, auf den Fotoauslöser zu drücken, sind der schlimmste Alptraum für einen kleinen verschämten Jungen." Während der nächsten halben Stunde hatte Ellie das Vergnügen, einen Blick in Samuels Kindheit werfen zu dürfen, eine so glückliche Zeit, dass die Erinnerung daran seine Augen noch immer aufleuchten ließ. "Das hier wurde aufgenommen, als Dad die hintere Veranda gebaut hatte, die mit dem Maschennetz", sagte Samuel und wies auf einen Schnappschuss, auf dem sein lächelnder Vater zu sehen war, der vor dem Gerüst der Veranda stand; Im Hintergrund war undeutlich
eine kleinere Gestalt mit einem Hammer zu erkennen. "Das ist Rory, der versuchte, meinem Vater dabei zu helfen. Sein Daumennagel war monatelang schwarz." "Oh, das arme Kind." "Von wegen ,armes Kind'", entgegnete Samuel fröhlich. "Rory stolzierte umher, als ob ein gequetschter Daumen so etwas wie eine heldenhafte Kriegswunde wäre!" Ellie stieß ihm leicht den Ellbogen in die Rippen. "Höre ich da etwa Eifersucht heraus?" "Natürlich. Ich wollte auch einen schwarzen Daumen haben, aber ich war zu feige, absichtlich mit dem Hammer draufzuschlagen." "Du und dein Bruder, ihr wart bestimmt unzertrennlich." "Ja, das waren wir", antwortete Samuel versonnen. Er blätterte eine Seite um, und neue Fotos, die in einem anderen Jahr aufgenommen worden waren, kamen zum Vorschein. Ellie betrachtete die Schnappschüsse, lauter Momentaufnahmen, die liebevoll in das Album eingeklebt worden waren, um wunderschöne Erinnerungen wachzurufen. Die Evans-Jungs waren in der nächsten Fotoserie älter. Samuel, unternehmungslustig mit schulterlangem Haar, schien mindestens zwölf zu sein, und Rory hatte sich zu einem schlaksigen, linkischen Jugendlichen entwickelt. Noch jemand hatte sich zu den Anglern gesellt, ein rothaariger Junge mit einem Gesicht voller Sommersprossen. "Und wer ist das hier?" fragte Ellie und wies auf ihn. Samuels Gesicht verschloss sich. "Drake Jackson." "Er war eher in deinem Alter als in Rorys, nicht wahr?" "Er war mein Freund", antwortete Samuel und wollte die Seite umschlagen. Doch Ellie berührte seine Hand und blickte ihn fragend an. "Also gut, er war mein bester Freund. Wir waren unzertrennlich." Etwas in Samuels Stimme hielt Ellie davon ab, weiter zu fragen. Auf den nächsten Seiten gab es noch mehr Bilder von dem jungen Drake. Auf einem wirkten Samuel und Drake aufgewühlt, so als ob sie geweint hätten. Um sie herum standen Männer in einheitlichen Overalls, die Armeeuniformen ähnelten. Ellie beugte sich über den Schnappschuss. "Ist das da im Hintergrund ein Hubschrauber?" Statt zu antworten, schlug Samuel ein paar Seiten um, bis zu einem Zeitungsartikel, der ins Album eingeklebt war. In der Schlagzeile hieß es, dass ein Junge aus der Gegend sich bei einem Sturz in eine Schlucht verletzt habe. Darunter war ein Foto abgebildet, auf dem nur unscharf eine Gestalt? auf einer Tragbahre, umgeben von denselben uniformierten Männern, zu sehen war. "Ist das Rory, der da liegt?" murmelte Ellie; Samuel starrte nachdenklich auf das Foto. "Wir drei machten eine Bergwanderung. Rory und Drake waren vor mir. Sie alberten herum und achteten nicht darauf, wo sie hingingen. Drake rutschte auf einem losen Stein aus. Rory zog ihn auf den Weg zurück, dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte den Abhang hinunter. Ich dachte, er wäre tot." "Das muss schlimm für dich gewesen sein." "Oh, ja. Die freiwillige Feuerwehr hat ihm das Leben gerettet. Die kamen mit dem Hubschrauber, holten ihn in Null Komma nichts aus der Felsspalte heraus und waren auch sofort wieder auf dem Weg zurück ins Krankenhaus. Von dieser Minute an wussten wir beide, Drake und ich, was wir später einmal werden wollten." "Du hast dich für den Sanitäterdienst entschieden", schloss Ellie und wartete vergeblich auf eine Bestätigung. Als sie nicht kam, fragte sie: "Und Drake? Hat er den gleichen Beruf ergriffen?" Samuel lächelte traurig. "Drake War mir immer in allem voraus. Er war in unserer Abteilung der Beste und Klügste." "Ihr habt beide im selben Bereich gearbeitet?" Als Samuel nichts darauf sagte, fragte sie weiter: "Ist Drake immer noch dort?"
Samuel legte das geschlossene Album neben sich, seine Hände zitterten merklich. "Nein." "Hast du dort aufgehört, weil Drake es auch getan hat?" Samuel schwieg lange mit abgewandtem Gesicht. Als er Ellie wieder ansah, stand tiefe Traurigkeit in seinen Augen. "Ich gehe jetzt ins Bett." "Samuel.:." "Gute Nacht, Ellie." Samuel stand auf, ging zur Leiter, stieg hoch und verschwand in den dunklen Schatten des Dachbodens. Schäumendes Wasser, braun vom Schlamm. Ohrenbetäubendes Dröhnen der Maschinen. Der ratternde Rotorenlärm vermischte sich mit gellenden Schreien. Ein verhängnisvoller Tag. Ein schrecklicher Tag. Samuel zog das Schwingseil nach innen in die Rumpflade, befestigte seinen Sicherheitsgurt an dem Rettungshaken. Ein Kamerad tippte mit dem Finger an seinen Helm. Das Signal. Er ließ sich herunter in die Hölle. Unter ihm wütete der Fluss, zermalmte Bäume und verschluckte die Überbleibsel. Samuel ließ sich weiter nach unten, baumelte am Seil, sah den Stamm, der sich in den Ästen eines teilweise überschwemmten jungen Baumes verfangen hatte. Das Seil schwang, drehte sich, ließ ihn tiefer, tiefer, tiefer zur aufgewühlten Flut hinab. Und dann entdeckte er sie. Große dunkle Augen, vor Angst weit aufgerissen. Nasses braunes Haar. Die kleine ausgestreckte Hand. Ein dünnes Stimmchen, übertönt von dem Toben um sie herum. Auch wenn ihr Schrei ihn nicht erreichte, so wusste er doch" was sie rief: "Helfen Sie mir, bitte, helfen Sie mir." Es war ein Madchen: Er beugte sich tief herunter, streckte seine Hand dem ertrinkenden Kind hin, wollte es packen. Dann schwang er mit dem Seil herum. Er konnte das Kind nur berühren, fühlte bloß die eiskalten Fingerspitzen. Der Stamm erzitterte, drehte sich mit der wütenden Strömung. Die kleine Hand entschlüpfte seinem Griff ... "Nein!" Das konnte nicht sein. "Nein!" Er würde es nicht hinnehmen. "Nein, nein, nein.'" Nicht schon wieder. Du lieber Himmel, nicht schon wieder. "Samuel!" Ein Keuchen, ein heiserer Schrei. "Samuel, wach doch bitte auf!" Er schlug nach den Händen, die ihn festhielten, "Nein", krächzte er. "Sie braucht mich ..." "Es ist bloß ein Traum, Samuel. Nur ein Traum." Die vertraute Stimme war süß und besänftigend. "Ellie?" Ihm war übel vor Angst. "Habe ich Daniel geweckt?" "Nein." Sie legte tröstend die Arme um ihn. "Du bist völlig schweißgebadet." Er erschauerte. "Mir geht es gut." Ihre Berührung, ihre Stimme brachten ihm inneren Frieden, und doch zog er sich von Ellie zurück. "Es tut mir leid, dass ich dich: geweckt habe." Sie waren sich so vertraut im Moment, fast wie Bruder und Schwester. "Geh zurück ins Bett, Ellie. Mir geht es wirklich gut." "Das glaube ich dir nicht." Samuel seufzte müde. Er wollte nicht mehr kämpfen. Er wollte sich einfach fallenlassen. "Du trägst diese Sache scho n solange mit dir herum", flüsterte: Ellie. "Es ist an der Zeit, dass du dich jemandem anvertraust, dich mir anvertraust."
Nur der Himmel allein wusste, wie sehr er sich wünschte, die Erinnerung, die ihn so schmerzhaft verfolgte, endlich zu verarbeiten. Er setzte sich auf und schwang die Beine über die Koje. Dann stützte der die Ellbogen auf die Knie und wartete, bis Ellie sich neben ihn gesetzt hatte. Während er dann sprach, starrte er vor sich auf den Boden. "Es war ein klarer Frühlingsmorgen", sagte er mit ruhiger Stimme. "Es hatte die Nacht zuvor geregnet, gerade genug, um den Himmel zu reinigen und alles frisch und neu aussehen zu lassen. Wir hatten Schichtwechsel, als der Anruf kam. Noch ehe wir die Einzelheiten erfuhren, waren wir schon unterwegs." Er atmete zitternd ein. "Ein Schulbus war von der Brücke gespült worden." Ellie hielt den Atem an. "Die Rettungsschicht A nahm die Landroute zum Fluss. Meine Schicht dagegen wurde zum Rettungshubschrauber umgeleitet. Als wir den Fluss erreichten ..." Er schwieg, konnte nicht weitersprechen. Ellie legte ihre Hand auf seine und drückte sie sanft. Nach einem Moment schluckte Samuel schwer und fuhr fort. "Es war das Schlimmste, was ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte. Die Brücke war weg. Der Schulbus war gegen einen unterspülten Holzmast gedrückt. Das einzige, was man sehen konnte, war ein brauner Strudel, der gelbes Metall umspülte, um es schließlich ganz aufzusaugen. Die Kinder... " Seine Stimme brach. "Die Kinder waren überall. Sie schrien, schluchzten, klammerten sich an den Ästen von dahintreibenden Bäumen fest. Wir holten sie heraus, eins nach dem anderen, so schnell wir konnten, während die Rettungsmannschaft vom Flussufer aus quer über den Strom in einer Linie dicke Baumstümpfe setzte. Wir hatten sie schon alle draußen, die Kinder, oder glaubten es zumindest, bis ich noch eins entdeckte..." Samuels Stimme klang tonlos, als er erzählte, wie er dieses Kind retten wollte. "Ich hatte solche Angst, es loszulassen..." Er atmete schwer. Wieder sah er alles vor sich, die brodelnde dunkle Brühe, die dahinschnellenden Trümmer. Erneut hatte er den Geschmack des Todes in seiner Kehle. Er erinnerte sich an alles, durchlebte alles noch einmal. Er hatte seinen Sicherheitsgurt geöffnet und war in den tobenden Fluss gesprungen, um sich das Kind zu greifen. Das aufgebrachte Wasser hatte sie beide heruntergezogen. Doch Samuel hielt das Mädchen hartnäckig umklammert, weigerte sich, es aufzugeben. Er würde es retten oder mit ihm sterben, aber er würde es niemals loslassen. Ein von der Mannschaft in den Fluss gesetzter Baumstumpf war die Rettung. Samuel wurde mit dem bewusstlosen Kind dagegengeschwemmt und hielt sich an ihm fest. Er hörte Rufe vom Ufer aus, Stimmen seiner Freunde. Vom Stahlseil baumelte über ihm plötzlich eine uniformierte Gestalt, die ihm das Kind abnahm. Samuel fühlte sich unendlich erleichtert, dass die Kleine in Sicherheit war. Aber er hatte keine Kraft mehr, gegen den Strom anzukämpfen. Er war dem wütenden Fluss ausgeliefert. Dann hörte er plötzlich eine Stimme. "Oho, Kumpel. Du entkommst mir nicht so leicht." Samuel erinnerte sich noch an Drake Jacksons lachendes Gesicht. "Halt dich fest, Mann." Drake hätte jedoch nicht die Ansammlung von Treibholz gesehen, die geradewegs auf sie zuschoss. Noch ehe Samuel eine Warnung herauskrächzen konnte, hatte Drake die Gefahr wahrgenommen und sich nach vorn gehievt, um den hilflosen Samuel mit seinem Körper zu schützen. Und mit dieser heldenhaften Handlung hatten sich zwei Leben für immer verändert. Ellie brachte zwei Becher mit Pfefferminztee, die sie auf den Couchtisch stellte. Dann legte sie einen Holzscheit in den Ofen, ehe sie sich zu Samuel auf das Sofa setzte. Ihr wurde das Herz schwer, als sie den traurigen Ausdrucken Samuels Augen sah.
"Du hast dem Kind das Leben gerettet, Samuel, und du hast es getan, ohne an deine eigene Sicherheit zu denken. Genau das gleiche hat Drake getan; Ihr beide kanntet das Risiko, und ihr beide seid dieses Risiko eingegangen." Samuel sah sie nicht an. "Aber ich bin immer noch völlig gesund, Drake ist es nicht." Samuel hatte ihr von den schweren Verletzungen erzählt, die Drake davongetragen hatte und die ihn für ein Leben lang an den Rollstuhl fesseln würden. "Was geschehen ist, ist tragisch", sagte Ellie. "Aber ich kann mir nicht denken, dass Drake dir für das, was ihm passiert ist, die Schuld gibt." Samuel zuckte die Schultern und rieb sich die Augen. "Ich gebe mir aber die Schuld dafür." "Warum?" "Weil ich mich nicht an die Regeln gehalten habe und das Rettungsteam dadurch in Gefahr gebracht habe. Ich habe einfach den Sicherheitsgurt geöffnet und mich in die Fluten fallen lassen." "Wenn du es nicht getan hättest, wäre das Kind gestorben", folgerte Ellie. "Glaubst du, Drake wäre das lieber gewesen?" Samuel schwieg lange, er war in Gedanken versunken. Dann erschauerte er und sagte leise: "Das war unsere Aufgabe, jeden Tag von neuem mit der Tragödie umzugehen, sich ihr zu stellen, sie zu bekämpfen, sie zu besiegen. Wenn es vorbei war, haben wir niemals darüber gesprochen, vor allem nic ht, wenn wir die Verlierer waren." Er starrte vor sich hin, als ob er das Schreckliche noch einmal durchlebte. "Aber seit jenem Tag, an dem ich die schreckgeweiteten Augen dieses kleinen Mädchens gesehen habe und das Gesicht meines allerbesten Freundes, ist der Tod kein Fremder mehr für mich. Er ist fassbar geworden." Samuel schloss die Augen. "Ich habe die Konsequenzen aus meinem Versagen gezogen. So etwas könnte ich nicht noch einmal geschehen lassen." "Oh, Samuel. So kannst du nicht weitermachen. Du musst dich mit dem, was passiert ist, aussöhnen. Und du kannst es nur, wenn du mit Drake darüber redest. Er braucht dich, und du brauchst ihn." Samuel nahm ihre Hand und betrachtete sie lange, als ob er in ihrer Handfläche lesen wollte. Verlangen flackerte in seinen Augen lauf. "Ich glaube, wir sollten jetzt ins Bett gehen. Daniel wacht bestimmt bald auf. Und du sollst nicht mehr oben auf dem Dachboden in der Koje schlafen." Samuel war auf gestanden und blickte sie verwirrt an. "Also?" Ellie atmete tief ein. "K ommst du mit in mein Bett?" Es stand Samuel ins Gesicht geschrieben, wie gern er auf diesen Vorschlag eingehen würde. "Das ist keine besonders gute Idee." "Warum nicht?" "Weil ich dich lieben möchte, wenn ich mit in dein Bett komme." "Davon gehe ich aus", flüsterte Ellie.
9. KAPITEL Samuel stand am äußersten Ende des Schlafbereichs und rührte sich nicht, "Also?" flüsterte Ellie vom Bett her. Mit zwei Schritten war er bei ihr, und Ellie streichelte seine Wange. Er nahm ihre Hand. "Eins müssen wir klären, Ellie. Du bist mir nichts schuldig." "Ich verdanke dir mein Leben." Als ein trauriger Ausdruck über sein Gesicht huschte, fügte sie schnell hinzu: "Aber das hat nichts mit dem hier zu tun. Ich kann mich nicht besonders gut ausdrücken, das war schon immer so. Deshalb sage ich manchmal etwas völlig Unpassendes." Sie hielt kurz inne, sprach dann jedoch schnell weiter, bevor er noch etwas einwenden konnte. "Ich möchte dir nahe sein, Samuel. Aber wenn du nicht das gleiche empfindest, dann ist es schon in Ordnung." Sie räusperte sich. "Na ja, vielleicht ist es doch nicht in Ordnung. Aber ich kann es akzeptieren, wenn du mir in die Augen blickst und offen sagst, dass du mich nicht willst." "Ganz so einfach ist das nicht, es geht nicht bloß darum, ob ich dich will oder nicht. Und du weißt das auch." "Doch, es ist wirklich so einfach. Ich erwarte ja gar nicht, dass du dich an mich bindest." "Es sollte dir aber darum gehen. Deinetwegen und Daniels wegen." Allein der Gedanke daran wühlte Ellie auf. Sie hatte niemals eine feste Bindung gewollt. Aber auf einmal sehnte sie sich danach ... nach einer Bindung mit diesem Mann. Ellie berührte mit der Fingerspitze ihre Lippen und zeichnete dann mit genau dieser Fingerspitze zärtlich die Linie seines Mundes nach. Samuel hielt den Atem an, dann umfasste er ihr Handgelenk und presste seine Wange in ihre Handfläche. "Es ist so wunderschön hier", flüsterte sie. "Ich möchte niemals von hier fort." "Ich weiß", antwortete Samuel genauso leise und drückte einen Kuss auf ihre Handfläche. "Aber nichts hier ist echt, Ellie. Es ist eine Illusion, eine Wunschvorstellung." "Für mich ist es aber echt. Und ich glaube, dass es auch für dich echt ist." Er seufzte. "Wir können uns nicht für immer vor der Welt verstecken." "Warum nicht? Was hat die Welt jemals für uns getan?" Es war dumm; völlig unvernünftig, was Ellie da sagte, und sie wusste es. Aber es war ihr gleichgültig. "Dort draußen gibt es für uns nichts als Leid. Wir können uns hier unsere eigene Welt schaffen, Samuel. Wir und Daniel könnten hier ein schönes Leben haben" "Wenn erst das Frühjahr da ist, siehst du die Sache ganz anders." Mit einem flüchtigen Kuss verhinderte er, dass sie etwas dagegen einwandte. Dann setzte Samuel sich auf den Bettrand und zog Ellie an sich, drückte ihren Kopf an seine Schulter und strich Ihr zärtlich über das Haar. "Zwischen uns und der Außenwelt liegen nur sechs Meilen. Sobald der Schnee schmilzt, .bist du hier nicht mehr sicher." Ellie war sich dessen nur allzu bewusst. Sie wollte nur nichts davon hören. Gestern war der erste März gewesen. Der Schnee wirbelte nun schon sanfter vom Himmel herunter und schmolz schneller, als er fiel. "Vielleicht hat Stanton inzwischen aufgegeben, nach uns zu suchen." "Das glaubst du doch selbst nicht." Nein, sie glaubte es nicht, nicht eine Minute lang. Nichts, aber auch gar nichts würde Stanton Mackenzie davon abhalten, seinen Sohn zu finden. "Ich will nicht darüber nachdenken" "Liebes..." "Ich will nicht an Stanton Mackenzie denken oder an das Frühjahr oder auch an Morgen." Ihre Stimme brach. Sie klammerte sich an Samuel, öffnete sein Hemd mit zitternden Fingern und strich über seine warme Brust. "Alles, was ich mir im Augenblick wünsche, ist diese Nacht. Bitte, Samuel, lass mir doch meine Illusion ... nur für jetzt, bitte.... dass diese schöne Welt, die wir uns geschaffen haben, immer so bleiben wird. Ich möchte, dass du mich liebst."
Sie schluchzte auf und barg ihr Gesicht an seinem Nacken. Sie fühlte an ihrer Wange, wie sein Puls raste, und fühlte auch, wie sein Widerstand dahinschmolz. Samuel küsste sie. Nicht mehr flüchtig. Es war ein heftiger, ein langer, ein inniger Kuss, und Ellie seufzte auf, als ob eine schwere Last von ihr genommen wurde. Sein Duft betörte ihre Sinne. Verlangen stieg in ihr auf, und dieses Gefühl war so stark, wie sie es noch nie zuvor verspürt hatte. Sie wollte Samuel. Sie wusste, dass nur dieser Mann die Macht hatte, sie zu heilen. "Ellie, Liebes, willst du das auch wirklich?" "Ja", seufzte sie. "Oh, ja." Sie küsste ihn mit immer größerer Leidenscha ft, während sie mit den Händen ruhelos über seine muskulöse Brust strich; um Samuel schließlich das Hemd mit fieberhafter Eile von den Schultern zu ziehen." Sie hielt inne, neigte den Kopf ein wenig zurück und betrachtete seinen nackten Oberkörper; der im schwachen Licht des Ofenfeuers golden schimmerte. "Du bist schön", murmelte Ellie. "So perfekt." Samuel murmelte etwas und zog Ellie wieder an sich. Seine Haut wurde heiß unter der Berührung, die Muskelstränge zogen sich unter ihren forschenden Fingerspitzen zusammen. Die Kraft seines Körpers erregte Ellie unbeschreiblich. Ellie wollte diese Stärke ganz fühlen. Jetzt, in diesem Augenblick. Samuel rückte ein wenig von ihr ab und zog sie langsam aus. Die kühle Luft verursachte ihr eine Gänsehaut, und auf einmal wurde sie verlegen. Sie verschränkte die Arme vor ihren schweren Brüsten. "Ich ... ich bin nicht mehr so schlank, wie ich einmal war." "Du bist wunderschön" Samuel beugte den Kopf und küsste sanft ihren Hals, während er mit der Hand den Verschluss des BHs suchte. "So schön"; murmelte er, nachdem auch die letzte Hülle gefallen war. "Manchmal sehe ich dir zu, wie du Daniel stillst, und ich beneide eure Nähe. Bevor ihr beide in mein Leben getreten seid, habe ich mir nie Gedanken über die besondere Beziehung zwischen Mutter und Kind gemacht, habe mir niemals vorstellen können, wie ergreifend es sein kann." Ellie erzitterte, als er ihre Brüste mit den Händen umschmiegte. "Es ist wie ein Wunder, diese bedingungslose Liebe, das war mir noch nie so klar wie jetzt." Als Samuel einen vorsichtigen Kuss auf Ellies dunkle Knospen drückte, stöhnte sie leise auf; legte die Arme um seinen Nacken und zog seinen Kopf an ihre Brust Es kam ihr so vor, als müsste ihr das Herz vor Glück zerspringen. Samuel war ein komplexer Mann, der Stärke und Sensibilität in sich vereinte, ein Mann, dessen körperliche Kraft über ein empfindsames Herz und eine sanfte Seele hinwegtäuschte. Samuel war ein Teil von ihr, und sie war ein Teil von ihm. Sie wollte ihn, wollte ihn ganz dicht bei sich spüren. Samuel streifte nun auch seine Hose ab. Seine Brust, seine Schultern, sein Nacken glänzten vor Schweiß. Er war ein wunderbar männlicher Mann. Ellie streckte ihm die Arme entgegen und zog ihn an sich. Die zärtliche Umarmung wurde leidenschaftlicher, die fast keuschen Küsse wurden heftiger. Mit den Lippen erforschten sie sich gegenseitig, mit den Finger streichelten sie sich, tasteten sich vor, entzündeten tausend winzige Feuer der Leidenschaft. Jede auch noch so zarte Berührung sandte Schockwellen durch ihre Körper, jede erotische Liebkosung brachte sie näher an den Rand der Ekstase. Die Realität hörte auf zu existieren. Ellie sog scharf die Luft ein, als Samuel endlich zu ihr kam. Dann schlang sie die Arme um Samuels Nacken und konnte nur noch an eines denken... daran, sich Samuel vorbehaltlos hinzugeben. Er liebte sie zärtlich und doch leidenschaftlich, weckte Empfindungen in Ellie, wie sie sie nicht für möglich gehalten hatte. Sie waren Liebende, die sich einander hingaben, waren wie zwei Hälften, die zusammen ein perfektes Ganzes ergaben.
"So ein verspielter Junge", murmelte Ellie und klatschte Daniels winzige Händchen zusammen. "Ja, das bist du, ein kleiner verspielter Mann. Du willst Aufmerksamkeit, nicht .wahr?" Das Baby lächelte und gluckste fröhlich. "Wie wär's, wenn Mami mal dein kleines rundes Bäuchlein kitzelt?" Ellie fühlte sich nach der letzten leidenschaftlichen Nacht beschwingt, geliebt und völlig befriedigt, Sie hob Daniels Hemdchen und blies einen dicken Kuss auf sein frisch gebadetes Bäuchlein. Daniel fuchtelte mit den Ärmchen und kicherte ... tatsächlich, er kicherte. Ellie hob überrascht den Kopf und starrte ihren kleinen Sohn an. "Du hast gelacht, du hast tatsächlich gelacht! Das muss ich gleich Samuel erzählen, wenn er wieder zurück ist." Wie auf Stichwort hörte sie auf der vorderen Veranda Schritte. Der Türknauf drehte sich, und Baloo sprang mit einem Satz vom Sofa und umrundete mit Wedelndem Schwanz seinen Herrn, der aus der Kälte hereingetreten war. Ellie legte Daniel über ihre Schulter und ging rasch auf Samuel zu, der sie mit einen Lächeln und einem Kuss auf den Mund begrüßte. "Hm ...", murmelte sie. "Schmeckt gut. Das hab ich vermisst." "Ich auch." Samuel lachte und streichelte mit der Fingerspitze die Wange des Babys. "Wie geht's unserem Jungen?" "Er hat gekichert, eigentlich war es schon ein richtiges Lachen." "Schade, dass ich es nicht gehört habe." Plötzlich wirkte Samuel nachdenklich. Er strich Daniel über das weiche Köpfchen und wandte sich ab, um seine Jacke auszuziehen. "Hast du jemanden erreichen können?" fragte Ellie mit bangem Herzen. "Ja." Auf dem Weg in die Küche nahm Samuel den Schlüssel zum Feuerturm aus der Tasche und legte ihn zurück in das Schubfach. "Man rechnet damit, dass die Straßen Anfang April wieder zugänglich sind." Ellie beobachtete seinen Gesichtsausdruck, ihr Herz klopfte wild. Samuel füllte ein Wasserglas; trank es leer, dann blickte er ihr in die besorgten Augen. "Meine Kontaktperson bei den Waldhütern sagte, dass der Suchtrupp in der ersten Aprilwoche seine Arbeit wiederaufnehmen wird. Er fragte mich, ob Baloo und ich uns an der Suche beteiligen wollten." "Sie suchen also noch immer nach mir." "Eigentlich suchen sie nach einer Leiche." "Die glauben, dass ich tot bin?" Samuel nickte. "Das ist doch eine gute Nachricht, nicht? Wenn Stanton glaubt, dass ich tot bin, gibt er die Suche auf." Samuel dachte über diese Möglichkeit nach. "Mackenzie fürchtet natürlich das Schlimmste, aber ich glaube nicht, dass er es ohne Beweis akzeptiert. Er hat eine hohe Belohnung ausgesetzt, und die Suchmeldung mit deinem Bild hängt überall. Wenn wir hierbleiben, wird früher oder später jemand hier hereinstolpern und dich erkennen." Ellie zitterte so stark, dass sie Daniel wieder zurück in die Wiege legen musste. Schuldgefühle kamen in ihr hoch. Ein Leben auf der Flucht war nicht gerade das, was sie sich für ihr Baby vorgestellt hatte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, Daniel eine glückliche, normale Kindheit zu bieten! "Er ist groß geworden", flüsterte Samuel hinter ihr und legte die Arme um ihre Taille. "Schau dir mal seine rundlichen Wangen an." Sie drehte sich in seinen Armen um, um ihm forschend in die Augen zu sehen. "Samuel, stimmt etwas nicht?" Er zögerte kurz, was ihre Besorgnis nur steigerte. "Nein, alles in Ordnung." "Wirklich?" Unsicherheit flackerte, in seinen Augen auf. "Nein, es ist nichts."
"Samuel, sag es mir." Er entfernte sich einen Schritt von ihr und sprach, ohne sie dabei anzublicken. "Ich frage mich, ob du das Richtige tust. Du kannst nicht für alle Zeiten Daniels Vater ausweichen. Früher oder später wirst du dich mit ihm auseinandersetzen müssen." Furcht überkam Ellie. "Nein, das will ich nicht, und das werde ich auch nicht. Stanton Mackenzie ist ein Lügner, ein Betrüger und ein durch und durch gewissenloser Schurke. Ich werde es nicht zulassen, dass mein Sohn auch nur irgend etwas mit ihm zu tun hat." Samuel packte sie bei den Handgelenken, als sie sich von ihm abwandte. "Ellie, Liebes, ich stehe doch auf deiner Seite." Sie entzog sich ihm. "Es hört sich aber nicht so an." "Wie lange willst du denn noch vor ihm davonrennen?" "So lange, wie es nötig ist. Ich gebe meinen Sohn nicht auf, Samuel." "Das hatte ich damit auch gar nicht gemeint, Ellie." "Was hast du dann gemeint? Dass ich meine leere Brieftasche mit Stantons unerschöpflichem Bankkonto messe? Mich auf meinen überarbeiteten Rechtsanwalt vom rechtlichen Beistand für soziale Härtefälle verlasse, der gegen Stantons Team von Menschenhaien in Armani-Anzügen kämpfen muss? Und das alles in der vergeblichen, irrigen Hoffnung, dass ich vielleicht, vielleicht Besuchsrechte für mein eigenes Kind bekomme?" "Ich besorge dir einen Rechtsanwalt, Ellie, einen guten. Du wirst Daniel nicht verlieren. Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass ich es nicht zulassen werde." "Was willst du denn dagegen tun, Samuel? Hast du vergessen, dass ich durch meine Flucht gegen einen Gerichtsbeschluss verstoßen habe? Wahrscheinlich wurde Stanton in der Zwischenzeit bereits mit der einstweiligen Vormundschaft belohnt. Mir wird es wahrscheinlich nicht einmal möglich sein, eine Anfechtungsklage einzureichen, damit ich ihm Daniel nicht sofort ausliefern muss, und das werde ich nicht tun. Hörst du mich, Samuel? Dass werde ich niemals, niemals tun." "Liebes, bitte ..." "Nein!" Sie trat einen Schritt zurück. "Ich will darüber nicht mehr reden." Samuel atmete tief ein. "Du kannst deine Probleme nicht lösen, wenn du vor ihnen wegrennst." "Warum nicht?" gab Ellie scharf zurück. "Du tust es ja auch." Sie hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sie sie schon bereute. Doch es war zu spät. Samuels Augen verdunkelten sich, und sein Gesichtsausdruck wurde zu einer Maske der Verzweiflung, Ellie streckte ihm die Hand entgegen. "Samuel, ich ..." "Das Feuerholz ist ausgegangen", sagte er ruhig. Dann nahm er seine Jacke vom Haken, öffnete die Tür und trat in die Kälte hinaus.
10. KAPITEL
Samuel hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt und den Kopf gegen den Wind nach unten geneigt, als er wieder zur Hütte zurückstiefelte. Er hätte nicht so herausstürmen sollen, hätte sich von der Wahrheit nicht so verletzen lassen sollen. Ellies Worte hatten ihn getroffen, weil sie recht hatte. Auch er, Samuel, rannte vor der Realität davon. Und er hatte noch nicht einmal einen so guten Grund wie sie. Ellie rannte, um ihren Sohn zu beschützen. Samuel rannte, um sich selbst zu beschützen. Bei Ellie ging es um unendlich viel mehr, und doch hatte er ihr geraten, Daniels Vater vor Gericht gegenüberzutreten und zu riskieren, das Sorgerecht für ihr Kind zu verlieren ... während Samuel nicht einmal den Mut hatte, dem Mann gegenüberzutreten, dessen Leben er ruiniert hatte. Welche Arroganz! Er stampfte durch den Sturm, blieb oft stehen, um wieder zu Atem zu kommen und die quälende Enge in seiner Brust wegzuhusten. Als er die Hütte erreichte, war ihm eiskalt, und er konnte es kaum erwarten, in die Wärme zu gelangen. Bibbernd stieß er die Tür auf und stellte sich dann sofort an den Ofen, in dem ein lustiges Feuer brannte. "Lieber Himmel, wo bist du denn gewesen?" Ellie holte das Deckbett und legte es ihm um die Schultern. "Schau dir nur deine Lippen an, die sind blau, und von deiner Nase hängen Eiszapfen." Letzteres bezweifelte Samuel, aber er war sich ziemlich sicher, was die Farbe seiner Lippen anging. "Ich habe meine Jacke vergessen." Es war eine etwas einfältige Erklärung. "Ich war schon kurz davor, mich mit Baloo auf die Suche zu machen." "So etwas solltest du niemals tun", murmelte er und zitterte am ganzen Körper. "Wenn du dich gefährdest, gefährdest du auch Daniel." Er zog das Deckbett enger um die Schultern und rückte noch ein wenig näher an den wärmenden Ofen. Ellie sah ihn überrascht an und wandte sich von ihm ab. "Ich mache dir einen Kaffee." Samuel legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie wieder zu sich um. "Niemals ... niemals darfst du Daniels Sicherheit gefährden." Sie sah ihn lange prüfend an. Dann nickte sie nur und lächelte. "Wie wär's mit Kaffee?" Er strich ihr mit dem Handrücken zärtlich über die Wange. "Hört sich wunderbar an." Ein weißer Korridor lag vor ihm. Licht fiel aus einem der Zimmer durch die geöffnete Tür. Samuel wollte nicht in diesen Raum, aber er wusste, dass er es musste. Er setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. Menschen eilten wie huschende Schatten an ihm vorbei. Sie rochen nach antiseptischer Seife. Noch ehe er die Tür erreicht hatte, schallte ein Schrei aus dem Zimmer. Ein schrecklicher, herzzerreißender Schrei. Er wirbelte herum und wollte nur eins ... weg von hier. Er hörte den qualvollen Schrei, sah die flehenden Augen. Und er wusste, dass er versagt hatte, auf ganzer Linie versagt. "Hier, nimm einen Schluck." Ellie legte die Hand auf Samuels Rücken und half ihm, sich gegen die Kissen zu setzen. Er blinzelte benommen, sah den dampfenden Becher, den sie ihm hinhielt. "Was ist das?" "Hühnersuppe. Sie wird dir guttun." "Ich bin nicht hungrig", murmelte er und wandte den Kopf ab. Ellie ließ nicht nach. Sie legte seine kraftlosen Finger um den Becher. "Drei Schluck, und dann lasse ich dich in Ruhe." Samuel öffnete die Finger, wollte den Becher nicht halten. "Wirklich, nicht jetzt, vielleicht später."
Ellie überlegte einen Moment. Einen kurzen Moment. "Vielleicht sollte ich dir zur Beruhigung ein Liedchen singen." Samuel stöhnte. "Schau hinunter in das Tal..." Ellie kam selbst dann nicht aus dem Takt, als Baloo den Kopf zurückwarf und ihr mit einem Heulen seine Zustimmung gab. "Lausch dem singenden Wind." "Ihr weckt den Kleinen." "Er mag unseren Gesang." Baloo heulte wieder. "Schau hinunter noch einmal, schau hinunter, liebes Kind." "Genug!" krächzte Samuel. "Gib mir den Becher." Ellie drückte ihm mit einem triumphierenden Lächeln den Becher in die Hand. "Kannst du nicht noch ein oder zwei Scheite ins Feuer legen?" bat er sie. "Es ist kalt hier." Es waren mindestens zwanzig Grad. "Klar, mach' ich." "Danke", murmelte Samuel und kroch unter die Decke. Sein Gesicht war gerötet, und seine Augen waren glasig. Doch er hob die Hand und strich Ellie noch einmal über die Wange. "Manchmal weckt mich mitten in der Nacht dein Duft, und dann begehre ich dich so sehr, dass es schmerzt." Damit drehte er sieh um und wenig später war er eingeschlafen. Auf der anderen Seite des Raumes drang ein verdrossenes Wimmern aus der Wiege zu ihnen. Ellie beugte sich vor, um ihrem schlafenden Liebsten einen Kuss auf die heiße Wange zu drucken. Dann ging sie, um sich um das Baby zu kümmern. Der Dampf, der dem Topf auf dem Herd entwich, duftete nach Zedernholz. Ellie fügte frische Zweige hinzu, die sie vorhin im Wald gesammelt hatte. In der Wiege brabbelte Daniel glücklich vor sich hin, war sich nicht bewusst, dass der weitere Verlauf seines so jungen Lebens, seiner ganzen Zukunft, auf einer Entscheidung seiner Mutter beruhte, die sie sehr bald würde treffen müssen. Was soll ich bloß tun? dachte sie. Samuel ist so furchtbar krank! Sie erschauerte und tätschelte geistesabwesend Baloos Kopf. Wie ein vierbeiniger Schatten folgte ihr der Hund überallhin. Tiere wussten instinktiv, wenn eine Krise aufkam. Unglücklicherweise konnten sie damit genausowenig fertigwerden wie die Menschen. Zumindest konnte Baloo es nicht. Der todunglückliche Hund hatte seit zwei Tagen vor Kummer nichts gegessen. Ellie ging hinüber zum Bett und setzte sich auf den Rand. Tränen stiegen ihr in die Augen. Samuel war so blass. Sie streichelte sein geliebtes Gesicht, strich ihm die jetzt stumpfen Haare aus der Stirn. Sein Atem ging stoßweise und rasselnd. Sie biss sich auf die Lippen. "Wach auf, Samuel", rief sie zärtlich. Er stöhnte. "Ich weiß", beschwichtigte sie ihn. "Ich weiß, aber du musst wach werden, nur für wenige Minuten." Seine Lider flatterten, öffneten sich aber nicht. Ellie befeuchtete ein Tuch in der Schüssel neben dem Bett und kühlte sein Gesicht damit. "Fühlt sich das nicht gut an? Ich glaube, dein Fieber ist schon ein bisschen heruntergegangen " Das mochte zwar durchaus so sein, aber er hatte immer noch starke Atembeschwerden. Der Dampf von siedendem Zedernholz hatte Daniel nach seiner Geburt so sehr geholfen, doch bei Samuel schien er nicht viel ausrichten zu können. Er öffnete mühsam die Augen. Tiefliegende Augen. Augen, die irgendwie tot wirkten. Ellie musste sich zusammennehmen, um nicht zu weinen. "Guten Morgen", flüsterte sie. Samuel blinzelte, versuchte sich zu konzentrieren. Seine Augen leuchteten ein wenig auf, als er Ellie erkannte. "Hallo." Er brachte das Wort mit großer Anstrengung heraus. Auf der anderen Bettseite hob Baloo die Vorderpfoten auf die Matratze und winselte leise. Samuel drehte den Kopf. "Hey, alter Junge. Wie ..." Er atmete schwer: "... geht's dir so?"
Der Hund leckte Samuels Handgelenk. Samuel fing an zu husten. Ellie legte ihm einen Arm auf den Rücken und hob seinen Oberkörper an, bis der Hustenanfall vorüber war. Dann schüttelte sie sein Kissen auf und half ihm, sich in eine halb sitzende Position aufzurichten, die sein Atmen zu erleichtern schien, "Wie wär's mit einem Schluck Wasser?" Als Samuel nickte, nahm Ellie das bereits volle Glas vom Nachttisch und brachte es an seine Lippen. Er nippte vorsichtig, machte keine Anstalten, das Glas in die Hände zu nehmen. Dann drehte er den Kopf als Zeichen dafür, dass er nun genug hatte. "Ellie ..." Nachdem sie das Glas abgesetzt hatte, legte er die Hand auf ihre und sprach zwischen mühsamen Atemzügen. "Du kannst nicht viel tun ... eine Lungenentzündung braucht ihre Zeit." In seinen matten Augen stand Entschlossenheit. "Aber eines ... kannst du doch tun... für mich." Ellie umfasste seine Hand. "Alles, was du möchtest." Er nickte müde, leckte über seine trockenen Lippen. "Nimm Daniel und geh." Sie war sich nicht sofo rt über die Bedeutung dessen, was Samuel da sagte, im klaren. "Wohin soll ich denn gehen?" "Irgendwohin. Chicago, Atlanta ..." Er drehte sich um, hustete, nahm einen röchelnden Atemzug. Als er wieder sprechen konnte, hörte er sich an wie ein Mann, der sich in sein Schicksal gefügt hatte. "Es ist höchste Zeit, Ellie." Eine schreckliche Angst ergriff sie. "Ich verlasse dich nicht, Samuel. Ich werde dich niemals verlassen." "Das musst du aber ...wegen Daniel." "Nein." Sie stand vom Bettrand auf und lief wie ein gefangenes Tier hin und her. "Dir geht es doch schon wieder besser." Sie glaubte verzweifelt daran. Sie musste es glauben. "Wir gehen gemeinsam, wenn du soweit bist, Samuel. Wir drei." "Die Schublade"', flüsterte er. Ellie blieb abrupt stehen, sah ihn wieder an. Seine dunkel umränderten Augen waren eingesunken, hoben sich von dem schneeweißen Gesicht ab. "Küchenschublade'', wiederholte er. "Schlüssel für den Lieferwagen. Nimm ihn." Ellie konnte nicht sprechen, sie starrte Samuel nur an. "Meine Brieftasche. Kreditkarten. Nimm die auch." Tränen Strömten ihr aus den Augen. Ihr ganzes Leben lang war sie vor Problemen davongerannt. Es war leichter so gewesen, weil sie niemals zuvor etwas so sehr gewollt hatte, dass sie bereit war, eine Konfrontation auszuhalten. Niemals ... bis jetzt. Zum erstenmal war Ellie gewillt zu bleiben, dem Kommenden mutig zu begegnen, jeden Preis zu bezahlen, jede Qual auszuhalten, um den Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, zu retten. Und sie liebte Samuel Evans, verzweifelt, unwiderruflich, mit jedem Atemzug, mit Leib und Seele. Sie würde ihn nicht verlassen. Sie konnte ihn einfach nicht verlassen. Aber wenn sie es nicht tat, würde sie ihren kleinen Sohn womöglich für immer verlieren. "Ellie", flüsterte Samuel schwach. In seinen Augen stand Verzweiflung. Sie eilte zu ihm ans Bett, nahm seine eiskalten Hände zwischen ihre und presste sie ans Herz. Er hustete, bemühte sich dann um ein Lächeln. "Ich danke dir." "Wofür?" "Du hast Freude in mein Leben gebracht. So viel Freude, so viel Lachen. Ich danke dir dafür." Ellie hielt noch immer seine Hand an ihr Herz gepresst und beugte den Kopf zur Seite, um ihr feuchtes Gesicht an der Bluse abzuwischen. "Ich lasse es nicht zu, dass du dich selbst aufgibst, Samuel. Hörst du?" Er stieß rasselnd den Atem aus und schloss die Augen. "Nimm Loo mit."
Dieser faule alte Jagdhund bedeutete Samuel ungeheuer viel. Baloo war sein ständiger Begleiter. Nichts hätte die beiden trennen können. Nichts. Bis auf ... Ellie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. "Ich nehme dir den Hund nicht weg, Samuel. Also musst du alles tun, um wieder zu Kräften zu kommen, damit du selbst für ihn sorgen kannst." Doch Samuel gab ihr keine Antwort darauf. Er war eingeschlafen. Ellie wurde plötzlich kalt. Sie rieb sich die Arme und ging zur Wiege., "Sorge dich nicht, mein Schätzchen," murmelte sie und nahm Daniel auf die Arme, "Mami lässt es nicht zu, dass dir etwas Böses geschieht. Und sie lässt es auch nicht zu, dass Samuel etwas Böses geschieht." Daniel gluckste und schenkte ihr ein vertrauensvolles breites Lächeln. Sie drückte den warmen kleinen Körper an sich und liebkoste ihn, bevor sie ihn wieder in die Wiege legte. Der Junge würde jetzt mindestens zwei Stunden schlafen. Schließlich ging sie in die Küche und nahm den Schlüssel zum Feuerturm aus der Schublade. Es gab für sie nur eine einzige Möglichkeit, und Ellie würde sie wahrnehmen.
11. KAPITEL
Der Hilfssheriff war hochgewachsen wie ein Mammutbaum und genauso unbeweglich. Er tippte mit dem Finger gegen die weite Hutkrempe und blickte durch eine ovale Fliegerbrille mit Spiegelgläsern. Ein strenger, autoritärer Tonfall vervollständigte das Bild. "Eleanor Elizabeth Malone?" Ellie starrte auf ihr Spiegelbild in den Brillengläsern und war leicht belustigt von ihrem eigenen rebellischen Gesichtsausdruck. Sie traute ihrer Stimme nicht und nickte deshalb nur kurz!. Sein Blick fiel auf das Baby auf ihren Armen. "Eine Menge Leute suchen Sie." Als Ellie nichts dazu sagte, fuhr er fort: "Ich bin Deputy Shaeffer, Ma'am. Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen." "Stehe ich unter Arrest?" Statt ihr zu antworten, drehte er sich der Veranda zu, wo Sanitäter mit Samuel auf einer Tragbahre herauskamen und zum Hubschrauber eilten. Baloo folgte ihnen bellend und umrundete bestürzt und verwirrt die Gruppe. Ellie wäre gern mit zum Hubschrauber gegangen, aber die Hand auf ihrer Schulter war erbarmungslos. So drückte sie Daniel an die Brust und sah zu, wie die Sanitäter Samuel in den Hubschrauber luden. Der Hilfssheriff umfasste ihren Ellbogen. "Wir sollten jetzt gehen." "In der Hütte, gleich neben der Tür stehen ein dunkelblauer Rucksack und eine Reisetasche. Würden Sie bitte beides für mich holen? Es sind die Sachen für mein Baby ..." Ihre Stimme brach. Sie biss sich auf die Unterlippe und hob trotzig das Kinn. Deputy Shaeffer war sich zunächst unschlüssig. Aber schließlich ließ er ihren Ellbogen los. "Nun gut", sagte er ruhig und entfernte sich. Ellie sah sich noch ein letztes Mal um. Diese vergangenen Wochen waren wunderbar gewesen, aber sie waren nun vorbei. Jetzt ging es erst einmal um Samuel. Er musste wieder gesund werden. Er. musste es einfach. Ellie weigerte sich, etwas anderes in Betracht zu ziehen. Sie atmete noch einmal tief ein, dann wendete sie sich zum wartenden Hubschrauber. Sie wechselte Daniel auf den anderen Arm und holte mit der freien Hand Baloos Leine aus ihrer Jackentasche. Das außer sich geratene Tier kam mit Hechtsprüngen auf sie zugerast, als sie ihn rief, und wedelte mit dem Schwanz wie wild, als sie die Leine an seinem Halsband befestigte. "Ist schon okay, Junge", besänftigte sie ihn. "Alles wird wieder gut." Baloo winselte; als ob er es besser wüsste. "Wir können den Hund nicht mitnehmen", bemerkte der Hilfssheriff streng. Er war inzwischen mit dem Gepäck zur ückgekommen. Ellie blickte ihn fest an. "Wenn Baloo nicht mitdarf, bleibe ich auch hier." Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. "Ich habe den Befehl, Sie zurück nach Sacramento zu begleiten." Baloo nahm offensichtlich Anstoß an dem strengen Tonfall, er entblößte die Zähne mit einem wütenden Knurren und zwang den Hilfssheriff dadurch, einen Schritt zurückzutreten. "Wir schicken später jemanden her, der ihn abholt." "Bevor oder nachdem er zu Tode gehungert ist?" Ellie starrte auf die wütende Frau, die sich in der Sonnenbrille des Mannes spiegelte. "Nehmen Sie Verbindung mit der Rettungswache zwölf auf. Ich weiß nicht, welcher Distrikt das ist, aber Samuel hat dort Freunde. Einer von ihnen wird Baloo vom Flughafen abholen und für ihn sorgen, bis Samuel wieder gesund ist." "Es gibt keinen Platz für ihn im Hubschrauber," Ellie musterte den großen Burschen, der vor ihr stand, abschätzig, "Sie nehmen doch selbst mehr Platz weg, als Ihnen zusteht" "Nun hören Sie mir einmal zu ..."
"Nein, Sie werden mir zuhören", unterbrach Ellie ihn mit eisiger Stimme und einem wütenden Funkeln in den Augen. "Hier geht es nicht einfach nur um irgendein gewöhnliches Haustier, obwohl selbst dann Ihr Verhalten unmöglich wäre. Dieses Tier hat in dieser Gegend bereits mehr Leben gerettet, als Sie womöglich zählen können. Wollen Sie es wirklich soweit kommen lassen, Ihren Vorgesetzten erklären zu müssen, warum in Ihrem kostbaren kleinen Hubschrauber kein Platz für diesen besonderen Hund gewesen war?" Ellie beendete ihre leicht überzogene Vorstellung mit so einem entrüsteten Blick, dass der große Mann ganz rot wurde. Ein amüsiertes Lachen vom Cockpit des Hubschraubers deutete an, dass er den Kampf verloren hatte. Und der Hilfssheriff wusste es. Ellie sah durch die getönte Windschutzscheibe der Limousine, in der sie nun saß, starr nach vorn. Hinter ihr auf den Rücksitzen herrschte Schweigen, und die Luft war schwer von teurem Cologne-Duft und dem Geruch maßgeschneiderter Wollanzüge. Es riecht nach Geld, dachte Ellie und hätte gern gewusst, ob die Männer hinter ihr Politiker oder Anwälte oder beides wären. Stanton hatte Beziehungen zu ersteren, umgab sich aber mit letzteren. Wie dem auch sei, sie jedenfalls konnte nichts tun um sich zu retten. Der Wagen verlangsamte das Tempo und hielt am Einga ngstor der exklusiven abgeschlossenen Wohngegend, wo Mackenzies Haus sich befand. Der Fahrer schob eine Plastikkarte in den Schlitz. Das Tor öffnete sich, die Limousine rauschte hindurch. Perfekt gepflegter Rasen, saubere, baumbeschattete Straßen, hochherrschaftliche Häuser. Die Limousine rollte in eine Auffahrt und blieb dort stehen. Unter einem halbmondförmigen Glasüberdach öffnete sich eine Doppeltür. Eine Frau mit perfekt gestyltem blonden Haar und einem extravaganten Kleid trat heraus. Edelsteine blitzten an ihren Ohren und an ihrem Hals. Marjorie Mackenzie war schön, weltgewandt, reich und unfruchtbar. Marjorie Mackenzie, die sich so verzweifelt ein Kind wünschte, dass sie bereit war, die Fehler und Ehebrüche ihres Mannes hinzunehmen, den ganzen Reichtum und die Macht ihrer Familie einzusetzen, alles zu tun, auch wenn es bedeutete, ein Baby den Armen seiner Mutter zu entreißen. Ellie hatte keine Zweifel daran, warum sie heute abend hierhergebracht worden war. Die Mackenzies hatten das Gesetz auf ihrer Seite. Piep. Piep. Piep. Es machte ihn verrückt. Piep. Piep. Piep. Er konnte nicht nachdenken. Piep. Piep. Piep. Er musste endlich einen klaren Kopf bekommen. Man hatte ihn in der Notaufnahme eine Zeit lang künstlich beatmet und ihn durch Infusionen mit Flüssigkeit versorgt, um ihn zu stärken. Seine Gedanken waren immer noch verwirrt. Doch er musste einfach nachdenken! Er musste einen Weg finden, um Ellie und Daniel aus den Klauen der Mackenzies zu befreien. Aber der Monitor, der verdammte EKG-Monitor, piepte und piepte und hörte nicht auf zu piepen. Samuel drehte den Kopf auf dem Kissen ein wenig zur Seite und fluchte unterdrückt. Sogar in dem abgedunkelten Raum konnte er sehen, dass der Anschluss des Monitors außerhalb seiner Reichweite war. Piep. Piep. Piep. Er keuchte mühsam, schlug die Decke zurück, hielt inne, um nach Luft zu schnappen. In seine Nasenlöcher wurde aus biegsamen, dünnen Schläuchen Sauerstoff geblasen. Zwei Schritte, zwei dürftige kleine Schritte, und er könnte die verdammte Maschine zum Stillschweigen bringen. Er schob ein Bein über den Bettrand.
"Wo willst du denn hin?" Die Stimme klang vertraut, aber die schattenhafte Gestalt in der geöffneten Tür war es nicht. Sie war stark zu einer Seite geneigt, so als ob sie schief gewachsen wäre. Samuel kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und fühlte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Der Mann lachte. "Du bist schon immer ungeduldig gewesen." Samuel schluckte. "Drake?" "Du hörst dich überrascht an." Drake zog einen Stuhl an das Bett, lehnte den Gehstock gegen das Bettende und ließ sich langsam auf dem Stuhl nieder. "Ich bin kein Geist", sagte er zu dem noch immer stummen Samuel. "Du kannst ja laufen." Drake legte den Kopf zu Seite. "Hatte ich dir nicht gesagt, dass ich nicht den Rest meines Lebens in einem Rollstuhl verbringen würde?" "Nach der Operation ..." Samuel atmete tief ein. "...haben die Ärzte gesagt..." "Ich weiß, was sie gesagt haben. Sie haben sich geirrt. Und du bist nicht lange genug dageblieben, um das selbst herauszufinden." Samuel zog das Bein auf das Bett zurück und ließ sich in die Kissen zurückfallen. "Konnte dir nicht in die Augen sehen." "Warum nicht? Was hat das alles mit dir zu tun?'' "Was es mit mir zu tun hat?" Samuel holte mühsam Luft. "Es war meine Schuld." "Deine Schuld? Wie zum Teufel bist du darauf gekommen, dass du für die schlimmste Überschwemmung seit zwei Jahrzehnten verantwortlich seist?" "Wenn ich nicht den Sicherheitsgurt abgelegt hätte ..." Samuel stöhnte, hustete und fiel schwer atmend zurück. "Wenn du es nicht getan hättest, wäre das Waisenmädchen umgekommen. Du hast der Kleinen das Leben gerettet." Samuels Lungen brannten. "Und du hast meins gerettet;" In seine Augen traten Tränen der Dankbarkeit. Drake konnte wieder laufen. Ihm war, als ob er aus einem grausamen Traum erwacht wäre. "Die Ärzte ..." Er nahm mehrere flache Atemzüge. "Ich habe gehört, was sie damals gesagt haben." Wieder eine Pause, um zu Atem zu kommen. "Bandscheibe beschädigt, Rückenmark beschädigt, vermutlich bleibende Lähmung." Drake nickte langsam. "So ungefähr stimmt das auch alles. Deshalb muss ich ja diese flotte Rückenstütze tragen und diesen wirklich vornehmen Stock benutzen, JoAnns Kinder finden das alles ganz schön cool," "JoAnn?" "JoAnn Martin, meine Krankengymnastin. Manchmal kommt sie mir vor wie ein sadistisches Biest, das sich daran weidet, wenn andere Leute Höllenqualen durchleben. Außerdem scheint sie fest daran zu glauben, dass die Wörter 'ich kann nicht' aus unserer Sprache verbannt werden sollten." Drakes Sommersprossiges Gesicht hatte sich verdächtig gerötet. "Wir ... na ja, wir heiraten im Juni. Willst du mein Trauzeuge sein? Vorausgesetzt, dass deine faule Kehrseite bis dahin aus dem Bett ist." "Du heiratest?" "Ja. Und da kommen noch mehr Neuigkeiten auf dich zu. Ich kann meinen alten Job natürlich nicht mehr ausführen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass das Berufsleben für mich damit zu Ende ist." Er lachte. "Ich wurde zum Medizinstudium zugelassen und fange damit im nächsten Semester an." Samuel war verblüfft. "Du willst Arzt werden?" "Ja." Drake grinste jungenhaft. "Ganz schön cool, nicht?" Er blickte Samuel eine Weile prüfend an. "Und du? Du hast einfach gekündigt und warst auf einmal verschwunden, warum?"
Wie konnte er einem Mann, der sich niemals geschlagen gab, sein Versagen verständlich machen? "Ich konnte einfach nicht mehr weitermachen"; wich er aus. "Konntest oder wolltest du nicht?" Samuel zuckte die Schultern. "Wahrscheinlich beides." "Du hast also aufgegeben." Aus Brakes Mund hörte sich das so feige an. "Ich musste", murmelte er. "Ich musste es tun." "Weil du wie gelähmt warst?" Samuel bekam einen Hustenanfall als er schockiert tief Luft geholt hatte. Nachdem der Anfall vorüber war, blickte er Drake an. Sein Freund wirkte, als ob er ihn verstünde, "Was damals in der Bergschlucht passierte, war nicht deine Schuld." Samuel schüttelte den Kopf. "Es war sehr wohl meine Schuld. Ich hätte das alles verhindern können" "Wie kommst du darauf; dass du so etwas Besonderes bist?" Die Frage war freundlich gestellt, und Drake schenkte ihm ein Lächeln, das nur alte Freunde füreinander hatten. "Ich war darauf trainiert, Menschen aus der Not zu retten. Dafür gibt es feste Regeln, und die habe ich nicht eingehalten." Drake schwieg mehrere Minuten lang. Dann erhob er sich. "Ich muss jetzt gehen. Baloo ist im Auto. Wahrscheinlich hat er schon die Hälfte der Polsterung angeknabbert." "Loo?" Samuel hob den Kopf vom Kissen. "Du hast Loo?" "Offensichtlich wollte deine Freundin nicht, dass der alte Kerl in einem Tie rheim endet. Sie beharrte darauf; dass der Pilot unsere Rettungswache anruft, damit jemand zum Hubschrauber kommt und Baloo abholt." Drake warf ihm einen verschmitzten Blick zu. "Deine Freundin hält offensichtlich sehr viel von deinem Hund." "Ellie", flüsterte Samuel. "Und wie ist es nun?" "Was?" "Willst du mein Trauzeuge sein?" "Du kannst einen Besseren finden." Drakes Augen blitzten verärgert auf. "Ja, wahrscheinlich hast du recht." Er hinkte zur Tür, drehte sich noch einmal um. "Übrigens, da du ja nichts Besseren zu tun hast, als all die alten Geschichten wieder aufzuwärmen, versuch doch mal, darüber nachzudenken, wie ich aus dem verdammten Fluss herausgekommen bin, nachdem der Baumstumpf mich traf." Und damit war Drake gegangen. Die Blonde musterte Ellie kühl. "Sie sind hübsch. Ich kann jetzt verstehen, warum Stanton sich zu Ihnen hingezogen fühlte." Ellie betete, dass ihre schreckliche Furcht sich nicht auf ihrem Gesicht zeigte. Sie stand in der hochvornehmen Eingangshalle, drückte den sich windenden kleinen Daniel an die Brust und sagte kein einziges Wort. Über ihr funkelte ein Kronleuchter wie tausend Kristallsterne. Hinter ihr sicherten zwei gleich gekleidete Männer die massive Eingangstür. Marjorie Mackenzies Blick fiel auf das unruhige Bündel auf Ellies Armen. Ihre Augen bekamen einen wärmten Glanz, ihre roten Lippen verzogen sich zu einem milden Lächeln. "Er ist so wunderschön. Ich habe gewusst, dass er so sein würde." Ellies Magen zog sich zusammen. "Warum bin ich hier?" Die Frau klimperte mit ihren getuschten Wimpern. In ihren Augen lag ein scharfer und berechnender Blick. Ellie hob trotzig das Kinn. Sie wies mit dein Kopf auf die Männer an der Tür. "Wenn Ihre angeheuerten Schläger in Nadelstreifen irgendeine legale Machtbefugnis hätten, dann hätten sie mich geradewegs zum Polizeirevier mitgenommen. Da ich zweifellos nicht unter Arrest
bin, bestehe ich darauf, dass Sie mich sofort wieder gehen lassen, oder ich verständige die Polizei." Das Lächeln der Frau verzerrte sich zu einem Grinsen. "Sie könne n gehen, wann immer Sie wollen." Ellie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und drehte sich um. Die Männer im Nadelstreifenanzug nahmen im Nu Haltung an und blockierten die Tür. Vorsichtig schaute Ellie über die Schulter. Das Lächeln der Frau war verblasst. "Sie können gehen", sagte sie ruhig. "Aber nicht Ihr Kind." Mit diesen unheilvollen Worten bewahrheiteten sich Ellies schlimmste Befürchtungen, und ihre ganze Welt brach zusammen. Etwas stimmte hier nicht. In ihrer Eile, Samuel zu retten, hatte sie nicht gründlich ihre Rechtslage überdacht. Zwar hatte sie um den Reichtum und die politische Macht der Mackenzies gewusst und sich nicht der Illusion hingegeben, dass sie Daniel ohne Kampf behalten könnte, aber sie war zu abgelenkt gewesen, um zu überlegen, wann oder auf welche Weise das Ganze vor sich gehen würde. Jetzt erkannte sie, dass das, was hier geschah, nichts mit dem Gesetz zu tun hatte. Diese Männer in ihren Nadelstreifenanzügen waren keine Gerichtsbeamten. Es gab hier auch keinen Richter, keine Sozialarbeiter von der Kinderfürsorge. Dies hier war keine vom Gericht anberaumte Sorgerechtsverhandlung. Es war eine Entführung. Angsterfüllt presste Ellie ihren Sohn an die Schulter und musterte die Männer, die sie hierherbegleitet hatten. Einer von den beiden kam ihr irgendwie bekannt vor, so als ob sie ihn schon einmal in einer Menschenmenge gesehen hätte und sich deshalb nicht ganz genau an ihn erinnern konnte. Sein hellblondes Haar trug er kurz, so wie viele Politiker es taten. Er hatte grünblaue Augen wie die Ehefrau ihres Ex-Liebhabers. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und der blonden Frau war verblüffend. Während Ellie ihn ansah, trat er nervös von einem Fuß auf den anderen und murmelte etwas, woraufhin sein älterer Begleiter mit einem freundlichen Lächeln nickte. Dann durchquerte der grünäugige Mann die Eingangshalle!, wich dabei automatisch einer großen Pflanze aus und trat in das sich anschließende große Wohnzimmer, in der eine schöne Wendeltreppe Ellie teilweise die Sicht versperrte. Der Mann traf dort mit einer gutgekleideten Frau mit großen, angstvollen Augen zusammen. Die Frau blickte zu Ellie herüber und machte Anstalten, etwas zu sagen. Doch der grünäugige Mann packte sie beim Ellbogen und zog sie weg. Ellie kam das alles sehr sonderbar vor. Die Art, wie sich der Mann und die Frau in diesem Haus bewegten ... es schien ihnen sehr vertraut zu sein. Angestrengt versuchte Ellie, das Wohnzimmer genauer zu betrachten. Sie entdeckte einige Fotografien, die auf dem Klavier standen, Familienbilder mit Kindern und einer Frau, die der braunhaarigen Frau von eben sehr ähnlich sah. Ellie schluckte schwer. Sie kam zu einem entmutigenden Schluss. Dies war gar nicht das Mackenzie-Haus. Zweifellos hatte Stanton sich große Mühe gegeben, damit sie und Daniel nicht leicht gefunden werden würden. Vorausgesetzt natürlich, dass jemand nach ihnen suchte. Ellie versuchte, gelassen zu wirken, und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu, der immer noch vor der Eingangstür postiert war. Er hatte sich lichtendes eisgraues Haar und einen funkelnden Diamanten am kleinen Finger, und er betrachtete Ellie fast mit Sympathie. Ein Vorteil, wenn auch ein kleiner, doch Ellie nahm ihn wahr und sah dem Mann offen in die Augen. "Bitte, können Sie mir zumindest verraten, wo ich bin?" "Das sollte für Sie von keiner Bedeutung sein." Ein melancholischer Ton, eine resignierte Haltung, als ob er eine Rolle übernommen hätte, die er geschmacklos fand, aber leider für nötig hielt. "Bin ich eine Gefangene?"
Es war Marjorie, die darauf antwortete. "Natürlich nicht, meine Liebe. Sie sind unser Gast." Ein eiskalter Schauer, überlief Ellie. Sie warf einen Blick über die Schulter. "Wird Gästen denn nicht erlaubt, zu kommen und zu gehen, wann immer sie wollen?" fragte Ellie zurück. Die blutroten Lippen verzogen sich grimmig. "Und wohin würden Sie gehen?" Die Frau täuschte Höflichkeit vor. "Wollen sie einen hilflosen Säugling dazu zwingen, auf einer dreckigen Parkbank zu verbringen, in einem Karton unter einer Brücke mit Säufern und Fixern? Das hört sich ganz nach Kindesmisshandlung an, Miss Malone. Und Kindesmisshandlung ist kriminell." "Entführung ist es auch." Ihre Knie zitterten so sehr, dass Ellie fürchtete, sie würden unter ihr nachgeben. Erneut blickte sie den Mann an, der noch immer den Eingang blockierte. "Sie wollen bei so etwas doch bestimmt nicht mitmachen?" wandte sie sich an ihn. "Ich kann es Ihnen doch ansehen. Bitte, helfen Sie mir, helfen Sie uns." Ihre Stimme brach, und sie drücke Daniel an ihre Brust. Der Mann war sich unschlüssig, blickte über Ellies Schulter auf die eiskalte Blondine, um von ihr einen Hinweis zu erhalten. Dann begegnete er Ellies verzweifeltem Blick mit trauriger Resignation. "Hier ist nichts Ungesetzliches vorgefallen. Sie sind freiwillig hierher gekommen." "Ich wurde in die Irre geführt. Man hat mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierhergebracht." "Wir haben Ihnen weder etwas vorgetäuscht noch Gewalt angewendet. Es gibt also absolut keine Basis für einen Zivil- oder Strafprozess." "Sie hören sich wie ein Anwalt an." Als er ihr darauf nichts erwiderte, stellte Ellie ihm die klare Frage: "Sind Sie Anwalt?" Er zögerte. "Ja, das bin ich." "Dann sollten Sie es besser wissen." Es war ganz klar, dass ihm nicht wohl in seiner Haut war. "Ich verstehe Ihre Sorgen, Miss Malone", sagte er in einem weicheren Tonfall. "Aber so traurig es nun einmal ist, wegen der besonderen Umstände war es nötig, Ihnen diese Unannehmlichkeiten zu bereiten." "Welche Umstände?" "Zur angemessenen Zeit wird Ihnen alles erklärt", versicherte er ihr. Noch bevor Ellie darauf eingehen konnte, fing Daniel plötzlich an, sich zu winden und ein wenig zu quengeln. Ellie hatte ihn noch immer fest an ihre Brust gedrückt und lockerte nun ihren Griff. Marjories Augen leuchteten in diesem Moment auf. Schnell kam sie auf Ellie zu und blickte dann auf das kleine Bündel in Ellies Armen. "Oh, wie niedlich, absolut süß. Er hat Ihre Augen, nicht wahr?" Etwas in Marjories Stimme hielt Ellie davon ab, von ihr zurückzuweichen. "Oh, diese winzigen Hände. Wie perfekt sie sind." Marjorie zögerte, dann blickte sie Ellie fragend an. "Darf ich ihn berühren?" Aus Gründen, die Ellie sich selbst nicht erklären konnte, erlaubte sie es und war bewegt von der offensichtlichen Faszination der blonden Frau, als sie mit ihrem tiefrot manikürten Finger sachte über die Wange des Babys strich. "Er hat Stantons Mund, meinen Sie nicht auch?" Bei dieser Bemerkung zog sich Ellies Magen zusammen, und sie machte einen Schritt zurück. Während der ganzen qualvollen Zeit war Ellie sich nur vage bewusst gewesen, dass ein Hauptdarsteller in diesem traurigen Drama noch seinen Auftritt machen musste. Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, zwang sie sich zu einem leichten Tonfall. "Ich würde jetzt gern mit ihm sprechen." Marjorie sah sie mit Augen an, deren Ausdruck Ellie irgendwie nicht ganz deuten konnte. "Natürlich. Folgen Sie mir doch, bitte." Sie drehte sich abrupt um und ging dann langsam auf
die Treppe zu. Als Ellie keine Anstalten machte, ihr zu folgen, wandte sie sich erneut um. "Ich dachte, Sie wollten jetzt gleich meinen Mann sehen." Ellie drückte Daniel wieder fest an sich. "Wo ist er?" "Er wartet auf seinen Sohn", antwortete Marjorie ruhig. Und doch konnte Ellie herausspüren, dass sich hinter dieser Ruhe ein Aufruhr der Gefühle verbarg. War es Traurigkeit, fragte sie sich, oder Wahnsinn? Instinktiv wusste Ellie, dass sie alle Antworten oben am Ende der Treppe finden würde, Antworten auf Fragen, die sie seit Monaten verfolgten, Antworten, die ihr Leben ... und das von Daniel... für immer verändern würden.
12. KAPITEL
Die Krankenschwester war ganz offensichtlich verärgert, doch Samuel kümmerte sich nicht darum. Nach zwei Tagen vergeblichen Nachforschens hatte er endlich den Hilfssheriff aufgespürt, der Ellie und Daniel von seiner Hütte weggebracht hatte. Und nur weil eine ungeduldige Krankenschwester gerade diesen Moment gewählt hatte, um seinen Blutdruck zu messen, würde er ganz bestimmt nicht aufhängen. Er nahm den Hörer in die rechte Hand und hielt mit der linken die frustrierte Frau weit von sich, dann setzte er sein Telefongespräch mit Deputy Shaeffer fort. "Hören Sie, Deputy, ich habe bereits herausgefunden, dass das Sorgerechtsverfahren schon vor Monaten abgewiesen wurde. Trotzdem haben Sie dem Piloten des Hubschraubers erzählt, dass Sie die Anordnung bekamen, Miss Malone und ihren Sohn zurück nach Sacramento zu begleiten. Nun interessiert mich folgendes: Wer hat Ihnen diese Anordnung gegeben, und in wessen Auftrag wurde sie erteilt?" "Darüber kann ich Ihnen keinen Aufschluss geben." Samuels Hand, die den Hörer umklammert hielt, verkrampfte sich. "Jaja, das hab' ich alles schon gehört, von Ihrem Boß und seinem Boß und so gut wie von jedermann sonst, der etwas mit diesem schmutzigen kleinen Komplott zu tun hat. Niemand will etwas von Ellie oder ihrem Baby gehört haben, seit Sie sie auf dem Flughafen diesen Mistkerlen ausgeliefert haben. Sollte den beiden auch nur ein Härchen gekrümmt werden, dann rollen aber die Köpfe, und Ihrer wird der erste sein." Ein überraschtes Zischen war am anderen Ende der Leitung zu hören, als ob der Hilfssheriff scharf eingeatmet hätte. "Niemand hat die beiden gesehen, seit sie den Flughafen verlassen haben?" Samuel gab ihm keine Antwort. Er konnte es nicht. Eine schreckliche Angst nahm ihm den Atem. Shaeffer war seine letzte Hoffnung gewesen, aber es war ganz klar, dass der bestürzte Hilfssheriff keine Ahnung hatte, wo Ellie und Daniel geblieben waren. Es gab keine Hinweise, keine Spuren, die man verfolgen könnte, nichts. Die beiden schienen von der Erdoberfläche verschwunden zu sein. "Hören Sie doch", fuhr der Hilfssheriff verzweifelt fort. "Ich sollte sie nur zurückbegleiten, das war alles." "Erzählen Sie das den Geschworenen beim Gerichtsverfahren", fuhr Samuel ihn an. "Weil ich nämlich geradewegs zum Staatsanwalt gehen werde. Verdammt, ich gehe sogar zum Weißen Haus, wenn ich es muss, um Ellie und ihren Sohn zu finden! Und um ganz offen zu sein: Es ist mir egal, wer als Sündenbock auf der Strecke bleibt, wenn diese Schweinerei in die Schlagzeilen der Medien gerät." Shaeffers Stimme klang ziemlich zermürbt. "Hören Sie, mir wurde gesagt, dass mein Boss einen Anruf von seinem Boss bekam, der wiederum einen Anruf von jemandem mit großem politischen Einfluss erhielt." Der Hilfssheriff wurde leiser, als er fortfuhr. "Ich kenne die genaueren Umstände nicht, aber es scheint, dass die Lady Angehörige in sehr hohen Positionen hat, und die haben nach ihr gesucht. Meine Aufgabe bestand einfach nur darin, sie zurück zum Flughafen zu bringen und sie dort abzuliefern." "Sie abzuliefern? An w..." "Mr. Evans, ich muss Sie doch sehr bitten!" Die fast schon zornige Krankenschwester wollte ihm den Telefonhörer entreißen. Samuel ignorierte sie einfach und nahm den Hörer in die andere Hand. "Die Männer im Zweireiher, die Ellie und ihr Kind in die verdunkelte Limousine schoben, wer sind sie?" "Ich kenne ihre Namen nicht, aber"..." Shaeffer flüsterte in den Hörer: "Das Auto hatte eine Plakette vom Capitol." Samuel fluchte unterdrückt. Eine Plakette vom Capitol. Ellie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, dass die Mackenzies die richtigen Leute kannten.
"Nun", fügte der Hilfssheriff vorsichtig hinzu, "Sie haben es nicht von mir, aber man munkelt, dass einer von den Männer in der Kampagne zur Wiederwahl des Gouverneurs mitmischt." "Des Gouverneurs?" Jetzt wurde Samuel das Ganze klar, denn ihm fiel wieder Ellies Bemerkung darüber ein, dass Mackenzies Schwager für den Gouverneur arbeitete. "Okay, Shaeffer, ich glaube, ich weiß, wo Ellie und Daniel festgehalten werden. Veranlassen Sie, dass eine Polizeieinheit... Autsch!" Er zog den Arm zurück, als die Krankenschwester eine Spritze auf den Beistelltisch ablegte. "Was zum Teufel war das?" "Sie müssen sich ausruhen." Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand, Dabei sah sie recht selbstzufrieden drein. "Der Doktor hat Ihnen ein stärkeres Beruhigungsmittel verschrieben." "Nein, warten Sie ..." Das Zimmer fing an, sich zu drehen. "Das nächste Mal, wenn Ihre Freundin Sie anruft, erzähle ich ihr, was für ein ungehorsamer Junge Sie sind." "Freundin?" Samuel kämpfte gegen die Übelkeit an. "Hat mich denn jemand angerufen?" "Zweimal am Tag." Ellie. "Gute Nacht, Mr. Evans." Es war das letzte, was Samuel hörte, bevor er in einen betäubten Schlaf sank. Zuerst glaubte Samuel, es sei Einbildung, eine Illusion, die seine Krankheit und seine Angst verursachten. Erst als er merkte, dass die Nachtschwester im Zimmer ebenfalls einen Blick auf die blasse Gestalt in der geöffneten Tür warf, erkannte er, dass die Erscheinung echt war. Es war Ellie... aber sie bewegte sich nicht, sprach nicht, stand im Türrahmen, weiß wie der Tod. Ihre Augen waren rot. Ihre Arme waren leer. Und sie weinte. Samuel fühlte sich noch recht schwindelig, aber er hockte sich zusammengekrümmt auf die Bettkante und atmete mühsam. Er konnte nicht sprechen, er konnte nur entsetzt auf die Gestalt starren, die in der Tür stand und ihre Arme fest um den Oberkörper geschlungen hielt. Mit einem kleinen Aufschrei lief Ellie durch das Krankenzimmer bis zu seinem Bett, umarmte Samuel, schluchzte, küsste sein Gesicht, seinen Nacken, um ihn dann so aufmerksam zu betrachten, dass er sicher war, sie könnte bis in seine Seele hineinschauen. Ihre feuchten Augen verdunkelten sich, ihre zarten Finger folgten liebevoll den Konturen seines eingefallenen Gesichts. Schließlich ging sie in die Hocke und umfing seine kraftlosen Hände. "Ich danke Gott dafür, dass es dich gibt", flüsterte sie. Er stieß ein einziges Wort hervor: "Daniel?" Ellie drückte seine Hände. Sie schloss die Augen, als ob sie betete und antwortete: "Marjorie hat ihn." Es überlief Samuel kalt. Er versuchte, sich zu erinnern. "Stanton Mackenzies Frau?" "Seine Witwe." Ihre blutunterlaufenen Augen brannten vor Tränen. "Stanton ist letzte Nacht gestorben." Wenn Ellie ihm erzählt hätte, außerirdische Wesen wären in das Weiße Haus eingedrungen, hätte Samuel nicht schockierter sein können. "Mackenzie ist tot?" Ellie wich seinem Blick aus. "Wie konnte das passieren? Ich meine, gab es einen Unfall?" Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Er ließ Ellies Hände los und ergriff sie bei den Schultern. "Wurde Daniel etwa verletzt, ist er deshalb nicht hier? Ich bitte dich, um alles in der Welt, Ellie..." "Schon gut, Samuel, Daniel fehlt es an nichts. Er ist draußen." Sie umschmiegte mit den Händen sein Gesicht, sah ihm in die Augen, und er wusste, dass sie die Wahrheit sagte. "Ich habe Marjorie gebeten, in der Halle zu warten, während ich mit dir rede. Ich wollte dir erklären ..." Ihr versagte die Stimme. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Er nahm ihre Hände in seine und küsste jeden Finger einzeln, dann zog er Ellie an seine Seite. "Es tut mir leid"', flüsterte er.
"Was tut dir leid, Samuel?" "Mir tut all das leid, was du meinetwegen aufgegeben hast" Ellie sah ihn verblüfft an. "Aufgegeben?" "Wenn du dich nicht hättest um mich kümmern müssen, wären Daniel und du jetzt in Sicherheit." "Wir sind ja in Sicherheit." Ein tiefes Gefühl überkam Ellie, und sie musste Schlucken, ehe sie weitersprach. "Ich habe so vieles nicht gewusst, was ich eigentlich hätte wissen können, wenn ich nicht gleich davongerannt wäre." Sie hielt inne und fuhr dann nachdenklich fort: "Sobald sich mir ein Hindernis in den Weg stellte, nahm ich sofort Reißaus, machte mir vor, dass ich nicht stark genug sei, um einer Herausforderung zu begegnen, und ich war überzeugt, dass das Leben zu kurz sei, um es mit Unerfreulichem zu vergeuden. Ich hielt mich für vernünftig. Tatsache ist, dass ich einfach feige war." Samuel verstand, was sie sagte. Denn auch er war vor dem Leben davongelaufen, hatte denen, die ihn brauchten, den Rücken zugekehrt. Er hatte sich lieber in Schuldgefühle verstrickt, als auch nur ein bisschen von dem Mut zu zeigen, den Drake Jackson gezeigt hatte. "Du hast mich verändert, Samuel." Ellie sah ihn liebevoll an. "Du hast mir gezeigt, dass man Probleme nur bewältigen kann, wenn man sich ihnen stellt, statt vor ihnen davonzulaufen. Wenn ich früher auf dich gehört hätte, könnte Stanton noch ..." Sie unterbrach sich, um Mut zu fassen. "Vielleicht sollte ich lieber alles von vorn erzählen." Samuel drückte ermutigend ihre Hand. "Als ich Stanton das erstemal begegnete, war er ein energischer und unerhört arroganter, aber im Grunde anständiger Mann, der auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen einging. Er hat mich nie unter Druck gesetzt, nie versucht, mich zu einer intimen Beziehung zu überreden, zu der ich nicht bereit war. Und als ich dann soweit war, ging er sehr sanft und zärtlich mit mir um." Samuel versteifte sich. "Ein liebevoller und anständiger Mann verführt eine Frau nicht, ohne sie über seinen Familienstand aufzuklären" Ellie nickte. "Zweifellos war Stanton ein Frauenheld, da will ich ihn gar nicht verteidigen." "Aber so hörte sich das an." "Vielleicht hast du recht." Ellie entzog Samuel ihre Hände und stand auf. "Marjorie wusste davon, aber sie liebte ihren Mann trotzdem. Ich habe wirklich großes Mitgefühl mit ihr, sie hat so viel durchmachen müssen." Ellie sah eine Weile grübelnd vor sich hin. Als sie dann weitersprach, klang ihre Stimmte dünn und matt. "Dann kam der Tag, an dem Stanton nichts von sich hören ließ und sich dann drei Wochen lang nicht mehr meldete. Als ich ihn wiedersah, hatte er sich verändert." Wieder machte sie eine Pause. "Er war hektisch geworden. Er schien angespannt, geistesabwesend, manchmal völlig verzweifelt." Sie wurde rot. "Sogar wenn wir zusammen waren." Samuel ballte die Hände zu Fäusten und verbarg sie unter den verschränkten Armen. Er wollte nicht, dass Ellie wusste, wie sehr ihm die Vorstellung von ihr mit Stanton Mackenzie das Herz zerriss. Ellie sah die Qual in seine n Augen, und es tat ihr weh. Doch sie wollte, dass Samuel die ganze Wahrheit erfuhr. Auch wenn sie seine Reaktion fürchtete, war sie entschlossen, dies durchzuziehen, ganz gleichgültig, wie schmerzlich es für Samuel sein würde oder welche Konsequenzen es für sie selbst haben könnte. Sie wollte nicht mehr davonlaufen. Und so fuhr sie fort. "Ich wusste, dass Stanton sich ein Kind wünschte. Aber der Wunsch, Vater zu werden, wurde bei ihm zur Besessenheit. Er bat, er flehte, er sagte, dass ich die einzige Frau auf der ganzen weiten Welt sei, mit der er ein Kind haben wolle. Ich lehnte ab, weil ich noch nicht bereit dazu war, eine feste Bindung einzugehen, und ich war ganz sicher noch nicht bereit, Mutter zu werden." Ihre Stimme klang ein wenig verärgert bei dem nächsten Satz. "Doch Stanton war zu einem Mann geworden, der unter allen Umständen seinen Willen durchzusetzen verstand."
"Was war denn der Grund für seine Veränderung?" Ellie erschauderte. "Stanton wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Es war Krebs. Stanton glaubte, dass er durch ein Kind unsterblich würde. Es wurde zu einer Zwangsvorstellung, und er steckte auch seine Frau damit an." Samuel starrte sie ungläubig an. "Seine Frau hatte bei dieser... dieser Perversität mitgemacht?" Ellie erinnerte sich an die Nacht, in der Stanton starb, daran, wie Marjorie ihren Mann in den Armen gehalten hatte, bis er seinen letzten Atemzug tat. Es war eine Nacht der Tränen und der Traurigkeit gewesen, gleichzeitig jedoch eine Nacht der Vergebung. Ellie blinzelte ihre Tränen fort. "Marjorie hatte anfangs nichts davon gewusst. Sie hatte sich kaum von dem Schock erholt, dass der Mann, den sie liebte, sterbenskrank war, als sie auch noch mit der Nachricht fertigwerden musste, dass eine andere Frau das Kind trug, das sie nie hatte empfangen können. Der Schmerz und die Schuldgefühle müssen sie halbwegs um den Verstand gebracht haben." "Ich verstehe das nicht. Warum sollte sie sich schuldig fühlen? Sie ist doch schließlich nicht fremdgegangen." "Verstehst du das denn nicht, Samuel? Marjorie glaubte, sie habe ihren Mann in die Arme einer anderen Frau getrieben, weil sie ihm nicht die Familie geben konnte, nach der er sich sehnte." "Das ergibt doch keinen Sinn." Ellie setzte sich wieder neben ihn und legte ihre Hand auf seine. "Das kannst du nicht nachvollziehen, weil du ein Mann bist." "Das hat doch nichts mit Mann oder Frau zu tun, Ellie, es hat etwas mit Recht und Unrecht zu tun." "Vor einer Woche hätte ich dir zugestimmt, aber vor einer Woche war ich Marjorie Mackenzie noch nicht begegnet. Sie musste im letzten Jahr durch die Hölle gehen, Samuel, eine Hölle, wie du sie dir wahrscheinlich nicht vorstellen kannst." "Du hast recht, ich kann sie mir nicht vorstellen", stieß Samuel hervor. "Diese Frau hat versucht, dir dein Kind wegzunehmen. Sie hat dich entführen lassen, meine Güte noch mal!" Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. "Oder hat sie das etwa nicht?" "Sachlich gesehen, ja, obwohl ihr Bruder und Stantons Anwalt mich vom Flughafen weggefahren hatten." "Das habe ich gewusst", murmelte Samuel. "Ich wusste, dass er es war." "Er?" "Stantons Schwager. Als ich gerade herausgefunden hatte, wo du festgehalten worden bist, setzte mich Attila die Krankenschwester mit einer doppelten Dosis Beruhigungsmittel außer Gefecht." Er strich Ellie über das Haar. "Ich habe dich gesucht, Liebes, du weißt gar nicht, wie verzweifelt ich dich gesucht habe." Sie legte die Fingerspitze auf seine Lippen. "Ich bin froh, dass du mich nicht gefunden hast, Samuel. Diese letzten Tage brauchte ich für mich allein, um zu verstehen. Und um zu vergeben." "Vergeben? Wie kannst du diesen Menschen vergeben, nach all dem, was sie dir angetan haben?" "Sie waren verzweifelt", erklärte Ellie ruhig. Stanton hatte nur hoch kurze Zeit zu leben. Sie wollten, dass er seinen Sohn noch einmal sieht, bevor erstirbt." Der Schleier hob sich, als Samuel plötzlich den ganzen Komplott durchschaute. Nun begriff er. "Du bist also nicht gegen deinen Willen festgehalten worden?" "Nein, nicht nachdem ich erfuhr, warum Daniel und ich zu den Mackenzies gebracht wurden." Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. "Stanton verbrachte die letzten Stunden seines Lebens mit seinem Sohn", flüsterte sie. "Wenn ich nicht vor meinen Ängsten und
meiner Verantwortung Daniels Vater gegenüber fortgerannt wäre, hätte er mehrere Wochen mit ihm zusammensein können. Ich mache mir Vorwürfe deswegen." Samuel zog sie in seine Arme und drückte ihr Gesicht an seine Schulter, wo sie sich ausweinen konnte. "Es ist schon gut, Liebes. Alles wird wieder gut", murmelte er in ihr Haar. "Stanton war zum Schluss so schwach, dass er sein eigenes Kind nicht halten konnte. Das tut mir so unendlich leid, kannst du das verstehen?" "Ja, ich verstehe das. Aber jetzt hör auf mit den Schuldzuweis ungen, Liebes." Er schüttelte Ellie leicht an den Schultern und wartete, bis sie aufhörte zu schluchzen. "Wir können das, was passiert ist, nicht ändern, Ellie. Glaub mir, wenn es eine Möglichkeit gäbe, würde ich sie ergreifen. Aber auch ich kann die Dinge, die bei der Flut geschahe n, nicht rückgängig machen. Gestern ist vorüber, was morgen sein wird, wissen wir noch nicht, also bleibt uns nur das Hier und Jetzt." Ellie klammerte sich an ihn, liebkoste sein Gesicht, hatte ihn noch nie zuvor so geliebt wie in diesem Augenblick. Sein Blick zeugte von Weisheit, einer gewissen Resignation und vielleicht auch innerem Frieden. "Es ist etwas geschehen, nicht wahr?" "Drake war hier." "Hier im Krankenhaus?" "Er konnte gehen, Ellie, aufrecht und auf seinen eigenen Füßen," "Oh, Samuel." Sie lächelte dankbar, da sie wusste, wie viel ihm das bedeutete. "Das ist ja wunderbar." Er wurde sehr ernst. "Ich hätte für ihn dasein sollen, als er mich brauchte, aber ich war es nicht." "Aber er wirft es dir nicht vor, Samuel." "Nein, das tut er nicht." Er blickte Ellie fragend an. "Woher weißt du das?" "Einfach geraten." Sie schmiegte den Kopf in seine Halsbeuge. "Ich glaube, wir sind uns ähnlicher, als wir wahrhaben wollen." "Das glaube ich nicht. Ich singe besser als du." "Na ja, sogar Baloo singt besser als ich." Noch einige Minuten saßen sie engumschlungen da, zufrieden und glücklich darüber, dass sie einander hatten. Sie brauchten keine Worte, um diese Gefühle auszudrücken. "Möchtest du Marjorie sehen?" Samuel blickte bloß ein kleines bisschen böse drein. "Ich möchte Daniel sehen." "Das weiß ich auch." "Du weißt offensichtlich so gut wie alles, nicht wahr?" "Natürlich. Hast du das noch nicht mitbekommen?" Ellie lachte glücklich. Samuel liebte sie. Sie hatte es schon immer gewusst, immer gefühlt, aber noch nie war es ihr so bewusst gewesen wie in diesem Augenblick. Daniel rülpste fast männlich und voller Genugtuung. Er sah zu Ellie auf, zeigte ihr ein Babygrinsen und gab so etwas wie "Agmam", von sich. Ellie lachte in sich hinein und drückte einen Kuss auf den seidenweichen Haarflaum seines Köpfchens. "Ich liebe dich auch, mein Spatz." Samuel, der im Krankenhausbett lag, streckte die Hand aus, um das Baby am Bäuchlein zu kitzeln, und freute sich unendlich, als der Kleine anfing, gurgelnde Lachlaute von sich zu geben. Ellie setzte sich auf den Bettrand, ihren Sohn im Arm, und massierte mit der freien Hand den gelblich werdenden Bluterguss von der Infusion an Samuels Handgelenk. Er drehte ihre Hand um und verschränkte seine Finger mit ihren. "Ich muss immer wieder an Marjorie denken", sagte er. "Sie wirkte so ... verletzlich, als sie hier war."
Ellie verstand, was er damit meinte. Marjorie war knapp eine halbe Stunde hier im Zimmer gewesen, aber es hatte Samuel genügt, um den Kummer und das Bedauern in ihren Augen zu sehen." "Ihr Bruder kümmert sich um sie, Sie ist nicht allein. Außerdem verbringe ich mit Daniel einige Tage bei ihr." Samuel drückte ihre Hand. "Und was machst du dann?" "Darüber habe ich noch nicht nachgedacht." Ellie sagte das zögernd. Wenn sie ehrlich mit sich selbst sein wollte, so hatte sie einfach vorausgesetzt, dass sie nach Samuels Entlassung aus dem Krankenhaus dahin ginge, wohin er auch gehen würde. Auf einmal erkannte sie jedoch, wie vermessen es von ihr gewesen war, das anzunehmen. Für Ellie bedeutete das Wort "Zuhause" eine einfache Hütte in den verschneiten Bergen. Sie fragte sich, ob sie sie jemals wiedersehen würde. "Liebes?" Samuel hob ihr Kinn, damit sie ihm ins Gesicht sah. "Warum weinst du?" Sie schniefte, blinzelte und versuchte zu lächeln, was ihr nicht ganz gelang. "Wahrscheinlich bin ich nur müde." Er küsste sie zart auf den Mund. "Hat dir schon mal jemand gesagt, was für ein liebevoller Mensch du bist?" Das überraschte Ellie. Man hatte sie schon oft als witzig, als flatterhaft, sogar als zu nachgiebig bezeichnet, aber niemals als liebevoll. Samuel sah sie aufmerksam an. "Es hat mich sehr berührt, wie du mit Stantons Witwe umgegangen bist, Ellie. Sie hat dir nur Kummer bereitet, und trotzdem hast du sie getröstet, hast sie sich an deiner Schulter ausweinen lassen, hast ihr Beistand geleistet. Nur liebevolle Menschen tun so etwas, Ellie. Sie kümmern sich um andere." Ellie sonnte sich in seinem Lob, drückte ihr schlafendes Kind an sich und reichte Samuel die freie Hand. Ihr wurde bewusst, wie reich sie war. Sie durfte sich jetzt um andere sorgen und kümmern. Vor allem um ihr wunderschönes Baby und um Samuel, den sie liebte. Sogar um Marjorie Mackenzie, die so viel Leid und Schmerz erdulden musste. "Vielleicht bin ich endlich erwachsen geworden", flüsterte sie. "Meine Mutter würde sagen, es wurde allmählich Zeit." Samuel hob ihre Hand und küsste sie; "Du bist eine ausgewachsene Frau, Ellie, die wunderbarste, der ich je begegnet bin," Er zögerte und schien auf einmal merkwürdig nervös, "Während der vergangenen Tage habe ich eine Menge nachgedacht." "Worüber?" "Über Dinge wie ... " Schweißperlen standen auf seiner Stirn. "Meistens über dich. Und über Daniel und über mich. Über dich und mich. Und mich und dich und Daniel," Er kam ins Stottern und holte tief Luft, "Ich meine, ich wollte mit dir darüber sprechen ..." Er unterbrach sich und starrte auf die offene Tür des Krankenzimmers. "Was denn, Samuel? Was war es, worüber du mit mir sprechen wolltest?" Ein Rumpeln vom Korridor erregte auch Ellies Aufmerksamkeit, und sie drehte sich zur Tür um. Auf einmal wurde eine Krankenbahre auf Rädern ins Zimmer geschoben, darauf lag ein Klumpen, um den sich ein Bettlaken bauschte. Ein halbes Dutzend uniformierte Sanitäter folgten der Krankenbahre, und das Schlusslicht bildete ein Mann mit rotem Haar, Sommersprossen und einem breitem Lächeln, der an einem Stock hereingehumpelt kam. Der sommersprossige Zivilist flüsterte dem bedeckten Klumpen etwas zu, woraufhin dieser sofort zusammenzuckte und sich erhob. Chaos brach aus. Einer der Sanitäter zog das Bettlaken weg, Baloo sprang von der Krankenbahre und bellte wie verrückt. Samuel strahlte. "Loo!" Das war alles, was er sagen konnte, bevor das glückselige Tier auf das Krankenhausbett sprang und Samuels Gesicht mit schlabbrigen Hundeküssen bedeckte. Dann hielt das Tier inne und kletterte über Samuels Schoss, um Daniel zu beschnüffeln, Ellie zu küssen und sich schließlich im Kreis zu drehen und vor Aufregung zu bellen,
"Seit Tagen hat er geschmollt", berichtete der rothaarige Mann mit einem Lachen. "Ich habe ihm gesagt, dass du viel zu zäh bist, um zu sterben, aber Baloo hat das ja unbedingt selbst herausfinden müssen." Der Hund stieß ein zustimmendes Bellen aus, dann fing er wieder an, das Gesicht seines Herrn abzulecken, während die uniformierten Männer der Rettungsmannschaft das Bett umstanden und ohne Unterbrechung drauflosschwatzten. "Hey, Mann!" "Wird allmählich Zeit, dass du zurückkommst." "Wo bist du gewesen; Sam?" "Ohne dich läuft bei uns nichts mehr," Sie sprachen alle zur gleichen Zeit; auch Samuel, der auf jeden seiner Kumpel einging und sich verhielt, als ob ein solches Durcheinander in seinem Leben völlig normal wäre. Ellie saß dazwischen, hielt ihren Sohn an die Brust gedrückt und blickte von einem der plaudernden Sanitäter zum anderen und dann zu der Krankenbahre, die verlassen vor der Tür stand. Eine freundliche Stimme sagte neben ihr: "Aus irgendwelchen ausgefallenen Gründen hat das Krankenhaus die Regel, Haustiere zu Besuchen nicht zuzulassen. Wir mussten also kreativ sein." Der Mann lächelte und hielt ihr eine sommersprossige Hand zum Gruß hin. "Sie müssen die berüchtigte Ellie Malone sein;" Sie nahm seine Hand und lächelte zurück. "Und Sie der verrufene Drake Jackson. Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. "Aha, wer hat Ihnen denn das verraten?" "Sagen wir einfach mal, dass Sie sich nicht sehr verändert haben, seit Sie zehn waren." "Autsch" Drake tat, als schreckte er zurück. "Sam muss das alte Fotoalbum hervorgekramt haben, oder?" Sein Lachen war herzlich. "Ich möchte lieber annehmen, dass ich mich seit jenen Tagen doch ein wenig verändert habe. Zumindest bin ich größer geworden." Als Ellie ihm das zugestand, nahm Drakes Stimme einen ernsteren Klang an. "Wenn es Sie nicht gegeben hätte, wäre Sam jetzt nicht hier." "Wenn es Sam nicht gegeben hätte, wäre ich jetzt nicht hier und mein Sohn auch nicht." "Ja, ich habe schon davon gehört." Drakes Blick wanderte zum Baby, das so friedlich in den Armen seiner Mutter lag. Er umfasste seinen Stock mit beiden Händen und lehnte sich nach vorn. "Wie dem auch sei, ich wollte Ihnen danken, weil Sie ... Sie wissen schon ... ihn so gut betreut haben." Ellie berührte Drakes Hand. "Ich wollte Ihnen für das gleiche danken." Überrascht musterte er sie einen Moment lang, dann zuckte ein verständnisvolles Lächeln um seine Lippen. Um sie herum verdichtete sich das Durcheinander von männlichen Stimmen und Lachen zu einem einzigen Dröhnen. "Ich nehme an, wir beide mögen den Burschen irgendwie, stimmt's?" "Wird wohl so sein, glaube ich." Drake lachte. "Was ist denn dos?" Der leibhaftige Zorn in der Gestalt einer Krankenschwester stand drohend in der Tür und starrte entsetzt den glücklich bellenden Baloo an. "Ein Hund? Ein dreckiges Tier? Das ist ja ungeheuerlich!" "Oje", flüsterte Drake. "Gefahr im Anzug! Wir sollten uns davonmachen, ehe sie kurzen Prozess mit uns macht!" Die Uniformierten Männer kamen in Bewegung, als die ungehaltene Krankenschwester schreckliche Drohungen hervorstieß. Die rollende Krankenbahre wurde hastig gepackt, Baloo an die Leine gelegt, dann brüllten alle laut auf Wiedersehen, bevor die Mannschaft samt hereingeschmuggeltem Hund das Zimmer verlassen musste. Drake winkte von der Tür aus zurück. "Bis später, Mann." Er blieb stehen, als Samuel ihm noch etwas zurief. Samuel atmete nervös tief ein und zog Ellie dicht an seine Seite. "Erinnerst du dich an das, worum du mich gebeten hast?"
Verdutzt zog Drake die Brauen zusammen. "An was?" "Diese ..." Samuel räusperte sich. "Diese Trauzeugengeschichte." "Klar, ich erinnere mich"; antwortete Drake, der auf einmal sehr aufmerksam geworden war. "Was ist damit?" "Ich hab mich nur eben gefragt ... ich meine, falls du noch niemand anderen gefunden ..." "Hab ich nicht." "Nun, dann würde ich ganz gern ..." "Dein Smoking wurde bereits bestellt." Ein Lächeln umspielte Drakes Mundwinkel. "Du hast doch wohl nicht etwa gedacht, ich hätte einfach irgend jemanden mit diese wichtigen Aufgabe betraut, oder?" Samuel zog Ellie ganz dicht an sich. "Genausowenig, wie ich mich bei meiner eigenen Hochzeit mit irgend jemandem zufriedengeben würde. Ich meine, ich frage dich hiermit, ob du mir ebenfalls diesen Gefallen tust." Es dauerte eine Weile, bis Ellie Samuels umständlichen Satz und Drakes überraschtes Lächeln richtig interpretiert hatte. "Hey, Sam, herzlichen Glückwunsch! Wann ist der große Tag?" Ellie hatte sich rasch von ihrem Schock erholt. "Samuel Evans, war das soeben ein Heiratsantrag?" "Oh, ja." Er wartete atemlos auf ihre Antwort. "Willst du meine Frau werden?" Tränen des Glücks stiegen ihr in die Augen und nahmen ihr die Sicht. Sie blinzelte sie schnell wieder weg und lachte laut. "Glaubst du tatsächlich, ich würde jemals für irgendeinen anderen Mann singen wollen?" Ein warmes Lachen kam von der Tür her, und dann ertönte das vertraute Klacken des Stockes, das allmählich immer gedämpfter klang, bis es ganz verstummte. Sie waren jetzt allein, Samuel und Ellie und Daniel, allein, um in ihren Erinnerungen zu schwelgen, sich der Freude des Augenblicks hinzugeben und den Plänen von Morgen zuversichtlich entgegenzusehen. Ellie wusste, dass Samuel sowohl körperlich als auch seelisch wieder gesund werden würde. Nachdem er endlich seinen Schmerz und seine Schuldgefühle verarbeitet hatte, konnte er die vergangenen Fehlschläge in die richtige Perspektive rücken und wieder mit Stolz daran zurückdenken, wie viele Leben er bereits gerettet hatte. Die Dämonen ihrer Vergangenheit hatten Samuel und Ellie hinter sich gelassen. Sie konnten wieder leben. Sie konnten wieder lieben. Ihr neues Leben hatte soeben angefangen.
-ENDE