Marc Tannous
Jäger des Blutes Version: v1.0
Vor Christian Probst, den die meisten nur unter seinem Spitznam...
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Marc Tannous
Jäger des Blutes Version: v1.0
Vor Christian Probst, den die meisten nur unter seinem Spitznamen Ville kannten, rissen die Scheinwerfer des klapprigen VW‐Busses die Landstraße nach Nürnberg aus der Dunkelheit. Er achtete kaum auf die Fahrbahn, schließlich war weit und breit kein Licht zu sehen. Diesem Umstand – und seinen scharfen Augen – verdankte er es, dass er die Gestalt bemerkte, die sich weit abseits der Straße über eine Anhöhe bewegte. »Was ist da denn los?«, murmelte er. Ville war sich zunächst nicht sicher. Doch es sah so aus, als würde es sich bei dem leblosen Bündel, das der Kerl brutal mit sich zerrte, um ein menschliches Wesen handeln …
Sofort bog er in einen einsamen Feldweg ein und stellte den VW am Fahrbannrand ab, um dem Unbekannten zu folgen. Irgendetwas stimmte hier nicht und er wollte wissen, was das war. Wenig später waberte vor ihm ein unruhiges Licht. Flammen, vermutete Ville und näherte sich weiter. Wenig später stellte er fest, dass er Recht gehabt hatte. Der Schein eines Feuers zuckte geisterhaft durch das Geäst der knorrigen, blattlosen Bäume. Das Wechselspiel von Licht und Schatten erweckte das verlassene Waldstück zu unheimlichen Leben. Bevölkerte es mit sich ständig verändernden Fratzen, die den Ankömmling zu beobachten schienen. Ville mühte sich redlich, sich der Lichtung möglichst lautlos zu nähern. Dennoch knackten die trockenen Äste, die den Waldboden übersäten, unter jedem seiner Schritte. Er war nervös, aber es gab keine äußeren Anzeichen für das Ausmaß seiner Erregung. Da war kein hektisch ausgestoßener Atem, der dampfend über seine Lippen floss. Kein donnernder Herzschlag, der den Käfig seiner Rippen sprengte und kein Blut, das heiß durch seine Adern rauschte. Nicht, dass ihm diese Eindrücke völlig fremd gewesen wären. Noch hallten sie in ihm nach wie ein langsam versiegender Phantomschmerz. Vermutlich würde noch einige Zeit vergehen, bis sich der Schleier des Vergessens vollends über die Umstände seiner früheren Existenz gelegt hatte. Jahre, Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte … Als Ville einen besonders dicken Baumstamm erreichte, ging er dahinter in Deckung und hielt einen Moment lang inne. Ein weinerliches Wehklagen, gefolgt von einem wilden Fauchen, drang ihm von der Lichtung her an die Ohren.
Ganz vorsichtig schob der junge Mann den Kopf an dem Stamm vorbei. Was er sah, hätte jedem Menschen das Blut in den Adern gefrieren lassen. Etwa zwanzig Meter von Villes Versteck entfernt, im Zentrum einer kreisförmigen Lichtung, stand die Ruine einer alten Kapelle. Sie war halb verfallen und erinnerte an einen Kadaver, dem Wind und Wetter dermaßen zugesetzt hatten, dass von seinem ursprünglichen Aussehen nicht viel zu erkennen war. Mehrere Stufen führten zu einer kreisförmigen Öffnung. Sie ähnelte mehr einem gewaltsam in die Wand gebrochenen Loch, als einem säuberlich von Menschenhand angefertigten Eingang. Das eigentlich schauerliche war jedoch nicht die Kapelle selbst, sondern jene … Dinge … die an der Außenwand angebracht worden waren. Unmittelbar über dem Eingangsloch hing ein gut armlanges Kreuz mit einer detailliert geschnitzten Figur von Christus. Der Heiland hatte den Kopf mit der Dornenkrone leicht erhoben und blickte gequält zum Himmel. Seine Haltung erinnerte auf erschreckende Weise an die der jungen Frau, die unterhalb des Kreuzes vor dem Eingang kniete. Dicke Ketten, die zu beiden Seiten schräg über ihr in der Wand befestigt waren, umschlossen ihre Handgelenke und waren so straff gespannt, dass sie den Bewegungsspielraum ihrer Arme auf ein Minimum reduzierten. Die Frau wirkte erschöpft, die Kleidung hing in Fetzen. Sie sah aus, als sei sie kurz vor ihrer Gefangennahme in einen Kampf verwickelt gewesen. Endlich sah Christian Probst seinen Verdacht bestätigt. Aber wer war die junge Frau? Und weshalb hatte ihr Peiniger sie hierher verschleppt? Die Art, wie sie hier gefangen gehalten wurde, ließ auf ein rituelles Motiv schließen.
Links und rechts neben ihr, in einem Abstand von einer guten Armlänge, hingen zwei Totenschädel, die jeweils einer brennenden Fackel als Halter dienten. Das Feuer war weit und breit die einzige Lichtquelle – abgesehen vom Mond, dem es immer wieder kurz gelang, seinen silbernen Schein durch die Wolkendecke zu streuen. Darauf angewiesen war Ville nicht. Er vermochte im Dunkeln hervorragend zu sehen. Auch die Kurzsichtigkeit, die ihn früher noch zum Tragen einer Brille verdammt hatte, war mit dem Beginn seiner neuen Existenz für immer vergessen gewesen. Die Brille trug er aus Gründen der Gewohnheit allerdings noch immer. Die Gestalt, die im Schatten rechts neben der Kapelle kniete, entdeckte Ville trotz seines gesteigerten Sehvermögens erst, als sie sich aufrichtete. Es handelte sich um einen jungen Mann, der äußerlich nicht wesentlich älter als er selbst wirkte. Seine schwarzen Haare waren lang und glatt. Trotz der winterlichen Temperaturen war er nur mit einem ärmellosen Hemd bekleidet. Seine Beine steckten in einer schwarzen Lederhose, die weit über seine Stiefel reichte. Um seinen Hals lag ein schwarzes Band mit langen, spitzen Nieten, die wie Dornen in alle Richtungen abstanden. Das Gesicht konnte Ville erst erkennen, als sich der andere für einen kurzen Moment zu ihm umdrehte – schmal, mit einem angedeuteten Oberlippenbart. Ganz kurz kam es Ville so vor, als würde der Kerl genau in seine Richtung schauen. Blitzschnell wich er zur Seite und verbarg sich erneut hinter dem Baum. Unmöglich, dass er mich gesehen hat, zuckte es durch Villes Kopf. Es sei denn … Sekunden vergingen, ohne dass es etwas geschah. Erst als der Wind eine leise Stimme zu ihm trug, wagte sich Ville wieder aus seiner Deckung. Die Stimme gehörte dem Mann. Er hatte sich der jungen Frau
zugewandt, war dabei nur wenige Schritte vor ihr stehen geblieben. Was er ihr zuraunte, war auf die Distanz nicht zu verstehen. Dass er jedoch nichts Gutes im Schilde führte, stand für Ville außer Frage. Die Lichtung erinnerte an eine Art Opferstätte und grundlos hatte er die Frau gewiss nicht in Ketten gelegt. Ville löste sich aus dem Schatten des Baumes und huschte einige Schritte weiter. Wenn er erst einmal die Deckung des Waldes verlassen hatte, musste alles ganz schnell gehen. Zwar überstiegen Villes körperliche Kräfte die eines normalen Sterblichen bei weitem, dennoch beschloss er, Vorsicht walten zu lassen. Er wusste ja nicht, mit wem genau er es hier zu tun hatte. Wie ein Schatten huschte er über die Lichtung, erreichte Sekundenschnelle die unterste Treppenstufe, die zu der Kapelle hinaufführte – und blieb wie angewurzelt stehen …
* Noch während sich Matthias Hlawatsch in die Höhe schraubte, bemerkte er im Augenwinkel die huschende Bewegung zwischen den Bäumen. Es sah aus, als sei einer der Schatten aus dem Verbund der Dunkelheit zum Leben erwacht, um ihn bei seinem nächtlichen Treiben zu beobachten. Matthias versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, wandte dem anderen den Rücken zu und widmete sich stattdessen dem Mädchen mit dem Engelsgesicht. Er achtete darauf, einen gewissen Abstand zu dem Kreuz zu wahren, dass knapp über ihrem Kopf an der Außenwand der Kapelle angebracht war. Sie sah auf, starrte ihn erwartungsvoll an. Ihr blondes, halblanges Haar hing ihr zerzaust um den Kopf und
der Blick ihrer strahlend blauen Augen wirkte glasig, als sei sie soeben aus tiefstem Schlaf erwacht. Ihre vollen, trockenen Lippen bebten. »Mattie …«, presste sie hervor. »Wieso hast du …?« Die Worte versiegten in einem Ächzen, mit dem sie sich kraftlos in die straff gespannten Ketten fallen ließ. Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich von dir will. Denkst du im Ernst, ich hätte dein Treiben nicht bemerkt?« Erneut hob sie den Kopf. Die Verwunderung in ihrem Blick schien echt. Mattie verfügte jedoch genügend Erfahrung im Umgang mit seinesgleichen, um sich davon nicht blenden zu lassen. »Soll ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?«, fragte er. »Ich …« Mattie verstummte, als er die knirschenden, behutsam gesetzten Schritte vernahm, die schwach durch das Brausen des eisigen Novemberwinds drangen. Nur seinen geschärften Sinnen war es zu verdanken, dass er den Ankömmling überhaupt bemerkte. Mit geschlossenen Augen wartete Matthias ab, bis er den Fremden knapp hinter sich wusste. Mit einem Mal wirbelte er herum – und befreite die innere Bestie von ihren mentalen Ketten …
* Es geschah ganz plötzlich. Gerade noch hatte Ville den Fuß auf die unterste Treppenstufe gesetzt, um sich dem Fremden unbemerkt zu nähern, als dieser auch schon um die eigene Achse kreiselte und ihm fauchend
entgegenstürmte. Ville blieben nur Sekundenbruchteile, um den Anblick zu verarbeiten. Was er da sah, war kein Mensch. Es war ein brüllendes, zähnefletschendes Monstrum, mit langen spitzen Eckzähnen, die wie Dolche hinter seinen halb geöffneten Lippen hervorragten. Er ist so wie ich!, zuckte es noch durch Villes Gedanken. Gleichzeitig wich er zur Seite aus, um der Attacke des heranstürmenden Vampirs zu entgehen. Sein Gegner schien von der Schnelligkeit der Reaktion völlig überrascht. Er bremste abrupt ab, wandte sich ihm dann frontal zu und funkelte ihn aus zu Schlitzen verengten Augen an, während ein leises Grollen aus seiner Kehle rollte. Sekundenlang standen sich die beiden Kreaturen der Nacht gegenüber. Noch nie zuvor in den acht Monaten seiner vampirischen Existenz war Ville einem Artgenossen begegnet – offensichtlich abgesehen von dem Mädchen, das ihn zum Vampir gemacht hatte. Zuweilen hatte er sich gefragt, wie viele seiner Art es wohl auf Erden geben mochte. Wie viele jener Rasse, die sich vom Blut der Lebenden ernährte und nur des Nachts gefahrlos unter ihnen wandeln konnte? War er einer der Letzten? Lange hatte er nach jemandem gesucht, der so war wie er. Jemand, der ihm all die drängenden Fragen zu den Umständen seiner widernatürlichen Existenz beantworten konnte. Nun, da er ihn gefunden hatte, war er sich nicht sicher, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Bevor er dazu kam, irgendetwas zu sagen, ergriff sein Gegenüber bereits das Wort. »Bist du es?«, kam es heiser über die Lippen des Langhaarigen. »Bist du derjenige, der sich am Blut der Unschuldigen vergeht, bis
ihre Körper bleich und ihre Adern leer sind?« Ville wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Offensichtlich hatte ihn sein Gegenüber als einen der Seinen erkannt. … bis ihre Körper bleich und ihre Adern leer sind? Seit Ville schmerzhaft herausgefunden hatte, dass sein Metabolismus jegliche Nahrung verweigerte und nur Blut ihn am Leben erhielt, hatte er bei der Beschaffung des Lebenssaftes einen beachtlichen Erfindungsreichtum entwickelt. In der ersten Zeit hatte er sich noch mit Schweineblut begnügt, das er Kanisterweise aus diversen Metzgereien seiner Heimatstadt Leipzig getragen hatte. Irgendwann hatte er jedoch feststellen müssen, dass tierisches Blut ihn zwar kurzzeitig sättigte, ihm jedoch nicht dauerhaft die Kraft gab, die er zum Überleben benötigte. Nur noch ein Schatten seiner selbst, hatte er bereits nach einigen Wochen die Kontrolle über sich verloren und seine Zähne in den Hals einer jungen Frau geschlagen, die ihm nachts in einem Parkhaus über den Weg gelaufen war. Schon nach wenigen Schlucken hatte er gespürt, wie ihn neue Kraft durchfloss. Wie Körper und Geist sich erholten und die chronische Müdigkeit aus seinen Knochen wich. Kurz darauf hatte er, entsetzt von sich selbst, von seinem Opfer abgelassen, das sich wie betäubt in sein Schicksal ergeben hatte. Schnell hatte er nach ihrem Puls gefühlt und zu seiner Erleichterung festgestellt, dass sie noch lebte. Gehetzt und immer wieder um sich blickend war er aus dem Parkplatz geflüchtet, wohl wissend, dass er zwar vor der Konsequenz seiner Tat weglaufen konnte, nicht jedoch vor sich selbst. Denn eines war ihm klar geworden: Es würde wieder geschehen. Wenn er seinen Drang nach menschlichem Blut weiter unterdrückte, würde sich die Bestie in ihm irgendwann selbst nehmen, wonach ihr verlangte. Und beim nächsten Mal würde es
ihm vielleicht nicht mehr gelingen, sie noch rechtzeitig im Zaum zu halten. Aufgrund dieser Erkenntnis hatte er bald damit begonnen, auf nächtlichen ›Raubzügen‹ ahnungslose Passanten in seinen Bann zu bringen und ihnen gerade so viel Blut zu entnehmen, wie er zum Überleben brauchte. Irgendwann war ihm auch das zu riskant geworden. Heute war er regelmäßiger ›Kunde‹ einer Blutbank, deren Nachtwächter er bestach, damit dieser ihn mit dem Lebenselixier versorgte. Deshalb war Ville auch völlig ehrlich, als er entgegnete: »Ich habe nie jemanden getötet, wenn du das damit meinst.« Der andere musterte ihn eindringlich, als könne er von seinen Augen ablesen, ob Ville die Wahrheit sagte. »Du bist noch nicht lange einer von uns, das spüre ich«, behauptete er dann. »Dennoch … Gerade deine Unerfahrenheit im Umgang mit deinen Kräften könnte dich zu einer Gefahr machen. Ich …« Ein ohrenbetäubendes Klirren riss dem Vampir die Worte von den Lippen. Beinahe synchron schnellten die beiden Blutsauger herum und richteten ihre Blicke auf den Ursprung des Geräuschs. Und was Ville nun erblickte, verwirrte ihn erneut zutiefst. Die junge Frau hatte sich aufgerichtet. Frau? Fast hätte Ville sie nicht wieder erkannt. Ihre mädchenhaften Gesichtszüge waren zu einer dämonischen Fratze verzerrt, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatten. Doch damit nicht genug. Das eben noch so zerbrechlich wirkende Geschöpf hatte sich mit solcher Urgewalt aufgebäumt, dass sie die rechte Kette mitsamt eines Teils des Mauerwerks aus der Wand
gerissen hatte. Nun nur noch mit dem linken Arm an die Außenwand der Kapelle gekettet, stieß sie die zu einer Krallenhand verformte Rechte vor sich in die Luft, als müsse sie einen unsichtbaren Gegner vertreiben. Sie ist ebenfalls eine Blutsaugerin!, wurde Ville schlagartig klar, während er irritiert beobachtete, wie sein Artgenosse die Treppe hinaufstürmte.
* Noch im Laufen griff Mattie unter seinen Mantel und zog ein kleines, verkorktes Fläschchen hervor. Einen Augenblick später blieb er stehen, gerade so weit entfernt, dass ihn die um sich schlagende Vampirin nicht erreichen konnte. »Fahr zur Hölle!«, stieß er hervor, bevor er den Flakon öffnete, ihn einen Moment vor ihr in die Höhe hielt, um ihr kurz darauf den Inhalt entgegenzukippen. Kaum hatte das Weihwasser ihre Haut berührt, bildeten sich auch schon Blasen auf ihrem Gesicht und auf ihrem Dekollete. Der markerschütternde Schrei, den sie ausstieß, während sie auf die Knie sank, ließ keinen Zweifel daran, dass dies unter höllischen Schmerzen geschah. »Du es machst es mir nicht gerade leicht«, murmelte Mattie. Sein Tonfall verriet, dass ihn der Anblick des wimmernden Bündels zu seinen Füßen nicht annähernd so kalt ließ, wie er vorgab. »Ich bin nicht die, nach der du suchst!«, spie ihm die Kreatur entgegen. »Warum glaubst du mir nicht?« »Weil du außer mir das einzige Nachtkind bist, das noch in diesem Landstrich haust. Zumindest«, er warf einen knappen Blick über die Schulter, »dachte ich das bislang.«
»Ich habe nichts mit den Morden zu tun«, beteuerte sie. »Bitte, Mattie, ich kann es beweisen.« Er horchte auf. »Rede!«, forderte er und hob den Flakon erneut drohend in die Höhe. »Es gibt da eine Bar in der Nähe des Nordostbahnhofs«, stieß die Vampirin gequält hervor. »Das Black Hole Sun. Geh hin und frag nach einem Kerl, der sich Darwin nennt. Er kann dir weiterhelfen.« Mattie war nicht überzeugt. »Woher kennst du ihn?« Ein grimmiges Lächeln huschte über die schmerzverzerrten Züge der Frau. »Du weißt doch, dass ich ein gern gesehner Gast in der Gemeinschaft bin …« Mattie runzelte die Stirn. »Soll das heißen, dass kein echter Vampir, sondern einer von deinen Verrückten hinter der Sache steckt? Das ist lächerlich!« »Warum findest du es nicht einfach heraus? Du bist uns anderen doch so wahnsinnig überlegen.« Er rümpfte die Nase. Er wollte sich gerade umdrehen, hielt dann jedoch noch einmal inne, holte aus und verpasste ihr einen weiteren Spritzer Weihwasser. Die Schreie der Blutsaugerin begleiteten ihn, während er die Stufen hinab stieg, wo sein Artgenosse bereits auf ihn wartete und ihn völlig verdutzt ansah. »Hast du einen Wagen?«, fragte Mattie. Der andere Vampir nickte. »Okay. Dann lass uns fahren!« »Äh …«, machte der Fremde. »Wohin?« »Nürnberg. Ich habe dort ein paar Freaks aufzumischen.«
*
»Diese Frau …«, setzte Ville an, nachdem sie eine ganze Weile lang schweigend nebeneinander gesessen hatten. »Was meinte sie damit, als sie von der Gemeinschaft sprach? Sie hat das so seltsam betont.« Es dauerte einige Augenblicke, bis sich Mattie zu einer Antwort durchringen konnte. »Dabei handelt es sich um eine Art Geheimbund. Es gibt Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als Vampire zu sein. Sie leben ihre Machtgelüste – und nur darum geht es – so aus, wie sie sich einbilden, dass Vampire es tun. Sie verabreden sich an geheimen Treffpunkten, feiern Partys auf denen sie das Blut von Menschen trinken.« Ville war irritiert. »Sie trinken Blut? Aber woher …?« »Teilweise bekommen sie es von Spendern, die gut dafür bezahlt werden. Teilweise ist es ihr eigenes Blut, das sie sich gegenseitig abzapfen. Für jemanden wie Maria ist die Gemeinschaft wie geschaffen, um sich zu ernähren.« Ville nickte, versuchte das Gehörte zu verarbeiten, während er wie hypnotisiert auf das graue Band der Straße starrte. Seit gut einer Viertelstunde waren sie keinem anderen Fahrzeug mehr begegnet. Fast schien es, als seien sie die letzten Überlebenden auf einer verödeten Welt. »Was hörst du da?«, fragte Mattie nach einer Weile und deutete auf das Kassettendeck. Ville ließ die Frage zunächst im dumpfen Vibrieren der düsteren Beats verklingen. »Ist von mir. Gefällt’s dir?« »Du bist Musiker?« »Wenn du so willst …«, gab Ville beiläufig zurück. »Ich bin seit langem auf der Suche nach geeigneten Mitgliedern für eine eigene Band. Bis ich die gefunden habe, ziehe ich mein eigenes Ding durch. Morgen soll ich im Loop/Fifty6 auflegen. Deshalb bin ich überhaupt nach Nürnberg gekommen.«
Mattie schien beeindruckt. »Du kommst aus Leipzig, richtig?« Ville bejahte. »Da war ich selbst schon einige Male. Auf dem WGT, um genau zu sein.« »Dort trete ich auch irgendwann mal auf«, sagte Ville im Brustton der Überzeugung. »Sobald ich die richtigen Leute zusammengetrommelt habe.« »Wo ist das Problem?« »Ach weißt du … Ich habe ziemlich konkrete Vorstellungen davon, wie meine Band aussehen soll. Immer, wenn ich denke, ich habe jemand passendes gefunden, stelle ich fest, dass wir doch zu unterschiedliche Ansichten haben.« »Wenn du willst, kann ich dich mit ein paar Musikern bekannt machen«, schlug Mattie vor. »Vielleicht ist ja der Richtige dabei.« Ville war skeptisch. »Vampire?« »Quatsch«, wehrte Mattie ab. »Es gibt nur noch sehr wenige Nachtkinder in Mitteleuropa. Im ehemaligen Ostblock dürften es noch ein paar mehr sein, aber auch deren Zahl wurde im Laufe der letzten Jahre drastisch reduziert.« »Woher weißt du das alles?«, fragte Ville mit gerunzelter Stirn. »Ich hatte einen guten Mentor.« »Bist du schon lange …? Ich meine …« »Seit gut drei Jahren«, gab Mattie zurück. Er zögerte kurz, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er über die Vergangenheit wirklich sprechen wollte. »Es geschah während meiner Studentenzeit, auf einer Reise in Irland. Wir waren unterwegs am Shannon‐River, haben in einem Caravan auf Bauernhöfen gepennt. Alles wildromantisch eben. Nun ja … Auf einem dieser Höfe lebten diese Kreaturen. Sie überwältigten mich und …« Er verstummte, als fiele es ihm schwer, alle Einzelheiten aus den Tiefen seiner Erinnerung hervorzukramen.
»Nachdem sie mich zu einem der Ihren gemacht hatten, blieb ich einige Monate bei ihnen. Sie brachten mir alles bei, was ich wissen musste, um mit meiner neuen Existenz klar zu kommen. Eines lernte ich dabei auf jeden Fall, nämlich dass ich nicht so sein wollte wie sie. Nach einigen Monaten packte ich mein Bündel und brach auf, zurück in die alte Heimat.« »Und seitdem … jagst du alle deiner Art?«, fragte Ville. »Nein. Ich sagte doch schon, dass nur noch sehr wenige Nachtkinder existieren. Viele von ihnen sind wie du und ich. Sie leben friedlich unter den Menschen, ohne ihnen Leid zuzufügen. Dennoch gibt es einige von uns, die nichts von einer friedlichen Koexistenz halten. Sie halten sich für die überlegene Rasse und verhalten sich dementsprechend. Es ist ihnen egal, wenn sie über Leichen gehen. Menschen sind für sie nicht mehr als Schlachtvieh, geschaffen zu Befriedigung ihrer Gelüste. So etwas wie Moral und Nächstenliebe kennen sie nicht. Glaube mir, in Irland bin ich mehrfach Zeuge dessen geworden, wozu diese Kreaturen fähig sind.« »Und eine solche Bestie macht derzeit Nürnberg unsicher?« Mattie sah zum Fenster hinaus, während seine Fingerkuppen den Rhythmus der leisen Musik auf den Deckel des Handschuhfachs trommelten. In der Scheibe, in der sich schwach sein Spiegelbild hätte abzeichnen müssen, war nichts Auffälliges zu sehen. »In der letzten Woche wurden an drei aufeinander folgenden Tagen drei Leichen gefunden«, erklärte Mattie mit heiserer Stimme. »Alle waren bis zum letzten Blutstropfen ausgesaugt.« »Wiesen die Leichen irgendwelche«, Ville zuckte die Schultern, da ihm kein besseres Wort einfiel, »Bissspuren auf?« »Die Polizei schreckt sich noch davor zurück, Einzelheiten bekannt zu geben. Bisher ist noch nicht einmal bestätigt, dass alle Personen ein und demselben Täter zum Opfer gefallen sind. Da es sich bei den Toten um Obdachlose oder allein stehende Personen ohne Familie
handelt, gibt es bisher wohl auch niemanden, der unangenehme Fragen stellt.« »Woher weißt du dann so gut Bescheid über die Sache?« Mattie drehte den Kopf blickte den anderen an. »Ich habe mir angewöhnt, hinter die Fassade der Dinge zu blicken. Das Böse lauert stets im Verborgenen. Und es lebt davon, dass niemand von seiner Existenz auch nur ahnt.« Er räusperte sich. »Die bleichen Körper wiesen keine Bisswunden auf, waren jedoch von mehreren Einstichwunden übersäht.« »Woher, zum Teufel …«, setzte Ville an, doch Mattie unterbrach ihn jäh. »Ich habe mir einen von ihnen angesehen. Letzte Nacht, in der Leichenhalle. Seitdem weiß ich, dass es bei der Angelegenheit nicht mit rechten Dingen zugeht.« »Und anschließend hast du diese Maria aufgespürt, sie überwältigt und zu dieser alten Kapelle gebracht?« »In der Tat galt ihr mein erster Gedanke«, bestätigte Mattie. »Zwar habe ich sie bisher für harmlos gehalten, doch mich hat die Erfahrung gelehrt, dass es ratsam ist, niemandem zu vertrauen. Außerdem wusste ich um ihre Kontakte zur Gemeinschaft. Ich halte es durchaus für möglich, dass einer dieser Freaks hinter den Morden steckt. Jemand, der sich nach der Jagd sehnt und der seine Befriedigung darin findet, anderen Leid zuzufügen.« Ville fröstelte, obwohl das bei Untoten eigentlich unmöglich sein sollte. Minutenlang sagte keiner ein Wort. Schließlich brach Mattie das Schweigen. »Was ist mit dir? Wie bist du zu dem geworden, der du heute bist?« Villes Gedanken schweiften zurück in die jüngste Vergangenheit. Da war dieses Mädchen gewesen, mit den dunklen, schulterlangen Haaren und den schwarz geschminkten Lippen, die ihm in einem
Gothic Club in der Leipziger Innenstadt über den Weg gelaufen war. Schon beim ersten Blickkontakt hatte er etwas gespürt, das mit normaler Anziehungskraft nicht zu vergleichen gewesen war. Es war, als habe sie sich in seine Gedanken geschlichen, dabei ganz langsam eine Fessel um seinen Willen geschlungen. Wie hypnotisiert war er ihr gefolgt, als sie sich sie umgedreht und die Tanzfläche verlassen hatte. Ville glaubte, erneut die kühle Nachtluft zu spüren, die ihm entgegenweht war, als er durch die Tür ins Freie getreten war. Verwundert hatte er sich auf dem leeren Hinterhof umgesehen, doch das Mädchen war verschwunden gewesen. Noch während er sich fragte, wie zum Teufel das nur sein konnte, hatte sie sich auf ihn gestürzt. Sie kam von oben, erinnerte er sich. So, als könne sie fliegen … Danach waren seine Gedanken in einem Meer aus Dunkelheit ertrunken. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war das Mädchen verschwunden – und der Durst in ihm war erwacht … Erschrocken blickte Ville auf und bemerkte, dass er die letzten Momente nicht mehr auf die Straße geachtet hatte und einen guten halben Meter über den Mittelstreifen geraten war. Schnell brachte den VW wieder in die Spur. Während das Nürnberger Ortsschild an ihnen vorbeiwischte, warf er Mattie einen kurzen Seitenblick zu. »Ich erzähle es dir irgendwann einmal. Wenn wir mal etwas mehr Zeit haben.«
* Der ›Black Hole Sun‹ war ein Club, den man wohl nur dann fand,
wenn man um seine Existenz wusste. Kein Leuchtreklame, nicht einmal ein Klingelschild wies darauf hin, dass sich ein Lokal hinter der schwarz lackierten Stahltür verbarg. Auf Laufkundschaft legte man im BHS offenbar keinen allzu großen Wert. Dementsprechend skeptisch war Ville, als Mattie die Klingel drückte und sich frontal vor der Tür aufbaute. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich eine winzige Luke auf tat. Die Blicke des finsteren Augenpaars, das dahinter zum Vorschein kam, tasteten zunächst Mattie und danach Ville gründlich ab, bevor eine heisere Stimme fragte: »Was wollt ihr?« »Man hat uns diesen Laden empfohlen«, sagte Mattie, während er den Blick des Türstehers mit stoischer Gelassenheit erwiderte. Ville hatte kurz den Einruck, als würde ein glasiger Schleier über die Augen hinter der Sichtluke, huschen. Sekunden vergingen, doch schließlich ertönte ein ratschendes Geräusch wie von einem Riegel, der zur Seite geschoben wird und die Tür wurde geöffnet. Ville hatte bis zu diesem Moment keine genaue Vorstellung von dem Besitzer des Augenpaars gehabt. Auf den Anblick des Mannes, der nun mit einem angedeuteten Diener vor ihnen zur Seite trat, war er allerdings auf keinen Fall gefasst gewesen. Seine Haare waren streng nach hinten gestriegelten und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen. Zu einer dunklen, eng anliegenden Hose trug er ein strahlend weißes Rüschenhemd, das an diesem verrucht wirkenden Ort reichlich deplaziert wirkte. Mit in die Ferne gerichtetem Blick ließ er die beiden Vampire passieren. Beim Vorbeigehen blieb Ville kurz vor ihm stehen – er konnte es sich nicht verkneifen –, hob die rechte Hand direkt vor das Gesicht
des Mannes und schnippte einmal kurz mit den Fingern. Der Türsteher zeigte nicht die geringste Reaktion. Kein Blinzeln, kein Zucken – nichts. Es war, als würde er von seiner Außenwelt nicht das Geringste wahrnehmen. Auch Ville war zuvor schon aufgefallen, dass es ihm in seinem Dasein als Vampir ein Leichtes war, anderen seinen Willen aufzudrängen. Schon mehrfach hatte er gespürt, dass es den Menschen schwer fiel, sich seinen Wünschen zu widersetzen. Bisher war er mit dieser Kraft jedoch äußerst sparsam umgegangen. Hinter der Tür erstreckte sich ein schmaler Gang, der an einem schwarzen Seidenvorhang endete. Mattie schob ihn ohne Zögern zur Seite und betrat den Raum dahinter. Ville folgte ihm – und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Hatte er kurz zuvor noch damit gerechnet, unter der Adresse eine heruntergekommene Spelunke zu finden, wurde er schlagartig eines Besseren belehrt. Das Ambiente des Black Hole Sun war sehr gediegen. Die Wände des Zimmers waren mit violettem Plüsch überzogen. Mehrere rötliche Lampen schufen ein unwirkliches Zwielicht, das der gesamten Szenerie einen surrealen Touch verlieh. Doch auch die Protagonisten des bizarren Schauspiels trugen dazu ihren Teil bei. Ville entdeckte weit über ein Dutzend Personen. Sie standen aufrecht, mit den Rücken zum Eingang und bildeten dabei einen Halbkreis. Alle waren ähnlich altmodisch gekleidet wie der Türsteher und sahen dabei aus, als habe es sie völlig überraschend aus einer fernen Zeit in die Gegenwart verschlagen. Sie hatten die Blicke gesenkt, als betrachteten sie etwas, das vor ihnen auf dem Boden lag und von Villes Warte aus nicht zu erkennen war. Während Ville wie angewurzelt stehen blieb, trat Mattie weiter auf
die Gruppe zu. Ein Mann in einem schwarzen Seidenhemd bemerkte ihn, drehte sich zu ihm um und sah ihn direkt an. Matthias starrte zurück. Sekunden vergingen, dann machte der Fremde Platz, als würde ihn eine unsichtbare Hand zur Seite schieben. Für einen kurzen Moment hatte Ville Gelegenheit, durch die so entstandene Lücke einen Blick auf das Geschehen dahinter zu werfen. Er erkannte eine weitere Person. Ein junger Mann, mit blond gelocktem Haar. Er kniete, hatte sich dabei nach vorne gebeugt. Seine Lippen umschlossen einen bleiches … Ding, das Ville beim näheren Hinsehen als eine menschliche Hand identifizierte. Mit gerunzelter Stirn löste auch er sich vom Fleck, trat auf die Gruppe zu und blieb direkt neben Mattie stehen. Der hatte den Blick ebenfalls auf das Geschehen zu seinen Füßen gerichtet. Wie Ville feststellte, waren es sogar drei Männer, die da auf dem Boden knieten. In ihrer Mitte lag eine junge Frau, deren alabasterfarbener Körper mit einigen Tüchern nur notdürftig verhüllt war. Jeder der drei Männer hatte sich an einer anderen Stelle über Körper der jungen Frau gebeugt und saugte daran. Der eine hielt ein Bein, die anderen beiden jeweils einen Arm. Fasziniert und angewidert zugleich beobachtete Ville, wie ein Blutstropfen zwischen den Lippen des einen Mannes hervorquoll und langsam den Arm der Frau hinunterlief. Ganz kurz löste der Kerl die Lippen von ihrem Handgelenk und Ville konnte den haarfeinen Schnitt in ihrer bleichen Haut erkennen. Sie trinken aus ihr, ging es Ville durch den Kopf. Diese Verrückten trinken ihr Blut. Der Frau mit dem rot gelockten Haar schien es nichts
auszumachen. Mit halb geschlossenen Augen ließ sie es nicht nur über sich ergehen, sie schien dabei sogar so etwas wie Lust zu empfinden. Ihre Zunge fuhr sanft über ihre halb geöffneten Lippen, während ihr Körper immer wieder von konvulsivischen Zuckungen erfasst wurde. Irgendwann, Ville konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, ließen die Männer von ihr ab und standen auf. Sofort knieten sich zwei weitere Personen neben sie und machten sich daran, ihre Wunden zu verbinden. Die Menge verstreute sich. Keiner der Anwesenden würdigte Mattie oder Ville eines Blickes. Offenbar man war man es hier gewohnt, hin und wieder unbekannte Gesichter zu sehen. Mattie zog Ville am Ärmel von dessen Mantel zur Seite. Abseits des Geschehens beobachteten sie, wie die Männer, die sie verarztet hatten, der entkräftet wirkenden Frau auf die Beine halfen und sie zu einer Tür führten, die sich aufgrund der Farbgebung kaum von der sie umgebenden Wand unterschied. »Komm mit!«, zischte Mattie, als die drei Menschen dahinter verschwunden waren. Ville sah sich vorsichtig um, während er dem Vampir quer durch den Raum zur Tür folgte. Noch immer schien sich niemand für sie zu interessieren. Die Tür öffnete sich völlig lautlos. Dahinter befand sich ein schummrig beleuchteter Gang. Mattie schaute ein weiteres Mal über die Schulter, dann drückte er sich, dicht gefolgt von Ville, durch den schmalen Spalt. Der Gang endete bereits nach wenigen Schritten an einer Tür. Eine weitere befand sich auf der rechten Seite. Sie war nur angelehnt und leise Stimmen drangen dahinter hervor. Sie schienen dem Dreiergespann zu gehören, das die makabere Gesellschaft soeben verlassen hatte.
Die beiden Vampire verständigten sich mit einem knappen Blick, dann trat Mattie so hart gegen die Tür, dass diese aus den Angeln brach. Das hatte Ville nicht erwartet, schließlich war die Tür offen gewesen. Auch die drei Menschen hatten mit so etwas offensichtlich nicht gerechnet. Sie starrten mit aufgerissenen Augen in ihre Richtung. Die Frau lag auf einer niedrigen Pritsche und war offenkundig dabei, zu Kräften zu finden. Die beiden Männer standen bei ihr. Einer von ihnen wollte zurückweichen, doch Matties unnachgiebiger Befehlston bannte ihn am Fleck. »Bleib, wo du bist!« Ville widmete sich derweil dem zweiten Mann. Er sah ihm fest in die Augen, durchdrang sie mit seinen mentalen Fühlern und schlang sie wie Fesseln um dessen Geist. »Wir suchen nach einem Kerl namens Darwin«, zischte er ihn an. »Man sagte uns, dass wir ihn hier finden würden.« »Er ist drüben … Bei den anderen«, gab der Mann wie in Trance zurück. »Wie sieht er aus?« »Graues Jackett, lockige Haare, Nickelbrille«. Mattie und Ville sahen sich kurz an, nickten. »Ihr bleibt hier und rührt euch für die nächsten zehn Minuten nicht von der Stelle!«, sagte Mattie an die Sterblichen gewandt. »Das gilt auch für dich!«, fügte Ville an die Frau gerichtet hinzu, die ihn die ganze Zeit aus angstvoll aufgerissenen Augen angestarrt hatte. Damit verließen sie das Zimmer und gingen zurück in den Raum, aus dem sie gekommen waren. »Fandst du das nicht etwas übertrieben?«, fragte Ville unterwegs. »Nein«, antwortete Mattie. »Hat doch funktioniert.«
* Als die beiden Vampire den großen Saal wieder betraten, hatte sich die Gruppe etwas verstreut. Von den ursprünglich gut zwei Dutzend Leuten war nur noch etwa die Hälfte anwesend. Schnell entdeckte Mattie einen hageren Mann, auf den die Beschreibung von Darwin exakt passte. Er saß allein am Rand in einer Sitzecke und beobachtete teilnahmslos das Geschehen. Synchron wie ein lange eingespieltes Team ließen sich die beiden Vampire links und rechts von ihm auf die Kissen sinken. Der Blick des Mannes ging erst zu Mattie, dann zu Ville und schließlich wieder zu Mattie. »Darwin?«, fragte Letzterer. Der Mann nickte langsam wie in Trance. »Man sagt, du wüsstest etwas über den unnatürlichen Blutverlust einiger unserer Mitbürger.« Darwin wirkte irritiert. Mattie spürte, wie sein Geist versuchte, sich dem Eindringling in seinem Kopf zu widersetzen. »Ich spreche von dieser grauenhaften Mordserie«, fügte Mattie erklärend hinzu. »Wir wissen, dass du etwas damit zu tun hast.« »Nein … Ich …« Mattie war sich sicher, dass Darwin selbst nicht der Mörder war. Das war aus seinem Gedankenmuster eindeutig herauszulesen. Aber er wusste etwas … Sofort verstärkte er den mentalen Druck auf den Willen seines Gegenübers. »Wenn du irgendjemanden deckst …« »René Hoffmann«, platzte es plötzlich aus Darwin heraus. »Ist das der Name des Mörders?« Darwin nickte.
»Ist er ein Mensch?« Erneutes Nicken. »Wo finden wir ihn?«, warf Ville ein. »Er … ist auf Beutezug. Er benötigt weiteres Blut. Sein Bedarf ist längst nicht gedeckt.« Matties Blick verdüsterte sich. »Wofür braucht er es? Was hat er damit vor?« Darwin schwieg. Der Vampir konzentrierte sich darauf, den Willen des Mannes zu brechen. Doch er spürte, dass da etwas war, gegen das er nicht ankam. Eine Mauer, eine mentale Sperre, die in dessen Geist errichtet worden war. Kein Mensch war dazu in der Lage. So etwas vermochten nur Nachtkinder. Matties Instinkt hatte nicht getrogen. Darwin stand unter vampirischem Einfluss … »Hast du eine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren?«, fragte Ville. »Herauszufinden, wo er gerade steckt?« Ganz langsam griff Darwin unter seine Jacke, zog ein winziges Handy hervor und wählte eine Nummer. »Stell das laut!«, befahl Mattie, bevor Darwin sich das Handy ans Ohr halten konnte. »Ich möchte mithören.« Der Mann gehorchte. Es klingelte drei Mal, dann wurde das Gespräch am anderen Ende angenommen. Ein leises Atmen brachte den Äther zum knistern, ansonsten blieb der Angerufene stumm. »Hallo René. Hier Darwin. Alles klar bei dir?« »Alles bestens«, kam eine leise Stimme zurück. »Ich kann im Moment nicht so gut sprechen. Der Zug hält gerade.« »Wo steckst du?« »In der U‐Bahn, Station Nordostbahnhof. Die Türen öffnen sich.
Gerade steigt ein Kerl ein, der für unsere Zwecke ideal zu sein scheint. Ich warte, bis er aussteigt, dann schnapp ich ihn mir.« »Sag ihm, er soll warten!«, zischte Mattie. »Sag, es habe sich etwas Unvorhergesehenes ergeben! Du …« Ein erneutes Knacken im Äther verriet, dass Hoffmann das Gespräch unterbrochen hatte. »Verdammt!« Mattie ballte die Fäuste und sein Blick zuckte an Darwin vorbei zu Ville. »Nordostbahnhof, hat er gesagt. Danach kommt nur noch die Station Ziegelstein.« »Worauf warten wir noch?«
* Eisiger Wind wehte über das Gelände, als Ville und Mattie aus dem Wagen stürmten. Bei diesen Temperaturen und um diese Uhrzeit hielt sich die Anzahl jener, die noch unterwegs waren, in Grenzen. Lediglich ein junges Pärchen verließ im Schein einer Straßenlampe den Ausgang der U‐Bahn‐Station, ohne die beiden Vampire auch nur eines Blickes zu würdigen. Dank des spärlichen Verkehrs und der Tatsache, dass Ville mehrere rote Ampeln ignoriert hatten, hatte die Fahrt nur wenige Minuten gedauert. Doch selbst das war vermutlich noch zu lange gewesen. Wahrscheinlich hatte der Killer sein Opfer längst überwältigt und … »Da vorne!«, rief Ville plötzlich und zeigte die Straße hinunter. Ohne seine Nachtsichtigkeit wäre ihm der Kerl im schwarzen Kapuzenmantel vermutlich entgangenen. Doch so zeichnete sich die Gestalt ganz deutlich in der Ferne ab – kurz bevor sie hinter einer Mauer verschwand.
Beide rannten ohne zu zögern los. Kurz darauf hatten sie die Mauer passiert, blickten die Straße hinunter und … Der Mantelträger war spurlos verschwunden. »Und jetzt?«, fragte Ville ratlos. »Weiter«, sagte Mattie grimmig. »Er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Er …« Er verstummte urplötzlich und legte den Kopf leicht zur Seite, als ob er lauschen würde. Ville tat es ihm nach. Tatsächlich, da war etwas. Jetzt hörte er es auch. Ein leises, elektronisches Summen wie von einem Staubsauger oder … Mit zusammengepressten Lippen deutete Ville auf einen großen Strauch, der rechts von der Straße aus dem Boden wuchs. Hinter den knorrigen Ästen hatte sich etwas bewegt, da war er sich sicher. Blitzschnell überquerten die Vampire die Straße, umrundeten den Busch von zwei verschiedenen Seiten – und blickten auf eine Szene, wie sie bizarrer nicht hätte sein können. Auf dem feuchten Boden kniete der Mann im schwarzen Kapuzenmantel. Neben ihm, flach auf dem Rücken liegend und mit geschlossenen Augen, lag ein etwa 20jähriger Mann mit grün gefärbten Haaren. Seine zerschlissene Kleidung war an mehreren Stellen aufgeschnitten worden. Aus jedem der Löcher ragte ein dünner Schlauch hervor – insgesamt fünf –, deren Enden unter dem Mantel des anderen verschwanden. Dieser wurde vom plötzlichen Auftauchen der Vampire völlig überrascht. Erschrocken sprang er auf, wobei sich zwei der Schläuche aus den Adern des jungen Punks lösten. Ganz deutlich sah Ville die beiden spitzen Nadeln, die aus den Schläuchen hervorragten. Mattie zögerte keine Sekunde. Wie ein Berserker stürzte er sich auf den Kerl, packte ihn am Ärmel und riss ihm den halb geöffneten
Mantel vom Leib. Da der Kerl seitlich zu ihm stand, fiel Villes Blick genau auf den schmalen Tornister, den er sich unter dem Mantel auf den Rücken geschnallt hatte. Er bestand aus Metall und besaß mehrere Sichtfenster, durch man deutlich erkennen konnte, dass er zu gut einem Drittel gefüllt war. Ville musste nicht lange raten, um zu wissen, worum es sich bei der dunkelroten Flüssigkeit handelte. Der Mann mit den blonden, zerzausten Haaren hatte den am Boden Liegenden ausgesaugt, ihm das Blut abgezapft – mit einer offenbar genau für genau diesen Zweck konstruierten Apparatur. Damit bestand kein Zweifel mehr. Sie hatten den Blutjäger gestellt. »Wer bist du?«, entwich es Ville voller Verwunderung. »Warum tust du das?« Der Blick des Mannes driftete ins Leere. »Ihr wisst nicht, mit wem ihr euch anlegt! Ich rate euch, nach Hause zu gehen und schleunigst zu vergessen, was ihr gesehen habt.« »Das würde dir so passen«, knurrte Mattie und hob den knapp 30jährigen Mann am Kragen in die Höhe. »Für wen ist das ganze Blut bestimmt? Rede!« Rene Hoffmann versuchte, dem fordernden Blick des Vampirs auszueichen, doch es gelang ihm nicht. »Du bist … einer von ihnen«, kam es ihm noch über die Lippen, dann erstarb auch noch der letzte spärliche Rest seines freien Willens. »Das Blut ist nicht für dich und auch nicht für deine Freunde aus dem Black Hole Sun. Habe ich Recht?«, fragte Matthias. Der stumme Blick des Blutjägers war dem Vampir Antwort genug. »In wessen Auftrag handelst du?« Doch Mattie spürte wieder eine Mauer im Geist des Sterblichen und Hoffmann schwieg.
»Rede!«, fauchte der Vampir. Es war seiner Beute anzusehen, dass sie nichts lieber getan hätte, doch Hoffmann konnte nicht. »Ville, hilf mir!«, forderte Mattie. Der Angesprochene versuchte es. Tatsächlich tauchte vor seinem inneren Auge eine Mauer auf. Er warf sich mit aller Macht dagegen. Vergeblich. »Gemeinsam«, drang Matties Stimme in seinen Geist. »Auf drei. Eins, zwei …« Bei drei schleuderten die Vampire gemeinsam ihre Kraft gegen die Barriere – und hatten Erfolg. »Es sind mehrere Personen …«, antwortete Hoffman endlich auf die Frage nach seinen Auftraggebern. »Vampire?«, hakte Mattie nach. Zu seiner Überraschung schüttelte der Mann den Kopf. »Nur einer von ihnen. Er nennt sich Abatos. So viel ich weiß, stammt er aus Rumänen.« »Ist er der Anführer?« Hoffmann nickte. »Und wer sind die anderen?« Der Mensch hatte keine Chance, nicht zu antworten. Er versuchte es nicht einmal. »Sie kommen aus allen Teilen Deutschlands. Die meisten sind wichtige Mitglieder der Gesellschaft. Unter ihnen befinden sich Ärzte, Rechtsanwälte, Politiker … Die meisten von ihnen haben einen Großteil ihrer Karriere Abatos zu verdanken. Sie erwiesen ihm den einen oder anderen Gefallen und er ließ sie dafür an seiner Macht teilhaben. Mir hat er auch Reichtum und Erfolg versprochen, wenn ich mich in den Dienst seiner Sache stelle.« »Eine Art Sekte also …«, murmelte Mattie mehr an sich selbst
gerichtet. »Mit einem Vampir als Oberguru … Aber wozu das ganze Blut? Wozu braucht dieser Abatos das ganze Blut?« »Für ein Ritual, um seine Macht zu mehren. Worum es dabei genau geht, weiß ich nicht. Er wollte uns erst zu gegebener Zeit einweihen.« Mattie wusste, dass der Blutjäger die Wahrheit sagte. Er konnte ja gar nicht anders, so lange sich sein Geist in seiner Gewalt befand. »Dieses Ritual …«, setzte der Vampir an. »Wann soll es stattfinden?« »Noch in dieser Nacht. Deshalb ist es ja so wichtig, dass das Blut rechtzeitig eintrifft.« »Na gut«, murmelte Mattie und verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. »Verrat mir einfach, wohin du das Blut bringen sollst. Ich und mein Freund versprechen dir, dass wir es für dich abliefern …«
* »Lochgefängnisse?«, fragte Ville, während sich er und Mattie dem Nürnberger Rathausgebäude näherten. »Eine Art Haftanstalt aus dem 14. Jahrhundert«, erklärte sein Gefährte. Mattie hatte sich den Mantel des Blutjägers übergestreift und die Kapuze tief über die Augen gezogen. Die Riemen des Tornisters um seinen Rücken waren so eng geschnallt, dass sie sich ihm tief ins Fleisch gruben. »Sie befinden sich direkt unter dem Rathaus«, fuhr er fort, »und dienten bis zur endgültigen Urteilsvollstreckung der Verwahrung von Häftlingen. Dieser Abatos legt offenbar Wert auf Stil. Ich kann mir jedenfalls keinen besseren Ort für ein magisches Ritual vorstellen.«
Kurz bevor sie den Eingang an der Seite des Rathausgebäudes erreichten, sah sich Mattie noch einmal in alle Richtungen um. Rechts von ihnen lag der Hauptmarkt, wo in bereits einer Woche der weltberühmte Nürnberger Christkindl‐Markt seinen Betrieb aufnehmen würde. Die Stände waren bereits aufgebaut, der Platz jedoch verwaist. Vereinzelte Schneeflocken trudelten ihnen entgegen, als sie vor der Eingangstür stehen blieben. Mattie senkte den Kopf, während er anklopfte. Dreimal schnell hintereinander, zwei weitere Mal in größerem Abstand. Ganz so, wie Rene Hoffmann es ihnen erklärt hatte. Wenige Sekunden später wurde die Tür auch schon knarrend geöffnet. Ein älterer Mann mit schütterem, weißem Haar und einer auffälligen Hakennase blickte ihnen misstrauisch entgegen. »Das wurde aber auch Zeit«, brummte er ungehalten. »Die anderen sind schon alle da.« »Es war heute nicht ganz einfach«, gab Mattie zurück, dessen Gesicht im Schatten der Kapuze kaum zu erkennen war. »Bei diesen Temperaturen macht niemand freiwillig einen Schritt vor die Tür.« Der Blick des Alten wanderte verwundert zu Ville hinüber und tastete ihn von Kopf bis Fuß ab. »Seit wann seid ihr zu zweit?« »Seit Abatos mir erlaubt hat, einen Freund in unsere Gemeinschaft einzuführen.« »Ist das so?«, fragte der Alte mit nicht zu überhörender Skepsis. »Frag ihn, wenn du mir nicht glaubst!«, forderte Mattie und sah dem Mann dabei tief in die Augen. Anders als bei René Hoffmann verzichtete er jedoch darauf, ihn vollständig unter seine Kontrolle zu bringen. Er half lediglich ein wenig dabei nach, die Gedanken des Mannes in eine bestimmte Richtung zu lenken. »Ich denke nicht, dass das nötig ist«, entgegnete der Alte auch schon kurz darauf und sah dabei aus, als sei er über seine eigene
Reaktion verwundert. Er ließ Ville und Mattie eintreten, schlug die Tür hinter ihnen zu und drehte den Schlüssel dreimal im Schloss. Anschließend führte er die beiden Vampire zum Eingang des Lochgefängnisses, wo eine steile Treppe in die Tiefe führte. Kühle, feuchte Luft wehte ihnen auf ihrem Weg nach unten entgegen. Bald erreichten sie einen schmalen Seitengang, der an den fünf so genannten ›Todeskammern‹ vorbeiführte, die den eigentlichen Zellentrakt bildeten. Schon beim bloßen Hinsehen spürte Ville, wie ihn eine unangenehme Beklemmung überfiel. Am Ende des Ganges führte eine weitere Treppe in einen wesentlich größeren Raum, der laut Ausschilderung als ›Brunnenstube‹ bezeichnet wurde. Bereits zuvor, aus einiger Entfernung, war das leise Gemurmel mehrerer Menschen zu hören gewesen. Jetzt konnten die beiden Vampire sie mit eigenen Augen sehen. Eine Gruppe von zwölf elegant gekleideten Personen, Männer und Frauen, die nicht aussahen, als gehörten sie zur ärmeren Hälfte der Bevölkerung. Sie hatten sich um den Brunnen herum versammelt, der dem Raum seinen Namen gegeben hatte. Alle blickten erwartungsvoll zur Tür, als der Alte in Begleitung von Mattie und Ville auf der Schwelle erschien. »Die Person, auf die wir gewartet haben, ist eingetroffen«, erklärte der Mann in bedeutungsschwangerem Tonfall. Unwillkürlich teilte sich die Menge vor dem Alten. Dieser schritt langsam bis zur Rückwand des kargen Raums, wo er sich auf den Boden kniete. Was er dort genau tat, war von Mattie und Villes Warte aus nicht zu erkennen. Doch es verging nicht einmal eine halbe Minute, da erklang ein dumpfes Schleifen.
Schließlich stand der Alte auf, trat zur Seite und bedeutete Mattie, zu ihm zu kommen. Der Vampir tat wie ihm geheißen. Ville blieb zurück. Die Einladung galt zunächst sicherlich nur dem vermeintlichen Blutjäger. Noch während sich Mattie in Bewegung setzte, fiel sein Blick auf das quadratische Loch im Boden, das zuvor nicht da gewesen war. Ein Geheimgang! Ob die Stadtverwaltung davon wohl auch nur ahnte? Eine steinerne Treppe führte steil in die Tiefe, wo ein schwacher, flackernder Lichtschein zu erkennen war. Mattie sah den Alten unter dem Rand seiner Kapuze hervor an. Mit einem angedeuteten Nicken bedeutete ihm dieser, die Treppe hinab zu steigen. Der Vampir ahnte, dass er sich verriet, wenn er zu lange zögerte und kam der Aufforderung nach. Es waren etwa zehn Stufen, die in einem Raum mündeten, der etwas größer war als die Brunnenstube darüber. Erhellt wurde er von mehreren Fackeln an den Wänden. Hier stand ein menschengroßer Tank an der Rückwand, der in vier ovale Kammern unterteilt war. Mattie entdeckte in jeder Kammer eine verstöpselte Öffnung, die dafür vorgesehen schien, einen der Schläuche des Tornisters auf seinem Rücken dort anzuschließen. Sollte darin das Blut eingefüllt werden? Aber zu welchem Zweck? Ein beiger Vorhang hing an der Wand neben dem Tank und drei dünne Schläuche führten von dem Kanister unter den Vorhang. Rechts von ihm befand sich eine rostige Gittertür. Was mochte sich dort verbergen? Mattie war klar, dass er sich noch einen Moment gedulden musste, bis seine Neugier befriedigt werden würde. Er trat zur Seite, als er registrierte, dass ihm die Gesellschaft aus dem Brunnenraum folgte.
Ville war der Letzte und gab sich dabei Mühe, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Als sich alle in dem kleinen Raum versammelt hatten, trat der Alte an der Menge vorbei zur rechten Seite des Raumes an die Gittertür. Dank ihrer Nachtsichtigkeit bemerkten Ville und Mattie als Erste den Schemen, der sich aus der Dunkelheit löste. Kurz darauf schwang die Gittertür wie von selbst nach außen und eine düstere Gestalt trat ihnen entgegen. Der Mann war völlig kahl und sein Alter war schwer zu schätzen. Er hatte eng beieinander stehende, tief liegende Augen, die von dunklen Ringen umgeben waren. Seine Nase war spitz und lang, die Wangen eingefallen. Er trug eine blutrote Robe, die mit goldenen Stickereien verziert war. Mattie und Ville zweifelten keine Sekunde daran, es mit dem mysteriösen Abatos zu tun haben. Jenem Blutsauger, der offenbar jahrelang seine Macht dazu genutzt hatte, um im Geheimen ein Netzwerk menschlicher Anhänger aufzubauen, die ihn bei seinen Schandtaten unterstützten. Vampire schien er keine geschaffen zu haben. Soweit Mattie es beurteilen konnte, handelte es sich bei all den anderen Anwesenden um Sterbliche aus Fleisch und Blut. Ein leises Raunen setzte ein, gefolgt von einem schwachen, ehrfurchtsvollen Applaus, als der Vampir den Raum betrat. Doch während die anderen wohl nur eine dunkle Ahnung von der wahren Macht des Vampirs besaßen, war sie für Mattie und Ville geradezu körperlich spürbar. Beide merkten sofort, dass dieser Blutsauger bereits seit einigen Jahrhunderten auf Erden wandeln musste. Vor allem Mattie wurde nervös, als Abatos dicht vor ihm stehen blieb und ihn direkt ansah. Spürte der uralte Untote, dass sich hinter der Kapuze nicht der in seinen Diensten stehende Blutjäger verbarg, sondern eines der Nachtkinder? Mattie gab sich Mühe, seine Gedanken in eine Art Leerlauf zu
versetzen und an nichts Bestimmtes zu denken, sich einfach treiben zu lassen. Offenbar gelang es ihm tatsächlich, den Vampir zu täuschen. Abatos setzte sich wieder in Bewegung und trat an die Rückwand des Raumes heran, wo er neben dem Kanister stehen blieb. »Seid gegrüßt, meine treuen Freunde«, setzte Abatos an. Er sprach mit einem leichten osteuropäischen Akzent. »Es freut mich, dass ihr meiner Einladung gefolgt und so zahlreich erschienen seid. Ich habe etwas wahrhaft Besonderes für den heutigen Abend angekündigt und ich denke nicht, dass ich zu viel versprochen habe.« Auf eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung des Vampirs hin setzte sich sein Handlanger in Bewegung und machte sich an dem Vorhang neben dem Kanister zu schaffen. Der Alte, der Mattie und Ville auch eingelassen hatte, zog mit einem kräftigen Ruck daran und der Vorhang sank zu Boden. Jetzt hatten alle Anwesenden freie Sicht auf den Gegenstand, der sich bis zu diesem Moment darunter verborgen hatte – eine lebensgroße, bleierne Statue, die etwa zur Hälfte aus dem Mauerwerk herausragte. Die Figur war männlich und besaß scharf konturierte Züge. Ihr Blick wirkte gequält, als würden ihr große körperliche oder seelische Schmerzen zugefügt, der Mund aufgerissen zu einem stummen Schrei. »Vor ziemlich genau siebenhundert Jahren gab es einen mächtigen Fürsten der Nachtkinder, der im Verborgenen über diesen Landstrich herrschte«, berichtete Abatos. »Sein Name war Gustav von Plauenstein. Obwohl man kaum etwas über ihn wusste, wurde in der Bevölkerung gemunkelt, er stehe mit dem Bösen im Bunde – bis er von einem Tag zum anderen spurlos verschwand. Es gab nicht wenige, die der Ansicht waren, der Teufel selbst habe ihn nun endlich zu sich geholt. In Wahrheit wurde man von offizieller Seite aus auf sein blutiges Treiben aufmerksam geworden, hatte ihn in
einer Nacht und Nebelaktion aus seinem Landsitz – einem Schloss vor den Toren der Stadt – entführt und hierher in dieses geheime Verlies gebracht.« Verstohlen blickte sich Mattie um. Die Anwesenden lauschten gebannt den Worten des alten Vampirs. »Nur wenige Eingeweihte wussten um den Gefangenen, durch dessen Adern kein Blut mehr floss, der nicht atmete, dessen Herz nicht mehr schlug und der dennoch lebte«, fuhr Abatos fort. »Nachdem sie ihn monatelang mit Kreuzen, Weihwasser und anderen Widerwärtigkeiten gefoltert hatten, beschlossen sie, sich seiner zu entledigen. Wohl wissend, dass sie ihn auf normalem Wege nicht töten konnten, mauerten sie seinen Körper in diese Wand ein und übergossen ihn mit flüssigem Blei. Anschließend versiegelten sie das Verlies, auf dass keines Menschen Fuß jemals wieder diesen Boden betreten würde. Niemand sollte je erfahren, was mit von Plauenstein geschehen war.« Mattie erschauderte. Was dort zur Hälfte aus der Wand ragte, sollte keine Staue sein, sondern ein Vampir? »Ich selbst erfuhr erst vor einigen Monaten aus einer geheimen Aufzeichnung vom Verbleib Gustav von Plauenstein. Im selben Moment schmiedete ich den Plan, ihn von diesem unwürdigen Dasein zu erlösen. Gustav von Plauenstein soll wieder über diesen Landstrich herrschen und Rache nehmen an den Nachfahren jener, die ihm dies angetan haben.« Mattie runzelte die Stirn. War es tatsächlich möglich, den in Blei gegossenen Untoten wieder zum Leben zu erwecken? Von den Blutsaugern in Irland hatte er gelernt, dass Vampire lange Zeit ohne Blut auskommen konnten, wenn sie sich in eine Art Starre versetzten, ähnlich der eines Winterschlafs bei Tieren. Allerdings bedurfte es einer überdurchschnittlich hohen Blutzufuhr, um sich aus dieser Starre wieder zu lösen. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Mattie die Schläuche, die
von jeder Kammer des Tanks aus in den Körper der Figur führten und in eigens dafür vorgesehenen Löchern steckten. »Ich begab mich also nach Nürnberg«, erklärte Abatos, »schmiedete die für das Gelingen meines Planes notwendigen Allianzen und verschaffte mir Zugang zu dem geheimen Verlies. In diesem Tank«, er schlug auf die Außenseite des Quaders, »befindet sich bereits das Blut dreier Sterblicher. Ich möchte unseren Freund Rene nun bitten, uns die Ausbeute der heutigen Nacht zu übergeben.« Ohne den Mantel auszuziehen, löste Mattie die Riemen des Tornisters auf seinem Rücken und reichte ihn an den alten Diener, der zu ihm getreten war. Die ovalen Sichtfenster in dem Behälter verrieten, dass er bis zum Rand mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt war. Unter über einem Dutzend staunender Blicken schloss der Alte die Schläuche an den dafür vorgesehenen Öffnungen in der letzten Kammer des Tanks an und drehte die Ventile auf. Nach etwa zwei Minuten war der Tornister leer. Die Erwartungen der versammelten Menge steigerten sich ins Unermessliche. Mattie sah kurz zu Ville hinüber, der das Geschehen ebenfalls gebannt beobachte. Der Alte hatte bereits damit begonnen, den Hahn der ersten Kammer des Tanks zu öffnen. Deutlich konnte man sehen, wie die dunkle Flüssigkeit durch den durchsichtigen Schlauch in den Körper des mittelalterlichen Vampirfürsten floss. Eine schier endlos erscheinende Zeit lang geschah überhaupt nichts. Erst als die erste Kammer vollkommen leer war, glaubte Mattie ein leichtes Vibrieren wahrzunehmen, das den in Blei gegossenen erfasste. Oder war es nur eine Täuschung seiner Sinne? Nein – als das Blut der zweiten Kammer in den Körper floss,
wurde das Vibrieren zunehmend stärker. Mattie beobachtete, wie erste Risse in der Bleischicht entstanden. Mit dem Blut der dritten Kammer verbreiterten sich die Risse, wurden zu klaffenden Wunden und legten Teile der ledrigen Haut frei, die sich dahinter verbarg. Und dann begann sich Gustav von Plauenstein zu bewegen! Mit übermenschlicher Kraft sprengte er das Mauerwerk um sich herum. Es dauerte nicht lange, bis sich die Kreatur vollends aus der Wand löste. Doch nun schien sich ihre Kraft erschöpft zu haben. Kraftlos sank sie zu Boden. »Die vierte Kammer«, keuchte Abatos von sichtlicher Erregung erfasst. Mattie warf einen weiteren Blick in Villes Richtung, seine Fingernägel bohrten sich tief in das Fleisch seiner Handballen. In den kommenden Minuten würde sich alles entscheiden. Schon drehte der Alte den Hahn auf, der die Flüssigkeit der vierten Kammer freigab. Der Schlauch füllte sich, floss in den Körper der am Boden knienden Kreatur und … Die plötzlichen Zuckungen, die Gustav von Plauenstein erfassten, gehörten nicht zu Abatos Plan. So viel konnten sowohl Mattie als auch Ville dem Blick des Vampirs entnehmen, auch ohne dessen Gedanken zu lesen. Mit vorgestreckten Händen trat Abatos einen Schritt auf den Artgenossen zu, als wolle er ihm auf die Beine helfen. Doch im nächsten Augenblick überlegte er es sich anders und blieb stehen, wo er war. Da löste sich ein markerschütternder Schrei aus der Kehle von Plauensteins. Unheilschwangeres Gemurmel erfüllte den Saal. Jeder schien zu spüren, dass irgendetwas nicht stimmte. »Dreh endlich den verdammten Hahn zu!«, brüllte Abatos seinen
Handlanger an, als er seine Überraschung überwunden hatte. Von Plauensteins Schreie schwollen weiter an. Erst jetzt erwachte der Alte aus seiner Schockstarre. Blitzschnell griff er nach dem Hahn und drehte ihn zu. Doch da war es bereits zu spät. Schon zuvor hatte Mattie bemerkt, dass sich von Plauensteins Körper während der letzten halben Minute immer mehr aufgebläht hatte, bis – der Körper des Vampirfürsten wie ein Luftballon platzte. Mattie, Ville und alle anderen wandten sich unwillkürlich ab, als die vertrockneten, zum Teil noch von Blei umschlossenen Körperteile durch die Luft zischten. Die ersten Menschen strebten bereits dem Ausgang zu, als sich Mattie von hinten gepackt fühlte und ihm jemand die Kapuze vom Gesicht riss. Abatos! Ihm war inzwischen klar geworden, dass er betrogen worden war. Mit einem wütenden Schrei schleuderte er Mattie an die gegenüberliegende Wand. Stöhnend sackte der daran zu Boden. Sofort war Abatos bei ihm und stellte ihm den rechten Fuß auf die Brust. »Wer bist du?«, schrie der alte Vampir. »Für diesen Frevel werde ich dich vernichten. Du bist Geschichte!« Mattie spürte, dass Abatos den Druck nur noch ein wenig verstärken musste, um ihm den Brustkorb zu brechen. Dennoch schaffte er es, mit einem gequälten Lächeln hervorzupressen: »Sind wir nicht alle irgendwie schon Geschichte?« Abatos verstärkte den Druck, Rippen knackten. »Hat deinem Freund das Weihwasser nicht geschmeckt?«, erkundigte sich da jemand. Irritiert starrte Abatos in Villes Richtung. In der Hand hielt der eine kleine Armbrust, die Mattie ihm
gegeben hatte. Er hatte sie unter dem Mantel ins Innere des Lochverlieses geschmuggelt. Die Spitze des eingelegten Eichenbolzens zeigte genau auf Abatos’ Brust. »Dabei haben wir es extra mit Kirschsaft gestreckt«, fügte Ville mit breitem Grinsen hinzu. »Undank ist der Welten Lohn.« Damit drückte er ab. Der Pflock schnellte aus der Sehne, bohrte sich in Abatos Brust. Die Hände des Vampirs klammerten sich noch um den Griff. Im nächsten Moment zerplatzte er zu einer Staubwolke. Hustend wandte sich Ville ab. »Du hättest mir sagen können, dass man einen gewissen Abstand einhalten muss, um sich nicht die Klamotten zu versauen!«, sagte er, während er Mattie auf die Beine half. »Du lernst es schon noch«, entgegnete dieser grinsend. Die anderen Menschen hatten bereits das Weite gesucht, auch der alte Handlanger des Vampirs. Egal. Mit Abatos Tod war wohl auch seine Macht über die in seinem Bann stehenden Menschen gebrochen. Gemeinsam hatten sie das Böse besiegt – und das war doch wesentlich mehr, als man von zwei Vampiren erwarten konnte …
* »Kommst du mich mal in Leipzig besuchen?«, fragte Ville aus dem geöffneten Fenster seines Wagens. Seit den Erlebnissen im Lochverlies waren zwei weitere Nächte angebrochen. Die vergangenen beiden Tage hatte Ville in Matties Bude verbracht. Erst jetzt, nach Anbruch der Dunkelheit, war es vollkommen sicher, die Heimreise anzutreten. »Ich weiß noch nicht«, wehrte Matthias die Einladung ab.
»Na komm! Dir wäre doch nur langweilig, wenn ich weg bin.« Mattie blinzelte irritiert. »Okay, vielleicht. Mal sehen …«, blieb er schwammig – doch es klang wie ein Versprechen. ENDE